Epos, Lyrik, Drama: Genese und Ausformung der literarischen Gattungen. Festschrift für Ernst-Richard Schwinge zum 75. Geburtstag. Festschrift für Ernst-Richard Schwinge zum 75. Geburtstag 9783825361662, 3825361667

Die Beiträge dieser Festschrift gehen aus der Perspektive unterschiedlicher Fachtraditionen der Genese und Ausformung de

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German Pages 421 [422] Year 2013

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Gerhard Baudy - Die Irrfahrt des Odysseus – eine Zeitreise auf die Vorstufen der Zivilisation
Joachim Latacz - Zum Funktionswandel des antiken Epos in Antike und Neuzeit
Thomas A. Schmitz - Erzählung und Imagination in Sapphos Aphroditelied
Lutz Käppel - Bemerkungen zur dramatischen Technik des (ps-)aischyleischen ‚Prometheus Desmotes‘
Carl Werner Müller - Die Ilias-Zitate im platonischen "Hippias"
Arbogast Schmitt - Aristoteles über die Entstehung der Gattungsunterschiede in der Dichtung
Adolf Köhnken - Schlußverse in Kallimachos-Epigrammen
Bernd Seidensticker - Kresilas’ Idomeneus und Meriones
Boris Dunsch - Die plautinische Komödie in republikanischer und kaiserzeitlicher Literaturkritik
Martin Hose - Wie Horaz und ein Philologe die Satire erfanden
Konrad Heldmann - Der Kaiser singt zur Kithara. Tacitus über Neros Künstlerkarriere und den Gang der Geschichte
Klaus-Detlef Müller - Einspruch gegen den Klassizismus
Bernhard Zimmermann - Tragische Experimente
Friedhelm Krummacher - Antigone „mit seinem Ohr“
Schrifenverzeichnis Ernst-Richard Schwinge
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Epos, Lyrik, Drama: Genese und Ausformung der literarischen Gattungen. Festschrift für Ernst-Richard Schwinge zum 75. Geburtstag. Festschrift für Ernst-Richard Schwinge zum 75. Geburtstag
 9783825361662, 3825361667

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boris dunsch arbogast schmitt thomas a. schmitz

dunsch · schmitt · schmitz (Hg.) Epos, Lyrik, Drama ie Beiträge dieser Festschrift gehen aus der Perspektive unterschiedlicher Fachtraditionen der Genese und Ausformung der literarischen Gattungen Epos, Lyrik und Drama nach und bilden damit das breit gespannte Interesse Ernst-Richard Schwinges ebenso ab wie die weit über die Grenzen der Klassischen Philologie hinausgehende Resonanz, die sein Schaffen gefunden hat und immer wieder findet. Hierbei kommen Homer und die griechische Tragödie ebenso in den Blick wie andere Gattungen der archaischen, klassischen und hellenistischen Literatur, die antike Literaturkritik und Literaturgeschichte sowie die lateinische Literatur, aber auch die Rezeption der Antike in der deutschen Kultur. Im Spannungsfeld von Zeitlichkeit und Wirkungsmacht antiker Literatur bildet in der Polyphonie des von den einzelnen Fachvertretern Vorgetragenen vor allem die hermeneutische Reflexion über die historischen wie sachlichen Bedingungen der Prozesse der Interpretation, Transformation und Rezeption von Literatur eine übergreifende interesseleitende Fragestellung.

dunsch schmitt schmitz (Hg.)

(Hg.)

Epos, Lyrik, Drama Genese und Ausformung der literarischen Gattungen

Epos, Lyrik, Drama

Druckfarben cyan magenta gelb schwarz

Universitätsverlag

isbn 978-3-8253-6166-2

win t e r

Heidelberg

bi bli oth ek d er k lassisch en altertu m swissen s cha f t en Herausgegeben von

j ürg en paul schwin dt Neue Folge · 2. Reihe · Band 139

Epos, Lyrik, Drama Genese und Ausformung der literarischen Gattungen Festschrift für

ernst-richard s ch w i ng e zum 75. Geburtstag Herausgegeben von

boris dunsch arbogast schmi t t thomas a. schmi t z

Universitätsverlag

w i n ter Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

isb n 978-3-8253-6166-2 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2o13 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de

Inhalt Einleitung

7

Gerhard Baudy: Die Irrfahrt des Odysseus

13

Joachim Latacz: Epos-Metamorphosen

55

Thomas A. Schmitz: Erzählung und Imagination in Sapphos Aphroditelied (frg.  V)

89

Lutz Käppel: Bemerkungen zum (ps.-)aischyleischen ‚Prometheus Desmotes‘

105

Carl Werner Müller: Die Ilias-Zitate im platonischen Hippias

129

Arbogast Schmitt: Aristoteles über die Entstehung der Gattungsunterschiede in der Dichtung 135 Adolf Köhnken: Schlußverse in Kallimachos-Epigrammen

213

Bernd Seidensticker: Kresilas’ Idomeneus und Meriones

225

Boris Dunsch: Die plautinische Komödie

237

Martin Hose: Wie Horaz und ein Philologe die Satire erfanden

301

Konrad Heldmann: Der Kaiser singt zur Kithara

315

Klaus-Detlef Müller: Einspruch gegen den Klassizismus

359

 Bernhard Zimmermann: Tragische Experimente

377

Friedhelm Krummacher: Antigone „mit seinem Ohr“

389

Schriftenverzeichnis Ernst-Richard Schwinge

413

Einleitung „Uralte Gegenwart“: Dieses Goethewort lieferte den Titel für die  erschienenene Sammlung einer Reihe von Arbeiten Ernst-Richard Schwinges []¹, die sich mit Antikerezeption in der deutschen Kultur auseinandersetzten. Der Titel ist programmatisch, weil er zwei Interessen des in diesem Buch zu Ehrenden in einer „widerstrebenden Fügung“ glücklich vereint: Einerseits ist ErnstRichard Schwinge am „Uralten“ interessiert. Dass die griechische Kultur der Antike ihren eigenen historischen Moment hatte, den es zu erfassen gilt, dessen Verständnis sich uns nicht mühelos ergibt, sondern durch intensives und historisch bewusstes Forschen erarbeitet werden muss, ist ein Grundzug seines Schaffens. Die Einzigartigkeit der Werke, ihre „individuelle Physiognomie“ [] zu erfassen, setzt voraus, sie in ein Verhältnis zu ihrer historischen, sozialen, politischen und intellektuellen Umwelt zu stellen, und diese Kontextualisierung hat Ernst-Richard Schwinge immer wieder geleistet. Bereits seine Dissertation [] widmet sich, in intensiver Auseinandersetzung mit vorliegenden Forschungsmeinungen, einer solchen Fragestellung: Wie sind die Trachinierinnen im Rahmen des sophokleischen Gesamtwerks einzuordnen? Wie ernst es ihm mit dieser historischen Verortung großer Literatur ist, kann man vielleicht am besten dort erkennen, wo er sich mit solchen Fragen an Texte wendet, die für gewöhnlich gerade nicht in ihrem gesellschaftlichen oder politischen Kontext gelesen wurden: Seine intensiv rezipierte und diskutierte Arbeit zur hellenistischen Dichtung [] trägt die „Geschichtlichkeit der alexandrinischen Poesie“ bereits im Titel und zeigte eindringlich Dimensionen dieser oft als elitäre Spielerei verstandenen Texte, die in der Forschung zu wenig wahrgenommen worden waren. Doch diese „Zeitlichkeit“ großer Texte war für ihn nicht nur Forschungsauftrag, sondern zugleich auch „Problem“ []: Einem Historismus, der die Aufgabe des Textverständnisses für erledigt hält, wenn er rein deskriptiv die Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Werke erfasst hat, erteilt er immer wieder eine Absage, weil er eben an der Gegenwart des Uralten interessiert ist. Dass diese Texte weit über ihren ursprünglichen Rahmen gewirkt haben, dass sie auch zu uns heute noch sprechen, dass sie einen Anspruch erheben, wahrgenommen, ernst genommen zu werden, ist eine Prämisse seines Werks, die sich durch all seine Arbeiten zieht. Doch wie Schwinge einem ¹ Die Zahlen in eckigen Klammern verweisen auf das Schriftenverzeichnis Ernst-Richard Schwinges am Ende dieses Bands.



Einleitung

ungefährlichen, moralisch und politisch völlig neutralen Historismus nichts abgewinnen kann, so begnügt er sich auch bei seiner Betrachtung solcher Wirkungsgeschichten nicht damit, vor einem mutmaßlich von der Lebendigkeit der Antike bereits überzeugten Publikum pathetisch auf deren überzeitlichen Anspruch lediglich hinzuweisen, sondern er stellt präzise Fragen nach den Bedingungen für eine solche überzeitliche Wirksamkeit: Fußt sie auf bestimmten politischen oder ethischen oder religiösen Voraussetzungen (was impliziert, dass diese Werke nicht überzeitlich schlechthin wirken, sondern ihr Potential unter Umständen auch missachtet und vernachlässigt werden kann)? Wie kann man diese Voraussetzungen benennen und analysieren? Diese Spannung zwischen Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit, zwischen Historismus und Humanismus manifestiert sich in den Arbeiten Schwinges auf vielfältige Weise. Zu verweisen ist zum einen darauf, dass er sich am häufigsten eben mit den griechischen Texten auseinandersetzt, deren Wirkungsmacht sich über die Jahrhunderte immer wieder am stärksten entfaltet hat. Eine regelmäßig auftretende Konstante ist seine Bewunderung der griechischen Tragödie: Ihr sind Dissertation [] und Habilitationsschrift [] gewidmet, und in zahlreichen Beiträgen hat er sich sowohl der Deutung einzelner Passagen und Dramen zugewandt als auch energisch und hartnäckig die grundlegenden Fragen und Probleme der Gattung insgesamt behandelt (s. besonders [], [], [], []). Diese Bereitschaft, die zentralen Fragen der Dramendeutung anzugehen, erkennt man auch in seiner Auseinandersetzung mit Aristophanes, den er emphatisch als Dichter der athenischen Demokratie zu verstehen sucht (bes. [], [], []). Komplettiert wird diese Hinwendung zur Literatur der athenischen Klassik (ein Begriff, den Schwinge selbst immer wieder problematisiert hat) durch seine intensive Auseinandersetzung mit Thukydides ([], []). Prominent in Schwinges Schaffen sind weiter (neben der archaischen Literatur und der bereits erwähnten alexandrinischen Dichtung, neben auch einem Interesse für die lateinische Literatur) die homerischen Epen; in zahlreichen Arbeiten hat er sich sowohl ihrer komplexen Entstehungsgeschichte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit als auch den Prinzipien ihrer Erzählung zugewandt. Gebündelt findet man das Interesse für Epos und Drama in seinem Aufsatz über die Differenz dieser beiden Gattungen in der aristotelischen Poetik [], der auf einen weiteren Schwerpunkt in Schwinges Werk hinweist, die

Einleitung



antike Literaturwissenschaft. Auch hier finden wir einerseits das stete Bemühen, die antike Literaturbetrachtung in ihrem intellektuellen Umfeld zu verstehen und damit für die Deutung der antiken Texte fruchtbar zu machen, andererseits die Überzeugung, dass eine rein historisierende Betrachtung nicht das Erkenntnisziel sein kann, sondern sich immer auch die Frage nach überzeitlichen Aspekten, nach Fernwirkungen und Rezeptionsformen stellt. Weil nicht nur von der griechischen Literatur selbst, sondern auch vom antiken Nachdenken über Literatur Rezeptionspfade durch die Jahrhunderte bis zu uns in die Gegenwart führen, ist Kenntnis der historischen Dimension unabdingbar für unser Selbstverständnis, ist aber auch Kenntnis der Rezeptionsstränge zugleich Demonstration des Potentials, das den Texten innewohnt. Bei der Erforschung dieser Rezeption(en) antiker Literatur gilt Schwinges besondere Aufmerksamkeit der deutschen Kultur des . und . Jahrhunderts: In einer Reihe von Beiträgen beschäftigt er sich mit Schiller und Goethe, mit Herder und Hölderlin und mit Nietzsches Abschied von der Philologie, doch auch die Gegenwart fasziniert ihn, wie besonders seine Abhandlungen zu Christa Wolfs Medea zeigen ([] und []). Schwinges Arbeiten sind Musterbeispiele dafür, dass die klassische Philologie über das rein aufzählende und referierende Zusammentragen von Zeugnissen des „Nachlebens“ inzwischen weit hinausgekommen ist: Dass solche Dokumente der Rezeption höchst komplexe Analysen erfordern, in denen es beständig zu vermitteln gilt zwischen einer historisch verantwortlichen Lektüre der rezipierten antiken Texte, der Einbettung der modernen Rezipienten in ihrer eigenen intellektuellen Umwelt und dem Bewusstsein des heutigen Forschers über seine eigene historische Bedingtheit, ist leitendes Prinzip all seiner Untersuchungen. Das dialektische Verfahren, bei solchen Untersuchungen Zeitgebundenheit und Überzeitlichkeit zu bedenken und dabei sowohl die Skylla scheinbar naturgegebener Hypostasierungen zu vermeiden als auch die Charybdis eines reinen Empirismus, hat Schwinge einmal folgendermaßen beschrieben:² „Der Philologe […] ist gehalten, indem er an den Gegenständen arbeitet, ständig sein Tun mitzureflektieren und die angemessenen Zugriffsweisen auszumitteln –: seine Arbeit muß durchgängig Theorie und Praxis miteinander vermitteln […].“ Wie sehr Schwinge diese Sätze in seiner eigenen Arbeit befolgt, zeigt vielleicht am deutlichsten seine Beschäftigung mit der Geschichte und dem Selbstverständnis seines eigenen Fachs: Er hat nicht nur ² [],  = [], .



Einleitung

wichtigen Fachvertretern des . Jahrhunderts wie Wilamowitz oder Schadewaldt Einzeluntersuchungen gewidmet, sondern während seiner Zeit als Vorsitzender der Mommsen-Gesellschaft dafür gesorgt, dass deren . Jahrestagung  in Marburg sich der Aufgabe einer Selbstbefragung und Selbstreflexion stellte, deren Ergebnisse unter dem Titel Die Wissenschaften vom Altertum am Ende des . Jahrtausends n. Chr. erschienen []. Nimmt man die zahlreichen, stets sorgfältig gearbeiteten und pointiert verfassten Rezensionen hinzu, von denen eine ganze Reihe nicht zufällig in der Zeitschrift Das Historisch-Politische Buch erschien, so ergibt sich das Bild eines Gelehrten, der sein Fach nicht aus dem und für den Elfenbeinturm betreibt, sondern es als kulturelle und gesellschaftliche Aufgabe auch und gerade seiner Gegenwart versteht und der engagiert und offen die „uralte Gegenwart“ der antiken Literatur in den Blick nimmt. Die Herausgeber hoffen und wünschen, dass der in diesem Band zu Ehrende in den Beiträgen sein Engagement und seine Interessen widergespiegelt finden möge. Freunde, Schüler und Weggefährten, von denen viele ihm vieles verdanken, manche ihm seit Jahrzehnten verbunden sind, haben sich mit Gegenständen auseinandergesetzt, die auch Ernst-Richard Schwinge am Herzen liegen: Homer und die Tragödie, archaische, klassische und hellenistische Literatur, antike Literaturkritik und Literaturgeschichte, lateinische Literatur und die Rezeption der Antike in der deutschen Kultur, dies alles findet sich in den Beiträgen und soll als kleine Gegengabe Zeugnis dafür geben, wie reich wir alle uns von Ernst-Richard Schwinge in seinem lebendigen Beispiel und seinen Schriften beschenkt fühlen. Interpretieren war und ist für ErnstRichard Schwinge immer an die hermeneutische Reflexion über die historischen wie sachlichen Bedingungen der Deutung von Literatur gekoppelt. Diesem doppelten Anliegen entspricht die thematische Konzentration dieser ihm gewidmeten Festschrift: Epos – Lyrik – Drama. Genese und Ausformung der literarischen Gattungen. Dass die für seine Arbeiten so charakteristische Spannung zwischen Zeitlichkeit und Wirkungsmacht der antiken Literatur auch den Verfassern der Beiträge dieses Bands Inspiration für ihre Untersuchungen gewesen ist, kann jeder von ihnen bestätigen; dass die Orientierung an seinem Vorbild auch sichtbar wird, können wir nur hoffen. Da die Verfasser der Beiträge aus ganz unterschiedlichen Fachtraditionen stammen, haben wir von einer Vereinheitlichung der Zitierweisen und der Art der bibliographischen Erfassung abgesehen; aus demselben Grund haben wir es auch vorgezogen, die bibliographischen Nachweise in jedem Beitrag gesondert aufzuführen und keine Gesamtbibliographie für den Band zu erstellen,

Einleitung



da die Überschneidungen zwischen den Beiträgen recht klein sind. Ebenso haben wir den Autoren die Freiheit gelassen, selbst zwischen alter oder reformierter deutscher Rechtschreibung zu wählen. Möge die dadurch in diesem Band sich ergebende Buntheit als Widerspiegelung der Breite des vom Honorandus vorgelegten Œuvres verstanden werden! Uns bleibt die angenehme Pflicht des Dankens. Unser Dank gilt allen Freunden, Schülern, Kollegen und Weggefährten Ernst-Richard Schwinges, die sich spontan und gern bereit erklärten, einen Beitrag zu dieser Festschrift zu verfassen. Dass es bei der Drucklegung zu Verzögerungen kam, lag allein in der Verantwortung der Herausgeber, und diese Verzögerungen haben sie mit nobler Gleichmut ertragen. Unser Dank gilt ferner dem Winter-Verlag für sein Angebot, das Buch in sein Programm aufzunehmen. Gesetzt wurde das Buch mit der freien Software ConTEXt, deren Entwicklern wir für die Unterstützung danken möchten. Ohne die kompetente und engagierte Mitarbeit einer Reihe von Helfern in Marburg und Bonn hätten wir den Band nicht fertigstellen können: Charlotte Mohns hat die Notenbeispiele gesetzt; Elisabeth Beerens, Silke Pohl, Sven Meier und Mike Scior haben beim Satz der Beiträge und beim Korrekturlesen unschätzbare Arbeit geleistet, weit über das hinaus, was man von ihnen erwarten durfte. Ihnen allen möchten wir aufrichtig und von Herzen für Ihre Mühen danken. So bleibt uns als Abschluss der Wunsch, dass dieses Buch nicht nur bei seinem Adressaten Interesse und Zustimmung findet (vielleicht auch energischen Widerspruch, der zu fruchtbaren und lebendigen Diskussionen führt), sondern auch ein breiteres Publikum über Fachgrenzen hinaus die Faszination spüren lassen kann, die die antike Literatur ihren Lesern noch heute vermittelt. Boris Dunsch

Arbogast Schmitt

Thomas A. Schmitz

Gerhard Baudy

Die Irrfahrt des Odysseus – eine Zeitreise auf die Vorstufen der Zivilisation

Zu den kultischen Hintergründen und kulturphaseologischen Implikationen der epischen Untergattung „Heroenreise“

Dem Jubilar verdanken wir einen Beitrag zur Odyssee, der das individuelle Profil dieses Heimkehrer-Epos durch den Vergleich mit postulierbaren Vorläufer-Versionen zu erschließen versucht.¹ Auch die in die Dichtung eingelagerten Erzählungen des Odysseus über seine abenteuerlichen Reisen warfen schon immer die Frage nach der Originalität dieser Passagen auf: Hat der Autor sie erfunden oder älteren Werken, sei es über Odysseus selbst, sei es über andere Helden, entlehnt, und wenn ja: Hat er sie nach einem neuen oder einem traditionell vorgegebenen Bauplan zusammengefügt? Insbesondere in den Trugreden des Odysseus glaubte man Spuren eines älteren Epos zu finden, das den Helden nicht durch eine imaginäre, sondern die reale Welt des östlichen Mittelmeerraums führte. Die uns vorliegende Dichtung hätte dann die frühere Version durch eine phantastische Reise ersetzt, gleichzeitig aber als kontrastierende Folie abgerufen.² Das mag richtig sein, doch haben die Trugreden innerhalb unseres Epos nicht noch eine darüber hinausgehende poetologische Funktion?³ Fordern sie die zeitgenössischen Rezipienten nicht ¹ Schwinge . ² Woodhouse : bes. –, –; West ; Reece ; Burkert : –. Nach einer Lesart Zenodots (zu Od. . und  in Schol. Od. .) schickte Athene Telemach nicht nach Sparta, sondern nach Kreta. Das wurde als Hinweis auf eine verdrängte Version der Odyssee verstanden, in der Telemach Odysseus (in unserer Odyssee durch den Seher Theoklymenos vertreten: Reece : –; Rengakos : ) auf Kreta fand und von dort nach Ithaka zurückbrachte. Kritisch hierzu Grossardt : –. Er wendet sich auch (ebd. –) gegen die von Reece : f. wieder aufgegriffene These von Allen  und : –, die kaiserzeitliche Prosaversion des Diktys basiere auf vorhomerischer Überlieferung. Ahl  vermutet hinter den Lügenerzählungen rivalisierende Nostoi anderer Heroen.

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Gerhard Baudy

gerade dazu auf, reale und phantastische Räume aufeinander zu beziehen? Die Möglichkeit, das so zu verstehen, ergibt sich, wenn wir, wie ich es im Folgenden vorschlage, in den Abenteuern des Odysseus eine ihn auf die Vorstufen der Zivilisation zurückversetzende Zeitreise erkennen. Dies allerdings ist kein innovatives Konzept des homerischen Epos, sondern etwas, was die Heldenfigur mit anderen reisenden Heroen verbindet.  Anthropologische Grundlagen imaginärer Reisen Gibt es ein Volk, das keine Erzählungen über Helden der Vorzeit kennt, die einst in Überbietung gewöhnlicher Reiseerlebnisse in entlegenste und für ihre Zeitgenossen noch unerreichbare Gebiete vorgestoßen seien? Kaum. Denn das jenseits unserer aktuellen Erfahrungshorizonte liegende Unbekannte ist seit jeher ein Faszinosum; es beschäftigt die menschliche Phantasie in besonderem Maße. Was aber macht einen in märchenhafte Fernzonen verschlagenen Abenteurer wie Odysseus auch noch für heutige Leser attraktiv, wo wir doch in einer Welt leben, in der es keine dunklen Flecken auf der Landkarte mehr aufzuhellen gibt? Unserem Bewusstseinsstand adäquater erscheinen Werke der Science-Fiction-Literatur, welche die Odyssee in die unerforschten Weiten des Weltalls versetzen. Wieso bereitet uns das altgriechische Epos gleichwohl noch ästhetisches Vergnügen? Was garantiert ihm seine – rezeptionsgeschichtlich fassbare⁴ – Langzeitwirkung? Der Grund hierfür ist in Handlungsprogrammen zu suchen, die uns bereits in die Wiege gelegt sind. Auch wer in eine globalisierte Zivilisation hineingeboren wird, wächst in einer zunächst unbeherrschten Umwelt voller dunkler Gefahrenquellen auf. Alle Pfade, die er sich bahnt, führen scheinbar durch Neuland, mögen sie auch noch so ausgetreten sein. Denn der angehäufte Vorrat an historischer Erfahrung, den wir vorfinden, entlastet uns nur bedingt, da er uns nicht von Anfang an und niemals komplett zur Verfügung ³ Dass die Figur des ‚Lügners‘ Odysseus poetologisch zu lesen ist und den epischen Dichter selbst repräsentiert, hat Pratt : – erkannt. Sie weist damit die traditionelle Auffassung zurück, das Prinzip der Fiktionalität sei in Griechenland erst spät entdeckt worden, so etwa Rösler , der das für eine neue Einsicht des Aristoteles (nach vorbereitenden Ansätzen im . Jh. v. Chr.) hält. ⁴ Odysseus präfiguriert alle späteren Reisenden der griechischen Tradition (Hartog ). Die Odyssee lässt sich als Gründungsurkunde der griechischen Geographie und Ethnographie betrachten (so etwa Jacob : –). Die ambivalente Bewertung der Odysseusfigur in der europäischen Literaturgeschichte analysiert Assmann .

Die Irrfahrt des Odysseus

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steht. Wie Pioniere müssen wir neu entdecken, was andere vor uns schon lange erkundet haben. In gewisser Weise wiederholt jeder Reifungsprozess die Menschheitsgeschichte. Alle Gesellschaften unterstützen diese Suggestion dadurch, dass sie für ihre Kinder und Jugendlichen verschiedenartige Identifikationsangebote in Gestalt wandernder literarischer Helden bereitstellen, die mutig vorlebten, wie man sich dem Unheimlichen erfolgreich aussetzt. Erwachsen zu werden bedeutet stets auch, seinen Gesichtskreis auf einen von der jeweiligen Gesellschaft geforderten Radius zu erweitern. Dazu müssen Angstschwellen vor dem bisher Unvertrauten überwunden werden. Mit immer länger werdenden räumlichen Pendelbewegungen löst sich das heranwachsende Kind vom schützenden Elternhaus ab und erschließt sich allmählich die Umwelt. Auf dieses genetisch fixierte, subjektiv als Neugierde erlebte Ausgriffsverhalten gründet sich unser Interesse für reisende Figuren. Der von ihnen vermittelte ästhetische Reiz besteht in einer eigentümlichen Mischung aus Angst und Lust. Weil die Kreisstruktur der Reise den Verzicht auf vertraute soziale Bindungen und Geborgenheit mit einer erfolgreichen Rückkehr aus der Fremde und einem Wiedergewinnen des heimatlichen Nahhorizonts belohnt, polarisiert sich die ambivalente Angstlust, das Widerspiel von zentrifugalen und zentripetalen Antrieben, in Form eines zweiphasigen Schemas. Dieses Orientierungsmuster ist nichts spezifisch Menschliches, sondern gehört zur biologischen Grundausstattung aller revierbildenden Tiere. Seine evolutionäre Verankerung im genetischen Code verdankt sich dem Selektionsvorteil des neugiergesteuerten Ausgriffsverhaltens, denn für alle Revierinhaber ist es wichtig zu wissen, was jenseits der von ihnen selbst beanspruchten Gebiete liegt. Neue Territorien können überhaupt nur besetzt werden, wenn sie vorher durch experimentelle Grenzüberschreitungen erkundet worden sind. Getestet wird hierbei die Attraktivität möglicher Lebensräume: Bieten sie genügend Nahrung? Gibt es darin sichere Orte, die sich als Heimplätze eignen? Halten sich darin Artgenossen auf, die das Gebiet als ihr Revier betrachten und es gegen Eindringlinge verteidigen? Und wenn ja, wie stark sind sie? Besteht die Chance, sie zu berauben oder gar zu vertreiben? Und nicht zuletzt: Begegnet man dort potentiellen Sexualpartnern, die man Konkurrenten abjagen kann? Jede Grenzüberschreitung ist nun aber mit dem Risiko verbunden, sich im unbekannten Gelände zu verirren, den Rückweg nicht mehr zu finden, seine soziale Identität zu verlieren und, statt auf neue Nahrungsquellen zu stoßen, selbst einem Fressfeind zum Opfer zu fallen. Der Beutetieren nachstellende Jäger wurde in der menschheitsgeschichtlichen Vergangenheit ja leicht

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Gerhard Baudy

seinerseits zum Gejagten. Hunderttausende von Jahren lebten unsere Vorfahren allesamt in kleinen Gruppen inmitten einer feindgetönten, von Raubtieren durchschweiften Umwelt. Unter solchen Rahmenbedingen war es überlebenswichtig, genetische Programme zu entwickeln, die dafür sorgten, dass das einzelne Individuum den schützenden Nahbereich der Gruppe bloß vorübergehend verließ. Die angeborene Angst vor Fressfeinden erhielt sich aber auch unter der veränderten Umweltsituation der Hochkultur, nur dass an die Stelle der nunmehr verschwundenen Raubtiere die Phantasiebilder nächtlich aktiver Dämonen traten. Auf sie wurden die angstauslösenden Merkmale der Fressfeinde, Fangzähne und Klauen, projektiv übertragen.⁵ Oft mischen sich die theriomorphen Züge der Dämonen mit anthropomorphen Eigenschaften. Denn Angehörige fremder menschlicher Gruppen, bei denen man sich nicht sicher ist, wieweit sie eigene Kommunikationsregeln beachten, lösen das angeborene Artfeind-Schema aus: Man verdächtigt sie raubtierhafter Verhaltensweisen. Die ethnographische Phantasie der Antike bevölkerte die Randzonen der bekannten Welt, jenseits der Peripherie der ackerbautreibenden Hochkulturen, mit allerlei imaginären Völkern, die halb Mensch, halb Tier waren. In dieser Region schienen Reisende stets Gefahr zu laufen, Menschenfressern in die Hände zu fallen. Dieser aus antiker Ethnographie ererbte Erwartungshorizont determinierte die Fremdenwahrnehmung der europäischen Kolonisatoren bis ins . Jahrhundert. Wohin immer die Europäer kamen – stets befürchteten sie, unter Kannibalen zu geraten. Der Missionar im Kochtopf des Negers war bekanntlich eine geläufige Karikatur in Zeitungen, bevor das Zeitalter der political correctness es nicht mehr zuließ, tradierte Vorurteile auf gewohnte Weise zu bebildern. Die beim Eindringen in unvertraute Räume aktivierten Ängste haben sich in reicher Variationsbreite im Erzählgut der Menschheit niedergeschlagen.⁶ Jede Gesellschaft schafft sich ihre fiktiven Helden, die sie stellvertretend für sich ins Unbekannte hinausschickt. Bevor solche Heldenfiguren literarisiert wurden wie etwa Gilgamesch in der sumerisch-babylonischen oder Odysseus in der griechischen Epik, waren sie Bestandteil mündlicher Überlieferungen.

⁵ Forschungsliteratur zu dieser Theorie der ‚szenischen Ergänzung‘ bei Baudy . ⁶ Auf biologische Grundlagen zurückgeführt von Burkert (: – „Handlungsprogramm und Erzählstruktur“).

Die Irrfahrt des Odysseus

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Ihre märchenhaften Expeditionen bis zum Rand der Welt sind strukturell vorgebildet im Erzählrepertoire vorbäuerlicher Stammesgesellschaften und besitzen dort institutionelle Korrelate einerseits in der schamanistischen Performance, andererseits in Riten der Jugendweihe. Die Ähnlichkeiten zwischen traditionellen Abenteuererzählungen und dem Ritual des Schamanen⁷ springen ins Auge: Wenn das Jagdglück ausbleibt, wenn ein Gruppenmitglied erkrankt oder stirbt, versetzt sich dieser Spezialist für den Umgang mit dem Unsichtbaren in einen rituellen Trancezustand. Seine Seele verlässt den Körper und reist an jenseitige Orte, sei es zum Herrn der Tiere, um ihn dazu zu bewegen, neues Jagdwild zu schicken, sei es ins Land der Dämonen, um gegen sie zu kämpfen und sie dazu zu zwingen, die von ihnen erbeutete Seele des Kranken herauszurücken, oder auch ins Reich der Toten, um den Geist des Verstorbenen dorthin zu geleiten. Nach dem Erwachen aus der ekstatischen Trance publiziert der Schamane seine imaginäre Reise in Form einer Ich-Erzählung. Durch deren narrative Umsetzung in die dritte Person, meinte Karl Meuli, sei das Märchen und damit die mündliche Urform des griechischen Heldenepos vom Typ der Odyssee entstanden.⁸ Die sich aus zeremoniellen Vorgaben entwickelnden Reiseabenteuer fiktiver Helden werden nun aber ihrerseits zu mythischen Paradigmata rituellen Handelns: Bei den nomadischen Magar in Westnepal trägt der Schamane die kanonisierten Erzählungen an den Stammesfesten in Liedform vor, wobei er zugleich dramatisch darstellt, was der fiktive Held, der Ur-Schamane, im Lied erlebt. Die Stationen der Abenteuer sind mit Landschaftspunkten identisch, welche die Hirten mit ihren Herden beim jährlichen Weidewechsel passieren.⁹ So entsteht eine geistige Landkarte, welche den territorialen Aktionsraum der Gruppe gliedert und gegen die unbekannte Welt abgrenzt. Auf den Spuren mythischer Ahnen wandelnd, wiederholen der Dichter und sein Publikum die urzeitliche Genese der geographischen Horizonte, die sie für sich beanspruchen. Der von diesen umfasste Binnenraum wird durch eine Art ästhetisches Probehandeln an saisonalen Zäsuren immer wieder neu ausgekundschaftet, gewissermaßen geistig erzeugt, bevor die Gruppe sich zu Fuß darin weiterbewegt, ihn in der Realität durchmisst und an seine Grenzen vorstößt.

⁷ Vgl. Eliade . ⁸ Meuli b: –. Schamanistische Züge der Odyssee wurden in der Forschung immer wieder konstatiert, z. B. Thornton : –; Gresseth ; Kakridis . ⁹ Vgl. Oppitz .

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Gerhard Baudy

Doch kann das Ritual des Schamanen nicht die einzige Wurzel der märchenhaften Reiseerzählungen sein. Die für Märchen typische Jugendlichkeit des Helden weist, worauf verschiedene Forscher mit Recht aufmerksam gemacht haben,¹⁰ in eine andere Richtung, nämlich auf kollektive Riten der Jugendweihe. Diese basiert auf einem analogen Strukturschema: Bevor Jugendliche in traditionellen Stammeskulturen in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen werden, müssen sie die Siedlung verlassen und sich an ‚jenseitige‘ Orte begeben. Sie erleiden dabei einen sozialen ‚Tod‘, ihre Rückkehr wird entsprechend als ‚Wiedergeburt‘ inszeniert. Während ihres sogenannten Buschlagers weilen die Initianden der Ritualfiktion nach in einer dämonischen Gegenwelt, werden von Ungeheuern verschlungen, begegnen den Ahnen und werden von ihnen in die geheimen Stammestraditionen eingeweiht. Dieser rituell gesteuerte Transfer des kulturellen Gedächtnisses auf die nächste Generation wiederholt im Bewusstsein der Beteiligten ein mythisches Urzeitgeschehen, in dessen Verlauf die sozialen Institutionen entstanden sind.¹¹  Sagen mit reisenden Helden im griechischen Kolonisationszeitalter In einer Vielzahl griechischer Sagen bildet sich das gleiche narrative Muster ab. Auch sie waren an öffentliche Feste angeschlossen und reisenden Göttern und Heroen gewidmet, mit denen sich die erwachsen werdenden Jugendlichen identifizieren sollten. Im Laufe des . Jahrhunderts hat die Forschung zunehmend gelernt, solche Erzählungen als Reflexe kommunaler Initiationsriten zu deuten.¹² Hierher gehören etwa die Abenteuer des Herakles oder die Schiffsreise der Argonauten, die die Grenzen der damals bekannten Welt ausloteten und darüber hinausführten. Derartige Fernreisen konnten die realen

¹⁰ Z. B. Eliade ; Propp . ¹¹ Vgl. Eliade . ¹² Zur Forschungsgeschichte vgl. Baudy . Genannt seien hier nur einige klassische Monographien: Jeanmaire ; Brelich ; Calame ; Vidal-Naquet ; Dowden . Nicht verschwiegen sei, dass einer der führenden deutschsprachigen Vertreter des Initiationsparadigmas dessen Tragfähigkeit neuerdings überraschenderweise in Frage stellt (Graf ). Die Kritik richtet sich gegen seine oft allzu schematische und begrifflich unreflektierte Anwendung.

Die Irrfahrt des Odysseus

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Jugendlichen natürlich nur auf der Ebene rituell gesteuerter Phantasie mitvollziehen. Apollonios Rhodios vergleicht daher die nach Kolchis aufbrechenden fünfzig Argonauten, die zur Leier des Orpheus im Takt die Ruder schlagen, mit einem apollinischen Chorreigen (.–). Was in der historischen Festwirklichkeit die kreisende Bewegung adoleszenter Tänzer war, verwandelte sich im Mythos zur ersten Schiffsreise ins Schwarze Meer. Die erzählten und im kultischen Tanz dargestellten Mythen vermittelten den Jugendlichen unter der Hand ein geographisches Weltbild, das es ihnen ermöglichte, Ängste vor dem Unbekannten geistig zu verarbeiten und Handlungsspielräume für künftige Handelsreisen in bereits kolonisierte Gebiete abzustecken. Und natürlich ermutigte das Beispiel der früheren Helden auch dazu, die räumlichen Grenzen durch eigene Pioniertaten in noch größere Ferne zu verlagern und so die wesentliche Vorbedingung für eine weitere koloniale Expansion zu schaffen. Die gleiche Orientierungsfunktion haben die phantastischen Irrfahrten des Odysseus.¹³ Die verschiedenen Abenteuer, die er auf dem Rückweg in die Heimat erlebt, sind Szenarien der Jugendweihe nachgestaltet.¹⁴ Selbst als er nach -jähriger Abwesenheit im Tarngewand eines fremden Bettlers nach Ithaka zurückkehrt, muss er seinen alten königlichen Status, seine Frau und seinen Besitz wie ein noch nicht in die Gesellschaft integrierter Jugendlicher neu erkämpfen. Die auf Ithaka vorgefundene verkehrte Welt steht in semantischer Korrelation zu den gespenstischen Gegenwelten, die der Heros unterwegs passiert. An einem Fest des Initiationsgottes Apollon¹⁵ stellt Odysseus, ¹³ Malkin  sieht in ihnen „protokoloniale“ Erfahrungen im westlichen Mittelmeerraums gespiegelt, wo Odysseus und andere Troiaheimkehrer später als Städtegründer verehrt wurden. Einen kolonialen Kontext haben für die Odyssee viele Interpreten angenommen, so etwa Murray / und Dougherty . Das bedeutet freilich nicht, dass solche Forscher in der Kolonisation die Voraussetzung der Odyssee sähen. Vielmehr meint man, die Siedler hätten die homerische Odyssee in den Westen mitgenommen bzw. die Abenteuer des Helden später in ihren Raum verlegt. Z. B. Murray /: . In diesem Sinne zuletzt Grossardt : . ¹⁴ Germain ; Segal ; ; Bremmer : –; Newton ; Moreau : ; : –; Wathelet : –; Dowden : –; Renaud/Wathelet : f. Das Buch von Housten  ist eine wissenschaftlichen Ansprüchen nicht gerecht werdende essayistische Applikation der Initiationstheorie im Gefolge von J. Campbell und C. G. Jung. ¹⁵ Od. ., –; .f.; nach . und . fiel das Fest auf einen Neumond, was nach Philochoros, FGrHist  F b, ein traditioneller apollinischer Festtermin war (Russo/Fernández-Galiano/Heubeck : ). Zum Initiationscharakter des Festes vgl. Hölscher : – (zu Unrecht ablehnend Danek : f.) und Auffarth : ff. Nach Auffarths Deutung verschränken sich am Fest des Apollon die rituellen Komplexe

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mit dem Bogen die Freier der Penelope tötend, die ursprüngliche Ordnung wieder her. Ihm zur Seite steht sein zur gleichen Zeit tatsächlich erwachsen werdender Sohn Telemach,¹⁶ der ebenfalls gerade von einer Reise zurückgekehrt ist: Auf der Suche nach dem Vater hat er, mit den Freiern seiner Mutter überworfen und von einem beabsichtigten Mordanschlag bedroht, die Städte Pylos und Sparta auf der Peloponnes bereist, um bei den Troiahelden Nestor und Menelaos Erkundigungen über den Vermissten einzuziehen. Hier erfährt er, welche Rolle Odysseus bei der Eroberung Troias spielte und warum sich seine Heimkehr so lange verzögert. Auffälligerweise fällt die Ankunft Telemachs in Pylos zeitlich mit einem Fest des Poseidon zusammen (Od. .–), und auch in Sparta findet gerade ein Fest statt, als Telemach dort eintrifft: eine Doppelhochzeit, die Menelaos für seinen Sohn und seine Tochter ausrichtet (Od. .f.). Obwohl das Epos die Reise des Jünglings anders begründet, verhält er sich, von Altersgenossen begleitet (Od. .; .), wie adoleszente Festgesandte, die mythische Überlieferungen anderer Städte kennenlernten, bevor sie in ihrer Heimatstadt eingebürgert wurden. Seine Reise durch benachbarte geographische Gebiete wird durch die märchenhaften Fernreisen seines Vater konterkariert und überboten.¹⁷ Ob sich die Irrfahrt des Odysseus in eine reale Reiseroute übersetzen lässt, wurde schon in der Antike diskutiert (Strab. .).¹⁸ Die meisten heutigen Forscher neigen der von Strabon bekämpften Ansicht des Eratosthenes zu, der aus den widersprüchlichen Lokalisierungen der Abenteuer den Schluss zog, sie seien allesamt vom Dichter erfunden (bei Strab. .. []). Demnach wäre die Anbindung der Sagenstoffe an bestimmte Länder und Ortschaften nicht als Voraussetzung des Heldenepos, sondern als Sekundärphänomen zu betrachten, das zur Rezeptionsgeschichte der Odyssee gehört. Doch eines Initiations- und eines Inthronisations- bzw. Neujahrsfestes, thematisch verteilt auf die Figuren Telemach und Odysseus. ¹⁶ Ihm beginnt der Bart zu wachsen (Od. . u. ), ein körperliches Symptom dafür, dass er alsbald die soziale Reife erlangt (Od. .). Auffarth : –. ¹⁷ Dass die Reise des Telemach eine Art Initiationsreise ist, wurde oft festgestellt (z. B. Eckert ; Mandell ; Moreau ; ; Scheid-Tissinier ; Wathelet ; Wöhrle ). Toher  bestreitet, dass sich die Telemachie in einen rite de passage übersetzen lasse. Davon kann in der Tat keine Rede sein. Doch bereitet sie das Statuswechselfest des Apollon, den Zielpunkt des epischen Geschehens, vor. ¹⁸ Ein Überblick über die verschiedenen Kartographierungsversuche von der Antike bis zur Moderne bei Wolf : –. Kaum diskutabler ist Wolfs eigene Rekonstruktion von Odysseus’ Reiseroute (ebd. –). Generell ablehnend gegenüber solch geographischen Hypothesen äußert sich z. B. Jacob .

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kann es in der Zeit mündlicher Sagenüberlieferungen nicht konkurrierende, auf verschiedene lokale Kulte bezogene Versionen des Odysseusmythos gegeben haben? Und können wir sicher sein, dass das ‚homerische‘ Epos eine freischwebende Phantasiewelt schuf, für die es keinerlei Basis in der realen Erfahrungswelt gab?¹⁹ Steuerte der Dichter nicht die Erwartungen seiner zeitgenössischen Hörer und Leser durch topographische Textsignale, die dazu aufforderten, die Abenteuer des Helden mit bestimmten Regionen des Mittelmeerraums zu verbinden? Welcher Sinn dem beizumessen ist, möchte ich im Rahmen meines Beitrags an mehreren Beispielen demonstrieren. Vor einer völligen Abkoppelung der poetischen Fiktionen von realen Erfahrungsräumen sollte uns schon der Umstand bewahren, dass die epischen Dichtungen mit reisenden Heroen sich zur Zeit einer kolonialen Expansion entwickelten, die im . Jh. v. Chr. ihren Höhepunkt erreichte.²⁰ Damals gründeten Griechen Ackerbau- und Handelskolonien in verschiedenen Küstenregionen des Mittelmeerraums und des Schwarzen Meeres. Gleichzeitig entstanden Erzählungen, deren Helden diese Gegenden bereits in der präkolonialen Vorzeit aufgesucht haben sollten. Die prominenteste dieser Figuren war Herakles. Er lebte nach der griechischen Sagenchronologie eine Generation vor dem troianischen Krieg und galt seinerseits als ein Eroberer Troias, eine Heldentat, welche die spätere Zerstörung der Stadt durch einen panhellenischen Kampfbund vorwegnahm. Darüber hinaus soll er aber das ganze Mittelmeerbecken und das Schwarzmeergebiet umrundet und dabei eine Vielzahl von Ungeheuern und Unholden getötet haben. Diese über gefährliche Phantasiewesen errungenen Siege galten als Vorbedingung für die Kultivierung des Landes, welche dann die griechischen Siedler vollzogen. Wenn diese aber keine neuen Städte gründeten, sondern sich in bereits vorhandenen nichtgriechischen Kommunen niederließen, betrachteten sie Herakles kurzerhand als einen Heros, der einst hier vorbeigekommen war und das Land für seine

¹⁹ Das unterstellen die meisten Arbeiten, die die Abenteuer des Odysseus als „Märchen“ (z. B. Petersmann ; Hölscher ; Jensen ) oder „folktale“ bezeichnen (z. B. Page : ; Carpenter ). Radermacher  schwankt zwischen den Begriffen Märchen, Sage und Mythos. Renger  und  verortet die Abenteuer des Odysseus in der historischen Schwellensituation zwischen dem (von ihr als älter angesehenen) Mythos und dem Märchen. Wenn ich selbst den Ausdruck „märchenhaft“ verwende, so trage ich damit nur dem Eindruck Rechnung, den die Erzählungen auf heutige Leser machen. Tatsächlich handelt es sich m. E. um literarische Reflexe von Kultmythen. ²⁰ Vgl. Malkin .

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künftigen Nachkommen in Besitz genommen hatte – eine mythische Legitimationsformel, mit der die Zuzügler ein Recht auf den Besitz des Landes fingierten.²¹ Der einzelgängerische Abenteurer Herakles wurde gewissermaßen als narratives Zitat in den Sagenkreis der Argonauten, fünfzig jugendlicher Helden, eingebaut, die auf dem ersten aller Schiffe, der Argo, eine Expedition zuerst ins Schwarze Meer unternommen haben sollen. Wieweit die hellenistische Version des Epos, die Apollonios Rhodios verfasst hat, auf die nicht erhaltenen vorhomerischen Argonautika zurückgeht, ist umstritten. In diesen dürfte die Fahrt der Argo sich weitgehend auf das Schwarzmeergebiet beschränkt haben. In der Dichtung des Apollonios jedoch stoßen die Argonauten auf ihrer Rückfahrt von Kolchis über die Donau in die Adria vor, umrunden dann auf einer Irrfahrt das Mittelmeergebiet und kehren nach einem Zwischenaufenthalt an der afrikanischen Küste nach Griechenland zurück. Die kollektive Fahrt der Argonauten wiederholt einerseits die Wanderungen des Herakles und präfiguriert andererseits die künftigen Kolonistenschiffe, die griechische Siedler zu den von der Argo angesteuerten Küstenorten brachten. Auf den Spuren der Argonauten bewegte sich wiederum das Schiff des Troiaeroberers Odysseus, denn es passiert die zusammenschlagenden Felsen, eine Art Jenseitstor, durch das vorher die Argo als erstes und einziges Schiff hindurchgelangt war (Od. .f.). Eine vorhomerische Argonautendichtung bildete also eine narrative Voraussetzung der Odyssee, einer der Gründe dafür, auch einige andere der dem Aufenthalt auf der schwimmenden Insel Aiolia folgenden Abenteuer – insbesondere die Stadt der Laistrygonen und die Kirkeinsel Aia – für aus der Argonautensage entlehnt zu halten und nicht im Westen, sondern im Schwarzmeergebiet zu verorten.²² Das homerische Epos ignoriert jedoch, dass sein Held sich in bereits von Herakles entwilderten und von den Argonauten ²¹ Diese Fiktion wurde bei der Kolonisierung Siziliens benutzt (Hdt. .; Diod. ..–). Vgl. den analogen Gründungsmythos von Kroton in Italien (Diod. ... Malkin : f.). Die Wanderungen des Herakles mit der geraubten Rinderherde des Geryones bildete das Aition städtischer Opferfeste, die von Jugendlichen ausgerichtet wurden (z. B. Diod. ..–). ²² Der Dichter hat das Motiv der schwimmenden Insel als poetischen Kunstgriff benutzt, um die plötzliche Verlagerung der Schauplätze in den Nordosten zu plausibilisieren (Schwartz : ). Eine weitreichende Beeinflussung der Odyssee durch den Argonautenmythos postulierten u. a. Kirchhoff : –; Kranz : –; Meuli a: ff.; Lesky ; Merkelbach : –; mit Einschränkungen Danek : ; ; ; . Unnötig ablehnend äußern sich Dufner : –, –, Hölscher : – und West . Vgl. Kullmann : –.

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erschlossenen Gebieten bewegt. Vielmehr gelangt auch er in allerlei gespenstische Gegenwelten, die allesamt eine Gemeinsamkeit aufweisen: Es gibt dort – mit Ausnahme der Phaiakeninsel Scheria, der letzten Station der Irrfahrt – keinen Ackerbau. Wenn Odysseus auf einer fremden Küste landet und dort vergeblich „Getreide essende Menschen“ vorzufinden erwartet (Od. .), wenn er nach nicht vorhandenen Pflugspuren Ausschau hält (Od. ., ; vgl. ., ), gilt das als alarmierendes Gefahrensignal:²³ Der Leser ist damit vorgewarnt; er weiß nun, dass der Held eine vorzivilisatorische Region betritt, in der die Gesetze des Zeus nicht gelten (Od. .–), der Fremde nicht wie ein Gast bewirtet, sondern eventuell wie ein Beutetier verspeist wird. Eben das erlebt Odysseus zweimal, zuerst auf der Insel der Kyklopen und dann im Land der Laistrygonen. Die Rückreise nach Ithaka wiederholt demgegenüber den Prozess der Kulturentstehung. Bezeichnenderweise vergleicht die Dichtung den auf Scheria gelandeten, sich nach der Heimat sehnenden Helden mit einem Pflüger, der das Brachland bestellt hat und abends ermattet in sein Haus zurückkehrt (Od. .–). Als er endlich wieder das Kulturland erreicht hat, küsst er „den gersteschenkenden Ackerboden“, zuerst auf der Insel der Phaiaken (Od. .), dann auf Ithaka (Od. .). Obwohl König Ithakas, wird Odysseus als bäuerlicher Gutsbesitzer dargestellt,²⁴ den seine agrarische Kompetenz mit großem Stolz erfüllt, fordert er doch den Freier Eurymachos geradezu zum Wettkampf beim Ernten und Pflügen heraus (Od. .–).  Odysseus’ Weg durch die Vorgeschichte der Menschheit Ich habe die Irrfahrt des Odysseus im Titel meines Beitrags eine Zeitreise auf die Vorstufen der Zivilisation genannt. Meine These lautet, dass es sich bei dieser Reise um einen verräumlichten Kulturentstehungsmythos handelt, der nach einem dreiphasigen Schema organisiert ist.²⁵ Odysseus wird wiederholt in ferne paradiesische Gegenwelten verschlagen, in denen niemand zu arbeiten braucht, weil man dort von der Hand in den Mund lebt, und kehrt von dort im Durchgang durch eine gefährliche, von kannibalischen Hirten bevölkerte ²³ Vgl. Vidal-Naquet : –. ²⁴ Vgl. Strasburger . ²⁵ Eine Zeitreise-Theorie benutzen implizit alle Interpreten, die die Abenteuer des Odysseus mit der Antithese ‚Natur-Kultur‘ bzw. ‚Wildheit-Zivilisation‘ analysieren, doch geriet die Dreiphasigkeit der Irrfahrt-Episoden bisher nicht in den Blick. Das gilt auch für Arbeiten, welche die Geschichte des ethnographischen Diskurses mit der Odyssee beginnen lassen (Jacob : –; Hartog : –).

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Zwischenwelt in die Welt des Ackerbaus zurück. In hellenistischer Zeit hat der Aristotelesschüler Dikaiarch ein solches Dreiphasenmodell in die philosophische Kulturtheorie eingeführt, die bis in unsere Gegenwart fortwirkt (fr. – Wehrli).²⁶ Dieser Theorie zufolge waren die ersten Menschen ursprünglich Sammler, dann seien sie zur Viehzucht übergangen und hätten als Nomaden (= Hirten) gelebt. Aus den Hirten aber seien schließlich Bauern geworden, nachdem die Feldbestellung mit dem Pflug erfunden worden war. Diese Kulturstufenfolge ist, wie wir heute wissen, historisch unrichtig. Es handelt sich um einen aus griechischen Überlieferungen abstrahierten Mythos, dessen Grundidee, wie ich meine, schon von der Odyssee vorausgesetzt wird. Worin besteht nun aber die narrative Logik dieses Mythos? Woraus ist er abgeleitet? Dikaiarchs Werktitel verrät es uns: Er hat sein kulturphilosophisches Werk Bíos Helládos, „Lebensgeschichte Griechenlands“, genannt.²⁷ Diese Metaphorik enthüllt, nach welchem Modell die angeblichen Entwicklungsstufen der Menschheit gestaltet sind: Die paradiesische Urstufe entspricht der Kindheit. Wie die kleinen Kinder von der Mutter, so wurden die ersten Menschen von der mütterlichen Erde ernährt, und zwar in Form wild wachsender Pflanzen, die sie nur aufzusammeln brauchten. Die folgende Nomadenzeit ist hingegen eine Projektion des Jugendalters, da männliche Jugendliche in vormodernen Gesellschaften gewöhnlich das Vieh zu hüten hatten, bevor sie die Felder bestellten und heirateten. Letzteres erklärt denn auch die Vorstellung, die bäuerlichen Völker seien sesshaft gewordene Nomaden. Unter den Vorzeichen eines solchen Mythos wiederholt jeder individuelle Lebenslauf die Geschichte der Menschheit. Wer daher mit dem Erreichen des Erwachsenenalters einen eigenen Haushalt gründete und mit dem Pflug das Brachland kultivierte, schien den kulturellen Fortschritt vom Hirten zum Bauern in seiner Biographie nachzuvollziehen.²⁸ Eben das widerfährt nun auch dem epischen Helden Odysseus, wiewohl er längst ein erwachsener Mann ist. Er wird auf seinen Irrfahrten in eine vorbäuerliche Welt zurückversetzt und nähert sich ihr schrittweise wieder an. Von seiner Ehefrau und vom Kulturland getrennt, regrediert er zugleich lebensgeschichtlich in einen vorerwachsenen Zustand. Am Ende muss er auf Ithaka sogar um die Hand seiner Frau ²⁶ Zur Einordnung Dikaiarchs in die europäische Kulturstufentheorie: Menghin ; Bodei Giglioni ; Müller : –. ²⁷ Ax : – versteht den Werktitel Dikaiarchs nicht im Sinne von Lebensgeschichte, sondern von Lebensführung/Lebensweise Griechenlands. Das wird dem diachronen Aufbau des Werks nicht gerecht. ²⁸ Vgl. Baudy : .

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kämpfen, als wäre er mit ihr noch gar nicht verheiratet, und die Hochzeitsnacht wiederholen. Die Abenteuerserie beginnt mit der Abreise von Troia. Die Flotte des Odysseus landet im Land der Kikonen. Sogleich gelangen die im troianischen Krieg eingeübten Handlungsmuster zum Einsatz: Als hätte der Held den Hals nicht voll genug bekommen, zerstört er Ismaros, die Stadt der Kikonen. Die erbeuteten Frauen und Güter werden wie üblich verteilt. Doch das Unternehmen endet diesmal in einer Katastrophe: Weil die Stadteroberer gegen den Befehl des Odysseus nicht gleich abfahren, sondern sich die Bäuche mit dem Fleisch des erbeuteten Viehs vollschlagen und sich betrinken, kehren die geflohenen Kikonen mit Verstärkung zurück und überfallen die Zechenden. Mit Mühe und Not retten sich die Überlebenden auf die Schiffe (Od. .–). Bis zu diesem Zeitpunkt befinden sich die Heimkehrer noch in der vertrauten urbanen Welt der Heroen.²⁹ Das ändert sich abrupt, als die Flotte bei der Umfahrung der Peloponnes am Kap Maleia vom Nordwind abgedrängt wird. Neun Tage lang geht die Fahrt in südliche Richtung (Od. .–). Am zehnten Tag landen die Schiffe im Land der Lotophagen (Od. .–). Odysseus merkt zunächst nicht, dass er sich von nun an in einem märchenhaften Anti-Kosmos befindet, in dem alles anders ist als erwartet. Er schickt Kundschafter los, um herauszufinden, „was für weizenessende Menschen in dem Lande leben“ (). Diese aber kehren nicht zurück. Denn die Lotophagen ernähren sich, wie ihr Name besagt, nicht von Getreide, sondern von Lotos. Mit dieser süß schmeckenden Speise bewirten sie auch ihre Gäste. Das aber hat zur Folge, dass die Gesandten ihre Erinnerung verlieren und und von einer Heimfahrt nichts mehr wissen wollen. Gegen ihren Willen muss Odysseus die Widerspenstigen und Weinenden zu den Schiffen zurückbringen, wo er sie unter den Ruderbänken festbindet. Die Forschung hat hier begreiflicherweise immer wieder an ein Rauschgift gedacht, das ähnlich wie Opium oder Haschisch wirke. Doch die wild wachsende Lotospflanze repräsentiert eher die vegetabilische Kost der ersten Menschen.³⁰ Eine poetische Erfindung sind die Lotosesser allerdings nicht: Ihre Verortung im südlichen Mittelmeerraum setzt vielmehr als bekannt voraus, ²⁹ Zur narrativen Vermittlungsfunktion der Kikonenepisode zwischen realer und imaginärer Welt vgl. etwa Krischer : f. ³⁰ Vgl. Horkheimer/Adorno : f.; Ballabriga : . Der Ausdruck „Lotos rupfend“ (Od. .) indiziert nach Cook :  eine Regression auf die Weise tierischer Nahrungsaufnahme. – An Rauschgift denken hingegen u. a. Rosseaux : ff. und Reucher : .

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dass es an der nordafrikanischen Küste Lotosesser tatsächlich gab. In Libyen wuchs ein sogenannter Lotosbaum, dessen Früchte essbar waren. Die Griechen, die in dem Land eine Kolonie gründeten, lokalisierten hier das Lotophagenabenteuer.³¹ Lotos hieß aber auch ein Liliengewächs, aus dem die Ägypter eine Art Brot buken.³² Speziell das scheint der Dichter im Auge zu haben, wenn er Odysseus mit dem Nordwind ins Lotophagenland gelangen lässt, denn die Nordwinde (Etesien) begannen jährlich zur Zeit der Nilschwelle – beim Frühaufgang des Sirius – zu wehen,³³ und beim Steigen des Nils wuchsen wiederum die Lotospflanzen in reicher Fülle (Hdt. ..). Ein ägyptisches Szenario evozieren indirekt auch die Lügenerzählungen des Odysseus, gibt er sich doch auf Ithaka als einen Kreter aus, der nach dem troianischen Krieg ebenfalls bei Nordwind (Od. .) zu Schiff nach Ägypten gelangt sei, das Land geplündert und anschließend sieben Jahre dort verbracht habe (–; variiert in .–).³⁴ Worin besteht die Pointe dieser Doppelung? Warum ³¹ Hdt. .; Polyb. .; Strab. .. (); Hennig : –; Carpenter : , . Die Gleichnamigkeit der Pflanze mit dem ägyptischen Liliengewächs lässt sich am ehesten mit einer Übertragungstheorie erklären. Vermutlich haben die Bewohner Libyens das Wort von dem ägyptischen Liliengewächs entlehnt, weil sie einer bestimmten Baumfrucht eine analoge (mythische und/oder kultische) Bedeutung zuwiesen. Falls bereits der Odysseedichter die Lotophagen mit der libyschen Küste assoziierte, dürfte daher dennoch ein ägyptisches Paradigma modellbildend gewesen sein. ³² Hdt. ..; Theoph. hist. plant. ..; Diod. ..; Dioskurides . (). Einen ägyptischen Hintergrund für die Lotophagenepisode postulieren auch Ballabriga (: –) und von Lieven (: f.), ohne darin freilich den Reflex eines Festes zu erkennen. Von Lieven lehnt die These von Schenkel  ab, die Vergessen verursachende Wirkung des Lotos erkläre sich durch eine Volksetymologie, die auf der Namensähnlichkeit des Pflanzennamens mit einem ägyptischen Wort für Vergessen beruhe, analog zur mutmaßlichen griechischen Konnotation mit Lethe. ³³ Einer von Thales (VS  A ) vertretenen Theorie zufolge wurde die Nilschwelle von den Etesien geradezu bewirkt (kritisiert von Hdt. .). Zum Fest der Nilschwelle beim heliakischen Frühaufgang des Sirius vgl. Merkelbach :–; : –; Bonneau : –. Dass der Lotos bei diesem Fest eine besondere Rolle spielte, geht aus seiner häufigen Nennung und der symbolischen Bedeutung hervor, die er hier erhielt. Belege bei Merkelbach : f., –, , ; Bonneau : Index. ³⁴ Eine narrative Parallele ist der Ägyptenaufenthalt des Troiaheimkehrers Menelaos (Od. .–). Auch er wird durch einen Sturm am Vorgebirge Maleia abgetrieben, zuerst nach Kreta und von da aus nach Ägypten (Od. .–). Mit dem Sturm sind die sommerlichen Etesien gemeint (vgl. Froidefond : ). – Was die Dichtung als Lüge darstellt: Die Karriere eines Griechen am Hof des Pharao, war in der Zeit, in der das Epos entstand, eine für uns heute quellenmäßig fassbare historische Wirklichkeit. Die Odyssee selbst deutet das an, indem sie einen der Honoratioren Ithakas „Aigyptios“ nennt (Od. .f.), worunter ein aus Ägypten heimgekehrter Grieche zu verstehen ist (Haider : ).

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sieht sich der Rezipient des Epos vor die Aufgabe gestellt, einerseits den Aufenthalt des Odysseus in einem wirklichen Land für erlogen, andererseits die Begegnung mit den märchenhaften Lotophagen für ein reales Erlebnis zu halten? Die Antwort dürfte in einer dem Dichter und seinem zeitgenössischen Publikum bereits vom Hörensagen vertrauten kultischen Erfahrung zu suchen sein: In Ägypten fanden die größten Feste des Jahres anlässlich der Nilschwelle beim Frühaufgang des Sirius statt. Sie wiederholten in der Vorstellung der Landesbewohner die Weltschöpfung,³⁵ so dass die Entwicklung der Menschheit gleichsam wieder von vorne begann. Geweiht waren sie der Göttin Isis. Ihr aber oder dem Urkönig Menas wurde die Erfindung zugeschrieben, aus Lotos Brot zu backen (Hekataios von Abdera bei Diod. ..). Daraus ist zu schließen, dass das Lotosbrot eine im Rahmen des Nilschwellenfestes zubereitete und verzehrte Speise war. Es stellte die Urzeitnahrung dar, die älter sein sollte als der Getreideanbau. In der Urzeit, heißt es nämlich bei Hekataios von Abdera (Diod. ..), gingen die – in Ägypten aus dem Nilschlamm entstandenen – Menschen einzeln wie wilde Tiere auf Nahrungssuche und lebten von Gräsern und von den Früchten wilder Bäume. Zu den wild wachsenden Pflanzen, von denen jene Urmenschen sich angeblich ernährten, gehörte auch der Lotos (Diod. ..). Mit dem Brei des im Nildelta geernteten Sumpfgewächses wurden die Babys gefüttert (Diod. ..). Der rituelle Konsum einer unkultivierten Pflanze am Fest der Nilschwelle bewirkte daher im Bewusstsein der Ägypter nicht nur eine phylogenetische Regression in die paradiesische Urzeit, sondern zugleich auch einen ontogenetischen Rückfall ins Kleinkindalter. Denn im Lebenslauf des einzelnen Menschen bildete sich für sie der Prozess der Kulturentstehung ab. Die kleinen Kinder schienen das vorzivilisatorische Leben der Urbewohner Ägyptens zu führen. Dazu passt, dass sie aufgrund des günstigen Klimas meist unbeschuht und nackt heranwuchsen (Diod. ..). Das Vergessen, das der Lotos nur in der rituellen Imagination bewirkte, wurde im Rahmen des Nilschwellenfestes in Wahrheit durch ausgiebigen Genuss von Alkohol erreicht, weil die gesamte Bevölkerung Ägyptens sich jetzt betrank (Aristainetos, FGrHist  F ). Der Mythos von der Himmelskuh übertrug das auf die Festgöttin Hathor (eine Doppelgängerin der Isis-Sothis), die einst als „Auge des Re“ nach Ägypten zurückkehrte, um die Menschen zu vernichten. Re rettete diese aber dadurch, dass er Bier brauen und ³⁵ Vgl. Merkelbach : –; : –; Bonneau : –.

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roten Ocker hineinschütten ließ, so dass es aussah wie Menschenblut. Die Felder wurden davon drei Spannen hoch überflutet. An diesem „Blut“ berauscht sich Hathor und kehrt betrunken zu Re zurück, ohne die Menschen erkannt zu haben.³⁶ Ein auf die Saïtenzeit zurückführbarer Ritualtext erklärt die Kummer auflösende Wirkung des für die Göttin gebrauten Rauschgetränks nun aber eigenartigerweise mit einem ihm beigemischten pflanzlichen Duftstoff.³⁷ Das erinnert an das alles Leid vergessen machende Pharmakon, das Helena in Ägypten von Polydamna, der Gattin des Thon, geschenkt erhielt und mit dem sie den Wein würzt (Od. .–). Hier scheint das homerische Epos ein im Nilschwellenfest verwurzeltes literarisches Motiv aufgegriffen zu haben,³⁸ was den Ägyptenaufenthalt von Menelaos und Helena zur narrativen Parallele bzw. zum Komplement der Lotophagenepisode macht. Wohl von solchen Festkonventionen angeregt, siedelt die Odyssee ein Vegetarier-Paradies von lauter Lotosessern im Süden des Mittelmeerraums an. Daher bietet das Land, das Odysseus und seine Gefährten betreten, sich den Augen des Betrachters in einer verfremdeten Form dar: nicht als eine vom Ackerbau geprägte Hochkultur, sondern als ein Land im Ausnahmezustand einer rituellen Selbstnegation, zurückversetzt in die Lebensweise der menschheitsgeschichtlichen Kindheit. Die Ritualfiktion eines periodisch wiederkehrenden Paradieses verewigt sich in der ethnographischen Phantasie der Odyssee zum imaginären Dasein bewusstlos und selbstvergessen dahinvegetierender Lotosesser. Das verleiht der Irrfahrt in den Süden des Mittelmeerraums den Charakter einer Zeitreise.³⁹ Die Dichtung verstärkt diesen Ein³⁶ Eine Übersetzung bei Hornung . Als „Auge des Re“ ist Hathor mit dem aufgehenden Sirius zu identifizieren (vgl. Quack : ; von Lieven ). ³⁷ Vgl. Quack : . ³⁸ An eine literarische Entlehnung denkt von Lieven : –. ³⁹ Eine solche heortologische Deutung macht es entbehrlich, den Lotophagenmythos für „ins Märchenhafte verzerrte Erinnerungen an historische Begegnungen griechischer Seefahrer mit den friedlichen Bewohnern des Nildeltas“ (Herzhoff : f.; ähnlich Page : ) zu halten. Datiert man die Odyssee ans Ende des . Jh. oder gar ins . Jh. v. Chr. (z. B. Cook ), lassen sich direkte Kenntnisse ägyptischer Festbräuche voraussetzen, da Griechen schon vor der Gründung der Handelskolonie Naukratis (ca. – v. Chr.) im Nildelta dauerhaft präsent waren. Nach Hdt. . waren ionische und karische Piraten Psammetich I. bei seinem Putsch ( v. Chr.) behilflich. Zum Dank dafür siedelte er sie später unterhalb der Stadt Bubastis an (Hdt. .). Diese Militärkolonisten gründeten schließlich Naukratis (Artemidor bei Strab. .. []). Das erinnert sehr an die Karriere, die Odysseus in einer seiner Trugreden als begnadigter Pirat am ägyptischen Hof machte (Od. .–). Carpenter :  hielt es für möglich, dass die Odyssee hier von Psammetichs Maßnahme inspiriert war. Weniger plausibel scheint mir Burkerts (: ) gegenteilige Vermutung,

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druck dadurch, dass sie die Fahrt des Helden ins reale Ägypten als Lüge, die Ankunft bei den Lotophagen hingegen als Wahrheit präsentiert. Odysseus verhält sich wie die Bewohner des Nildeltas, die sich während ihres Festes nicht im historischen Ägypten, sondern in einem noch namenlosen vorzeitlichen Land wähnen sollten. Der Kult verlangte, dass sich die Alltagswirklichkeit vorübergehend wie ein Trugbild auflöste, eine phantasierte Welt hingegen in eine scheinbare Realität verwandelte. Im Lotosesser-Mythos der Odyssee drückt sich – mit Sigmund Freud zu sprechen – ein fundamentales „Unbehagen in der Kultur“ aus. Wer einmal, als passives Spielzeug der Winde, ins Urzeitmilieu regrediert ist, vergisst die Heimat, wo den Rückkehrer ja nur harte bäuerliche Tätigkeit erwartet. Im Paradies hingegen wachsen die Nahrungspflanzen ohne menschliches Zutun von selbst. Um sich hiervon wieder loszureißen, müssen sich die Gefährten des Odysseus kräftig in die Ruder legen (Od. .f.). Der Dichter verzichtet an dieser Stelle darauf, das Segelsetzen zu erwähnen, das dem anfänglichen Rudern gewöhnlich folgt. Er suggeriert damit, es gebe keinen Rückenwind, der ein Aufziehen der Segel ermöglichte. Die allmähliche Wiederannäherung ans Kulturland erfordert mühsame Arbeit. Vom Lotophagenland aus erreichen die Schiffe schließlich die Insel der Kyklopen (Od. . –). Sie wird in idyllischen Farben geschildert. Ackerbau gibt es hier nicht, alle Nahrungspflanzen wachsen wild (–). Doch im Unterschied zu den Lotophagen kennen die Kyklopen bereits Viehzucht und Milchwirtschaft. Odysseus erreicht damit die nächste Etappe der Menschheitsgeschichte. Das Lotophagenland evoziert das vom Kulturland am weitesten entfernte urzeitliche Paradies. Das Kyklopenland stellt demgegenüber Herodot sei von der Odyssee abhängig. Epigraphische Zeugnisse beweisen, dass Griechen während der Saïtenzeit in Ägypten zu sozialem und wirtschaftlichem Erfolg gelangten (Haider : f.; ders. : –; Vittmann : –). Im Rahmen der Odyssee werden griechische Rückkehrer aus Ägypten durch einen auf Ithaka lebenden „Aigyptios“ (Od. .f.) repräsentiert (Haider : ). – Die scheinbar falsche Lokalisierung der Insel Pharos eine Tagesreise von der ägyptischen Küste entfernt (Od. . –) sollte nicht als Hinweis auf eine fehlende Kenntnis der realen Topographie missdeutet werden. (So z. B. Austin : . Verfehlt allerdings der von Austin mit Recht zurückgewiesene Erklärungsversuch von Carpenter : –, es sei damit in Wahrheit die Fahrt von Pharos bis Saïs gemeint.) Denn Herodots Beobachtung, dass Ägypten aus dem Schwemmland des Nil entstanden und daher ein „Geschenk des Flusses“ sei (Hdt. .), müssen schon die Ägyptern selbst und so auch die in ihrem Land lebenden Griechen von jeher gemacht haben. Der Odysseedichter folgerte daraus, in der Heroenzeit sei der Verlandungsprozess noch so wenig fortgeschritten gewesen, dass die Fahrt zwischen Pharos und dem Festland eine ganze Tagesreise erforderte.

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die nomadische Zwischenstufe der Viehwirtschaft dar.⁴⁰ Den Naturzustand völliger Unberührtheit konserviert noch eine menschenleere Insel, die dem Kyklopenland gegenüberliegt. Hier legen die Schiffe an. Am nächsten Tag jagt die Besatzung wilde Ziegen. Odysseus betrachtet die Insel mit den prüfenden Augen eines Kolonisten:⁴¹ Die Fruchtbarkeit des Bodens machte das Land, wie er bemerkt, für landwirtschaftliche Nutzung hervorrragend geeignet; zudem verfügt sie über einen natürlichen Hafen und Süßwasser (–). Doch die erwogene Koloniegründung bleibt ein Tagtraum. Nach der narrativen Logik des Mythos führt vom urzeitlichen Sammlermilieu kein direkter Weg in die Welt des Ackerbaus. Zuerst muss der Held die Region der Hirten passieren. Er fährt zur Nachbarinsel hinüber, um auszuloten, ob es möglich sei, mit deren Bewohnern normal zu kommunizieren. Doch die hier lebenden Kyklopen, ein Volk von Schafzüchtern, sind schon durch ihre Einäugigkeit als bloß ‚halbe‘ Menschen ausgewiesen. Zu spät merkt Odysseus, dass er hier unter Menschenfresser gefallen ist. Der Riese Polyphem, dessen Höhle Odysseus mit zwölf Gefährten betritt, setzt sie darin gefangen, um einen nach dem andern roh zu verschlingen. Nur weil es Odysseus gelingt, den Kannibalen mit dem als Gastgeschenk mitgebrachten Wein betrunken zu machen und ihn zu blenden, kann er mit den überlebenden Begleitern entkommen und sogar die Schafherde des Kyklopen rauben. Wie sollen wir diese Geschichte deuten? Ist die Kyklopeninsel eine bloße poetische Fiktion, wie meist angenommen wird? Spiegelt sie präkoloniale Ängste vor noch unbekannten Fremden?⁴² Diese These gründet sich auf die Annahme, nach einer Gründung griechischer Städte in überseeischen Territorien hätten solche alptraumhaften Geschichten nicht mehr entstehen können. Warum aber lokalisiert die antike Überlieferung die Kyklopen dann einhellig in Sizilien,⁴³ und zwar noch in einer Zeit, als es dort schon lange griechische Städte gab? Offenbar waren die Kyklopen eine Rückprojektion der im Hinterland der sizilischen Kolonien lebenden Hirten in die Vorgeschichte, und somit spricht nichts dagegen, dass diese Landestradition bereits auf das . Jh. v. Chr. ⁴⁰ ⁴¹ ⁴² ⁴³

Vgl. Horkheimer/Adorno : . Vgl. Vidal-Naquet : . Gehrke : . So die These von Malkin :  u. ; vgl. Dougherty : . Strab. .. (). Vgl. Eur. Cycl. –; Verg. Aen. ., –. Dion : ; Ballabriga : –. Auf eine westliche Lokalisierung des Kyklopenlandes deutet im Epos der Umstand hin, dass Odysseus anschließend nach Aiolia und von dort mit dem Westwind in Richtung Ithaka fährt (Od. .). Bichler/Sieberer konstatieren ein Sichüberlappen von realer und mythischer Geographie (: f.)

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zurückgeht und dem Dichter der Odyssee vorgegeben war.⁴⁴ Sollten wir das Kyklopenabenteuer nicht analog verstehen wie die vorausgehende Lotophagenerzählung, nämlich als Reflex regionaler Festriten, die eine urzeitliche Epoche der Menschheitsentwicklung, in diesem Fall eine vorbäuerliche Hirtenzeit, imaginierten? Durch ihre Einäugigkeit und ihr kannibalisches Verhalten als subhumane Gestalten gekennzeichnet, stehen die Kyklopen zwischen Tier und Mensch. Dem aber entspricht das Erscheinungsbild realer jugendlicher Hirten, die schon durch die Tierfelle, die sie trugen, einen vorzivilisatorischen Entwicklungsstand zu verkörpern schienen. Gerade in Sizilien gab es ein reiches Hirtenbrauchtum. Durch Aufsetzen von Hirschgeweihen machten sich die Hirten der Insel im Rahmen von Artemisfesten bei ihren Heischeriten zu Doppelgängern des in einen Hirsch verwandelten Aktaion.⁴⁵ Sie präsentierten sich der Öffentlichkeit als wilde Tiere. Zudem kennt die literarisierte Bukolik, die in der sizilischen Folklore wurzelt, auch die Gestalt des Polyphem. Theokrit stellt ihn als einen jugendlichen Verliebten dar, der tölpelhaft um die Gunst eines Mädchens wirbt (id. ). Schon die Odyssee legt es nahe, diesen Kyklopen, weil er alleine lebt, als adoleszenten Hirten zu betrachten. Eine verwandte Kultlegende der nordwestgriechischen Stadt Apollonia (Hdt. .f.) gibt uns indirekte Hinweise auf einen rituellen Hintergrund, den ähnlich auch der Polyphemmythos in Sizilien gehabt haben dürfte:⁴⁶ In der Nähe Apollonias lag eine Höhle, in die eine dem Sonnengott geweihte Schafherde nachts eingesperrt wurde. Diese bewachte ein aus einer adligen Familie ausgewählter Hirte, der dieses Amt jeweils ein Jahr lang ausübte. Eines Nachts soll ein gewisser Euenios bei seiner Wache eingeschlafen sein. Wölfe drangen in die Höhle ein und rissen die Schafe. Zur Strafe wurde Euenios von den Bürgern geblendet. Das erregte wiederum den Zorn der Götter, welche die Wölfe geschickt hatten. Sie zwangen die Apolloniaten, den Verstümmelten reich zu entschädigen. Er erhielt die schönsten Äcker und das schönste Haus in der Stadt. So verwandelte sich ein Hirte (unter dem wir uns zweifellos einen Jugendlichen vorstellen sollen) nach dem Verlust seines Augenlichts in einen erwachsenen Ackerbürger. Gleichzeitig schenkten ihm die Götter die Sehergabe, wodurch er zum Ahnherrn eines städtischen Sehergeschlechts wurde.

⁴⁴ Ob man die homerische Odyssee schon ins . oder erst ins . Jh. v. Chr. (so für deren Endgestalt etwa Cook ) datiert, ist für unsere Fragestellung unerheblich. ⁴⁵ Vgl. Baudy : –. ⁴⁶ Vgl. Baudy : –.

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In dieser Erzählung ist die Hirtenhöhle in ein kultisches Szenario eingebettet, was sie als Reflex von jährlichen Statuswechselriten deutbar macht: Jugendliche schieden aus ihrem Hirtenamt durch den Verlust ihres Viehs und eine ‚Blendung‘ aus. Im Polyphemmythos begegnen die gleichen Elemente, nur mit jeweils anderer Motivierung. Auch der seiner Herde beraubte Polyphem ist kein Hirte mehr. Den räuberischen Wölfen entsprechen Odysseus und seine Gefährten. Indem sie die Schafe des Kyklopen wegtreiben, werden sie in gewisser Weise selbst zu Hirten, während der Beraubte aufhört, ein solcher zu sein. Die ‚Blendung‘ des Hirten ist als narrative Metapher zu lesen: Um das mythische Urgeschehen im kultischen Spiel nachzuerleben, müssen die Initianden das rituelle Geschehen in ihrer Phantasie ergänzen, ihre realen Augen durch geistige Wahrnehmung ersetzen. Eben das beschreibt das mythische Sprachspiel als Blindheit.⁴⁷ Euenios gewinnt durch sie seine Qualifikation zum Seher. Die Odyssee treibt mit dieser Ritualfiktion ein witziges Spiel: Der Held stellt sich Polyphem als „Niemand“ vor (Od. .), und nachdem er dem Hirten den Pfahl ins Auge getrieben hat, ruft der Geblendete die andern Kyklopen vergeblich zu Hilfe, indem er verkündet, „Niemand“ wolle ihn töten (Od. .). Was auf der Ebene der Erzählung ein erlogener Name ist, entsprach in der kultischen Realität ganz und gar der Wahrheit: Hier gab es natürlich niemanden, der einem andern ein Auge ausgebohrt hätte. Die Polyphemgeschichte macht eine soziale Drehscheibenfunktion erkennbar, welche die ‚Kyklopenhöhle‘ vermutlich im sizilischen Kult besaß: Der aus der menschheitsgeschichtlichen Kindheit des Lotophagenlandes zurückgekehrte Odysseus erleidet in der Höhlenunterwelt einen symbolischen Tod. Nachdem er hier zu einem „Niemand“ geworden ist, verlässt er den Mutterleib der Erde als ein gleichsam Neugeborener, und zwar zusammen mit der Herde des Polyphem, die nun in seinen Besitz überwechselt. Das heißt, er wird der narrativen Idee nach nun selbst zu einem Hirten. In der historischen Wirklichkeit mussten adoleszente Hirten, die aus ihrem Amt ausschieden, von jüngeren Nachfolgern abgelöst werden. Deren Rolle wurde im Eueniosmythos auf die „Wölfe“, im homerischen Epos auf Odysseus und seine Gefährten übertragen. Euenios und Polyphem verkörpern demgegenüber die Altersklasse der bisherigen Viehhüter. Durch eine rituelle ‚Blendung‘ mussten sie ihre bisherige Identität verlieren, wenn sie die Schwelle vom marginalen Hirtenleben zur bäuerlichen Stadtkultur überschritten. In der Odyssee ist diese zivilisierte Welt auf der Kyklopeninsel freilich gerade nicht vorhanden. ⁴⁷ Vgl. Baudy : –.

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Sie wird bewusst ausgespart, weil es dem Dichter darauf ankam, seinen Helden in eine voragrarische Zeit zurückzukatapultieren. Daher setzt die poetische Phantasie das Hirtenleben, das sich tatsächlich nur in den Randgebieten der städtischen Territorien abspielte, absolut, als gäbe es auf der Insel nichts außerdem, und erfindet eine eigenständige Hirtengesellschaft. Landwirtschaftlich nutzbare Tiefebenen scheinen die isoliert lebenden Kyklopen nicht zu interessieren: Sie bilden ein vorstaatliches Volk für sich und pflanzen sich auf den Berggipfeln in autonomen Familienverbänden fort (Od. .–). Imaginäre Ethnographie überlagert die sozioökonomische Realität. Eine weitere Annäherung an die zivilisierte Welt erfolgt, als Odysseus auf der Weiterfahrt zur schwimmenden Insel Aiolia gelangt (Od. .–). Das Epos beschreibt sie als in sich hermetisch abgeschlossenes, symmetrisches Gebilde:⁴⁸ Eine eherne Mauer umgibt sie auf glattem Felsen. Dort wohnt der Götterliebling Aiolos mit seiner Frau und seinen sechs Söhnen und sechs Töchtern, die er gerade miteinander vermählt hat. Die Inselbewohner verbringen ihre Zeit in einem permanenten Hochzeitsfest: Tagsüber speisen sie gesellig und vergnügen sich bei Liedern, nachts trennen sie sich paarweise, die neuvermählten Ehepaare schlafen miteinander. Die utopische Insel verewigt also eine neue lebensgeschichtliche Situation: Erwachsen gewordene Jugendliche gründen neue Familien. Das Leben auf der Insel ist ein niemals endendes Initiationsfest. Hier nun landet der aus dem Kyklopenland gerettete Odysseus mit seiner Flotte; er wird von Aiolos freundlich aufgenommen und einen Monat lang bewirtet. Zum Abschied gibt ihm Aiolos als Gastgeschenk einen Ledersack, in dem er die ungünstigen Winde verborgen hat, damit Odysseus sicher nach Ithaka käme. Fast wären die Irrfahrten des Helden jetzt beendet gewesen. Doch er schläft ein, als sein Schiff schon in Sichtweite von Ithaka ist, worauf die Gefährten nichts eiliger zu tun haben, als den Sack der Winde aufzuschnüren, weil sie darin wertvolle Schätze vermuten. Sogleich bricht ein Sturm los, die Flotte wird nach Aiolia zurückgetrieben und von dort aus in neue Gegenwelten verschlagen, deren Charaktere den bisherigen Reisestationen fast spiegelbildlich ähneln. Die ersten drei Abenteuer bilden eine kultursemantische Klimax mit dazu passenden lebensgeschichtlichen Konnotationen: Das Lotophagenland ist die heimatfernste, die Aiolosinsel die heimatnächste Region. Die ohne Erinnerung ausgestatteten Lotophagen repräsentierten die Kindheitsstufe, die als wilde, kannibalische Hirten beschriebenen Kyklopen ⁴⁸ Vgl. Clay .

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die Jugendphase der Menschheitsgeschichte, die Aiolosinsel mit ihrem ewigen Hochzeitsgelage hingegen den festlichen Übergang ins Erwachsenenalter. Eine schwimmende Insel, die sich durch ihre Gewalt über die Winde selbst navigieren kann, im geographischen Raum verorten zu wollen, scheint ausgeschlossen zu sein. Genau das aber geschah in der Antike, wo man Aiolia im Bereich der Sizilien vorgelagerten Liparischen Inseln suchte und ihr mysteriöses Schwimmen durch den dortigen Vulkanismus erklärte.⁴⁹ Diese rationalistische Deutung sollte den Spott des Eratosthenes abwehren, der geschrieben hatte, die Reiseroute des Odysseus könnte man vielleicht ermitteln, wenn man den Lederverarbeiter fände, der den Schlauch der Winde angefertigt habe (bei Strab. .. []). Doch bedarf es keiner solchen Verteidigung, um den scheinbaren Widerspruch zwischen einer realen Insel und einer solchen, die ihre Position ständig verändert, aufzulösen, denn das Motiv der schwimmenden Insel verdankt sich einem in vielen Varianten verbreiteten mythischen Topos.⁵⁰ Alle schwimmenden Inseln der Antike aber hatten feste geographische Bezüge und waren kultisch determiniert, so auch die bekannteste unter ihnen: Delos, die heilige Geburtsstätte des Apollon. Sie soll einst ziellos im Meer umhergeirrt sein und sich erst in dem Moment verankert haben, als Apollon geboren wurde (Pind. fr. c–d Maehler). In Kallimachos’ Deloshymnos präfigurieren die Kreisbewegungen des urzeitlichen Delos die um den Hörneraltar des Apollon aufgeführten labyrinthischen Reigentänze von Jünglingen und Mädchen.⁵¹ Im Umkehrschluss ist daraus zu folgern, dass die Tanzenden, indem sie einem choreographischen Plan folgten, der ein Umherirren mit mehrmals wiederholten Richtungswechseln suggerierte, sich im Geiste in den Zustand der schwimmenden Insel zurückversetzten und dann die Geburt des Apollon und seiner Zwillingsschwester Artemis als ihre eigene soziale Neugeburt erlebten. Die Reigentänze der Antike waren pränuptiale Riten, bei denen sich Jugendliche beider Geschlechter der Gesellschaft als potentielle Heiratskandidaten vorstellten.⁵² Das permanente Hochzeitsfest, an dem Odysseus auf der schwimmenden Insel Aiolia teilnimmt, bildet die lebensgeschichtliche Fortsetzung solcher rites de passage. Später erwähnt Odysseus gegenüber Nausikaa beiläufig, er sei mit seinen Begleitern unterwegs auch nach Delos

⁴⁹ ⁵⁰ ⁵¹ ⁵²

Strab. .. (); .. (f.); Ballabriga . Einige Beispiele bei Strömberg : . Vgl. Bing : –. Vgl. Calame .

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gekommen, bevor ihn seine verhängnisvolle Fahrt ins Unglück stürzte. Er vergleicht das heiratsfähige Mädchen mit der berühmten Palme, die er damals neben dem Altar des Gottes stehen sah (Od. .–). Es scheint daher, dass der epische Dichter eine ihm bereits vorgegebene,⁵³ in einem Inselkult des Apollon beheimatete Ritualfiktion narrativ ausnutzte. Auf Aiolia befindet Odysseus sich auf einer prähistorischen Insel, die sich noch nicht im Meeresgrund befestigt hat. Ihr Umherschwimmen ist narratives Symbol seiner eigenen Irrfahrt. Die Winde Aiolias versetzen die Schiffe der Troiahelden in eine rotierende Bewegung. Ihre am Wendepunkt der Insel fortgesetzte Irrfahrt bringt sie plötzlich vom Westen in den fernen Osten des Mittelmeers und zwingt sie wie Labyrinthtänzer, den zurückgelegten Weg durch die Kulturstufen in umgekehrter Richtung zu wiederholen. Das bestätigt die These, dass die gesamte Irrfahrt vom symmetrischen Bauplan des Labyrinthtanzes inspiriert ist,⁵⁴ und es darf auch nicht übersehen werden, dass ⁵³ Schon die Ilias setzt eine Kenntnis des Labyrinthtanzes voraus, und die narrative Grundstruktur des Troiamythos lässt sich insgesamt als dessen Projektion deuten (vgl. Baudy : –; dort Hinweise auf weitere Forschungsliteratur). – Dass der homerische Apollonhymnos von dem Motiv der schwimmenden Insel Delos keinen Gebrauch macht, beweist nicht, dass es im traditionellen Kult der Insel noch keine Rolle gespielt hätte. Denn erstens scheinen die Verse – darauf anzuspielen, und zweitens wurde dieser Hymnos von dem Homeriden Kynaithos von Chios für das Fest des Apollon verfasst, das der Tyrann Polykrates von Samos in einem bestimmten Jahr auf Delos ausrichtete (Schol. Pind. Nem. .c; Zenob. cent. .; vgl. Burkert ). Anlässlich dieses Festes weihte Polykrates die Delos vorgelagerte kleine Insel Rheneia dem Apollon, indem er sie mit einer Kette an Delos „festband“ (Thuk. ..). Tatsächlich dürfte dieser Akt von den Beteiligten umgekehrt als ein symbolisches Anbinden der ‚schwimmenden‘ Insel Delos an Rheneia, das dadurch gewissermaßen die Funktion eines ‚Ankersteins‘ erhielt, verstanden worden sein. ⁵⁴ Vgl. Chiarini : –. Chiarini sortiert die Abenteuerfolge in zwölf nach einem A/B-Schema alternierende Episoden, beginnend mit den Kikonen und endend mit den Phaiaken. Er verortet sie in einem Labyrinth aus zwölf Schleifenbögen mit abwechselnder Ost-West-Richtung. Das bedarf einer leichten Korrektur: Die kretisch-delische Labyrinthchoreographie besteht nämlich aus sieben Schleifenbögen, durch deren Passieren das Zentrum als achte Station erreicht wird. Die Rückehr von dort macht ein erneuten Durchlaufen der sieben Schleifenbögen in umgekehrter Richtung erforderlich. Odysseus’ Reise deckt sich formal mit einer solchen Struktur, wenn man Troia als Ausgangs- und Scheria als Endpunkt einer um die zentrale Nekyia symmetrisch gruppierten Abenteuerserie betrachtet. Zentripetale Richtung: . Troia, . Kikonen, . Lotophagen, . Kyklopen, . Aiolia, . Laistrygonen, . Aia, . Hades. Zentrifugale Richtung: . Hades, . Aia, . Sirenen, . Skylla, . Thrinakia, . Charybdis, . Ogygia, . Scheria. Dem kommt die Gliederung von Most :  am nächsten, nur dass Most die Station Aia nach der Rückkehr aus dem Hades unterschlägt. Dass der Unterweltsbesuch im Zentrum der Sequenz steht und man die Abenteuer nach inhaltlichen Gesichtspunkten einander polar zuordnen kann, wurde verschie-

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die beiden Handlungsstränge des Epos (Telemach – Odysseus) gemeinsam auf ein Fest des Apollon zulaufen. Durch das Zurückschlagen des Pendels landet Odysseus’ Flotte von Aiolia aus im Land der Laistrygonen (.–). Diese ähneln den Kyklopen in verschiedener Hinsicht: Sie sind riesenwüchsig, sie fressen Menschen, die an ihrer Küste landen, und auch sie kennen keinen Ackerbau, wohl aber Viehwirtschaft, denn es gibt dort Hirten (f.). Befremdlicherweise wohnen sie allerdings in einer Stadt namens Telepylos (f.), was zu einer vorbäuerlichen Gesellschaft durchaus nicht passt. Odysseus steigt gleich nach der Landung im Laistrygonenland auf eine Anhöhe, um Ausschau zu halten. Doch „es zeigten sich dort weder die Werke von Rindern noch von Männern“ (Od. .), d. h. es waren keine Pflugspuren zu sehen. Nur Rauch sieht Odysseus in der Ferne emporsteigen. Deshalb sendet der Held drei Gefährten aus, damit sie erkunden, „was für weizenessende Menschen in dem Lande leben“ (Od. .). Obwohl er keine Anzeichen von Ackerbau gesehen hat, wähnt Odysseus sich fälschlich in einem zivilisierten Land. Wie schon bei den Lotophagen werden drei Kundschafter – einer davon ein Herold – losgeschickt. Sie treffen die Tochter des Laistrygonenkönigs Antiphates beim Wasserholen an der Quelle Artakia und lassen sich von ihr den Weg ins Haus ihres Vaters weisen. Drinnen aber erblicken die Gesandten voller Entsetzen die Frau des Königs; sie ragt vor ihnen auf so groß wie ein Berg. Sogleich ruft sie ihren Gatten herbei. Der packt – ohne ein Wort zu sagen – einen der Gesandten und frisst ihn auf. Die andern beiden fliehen zu den Schiffen, werden aber von den gigantenhaften dentlich bemerkt, u. a. von Niles , ; Most : ; Cook :  und ; Renger : ; : –, ohne dass jedoch – abgesehen von Chiarini – ein Bezug zu einem choreographischen Schema registriert worden wäre. Vgl. ferner Garrison , . – Mit einer die Phantasie des Dichters steuernden Tanzbewegung vereinbaren lässt sich auch die Beobachtung, dass die imaginäre Geographie der Odyssee von einem nach Ost-WestPolaritäten organisierten kosmologischen Modell überformt ist: Ballabriga : –; Marinatos ; Brunel : f.; Nakassis . Die antike Rezeption scheint die Bezogenheit der Odyssee auf das Labyrinth durchaus wahrgenommen zu haben. Anders lässt es sich kaum erklären, dass sie dem Helden einen Schild zuwies, der mit dem Zeichen des Delphins geschmückt war (Stesichoros, fr.  Davies; Euphorion, fr.  Powell), war der Delphin doch das Symboltier des Apollon, des Gottes des Labyrinthtanzes bzw. des Troiaspiels. Vgl. Chiarini : . Im homerischen Apollonhymnos springt der Gott in Gestalt eines Delphins (v. ) in ein Schiff, das aus der Labyrinthstadt Knossos kommt (v. ), um die Besatzung zu seinem neuen Kultort nach Krisa/Delphi zu bringen. Vergil vergleicht die jugendlichen Reiter, die das labyrinthische Troiaspiel ausführen, mit Delphinen (Aen. .). Vgl. dazu: G. Capdeville . In Eur. El. – umtanzen Delphine im Chorreigen die nach Troia auslaufenden Schiffe.

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Laistrygonen verfolgt. Diese zerschmettern die Flotte des Odysseus mit Steinwürfen und spießen die im Wasser schwimmenden Besatzungen mit Speeren auf, als wären es Fische. Nur das Schiff des Odysseus selbst kann entkommen. Was veranlasste den Dichter in diesem Fall dazu, ein Volk vorbäuerlicher Riesen in einer Stadt anzusiedeln, die doch die Existenz von Landwirtschaft voraussetzt? Und warum lenkt er die Aufmerksamkeit seines Publikums zudem durch eine präzise topographische Angabe, nämlich die Quelle Artakia (Od. .), auf eine bekannte griechische Kolonie in Nordwestkleinasien? Nur dort gab bei der Stadt Kyzikos eine Quelle dieses Namens.⁵⁵ Demnach scheint Telepylos eine poetische Ersatzbezeichnung für Kyzikos zu sein. An der Quelle Artakia landen bereits die Argonauten im – hier vermutlich auf die altepischen Argonautika zurückgehenden – Epos des Apollonios Rhodios (.), und die Geschichte, die er dazu erzählt, liefert uns wertvolle Kultinformationen, die uns die Laistrygonen der Odyssee erst richtig verständlich machen. Damals lebt noch Kyzikos, der jungverheirate, eponyme Herrscher der Stadt, dem gerade der erste Bart sprießt (). Er nimmt die Fremden gastlich auf. Auf dem benachbarten „Bärenberg“ aber hausen wilde sechsarmige Riesen, Söhne der Erde (–). Als die Argonauten ihr Schiff wieder ins Wasser ziehen und abfahren wollen, werden sie von diesen Erdgeborenen angegriffen. Wie die Laistrygonen schleudern sie Felsbrocken. Doch anders als Odysseus und seine Gefährten verteidigen sich die Helden gegen ihre monströsen Gegner erfolgreich und töten sie allesamt (–). Als sie danach abgefahren sind, wird die Argo in der nächsten Nacht von einem ungünstigen Wind wieder zur Stadt zurückgetrieben. Deren Bürger vermuten, ihre pelasgischen Feinde wollten sie überfallen. Es kommt zur Schlacht. Kyzikos wird tödlich verwundet. Als die beiden Parteien ihren Irrtum bemerken, trauern sie gemeinsam drei Tage lang um den Gefallenen und veranstalten ihm zu Ehren Leichenspiele (–). Seine junge Frau erhängt sich vor Kummer und wird ihrerseits von Nymphen beklagt. Aus deren Tränen bildet sich die Quelle Kleite (–). An das Schicksal der ⁵⁵ Alkaios fr.  Voigt; Kall. fr.  Pfeiffer; Vian , f.; Heubeck/Hoekstra : . Die schlecht begründete Skepsis von Dufner ,  und West :  steht einzig und allein im Dienst der Absicht, der Rekonstruktion eines vorhomerischen Argonautenepos das entscheidende topographische Argument zu entziehen (vgl. Anm. ). – Die sekundäre Versetzung der Laistrygonen nach Sizilien, in unmittelbare Nachbarschaft der Kyklopen (Hes. fr. , f.; Thuk. ..; Theopomp, FGrHist  F ; Strab. .. []; Dion : ), mag dem Dichter der Odyssee bereits bekannt gewesen sein. Er ignoriert sie aber, wie seine klare Bezugnahme auf die Topographie von Kyzikos zeigt.

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beiden jugendlichen Toten erinnerte seitdem ein jährlich wiederholtes Trauerfest: Man opferte ihnen Kuchen, für die Mehl in einer städtischen Mühle gemahlen wurde (–). Dieser Akt beendete ein vorausgehendes dreitägiges Fasten. Denn nach Kyzikos’ Tod hatten die Bürger nichts in einer Mühle Gemahlenes, sondern nur feuerlose Kost gegessen (–). Gemeint sein dürfte, dass das Getreide der neuen Ernte während dreier Tage, solange die Bürger den eponymen Heros der Stadt und dessen Gattin wie im analogen Adoniskult rituell beweinten,⁵⁶ nur in der archaischen Form eines ‚Kykeons‘, eines Mischtranks aus mit Mörsern zerstoßenen und mit Wasser verrührten Körnern, verzehrt werden durfte, als wäre die Mühle noch nicht erfunden worden. Das anschließende Zermahlen der Körner zu Mehl für das Kuchenopfer hob dieses Tabu gegen Ende des Festes auf und gab das Konsumgetreide zum gewohnten Gebrauch frei. Es lässt sich ausschließen, dass Apollonios dies alles selbst erdacht hat, dazu ist der Mythos zu eng an die Sakraltopographie der Stadt, das „noch jetzt“ zu besichtigende Grabmal des Kyzikos (f.) und die Kultquelle Kleite () angelehnt. Auch hat er die steinewerfenden Riesen schwerlich aus der Odyssee übernommen, denn hier wohnen sie in der Stadt, bei Apollonios hingegen auf einem Berg. Beide Werke scheinen vielmehr ein schon in den vorhomerischen Argonautika enthaltenes Motiv⁵⁷ auf unterschiedliche Weise selektiv zu verwenden. Dessen Erklärung kann nur in der kyzikenischen Kulttradition zu suchen sein.⁵⁸ Bergland ist Hirtengebiet. Die von dort zur Quelle Artakia vordringenden und von den Argonauten getöteten Erdgeborenen lassen sich daher als mythische Prototypen realer Jugendlicher deuten, die bislang in der freien Natur als Hirten gearbeitet hatten, im Rahmen von Scheinkämpfen symbolisch starben und im Anschluss daran eine neue soziale Funktion erhielten. Ihre Einbürgerung in Kyzikos erfolgte am Fest des Heros, dessen vorzeitiger Tod im Jugendalter der Stadt ihren Namen und damit ihre historische Identität verliehen hatte. Als zivilisierter, das Gastrecht achtender König ist Kykizos das genaue Gegenbild der außerstädtischen Erdgeborenen. Die das Ödland verlassenden und in die Stadtmauern aufgenommenen Hirten

⁵⁶ Die Analogie zu Adonis registrierten u. a. Meuli a:  und Vian : f. ⁵⁷ Vgl. die in Anm.  angeführte Forschungsliteratur. ⁵⁸ Die These, Kyzikos sei erst sekundär in die Argonautensage eingedrungen (Meuli a: ), lässt sich nicht widerlegen. Dennoch kann der Kyzikosmythos so alt sein wie die Stadt Kyzikos selbst. Er ist auch bei Deiochos, FGrHist  F , bezeugt.

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konnten sich mit beiden mythischen Rollenvorgaben gleichermaßen identifizieren. Sie hörten auf, ‚wilde‘ Bergbewohner zu sein und wurden im agrarischen Tiefland zu ‚friedlichen‘ Ackerbürgern. Mit diesem Altersklassenwechsel war ihre Jugend zu Ende. Das machte sie zu kollektiven Repräsentanten des im Jünglingsalter verstorbenen Kyzikos. Deshalb kann die Odyssee die kannibalischen, steineschleudernden Riesen in der Stadt selbst ansiedeln, und aus dem gleichen Grund gab es in der Antike widersprüchliche Historisierungen des Mythos: Der Lokalchronist Deiochos machte aus den Erdgeborenen Pelasger, die aus Feindschaft gegen die thessalischen Kolonisten den Hafen von Kyzikos mit Steinen zuschütten wollten; nach Ephoros hingegen wohnten die Pelasger selbst in Kyzikos und bewarfen die Argonauten mit Steinen, weil sie alle Thessalier dafür hassten, dass sie von ihnen zur Auswanderung gezwungen worden waren.⁵⁹ Verständlich werden diese widersprüchlichen Rollenzuweisungen nur durch die vorgeschlagene ritualistische Deutung: Die Kyzikener und die „Erdgeborenen“ (bzw. „Pelasger“) waren in Wahrheit keine getrennten Völker, sondern verschiedene Altersgruppen ein und derselben Polis. Vor ihrer Aufnahme in die Bürgerschaft galten die zu den Viehherden ins Bergland geschickten Jugendlichen nominell als ‚Fremde‘, als Urzeitgestalten, die nicht von menschlichen Müttern abstammten, sondern noch von der Erde selbst geboren worden waren. Wenn sie an ihrem Initiationsfest in die Stadt zurückkehrten, schien diese vorübergehend von zivilisationslosen ‚Fremden‘ okkupiert zu sein. Daher hatten solche Feste stets den Charakter einer ‚verkehrten Welt‘. Die soziale Ordnung wurde aufgehoben bzw. zeremoniell auf den Kopf gestellt. Das ist die Situation, die Odysseus in der Stadt der Laistrygonen, dem märchenhaft verfremdeten Kyzikos, vorfindet. Der beliebte Einwand, die unheimliche Laistrygonenstadt könne unmöglich in der realen Welt liegen, erledigt sich durch das vom Dichter benutzte Konzept der Zeitreise. Odysseus sieht Kyzikos gewissermaßen mit den Augen eines auswärtigen Besuchers, der an einem rituell inszenierten Urzeitgeschehen teilnimmt und in es hineingezogen wird. Das paradoxe Bild einer ackerbaulosen, im Hirtenland liegenden Kannibalenstadt war die mythische Hypostasierung einer jährlichen Festerfahrung. Dieses Interpretationsparadigma ließe sich auch auf die folgenden Episoden der Odysseusreise anwenden. Doch für den Zweck dieser Untersuchung ⁵⁹ Deiochos, FGrHist  F  u. ; Ephoros, FGrHist  F , ihm folgt Konon, FGrHist  F ,  (). Vgl. Vian : –; Dufner : –.

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mag es genügen, die in den einzelnen Abenteuern enthaltenen Kulturstufenbezüge sichtbar zu machen, ohne sie detailliert zu deuten oder nach konkreten geographischen Hintergründen zu fahnden. Von den Laistrygonen aus reist Odysseus in eine noch fernere Vergangenheit: Er gelangt auf die Insel Aia, wo die Zauberin Kirke wohnt (Od. .ff.). Auch hier späht Odysseus vergeblich nach Getreidefeldern (). Die von ihm als Kundschafter ausgeschickten Gefährten aber verwandelt Kirke in Schweine. Damit wiederholt sich gewissermaßen das Lotophagenabenteuer. Durch die Tiermetamorphose erlangen die Verzauberten zwar eine quasi-paradiesische Versorgtheit, zugleich aber verlieren sie ihre menschliche Identität und damit die Möglichkeit zur Heimkehr. Odysseus zwingt Kirke, den Zauber rückgängig zu machen. Darauf verbringen er und seine Gefährten als Gäste der Kirke ein ganzes Jahr auf der verwunschenen Insel. Ein unablässiges Gelage, eine landwirtschaftliche Arbeit entbehrlich machende Tischlein-deck-dich-Situation, realisiert die Utopie des goldenen Zeitalters. Doch diesmal sind es die auf Heimfahrt drängenden Gefährten, die Odysseus daran hindern, unter solch entlasteten Bedingungen auf Dauer zu leben. Um von der utopischen Insel wieder wegzukommen, muss er seine Zeitreise allerdings noch weiter fortsetzen. Sie führt ihn letztendlich ins Land der Toten (Buch ), die Unterwelt, in der alle Vergangenheit gespeichert, aber auch die Zukunft bereits embryonal enthalten ist. In diesem zentralen Ort seiner labyrinthischen Irrfahrt soll er die Seele des allwissenden Sehers Teiresias nach dem Heimweg befragen. Dieser prophezeit ihm nun aber nicht, wie erwartet, die Stationen seiner Rückkehr (er warnt ihn nur davor, sich an den Rindern des Helios auf Thrinakia zu vergreifen), sondern erteilt ihm Verhaltensdirektiven für seine Ankunft auf Ithaka und das ihn jenseits der epischen Handlung erwartende künftige Schicksal (Od. .–): Um den ihm zürnenden Poseidon zu versöhnen, müsse Odysseus nach Tötung der Freier mit einem Ruder noch einmal ins Landesinnere losziehen, bis er auf Menschen stoße, die das Meer nicht kennen und das Ruder mit einer Worfschaufel verwechseln. Das solle er als Signal dafür betrachten, das Ruder in den Boden zu rammen und Poseidon ein Opfer darzubringen (–). Das Orakel benutzt eine agrarische Symbolik: Im meerfernen Binnenland verwandelt das Ruder sich in ein Instrument der Agrikultur. Was für den Helden eine das Ende seiner Seefahrt, war für die Bauern eine den Zielpunkt des Wirtschaftsjahrs markierende Zeichenhandlung (Cook : ): Eine Worfschaufel wurde in den Kornhaufen gestoßen, wenn der Drusch des Getreides beendet war (Theokr. id. .f.).⁶⁰

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Wenn Odysseus entsprechend sein Ruder in die Erde pflanzt, nachdem es zur Worfschaufel umdefiniert worden ist, so symbolisiert dieser Akt eine definitive Integration des wandernden Helden in die Sphäre des Getreideanbaus. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Kirke begrüßt die aus der Unterwelt Zurückgekehrten mit dem Ausruf: „Zweimal Sterbende, denn andere Menschen sterben nur einmal!“ (Od. .) Da sie ihren künftigen Tod durch die Jenseitsreise vorweggenommen haben, sind sie in der diesseitigen Welt jetzt gleichsam neugeborene Kinder und müssen als solche die Geschichte der Menschheit ein wiederholtes Mal durchlaufen. Das Schiff fährt an den Sirenen vorbei, zwischen Skylla und Charybdis hindurch und landet schließlich auf der Insel des Helios, Thrinakia (Od. .; .), wo die unsterblichen Rinder des Sonnengottes weiden (.–). Wieder wird also ein Hirtenland passiert, allerdings ein gänzlich unnormales: Die Herden befinden sich in der Obhut göttlicher Mädchen. Nymphen sind ihre Hirtinnen (Od. .–). Da die Tiere unsterblich sind, bedürfen sie auch keiner Fortpflanzung (Od. .). Es gibt also, mit andern Worten, keine Viehzucht. Hier nun wiederholt sich der Urfrevel des ersten Stieropfers, der die Menschen einst aus der paradiesischen Gemeinschaft mit den Göttern verbannt hat.⁶¹ Die Gefährten des Odysseus vergreifen sich an den bisher unsterblichen Tieren, schlachten sie und stecken die Fleischstücke an Spieße. Da geschieht Entsetzliches: Die zerstückelten Rinder leben scheinbar weiter, ihre getrennten Körperteile muhen und kriechen gespenstisch umher, als wollten sie sich wieder vereinigen. Der Frevel hat Folgen: Zur Strafe geht das Schiff des Odysseus nach der Abfahrt von der Insel in einem gewaltigen Sturm unter; alle Gefährten ertrinken, nur Odysseus selbst, der sich an dem ruchlosen Stieropfer nicht beteiligt hat, kann sich retten. Hinter dieser Geschichte steht offenbar ein lokaler Mythos, der den Ausschluss der Menschen aus der Welt der Götter und die Notwendigkeit der Viehzucht mit einem urzeitlichen Vergehen begründet: Durch Schlachten unsterblicher Rinder haben die Menschen eine Ausgleich schaffende sexuelle ⁶⁰ Die Geschichte ist im modernen Griechenland von Odysseus auf den heiligen Elias übertragen worden, dessen am . Juli gefeiertes Fest den Abschluss der Getreideerntesaison bildet (vgl. Moser ). Wie Elias als Urheber der auf den Bergen erichteten Eliaskapellen, so galt schon Odysseus Stifter eines arkadischen Bergtempels, der Poseidon und Athene geweiht war (Paus. ..; vgl. Hansen : f.). Hansen ; ;  möchte die Odysseusgeschichte und die analoge Eliaslegende auf eine gemeinsame mündliche Tradition zurückführen. ⁶¹ Hes. theog. –; vgl. Hom. hymn. Merc. –; Cook : f. In der Odyssee verstärkt die irreguläre Durchführung des Rinderopfers seinen Frevel-Charakter (vgl. Vernant : –; Vidal-Naquet : ; Auffarth : –).

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Reproduktion der überlebenden Tiere erzwungen und sich selbst dazu verurteilt, deren Züchtung und Bewachung zu übernehmen. Das Ertrinken der Schlächter spiegelt den rite de passage eines symbolischen Todes, den Jugendliche vor dem Antritt ihres Hirtendienstes erlebten.⁶² Odysseus hingegen, der als einziger schuldlos geblieben ist, setzt den Weg durch die Kulturstufen in Richtung Ackerbauzeitalter an dieser Stelle nicht fort, sondern verbleibt – wenn auch gegen seinen Willen – in der Sphäre der Götter. Wie ein vereinsamter Sintflutheld strandet er auf der Insel Ogygia in der Mitte des Meeres, wo er nun in jahrelanger Gemeinschaft mit der Nymphe Kalypso, der „Verhüllerin“, lebt (Od. .–; .–). Der Aufenthalt bei Kalypso wirkt wie eine Dublette des Kirkeabenteuers, nur dass Odysseus jetzt ganz auf sich alleine gestellt ist. Obwohl Kalypso ihm die Ehe anträgt und Unsterblichkeit verspricht, sehnt Odysseus sich in die Gesellschaft der Menschen zurück. Die Insel Ogygia erscheint daher als freudloses, langweiliges Paradies, ein Land voll unbefriedigter Sehnsucht. Nach langen Jahren der Gefangenschaft baut der Held sich schließlich mit göttlicher Hilfe ein Floß und sticht damit in See, erleidet aber durch die Intervention des feindseligen Poseidon erneut Schiffbruch. Mit Mühe und Not erreicht er darauf schwimmend die Küste der Insel Scheria und küsst dort sofort „das gersteschenkende Ackerland“ (Od. .). Hier haben die Phaiaken, die bis vor kurzem den Kyklopen benachbart waren, aber von diesen bedrängt ihre alte Heimat verlassen mussten, gerade eine Stadt fernab von den andern Menschen erbaut und die Äcker verteilt (Od. .–). Odysseus betritt also zum ersten Mal wieder zivilisiertes Gebiet. Hier wird er am Königshof gastlich aufgenommen, hier gibt er sich in seiner wahren Identität zu erkennen, und hier erfahren die Phaiaken – und mit ihnen die Leser des Epos – aus dem Mund des Helden seine überstandenen Abenteuer in Form einer Ich-Erzählung. Die während eines Festgelages geschilderte Irrfahrt füllt den zivilisatorischen Fortschritt, den das aus dem Kyklopenland übergesiedelte Märchenvolk der Phaiaken soeben erst selbst vollzogen hat, mit individuellem Erleben aus. Wie die neuen Kolonisten Scherias ist der Held aus einem imaginären vorzeitlichen Milieu endlich in der geordneten Welt des Ackerbaus und der Stadtkultur angekommen. ⁶² Das Schlachten der Polyphemschafe, deren Opfer Zeus nicht annimmt, weil er die Flotte mit den Gefährten des Odysseus im Meer vernichten will (Od. .–), ist die narrative Vorwegnahme der Thrinakiaepisode und hat die gleiche mythische Begründungsfunktion. Die Gefährten des Odysseus entsprechen jeweils den Schafe reißenden „Wölfen“ des Euenios-Mythos. Vgl. Nagler : .

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Die Musterkolonie auf Scheria bildet allerdings nur die Schwelle zur realen Welt. Wie im goldenen Zeitalter tragen die Bäume im Garten des Königs Alkinoos das ganze Jahr über Früchte (Od. .–), und die Phaiaken verkehren mit andern Städten durch Wunderschiffe, die keinen Steuermann brauchen, da sie ihre Ziele selbsttätig finden (Od. .–). Nachdem eines dieser Schiffe den schlafenden Odysseus nach Ithaka zurückgebracht hat, erfüllt sich eine alte Prophetie: Poseidon verwandelt das heimkehrende Schiff vor Scherias Küste in einen Felsen, und alsbald wird ein Berg die Stadt der Phaiaken unter sich begraben (Od. .–; .–). Sie verschwindet also von der Landkarte. Das wurde gegen die antike Identifikation Scherias mit Kerkyra⁶³ geltend gemacht, weil Poseidon ja Scheria von der restlichen Menschheit dauerhaft abgetrennt habe.⁶⁴ Doch nicht Scheria selbst geht ja unter, sondern nur die märchenhafte Stadt der Phaiaken. Wenn die Bürger Kerkyras an einem ihrer Feste die mythische Vorzeit der Insel rituell heraufbeschworen, in der die Phaiaken das Paradies urbar gemacht und die erste Stadt gegründet hatten,⁶⁵ so wiederholte sich deren Verschwinden jedesmal, wenn das Fest zu Ende ging und die phantasierte Vergangenheit wieder der nüchternen Realität der Gegenwart wich. In dieser ist die Stadt des Alkinoos in der Tat nicht erreichbar. Der Zeitreisende Odysseus aber findet sie noch vor und bewirkt durch seine Abreise indirekt ihren Untergang. Scheria fällt aus der Realgeographie Griechenlands scheinbar heraus, liegt es doch vom zentralen Euboia so weit entfernt, dass selbst die Wunderschiffe der Phaiaken für die Hin- und Rückfahrt einen vollen Tag brauchen (Od. .–). Eine Pointe besitzt diese Angabe aber gerade unter der Voraussetzung, dass Scheria das vorzeitliche, im . Jh. erstmals von Euboia aus kolonisierte Kerkyra ist. Die Dichtung übersetzt die im Zeitreisekonzept implizierte temporäre Distanz in eine extreme räumliche Abgeschiedenheit, so als müssten die zwischen der Kolonie und ⁶³ Thuk. ..; Aristot. fr.  Rose; Apoll. Rhod. .–. Die hier vollzogene Gleichsetzung der Phaiaken mit den „Titanen“, die aus dem Blut des von Kronos mit der Sichel entmannten Uranos entstanden seien (was sie eher als ‚Giganten‘ qualifiziert) oder die von Demeter gelernt hätten, Getreide mit der Sichel zu ernten, ist schon Alkaios fr.  Voigt und Akusilaos von Argos, FGrHist  F , vertraut. Zur Identifikation Kerkyras mit Scheria vgl. Ballabriga : –. ⁶⁴ Malkin : . ⁶⁵ Aufgrund des Sichelmotivs in den in Anm.  genannten Zeugnissen liegt es nahe, speziell an ein Fest der Getreideernte zu denken, an dem die paradiesische Fülle der mythischen Gründungszeit periodisch wiederkehrte und die Bewohner Kerkyras sich in „Phaiaken“ zurückverwandelten.

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der alten Heimat hin- und herfahrenden Theorenschiffe eine kaum zu bewältigende Weltreise unternehmen.⁶⁶ Der von den Phaiaken schlafend am Strand Ithakas abgesetzte Heimkehrer wähnt sich nach seinem Erwachen zunächst wieder in einem unbekannten und möglicherweise von gefährlichen Wilden bevölkerten Land. Als er von der als jugendlicher Hirte verkleideten Athene (Od. .–) erfährt, wo er sich befindet, küsst er auch hier „das gersteschenkende Ackerland“ (Od. .). Das heißt natürlich nicht, dass die Felder direkt an der Küste lägen. Der Held weiß bloß, dass es auf seiner Heimatinsel solche gibt, und betrachtet ihre Landwirtschaft als das sie kulturell definierende Merkmal. Tatsächlich repetiert Odysseus’ Weg von der Küste zum Königshof seine Reise durch die Vorgeschichte der Menschheit im Kleinformat der Inseltopographie. Er führt ihn von der Kulthöhle der Nymphen (Od. .–), in deren Nähe er aufgewacht war, durch das Hirtenland (Buch –) zu seinem bäuerlichen Herrensitz in der Stadt. Die Nymphenhöhle korrespondiert der fernen utopischen Insel der Nymphe Kalypso oder derjenigen der Kirke, das Hirtenland der Zwischenwelt der Kyklopen. Ein dreigliedriger, mit Zivilisationsstufen konnotierter Raumplan macht die Ankunft am Königshof zum teleologischen Endpunkt eines mit Kulturentstehung synonymen Selbstfindungsprozesses. Das programmatische Proömium des Epos stellt Odysseus als einen Mann vor, der viel herumgekommen sei und vieler Menschen Städte gesehen habe (Od. .–). Darüber ist viel gerätselt worden, denn der Held wird ja gerade in Gegenden verschlagen, in denen es (von Scheria abgesehen) noch keine normengerechte Stadtkultur gibt. Man hat deswegen vermutet, es handle sich um ein zum Inhalt des Werks nicht passendes Zitat aus einer älteren Odysseedichtung. Deren Inhalt versuchte man aus den Lügenerzählungen des Odysseus⁶⁷ zu rekonstruieren, die ihn ja in der Tat durch die reale Welt führen.⁶⁸ Doch besteht die Pointe der Dichtung nicht gerade darin, dass der Held tatsächlich bereits wohlbekannte, ja sogar kolonial erschlossene Gebiete bereist, dort aber ⁶⁶ Scheria fungiert im Epos als Modell der im . Jh. v. Chr. von Euboia aus gegründeten westlichen Kolonien (Luther : f.). Die utopischen Qualitäten des Landes machen es zwar durchaus als eine jenseitige ‚Insel der Seligen‘ qualifizierbar (so etwa Sergent ; hier Hinweise auf die ältere Forschungsliteratur), aber das schließt eine heortologische Deutung mit präziser geographischer Anbindung keineswegs aus. ⁶⁷ Od. .–; .–; .–; .–. Die werkimmanente narrative Funktion dieser Trugreden analysieren Grossardt : – und Schmidt . ⁶⁸ Woodhouse : bes. –, –; West ; Heubeck/West/Hainsworth : ; Reece . Kritisch hierzu Grossardt : –.

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nicht deren historischen Realzustand antrifft, sondern in dessen kultisch vergegenwärtigte Vorgeschichte zurücktaucht? Akzeptiert man die Idee der Zeitreise, so fordern Proömium und Lügenerzählungen die zeitgenössischen Rezipienten dazu auf, sich auf das poetische Vexierspiel, in dem Fiktion und Realität, Lüge und Wahrheit ihre Positionen vertauschen, einzulassen und ihren ästhetischen Genuss daraus zu beziehen, dass sie die beiden Ebenen der phantasierten Irrfahrt und der empirischen Welt zueinander in Beziehung setzen. Dieser doppelte Blick wird auf der Ebene der epischen Handlung schon dadurch erzwungen, dass scheinbare Realität sich wiederholt als Fiktion herausstellt: Der Hirtenjüngling, dem Odysseus auf Ithaka begegnet und dem er seine erste Lügengeschichte erzählt, ist in Wahrheit die verkleidete Athene, deren Fähigkeit zur planvollen Täuschung sich im Charakter ihres menschlichen Schützlings widerspiegelt.⁶⁹ Entsprechend kehrt Odysseus selbst im tarnenden Kostüm eines Bettlers in seine Heimat zurück. Zunächst kennt nur der Leser die Wahrheit. Das Spiel mit Wahrheit und Lüge ist poetologisch lesbar. Es weist auf die rituellen Grundlagen der mythischen Phantasien hin, die dem griechischen Publikum aus eigener Erfahrung vertraut waren und ihnen Übersetzungen in die eine oder andere Richtung ermöglichten. Besuchten im Mythos die Götter ihre menschlichen Gastgeber in maskierter Gestalt, so schlüpften im Kult Menschen umgekehrt in die Rolle der Götter. Schon das sollte davor warnen, die Irrfahrt des Helden durch märchenhafte Gegenden von der empirischen Welt zu isolieren. Und wenn der Lügner Odysseus sich wiederholt als Kreter ausgibt, so mag das nicht nur auf die sprichwörtliche Redensart, dass alle Kreter lügen (Epimenides, VS  B ), anspielen.⁷⁰ Denn als seinen Heimatort nennt er in einer seiner Trugreden speziell Knossos (Od. .). Dort aber lag der schon in der Ilias erwähnte Tanzplatz der Ariadne (Il. .–). An die Choreographie der dort aufgeführten labyrinthischen Reigentänze, die andernorts, insbesondere im Apollonkult der Insel Delos, nachgeahmt wurden, knüpfte sich in der Antike das mythische Phantasiebild eines Umherirrens, obwohl jedem bewusst war, dass die Tanzenden einem genau ⁶⁹ Vgl. Murnaghan . ⁷⁰ Vgl. Krehmer : –; Clay : . Grossardt  bestreitet die Traditionalität des Motivs, da er sowohl den homerischen Demeterhymnos, in dem die Göttin fingiert, sie wäre von Piraten aus Kreta entführt worden (v. –) als auch den Kretervers des Epimenides aus der Rezeptionsgeschichte der Odyssee erklären möchte (: f., –, –). Dann müsste jedoch plausibel begründet werden, warum der Dichter gerade Kreta und speziell Knossos zur Heimat des Lügners gemacht hat. Die von Grossardt dafür angeführten Argumente (–) reichen nicht aus.

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festgelegten Bewegungsplan folgten. Wendet der Leser diese Beobachtung auf die Odyssee an,⁷¹ muss er sich dazu animiert fühlen, die Irrfahrt des Helden in eine reale Geographie zu übersetzen, um so mehr, als sich schon der mythische Kampf um Troia, das dauernde Hin und Her von Sieg und Niederlage, an die rituelle Substruktur des Labyrinthtanzes anzulehnen scheint.⁷² So gesehen, verlängert die abenteuerliche Reise des polytropos (Od. .), des vielfach die Richtung wechselnden Troiaheimkehrers Odysseus,⁷³ ein den Mythos vom troianischen Krieg insgesamt formendes Bewegungsmuster. Am Ende wird der Held, als er mit dem Bogen, der Waffe Apollons, an dessen Festtag die Freier tötet, zu einem menschlichen Ebenbild des Initiationsgottes.⁷⁴ Diesem als Musenführer war nicht nur die Choreographie des Labyrinthtanzes geweiht, er galt auch als Wegbereiter ins Zeitalter des Ackerbaus, da er wie sein Halbbruder Herakles das Land entwildert haben sollte.⁷⁵ Jugendliche weihten ihm ihr abgeschnittenes Haupthaar, wenn sie erwachsen wurden (Plut. Thes. ; vgl. Hes. theog. ). Wie diese sich im Kult des Apollon aus dem elterlichen Haus herauslösten, so standen auch die griechischen Kolonisten, wenn sie die Mutterstadt verließen, um in fernen Ländern eigene Städte zu gründen, im Schutz des Initiationsgottes, der ihnen durch seine Orakel den Weg in die neue Heimat wies. Die Gebiete dieser Ackerbauerkolonien sind es, in die der umherirrende Odysseus gelangt. Doch das Epos verschweigt ihre Existenz, nicht weil es in der Zeit, in der es entstand, dort noch keine griechischen Städte gegeben hätte, sondern weil es seinen Helden in deren kultisch vergegenwärtige Vorgeschichte zurückwirft und ihn eine unwirkliche Gegenwelt betreten lässt, die nur darauf zu warten schien, von Griechen besiedelt und kultiviert zu werden.

⁷¹ Vgl. Chiarini . Schmoll  erklärt die Wahl Kretas aus seinen Unterweltkonnotationen, die er aus dem Labyrinthmythos (Theseus/Minotauros) ableitet (), erkennt aber nicht die strukturelle Verweisfunktion des Labyrinthmotivs für die durch eine imaginäre Welt führenden Odysseusreisen. Ablehnend Grossardt : f. ⁷² Vgl. Baudy : –. ⁷³ Od. . begegnet hierfür das synonyme Adjektiv polyplanktos, wodurch Odysseus zum Repräsentanten der ebenso genannten Menschen (Od. .) wird (Schlesier : ). ⁷⁴ Vgl. Hölscher : –; Auffarth : –. ⁷⁵ Zum Dank dafür empfing Apollon goldene Ähren als Weihgaben (Strab. .. []; Plut. de Pyth. orac. , mor. f–a).

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Joachim Latacz

Zum Funktionswandel des antiken Epos in Antike und Neuzeit¹  Das antike hexametrische Vers-Epos: Lebensdauer und Wirkung Als literarische Gattung ist das in der Antike entstandene hexametrische VersEpos tot. Seine letzten Ausläufer reichen ins ./. Jahrhundert zurück.² Ein bescheidenes Fortleben ist ihm nur noch in den periodisch aufflackernden Ballungsphasen moderner Übersetzungsversuche ‚im Versmaß der Urschrift‘ beschieden.³ Seine schon in der Antike selbst begonnene, im Mittelalter verstärkt fortgesetzte Transformation in die Gattung des (zunächst Vers-, dann Prosa-)Romans mit seinen Varianten ‚Erzählung‘, ‚Novelle‘ u. a. ist abgeschlossen. Dennoch: Die definitive Diagnose ‚exitus‘, so nahe sie auch liegt, wäre nicht korrekt. Sie träfe nicht den Kern. Gestorben ist die Form, geblieben aber ist die Wirkung. Die Wirkung zeigt sich in vornehmlich zwei Ausprägungen: erstens im Anspruch, zweitens im Wandel der Funktion. Beide Wirkungsformen gingen von Homer aus und haben die Entwicklungsgeschichte der Gattung zunächst

¹ Von der Urfassung dieser Überblicksdarstellung aus dem Jahre  (Vortrag beim ‚Colloquium Didacticum Classicum XIII Londiniense‘ am .. am King’s College London) ist seinerzeit eine Zusammenfassung erschienen in: ‚Der Altsprachliche Unterricht‘ /, , – (s. H.-G. Nesselrath, Geschichte der Homer-Forschung, in: Homer-Handbuch, Stuttgart , ). Der vorliegende Beitrag stellt eine durchgehend aktualisierte, erweiterte und vielfach veränderte Neufassung nach fast  Jahren Forschungsfortschritt dar. Möge sie den Jubilar, dem ich mich seit mehr als  Jahren freundschaftlich verbunden weiß, an nicht allzu vielen Stellen mehr verärgern als erfreuen! ² F. G. Klopstock, Der Messias, ; J. W. Goethe, Hermann und Dorothea, ; F. Hebbel, Mutter und Kind,  (u. a.). ³ Dazu Verf., Homer übersetzen. Zu Raoul Schrotts neuer Ilias-Fassung, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur, hrsg. v. M. Krüger, Heft /August , ff. (Katalog wichtiger deutscher Homer-Übersetzungen bis ins . Jh.; ders. ‚Und er kotzte im Weinrausch‘ (zu Kurt Steinmanns neuer Odyssee-Übersetzung, Zürich ), in: Literaturen /, Januar/Februar , –.

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Joachim Latacz

innerhalb der Antike geprägt und danach in jene Bahnen gelenkt, die im epischen Genre größtenteils bis heute bestehen geblieben sind. Die erste Wirkungsform, der Anspruch, besteht, kurz gesagt, in der hohen intellektuellen und ästhetischen Qualität,⁴ die das antike Epos seit seiner Geburt in Gestalt der Werke Homers um  v. Chr. als Auftakt der europäischen Literaturgeschichte etablierte. Diese Qualität hat seither über die gesamte griechische, römische, byzantinische und neuzeitliche Kultur hinweg eine ständige Herausforderung an die besten Geister dargestellt. Darüber ist spätestens seit Aristoteles’ Poetik hinreichend viel gedacht, gesprochen und geschrieben worden. Die zweite Wirkungsform, der Funktionswandel – sein Ursprung, seine Entfaltung, sein Ausmaß – hat im Vergleich damit weniger Aufmerksamkeit erfahren. Gerade der Funktionswandel ist es jedoch, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass der Prototyp, das erzählende hexametrische Vers-Epos – und damit dessen hoher geistiger Anspruch – nie an exemplarischer Bedeutsamkeit verlor. Ein Gesamtbild von Umfang und Verzweigtheit der Gattung Epos in der Antike mag das Ausmaß dieses Funktionswandels verdeutlichen: Überblickt man diesen Bestand an uns noch überlieferten oder durch Zitation bekannten antiken Epen und Epikern, so fällt als erstes die im Vergleich mit anderen literarischen Gattungen und Gattungsausprägungen außergewöhnlich lange und kontinuierliche Lebensdauer der Gattung bei hoher formaler und thematischer Konstanz auf. Das hexametrische Epos hat über den gesamten Zeitraum der griechisch-römisch-byzantinischen Kultur hinweg – ca.  v. Chr. bis  n. Chr. – gelebt. Das bedeutet eine Gattungsgeschichte von mehr als  Jahren. Zwar können wir den Produktionsverlauf in diesem Zeitraum wegen der Überlieferungslage nicht lückenlos überblicken, dennoch lassen sich drei ausgesprochene Blüteperioden oder ‚Vitalitätsphasen‘ erkennen: . Die frühgriechische Phase (mit Homer, Hesiod und der philosophischen Epik der Milesier und Eleaten), . die alexandrinische Phase (mit Kallimachos und seinem Umkreis); . die römische Phase im Übergang von der Republik zur Kaiserzeit im . Jh. vor und im . Jh. nach Chr. (mit Lukrez, Vergil, Ovid, Lucan). Diese lange Lebensdauer mit ihren im Abstand von jeweils rund  Jahren auftretenden, neue Impulse setzenden Innovationsphasen bedarf einer ⁴ s. Verf., Artikel ‚Epos‘, Abschnitt II A II, in: DNP .

Epos-Metamorphosen

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Erklärung. Normalerweise sind ja bestimmte formale und thematische Ausprägungen einer literarischen Gattung auf bestimmte gesellschaftliche Bedürfnislagen und infolgedessen auf bestimmte Zeiträume beschränkt. Beispiele bieten etwa der frühgriechische Iambos im Stil eines Semonides, Archilochos, Hipponax – die narrative Chorlyrik im Stil des Stesichoros – die Chorliedpreisung im Stil von Pindar und Bakchylides – die Tragödie im Stil der attischen Tragiker des . Jh. – die politische Komödie im Stil des Aristophanes – die mimetische Dichtung im Stil Theokrits – die Oden-Dichtung im Stil des Horaz. Das hexametrische Epos hingegen hat sich mit einer Reihe von formalen Invarianten – Metrum, typische Form-Elemente wie Epitheton, typische Szene, Gleichnis, Katalog, Gegenstandsbeschreibung u. a. – allein in der Antike über einen Zeitraum hinweg gehalten, der rund viermal länger ist als die gesamte Neuzeit – um sich dann in der Neuzeit als Imitationsprodukt noch einmal über rund  Jahre fortzusetzen. Die Erklärung für diese lange Lebensdauer liegt in den durch die drei genannten Vitalitätsphasen bewirkten Funktionsverschiebungen. In jeder dieser drei Phasen erreichte das Epos einen besonders hohen Grad von je andersgearteter Funktionalität für die zeitgenössische Gesellschaft allgemein und für die Literatur im besonderen. Und von jeder dieser drei Phasen ging ein neuer starker Impuls zu Anschlussproduktionen aus. Dieser Impuls wirkte in jedem der drei Fälle wellenartig rund vier Jahrhunderte weiter. Die drei Vitalitätsphasen bedeuteten also für die Gattung Energie-Erneuerung durch Funktionswandel. Der Funktionswandel wurde herbeigeführt oder erleichtert durch grundlegende produktive Missverständnisse – auf der poetologischen ebenso wie auf der literatursoziologischen Ebene. Das folgenreichste dieser Missverständnisse trat um  v. Chr. ein. Es ist das Missverständnis Homers. Wäre die Homerische Epik nicht sowohl in ihrer poetischen Technik als auch in ihrer Sozialfunktion missverstanden worden, dann wäre die Gattung sehr wahrscheinlich mit den Schöpfungen Homers zu Ende gegangen – so wie die oben genannten Literaturformen (Iambos usw.) im Zuge je anders gearteter kultureller Veränderungsprozesse zu Ende gegangen sind.  Das narrative ‚Prä-Epos‘: Der vorhomerische Sängervortrag. Thematik und Wirkung Eine Vergegenwärtigung der vermutlichen Gestalt und Funktion des Epos vor Homer kann diese These untermauern. Die Untersuchungen zur oral poe-

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try, zur Linear B-Schrift und zur indogermanischen Dichtersprache haben es wahrscheinlich gemacht, dass das hexametrische griechische Epos in seiner mündlich-improvisatorischen Vorform des Sängervortrags – also als ‚PräEpos‘ – schon mindestens im . Jahrtausend v. Chr. existiert hat,⁵ wahrscheinlich aber als erzählende Dichtung in anderen (nicht-hexametrischen) gebundenen Formen noch höher hinaufreicht, in die Zeit vor der Abwanderung der Griechen aus dem gemeinsamen indogermanischen Siedlungs- und Lebensraum, also in die Zeit vor ca.  v. Chr.⁶ Das bedeutet, dass das griechische Epos dort, wo wir es zum ersten Mal als jene schriftlich fixierte Versdichtung zu fassen bekommen, die wir seitdem ‚Epos‘ nennen: in den Schöpfungen Homers, ein bereits mindestens jähriges Vorleben hinter sich hat. In diesen mindestens  Jahren war das Genos offenbar grundsätzlich eine lebendige Kunstübung aus dem Munde frei improvisierender Sänger im Dienste des Adels gewesen: Erzählung großer Taten und Leiden überragender Adelsangehöriger (und Götter) sowohl aus lange vergangenen als auch aus jüngeren und jüngsten Zeiten. Thematik wie Wirkungsarten dieser für uns ältesten Form des Genos haben sich als Reflexe an zahlreichen Stellen des viel späteren Homerischen Epos noch erhalten. Besonders deutlich treten sie in den Versen  und f. des ersten Gesangs der Odyssee zutage. Thematik Od. . (Penelope verweisend zum Sänger Phemios, der den Freiern von der Rückkehr der achaiischen Troia-Kämpfer gesungen hatte): Φήμιε, πολλὰ γὰρ ἄλλα βροτῶν θελκτήρια οἶδας ἔργ’ ἀνδρῶν τε θεῶν τε, τά τε κλείουσιν ἀοιδοί· τῶν ἕν γέ σφιν ἄειδε παρήμενος … Phemios, kennst ja doch zahlreiche andre berückende Werke von Menschen und Göttern, so wie die Sänger zu rühmen sie pflegen: deren eines sing ihnen [den Freiern], sitzend bei ihnen … ⁵ Siehe Verf., Artikel ‚Epos‘, in: DNP, Abschnitt II B  (); Verf., Troia und Homer, Leipzig ⁶, ff. und Anhang II, –; Verf., Strukturiertes Gedächtnis, in: H. Matthäus/N. Oettinger/St. Schröder (Hrsg.), Der Orient und die Anfänge Europas, Wiesbaden , Anhang  und , –. ⁶ R. Schmitt, Dichtung und Dichtersprache in indogermanischer Zeit, Wiesbaden ; ders.; Indogermanische Dichtersprache, Darmstadt  (Wege der Forschung, Bd. ); M. L. West, The Rise of the Greek Epic, in: JHS , , –.

Epos-Metamorphosen

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Thema der Aoiden sind also grundsätzlich die ‚Werke‘, d. h. die ‚Bewirktheiten‘, die – in der Vergangenheit von Menschen und Göttern ausgegangen – etwas Bedeutendes oder doch Beachtenswertes darstellen. Die Zielrichtung, mit der die Aoiden sie besingen, ist ein κλέος (κλείουσιν ), das diesen Bewirkungsprodukten zuteil werden soll, also ein ‚Gehör‘ (κλύω ‚etwas sagen hören‘, vgl. dt. ‚Hörensagen‘), das sie finden sollen, d. h. ein allgemeines überindividuelles Bewusstsein von ihnen, das entstehen soll – wir würden heute wohl sagen: Ziel ist ihre Einbindung in das kollektive Gedächtnis.⁷ Wie bewusst sich die Aoiden dieses Wirkungszieles waren, wird an jenen Stellen deutlich, an denen sie sich durch ihre Figuren repräsentieren lassen, etwa an der berühmten Selbstverewigungsstelle im sechsten Ilias-Gesang, an der der Ilias-Dichter seine Helena zu ihrem Schwager Hektor sagen lässt: Ilias .ff.: δᾶερ, ἐπεί σε μάλιστα πόνος φρένας ἀμφιβέβηκεν εἵνεκ᾽ ἐμεῖο κυνὸς καὶ Ἀλεξάνδρου ἕνεκ᾽ ἄτης, οἷσιν ἐπὶ Ζεὺς θῆκε κακὸν μόρον, ὡς καὶ ὀπίσσω ἀνθρώποισι πελώμεθ᾽ ἀοίδιμοι ἐσσομένοισι. … mein Schwager! da ja dir am meisten Müh und Not die Sinne umtreibt um meinetwillen, dieser Hündin, und Aléxandros’ Verblendung wegen, denen ja Zeus ein Unglücksschicksal auferlegt hat, so dass wir auch später als Sangesstoff den Menschen dienen werden, die einst nach uns kommen …

Signifikant ist, dass der Selbstbezug hier – anders als in der Lyrik, etwa bei Sappho (Fr.  Voigt/L.-P.) oder später Horaz (c. III .: exegi monumentum aere perennius) – nicht auf den individuellen Autor als Kreator, sondern auf die anonyme Gattung, das Epos, als Transporteur zielt. Der Sänger ordnet sich selbst in eine Erzähltradition ein, von der er als selbstverständlich annimmt, dass sie bereits zu jener längstvergangenen Zeit vor Troias Fall lebendig war (ἀοίδιμοι πελώμεθα, ‚auf dass wir besingbar/zur Besingung berufen sein werden‘ lässt er Helena im noch lebendigen Troia sagen). Die Gattung reicht aber im Bewusstsein des Aoiden des ./. Jh. zeitlich noch höher hinauf: ⁷ Zum kollektiven vs. kommunikativen Gedächtnis s. Verf., Troia und Homer, Leipzig ⁶, –; ders., Strukturiertes Gedächtnis. Zur Überlieferung der Troia-Geschichte durch die ‚Dunklen Jahrhunderte‘, in: H. Matthäus/ N. Oettinger/ St. Schröder (Hrsg.), Der Orient und die Anfänge Europas, Wiesbaden , –.

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Ilias .– (Agamemnons Delegation trifft beim Kontingent der Myrmidonen ein): τὸν δ᾽ [Achilleus] εὗρον φρένα τερπόμενον φόρμιγγι λιγείηι καλῆι δαιδαλέηι, ἐπὶ δ᾽ ἀργύρεον ζυγὸν ἦεν, τὴν ἄρετ’ ἐξ ἐνάρων πόλιν Ἠετίωνος ὀλέσσας· τῆι ὅ γε θυμὸν ἔτερπεν, ἄειδε δ᾽ ἄρα κλέα ἀνδρῶν. Den aber trafen sie, wie er den Sinn sich erquickte mit einer Phorminx helltönend – einer schönen, verzierten, der Steg darauf, der war aus Silber –, welche er sich aus der Beute genommen, nachdem er die Stadt Eëtions vernichtet: Eben mit dieser erquickte er nun sich das Herz; er sang aber klärlich Gerühmtes von Männern.

Auch Achilleus singt also ganz selbstverständlich (ἄρα ) ἔργ᾽ ἀνδρῶν …, τά τε κλείουσιν ἀοιδοί, wie sie in der Odyssee-Szene Phemios singt. Er singt sie vor Troias Fall. Und er singt sie zu einer Phorminx, die er – ebenso wie das Pferd Pedasos (.f.) – bei seiner Eroberung von Thebe als ein besonders wertvolles Prunkstück der Kriegsbeute entnommen hat. Da aber diese Phorminx, zu der er singt – ganz in der Art eines professionellen ἀοιδός (ἄειδε ) –, zweifellos zu den Kleinodien von König Eëtions privatem Familienschatz gehört hat, wird hier die Aoidenkunst in eine Zeit weit vor dem Troianischen Krieg hinaufgerückt, und auch für diese Zeit wird bereits mit der gleichen Gesangsthematik (κλέα ἀνδρῶν) gerechnet, wie sie Phemios nach Troias Fall im Herrenhaus von Ithaka pflegt. Wen sich der Ilias-Dichter unter den ἄνδρες, die Achilleus besingt, vorgestellt haben wird, geht aus jenen zahlreichen Stellen hervor, an denen er anderen Handlungsfiguren entsprechende ‚Memorabilien‘ in den Mund legt – etwa Agamemnon und Sthenelos die Geschichten von Tydeus und den Epigonen in den Kriegen um Theben (.–), Phoinix die Geschichte von Meleager im Kampf um Kalydon („οὕτω καὶ τῶν πρόσθεν ἐπευθόμεθα κλέα ἀνδρῶν | ἡρώων“ lässt er in . den Phoinix beginnen), und auch in eigener Person spielt er nicht selten auf andere Sangesstoffe an, die sich um große Vorzeithelden ranken, wie etwa in .– (vgl. Odyssee .) auf die ArgonautenFahrt der Helden um Iason: „The possession of this ‚knowledge‘ was essential to the art of the ἀοιδός, and Homer clearly knows more than it suits him to bring into the Iliad“ (Hainsworth im ‚Cambridge Commentary‘ zu .–, mit weiteren Beispielen).⁸ ⁸ Diese Erwähnungen zeigen klar, dass ein Sänger nach der Vorstellung des Ilias- (und Odyssee-)Dichters solche Geschichten (als noch ungeformte Erzählkomplexe) zur Erzähl-, aber

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Dass sich diese Geschichten in sehr weit zurückliegender Zeit abgespielt haben, und zwar in noch weiter zurückliegender Zeit als seine TroiaGeschichte, das ist für den Sänger des ./. Jh. also Gewissheit; explizit äußert sich das auch in seinem Bewusstsein vom zeitlichen Abstand seiner ἄνδρες ἥρωες von denjenigen Menschen, οἷοι νῦν βροτοί εἰσι(ν), Il. . u. ö. – einem Bewusstsein, das wohl kaum er selbst erst entwickelt haben kann, sondern das er, eingebettet in eben diese zitierte Formel, von seinen Vorgängern übernommen haben wird, das er also als uraltes Element des Sangesstroms empfindet, in dem auch er steht. Wie weit diese Zeit zurückliegt, weiß er freilich nicht. Es blieb der neuzeitlichen Forschung vorbehalten, diese Zeit genauer zu bestimmen: Troia, Theben, Kalydon, Iasons Iolkos⁹: von diesen allen sind mehr oder weniger gut erhaltene Überreste noch heute deutlich sichtbar – und sie alle gingen als Fürstensitze und politisch-wirtschaftlich-religiöse Steuerungszentren ihres jeweiligen Herrschaftsgebiets um  v. Chr. zugrunde; lebendig waren sie allein in jener Zeit, die wir die ‚mykenische‘ nennen. Dass auch die Geschichten, die sich um sie rankten, in dieser mykenischen Zeit entstanden sind – und nicht erst in den sogenannten ‚Dunklen Jahrhunderten‘ –, ist eine alte und in den letzten  Jahren von vielen Seiten her durch außerhomerische spätbronzezeitliche Dokumente bestärkte Annahme.¹⁰ Auch sie findet

eben auch schon zur erzählten Zeit stets abrufbar und aus dem Gedächtnis neu gestaltbar im Kopf zu haben hatte. Von einem ‚Argonautenepos‘, das der Odyssee-Dichter „geradezu zitiert“ (Rengakos , b, nach Danek , : „epische Erzählungen über die Argonautenfahrt“ [Hervorhebungen: J. L.]) sollte man daher zur Vermeidung von Missverständnissen nicht reden; die Bezeichnung ‚ἀοιδαί‘ oder ‚Sängervorträge‘ wäre das Angemessene. Regelrechte ‚Epen‘ wurden im griechischen Sprachgebiet erst nach der Etablierung des Alphabets möglich. Dass es Ansätze dazu im . Jh. schon vor Homer gegeben haben könnte (A. Dihle, Homer-Probleme, Opladen ), ist nicht unwahrscheinlich, doch Ilias- und Odyssee-Dichter beziehen sich deutlich auf mündliche Tradition (ἐπευθόμεθα .). ⁹ Zu Theben s. E. Visser, Homers Katalog der Schiffe, Stuttgart/Leipzig , . f.; ders., in: BK II , ², . – Zu Kalydon: ders., Homers Katalog der Schiffe, . f.; BK a. O. . – Zu Iolkos: ders., Homers Katalog der Schiffe, . f.; BK a. O. . ¹⁰ „[…] es (hat) alle Wahrscheinlichkeit für sich, dass der epische Sänger bereits auf den mykenischen Burgen seinen festen Platz hatte“: A. Lesky, Art. ‚Homeros‘, in: RE Suppl. XI, ,  (im RE-Sonderdruck: Sp. ); „almost everyone accepts that the Greek epic tradition goes back at least to late Mycenaean times“: M. L. West, The Rise of the Greek Epic, in: JHS , ,  (Hervorhebung: J. L); Verf., Homer. Der erste Dichter des Abendlands, Düsseldorf/Zürich ⁴, –; Verf., Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels, Leipzig ⁶, passim.

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eine Stütze in der Selbstauffassung der Gattungsrepräsentanten: An der zweiten der oben benannten Odysseestellen lässt der Dichter seinen Telemachos eine weitere Gattungsnorm benennen: Odyssee .ff. (Telemachos tadelt Penelopes ‚Schweigegebot‘ für den Sänger Phemios, der in der Halle von der ‚bitteren Rückkehr‘ der Achaier von Troia gesungen hatte): τούτωι [Phemios] δ᾽ οὐ νέμεσις Δαναῶν κακὸν οἶτον ἀείδειν· τὴν γὰρ ἀοιδὴν μᾶλλον ἐπικλείουσ᾽ ἄνθρωποι, ἥ τις ἀϊόντεσσι νεωτάτη ἀμφιπέληται. … den aber [den Sänger] trifft keine Entrüstung darüber, dass er das schlimme Geschick der Achaier singt; denn denjenigen Gesang preisen die Menschen in höherem Maße, der sie beim Zuhören als der je neueste umschwebt.

Der ‚neueste Gesang‘, der hier gemeint ist – der Gesang von der schlimm verlaufenen Rückfahrt der Troia-Kämpfer –, wird nach der Rechnung des Odyssee-Dichters im zehnten Jahr nach dem Fall Troias vorgetragen. Und er ist auch zu diesem noch relativ nah am erzählten Ereignis liegenden Zeitpunkt durchaus nicht der ‚neueste‘ im Sinne einer Premiere; denn zuvor hatte der Dichter die Penelope von ihm sagen lassen: Odyssee .ff. (Penelope zum Sänger Phemios): ταύτης δ᾽ ἀποπαύε᾽ ἀοιδῆς λυγρῆς, ἥ τέ μοι αἰὲν ἐνὶ στήθεσσι φίλον κῆρ τείρει … … mit diesem aber hör auf, dem Gesang, dem bittren, der mir immer das liebe Herz in der Brust zerreibt …

Das ‚Rückkehr-Lied‘, das Penelopes Herz beim Hören ‚immer‘, also immer wieder, jedesmal, ‚zerreibt‘ – natürlich weil es so viele Troia-Kämpfer, wenn auch ‚bitter‘, zurückkehren lässt, nur nicht ihren Mann Odysseus –, dieses Lied ist also schon längere Zeit ein Sänger-Thema, es ist also in der Vorstellung des Sängers des ./. Jh. nicht erst viele Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte nach Troias Fall entstanden, sondern schon bald danach. Etwas anderes ist in einer Zeit ohne technische Nachrichtenübermittlung, ohne ‚Neueste Nachrichten‘, ‚News‘ usw., auch kaum denkbar. Es ist der Sänger, der in diesen Zeiten die großen Ereignisse, die ‚Sensationen‘, möglichst schnell unter

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die Leute bringt. C. M. Bowra hat bereits  den gleichen Ehrgeiz bei Sängern des . Jh. verglichen, etwa im Fall der berühmten russischen Sängerin Marfa Krjukowa, die in ihrem ‚Tale of Lenin‘ schon kurze Zeit nach dem Ereignis selbst die russische Oktoberrevolution von  besang – weitgehend unter Übernahme und Variation von Stoffparallelen und Formeln aus der damals schon jahrhundertealten mündlichen russischen Sangestradition.¹¹ Es wird sich auch bei der ἀοιδὴ νεωτάτη schwerlich, wie manche Interpreten angenommen haben,¹² um ein erst vom Odyssee-Dichter erfundenes indirektes Selbstlob mit Akzent auf seiner neuen Bearbeitung des alten Odysseus-Stoffes handeln – jedenfalls nicht primär –, sondern um eine alte, in der Sängerzunft seit jeher fundamentale und daher durch die Jahrhunderte hindurch weitergegebene Gattungsnorm, die sich auf die Thematik bezog. Wirkungsarten Entrückung Nicht anders verhält es sich mit den Wirkungsarten der dem Homerischen Epos vorausgegangenen Sängervorträge.¹³ In ihrem Hinweis auf die ‚vielen anderen Werke von Menschen und Göttern‘, die Phemios statt des bitteren Rückkehrgeschicks der Troia-Kämpfer singen soll, lässt der Odyssee-Dichter Penelope diese ἔργ᾽ ἀνδρῶν τε θεῶν τε, τά τε κλείουσιν ἀοιδοί als (βροτῶν) θελκτήρια bezeichnen (.). Die Gesänge der ἀοιδοί über die außergewöhnlichen ‚Werke‘ von Menschen und Göttern haben also von Natur aus eine ‚magische‘ Qualität (im LfgrE nimmt Irene de Jong ‚bewitch, put under a spell‘ für θέλγω als Grundbedeutung an). Wir würden im Deutschen wohl ‚in den Bann schlagen, faszinieren‘ sagen. Gemeint ist im Bezug auf Sängerdarbietungen ebenso wie auf Reden (Erzählungen) mit dieser Gebanntheit die Erhebung des Publikums, seine Enthobenheit aus der Normalwelt, sein Eingetauchtsein in die ‚verzaubernde‘ andere Welt der Kunst, wie wir Heutigen es beim Hören einer Bach-Kantate, dem Betrachten eines Rubens- oder Rembrandt-Gemäldes, dem Hineingezogenwerden in die Darbietungskunst ¹¹ C. M. Bowra, Heroic Poetry, London etc. , passim (s. den Index) und bes. . ¹² Zuletzt A. Rengakos, in: Homer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart , . ¹³ Der neuerdings gleichsam als ‚Sesam, öffne dich!‘ ‚moderner‘ Philologie strapazierte Zauberterminus ‚performance‘ (‚Performer/in‘; er/sie ‚performt‘ den Ödipus/die Antigone) wird hier gemieden.

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eines großen Schauspielers erleben können. Überzeugend definiert Irene de Jong im genannten LfgrE-Artikel: „Essentially, θέλγω means a shift of control: ‚victim‘ loses control of himself and/or becomes subject to a stronger power“. Das ist die höchste erreichbare Stufe seiner Kunstausübung für einen ἀοιδός. Hier an unserer Odyssee-Stelle erfahren wir die Wirkung des Gesanges nur ganz kurz: Odyssee .f.: τοῖσι δ᾽ ἀοιδὸς ἄειδε περικλυτός, οἱ δὲ σιωπῆι εἵατ᾽ ἀκούοντες· … denen aber sang der Sänger, der berühmte, und die – schweigend saßen sie zuhörend …

Gebannte Stille also ist die erste, die äußerliche Wirkung des Sängervortrags. Noch genauer wird sie beschrieben in Eumaios’ Bericht an Penelope von den Erzählungen des Bettler-Odysseus in Eumaios’ Gehöft: Odyssee .ff.: ὡς δ᾽ ὅτ᾽ ἀοιδὸν ἀνὴρ ποτιδέρκεται, ὅς τε θεῶν ἒξ ἀείδηι δεδαὼς ἔπε᾽ ἱμερόεντα βροτοῖσι τοῦ δ᾽ ἄμοτον μεμάασιν ἀκουέμεν, ὁππότ᾽ ἀείδηι· ὣς ἐμὲ κεῖνος ἔθελγε παρήμενος ἐν μεγάροισι. … so wie wenn von einem Sänger ein Mann nicht den Blick wendet, der, von den Göttern belehrt, sehnsuchterregende Worte den Sterblichen singt, und dem sind sie über die Maßen begierig zuzuhören, sooft er singt: so hat mich jener gebannt, bei mir sitzend im Hause.

In der Ilias ist themabedingt natürlich kein Sänger am Werk (von gelegentlich erscheinenden nicht-narrativen Sängern abgesehen: auf dem Schild des Achilleus [.] der Sänger zum Tanzlied, und gegen Ende des Werkes [.] die troischen Sänger der Totenklage). Einen Hinweis auf die gleiche Wirkung des Gesanges wie in der Odyssee gibt es in der Ilias dennoch: Wenn Achilleus an der oben zitierten Stelle im . Gesang wie ein Sänger vor seinem Zelt die κλέα ἀνδρῶν singt, dann hören wir über seinen einzigen Zuhörer: Ilias .: Πάτροκλος δὲ οἱ οἶος ἐνάντιος ἧστο σιωπῆι … und Patroklos saß ihm allein gegenüber in Schweigen …

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– die gleiche Zuhörerposition also und die gleiche aufmerksame Stille wie in der Odyssee. Vermisst wurde gelegentlich, dass hier nicht wie in der Odyssee von der ‚Gebanntheit‘ des Zuhörers die Rede ist. Dies zeige an, dass die Wirkung des Gesangs zwischen Ilias und Odyssee eine Intensivierung erfahren habe.¹⁴ Das trifft nicht zu. Wenn hier nicht, wie in der Odyssee, von θέλγειν die Rede ist, sondern ‚nur‘ von τέρπειν, so liegt der Grund dafür in der Unterschiedlichkeit des Publikumstyps und der Zielsetzung des Singenden: in der Odyssee hat der professionelle Sänger eine große Menge zum Publikum und zielt bewusst auf deren Beeindruckung ab – es ist ein ‚öffentlicher Auftritt‘ (ein ‚Event‘ im heutigen Jargon) –, in der Ilias hat der nicht-professionelle Sänger Achilleus nur einen Einzigen zum Zuhörer und zielt nicht auf diesen ab, sondern auf sich selbst: Ilias .ff.: τὸν δ᾽ [Achilleus] εὗρον [die Gesandten] φρένα τερπόμενον φόρμιγγι λιγείηι […  vv. …] τῆι ὅ γε θυμὸν ἔτερπεν … Den aber fanden sie, wie er den Sinn sich erfreute mit der Phorminx, der helltönenden, […  vv. …] mit der also erfreute er sein Herz …

„ … durch den Zusatz [φόρμιγγι λιγείηι] (gewinnt) die Tätigkeit größere Intensität: Achill […] spielt nicht etwa geistesabwesend ‚Tonleitern‘ auf dem Instrument, sondern er ist ‚mit Leib und Seele‘ dabei, das Spielen [und Singen] gewährt ihm wirkliche Befriedigung und wirklichen Genuss.“¹⁵ Ein Unterschied in der Wirkung ist also nicht zu belegen und nicht zu erwarten. Die Wirkung war immer dieselbe – von Urzeiten an. Bildung Dies ist jedoch nur die eine, die ästhetische Seite des Wirkungsspektrums. Sie bildet die Voraussetzung für eine zweite Wirkungskomponente, die den eigent¹⁴ Rengakos , : „die Dichtung [in der Odyssee] ‚bezaubert‘ (θέλγειν) – in der Ilias vermochte sie nur zu ‚unterhalten‘ (τέρπειν)“. Achilleus will sich oder gar Patroklos aber nicht bezaubern, sondern sich nur eine gewisse innere Befriedigung verschaffen – sich allein. Die Verwendung von τέρπειν gegenüber θέλγειν erklärt sich also aus der situationsbedingten Unterschiedlichkeit des Publikumstyps und der Zielsetzung des Singenden. ¹⁵ Verf., Zum Wortfeld ‚Freude‘ in der Sprache Homers, Heidelberg , .

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lichen Effekt darstellt – der wie bei jeder ernstzunehmenden Kunstform nur über gelungene ‚Bannung, Fesselung, Bezauberung‘ des Publikums erreicht werden kann. Dieser eigentliche Effekt liegt in Ilias und Odyssee so offen zutage, dass es auch dem heutigen Rezipienten nicht erst mit umfangreichen Stellensammlungen belegt werden muss. Er heißt Bildung. Bildung wird jedoch nicht erst im Epos Homers vermittelt. Dass die zahllosen, schwerlich jemals katalogisierbaren Facetten dessen, was bei Homer ‚Bildung‘ konstituiert, erst von den Sängern des . Jh. ‚erfunden‘ worden wären, ist nicht vorstellbar. Homer stellt auch hier nur das Ende der Tradition dar. Bildung war offensichtlich seit jeher ein inhärentes Wirkungsziel des Genos. Nicht als plane Indoktrination, als ostentative ‚Erziehung‘, sondern als selbstverständliche Vorführung von ‚gebildeten‘ Menschen, ‚Vor-Bildern‘. „Bildung ist nicht möglich ohne ein dem Geiste vorschwebendes Bild des Menschen, wie er sein soll, wobei die Rücksicht auf den Nutzen gleichgültig oder jedenfalls nicht wesentlich ist, sondern das καλόν den Ausschlag gibt, d. h. das Schöne im verpflichtenden Sinne des Wunschbildes, des Ideals“.¹⁶ Das über den Menschen des traditionellen Sängervortrags stehende Ideal hat Ausdruck gefunden in dem auch in der Neuzeit lange nachgesprochenen und nachgeschriebenen (seit dem . Jh. allerdings ‚revolutionär‘ beiseite geschobenen¹⁷) Leitwort, das in der Ilias Hippolochos seinem Sohn Glaukos (.) und Peleus seinem Sohn Achilleus (.) beim Auszug gegen Troia mitgeben: αἰὲν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχον ἔμμεναι ἄλλων Stets sich als Bester bewähren und trefflicher sein als die andern!

Dass die damit als Leitbild aufgerichtete (im Begriff ἀριστεύειν steckende) ἀρετή, ‚Vorzüglichkeit‘, nicht etwa nur kriegerische Höchstqualität meint, sondern eine umfassende Norm höchstmöglichen Menschseins überhaupt – von den kultivierten Umgangsformen¹⁸ bis zu den ethischen Werten –, ist oft ¹⁶ W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin () ⁴, Bd. ,  (die Frage der ‚ideologischen Belastetheit‘ Jaegers steht hier nicht zur Debatte; Jaegers Einsichten in die Sache selbst sind gültig und jederzeit aus den Texten belegbar). ¹⁷ „Wahlspruch […], den außer Kurs zu setzen der Gleichmacherei der neuesten pädagogischen Weisheit vorbehalten blieb“: so schon  Jaeger a. O. . Die Folgen sind heute in Form einer allgemeinen, sich beschleunigenden geistigen und moralischen Depravation der politischen, wirtschaftlichen, künstlerischen usw. ‚Eliten‘ zu besichtigen. ¹⁸ Ein kleines Beispiel liefern die auch in kontroversen Diskussionen in der Regel gewahrten formvollendeten Anreden; s. dazu Verf., Art. Epos II B  (d), in: DNP .

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genug aus den Epen Homers heraus gezeigt worden.¹⁹ Dass dies eine Adelsnorm ist, also eine Norm der an der Spitze der Gesellschaft stehenden Führungs-, zugleich aber auch Verantwortungs-Schicht,²⁰ versteht sich von selbst. Ihre vielleicht substantiellste Ausdeutung findet diese Norm in der Kampfparänese, die der Ilias-Dichter den Lykier-Feldherrn Sarpedon an seinen Vetter und Mit-Feldherrn Glaukos richten lässt: Ilias .–: Glaukos, warum wohl stehen wir beide in Ehren im Höchstmaß – mit Ehrensitzen und Fleischportionen und randvollen Bechern – in Lykien, und alle schauen auf uns wie auf Götter, und ein Landstück bebauen wir, groß, an den Ufern des Xanthos, ein schönes, mit Rebhang und weizentragender Krume? Darum müssen wir jetzt bei den Ersten der Lykier verharrend Stellung halten und uns in den Kampf, den hitzigen, werfen, auf dass so von den Lykiern einer, den dichtgepanzerten, spreche: „Wahrlich, nicht ohne Ruhmestaten führen in Lykien die Herrschaft unsere Könige, essen nicht grundlos die fettesten Schafe, trinken erlesenen Wein, honigsüßen! Nein – da ist ersichtlich auch Kraft da, ausgezeichnete, da sie ja unter den Ersten der Lykier kämpfen!“

‚Noblesse oblige‘ also. Dies aber nicht nur im militärischen Bereich. Adel verpflichtet auch und vor allem zur geistigen Führung. Das kommt in einem zweiten Leitwort zum Ausdruck: Seinen Versuch, Achilleus doch noch umzustimmen, leitet der alte Phoinix im . Gesang ein mit den Worten:

¹⁹ Immer noch – ungeachtet der zeitbedingten, heute allzu scheinheilig kritisierten ‚völkischen‘ Zungenschläge – eindrucksvoll dargestellt von Werner Jaeger, a. O., –.; s., davon unabhängig, Verf., Achilleus, Leipzig , bes. –. – Grundsätzlich: A. W. H. Adkins, Merit and Responsibility: A Study in Greek Values, Oxford ; D. L. Cairns, Aidôs. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford . ²⁰ „Adel, verstanden als sozial exklusive Gruppe mit gesellschaftlichem Vorrang, ist ein universalgeschichtliches Phänomen, das sich bereits in den frühen Hochkulturen findet.“ M. Wienfort: Der Adel in der Moderne, Göttingen , . Soziologische Definitionen dieser Art erfassen in ihrer Dürre höchstens den äußersten Rand des Gesamtkomplexes von Grundnormen, Werten, Vorstellungen, Bestrebungen usw., der die Welt der ἄριστοι in der griechischen Sängerdichtung ausmacht. Unser heutiger ideologisch stark belasteter Begriff ‚Adel‘ (aus dem der Grundbegriff ‚edel‘ gar nicht mehr herausgehört wird) ist nur ein ganz unzureichender (und dazu noch regelmäßig als verstaubter Elitarismus attackierter) Annäherungsversuch.

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Il. . (‚Dein Vater Peleus hat mich dir mitgegeben, als er dich nach Troia schickte‘): νήπιον οὔ πω εἰδόθ᾽ ὁμοιΐου πολέμοιο οὐδ᾽ ἀγορέων, ἵνα τ᾽ ἄνδρες ἀριπρεπέες τελέθουσι. τοὔνεκά με προέηκε διδασκέμεναι τάδε πάντα, μύθων τε ῥητῆρ᾽ ἔμεναι πρηκτῆρά τε ἔργων. … ein Kind, nichts wissend vom Gleichmacher Krieg noch und von den Redekämpfen nichts, wo Männer sich als ausgezeichnete erweisen; deswegen gab er mich dir mit, dich alles das zu lehren: der Worte Redner sein und Täter sein der Werke.

Hier erscheint das Adelsideal in seiner erstrebten Vollständigkeit, wie sie offensichtlich seit Urzeiten anerzogen (διδασκέμεναι, ) wurde: Wort und Tat vereint – und beides in ἀριπρέπεια (), ‚Exzellenz‘. Was dabei ‚Wort‘ bedeutet, konkretisiert sich in ἀγορέων (): In den insgesamt  ausführlich geschilderten ἀγοραί der Ilias,²¹ den ‚Versammlungen‘, die wir heute treffender als ‚Parlamente‘ bezeichnen würden, werden nicht nur die äußerlichen rhetorischen (ῥητῆρ᾽, ) Fähigkeiten auf die Probe gestellt, sondern auch und vor allem die intellektuellen Fähigkeiten: Erfassung und treffende sprachliche Benennung des jeweiligen Problemkerns, Interpretation der daraus resultierenden Lage mit ihren Risiken und Chancen, scharfe und logisch stimmige Argumentation zum Zwecke der Problemlösung unter Berücksichtigung möglicher Gegenargumentationen sowie der vermutlichen Überlegungen der Gegenseite, knappe Formulierung des eigenen Vorschlags, usw. Die Grundkompetenz, die für die erfolgreiche Bewältigung aller dieser Anforderungen Voraussetzung ist, lässt der Ilias-Dichter den Achilleus im Rahmen seiner Strategie-Auseinandersetzung mit Agamemnon so benennen: Ilias . (Achilleus zu Patroklos über Agamemnon als Oberbefehlshaber): … ἦ γὰρ ὄ γ᾽ ὀλοιῆισι φρεσὶ θυίει, οὐδέ τι οἶδε νοῆσαι ἅμα πρόσσω καὶ ὀπίσσω, ὄπως οἱ παρὰ νηυσὶ σόοι μαχεοίατ᾽ Ἀχαιοί. … denn wahrlich: der wabert [nur planlos] in seinen verderbenbringenden Sinnen, und weiß überhaupt nicht vernunftvoll zu denken zugleich nach vorn und nach hinten, wie ihm denn bei den Schiffen heil wohl kämpfen könnten die Achaier! ²¹ Dazu BK I , zu ..

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Das Vernichtende dieses Urteils liegt in der Feststellung der Unfähigkeit, emotionsfrei (ohne θυιΐειν, ) konsistent kausal und dadurch zielgerichtet prognostisch zu denken (νοῆσαι, ), und das heißt: strikt logisch zu analysieren und auf dieser Basis eine vernunftgemäße Linie von der Vergangenheit über die Gegenwart in die (vermutbare) Zukunft zu ziehen. Was damit eingefordert wird, ist die Grund-Anforderung an Führungspersönlichkeiten schlechthin, zu jeder Zeit: hohe Intelligenz, Analysefähigkeit, logisches Schlussfolgerungsdenken, strategische Entscheidungsstärke – und alles das in stetem fürsorglichen Interesse derer, um derentwillen dem Führenden seine Führungsposition überhaupt anvertraut ist (oder sein sollte). Werkintern ist dieser Anspruch an den noch sehr jungen Mann (νήπιον, ) Achilleus gerichtet – der die Lektion in den vergangenen neun Kriegsjahren, wie die Ilias schon zu Anfang zeigt (.–), sehr gut gelernt hat, besser als der erfahrene König und Großfeldherr Agamemnon in seiner so viel längeren ‚Amtszeit‘. Zugleich jedoch stellt diese Forderung indirekt, nach außen hin, im Sinne eines ‚Fürstenspiegels‘, einen dauernden Appell an das primäre Zielpublikum des Sängers dar, den Adel. Und auch hier darf man es als ausgeschlossen ansehen, dass dieser Appell erst vom Dichter unserer Ilias erfunden worden wäre. Er war zweifellos bereits in den Zentralpalästen der ‚mykenischen‘ Epoche Griechenlands zu hören, mit diesen oder andren Worten. Sozialfunktion Der Sängervortrag hatte also seit alters her mit seinem auf Entrückung aufbauenden impliziten Bildungseffekt eine wichtige Sozialfunktion. Gleich, ob der Sänger längst vergangenes oder gerade erst vorgefallenes Geschehen vortrug – er sorgte nicht nur für Unterhaltung, sondern indem er über das Reden und Handeln seiner Figuren zugleich auch Information, Interpretation und Kommentierung leistete und dabei explizit und implizit das Wertesystem der Führungsschicht, der er primär diente, im rechten Licht darstellte und begründete, setzte er Normen für eine konforme Lebensführung der Elite in Niveau und Stil. Diese sozialisierende und erzieherische Funktion (διδασκέμεναι, .; παιδεία wird sie später bei den Griechen heißen) ist, wie die vergleichende Epenforschung gezeigt hat, im Vortrag der auf der höchsten Hierarchiestufe²² ²² Zur ‚Standespyramide‘ der Sängerzunft mit ihrer sozial bedingten Vielfalt und Differenziertheit s. bereits W. Schmid, Geschichte der griechischen Literatur I , in: W. Otto (Hrsg.), Handbuch der Altertumswissenschaft VII ., München , – („Das Altertümlichste

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stehenden Sänger weltweit verbreitet. Sie ist stets verbunden mit der poetischen Technik der mündlichen Improvisation. Eine derart lebendige Erzähl-, Darstellungs- und Kommentierungskunst – Altes erhaltend, gegebenenfalls aber auch auf Neues prompt reagierend, konservativ wertbewahrend und grundätzlich affirmativ – muss ihre Primärfunktion verlieren, wenn die soziale Schicht zusammenbricht, mit der sie im Zweckverbund gekoppelt ist. Dieser Fall ist in Griechenland in Form der Katastrophe des sog. Seevölkersturms zwischen  und  eingetreten. Die achaiische Führungsschicht wurde dezimiert und in die Flucht getrieben (Zypern, Rhodos, Süd-Kleinasien) und mit dem angestammten Siedlungs- und Handlungsraum auch ihrer Dynamik beraubt. Die Sängerkunst, die der Führungsschicht in die neuen Siedlungsräume folgte (eine dorische Sangestradition gibt es bekanntlich nicht), vollzog die Wandlung mit: Da es aktuelles Heldentum und aktuellen Tatenruhm, den man in der alten Größendimension hätte besingen können, nicht mehr gab,²³ fror die Sangesübung den alten Themenbestand gewissermaßen ein. In der gewohnten Technik, die zu ändern kein Anlass bestand (jetzt gab es ja nicht nur keine adäquate Schrift, sondern gar keine dürfte bei den Griechen wie bei den Südslawen der Hofsänger gewesen sein, d. h. die Anfänge des […] Heldengesangs waren hier wie dort aristokratisch-feudal …“: ). Siehe ferner C. M. Bowra, Heroic Poetry, London , ³, Kapitel XI ‚The Bard‘; Verf., Zu Homers Person, in: A. Rengakos/B. Zimmermann, Homer-Handbuch, Stuttgart , f. Der Sänger, der die Ilias schuf und den wir Homer nennen, gehörte (und gehört) nach übereinstimmender Meinung der Experten an die oberste Spitze der Pyramide. ²³ Die ‚Äolier-These‘, der zufolge die Ilias die – zunächst vorwiegend äolische – Inbesitznahme westkleinasiatischer Küstengebiete in nachmykenischer Zeit (ganz oder zum Teil) widerspiegle (in den letzten Jahren als angeblich neues Forschungsergebnis vehement vertreten durch W. Kullmann und seinen Kreis), wurde bereits – vor fast  Jahren – von K. Völcker  aufgestellt (‚Die Wanderung der Aeolischen Colonien nach Asien als Veranlassung und Grundlage der Geschichte des Trojanischen Krieges‘, in: Allgemeine Schulzeitung. Zweite Abtheilung. Für Berufs- und Gelehrtenbildung, , Nr. – [. April – . April, –], nach dem Vorgang von E. Rückert, Der Dienst der Athena, Hildburghausen , ff., näher ausgeführt in: E. Rückert, Trojas Ursprung, Blüthe, Untergang und Wiedergeburt in Latium, Hamburg und Gotha , VI–X. – Die These wurde bereits  schlagend widerlegt von F. G. Welcker, Der epische Cyclus oder die Homerischen Dichter. Zweiter Theil. Die Gedichte nach Inhalt und Composition, Bonn  (= Rheinisches Museum für Philologie. Ersten Supplementbandes zweite Abtheilung), f., sowie – nach der Wiederentdeckung und Teil-Ausgrabung Troias durch Schliemann – erneut ins Reich der Phantasie verwiesen von Eduard Meyer, Geschichte des Alterthums, Berlin , §§ ff. – Vgl. dazu vorläufig Verf., Troia und Homer, Leipzig ⁶, –. Eine kleine ‚Geschichte der Äolier-These‘ soll an anderer Stelle vorgelegt werden.

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mehr), wurden während der sog. dunklen Jahrhunderte die alten Geschichten von Theben, Troia, Theseus, den Argonauten usw. in immer wieder neuen Versionen repetiert. Die Übung drohte zu erstarren.  Der Übergang zum problematisierenden literarischen Epos Der gesellschaftliche Wandel Mit dem neuen gesellschaftlichen Aufschwung seit etwa  v. Chr. (‚Renaissance des . Jahrhunderts‘) trat ein Wandel auch für die Sangestradition ein. Bevölkerungswachstum, Kolonisation, Erschließung neuer Ressourcen, Produktionsanstieg durch Ausweitung des Handels, Innovationsschub und die mit alledem einhergehende tiefgreifende Erschütterung des bisher vornehmlich konservativ rückwärtsgewandten Wertesystem der Oberschicht schlugen in die Aoidenkunst durch und bewirkten eine Funktionsänderung weg von der vornehmlich rühmenden Narrativität und hin zur problematisierenden Realitätsreflexion, also hin zu einer in dieser ausgeprägten Form wohl neuartigen Aktualisierungsfunktion, im Medium der beibehaltenen alten Stoffe (so wie später in der attischen Tragödie). Zwei offenbar schon von der Zeitgenossenschaft als optimal erkannte Realisationsformen dieser neuen Tendenz konnten dank der ebenfalls im Zuge dieser Renaissance geschaffenen Innovation ‚Phonemschrift‘ fixiert werden und haben sich bis zu uns erhalten: Ilias und Odyssee. Beide Werke erzählen nicht, um zu erzählen (wie vermutlich mehrheitlich und vornehmlich die vorangegangenen und mit Gewissheit die nachfolgenden ‚Thebaïden‘, ‚Theseïden‘, ‚Argonautika‘ usw.), sondern um durch Vorführung einer Krisis im Geschehensablauf längstbekannter alter Sängerstoffe ( Tage aus dem Troia-Stoff im Fall der später so genannten Ἰλιάς,  Tage aus dem Odysseus-Stoff im Fall der später so genannten Ὀδύσσεια) aktuelle und menschlich wie sozial bedeutsame Zeitprobleme von Grund auf neu zu durchdenken: das Problem von Führerschaft und adeligem Wertekanon am Beispiel eines Persönlichkeitskonflikts im einen, das Problem der Identitätssuche und -findung des Adeligen in einer sich bereits spürbar wandelnden Wertewelt im anderen Falle.²⁴ ²⁴ Eingehende Interpretation beider Epen in diesem Sinne: Verf., Homer. Der erste Dichter des Abendlands, Düsseldorf/Zürich ⁴; s. auch Verf., Homer und die ‚Ilias‘: Streit um Adelsideale, in: DAMALS. Das aktuelle Magazin für Geschichte und Kultur /, –.

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Der umfassende gesellschaftliche Wandel, der diesen verheißungsvollen Neubeginn innerhalb der traditionellen Sangespraxis veranlasste, führte aber nur wenige Schritte weiter auch schon wieder zu seinem definitiven Abbruch – so dass Ilias und Odyssee in der Tat zu dem werden mussten, als was sie in der Folgezeit stets empfunden wurden: zu poetischen Meisterwerken, zugleich aber auch gattungsgeschichtlichen Singularitäten. Denn die im . Jh. sich beschleunigende Umwälzung der alten Sozialstrukturen führte einerseits zu einem rasanten Bedeutsamkeitsverlust der Adelsschicht alten Typs, in deren Dienst – mit bereits veränderter Funktion – auch Ilias und Odyssee noch gestanden hatten, und andererseits zu einer neuen literarischen Bedürfnislage: Die sog. strukturelle Revolution bewirkte die Ablösung der früher dominierenden Großform ‚Adels-Selbstvergewisserung im narrativen Sängervortrag‘, die der alten gesellschaftlichen Monostruktur entsprach, durch die nun nach oben drängenden kleinen Formen der ‚Lyrik‘, die der multistrukturellen Sozialschichtung des sich anbahnenden Polisstaats korrespondierten.²⁵ Der Wandel in der poetischen Technik Zur gesellschaftlichen Seite des Prozesses trat – nicht minder wesensverändernd – ein technischer Umbruch: die Erfindung und relativ rasch alle Lebensbereiche erfassende Einführung der Phonemschrift, des sog. ‚Alphabets‘.²⁶ Bis dahin hatte die mündlich improvisierende Sängerkunst grundsätzlich mit dem Prinzip ‚Setzen und Füllen‘ gearbeitet, das heißt: Zuerst werden drei bis vier sinntragende Wörter gleichsam wie Stahlpfosten in die geistig vorschwebende Füllform, den Hexameter, gesetzt, dann werden die zwischen diesen Pfosten, den ‚Determinanten‘, verbliebenen Zwischenräume – zu denen sehr häufig gemäß der stichischen Reihung auch das Vers-Ende gehört – gleichsam mit losem Strauchwerk – ‚Variablen‘ – aufgefüllt (unter diesen nehmen die von einer bis zu vier Silben ausdehnbaren Epitheta einen Vorzugsplatz ein). Die fehlerfreie, souveräne Beherrschung dieser Elementartechnik,²⁷ die von ²⁵ Genauere Darlegung dieses Prozesses: Verf., Die griechische Literatur in Text und Darstellung. I: Archaische Periode, Stuttgart (Reclam Bd. ) []. ², –. ²⁶ Allgemein zu den Folgen der Schrift-Einführung und -Vervollkommnung im griechischen Sprachbereich s. Verf., Die Funktion des Symposions für die entstehende griechische Literatur in ScriptOralia , , – (wieder in: ‚Erschließung der Antike‘ (= Kl. Schr. I), Stuttgart/Leipzig , –). ²⁷ Der Wortbestandteil ‚Elementar-‘ muss hier besonders betont werden; selbstverständlich wollte Visser mit seiner Rekonstruktion nicht die Generierung sämtlicher einzelner

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Edzard Visser im Gefolge der Arbeiten Milman Parrys an einfachen Beispielen einleuchtend rekonstruiert worden ist²⁸ – und die eine logische Folge des Zwangs darstellt, Alltagssprache in ein rhythmisches ‚Korsett‘ einzupassen²⁹ – ermöglichte dem Sänger die Stegreif-Komposition nicht nur traditionellen, sondern bei Bedarf auch neuesten Ereignismaterials. Mit dem Einzug der Phonemschrift wurde diese alte Sänger-Elementartechnik des ‚Setzens und Füllens‘ überflüssig. Das spontane Ersingen des Verses wurde nun weitgehend durch sein Erdenken und allmählich einsetzendes ‚Erschreiben‘ ersetzt. Damit fiel die Notwendigkeit auch des Strauchwerks (der ‚peripheral elements‘ in Bakkers terminologischer Umformung) – d. h. vor allem auch der lückenfüllenden Epitheta und vorgeprägten metrisch optimal hilfreichen Wörter-Junkturen, genannt ‚Formeln‘ – dahin. An die Stelle Homer-Verse erklären; wer die Integralrechnung verstehen will, muss aber zunächst einmal das kleine Einmaleins verstehen. Besonders bei US-amerikanischen Kritikern stellt auch hier wieder die unselige (einseitige) Sprachbarriere zwischen Englisch und Deutsch das größte Hindernis dar; es ist daher auch kein Wunder, dass Vissers Theorie in den USA fast ausschließlich in der englischen Wiedergabe und Weiterführung von Bakker rezipiert wird (der als gebürtiger Holländer und damit guter Deutsch-Kenner glücklicherweise ein respektabler Vermittler ist) und nicht im Visserschen Original. Dass die Altertumswissenschaft sich im Weltmaßstab immer stärker in Englisch präsentiert, ist für sie kein Gewinn, sondern eine für φιλό-λογοι beschämende Bankrotterklärung. – Abgesehen davon haben manche Kritiker vor allem die erläuternde Graphik von Eva Tichy übersehen oder nicht verstanden, die an verschiedenen Orten abgedruckt ist, z. B. im BK, Prolegomena-Band, ³, . ²⁸ E. Visser, Homerische Versifikationstechnik. Versuch einer Rekonstruktion, Frankfurt/ Main ; ders., Formulae or Single Words? Towards a New Theory on Homeric VerseMaking, in: WJA , , – (= I. de Jong [Hrsg.], Homer. Critical Assessments, Bd. : The Creation of the Poems, London/New York , –). – Vgl. die Kurzdarstellung des Verf., Neuere Erkenntnisse zur epischen Versifikationstechnik, in: Studi italiani di filologia classica , Fasc. I-II () []; wieder in: Erschließung der Antike (s. Anm. ), –. ²⁹ Zu diesem Zwang zur Umsetzung gewöhnlicher Gebrauchssprache in festgefügte Rhythmus-Einheiten (den Visser als die universale Voraussetzung rhythmusgebundenen Sprechens stillschweigend impliziert hatte; vgl. auch schon Verf,. Kampfparänese usw., , ) s. die (zusätzlich linguistisch begründeten) Rekonstruktionsversuche der detaillierten Prozess-Schritte von Bakker, zusammengefasst in: E. J. Bakker (u. a.), Pointing at the Past. From Formula to Performance in Homeric Poetics, Harvard UP  (bes. Kap.  und ); ders., Poetry in Speech. Orality and Homeric Discourse, Cornell UP  (grundsätzlich bereits  graphisch dargestellt: Verf., s. Anm. ). Vissers Grundeinsichten bleiben davon unberührt. Leider sind sie nicht von allen Lesern der Visserschen Theoriebildung angemessen verstanden worden, wie z. B. die Polemik von R. Friedrich, Formelsprache, in: Homer-Handbuch, Stuttgart , –, zeigt.

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der ‚Strauchwerk‘-Teile konnten nun ebenfalls streng kontextbezogene und damit durchgängig sinntragende Bedeutungselemente gesetzt werden, also weitere ‚Stahlpfosten‘. Das führte zu Sinnkondensation und damit stark erhöhter Kompaktheit des Hexameters (erkennbar schon in den frühesten hexametrischen Weih- und Grab-Inschriften, in Ansätzen deutlich ausgebildet bereits bei Hesiod). Homer repräsentiert innerhalb dieses Prozesses den Übergang. Er verfügt noch über die alte Technik (die ‚epische Sprechkompetenz‘;³⁰ ‚special speech‘ bei Bakker), und er kennt schon die neue. Er ist noch ἀοιδός, Sänger, und schon ποιητής, Macher. Da aber die epische Technik in diesem fragilen, weil heterogenen, Übergangsstadium nicht verbleiben konnte und natürlicherweise zur vollständigen Verwirklichung des angebahnten zweiten Stadiums hindrängte, des ‚Machertums‘ (ποίησις), stellt Homer notwendig auch im Punkt ‚poetische Technik‘ eine Singularität dar. Das eigentliche Wesen dieser Singularität ist nur zu verstehen, wenn die Generationensituation in einer Zeit des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit bedacht wird. Zu rechnen ist vereinfacht mit drei unterschiedlich betroffenen Generationen. Für die erste dieser drei Generationen kommt die Schrift-Einführung zu spät, als dass sie die poetische Technik der ihr angehörenden Dichter (in diesem Falle Sänger) noch substantiell verändern könnte. Die zweite Generation wird von der Schrift-Einführung in der Mitte ihrer Produktivitätsphase betroffen: Diese ‚Sängerdichter‘ sind noch mit der alten Mündlichkeitstechnik großgeworden, haben sie bisher uneingeschränkt angewandt und können sie daher (weil sie internalisiert ist) nicht mehr vollständig ablegen, erkennen aber die Chancen der neuen schriftlichen Kompositionstechnik sehr schnell und übernehmen daher auch sie. Das Ergebnis ist eine Mischtechnik. Diesen Mischungszustand bietet Homer dar, in der Ilias noch ausgeprägter als in der Odyssee (die auf dem Weg zur neuen Technik bereits weiter vorangeschritten ist): Locker, flüssig, glatt und unbeschwert klingende Passagen im alten Stil der einfachen stichischen Reihung stehen hier neben schweren und dichten Stücken mit Sätzen, die sich über fünf bis sieben Verse hin erstrecken – nicht mehr parataktisch, sondern schon verschachtelt und oft gespickt mit ungewohnten Wörtern, die vergleichsweise unhomerisch klingen (daher mit der Verdachtsbezeichnung ‚Hapax legomenon‘ belegt werden und Athetesen-Impulse auslösen). Dieser Mischzustand ist nicht etwa ein Indiz für ³⁰ Der Terminus bereits bei Verf. , in: Kampfparänese usw., München , f. (damals noch etwas unscharf ‚Sprachkompetenz‘).

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multiple Autorschaft (Mischung zeitlich früherer = ‚guter‘ mit zeitlich späteren = ‚schlechten‘ Produktionsstufen), sondern die logische Konsequenz aus der Technik-Entwicklung. Dass Homer genau diesen Zustand repräsentiert, ist schon früh erkannt worden: Johann Gottfried Herder hatte Homer schon  mit einem Leuchtturm (‚Pharus‘) zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit verglichen und präzisiert: „Und dieser Sänger Griechenlands trifft […] eben auf den Punkt – der schmal wie ein Haar und scharf wie die Schärfe des Schwertes ist –, da Natur und Kunst sich in der Poesie vereinigen“ usw. (im Anschluss noch wesentlich erhellendere Definitionen).³¹ Dass ein solcher Zustand, in dem die Technik ‚auf der Kippe‘ steht, nicht sehr lange andauern kann, ist evident. Die dritte Generation ist rezeptiv noch mit den Schöpfungen der ersten und zweiten Generation aufgewachsen, hat also, konkret gesprochen, noch improvisierende Aoiden gehört, aber auch bereits – ebenso wie Inschriften auf Weihgaben und Grabstelen – regelrechte Hexameterdichtungs-Texte gelesen, geht also schon ganz selbstverständlich mit der Schrift um. Innerhalb dieser dritten Generation erfolgt der definitive Umbruch der Technik zur ausschließlichen Schriftlichkeit. Diese Generation wird für uns repräsentiert durch Hesiod: er kennt die mündliche Technik zwar noch und nutzt sie aus (durch Verwendung der alten mündlichkeitsbedingten Junkturen und Formeln), konzipiert und komponiert aber deutlich bereits schriftlich; allein die hundertfach verzweigten Stammbäume der Theogonie und der (echten Teile der) Ehoien setzen schriftliche Skizzierung voraus; davon abgesehen ist seine Diktion, aus der Sicht der improvisierenden Mündlichkeit, weitgehend holprig und ‚gemacht‘. Treffend hat man seine Technik dementsprechend eine ‚oralità di riflesso‘ genannt.³² Mit ihr ist der Übergang im wesentlichen abgeschlossen: Aus dem mündlichen Improvisations-Vortrag, der nur als jeweils einmalige, unfixierbare Darbietung coram publico (neu-wissenschaftlich performance genannt) realisiert worden war, ist das Schrift-Epos geworden – im

³¹ Diese Erkenntnis – Homer das Produkt einer in der Literatur- und Kulturgeschichte Europas bis heute singulären kurzen Übergangszeit – ist neuerdings, ca.  Jahre nach Herder, von manchen, speziell amerikanischen Oralisten, wie so vieles andere auf diesem Gebiet, ‚original neu entdeckt‘ worden; s. dazu H.-G. Nesselrath, Geschichte der HomerForschung, in: Homer-Handbuch, Stuttgart/Weimar , . ³² L. E. Rossi, I poemi omerici come testimonianza di poesia orale, in: Storia e Civiltà dei Greci I, Milano , . – Zu Hesiod in diesem Sinne grundsätzlich Verf., Die griechische Literatur (Anm. ), –.

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Voraus aufgeschrieben, auswendig gelernt und auswendig vorgetragen, schriftlich tradierbar und, falls bedeutsam, tradiert. Damit hat sich auch die Existenzweise des ‚Produzenten‘ gewandelt: Aus dem Aoiden ist der Rhapsode geworden.  Die gattungserhaltenden Missverständnisse Dieser grundlegende Wandel in Funktion und Wesen des Genos und seiner Produzenten wurde erleichtert durch das bereits eingangs erwähnte bedeutsamste der zahlreichen produktiven Missverständnisse, die sich innerhalb der Gattungsentwicklung ereignet haben. Es hat in der dritten der genannten drei Generationen stattgefunden, und alles weist darauf hin, dass wir in Hesiod einen Autor haben, dessen Dichtung – vermutlich ebenso wie die Dichtung zahlreicher anderer zeitgleicher Autoren, die uns verloren sind – durch dieses Missverständnis erst ermöglicht wurde. Selbstverständlich wird sich dieses Missverständnis von Autor zu Autor in etwas anderer Weise vollzogen haben (und genauere Untersuchungen zu der Variante, die bei Hesiod vorliegt, wären erst noch vorzunehmen). Deutlich aber sind zwei Grund-Ebenen dieses Missverständnisses. Die sprachliche Ebene Die Funktion der Variablen, des ‚Strauchwerks‘ (der ‚peripheral elements‘: Bakker), in der alten Sangeskunst wird nicht mehr durchschaut. Sie kann gar nicht mehr durchschaut werden, weil der schreibende Epos-Produzent kein ‚Strauchwerk‘ mehr benötigt, (also z. B. lückenfüllende Beiwörter nicht mehr braucht), da er im Voraus überlegen und infolgedessen an jede Stelle des Verses einen ‚Stahlpfosten‘, einen mot juste, setzen kann. Dadurch wird der Vers allerdings, wie oben schon erwähnt, ‚dichter‘, ‚kompakter‘, ‚schwerer‘ (auch für das Verständnis naturgemäß schwieriger: Der reflektiert Schreibende zielt auf den reflektiert Lesenden, der ‚lockere‘ Sprecher auf den ‚lockeren‘ Hörer). Das Resultat ist, dass der Vers nun nicht mehr gewohnt ‚homerisch‘ klingt. Da der Schreibende aber dem ‚Gattungsklang‘ natürlich nahe bleiben möchte (also ‚homerisch‘ klingen möchte), beginnt er konsequenterweise, ‚homerische Klang-Elemente‘ gezielt einzustreuen (z. B. homerische Epitheta, Patronymika, Bilder, Formeln, usw.), ahmt also bewusst nach. Aus Natur wird so, wie Herder schon erkannte, Kunst. Das ist ein kategorialer Unterschied. Die

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Kategorialität des Unterschieds wird aber weder vom Produzenten noch vom Publikum voll erkannt. Darin genau besteht die Produktivität des Missverständnisses. Wäre nämlich die Kategorialität der Unterschiedlichkeit des alten und neuen Hexameter-Produkts rational durchschaut worden, dann wäre die Unzerreißbarkeit von Technik und Qualität des alten Produkts erkannt worden. Das aber hätte zugleich die Erkenntnis der unwiderruflichen Unerreichbarkeit Homers bedeutet. Damit wären der unermüdliche ÜberbietungsEhrgeiz einerseits und die regelmäßig auf dem Fuße folgende Resignation oder gar Verzweiflung andererseits, durch die alle nachhomerische hexametrische Epik von wirklich künstlerisch motiviertem Anspruch gekennzeichnet ist (Kallimachos, Vergil), gar nicht erst zustande gekommen. Das Missverständnis erhält also die Gattung am Leben. Die soziologische Ebene Die Schichtgebundenheit der alten Form dessen, was jetzt ‚Epos‘ ist (die Adelsbindung, s. oben), wird nicht mehr durchschaut. Wäre die alte Sangeskunst als Ausdruck einer zeitbedingten Sozialstruktur erkannt worden, so wäre sie in Gefahr geraten, als ‚reaktionäre‘ Literaturform (gegenüber den neuen kleinen Formen) verworfen zu werden. Sie wurde jedoch als zeitlos freie Form verstanden. Damit wurde sie ihrer authentischen Funktion entkleidet und zum multifunktionalen Transportgefäß umfunktioniert. Dadurch wurde das Genos aus einer inhaltlich eng begrenzten Standesdichtung zu einer für beliebige Inhalte, Zwecke und soziale Schichten einsetzbaren Leerform. Hesiod stellt auch in dieser Hinsicht (für uns) den Anfang der neuen Entwicklung dar. Seine hexametrischen Gedichte sind nicht mehr narrative Adelsdichtung zur Standesrühmung und -bildung, sondern aufklärende Sachdarstellungen, die sich ausdrücklich gegen den Adel richten (δωροφάγοι βασιλῆες, usw.; Mahnung zur δίκη, also einer die Schichten übergreifenden Norm). Mit dieser neuen Nutzung der Leerform Epos wird aber Hesiod zum Begründer eines ganz neuen Typus: des Sach-Epos (in der Theogonie ist die dargestellte Sache die Entstehung der Welt und der Götter, in den Erga ist es die Lebensform und der Wertekanon des kleinen Grundbesitzers). Die Sache wird dargestellt, nicht um sie schulmäßig zu lehren, sondern um aus ihrer vollen Erfassung zwingende Folgerungen für die Lebensführung und die Weltsicht abzuleiten und anderen nahezulegen. (Diese ‚weltanschauliche‘ Funktion der Hesiodischen Epen ist später ihrerseits produktiv missverstanden worden: Theogonie und Erga

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wurden als ‚Lehrbücher‘ aufgefasst – daher sprechen auch wir noch fälschlich von ‚Lehrgedichten‘ – und haben Imitationsprodukte wie die hellenistischen und kaiserzeitlichen Fischfang-, Giftsorten-, Grammatik- usw. -Lehrgedichte evoziert.)  Folgen der Missverständnisse Der durch dieses zweifache produktive Missverständnis bewirkte Funktionswandel der narrativen hexametrischen Sängerdichtung hat das Weiterleben der Gattung in einer bis dahin höchstwahrscheinlich unbekannten Typenvielfalt ermöglicht. Der bei weitem produktivste der neu entstandenen Typen war das Sach-Epos, das in der Folge zahlreiche Varianten hervorbrachte (s. die Graphik); die beiden wichtigsten sind zum einen das mit Hesiod begonnene sog. ‚Lehrgedicht‘, zum anderen das historische Epos, von Choirilos von Samos um  v. Chr. über Naevius’ Bellum Punicum (um  v. Chr.), Ennius’ Annales (bis ca.  v. Chr. reichend), z. T. Vergils Aeneis, Lucans Pharsalia, Claudians Goten-Epen usw. bis zu Voltaires Pucelle von . Schon Aristoteles hat in der Poetik erkannt, dass diese Varianten gegenüber dem Epos in seiner authentischen Funktion (die er in Ilias und Odyssee repräsentiert sah) etwas kategorial Andersartiges darstellen und daher qualitativ abfallen (das Verdikt über das Lehrgedicht, am Beispiel des Empedokles: b–; das Verdikt über das Geschichts-Epos, wohl mit Bezug auf Choirilos: Kap. , a–: „ … und die Struktur [von Epen] darf nicht der von Geschichtswerken ähneln, in denen notwendigerweise die Darstellung nicht einer einheitlichen Handlung, sondern eines einheitlichen Zeitraums stattfinden muss“). Unter dem Eindruck der nach-aristotelischen Gattungsgeschichte des Epos wird man heute hinzufügen, dass sich die Gattung mit diesem zweifellos gegebenen Qualitätsverlust auf der anderen Seite die universale Verwendbarkeit erkaufte (so wie sie der Nachfolge-Gattung, dem neuzeitlichen Roman eignet). Beide Funktionsverschiebungen – sowohl diejenige vom alten Rühmungsund Bildungs-Epos zum Problematisierungs-Epos Homers als auch die wesentlich tiefergehende von der standesgebundenen Adelsdichtung zur literarischen Universalform – haben sich in einer relativ kurzen Übergangszeit (ca.  Jahre) vollzogen und sich in hervorragenden Repräsentationen (Homer und Hesiod) realisiert. Dass diese Übergangszeit die stärkste der oben genannten drei Vitalitätsphasen des antiken Epos darstellt, ist daher folgerichtig.

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 Die neu entstandenen Epos-Funktionen Direkte Funktionen Kein Epos hat nur eine einzige Funktion. Es liegt stets eine Mischung vor. Fast immer lässt sich jedoch zweifelsfrei die Primärfunktion bestimmen. So ist beim Typus ‚Heldenepos‘ die Primärfunktion das Unterhalten, Erfreuen, Genussbereiten (τέρψις, ἡδονή), das sich seinerseits in verschiedenen Untertypen vollziehen kann: lineares Nacherzählen (vom ‚epischen Kyklos‘ bis zu Goethes Achilleis-Fragment), liebevoll-ironisches Spielen mit der Tradition (vom homerischen Hermes-Hymnos über Kallimachos’ Hekale bis bis zu Goethes Hermann und Dorothea), Parodieren (vom Margites, dem ‚Holz-‘ oder ‚Dummkopf‘, bis zu Boileaus Lutrin oder Popes Rape of the Lock). Beim Sach-Epos stehen nebeneinander die Funktion ‚erklären und belehren‘ und die Funktion ‚Patriotismus und Nationalgefühl erzeugen‘ (von Choirilos’ Perserkriegen über die lateinische Geschichtsepik in die Neuzeit hinein zu Ariost, Tasso, usw.). Beim religiös-kultischen Epos stehen im Vordergrund Glorifizierung und Missionierung. Eindrucksvolle Belege sind hier Parmenides, Lukrez, Dante, Milton, Klopstock. Fast alle direkten Funktionen des antiken Epos sind in die Neuzeit weitergetragen worden. Das bedeutet eine Kontinuation nicht nur der antiken Formen und Formkonstituenten, sondern implizit auch der antiken WeltsichtAnsätze und der zu ihrer Verbreitung eingesetzten Missionierungsstrategien (durchaus z. B. auch in der ausgebreiteten neuzeitlichen Bibel-Epik, fassbar besonders in der Glaubensargumentation). Im Aufgreifen der alten ebenso wie im Ersetzen der alten durch moderne Stoffe wirkt als Grundhaltung die bewundernde Nachahmung. Je länger diese andauert, desto unüberhörbarer bricht freilich auch die Frage nach ihrer Berechtigung auf. Aus dieser Frageund bald auch Infragestellung entwickeln sich die indirekten Funktionen. Indirekte Funktionen Die Wiederentdeckung des originalen Homer (und der Aristotelischen Poetik) im ./. Jh. und der dadurch ausgelöste Vergleich vor allem Homers mit Vergil führen zur Entstehung der neuzeitlichen Gattungen der ‚Poetiken‘ und damit zu einer der engagiertesten internationalen Literaturdiskussionen, die

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es je gegeben hat. Mindestens drei Jahrhunderte lang, von  bis , diskutiert das ganze geistige Europa über Literatur (Beziehung zwischen Literatur und Leben, Einfluss der Literatur auf die Menschenbildung, Wechselwirkung zwischen Literatur, Sprache und Ästhetik, Bedeutsamkeit der Literatur für die Ausbildung von Gefühl und Geschmack, u. a.). Die Querelle des Anciens et des Modernes³³ um  ist nur die spektakuläre Pointierung dieser jahrhundertelangen Diskussion (die für das Entstehen eines inter-nationalen europäischen Bildungsniveaus grundlegend war).³⁴ Im Verlauf dieser Diskussion findet eine totale Integration der neuzeitlichen Literaturtheorie in das von der Antike (Epos, später auch Tragödie, antike Poetologie: Aristoteles,³⁵ Horazens Ars poetica) vorgegebene Kategoriensystem statt. Auch wo die Abwehrreaktion beginnt, im Geniekult des . Jahrhunderts, ist das Abgewehrte natürlich stets präsent und wirkt insoweit fort – durchaus bis in die modernsten Formen heutiger Literaturwissenschaft hinein.³⁶ Die antiken Kategorien der zunächst im Epos entwickelten dichterischen Praxis und dann am Epos in Verbindung mit dem Drama erarbeiteten literarischen Theorie (Aristoteles) haben sich durch die gesamte europäische Geistesgeschichte hindurch so tief in unsere Denkstrukturen eingewurzelt, dass eine vollständige Befreiung von ihnen, auch wenn sie militant gefordert würde, nicht mehr möglich erscheint. Das antike Epos hat also direkt und indirekt einen bis heute irreversibel gebliebenen Einfluss auf die neuzeitliche Dichtung und Dichtungstheorie und damit auch auf unsere intellektuelle Kondition im ganzen ausgeübt.

³³ Dazu s. bes.: A. Schmitt, Artikel ‚Querelle des anciens et des modernes‘, in: DNP /, , –. ³⁴ Eingehend zu dieser Diskussion: Verf., Die Erforschung der Ilias-Struktur, in: Verf. (Hrsg.), Zweihundert Jahre Homer-Forschung. Rückblick und Ausblick, Stuttgart/Leipzig  (Colloquium Rauricum Band ), –. ³⁵ A. Schmitt, Aristoteles, Poetik. Übers. und erl., Berlin ², bes. –; ders., Artikel ‚Aristoteles, Poetik‘, in: DNP Suppl.  (‚Die Rezeption der antiken Literatur‘), , –. ³⁶ Siehe z. B. die Arbeiten von Gérard Genette, die immer wieder auf Homer zurückgreifen (ein amüsantes Beispiel bietet Genettes Auseinandersetzung mit seinen Kritikern in ‚Die Erzählung‘, München , f., wo Genette zur Erläuterung der ‚Analepse‘ – ridens verum dicens – die ‚Schweinwerfer [sic] unserer Begrifflichkeit‘ [] auf Ilias und Odyssee richtet).

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 Bildungspolitische Schlussfolgerung Die enorme Wirkungsmacht und Anregungskraft des antiken Epos von rund  v. Chr. bis mindestens  n. Chr. – und indirekt (via Übersetzungen, Unterrichtsresiduen in Schule und Universität, u.ä.) bis in die Gegenwart hinein – macht sinnfällig, dass eine Ignorierung des antiken Epos innerhalb des heutigen Bildungswesens nicht nur einen Verlust an äußerlichem Wissen (Bildungswissen) bedeuten würde (auch das wäre im modernen Europa schon ein desaströses Manko für die Erhaltung einer gewissen Rest-Homogenität der europäischen und europäisch geprägten Kultur), sondern darüber hinaus die Übergehung einer inneren Bildungskomponente, die zur Gewinnung des hohen intellektuellen Niveaus in den Eliten unserer Vorgängergenerationen in Europa Entscheidendes beigetragen hat.³⁷ Die Anzahl von nicht Bildungs-, sondern Gebildetheitslücken bis in die höchsten Führungsschichten hinein hat in den letzten Jahrzehnten in einem Ausmaß zugenommen, das angesichts der immensen Herausforderungen, vor denen gerade heute die heranwachsende Generation in Europa steht, nachgerade existenzbedrohend erscheint. Weitere Lücken in ihrem Wissens- und Könnensfundament kann sich die Gegenwart kaum noch leisten. Eine literarische Gattung von der Wirkungsmacht des antiken Epos preiszugeben würde den Verzicht auf Erkenntnisse und Erfahrungen bedeuten, die das moderne, auf Technisierung und Ökonomisierung (und damit vielfach Banalisierung) ausgerichtete Leben den jungen Menschen heute weniger denn je bieten kann. Das wäre gleichbedeutend mit einem schrillen Ja zur geistigen Verarmung. Wenn die europäische Bildungspolitik ihren Namen zu Recht tragen will, sollte sie sich dazu durchringen, den Kampf derer, die dieser Verarmung aus dem Wissen um ihre Gefahren heraus unbeirrt (und oft verzweifelt) in den entsprechenden noch verbliebenen Nischen an unseren Bildungsanstalten nach wie vor entgegenwirken, mit Entschiedenheit nicht nur zu unterstützen, sondern mitzutragen.

³⁷ Siehe Verf., Artikel ‚Philologie, Abschnitt C: Moderne Philologie (seit )‘, in: DNP /, , – (hier: ).

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Joachim Latacz

Tabelle : Das antike Epos: Bestand (* = ganz erhalten; ƒ = Fragmente erhalten; † = verloren) A.

DAS GRIECHISCHE EPOS DER ARCHAISCHEN ZEIT I. Das erzählende (narrative) Heldenepos (Heroic Poetry) (.–. Jh.) . Der Troische Epenkreis a. *Homer, Ilias b. *Homer, Odyssee c. [Div. Verf.], Der epische Kyklos (ƒ) . Der Thebanische Epenkreis (ƒ) Epen der Titel ‚Thebais‘, ‚Oidipodeia‘, ‚Epigonoi‘ u. ä. . Herakles-Epik (ƒ) genannt werden u.a.: Peisandros v. Kameiros, Kinaithon, Konon, Demodokos, Diotimos, Phaidimos, Pisinos, Minyas . Argonauten-Epik (ƒ) Epimenides u.a. . Theseus-Epik (und andere Stoffe) (ƒ) II. Das preisende religiöse/kultische Epos . Die sog. *homerischen Hymnen (./. Jh. und später) . Delphische Orakelpoesie (seit dem . Jh.) (ƒ) III. Das erklärende Sach-Epos . Lebenspraktische Epik (./. Jh.) a. *Hesiodos, Ἔργα καὶ ἡμέραι b. Phokylides, Γνῶμαι (ƒ) . Spekulative Welterklärungs-Epik a. Kosmogonische/theogonische Epik (./. Jh.) *Hesiodos, Θεογονία – Epimenides (ƒ) – Abaris (ƒ) u. a. b. Genealogische/historische Epik (./. Jh.) (ƒ) Ps.-Hesiodos: Katalogoi, Phoronis; Eumelos v. Korinth: Korinthiaka; Hegesinos: Atthis; Aristeas: Arimaspoi u. a. c. Philosophische Epik (um ) (ƒ) Xenophanes v. Kolophon – Parmenides und Empedokles v. Elea (→ Lukrez) IV. Das parodische Epos Margites (Μαργίτης) (ƒ) (Hexameter + iamb. Trimeter) (./. Jh.) B. DIE WIEDERBELEBUNG DES ARCHAISCHEN EPOS IN DER KLASSISCHEN ZEIT I. Das Heldenepos . Panyassis v. Halikarnassos: Herakleia (ca. ) (ƒ) . Antimachos v. Kolophon: Thebais (um ) (ƒ) II. Das religiöse/kultische Epos . Antimachos v. Kolophon: Artemis (um ) (†) . Delphische Orakelpoesie (ƒ)

Epos-Metamorphosen III. Das Sach-Epos . Historische Epik: Choirilos v. Samos: Persiká (um ) (ƒ) . Das sog. Lehrgedicht: Archestratos v. Gela: Ἡδυπάθεια (um ) (ƒ) (→ Ennius: Hedyphagetica) C. DAS GRIECHISCHE EPOS DER HELLENISTISCHEN ZEIT I. Das Heldenepos *Apollonios v. Rhodos: Ἀργοναυτικά (ca. ) II. Das religiöse/kultische Epos (*Kallimachos, Hymnen) (um ) III. Das Sach-Epos . Das historische/lokalhistorische Epos a. Euphorion v. Chalkis (um ): Gründungs-Epen (ƒ) b. Rhianos v. Bene (um ) (ƒ): Achaika, Eliaka, Thessalika, Messeniaka c. Nikandros v. Kolophon (um ): Regionalgeschichts-Epen (ƒ) . Das sog. Lehrgedicht a. *Aratos v. Soloi: Phainomena (um ) (→ Cicero, Aratea; Germanicus; Manilius) b. Ähnliche Stoffe: Numenios: Halieutikon (um ) (ƒ) Eratosthenes: Hermes (um ) (ƒ) Pankrates: Halieutika (ƒ) Boios: Ornithogonia (ƒ) Alexandros Lychnos: Phainomena (. Jh.) (u.v.a.) (ƒ) c. Nikandros v. Kolophon (um ) *Theriaka – *Alexipharmaka – Heteroiumena (ƒ) – Georgika (ƒ) (→ Vergil) IV. Das mythologisch-idyllische Epos (Epyllion) (→ röm. Neoterik) . Kallimachos: Hekale (um ) (ƒ) . *Theokrit, Εἰδύλλια (z.B. Hylas) (. Jh.) . *Bion v. Smyrna: Adonis (gegen ) . *Moschos v. Syrakus: Europe (. Jh. v.) V. Das parodische Epos *Batrachomyomachia (Der Froschmäusekrieg) D. DAS LATEINISCHE EPOS DER REPUBLIKANISCHEN ZEIT I. Die Rezeption des griechischen Heldenepos (← Homer) . Livius Andronicus: Odusia (gegen ) (ƒ) . Cn. Naevius: Bellum Punicum (z. T.) (um ) (ƒ) II. Die Rezeption des griechischen Sach-Epos . Das philosophische Epos: *Lucretius, De rerum natura (vor  v.) (← Empedokles) . Das historische Epos a. Naevius (um ): Bellum Punicum (ƒ) b. *Ennius (bis ca. ): Annales . Das sog. Lehrgedicht Cicero: Aratea (u. a.) (. Jh. v.) (ƒ)





Joachim Latacz

E.

DAS LATEINISCHE UND GRIECHISCHE EPOS DER KAISERZEIT I. Die Rezeption des griechischen Heldenepos *Vergil : Aeneis (–) II. Die Rezeption des griechischen Sach-Epos . *Vergil: Georgica (–) . *Ovid: Metamorphosen (vor  n.) . *Manilius: Astronomica (um  n.) III. Die Reproduktion des griechischen Heldenepos . Ptolemaios Chennos (†); Skopelianos (†); Peisandros v. Larandra (†); Soterichos (†) . *Valerius Flaccus: Argonautica (um  n.) . Papinius Statius: *Thebais, Achilleis (ƒ) (bis  n.) . *Quintus Smyrnaeus: Τὰ μεθ’ Ὅμηρον (Posthomerica) (. Jh. n.) . *Triphiodoros: Ἰλίου Ἅλωσις (um ) . *Claudianus: Γιγαντομαχία, De raptu Proserpinae (um ) . *Nonnos: Διονυσιακά (. Jh.) . *Ps.-Orpheus: Ἀργοναυτικά (um ) . *Kolluthos: Ἁρπαγὴ Ἑλένης (um ) IV. Die Reproduktion des hellenistischen Sach-Epos . Grattius: Cynegetica (. Jh. n.) (ƒ) . *Dionysios Perihegetes: Περιήγησις τῆς οἰκουμένης ( n.) . *Oppianos v. Kilikien: Ἁλιευτικά (um ) . *Oppianos v. Apamea: Κυνηγητικά (Ἰξευτικά?) (um ) . Nemesianus, Cynegetica (gegen ) (ƒ) . *Terentianus Maurus: De litteris. De syllabis. De metris (um ) . *Avienus: Phainomena (gegen ) . *Ps.-Orpheus: Λιθικά (. Jh.) V. Die Aktualisierung der Geschichts-Epik . (*Vergil: Aeneis) . *Lucanus: Pharsalia (vor  n.) . *Silius Italicus: Punica (vor  n.) . *Claudianus: De bello Gothico, De bello Gildonico (um ) . *Corippus: Iohannis (. Jh.) VI. Die Rezeption des hellenistischen (mythol.-)idyllischen Epos . (*Vergil: Bucolica [–]) . *Appendix Vergiliana (Culex, Ciris, Moretum, Dirae, Copa) . *Ausonius: Mosella (um ) . *Musaios: Τὰ καθ’ Ἡρὼ καὶ Λέανδρον (um ) VII. Die Rezeption des religiösen/kultischen Epos . *Proklos: Hymnen (. Jh.) (philosophische Hymnen) . *Das christliche Epos Proba – Eudokia – Commodianus – Iuvencus – Nonnos (Metabolé = Joh.-Evangelium) – Prudentius (s. Tabelle )



Epos-Metamorphosen

Tabelle : Hauptfunktionen des antiken Epos in Antike und Moderne Direkte Funktionen Zielpunkt: Mensch (Held) primär: Unterhaltung (τέρπειν)

linear narratives mythologisches Epos

idyll. Epos (Epyllion)

parodisches Epos

Epen des epischen Kyklos (um 600 v.) Epen des thebanischen Sagenkreises (Oidipodeia, Thebais, Epigonoi) Herakles-Epik Argonauten-Epik Theseus-Epik (arch. Periode) Panyassis: Herakleia (ca. 470) Antimachos: Thebais (um 400)

(Vorformen in den sog. homerischen Hymnen, z.B. HermesHymn.)

Batrachomyomachia Margites

Apollonios: Argonautika (ca. 260) Livius Andronicus: Odusia (gegen 200)

Kallimachos: Hekale (um 260) Theokrit: Εἰδύλλια (3. Jh.) Bion: Adonis (gegen 200) Moschos: Europa (1. Jh. v.)

Ovidius: Metamorphoses

Val. Flaccus: Argonautica (um 80 n.) Statius: Thebais (bis 90) Quintus: Τὰ μεθ’ Ὅμηρον (3. Jh.) Triphiodoros: Ἰλίου ἅλωσις (um 300) Claudianus: Γιγαντομαχία, De raptu Proserpinae (um 400) Nonnos: Διονζσιακά (5. Jh.) Kolluthos: Ἁρπαγὴ Ἑλένης (um 500)

(Vergil: Bucolica) Appendix Vergiliana

Ausonius: Mosella (um 370) Musaios: Τὰ καθ’ Ἡρὼ καὶ Λέανδρον (um 450)

Matron v. Pitane: Ἀττικὸν δεῖπνον (um 330)

Ennius: Hedyphagetica (um 280)

Zielpunkt: Sache primär: Problematisierung

Homer: Ilias –: Odyssee (vor 700)

primär: Erklärung und Belehrung

primär: nationale/ patriotische Erhebung

(deskriptives Sach-Epos; oft zur Demonstration von Virtuosität: ‚Lehr‘-gedicht) Hesiodos: Theogonia –: Erga (um 700) frühe genealogische und historische Epik (Ps.-Hesiod: Ehoien; Eumelos, Hegesinos, Aristeas) (7./6. Jh.)

(historisches Epos, National-Epos)

Archestratos: Hedypatheia (um 350)

Choirilos: Persiká (um 400) (Griechen-Perser)

Aratos: Phainomena (um 250) Numenios: Halieutikon (um 250) Eratosthenes: astron. Lehrgedichte (gegen 220) Pankrates: Hal. (?) Boios: Ornithogonia (?) Nikandros: Theriaka u.a. (um 200) Alexandros Lychnos: Phainomena (1. Jh.) Cicero: Aratea Manilius: Astronomica (um 10 n.) Grattius: Cyneg. Dionysios: Περιήγησις τῆς οἰκουμένης (124) Oppianos: Ἁλιευτικά (um 180) Oppianos: Κυνηγητικά (um 215) Nemesianus: Cyneg. (gegen 300) Terentianus Maurus: De litteris, De syllabis, De metris (um 300) Carmen de ponderibus et mensuris (um 400) Avienus: Ora maritima (gegen 400)

Rhianos: Messeniaka u.a. (um 220) Naevius: Bell. Pun. (um 200) Ennius: Annales (bis ca. 170) Vergil: Aeneis (29-19)

Lucanus: Pharsalia (vor 65 n.) Silius Italicus: Punica (vor 100 n.)

Claudianus: De bello Gothico/De bello Gildonico (u.a.) (um 400)

Corippus: Iohannis (6. Jh.)



Joachim Latacz

Indirekte Funktionen Zielp.: RELIGION/KULT primär: Glorifizierung oder/und Missionierung (Bekenntnis- und Überzeugungs-Epos; Teil: Bibel-Epos [B]) sog. Homerische Hymnen Xenophanes Parmenides Empedokles

Antimachos: Artemis (um 400)

(Kallimachos: Hymnen)

1. allgemeine Bildung – 2. moralische Erziehung – 3. intellektuelle Schulung – 4. ästhetische Erziehung – 5. Sprachkultivierung – 6. Gefühls-/Geschmacksbildung etc. Die Vermittlung erfolgt durch dichtungstheoretische Reflexion in ‚Poetiken‘ (ποιητικὴ τέχνη) (seit Aristoteles, Horaz, Περὶ ὕψους) ITALIEN Savonarola: In Poeticen Apologeticus (1492) Vida: Poetica (1527) Capriano: Della vera poetica (1555) Minturno, Poetica Toscana (1563) Trissino, Poetica (1563) Castelvetro: Comm. in Aristot. Poet. (1570) Giord. Bruno: Eroici Furori (1585)

Proba: Cento Vergilianus [B] (360) Eudokia: Ὁμηρόκεντρα [B] (vor 460) Proklos: (7 philos.) ”Umnoi (5. Jh.) Commodianus: Carmen apologeticum (5. Jh.?) Iuvencus: Evangeliorum libri [B] (5. Jh.) Prudentius: Apotheosis, Hamartigenia, Psychomachia [B] (5. Jh.)

Salel: Epître de Dame Poésie (1545) Du Bellay: Défense et illustration de la langue française (1549) Pelletier du Mans: Art poétique (1555) J.C. Scaliger: Poetice (1561)

Salviati: Difesa dell’ Orlando Furioso (1585) Patrici: Della Poetica (1585/86) Lombardelli: Discorso (1586)

Beni: Comparazione Tasso-Homero-Virgilio (1607)

Lucretius: De rerum natura (vor 55 v.) Vergilius: Georgica (Ovidius: Metam.)

FRANKREICH

ENGLAND

Wilson: Art of Rhetorique (1560) Ascham: The ScholeMaster (1570) Sidney: Apology for Poetry (1595)

Vauquelin de la Fresnaye: L’Art poétique français (1605) Boileau-Despréaux: L’Art poétique (1674) Le Bossu: Traité sur le poème épique (1675)

Le Clerc: Parrhasiana (1699) 1687-1713: Querelle des Anciens et des Modernes (Perrault-FontenelleLa Bruyèred’Aubignac-La Motte-Terrasson: La Fontaine-Longepierrede Callières-BoileauAndré DacierFènelon-Boivinme

M Anne Dacier, Dubos)

DEUTSCHLAND

Dryden: Apology for Heroic Poetry (1674) Sheffield: Essay on Poetry (1682) Temple: Essay upon the ancient and modern learning (1692)

Opitz: Aristarchus oder über die Verachtung der deutschen Sprache (1617) –: Buch von der deutschen Poeterei (1624)



Epos-Metamorphosen

Direkte Funktionen Zielpunkt: MENSCH (Held) primär: Unterhaltung (τέρπειν)

linear narratives mythologisches Epos

idyll. Epos (Epyllion)

Boccaccio: Filostrato (Troilus u. Griseida) –: Teseide (um 1340)

parodisches Epos

Hutten: Nemo (1512) (nach Homers Οὖτις)

Basini: Meleagris (1445)

Marino: Adone (1623)

Chamberlayne: Pharonnida (1659)

Boileau: Le Lutrin (1678)

Pope: The Rape of the Lock (1712/14)

Glover: Leonidas (1737) Wilkie: The Epigoniad (1753) Goethe: Achilleis (1799)

Goethe: Hermann und Dorothea (1798)

Zielpunkt: SACHE primär: Problematisierung

primär: Erklärung und Belehrung

primär: nationale/patriotische Erhebung

(deskriptives Sach-Epos; oft zur Demonstration von Virtuosität: ‚Lehr‘-gedicht

(historisches Epos, National-Epos)

(auf Aufzählung hier verzichtet)

Waltharilied (9. Jh.) Petrarca: Africa (1343) Basini: Hesperis (1460) Boiardo: Orlando Innamorato (1495) Ariosto: Orlando Furioso (1538) Trissino: Italia liberata da’ Gotti (1547) Ronsard: Franciade (1570/71) Camoes: Lusiaden (1572) Tasso: Gerusalemme liberata (1575) Warner: Albion’s England (1586) Daniel: History of the Civil Wars (1595) Dayton: The Baron’s War (1596) Davenant: Gondibert (1651) Chapelain: La Pucelle (1656) Desmarets: Clovis ou la France chrétienne (1657) Scudéry: Alaric ou Rome Vaincue (1664) Dryden: Annus mirabilis (1667) Blackmore: Prince Arthur (1695) Addison: The Campaign (1704) Postel: Der große Wittekind (1724) Voltaire: Henriade (1728) –: La Pucelle (1762) Macpherson: The Works of Ossian (1765)



Joachim Latacz

Indirekte Funktionen Zielp.: RELIGION/KULT

primär: Glorifizierung oder/und Missionierung

(Bekenntnis- und Überzeugungs-Epos; Teil: Bibel-Epos [B])

Dante: (Divina) Commedia (1307-21)

Vida: Christias [B] (1535) Saluste: Judith [B] 1560 –: La Semaine (1578) Spenser: Faerie Queen (1590-96) Cowley: Davideis [B] (1656) Milton: Paradise Lost [B] (1667/74) –: Paradise Regained [B] (1671) Klopstock: Messias [B] (1751) Bodmer: Noachide [B] (1752) Wieland: Die Prüfung Abrahams [B] (1753)

1. allgemeine Bildung – 2. moralische Erziehung – 3. intellektuelle Schulung – 4. ästhetische Erziehung – 5. Sprachkultivierung – 6. Gefühls-/Geschmacksbildung etc.

Die Vermittlung erfolgt durch dichtungstheoretische Reflexion in ‚Poetiken‘ (ποιητικὴ τέχνη) (seit Aristoteles, Horaz, Περὶ ὕψους) Italien

Muratori: Della perfetta poesia italiana (1706) Gravina: Della ragione poetica (1708) –: De disciplina poetarum (1712) Vico: Principi di Scienza nuova (1715) Ricci: Dissertationes Homericae (1740/41) Conti: De’ Fantasmi poetici (1756) Cesarotti (trad. Ossian) (1760-72) Andres: Dell’origine, progressi e stato attuale d’ ogni letteratura (1785-1822)

Frankreich

England

Batteux: Cours de Belles Lettres (1750)

Swift: Battle of Books (Satire) (1704) Shaftesbury: Soliloquy or Advice to an Author (1710) Pope: Essay on Criticism (1711) Addison: Spectator u.a. (1714) Spence: Essay on Mr. Pope’s Odyssey (1727)

Hume: Of the Standard of Taste (1742) Burke: Philos. Enquiry into the Origin of the Sublime and Beautiful (1757)

Home: Elements of Criticism (1761-65) Young: On original Composition (1759) Wood: Essay on the Original Genius of Homer (1769)

Deutschland

Gottsched: Critische Dichtkunst (1730) Gesner: Chrestomathia Graeca (1731) Bodmer: Von dem Wunderbaren in der Poesie (1732) Breitinger: Critische Dichtkunst (1740) Winckelmann: Kunstgeschichte (1764) Lessing: Laokoon (1766)

Herder: Kritische Wälder/Briefe zur Beförderung der Humanität (1794)

Klopstock – Goethe – Schiller – W. v. Humboldt – Gebrüder Schlegel, u.a.

Thomas A. Schmitz

Erzählung und Imagination in Sapphos Aphroditelied (frg.  V) Obwohl der neue Kölner Sapphopapyrus¹ vor wenigen Jahren einen erfreulichen Textzuwachs zu den bekannten Gedichten Sapphos erbrachte, bleibt doch ihr bei Dionysios von Halikarnass (de compositione verborum ) überliefertes Aphroditelied (frg.  V) das einzige vollständige Gedicht, das wir von der Autorin haben. In diesem Beitrag geht es mir nicht darum, eine neue Interpretation zu einem Text vorzulegen, zu dem bereits eine umfangreiche Liste an Sekundärliteratur vorliegt.² Vielmehr möchte ich anhand eines speziellen, bisher in der Forschung nicht genügend beachteten Details zeigen, wie Sappho ihre lyrische Erzählung so gestaltet, dass sie ihren Rezipienten zur narrativen Mitarbeit einlädt und damit zugleich die im Text geschilderte Situation über das pragmatische Hier und Jetzt der Performance hinaushebt. Dass Erzählung bei Sappho (und den Lyrikern allgemein) anderen Prinzipien folgen muss als in epischen Texten derselben Epoche, ist zunächst einmal eine Folge der unterschiedlichen Größenverhältnisse: Die Oden Sapphos sind relativ kurze Gebilde; ihre Erzählung muss sich deshalb oftmals mit Andeutungen begnügen, muss darauf vertrauen, dass narrative Lücken vom Rezipienten ausgefüllt werden.³ Solche narrative Mitarbeit funktioniert am einfachsten dort, wo der Erzählung mythologische Stoffe zugrundeliegen. Zwar haben Erzähler von Mythen in der archaischen Epoche eine recht große Gestaltungsfreiheit in den Einzelheiten, aber die grundlegenden Konstellationen sind Fixpunkte, deren Kenntnis der Erzähler bei seinem Publikum voraussetzen darf; ebenso darf er damit rechnen, dass bereits die Evokation eines mythologischen Namens bei seinem Publikum die Grundzüge der mit der Gestalt verbundenen Erzählung(en) in Erinnerung ruft. Offen bleibt, wie weit das antike ¹ S. Gronewald/Daniel (), West () und Greene/Skinner (). ² Einen bequemen Überblick über die Literatur bis  findet man bei Gerber (), –. ³ Zum Verhältnis von epischer und lyrischer Erzählung s. den älteren Beitrag von Slater () sowie jetzt die umfangreiche Untersuchung von Morrison (). Immer noch lesenswert sind die Anmerkungen von Fränkel () –, die mir durch die Erwiderung von Radt () – nicht grundlegend entkräftet scheinen; vgl. Burnett ()  mit Anm. .



Thomas A. Schmitz

Publikum in seiner Kontextualisierung mythischer Erzählungen ging: Wenn etwa das Gedicht, dessen Ende uns frg.  V überliefert, tatsächlich bei einer Hochzeitsfeier gesungen wurde,⁴ so dient die Evokation der mythischen Hochzeit von Hektor und Andromache offenbar nur dazu, die aktuelle Feier durch die ehrwürdige Parallele zu adeln, ohne dass das Publikum das unglückliche Ende der Ehe zwischen den mythischen Figuren (Hektor wird im troianischen Krieg getötet, seine Frau als Sklavin verschleppt, ihr Sohn Astyanax von den griechischen Eroberern umgebracht) in die Deutung miteinbezogen hätte.⁵ Doch insgesamt ist offensichtlich, dass die auftretenden Figuren, ihre Konstellation und die Einordnung in einen größeren narrativen Rahmen durch die mythische Tradition vorgegeben und dem zuhörenden Publikum zumindest in groben Zügen bekannt waren. Inwieweit solche Bezugnahmen auf bekannte Mythen oder gar auf konkrete poetische Gestaltungen dieser Mythen auch für das Verständnis des Aphroditelieds eine Rolle spielen, ist in der modernen Forschung umstritten. Interpreten wie Krischer () und di Benedetto () haben (meines Erachtens überzeugend) dafür plädiert, in unserem Gedicht eine Reihe homerischer Intertexte zu sehen: Krischer (f.) arbeitet heraus, dass die Begegnung der Sprecherin mit Aphrodite in ihrer Struktur der Begegnung des Achilleus mit seiner Mutter Thetis im . Buch der Ilias verwandt ist;⁶ di Benedetto verweist insbesondere auf das Gebet des Diomedes zu Athene im . Buch der Ilias und auf Aphrodites anschließende Flucht auf den Olymp.⁷ Auf die enge Verbindung des Gedichts zu den homerischen Epen scheint mir auch die Darstellung Aphrodites hinzuweisen, die als „Tochter des Zeus“ (V. ) aus dem goldenen

⁴ Dafür plädiert etwa Rösler (), gegen Kakridis (); vgl. Gentili ()  mit Anm. ; Pepino (); Ferrari () –; Yatromanolakis ()  meint zurückhaltend, allerdings ohne Diskussion der communis opinio: “possibly performed by women at informal female gatherings”. ⁵ Vgl. zu solchen Fragen der Kontextualisierung in der antiken Literaturinterpretation Hose (). ⁶ Krischer hält eine direkte Abhängigkeit von der Homerpassage für wahrscheinlich, lässt die Entscheidung darüber jedoch offen. ⁷ Benedetto plädiert vorsichtig dafür, hier eine tatsächliche intertextuelle Berührung zu sehen: “Non mi pare che sia illegittimo pensare che Saffo avesse presente questo passo del quinto libro dell’Iliade”; vgl. Svenbro (); Winkler () –. de Martino/Vox () , f. sehen auch Anspielungen auf die Proömien von Hesiods Theogonie und der homerischen Ilias. Allgemein zu homerischen Einflüssen auf Sapphos Dichtung ferner Rissman (), Schrenk (), Rosenmeyer () und Snyder (), bes. –.

Erzählung und Imagination in Sapphos Aphroditelied (frg.  V)



Palast ihres Vaters⁸ auf dem Olymp zur Sprecherin kommt, was eher an die aus dem homerischen Epos bekannte Aphrodite als an die Aphrodite des Kults erinnert.⁹ Doch gibt es auch Forscher, die Kenntnis der homerischen Epen in Abrede stellen und die Berührungen eher auf eine gemeinsame ererbte Formelsprache zurückführen oder an die jüngeren Epen des Kyklos denken.¹⁰ Wir können also nicht mit letzter Sicherheit schließen, dass das zeitgenössische Publikum von Sapphos Gedicht durch intertextuelle Verweise dazu eingeladen oder aufgefordert wurde, die im Text evozierte Situation einer Bitte an Aphrodite um Hilfe in der Liebe in einen weiteren literarischen Kontext einzuordnen, der über den konkreten Rahmen der Performance hinausging. Hingegen scheint mir dies in anderer Hinsicht wesentlich deutlicher: Betrachtet man den Text der Ode, so fällt unmittelbar auf, dass sich von den insgesamt sieben Strophen nicht weniger als fünf mit der Vergangenheit beschäftigen. Sicherlich zu Recht haben die Interpreten darauf hingewiesen, dass ein solcher Vergangenheitsbezug in griechischen Gebeten häufig anzutreffen ist: Durch Verweis auf frühere Gunstbeweise betont der Betende sein inniges Verhältnis zur Gottheit und liefert damit ein Argument, warum sie ihn auch jetzt anhören sollte.¹¹ Doch die Ausdehnung und Lebendigkeit dieser Schilderung in unserem Gedicht ist außergewöhnlich und unterscheidet es von „echten“ Gebeten:¹² Mit dem auch in anderen Gebeten in ähnlicher Form anzutreffenden Schlüsselwort ἀτέρωτα „bei anderer Gelegenheit“ () eröffnet Sappho einen Ausblick in eine Vergangenheit, in der die Göttin ihren Bitten um Hilfe bereits gefolgt ist. Doch diese Epiphanien gehören nicht ausschließlich der Vergangenheit an. Je länger das Publikum der anschaulichen, zahlreiche sinnfällige Details ausführenden Darstellung des Erscheinens der Gottheit zuhört, desto mehr erhält es den Eindruck, damit zugleich auch die Erhörung der ⁸ Das Bezugswort zu χρύσιον (V. ) ist nicht ganz klar: Einige Interpreten, so etwa Page () , ziehen es zu ἄρμ(α) im folgenden Vers; mir scheint mit Slings (), Tzamali () – und Hutchinson ()  ein Bezug auf δόμον vorzuziehen. Dass POxy  (. Jh. n. Chr.) nach χρύσιον interpungiert, kann die Frage sicherlich nicht entscheiden, ist aber jedenfalls ein Hinweis darauf, dass die von Wilamowitz-Moellendorff ()  Anm.  geäußerte Auffassung, wer das Adjektiv mit δόμον verbinde, habe „kein Gefühl für griechische Wortstellung“, so pauschal nicht gelten kann: Der Schreiber des Papyrus hatte aller Wahrscheinlichkeit nach Griechisch als Muttersprache gelernt und kannte wesentlich mehr lyrische Texte als ein moderner Philologe. ⁹ Vgl. Burnett () f. ¹⁰ So etwa Rodríguez Somolinos () oder Steinrück (). ¹¹ S. besonders Cameron () –; Page ()  mit Anm. . ¹² So richtig Cameron (), West ()  oder Hutchinson () .

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Thomas A. Schmitz

gegenwärtigen Bitte mitzuerleben: Zumindest im Text des Gedichts bringt Aphrodite der Sprecherin Trost und Hilfe.¹³ Enthält somit bereits die Struktur des Gedichts einen emphatischen Verweis auf eine zeitliche Tiefe, so finden wir dieses temporale Element in der Erzählung vom Erscheinen Aphrodites noch einmal aufgenommen: Durch das in der Rede der Göttin (–) dreifach wiederholte deiktische δηὖτε „schon wieder“ wird deutlich, dass dieser vergangenen Epiphanie bereits weitere vorausgegangen sein müssen. Die Vergangenheit hat eine Vorvergangenheit; bei der Situation, die wir im Gedicht miterleben, handelt es sich evident nicht um einen Einzelfall, sondern eine sich oft wiederholende Konstellation. Moderne Interpreten haben über den emotionalen Gehalt des δηὖτε lange diskutiert: Schwingt in diesem Wort eine Ungeduld der Göttin mit, ein Zurechtweisen der Sprecherin?¹⁴ Oder ist es vielmehr ein Ausdruck von Sympathie, von Humor und Einverständnis der Göttin mit der Sprecherin des Gedichts?¹⁵ Drückt δηὖτε aus, dass die Göttin ihre Frage mehrfach wiederholen muss, weil die Sprecherin zunächst nicht antwortet?¹⁶ Malt es die delikate Anteilnahme der Göttin, die aus den vergangenen Erfahrungen im Grunde bereits weiß, warum die Sprecherin sie anruft und was sie von ihr will, die aber trotz ihrem Wissen fragt und damit die Nähe zur Sprecherin betont?¹⁷ Wird durch δηὖτε die vergängliche Natur des homoerotischen Liebesverhältnisses bezeichnet, das enden muss, sobald das Objekt des Begehrens erwachsen wird, und das damit ein Element des Wechsels und der Wiederholung notwendigerweise in sich trägt?¹⁸ Oder sollte man die Wiederholung als in der archaischen ¹³ So richtig Burnett () : “What Sappho actually describes is an infinite number of old epiphanies, but she makes us feel that Aphrodite has alighted in our own finite present in answer to this witnessed prayer.” Hutchinson ()  weist zu Recht darauf hin, dass κἀτέρωτα nicht ausdrücklich von mehreren vergangenen Epiphanien der Göttin spricht, und man wird Radt ()  gegen Page ()  zustimmen, dass mit ἄσαισι und ὀνίαισι () auf die gegenwärtige Situation, nicht auf eine Vielzahl vergangener Erfahrungen verwiesen wird. Doch werden wir gleich Gründe dafür sehen, dass Burnetts Sicht einer „unbestimmten Zahl“ von Erscheinungen zutreffend ist. ¹⁴ So besonders Page () : “the tone is […] one of reproof and impatience”; Page macht dies zum Eckpfeiler seiner Deutung des Gedichts. ¹⁵ So Burnett () f.; Humor sieht auch Hutchinson () . ¹⁶ Diese Deutung bietet Wilamowitz-Moellendorff () f.; zu Recht nennt Page () f. sie „obviously incorrect“. ¹⁷ So Krischer () f., mit Bezug auf das Verhalten der Thetis gegenüber Achill im Α der Ilias (s. o. S. ). ¹⁸ Carson () f.

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Literatur nicht selten anzutreffenden Ersatz für eine Darstellung von Intensität verstehen?¹⁹ Gibt es einen Unterschied in der Bedeutung von δηὖτε hier bei Sappho und in anderen Passagen der archaischen Lyrik, die die Erfahrung erotischer Überwältigung schildern, oder liegt hier dieselbe Sicht von Liebeserfahrung vor?²⁰ Die Forschungsdiskussion zeigt, dass eine eindeutige Antwort auf diese Fragen kaum möglich ist; für die meisten der oben zitierten Positionen lassen sich Argumente vorbringen. Sicherere Ergebnisse können wir gewinnen, wenn wir unser Augenmerk weniger auf die vermutete emotionale oder psychologische Signifikanz dieser Wiederholung richten als vielmehr auf ihre narrative Funktion. Und hier können wir wieder auf unsere Ausgangsfrage zurückkommen, wie kürzere lyrische Texte ihre Erzählung kondensieren und zugleich für die Rezipienten anschaulich und lebendig gestalten können. Ein Element, das hier eine wichtige Rolle spielt, ist die narrative Mitarbeit des Publikums. Keine Erzählung, auch nicht die ausführlichste und umständlichste des Romans oder des Epos, kann wirklich alle Details wiedergeben. Rezipienten sind daher immer dazu aufgefordert, Nebensächliches, Selbstverständliches oder leicht Eruierbares zu ergänzen. Antike Leser waren sich dieser narrativen Lücken und der zu ihrer Ausfüllung nötigen Lesermitarbeit bewusst, wie etwa in den Homerscholien die zahlreichen Ausführungen zu Handlungen zeigen, die vom Leser „unter Hinzufügung des Übergangenen“ (κατὰ τὸ σιωπώμενον) zu verstehen sind.²¹ Und sie hatten auch bereits genaue Vorstellungen davon, wie solche narrative Lücken in der Textrezeption wirkten. So schreibt etwa Theophrast (frg.  Fortenbaugh = Demetrios, Über Stil ): […] οὐ πάντα ἐπ’ ἀκριβείας δεῖ μακρηγορεῖν, ἀλλ’ ἔνια καταλιπεῖν καὶ τῷ ἀκροατῇ συνιέναι καὶ λογίζεσθαι ἐξ αὑτοῦ· συνεὶς γὰρ τὸ ἐλλειφθὲν ὑπὸ σοῦ οὐκ ἀκροατὴς μόνον, ἀλλὰ καὶ μάρτυς σου γίνεται, καὶ ἅμα εὐμενέστερος. συνετὸς γὰρ ἑαυτῷ δοκεῖ διὰ σὲ τὸν ἀφορμὴν παρεσχηκότα αὐτῷ τοῦ συνιέναι, τὸ δὲ πάντα ὡς ἀνοήτῳ λέγειν καταγινώσκοντι ἔοικεν τοῦ ἀκροατοῦ.

¹⁹ Fränkel () . ²⁰ So insbesondere bei Anakreon, frg. , ;  b; , ; (, ?;) , ; ,  ; Alkman frg.  . Die Tatsache, dass δηὖτε auch bei Sappho noch zwei weitere Mal in erotischem Kontext vorkommt (frg. , ; , ), legt meines Erachtens nahe, dass Sappho sich hier eines Topos der erotischen Sprache bedient; vgl. Mace (). ²¹ S. zu diesem wichtigen Konzept etwa Richardson () f.; Nünlist () –.

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„[…] man sollte nicht alles mit Genauigkeit ausführlich schildern, sondern einiges auch dem Hörer aus eigener Kraft zu verstehen und erschließen überlassen. Denn wenn er das versteht, was von dir übergangen worden ist, dann ist er nicht nur dein Hörer, sondern auch dein Zeuge, und zugleich auch wohlwollender. Denn er wird sich selbst für verständig halten, weil du ihm den Ausgangspunkt für sein Verständnis geliefert hast. Ihm alles wie einem Dummkopf zu sagen, gleicht einer Verachtung des Hörers.“

Was bei Theophrast und Demetrios als Ratschlag an den Redner formuliert ist, der sich auf diese Weise die Gunst seines Publikums sichern soll, wirkt als Mechanismus auch bei der Produktion und Rezeption poetischer Texte: Auf diese Weise die narrative Mitarbeit des Publikums zu fördern, die Zuhörer und Leser in die Sinnkonstitution einzubeziehen, kommt ihrer Anschaulichkeit und Lebendigkeit zugute. Für lyrische Texte wirkt dies in besonderer Weise: Die meisten von ihnen sind (im Vergleich zu anderen zeitgenössischen narrativen Texten) relativ kurz und machen deshalb eine intensive Mitarbeit des Publikums nötig. Unter diesem Aspekt lässt sich auch Sapphos Evokation einer doppelt gegliederten Vergangenheit analysieren. Selbst wenn wir für den Augenblick die Frage außer Acht lassen, ob ihrer Schilderung früherer Epiphanien Aphrodites eine (wie auch immer geartete) subjektive Auffassung von ihrer Realität zugrundeliegt oder es sich um eine rein literarische Fiktion handelt,²² deutlich ist in jedem Fall, dass für das Publikum diese Vorgeschichte erst im Text des Gedichts entsteht: Im Lauf der Rezeption erschließen die Zuhörer, dass Aphrodite der Sprecherin in der Vergangenheit bereits geholfen hat, und zwar wiederholt. Die Tatsache, dass der Text diese Vorgeschichte nicht in ihrer chronologischen Reihenfolge schildert, sondern wir von der Gegenwart immer weiter in die Vergangenheit zurückgehen, bevor wir dann

²² Bowra () (zuerst publiziert ) f. hatte als Grundlage des Gedichts die religiöse, mystische Erfahrung einer göttlichen Epiphanie ausgemacht; andere Interpreten haben dieser Deutung mit jeweils unterschiedlichen eigenen Auffassungen widersprochen, so etwa Cameron () – (eher literarisch als mystisch); Page ()  bietet eine in meinen Augen allzu platt-rationalistische Deutung: “Sparrows were sacred to Aphrodite […]. They might be seen at any time descending suddenly on earth: and it was easy to imagine that Aphrodite rode in her chariot invisible behind them; no commoner or more satisfactory token of proof, that prayer has been answered, could be imagined or desired.” Soll damit das ganze Gedicht als Reaktion auf eine banale ornithologische Beobachtung erklärt werden?

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mit der letzten Strophe wieder in die Gegenwart zurückkehren,²³ ist hier signifikant: Durch diese Anordnung wird das Publikum zu einer verstärkten narrativen Mitarbeit eingeladen; es findet diese Vergangenheit nicht einfach vor, es erhält sie nicht „wie ein Dummkopf“, um noch einmal Theophrast zu zitieren, als Erzählung vorgesetzt, sondern muss sie selbst aus Hinweisen imaginieren. Diese Vorgehensweise ist in der modernen Narratologie häufig beschrieben und in ihrer Funktionsweise analysiert worden; sie wirkt ähnlich wie die logische Figur der Präsupposition:²⁴ Ein Satz P setzt, um überhaupt einen Wahrheitswert zu erhalten, die Wahrheit eines Satzes Q voraus. Das bekannteste Beispiel ist der von dem englischen Philosophen Bertrand Russell entworfene Satz „Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahlköpfig.“ Damit dieser Satz wahr (oder falsch) sein kann, muss der Satz „Es gibt einen gegenwärtigen König von Frankreich“ wahr sein. In unserem Gedicht macht der Text zwei Präsuppositionen: „Komm, wie du früher gekommen bist und gesagt hast ‚Warum rufst du mich schon wieder?‘!“ setzt voraus, dass . die Sprecherin bereits früher mit Aphrodite gesprochen hat und . diesem früheren Besuch bereits andere vorausgegangen sind. Durch diese Präsuppositionen erfährt die Position der Sprecherin eine wichtige Veränderung: Wenn wir davon ausgehen, dass das Gedicht von Sappho selbst vorgetragen wurde,²⁵ so kann das Publikum zunächst von einer Identität von realer Person und sprechendem Ich ausgehen; diese Annahme der Identität wird durch die Namensnennung Ψάπφ’ in V.  bestätigt und verstärkt.²⁶ Doch zugleich wird das Publikum dazu aufgefordert, neben der anwesenden Sängerin noch eine weitere Psappho zu imaginieren, die mit der Göttin Aphrodite intime Zwiesprache halten kann, die von ihr ähnlich unterstützt wurde, wie die Heroen des Epos die Hilfe der Götter erhalten,²⁷ und die deshalb auch in der Gegenwart auf die Hilfe der Göttin rechnen darf.²⁸ ²³ Dieser Aspekt ist gut analysiert bei Winkler () . ²⁴ Zum Zusammenhang von Präsupposition mit Erzählung, insbesondere im theoretischen Ansatz der „möglichen Welt“, vgl. insbesondere Doležel () –, Doležel () –; ferner Culler () –. ²⁵ Vgl. allerdings Lardinois (), der eine Reihe erwägenswerter Argumente für einen chorischen Vortrag der Lieder vorbringt. ²⁶ So zu Recht Hutchinson () , vgl. aber Prins () –; Morrison () ; zur Namensform Ψάπφω vgl. de Martino/Vox () , . ²⁷ Vgl. dazu die Analyse bei Winkler () f. ²⁸ Dieses Übersteigen der unmittelbaren Präsenz einer Performance hat in einer überzeugenden Analyse Stehle () – herausgearbeitet; vgl. besonders : “the fictional speaker cannot be realized by the singer but must rely on the auditor’s imagination.”

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Eine klare Trennung zwischen dieser durch den Text evozierten, imaginierten Psappho und der gegenwärtigen Sprecherin existiert nicht: Es ist ja gerade die durch die Erzählung der Vergangenheit beleuchtete Nähe zur Göttin, die dem gegenwärtigen Gebet Autorität verleihen soll; die logische Verbindung zwischen dieser Vergangenheit und der Gegenwart wird daher nachdrücklich hervorgehoben (αἴ ποτα κἀτέρωτα, „wenn jemals zuvor“ , und καὶ νῦν, „auch jetzt“ ). Die moderne Literaturwissenschaft hat hierzu die Regel der „minimalen Distanz“ zwischen möglicher, fiktionaler und realer Welt entwickelt:²⁹ Um eine Erzählung zu verstehen, legen wir ihr unsere eigene Welt zugrunde und gehen davon aus, dass die fiktionale Welt in allen Bereichen, die nicht explizit als abweichend von unserer eigenen Wirklichkeit deklariert werden, dieser Wirklichkeit entspricht. Auf diese Weise kann aus der Beschreibung nur weniger Einzelheiten eine ganze „mögliche Welt“ entstehen, weil wir aus unserer Erfahrung die übrigen, nicht explizit beschriebenen Teile dieser Welt supplieren.³⁰ Im Falle unseres Sapphogedichts bedeutet dies: das Publikum akzeptierte, dass der Text eine „mögliche Welt“ darstellt, in der eine Frau namens Psappho existiert.³¹ Sie teilt die meisten ihrer Züge mit der realen Sängerin Sappho: Sie lebt in einem sozialen Kontext, der Begegnungen und Beziehungen mit anderen, offenbar jüngeren Frauen ermöglicht und erlaubt. Von den Beteiligten werden diese Beziehungen als von Aphrodite beherrscht gedeutet; es handelt sich also nicht um freundschaftliche Bande oder ein reines Verhältnis von Erzieherin und Schülerinnen, sondern um homoerotische Verbindungen, möglicherweise in ähnlicher Weise gesellschaftlich sanktioniert wie in einigen griechischen Städten die Knabenliebe.³² Dieses erotische Verlangen wird von

²⁹ S. etwa Ryan (). ³⁰ Vgl. dazu Pavel () –; Pavel (). ³¹ Zu den theoretischen Grundlagen dieser Konstruktion einer möglichen Welt vgl. neben den Anm.  und  genannten Arbeiten auch den wichtigen Aufsatz Harshaw (), bes. – zum „internal field of reference.“ ³² Auf die intensive moderne Diskussion um die Natur des Kreises von Mädchen um Sappho möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen, sondern lediglich anmerken, dass der so beliebte Gebrauch des Wortes „Thiasos“ nicht mehr bewirkt, als uns zu erlauben, unser völliges Unwissen durch eine griechische Vokabel zu kaschieren. Der neue Kölner Papyrus (oben, Anm. ) lässt einiges in neuem Licht erscheinen; dennoch halte ich die wichtigen Anmerkungen von Parker () nicht für grundsätzlich überholt.

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Psappho, in Einklang mit der Kultur ihrer Umgebung, als potentiell schmerzvolle Überwältigung durch eine übermenschliche Macht empfunden.³³ Doch die Psappho des Aphroditelieds lebt in einer Welt, die sich in wichtigen Punkten von der Alltagsrealität der Sängerin und ihres Publikums unterscheidet: Die Göttin Aphrodite ist für sie nicht nur eine bedrohliche und beunruhigende Macht, sondern zugleich auch eine Helferin, die ihr immer wieder mit ihrer „listenspinnenden“ Kraft beisteht,³⁴ ähnlich wie die Heroen des Epos göttliche Helfer haben, die sie aus Gefahren retten und ihnen Ruhm bringen. Durch Aphrodites Hilfe erfüllt sich das Liebesverlangen Psapphos; aus einer unerfüllten Sehnsucht wird eine reziproke, wechselseitige Beziehung.³⁵ Solch ein Kontakt zwischen Psappho und Aphrodite ist in dieser Welt, so können Rezipienten aus der beiläufigen Erwähnung der Wiederholung solcher Begegnungen erschließen, offenbar nichts Ungewöhnliches, sondern findet habituell statt. Die Pracht des goldenen Palasts, aus dem Aphrodite herbeieilt, ihr ungewöhnliches Gefährt, das von Sperlingen gezogen wird,³⁶ das Lächeln ihres „göttlichen Antlitzes“, dies alles verleiht auch der Sprecherin eine andere Art von Existenz: Sie ist mehr als eine einfache Sterbliche; ein Teil von ihr übersteigt die Alltagswelt, in der ihr Publikum lebt. Auf diese Weise ist die temporäre Struktur des Gedichts mit seiner doppelt gegliederten Vergangenheit, die von den Rezipienten rekonstruiert werden muss, ein Mittel zur Ablösung des Textes von seiner unmittelbaren Umwelt: Der Text geht nicht im „Hier und Jetzt“ seiner Performance auf; die reale Sängerin ist in den Augen des Publikums nicht völlig identisch mit der Rolle der Sprecherin im Text.³⁷ Ausgangspunkt für dieses Hinausgehen über die aktuelle Situation ist ein Motiv, das in griechischen Gebeten üblich war, doch Sappho benutzt es in ihrem Lied in neuartiger Weise:³⁸ Sie motiviert ihre Rezi³³ Zur Eroskonzeption in der griechischen Kultur etwa Cyrino (), zu Sappho bes. –; vgl. Lanata () –. ³⁴ Zu den Implikationen dieses Epithets s. Burnett () . ³⁵ Auch wenn die Spärlichkeit der überlieferten Fragmente kaum sichere Schlüsse zulässt, scheint mir doch die u. a. von Skinner (), Greene (), Stigers () oder Stehle () – vorgetragene Deutung, im Unterschied zur üblichen Darstellung von Liebesbeziehungen aus der männlichen Perspektive, wie wir sie etwa bei Anakreon finden, privilegiere Sappho eine wechselseitige, nicht-hierarchische, feminine Form der Liebe, plausibel und überzeugend. ³⁶ Aphrodites Sperlinge haben in den letzten Jahren eine Menge philologischer Aufmerksamkeit erhalten; vgl. Pöschl (), Erbse () und Zellner (). ³⁷ Vgl. dazu auch die Analyse von frg.  bei Stehle () – sowie das Konzept der „quasi-biography“ bei Morrison () f.

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pienten zur Konstruktion einer literarischen Welt, in der die Sprecherin des Gebets einen ganz anderen Status gewinnt, weil sie zugleich der Realität der Aufführung und der Imagination dieser möglichen Welt angehört. Zu dieser Deutung fügt sich auch ein Detail des Gedichts, das Interpreten schon häufig benannt haben:³⁹ Das Gebet an Aphrodite bleibt offen; es wird kein Name genannt, kein konkretes Anliegen, sondern die Göttin wird in möglichst vager Formulierung gebeten „Sei meine Verbündete!“ (f. σὺ δ’ αὔτα | σύμμαχος ἔσσο).⁴⁰ Diese Offenheit scheint mir einen deutlichen Hinweis darauf zu geben, dass dieses Gedicht von Anfang an dazu komponiert war, mehrfach aufgeführt zu werden und sich nicht in eine einzige lebensweltliche Okkasion zu fügen, sondern für eine Vielzahl von Gelegenheiten und Aufführungskontexten zu passen.⁴¹ Sapphos erhaltene Fragmente weisen einige Male darauf hin, dass Gesang und Musen Erinnerung verbürgen und man mit ihrer Hilfe dem Vergessen nach dem Tod entrinnen kann.⁴² Man muss darin nicht einen Hinweis lesen, dass Sappho mit einer schriftlichen Verbreitung ihrer Texte oder gar einem Lesepublikum rechnete.⁴³ Dass aber damit gesagt ist, dass Sapphos Texte mehrfach aufgeführt werden und ihre enge Bindung an die Person ihrer Autorin transzendieren werden, scheint mir evident. Wiederaufführung ist für Sapphos Gedichte kein bloßer Zufall, an den die Autorin niemals hätte denken können, sondern war bei ihrer Abfassung als Möglichkeit bereits präsent.⁴⁴ Wenn wir diese Wiederholbarkeit des Textes im Auge behalten, gewinnt auch das Element der Wiederholung der göttlichen Epiphanien eine weitere Bedeutungsebene: Aphrodites δηὖτε „schon wieder“ kann damit auch als metapoetischer Hinweis auf die erneute Aufführung des Textes verstanden ³⁸ ³⁹ ⁴⁰ ⁴¹

S. Burnett () f. Vgl. etwa West () –; Stehle () . Vgl. dazu etwa Stehle () . Dies arbeitet in einem wichtigen Aufsatz Scodel ()  überzeugend heraus, vgl. Most () –; zur re-performance als für unsere Interpretation der archaischen Lyrik wichtiges Prinzip Scodel () –; Morrison () –. Allerdings scheint mir die Tatsache, dass in anderen Gedichten Namen genannt werden, die Möglichkeit einer Wiederaufführung nicht von vornherein auszuschließen, wie Schneider ()  anzunehmen scheint. ⁴² Besonders nachdrücklich in frg. ; vielleicht auch frg. ; negativ in frg. . ⁴³ Darauf weist zu Recht Lardinois () hin; Hardie () scheint mir bei seiner Betonung eines Musenkultes und der daraus resultierenden Erwartung eines tatsächlichen Nachlebens den textlichen Aspekt zu sehr zu vernachlässigen. ⁴⁴ Vgl. Stehle () –.

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werden. Bei jeder Performance des Liedes wird Aphrodite aufs Neue beschworen, kommt sie aufs Neue in ihrem Sperlingswagen vom Olymp herab, bietet sie aufs Neue Trost – und blickt auf eine immer längere Kette von früheren Epiphanien zurück.⁴⁵ Damit wird auch das Aphroditelied zu einem weiteren Indiz dafür, dass die mancherorts seit einigen Jahren favorisierte „pragmatische“ Deutung der Gedichte Sapphos nicht das letzte Wort in der Diskussion um die Interpretation dieser Texte sein kann.⁴⁶ Sowohl die auf Wiederaufführung berechnete Offenheit des Gedichts als auch der hybride Status seiner Sprecherrolle zwischen Realität und Imagination scheinen mir wichtige Hinweise darauf zu geben, dass Sapphos Aphroditelied von Anfang an Literatur im modernen Sinne des Wortes war: Ein Versuch, den Rezipienten einen alternativen Weltentwurf in der Imagination anzubieten und ihnen zu erlauben, zumindest im Raum dieses Gedichts eine Welt zu erleben, in der eine hilfreiche Gottheit dafür sorgt, dass liebendes Begehren keine verzehrende Qual bleibt, sondern erwidert wird. Weil Sappho „Anteil hatte an den Rosen aus Pieria“ (frg. ), sprechen ihre Texte noch heute zu uns und erlauben uns, bei ihrer Lektüre diese Welt der Liebe für eine Weile zu bewohnen.

⁴⁵ Diese metaliterarische Qualität des δηὖτε betont in einer ausgezeichneten Analyse Skinner () , vgl. auch Mace () –; in eine ähnliche Richtung argumentiert auch Hutchinson () , wenn er von „metapoetic play“ in dem Wort δηὖτε spricht. ⁴⁶ Zur Kritik an der pragmatischen Deutung und zu weiterer Literatur vgl. Latacz (), Schmitz () und Rudolph ().

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Erzählung und Imagination in Sapphos Aphroditelied (frg.  V)

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Bemerkungen zur dramatischen Technik des (ps-)aischyleischen ‚Prometheus Desmotes‘ Das Drama, das im Corpus der aischyleischen Tragödien unter dem Titel Prometheus Desmotes überliefert ist, darf als einer der ganz großen Problemfälle der Tragödienforschung insgesamt gelten. Denn bei keinem anderen Stück ist nicht nur die Frage, wie wir das Stück denn nun eigentlich zu verstehen haben, also seine Interpretation, sondern auch seine poetische Qualität, ja sogar die Frage, welchem Autor wir es überhaupt zuweisen sollen, so sehr in der kontroversen Diskussion wie im Falle des Prometheus. Beherrschend in dieser Debatte ist die Frage nach der Autorschaft. Galt bis vor gut dreißig Jahren noch die Position, die das Stück dem Aischylos aberkannte, als skurrile philologische Häresie, so hat sich das Blatt inzwischen radikal gewendet: Seit der Untersuchung von Mark Griffith über The Authenticity of Prometheus Bound aus dem Jahr ¹ neigt die communis opinio der Auffassung zu, das Stück sei tatsächlich nicht von Aischylos. Insbesondere der jüngste maßgebliche Aischylos-Editor, Martin L. West, zeigt sich von Griffiths sprachstatistischen, metrischen, strukturanalytischen und inszenierungstechnischen Argumenten so überzeugt, dass er seine Teubner-Ausgabe aus dem Jahr  sogar dezidiert Aeschyli Tragoediae cum incerti poetae Prometheo betitelt. Auch die jüngste deutschsprachige Monographie zum Prometheus von Robert Bees Zur Datierung des Prometheus Desmotes aus dem Jahr  kommt zu dem Schluss, das Stück könne nicht vor Ende der er Jahre des . Jhs. entstanden sein, also – da Aischylos  gestorben ist – nicht von Aischylos stammen, da u. a. die ethnographischen Exkurse über die Skythen von Herodot beeinflusst seien. Die expliziten Stimmen für die Autorschaft des Aischylos dagegen werden immer schwächer: Günther Zuntz () und Maria Pattoni () waren die letzten, die sich aktiv für Aischylos als Autor stark gemacht haben, andere – wie Suzanne Saïd () und zuletzt Joachim Latacz () – interpretieren das Stück – da seine Unechtheit bislang nicht schlagend bewiesen sei – als ¹ Diese und weitere abgekürzt zitierte Literatur ausführlich im Literaturverzeichnis am Ende.

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aischyleisch mit der vorsichtigen Reserve freilich, dass – so Latacz wörtlich – „der Stachel gelinden Zweifels … fortbestehen (sollte)“ (S. ). Es ist hier nicht der Ort, die vertrackte, sich in linguistische Details verlierende Diskussion um die Echtheit abermals aufzurollen. Ich möchte dazu nur eine Beobachtung zu Protokoll geben und zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen nehmen. In der gesamten Diskussion ist nämlich – zumindest unterschwellig – das Argument virulent, dass die Verfechter der aischyleischen Autorschaft ihre Position unter anderem damit stützen, dass sie das Stück dramatisch und inhaltlich für gelungen halten (so z. B. Latacz zum Polisbezug des Stückes: „dass diese Idee nicht aischyleisch sein sollte, ist schwer zu glauben“²), während viele Skeptiker u. a. mit der dramatischen Missratenheit des Stücks argumentieren: So spricht z. B. West von: „no logical progression“, „Oceanus and Io are inorganic“; weitere Stichwörter sind: „clumsiness shown by the playwright in organizing his material“, „inconsequentiality and inconsistency“, „(the author) leaves the joints of his carpentry crudely exposed“.³ Besonders Wests Urteile zeigen, dass für die Skeptiker ein Hauptargument für die Unechtheit – zusätzlich zur Sprachstatistik von Griffith – die vermeintliche dramatische Inkompetenz des Autors ist, ganz nach dem Muster: So etwas hätte ein Meister wie Aischylos niemals dichten können. Die Hauptvorwürfe dieses Argumentationsstranges lauten, nochmals stichwortartig zusammengefasst:  Mangel an logischer Progression  unorganische Einfügung von dramatis personae  Ungeschicklichkeit des Autors in der Organisation des Materials  Inkonsequenz und Inkonsistenz und schließlich:  der Autor lasse die Verbindungsstellen seines gezimmerten Werkes in roher Weise offen sichtbar, d. h. die Fugen des dramatischen Konstruktes schließen nicht. Wie kommt es zu so krass divergierenden Urteilen hochkarätiger Kenner der griechischen Tragödie – hier das Meisterwerk, das nur eines Aischylos würdig sein kann, dort das Machwerk, das eines Aischylos vollkommen unwürdig zu sein scheint? Mein bescheidenes Ziel in diesem Beitrag ist es, dieser Frage einmal näher nachzugehen. Insbesondere das harsche Negativurteil Martin Wests wirft die ² Latacz () . ³ West () .  passim.

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Frage nach den Kriterien zur Beurteilung dramatischer Qualität auf – oder, um die Frage schon näher auf mein Untersuchungsziel zuzuspitzen: gibt es eine dramatische Ästhetik des Prometheus, die sich benennen und beschreiben ließe und anhand derer die Qualität des Stückes adäquat beurteilt werden kann? West jedenfalls setzt offenbar unausgesprochen eine Ästhetik voraus, die er erstens als ideal und zweitens als aischyleisch empfindet, und vor deren Hintergrund dann Prometheus nur als defizitär und dementsprechend nichtaischyleisch erscheinen kann. Doch was ist das für eine dramatische „aischyleisch-ideale“ Ästhetik, die hier vorausgesetzt ist, und wie verhält sich der Prometheus dazu? Zunächst möchte ich die Ästhetik der aischyleischen Tragödie, wie sie sich in den sechs in ihrer Autorschaft unbestrittenen Stücken darstellt, schlaglichtartig in den Blick nehmen. Um ein praktikables Beschreibungsinstrumentarium zu diesem Zweck zu entwickeln, wähle ich – gleichsam als heuristisch begründeten häufig geübten und (wie ich denke) auch vielfach bewährten Einstieg – die Tragödientheorie des Aristoteles, der man seit Langem nicht nur normative, sondern auch deskriptive Züge bescheinigt hat. Man darf also von Aristoteles’ Methode der Darstellung der Tragödie – bei aller gebotenen Vorsicht und bei entsprechender Behutsamkeit – durchaus auch Hilfen für die Beschreibung konkreter Tragödien des . Jhs. v. Chr. erwarten. Eine solche „Hilfe“ möchte ich also bei Aristoteles in Anspruch nehmen und aus seiner Beschreibung, von der ich zeigen möchte, dass sie durchaus mehrschichtig ist und alternative Konzepte voraussetzt, zwei Modelle entwickeln: eines zur Beschreibung der dramatischen Machart der sonstigen aischyleischen Tragödien, eines zur Beschreibung der dramatischen Machart des Prometheus.  Aristoteles, Poetik Aristoteles definiert die Tragödie bekanntlich im . Kapitel seiner Poetik als „Darstellung einer ernsten und abgeschlossenen Handlung (μίμησις πράξεως) von einer bestimmten Größe, … und zwar … δρώντων: als Darstellung von Handelnden und nicht durch Erzählung …“ (Aristot. Poet.  b –). Unmittelbar nach dieser Definition zählt Aristoteles die sog. sechs qualitativen Teile der Tragödie auf: ὄψις (Inszenierung), μελοποιία (Melodik), λέξις (Sprache), ἦθος (Charakter), διάνοια (Erkenntnisfähigkeit) und schließlich den sog. μῦθος. Diesen definiert er im Rahmen der Tragödie als eine μίμησις πράξεως, eine „Darstellung von Handlung“ als denjenigen Teil, der eben diese Darstellung der Handlung leistet:

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„Es geht um die Darstellung von Handlung, und es wird gehandelt von Handelnden … Die Darstellung der Handlung aber ist der Mythos, denn ich meine hier mit Mythos die Zusammensetzung der Ereignisse (σύνθεσιν τῶν πραγμάτων).“ (Aristot. Poet.  b f.  a –). Damit ist der Mythos als die „Zusammensetzung der Ereignisse“ als der Teil definiert, der den Zweck der Tragödie unmittelbar erfüllt. Deshalb stellt Aristoteles den „Mythos“ als die σύστασις τῶν πραγμάτων unter den sechs qualitativen Teilen auch an die Spitze: „Das wichtigste von diesen aber ist die Zusammensetzung der Ereignisse; denn die Tragödie ist Darstellung nicht von Menschen, sondern von Handlungen und Leben …“ (Aristot. Poet.  a –). Im Folgenden verschärft Aristoteles seine Position noch zusätzlich, indem er ausdrücklich betont, dass für ihn wirklich der Mythos als die „Zusammensetzung der Ereignisse“ – wir würden sagen: die Handlungsstruktur – das Primäre, die Charaktere jedoch eindeutig sekundär sind. Die Tragödie sei nicht Darstellung von Menschen, sondern „folglich handeln sie (die Akteure des Dramas) nicht, um Charaktere darzustellen, sondern um der Handlungen willen schließen sie Charaktere mit ein (liefern sie sie sozusagen automatisch mit). Also sind die Ereignisse und der Mythos (also die Struktur der Handlung) das Ziel (Telos) der Tragödie, das Ziel aber ist das Wichtigste von allem. Ferner könnte ohne Handlung keine Tragödie zustande kommen, ohne Charaktere aber könnte sie das sehr wohl.“ (Aristot. Poet.  a –). Diese aus der Tragödiendefinition abgeleitete These vom Primat der Handlungsstruktur über die Charaktere ist in zweierlei Hinsicht höchst bemerkenswert: Erstens scheint sie der von Aristoteles später in Kapitel  vorgebrachten Lehre vom „mittleren Charakter“ zuwiderzulaufen, der die Wirkungsabsichten der Tragödie allein zu realisieren im Stande sei, nämlich die Identifizierung des Zuschauers mit dem Helden und die daraus resultierende Wirkung von Eleos und Phobos und die Bewerkstelligung von Katharsis (in welchem Sinne auch immer). Zweitens steht die These vom Primat der Handlungskonstruktion auch in einer gewissen (scheinbaren) Spannung zu Aristoteles eigener Handlungstheorie (z. B. in der Nikomachischen Ethik ,  b ff.), nach der die Handlung einer Person auf einer „prohairesis“, einer „Entscheidung“ beruhe, die einerseits ihre Wurzeln in einem voluntativen und einem kognitiven Moment habe, maßgeblich aber im Charakter der entscheidenden und handelnden Person begründet sei. Denn was Menschen im realen Leben tun

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und was damit im realen Leben definitiv passiert, hat laut Aristoteles’ Handlungstheorie seine Wurzel im Charakter der Handelnden, während er in seiner Tragödientheorie in der Beschreibung der Produktion eines (seiner Meinung nach guten) literarischen Kunstwerkes der Handlung die Priorität einräumt und die Charaktere dem Handlungsentwurf untergeordnet sein lässt. Eine gut gemachte Tragödie ist also laut Aristoteles – und das leuchtet prima facie zunächst durchaus ein – eine, deren Handlungsentwurf gut gemacht ist. Denn die Tragödie ist eben eine Darstellung von Handlung, nicht das Leben selbst, deren kontingente Handlungsfolgen eben den auf Charakteren und Entscheidungen fußenden Handlungen der Menschen entspringen. Ein sprechendes Indiz dafür, dass für Aristoteles die Tragödie eben nicht wie das Leben selbst ist, ist seine sich anschließende Polemik gegen Tragödien, die genau das nicht beachten: „Ferner, wenn jemand Reden nacheinander setzt, die den Charakter bzw. Charaktere darstellen (ῥήσεις ἠθικάς), selbst wenn sie in Diktion und gedanklicher Qualität gut gemacht sind, wird er dennoch nicht zustandebringen, was die Aufgabe der Tragödie war, sondern das wird in weit höherem Maße eine Tragödie leisten, die diese Elemente (Diktion und gedankliche Qualität) schlechter verwendet, jedoch einen Mythos, d. h. eine gut konstruierte Handlung hat. Außerdem sind die wichtigsten Elemente, wodurch die Tragödie die Zuschauer (wörtlich: die Seelen der Zuschauer) ergreift, Teile des Mythos, nämlich Peripetien und Wiedererkennungen. … Ein weiteres Indiz ist, dass Anfänger im Dichten eher bei der Diktion und bei den Charakteren treffend und präzise zu dichten in der Lage sind als die Ereignisse zusammenzufügen, wie auch fast alle frühen Dichter. Der Ursprung und gleichsam die Seele der Tragödie ist der Mythos, das zweite sind die Charaktere …“ (Aristot. Poet.  a –). Aristoteles tadelt also Tragödien, die sozusagen von den Charakteren her und nicht von der Handlungskonstruktion her entworfen sind. Ich möchte schon an dieser Stelle auf die Bedeutsamkeit dieser Alternative hinweisen. Sie hilft nicht nur, Aristoteles’ Konzept besser zu verstehen, sondern sie wird – soviel möchte ich hier vorwegnehmen – auch ein gutes methodisches Instrumentarium liefern, jenseits der normativen aristotelischen Ideal-Theorie ganz konkrete historisch gegebene Tragödien zu analysieren und zu beschreiben. Denn ihm scheinen ja – dies zeigt seine Kritik an den Anfängern und den alten Dichtern – konkrete Tragödien vor Augen stehen, die er – aus der Sicht seiner Theorie – schlecht findet, ebenso wie er gelungene Beispiele vor Augen

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hat (allen voran, wie man später erfahren wird, den König Ödipus des Sophokles). Doch wenden wir uns zunächst noch einmal kurz Aristoteles’ Ideal-Theorie zu: Wie bestimmt Aristoteles den Mythos, der in einer guten Tragödie die Priorität haben soll? . Der Mythos soll ein Ganzes bilden (Aristot. Poet. ,  b –). . Der Mythos soll eine Einheit bilden (Aristot. Poet. ,  a –). . Die wichtigste Eigenschaft des Mythos besteht nach Aristoteles jedoch in einer besonderen Qualität seiner inneren Struktur, die er mit der Junktur ἐξ ἀνάγκης ἢ ὡς ἐπὶ τὸ πολύ „nach Notwendigkeit oder meistenteils“ nennt. Dies war schon in der Bestimmung der Ganzheit der Handlung vorgekommen (Aristot. Poet. ,  b ) und hatte dort eine bestimmte Charakterisierung der Abfolge von Ereignissen geleistet. Was mit der so bezeichneten Art der Abfolge bezeichnet ist, lehrt der Abschnitt, in dem zwei prominente Teile des Mythos, Peripetie und Anagnorisis, der Gesamthandlung zugeordnet werden: „Diese (d. h. Peripetie und Anagnorisis) müssen aus der Zusammensetzung des Mythos selbst entstehen, so dass sie sich aus den vorhergehenden Ereignissen entweder nach der Notwendigkeit oder gemäß der Wahrscheinlichkeit ergeben: Denn es macht einen großen Unterschied, ob die Dinge infolge von Ereignissen (διὰ τάδε) oder nach Ereignissen (μετὰ τάδε) eintreten.“ (Aristot. Poet ,  a –). Diese Erläuterung über das Verhältnis von Peripetie und Anagnorisis zu den übrigen Ereignissen des Mythos lässt sich nach den Postulaten () und () leicht auf alle Ereignisse verallgemeinern: Die Zusammensetzung des Mythos muss so gestaltet sein, dass sich jedes Ereignis aus den vorhergehenden „entweder gemäß der Notwendigkeit oder gemäß der Wahrscheinlichkeit“ ergibt, was nach Aristoteles bedeutet: nicht in bloßer zeitlicher Sukzession, sondern in ‚kausaler‘ Verknüpfung. Aristoteles favorisiert also ein Konzept von Tragödie, in dem der Mythos als die Zusammensetzung der Ereignisse (oder wir würden sagen: die Konstruktion der Handlung) den nucleus einer Tragödie bildet. Alle anderen qualitativen Elemente, insbesondere die Charaktere, sind demgegenüber sekundär. Die Alternative zu diesem Konzept, die Aristoteles immer wieder kritisiert, wäre eine Art von Tragödie, die einen oder mehrere Charakter in verschiedenen Formen des Handelns darstellt und aus ihnen dramatisches Potential entwickelt. Ein letztes Beispiel soll diese Möglichkeit illustrieren: „Der Mythos des Stückes ist nicht schon dann – wie einige meinen – ein Einziger (d. h. eine Einheit in dem zuvor definierten Sinne), wenn er sich um

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eine einzige Person (wir könnten auch sagen: Charakter) dreht. Denn diesem einen stoßen unendlich viele Dinge zu, aus denen, da es einige sind, keine Einheit entsteht; so sind auch die Handlungen eines einzelnen viele, ohne dass aus diesen eine einzige Handlung würde.“ (Aristot. Poet.  a –). Es ist evident, dass Aristoteles hier ganz konkrete Stücke vor sich hat, die seinem Postulat, eine Tragödie sei die Darstellung einer einzigen Handlung, nicht genügen.  Aischylos, Orestie Wie steht es nun mit den aristotelischen Modellen überhaupt in der konkreten Theaterpraxis? Ich habe zu zeigen versucht,⁴ dass das aristotelische Konzept der ganzheitlichen, einheitlichen und kausal stringenten Handlungskonstruktion ein hervorragendes heuristisches Instrument liefert, um die Konstruktion der Handlung in der Orestie des Aischylos zu beschreiben und so ein wesentliches Moment der Ästhetik der aischyleischen dramatischen Kunst in der Orestie zu erfassen. Nach näherer Analyse entpuppt sich danach die Orestie gänzlich als ein dramatisches Kunstwerk, dessen Handlungskonstruktion, also dessen Mythos, der aristotelischen Linie folgt: Das gesamte Geschehen ist von Handlungen vorangetrieben, die prinzipiell auseinander folgen. So lässt sich beobachten – um nur das grobe Raster der Handlungskonstruktion hier zu beschreiben – , dass das gesamte Geschehen der Orestie, insbesondere des Agamemnon, explizit unter den Horizont des sog. „Thyestesmahles“ gestellt ist, das seine Ursache in der Verführung der Gattin des Atreus durch seinen Bruder Thyestes hatte, der πρώταρχος ἄτη, dem allerersten Unheil (Ag. ). Dieses Unheil schwebt nun aber nicht einfach über dem Geschehen, sondern ist – wie sich der Parodos des Agamemnon entnehmen lässt – Ursache für den Zorn der Artemis, die Kompensation für die von Atreus, dem Vater Agamemnons, geschlachteten Kinder seines Bruders Thyestes fordert. Die Göttin treibt daher den Atreussohn Agamemnon in Aulis, wo sich die Flotte zur Abfahrt gegen Troia versammelt hatte, mit widrigen Winden in eine Zwangslage und zwingt ihn zur Opferung seiner eigenen Tochter Iphigenie. Dies wiederum ist die Ursache dafür, dass seine Gattin Klytaimestra in seiner Abwesenheit während des Troianischen Krieges auf Rache sinnt. Der Troianische Krieg ⁴ Käppel () passim.

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ist seinerseits in eine Kausalkette eingebunden und mit der Thyestes-Iphigenie-Linie verbunden: Der Raub der Helene ist Ursache für den Troianischen Krieg, der Plan wird durchkreuzt durch Artemis in Aulis, aber dennoch realisiert durch die Opferung Iphigenies. Die Folge des Troianischen Krieges selbst ist einerseits, dass die Griechen bei der Einnahme Troias mit der Brandschatzung von Tempeln und Heiligtümern Schuld auf sich laden. Dies ist die Ursache dafür, dass die Götter bei der Heimfahrt die Flotte zerschlagen, Menelaos auf diese Weise von Agamemnon getrennt wird und dieser am Ende nicht nur seiner Mörderin Klytaimestra in die Arme laufen wird, sondern – weil Menelaos als Rächer seines Bruders nicht verfügbar ist – auch Orestes am Ende zum Muttermörder werden lässt. Der Troianische Krieg lässt auch Agamemnon zum Ehebrecher werden. Auch dies wird zur Ursache für seinen eigenen Tod: Denn Klytaimestra nimmt ihm dies nicht nur übel, was ihre Motivation, ihren Gatten zu ermorden, noch um ein weiteres Moment erhöht, sondern bringt sie auch dazu, sich mit Aigisthos, dem einzigen überlebenden Sohn des Thyestes, zu verbinden, um so mit männlicher Unterstützung Agamemnon ermorden zu können. Dieser wiederum strebt die Verbindung mit Klytaimestra aus keinem anderen Grunde an, als dass er nur über sie an die alte Herrschaft über Argos, die die Thyestes-Linie der Familie an die Atreus-Linie verloren hatte, wiederzuerlangen und obendrein seine Geschwister, die beim Thyestesmahl von Atreus geschlachtet worden waren, am Atreussohn Agamemnon zu rächen. Nachdem sich Klyaimestra und Aigisthos dann einmal zusammengetan haben, stehen sie außerdem zusätzlich unter dem Druck, Agamemnon nun auch tatsächlich zu beseitigen, wenn sie selbst mit heiler Haut davonkommen wollen. Ich übergehe hier die subtilen Nebenlinien der Handlungskonstruktion und verweise auf meine damalige Analyse. Es zeigt sich, dass tatsächlich die Handlungskonstruktion im Agamemnon insofern dem aristotelischen Konzept entspricht, dass jede, aber auch wirklich jede Handlung im Konstrukt des Dramas eine in einer anderen Handlung liegende Ursache besitzt und selbst ihrerseits Ursache einer weiteren Handlung ist, die die eine πρᾶξις des Stückes dem Höhepunkt, der μεταβολή, in diesem Falle: dem Tod Agamemnons, zutreibt.⁵ Aischylos wäre kein großer Dichter, wenn er diese dramatische Ästhetik der lückenlosen Handlungsverknüpfung nicht nach dem Muster der Dialektik von Form und Inhalt zu einer umfassenden Deutung des Geschehens genutzt ⁵ Vgl. Käppel () passim.

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hätte. Denn er präsentiert eine Handlungswirklichkeit als ein geschlossenes, homogenes System von Ereignisfolgen. Dies zeigt sich auf zwei Ebenen: Einer äußeren: Jedes Verbrechen zieht die gerechte Strafe des Täters nach sich. Dies ist inszeniert als Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion. Und einer inneren: Jede Strafe vollzieht sich dabei durch eine Tat, die die Beschaffenheit ihrer kausalen Vorgeschichte in sich trägt. Die Verbrechen wiederholen qualitativ diejenigen, die sie sühnen. Die jeweiligen Wiederholungen sind dabei ganz offensichtlich nicht als sich wiederholende Schandtaten identischer Charaktere zu verstehen, sondern als eine merkwürdige Art der ‚Vererbung‘ einer immanenten Qualität einer Handlung auf eine andere, eben von Aktion und Reaktion, von Ursache und Wirkung. Es ist dabei nochmals zu betonen, dass die Kette der Schandtaten von Atreus über Agamemnon, Klytaimestra bis zu Orest ihre Wiederholung ganz offensichtlich nicht der Identität der sie ausführenden Charaktere verdanken, sondern – wie gesagt – dem lückenlosen Kausalgeflecht sich fortpflanzender Handlungsmuster. Ganz unbeschadet davon ist freilich – und das spricht wiederum für Aischylos als Dramatiker – dass die Charaktere jeweils durchaus passend zu ihren Taten gestaltet sind, ganz nach dem aristotelischen Postulat: „Man muss auch bei den Charakteren – wie bei der Zusammenfügung der Ereignisse – stets auf die Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit bedacht sein, d. h. darauf, dass es notwendig oder wahrscheinlich ist, dass eine derartige Person derartiges sagt oder tut …“ (Aristot. Poet.  a –).  Der Prometheus Desmotes In diesem Stück ‚passiert‘ zunächst einmal sehr viel auf der Bühne. Prometheus wird von Kratos und Bia, den Personifikationen von Macht und Gewalt, herbeigeführt und von Hephaistos im Auftrag des Zeus, der erst vor kurzem seine Herrschaft über die Welt angetreten hat, zur Strafe für den Diebstahl des Feuers und seine Übergabe an die Menschen an einen Felsen geschmiedet (V. –). An diesen Felsen festgeschmiedet, beklagt Prometheus in pathetischem Gestus sein Schicksal (V. –), bis der Chor der Okeaniden mit großem Show-Effekt auf einem geflügelten Wagen herbeirauscht und sich sogleich mit großer Neugier, die schnell in Sympathie umschlägt, Prometheus zuwendet. Dieser berichtet bereitwillig von seinen vergangenen Verdiensten, die Zeus ihm nun als Verbrechen zur Last legt (V. –).

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Dann beruhigt sich das Bühnengeschehen: Es treten zwei Besucher auf: Zunächst Okeanos (V. –), der Prometheus ebenfalls mit großer Sympathie begegnet und seine Vermittlung anbietet: Er könne durch seine Fürsprache versuchen, Zeus zu erweichen, unter der Bedingung freilich, dass Prometheus einlenkt. Da dieser nicht auf das Angebot eingeht, muss Okeanos unverrichteter Dinge wieder abziehen. Im . Stasimon (V. –) beklagt dann der Chor das grausame Regiment des neuen Herrschers Zeus, was ergänzt wird durch Prometheus’ eigene Schilderung seiner Wohltaten für die Menschheit, wie er ihnen die Baukunst, die Astronomie, die Mathematik, die Schrift, die Pferdezähmung, die Schifffahrt, die Medizin, die Wahrsagekunst, den Bergbau – kurz: alle Kulturtechniken – alle τέχναι – beigebracht habe. Der Chor ist abermals entsetzt von Zeus’ Grausamkeit gegenüber einem solchen Wohltäter der Menschheit und singt im . Stasimon von der Hoffnungslosigkeit der Situation unter dem neuen Herrscher der Welt (V. –). Als zweite Besucherin kommt Io vorbei (. Stasimon, V. –), auch sie ein Opfer des tyrannischen Usurpators. In pathetischen Dochmien beklagt sie ihr Leid. Sie, die Tochter des Inachos, wird von Zeus auf leidenschaftlichste Weise begehrt, ist deshalb auf Geheiß seiner eifersüchtigen Gemahlin Hera von einer Bremse in Wahnsinn versetzt worden und wird nun als gehörnte Kuh durch die Welt gejagt, bis hin an diesen einsamen Ort, wo auch das andere Opfer des Zeus, Prometheus, gelandet ist. Nachdem sie ihre Leidensgeschichte kurz berichtet hat, sagt Prometheus ihr ihre zukünftigen Irrwege voraus, bis sie schließlich in der ägyptischen Stadt Kanobos an der Nilmündung von Zeus „berührt“ werde und sie als Produkt dieser Berührung „Epaphos“, den „Berührungsspross“, gebären werde, der der Stammvater der Familie werden wird, aus der auch Danaos (im fünften Glied) hervorgehen wird, dessen Töchter wiederum – wie Io jegliche eheliche Verbindung ablehnend – ihre  ausersehenen Ehemänner, die Aigyptossöhne, in einer Nacht ermorden werden – bis auf eine, Hypermestra, die aus wahrer Liebe zu ihrem Bräutigam (Lynkeus) diesen verschont, sich mit ihm vereinigt und schließlich Abas gebären wird, der zum Stammvater jenes Geschlechts werden wird, aus dem schließlich auch Herakles hervorgehen wird. Dieser Herakles – und damit knüpft Prometheus Ios Schicksal schließlich an sein eigenes – wird Prometheus dereinst in der Zukunft – so weiß es Prometheus – befreien. Io wird daraufhin erneut von Wahnsinn ergriffen und stürzt davon. Der Chor (. Stasimon, V. –) will sich Ios Beispiel eine Lehre sein lassen und wird die Ehe mit einer hochgestellten Persönlichkeit, mit Zeus, unter allen Umständen für sich zu vermeiden suchen.

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Im . Epeisodion (V. –) konzentrieren sich Prometheus’ Zukunftsvisionen ganz auf seine eigene Zukunft: So wie er offenbar weiß, dass Herakles ihn irgendwann von seinem Felsen befreien wird, so weiß er auch, dass Zeus durch die neue Eheverbindung, die er anstrebt, nämlich die mit Thetis, laut einem Orakel, das offenbar nur Prometheus kennt, stürzen werde, und zwar so wie auch Uranos und Kronos, seine Vorgänger, jeweils durch ihre Söhne gestürzt seien: denn für Thetis war ja – wie wir aus der mythologischen Tradition wissen – geweissagt worden, dass ihr Sohn stärker werden würde als der Vater, der ihn gezeugt hat. Zeus kennt dieses Orakel nicht, hat aber anscheinend irgendwie davon gehört, dass Prometheus Probleme mit seiner bevorstehenden Ehe mit Thetis voraussehe. Er schickt daher Hermes, um dieses Geheimnis dem widerspenstigen Prometheus zu entlocken. Doch vergebens: Trotzig weist Prometheus die Forderung, das Geheimnis preiszugeben, zurück. Dies führt zu einer Steigerung der Strafe. Prometheus wird für lange Zeit in den Tartaros gestürzt, später dann soll ein Adler seine Leber fressen, und das Ganze soll erst dann ein Ende für ihn haben, wenn ein Gott bereit ist, an seiner Stelle im Tartaros Prometheus’ Leiden zu übernehmen. Theatralisch wie das Stück begonnen hat, endet es auch: Unter großem Gedonner fährt Prometheus samt dem Chor, der solidarisch zu ihm hält, hinab in den Tartaros. Moderne Interpreten, die sich nicht nur mit der Echtheitsfrage, sondern auch mit der Deutung des Stückes selbst beschäftigt haben, sehen im Prometheus Desmotes – zu Recht – die Inszenierung eines großen Konfliktes, nämlich den zwischen Geist und Macht (so z. B. Latacz) oder – etwas weniger prometheusfreundlich – zwischen Sophistik und Tyrannei (so z. B. Suzanne Saïd). Doch so sehr diese und andere Interpreten den großen Entwurf des Dichters loben, so sehr sprechen sie ihm dann doch in diesem Stück „dramatische Kunst“ im eigentlichen Sinne ab. Latacz z. B. spricht davon, dass „kaum äußere Dramatik vorhanden, dafür aber eine starke innere Dramatik am Werk“ (S. ) sei. Er belässt es – wie (soweit ich sehe) alle bisherigen Interpreten – bei diesem allgemeinen Eindruck und vertraut darauf, dass das bombastische Aufeinanderprallen zweier gleichsam kosmischer Prinzipien schon allein Dramatik impliziere. Explizitere Kritik formuliert Alan Sommerstein: “For Aristotle … a tragedy had to consist of a single complete action … whose components were linked together by ‘probable or inevitable’ connections. Prometheus Bound might well seem to fall down badly on both criteria … many of the events … are not part of Prometheus’ punishment (das Sommerstein als die πρᾶξις des Stückes auffasst) and have little or no causal connection with each other … the play has an obvious central character, who

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does nothing … his words … have no effect … He tells Io her future, but it makes no difference to Io’s movements …” usw.⁶ Gleichwohl stellt auch er zwischen Anfang und Ende des Stückes eine Veränderung fest: Am Anfang sei Prometheus ein hilfloses Opfer, am Ende sei – trotz der abermaligen Bestrafung des Prometheus – eher Zeus in der Defensive, da über ihm jenes unheilvolle Geheimnis schwebe, das seine Herrschaft gefährde. Wie diese Veränderung sich vollzieht, sagt allerdings auch Sommerstein nicht, d. h. auch er stellt eine irgendwie besondere, d. h. von Aristoteles’ Poetik nicht gedeckte, Dramatik fest, ohne sie näher zu charakterisieren. Wie sieht sie also aus, diese Dramatik des Prometheus? Es ist in der Tat richtig, dass ein Handlungskonstrukt, in dem eine Handlung aus einer anderen Handlung sich ergibt – wie es sich auch im Fall der Orestie so trefflich rekonstruieren ließ – nicht vorliegt. Benennen wir kurz die elementaren Handlungselemente, die – wohlgemerkt – nicht das Bühnengeschehen, sondern den Mythos im aristotelischen Sinne als die ‚Seele‘ des Dramas ausmachen: Die Grundsituation ist die, dass Zeus nach dem Kampf mit den Titanen als Sieger dasteht und neuer Herrscher über die Welt ist. Dies wird immer wieder betont (V. , V.  usw.). Er plant die Vernichtung der Menschheit und Schaffung eines neuen Geschlechts (V. ff. berichtet Prometheus davon). Prometheus rettet die Menschen vor dem Untergang (V. f.), wodurch, erfährt der Zuschauer nicht. Außerdem stiehlt Prometheus das Feuer und gibt es den Menschen, wie es immer wieder von verschiedenen Seiten im Stück heißt (V. f. ff. ff. . ). Beides zusammen führt zu der Bestrafung und Fesselung, mit der die Bühnenhandlung einsetzt (V. ff. ist der Feuerdiebstahl als Grund der Fesselung genannt, V.  nennt Prometheus seine Errettung der Menschen als Grund). Bemerkenswert schon an dieser Vorgeschichte ist, dass weder Zeus’ Plan, die Menschen zu vernichten, noch Prometheus’ Hilfe in irgendeiner Weise aus einer vorhergehenden Handlung folgen. Die Frage, weshalb Zeus etwas gegen die Menschen hat und weshalb Prometheus ihnen hilft, bleibt auf der pragmatischen Handlungsebene unbeantwortet. Erst die Fesselung als Folge von Prometheus’ Handlungen lässt sich dann im Sinne des aristotelischen διὰ τάδε als σύστασις zweier πράγματα interpretieren, obwohl bemerkenswert ist, dass sogar in diesem scheinbar klaren Fall die Ursache für die Fesselung mit der Rückführung auf zwei vorhergehende Handlungen verunschärft wird. Solche Zweideutigkeiten in der kausalen Verknüpfung der Handlungen wären sicher ⁶ Sommerstein () f.

Bemerkungen zum (ps.-)aischyleischen Prometheus Desmotes

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nicht im Sinne des Aristoteles. Es ist auffällig, dass der Autor gleichsam eine Zerdehnung der kausalen Vorgeschichte eines zentralen Ereignisses des Stückes vornimmt. Dies ist ganz offensichtlich Absicht, denn der Autor hätte es ja bei der einen Ursache, dem Feuerraub, ohne große Not belassen können. Ich sammle weitere Beobachtungen. Die erste Konfrontation zwischen zwei dramatis personae auf der Bühne ist die zwischen Okeanos und Prometheus (V. –). Diese Szene ist nun – wie schon vielfach beobachtet wurde – keineswegs darauf angelegt, Handlung anzustoßen oder gar zu realisieren, sondern konstatiert geradezu Handlungsstillstand. Okeanos will zwar aus einer gewissen Sympathie für Prometheus und erklärter Antipathie gegen den jungen tyrannischen Usurpator Prometheus helfen, aber sein Hilfsangebot, bei Zeus ein gutes Wort einzulegen, scheitert an seiner Prämisse, Prometheus müsse dafür freilich zunächst seine Widerspenstigkeit gegen das neue Regime aufgeben. Okeanos kann nur mit dem Vorwurf mangelnder Kompromissbereitschaft mit den Herrschenden unverrichteter Dinge wieder abziehen. Es scheint mir evident, dass hier nicht ein missratener Versuch des Autors vorliegt, dramatische Handlung in Gang zu bringen, sondern der pragmatische Sinn der Szene ja handgreiflich gerade das Scheitern der Aufnahme einer Handlungslinie ist. Zusätzlich signifikant ist dann das unmittelbar sich anschließende Lied des Chores der Okeaniden. Nach Okeanos’ Vorwurf, Prometheus sei zu starrsinnig gegenüber der Übermacht des Zeus, singt der Chor gleich darauf im . Stasimon: „Denn voll Missgunst herrscht Zeus hier nach eigenen Gesetzen; und voll Hochmut zeigt er den alten Göttern den Speer der Gewalt. Überall schon erschallt von Gestöhn die Erde; um die großmächtige ehrwürdige Ehre stöhnt man, sowohl um deine als auch um die deiner Blutsverwandten …“ (V. –). Der Chor klagt hier also nicht über die Unbeugsamkeit des Prometheus, was nach der vorangegangenen Szene nahegelegen hatte, sondern über die Grausamkeit der Willkürherrschaft des Zeus. Spätestens nach diesen gut  Versen muss dem Zuschauer klar sein, dass in diesem Stück nicht Handlung in herkömmlichem oder sagen wir besser: aristotelischem Sinne konstruiert werden soll, sondern offenbar zunächst einmal Atmosphäre geschaffen und eine Konstellation aufgebaut werden soll: hier Prometheus – dort Zeus. Sowohl szenische Handlung als auch expositorische Informationen dienen dabei ganz offensichtlich nicht der Handlungskonstruktion, sondern – so meine These für dieses Stück – zunächst einmal der Charakterisierung der

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Charaktere. Wenn man das Stück daraufhin einmal durchschaut, so fällt auf, dass die Charaktere jeweils mit großer Eindringlichkeit auf ganz wenige klare Charakterzüge hin stilisiert werden, und das leitmotivisch sowohl begrifflich als auch durch Präsentation bestimmter Verhaltensmuster, die auf die begrifflich genannten Charakterzüge verweisen. Für Prometheus sind dies vor allem drei Charakterzüge: Der erste ist seine φιλανθρωπία. Schon gleich im Prolog in V.  wirft Kratos ihm seinen φιλάνθρωπος τρόπος, ein menschenfreundliches Wesen, vor, und in V.  bescheinigt ihm Hephaistos τοιαῦτ᾽ ἐπηύρου τοῦ φιλανθρώπου τρόπου „dies brachte dir dein menschenfreundliches Wesen ein.“ Und in der Tat wird dieses menschenfreundliche Wesen dann sukzessive im Drama mit Inhalt gefüllt: Prometheus rettet die Menschen vor dem Untergang (V. f.), bringt das Feuer (V. f. etc.), lehrt die Kulturtechniken (V. f. –), usw. Eine zweite Eigenschaft, die mit einem leitmotivischen Begriff belegt ist, ist die αὐθαδία. Viermal wird Prometheus von verschiedenen Personen und implizit einmal von sich selbst in den verschiedenen Situationen direkt oder indirekt αὐθαδία, Eigensinn, bescheinigt (V. . . . . ). Auch dies passt zu seinem Verhalten während des gesamten Stückes: von der Okeanosszene, in der er jeden Kompromiss ablehnt, bis hin zum Schluss, wo er auch Hermes gegenüber unkooperativ bleibt. Eine dritte Eigenschaft ist die, die in seinem Namen liegt: Er ist προμήθης „vorbedacht“. Dies zielt nicht allein auf seine intellektuelle Brillanz und seine Kompetenzen als Erfinder der Kulturtechniken und Fürsorge der Menschen, sondern auch und gerade auf seine Kompetenz, die Zukunft vorherzusehen. Kratos gibt dies zum Abschluss der Fesselungsszene in tragischer Ironie doppelsinnig zu Protokoll: V.  „mit falschem Namen nennen dich die Götter Prometheus. Denn jetzt brauchst du selbst Voraussicht, auf welche Weise du dich aus dieser kunstfertigen Fesselung entwindest.“ Kratos meint hier vordergründig einen „klugen Trick“ zur Entfesselung, nicht, dass es Prometheus’ Zukunftswissen sein wird, das ihn am Ende befreien wird (tragische Ironie). Dieses „Zukunftswissen“ hat der Autor dem Prometheus durch eine geschickte Veränderung der mythologischen Tradition, wie sie insbesondere durch Hesiod repräsentiert ist, verschafft. Denn anders als in der Theogonie ist Prometheus nicht Sohn der Okeanide Klymene (wie in der Theogonie V. f.), sondern Sohn der Themis, die als identisch mit Gaia bzw. Ge betrachtet wird (V. , f. und ). Mit dieser Veränderung ergeben sich für die Gestalt des Prometheus folgende Konsequenzen: Prometheus ist nicht mehr auf der gleichen genealogischen Stufe wie Zeus (bzw. sogar eine Stufe unter ihm als

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Neffe), sondern in die Kronos–Generation hochgerückt. Er wird damit zum alten Gott gegenüber dem jüngeren Zeus. Vor allem aber gelangt er als Sohn der Orakelgöttin Ge bzw. Themis in den Besitz seherischer Fähigkeiten und damit an das Wissen um die Gefahr, die für Zeus von einer Verbindung mit Thetis ausgeht. Auch diese Eigenschaft wird Prometheus dann im Folgenden in Verhalten umsetzen. Nicht anders steht es mit der Figur des Zeus. Er erscheint zwar nicht als dramatis persona auf der Bühne, ist aber ohne Zweifel der zweite „Charakter“ des Stückes, und immerhin ist er ja durch seine Schergen Kratos und Bia einerseits und Hermes andererseits auch szenisch präsent. Auch Zeus wird – bei näherem Hinsehen – nicht als Figur eines Handlungszusammenhangs eingeführt, sondern (wie Prometheus) vornehmlich als Charakter etabliert. Für ihn werden folgende Charakterzüge leitmotivisch konstatiert: . Er ist ein τύραννος. Die Begriffe τυραννίς und τύραννος für Zeus’ Regiment (auch für das seiner Vorgänger Uranos und Kronos) tauchen im Stück (von verschieden Seiten geäußert) allein  mal auf, und es ist ganz eindeutig, dass dies hier eine extrem negative Konnotation hat (V. . . . . . . ; . . . . . ). Dies zeigt sich schon ganz zu Beginn: Kratos und Bia repräsentieren unverhohlen die tyrannische, d. h. grausame, kompromisslose, machtfixierte Herrschaft des Zeus. Die alten Gesetze gelten nicht mehr: ἀθέτως κρατύνει „er herrscht ohne Satzung“, er herrscht νεοχμοῖς νόμοις „nach neuen Gesetzen“ (V. ), und das Gesetz ist er selbst: es herrscht nackte Gewalt. . Eine zweite Facette von Zeus’ tyrannischem Wesen liegt darin, dass er sich rücksichtslos nimmt, was er will, und das gilt insbesondere für Frauen. Wir erfahren, wie übel und rücksichtslos er Io aus allen familiären Bindungen herausbrechen lässt: V. ff. berichtet Io, dass er sie zunächst mit schmeichelnden Traumbildern zu verführen sucht, und als das Mädchen zurückhaltend bleibt und die Träume durch den Vater deuten lässt, wird Zeus’ vorgebliche Liebe in ihrem ganzen Wesen offenbart: Aus dem Haus solle der Vater seine Tochter treiben, andernfalls werde Zeus ihn und seinen ganzen Stamm vernichten. Der Vater fügt sich, treibt das Mädchen aus dem Haus, so dass sie nun wahnsinnig als Kuh umherirrt. Und auch dann lässt Zeus noch nicht ab: bis nach Ägypten wird er Io verfolgen, bis er ans Ziel seiner Wünsche gelangt. Parallel – und schon darin zeigt sich sein schrankenloser Appetit auf Frauen – ist nun damit zu rechnen, dass sein Auge auch noch auf andere Kandidatinnen fällt. Dass Thetis, wie Prometheus im V.  und  nur notdürftig verschleiert gegenüber Io zu

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erkennen gibt, die Frau ist, die Zeus zur Gefahr werden kann, da ihr prophezeit ist, dass ihr Sohn den Vater stürzen wird, wird dann zum zentralen Moment im Verhältnis zwischen Prometheus und Zeus. . Ein dritter Charakterzug des Zeus, der wiederum mit einem konkreten Begriff belegt ist, ist nun höchst überraschend. Es ist nämlich der Begriff der αὐθαδία. V.  ist er auf ihn selbst angewandt, V.  und  auf seine Schergen bzw. auf von ihm verhängte Maßnahmen. Dass diese Eigenschaft auch in seinem Verhalten virulent ist, zeigt sich in vielerlei Hinsicht, besonders am Ende, wo selbst seine Furcht vor den Konsequenzen des Geheimnisses ihn nicht von seiner harten Linie gegenüber Prometheus abbringt. Bemerkenswert ist dieser Charakterzug der αὐθαδία für Zeus nun insofern, als auch für Prometheus ja eben dieser Charakterzug benannt und szenisch präsentiert worden war, und es gehört nicht große Spekulationswut des Interpreten dazu, dass gerade dieser Charakterzug vom Autor in beiden Charakteren bewusst angelegt wurde. Denn ohne diese αὐθαδία auf Seiten beider Konfliktpartner wäre das Stück schnell zu Ende. Ich fasse meine Analyse des Stückes zusammen. Eine Rekonstruktion einer Handlungsstruktur im aristotelischen Sinn scheitert beim Einstieg in das Stück schon im Ansatz. Statt dessen lässt sich ein planvoll entfaltetes Charakterisierungssystem beobachten, das zunächst einmal gar keine Handlung in Gang setzen, sondern in einer doppelten Strategie der direkten (via Begriffsapparat) und indirekten (via Verhaltensmuster) Charakterisierung eine Konstellation aufbauen soll, und zwar die im Schema (s. u.) dargestellte. Versucht man von diesem Startpunkt aus die Ereignisse des Stückes in einen Zusammenhang zu bringen, dann zeigt sich sehr schnell, dass das, was wir Handlung nennen würden, sich nicht als sich selbst tragendes Handlungskonstrukt aus sich heraus entfaltet, sondern sich weitgehend gleichsam als Ausfaltung jener Charakterkonstellation darstellt, die der Autor so langatmig und minutiös aufgebaut hat:  Prometheus verhilft Zeus zum Sieg im Titanenkampf mit seiner Seherkunst, doch der zeigt sich undankbar.  Zeus will die Menschen vernichten, weil er grausam ist.  Prometheus hilft ihnen, weil er menschenfreundlich ist. Deshalb lässt Zeus ihn an den Felsen schmieden. Doch erst jetzt beginnen die beiden Seiten erst richtig miteinander zu reagieren, und ihre jeweiligen Charakterprofile sind gleichsam die Chemikalien, die die Reaktionen verursachen. Denn Prometheus entdeckt so langsam, dass seine seherische Gabe ein Trumpf im Ärmel gegen Zeus ist. Zunächst

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klingt das Motiv einer Freilassung nur sachte an: So sagt Hephaistos (V. ): „Der dich erlösen wird, der ist noch nicht geboren“ und meint damit, sozusagen als façon de parler, dass Prometheus lange, wenn nicht für immer, gefesselt bleiben wird. Doch schon in V. ff. lässt Prometheus anklingen, dass Zeus ihn noch brauchen wird, und dass er dies als Druckmittel benutzen wird, seine Freilassung zu erzwingen: „Fürwahr, er wird mich noch brauchen, auch wenn ich von starken Fesseln geschändet bin, der Herrscher der Glückseligen, um zu zeigen den neuen Anschlag, von wem er des Szepters und des Amtes beraubt wird. Und weder mit dem Zaubergesang honigzungiger Überredung wird er mich betören noch werde ich mich vor seinen harten Drohungen ducken: ich werde es ihm nicht verkünden, ehe er mich aus den grausamen Fesseln löst und Buße für die schändliche Behandlung zu zahlen bereit ist.“ (V. –). Prometheus ist sich ganz sicher, dass Zeus tatsächlich nachgeben wird, wie er schon V. ff. sagt: „Doch ich glaube, dass er nachgiebig in seinem Sinn werden wird, wenn er zu scheitern droht …“. Man wartet also auf Zeus’ Reaktion. Doch es passiert gar nichts – über Hunderte von Versen. Und so drängt sich allmählich in die Raisonnements des Prometheus, dass es wohl sehr lange dauern wird, bis Zeus ihn freilässt. V. ff. steigt dann langsam der Gedanke auf, dass Prometheus weiß, dass er nach der Bestimmung des Schicksals irgendwann definitiv befreit werden wird. Doch auch weiterhin kommt keine Reaktion von Zeus. Im Folgenden wird nun deutlich, dass Prometheus’ Wissen offenbar nur Teilwissen ist. Er weiß, dass Zeus sich anschicken wird, Thetis zu heiraten (V. ). Er weiß, dass der Sohn der Thetis stärker als sein Vater werden wird (V. ). Er weiß ferner, dass ein Nachkomme Ios, nämlich Herakles, ihn befreien wird (V. –, später noch einmal V. ff.). Doch mit diesen drei Informationen ist Prometheus’ Wissen offenbar erschöpft. Denn Prometheus kann von diesem Punkt an die Zukunft nur kombinatorisch erschließen. Er tut dies – klug wie er ist – in ausgesprochen intelligenter Weise. Sein Wissen erlaubt nämlich zwei mögliche Ausgänge: Entweder erlangt er seine Freiheit dadurch, dass Zeus sie ihm gibt, um das Geheimnis zu erfahren. Genau dies waren seine anfänglichen Vermutungen. Je weiter jedoch das Stück voranschreitet, sieht sich Prometheus in dieser Erwartung offenbar enttäuscht und vertraut zunehmend auf die andere mögliche Variante, nämlich, dass Zeus in sein Unglück läuft, stürzt, und so niemand mehr da ist, der seine Freilassung verhindern wird. Der Gedanke entwickelt sich V. ff.: „Fürwahr, Zeus wird noch erniedrigt werden, obwohl er ein αὐθάδης ist. Denn er macht sich zur

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Ehe bereit … und – so geht es sinngemäß weiter – nur ich kann ihm helfen …“ Schon V.  ist die Spekulation Gewissheit: Da sagt Prometheus zum Chor, „Ich schere mich um Zeus weniger als um nichts. Mag er nur handeln und herrschen über diese kurze Zeit, wie er will. Denn lange wird er nicht über die Götter herrschen.“ Auch V. ff. sieht Prometheus Zeus definitiv stürzen: „Habe ich nicht schon zwei Herrscher stürzen sehen? Vom dritten, der jetzt herrscht, sehe ich auch den Fall, ganz schändlich, und auch rasch.“ Wie kann er das sehen, fragt sich der Zuschauer, der doch weiß, dass genau dies nicht der Fall sein wird. Erst diese geistige Bewegung von der einen Möglichkeit zur anderen gibt Prometheus die Sicherheit, die er braucht, um Zeus bis ans Ende zu widerstehen. Er wähnt sich schlicht in einer taktisch stärkeren Position. Das Stück lässt das Problem, wie es zu einem Ausgleich zwischen beiden kommen wird, offen. Klar ist, dass Prometheus’ Vermutung, dass die Freilassung über den sicheren Sturz des Zeus im Falle seines Schweigens erfolgt, falsch ist. Die Lösung kann erst, ja muss ein nächstes Stück in einer Trilogie gebracht haben. Das Ende des Schemas dokumentiert nur unser Unwissen über den Fortgang. Die überlieferten Fragmente helfen hier nicht weiter.⁷  Ergebnis Die Handlung des gefesselten Prometheus hat sich nach eingehender Analyse nicht als ein schlecht gemachtes Handlungsdrama im aristotelischen Sinne erwiesen, sondern folgt offenbar ganz anderen ästhetischen Prinzipien. Mein Vorschlag geht dahin, dass das ästhetische Prinzip eines ist, das der Charakterkonstruktion den Vorrang vor der Handlungskonstruktion einräumt, mit allen daraus für das Verhältnis der Handlungen zueinander erwachsenden Konsequenzen: Diese sind nicht – wie von Aristoteles gefordert und z. B. von Aischylos in der Orestie meisterhaft verwirklicht – aufeinander bezogen, sondern alles Handeln, Planen, Sprechen, kurz: das gesamte Handlungsgeschehen ordnet sich nach einer vorab gegebenen Charakterdisposition und -konstellation. Man könnte geradezu – frei nach Aristoteles – statt von einer μίμησις πράξεως von einer μίμησις ἠθῶν sprechen. Dass solch ein Drama statischer wirkt als ein aristotelisch konstruiertes, verwundert nicht. Doch sollten wir es darum tadeln? ⁷ Das Wesentliche fasst Griffith in seinem Kommentar () S. – zusammen.

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Die Gretchenfrage, also die nach der Autorschaft, lässt sich – so fürchte ich – auch mit diesem einen Kriterium nicht schlagend beantworten. Doch es fügt sich gut in den Katalog der Eigenschaften, die den Prometheus von den anderen unter Aischylos’ Namen überlieferten Stücken unterscheidet. Ein weiteres Indiz für ‚Unechtheit‘ also. Und doch vielleicht das erste, das die ästhetische Qualität des Prometheus Desmotes nach dessen eigenen Maßstäben zu würdigen erlaubt.

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Das nebenstehende Schema soll die Konstruktionsweise des Prometheus Desmotes verdeutlichen: Die Ereignisfolge (in der Mitte des Schemas in den gerahmten Kästen) ist in ihrem Nacheinander nicht im Sinne der aristotelischen „Konstruktion der Handlung“ als auseinander folgender Handlungsverlauf verstehbar, sie sind also nicht kausal miteinander verknüpft, sondern der ‚Grund‘ für jedes wesentliche Einzelereignis der Gesamthandlung liegt in jeweils einem Charakterzug der beiden Hauptkontrahenten. Die Kausallinien gehen daher allesamt auf die Charaktere P (= Prometheus) und Z (= Zeus) zurück, jeweils mit den einschlägigen Eigenschafen: P(), P(), etc., Z() etc. Diese Linien laufen sozusagen ‚neben‘ der Handlung her und stoßen sie immer von Neuem von außen an. Die Handlung selbst hat nicht die Qualität, sich aus sich selbst heraus zu entwickeln.



Bemerkungen zum (ps.-)aischyleischen Prometheus Desmotes

SCHEMA zur Konstruktion der Handlung des (ps-)aischyleischen Prometheus Desmotes: Prometheus (1) προμήθης (2) φιλάνθρωπος (3) αὐθάδης

P(1)

Zeus (1) τύραννος (1α) Begierden befriedigend (1β) grausam herrschend (2) αὐθάδης

Titanenkampf Titanen Zeus läuft über P(1)

unterstützt T. und wird abgewiesen

Sieg des Zeus

Vernichtung der Menschen geplant

Z(1β)

P(2) Erhaltung der Menschen zusätzlich:

P(2)

Feuerdiebstahl, Künste, Hoffnung

1. Bestrafung =Fesselung

Z(1β)

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Lutz Käppel

P(1)

Erpressungsversuch (Wenn Z. Fesseln löst, dann Preisgabe des Orakels) Z(2) Z. bleibt hart

P(3) P. bleibt hart (Wenn Geheimnis gewahrt, wird Zeus heiraten und stürzen und Herakles wird P befreien)

Z(2) 2. Bestrafung = Versenkung in den Tartaros

Z(1α) Verführung Ios

Geburt des Herakles Z(1α) Z. plant Heirat mit Thetis

??? P. gibt Geheimnis preis ???

??? Z. gibt Thetis auf ???

??? Z. gestattet Befreiung des P. ???

Befreiung des P. durch Herakles Stiftung des Prometheus-Kultes in Athen

Bemerkungen zum (ps.-)aischyleischen Prometheus Desmotes

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 Literatur Texte: Aeschyli Tragoediae cum incerti poetae Prometheo, ed. M. L. West (). Aeschylus I: Persians, Seven against Thebes, Suppliants, Prometheus Bound, ed. and transl. by A. H. Sommerstein, Loeb Class. Library  (). Aristotelis De arte poetica liber, rec. R. Kassel ().

Kommentare: Aeschylus’ Prometheus nebst den Bruchstücken des ΠΡΟΜΗΘΕΥΣ ΛΥΟΜΕΝΟΣ, für den Schulgebrauch erkl. v. N. Wecklein (. Aufl. ). Aeschylus’ Prometheus, met inleiding, critische noten en commentaar, uitg. d. P. Groeneboom (). Aischylos, Prometheia, hg. v. H. J. Mette (). D. J. Conacher, Aeschylus’ Prometheus Bound. A Literary Commentary (). Aeschlyus, Prometheus Bound, ed. with introd., commentary and appendices by M. Griffith (). Aeschlyus, Prometheus Bound, ed. with an introd., transl. and commentary by A. J. Podlecki (). Aristoteles, Poetik, übers. und erl. von A. Schmitt ().

Sekundärliteratur: R. Bees, Zur Datierung des Prometheus Desmotes, Beiträge zur Altertumskunde  (). J. Bollack, Prometheus Bound: drama and enactment, in: D. L. Cairns and V. Liapis, Dionysalexandros: Essays in Honour of A. F. Garvie () –. M. Griffith, Aeschylus, Sicily and Prometheus, in: Dionysiaca. Nine studies … presented to D. Page on his th birthday () –. M. Griffith, The Authenticity of Prometheus Bound (), Rez.: C. J. Herington, AJP  () –. C. J. Herington, The Author of the Prometheus Bound (). L. Käppel, Die Konstruktion der Handlung in der Orestie des Aischylos, Zetemata  (). W. Kraus, Die Aspekte des Geschehens im «Prometheus» des Aischylos, in: W. K., Aus Einem Alles. Studien zur antiken Geistesgeschichte () – (WSt. N. F.  [] –). J. Latacz, Einführung in die griechische Tragödie (). E. Lefèvre, Studien zu den Quellen und zum Verständnis des Prometheus Desmotes (). A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen (. Aufl. ) –. M. P. Pattoni, L’autenticità del Prometeo di Eschilo ().

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Lutz Käppel

S. Saïd, Sophiste et tyran ou le problème du Prométhée enchaîné (). A. Sommerstein, Aeschylean Tragedy (nd ed. ). W. Schmid, Untersuchungen zum gefesselten Prometheus, Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft  (). R. Unterberger, Der gefesselte Prometheus des Aischylos, Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft  (). M. L. West, The Prometheus Trilogy, JHS  () –. M. L. West, Studies in Aeschylus () –. –. G. Zuntz, ΑΙΣΧΥΛΟΥ ΠΡΟΜΗΘΕΥΣ, Hermes  () f.

Carl Werner Müller

Die Ilias-Zitate im platonischen Hippias

Eine Beobachtung

Der älteste Dialog Platons, mit dem Namen des Sophisten Hippias als Titel,¹ nimmt nicht nur seinen Ausgang von Homer,² homerische Personen stehen auch über die längste Strecke des Gesprächs zwischen Hippias und Sokrates im Zentrum der Diskussion. Achilleus, so die These des Hippias, steht für den aufrichtigen, gradlinig ehrlichen Charakter (ἄριστος, ἁπλούστατος καὶ ἀληθέστατος), Odysseus für den trickreich gewandten und wendigsten (πολυτροπώτατος, ψευδής) unter den homerischen Helden. Sokrates stellt diese Zuordnung zur Disposition: Achilleus erscheint ihm moralisch nicht weniger zwiespältig als Odysseus, und am Ende dieses Gesprächsgangs hat sich seine Bewertung sogar ins direkte Gegenteil verkehrt: Nicht Achilleus, sondern Odysseus sei der bessere von beiden.³ Dem Protest des Hippias begegnet Sokrates mit dem dialektischen Vorbehalt einer Relativierung des Ergebnisses durch eine ausführliche Analyse seiner eigenen Unwissenheit, die – fragend und irrend – mal zu diesem und mal zu jenem Ergebnis komme.⁴ ¹ Die Dialoge Hippias (II) und Ion verbindet die Gemeinsamkeit ihrer Kürze ( S. /  S. Oxford). Beide sind die ältesten erhaltenen Schriften Platons. Nach ihnen ist vermutlich der Laches der früheste unter den platonischen Dialogen (zum Laches vgl. B. Manuwald, Platon. Protagoras. Übersetzung und Kommentar, Göttingen , ). Die verbreitete Ansicht, der Ion sei gegenüber dem Hippias (II) der ältere von beiden, steht auf schwachen Füßen. Während es Gründe gibt, den Ion in den Anfang des ersten Jahrzehnts des . Jhs. zu datieren (vgl. die Anspielung auf den Strategen Herakleides von Kyzikos, Verfasser: Kleine Schriften, Stuttgart–Leipzig , f.; zuerst RhM , , f.), scheint der Hippias (II) offen zu sein für eine Entstehung noch zu Lebzeiten des Sokrates. Soweit teile ich die Meinung von E. Heitsch in seiner Abhandlung Dialoge Platons vor  v. Chr.?, in: NAWG  (). ² Hipp. [] a–c. ³ Hipp. [] e. ⁴ Hipp. [] a–c.



Carl Werner Müller

Sowohl Hippias als auch Sokrates berufen sich zur Begründung ihrer gegensätzlichen Beurteilung jeweils auf mehrzeilige Stellen des homerischen Textes. Dabei zitiert Hippias aus der Ilias eine Passage des neunten Buches, Sokrates eine Serie von Stellen des neunten und des ersten Buches.⁵ I. Im neunten Buch der Ilias antwortet Achilleus, der sich gekränkt in seine Lagerhütte zurückgezogen hat und sich der weiteren Teilnahme am Kampf gegen die Trojaner versagt, auf die Rede des Odysseus, der zusammen mit Aias und Phoinix, dem Erzieher des Achilleus, als Gesandtschaft des griechischen Heeres gekommen ist, um Achilleus ein Versöhnungsangebot zu machen, wie folgt (V. –, ohne V. ): Διογενὲς Λαρετιάδη, πολυμήχαν’ Οδυσσεῦ, χρὴ μὲν δὴ τὸν μῦθον ἀπηλεγέως ἀποειπεῖν, ὥσπερ δὴ κρανέω τε καὶ ὡς τελέεσθαι ὀίω; ἐχθρὸς γάρ μοι κεῖνος ὁμῶς Αΐδαο πύλησιν, ὅ χ’ ἕτερον μὲν κεύθῃ ἐνὶ φρεσίν, ἄλλο δὲ εἴπῃ. αὐτὰρ ἐγὼν ἐρέω, ὡς καὶ τετελεσμένον ἔσται. Zeusentsprossener Sohn des Laertes, listenreicher Odysseus, man soll seine Rede unverhohlen vortragen, wie ich es vollführen werde und zu vollenden gedenke. Denn verhasst ist mir jener gleich den Toren des Hades, der anderes in seinem Sinn verbirgt, und anderes ausspricht. Ich aber will sprechen, wie es auch vollendet werden wird.

Der Text zeigt in V.  und  erhebliche Abweichungen vom Homer des Aristarch, deren Zustandekommen der Klärung bedarf. Da der alexandrinische Homer im wesentlichen der attische Homer ist,⁶ ist eine externe Herkunft auszuschließen. Ilias , : ᾗ περ δὴ φρονέω τε καὶ ὡς τετελεσμένον ἔσται, ⁵ Hippias zitiert Il. , – (ohne V. ), Sokrates Il. , –; , f., –, –. – Die Zitate sind die ältesten umfänglicheren Homerzitate der griechischen Literatur, die uns erhalten sind. – Literatur: J. Labarbe, L’Homère de Platon, Paris ; G. Lohse, Untersuchungen über Homerzitate bei Platon, Diss. Hamburg  (maschinenschr.). ⁶ Verfasser, Griechische Büchersammlungen und Bibliotheken vom sechsten Jahrhundert v. Chr. bis in hellenistische Zeit, in: Nachlese. Kleine Schriften , Berlin–New York , ff. [E. Blumenthal – W. Schmitz (Hrsg.), Bibliotheken im Altertum, Wiesbaden , ff.]

Die Ilias-Zitate im platonischen Hippias



, : αὐτὰρ ἐγὼν ἐρέω, ὥς μοι δοκεῖ εἶναι ἄριστα. Gehen die Abweichungen von diesem Text auf Platon zurück und was davon war ihm vorgegeben und was entstand unabsichtlich und was, kontextbedingt, mit Absicht? Vor dem Versuch einer Klärung dieser Fragen seien die gleichen Fragen an den fehlenden V. ,  gerichtet: ὡς μή μοι τρύζητε παρήμενοι ἄλλοθεν ἄλλος („dass ihr nicht, mich beschwatzend, da herumsitzt, der eine von hier und der andere von dort.“). Dass die Auslassung auf Platon zurückgeht, ist evident. Dass es unbeabsichtigt geschah, ist zwar nicht vollkommen auszuschließen, aber auch nicht eben wahrscheinlich. Jedenfalls gestattet der Sachverhalt eine vom Autor gewollte und der Intention des Sprechers (Hippias) zugeordnete Erklärung. Der ausgelassene Vers ist ein Grobianismus, eine Kränkung nicht nur des Odysseus, sondern auch des von Achilleus geschätzten Aias und des geliebten Phoinix. Die Worte, mit denen die dreiköpfige Gesandtschaft abgekanzelt wird, sind in höchster Erregung gesprochen. Wir haben es mit einem Achilleus zu tun, der sich selbst vergessen hat. Dass Hippias den Vers übergeht, ist nur konsequent und angesichts seines verklärten Achilleusbildes eigentlich unvermeidbar. Sokrates wird an späterer Stelle und in anderem Zusammenhang Hippias, dem Meister der Mnemotechnik, ironisch Vergesslichkeit unterstellen (a). Auch der fehlende Iliasvers ,  ist handgreiflicher Ausdruck solcher ,Vergesslichkeit‘. Nun zu den abweichenden Lesarten in V. ,  und . ὥσπερ und ᾗπερ sind austauschbare Varianten. κρανέω (anstelle von φρονέω, Aristarch) dürfte eine alte Varia lectio sein und auf den attischen Homer zurückgehen.⁷ Platon verbindet es mit einer Änderung des . Hemistichs von V. . Auf das energisch konstatierende κρανέω folgt jetzt ein abschwächendes ‚für möglich halten‘ („ich denke es zu vollenden“, καὶ ὡς τελέεσθαι ὀίω). Der ursprüngliche Text (καὶ ὡς τετελεσμένον ἔσται) aber gerät zur Formelvariante, die in V.  wiederholt wird und das originäre ὥς μοι δοκεῖ εἶναι ἄριστα verdrängt. Platon führt einen rezitierenden Hippias vor, der mit dem Homertext überraschend frei verfährt. Seine ausgeschaltete „Erinnerungstechnik“, wie es Sokrates an späterer Stelle ironisch nennen wird (a), überspringt den V. , um Achilleus in einem weniger aggressiven Licht erscheinen zu lassen. Und auch die Eigenwilligkeiten des Textes in V.  und V.  intendieren eine gemilderte Darstellung Achills gegenüber dem homerischen Original. ⁷ Während sich die älteren Ausgaben (wie Dindorf, Cauer, van Leeuwen – Mendes da Costa, Ludwich, Monro, Allen) mehrheitlich für φρονέω entscheiden, folgen die jüngsten Ausgaben von van Thiel () und West () Platons Futur κρανέω (so schon Leaf , Mazon ).



Carl Werner Müller

II. Nachdem Sokrates im dialektischen Fortgang des Gesprächs zu diesem Ergebnis gekommen ist, beginnt sein Neueinsatz mit einer Rückblende auf die Iliasverse, mit denen Achilleus seine Antwortrede an Odysseus eröffnet und die Hippias zuvor zitiert hatte. Damit gerät der Dialog zum Rezitationsagon ,Sokrates gegen Hippias‘. Wie beim Rapsodenagon der Panathenäen schließt Sokrates an den Ilias-Text des Vorgängers an. Wie zuvor beschränke ich mich im Folgenden ausschließlich auf den Umgang des Rezitierenden mit dem homerischen Text (e–c). Das von dir Gemeinte, sagt Sokrates, „scheint mir widersprüchlich zu sein, sofern du Recht hast, weil Odysseus, der verschlagene, offensichtlich niemals lügt, Achilleus aber nach deinen eigenen Worten offensichtlich ein Verschlagener ist; jedenfalls lügt er. Denn nachdem er zuvor folgende Verse gesprochen hat, die auch du eben zitiert hast (Il. , f.): Denn verhasst ist mir jener gleich den Toren des Hades, der anderes in seinem Sinn verbirgt, und anderes ausspricht, sagt er wenig später, dass er sich weder von Odysseus und Agamemnon umstimmen lasse noch überhaupt in Troja bleibe, sondern (Il. , –): wenn ich morgen Zeus ein Opfer gebracht – sagt er – und allen Göttern, und die Schiffe trefflich beladen habe, nachdem ich sie zu Wasser gelassen, wirst du, wenn du willst und wenn dir daran liegt, ganz in der Frühe auf dem fischreichen Hellespont in Fahrt sehen meine Schiffe, darauf aber eifrig rudernde Männer. Wenn aber der ruhmreiche Erderschütterer mir gute Fahrt schenken sollte, dann möchte ich wohl am dritten Tag das schollenreiche Phthia erreichen. Noch früher als an dieser Stelle sprach er scheltend zu Agamemnon (Il. , –): Nun werde ich nach Phthia gehen, da es wirklich viel besser⁸ ist, nach Hause zu gehen mitsamt den geschnäbelten Schiffen, und ich glaube nicht, dass du, solange mir hier keine Wertschätzung zuteil wird, Reichtum in Fülle wirst abschöpfen. ⁸ besser : λώϊον Platon : φέρτερον Homer.

Die Ilias-Zitate im platonischen Hippias

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Obschon er dies damals angesichts des ganzen Heeres gesagt hatte, jenes aber zu den eigenen Gefährten,⁹ trifft er offensichtlich keinerlei Vorbereitungen, noch schickt er sich an, die Schiffe zu Wasser zu lassen, um nach Hause zu fahren, sondern kümmert sich in höchst vornehmer Weise keinen Deut darum, die Wahrheit zu sagen.“

Sokrates besteht darauf, dass Achilleus sich in den zitierten Versen als Lügner und Intrigant erweise, weil das Gesagte nicht seiner wirklichen Absicht entspreche, mache er doch im Folgenden keinerlei Anstalten, seine Androhungen in die Tat umzusetzen. In der Darstellung Homers zeige er sich durchtriebener und hinterhältiger als Odysseus, der alles so meine, wie er es sage. Schon in seiner Antwort an Aias rede Achilleus anders als zuvor zu Odysseus (Il. , –): Denn nicht eher werde ich mich um den Krieg kümmern, den blutigen, ehe der Sohn des verständigen Priamos, der göttliche Hektor, zu den Zelten und Schiffen der Myrmidonen gelangt ist und die Argiver tötet und niederbrennt¹⁰ mit Feuer die Schiffe. Dass aber bei meinem Zelt und dunklen Schiff er¹¹ – Hektor – , wenn er auch noch so sehr in Fahrt ist, vom Kampf ablässt, das denke ich schon.

Der platonische Sokrates ist gegenüber dem Weisheitslehrer und Alleskönner Hippias, der dank seiner Mnemotechnik Anspruch auf Wissensautarkie erhebt, nicht nur der bessere Dialektiker, sondern, aufgewachsen mit den städtischen Homerrezitationen, verfügt Sokrates auch souveräner und authentischer über seinen Homertext als der Sophist aus Elis. Platon demonstriert die Überlegenheit des Atheners durch den quantitativen Unterschied der sechs Iliasverse des Hippias mit ihren Autoschediasmen und Textmanipulationen und der dreimal so großen homerischen Verszahl des Sokrates, von denen sechs dem Weisheitslehrer auf Anhieb nicht einfallen wollen, so dass Sokrates seine Kurzfassung durch ein wörtliches Zitat ergänzen muss (b). An früherer Stelle schon hatte er ironisch gefragt, ob Hippias vielleicht seine Mnemotechnik ausgeschaltet habe, da er sie offensichtlich nicht zu brauchen meine ⁹ Das erste bezieht sich auf das Zitat aus dem . Buch der Ilias, das zweite auf Aias, Odysseus und Phoinix, die Gesandtschaft des . Buches. ¹⁰ niederbrennen : κατά τε φλέξαι Platon : κατά τε σμῦξαι Ilias. ¹¹ μιν (ihn) Platon : τοι (fürwahr) Ilias.

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Carl Werner Müller

(νυνὶ γὰρ ἴσως οὐ χρῇ τῷ μνημονικῷ τεχνήματι – δῆλον γὰρ ὅτι οὐκ οἴει δεῖν – κτλ., a). Im Unterschied zu Hippias zitiert Sokrates die vier Iliasstellen, nach der Absicht des Autors, textgetreu. Die drei Abweichungen von der Homerüberlieferung (λώϊον statt φέρτερον, φλέξαι statt σμῦξαι, μιν statt τοι) betreffen zwei Synonyma und ein Pronomen (anstelle einer Partikel) und gehen zu Lasten Platons oder der Platonüberlieferung. Der Sokrates des Hippias-Dialogs steht in Sachen ‚Homer‘ für Authentizität versus Oberflächlichkeit. In der Politeia wird der platonische Sokrates den Dichter mit großem Bedauern aus seinem Idealstaatsentwurf verbannen. Er kennt seinen Homer.

Arbogast Schmitt

Aristoteles über die Entstehung der Gattungsunterschiede in der Dichtung In mehreren grundsätzlichen und grundlegenden Untersuchungen¹ hat Ernst-Richard Schwinge die Bedeutung der historischen Entwicklung der griechischen Dichtung vom homerischen Epos bis zur alexandrinischen Dichtung für die Entstehung und den Begriff literarischer Gattungen behandelt und dabei auch die Gattungstheorien von der Aufklärung bis in die Gegenwart miteinbezogen. Er konnte überzeugend belegen, dass die Hauptunterscheidung der literarischen Gattungen in epische, lyrische und dramatische Dichtung, die die Goethezeit neu begründet hat und die trotz der Relativierung durch das historistische Denken bis in die gegenwärtige Literaturwissenschaft relevant geblieben ist, einen tatsächlichen Anhaltspunkt in der Geschichte der griechischen Dichtung hat. In der philosophischen wie philologischen Diskussion um die Unterscheidung dieser Gattungen spielt Aristoteles eine eher marginale Rolle. Von Friedrich Schlegel bis in die Gegenwart wurde seine Behandlung der Gattungsdifferenzen nicht selten kritisiert, teils weil sie zu sehr formalen Gesichtspunkten folge, teils weil sie wichtige Unterschiede, etwa zwischen Epos und Tragödie nivelliere,² ja von Grund auf missverstehe. Für die Lyrik gibt es, wie es scheint, ¹ S. v. a. Ernst-Richard Schwinge, Griechische Poesie und die Lehre von der Gattungstrinität in der Moderne, Zur gattungstheoretischen Problematik antiker Literatur, in: ders., „Uralte Gegenwart“. Studien zu Antikerezeptionen in Deutschland, Freiburg/Berlin/Wien , – (= Antike und Abendland , , –); Anmerkungen zu Goethes Gattungstheorie, ebda. – (= Deutsche Vierteljahrsschrift f. Literaturwiss. u. Geistesgeschichte , , –); Aristoteles und die Gattungsdifferenz von Epos und Drama, Poetica , , –; Homerische Epen und Erzählforschung, in: J. Latacz (Hg.), Zweihundert Jahre HomerForschung, Stuttgart/Leipzig  (Colloquium Rauricum ), –. ² Dieses negative Urteil gibt es nicht nur in der Tradition von Klassik und Romantik (s. Friedrich Schlegel, Studien des Klassischen Altertums, eingel. und hg. v. E. Behler, Paderborn, München, Zürich , v. a. – = Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe Bd. ), es hält sich bis in die neueste Forschung. S. z. B. Michael Scheffel, Theorien der Epik, in: Rüdiger Zymner (Hg.), Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart/Weimar , : „Die Form des Epos selbst … wird in … der Poetik des Aristoteles auf der Basis einer gemeinsamen

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Arbogast Schmitt

gar keinen Platz in seinem Gattungssystem, auf jeden Fall enthält die Poetik keine gleiche Behandlung der Lyrik, wie sie sie für das Epos, die Tragödie und die Komödie bietet. Im Folgenden möchte ich zunächst zusammenstellen, was die kleine Schrift der Poetik über die Unterschiede unter den verschiedenen Gattungen aussagt, was die Gründe der Entstehung der Differenzen sind und worin der Sache nach der Unterschied unter den Gattungen liegt. Danach soll in einem zweiten Teil der Versuch gemacht werden, den Beitrag, den Aristoteles zu einer Theorie der literarischen Gattungen liefern kann, etwas genauer zu bestimmen. Als Ergebnis kann man festhalten, dass auch Aristoteles das, was wir mit den Gattungsbegriffen Epos, Lyrik, Drama bzw. mit den zu diesen Gattungen gehörenden Merkmalen episch, lyrisch, dramatisch bezeichnen, zu kennen scheint, dass diese Unterschiede für ihn aber nicht die Besonderheit von drei (Grund-)Gattungen der Dichtung ausmachen, sondern Einteilungskriterien auf zu unterscheidenden Ebenen sind: „Episch“ bezeichnet eine Kombination aus einem bestimmten Gegenstand in einer bestimmten Darstellungsweise und in einem bestimmten Medium, „episch“ ist also Bezeichnung einer Gattung. „Dramatisch“ ist lediglich die Bezeichnung des Darstellungsmodus einer Dichtung, „lyrisch“ bezeichnet überhaupt keine einzelne Dichtungsgattung, sondern ist charakteristisch für Dichtung überhaupt.  Die Behandlung der Gattungsdifferenzen im Wortlaut der Poetik Die Beschreibung der unterschiedlichen Gattungsmerkmale Aristoteles kündigt gleich im ersten Satz der Poetik eine Behandlung der Gattungsdifferenzen an: An die Feststellung, er wolle untersuchen, was die Dichtung zu einer poiētik´ē 〈téchnē〉, d. h. überhaupt zu einer Kunst mache, schließt er die Frage nach ihren eídē, ihren Arten, an und gibt auch gleich einen wichtigen Hinweis, wo der Unterschied gesucht werden müsse: Es sei zu fragen, welche dýnamis, welches Vermögen, welche Potenz, eine jede Art habe (a–).³ Eigenschaft mit dem Drama bestimmt und von diesem nur diesem nur recht oberflächlich unterschieden.“ ³ Ich zitiere die Poetik nach der Ausgabe: Aristotelis De arte poetica liber, rec. Rudolphus Kassel, Oxford . Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe von Immanuel Bekker, Aristotelis opera, Berlin ff.; a bedeutet a, usf.

Aristoteles über die Entstehung der Gattungsunterschiede

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Auf diesen Aspekt werden wir später zurückkommen müssen, er macht immerhin bereits darauf aufmerksam, dass die Differenzierung der Dichtungsarten bei Aristoteles keinem gattungslogischen Schema folgt. Er bildet keine übergeordnete Zusammenfassung von Gegenstandsbereichen, wie man etwa in der Biologie Tiger, Löwe, Luchs den Katzen zuordnet. Seine Einteilung geht zuletzt auf Grundmöglichkeiten menschlicher Aktivität zurück, aus denen er diejenigen aussondert, durch deren „Potenzen“ der Mensch zu künstlerischer und schließlich auch literarischer Tätigkeit in verschiedener Weise fähig ist. Festhalten kann man an dieser Stelle schon, dass es Aristoteles offenbar nicht nur um einen formalen Unterschied gehen kann. Mit einem formalen Unterscheidungskriterium aber beginnt er die Untersuchung, die, wie er sagt, mit der allgemeinsten Bestimmung beginnen müsse (a–). Dichtung sei wie alle Künste eine Art der Nachahmung und daher durch drei Merkmale bestimmt. In jeder Kunst werde () in etwas Verschiedenem () etwas (davon) Verschiedenes () auf eine verschiedene und nicht immer gleiche Weise nachgeahmt (a–). Nachahmung wird hier rein formal bestimmt. Ausgangspunkt ist nicht eine Überzeugung, dass alle (gute) Kunst sich an eine vorgegebene Wirklichkeit halten solle, dass sie die Natur nachahmen solle, die Ordnung der Dinge, wie sie wirklich ist und nicht in willkürlicher Zusammensetzung,⁴ oder Ähnliches. Ausgangspunkt ist vielmehr die Beachtung des medialen Charakters jeder Kunst: . Jedes Kunstwerk stellt etwas in etwas, d. h. in einem Medium dar, in Farbe und Form, in Tönen, durch Gebärde oder Tanzbewegungen oder durch die Sprache, usw. (a–b). Sokrates auf dem Bild oder die Erynien (Furien) im Text eines Dramas sind nicht Sokrates oder die Erynien selbst, sie haben nur die Präsenz, die das Medium möglich macht: Sokrates auf dem Bild ist nur in Farbe und Form gegenwärtig, die Erynien in der Sprache des Dichters, in der Inszenierung auf der Bühne, usw. . Gegenstand eines Kunstwerks ist freilich nicht das Medium und seine mögliche Formung, sondern etwas vom Medium Verschiedenes. Über die Art dieses Verschiedenen, d. h. des Gegenstands selbst, macht diese formale Analyse keine Aussage. Er kann, wie Aristoteles mehrfach in der Poetik ⁴ Diese vorgeblich aristotelische Forderung ist an die Neuzeit – aus hellenistischen Vorgaben – vor allem durch Horaz überliefert. S. Verf., Aristoteles, Poetik, in: Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon, hg. v. Christiane Walde (Der Neue Pauly, Supplemente Band ), Stuttgart/Weimar , Sp. –, hier: –.

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Arbogast Schmitt

sagt (b–; b–; a–b), erfunden oder der Wirklichkeit entnommen sein, für die Frage, ob er ein poetischer Gegenstand ist, spielt diese Herkunft – aus der schöpferischen Erfindungsgabe des Künstlers oder aus der Wirklichkeit – keine Rolle. Die genauere Bestimmung des Gegenstands bringt erst die ausführliche Auseinandersetzung mit dem spezifisch Poetischen, das Aristoteles in der Poetik schrittweise genauer entfaltet.⁵ Das Hauptergebnis ist: Ob etwas ein poetischer Gegenstand ist, hängt (nicht von dem Unterschied zwischen einer nachgeahmten oder einer erfundenen Wirklichkeit, sondern) von einer besonderen Zugangsweise zur Welt ab: Es ist der mýthos, die durchkomponierte Handlung,⁶ der das Poetische an einer Darstellung ausmacht. Denn der handelnde Mensch betrachtet die Welt unter dem Gesichtspunkt, wie er sie als gut und lustvoll oder ungut und unlustvoll empfindet. Die Organisation seines Tuns und Sprechens unter diesem Gesichtspunkt führt zu einer Ordnung seines Handelns und der Art, des Stils, in der es durchgeführt wird. Dieses konturierte Handeln ist, wenn es dargestellt wird, Dichtung. Das soll im Teil II genauer betrachtet werden. . Wenn man einen Gegenstand in einem Medium re-präsentieren will, muss man dies auf eine bestimmte Weise tun, die in diesem Medium möglich ist. Bei der Malerei etwa kann man den Akzent auf die genaue Umrisszeichnung der Gestalt legen und sich auf eine Ausführung in Schwarz und Weiß beschränken, man kann auch die Farbe ins Zentrum stellen (b–) oder man kann beide Verfahrensweisen verbinden. Auch bei der Dichtung denkt Aristoteles an die Art und Weise, wie im Medium der Sprache ein Gegenstand Präsenz bekommen kann: indirekt durch (symbolische) Beschreibung, d. h. narrativ, oder direkt durch eine Selbstpräsentation der Handelnden, d. h. dramatisch, oder in einer Mischform aus beidem, bei der allerdings der narrative Charakter erhalten bleibt. D. h., der Erzähler ist es, der, wie Aristoteles formuliert, sich zuweilen in eine seiner Figuren verwandelt (a–).

⁵ S. Aristoteles, Poetik, über. und erl. von Arbogast Schmitt, Berlin ² (im Folgenden zitiert als: Verf., Poetik), –; –; –. ⁶ Diesen „technischen“ Mythosbegriff, der von dem in der Neuzeit vor allem rezipierten hellenistischen Mythosbegriff klar verschieden ist, muss man bei aller Behandlung der Poetik festhalten. mýthos heißt: sýstasis oder sýnthesis tōn pragmátōn, systematische, funktionale Anordnung der Handlungsteile zu einer einheitlichen Handlung. S. Teil II.

Aristoteles über die Entstehung der Gattungsunterschiede

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Aus dieser formalen Analyse eines Nachahmungsvollzugs gewinnt Aristoteles also drei Kriterien der Unterscheidung, die die Künste gegeneinander abgrenzen, die zugleich aber auch innerhalb der einzelnen Kunstformen konstitutiv für die Gattungsunterschiede sind. Für die Dichtung führt Aristoteles diese Differenzierung in den ersten drei Kapiteln durch: Kapitel  befasst sich mit dem Medium der Dichtung, Kapitel  mit ihren Gegenständen, Kapitel  mit dem „Wie“ der Nachahmung (af.). Zu . Bei der Bestimmung des Mediums der Dichtung stellt Aristoteles fest, dass sowohl die gebundene wie die ungebundene Sprache als Medium fungieren könne, rechnet zum medialen Teil der Dichtung aber auch das, was wir der Form zurechnen würden. Auch die Formung des Mediums „Sprache“ durch die Ordnung zeitlicher Verhältnisse (Rhythmus), durch die Ordnung von Tonverhältnissen (Harmonie) und durch die Sprachgestaltung (Lexis) gehören zum Medium (a–b). Diese Zuordnung dessen, was wir heute „Form“ nennen, zum medialen Teil der Dichtung hat für das Verständnis von Dichtung, wie es Aristoteles entwickelt, eine zentrale Bedeutung. Denn er erklärt es für ein populäres Missverständnis, Dichtung von der Form her verstehen zu wollen. Der Sophist Gorgias z. B. hatte die Dichtung insgesamt als Sprache in metrischer Formung definiert.⁷ Aristoteles sagt: So denken die Leute, sie meinen, ein Epos sei, was in Hexametern, eine Elegie, was in Distichen geschrieben ist, und bezeichnen deshalb auch eine medizinische oder naturwissenschaftliche Schrift, wenn sie nur metrisch geformt ist, als Dichtung. Homer und Empedokles hätten aber nichts gemeinsam außer dem Versmaß. In Wahrheit sei nur Homer ein Dichter, Empedokles ein „Physiologe“ (b–). Aristoteles bewegt sich mit dieser Kritik an einem formalistischen Dichtungsbegriff in den schon von Platon gelegten Bahnen, wenn auch in einer etwas milderen Form. Platon hatte am Ende der Politeia Versmaß, Rhythmus und Harmonie eine bloße Einfärbung der Worte genannt, durch die beliebige Inhalte, ob nun vom Schusterhandwerk oder von der Feldherrnkunst die Rede sei, allein durch den Zauber der Sprache großartig und schön erschienen, nehme man diesen Schmuck

⁷ S. Gorgias, Helena §  in: Thomas Buchheim, Gorgias. Reden, Fragmente und Testimonien. Griechisch und Deutsch, Hamburg .

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Arbogast Schmitt

weg, sähen sie aus wie Menschen, deren Jugendblüte vorbei sei (Politeia a–b). Bereits bei Platon darf man aus derartigen Äußerungen nicht den Schluss ziehen, die äußere Form sei ihm gleichgültig, oder sogar etwas, das man grundsätzlich ablehnen müsse. Wie eine signifikante Passage aus dem Phaidros belegt, ist es die Isolierung der Form, die Meinung, es gebe allgemeine Formgesetze und Regeln, die man nur erlernen und beherrschen müsse, um etwas zur Kunst zu machen, die er ablehnt. Solche erlernbaren Fähigkeiten nennt er dort „ta pro tēs téchnēs“, das, was der eigentlich künstlerischen Aufgabenstellung vorhergeht, was man beherrschen muss, was aber von sich aus noch nicht zur Produktion von Kunst befähigt. Diese Kunstmittel (techn´ēmata) sind Vorkenntnisse, über die man verfügen kann, ohne von der Kunst selbst auch nur das Geringste zu verstehen (Phaidros a–c). Nicht diese Kunstmittel, erst ihre sýstasis, ihre Komposition so, dass sie zueinander und zum Ganzen passen, mache aus den Einzelverfahren Kunst (d). Die Zuordnung der Form zum Medium betont also den instrumentalen Charakter der Form. Sie dient (mit ihren sich wiederholenden, relativ invarianten Mitteln) dazu, einen bestimmten Inhalt zum Ausdruck zu bringen, d. h. sie gehört zum Medium. Die jeweils konkrete Ausgestaltung der Form kommt aus dem Inhalt, seiner Struktur und der ihm gemäßen Ausdrucksweise.⁸ Dass Aristoteles in seiner Kritik an einem rein formalen Dichtungsverständnis Platon und dessen Abgrenzung gegen zeitgenössische Theorien und traditionelle Auffassungen von Dichtung folgt, geht vor allem daraus hervor, dass auch er die ‚Sýstasis tōn pragmátōn‘, die Handlungskomposition, für die entscheidende Leistung hält, durch die Dichtung überhaupt erst zur Kunst wird. Dieser Aspekt führt allerdings schon

⁸ Eine bestimmte Form bekommt die Eindeutigkeit ihrer Aussage erst vom Inhalt. So wird der Anapäst in der griechischen Tragödie etwa als Metrum für den Einzug des Chors benutzt. Er drückt dann das Marschartige des Gehens der Choreuten aus. Die Tragiker benutzen den Anapäst aber auch in emotional erregten Szenen, in denen er nicht dazu dient, dem Gespräch einen Marschcharakter zu unterlegen, er dient ganz im Gegenteil dem Ausdruck der Erregtheit des Gesprächs. Diese Funktion der Form wird nur vom jeweiligen Inhalt her verstehbar. S. Verf., Poetik f.

Aristoteles über die Entstehung der Gattungsunterschiede

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zu dem zweiten Kriterium, an dem Aristoteles die Unterscheidung der Dichtungsarten beurteilt, zum Gegenstand der Dichtung. Zu . Ohne Begründung, aber wieder in Übereinstimmung mit Platon, der auch seinerseits keine Begründung für nötig hält (Politeia c), geht Aristoteles davon aus, dass der Gegenstand dichterischer Mimesis handelnde Menschen sind (a–).⁹ Menschen unterscheiden sich, so fährt er fort, dadurch, dass sie spoudaíoi (vortrefflich; tauglich; gut; was ist, wie es sein soll; bedeutend) oder phaúloi (schlecht; einfach; was nicht ist, wie es sein soll; unbedeutend; leichtsinnig) sind. Spoudaíos ist ein Zentralbegriff der Aristotelischen Ethik.¹⁰ Es bezeichnet die beste Form der Bildung, zu der ein Mensch seine Fähigkeiten vervollkommnen kann. Aristoteles kann sogar Organen oder Dingen das Prädikat spoudaíos zusprechen. Ein Auge etwa ist dann spoudaíos, wenn es sein Vermögen zu sehen, optimal ausführen kann. Phaúlos ist der Gegenbegriff dazu. Da für Aristoteles ein Charakter nur dann ein Charakter ist, wenn er gut ist, d. h. wenn seine verschiedenen Haltungen so zusammenstimmen, dass sie für einen festen Zustand, den Zustand einer Ordnung der Lüste, sorgen, ist die innere Form, die innere Ordnung eines Menschen Voraussetzung dafür, dass jemand einen Charakter hat. Einen schlechten Charakter haben, heißt dementsprechend: keinen oder einen vernachlässigten Charakter haben und ist mit einem Mangel an innerer Form verbunden.¹¹ Aus dem Unterschied zwischen geformten und weniger oder gar nicht geformten Charakteren ergibt sich der Hauptunterschied auch unter den Arten der Dichtung: Sie sind verschieden dadurch, dass sie Verschiedenes nachahmen (af.): Ähnlich wie in der Malerei können auch die handelnden Personen als Gegenstand der Dichtung besser, schlechter oder genauso wie wir sein (a–). Für die Abgrenzung der Dichtungsarten gegeneinander bilden diese Unterschiede für Aristoteles das wichtigste Kriterium, sie sind allerdings nicht allein konstitutiv für eine Art oder Gattung. Denn ⁹ Die Begründung ergibt sich aus dem Handlungsbegriff des Aristoteles S. unten Teil II. ¹⁰ S. Verf., Poetik –; immer noch wichtig: E. Schütrumpf, Die Bedeutung des Wortes „ethos“ in der Poetik des Aristoteles, München , –; s. auch G. F. Held, Aristotle’s Teleological Theory of Tragedy and Epic, Heidelberg , –; E. Belfiore, Tragic Pleasures. Aristotle on Plot and Emotion, Princeton (N. J.) . ¹¹ S. Verf., Poetik, –.

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Arbogast Schmitt

bessere Menschen haben das Epos und die Tragödie gemeinsam als Gegenstand, auch in lyrischen Dichtungen wie in Dithyramben oder Nomen (Lieder auf Götter, v. a. auf Apollon) können sie zum Gegenstand genommen sein. Diese Dichtungsarten unterscheiden sich aber von Komödien, Parodien und Ähnlichem (Aristoteles dürfte vor allem jambische Dichtungen, d. h. Invektiven, Spott- und Schimpfgedichte gemeint haben), deren Gegenstand Menschen mit weniger durchgebildeten Charakteren sind. Zu . Ein drittes Unterscheidungsmerkmal, das nötig ist, damit die Dichtungsarten vollständig bestimmt und gegeneinander abgegrenzt werden können, ist nach Aristoteles das „Wie“ der Nachahmung. Da Nachahmen im Sinn von Kapitel  heißt: Etwas in etwas wiedergeben, geht es bei diesem Merkmal also um die Frage, wie ein bestimmter Gegenstand in einem bestimmten Medium präsent gemacht wird. Bei der Dichtung ist das Medium die Sprache, genauer: der Sprechakt des Autors, durch den er seinen Gegenstand nachahmt, das heißt, ihn als ihn selbst in etwas anderem so darstellt, dass die Gleichheit oder Ähnlichkeit des medialen Gegenstands mit dem Gegenstand, wie er als er selbst ist, deutlich ist. Aristoteles denkt dabei, wie schon das erste Kapitel gezeigt hat, nicht an das „Wie“ der sprachlichen Gestaltung, auch nicht ob man in Bildern und Metaphern spricht, ob man etwas ausführlich oder in prägnanter Kürze beschreibt, usw., sondern an einen Grundunterschied möglicher Vergegenwärtigung in der Sprache: a) man kann die Differenz zwischen Medium und Gegenstand in der sprachlichen Darstellung ausdrücklich machen, indem man von jemandem berichtet, d. h. deutlich macht, dass man als Sprecher oder Schreiber nur mit dem Mittel der Sprache symbolisch auf ihn verweist, b) man kann aber diese Differenz auch aufzuheben versuchen, das heißt den Eindruck erwecken, dass gar nicht der Autor, sondern der Handelnde selbst in seiner Sprache gegenwärtig sei, c) man kann als Erzähler auch beide Nachahmungsformen mischen. Platon, von dem Aristoteles auch dieses Unterscheidungskriterium übernommen hat, exemplifiziert den Unterschied an der Anfangspartie der Ilias. Zuerst spreche Homer selbst und berichte von Chryses, dass er seine Tochter zurück haben wolle, dann aber lasse er Chryses sprechen und versuche, beim Hörer (oder Leser) den Eindruck zu erwecken, es sei gar nicht er, der Dichter, der gerade spreche, sondern Chryses selbst. Im ersten Fall sei der Dichter selbst ständig präsent und möchte auch als Erzähler vom Hörer oder Leser wahrgenommen werden, der zweite Fall

Aristoteles über die Entstehung der Gattungsunterschiede



ist dagegen eine Art Steigerung des Eindrucks der Gleichheit zwischen dem nachgeahmten Gegenstand, dem Priester, und seiner Präsenz im Medium der Sprache: Es scheint, als sei er selbst gegenwärtig. Nur diesen letzten Fall nennt Platon an dieser Stelle „Nachahmung“ (mímesis) (Politeia e–d). Es zeugt von dem großzügigen Umgang mit der Sprache, dass Aristoteles ihm auch in diesem Sprachgebrauch im dritten Kapitel der Poetik folgt. Er bezeichnet dort die handelnden Personen, die im Drama selbst agieren und tätig sind, als „die Nachahmenden“ (af.), obwohl er noch im ersten Satz von drei Arten der Nachahmung gesprochen hatte (a–), von denen die dramatische Nachahmung nur eine Unterart ist. Wie oft in ähnlichen Fällen hat Aristoteles allerdings guten Grund, trotz einer scheinbaren Ungenauigkeit in der Formulierung mit dem richtigen Verständnis seiner Leser zu rechnen. Denn es bleibt ein wichtiger Unterschied zwischen der „dramatischen“ Darstellungsweise eines Erzählers und der direkten Selbstdarstellung in Tragödie und Komödie. Aristoteles formuliert in diesem Punkt beinahe umständlich genau, dass Homer, der die Darstellungsweise mische, teils als er selbst erzähle, teils so, als sei er ein anderer geworden (a–). Er bleibt als Erzähler also immer präsent, auch wenn er wie ein anderer spricht. Das unterscheidet diese Darstellungsweise grundlegend von Tragödie und Komödie, in denen die Handelnden nur sich selbst darstellen, ohne jede Vermittlung durch einen Erzähler.¹² In dieser Darstellungsweise hat der Erzähler daher keine auswählende, ordnende, kommentierende und insgesamt leitende Funktion mehr, der Zuschauer oder Leser ist immer unmittelbar mit den jeweils handelnden und redenden Personen konfrontiert, und er ist direkt mit dem in ihrem Handeln präsenten oder erstrebten Gefühlen konfrontiert, er sieht sie also tatsächlich, wie Aristoteles sagt, als „Nachahmende“, wenn denn Nachahmung meint, dass ¹² Es ist deshalb nicht nötig, streng zwischen der Zweiteilung bei Aristoteles und der Dreiteilung bei Platon zu differenzieren. Auch Platon benutzt die dramatische Erzählweise Homers als Beispiel für eine davon unabhängige rein mimetisch dramatische Darstellungsweise. Es gibt innerhalb des Epos zwei Möglichkeiten, die rein narrative und die gemischt narrative, dazu kommt die rein dramatische in Tragödie und Komödie. Richtig ist aber, dass Platon und Aristoteles das Narrative untergliedern, beides vom Dramatischen unterscheiden und nicht drei gleichwertige Darstellungsmodi festlegen. Auch aus diesem Grund kann die Dreigliederung der Darstellungmodi nicht als Vorbild für die moderne Gattungstrias Epos, Lyrik, Drama dienen. S. das Folgende.



Arbogast Schmitt

jemand nicht über sich spricht, sondern seine inneren Akte im Äußeren unmittelbar nachvollzieht. Für Platon geht mit dem Eindruck einer direkten Präsenz des Gegenstands im Medium eine stärkere emotionale Wirkung einher.¹³ Mit dieser Auffassung setzt sich Aristoteles im . Kapitel der Poetik auseinander.¹⁴ Bei der anfänglichen Bestimmung der Dichtungsarten weist er nur auf die Besonderheit der Präsenz des Gegenstands in der dramatischen Dichtung hin, ohne sie zu bewerten. Das dritte Kapitel liefert also drei Unterscheidungskriterien, die für die Art- oder Gattungsbildung relevant sind: Man kann im Medium der Sprache nur berichten – für diese rein narrative Darstellungsform gibt Aristoteles kein Beispiel, Platon hatte auf eine lyrische Gattung, die Dithyramben (Politeia c–), verwiesen –, man kann als Erzähler im Modus des Narrativen abwechselnd berichten und die handelnden Personen in eigener Rede präsentieren, das ist für das homerische Epos charakteristisch, man kann das Medium Sprache bei der Darstellung aber auch so benutzen, dass der mediale Charakter verschwindet und der Eindruck entsteht, die im Medium präsenten Personen redeten und handelten selbst, das ist eine Eigentümlichkeit des Dramas, also von Tragödie und Komödie. Die Bildung der Definition der Hauptgattungen der Dichtung Obwohl es angesichts der Textaussage selbstverständlich erscheint, muss man im Blick auf die Forschung sagen, dass man alle drei Unterscheidungskriterien: Medium, Gegenstand und Darstellungsweise, miteinander kombinieren muss, wenn man erklären will, wie nach Aristoteles die Arten oder (wie wir zu sagen gewohnt sind) Gattungen der Dichtung zustande kommen.¹⁵ ¹³ Auf diesen wichtigen Aspekt weist zu Recht Klaus Hempfer hin. Es geht Platon mit der Dreiteilung in berichtende, direkt Nachahmende und gemischte Darstellungsweise nicht um eine Unterscheidung literarischer Gattungen, sondern um den Aufweis der unterschiedlichen emotionalen Wirkung der Dichtung, je nach dem, ob sie von etwas nur berichtet oder ob sie es so darstellt, als ob die Handlung unmittelbar aktual ausgeführt würde. S. Klaus Hempfer, Überlegungen zur historischen Begründung einer systematischen Lyriktheorie, in: ders. (Hg.), Sprachen der Lyrik. Von der Antike bis zur digitalen Poesie, Stuttgart , –, hier: –. ¹⁴ S. dazu Verf., Poetik f.; –. ¹⁵ Diese Forderung wird in der Forschung oft übergangen, es gibt aber auch Versuche, ihr zu genügen. Wichtigste Vertreter sind die sog. Chicago Critics. Elder Olson, An Outline of Poetic Theory, in: R. S. Crane (Hg.), Critics and Criticism: Ancient and Modern, Chi-

Aristoteles über die Entstehung der Gattungsunterschiede



Diese Forderung ergibt sich aus der aristotelischen Analyse des Mimesisvorgangs selbst. Denn wenn Mimesis Mimesis „von etwas in etwas auf eine bestimmte Weise“ ist (a–), dann ist jede Mimesis durch diese drei Bedingungen charakterisiert. Aristoteles sagt das am Ende seiner Mimesisanalyse selbst ausdrücklich: „Wie wir am Anfang gesagt haben, besteht in diesen drei Unterschieden die Mimesis: im „Worin“, im „Was“ und im „Wie““ (af.). Es führt daher nicht jedes dieser drei Kriterien auf eine andere Art der Einteilung der Dichtungsarten. Man hat zwar tatsächlich solche Versuche unternommen und z. B. aus der Aufzählung möglicher Medien der Mimesis im ersten Kapitel ein System der Künste ableiten wollen,¹⁶ während die Dreiteilung des Darstellungsmodus aus dem dritten Kapitel zum Anlass genommen wurde, Aristoteles (zusammen mit Platon) zumindest zum Ausgangspunkt der modernen Gattungsdreiheit Epos, Lyrik und Drama zu nehmen. Mit der Unterscheidung guter und schlechter Handelnder im zweiten Kapitel scheint Aristoteles allerdings ein moralisches Kriterium in die Dichtungstheorie eingeführt zu haben, das für eine adäquate Gattungsdifferenzierung den meisten nicht relevant erscheint. Aber die Einteilung der Künste nach ihren Medien lässt sich nicht konsequent durchführen und ergibt bestenfalls pauschale Unterscheidungen. Man cago , –; z. B. geht mit Aristoteles von drei artbestimmenden Faktoren (Medium, Gegenstand und Darstellungsmodus) aus, entwickelt auch sehr textnah das aristotelische Poesie-Verständnis aus seiner Dreiteilung in Erkennen, Handeln und Machen. Die Dichtung hält Olson allerdings für eine Mischung aus allen drei Aspekten menschlicher Aktmöglichkeiten. Der Gegenstand ist für ihn die Form, die der Dichter dem Medium gibt. Denn Olson hält mit fast allen modernen Auslegern das „System der Handlungen“ bei Aristoteles für den reinen Geschehensverlauf (plot). Die formale Gestaltung dieses Verlaufs wäre dann Sache des Dichters. In diesem Punkt gibt es eine weitgehende Gemeinsamkeit bei fast allen Interpreten, die die Gattungsdefinition von allen drei aristotelischen Kriterien herleiten. Das „Poetische“ scheint die Schöpfung der Ordnung in der Darstellung des „Mythos“ zu sein. Verbunden sind diese Auslegungen daher auch meistens mit einem entwicklungsgeschichtlichen Aspekt, der die Dichtung der Antike insgesamt einer nach Außen, auf das gegebene Gegenständliche gerichtete „Bewusstseinshaltung“ zuweist. Zur Bedeutung der drei Aristotelischen Definitionskriterien für eine gegenwärtige Diskussion der Gattungsbestimmung s. v. a. die immer noch durch die argumentative Klarheit und die Berücksichtigung der relevanten, in verschiedenen Schulen diskutierten Kriterien grundlegende Studie von Klaus W. Hempfer, Gattungstheorie. Information und Synthese, München , hier –. S. jetzt auch die prägnant zusammenfassende Darstellung Hempfers s. v. „Gattung“ in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar, Bd. , Berlin/New York , –. Hempfers Behandlung der Problematik ist auch für das Folgende grundlegend. ¹⁶ S. Verf., Poetik ff.

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kann die Musik, die Malerei, den Tanz usw. auf Grund ihrer Medien Ton, Farbe und Form, Körperbewegung, unterscheiden. Auch diese Bestimmungen bleiben aber abstrakt und ohne Binnengliederungsmöglichkeiten. Die Sprache als Medium gibt gar keinen Anhaltspunkt für die Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst und auch, wenn man nicht den Vers zum Unterscheidungskriterium nehmen will, keine Möglichkeiten einer Charakterisierung einzelner sprachlicher Kunstformen. Aristoteles’ (in das erste Kapitel hineininterpretiertes) „System“ erscheint daher vielen unvollständig, ja widersprüchlich. Gegen die Ableitung der Einteilung der Dichtung in Epos, Lyrik und Drama aus dem „Redekriterium“ („Wer spricht?“¹⁷) des dritten Kapitels hat Oliver Primavesi schlüssig geltend gemacht, dass die Lyrik dann als Differenzspezifikum zu Epos und Drama die reine Narrativik haben müsste. Das liegt aber im Streit mit den Phänomenen, denn es gibt auch in der griechischen Lyrik Beispiele für alle drei Darstellungsmodi. Auch die in der Poetik erwähnten lyrischen Texte sind nicht nur rein narrativ. Am deutlichsten zeigen das die „melopoetischen“ Teile der Tragödie, die Stasima, Kommoi, Threnoi, die sogar rein dramatisch sind, die homerischen Hymnen müssten als Epen gelesen werden, denn sie mischen wie die Ilias und die Odyssee narrative und dramatische Darstellung. Darauf, dass das, was im Sinn der „Gattungstrinität“ des . Jahrhunderts Lyrik ausmacht, dass „auch das Sachlichste und Substantiellste als subjektiv empfunden, vorgestellt oder gedacht erscheint“,¹⁸ eine eigene Gattung konstituiert, gibt es in der Poetik nicht einmal einen Hinweis. Die Tatsache, dass Platon als Exempel für eine rein narrative Gattung auf den Dithyrambus, die zu seiner Zeit beliebteste lyrische Gattung verweist, reicht ¹⁷ Die Beurteilung der Darstellungsmodi des dritten Kapitels der Poetik als „Redekriterium“ (Wer spricht?) ist nicht ganz korrekt. Denn dann müsste auch der Unterschied zwischen Ich- und Er-Erzählung einen Gattungsunterschied ausmachen. Es gibt aber in der epischen wie in der rein narrativen Darstellungsweise beide Formen. Den Unterschied, auf den Aristoteles zielt, beschreibt man besser als die Weise der Präsenz eines Gegenstands in einem Darstellungsmedium, denn davon hängt auch die unterschiedliche emotionale Wirkung einer Dichtung ab. Der bloße, auf eine Handlung verweisende Bericht hat eine andere, vermitteltere Wirkung als die Darstellung einer Handlung, als ob sie gerade unmittelbar vollzogen würde. Auf diesen Unterschied und darauf, dass deshalb die narrative Darstellung als Zeichen größerer Kultiviertheit galt, verweist Aristoteles im . Kapitel der Poetik (b–a). S. dazu Verf., Poetik . Ich würde also eher von einem „Präsenzkriterium“ (sc. des Gegenstands im Medium) sprechen. ¹⁸ G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I–III, in: Werke in  Bänden, hg. von E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a. M. ff.[= stb ], Bd. , Teil III, .

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daher als Zeugnis für eine Vorform der Gattungsdreiheit bei Platon und Aristoteles nicht aus.¹⁹ Auch die beiden anderen Gattungen aus der neuzeitlichen Gattungstrias können nicht aus dem Kriterium des „Wie“ der Präsenz der Dichtungsgegenstände in ihrem Medium abgeleitet werden. Es muss ja verwundern, dass Aristoteles den Begriff des Dramas kennt und verwendet, aber nur von Tragödie oder Komödie, nicht aber vom Drama als einer Gattung oder Art von Dichtung spricht. „Dramatisch“ meint bei ihm eben: Der Handelnde spricht selbst und ist durch sein eigenes Sprechen und Agieren im Medium präsent. „Dramatisch“ ist für Aristoteles also in diesem Kontext Terminus für einen Darstellungsmodus. Erst durch die Verbindung dieser Art der Präsenz mit der Darstellung eines bestimmten Charakters wird aus dem bloßen „Wie“ der Darstellung eine Gattung: Tragödie oder Komödie. Analoges gilt vom Epos, das gerade nicht rein narrativ ist und auch nicht nur durch eine Mischung aus narrativer und dramatischer Präsenz im Medium charakterisiert ist. Zum Epos wird diese Mischung nur, wenn der Gegenstand die Handlung eines ernsthaften, nicht konfusen, sondern in sich gefestigten Charakters ist. Alle Dichtungsarten haben als Medium die Sprache, aber in unterschiedlicher Formung. So sagt Aristoteles, für das Epos habe sich in der poetischen Praxis der Hexamter als das passende Medium erwiesen, weil er den Eindruck von Beständigem und Bedeutendem vermittle (b–), der Jambus, der der natürlichen Sprechweise folge, passe am besten zum Drama usw. (a–). Bereits diese Bemerkungen zeigen noch einmal, dass das Medium und seine Formung als Unterscheidungskriterium nicht genügen, sie richten sich nach dem Gegenstand, der dargestellt wird. Deshalb, weil das Epos Charaktere mit gefestigter innerer Form, die ernsthafte, bedeutende Ziele verfolgen, darstellt, passt zu ihm der Hexameter. Man kann eine bedeutende Handlung aber auch in einer normalen Sprechweise darstellen und deshalb den Jambus als Form wählen wie die Tragödie, muss dann aber, um den Eindruck des Alltäglichen und Trivialen zu vermeiden, den Stil der Sprache durch die Verwendung von anderen, (leicht) „verfremdenden“ sprachlichen Mitteln, etwa Metaphern, Glossen, neuen Wortbildungen oder -verbindungen, von der Normalsprache abheben (a–). Man kann diese Abhebung vom Normalen auch allein durch eine zum Gegenstand passende sýnthesis der üblichen Ausdrucksweise erreichen. Das lobt Aristoteles an Euripides (Rhetorik b–). ¹⁹ S. Oliver Primavesi, Aere perennius? Die antike Transformation der Lyrik und die neuzeitliche Gattungstrinität, in: Klaus Hempfer, Sprachen der Lyrik, –.

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Nimmt man alle drei Unterscheidungskriterien zusammen, ergeben sich für die von Aristoteles ausdrücklich behandelten drei Hauptgattungen, für Epos, Tragödie und Komödie folgende Definitionen:  Das Epos ist eine dichterische Gattung, die zum Gegenstand handelnde Menschen mit einem guten, geformten Charakter wählt, die als Medium eine Sprache hat, die der Bedeutung ihres Gegenstands angemessen ist, und bei der der Erzähler die Sprache bald in narrativer, bald in dramatischer Darstellungsweise einsetzt.  Die Tragödie hat wie das Epos handelnde Menschen mit einem geformten Charakter zum Gegenstand, hat als Medium eine zwar jambisch, d. h. normalsprachlich basierte, aber zu bedeutender Aussage erhobene Sprache, und hat als Darstellungsweise die Selbstpräsenz der Handelnden.  Die Komödie hat als Gegenstand Charaktere mit einer eher vernachlässigten Formung, als Medium eine Sprache, die jambisch trivial ist, als Darstellungsweise die Selbstpräsenz der Handelnden. Für die definitorische Bestimmung einer Gattung gibt es also drei Merkmalsgruppen, deren Elemente jeweils unterschiedlich miteinander kombiniert werden können:  Beim Gegenstand gibt es zwei Gruppen, Charaktere mit gefestigter oder vernachlässigter Durchformung.  Bei der Darstellungsweise gibt es drei Gruppen: die rein narrative, die narrativ-dramatisch gemischte und die rein dramatische Darstellungsweise.  Bei den Medien gibt es die Unterscheidung einer metrisch gebundenen und einer ungebundenen Sprache (a–b) und die Formung der Ausdrucksweise (Stil) in Angemessenheit zum Gegenstand (a–). Die Besonderheiten dieser drei Gattungen ergeben sich also immer aus der Besonderheit ihrer Merkmalskombination, die eine Differenzierung gegen die beiden anderen erforderlich macht. Das Epos unterscheidet sich dem „Wie“ nach von Tragödie und Komödie, hat aber den Gegenstand mit der Tragödie gemeinsam. Das Medium des Epos ist die Sprache eines gehobenen Berichts, es unterscheidet sich dadurch von der Tragödie, deren Medium eine leicht entfremdete Normalsprache ist („in der man miteinander spricht“, a–), und von der Komödie (das führt Aristoteles nicht aus, es ergibt sich aber aus der Forderung, dass die Ausdrucksweise den Charakteren angemessen sein soll, a–). Die narrative Darstellungsweise bringt dem Epos, wie Aristoteles im . Kapitel ausführt, z. B. die Möglichkeit eines erheblich größeren Umfangs, die Möglichkeit, von gleichzeitig verlaufenden Handlungssträngen zu berichten, und Ähnliches mehr. Die Tragödie unterscheidet sich

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dem Gegenstand nach von der Komödie, nicht aber vom Epos, wohl aber der Formung des Mediums, d. h. der Sprache nach, während sie das „Wie“ der Darstellung wieder mit der Komödie gemeinsam hat. Diese dramatisch nachahmende Darstellungsweise bringt in der Handlungskomposition die Möglichkeit einer kompakteren, leichter überschaubaren und besser in Erinnerung zu behaltenden Handlung. Die Komödie ihrerseits teilt das „Wie“ der Darstellung mit der Tragödie, dem Gegenstand nach unterscheidet sie sich von Tragödie und Epos, und daher auch der Formung des Mediums nach. Trotz der Tatsache, dass bereits diese formale Unterscheidung eine große Zahl von Kombinationsmöglichkeiten aufweist, ergibt sich ihre eigentliche Potenz für die Generierung unterschiedlicher Gattungen erst aus einer inhaltlichen Betrachtung. So ist die bloße Zweiteilung in gute und schlechte Charaktere scheinbar oberflächlich und unergiebig. Im Blick auf die nach Aristoteles dem Dichter gestellte Aufgabe, solches Handeln darzustellen, das sich mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit aus dem Charakter des Handelnden ergibt (bf.; a–), zeigt sich aber, dass gerade hier eine Fülle von nur durch reiche Erfahrung erfassbarer Möglichkeiten liegt. Wie kann ein Charakter mit einer hohen Empfindlichkeit für das Gerechte, mit Tapferkeit, Jähzorn, Mitgefühl, Sanftheit und Hilfsbereitschaft, d. h. wie kann ein Charakter wie der homerische Achill überhaupt ein Charakter sein und welche Art von konkreten einzelnen Handlungen gehören zu ihm? Das sind die Fragen, die erst die Bedeutung des Gegenstands für die Dichtung erkennbar machen. Angesichts der Tatsache, dass der Gegenstand der Darstellung für Aristoteles offensichtlich das Hauptunterscheidungskriterium für die Bestimmung einer Dichtungsart bietet, kann ein genaueres Verständnis erst durch eine genauere Analyse seines Handlungsbegriffs erreicht werden. Auch die Frage, weshalb Aristoteles nur Tragödie, Epos und Komödie in seiner Poetik ausdrücklich behandelt hat, hängt, wie man zeigen kann, mit seinem Handlungsbegriff und daraus folgend mit der Bedeutung der Handlungsgestaltung für den Kunstcharakter einer Dichtung, ab. Immerhin verweist Aristoteles im

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Lauf der Poetik auf nahezu alle wichtigen Arten lyrischer Dichtung²⁰ seiner Zeit. Die Frage ist daher nötig, wie es sein kann, dass er diese lyrischen Dichtungsarten kennt, aber keinen Versuch macht, sie in sein System zu integrieren. Die Bedeutung dieser Frage kann man dadurch dokumentieren, dass man die vielen Nennungen lyrischer Dichtung in der Poetik einmal im Überblick zusammenstellt: Die drei Hauptformen antiker lyrischer Dichtung, die wir auch heute noch ähnlich bestimmen: elegische, jambische und melische Dichtung (in chorlyrischer wie monodischer Form), sind auch in der Poetik präsent: Elegie: b und ; Jambus: b; ; a; b; b; Melos bzw. Melopoiia: b; ; a ; b; bf.; b. Daneben verweist die Poetik auf eine große Zahl weiterer Dichtungen, die in unserem Sinn zur Lyrik gehören: ²⁰ Zur Frage, wie es gekommen ist, dass man alle diese verschiedenen (und nach Aristoteles zu verschiedenen Gattungen gehörenden Dichtungen) zu einer Gattung, der Gattung „Lyrik“ gerechnet hat, findet man die richtige Erklärung jetzt bei Primavesi, Aere perennius, Die antike Transformation der Lyrik und die neuzeitliche Gattungstrinität, in: K. W. Hempfer (Hg.), Sprachen der Lyrik, Stuttgart , –. Es geht um einen Vorgang der Kanonbildung. Aufbauend auf einer schon älteren Auswahl unter der auch in der Poetik sogenannten Lieddichtung (Melopoiia) verfestigt sich im Hellenismus ein Kanon von neun Dichtern. Diese neun werden im Unterschied zur Lieddichtung im allgemeinen „Lyriker“ genannt. Der Begriff stammt, wie Herwig Görgemanns (Zum Ursprung des Begriffs „Lyrik“, in: M. v. Albrecht, W. Schubert (Hgg.), Metrik und Dichtung. Neue Forschungsbeiträge, Frankfurt a. M. , –) plausibel gemacht hat, wohl aus dem Schulunterricht schon des . Jahrhunderts, in dem eine dem späteren Kanon verwandte Auswahl an Dichtern in dem „die Lyra betreffenden Unterricht“ (Platon, Nomoi e) behandelt wurde. Für die weitere Entwicklung spielt Horaz eine wichtige Rolle. Er möchte, wie er im Widmungsgedicht seiner Oden sagt, zu den „lyrici“ gerechnet werden, also zum Kanon der neun Klassiker. Der überragende Erfolg der Odendichtung des Horaz wird dann zugleich zum Ausgangspunkt einer schon mit Quintilian beginnenden Tendenz, die Ode mit Lyrik gleichzusetzen. Nicht geklärt ist bei dieser Nachzeichnung der Entwicklungsgeschichte der Lyrik die Frage, wie es kommen konnte, dass die Lyrik zum Inbegriff eines „Ausdruck(s) von Gemütsbewegungen durch die Sprache“ (so August Wilhelm Schlegel, s. I. Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, Halle a. d. Saale , f.; Primavesi a. a. O. ) werden und dadurch vom Epos und dem Drama durch die Art des Zugangs zur Wirklichkeit unterschieden werden konnte. S. dazu Verf., Poetik –). S. zu diesem Komplex auch schon Hans Färber, Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, München , ff., insbes. , wo auch er schon den Zusammenhang des Lyrikbegriffs mit der Kanonbildung aufweist.

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Elegie: b und ; Jambus: b; ; a; b; b; Melos bzw. Melopoiia: b; ; a ; b; bf.; b. Dythyrambos (. Das ist die zu Aristoteles’ Zeit wichtigste chor-lyrische Dichtungsart); Nomen (, Sologesang, „Monodie“, zu Ehren Apolls); Psogoi (, gehört zur jambischen, satirischen Dichtung); Parodien (von Aristoteles offenbar der jambischen Dichtung zugeordnet); Hymnen (); Threnos (, Trauerlied, einmal als Dichtungsart für sich, einmal als Teil der Tragödie); Kommos (, Klagelied im Wechselgesang zwischen Chor und Schauspieler, also chorlyrisch und monodisch gemischt); Stasimon (als Teil der Tragödie); satyrartige Dichtungen ().  Das Hauptkriterium der Gattungsunterscheidung: der handelnde Mensch Zum Aristotelischen Verständnis von Handlung Wie in vielen seiner Disziplinen führt Aristoteles nach einer eher allgemeinen und formalen Bestimmung auch in der Poetik schrittweise auf eine konkretere Erklärung hin. Das vierte Kapitel geht auf den anthropologischen Aspekt ein, dass ‚Mimesis‘ eine Form des Erkennens und Verstehens ist, die zur Natur des Menschen gehört und mit Lust und Freude verbunden ist (b–).²¹ Die Formulierung, dass der Mensch das mimetischste aller Lebewesen sei und bereits seine ersten Lernschritte durch Mimesis, Nachahmung, mache, hat den (Fehl-) Eindruck begünstigt, Mimesis sei die Bezeichnung (nur) für eine möglichst genaue Wiedergabe der Wirklichkeit. Viele denken beim Gebrauch des Begriffs der Nachahmung an Beispiele wie die Nachahmung von Vogelstimmen durch den Menschen und Ähnliches.²² Diese Einschränkung ist aber bereits deshalb verfehlt, weil Aristoteles einen weiten Nachahmungsbegriff hat, der ausdrücklich auch das Erfundene, nur Vorgestellte, Falsche als Gegenstand der Nachahmung zulässt – und die griechische Literatur und Kunst ist bekanntlich voll von fabulösen Gestalten: Chimären, Gorgonen, Erinyen, Satyrn, Kentauren, Sphingen, ²¹ Zur genaueren Erklärung s. Verf., Poetik –; zum . Kapitel s. jetzt auch Oliver Primavesi, Zur Genealogie der Poesie (Kap. ), in: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles, Poetik, Berlin , – (Klassiker auslegen Bd. ), der allerdings auf die Rolle des Handlungsbegriffs für die anthropologische Erklärung der Entstehung von Dichtung nur knapp eingeht. ²² Besonders nachdrücklich fordert diese enge kopierende Nachahmungsdeutung Jürgen H. Petersen, Mimesis – Imitatio – Nachahmung, München .

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Bockhirsche (tragélaphos²³), usw. Die Fixierung des Gegenstands der Nachahmung auf die Natur oder eine vorliegende (empirische oder ideale) Wirklichkeit kann dadurch aber sicher ausgeschlossen werden, dass Aristoteles im Folgenden, v. a in den Kapiteln  bis , ausdrücklich erklärt, dass und in welchem Sinn der handelnde Mensch Gegenstand dichterischer Nachahmung ist. Bei der Nachahmung des Handelns eines Menschen, wie es Aristoteles in der Rhetorik zum Beispiel von den Söhnen fordert (sie sollen das Handeln ihrer Väter nachahmen, a), ist ziemlich deutlich, dass damit kein bloßes Kopieren gemeint sein kann. Wenn Helena im gleichnamigen Stück des Euripides z. B. von der Tochter des ägyptischen Königs erbittet: „Ahme die gerechte Art deines Vaters nach“ (vv. f.), dann geht es um den Geist des Handelns des Vaters und seine Verwirklichung in einer gänzlich neuen, nicht schon in der Wirklichkeit vorliegenden Situation, nicht um ein am Ende nachäffendes Wiederholen von Taten oder von Schemata der Taten des Königs. Wenn man im Geist eines Menschen handelt, spricht man allerdings nicht über dessen Handeln, und schon gar nicht in abstrakten Reflexionen oder Beschreibungen, sondern man vollzieht dieses Handeln. Dass dieses Handeln sich nach den Prinzipien oder Kriterien etwa des gerechten Sinns eines Vaters oder Königs richtet, erkennt man nur an der Verwirklichung dieser Prinzipien im konkreten Tun. Dadurch aber, dass man dieses einzelne Handeln als Verwirklichung von etwas anderem erkennen kann, ist dieses Handeln mehr als etwas nur Singuläres, es macht etwas Gleiches im (jeweils) Verschiedenen, d. h. etwas Allgemeines sichtbar. Bei der Darstellung des Handelns eines Menschen geht es natürlich nicht darum, wie er andere Menschen nachahmt, sondern wie er sich selbst, seinen eigenen Charakter in seinen einzelnen Handlungen verwirklicht. Einen Charakter hat man nach Aristoteles, wenn man nicht beliebig und unberechenbar von außen beeinflusst agiert, sondern wenn man seine Fähigkeiten zu ‚héxeis‘, zu allgemeinen Haltungen ausgebildet hat.²⁴ Wenn man daher jemanden zeigt, wie er seine charakterlichen Tendenzen in einer einzelnen Handlung verwirklicht, zeigt man, wie er sich selbst nachahmt, d. h. in einer einzelnen Handlung das, was seine allgemeine Beschaffenheit ausmacht, nachvollzieht. ²³ Der Bockhirsch ist für Aristoteles (wieder mit Platon) geradezu der Inbegriff eines bloßen ens imaginationis, s. Int. a; APr. a; APo. b; Physik a; s. dazu s. auch Rainer Thiel, Aristoteles’ Kategorienschrift in ihrer spätantiken Kommentierung, Tübingen , –. ²⁴ S. v. a. Nikomachische Ethik a–; bff; s. dazu Verf., Poetik –.

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

In diesem Sinn kann die Dichtung als eine besondere Form des Erkennens und Erkennbarmachens bezeichnet werden. Sie demonstriert und formuliert nicht ein abstraktes Wissen, sie verzichtet sogar auf jede Form von Abstraktion, aber sie zeigt unmittelbar an dem konkreten Tun eines Menschen auf, welche seinen Charakter allgemein prägenden Tendenzen für die Art der Durchführung dieses Tuns verantwortlich sind. Exkurs: Zum Verhältnis von Charakter und Handlung bei Aristoteles Aristoteles macht im . Kapitel der Poetik die Feststellung, die Tragödie sei nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlungen, Glück und Unglück lägen im Handeln, das Ziel einer solchen ‚Nachahmung‘ sei also die Darstellung einer Handlung und nicht einer Beschaffenheit. Durch den Charakter habe man eine bestimmte Beschaffenheit, durch die Handlungen aber sei man glücklich oder unglücklich (a–). Diese Feststellung ist vielen Anlass für die Deutung, Aufgabe der Dichtung sei nach Aristoteles allein die Konzeption einer Handlung, d. h. eines strukturierten Handlungsaufbaus, die Herleitung einer Handlung aus dem Charakter (das gilt häufig als etwas erst in der Moderne möglich Gewordenes) habe im Text der Poetik keinen Anhalt. Aristoteles betone zusätzlich, dass es ohne eine Handlung überhaupt keine Tragödie geben könne, ohne Charaktere aber sehr wohl (a–). Da diese Auslegung immer noch sehr verbreitet ist und oft sogar als die Auslegung gilt, die allein philologische Texttreue beanspruchen könne, ist es wichtig, zunächst einmal aus dem Text der Poetik selbst zusammenzustellen, was er über das Verhältnis von Charakter und Handlung aussagt. Beginnen kann und muss man mit der dieser Auslegung zugrunde gelegten Textstelle selbst, denn sie enthält einen meist einfach übergangenen Zwischenpassus, in dem Aristoteles sagt, der Charakter werde durch die Handlung ‚mitumfasst‘ (af.). Diese Aussage fügt sich in die Differenzierung ein, die er unmittelbar zuvor gemacht hatte: durch den Charakter hätten die Handelnden eine bestimmte Beschaffenheit, durch das Handeln aber werde man glücklich oder unglücklich. Dies aber, zu zeigen, wie jemand vom Glück ins Unglück gerät (oder beinahe gerät), ist das ‚télos‘, das Darstellungsziel, einer Tragödie, wie man auch aus den Kapiteln  und  entnehmen kann. Im Sinn dieser Unterscheidung soll eine Tragödie (und Dichtung überhaupt) nicht die Beschaffenheit einzelner Menschen (für sich) darstellen, sondern eine einzelne Handlung, durch die sie Glück haben oder ins Unglück geraten. Dass Aristoteles mit dieser Unterscheidung verlangt habe, die charakterliche Beschaffenheit der handelnden Menschen bei ihrem je einzelnen Handeln gar nicht zu berücksichtigen, steht nicht nur nicht im Text, sondern wird durch die Aussage, der Charakter werde durch die Handlung mitumfasst, ausgeschlossen.



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Wenig zuvor im selben Kapitel stellt Aristoteles sogar einen notwendigen Zusammenhang zwischen Handlung und Charakter her. Gehandelt nämlich werde von Handelnden, „die notwendigerweise eine bestimmte Beschaffenheit haben auf Grund ihres Charakters und ihrer Denkweise (durch diese nämlich, sagen wir, haben auch die Handlungen eine bestimmte Beschaffenheit – denn das sind die zwei Ursachen des Handelns: Charakter und Denkweise –) und durch diese erreichen oder verfehlen alle ihr Handlungsziel“ (b–a). Auch wenn Aristoteles hier zwischen Charakter und Denkweise unterscheidet („Charakter“ – ethos – „ist das, auf Grund dessen wir sagen, dass Handelnde eine bestimmte Beschaffenheit haben, Denkweise das, was jemanden bei seinem Sprechen leitet, wenn er einen Beweis führt oder seine Meinung darlegt“, a–), es kann nicht fraglich sein, dass er die charakterliche Beschaffenheit als die Ursache bezeichnet, aus der als Wirkung die einzelnen Handlungen eines Menschen hervorgehen. Eine Handlung ohne diese Ursachen kann es also gar nicht geben. Es kann aber Handlungsdarstellungen geben, in denen dieser Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht konsequent oder gar nicht beachtet ist, etwa wenn ein Dichter eine Figur etwas tun lässt, was nicht zu ihrem Charakter passt, oder wenn das, was er sie tun und reden lässt, gar keinen (einheitlichen) Charakter erkennbar macht. Dass Aristoteles eine Handlungsdarstellung wünscht, die sich gar nicht um den Zusammenhang zwischen der allgemeinen Beschaffenheit eines Menschen und seinem einzelnen Handeln kümmert, ist bei aller Unsicherheit philologischer Textauslegung so gut wie ausgeschlossen. Die Aussage, eine Tragödie sei auch ohne charakterliche Motivation möglich, ohne Handlung dagegen nicht, verweist darauf, dass man durch eine bloße Aneinanderreihung charakteristischer Äußerungen eines Menschen nicht sichtbar machen kann, weshalb er ins Glück oder Unglück gerät. Eine solche ‚Charakterdarstellung‘ könnte in der Tat niemals eine Tragödie (und auch keine Komödie) sein. Behauptet ist mit dieser richtigen Feststellung aber nicht, es komme für einen guten Handlungsaufbau gar nicht darauf an, dass er im Charakter der handelnden Person fundiert ist. Im Gegenteil: Bereits der Hinweis auf die Maler Zeuxis und Polygnot, den Aristoteles gleich anschließt, zeigt, dass Aristoteles eine Handlung ohne Charakter für eine qualitativ minderwertige Handlung hält. Denn er schätzt Polygnot, der ein guter Charakterdarsteller sei, und kritisiert Zeuxis, dessen Bilder keine Aussage über den Charakter enthielten. In der Politik formuliert er es als wichtiges Bildungsziel, die Jugendlichen sollten sich mit der Betrachtung von Bildern guter Charakterdarsteller wie etwa Polygnots oder anderer solcher Maler und Bildhauer beschäftigen und verlangt sogar, sie von der Betrachtung von Bildern ohne gute Charakterzeichnung abzuhalten (a–). Im . Kapitel der Poetik lobt er Homer dafür, dass er anders als die meisten anderen Erzähler keine langen Reden über seine Personen halte, sondern nach wenigen einleitenden Worten gleich einen Mann oder eine Frau oder einen anderen Charakter auftreten lasse, und zwar niemanden ohne charakteristisches Verhalten, sondern jeden mit Charakter (a–).

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Auch bei der Besprechung der Fehler in der Charakterzeichnung, die die tragische Wirkung einer Handlung stören, verweist Aristoteles (im . Kapitel) darauf, dass man „bei der Charakterzeichnung wie beim Handlungsaufbau immer das Notwendige oder Wahrscheinliche so suchen müsse, dass ein Mensch von einer bestimmten Beschaffenheit auch dieser Beschaffenheit Gemäßes sagt oder tut – mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit“, (a–) und kritisiert deshalb z. B. Euripides, weil er in seiner Iphigenie in Aulis zuerst eine flehentlich bittende Iphigenie dargestellt habe, deren opferbereites Handeln im zweiten Teil der Tragödie mit der zuvor charakterisierten Iphigenie nichts gemein habe. In gleichem Sinn formuliert Aristoteles im . Kapitel, d. h. im Zentrum der Poetik, als wesentliche Leistung der Dichtung, sie sei dadurch philosophischer und allgemeiner als die Geschichtsschreibung, dass sie nicht nur einzelnes Tun und Reden handelnder Personen darstelle, sondern zeige, „wie es einem Menschen von bestimmter Beschaffenheit zukomme, dieser Beschaffenheit Gemäßes zu sagen oder zu tun– mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“, (b–). Wie der Satz selbst sagt und wie die zitierte Parallelformulierung im . Kapitel zusätzlich belegt, fordert Aristoteles hier nicht, die Dichtung solle Wahrscheinliches und Notwendiges darstellen (das griechische Epos, die Tragödie und erst recht die Komödie sind voll von Unwahrscheinlichem, man denke nur an den König Ödipus), sondern er fordert, dass das Verhältnis zwischen dem, was jemand sagt oder tut, und seiner charakterlichen Beschaffenheit wahrscheinlich oder notwendig sein soll. Wenn Achill mit dem Vater seines größten Feindes, Hektor, gemeinsam weint, dann muss es nicht wahrscheinlich sein, dass Helden mit den Vätern ihrer Feinde weinen, wie es etwa für verlassene Frauen (z. B. Dido) wahrscheinlich sein mag, dass sie lange grollen, es muss wahrscheinlich sein, dass ein Mensch wie Achill zu einem solchen Verhalten bewegt werden kann. Dies glaubwürdig darzustellen, ist Sache des Dichters. Dass Aristoteles, wenn er bereits im ersten Satz der Poetik den Aufbau einer einheitlich durchkomponierten Handlung als die wichtigste Aufgabe der Dichtung bezeichnet, die Handlungskomposition nicht vom Charakter ablösen will, belegt auch der Beginn des . Kapitels, in dem er zum ersten Mal die poetische Mimesis als Mimesis von Handelnden (a) bezeichnet. Denn er leitet dort aus der unterschiedlichen charakterlichen Beschaffenheit der Handelnden den Hauptunterschied unter den Gattungen des Epos und der Tragödie auf der einen, und der Komödie auf der anderen Seite ab. Auch hier spricht er von einer notwendigen Abhängigkeit der Art der Handlung von der Beschaffenheit der Handelnden. „Notwendig sind“, so erläutert er, Handelnde „spoudaíoi oder phaúloi“, denn nach einer schlechten oder guten Verfassung ihres Charakters unterschieden sich alle (a–). Im . Kapitel leitet Aristoteles den Unterschied unter den literarischen Gattungen sogar aus dem Unterschied der Charaktere der Dichter ab, denen je nach ihrer eigenen charakterlichen Verfassung die Darstellung anderer Handlungen, d. h. von Menschen mit einer ihnen ähnlichen charakterlichen Beschaffenheit, näher lag (b–).



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Die Poetik enthält noch eine ganze Reihe weiterer Hinweise auf den Zusammenhang von Charakter und Handlung und seine Bedeutung für die Handlungskomposition selbst. So leitet Aristoteles z. B. im . Kapitel die besondere Art des tragischen Fehlers (hamartía), die für die Konstruktion einer tragischen Handlung entscheidend ist, aus der Unterscheidung mittlerer Charaktere von verbrecherischen und in jeder Hinsicht guten Charakteren ab. Nur wenn das Fehlhandeln einer Person aus einem solchen mittleren Charakter kommt, kann es als ein tragisches Handeln verstanden werden (b–a). Einen besonders signifikanten Beleg für den Zusammenhang von Charakter und Handlung bietet eine Nebenbemerkung am Beginn des . Kapitels. Aristoteles erklärt dort, welche Art von Handlungen man auswählen muss, wenn sich im Handeln der Charakter offenbaren soll: Man muss den Handelnden zeigen, wie er eine Entscheidung (prohaíresis) trifft, d. h. etwas vorzieht oder meidet. Da es zu den zentralen Lehrstücken des Aristoteles gehört, dass Handeln und Sich-Entscheiden ein und dasselbe sind, das Sich-Entscheiden aber direkter Ausdruck des Charakters eines Menschen ist, denn es ist Folge seiner ihm eigentümlichen Tendenzen (héxeis), Bestimmtes vorzuziehen oder zu meiden, trifft ein Dichter, der zeigt, wie ein bestimmter Mensch sich entscheidet, genau den Punkt, in dem sich der Charakter unmittelbar in der Handlung äußert, in dem also Handlung und Charakter zusammenfallen. Man erfährt etwas über den Charakter Achills, wenn Homer zeigt, dass er es vorzieht, auf dem Deck seines Schiffes zu stehen und die Not der Kameraden zu betrachten, statt weiterhin im Zelt zu sitzen und auf der Phorminx zu spielen, wenn er zeigt, dass er es vorzieht, mit Priamos Mitleid zu haben, statt in seinem Hass auf Hektor zu verharren, usw. Wenn Aristoteles sagt, die Handlung sei das Wichtigste für eine Dichtung, und Aufgabe der Dichtung sei es nicht, die Beschaffenheit, d. h. den Charakter einer Person darzustellen, sondern Handlungen, dann meint das nicht, dass ein Dichter lediglich Handlungen erfinden solle, etwa Handlungen mit einer spannenden Ereignisfolge oder mit raffinerten Wirkungen auf die Emotionen der Leser und Ähnliches, sondern es meint, was der Text selbst sagt: Aufgabe der Dichtung ist nicht die Darstellung einer poiótēs, einer Beschaffenheit, sondern der Folgen dieser Beschaffenheit, wie sie in einzelnen Handlungen zu Tage treten. Beschaffenheit ist ein allgemeiner Habitus einer Person: Jemand ist gerecht, gut gebildet oder verkommen, ist hilfsbereit, jähzornig, tapfer, besonnen oder feige, usw. Eine Beschreibung dieser einem Menschen mehr oder weniger generell zukommenden ‚Beschaffenheiten‘ oder Eigenschaften müsste auch selbst allgemein sein. Sie wäre auch in ästhetisch schön geformter Rede eher eine psychologische Studie als Dichtung, von der Aristoteles ja möchte, dass sie mimetisch ist, d. h. dass sie ihren Gegenstand in konkretem Nachvollzug präsent macht. Diesen konkreten Nachvollzug nennt Aristoteles das Wichtigste für die Dichtung. Deshalb rühmt er Homer dafür, dass er keine Reden über seine Personen und deren Handeln hält, sondern ihr Handeln und Reden selbst zeigt, aber immer so, dass in ihm der eigentümliche Charakter des Handelnden zum Ausdruck kommt (a–).

Aristoteles über die Entstehung der Gattungsunterschiede

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Aber auch mit dem Versuch, charakteristisches Tun und Reden darzustellen, ohne auf allgemeine Beschreibungen (etwa: „Er ist zwischen Wut und Mitleid, Liebe und Hass hin und hergerissen“) auszuweichen, hat man nach Aristoteles noch nicht erreicht, was eine Mimesis zu einer poetischen Mimesis macht. Er verweist darauf, dass es auch Anfängern gelinge, in gut ausgearbeiteten Sketchen das Reden oder Tun einer Person zu charakterisieren (a–). Bei der Nachzeichnung der Geschichte der griechischen Literatur verweist er darauf, dass man zuerst, je nach dem Charakter der Dichter, Spottverse oder Lobgedichte, in jedem Fall kurze, unvollständig ausgeführte Handlungen verfasst habe (b–). Wie die Kapitel  bis  ausführlich diskutieren, fehlt diesen ‚kurzen Mythen‘ (a) Ganzheit, Vollständigkeit und Einheit, so dass die Teile untereinander und zum Ganzen wie bei einem Lebewesen sich zusammenfügen, und es fehlt ihnen die (nicht begriffliche, sondern) poetische Allgemeinheit, die im einzelnen Tun und Reden nicht nur einzelne Fakten aneinanderreiht, sondern die die ‚Beschaffenheit der einzelnen Handlungsteile als Wirkung der ‚Beschaffenheit‘ des Handelnden in ihnen selbst präsent macht (b–). Für diese Präsenz des Allgemeinen im Einzelnen macht Aristoteles ausdrücklich den Charakter des Handelnden verantwortlich. Für den Aufbau einer poetischen Handlungsdarstellung hat der Charakter also eine wichtige Ordnungsfunktion, auch wenn er nicht als er selbst, sondern in seiner Wirkung auf das einzelne Handeln dargestellt wird. Die aristotelische Unterordnung des Charakters unter die Handlung – er hat die zweite, nicht gar keine Stelle (a) – hat also eine zweifache Begründung: Die eine ist, dass der Charakter eine héxis, eine allgemeine ‚Beschaffenheit‘ eines Menschen ist. Wenn es für Achill charakteristisch ist, tapfer und hilfsbereit zu sein, dann kommen ihm diese Eigenschaften nicht nur einmal oder beliebig zu, sondern allgemein. Man kann bei ihm damit rechnen, dass er diese Eigenschaften in seinen einzelnen Handlungen verwirklicht. Diese allgemeinen Beschaffenheiten kann man nicht als sie selbst darstellen, man kann sie nur in einzelnen Handlungen zeigen, die von ihnen geprägt sind. Deshalb stellt ein Dichter nicht Charaktere als solche dar, sondern ihre Handlungen, aber Handlungen, die ihre Qualität vom Charakter haben: „〈Dichtung〉 ist Mimesis einer Handlung und durch sie vor allem Mimesis von Handelnden (bf.).“ Ein zweiter Grund, weshalb Aristoteles die Charakterzeichnung der Handlungsdarstellung unterordnet, ist, dass selbst eine Mimesis charakteristischer Äußerungen in Gesten oder in der Sprache noch keine Ordnung der Struktur und des Stils zustande bringt. Erst in einer ganz und einheitlich durchgeführten Handlung kann eine solche Ordnung geschaffen werden, kann aus bloßen Äußerungen Kunst werden. Wie sich aus der Beachtung bereits einiger wichtiger Stellen der Poetik, an denen sich Aristoteles zum Verhältnis von Charakter und Handlung äußert, ergibt, behauptet er keineswegs einen absoluten Primat der Handlung, sondern zeichnet ein konkretes und differenziertes Bild des Verhältnisses zwischen der Handlung als Wirkung des Charakters und dem Charakter als Ursache der Handlung.

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Ergänzt man die Textstellen der Poetik um die Stellen seines Gesamtwerks, an denen sich Aristoteles in systematischer Absicht über sein Konzept von Handlung äußert, werden die Konturen noch eindeutiger. Denn von Handlung kann nach dem, was Aristoteles in der Metaphysik, der Ethik oder der Psychologie (De anima) lehrt, erst bei einem selbständigen Tun oder Sprechen die Rede sein. Kinder und Tiere handeln nicht. Handeln setzt die Ausbildung der eigenen ‚Fähigkeiten‘ zu ‚Fertigkeiten‘, zu festen Haltungen (héxeis) voraus. Das, was meistens gemeint wird, wenn vom Primat der Handlung gesprochen wird, ist aber die bloße Geschehensfolge eines Stückes, das, was in ihm ‚passiert‘. Sich bei der Komposition einer Handlung an einer solchen Geschehensfolge zu orientieren, lehnt Aristoteles aber auch in der Poetik ab (Kap. , a–; Kap. , a–b; Kap. , a–). Daran kann und muss sich der Historiker orientieren, der Dichter kann und soll sich dagegen auf eine Handlung konzentrieren, d. h. auf dasjenige Tun, das ein dazu fähiger Charakter selbst gewählt hat, um ein bestimmtes, ihm wichtiges Ziel zu erreichen. Ein ‚Handeln‘, das nicht aus dem, was jemand vorzieht oder meidet, abgeleitet ist, ist für Aristoteles überhaupt kein Handeln, sondern ein bloßes Geschehen, aus dem sich eine Ereignisfolge, niemals aber ein Handlungsaufbau ergibt. Gegen die Berücksichtigung von Lehrstücken aus anderen Disziplinen des Aristoteles kann nicht der Einwand geltend gemacht werden, dadurch werde die Dimension der Poetik überschritten. Dieses Verbot, das von vielen mit der Behauptung des absoluten Primats der Handlung durch Aristoteles verbunden wird, macht eine moderne Trennung von ‚Systemen‘ zur Grundlage der Aristoteles-Deutung und übergeht dabei deutliche Textsignale bei Aristoteles selbst. Denn Aristoteles verlangt an vielen Stellen seiner Werke, dass man das, was er in einer anderen Disziplin behandelt hat, als Verständnisgrundlage des gerade behandelten Themas beiziehen solle. Auch in der Poetik verweist er z. B. auf die Rhetorik. Dort habe er das Wesentliche über die diánoia, über die Denk- und Argumentationsweise gesagt, weil es spezifisch für die Rhetorik sei. Für die Poetik setzt er das dort Entwickelte voraus und ergänzt es um die Besonderheiten, die durch die Aufgabenstellung der Poetik dazu kommen (a–b). Dieses Vorgehen des Aristoteles, d. h.: Etwas an seiner eigenen Stelle zu behandeln und es dann zu ergänzen oder zu variieren, wenn man an anderer Stelle in einem anderen Zusammenhang auf es zurückkommt, gibt sicher auch für den Interpreten einen sinnvollen Urteilsmaßstab vor. Mitleid und Furcht etwa werden von Aristoteles in der Rhetorik grundlegend behandelt, sie spielen aber auch in der Ethik und Poetik eine Rolle. Natürlich werden diese Gefühle in den verschiedenen Disziplinen unter einer verschiedenen Perspektive betrachtet. In der Ethik geht es um die Erziehung zu einer richtigen, angemessenen Ausbildung dieser Gefühle, in der Rhetorik um die Bedingungen, die man beachten muss, damit man als Redner andere effektiv in diese Gefühle versetzen kann, in der Poetik um die Art und Weise, wie man eine Handlung konzipieren muss, damit

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man beim Miterleben dieser Handlung eine intensive Empfindung dieser Gefühle entwickelt. Aber dieser unterschiedliche Umgang mit den Gefühlen des Mitleids und der Furcht ist überhaupt nur dann möglich und verstehbar, wenn es sich dabei jedes Mal um dieselben Gefühle handelt. So ist es auch bei dem Begriff der Handlung. Er hat seinen eigentlichen Ort in der Psychologie und der Ethik, er hat aber – als ein und derselbe Begriff – auch Bedeutung für die Poetik, in der er nicht unter dem Aspekt, wie Handeln entsteht und was seine psychischen Möglichkeitsbedingungen sind, relevant ist, sondern unter dem Aspekt, welche Bedeutung Handeln für die Struktur und den Stil einer Dichtung hat. Vielleicht ist es gut, sich die Bedeutung des Charakters für die Handlungsgestaltung wenigstens an einem Beispiel etwas genauer vor Augen zu führen, auch, um dadurch korrekt zu verstehen, weshalb Aristoteles zwischen der Darstellung einer charakterlichen Beschaffenheit und einer Handlung unterscheidet und das eine für die Aufgabe der Dichtung erklärt, das andere dagegen für eine andere, nicht poetische Aufgabe hält. In seiner Medea zeichnet Euripides zu Beginn das Bild einer außergewöhnlich liebenden, aber in dieser Liebe enttäuschten Frau.²⁵ Er tut dies allerdings nicht, indem er Medea selbst über sich oder eine andere Person über sie sprechen und ihr die Eigenschaften einer großen, verratenen Liebe zuschreiben lässt. Er tut dies vielmehr, indem er Medea direkt in ihrer zornigen Reaktion auf den Verrat des Jason zeigt. Er lässt sie genau das aussprechen, was ihre hasserfüllte Wut auf Jason ausmacht: Sie hat diesem Mann aus größter Not gerettet, hat dafür alles aufgegeben, was man für jemandem aufgeben kann, hat ihn auch später gegen jede Gefahr verteidigt, ist nun ohne ihn absolut verlassen und ohne jede Aussicht, usw. Euripides bietet so dem Zuschauer oder Leser durch die Darstellung der handelnden Medea selbst die Motivation für das, was diese Medea im folgenden Drama tun wird: Sie wird eine dieser Enttäuschung gemäße Vergeltung für das ihr angetane Böse suchen (antiteísasthai kakón). Aus dieser, in dieser Weise motivierten Entscheidung gehen die weiteren Handlungs-‚Teile‘ konsequent hervor: Medea gewinnt mit der ihr eigenen Intelligenz und ihrer Fähigkeit, herauszufinden, womit sie andere überzeugen kann, zunächst die Zustimmung ihrer vornehmen Freundinnen aus Korinth für ihren Racheplan. Sie setzt diesen Plan schrittweise und konsequent um, indem sie erst Kreon erfolgreich überredet, ihr einen Tag wenigstens Aufschub zu gewähren und sie nicht sofort aus Korinth auszuweisen; dann täuscht sie ihren Mann, dem sie nach einer ersten Beschimpfung die Einsichtige vorspielt usw., bis hin zur Entscheidung, die eigenen Kinder zu opfern. Den Charakter eines Handelnden macht man nach Aristoteles offenbar, indem man zeigt, wie jemand sich entscheidet. Dies tut Euripides in dem großen Entscheidungsmonolog

²⁵ S. Verf., Leidenschaft in der Senecanischen und Euripideischen Medea, in: U. Albini u. a. (Hgg.), Storia, poesia e pensiero nel mondo antico, Neapel , –.

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der Medea in besonders markanter Weise. Man sieht, wie zwei große Charaktertendenzen in Medea: ihre große Liebe zu ihren Kindern und ihr empfindliches Ehrbewusstsein, miteinander ringen, bis schließlich die stärkere Tendenz in ihr siegt und zur Handlung, d. h. zur Tötung der Kinder führt. Schon diese knappe Handlungsskizze der Medea verdeutlicht zentrale Aspekte des Verhältnisses von Charakter und Handlung. Es folgt in diesem Stück tatsächlich mit strikter Konsequenz ein Handlungsschritt Medeas auf den nächsten, und es ist immer wieder neu diese eine Medea, die sich in ihnen mit den ihr gemäßen Zielen verwirklicht. Man kann, wie Aristoteles verlangt, keinen Teil wegnehmen oder umstellen, ohne dass sich das Ganze ändern würde. Unter diesem Aspekt ist der Charakter, die ‚Beschaffenheit‘ Medeas mit den ihr eigentümlichen Tendenzen, etwas zu wollen oder nicht zu wollen, verantwortlich für die Handlungsstruktur dieses Stückes. Er ist auch verantwortlich für die Art und Weise, wie Medea sich ausdrückt, d. h. für den Stil der Darstellung. Eben die Medea, die mit der ihr außergewöhnlich zu Gebote stehenden Intelligenz und der ihr eigenen Entschlossenheit ihre Rachetaten plant und durchführt, äußert sich auch in einer für sie charakteristischen Sprache, insbesondere in der rhetorisch überaus geschickten Rede, in der sie ihre Freundinnen, vornehme Frauen der Gesellschaft von Korinth, intellektuell und emotional für sich gewinnt (und sich bis zum Schluss erhält). Die Konstanz und Folgerichtigkeit, in der die verschiedenen Taten und Reden Medeas als immer wieder neuer Ausdruck des Inneren gerade dieser Frau dargestellt sind, bietet damit zugleich ein facettenreiches und differenziertes Bild ihres Charakters: Man lernt Medea nicht als Verkörperung einer typischen Eigenschaft, etwa als Verkörperung der Rachewut einer beleidigten Frau, kennen, sondern in vielen, verschiedenen, oft scheinbar gar nicht zusammenpassenden Zügen: als bedingungslos liebende Frau, die ihrem Geliebten alles geopfert hat und zu jeder Hilfe bereit war, als treue Ehefrau, liebende Mutter, intelligente und beliebte Freundin, aber auch als raffinierte Lügnerin, als unerbittliche Rächerin, als hart auch gegen sich selbst, usw. Ähnlich wie auch etwa Achill bei Homer, anders als ihn Horaz gezeichnet haben möchte, nicht Verkörperung des Jähzorns ist, sondern zugleich hilfsbereit, milde, fürsorglich, aufmerksam, freundlich, mitleidig, tapfer, aber auch jähzornig, verbittert, unerbittlich, als jemand, der in der Rachewut über jedes Maß hinausgeht,²⁶ so ist auch Medea eine komplexe Figur, bei der aber immer deutlich ist, wie die verschiedenen Züge, die Euripides in einem großen Monolog ja sogar im Kampf miteinander zeigt, den einen Charakter dieser Medea ausmachen. Man kann mit gutem Grund sagen, dass Euripides in der Darstellung des Tuns und Redens Medeas genau das verwirklicht hat, was Aristoteles für die Bedingung guter Kunst hält: Er hat gezeigt, dass alles, was seine Medea tut und sagt, wahrscheinlicher oder notwendiger Ausdruck ihrer ‚Beschaffenheit‘, ihres Charakters ist. ²⁶ S. Verf., Achill, ein Held?, in: Karl-Heinz Bohrer / Kurt Scheel (Hg.): Heldengedanken. Über das heroische Phantasma, Sonderheft Merkur , –.

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Das Beispiel sagt aber auch etwas über den Unterschied zwischen einer Charakterdarstellung im Allgemeinen und einer vom Charakter geprägten Handlung aus. Denn obwohl das, was Medea sagt und tut, zu ihr passt und für sie eigentümlich ist, und obwohl man gerade durch die verschiedenen Äußerungen ihres Charakters und durch die Zusammengehörigkeit dieser Äußerungen etwas Wesentliches über ihren Charakter erfährt, bietet die Medea des Euripides kein Charaktergemälde dieser Frau. Es ist offenbar kein Anliegen des Euripides, alles und jedes, was für diese Medea möglich ist, darzustellen, weder in allgemeinen Beschreibungen ihres Wesens noch in konkreter Aneinanderreihung aller für sie individuell charakteristischen Handlungen und schon gar nicht in einer biographischen Aufzählung von allem und jedem, was ihr im Lauf ihres Lebens begegnet ist. Was Medea als liebende Unterstützerin Jasons, als seine Rächerin in Jolkos, als Mutter seiner Kinder, usw. getan hat, bildet in manchem die Vorgeschichte der Medea, es gehört aber nicht zu dem in diesem Stück selbst Dargestellten. Was das Stück aber leistet, ist die Darstellung einer Handlung Medeas mit Anfang, Mitte und Ende, in der durch die Motivation des Handlungsbeginns und durch die strikte Darstellung nur der Folgen genau dieses Beginns und des Ziels, auf das er gerichtet war, alle Handlungen in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen. Das hat nicht nur eine konsequente formale Ordnung des Aufbaus des Dramas zur Folge, sondern es macht vor allem das Handeln Medeas verstehbar. Die einzelnen Taten und Reden Medeas stehen nicht mehr oder weniger kontingent nebeneinander, sondern man erkennt sie aus ihren charakterlichen Gründen, man erkennt bei jedem einzelnen Handlungsschritt, dass seine jeweilige ‚Beschaffenheit‘ Ausdruck der allgemeinen ‚Beschaffenheit‘ dieser Medea, ihres eigentümlichen Denkens und Wollens, ist, und man erfährt und versteht so, was für ein Mensch man sein musste, um in ein Schicksal wie das der Medea zu geraten.

Zum Aristotelischen Verständnis von Handlung (Fortsetzung) Die spätantiken und noch ausführlicher die mittelalterlichen arabischen Kommentare ordnen deshalb die Dichtung unter den möglichen Grundaktivitäten des Menschen, die Aristoteles als Handeln (práxis), Machen (poíēsis) und Erkennen (theōría)²⁷ bestimmt hat, dem Erkennen zu und beschreiben seine ²⁷ Diese Unterscheidung ist nicht von Aristoteles eingeführt. Sie lässt sich auch bei Platon belegen. S. etwa Charmides b; a; d; Gorgias c; Politikos e–f; Auch in der antiken Philosophiegeschichtsschreibung wird die Unterscheidung der menschlichen Grundakte in Erkennen, Handeln, Machen Platon zugeschrieben. S. Diogenes Laertius, Vitae philosophorum, III; , rec. H. S. Long, Oxford  (und öfter). S. zu dieser Unterscheidung bei Aristoteles v. a. Metaphysik II, , b; IX, , b; XI, , IX, , aff; bff.; Topik VI, , aff; Nikomachische Ethik VI, , b; VI, , a–; s. auch Ernst Voll-

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Besonderheit durch Abgrenzung dieses Erkennens von einem wissenschaftlichen Erkennen, das sich auf allgemeingültige Beweise stützt, und von einem ‚dialektischen‘ Erkennen, das sich auf Erfahrungsallgemeinheiten stützt, und betonen, dass die poetische Erkenntnis ganz im Bereich des Konkreten und Anschaulich-Vorstellbaren verbleibt (ohne aber auf das nur Singuläre eingeschränkt zu sein).²⁸ rath, Überlegungen zur neueren Diskussion über das Verhältnis von Praxis und Poiesis, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie , , –. Problematisch ist die Behandlung bei Theodor Ebert, Praxis und Poiesis. Zu einer handlungstheoretischen Unterscheidung des Aristoteles, Zeitschrift für Philosophische Forschung , , –. ²⁸ Eine vorzügliche Einführung in die Begründung der Zuordnung der Dichtung zur ‚Logik‘ durch die arabischen Kommentare gibt I. M. Dahiyat in seiner Einführung in den Kommentar des Avicenna: Avicenna’s Commentary on the Poetics of Aristotle. A Critical Study with an Annotated Translation of the Text, Leiden , –. Seit der Renaissance – und bis in die neueste Forschung – ordnet man die Poetik von ihrem Namen her meist der ‚poiesis‘, dem produktiven Machen, Herstellen, zu und verbindet damit eine Vorstellung des Schöpferischen (die freilich für die Antike nur in einem nur eingeschränkten Sinn gelten soll). In Anlehnung an Überlegungen Wolfgang Wielands, Poiesis: Das Aristotelische Konzept einer Philosophie des Herstellens, in: Thomas Buchheim, Hellmut Flashar, R. A. H. King (Hgg.), Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg , –, v. a. –) hat Thomas Schirren, „Techne liebt Tyche und Tyche Techne“ – Aspekte poetischer Kreativität im Denken des Aristoteles, in: Alexander Arweiler, Melanie Möller (Hgg.), Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit, Berlin/New York , – den Versuch gemacht, die schöpferische Produktivität der ‚Poesie‘ im Text der Poetik wiederzufinden. Er stützt sich auf das . Kapitel, in dem Aristoteles die historische Entwicklung der Dichtung zwischen Homer und der Tragödie des . Jahrhunderts skizziert. Aristoteles sagt, nach improvisatorischen Anfängen habe man die jeweils erreichten Fortschritte immer weiter voran getrieben. Die Entwicklung habe ein Ende genommen, als die Tragödie ihre eigentliche Natur erhalten hatte (a–). Aus diesen Äußerungen erschließt Schirren eine ‚Allnatur‘, die auch über viele Zufälle und Kontingenzen hinweg am Ende das in ihr liegende Telos erreicht. Der eigentlich schöpferische Akteur ist also die Allnatur, die sich in den einzelnen Dichtern und über sie hinweg im Weltgeschehen durchsetzt. Die Verwechslung dieses typisch stoischen Lehrstücks (die Natur und der in ihr wirkende Logos durchdringen alles Geschehen, Zufall ist nur eine perspektivische Verzerrung für den menschlichen Betrachter) mit der Aristotelischen Ursachenlehre hat schon Alexander von Aphrodisias (um  n. Chr.) scharf kritisiert (s. Alexander von Aphrodisias, Über das Schicksal, übers. und kommentiert von Andreas Zierl, Berlin , v. a. –; zur Ödipus-Tragödie s. f.). Das . Kapitel gibt aber selbst in ausdrücklicher Klarheit eine Erklärung der Entstehung von Dichtung (b–), die die spätantike und arabische Zuordnung der Dichtung zu einer besonderen Art von Erkenntnis bestätigt. Dichtung entsteht, weil der Mensch zu ‚Mimesis‘ fähig ist. Mimesis ist eine Form des Erkennens und hat Teil an der Lust am Erkennen des Menschen überhaupt. Das sind die beiden ‚natürlichen Ursachen‘ (b), auf Grund deren die Menschen Dichtung entwickelt haben. ‚Natürliche Ursache‘ bezieht sich hier also auf in der Natur des Menschen liegende Vermögen. Diese Vermögen (dýna-

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Diese Konkretheit der Darstellungsweise der Dichtung, bei der das zu erkennende Allgemeine unmittelbar im Einzelnen präsent ist (oder richtiger: sein soll, Aristoteles sieht darin einen Vorzug, den er vor allem von Homer verwirklicht glaubt), ist Mimesis in dem Sinn, wie ihn die Poetik verlangt: Man nimmt Maß an den allgemeinen Tendenzen eines Charakters, etwas vorzuziehen oder zu meiden, indem man diese Tendenzen in einer einzelnen Handlung verkörpert. Ein mimetisches Handeln ist daher keine Nachahmung einer äußeren Wirklichkeit mit ihren vielen Kontingenzen, sondern ein Handeln, das durch seine prägnante Auswahl aus dem möglichen Tun und Reden einer Person, das Innere dieser Person im Äußeren sichtbar macht. Die moderne Ästhetik beginnt bei Baumgarten mit einer Zuweisung der Dichtung zu einer besonderen, sinnlichen Erkenntnisweise. Dichtung und Kunst überhaupt sind ‚ästhetisch‘, weil ihre Gegenstände nicht auf das reduziert sind, was man in abstrakten Begriffen fassen kann, sie sollen vielmehr anschaulich durch eine ‚cognitio sensitiva‘ in ihrer ganzen Konkretheit aufgenommen werden.²⁹ Dieser Zuweisung könnte Aristoteles in bestimmter Weise zustimmen, mit allerdings einer wichtigen Einschränkung: Für ihn ist nicht die sinnliche Deutlichkeit, nicht die vollständige Präsenz der wahrnehmbaren Eindrücke das Primäre, es geht nicht darum, dass man etwas direkt vor Augen zu haben meint, mis) unterscheidet Aristoteles ausdrücklich von Vorgängen in der Natur. Naturvorgänge verlaufen in der ihnen innewohnenden Tendenz (das Feuer wärmt usw.). Menschliche Vermögen aber haben immer die Möglichkeit, betätigt oder nicht betätigt zu werden: Man kann laufen und nicht laufen, man kann diese Fähigkeit ausbilden und nicht ausbilden (Metaphysik IX, , b–a). Der ‚natürliche Endzustand‘ einer solchen Betätigung der eigenen Vermögen ist gerade nicht vorgegeben, er kann erreicht und verfehlt werden. Er bezeichnet eine sachliche Möglichkeit, ist also identisch mit dem ‚eídos‘ von etwas. Ein Kreis hat dann seine Natur, wenn er rund ist, gleichgültig wie diese ‚Natur‘ erreicht ist (S. Metaphysik V,  und dazu Verf., Poetik, –). Für die Dichtung entscheidend ist, die besondere Art des Erkennens zu beachten, die Aristoteles an ihr feststellt. Sie ist kein abstraktes und schon gar kein reduzierendes Erkennen, sondern ein Nachvollzug, der nicht blind ist, sondern von einem Begreifen des Nachgeahmten geleitet ist. Das, was nachgeahmt wird, ist menschliches Handeln (und nicht menschliches Herstellen und Produzieren). Es wird nachgeahmt durch Auswahl des für die Beschaffenheit eines Handelnden charakteristischen Tuns und Sprechens. Auch in dieser nachahmend erkennenden Tätigkeit liegt ein schöpferisches Moment. Dieses Schöpferische kommt aber aus der Erkenntnis, genauer: aus der Erkenntnis dessen, was für einen bestimmten Charakter möglich ist und der aus diesem Möglichkeitspotential gewonnenen Darstellung eines dazu passenden Handelns. ²⁹ Zur Problematik dieser Zielsetzung s. Verf., Die Entgrenzung der Künste durch ihre Ästhetisierung bei Baumgarten, in: G. Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste, Hamburg , –.

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dass man meint, man höre, rieche, fühle es,³⁰ sondern es geht um das, was in diesem Sinnlichen zum Ausdruck kommt, etwas gerade nicht Sichtbares, sondern was im Sichtbaren als das, was dessen besondere Form bestimmt, präsent, man könnte sagen, in der Weise einer Latenz präsent ist.³¹ Da Aristoteles nicht alles und jedes für einen möglichen Gegenstand dichterischer Darstellung hält, sondern nur einzelne Handlungen von Menschen, ist die Frage, was im sinnlichen Äußeren präsent sein soll, grundsätzlich beantwortet: Konkret anschaulich soll das menschliche Handeln sein. Deshalb ist die Frage wichtig, was genau denn Aristoteles unter einer Handlung verstanden wissen wollte. Tatsächlich hat er im Verhältnis zu dem in modernen Sprachen üblichen Sprachgebrauch einen eingeschränkteren, prägnanteren Sinn von Handeln. Aristoteles sagt, Handeln und sich Entscheiden sind ein und dasselbe (to autó gar to praktón kai prohairetón),³² d. h. man handelt, wenn man sich für etwas entscheidet, wenn man eines einem anderen vorzieht. Man steht auf und bleibt nicht liegen, man liest weiter und hört nicht auf, usw. Wenn man etwas einem anderen vorzieht, hält man es in irgendeinem, meist ganz subjektivem Sinn für besser. Auch wenn man lieber böse als gut ist, hält man es für sich selbst für besser, böse zu sein, ja auch der, der sich selbst schädigt oder gar das Leben nimmt, tut dies, weil es ihm besser als etwas anderes, etwa als die Erduldung eines Leidens oder einer Erniedrigung, erscheint. In diesem Sinn kann man sagen, dass das Ziel jedes Handelns ein Gut ist, eben das, was einem gerade gut scheint: Man erstrebt etwas, um eine bestimmte Lust zu genießen, oder man meidet es, um einer Unlust zu entgehen oder sie zu mindern.³³ ³⁰ Zu diesem Ideal literarischer Darstellung in hellenistisch-römischer Literaturtheorie s. Gregor Vogt-Spira, Secundum verum fingere. Wirklichkeitsnachahmung, Imagination und Fiktionalität: Epistemologische Überlegungen zur hellenistisch-römischen Literaturkonzeption, Antike und Abendland , , –. Zum Weiterleben dieses Anschaulichkeitsideals bis ins .Jahrhundert s. z. B. J. J. Breitinger, Critische Dichtkunst, Stuttgart  (= Repr. v. Zürich / Leipzig ) Bd. ., , der vom Dichter verlangt, er möge eine so lebendige Vorstellung erzeugen, dass das, „was ich gesehen, was ich gehöret habe; oder was ich mit meinen Augen sehen, mit meinen Ohren hören würde, wenn mir das Original von dieser Sache vor Augen oder zu Ohren käme“, sich von dieser Vorstellung nicht mehr unterscheiden könnte. ³¹ S. Verf., Epimetheus und Prometheus, oder: Wie man auf verschiedene Weise Latenz präsent machen kann, in: Hans Ulrich Gumbrecht, Florian Klinger (Hgg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen , –. ³² S. Metaphysik VI, , b. ³³ Dass in stoischen oder modernen Pflichtenethiken von einem Handeln die Rede sein kann, das gerade nicht auf irgendwelche Lüste gerichtet ist, sondern allein um der Pflicht willen

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Von besonderer Bedeutung für Aristoteles’ Dichtungsverständnis ist, dass das Verfolgen einer Lust und das Vermeiden dessen, was Unlust bereitet, noch kein Handeln ist. Der Lust folgen auch Tiere und Kinder. Zum Handeln wird das Verfolgen von Lust bzw. die Vermeidung von Unlust erst, wenn man über bestimmte allgemeine Tendenzen, Bestimmtes vorzuziehen und anderes zu meiden, verfügt. Diese Tendenzen aber sind nicht abstrakte Willenshaltungen, sondern erworbene Fähigkeiten. Aristoteles unterscheidet, um diesen Unterschied deutlich zu machen, zwischen verschiedenen Formen dessen, was man kann, d. h. zwischen verschiedenen Formen des Möglichen.³⁴ Es ist möglich, die Grammatik oder eine Sprache zu erlernen. Das ist ein Prozess, der mehr oder weniger gelingen kann und der von einem Zustand, dem Zustand der Inkompetenz, zu einem gegenteiligen Zustand, dem der Sprachkompetenz führt. Hat man diesen Zustand erreicht, verfügt man der Möglichkeit nach über eine Sprache und kann sie, wenn kein äußeres Hindernis, etwa Trunkenheit oder Abgelenktheit dazu kommt, jederzeit anwenden. Diese Kompetenz ist daher kein abstraktes, sondern ein gefülltes, konkretes Vermögen. Es ändert sich daher auch nicht ständig, sondern kommt, wie Aristoteles formuliert, zu sich selbst,³⁵ es erfüllt, verbessert, erweitert sich, es kippt nicht in sein getan wird, ja allein dadurch erst ein moralisches Handeln im eigentlichen Sinn ist und sich von der bloßen Verfolgung einer Lust durch Kinder und Tiere unterscheidet, ist nur scheinbar ein Einwand gegen Aristoteles. Auch für ihn handeln Kinder und Tiere nicht. Der Unterschied zum Handeln im primären Sinn liegt aber nicht in einem Verzicht auf die Lust (Nikomachische Ethik, b–), sondern in einer Fähigkeit, unter den Lüsten zu unterscheiden und eine Ordnung der Lüste zu erkennen, um dadurch zu einer selbständigen Verfolgung der Lust fähig zu sein (s. das Folgende). Dass nicht jedes konkrete einzelne Handeln lustvoll ist, sieht auch Aristoteles. Vieles nimmt man an unlustvollem Tun hin, um eine höhere Lust zu erzielen: Man fastet, um des Genusses der Anerkennung der Schönheit willen, man arbeitet mühsam, um sich an einem schönen Produkt zu erfreuen oder um der Ehre willen, usw. Die ‚Freude an der Pflicht‘ kann in diesem Sinn als die Lust bezeichnet werden, um derentwillen man auf eine direkt im Handeln selbst erlebbare Lust verzichtet. Aristoteles hält diesen Verzicht aber nicht für eine leitende Vorgabe guten Handelns (s. v. a. das Kapitel II,  der Nikomachischen Ethik). Ziel ist immer das Zusammenfallen von Tätigkeit und Lust in einer dem Menschen möglichen höchsten und dauerhaften Lusterfahrung (wie es Aristoteles ausführlich in den Kapiteln – des . Buches der Nikomachischen Ethik darstellt). Ein moralisches Handeln, das nicht als es selbst lustvoll ist, hält er sogar für unmoralisch (Nikomachische Ethik a–). Ausführlich zum Handlungsbegriff bei Aristoteles s. Verf., Poetik, –; –; s. auch Wolfgang Wieland, wie Anm. , –. ³⁴ S. zu dieser Unterscheidung v. a. De anima II, , a–b; s. dazu Wolfgang Bernard, Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles, Baden Baden , –; s. auch Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen , ff.

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eigenes Gegenteil. Wer weiß, was der Artikel ist, kann sein Wissen und seine Anwendungsfähigkeit verfeinern, er bleibt dabei auf der Basis des Grundwissens über den Artikel. In Analogie dazu hat jemand auch dann erst einen Charakter und durch ihn die Fähigkeit zu selbstbestimmter Entscheidung, wenn er seine Fähigkeiten so weit ausgebildet hat, dass er weiß, was ihm Lust und was ihm Unlust bereitet, und dass er in der Lage ist, seine Vorlieben oder Abneigungen auch zu verfolgen. Dies also erst ist Handeln, und dies ist der Grund, weshalb Handeln eine strukturierende Kraft auf das, was jemand tut oder sagt, ausübt. Wie der Sprachkompetente grundsätzlich – und diesem (nicht einem abstrakten) Sinn allgemein über die Vielzahl sprachlicher Ausdrucksformen verfügt und erst dadurch in der Lage ist, sinnvoll beim Gebrauch der Sprache zu entscheiden, welches Wort, welche Formulierung, welche Anordnung der Rede er gebraucht, so ist es bei dem Menschen, der Charakter hat. Der Charakter ist, wie Aristoteles deshalb sagt, ein Mögliches (dynatón – a), er ist das, was jemand durch Anlage, Übung und Erkenntnis kann und deshalb auch in seinem Tun und Reden anwenden kann. Handeln darstellen heißt also, darstellen, wie das, was ein bestimmter Charakter im Allgemeinen kann, in einer bestimmten Situation geschehen müsste. Ein Charakter wie Achill wird es nicht hinnehmen, dass die Pest das Heer vernichtet, er wird es nicht hinnehmen, dass er von Agamemnon entehrt wird, er wird aber auch Mitleid mit dem alten Vater seines größten Feindes Hektor haben usw. Handeln können, heißt also über einen Möglichkeitsraum verfügen, den man jederzeit in aktuelle Wirklichkeit überführen kann. Wenn wir heute von der Handlung eines Dramas, eines Films sprechen, bleiben die meisten dieser Aspekte, die nach Aristoteles erst ein Handeln zum Handeln machen, unbedacht. Wir meinen mit ‚Handeln‘ in der Regel die Geschehensfolge, das, was in einem Stück ‚passiert‘. In ähnlicher Weise versteht man auch in der wissenschaftlichen Erklärung der Poetik seit der Renaissance Handeln als Folge von ‚Begebenheiten‘, als Ereignisfolge, die Renaissancekommentatoren sprachen von einer rerum constitutio.³⁶ Dieser Sprachgebrauch ist, wenn man die Aristotelische Reflexion auf die Bedingungen des Handelns zugrunde legt, konfus, er vermischt Aspekte, die ³⁵ S. De anima bf. ³⁶ S. z. B. Vincenzo Maggi und Bartolomeo Lombardi, In Aristotelis librum depoetica communes explicationes, München  (=),  (Poetiken des Cinquecento ). Zur Erklärung (mit weiteren Beispielen) s. Brigitte Kappl, Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento, Berlin / New York, ff.

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zum Handeln als Handeln gehören, mit Aspekten, die gar nicht zum Handeln selbst gehören, z. B. weil es äußere Umstände, Beeinflussungen, Zwänge, Zufälle sind, die einen Menschen treiben. Wir unterscheiden oft nicht einmal das Handeln von dem, was zu einem Machen, Hervorbringen, Produzieren gehört. Aristoteles aber macht einen strikten Unterschied zwischen práxis und poíēsis, zwischen Handeln und Machen.³⁷ Bei einem Machen liegt das Gut, das man erstrebt, im Äußeren. Wer ein Haus baut, muss sich dabei nach den Bedingungen des Hausbaus richten, sein ‚Machen‘ hat sein Ziel in der Erfüllung der Bedingungen des Hausbaus, nicht in den subjektiven Zielen, um derentwillen er sich das Haus bauen lassen wollte. Diese Ziele können daher auch auseinander fallen. Der Bau des Hauses kann erfolgreich sein, das mit dem Hausbau verfolgte subjektive Gut aber kann dennoch verfehlt werden, etwa wenn sich das subjektive Wohlgefühl gar nicht einstellt, das man sich vom Hausbesitz erwartet hatte. Dieses Auseinanderfallen gibt es besonders häufig bei einem tragischen Handeln – beim Tun wie beim Reden. Hektor z. B. gelingt es in einer rhetorisch-emotional eindringlichen Rede, die Warnungen seines Ratgebers Polydamas, der nach dem Wiedereintritt Achills in den Kampf geraten hatte, dass sich das Heer sofort wieder hinter die Mauern der Stadt zurückziehen solle, zurückzuweisen und das ganze Heer auf seine Seite zu bringen (Ilias , –). Dieser äußere Erfolg stellt sich für Hektor aber nicht als ein innerer Erfolg heraus, denn er muss nach dem gelungenen Sieg über Polydamas erkennen, dass er sein eigentliches Handlungsziel, der Retter Trojas zu sein und sich in diesem Bewusstsein zu genießen, verspielt hat (Ilias , –). Auch bei Neoptolemos im Philoktet des Sophokles ist es ähnlich. Er gewinnt durch Wort und Tat völlig das Vertrauen des Philoktet, der ihm am Ende sogar seinen Bogen übergibt, aber er erkennt, gerade als er die äußeren Bedingungen seines Handelns vollkommen erreicht hat, dass er subjektiv mit dem erreichten Ziel nicht einverstanden ist, weil er sich mit einem durch Lüge erschlichenen Vertrauen nicht wohl fühlt. Obwohl das, was er gemacht hat, erfolgreich war, war er als Handelnder nicht erfolgreich. Das Maß für diesen Misserfolg liegt, wie deutlich ist, ganz im Inneren des Neoptolemos. Es ist sein subjektives Gefühl, das den äußeren Erfolg, das, was er gemacht hat, als einen Misserfolg seines Handelns empfindet.³⁸

³⁷ S. zum Folgenden Verf., Poetik, –; –. ³⁸ S. Verf., Poetik, f.; –.

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Darstellung von Handlung: Darstellung eines subjektiven Zugangs zur Welt Stellt man dieses Handlungsverständnis in Rechnung, ist unmittelbar deutlich, dass die vermeintliche ‚Beschränkung‘ des Gegenstandsbereichs durch Aristoteles, den schon die hellenistischen Theoretiker beklagt haben,³⁹ gar keine Beschränkung in der Auswahl der Gegenstände meint, sondern den Zugang zu ihnen, die Haltung gegenüber möglichen Gegenständen. Auch ein Dichter kann sich mit Himmel und Hölle, mit Zeus und der Unterwelt, mit der Natur und ihren Elementen oder dem Satz des Pythagoras beschäftigen. Er tut dies aber nicht um der theoretisch allgemeinen Erkenntnis willen oder um irgendeinen praktischen Nutzen zu gewinnen, sondern unter dem Aspekt, unter dem diese Gegenstände für ein Individuum etwas Angenehmes, Gutes, Erstrebenswertes sein können bzw. unter dem sie ihm unlustvoll und zu meiden erscheinen. So ist der Nachweis, dass die Innenwinkelsumme des Dreiecks der Summe von zwei rechten Winkeln entspricht, Sache des Geometers, d. h. einer abstrakt allgemeinen Wissenschaft, die Darstellung, wie ein junger Mensch Lust an der Schönheit und Eleganz der Theoreme und Postulate gewinnt und wie er sich deshalb für ein Leben in der Theorie statt für die Praxis entscheidet, oder auch umgekehrt, wie jemand an der trockenen Beweisführung der Geometrie verzweifelt und sich von ihr abzuwenden entschließt, Sache des Dichters, d. h. von jemandem, der die Geometrie unter dem Aspekt betrachtet, wie sie für jemanden Anlass wird, sie als angenehm zu empfinden und sich ihr zuzuwenden oder umgekehrt.⁴⁰ ³⁹ Anders als für Aristoteles hat für Horaz die Dichtung keinen eigenen Gegenstand, sie teilt ihre Gegenstände vielmehr mit der Philosophie (Ars poetica, –), bietet sie aber in einer anderen Form dar und gestützt auf eine ursprüngliche Weisheit (–). Wie aus der Verbindung der Präsentation derselben Inhalte, mit denen sich auch die Philosophie befasst, in der Frühen Neuzeit mit der Herleitung dieser Inhalte aus einer ursprünglichen, intuitiv erfassten Weisheit ein höherer Anspruch der Dichtung gegenüber der Philosophie erhoben wird, s. Brigitte Kappl, Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento, Berlin / New York , –; –; zur Gegenstandsbestimmung der Dichtung im Hellenismus (= ‚göttliche und menschliche Dinge‘) und ihrer Begründung s. Stefan Büttner, Antike Ästhetik. Eine Einführung in die Prinzipien des Schönen, München , –. ⁴⁰ Aristoteles leitet aus dieser Gegenstandsbestimmung der Dichtung auch eine immer noch interessante Unterscheidung über die Kriterien, nach denen man eine Dichtung beurteilt, ab. Ist die Darstellung, auf Grund welcher inneren Verfassung jemand ein bestimmtes Handlungsziel verfolgt, falsch, dann ist das ein dichtungsimmanenter Fehler, er betrifft die ‚ars‘ der Dichtung selbst. Versteht ein Dichter dagegen nichts vom Satz des Pythagoras, so ist das zwar auch ein Fehler, den er vermeiden sollte, wenn er über dieses Thema spricht,

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Im Sinn des heute üblichen Sprachgebrauchs könnte man daher sagen, dass Dichtung die Welt grundsätzlich unter einem Gefühlsaspekt betrachtet. ‚Gefühle‘ wie Liebe, Hass, Zorn, Wut, Eifersucht, Furcht, Mitleid, Scham usw. sind für Aristoteles allerdings Mischungen aus Gefühlen der Lust und Unlust und einem Strebemoment, das zur Verwirklichung bzw. Vermeidung drängt, während die Psychologie seit dem . Jahrhundert Gefühl und Wille als ‚eigenursprünglich‘ gegeneinander abzugrenzen pflegt.⁴¹ Man wird zumindest feststellen können, dass die Aristotelische Gefühlsanalyse den Phänomenen der Erfahrung gerecht wird.⁴² Wer sich schämt, will die Beschädigung seiner Ehre vermeiden, wer sich fürchtet, will einer Bedrohung entgehen usw., mit dem Gefühl der Unlust ist immer auch ein Wille, die Unlust zu meiden, verbunden. Da Dichtung nach Aristoteles nicht abstrakt über etwas reden, sondern etwas ‚nachahmen‘, d. h. in einem konkreten Vollzug darstellen soll, kann sie in seinem Sinn auch keine bloße Gefühlsschilderung sein, sondern Darstellung derjenigen konkreten, einzelnen Aktivität, die Ursache dafür ist, dass man ein bestimmtes Gefühl empfindet und ein bestimmtes Streben entwickelt. Der Sprachgebrauch, wie er sich in den modernen westlichen Sprachen entwickelt hat, steht einem korrekten Verständnis des bei Aristoteles Gemeinten also sowohl beim Begriff des Handelns wie dem des Gefühls und des Willens entgegen. Handlung ist kein bloßes Tun oder Geschehen, sondern eine auf eine bestimmte Lust gerichtete Aktivität, Gefühl ist kein bloßer Empfindungszustand, sondern die eine bestimmte Tätigkeit begleitende Lust (bzw. Unlust), Wille ist kein eigenständiger Akteur in uns, sondern der Zielaspekt an einem mit Lust oder Unlust vollzogenen und durch die Vorstellung der Zeit in die Zukunft erweiterten Erkenntnisakt.⁴³ Diese Aspekte sollen im Folgenden noch deutlicher herausgearbeitet werden, zunächst sollte nur plausibel werden, dass auch die Aristotelische Auffassung, Dichtung sei Mimesis handelnder Menschen, eine bestimmte, an die es ist aber ein für seine Dichtkunst akzidenteller Fehler, der daher auch vom Mathematiker, nicht von einem Kunstrichter korrigiert werden muss. S. Poetik Kap. , v. a. b–; s. dazu Verf., Poetik, ; –. ⁴¹ Zum komplexen Zusammenhang von Erkennen, Fühlen, Wollen, Handeln bei Platon und Aristoteles s. Verf., Die Moderne und Platon, Stuttgart / Weimar ², –. ⁴² Zur Aristotelischen Gefühlsanalyse s. jetzt die umfassende Behandlung bei Michael Krewet, Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles, Heidelberg  (mit ausführlicher Diskussion der Sekundärliteratur). ⁴³ S. Krewet (wie Anm. ), –. S. auch Viviana Cessi, Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt a. M. , –.

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einzelne Anschauung und an Gefühle gebundene Haltung zur Welt meint und nicht in einer Einschränkung möglicher Gegenstände der Dichtung ihren Grund hat. Die Einschränkung besteht in der Art des Zugangs zu möglichen Gegenständen, nicht einer Auswahl bestimmter Gegenstände. Einen ersten Zugang zur Klärung der Frage, weshalb Aristoteles das dichterische Erkenntnisinteresse primär als ein Interesse an der Lust oder Unlust, die die Tätigkeit des handelnden Menschen begleiten, versteht, kann gerade die Antwort auf die Frage bringen, weshalb er nur Tragödie, Komödie und Epos in seiner Dichtungstheorie eines ausführlichen Behandlung würdigt. Weshalb behandelt Aristoteles nur Tragödie, Komödie und Epos? Tragödie, Komödie und Epos als ‚vollständige‘ Handlungen Die Poetik kündigt gleich im ersten Satz nicht nur eine Behandlung der Frage, was überhaupt Dichtung ist, sondern auch eine Behandlung der verschiedenen Arten bzw. Gattungen⁴⁴ der Dichtung (af.) an. Angesichts der Tatsache, dass die Poetik selbst eine ziemlich große Zahl unterschiedlicher Dichtungsarten kennt, ist es erstaunlich, dass ohne Begründung und Kommentar nur drei Arten: Tragödie, Komödie und Epos tatsächlich behandelt werden. Da der Text der Poetik keine Aussage über diese Beschränkung macht, kann die Interpretation nur auf indirekte Weise geschehen. Sie kann deshalb nicht die gleiche Sicherheit beanspruchen wie bei einer ausdrücklichen Textgrundlage, sie muss aber nicht willkürlich sein. Denn die Poetik selbst zeichnet die vollständig und einheitlich durchgeführte Handlungsdarstellung als das wesentliche Merkmal aus, durch das eine Dichtung überhaupt Kunstcharakter erhält. Eine Handlung (sýstasis tōn pragmátōn), „die ganz und vollständig ist mit Anfang, Mitte und Ende“, „wie bei einem Lebewesen“ (a–), „bei der man keinen Teil umstellen oder wegnehmen kann, ohne dass das Ganze sich ändert“ (af.),⁴⁵ haben in vollständiger Realisation tatsächlich nur die ⁴⁴ Obwohl Aristoteles der Unterschied zwischen Art und Gattung geläufig ist, macht er in der Poetik keinen Unterschied zwischen beiden Begriffen, sondern spricht nur von Arten der Dichtung. Da er nur Epos, Tragödie und Komödie behandelt, aber viele zu diesen ‚Arten‘ gehörende Unterarten aufführt, kann man auch in seiner Terminologie bei diesen Hauptarten von Gattungen der Literatur sprechen. ⁴⁵ Mit einigen, allerdings nicht unbedeutenden Einschränkungen kann man die Aristotelischen Hauptgattungen als ‚Prototypen‘ verstehen, wenn unter ‚Prototyp‘ der jeweils ‚clearest case‘ einer Kategorie verstanden wird (s. Eleanor Rosch (wie Anm. )). Prototypisch

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drei großen Arten Tragödie, Komödie und Epos. Bei den anderen in der Poetik erwähnten kleineren Formen von Dichtung ist die Frage, ob sie eine Mimesis einer Handlung sind, zumindest der Klärung bedürftig. Manche Kleinformen behandelt Aristoteles als Vorformen der Großgattungen und betont ausdrücklich und mehrfach, dass der Unterschied zwischen diesen Vorformen und den Kunstformen im eigentlichen Sinn in der Fähigkeit, eine Handlung ganz und einheitlich durchzukomponieren, liege. So lobt er Homer dafür, dass er für die Komödie (mit seinem Margites) wie für die Tragödie das „Schema“ der Dramatisierung (im Sinn einer Handlungsdarstellung) vorgegeben habe (b–). Bei der Komödie des . Jahrhunderts spricht Aristoteles die Leistung „Mythen (d. h. eine sýstasis tōn pragmátōn, Handlungskomposition) zu schaffen“, Dichtern wie Epicharm, Phormis und Krates zu und grenzt diese Leistung gegen eine Form bloßer Verspottungsszenen ab (b–). Dass diese Inkorporierung des direkten Spotts in eine dramatische Handlung Bedeutung für den Kunstcharakter einer Dichtung hat, bestätigt mit einem klugen Urteil noch ein vermutlich byzantinischer Gelehrter namens Platonios, der über Kratinos (der zur ‚älteren Komödie‘ gerechnet wird) sagt, er habe durch ständige direkte Diffamierungen seine Komödien um ihren Handlungszusammenhang gebracht.⁴⁶ Erst durch die Handlung gewinnen die Teile untereinander und zum Ganzen eine zusammengehörende Ordnung. ‚Defekte‘ Vorformen von Handlungskompositionen Es wäre meinem Urteil nach allerdings voreilig, aus diesem Befund den Schluss zu ziehen, alle kleineren Formen von Dichtung, die wir meistens der Lyrik zurechnen, seien für Aristoteles bloße Vorformen. Das, was Aristoteles als Vorformen charakterisiert, sind nicht einfach Kleinformen, sondern a) Formen, bei denen sich die Autoren in Lob (‚Enkomien‘, ‚Hymnen‘) oder Tadel (‚Jamben‘) direkt an reale Personen wenden und ihre Darstellung sind diese Gattungen für Aristoteles allerdings nicht, weil man im üblichen Sprachgebrauch zuerst an sie denkt, wenn von Literatur die Rede ist, – das würden nicht nur wir heute nicht tun, eine solche Präferenz in der ordinary language gab es auch in der Klassischen Antike nicht –, prototypisch sind sie im Sinn der Aristotelischen Sachanalyse. S. das Folgende und unten S. ff. ⁴⁶ S. Platonio: La commedia greca. Edizione critica, traduzione e commento di Franca Perusino, Urbino , .

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nicht durch die Einbettung in eine Handlung vom direkten Bezug auf das jeweils Gegenwärtige frei machen. Heutigem Sprachgebrauch folgend, würde man dieses Verfahren als Durchbrechung der Dimension des Fiktionalen bezeichnen. In Aristotelischer Deutung muss man etwas genauer differenzieren, denn für Aristoteles geht es nicht um die Frage, ob der Gegenstand eines Textes real oder fiktiv ist,⁴⁷ sondern um die Frage, ob die Differenz zwischen einer medialen und einer realen Präsenz beachtet ist. Dichtung, gleichgültig ob ihr Gegenstand wirklich oder fiktiv ist, präsentiert diesen Gegenstand immer in einem Medium (auch ein Traum z. B. ist in der Kunst nur in einem Medium präsent, – in Farbe und Form, in der Sprache, in beschreibender Darstellung – nicht als er selbst). Die Bedingungen, durch die diese Präsenz im Medium zustande kommen kann, d. h. die Prägung der Form des Mediums durch das ‚Wie‘ des Gegenstands, können von vorneherein nicht erfüllt werden, wenn dieser Formungsprozess ständig durchbrochen oder abgebrochen und nur partiell oder gar nicht wieder aufgenommen wird. Da ‚Nachahmung‘ die Präsenz des Gegenstands in einem Medium meint, bedeutet der Wechsel zwischen medialer und (nicht mimetischer, sondern realer) direkter Präsenz eines Gegenstands nichts weniger als die Aufhebung des Kunstcharakters der Kunst. b) Ein ähnlicher Effekt ergibt sich, wenn sich die Formung des Mediums auf nur einen oder einige wenige Züge eines handelnden Menschen beschränkt. Auch sie rechnet Aristoteles zu den Vorformen und merkt an, dass beinahe alle Dichtung in ihren Anfängen so verfährt, denn es sei leichter, eine auch im sprachlichen Ausdruck gelungene Darstellung von Charakterzügen oder einzelnen Gefühlen zu verfassen, als eine durchkomponierten Handlungsgestaltung (a–). Kleinformen als ‚verdichtete‘ Handlungen Die im letzten Abschnitt besprochenen Einschränkungen müssen aber nicht für alle Kleinformen der Dichtung gelten, so dass man sagen könnte, Aristoteles habe sie nicht behandelt, weil er sie für geschichtlich überholt hielt.

⁴⁷ Aristoteles betont in der Poetik gleich dreimal, dass die Unterscheidung, ob ein Gegenstand wirklich oder erfunden ist, für die Qualität einer Dichtung gleichgültig ist: b–; b–; b–b. (s. dazu Verf., Poetik, –; –; f.)

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Denn er hält zwar das Lehrgedicht (b) und eine versifizierte Geschichtsdarstellung (b–) nicht für Dichtung in dem von ihm umgrenzten Sinn. Die von ihm erwähnten kleineren Formen führt er dagegen manchmal sogar als Beispiele für mögliche Besonderheiten von Dichtungsarten an. So sagt er von einer Rhapsodie eines Chairemon, sie sei als Mimesis Dichtung, auch wenn ihre Form aus vielen Metren zusammengesetzt sei (b–). Die Parodien eines Hegemon aus Thasos dienen ihm zusammen mit der Deilias eines Nikochares als Beispiele für die Gattung, deren Gegenstände das Handeln ‚schlechterer‘ Menschen ist (a–). Die Tragödie selbst hat für Aristoteles zwei Arten (eídē, b), den Dialog und die Melopoiia, die ‚Lieddichtung‘, d. h. diejenige Dichtungsart, die wir vor allem der Lyrik zurechnen. Die Stasima, die Kommoi oder Threnoi (Chorlieder, Wechselgesänge von Chor und Schauspieler, Klagearien) sind lyrische Formen tragischer Mimesis. Für den Ausschluss der Lehrdichtung und einer versifizierten Geschichtsschreibung gibt Aristoteles einen Grund an. Er lautet: Sie sind keine Mimesis von Handlung (a–; a–). Insbesondere aus der Unterscheidung einer poetischen Handlungsdarstellung von der Geschichtsschreibung oder der Biographie, die der Dichtung nahestehen, ja von vielen für Dichtung gehalten werden, wird deutlich, dass Dichtung eine Form der Auswahl, Konzentration, Verdichtung ist. Im Unterschied zur Geschichtsdarstellung, die alles und jedes aufnehmen und deuten muss, was in einem Zeitraum oder in einem Lebenslauf geschieht, konzentriert sich die Dichtung auf eine enge Auswahl, auf genau diejenigen Momente aus dem Ganzen einer Geschichte, die tatsächlich Ausdruck des Handelns eines Menschen sind. Am Beispiel der homerischen Epen, die für Aristoteles Vorbildcharakter haben, kann man diesen Unterschied sehr prägnant nachprüfen. Die Ilias z. B. stellt nicht den trojanischen Krieg dar, sie ist kein, wie Aristoteles das nennt, ‚kyklisches‘ Epos. Homer schreibt geradezu gegen die Geschichtszeit an und beschränkt sich auf wenige Tage aus dem Ganzen des zehnjährigen Kriegs, auf die wenigen Tage, in denen der Zorn des Achill entsteht, seine Wirkung entfaltet und schließlich in der Versöhnung mit dem Vater seines Gegners Hektor endgültig beigelegt wird.⁴⁸

⁴⁸ S. Verf., Poetik, –; –; s. auch Verf., Die Ilias – ein Meisterwerk der Literatur, in: Reinhard Brandt (Hg.), Meisterwerke der Literatur. Von Homer bis Musil, Leipzig , –.

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Zwar nicht der Verszahl nach, aber thematisch ist die Ilias also eine Verkürzung, die Verkürzung einer langen Gesichte auf eine „wohl überschaubare“ (a) Handlung. Das Kriterium, ob etwas eine vollständige Handlung hat, liegt, wie Aristoteles betont, nicht im Umfang, sondern in der Verstehbarkeit von Anfang, Mitte und Ende einer Handlung. Man muss verstehen können, weshalb sich jemand für eine bestimmte Lust oder gegen eine bestimmte Unlust entscheidet und wie er dieses Ziel erreicht oder verfehlt (a–). Auch wenn die Poetik keine ausdrückliche Erklärung gibt, scheint es mir in der Konsequenz des aristotelischen Dichtungsbegriffs selbst zu liegen, dass es nicht nur kleinere Vorformen geben kann, deren Formung wegen einer ungenügenden Erfahrung mit den Bedingungen einer Handlungskomposition noch inkonsistent oder unvollständig ist. Der Sache nach ist auch, ja gerade im Urteil des Aristoteles die kunstgemäß geübte oder durch Begabung gefundene Fähigkeit, eine Handlungskomposition zur Grundlage der dichterischen Aktivität zu machen, seit Homer erprobt. Also muss auch die Hinwendung zu kleineren Formen der Dichtung,⁴⁹ die es in der griechischen Literatur nicht erst im Hellenismus, sondern in gewisser Weise bereits bei Hesiod, auf jeden Fall in der frühgriechischen Lyrik gibt, zumindest bei einigen Dichtern auf einer Fähigkeit zu prägnanter Auswahl und Verdichtung beruhen können, durch die sie ein komplexes Handeln auf wesentliche Aspekte zusammenziehen. Eine solche Fähigkeit kann man im Bereich der lyrischen Partien der Tragödie z. B. bei Sophokles beobachten. Im ersten Chorlied des König Ödipus etwa zeigt er, wie der Kronrat des Ödipus versucht, eine eigene Stellung zu dem Vorwurf des Teiresias, Ödipus selbst sei der Mörder des Laios, zu finden. Der Täter, so entwickelt der Chor seine Vorstellung in den ersten beiden Strophen, müsse ein wildes Ungeheuer sein, auf den Apollon selbst mit Feuer und Schwert und einer Schar wilder Keren herunterstürzen werde. Dann aber überlegt der Chor, was er von den Anschuldigungen des Teiresias zu halten habe. Von einem Streit zwischen den beiden Königshäusern in Theben und ⁴⁹ Bei Homer selbst kann man die Beobachtung machen, dass nicht nur die Gesamtanlage seiner Epen eine Handlungskomposition ist, diese Gesamtanlage ist ihrerseits aus einer unendlichen Vielzahl von kleineren oder größeren Handlungen zusammengesetzt, – bei der Beschreibung von Eigenschaften der Handelnden, bei der Vorstellung einzelner Menschen, in ‚Exkursen‘, in den vielen Einzelszenen, in den Gleichnissen usw. S. dazu die vorzügliche Darstellung und Erklärung durch Ernst-Richard Schwinge, Homerische Epen und Erzählforschung (wie Anm. ); zum Handlungscharakter der Gleichnisse s. auch Wolfgang Schadewaldt, Von Homers Welt und Werk, Stuttgart ³, ff.

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Korinth habe man niemals etwas gehört, also gebe es kein nachprüfbares Kriterium (keinen básanos, v. ), an dem man die Anschuldigungen des Teiresias nachkontrollieren könne. Auch wenn Zeus und Apollon alle Wahrheit kennten, Menschen, auch Priester, könnten sich irren. Von Ödipus dagegen habe man ein sicheres Kriterium (einen básanos, v. ) dafür, dass er ein Heil für die Stadt sei. Er habe für alle sichtbar die Sphinx überwunden, also werde er, der Chor, niemals seine Zustimmung zu den Vorwürfen des Priesters geben (vv. –).⁵⁰ Dieser kleine Text enthält eine vollständig durchgeführte Handlungskomposition im aristotelischen Sinn. Der Chor beginnt, indem er sich die Situation, in der er sich befindet, vor Augen stellt, er fühlt sich in einer ‚Aporie‘ (v. ) und sucht einen Ausweg. Diese Suche führt er durch und kommt am Ende zu einem Ziel: Er nimmt eindeutig – rational und emotional – Partei für Ödipus. Nichtpoetische Formen von Literatur Welche poetische Bedeutung die Tatsache hat, dass dieses Chorlied ‚Mimesis einer Handlung‘ ist, kann ein Vergleich mit Dichtungen lehren, die nicht als Mimesis von Handlung aufgefasst werden können. In der sogenannten frühgriechischen ‚Elegie‘ z. B. findet man eine Reihe von Dichtungen, die in aristotelischer Perspektive eher versifizierte Rhetorik als Dichtung sind. Das muss keineswegs ein negatives Urteil über die Qualität dieser Texte sein, es erklärt aber die Besonderheit dieser Texte und deren Aussageabsicht und unterscheidet sie von spezifisch poetischen Anliegen. Kallinos und Tyrtaios etwa haben ‚Elegien‘ geschrieben, in denen sie sich in einer bestimmten historischen Situation ratend und auffordernd an die Jugend ihrer Städte wenden, um sie zu einem tapferen Eingreifen in aktuelle Kämpfe, zu bewegen.⁵¹ ⁵⁰ S. Verf., Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern. Zur Handlungsmotivation im Sophokleischen ‚König Ödipus‘, Rheinisches Museum , , –; s. auch Verf., Poetik, –. ⁵¹ S. M. L. West (Hg.), Iambi et elegi Greaeci ante Anlexandrum cantati, Bd. , Oxford ², Kallinos Frgm ; Tyrtoaios Frgm. . Eine deutsche Übersetzung bietet Joachim Latacz (Hg.), Die griechische Literatur in Text und Darstellung. Bd. : Archaische Periode, Stuttgart ², –; –. Unter einem gattungstheoretischen Gesichtspunkt ist die Zuordnung dieser frühgriechischen ‚Elegie‘ zur Dichtung nach Aristoteles eine Unterbestimmung. Sie ist ausschließlich an der Form des Mediums orientiert. Diese verkürzte Bestimmung ist für Aristoteles einerseits in einem populären Missverständnis von Dich-

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Sie greifen mit der Kunst der Überzeugung in eine reale Situation ein, und auch jeder, der später diese ‚Dichtungen‘ ihrer eigenen Intention gemäß benutzt, benutzt sie wieder, um ein aktuelles Anliegen durchzusetzen. Dementsprechend ist auch die Gedankenführung in diesen Gedichten rhetorisch, sie ist ‚enthymematisch‘.⁵² Die Grundform ist: ‚Weil es ehrenvoll ist, im Kampf zu fallen, oder weil es schimpflich ist, oder weil der Tod ohnehin unvermeidlich ist, deshalb kämpft mit!‘ In ähnlicher Weise stellen auch Theognis oder Solon keine Handlungen dar, sondern raten, warnen, verteidigen oder tadeln, immer in der Absicht, dass der, der ihre Texte liest, sich von ihnen zu aktuellem Tun bewegen lassen soll. Da Aristoteles Solon geschätzt hat,⁵³ kann man davon ausgehen, dass er seine ‚Gedichte‘ nicht für schlechte Literatur in einem weiteren Sinn gehalten hat. Sie sind aber keine Texte, bei denen die Ordnung der Teile und der Stil der Darstellung aus der Mimesis einer Handlung kommen. Für ein kritisches Urteil über diese Texte ist daher nicht die Frage entscheidend, ob in ihnen ‚mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit‘ gezeigt ist, ‚dass ein Mensch von dieser Beschaffenheit genau dieses sagt oder tut‘ (b–), sondern die – in die Rhetorik gehörende – Frage, ob es in ihnen gelungen ist, das Überzeugende an einem Anliegen gut herauszuarbeiten und in der richtigen Weise an ein bestimmtes Publikum zu vermitteln.⁵⁴ Auch aus dem Ausschluss der Lehrdichtung oder der Darstellung von Lebens- oder Geschichtsverläufen aus dem Bereich der Dichtung durch Aristoteles muss man nicht den Schluss ziehen, Aristoteles habe den Wert und die mögliche literarische Qualität solcher Werke nicht zu schätzen gewusst. Eine Lehrdichtung erhält ihre Ordnung und Form aber nicht aus einer Handlungsmimesis, sondern aus der Art von Erkenntnis, die sie vermittelt. Sie bedient tung begründet, man kann sie aber auch ausdrücklich als Literaturwissenschaftler benutzen, wenn man einen historisch (z. B. durch eine ‚bei den Leuten‘ übliche Auffassung) geprägte Tradition vorfindet, zu der sich keine inhaltlich einheitlichen Kriterien ergänzen lassen. So verfährt ausdrücklich Latacz (ebda. ff.). ⁵² Zum Enthymem und seiner Funktion in der Rhetorik s. Verf., Poetik , –. ⁵³ Aristoteles spielt gut Mal auf Solon an und fast immer als Beleg für etwas Richtiges. S. H. Bonitz, Index Aristotelicus, Graz ², f. ⁵⁴ S. dazu v. a. das Kapitel I,  der Aristotelischen Rhetorik. S. Aristoteles, Rhetorik, übers. u. erl. v. Christof Rapp, Berlin  (zur Stelle); zur besonderen Konzeption der Aristotelischen Rhetorik, nicht eine Technik des Überzeugens zu lehren, sondern das Überzeugende in etwas zu ermitteln und zu vermitteln s. Verf., Poetik, ff.

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sich dazu lediglich gewisser formaler Mittel, die man von der Dichtung übernehmen kann, sie sind nicht textkonstitutiv für sie. Eine historische Darstellung andererseits hat ihre Aufgabe in der möglichst getreuen Darstellung und Deutung eines bestimmten Zeit- oder Lebens-Abschnitts, sie kann sich nicht wie die Dichtung auf das selbständige Handeln und dessen Folgen konzentrieren.⁵⁵ Anders als die Geschichtsschreibung des . Jahrhunderts mit ihrer Suche nach allgemeinen Bedingungen findet man bei Herodot eine dem aristotelischen Dichtungsverständnis sehr nahe kommende Konzentration auf die menschlichen Akteure und ihre Handlungsmotive.⁵⁶ Als Geschichtsschreiber muss Herodot aber darüber hinaus viele weitere Bedingungen mit in Betracht ziehen, auch wenn sie weder als Voraussetzung noch als Folge des Handelns einer Person relevant sind. Maßstab der Kritik einer Geschichtsdarstellung ist daher nicht die Vollständigkeit und Einheitlichkeit der Handlung. Ein solcher Gesichtspunkt würde der Aufgabe der Geschichtsschreibung nicht gerecht, denn sie kann nicht nur, sie muss sich mit vielem beschäftigen, was im Sinn des . Kapitels der Poetik zu dem gehört, was für eine Dichtung nur ‚akzidentell‘ ist (b).⁵⁷ Die Abgrenzung der Dichtung von anderen Textarten durch Aristoteles gibt, wie man sehen kann, durchaus sachgerechte Kriterien zur Beurteilung an die Hand, sie ist nicht von sich aus mit einem wertenden Urteil verbunden. Sie ⁵⁵ S. dazu Verf., Die Literatur und ihr Gegenstand in der Poetik des Aristoteles, in: Thomas Buchheim u. a. (Hgg.), Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles? (wie Anm. ), –. Im Sinn der Urteilskriterien über die literarische Qualität eines Textes, wie sie Aristoteles im . Kapitel der Poetik entwickelt (s. oben Anm. ) ist, ist die Struktur und der Stil einer Lehrdichtung oder einer ‚poetischen‘ Geschichtsdarstellung von Bedingungen abhängig, die nicht zur Dichtung als Kunst gehören, sondern ihr gegenüber akzidentell sind. Ob die Schlachten bei Salamis und bei Himera an ein und demselben Tag stattgefunden haben, ist eine Frage, deren Richtigkeit von historischer Recherche abhängt, warum sich Xerxes dazu hat überreden lassen, eine Seeschlacht gegen die Griechen gerade in der Bucht von Salamis zu führen, ist eine poetische Frage, die auch von Poeten, z. B. von Aischylos, behandelt worden ist. Auch ihr Pendant im . Buch der Historien Herodots hat poetischen Charakter. Lediglich die Gesamtdarstellung des Kriegsgeschehens durch Herodot überschreitet die Möglichkeiten und Ziele der Dichtung. Denn nicht alles, was in diesem Zeitraum geschah, war ein Handeln des Xerxes. ⁵⁶ S. Jörg Schulte-Altedorneburg, Geschichtliches Handeln und tragisches Scheitern. Herodots Konzept historiographischer Mimesis, Frankfurt / New York / Oxford,  (Studien zur Klassischen Philologie Bd. ). ⁵⁷ Zu der immer noch beachtenswerten und interessanten Unterscheidung zwischen dichtungsimmanenten und für sie akzidentellen Fehlern s. Verf., Poetik, ; f.

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verweist andererseits aber auch auf die Bedingungen, die dichtungsspezifisch im Sinn der aristotelischen Differenzierung sind. Kriterien für die Poetizität kleinerer Dichtungsformen – mit Beispielen Unter den möglichen Aktivitäten, mit denen sich der Mensch beliebigen Gegenständen der Welt zuwenden kann, hat Aristoteles diejenigen Aktivitäten abgegrenzt, mit denen wir aus eigener Entscheidung eine Lust suchen oder eine Unlust meiden, d. h. ein subjektives Gut anstreben. Allein dieses Verhalten nennt er Handeln. Die Darstellung dieses Handelns nicht um des Handelns, sondern um der Erkenntnis willen, führt zu einer poetischen Qualität, weil die Konzentration auf eine Handlung in der Darstellung eine Ordnung der Einzelmomente des Handelns und eine Formung der Ausdrucksweise mit sich bringt. Bei dieser Konzentration auf die Handlung hat man die Möglichkeit, die Handlung mit allgemeinen Begriffen oder anderen Formen der Beschreibung symbolisch zu präsentieren, man kann aber auch die Handlung selbst im Medium der Sprache nachvollziehen. Diese letztere Möglichkeit bezeichnet Aristoteles als Dichtung. Die Gründe, mit denen er diese so verstandene Dichtung gegen andere Textarten abgrenzt, verdeutlichen auch die Anforderungen an einen Text, der als Dichtung gelten soll. Es gibt offenbar nicht nur innere Probleme in der Gestaltung der Handlung, der es z. B. an Konsistenz, an Wahrscheinlichkeit der Herleitung aus dem Charakter fehlen kann, es gibt auch die Überschreitung des medialen Mimesisvollzugs z. B. durch die Durchbrechung des medialen Charakters, etwa durch die Verfolgung nicht handlungsimmanenter rhetorischer Anliegen, durch die Übernahme lediglich formaler Mittel der Dichtung in andere Disziplinen (z. B. durch die Verwendung des eigentlich für die Darstellung bedeutender Handlung gefundenen Hexameters bei der Darstellung wissenschaftlicher Lehren), durch die Konzentration auf einzelne Charakterzüge, statt auf eine Handlung bzw. Handlungseinheit, durch eine Darstellung, die nur durch zusätzliche (nichtliterarische) Information von außen verständlich ist usw. Kombiniert man die positiven Bestimmungen der Handlungsdarstellung mit den Kriterien der Abgrenzung von anderen Textarten durch Aristoteles gewinnt man eine ganze Reihe von Gesichtspunkten, von denen her man auch bei anderen Literaturarten als Tragödie, Komödie und Epos prüfen kann, ob sie als Dichtung im Sinn der Poetik verstanden werden können. Da die Poetik auf Hymnen und Enkomien hinweist (b), kann man davon ausgehen, dass Aristoteles selbst die homerischen Hymnen auch als

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Dichtungen in seinem Sinn angesehen hat. Sie, d. h. zumindest die meisten der längeren Hymnen, erfüllen die Bedingungen, die für eine Handlungsdarstellung, einen ‚Mythos‘, nötig sind, weitgehend. Sie haben die (meist) ausdrückliche Absicht, etwas über die Beschaffenheit eines Gottes auszusagen und ihn dadurch zu rühmen. Aber sie tun dies nicht in verallgemeinernden Beschreibungen, auch nicht einer rhetorischen Lobrede (im Sinn des génos epideiktikón, genus demonstrativum), sondern in der Darstellung der Handlungen des Gottes, die nicht kontingent nebeneinander stehen, sondern in funktionaler Beziehung auf ein gemeinsames Ziel sind. Der Demeterhymnus (Hymnus )⁵⁸ z. B. beginnt mit einer Begründung des Leids der Göttin (die Tochter Persephone wird ihr geraubt und Hades zur Frau gegeben) und führt dann die (selbst leidvollen) Handlungen vor, durch die die Göttin versucht, gegen dieses Leid (áchos, v. ) anzukämpfen. Er endet mit einer Milderung dieses Leids durch das Zugeständnis des Zeus, dass die Tochter nur den dritten Teil eines Jahres im Dunkel des Hades verbringen müsse (v. f.). Der ganze Hymnus ist eine Handlung (aus mehreren aufeinander bezogenen Handlungen). Sie ist nicht tragisch im Sinn des . Kapitels der Poetik, die Göttin bringt sich nicht selbst durch eine, wenn auch verständliche Hamartia ins Unglück, wohl aber enthält sie schweres Leid, das erst ganz am Ende noch abgebogen und gemildert wird (das würde zum . Kapitel passen). Sicher kann man aber sagen, dass dieser Hymnus zeigt, wie ein Handelnder, in diesem Fall eine Göttin, seinem Wesen gemäß sich in Rede und Tun äußert und dadurch dieses Wesen zu erkennen gibt. In ähnlicher Weise erzählt der große Hymnus an Aphrodite (Hymnus ),⁵⁹ wie auch Aphrodite selbst einmal erfährt, was es heißt, ‚furchtbares Liebesverlangen‘ (v. ) zu empfinden, wie sie sich dadurch selbst verblenden lässt (v.  aásthai = Ate = hamartía) und so in ihrem eigenen Handeln offenbar macht, welche Macht sie verkörpert. In beiden Gedichten ist das thematische Zentrum die Hinwendung zu einem subjektiven und subjektiv empfundenen Gut bzw. die Vermeidung des Verlusts dieses Gutes, sie haben auch in dieser Hinsicht eine ‚aristotelische‘ Handlung und erzählen nicht nur eine Geschichte oder Geschichten. ⁵⁸ S. N. J. Richardson (Hg.), The Homeric Hymn to Demeter, Oxford . ⁵⁹ S. Homeri opera rec. Thomas W. Allen, Oxford  (weitere Aufl. und Repr.); Gerd von der Gönna, Erika Simon (Hgg.), Homerische Hymnen. Übertragung. Einführung und Erläuterungen von Karl Arno Pfeiff, Tübingen .

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Im . Kapitel der Poetik erörtert Aristoteles, welchen Umfang eine Handlung haben müsse und was die Bedingungen der Ganzheit und Vollständigkeit sind. Neben den formalen Bedingungen, dass sie Anfang, Mitte und Ende haben müsse,⁶⁰ erörtert er, wie groß und in welcher Ordnung der Teile eine Handlung komponiert sein müsse (b–). Sein Hauptkriterium ist auf die Erkennbarkeit der Handlung bezogen: Sie soll ‚gut überschaubar‘ und ‚gut im Gedächtnis zu behalten‘ (eusýnoptos und eumnēmóneutos) sein. Diese Bedingungen scheinen ihm optimal erfüllt bei einer Handlung, die relativ groß ist und dennoch klar und deutlich erkennbar bleibt. Diesen Vorzug hat die ganz, in allen wesentlichen Teilen durchgeführte Handlung der Tragödie, die Aristoteles deshalb für das Maß hält, von dem her man die Erfüllung der Kriterien einer guten Dichtung gewinnen könne. Er setzt aber zu diesem quantitativen Maß noch ein qualitatives hinzu: Richtig sei immer der Umfang, den man benötige, um darzustellen (und als Rezipient zu begreifen), weshalb es notwendig oder wahrscheinlich war, dass jemand durch sein Handeln glücklich oder unglücklich geworden ist (a–). An diesem Kriterium orientiert er auch seine Synkrisis von Epos und Tragödie im . Kapitel der Poetik und gesteht auch dem um ein Vielfaches an Umfang die Tragödie übertreffenden Epos eine mögliche hohe Qualität der Handlungsgestaltung zu (sc. wenn sie so gemacht ist wie bei Homer – b–). Die äußerste Grenze, die man beim Umfang einhalten müsse, setzt er zudem extrem weit an. Die Handlung darf nicht so kurz sein, dass man beim Versuch, sie zu verstehen, in Konfusion gerät, weil man die Teile nicht mehr auseinanderhalten kann, sie darf aber auch nicht so lang sein, dass einem das Ganze beim Betrachten aus den Augen verschwindet – wie bei einem Lebewesen, das zehntausend Stadien groß wäre (b–a). Macht man diese Kriterien zur Grundlage der eigenen Urteilsfindung, liefern sie eine ganze Reihe zumindest plausibler Gründe dafür, dass nicht nur Handlungsdarstellungen, die wie manche Epen um vieles länger als die Tragödie oder die Komödie sind, den Kunstcharakter von Dichtung haben können, sondern ebenso verkürzte Handlungsdarstellungen, wenn sie in der Tat Darstellung von Handlung sind, deren Verständnisbedingungen in die Handlung eingearbeitet sind bzw. die intertextuell in der Handlungsdarstellung selbst präsent sind. ⁶⁰ Gemeint mit dieser Formulierung ist natürlich nicht, dass jedes Geschehen einen Anfang und ein Ende haben müsse, vieles geht ja einer Handlung voraus, anderes folgt, sondern dass die Handlung einen Anfang, d. h. eine Entscheidung haben müsse, ein Ende in Glück oder Unglück und einen Weg zwischen beiden.

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Sappho berichtet in einem Gedicht ( Voigt / L.-P. =  LGS), wie eine ihrer Schülerinnen beim Abschied sich weinend wünschte, lieber tot zu sein, und stellt das viele Schöne, das sie gemeinsam erlebt haben, in einer Reihe einzelner Bilder vor, an die sie sie (tröstend) erinnert hat. Das Ende des Gedichts ist nicht erhalten, man kann aber davon ausgehen, dass es in dem bleibenden Besitz dieses vielen Schönen in der Erinnerung einen Ausgleich für den Verlust aufzeigen wollte.⁶¹ Dieses Gedicht hat einen subjektiven Ausgangspunkt: eine besonders schmerzliche Abschiedserfahrung, ein aus diesem Ausgangspunkt entwickeltes, für das Gefühl bedeutendes Ziel und die Darstellung des Wegs, auf dem dieses Ziel erreicht werden konnte. Es stellt also eine vollständige Handlung dar, die aus sich selbst verstehbar ist und die auch mit Wahrscheinlichkeit die Motiviertheit in der ‚Beschaffenheit der Handelnden‘ sichtbar macht. Man erfährt etwas über die Menschen im Umkreis Sapphos, und man erfährt es – wie bei Homer – nicht durch Reden über diese Menschen, sondern durch eine konkrete Darstellung ihres gemeinsamen Tuns in den verschiedenen Situationen ihres Zusammenseins. Auch Sapphos vielleicht berühmtestes Gedicht,⁶² in dem sie die Anmut und Schönheit eines Mädchens dadurch preist, dass sie von demjenigen, der diese Schönheit aushalten könne, sagt, er müsse göttergleich sein, da sie von einem einzigen Blick auf sie schon so überwältigt sei, dass sie alle Verfügung über sich selbst, seelisch und körperlich, verloren habe, ist eine Handlung, auch wenn wir ihr Ende wegen der fragmentarischen Überlieferung dieses Gedichts nicht genau kennen. Die in den Versen – beschriebene ‚Pathologie der Liebe‘ ist ja nicht einfach ein passives Widerfahrnis, sondern Folge einer außergewöhnlichen und aktiven Fähigkeit, die Schönheit dieses Mädchens zu erkennen und zu empfinden. Von dieser Zuwendung zu einem übergroßen subjektiven Gut berichtet dieses Gedicht und, wenn denn der letzte erhaltene Vers: „aber alles kann man ertragen …“ auf das Ziel hinweist, von der Art und Weise, wie sich ‚das lyrische Ich‘ mit seinem Gegenstand auseinandersetzt und an dieser Auseinandersetzung scheitert oder ihr standhält. ⁶¹ S. Sappho et Alcaeus, Fragmente ed. Eva Maria Voigt, Amsterdam , Frg. . ⁶² S. ebda (wie Anm. ), Frg. . S. auch Poetarum Lesbiorum Fragmenta ed. Edgar Lobel et Denys Page, Oxford , Frg. . S. dazu die auch für ein mögliches Lyrikverständnis der Antike grundlegende Studie von Gyburg Radke(-Uhlmann), Sappho Fragment  (LP). Ansätze zu einer neuen Lyriktheorie, Stuttgart  (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse Jg. , Heft ).

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Es ist gerade bei diesem Gedicht besonders auffällig, dass es keine erklärende Beschreibung, nicht einmal eine Benennung der Gefühle gibt, die die Schönheit des Mädchens im ‚lyrischen Ich‘ auslöst. Statt dessen stellt das Gedicht in prägnanter Auswahl genau die Wirkungen vor, in denen sich der außergewöhnliche Sinn, den das ‚lyrische Ich‘ für die Schönheit hat, äußert. Die Art der Darstellungsweise ist daher mit dem homerischen Verfahren grundsätzlich vergleichbar. Auch Homer gibt z. B. keine Schilderung des ‚inneren‘ Gemütszustands, in dem sich Achill nach dem Weggang seiner Freunde, die ihn intensiv um Hilfe gebeten hatten (im . Buch der Ilias), befindet. Statt dessen zeigt er einen Achill, der sich genau so verhält, dass an seinen Worten und Taten unmittelbar seine innere Verfassung sichtbar wird: Er sitzt nicht mehr im Zelt und spielt auf der Laute, während die anderen kämpfen, sondern er steht auf dem Deck seines Schiffes und beobachtet mit größter Aufmerksamkeit und Besorgnis die Situation seiner Freunde: Er ist innerlich zerrissen zwischen dem Wunsch, den Freunden zu helfen, und der Verbitterung über Agamemnon (Ilias , ff.). Wie bei Homer braucht auch bei Sappho eine solche Handlungsdarstellung den intelligenten Leser, der von der prägnanten Äußerung auf den inneren Zustand zu schließen in der Lage ist. Das, was wir in der Moderne als Darstellung von Innerlichkeit erwarten und in der Antike nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Dichtung selbst nicht zu finden meinen, ist hier tatsächlich vorhanden, aber auf eine andere Weise: Es ist präsent durch die genaue Auswahl der Aktivitäten, in denen sich der besondere Zustand des Inneren artikuliert oder ins Äußere tritt. Sappho reiht in ihrem Abschiedsgedicht für die scheidende Schülerin nicht einfach Geschichten aneinander, wie sie der Erinnerung im Neben- und Nacheinander der Anschauung ‚gegeben‘ waren, sondern sie beschreibt in konzentriertem Bezug auf das gemeinsam Erlebte nur dasjenige Handeln, das unmittelbare Ursache der gemeinsam erfahrenen Lust war. Dichtung als Ausdruck und Darstellung von Innerlichkeit – in einer für die Neuzeit ungewohnten Weise In Bezug auf die Frage, ob es Darstellung von Innerlichkeit in der griechischen Literatur gibt, kann man eine grundsätzlich bejahende Antwort geben. Die konkrete Interpretation zeigt allerdings, dass Innerlichkeit hier (oft) in einer besonderen Weise dargestellt ist. An der Stelle einer ausdrücklichen Benennung und Beschreibung von Gefühlen findet man eine Darstellung scheinbar

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objektiver Handlungsvorgänge. Beschrieben wird allerdings nicht eine äußere Wirklichkeit, wie sie sich im Nebeneinander des Raums und im Nacheinander der Zeit der Anschauung darbietet, sondern eine Auswahl, dargestellt ist nur das, in dem sich die innere Aktivität, die sich nachträglich im Begriff eines Gefühls zusammenfassen lässt, unmittelbar artikuliert. Deshalb ist der aristotelische Handlungsbegriff in besonderer Weise geeignet, den poetischen Charakter dieser Texte zu verstehen. Wenn man nach Kriterien sucht, um zu umgrenzen, ob Texte Poesie im prägnanten Sinn sind und nicht nur mit Formelementen der Dichtung versetzte Texte anderer Gattungen, etwa der Rhetorik, der Naturwissenschaft, der Geschichtsschreibung, der Soziologie oder der Biographie, bietet das aristotelische Verständnis von Poesie die Darstellung einer Handlung (im prägnanten Sinn), sofern sie Bedingung der formalen Ordnung der Struktur und der Art des sprachlichen Ausdrucks ist, als Grundorientierung und zugleich als Maß der Qualität: Je mehr ein Text eine Handlungsdarstellung mit Anfang, Mitte und Ende ist, in überschaubarem Umfang und konsequenter Ableitung des Äußeren aus den inneren Akten eines Charakters, desto mehr Einheit, Form und Durchgestaltung weist er auf und macht zugleich deren Gründe sichtbar. Man kann deshalb mit einigem Recht feststellen, dass Aristoteles den poetischen Charakter derjenigen Dichtungen, die wir lyrisch nennen, beurteilen und erklären konnte. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es im Sinn der Aristotelischen Poetik eine eigene poetische Gattung ‚Lyrik‘ gibt. Als Handlungsdarstellung unterliegen auch ‚lyrische‘ Dichtungen dem gleichen Unterscheidungskriterium wie Tragödie und Komödie: Sie unterscheiden sich nach der Art der Charaktere, die handeln, und dementsprechend nach den Zielen, die sie verfolgen. Wenn z. B. Semonides in seinem sog. Weiberjambus⁶³ die Charakterdefekte der verschiedenen Arten von Ehefrauen vorführt, dann tut er dies in ‚jambischer‘, d. h. der Komödie ähnlicher Form. Seine Frauenfiguren haben eine eher vernachlässigte Charakterbildung, ihre Fehler sind ärgerlich und verdrießlich, aber sie haben nicht die Qualität eines Handelns großer Charaktere. Semonides’ Weiberjambus ist aber Dichtung im aristotelischen Sinn. Er karikiert nicht direkt einzelne Frauen seiner Gegenwart, aber schreibt auch nicht über die Charaktere seiner Frauenfiguren, auch nicht in Bildern und ⁶³ S. M. L. West (Hg.), Iambi et elegi Graeci ante Alexandrum cantati, Bd. , Oxford ²; Bd. , ², Frg. ; deutsche Übersetzung bei Joachim Latacz, Die griechische Literatur in Text und Darstellung. Bd.: Die Archaische Periode, Stuttgart ², –.

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Metaphern, sondern er zeigt eine jede in einer für sie charakteristischen, eigentümlichen Handlung: Eine z. B. geht jeder groben Arbeit aus dem Weg, würde keine Mühle anrühren und ein Sieb nicht einmal hochheben, dafür wäscht sie sich zwei- oder dreimal am Tag, cremt sich ein, ist immer perfekt gekämmt usw.⁶⁴ Das, was Semonides darstellt, sind allerdings keine vollständigen Handlungen, sondern einzelne, charakteristische Handlungsmomente. Sie haben ihr Maß also eigentlich in einer vollständigen Handlung, die von Semonides hier nicht ausgeführt, sondern auf jeweils markante Züge zusammengezogen sind. Man wird dieses Verfahren nicht notwendig auf die Beispiele beziehen müssen, die Aristoteles in der Poetik als Vorformen der Komödie oder Tragödie bezeichnet, denn sie können auch als gewollte Verdichtungen verstanden werden. Dies scheint mir auf jeden Fall für die homerischen Hymnen, für Gedichte wie die oben knapp besprochenen von Sappho zu gelten und in analogem Sinn für die Mythendarstellungen in den Epinikien Pindars, für die Dithyramben des Backchylides und für viele ähnliche Dichtungen (auch in späteren Epochen, etwa für viele Idyllen Theokrits). Sie alle enthalten entweder durchgeführte Handlungsdarstellungen oder sie haben Handlungsdarstellungen, die durch implizite Hinweise oder intertextuelle Bezüge ‚wohl verstehbar‘ sind. Die Dichtungen Sapphos, Pindars und des Backchylides weisen aber einen gattungsbildenden Unterschied gegenüber dem Weiberjambus des Semonides auf, denn sie unterscheiden sich in der Art des Gegenstands, die die einen Dichtungen eher als epische, die andere als komische (aber in narrativer Darstellungsweise) verstehbar macht. Semonides’ Weiberjambus fehlt zudem die vollständig durchgeführte Handlung. Der Weiberjambus hat also eine komische Handlung, die nicht vollständig mit Anfang, Mitte und Ende durchgeführt, sondern auf charakteristische Züge konzentriert ist, eine jambische, d. h. zum Gegenstand passende Sprache als Medium und einen rein narrativen Darstellungsmodus. Die Beschreibung, in der Hegel den Unterschied unter den Gattungen in einer bis heute nicht überwundenen Dreiteilung formuliert, ist daher nicht nur mit dem empirischen Befund der griechischen Literatur, sie ist auch nicht mit der theoretischen Erklärung durch Aristoteles in Einklang zu bringen. Ich erinnere noch einmal an die zentralen Sätze Hegels (mit einem – übereinstimmenden – Beginn mit Goethe): ⁶⁴ S. ebda vv. –; bei Latacz –.

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Das Epos „stellt … den außer sich wirkenden Menschen 〈vor〉“⁶⁵ und hat deshalb „das Geschehen einer Handlung zum Objekte, die in ihrer ganzen Breite der Umstände und Verhältnisse als reiche Begebenheit … zur Anschauung gelangen muss“,⁶⁶ die Lyrik dagegen stellt alles so dar, dass „auch das Sachlichste und Substantiellste als subjektiv empfunden, vorgestellt oder gedacht erscheint“,⁶⁷ während das Drama ein Handeln so darstellt, dass „das Geschehen nicht hervorgehend aus den äußeren Umständen, sondern aus dem inneren Wollen und Charakter 〈erscheint〉.“⁶⁸ Was Hegel hier von der Lyrik sagt, gilt im Sinn der Aristotelischen Poetik für alle drei Gattungen. In jeder Form der Dichtung ist menschliches Handeln dargestellt, und das heißt eben: Hier ist auch das Sachlichste und Substantiellste unter dem Aspekt dargestellt, unter dem es für ein Subjekt die Bedeutung einer Lust- oder Unlusterfahrung hat. Wenn Achill in seinem Zelt sitzt und auf der Laute spielt (Ilias , ff.), ist kein homerischer Sänger, kein Aöde dargestellt, es geht auch nicht um einen in sinnlich konkreter Anschaulichkeit vor Augen gestellten Achill, von dem Homer in epischer Breite berichtet. Dargestellt ist die innere Verletztheit Achills durch einen hochmütigen Agamemnon, der ihm demonstrieren will, auch ohne ihn Troja erobern zu können. Wenn Agamemnon sich (nach einem trügerischen, von Zeus kommenden Traum, der ihm einen schnellen Sieg ohne Achill vorgaukelt – Ilias , –) mit allen Insignien seiner königlichen Macht ankleidet, dann wird kein Ankleidevorgang eines achäischen Königs beschrieben, sondern Agamemnon im Zustand einer berauschten Verblendung und verwegenen Hoffnung gezeigt (Ilias , –).⁶⁹ In dieser Darstellungsintention gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zu den homerischen Hymnen, in denen wir eine um ihre Tochter leidende Demeter, eine selbst von der Liebe verletzte Aphrodite erleben, oder zu Gedichten Sapphos, in denen man von den Beschäftigungen ⁶⁵ Goethe, Über epische und dramatische Dichtung. Von Goethe und Schiller (), in: Berliner Ausgabe, hg. v. S. Seidel, Bd. : Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Schriften zur Literatur I, Berlin ², –. ⁶⁶ Hegel (wie Anm. ), . ⁶⁷ Hegel, ebda . ⁶⁸ Ebda . ⁶⁹ Zur Interpretation dieser Szene (und ihrer Rezeption durch Lessing) s. Verf., Anschauung und Anschaulichkeit in der Erkenntnis- und Literaturtheorie bei Aristoteles, in: Gyburg Radke-Uhlmann, Arbogast Schmitt (Hgg.), Anschaulichkeit in Kunst und Literatur. Wege bildlicher Visualisierung in der europäischen Geschichte, Berlin / New York , –, hier: –.

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der Mädchen und ihrer Lehrerin genau diejenigen vorgestellt bekommt, aus denen die gegenseitigen Gefühle offenbar werden. Und natürlich gilt das Gleiche auch für die Tragödie und Komödie. Die Medea des Euripides handelt nicht von der erfolgreichen Durchführung eines vierfachen Mords, sondern von der Art und Weise, wie Medea ihre verletzten Gefühle durch ein Gefühl des Triumphs über Jason zu heilen versucht. Der Philoktet des Sophokles ist nicht die Geschichte einer am Ende gerade noch erfolgreichen Intrige, sondern einer unermesslichen Verbitterung, die gerade noch in einer befreienden Lösung endet. Auch in der Lysistrate des Aristophanes geht es nicht um eine utopische Geschichte, wie die Frauen aus Athen und Sparta einen Friedenschluss organisieren, sondern es ist die Geschichte von Frauen, die das Gefühl des Getrenntseins von ihren Männern nicht länger ertragen wollen und nicht ruhen, bis sie das ersehnte Glücksgefühl der Gemeinsamkeit mit ihren Männern wieder genießen können. Die Art und Weise, wie die Frauen Frieden ‚machen‘, steht im Dienst ihrer Gefühle. Auch die politische Botschaft an die Gemeinschaft hängt von dieser Zielsetzung ab: Nur im Frieden gibt es das Glück erfüllter Liebe. Das Vorurteil der Moderne, die Antike sei (als ganze) eine nach außen, auf die der Anschauung vorliegende Wirklichkeit gerichtete Kultur gewesen, hat einem angemessenen Verständnis der griechischen Dichtung sehr geschadet. Dichtung ist grundsätzlich dadurch von anderen Textarten unterschieden, dass sie Darstellung von Innerlichkeit ist. Diese, wie ich glaube, richtige Aussage muss allerdings vor einem Missverständnis geschützt werden. Wenn Darstellung von Innerlichkeit nur dann gegeben scheint, wenn eine Art reflexiven Inneseins der eigenen emotionalen Zuständlichkeit dargestellt wird, dann gibt es zwar Beispiele für diese Innerlichkeit auch in antiker Literatur, das, was Aristoteles für Dichtung hält und was man in vieler guter Literatur der Antike vorfindet, wäre dann aber entweder gar keine Innerlichkeit oder, das ist die These dieser Studie, eine andere Art von Innerlichkeit. Der Unterschied ist freilich nicht der von der Moderne so oft beanspruchte, als ob erst die Moderne das intime Bei-sich-sein-Können des Menschen entdeckt habe, der Unterschied liegt eher in einer unmittelbar präsentischen und einer nachträglich reflexiven Auffassung von Innerlichkeit. Medea bei Euripides spricht nicht von ihren Gefühlen oder über sie, sie sagt nicht „Ich bin zwischen Liebe (zu meinen Kindern) und Hass (auf Jason) hin und her gerissen“, aber sie spricht genau das aus, was die Empfindung der Liebe zu den Kindern im Augenblick, indem sie sie als Mutter anblickt, ausmacht. Die Rede

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über den innerlichen Zustand der eigenen Liebe, etwa: „Eine heftige Aufwallung der Mutterliebe überkommt mich“ ist überhaupt erst möglich, wenn die innere Aktivität, die dieses Gefühl erzeugt, schon da ist. Das Gefühl ist also nachträglich, ist immer von der ihm vorhergehenden Aktivität in der Art und Intensität bestimmt. Das Bewusstsein, im Zustand dieses Gefühls zu sein, ist von dieser Aktivität abhängig, auch wenn es gleichsam nur ihre Wirkung ins helle Licht der Aufmerksamkeit rückt. Das Bewusstsein „Ich habe eine Aufwallung der Mutterliebe“ ist außerdem abstrakt und fasst lediglich die konkreten inneren Akte zusammen, die sie bewirken, während die inneren Akte der Mutterliebe konkret und individuell sind. Euripides’ Medea spricht von ihrer Hoffnung auf die Freuden, die sie den Kindern bereiten und mit ihnen mitgenießen wollte, von der Vergeblichkeit der Nöte und Schmerzen, die sie für sie durchgestanden hat, von der zerstörten Hoffnung, von ihnen im Alter gepflegt und im Tod geehrt zu werden; sie spricht von der Lieblichkeit ihres Anblicks (vv. –), der süßen Umarmung, der zarten Haut, der Wohltat ihres Atems (v. ). Das alles sind konkrete Informationen, nicht von irgendeiner Mutterliebe, sondern von der, die diese Medea in diesem Augenblick empfindet. Die Art der Mitteilung aber ist nicht die Beschreibung ihres Gefühlszustands, sondern eine Darstellung genau der inneren Aktivitäten und ihrer Äußerungen in Wort und Geste, die die Besonderheit der augenblicklichen Empfindung Medeas ausmachen. Die Empfindungen Medeas erhalten dadurch eine unmittelbare Präsenz für den mitdenkenden und mitfühlenden Leser. Er muss nicht aus einem behaupteten Prädikat, das Medea ein Gefühl zuschreibt, etwa eine Aufwallung tiefer und inniger Mutterliebe, erschließen, welche Empfindungen unter diesen Prädikaten begriffen werden sollen, sondern er nimmt direkt an den inneren Aktivitäten Medeas teil, die die Art und die Intensität ihrer Gefühle bestimmen. Deshalb gibt es bei dieser Art der Gefühlsdarstellung nicht den Zweifel an dem Allwissen des Erzählers, dessen Wissen um das Innere seiner Personen für den Leser unkontrollierbar bleibt. An die Stelle dieses Zweifels tritt die Aufgabe für den Dichter, tatsächlich genau diejenigen Akte darzustellen, in denen sich die innere Verfassung eines Handelnden äußert, und für den Leser, diese Akte zu begreifen und eben dadurch auch mitzuempfinden. Das Misslingen liegt dann nicht in einer grundsätzlichen Zweifelssituation, in der sich das Subjekt gegenüber dem Äußeren und gegenüber dem Anderen befindet, sondern es offenbart sich dadurch, dass das darstellte Tun und Reden sich nicht

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als Äußerung der bestimmten Beschaffenheit eines bestimmten Charakters erkennen lässt. Aristoteles verweist z. B. auf die Fehlauffassung, man müsse sich nur an die zeitliche Folge in der Biographie eines Menschen oder in einem Abschnitt der Geschichte (etwa des trojanischen Kriegs) halten. Eine solche Darstellung gebe wegen der Unbestimmtheit und Konfusion des in ihr Zusammengemischten nichts Bestimmtes zu erkennen (Kap. ), sie zerstöre die Möglichkeit einer konsistenten Gefühlsrezeption (Kap. ), etwa wenn die Euripideische Iphigenie sich unvermittelt und unbegreiflich aus einer flehentlich bittenden in eine triumphierend sich opfernde Tochter verwandle (a–). Trotz der in Philosophie-, Kunst- und Literaturgeschichten immer noch verbreiteten Überzeugung, die Darstellung von Innerlichkeit sei überhaupt erst mit der (angeblichen) Entdeckung der Subjektivität in der Moderne⁷⁰ möglich geworden, kann man bei einer konkreten Beschäftigung mit einzelnen Dichtungen in Antike und Moderne die Feststellung machen, dass die aristotelische Unterscheidung zwischen einer ‚mimetischen‘ Dichtungsweise, die die inneren Möglichkeiten eines Charakters dadurch nachahmt, dass sie die Äußerungsformen darstellt, in denen sie sich jeweils und jeweils neu und anders verwirklichen,⁷¹ und einer Darstellungsweise, in der der Dichter ‚sich ⁷⁰ Dass die These, erst die Neuzeit habe (v. a.) mit Descartes eine Philosophie der Subjektivität entwickelt, einer historisch kritischen Überprüfung nicht standhält, versuche ich in Denken und Sein bei Platon und Descartes. Kritische Anmerkungen zur ‚Überwindung‘ der antiken Seinsphilosophie durch die moderne Philosophie des Subjekts, Heidelberg , zu zeigen. ⁷¹ Ein schönes Beispiel dieser Art der Darstellung von Innerlichkeit hat Irene de Jong, Homer as Literature: Some Current Areas of Research, in: Jan Paul Crielaard (Hg.), Homeric Questions, Amsterdam , –, hier: – vorgestellt: Als Odysseus zu den Phäaken kommt, spricht die Königen Arete lange überhaupt kein Wort zu ihm und äußert sich erst, als sie allein mit ihm ist. Den Grund gibt nicht der Erzähler Homer an, er lässt Arete in einer Art ‚embedded focalization‘ selbst sagen, was sie zurückgehalten hat. Sie hat bemerkt, dass die Kleider, die Odysseus trägt, von ihr selbst hergestellt sind. Sie vermutet daher, dass er sie von Nausikaa erhalten hat. Diese peinliche und möglicherweise gefährliche Frage richtet sie erst in der geeigneten Situation an Odysseus. Die Homerforschung hat dieses Verfahren lange nicht verstanden und das lange Schweigen der Arete sogar zu analytischen Folgerungen über die Einheit der Odyssee benutzt. De Jong hat gut gezeigt, dass uns der Dichter zwar nicht selbst über die inneren Motive Aretes unterrichtet, er lässt uns aber dadurch teilnehmen, dass er ihre inneren Gedanken von ihr selbst aussprechen lässt (und auch erst an der Stelle, an der sie aus ihren Motiven heraus handelt). Eine überzeugende Erklärung des ‚Schweigens der Arete‘ – ganz im Sinn von De Jong – hat bereits Uvo Hölscher, Das nächste Fremde. Von Texten der griechischen Frühzeit und ihrem Reflex in der Moderne, München , – (Kapitel: „Das Schweigen der Arete“) gegeben, der auch die analytischen Tendenzen Schadewaldts und anderer mit guten Gründen entkräftet.

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selbst in Szene setzt‘, d. h. omnipotent über seine Figuren redet, statt sie darzustellen, keine spezifisch antike Einsicht ist. Sie formuliert vielmehr ein Grundkriterium (mit vielen Konsequenzen und Differenzierungen) zur Beurteilung der Qualität von Literatur, das sich auf antike wie moderne Texte anwenden lässt.  Folgerungen aus dem Aristotelischen Handlungsverständnis für die Differenzierung der Gattungen Tragödie, Komödie und Epos als ‚Bestformen‘ einer ‚lyrischen‘ Handlungsdarstellung Auch wenn viele der zu behandelnden Aspekte, die für das Aristotelische Verständnis der Dichtung und ihrer Gattungen wichtig sind, noch nicht berücksichtigt sind, kann man einige Grundfolgerungen ziehen: Aristoteles’ Handlungsbegriff unterscheidet sich von dem Begriff, den wir in heutigen (westlichen) Sprachen mit Handlung verbinden, substantiell. Wir verstehen unter ‚Handlung‘ in der Regel die constitutio rerum, die Geschehensfolge, die ‚Begebenheiten‘, den ‚plot‘ im Sinn des ‚storyline‘, azione im Sinn von avenimento, événment, usw. Für Aristoteles vermischt diese Redeweise (zumindest) den eigentlichen Handlungsaspekt an einer Aktivität mit dem, was zur Realisierung des Handlungsziels ‚gemacht‘, ‚durchgeführt‘, ‚hergestellt‘ werden muss. ‚Handeln‘ im genauen Sinn heißt für Aristoteles dagegen: der Welt unter dem Aspekt, unter dem etwas lustvoll oder unlustvoll für jemanden ist, begegnen. Da Lust für ihn immer ein Begleitmoment von Tätigkeit ist, und zwar der gelingenden Tätigkeit, während die Unlust Zeichen des Misslingens ist, ist Handeln also immer ein von Lust oder Unlust begleitetes Tätigsein,⁷² das um dieser Lust willen gesucht oder um der Unlust willen gemieden wird. Wie aber die Tätigkeit des Teekosters auf das reine Erfassen des Geschmacks und Geruchs eines Tees gerichtet sein kann, aber auch auf die mit diesem Kosten verbundene Lust oder Unlust, so gibt es bei jeder Tätigkeit die

⁷² Zum Verhältnis von Lust und Tätigsein s. v. a. die Kapitel – des X. Buches der Nikomachischen Ethik. S. Krewet, Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles, Heidelberg , v. a. –.

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Möglichkeit, sich auf die mit ihr verbundene Lust oder Unlust auszurichten⁷³ und das Lustvolle zu suchen, das Unlustvolle zu meiden. Da vom Gelingen oder Misslingen einer Tätigkeit sinnvoll nur gesprochen werden kann, wenn es sich um eine je bestimmte, also auf ein Ziel gerichtete Tätigkeit handelt, auf das Schmecken des Tees, das Spielen der Flöte, die Durchführung einer Rache, ist Handeln im strengen Sinn also das um einer Lust willen gesuchte oder um einer Unlust willen gemiedene Tätigsein. Die Aussage, Gegenstand der Dichtung sei der handelnde Mensch, meint daher, dass Dichtung sich mit einem bestimmten Zugang zu den Gegenständen befasst, mit denen sich jemand beschäftigen kann, eben einem Zugang unter dem Aspekt, unter dem sie für ihn mit Gefühlen der Lust oder Unlust verbunden sind. Nimmt man die klassische Formulierung der Gattungsbestimmung der Lyrik im . Jahrhundert, z. B. durch Hegel,⁷⁴ zum Kriterium, dann ergibt sich das scheinbare Paradox, dass Aristoteles gerade das, was wir Lyrik nennen, zum Paradigma des Dichterischen überhaupt nimmt, zugleich aber nicht die Lyrik, sondern das Drama als die Paradegattung der Dichtung ausgibt. Die Paradoxie lässt sich aber auflösen. Was dabei die Gleichsetzung des Poetischen mit dem Lyrischen angeht, so wird man daran erinnern können, dass dies auch heute ein viel geübter Brauch ist. Auch innerhalb eines Romans oder eines Dramas bezeichnen wir häufig diejenigen Partien als ‚poetisch‘, die einen lyrischen Charakter haben, d. h. einem subjektiven Empfinden ästhetisch beeindruckenden Ausdruck verleihen. Die auffallendere Ungereimtheit, dass Aristoteles dem Dichter die Aufgabe stellt, solches Reden und solches Tun darzustellen, das Ausdruck des Lust- oder Unlustaspekts an einer (inneren oder äußeren) Tätigkeit ist, aber dann die Tragödie, die Komödie und das Epos als die Grundgattungen, in denen solches ‚Handeln‘ dargestellt ist, bezeichnet, findet ihre Erklärung, in der besonderen Art und Weise, in der Aristoteles Gefühle in der Dichtung ⁷³ Zur Vermeidung eines uns naheliegenden Missverständnisses müsste man statt „sich auf die Lust auszurichten“ genauer (und umständlicher) formulieren: „seine erfassende, erkennende Aufmerksamkeit auf den Aspekt an einem Gegenstand, einer Tätigkeit auszurichten, unter dem er für das erkennende Subjekt gut, wohltuend und in diesem Sinn angenehm, lustvoll ist.“ Die Ausrichtung auf das Lust Bereitende an einer Tätigkeit ist keine Abwendung vom Erkennen, sondern eine andere Ausrichtung des Erkennens. S. dazu v. a. die Kapitel – aus dem dritten Buch von De anima. S. dazu Krewet (wie Anm. ), –. ⁷⁴ Die Lyrik stellt alles so dar, dass „auch das Sachlichste und Substantiellste als subjektiv empfunden, vorgestellt oder gedacht erscheint“, Hegel (wie Anm. ), .

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dargestellt wissen möchte. Dichtung soll kein ästhetisch gefällig geschriebenes Psychologielehrbuch sein, in dem Gefühle lediglich in anschaulich schöner und bewegender Form und demonstriert an einzelnen Fällen beschrieben oder dargestellt sind. Sie soll vielmehr eben die von Lust oder Unlust begleiteten Tätigkeiten unmittelbar zeigen, in denen sich die (zu einem bestimmten Charakter gehörenden) Gefühle äußern. Das eben ist Mimesis: direkter Nachvollzug des Inneren in einzelnem Handeln.⁷⁵ Warum hat ein solches Handeln eine poetische Qualität? Die aristotelische Antwort ist, dass es das keineswegs immer und von selbst hat, sondern dann, wenn es tatsächlich ein Handeln ist, d. h. ein aus einem zu selbständigem Vorziehen oder Meiden fähigen Charakter kommt (s. v. a. a–). Einen Charakter besitzt nur jemand, der nicht beliebig auf das Äußere immer wieder anders reagiert, sondern eine Ordnung seiner ihm gegebenen Vermögen entwickelt hat. Das Handeln eines solchen Charakters hat also eine gewisse Ordnung und eine zu ihm passende Art, sich – im Tun und Reden – auszudrücken. Wer ein solches Handeln darstellen will, muss einen passenden Handlungsanfang, d. h. eine aus einer inneren Tendenz, Bestimmtes zu suchen oder zu meiden, motivierte Entscheidung für eine bestimmte Aktivität finden oder erfinden, um dann die sich aus diesem Anfang dem Charakter entsprechenden folgenden Aktivitäten zu finden, die durch Lust oder Unlust motiviert, auf ein bestimmtes Ende ausgerichtet sind. Die Antwort auf den scheinbaren Widerspruch, dass Aristoteles einen (im Sinn der Gattungstrias des . und . Jahrhunderts) eher lyrischen Begriff von Dichtung hat, aber die Hauptgattungen der Dichtung in Epos, Tragödie und Komödie sieht, liegt also in seinem Handlungsbegriff und den damit verbundenen inhaltlichen Kriterien für die Gestaltung einer Dichtung: Dichtung ist für ihn immer Ausdruck der Lust- und Unlustgefühle, die eine innere oder äußere Aktivität begleiten. Dadurch, dass diese Aktivität auch als Ziel eine Lust erwartet oder eine Unlust abwehren möchte, hat sie eine auf dieses Ziel hin gerichtete Ordnung. Das ist der Grund, weshalb für Aristoteles die Hauptgattungen der Dichtung solche Dichtungen sind, in denen eine Handlung so durchgeführt ist, dass alle ihre ‚konstitutiven‘ Teile auch ausgeführt sind. Alle Teile, die qualitativ nötig sind, damit der Anfang, d. h. die Motivation, in bestimmter Weise aktiv zu werden, die Mitte, d. h. alles das, aber auch nur das, was nötig ist, ⁷⁵ S. Poetik, Kap. , a–; s. dazu Verf., Poetik, –.

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damit das erstrebte Ziel erreicht werden kann, und das Ende mit der Empfindung der erstrebten Lust bzw. der Erfahrung der leidvollen Unlust (oder auch einer Mischung aus beiden) sollen möglichst vollständig und nicht nur fragmentarisch oder in Andeutungen präsent gemacht sein (b–; a–).⁷⁶ Diese Art der Bestimmung einer poetischen Gattung entspricht einem allgemeinem Kriterium des Aristoteles. Es lautet: Jede Sache wird am klarsten an ihrer jeweils besten Verwirklichung erkannt.⁷⁷ Wenn man wissen will, was ein Auge ist, fragt man, was ein Auge kann, und wenn man wissen will, was ein Auge kann, fragt man nicht den Schwachsichtigen, sondern den, der ein optimal ausgebildetes Auge optimal zu benutzen versteht.⁷⁸ Allgemein fragt man den, der in etwas spoudaíos ist, der durch ernsthaftes Bemühen einen Bestzustand erreicht hat. In diesem Sinn sind das Epos, die Tragödie und die Komödie Bestformen poetischer Handlungsdarstellung. Wie jede Bestform sind sie dadurch zugleich eine Art Verbindungsglied zwischen den Möglichkeitsbedingungen, aus denen eine Handlungsdarstellung hervorgehen kann, und ihren Verwirklichungsformen. Dadurch sind sie zugleich historisch konkret und transhistorisch.⁷⁹ Aristoteles selbst orientiert sich an ihnen zur Beurteilung möglicher Entwicklungsformen der Dichtung, die er gerade an der Stellung, die sie gegenüber einer vollendeten Handlungsdarstellung haben, einordnet (b–a; b–). Das Besondere an diesen Bestformen ist, dass sie keine invarianten Ausführungsvorschriften bieten. Aristoteles verlangt nirgends die Strukturierung nach einem bestimmten Bauschema. Obwohl er die Bedeutung z. B. von Verwicklung und Lösung ausführlich erörtert (Kap. ), gehört für ihn zur Tragödie kein Fünf-Akte-Schema (etwa aus Exposition, Entwicklung des Konflikts ⁷⁶ ⁷⁷ ⁷⁸ ⁷⁹

S. Verf., Poetik, f.; –. S. v. a. Nikomachische Ethik a–. S. Metaphysik b–. Aristoteles Bestimmung der Grundgattungen als Bestformen hat eine gewisse Verwandtschaft mit dem von Eleanor Rosch u. a. eingeführten Begriff des Protoypen, der generell den ‚clearest case of category membership‘ bezeichnen soll. S. die Beschreibung ihres Ansatzes bei Klaus Hempfer, Zum begrifflichen Status der Gattungsbegriffe: von ‚Klassen‘ zu ‚Familienähnlichkeiten‘ und ‚Prototypen‘, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur , , –, hier: f. Aristoteles’ Begriff unterscheidet sich davon dadurch, dass er einerseits elastischer, d. h. für vielfältigere Realisation offen ist, andererseits prägnanter ist und strikter, weil die Formbedingungen der möglichen Realisationen genauer beschrieben werden können. S. das Folgende.

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bis zur Krise, Wende, retardierende Scheinlösung, Katastrophe).⁸⁰ Auch eine völlig einsträngige Tragödie wie die Medea des Euripides, die zielstrebig und ohne jede Wende (und in mindestens sieben ‚Akten‘) auf die Rachehandlung Medeas zustrebt, ist für ihn eine vollgültige Tragödie. Es gibt bei ihm keine Ständeklausel, keine Forderung der bienséance, keine Forderung der Wahrscheinlichkeit des Dargestellten, es gibt bekanntlich nicht einmal die ‚drei Einheiten‘ von Zeit, Ort und Handlung. Nur die Handlung muss eine Einheit haben, die anderen Einheiten sind Möglichkeiten oder oft gepflegte Verfahren; die Wahrscheinlichkeit, die er verlangt, bezieht sich lediglich auf die Wahrscheinlichkeit, mit der aus der Konzeption eines bestimmten Charakters dessen Handeln abgeleitet werden soll. Aristoteles’ Bestformen verdeutlichen einen bestimmten Möglichkeitsraum. Dichtung, die darstellt, „wie etwas geschehen müsste“ (a), stellt das, was einem Charakter, auf Grund der Tendenzen, Bestimmtes vorzuziehen oder zu meiden, möglich ist, dar.⁸¹ Diesen Zusammenhang in einer einzelnen Handlung auszudrücken und dadurch erkennbar zu machen, ist tatsächlich die einzige Forderung, die Aristoteles ‚invariant‘ stellt. Dass diese einheitliche Durchformung ihren besten Ausdruck in Tragödie, Komödie oder Epos findet, muss nicht so ausgelegt werden, als sei für Aristoteles eine schlechte Tragödie besser als ein gutes Gedicht. Es heißt aber, dass die durchgeführte Handlung mit Anfang, Mitte und Ende das ‚Schema‘ vorgibt, an dem man sich beim Dichten orientieren kann: Die Darstellung muss eine ‚Handlung‘ haben, die einem bestimmten Charakter möglich ist, durch ihn ihre Ordnung in der Struktur und ihre Eigenart im Stil hat und dadurch, dass Beides, Ordnung und Stil, Ausdruck der allgemeinen Möglichkeiten eines Charakters sind, verstanden werden kann. Zur Abgrenzung von Dichtung und anderen ‚Textsorten‘ – aristotelisch und modern Einen ersten Gewinn für die Gattungsdiskussion aus diesem Versuch zu umgrenzen, welche Art einer spezifisch menschlichen Erkenntnisaktivität ein Produkt hervorbringt, das ganz im Bereich konkreter Anschaulichkeit verbleibt, ohne jede epistemische Reduzierung, das zugleich eine durchgängige ⁸⁰ In Anlehnung an das, was im Hellenismus gewohnte Praxis geworden war, fordert diese Akteinteilung Horaz wirkmächtig für die Neuzeit. S. De arte poetica, v. f. (Quintus Horatius Flaccus, Opera, ed. S. Borsák, Leipzig, .) ⁸¹ Für eine ausführliche Begründung s. Verf., Poetik, –.

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Ordnung der Struktur und eine ihr angemessene Ausdrucksweise hat, ist, dass damit ein Bereich umgrenzt ist, der mit guten Gründen als sprachliches Kunstwerk, d. h. als Dichtung, verstanden werden kann. Erst so kann überhaupt nach einer Untergliederung der Dichtung gefragt werden. Nimmt man neuzeitlich moderne Gattungsbestimmungen zum Vergleich, kann man feststellen, dass die meisten von ihnen die Tendenz haben zu weit oder zu eng zu sein. Definiert man das Epos wie Hegel und verlangt, dass in ihm „das Geschehen einer Handlung … in ihrer ganzen Breite der Umstände und Verhältnisse als reiche Begebenheit … zur Anschauung gelangen müsse“,⁸² dann ist das, selbst wenn in ihr das ‚Epische‘ auf den Begriff gebracht wäre, eine zu weite Bestimmung, denn nicht jede ‚reiche‘ Darstellung im Äußeren beobachtbarer Ereignisse ist Dichtung. Das Besondere, das aus einer beliebigen Beschreibung von Äußerem Dichtung macht, ist in dieser Definition nicht einmal angedeutet. Hegel steht vielmehr in einer alten, bis auf die Renaissance zurückgehenden Tradition, die er in der durch Baumgarten transformierten Gestalt übernimmt.⁸³ Denn nur, wenn jede ‚reiche‘ Anschauung eben deshalb, d. h. weil sie noch nicht ‚epistemisch reduziert‘ ist, auch schön ist, kann diese Definition Definition einer Kunstform sein. Sie setzt die Überzeugung einer durch sich selbst schönen Natur voraus, wie sie die Renaissance in Umformung des christlich-platonischen Grundsatzes, Gott habe alles nach Maß, Zahl und Gewicht geschaffen, gebildet hat.⁸⁴ Neu ist bei Baumgarten lediglich, dass nicht mehr die Natur als objektive Natur, sondern eine subjektive Erfahrungsweise, die Erfahrungsweise der Sinnlichkeit, die Schönheit garantieren soll. Teilt man diese Überzeugung nicht (mehr), fehlt dieser Definition jede Beziehung auf einen Kunstcharakter. Analoges gilt für die Lyrikdefinition und für die des Dramas. Dass etwas „subjektiv empfunden, vorgestellt oder gedacht erscheint“ oder dass „etwas 〈hervorgehend〉 aus dem inneren Wollen und Charakter erscheint“, macht aus einer Darstellung kein Gedicht und kein

⁸² S. Hegel (wie Anm. ). ⁸³ Auch bei Baumgarten ist der Reichtum, die ‚ubertas sensitiva‘ gegenüber der abstrakten Armut des Denkens das zentrale Kriterium, das Kunst zur Kunst machen soll. S. Verf., Die Entgrenzung der Künste (wie Anm. ). ⁸⁴ S. Verf., Symmetrie im Platonismus und in der Stoa. Ein antiker Gegensatz und seine Nivellierung in der Renaissance, in: M.-Chr. Leitgeb, St. Toussaint, H. Bannert (Hgg.), Platon, Plotin und Marsilio Ficino. Studien zu den Vorläufern und zur Rezeption des Florentiner Neuplatonismus, Wien  (Wiener Studien, Beiheft ), –.

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Drama. Analoges gilt von vielen, auch neueren Versuchen, die dichterischen Gattungen zu bestimmen. Eine besonders altehrwürdige Tradition der Gattungseinteilung, die schon in der Sophistik des . Jahrhunderts fassbar ist, ist die Einteilung nach der Form.⁸⁵ Die z. B. von Gorgias vertretene Auffassung, die Dichtung insgesamt als geformte Sprache versteht,⁸⁶ führte im Hellenismus zu einer Gattungseinteilung, die uns vor allem durch Horaz überliefert ist. Für Horaz sind das Epos durch den Hexameter, die Elegie und einige andere Kleinformen durch das Distichon, komische und satirische Dichtung durch den Jambus charakterisiert, derselbe Fuß in hoher Stillage gehört zur Tragödie, die Lyrik ist durch eine reiche Variation metrischer Formen charakterisiert.⁸⁷ Diese Art der Einteilung bringt nicht nur das Problem mit sich, dass sie unterbestimmt ist. Denn, so ist jedenfalls Aristoteles überzeugt, eine naturwissenschaftliche Untersuchung oder ein Geschichtsbuch werden nicht allein durch die Sprachform zu Dichtung (b–; a–b). Diese Einteilung bringt auch eine Überbestimmung mit sich, die Anlass für viele Kontroversen geworden ist. Eines der am meisten diskutierten Probleme ist etwa die Bindung des Epos an den Hexameter oder jedenfalls an ein festes Metrum. Kann dann ein Roman nicht als episch gelten, und am Ende überhaupt nicht als Dichtung? Aristoteles’ Dichtungskonzept bringt demgegenüber den Gewinn, dass seine anthropologische Bestimmung eine bestimmte menschliche Aktivität sorgfältig unterschieden hat, deren Akte tatsächlich zu einer durchgängigen und einheitlichen Ordnung eines sprachlichen Gebildes in seiner Struktur und in seiner stilistischen Formung führen. Diese Differenzierung ist einerseits klar und fest, und zwar in Bezug auf die Abgrenzung der Dichtung von möglichen anderen Aktmöglichkeiten des Menschen. Dichtung ist weder abstrakte Theorie noch ein Handeln oder Herstellen in konkreter Situation, sondern diejenige Form des Erkennens, in der es um einen auf das (für ein ⁸⁵ Die Probleme dieser Art des Dichtungsverständnisses sind auch in modernen Versuchen kaum zureichend gelöst. Die Suche nach einer poetischen Sprache, die eine Summe immanenter Regeln verkörpert, die universell gedacht werden müssen, wie sie die russischen Formalisten in Weiterführung romantischer Ansätze geführt haben, kann kaum als erfolgreich bezeichnet werden. S. Verf., Poetik, –. ⁸⁶ S. oben S.  ⁸⁷ Erstaunlicherweise gilt diese von Aristoteles ausdrücklich als laienhaft kritisierte Einteilung in der Forschung häufig immer noch als peripatetisch. Grundlegend dazu H. Färber, Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, München , ff.

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bestimmtes Subjekt) Angenehme oder Unangenehme konzentrierten Zugang zur Welt geht. Andererseits ist die aristotelische Bestimmung extrem weit und variabel. Denn er legt in keiner Weise die Gegenstände oder den Gegenstandsbereich fest, die für einen Handelnden angenehm oder unangenehm sein sollen – wie etwa mit Horaz die Neuzeit lange den Hexameter für das hohe Epos, für Könige und Heerführer, reserviert hat.⁸⁸ Er nimmt stattdessen die denkbar größte und allgemeinste Differenz in den subjektiven Bedingungen des Handelns zum Ausgangspunkt: Da ein Handeln (im aristotelischen Sinn) eine gewisse Selbständigkeit voraussetzt, können nur Menschen mit Charakter handeln. Die Grenzmöglichkeiten dabei sind die gute (Aristoteles sagt: die ‚brauchbare‘) Bildung eines Charakter und die Vernachlässigung dieser Bildung (a–). Die äußersten Möglichkeiten, d. h. die völlige Integrität eines Charakters und die völlige Verwahrlosung, zieht Aristoteles allerdings nicht in Betracht, ja er schließt sie ausdrücklich aus. Grund dafür ist, dass Dichtung in Struktur und Ausdrucksweise geformtes Handeln darstellen soll, ja dass überhaupt nur ein solches Handeln Handeln und nicht nur ein bloßes Reagieren sein kann. Gerade in dieser letzteren Verhaltensweise erkennt Aristoteles die eigentliche Perversität eines Charakters. Der ‚böse‘ Mensch ist nicht der Mensch mit bösem Willen, sondern der, der überhaupt nicht ein Einer, sondern Vieles ist, der überhaupt keinen Charakter hat.⁸⁹ Umgekehrt heißt dann ‚Charakter haben‘ von sich aus: einen guten Charakter haben. Ein in jeder Hinsicht guter Charakter kann nur Gegenstand von hymnischer Dichtung, niemals aber von Epos, Tragödie oder Komödie sein. Denn er würde, sofern er von dieser Vollkommenheit nicht abweicht, von sich aus, durch eigenes Handeln, keinen Fehler machen und so nur durch einen schlimmen Zufall ins Unglück geraten. Innerhalb der Grenzen zwischen dem Charakter eines spoudaíos und eines phaúlos bewegen sich die Grundunterschiede möglicher Dichtungsformen. Dem eigenen Charakter entsprechend wählen die einen auch das Handeln guter, Anerkennung und Bewunderung verdienender Charaktere ⁸⁸ S. De arte poetica, v. , wo Horaz Homer als Erfinder des Versmaßes des Epos und die dazugehörenden Inhalte charakterisiert: „res gestae regum ducumque et tristia bella.“ (Ausgabe wie Anm. .) ⁸⁹ Zum Zusammenhang von Charakterlosigkeit und schlechtem Charakter s. Verf., Poetik, –. Auch für Platon ist der Verbrecher kein Heros des Bösen, sondern ein ‚melancholischer Tyrann‘, der beliebigen Verführungen und Beeinträchtigungen ausgeliefert ist, da er sich angewöhnt hat, keine Art von Ordnung der Lüste zu akzeptieren. S. Verf., Die Moderne und Platon, –.

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zum Gegenstand, die anderen ein Handeln, das eher zur Kritik, Satire, Spott Anlass gibt (b–). Die ‚Bestformen‘ dieser Hauptgruppen sind die im . Jahrhundert zu Blüte gekommenen Gattungen der Tragödie und der Komödie (a–).⁹⁰ Die Beschränkung auf diese Grundformen durch Aristoteles ist oft genug kritisiert worden. Man kann von ihr aus aber auch die neuere Einteilung in Epos, Lyrik und Drama kritisieren, und zwar als Vermischung der Einteilungskriterien. Denn eine Dichtungsgattung ist in aristotelischer Sicht nur das Epos. Lyrik ist, wenn man sie als Wende zu subjektiver Empfindung versteht, jede Dichtungsart, Drama dagegen ist etwas nur in Bezug auf die Darstellungsweise, die Selbstpräsentation der Handelnden, die in verschiedenen Gattungen, auch im Epos, auch in der ‚Lyrik‘ möglich ist. Diese Vermischung wird auch nicht dadurch vermieden, dass man das Epische, Lyrische und Dramatische nur als Grundhaltungen interpretiert, die in historisch konkreter Dichtung zwar oft vermischt seien, als Grundhaltungen aber eine klare Abgrenzung möglich machten.⁹¹ Denn auch hier gilt (in Aris⁹⁰ S. Verf., Poetik, –. ⁹¹ S. v. a. die einflussreiche Begründung durch Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, München  (= ), f.: „Der Gegensatz 〈zwischen Lyrik und Epik〉 wird aber auch noch in einem anderen Sinne ausgelegt. Der Epiker stelle die Außenwelt, der Lyriker seine Innenwelt dar. Lyrische Dichtung sei innerlich. Was heißt das? Im Epischen besteht, wie sich zeigen wird, ein Gegenüber: hier das unbewegte Gemüt des Erzählers, dort das bewegte Geschehen. Was soll aber ‚innerlich‘ besagen? … Die Rede von ‚innen‘ und ‚außen‘ entsteht aus der Guckkastenvorstellung vom Wesen des Menschen: Die Seele haust im Körper und läßt durch die Sinne die Außenwelt, zumal durch die Augen die Bilder herein. Sosehr sich heute jedermann gegen diese Vorstellung ereifert, sie wurzelt tief in unserem Geist und läßt sich kaum je ganz überwinden. Der Anblick des Menschen, der vor uns wandelt und körperlich scharf umrissen ist, aus dessen Augen die Seele leuchtet, legt sie uns immer wieder nahe. Und freilich, ganz sinnlos ist sie nicht. Daß wir durch den Körper von der Außenwelt geschieden sind, ist eine Erfahrung, die zu einer bestimmten – der epischen – Stufe gehört. Im Epischen stellt sich der Körper dar. Deshalb gehen uns im epischen Dasein die Dinge als Außenwelt auf. Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch keine Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände, noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein Subjekt. Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwirrung verschuldet. Wenn lyrische Dichtung nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern ‚innen‘ und ‚außen‘, ‚subjektiv‘ und ‚objektiv‘ sind in der lyrischen Poesie überhaupt nicht geschieden.“ (f.) Auch wenn Staiger Hegels subjektiv-innerliche Auslegung des Lyrischen kritisiert und statt dessen eine der Trennung von Subjekt und Objekt noch vorausliegende Verfasstheit des Subjekts als Grundlage lyrischer Empfindung annimmt (das ist, wenn man Hegels Ausführungen über das Lyrische – Ästhetik II, Dritter Teil: die Poesie, . Die Lyrische Poesie durchgeht, nur eine andere Nuancierung einer im Grundsätzlichen

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totelischer Auslegung), dass ‚dramatisch‘ nur einen Aspekt an verschiedenen Gattungen bezeichnet, der nicht gattungskonstitutiv ist, ‚lyrisch‘ andererseits ist jede Dichtung. Wenn ein Text episch ist, gehört er dagegen immer auch zur Gattung Epos. Denn er hat dann zum Gegenstand ein selbständiges Handeln, in dem es um Glück und Unglück überhaupt geht, hat zum Medium eine dazu passende gebundene oder ungebundene Sprache und hat eine Darstellungsweise, in der der Gegenstand durch den Erzähler präsent gemacht wird, auch wenn dieser zwischen Bericht und direkter Personenrede abwechselt.⁹² In analogem Sinn dürfte man von Aristoteles aus gesehen auch bei Gattungsdifferenzierungen außerhalb der Trias Epos, Lyrik, Drama nicht Kriterien aus dem Darstellungsmodus, dem Medium und dem Gegenstand gleichwertig behandeln und etwa aus der ‚Schreibweise‘ des Narrativen und des Satirischen Konkretisierungen in historischen Gattungen, z. B. Epos, Satire, oder gar Verssatire ableiten.⁹³ Denn das Narrative ist eben ein Darstellungsmodus, das Satirische gehört zum Gegenstand, der Vers zum Medium. Man könnte aber aus einer Kombination definitorische Bestimmungen gewinnen. Die Satire z. B. kann in narrativer (oder gemischt narrativer) Darstellung, im Medium einer ungebundenen Sprache und mit einer durchgeführten Handlung von Charakteren mit vernachlässigter oder verkommener Bildung als satirischer Roman (etwa als Schelmenroman) bestimmt werden, in verdichteter Handlungsdarstellung und im Medium gebundener Sprache als Verssatire. Die menippeische Satire muss von ihrem Gegenstand her als satirisch gelten, hat ihre Sonderart aber von der Mischung aus Prosa und Dialog im Medium. Die ‚Possen‘ Nestroys unterscheiden sich bei gleichem Gegenstand durch den Darstellungsmodus, der dramatisch ist. gleichen Ansicht), es bleibt auch bei ihm eine Unterbestimmung genau dessen, was diese lyrisch vorbewusste Identität von Innen und Außen zur Kunst macht. Es kann ja nicht jede Äußerung in dieser Verfasstheit, ob man sie historisch der modernen Bewusstheit vorausgehen lässt oder als jederzeit möglichen Bewusstseinszustand auffasst, als eine Äußerung gelten, die bereits dem Anspruch, Kunst zu sein (was immer man darunter verstehen will), genügt. Auch hier ist gerade die differentia specifica dessen, was Kunst zu Kunst macht, die Aristoteles so wichtig ist, gar nicht bedacht. ⁹² Zur Gattungsbestimmung des Epos durch Aristoteles s. auch Verf., Epostheorie, Maßstäbe der Literaturkritik, zum Verhältnis von Epos und Tragödie, in: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles, Poetik, Berlin , –. ⁹³ Klaus Hempfer, Gattungstheorie (wie Anm. ), , vermeidet diese Vermischung, indem er das Narrative und Dramatische als primäre, das Komische, das Satirische usw. als sekundäre Schreibweise bezeichnet. Hempfers Gebrauch vom Begriff der Schreibweise darf daher nicht, bzw. nur in seinem primären Sinn, von Arisoteles’ Begriff des Darstellungsmodus her gelesen werden.

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Ansätze zu einer Untergliederung der Hauptgattungen nach aristotelischen Kriterien Obwohl die Grundgliederung der Gattungen durch Aristoteles extrem weit und unbestimmt ist (oder erscheint, wenn man die konkreten Füllungen durch die Bildemöglichkeiten menschlicher Vermögen nicht mitberücksichtigt), kommen durch die Berücksichtigung des Kunstcharakters der Dichtung eine große Zahl weiterer Bestimmungsmomente dazu, die viele Untergliederungen möglich machen, die nicht zu einer Konfusion der Gattungen oder Gattungsmerkmale führen (und damit den Eindruck erwecken, es gebe gar keine Möglichkeit, angesichts der unendlich vielen historischen Variationsmöglichkeiten etwas über klare Unterschiede unter den Dichtungsgattungen oder -arten zu sagen). Da Dichtung wie alle Kunst für Aristoteles ‚Darstellung von etwas in etwas in bestimmter Weise‘ (a–) ist, bringen alle diese konstitutiven Elemente auch Aspekte der Verschiedenheit unter den Künsten. Bei der Dichtung geht es um die Nachahmung von Handlung im Medium der Sprache in unterschiedlicher Weise der Re-Präsentation in diesem Medium. Die ersten Unterschiede müssen also in der Handlungsführung selbst gesucht werden. Aristoteles selbst zählt bei der Tragödie vier dieser Unterschiede auf (b–a)⁹⁴ und wendet zwei von Ihnen auch auf den Unterschied zwischen Ilias und Odyssee an (b–). Sie gelten also für Epos und Tragödie in gleicher Weise, d. h. sie gelten für die zu ihnen gehörenden ernsthafteren Handlungen. Bei der Komödie müssten die Unterschiede teils analog, teils spezifisch sein. Leider sind die Aristotelischen Ausführungen dazu ja verloren. Die vier unterschiedlichen Handlungsformen sind: a) Eine erste Form der Handlungsdarstellung sieht Aristoteles in der Konzentration auf die Komposition der Handlung selbst, d. h. vor allem auf die mögliche Komplexität ihres Verlaufs (práxis peplēgménē). Die Hauptmerkmale sind für ihn Verwicklungen des Handlungsverlaufs durch Wenden (Peripetien) und/oder Formen der Anagnorisis, d. h. der durch neue Erkenntnisse bewirkten Änderung der Handlungsrichtung. Hauptbeispiel

⁹⁴ Zur Erklärung dieser Passage aus dem Kap.  s. Verf., Poetik, –.

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für diese Konzentration auf die Handlungskomposition ist die Odyssee, bei der Tragödie der König Ödipus (b). b) Als zweite mögliche Form gilt ihm eine streng auf ihr Ziel zulaufende Handlung, bei der man deshalb weniger auf das Arrangement der Handlung die Aufmerksamkeit richtet, als vielmehr auf die mit der Handlung verbundenen Gefühle und den Effekt der Handlung. Hauptbeispiel ist ihm die Ilias, bei der Tragödie bietet die Medea des Euripides ein bekanntes Beispiel (b–a). Aristoteles selbst verweist auf die Aias-Tragödien. Aias ist durch die Raffinesse des Odysseus um die ihm als dem tapfersten nach Achill zustehenden Waffen gebracht und kann den Schmerz über diese Verletzung seiner Ehre nicht überwinden. Seine Darstellung bildet z. B. das Zentrum der (erhaltenen) Tragödie Aias des Sophokles. c) Die dritte Differenz im Blick auf den Gegenstand der Dichtung, die Handlung, findet Aristoteles in der Verlagerung des Gewichts der Darstellung auf den Charakter (ēthik´ē), wie es etwa in der Odyssee der Fall ist. Anders als in der Ilias, in der nach Aristoteles das Leid dominiert, liegt hier das Zentrum der Aufmerksamkeit wohl tatsächlich eher auf dem Charakter der handelnden Person, auf der Fähigkeit des Odysseus, selbst schlimmste Situationen zu meistern (a–). Durch die doppelte Gewichtsetzung: auf die Handlungsverwicklung und auf die Charakterisierung der Handelnden bietet die Odyssee eine Mischung der Arten der Handlungsführung, die Aristoteles bevorzugt. d) Eine letzte Artverschiedenheit, die sich aus der Aufgabe, Handlung darzustellen, ergibt, ist die Darstellung einer primär durch die Denkweise (diánoia) eines Menschen geprägten Handlung (a–). In der Dimension der Rhetorik ist dies der Normalfall. Ein Redner versucht, etwas zu erreichen, z. B. zu einem Frieden zu raten, indem er (modern gesprochen: intellektuell wie emotional) überzeugende Argumente in überzeugender Form vorzubringen versucht. Sind solche Erklärungen, Begründungen usw. Teil einer Handlung und wird die Handlung nicht ausgeführt, sondern dargestellt, ergibt sich nach Aristoteles eine ‚dianoetische‘ Art der Tragödie. Selbstverständlich kann, ja soll man nach Aristoteles die Besonderheiten dieser Arten auch miteinander verbinden (a–). So hat die Odyssee nicht nur eine komplexe Handlungsführung (peplēgménē), sie ist zu guten Teilen auch ethisch und nicht selten auch dianoetisch (b–). Aristoteles sieht darin einen Vorzug. Die von ihm in besonderer Weise herausgehobene Tragödie König Ödipus des Sophokles bietet auch dafür ein gutes Beispiel. Sie

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ist einerseits ganz Wende und Wiederkennung (práxis peplēgménē), sie richtet andererseits die Aufmerksamkeit intensiv auf das Leid des Ödipus (práxis pathētik´ē), sie ist auch ethisch, denn sie ist auf eine Auswahl an Handlungen konzentriert, die für Ödipus charakteristisch ist, und sie macht an zentralen Wendepunkten seine Denkweise als Ursache seiner Tragik deutlich.⁹⁵ Zu diesen vier Differenzierungskriterien, die sich aus den Grundmöglichkeiten der Darstellung einer Handlung ergeben, kommen, wenn man die Differenzen hinzu nimmt, die sich aus der möglichen unterschiedlichen Verwendung der Medien und den verschiedenen Formen der Darstellungsweise ergeben, weitere vielfache Besonderheiten, die in Kombination miteinander immer neue Artunterschiede konstituieren können. Beim Epos gibt es die Möglichkeit, das Medium, die Sprache, in gebundener oder ungebundener Form oder auch in einer Mischung zu benutzen. Sofern der Gegenstand eine Handlungsdarstellung ist, ist ein Roman daher genauso Dichtung wie ein Versepos. Bei Aristoteles gibt es nicht nur nicht die Fehlauffassung, erst der Reim mache den Dichter zum Dichter, er verlangt vom Epos auch nicht die Darstellung der objektiven Totalität einer Welt. Dichtung ist ein Roman immer dann, wenn er eine mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit aus einem Charakter abgeleitete Handlung hat. Eine Mischung des Mediums aus Prosa und Vers findet man etwa in Petrons Satyricon. Als Gegenstand hat das Werk eine Handlung, die von einem Ich-Erzähler berichtet wird, es hat also grundsätzlich einen narrativen Darstellungsmodus mit einer Beimischung von Dialogpartien und Partien in gebundener Sprache. Es kann also grundsätzlich als Roman bezeichnet werden. Die satirischen Züge ordnen es allerdings vom Gegenstand her dem Bereich des Komischen zu. Es ist ein Roman mit der Darstellung des Scheiterns eines komischen Charakters in einer zu ihm passenden Umgebung, d. h. mit einem Scheitern, das nicht in gleicher Weise Schmerz und Leid verursacht wie eine Tragödie. Vom Gegenstand her ist das Satyricon also eine Mischung aus Tragödie und Komödie, ein tragikomischer Roman. Auch die novellenartigen Züge müssen vom Gegenstand her erklärt werden. Es ist die Art der Handlungsdarstellung, die – mit einer Beimischung von ethischen und dianoetischen Elementen – auf die Komplexität, die Wenden, Brüche, das Erkennen und Wiederkennen gerichtet ist, die die Verwandtschaft von Roman und Novelle ausmachen. Die Handlung des Satyricon ist also eine peplēgménē práxis, eine ‚verwickelte‘ Handlung. Von aristotelischen Kriterien her gibt es daher nicht ⁹⁵ S. Verf., Poetik, f.

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das Problem, ob das Satyricon ein Roman oder eine Satire ist, und was man von den vielen Beimischungen anderer Gattungen: der Komödie, des Epos, der Novelle, des Mimus usw. halten soll. Zu der Art der Handlungsdarstellung, die auf die Raffinesse der Handlungsführung selbst konzentriert ist (peplēgménē), müsste man auch die Form der Novelle selbst rechnen, die einen ‚Falken‘, d. h. eine radikale Wende im Handlungsverlauf, hat, die sich von großepischen Formen nur durch den Umfang unterscheidet. Eine Definition der Novelle müsste dann lauten: Eine Novelle hat als Gegenstand eine Handlung, in der es um Glück oder Unglück von Handelnden mit Charakter geht, bei der die Handlungskomposition mit Peripetie und Anagnorisis besondere Betonung hat, im Medium einer ungebundenen Sprache und in einer grundsätzlich narrativen Darstellungsform, bei der der Erzähler narrative und dramatische Darstellungsweisen mischt. Trotz der Bedeutung einer effektiven Handlungsanlage mit Umschwüngen und Wenden verschiedener Art sind viele Novellen nicht auf diesen Effekt beschränkt, sondern verbinden mit der Handlungsführung zugleich Charakter- und Gefühlsdarstellung. Eine starke Konzentration auf die reine Handlungsverwicklung findet man z. B. in Detektivromanen. Von ihnen unterschieden sind Formen des Kriminalromans oder der Kriminalgeschichte, in denen es, wie etwa in E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scudéri, nicht primär um den Handlungsverlauf, sondern um die Ermittlung der charakterlichen Motivation des kriminellen Verhaltens geht. Dass diese letztere Form die literarisch höhere Qualität begünstigt, wie man von Aristoteles her urteilen müsste, dürfte gut belegbar sein. (Umso erstaunlicher ist es, dass Aristoteles immer wieder unterstellt wird, für ihn sei ‚plot‘ oder ‚storyline‘, die Handlungsanlage als solche, das zentrale Element der Literaturkritik). Beim Epos gibt es auf Grund der narrativen Darstellungsweise eine große Freiheit in der Ausdehnung oder Verkürzung des Umfangs (b–). Deshalb kann man z. B. die Short Story in der etwa von Poe gesuchten Ausrichtung auf ein „unique or single effect“ zu einer Unterart epischer Dichtung rechnen. Im Unterschied zur Novelle hat sie allerdings eine eher lineare, auf die die Handlung begleitenden Gefühle konzentrierte Darstellung, sie würde also zur zweiten Art der Handlungsdarstellung (páthos) gehören, bei der der Gefühlseffekt stärker in den Vordergrund rückt. Natürlich gehören zu dieser Art der Handlungsdarstellung auch viele Formen des Romans, die sich nur

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durch die verschiedene Ausnützung der Möglichkeiten des Darstellungsmodus von der Short Story unterscheiden. Zu den verdichteten, kurzen Handlungsdarstellungen in dieser linearen, auf die Empfindungsbedeutung der Handlung gerichteten Form würde aber auch vieles von dem gerechnet werden können, was wir als Lyrik vom Epos absondern. Die Besonderheit dieser ‚Lyrik‘ läge dann aber allein in ihrer Ausdehnung, nicht in der Art der Handlungsauffassung, die sie mit dem Epos oder der Tragödie teilt, die sie aber zugleich von allen komischen Formen der ‚Lyrik‘ abgrenzen würde. Die Medien dieser prägnanten epischen Verdichtungsformen müssen nicht hexametrisch sein, sondern können, wenn denn die Konzentration auf der Darstellung der eine Handlung begleitenden oder von ihr erstrebten Gefühle liegt, wie in den ‚melopoetischen‘ Partien der Tragödie je passend gewählt sein. Die metrischen Formen sind aber nicht allein gattungsbildend, sondern erst in der Kombination mit dem besonderen Gegenstand und seiner medialen Präsenzweise. Ein Beispiel für diese konsequent auf ein glückliches oder unglückliches Ende zulaufende Darstellung ist etwa die deutsche Ballade seit dem ausgehenden . Jahrhundert. Wollte man sie in aristotelischer Begrifflichkeit definieren, müsste man sie von ihrem Gegenstand her als eine für das Glück oder Unglück der handelnden Personen bedeutende Handlung, von der Besonderheit der Handlungsdarstellung als linear auf ein effektvolles Ende zulaufende und daher von starken Gefühlen begleitete Handlung (pathētik´ē), vom Medium her als eine Darstellung in gebundener (dem Gegenstand angemessener) Sprache, vom Darstellungsmodus her als eine Erzählform, in der der Erzähler zwischen narrativer und dramatischer Darstellung wechselt, beschreiben. Zur práxis ēthik´ē, zu der Form der Handlungsdarstellung, bei der das Gewicht auf dem im Handeln offenbar werdenden Charakter des Handelnden liegt, kann in der neueren Literatur etwa der Bildungsroman gerechnet werden. Die Lenkung der Aufmerksamkeit gilt hier weniger der Komplexität der Handlungsgestaltung als dem in der Handlung sich entfaltenden und darstellenden Charakter des Handelnden (ēthik´ē). Eine solche Bildungsgeschichte mit vielen vorgeblich erst im neueren Bildungsroman entwickelten Merkmalen bietet ‚schon‘ die Telemachgeschichte in der Odyssee. Telemach steht mit seinen jugendlich idealistischen Vorstellungen einer guten Herrschaft einer

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realistischen, feindlichen Umwelt gegenüber und entfaltet im Lauf der Auseinandersetzung mit dieser Umwelt seinen Charakter, den er zu einer seinem Vater ähnlichen Vollkommenheit bildet.⁹⁶ Eine aristotelische Definition dieser Gattung müsste lauten: Der Bildungsroman ist die Darstellung einer für das Glück oder Unglück der handelnden Person bedeutenden Handlung, die linear oder ‚verwickelt‘ auf ihr Ziel zuläuft, aber nicht primär Lust und Leid erfahrbar machen oder Gefallen an der Raffinesse der Handlungsgestaltung erzeugen will, sondern den in der Handlung sich bildenden Charakter. Das Medium ist eine ungebundene Sprache, die Darstellungsweise ist weitgehend narrativ, mit einzelnen Wechseln des Erzählers in einen dramatischen Modus. Eine letztes Hauptbestimmungsmoment für die Gestaltung einer Handlung erkennt Aristoteles in der Denkweise (diánoia) einer Person. Die diánoia bildet für ihn zusammen mit dem, was er ´ēthos nennt, d. h. mit Gewöhnung, Übung, das, was wir einheitlich ‚Charakter‘ nennen. Von den Stücken, die seinem Urteil nach vor allem durch die diánoia der Handelnden geprägt sind, kennen wir nur den Prometheus (Prometheus Desmotes, Der gefesselte Prometheus) des Aischylos. Diese Tragödie hat fast keine Handlung im modernen Sinn des Wortes, sondern besteht zum größten Teil aus Reden, in denen Prometheus über sein Schicksal reflektiert oder in denen er es anderen Personen zu erklären versucht. Die bekannteste Rede ist seine große Darstellung der kulturstiftenden Leistungen, die die Menschheit ihm verdanke. Diese Rede ist allerdings keine philosophische Kulturentstehungslehre in Versen, sondern ist ein funktionaler Teil des, wenn auch primär reflexiv sich äußernden, Handelns des Prometheus gegenüber seinem ‚Widersacher‘ Zeus. In ihr demonstriert Prometheus sein übersteigertes Selbstbewusstsein und positioniert sich in seiner Auseinandersetzung mit Zeus. Diese Rede ist daher auch keine Widergabe der Wirklichkeit, wie sie war oder ist, – viele der Errungenschaften, die sich Prometheus zuschreibt, können gar nicht von ihm erfunden sein – sie ist vielmehr die Konstruktion einer subjektiven Welt, der Welt der überhöhten Selbsteinschätzung des Prometheus (Aischylos, Prometheus vv. –). Ein weiteres gutes Beispiel für dieses ‚dianoetische‘ (= rationale) Führungselement in einer Handlung bietet die große Eingangsrede der Medea in der ⁹⁶ S. dazu die vorzügliche Interpretation bei Ernst Siegmann, Vorlesungen über die Odyssee, Würzburg , –; zum Bildungsroman bei Goethe s. z. B. W. Barner, Geheime Lenkung. Zur Turmgesellschaft in Goethes Wilhelm Meister, in: W. J. Lillymann (Hg.), Goethe’s Narrative Fiction. The Irvine Goethe Symposium, Berlin / New York , ff. S. dazu ErnstRichard Schwinge, „Uralte Gegenwart“ (wie Anm. ), f.

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Medea des Euripides (vv. –). Diese Rede, deren rhetorisch argumentativer Charakter oft untersucht (und kritisiert) worden ist, ist nicht einfach ein Stück sophistischer Rhetorik in der Dichtung. Euripides gibt seiner Medea zwar tatsächlich die Fähigkeit, in einer der rhetorischen Technik der Zeit gemäßen meisterhaften Weise zu argumentieren. Dennoch ist diese Rede keine Rhetorik im Sinn einer (mehr oder weniger bewusst gesuchten) Anwendung technischer Verfahrensregeln. Medea verwirklicht vielmehr eine Art von Rhetorik, wie man sie vor allem von Homer lernen konnte. Es gelingt ihr, etwas in der Sache selbst Überzeugendes herauszufinden, d. h., sie kann ihren vornehmen Freundinnen genau die unglückliche Situation vor Augen führen, die sie mit Medea gemeinsam haben, und sie kann sie ihnen so vor Augen führen, dass sie ihr Leid als das Ihre mitempfinden. So gewinnt sie sie für Ihren Racheplan gegen Jason, an dem diese sich tatsächlich bis zum Schluss zustimmend beteiligen (und nur die Tötung der Kinder verhindern wollen – um Medeas willen). Medeas ‚rationales‘ Argumentieren ist so integrierter Teil ihrer Handlung, d. h. desjenigen subjektiven Gutes, von dem ihre inneren und äußeren Tätigkeiten geprägt sind. Nimmt man zu diesem Gegenstandsaspekt bei der Gattungsbestimmung noch die anderen gattungsrelevanten Merkmale, die Aristoteles unterschieden hat, dazu, ergibt sich eine Vielzahl weiterer Unterscheidungsmöglichkeiten, die Dichtungsarten in diesem Bereich als miteinander verwandt und gegeneinander abgegrenzt aufweisbar machen. Gerade die Beachtung unterschiedlicher Momente der Charakterbildung verweist auf die historische Elastizität der aristotelischen Konzeption. Grundsätzlich ist jeder Charakter verschieden von den anderen, durch unterschiedliche Ausformungen bestimmter Fähigkeiten auf Grund unterschiedlicher ‚challenges‘ gibt es aber auch zeitgemäße Ähnlichkeiten und Unterschiede gegenüber anderen Zeiten und Räumen. Der Hinweis auf die ‚dianoetische‘ Komponente in der Aktivität eines Charakters ist gerade für die Bestimmung mancher moderner Dichtungsformen interessant, für die ein reflexives Moment eine bedeutende Rolle spielt und ein gemeinsames Band für sie bildet. ‚Sonderfälle‘ Die sorgfältige Ermittlung einer spezifisch menschlichen Aktivität durch Aristoteles, die zu einer einheitlichen Beziehung der Teile aufeinander und zum Ganzen in Aufbau und Ausdruck, d. h. zu einer poetischen Gestaltung, führt,

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macht es auch möglich, viele der oft mehr oder weniger äußerlich unterschiedenen Dichtungsarten auf ihre umgrenzbare Besonderheit innerhalb des Poetischen zu untersuchen. Der Terminus ‚Dinggedicht‘ etwa wäre in aristotelischer Perspektive ein unbestimmt ambivalenter Terminus. Denn wenn z. B. ein Architekturlehrer für seine Studenten die Beschreibung eines Hauses mit seinen einzelnen Teilen in Reime bringen würde, bliebe das nach Aristoteles ein Lehrstück in Reimen, es wäre noch nicht Dichtung. Mörikes Gedicht Auf eine Lampe, das häufig als Paradigma eines Dinggedichtes gilt, müsste dagegen auch in aristotelischem Dichtungsverständnis als Dichtung bezeichnet werden. Denn Mörike gibt nicht einfach eine objektive Beschreibung eines Dinges, bei der das lyrische Ich gegenüber der distanzierten Beschreibung zurücktritt, sondern er beschreibt das ‚Ding‘ unter einem Aspekt, unter dem es zu einem subjektiven Gut wird. Die ‚Beschreibung‘ der Lampe bezieht sich ja darauf, wie diese Lampe trotz des Verlusts ihrer früheren Funktion in einem ihr gemäßen Raum ihren Wert für den Betrachter behält, wenn er sich der Schönheit ihrer Gestaltung selbst zuwendet. Sie beschreibt also eine ‚Handlung‘, die Handlung, wie man sich angesichts eines Verlusts den Wert einer Sache erhält. Eine aristotelische Definition würde dieses Gedicht deshalb unter die der Form nach narrative Dichtung einordnen, die die Möglichkeit des Narrativen zu Erweiterung und Kürzung für eine prägnante Verdichtung nutzt und einen für das Glück eines Handelnden bedeutenden Umgang mit einem Ding in dazu passender Sprache beschreibt. Man könnte für diesen Formtypus der Dichtung den Begriff ‚Dinggedicht‘ beibehalten, wenn Übereinkunft darüber erzielt wäre, dass ‚Gedicht‘ den subjektiven Handlungsaspekt bezeichnet, durch den eine Dingbeschreibung erst zu Dichtung wird. Dem Handlungstypus nach müsste man dieses Gedicht wohl der von Aristoteles unterschiedenen zweiten Art der Handlungsführung (pathēthik´ē) zurechnen, denn es beginnt in einem Zustand subjektiver Unglückserfahrung und endet in einer Erfahrung des Glücks („selig scheint es in ihm selbst“, v. ). Zum letzten, reflexiven (dianoetischen) Handlungstypus müsste viele neuere Literatur gerechnet werden, aber auch etwa schon die sogenannte Gedankenlyrik. Auch bei ihrer Beurteilung würde gelten, dass sie nur dann Dichtung ist, wenn ein subjektiv erstrebtes Gut das Zentrum der Darstellung bildet. Aristoteles rechnet zu dieser ‚Gedankenlyrik‘ ausdrücklich sogar die Platonischen Dialoge. Der Phaidon etwa ist nicht einfach eine wissenschaftliche Analyse der Frage der Unsterblichkeit der Seele, sondern der Weg einer

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‚Handlung‘, die sich auf reflexive Weise angesichts einer Bedrohung des eigenen Lebens begründete Zuversicht und Trost verschafft. In dieser Betrachtungsweise ist kein Grund zu sehen, weshalb nicht auch Goethes Gedicht Edel sei der Mensch, hilfreich und gut mehr als bloß ratende Rhetorik, d. h. ein Gedicht ist, in dem man einen Weg zur Erreichung des einzig dem Menschen möglichen Glücks durchläuft.  Schlussbemerkung Die im letzten Abschnitt besprochenen Beispiele möglicher Definitionen von Dichtungsarten in aristotelischer Perspektive können weder als umfassend und genau bestimmt noch (und schon gar nicht) als vollständig verstanden werden. Sie sollten lediglich als Demonstrationsbeispiele für die grundsätzliche Leistungsfähigkeit des aristotelischen Poetik-Begriffs dienen. Aristoteles umgeht mit seinem Weg, Dichtung und ihre Arten zu bestimmen, nicht wenige Aporien und Kontroversen, die sich im Lauf der Geschichte ausgebildet haben. Besonders hervorheben möchte ich, dass er auch das Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen in einem vom neuzeitlichen Universalienverständnis verschiedenen Weise erklären kann. Diejenige Form des Allgemeinen, die auch in aristotelischer Definition als ‚das, was mehrerem zukommt‘ (ho pleíosin epharmózei)⁹⁷ beschrieben wird, kann ja in einer seit dem Nominalismus des späten Mittelalters (neu) entwickelten Tradition entweder als etwas gedacht werden, was ‚vor den Dingen‘, ‚in den Dingen‘ oder ‚nach den Dingen‘ (ante rem, in re, post rem) existiert. Trotz der Tatsache, dass die realistischen Positionen, die das Allgemeine als etwas für sich selbst und transzendent Existierendes (universale ante rem) oder für etwas, was in den Dingen realiter existent sei (universale in re), auffassen, als geschichtlich überholt gelten, zeigt gerade die Diskussion um die Frage, was literarische Gattungen ‚eigentlich‘ sind, dass die scheinbar zwingende Antwort, das Allgemeine seien nachträglich subjektiv gebildete Begriffe, die (je nach Methode oder Kriterien anders) aus historischem Material abstrahiert wurden, in sich selbst problematisch ist, weil auf ein verbindlich gültiges Allgemeines nicht

⁹⁷ S. Metaphysik, bf.

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leicht verzichtet werden kann.⁹⁸ Auch wenn allgemein verbindliche Normen, die ‚invariant‘ festlegen, was eine bestimmte Gattung ist und welchen Regeln oder Kriterien sie zu folgen habe, ‚nicht mehr‘ möglich scheinen, irgendeine Art von Verbindlichkeit – Grenzen, die einzuhalten sind, formale ‚Gesetze‘, manchmal auch Grundstimmungen – ist mit vielen Gattungsbestimmungen verbunden, die bis heute diskutiert werden. Außerdem bringt es das Verständnis des Allgemeinen als eines Abstraktionsprodukts mit sich, dass das Gattungsallgemeine mit konkretem Inhalt erst durch die historisch und individuell verschiedenen Einzelwerke gefüllt werden kann. So entsteht die wenig hilfreiche Alternative, dass das Gattungsallgemeine entweder doch vom je einzelnen Werk abhängt und also nur im Sinn eines Rezeptionsphänomens, als ‚Nachahmungsprodukt‘, eine allgemeine Richtlinie sein kann, oder es ist so leer, dass seine Universalität überhaupt keine Aussage über das Einzelne mehr enthält. Die Erkenntnis des Einzelnen selbst wird dadurch zur Sache einer rational nicht kontrollierbaren Intuition, umgekehrt führt die rationale Erklärung eines gegebenen Ganzen zur ‚epistemischen Reduktion‘ auf überall gleiche oder ähnliche Elemente, aus denen die Konkretheit des ursprünglichen Ganzen nicht mehr aufbaubar ist. Aristoteles unterläuft diese und eine große Zahl ähnlicher ‚Alternativen‘ durch die Ermittlung einer grundlegend verschiedenen Art des Allgemeinen,⁹⁹ das er auch in der Dichtung sucht. Vom Allgemeinen der Dichtung sagt ⁹⁸ In der Dimension literarischer Gattungsbegriffe führt die Behauptung, Gattungen könnten nur historisch bestimmt werden, beinahe zwingend in einen ‚performativen Widerspruch‘. Es gibt ohne irgendeine ‚transhistorische‘ Ebene keine Möglichkeit, vom Komischen, der Komödie, dem Roman, dem Epos usw. zu reden. Der beinahe durchgängig belegbare Sprachgebrauch zeugt daher auch bei den strengen Vertretern einer rein historischen Gattungsbildung von der Aporie dieses Ansatzes. Klaus Hempfer, Zum begrifflichen Status der Gattungsbegriffe: von ‚Klassen‘ zu ‚Familienähnlichkeiten‘ und ‚Prototypen‘, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur , , –, hier: f; leitet aus dem Aufweis dieser Widersprüchlichkeit zu Recht einen dynamischeren Ansatz ab, der manches mit dem aristotelischen gemeinsam hat. S. das Folgende. ⁹⁹ Die drei sogenannten Universalienbegriffe sind historisch gesehen keineswegs Stationen einer Entwicklung, die aufeinander folgte (Platon: universale ante rem. Aristoteles: universale in re. Nominalismus des späten Mittelalters: universale post rem), in sachlich korrekter Beschreibung und philosophischer Analyse findet man sie schon bei Aristoteles – nebeneinander. Es sind für ihn drei verschiedene Möglichkeiten, wie etwas allgemein sein kann: () als bloße gedankliche Bildung (en ennoía mónon), die das Gemeinsame an Mehrerem (koinón) ermittelt, () als das, was immer und nur das Sein einer Sache ausmacht (kathólou prō´tos, primäres Allgemeines) und () als eine eingeschränkte Realisation von Sachmerkmalen in einer Materie (énhylon eídos). S. Verf., Das Universalienproblem bei Aristoteles und seinen spätantiken Kommentatoren, in: Ralf Georges Khoury (Hg.), Averroes

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er ja, es werde daran erkennbar, dass durch die ‚Beschaffenheit‘ des Redens und Tuns eines Handelnden die ‚Beschaffenheit‘, d. h. die allgemeinen Handlungstendenzen eben dieses Handelnden (sc. durch seine Entscheidungen, etwas vorzuziehen oder zu meiden), offenbar werde (s. b– in Kombination mit a–). Da er wenig zuvor gesagt hatte, dass die Handelnden durch ´ēthos und diánoia, also durch ihren Charakter, eine bestimmte Beschaffenheit haben (b–a), kann man diese etwas umständliche Formulierung abkürzen und sagen: Das Allgemeine der Dichtung besteht darin, dass jede einzelne Äußerung eines Handelnden Ausfluss seines Charakters ist, ‚ihm zukommt‘ (bf.). Wenn Aristoteles dieses Allgemeine zugleich ein ‚Mögliches‘ nennt (a) und die dieses Mögliche verwirklichende Handlung eine Handlung, die zeigt, „wie etwas geschehen müsste“ (a), dann wird hier also das Allgemeine mit den Handlungsmöglichkeiten eines Charakters identifiziert. Diese Möglichkeiten sind, wie ich zu zeigen versucht habe, nicht unbestimmte Möglichkeiten zu allem und jedem, sondern es sind die von einem Menschen zu bestimmten Grundhaltungen ausgebildeten Vermögen, über die er als Mensch im allgemeinen und als dieser einzelne Mensch im Besonderen verfügt. Ein Vermögen ist immer, wie Aristoteles betont, ein Vermögen zu etwas Bestimmtem. Wer sehen kann, kann Farben und Formen unterscheiden, wer laufen kann, kann Bewegungsrichtungen unterscheiden, Gleichgewicht halten usw. Ausgebildete Vermögen enthalten also ein Arsenal an zu ‚Fertigkeiten‘ entwickelten ‚Fähigkeiten‘. Ein Tapferer z. B. ist in aristotelischem Sinn nicht tapfer, weil er einen eisernen Willen, standzuhalten, hat, sondern weil er über ein reiches Arsenal an Erfahrung verfügt, gegen wen oder was, wann, in welcher Weise, in welchem Maß er einer Bedrohung standhalten kann.¹⁰⁰ Diese aus Erfahrung gewonnene Tapferkeit steht ihm allgemein zur Verfügung als ‚ein Mögliches‘, d. h. als etwas jederzeit Verwirklichbares (soweit es an ihm liegt). Das Allgemeine, auf das sich ein Dichter wie Homer stützen kann, wenn er einen Achill darstellt, ist daher keine abstrakt allgemeine Vorstellung über einen Menschen, dessen Verhalten von vorneherein so konstruiert werden muss, dass allem, was er tut, das Prädikat ‚jähzornig‘ zugeschrieben werden (–) oder der Triumph des Rationalismus, Symposium Heidelberg , Heidelberg , –; s. auch Rainer Thiel, (wie Anm. , –. ¹⁰⁰ Wie bedeutend es ist, Gefühle zu haben, die dem Gegenstand angemessen sind, in der dazu gehörenden Art und Weise, dem Ausmaß usw., betont Aristoteles immer wieder, z. B. Nikomachische Ethik, b–; b–.

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kann, wie es Horaz vom Dichter verlangt,¹⁰¹ sondern es muss aus einem technisch oder untechnisch gewonnenen Wissen (die Entscheidung darüber lässt Aristoteles ausdrücklich offen – a) gebildet sein über die inneren, psychischen Handlungsmöglichkeiten dieses bestimmten Charakters. Sie bilden das Arsenal, auf das man hinblicken kann, wenn man eine daraus ableitbare Handlung zu finden oder erfinden sucht, sie bieten auch die Kriterien, an denen man misst, ob bestimmtes Tun oder Reden zu eben diesem Charakter passt oder nicht passt. Dieses Allgemeine ist ein ‚individuelles Allgemeines‘ im doppelten Sinn des Wortes. Es gehört einerseits ganz dem Individuum Achill und beschreibt seine eigenen Handlungsmöglichkeiten, seine Tapferkeit, seinen Gerechtigkeitssinn, usw. Es ist aber auch etwas Allgemeines. Denn Achill verwirklicht ja nicht irgendwelche nur ihm eigenen, fiktiven Möglichkeiten, wenn er auf seine Weise tapfer, auf seine Weise überempfindlich für Recht und Unrecht ist. Aber auch dieses Allgemeine ist keine vom einzelnen Menschen unabhängige ‚Substanz‘, die irgendwo neben ihm ein Sein hätte. Tapferkeit ist vielmehr ein Prädikat, das die Fähigkeit des Menschen, Bedrohungen standzuhalten, bezeichnet und gegen andere Fähigkeiten des Menschen abgrenzt (und auf die besonderen Weisen, in denen Achill dies tut, in besonderer Weise). Auch die Gerechtigkeit ist nicht ein postulierter idealer Gegenstand, sondern besteht in der Fähigkeit, zu bemerken und zu erkennen und sich emotional dafür zu engagieren, dass jedem das ihm Gemäße zukommt.¹⁰² Auch wenn Aristoteles den Begriff des Allgemeinen, der auch in der Neuzeit am häufigsten benutzt wird, kennt, ja selbst maßgeblich formuliert hat, dieser abstrakte Allgemeinbegriff erklärt für ihn nur eine Möglichkeit, wie etwas allgemein sein kann, es ist sogar der am wenigsten aussagekräftige Allgemeinbegriff für ihn. An zentraler Stelle nennt er ihn zugleich allgemein und konfus.¹⁰³ Das Allgemeine, das er als charakteristisch für die Dichtung ansieht, ist jedenfalls kein abstraktes und leeres, sondern ein konkretes und volles Allgemeines. Auch das Bild vom Menschen, das diesem ‚poetischen‘ Allgemeinen zugrunde liegt, ist nicht auf den Begriff einer dem Menschen innewohnenden fixierten, unveränderlichen Substanz gegründet, die in allen seinen sonstigen Veränderungen (als ‚Kern‘) gleich bleibt, sondern, wie sich gezeigt hat, auf den ¹⁰¹ S. Horaz, De arte poetica, vv. –. ¹⁰² In dieser – nicht normierten – Weise hat schon Platon Gerechtigkeit bestimmt. S. Verf., Die Moderne und Platon, –. ¹⁰³ S. Physik I, , a–; s. dazu Verf., Die Moderne und Platon, –.

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Menschen als Inbegriff bestimmter Vermögen. Diese Vermögen sind keine – wie auch immer entstandenen – Programme, bestenfalls könnte man sagen, dass sie in der dem Menschen möglichen Verfügung über programmierbares Material bestehen. Eine anthropologische Herleitung der Dichtung meint bei Aristoteles daher nicht, eine Erforschung bestimmter Merkmale, die man aus dem Verhalten verschiedener Menschen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Räumen abstrahieren kann. Es meint vielmehr eine Erklärung der Dichtung aus einer reflexiven Analyse der verschiedenen Aktmöglichkeiten des Menschen und der Ermittlung einer bestimmten Art von Ausbildung und Betätigung einzelner dieser Vermögen, aus denen sich ein érgon, ein Werk ergibt, das als Dichtung verstanden werden kann. Obwohl diese Vermögen allen Menschen grundsätzlich zur Verfügung stehen, können sie von den einzelnen Menschen unterschiedlich ausgebildet und betätigt werden, ihre Ausbildung ist auch nach Aristoteles zudem von vielfältigen äußeren Faktoren mitbedingt, von Anlage und Begabung, von Gewöhnung, Übung, Belehrung, und sie ändern sich durch die unterschiedliche Art dieser Einflüsse in unterschiedlichen Zeiten und Räumen auch selbst mit. Dichtung ist freilich nicht selbst Handeln, aber sie hat als Darstellung von Handlung teil an der Elastizität der unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten. Da das Allgemeine der Dichtung die generellen Tendenzen meint, zu denen ein Mensch seine Vermögen, Bestimmtes zu können, entwickelt hat, gewinnt eine Dichtung, die sich an diesem Allgemeinen orientiert, eine je dazu gehörende ‚Schreibweise‘. Ihre Grundunterschiede sind die Grundunterschiede möglichen charakterbestimmten Handelns, also das Tragische und das Komische. Innerhalb dieser Bandbreite gibt es unbestimmt viele Zwischenformen. Es gibt keine Festlegung auf bestimmte Personen, auf ein bestimmtes Verhalten, ein bestimmtes Milieu usw. Festgelegt ist lediglich, dass etwas nicht Dichtung, d. h. eine komponierte Ordnung von Handlungsteilen zu einem Ganzen, sein kann, wenn jemand keinen Charakter hat. Wer beim Würfelspielen nicht verlieren kann und deshalb seinen Mitspieler tötet, ist weder tragisch noch komisch, sondern ein ‚sentimentaler Tyrann‘, d. h. ein den Lüsten und Widrigkeiten seiner Umwelt ausgeliefertes Bündel ohne Eigenschaften. Trotz der Tatsache, dass Aristoteles Gattungen nicht über fixierte Merkmale, die in allen Exemplaren, die zu ihnen gehören, gleich sind, definiert, umgrenzt er die Gattungen auch nicht (nur) durch ein Netz von Ähnlichkeiten,

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die einander übergreifen und kreuzen,¹⁰⁴ d. h. er sucht nicht im Sinn einer ‚verschwommenen Logik‘ nach einem Ausweg aus der Eindeutigkeitsforderung einer zweiwertigen Logik, für die alles entweder unter einen Begriff fallen oder nicht fallen muss. Es geht bei seinem Bestimmungsversuch überhaupt nicht um eine bloße Unter- oder Zuordnung von Begriffen. Wenn man überhaupt Begriffe aus einer modernen, meist neostoisch beeinflussten Logik auf Aristoteles’ Verfahren anwenden kann, dann bewegt sich seine Reflexion nicht im Bereich der Extension, sondern der Intension von Begriffen. Richtiger ist: Er orientiert sich nicht an möglichen Gegenständen und dem Umgang mit ihnen,¹⁰⁵ sondern an dem jeweils bestimmten Können von Vermögen, über die wir verfügen und die wir rein als sie selbst, aber auch in Kombination miteinander betätigen können. Die Gattungen, Arten und Unterarten der Dichtung ergeben sich also, das wollte diese Untersuchung nachzeichnen, aus der Reflexion auf diejenigen Vermögen, die den Menschen zu einer bestimmten, d. h. direkt an die Anschauung gebundenen Erkenntnis seines Handelns befähigen. Die daraus entwickelbare Fähigkeit, in der Darstellung des Redens und Tuns eines Menschen unmittelbar die inneren Gründe dieses Handelns offenbar zu machen, bietet den begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen die mit ihr eröffneten Möglichkeiten der Gestaltung von Handlungsdarstellung erprobt werden können.

¹⁰⁴ S. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, hg. v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. , § b. ¹⁰⁵ Eine solche ‚Schau‘ von ‚Familienähnlichkeiten‘ setzt die einzelnen Exemplare einer Dichtart schon voraus, sie müssen, wie im genetischen Zusammenhang der Familie, ihre Eigentümlichkeiten schon besitzen, bevor man unter verschiedenen Gesichtspunkten ihre Ähnlichkeiten bemerken kann. Im Gegensatz zu einem verbreiteten Vorurteil unterscheidet sich Aristoteles gerade dadurch von dieser Zugangsweise, dass sein Zugang nicht gegenständlich ist (sondern an bestimmbaren Möglichkeiten orientiert).

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Schlußverse in Kallimachos-Epigrammen

Die Bedeutung der Pointe

„Das Epigramm“, so Wilamowitz¹ im Anschluß an Lessing², „wird nie ganz verleugnen, daß es aus der Aufschrift und dem Spruche entstanden ist. Daher drängt es auf die Kürze und die Pointe.“ Dies gelte insbesondere für Kallimachos, den „Meister des Epigramms“³, und sei das entscheidende Argument gegen die (auch heute noch verbreitete) Athetese jeweils der beiden Schlußverse in den Kallimachos-Epigrammen  Pf. =  G.-P. (‚Lysanias‘) und  Pf. =  G.-P. (Auto-Epitaph des Dichters)⁴. Ohne die Schlußdisticha fehle den beiden Epigrammen die für Kallimachos konstitutive Pointe: ein Hinweis, der in der Kallimachos-Forschung nicht immer beachtet wird. Sind demzufolge ‚Kürze‘ und ‚Pointierung‘ so sehr Wesensmerkmale gerade der Epigramme des Kallimachos, daß sie bei deren Interpretation und Textkritik grundsätzlich berücksichtigt werden müssen? ¹ U. v. Wilamowitz, Hellenistische Dichtung, . , . ² G. E. Lessing, Über das Epigramm und einige der vornehmsten Epigrammatisten, . ³ Wilamowitz, Homerische Untersuchungen, Philol. Unters. , ,  Anm. ; vgl. für das Epigramm generell schon Parmenion  G.-P. Garland (φημὶ πολυστιχίην ἐπιγράμματος οὐ κατὰ Μούσας / εἶναι …), für Kallimachos speziell auch G. O. Hutchinson, Hellenistic Poetry, , : „Fundamental to Callimachus’ epigrams is the brevity which almost defines the genre. The smallness of their compass makes particularly sharp and devastating their sudden changes of register, subject, or speaker, the sudden revelations and surprises in their movement“. Zweifelnd dagegen M. Lausberg, Das Einzeldistichon, ,  mit Anm. : man könne „nicht sagen, daß er (sc. Kallimachos) geringen Umfang zu einer Gattungseigenschaft des Epigramms erklärt hätte“. ⁴ Ebd., vgl. Hellenistische Dichtung ,  (zu epigr.  = ), sowie Hellenistische Dichtung , , Anm.  (zu  = ). Vgl. meinen Beitrag in Wilamowitz in Greifswald, hrsg. v. W. M. Calder, M. C. Dubischar, M. Hose, G. Vogt-Spira, , – (mit Nachweisen zu den Athetesen; s. in jüngster Zeit z. B. auch D. Meyer, Inszeniertes Lesevergnügen, , f.: sie akzeptiert die Athetese der Schlußverse von epigr.  Pf. =  G.-P. ohne Bezugnahme auf die Gegenargumente).

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Prüft man daraufhin die  im traditionellen Versmaß des elegischen Distichons verfaßten von den insgesamt  für Kallimachos überlieferten Epigrammen⁵ zunächst im Hinblick auf ihren Umfang, so ergibt sich folgendes Bild: Elf sind Monodisticha (zum Vergleich: bei Asklepiades z. B. sind es  von , bei Leonidas v. Tarent  von , bei Meleager  von ), achtundzwanzig bestehen aus je zwei Distichen, siebzehn aus je drei Distichen, und drei sind länger als drei Distichen (epigr.  Pf. =  G.-P.:  Distichen =  Verse; epigr.  Pf. =  G.-P.:  Distichen =  Verse und epigr.  Pf. =  G.-P.:  Distichen =  Verse; bei Asklepiades sind es  von , bei Leonidas v. Tarent dagegen  von , bei Meleager  von ). Mehr als sechs Verse lange Epigramme sind also bei Kallimachos (ähnlich wie z. B. bei Asklepiades, aber anders als z. B. bei Leonidas oder Meleager) seltene Ausnahmen, und die überwiegende Mehrheit ( Epigramme) umfaßt sogar nur zwei oder vier Verse. Das Streben nach Kürze ist also noch deutlicher als bei vergleichbaren anderen Epigrammatikern. Wenn aber ‚kurz und bündig‘ zusammengehören, wie Erich Kästner im Titel seiner kleinen Epigrammsammlung sagt,⁶ also ein programmatisch kurzes Gedicht eo ipso auf eine Zuspitzung angelegt ist, wie steht es dann mit dem zweiten von Wilamowitz für die Epigramme des Kallimachos reklamierten Charakteristikum, der ‚Pointe‘? Sieht man sich daraufhin zunächst die elf (zehn)⁷ Monodisticha näher an, dann stellt man fest, daß zwei von ihnen nicht nur musterhaft kurz sind, sondern die ‚Kürze‘ auch thematisch zu ihrem Sujet machen: Das Grabepigramm  Pf. =  G.-P. beginnt mit dem Begriff ‚kurz‘/‚kurz angebunden‘ (σύντομος) und schließt mit dem antithetischen Leitbegriff ‚(zu) lang‘ (δολιχός): der Tote war kurz an Statur und zugleich wortkarg, und auch die Inschrift⁸ will nicht mehr als das Notwendige sagen (sie besteht aus drei lapidaren Worten: Θῆρις Ἀρισταίου Κρής: Name, Vatersname, Heimatland), doch der als Ich-Sprecher

⁵ Von ihnen ist die Authentizität der Nummern ,  und  Pf. = ,  und  G.-P. umstritten: s. für die Unechtheit z. B. Pfeiffer, Callimachus II S. ; Gow/Page dagegen lassen alle drei, wenn auch mit Vorbehalten, als kallimacheisch gelten. ⁶ Erich Kästner, Kurz und bündig: Epigramme, . Er reklamiert für den Epigrammdichter „die künstlerische Lust, sich in äußerster Zucht, Prägnanz und Kürze auszudrücken“ (Vorwort). ⁷ Das Distichon  Pf. =  G.-P. ist nicht sicher für Kallimachos bezeugt, vgl. Anm. . ⁸ Das Wort στίχος heißt nicht „Vers“, sondern ‚Inschrift‘, wie die Beziehung auf das Folgende zeigt.

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fungierende Grabstein ist so klein, daß die Inschrift trotz ihrer Knappheit auf ihm immer noch (zu) lang zu sein scheint.⁹ Von vergleichbarer programmatischer Knappheit ist das Weihepigramm  Pf. =  G.-P., ein einziges Distichon für einen ganzen Dialog zwischen der als Ich-Sprecher auftretenden Weihgabe (‚Eichensproß‘: ‚Eichenkeule‘) und dem Heros Herakles, für den sie bestimmt ist. Auf die devote Adresse des Weihgeschenks im Namen des Stifters (V. ) repliziert der angeredete Herakles nach der den Übergang durch Enjambement markierenden Weihformel φήγινον ὄζον / θῆκε (V.  f.) dreimal abrupt und lapidar mit jeweils nur einem einzigen Wort (‚τίς‘, ‚ποῖος‘, ‚δέχομαι‘, V. )¹⁰. Das dritte und letzte, zugleich das Schlußwort des Epigramms, akzentuiert den Erfolg der Weihung. Auch in den übrigen acht Monodisticha nutzt Kallimachos die vorgegebene epigrammatische Formkürze für sprachliche und strukturelle Pointen: Sechs von ihnen weisen wie  Pf. =  G.-P. einen zielbewußten Kontrast von Vers  und  auf und drei davon darüber hinaus auch ein den Umschlag vom ersten zum zweiten Vers markierendes Enjambement: In den Grabepigrammen  Pf. =  G.-P. und  Pf. =  G.-P. lenkt das Enjambement die Aufmerksamkeit auf Abweichungen vom üblichen Wortgebrauch für ‚begraben sein‘ (κεῖσθαι) einerseits und ‚bestatten‘ (θάπτειν) andererseits: im ersten Fall ‚Saon … schläft hier den heiligen Schlaf ‘, ἱερὸν ὕπνον / κοιμᾶται, im zweiten ‚Philippos legte hier seinen Sohn ab‘, ἀπέθηκε / ἐνθάδε. Die Wortwahl findet jeweils im zweiten Vers ihren prägnanten Aufschluß: In epigr. ,  Pf. = ,  G.-P. steht ‚schlafen‘ metaphorisch für ‚begraben liegen‘, weil man von ‚den

⁹ Zu recht sagt D. Meyer (wie oben Anm. , f.): „Das Epigramm liest sich wie eine semantische Studie zum Wortfeld ‚Kleinheit‘ …“, doch ihre Einschränkung der Wortbedeutung von σύντομος allein auf „wortkarg“ kann nicht richtig sein: V.  ἐπ’ ἐμοί zeigt, daß der Inschriftenträger fiktiver Sprecher des Epigramms ist, V.  σύντομος ἦν ὁ ξεῖνος macht andererseits deutlich, daß Sprecher und Toter (Statue des Toten) nicht identisch sein können, daß also der Grabstein, ‚auf dem‘ die Inschrift zu denken ist, der Sprecher sein muß. Seine Kleinheit entspricht der Kleinheit des Toten. – Zur ‚Wortkargheit‘ der Kreter vgl. andererseits z. B. E. Voutiras, ZPE , , –. ¹⁰ „Here the point lies in the contrast between the elaborately coined language of the first line and the laconic treatment of the second“, J. Ferguson, The Epigrams of Callimachus, G&R , , . Vgl. A. Köhnken, Gattungstypik, FS W. Pötscher, Gr. Btr. Suppl. , , –, und Meyer, wie oben Anm. , –.

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Gerechten‘ (τοὺς ἀγθούς), zu denen Saon gehörte, nicht sagen darf, sie könnten ‚sterben‘, θνῄσκειν.¹¹ In epigr.  Pf. =  G.-P. heißt das letzte Wort des ersten Verses Φίλιππος (Name des Vaters), das letzte Wort des zweiten Verses Νικοτέλην (Name des Sohnes), das zweitletzte Wort des ersten Verses ἀπέθηκε, das zweitletzte Wort des zweiten Verses ἐλπίδα, und die sekundäre Beziehung von ἀπέθηκε auf ἐλπίδα erklärt die Wortwahl: ‚Er legte hier seine große Hoffnung ab‘, d. h. mit der Bestattung seines Sohnes mußte der Vater die in diesen gesetzte Hoffnung ‚aufgeben‘.¹² Kennzeichnend für dieses Epigramm ist nicht nur, „that every word is significant“ (Ferguson), sondern auch, daß jedes Wort in signifikanter Position steht:¹³ das erste und das letzte Wort gelten in Hyperbaton und mit auffälliger Assonanz dem Sohn (Δωδεκέτη … Νικοτέλην), in der Mitte steht in Enjambement der Name des Vaters und die Ortsangabe (Φίλιππος / ἐνθάδε), zwischen dem Attribut des Sohnes und dem Namen des Vaters steht in Vers  als erste Ergänzung die unerwartete Umkehr der Norm (‚der Vater bestattet den Sohn‘: τὸν παῖδα πατήρ), und zwischen der Ortsangabe und dem Namen des Sohnes steht in Vers  als zweite Ergänzung die enttäuschte Erwartung (τὴν πολλὴν ἐλπίδα). Den gleichen Effekt erreicht Kallimachos mit anderen Mitteln im Grabepigramm  Pf. =  G.-P. Er teilt die Inschrift ‚Kimon, Sohn des Hippaios, aus Elis‘ so auf die beiden Verse des Monodistichons auf, daß ‚die Vorübergehenden‘ den Toten gleichsam zweimal aus verschiedener Perspektive passieren (das Verb wird verdoppelt, V.  οἵτινες … παρέρπετε …, V.  ἴστε … παρερχόμενοι, und die Angabe ‚Sohn des Hippaios‘ bekommt durch Verselbständigung einen auffälligen Nachdruck). Der Ton liegt auf dem Verlust, den der Tod des Sohnes für den Vater bedeutet.¹⁴ Einen ähnlichen Kontrast und ein vergleichbares pointiertes Spiel mit Wortwahl und Wortstellung kann man auch im Auto-Epitaph  Pf. =  G.-P. beobachten. Vier Leitbegriffe werden durch ihre Stellung hervorgehoben ¹¹ Vgl. N. Hopkinson, A Hellenistic Anthology, , : „The second sentence is tellingly ambiguous … A dash“, sc. zwischen κοιμᾶται und θνῄσκειν, statt Kolon oder Punkt, „preserves the ambiguity … The poem is thus simultaneously praise (he was good) and consolation (he is not altogether ‘dead’)“. ¹² Vgl. Meyer, wie oben Anm. , : „Anstelle der inschriftlichen Formel ἐνέθηκε … verwendet der Sprecher das pessimistische ἀπέθηκε, das sich zeugmatisch auf das Objekt παῖδα und auf die Apposition ἐλπίδα bezieht …“. ¹³ Vgl. auch Hopkinson, o. Anm.  , f., bes. zur rahmenden Junktur δωδεκέτη … Νικοτέλην und zur „juxtaposition of παῖδα and πατήρ“. ¹⁴ Vgl. E. A. Schmidt, Interpretationen kallimacheischer Epigramme, Hermes , , .

Schlußverse in Kallimachos-Epigrammen

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(Vers , erstes Wort Βαττιάδεω, Vers , erstes Wort εἰδότος, Vers  letztes Wort ἀοιδήν, Vers  letztes Wort συγγελάσαι) und durch das Enjambement ἀοιδήν / εἰδότος miteinander verknüpft: die beiden durch εὖ μέν und εὖ δέ parallelisierten Schlußworte ἀοιδήν und συγγελάσαι gehören beide als Objekte zu den beiden Anfangsworten Βαττιάδεω … εἰδότος und kennzeichnen die beiden hier ‚kurz und bündig‘ miteinander konfrontierten Seiten des Kallimachos: Künstler und fröhlicher Symposiast. Pointierte Kontraste liegen auch in den beiden Misanthropen-Monodisticha  Pf. =  G.-P und  Pf. =  G.-P. vor. Im ersteren wird Timon gefragt (mit der Begründung, er lebe ja nicht mehr, könne also eine kompetente Antwort geben), ob die ‚Dunkelheit‘ (des Hades) oder das ‚Licht‘ (des Diesseits) ihm (mehr) verhaßt sei (V. ). Die lakonische Antwort: ‚die Dunkelheit‘ (nicht etwa ‚die Dunkelheit ebenso wie das Licht‘, wie die Formulierung der Frage nahelegen könnte, ἐχθρόν: Positiv, nicht Komparativ) ist ebenso paradox – der Menschenhasser sollte doch eigentlich eher froh sein, daß er von den Menschen befreit ist, denen im Leben sein Haß galt – wie ihre Begründung: ‚denn von euch gibt es mehr im Hades‘ (V. ). Timon sagt nicht: ‚denn es gibt mehr Tote im Hades als Lebende im Diesseits‘, sondern ‚denn es gibt von euch noch mehr im Jenseits als im Diesseits‘. Die Antwort Timons scheint sich also nicht so sehr auf die Menschen allgemein,¹⁵ als vielmehr auf die durch die Art der Frage exemplifizierte spezifische menschliche Albernheit zu beziehen (‚von Toren wie du einer bist‘). Auffällig ist auch hier wieder die effektvolle Herausstellung der zentralen Begriffe: ‚Timon‘ ist das erste Wort des Epigramms, ‚im Hades‘ das letzte, zusammengenommen bezeichnen sie das Leitthema: ‚Timon im Hades‘. Das zweite Misanthropen-Monodistichon operiert gezielt mt der Ambivalenz des Wortes χαίρειν, als Grußformel und in der eigentlichen Bedeutung ‚sich freuen‘. Im ersten Vers verbittet sich der Misanthrop aus seinem Grab mit einer Beschimpfung den Gruß jedes Vorbeikommenden (μὴ χαίρειν εἴπῃς με, κακὸν κέαρ) und liefert im zweiten Vers die paradoxe, aber charakteristische Begründung: ‚Freude (χαίρειν) bedeutet für mich, daß du nichts zu lachen hast‘ (τὸ μὴ σε γελᾶν).¹⁶ ¹⁵ So die communis opinio, s. z. B. Meyer, wie oben Anm. ,  f. ¹⁶ „Verkehrung der Konventionen“ (D. Meyer, wie oben Anm. , , nach G. B. Walsh, Callimachean Passages, Arethusa , , ). – Das überlieferte γελᾶν ist für den Sinn notwendig. Mit der von Gow/Page u. a. in den Text gesetzten Konjektur πελᾶν (Graefe) verlöre die signifikante Verdoppelung des Infinitivs χαίρειν (V.  und V. ) ihre Pointe.

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Adolf Köhnken

Die beiden Monodisticha  Pf. =  G.-P. und  Pf. =  G.-P. schließlich sind Weihepigramme, in denen jeweils das als Weihgabe gestiftete Abbild (die Statue) eines Mädchens bei den Gottheiten Artemis bzw. Isis für das Original eintreten soll. Beide Epigramme implizieren mehr als sie tatsächlich sagen, wobei im ersteren Fall ( Pf. =  G.-P.) Vers  und Vers  jeweils syntaktisch abgeschlossen und mit wiederholter Anrede an die Gottheit (V.  Ἄρτεμι, V.  πότνια) scharf voneinander abgesetzt sind: V.  enthält die Feststellung des Sachverhalts der Weihung (‚für dich, Artemis, hat Phileratis ihr Standbild hier aufgestellt‘), V.  einen sie motivierenden Appell (‚nimm du deinerseits das Weihbild an und bewahre die dargestellte Stifterin‘). Das erste Wort des ersten Verses und das letzte des zweiten bringen zusammengefaßt das Epigramm auf den Punkt (Ἄρτεμι … σάου). – Im letzteren Fall ( Pf. =  G.-P.) verknüpft dagegen die Identifikation des geweihten Standbildes in Enjambement (ἡ Θάλεω παῖς / Αἰσχυλίς) den mit der Feststellung des Sachverhalts einsetzenden ersten Vers (‚Im Tempel der Inachostochter Isis steht …‘: Aufstellungsort der Weihgabe) eng mit dem zweiten, der mit dem Anlaß der Aufstellung schließt (‚auf Grund eines Versprechens ihrer Mutter Eirene‘). Durch die gezielte Anordnung der drei Teile rückt der Name der Dargestellten pointiert in das Zentrum des Epigramms. Impliziert ist auch hier, daß die Mutter mit der Erfüllung ihres Versprechens den Schutz der Göttin für ihre Tochter sichern will. Sieht man sich vor dem Hintergrund dieses Befunds für die Monodisticha die längeren Epigramme des Kallimachos an, so zeigen sich aufschlußreiche strukturelle Gemeinsamkeiten. Mit den Monodisticha  und  Pf. =  und  G.-P. (‚Kürze als Thema‘) ist das programmatische Plädoyer für die ‚Kurzsilbigkeit‘ im Sechszeiler  Pf. =  G.-P. nahe vergleichbar: Die sachlich übereinstimmenden Anfangs- und Schlußadressen an Dionysos (V. f. μικρή τις, Διόνυσε, καλὰ πρήσσοντι ποιητῇ / ῥῆσις und V.  ἐμοὶ δ’, ὦναξ, ἡ βραχυσυλλαβίη) markieren in rahmender Ringkomposition effektvoll das beherrschende Thema.¹⁷ Eine interessante programmatische Nebenrolle spielt der Aspekt der ‚Kleinheit‘ überdies im vierzeiligen Grabepigramm  Pf. =  G.-P. (εἶχον ἀπὸ σμικρῶν ὀλίγον βίον … Μικύλος …: der Tote mit Namen ‚Klein‘ hatte ‚mit kleinen Mitteln ein geringes Leben‘ geführt) und im vierzeiligen Weihepigramm  Pf. =  G.-P. ( Ἥρως … ἵδρυμαι μικρῷ μικρὸς ἐπὶ προθύρῳ …: die Statue eines kleinen Heros vor einem kleinen Haus). ¹⁷ Vgl. A. Köhnken, Epinician Epigram, in: P. Bing/J. S. Bruss (Hgg.), Brill’s Companion to Hellenistic Epigram, ,  f.

Schlußverse in Kallimachos-Epigrammen



Mit dem Plädoyer für die μικρὴ ῥῆσις in epigr.  Pf. =  G.-P. ist zudem die nachdrückliche Huldigung an die hesiodeischen λεπταὶ ῥήσιες Arats in epigr. , f. Pf. = , f. G.-P. vergleichbar, die in der Schlußjunktur V.  prägnant als σύντονος ἀγρυπνίη ‚straff ausgefeiltes Produkt schlafloser Nächte‘ bezeichnet werden.¹⁸ In den gleichen Kontext gehört mit ähnlicher Akzentuierung epigr.  Pf. =  G.-P., eine Hommage an den Epigramm-Dichter Theaitetos (Bd. I S. f. G.-P.), dessen ‚reiner Weg‘ (καθαρὴ ὁδός) zwar nicht zum Beifall des großen Publikums im Dionysostheater führe, dessen Kunst aber, im Unterschied zur kurzfristigen Bekanntheit anderer, Griechenland ewig verkünden werde (im Schlußdistichon stehen sich in nachdrücklich markierter Antithese gegenüber: ἄλλων μὲν … οὔνομα und κείνου δ’ … σοφίην, weiter κήρυκες und Ἑλλάς, und schließlich ἐπὶ βραχὺν … καιρόν und ἀεί). Das Epigramm beginnt mit ‚Theätets reinem Weg‘ (V.  Anfang) und schließt mit ‚seine Kunst‘ (V.  Ende: κείνου … σοφίην). Weitere sechzehn Epigramme zeichnen sich wie die Mehrzahl der Monodisticha (und wie das Lysanias-Epigramm,  Pf. =  G.-P.) durch überraschende Schlußakzente aus. Neun von ihnen sind wie das eben angeführte Theätet-Epigramm Vierzeiler (von insgesamt  Doppeldistichen), bei denen der Schluß jeweils einen pointierten Kontrast zu den vorhergehenden Versen bildet:  Pf. =  G.-P., V. –a: Toast auf den überaus schönen Diokles, V. b–: ‚wenn jemand behauptet, er sei nicht schön, möge ich allein beurteilen können, was schön ist‘. Erwartet hätte man vielleicht eher: ‚… dann weiß er nicht, was schön ist‘, doch die kallimacheische Variante enthält die raffinierte Pointe: ‚dann möge ich allein wissen, was schön ist‘, d. h. ‚seine Schönheit ganz für mich allein haben‘). –  Pf. =  G.-P., V. –a: Selbstbeschreibung einer von Kallistion dem Sarapis zugunsten ihrer Tochter Apellis geweihten aufwendigen Lampe, V. b–: ‚wenn du in meine Lichter blickst, wirst du mich mit dem Abendstern verwechseln‘, eine stolze Hyperbel als spektakulärer Schlußpunkt.¹⁹ –  Pf. =  G.-P., V. –a: Appell eines Akeson an den Heilgott Asklepios, den Empfang der ihm von Akeson für seine Frau Demodike geschuldeten Weihgabe anzuerkennen; V. b–: ‚wenn du es allerdings vergessen hast ¹⁸ Zu σύντονος vgl. z. B. Pl. Sph.  e . – Die Überlieferung wird von Pfeiffer und Gow/ Page mit Ruhnken in σύμβολον ἀγρυπνίης (σύγγονος ἀγρυπνίης Aratscholien) geändert und das Epigramm damit seiner Schlußpointe beraubt. S. zugunsten der Überlieferung und für den Zusammenhang von ‚Süße‘ und ‚Kürze‘ in Kallimachos’ Epigramm auf Arat die Interpretation von Chr. Riedweg, Reflexe hellenistischer Dichtungstheorie im griechischen Epigramm, Illin. Cl. Stud. , , –. ¹⁹ Zur Hesperos-Pointe V. f. vgl. A. Köhnken , o. Anm. , f.



Adolf Köhnken

und die Schuld zweimal (von mir) einforderst, dann versichert die Votivtafel, sie werde für mich Zeugnis ablegen‘ (ὁ πίναξ schließt das Epigramm mit Nachdruck ab: zugrunde liegt offenbar die ebenso verblüffende wie komische Vorstellung, daß die Weihgabe ihre eigene Übergabe bezeugt).  Pf. =  G.-P., V. –: ein erzener Hahn erklärt im Namen seines Stifters Euainetos und mit ausdrücklicher Versicherung seiner eigenen Unkenntnis des Sachverhalts, als Weihgabe an die Tyndariden für seinen Sieg im Hahnenkampf aufgestellt worden zu sein; V.  überrascht mit der lakonischen Versicherung des sprechenden Erzhahns, er glaube dem Euainetos: Anstelle des Eigennamens steht hier in scherzhaft-bedeutungsvoller Umschreibung der Name des Vaters und des Großvaters. Signifikant ist wieder die Wortstellung: das Epigramm beginnt mit φησίν (V. , erstes Wort) und schließt mit πιστεύω (V. , erstes Wort): einerseits ‚Euainetos sagt‘ und anderseits ‚ich glaube ihm‘.  Pf. =  G.-P.: das Epigramm beginnt (V. –a) mit dem merkwürdigen Weihgegenstand, einem Salzfaß, nennt dann seinen Stifter und den Grund für die Stiftung und schließlich die Götter von Samothrake, für die sie gedacht ist; V. b– zitiert den Wortlaut der Inschrift auf dem Weihgegenstand. Die für sich genommen irreführende Formulierung des Schlußteils λέγων ὅτι τήνδε … ὧδε θέτο (Weihung an die Göttin von Samothrake für Rettung aus Seenot) nimmt in aufschlußreicher Kontrastierung die vorgezogene Erklärung des Sachverhalts im Anfangsteil auf: τὴν ἁλίην Εὔδημος… θῆκε… (Rettung aus Schuldensee). Die Pointe, die oft verkannt wird (z. B. von Gow, Komm. z. St.), liegt in der Diskrepanz zwischen der in umgekehrter Reihenfolge angeführten scheinbaren und tatsächlichen Bedeutung der Aussage der Inschrift (V.  ἐξ ἁλός: Genus unbestimmt; V.  ἅλα λιτόν: Genus masculinum).  Pf. =  G.-P.: das erste Distichon, das die Vergöttlichung des kretischen Ziegenhirten Astakides konstatiert, beginnt und schließt mit dem Namen ‚Astakides‘, das zweite Distichon zieht aus dem genannten Sachverhalt die an die ‚Schafhirten‘ (V.  ποιμένες) adressierte Folgerung für die kretische Hirtendichtung, von jetzt ab nicht mehr Daphnis, sondern immer Astakides zum Gegenstand ihrer Gesänge zu machen (V.  Ἀστακίδην δ’ αἰὲν ἀεισόμεθα): dies ist die dritte, das Ergebnis besiegelnde Nennung des Namens. Die scherzhafte Entthronung des Daphnis durch Astakides lebt vom intertextuellen Bezug auf Theokrits Hirtendichtung.  Pf. =  G.-P.: das erste Distichon verzeichnet einen kuriosen Selbstmord: ‚mit den Worten: Helios, leb wohl, sprang Kleombrotos aus Ambrakia von einer hohen Mauer in den (dunklen) Hades‘, das zweite Distichon gibt eine ebenso verblüffende wie absurde Begründung: ‚er hatte nichts erlebt, was

Schlußverse in Kallimachos-Epigrammen



den Tod gerechtfertigt hätte, wohl aber die eine Schrift Platons über die Seele gelesen‘. Das Epigramm setzt ein mit εἴπας und schließt mit ἀναλεξάμενος: Wort und Tat des Kleombrotos sind das Ergebnis seiner Lektüre.  Pf. =  G.-P.: das Epigramm beginnt im ersten Vers mit der ambivalenten Anrede ‚Kynthierinnen, faßt Mut‘, die in einem weiten Hyperbaton erst zu Beginn des letzten Verses mit dem Beziehungswort ‚Ziegen‘ ihren überraschenden Aufschluß findet: erst hier wird deutlich, daß die Adresse nicht ‚kynthischen Frauen‘, sondern ‚kynthischen Ziegen‘ gilt. Zwischen dem ersten (Adresse an ‚Kynthierinnen‘) und dem zweiten Teil (Adresse an ‚Ziegen‘) der Anrede steht eine zweiteilige Begründung (γάρ-Satz), in der zunächst festgestellt wird, daß die Schußwaffen des Kreters Echemmas, mit denen er das Kynthosgebirge von den Kynthierinnen ‚leergefegt‘ hatte, (als Weihgabe) in Ortygia bei Artemis liegen (V. b–a), und sodann erläuternd hinzugefügt wird, daß die Waffen zur Ruhe gekommen seien, weil die Göttin einen Friedensvertrag durchgesetzt habe.  Pf. =  G.-P.: das Epigramm besteht aus zwei in sich abgeschlossenen Distichen, von denen das erste feststellt und begründet, daß es jetzt vier statt der bekannten drei Chariten gibt: die vierte sei eben erst ganz frisch dazu gekommen. Das zweite Distichon impliziert zunächst erklärend, daß die vierte Charis Berenike ist, fügt aber dann überraschend hinzu, daß ohne sie auch die eigentlichen drei Chariten gar keine Chariten sein können, d. h. das zweite Distichon hebt paradoxerweise das erste auf: Ohne Berenike gibt es überhaupt keine Chariten (V.  Anfang τέσσαρες αἱ Χάριτες und V.  ἇς ἄτερ οὐδ’ αὐταὶ ταὶ Χάριτες Χάριτες stehen deutlich in pointierter Korrespondenz zueinander). Auch für die übrigen Epigramme kann man eine Pointierung in jeweils unterschiedlicher Form beobachten. Als Beispiele greife ich die je sechs Verse umfassenden Epigramme  Pf. =  G.-P. und  Pf. =  G.-P. heraus, die beide einen für den Leser unvorhersehbaren verblüffenden Umschlag im Schlußdistichon illustrieren und so Wilamowitz’ Argument für die Authentizität der Schlußdisticha in den Epigrammen  und  Pf. stützen. Epigr.  Pf. stellt den Dialog eines anonymen Passanten mit einem Grabstein und dem unter ihm liegenden Toten namens Charidas dar. Im einleitenden ersten Distichon informiert der Grabstein den Passanten über die Identität des Toten, im zweiten beantwortet der Tote die Fragen des Passanten zu den gängigen Hadesvorstellungen und nimmt ihm in brutaler Offenheit alle Illusionen. Dem Fragesteller bleibt nur die fassungslose Reaktion: ‚es ist um uns geschehen‘ (ἀπωλόμεθα: letztes Wort des vierten Verses). Man könnte glauben, das Epigramm hätte



Adolf Köhnken

hier sein lapidares Ende gefunden, doch es folgt ein weiteres frappierendes Distichon: ‚Mit diesem Logos habe ich euch die Wahrheit gesagt, wenn du aber die süße Illusion vorziehst: für eine kleine Münze (einen Pelläer) gibt es ein großes Rind im Hades‘ (‚im Hades‘ betont als Schlußbegriff des Epigramms, um die Absurdität der Vorstellung zu verdeutlichen). Zu epigr.  Pf., adressiert an einen ‚Epikydes‘, das in den ersten beiden Distichen einen Jäger beschreibt, der auf der Jagd nach dem gesuchten Wild keine Mühe scheut, wenn aber jemand ihn auf ein schon erlegtes Tier hinweist, es achtlos liegen läßt, kommentiert Wilamowitz²⁰: „Wieder in zwei Distichen eine Mitteilung, deren Zweck und persönliche Bedeutung sich erst im dritten offenbart“. Das dritte Distichon enthält die den Leser überraschende Anwendung auf die Liebe des Sprechers (V. : ‚auch meine Liebe ist von dieser Art‘, χοὐμὸς ἔρως τοιόσδε, mit folgendem γάρ-Satz) und erweist so die ersten beiden Distichen als Gleichnis. Wilamowitz hebt die Ähnlichkeit mit epigr.  Pf. =  G.-P. hervor und vergleicht die Anrede an ‚Lysanias‘ mit der an ‚Epikydes‘ in epigr.  Pf., in dem er einen περίφοιτος ἐρώμενος sieht, dem der Sprecher „auf sein Angebot eine artige Absage“ erteilte. Man könnte die Reihe der Belege für die charakteristische sachliche und sprachliche Pointierung der Epigramme des Kallimachos noch verlängern, doch ich begnüge mich mit einem Schlußbeispiel, das auch einen weiteren, ebenfalls schon von Wilamowitz im Anschluß an Lessing beobachteten Aspekt der kallimacheischen Epigrammatik beleuchtet, die auffallend häufige Gliederung in ‚Erwartung‘ und ‚Aufschluß‘. Das aus drei Distichen bestehende Epigramm  Pf. =  G.-P.²¹ enthält in den ersten viereinhalb Versen den Bericht eines epigrammatischen ‚Ich‘, das sich am Ende als Maske des ‚tragischen Dionysos‘ zu erkennen gibt, die als Weihgabe des dankbaren Schülers Simos, Sohn des Mikkos, an die Musen in einem Schulraum aufgehängt ist, verurteilt dazu, den Schülern zuzuhören: die Maske als Ich-Sprecher deutet ihren wie üblich weit, aber hier doppelt so weit wie der des sprichwörtlichen samischen Dionysos geöffneten Mund als gewaltiges ‚Gähnen‘ (V. f. ἐγὼ δ’ ²⁰ Hellenistische Dichtung , . ²¹ Vgl. das zwei Distichen umfassende Weihepigramm  Pf. =  G.-P. auf eine komische Maske, und zu beiden Epigrammen Wilamowitz, Hellenistische Dichtung , f.; zu epigr.  Pf. =  G.-P. s. z. B. auch D. Meyer, wie oben Anm. , f., deren Interpretation des Schlußdistichons (die sprechende Maske „zeigt sich besonders gerührt, daß sie am Ort ihrer Weihung einen jambischen Vers zu hören bekommt, den Dionysos in den Bakchen zu Pentheus spricht …“) mir allerdings den Sinn nicht zu treffen scheint, s. weiter unten.

Schlußverse in Kallimachos-Epigrammen



ἀνὰ τῇδε κεχηνώς / κεῖμαι …, ὁ τραγικὸς / παιδαρίων Διόνυσος ἐπήκοος). Dieses ‚Gähnen‘ aber findet darüber hinaus in den anderthalb Schlußversen eine zugespitzte spezifische Erklärung: die Schüler rezitieren im Chor ἱερὸς ὁ πλόκαμος, ein Dionysoszitat aus Euripides’ Bakchen (V. ), das für den Tragödiengott so vertraut und abgegriffen ist, daß es ihm schon im Traum erscheint (τοὐμὸν ὄνειαρ ἐμοί).²² Auch hier wird ein scheinbar schon abgeschlossener witziger Sachverhalt (eine in einem Klassenraum aufgehängte Dionysosmaske begründet ihren ‚gähnend‘ geöffneten Mund mit ihrer Langeweile beim Anhören der Schüler) durch eine unerwartete und überraschende Schlußpointe noch überboten. Das Beispiel zeigt exemplarisch, womit der Leser bei Kallimachos rechnen muß.

²² Vgl. epigr.  Pf. =  G.-P., V.  τοὐμὸν ὄνειρον ἐμοί ‚das, was mich ohnehin schon bis in den Traum verfolgt‘. – Zur Sache vgl. den Kommentar von Gow/Page, Hellenistic Epigrams II, , .

Bernd Seidensticker

Kresilas’ Idomeneus und Meriones (P. Mil. Vogl. VIII , X – = AB ).

Kommentar und Interpretationsversuch

Unter den Epigrammen des Mailänder Poseidipp-Papyrus sind auch neun Epigramme auf Bronzestatuen. Der kleine Zyklus der Andriantopoiika preist als Ideal der bildenden Kunst die ‚Lebensechtheit‘, die dadurch erreicht wird, dass auch das kleinste Detail des abgebildeten Gegenstands – Person, Tier oder Sache – mit der größten Genauigkeit gearbeitet ist. Das nach dem ‚Kanon der Wahrheit‘ (, AB) geschaffene Werk wirkt dann so täuschend echt, dass der Betrachter für einen Moment die dargestellten Figuren und Situationen für lebend bzw. real halten kann. Auf der anderen Seite betont Poseidipp immer wieder den Kunstcharakter der lebensechten Werke und die handwerkliche Meisterschaft der Künstler, die sie geschaffen haben, und macht so, wie viele andere hellenistische Künstler und Autoren, die gegenstrebige Harmonie von Realität und Kunst geradezu zum Thema.¹ Ich kann daher hoffen, dass es dem Verfasser von Künstlichkeit von Kunst gefällt, wenn ich ihm als dósis oligé te philé te einen Versuch über eines der neuen Gedichte zu einem alten Thema präsentiere. ¹ Verfahren, die den Kunstcharakter der realistisch porträtierten Gestalten und Szenen ausstellen, sind z. B.: Die bewusst gesuchte Spannung zwischen alltäglichem Sujet und der Form bzw. dem Material, in dem es präsentiert wird (wenn z. B. die Hirten Theokrits sich in Hexametern und in einem hochartifiziellen Dialekt unterhalten oder die trunkene alte Hetäre und der müde Boxer lebensgroß und in exquisiten und kostbaren Materialen, Marmor und Bronze, porträtiert werden), der Bruch mit traditionellen Erwartungen und Gattungsmischungen (wenn z. B. Kallimachos realistisch gezeichnete kleine Leute und ihre Alltagssituationen in das Zentrum eines epischen Gedichts oder sogar eines Siegeslieds auf die ptolemäische Königin Berenike rückt) oder auch Intertextualität und Interpikturalität (wenn z. B. der Kopf des sich selbstvergessen einen Dorn aus der Fußsohle ziehenden Jungen die klassischen Epheben des . Jh. zitiert).



Bernd Seidensticker

 Text²  ..]ν̣...ειδομενειαθελων χάλκειον ε.ε̣ι.[̣  ] .ρησιλεως ἄκρως ἠργάσατ’ ειδομενευ  .]..υ̣[..] Ἰδομενεύς αλ̣[.].γα̣..μ̣ηριοναθ̣ει  __ .......]πλασται δ..[...]ν̣ητοσεων. ̣ – αἴ]ν̣ε̣έ̣ γ̣{ε} Ἰδομεν〈ῆ〉α θέλων χάλκειον ἐκ̣ε̣ῖν̣̣ [ον | Κ̣ρησίλ〈α〉· ὡς ἄκρως ἠργάσατ’ εἴδομεν εὖ ed. pr. : Κ̣ρησίλεω· σ’ ἄκρως εἰργάσατ’, Ἰδομενεῦ Luppe c : Κ̣ρησίλε〈ω〉 ὡς ἄκρως 〈σ’〉 ἠργάσατ’, Ἰδομενεῦ Lapini  (-λε〈ω〉 ὡσ), b (cett.) :  εἴδομες εὖ Janko  : θιγών et ἐκ̣ε̣ίν̣̣ [ου Lapini   γ]α̣ρ̣ύ̣[ει] Ἰδομενεύς· ῾ἀλ̣[λ’] ὦ̣ ’γα̣θ̣ὲ̣ Μ̣ηριόνα, θ̣εῖ, ed. pr., min. : γ]ά̣ρ̣υ̣[εν] vel γ]α̣ρ̣ύ̣[οι] vel γ]ά̣ρ̣υ̣’ [ἄν] Lapini  : αὐ]δ̣ᾶ̣ι[δ’ ̣ Ε]ἰδομενεύς Luppe c  ἀλγέω δὲ] πλάσται? ed. min. : νωθείαι] πλαστᾶι Austin a : καίπερ ὑπὸ] πλάσται Angiò a : πέ]πλασται δ’ ἀν[τ- vel δ’ ἀν[κ(γ, χ)- Lapini b : ὣς ἐκπέ]πλασται De Stefani  : πὰρ ζωιο]πλάσται Janko  : ἄχθει τῶι] πλάσται (et ἐών;) Handley  (v. Angiò b) : ἐνδέδεσαι] πλάσται De Stefani  : [κνήμαισι] πλασταῖ〈ς〉 μή [πω ἄκαμ]π̣τος ἐών” Luppe c δὰ̣ν̣ [ἀδό]ν̣ητος ̣ ἐών’ ed. pr., min. : [ἀνό]ν̣ητος ̣ Lapini , Luppe c : [ἀπό]ν̣ητος ̣ Angiò a : δα̣ι[δαλο]ε̣ ̣ ρ̣γ̣ὸς De Stefani 

 Übersetzung …(den Idomeneus?) bereitwillig bronzenen … des Kresilas; sorgfältig hat er gearbeitet … …Idomeneus …(Meriones, lauf?) …(Bildhauer) (lange unbeweglich seiend?)  Kommentar Gegenstand von Epigramm  AB ist eine Bronzegruppe des Kresilas. Der zur Hochklassik zählende Bildhauer (Schaffenszeit –) stammt aus Kydonia auf Kreta, hat aber möglicherweise auf Ägina gelebt und gearbeitet.³ Einige

² Text und Apparat nach dem online-Text des Center for Hellenic Studies: New Poems attributed to Posidippus, A text in progress, edited and periodically updated by Francesca Angiò, Martine Cuypers, Benjamin Acosta-Hughes, Elizabeth Kosmetatou, Version ., July . ³ Zu Leben und Werk cf. Der Neue Overbeck Nr. –.

Kresilas’ Idomeneus und Meriones

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Werke des Kresilas sind bei Plinius bezeugt (eine Amazone, , ; ein Verwundeter Krieger und ein Olympischer Perikles, , ), andere nur durch Weihinschriften, darunter auch die Statue einer Kuh. Das von Poseidipp gepriesene Werk war bisher nicht bekannt; Statuen des Idomeneus und Meriones sind sonst nur für den spätarchaischen Bildhauer Onatas bezeugt.⁴ Die beiden Dargestellten werden im Schiffskatalog der Ilias als Führer des kretischen Kontingents bezeichnet (, –). Im weiteren Verlauf des Epos erscheint der jüngere Meriones als Gefolgsmann und ‚liebster Gefährte‘ (, ) des älteren Idomeneus; ein anonymes Epigramm gibt den beiden Helden ein gemeinsames Grab (AP , ); Straton von Lampsakos sieht die beiden Freunde als homoerotisches Paar (AP , ). Offenbar hat Poseidipp für das Epigramm einen Dialekt gewählt, der zu dem kretischen Künstler und den beiden von ihm porträtierten kretischen Helden passt (cf. auch  AB). Auch wenn der korrupte Text nur an wenigen Stellen Hinweise darauf bietet, kann bei der philologischen Rekonstruktion des Verlorenen wohl davon ausgegangen werden, dass nicht nur der Kreter Idomeneus ein kretisches Dorisch spricht (cf. V.  Μηριόνα), sondern das gesamte Epigramm in diesem Dialekt geschrieben ist. Keine Einigkeit besteht allerdings darüber, ob der Text durchgängig kretisch stilisiert ist oder auch andere Formen denkbar sind (s. Komm. zu V. ). Auszuschließen ist die Möglichkeit von Dialektmischung nicht (vgl. Janko ); zudem waren um  v. Chr. bereits Formen der Koiné in das Kretische eingegangen.⁵ V.  ειδομενειαθελων χάλκειον: Der erste Teil der Buchstabenfolge lässt sich als dorischer Akkusativ von Idonemeus Ἰδομεν〈ῆ〉α lesen. Das ε kann entweder als iotazistische Verschreibung verstanden werden (Luppe ) oder zum vorangehenden Wort gehören (ed. pr.). Am Anfang des Verses muss eine finite Form eines transitiven Verbs gestanden haben, zu der das modale Partizip θέλων gehört und von dem der Akkusativ Ἰδομεν〈ῆ〉α χάλκειον abhängig ist: der allgemein akzeptierte Vorschlag αἴνεέ (…) θέλων: „preise bereitwillig, gern, ohne zu zögern“ dürfte das Richtige treffen; zu θέλων in Bitten und Aufforderungen (zur Betonung, dass der Gebetene sich nicht lange bitten lassen soll) vgl. z. B. Hom. Il. , ; Sapph. ,  V. Der Imperativ der ed. pr. ist ⁴ Der Neue Overbeck Nr. . ⁵ Zum kretischen Dialekt des Epigramms vgl. Sens (),  und (), , sowie Janko ().

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parallel zu dem Imperativ μιμ[ή]σασθε in ,  gebildet (ebenfalls am Gedichteingang). Ein kunsterfahrener Meister fordert dort seine Schüler, die er als „Schöpfer des Lebendigen“ (,  AB) anspricht, auf, bestimmte Kunstwerke zum Maßstab zu nehmen. Zum Adressaten des Imperativs vgl. Komm. zu V. . ε.ει.[: Am Ende des Verses ist ἐκείνου als Attribut zu dem Genitiv am Anfang von V.  vorzuziehen (Lapini ); der Akkusativ ἐκεῖνον würde die Bronzestatue in eine zeitliche oder räumliche Distanz rücken; das aber erscheint angesichts der in V. f. imaginierten Szene als wenig sinnvoll (vgl. auch Komm. zu V. ). V.  .ρησιλεως: Als erster Buchstabe des Verses ist mit Sicherheit ein Κ zu ergänzen. Unklar ist, in welcher Form der Name des Kresilas erscheint und wo das anschließende Wort beginnt. Für die verschiedenen Vorschläge ist nicht zuletzt entscheidend, ob der Interpret davon ausgeht, dass die Verse durchgängig im kretischen Dialekt geschrieben sind, oder bereit ist, auch nicht-kretische Formen zu akzeptieren (zum Dialekt s. o.). Wer Dialektmischung für möglich hält, kann die Buchstabenfolge als ionischen Genitiv von Kresilas (Κρησίλεω) verstehen. Das ς könnte dann Akkusativobjekt zu ἠργάσατ’ sein (σ’; so Luppe ) – dagegen spricht allerdings die nach der lex Wackernagel verbotene Voranstellung des Personalpronomens – oder, zusammen mit einem ausgefallenen zweiten 〈ω〉 ὡς), einen bewundernden Ausruf einleiten: „Wie sorgfältig hat er (dich) gearbeitet!“ (so Lapini, der das gewünschte Personalpronomen nach ἄκρως einschiebt). Wer von einer einheitlichen Dialektfärbung des Epigramms ausgeht, muss annehmen, dass der Schreiber statt des Genitivs Κρησίλα versehentlich Κρησίλε geschrieben hat und dass mit ὡς der Ausruf beginnt (für die Einleitung eines bewundernden ὡς ἄκρως vgl. z. B. AP , , f.). In jedem Fall nennt der Genitiv am Anfang von V.  den Schöpfer des „bronzenen Idomeneus“ und damit auch das logische Subjekt von ἄκρως ἠργάσατ’. ειδομενευ: Diese Buchstabenfolge kann entweder als εἴδομεν εὖ („wir haben gut gesehen“ – wie sorgfältig er dich gearbeitet hat) oder als Vokativ Ἰδομενεῦ (Iotazimus) verstanden werden. Gegen εἴδομεν εὖ spricht das Tempus; die angeblichen Parallelen AP , ,  und AP , ,  bieten Imperative; außerdem passt der Plural nicht gut zu dem Imperativ Singular αἴνεε in V.  – es ist nicht erkenntlich, warum der Sprecher sich für seine Aufforderung Kresilas zu preisen, plötzlich auf die Zustimmung einer größeren Gruppe von Freunden

Kresilas’ Idomeneus und Meriones

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und Kunstbetrachtern bzw. -kritikern stützen sollte. Und was soll das εὖ heißen – „wir haben gut (?) gesehen“? Liest man den Vokativ Ἰδομενεῦ, so liegt es zwar nahe, den Imperativ in V.  damit zu verbinden; dann würde Idomeneus aufgefordert, sein bronzenes Ebenbild von der Hand des Kresilas zu bewundern. Es erscheint jedoch als sinnvoller, dass der Imperativ sich an einen nicht näher bestimmten Betrachter des Kunstwerks (und an den Leser) wendet und damit dem propädeutischen Gestus entspricht, der die ganze Sammlung der Andriantopoiika bestimmt (s. Interpr.). V.  μηριοναθει: Am Ende des Verses lassen sich der dorische Vokativ Μηριόνα und der Imperativ θεῖ lesen. Da als vermutlich zweites Wort in V.  der Nominativ Ἰδομενεύς erhalten ist, kann das Erhaltene wohl nur so verstanden werden, dass Idomeneus sich in direkter Rede an seinen Gefährten Meriones wendet und ihn zum Laufen auffordert. So ist anzunehmen, dass am Anfang des Verses ein Verbum dicendi gestanden hat. Ob man hier einen Indikativ (multi) oder einen potentialen Optativ (Lapini ) von γαρύειν (oder einem anderen Verb) ergänzen möchte, hängt davon ab, wie ‚realistisch‘ man die Verlebendigung des Idomeneus nehmen will. Die Freundschaft von Idomeneus und Meriones ist seit Homer topisch. Dass Idomeneus seinen vertrauten Gefährten und Freund hier nicht einfach mit dem Namen anspricht, sondern mit dem umgangssprachlichen ἀλ[λ’] ὦ ’γα[θὲ]: „auf, mein Guter!“, ist deshalb eine sinnvolle Ergänzung der lückenhaften Überlieferung vor μηριοναθει (Μηριόνα θεῖ). V.  δ..[...]νητοσεων: V.  ist fast völlig verloren; die meisten Ergänzungen gehen davon aus, dass die direkte Rede am Ende von V.  in V.  fortgesetzt wird. Nur über das Ende des Verses kann eine einigermaßen sichere Aussage getroffen werden: Dort steht vermutlich das Partizip ἐών, das sich wahrscheinlich auf den apostrophierten Meriones bezieht, dessen Verhältnis – kausal oder konzessiv – zum Imperativ in V.  aber unklar ist. Ergänzt wird es durch ein auf -νητος endendes Adjektiv; der Vorschlag der ed. pr. fügt sich gut ein: δὰν ἀδόνητος ἐών: „der du schon lange unbeweglich dastehst“; möglich wären aber auch ἀπό]νητος: „ohne die Arbeit/Mühe des Kampfes“ (Angiò ) oder ἀνό]νητος: „nutzlos“.



Bernd Seidensticker

πλασται: Die Deutung dieser Buchstabenfolge, die nach einer Lücke von sieben Buchstaben erhalten ist, hängt von dem Verständnis des verlorenen Adjektivs am Versende ab. Theoretisch kann es sich bei πλασται um ein Substantiv (dor. Dat. Sg. von πλάστης oder ζωιοπλάστης), um ein Adjektiv (Dat. Sg. fem. von πλαστός) oder um das Ende einer Verbform (z. B. πέ]πλασται oder ἐκπέ]πλασται) handeln. Bisher hat sich allerdings kein Ergänzungsvorschlag gefunden, der mit einem Verb auf -πλασται den Vers sinnvoll an V.  anschließt; außerdem ist es unwahrscheinlich, dass Idomeneus nicht mehr als „lauf!“ ruft. Austins adjektivische Lösung νωθείαι πλαστᾶι – „der du schon lange in einer (vom Künstler) geschaffenen Untätigkeit (als Statue) dastehst“ – fügt sich zwar glatt in die Konstruktion ein, ist aber wegen der doppelt ausgedrückten Unbeweglichkeit unbefriedigend. Auch die bisherigen Vorschläge, die πλασται als Substantiv verstehen, sind nicht überzeugend: So passt das von Poseidipp im Epigramm  AB verwendete ζωιοπλάστης zwar gut zur hier verhandelten Verlebendigung der Statuen (s. Interpr.); Jankos Konjektur πὰρ ζωιο]πλάσται () setzt jedoch für die Antike nicht bezeugte Modellsitzungen voraus. Der Vorschlag der ed. min. ἀλγέω δὲ πλάσται: „Ich ärgere mich über den Bildhauer“ ist als Antwort auf die Aufforderung zu laufen ebensowenig überzeugend wie Handleys Frage ohne Fragepronomen: ἄχθει τῶι πλάσται; (). Angiòs () Vorschlag καίπερ ὑπὸ] πλάσται kann sich immerhin auf eine Parallele innerhalb der Andriantopoiika stützen (, AB); allerdings ist ὑπό mit dem Dativ (und das Fehlen des Artikels) kaum passend; vielleicht also: καίπερ τῶι] πλάσται: „auch wenn du durch den Künstler (d. h. durch die Arbeit des Künstlers) schon lange unbeweglich dastehst“. Aus diesen textkritischen Überlegungen ergibt sich als Lesetext der folgende Rekonstruktionsvorschlag:  Text αἴν̣εέ γ’ Ἰδομενῆα θέλων χάλκειον ἐκε̣ίνου Κ̣ρησίλ〈α〉· ὡς ἄκρως ἠργάσατ’, Ἰδομενεῦ γαρύει Ἰδομενεύς· ἀλλ’ ὦ ’γαθὲ Μηριόνα, θ̣εῖ καίπερ τῶι πλάσται δὰν ἀδόν̣ητος ̣ ἐών.

Kresilas’ Idomeneus und Meriones



 Übersetzung Preise doch ohne zu zögern den bronzenen Idomeneus des berühmten Kresilas; wie sorgfältig hat er (dich) gearbeitet, Idomeneus! Es ruft Idomeneus: „Auf, mein guter Meriones, lauf, auch wenn du durch den Bildhauer schon so lange unbeweglich dastehst!“  Interpretation Das Epigramm preist eine Bronzegruppe des Freundespaars Idomeneus und Meriones von der Hand des Kresilas, die so genau gearbeitet ist, dass die beiden homerischen Helden zu leben scheinen. Lag beim vorangehenden Gedicht auf den Philitas des hellenistischen Bildhauers Hekataios ( AB) der Akzent auf dem detailgetreuen Realismus, mit dem die äußere Gestalt und das Ethos des Ahnherrn der hellenistischen Literatur gestaltet sind, so steht in  die illusionäre Lebendigkeit der beiden Statuen im Vordergrund. Sicher ist, dass Poseidipp in V.  von einem bronzenen Idomeneus spricht; da dieser im zweiten Distichon offenbar seinen Gefährten Meriones direkt anspricht, dürfte auch dieser in Form einer Statue anwesend gedacht sein (cf. Komm. zu f.). Dass Poseidipp die zweite Statue nicht, wie Luppe () und Lapini () meinen, ausdrücklich hätte nennen müssen, beweist Epigramm  AB, wo er nur von dem Miniaturwagen des Theodoros spricht und von seinem Leser erwartet, dass dieser weiß, dass der Wagen Teil eines Selbstporträts ist, das den Künstler mit einer Feile in der einen und einem winzigen Wagen in der anderen Hand zeigte.⁶ Der Sprecher fordert den Betrachter auf, die von Kresilas geschaffene Bronzestatue des kretischen Heerführers vor Troja Idomeneus zu preisen, und begründet das Lob, zu dem er auffordert, mit dem bewundernden Ausruf: „Wie sorgfältig hat er (der Künstler) gearbeitet, Idomeneus!“ Es ist denkbar, ⁶ Eine Reihe von Interpreten geht davon aus, dass es sich in V.  und  bei Idomeneus und Meriones nicht um Statuen, sondern um die ‚realen’ mythischen Helden handelt. Nach Luppe () ruft Idomeneus, als er aufgefordert wird, „seine Verbronzung zu loben“, seinen Freund dazu auf wegzulaufen, damit er nicht auch „verbronzt“ wird; Lapini () rekonstruiert die von Poseidipp in Zeile f. angedeutete Situation so, dass die Statue des Idomeneus dem Helden so ähnlich ist, dass Meriones die beiden verwechselt und dieser ihm zurufen muss: „Lauf hierher! Ich bin der richtige Idomeneus!“ Allerdings ist in den anderen Andriantopoiika immer nur von den Künstlern und der besonderen Qualität ihrer Werke die Rede. Die beiden homerischen Helden wollen dazu nicht recht passen.



Bernd Seidensticker

dass der am Ende von V.  im Vokativ Angeredete auch der Adressat des Imperativs am Anfang von V.  ist. Allerdings deutet die Formulierung: „Preise den bronzenen Idomeneus“ und nicht: „Preise dein bronzenes Bild“ eher darauf, dass ein nicht näher bestimmter Betrachter (bzw. Leser) das Werk des Kresilas preisen soll und dass der Vokativ Ἰδομενεῦ lediglich Teil des Ausrufs ist, mit dem der Sprecher seine Bewunderung für die Statue(n) begründet. „Wie genau hat der Künstler (dich) gearbeitet, Idomeneus“ hat also die Bedeutung: „Wie sorgfältig ist dieser Idomeneus gearbeitet!“ Wie hier Idomeneus werden in vielen ekphrastischen Epigrammen der AP die malerisch oder plastisch Porträtierten direkt angeredet.⁷ Der Vokativ leitet über zu der Überraschung, die das zweite Distichon des Epigramms für den Leser bereit hält. Der Angeredete ist nicht nur wie der Philitas des vorangehenden Epigramms ( AB) so realistisch gestaltet, dass er zu leben scheint (oder vielleicht sogar gleich sprechen wird⁸): Er spricht! Er fordert die Statue seines Freundes Meriones auf, er solle loslaufen! Das vage θεῖ lässt offen, wohin der Angesprochene laufen soll. Es scheint, dass sich Kresilas bei der Gestaltung der Gruppe entweder von der Szene des . Buchs der Ilias hat inspirieren lassen, in der Idomeneus seinen Freund (und andere Griechen) zu Hilfe, d. h. herbeiruft (, ff.), oder an die von Homer kurz zuvor geschilderte Szene denkt, in der sich die beiden Helden im Zeltlager begegnen und Idomeneus den Freund zur Rückkehr auf das Schlachtfeld, d. h. zum Losstürmen, auffordert (, ff.). Angesichts von V.  ist es interessant zu sehen, dass Idomeneus am Ende dieser homerischen Szene davon spricht, sie sollten besser nicht länger herumstehen! Auf jeden Fall hat Kresilas Meriones im Anschluss an die Ilias offenbar so dargestellt, als wolle er gerade loslaufen. Der Sohn des Molos (von μολεῖν, laufen?) wird in der Ilias mit den Epitheta πόδας ταχύ (,  und öfter) und θοῷ ἀτάλαντος Ἄρηϊ (,  und öfter) als schneller Läufer charakterisiert. Die letzte Zeile scheint mit der in ekphrastischen Epigrammen immer wieder thematisierten Spannung zwischen der scheinbaren Lebendigkeit des Kunstwerks und ihrer

⁷ Interpreten, die am Ende von V.  nicht Ἰδομενεῦ, sondern εἴδομεν εὖ lesen, gehen davon aus, dass der Sprecher seine Aufforderung, den Idomeneus des Kresilas zu loben, mit einen Hinweis auf eine größere Gruppe von Freunden oder Kunstkritikern stützen möchte, die gemeinsam mit ihm die Statue betrachtet und sich einig war über die besondere Qualität der Mimesis; zu den Problemen dieser Lesart cf. Kommentar ad V. . ⁸ Die von den meisten Interpreten akzeptierte Ergänzung am Anfang von ,  AB: V.  αὐδή]οντι δ’ ἔοικε ist keineswegs zwingend; Gärtner (, f.) hat mit einer sehr erwägenswerten Begründung συννοέ]οντι (nachdenklich) vorgeschlagen.

Kresilas’ Idomeneus und Meriones



tatsächlichen Unbeweglichkeit zu spielen. Für den die Illusion brechenden Verweis auf den Künstler oder seine Arbeit gibt es zahlreiche Parallelen. Gleichwohl geht es m. E. nicht, jedenfalls nicht in erster Linie darum, dem Leser indirekt zu verstehen zu geben, dass die Dichtung den fußschnellen Meriones laufen lassen kann, während die Statuen der bildenden Kunst bei aller Lebendigkeit eben doch unbeweglich sind.⁹ Thematisiert wird gerade nicht die Unbeweglichkeit und Starrheit der Bronzen. Vielmehr wird Kresilas als ein Künstler gepriesen, der das Unmögliche möglich machen kann. Seine beiden Statuen sind so realistisch gearbeitet, dass der Betrachter glaubt, sie könnten sprechen und laufen!¹⁰

⁹ So I. Männlein-Robert, Stimme, Schrift und Bild. Zum Verhältnis der Künste in der hellenistischen Dichtung, Heidelberg , –. ¹⁰ Denkbar ist auch, dass Poseidipp mit einer paradoxen Hyperbel spielt. So wie Kresilas mit seiner Kunst den ehernen Idomeneus zum Leben erweckt, so erweckt Idomeneus seinerseits die Statue des Meriones, indem er sie zum Laufen auffordert. Mit dem ironischen Zusatz, dass dies vielleicht nicht so einfach sei, da er ja so lange als Kunstwerk herumgestanden habe, bringt Poseidipp die Ambivalenz von Kunst und Natur zum Ausdruck. Das künstlerische Programm möglichst lebensechter Mimesis wird zum Gegenstand einer ironischen Amplifikation: Nicht nur der Künstler schafft Leben, auch seine Kunstwerke haben lebensspendende Kraft.

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Bernd Seidensticker

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Bastianini, G., Gallazzi, C., eds., mit C. Austin, Posidippo di Pella: Epigrammi (P. Mil. Vogl. VIII ), Papiri dell’Università degli Studi di Milano, . Milan, .

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Kresilas’ Idomeneus und Meriones

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Boris Dunsch

Die plautinische Komödie in republikanischer und kaiserzeitlicher Literaturkritik  Maccus als Stilideal? Im Zentrum dieser Untersuchung¹ soll ein römischer Dichter stehen, der schon in der Antike, nur wenige Jahre nach seinem Tod, als ‚alt‘ bezeichnet wurde und der in der modernen Forschung, die regelmäßig auf antike Bewertungen des Plautus zurückgreift, nicht selten mit dem Begriff ‚archaisch‘ bzw. ‚Archaik‘² in Verbindung gebracht wird: Titus Maccius Plautus. Es liegt nahe, sich der Frage nach der republikanischen und kaiserzeitlichen Literaturkritik des Plautus, die exemplarisch den Stil als Kriterium für die Bewertung von literarischen Werken in den Mittelpunkt stellen möchte, zunächst auf dem Weg der Betrachtung der Bewertung des Plautus in der modernen Forschungsliteratur anzunähern. Besonders soll die Verwendung des Begriffs ‚archaisch‘ mit seinen vielfältigen Konnotationen beleuchtet werden, die oft weit über eine Zeitbestimmung hinausgehen. Wie bereits angedeutet, lagen und liegen den modernen Einordnungen und Bewertungen häufig Äußerungen aus der Antike zugrunde, die sich

¹ Teile dieser Untersuchung wurden in der Villa Vigoni, Loveno di Menaggio, sowie an den Universitäten von Greifswald und Gießen präsentiert. Ich danke den Einladenden und Diskussionsteilnehmern. Zu besonderem Dank bin ich Berit Hildebrandt, Arbogast Schmitt, Walter Stockert und speziell Hubert Zehnacker verpflichtet, die das Manuskript in je verschiendenen Stadien gelesen und mir wertvolle Anregungen gegeben haben. Gewidmet ist diese Arbeit meinem verehrten Kieler Lehrer Ernst-Richard Schwinge, dessen mitreißende Aristophanes-Vorlesung mich vor vielen Jahren für die antike Komödie begeistert hat, zu seinem . Geburtstag. ² Vgl. zur Herausbildung des Konzepts ‚archaisch‘, v. a. mit Blick auf den Homer-VergilVergleich, Gregor Vogt-Spira: La formazione del concetto di arcaico. Omero e Virgilio nel Rinascimento tra storia della letteratura e critica letteraria, in: Atti e Memorie della Accademia Petrarca di Lettere, Arti e Scienze N. S.  (), S. –.

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Boris Dunsch

bereits kurz nach dem Tod des Plautus kritisch mit dessen Werk auseinandergesetzt haben. Es wird sich zeigen, dass einige antike Autoren für die Bewertung des Plautus besonders einflussreich geworden sind, wobei ein besonderes Gewicht auf der Frage nach den explizit und implizit genannten Gründen und speziell auf der Bedeutung des ‚Alten‘ mit allen seinen Konnotationen für diese Bewertungen innerhalb der Gattung der Palliata liegen soll. Es liegt in der Natur dieser Studie, dass sich ein Abriss von über dreihundert Jahren römischer Literaturkritik mit einem Ausblick in die moderne Forschungslandschaft auf einige ausgewählte Beispiele beschränken muss. Zu Beginn möchte ich kurz auf die uns bekannten Daten zu Leben und Werk des Plautus eingehen. Die historische Persönlichkeit des Plautus ist äußerst schwer zu fassen. Selbst der seit über einhundert Jahren in der Forschung gebräuchliche Name ‚Titus Maccius Plautus‘ ist nicht völlig gesichert, sondern beruht auf einer von Friedrich Ritschl in der Mitte des . Jahrhunderts vorgenommen Rekonstruktion, die sich letztlich auf zwei Zeugnisse im Codex Ambrosianus stützt.³ Unter diesem Namen (den ich im Folgenden in Anführungszeichen setzen werde, um anzudeuten, dass es sich um eine plausible, doch nicht im letzten als richtig erwiesene Rekonstruktion handelt) sind  Komödien, genauer Palliaten, also römische Komödien ‚in griechischem Gewand‘, überliefert (davon die einundzwanzigste, die Vidularia, nur in fragmentarischem Zustand), die in der Antike und dann wieder seit der editio princeps  durch Giorgio Merula Gegenstand zahlreicher kontrovers geführter literarästhetischer Debatten hinsichtlich ihres Stils, ihres Handlungsaufbaus, aber insbesondere hinsichtlich ihrer Authentizität gewesen sind.⁴ Der hier gewählte Zeitraum für die exemplarische Betrachtung vor allem der auf den Stil des ‚Titus Maccius Plautus‘ bezogenen literarkritischen Äußerungen erstreckt sich von der römischen Republik, in die auch die Lebenszeit ³ Vgl. Jürgen Blänsdorf: T. Maccius Plautus [künftig zitiert: Plautus], in: Die Archaische Literatur: Von den Anfängen bis Sullas Tod. Die vorliterarische Periode und die Zeit von  bis  v. Chr., hg. von Werner Suerbaum, München  (= Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, hg. von Reinhart Herzog und Peter Lebrecht Schmidt – Erster Band), S. –, hier S. f. (= §  A.a mit T. –). ⁴ Zur komplexen Überlieferungsgeschichte vgl. den Überblick bei Blänsdorf: Plautus, S. – (= §  D); dort auch ältere Literatur. Das Standardwerk zu allen diesbezüglichen Fragen ist jetzt Marcus Deufert: Textgeschichte und Rezeption der Plautuskomödien im Altertum [künftig zitiert: Textgeschichte], Berlin/New York ; wichtig auch die einschlägigen Aufsätze in: Due seminari plautini, hg. von Cesare Questa und Renato Raffaelli, Urbino .

Die plautinische Komödie

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des Plautus fällt (ca.  – nach  v. Chr.), bis in die hadrianisch-antoninische Zeit, also in die zweite Hälfte des . Jahrhunderts n. Chr. Der Beginn des Untersuchungszeitraums ergibt sich aus den Lebensdaten des Plautus, die mit hinreichender Genauigkeit bestimmt werden können,⁵ sein Ende aus dem im dritten Jh. einsetzenden Wechsel von der letzten großen Phase der paganen Literatur zu der von christlichen Schriftstellern bestimmten Spätantike.⁶ An dieser Stelle sei kurz angemerkt, dass die Bewertung eines Autors bekanntermaßen unterschiedliche Bereiche seines Werkes betreffen kann, darunter insbesondere die Form (Lexik, Stil, Handlungsführung, οἰκονομία usw.) oder den Inhalt (die ‚Moral‘ usw.). Mit dem gerade erwähnten Wechsel von der paganen zur christlich geprägten Literatur geht auch in der antiken Kritik eine Änderung der Blickrichtung bezüglich der zu bewertenden Bereiche bei Plautus einher, welche die Wahl des oben angegebenen Zeitraums m. E. weiter legitimieren: Der Stil als jahrhundertelang wichtiges, wenn nicht entscheidendes Kriterium für die Bewertung des Plautus rückt zugunsten einer auf den Inhalt der Stücke orientierten Kritik, die Plautus primär bei den christlichen Autoren (Stichwort: pompa Diaboli) erfährt, stark in den Hintergrund.⁷ Der Bruch in der Kritikertradition wird zusätzlich verstärkt durch einen Hiat in der römischen Literatur nach  n. Chr. bis zur Regierungszeit Diokletians (–).⁸ Bleibt noch der Titel des ersten Kapitels dieser Untersuchung zu erklären. Er ist bewusst leicht paradoxal formuliert. Maccus – so nennt sich ‚Titus

⁵ Vgl. Blänsdorf: Plautus (s. o. Anm. ), S.  (= §  A.d), der gegen das tradierte Jahr  v. Chr. (laut Blänsdorf: letztes dokumentiertes Aufführungsjahr) mit plausiblen Gründen für die Zeit nach  v. Chr. plädiert. ⁶ Die Beurteilung des Plautus durch die spätantiken christlichen Schriftsteller stellt ein eigenes interessantes Problem dar, dem hier nicht weiter nachgegangen werden kann. Ein Blick auf die Hauptvertreter der christlichen Literatur zeigt aber, dass es sowohl Kontinuitäten als auch Brüche im Plautusbild zu verzeichnen gilt, vgl. insbesondere die Materialzusammenstellung bei Heiko Jürgens: Pompa Diaboli – Die lateinischen Kirchenväter und das antike Theater [künftig zitiert: Pompa], Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz , S. –. Deren Untersuchung soll eine spätere Studie gewidmet sein. ⁷ Die herausragende Ausnahme stellt hierbei Hieronymus dar, der Plautus mehrfach höchstes Lob für seinen Stil zollt, vgl. Alessandro Ronconi: Sulla fortuna di Plauto e di Terenzio nel mondo romano [künftig zitiert: Fortuna], in: Maia  (), S. –, hier S. f., sowie Jürgens: Pompa, S.  Anm. . ⁸ Vgl. Manfred Fuhrmann: Rom in der Spätantike – Porträt einer Epoche, Düsseldorf/Zürich , S. .

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Boris Dunsch

Maccius Plautus‘ unter anderem selbst in einem seiner Stücke⁹ – ist auch die Bezeichnung für eine Paraderolle der Atellanenposse, der fabula Atellana, einer derben Form volkstümlicher Unterhaltung, eines zunächst rein oral geprägten Stegreiftheaters, das schon in der Zeit vor dem Einsetzen von Verschriftlichungsprozessen in Italien praktiziert wurde. Von einem solchen Maccus erwartet man keinesfalls, dass er als stilistisch vorbildhaft bezeichnet werden könnte.¹⁰ Tatsächlich soll gezeigt werden, dass der (sich selbst, in vielleicht nicht ganz aufrichtiger Bescheidenheit, als Maccus bezeichnende) Komödiendichter im Laufe der hier zu durchmusternden dreihundertundfünfzig Jahre römischer Literaturgeschichte eine Reihe von überraschenden Bewertungen erfahren hat. Weiter soll danach gefragt werden, ab wann und inwiefern Plautus als ‚alt‘, als den poetae veteres zugehörig, bezeichnet wurde und welche Implikationen diese Bezeichnung gehabt haben könnte. Ein naheliegendes Gebiet, auf dem man literarkritische Wertungen dieser Art vermuten kann, ist das des Stils und der Sprachverwendung, mit dem ja auch der rhetorische Begriff des ‚Archaismus‘ verbunden ist, wie er in Monographien und Lexika auftritt; eine eingehende Untersuchung des Archaismus-Begriffs, die neben Epochen- und Stilbegriff zumindest auch religions- und kulturwissenschaftliche Implikationen sowie psychoanalytische Aspekte umfassen müsste, kann und soll hier nicht geboten werden.¹¹ Auf jeden Fall sei aber angemerkt, dass archaismus bzw. ἀρχαισμός in der Antike nicht verwendet wurden, um auf „literary trends or schools of art and literature“ zu verweisen; „this sense developed only in the th century“¹². Erst in der Spätantike ist der Terminus überhaupt in der Stiltheorie nachweisbar und dient dort ausnahmslos zur Bezeichnung stilistischer Einzelerscheinungen, also mit Blick auf die Lexik.¹³ ⁹ Vgl. Asin. ; Merc.  lässt Macci Titi, Ritschls Konjektur, sowohl die Deutung Maccius als auch Maccus zu. ¹⁰ In etwa vergleichbar wäre ein Ausdruck wie ‚Hans Wurst als Stilideal‘. ¹¹ Vgl. Wolfgang Dieter Lebek: Verba prisca – Die Anfänge des Archaisierens in der lateinischen Beredsamkeit und Geschichtsschreibung, Göttingen , S. –; vgl. überdies folgende Lexikonartikel: Sonia Branca-Rosoff: Archaismus, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Band , Tübingen , Spp. –; Richard Faber: Archaisch/Archaismus, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. von Hubert Cancik et al., Band II, Stuttgart/Berlin/Köln , S. –; H. R. Schweizer: Archaisch, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Band , Basel/Stuttgart , Spp. –. ¹² Jaana Vaahtera: Derivation – Greek and Roman Views on Word Formation, Turku , S.  Anm. . ¹³ Vgl. Anm.  sowie Ulrich Schindel: Archaismus als Epochenbegriff – Zum Selbstverständnis des . Jhs. [künftig zitiert: Archaismus], in: Hermes  (), S. –, besonders

Die plautinische Komödie

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Zunächst soll jedoch ein kurzer Überblick über die Bewertung des Plautus in der modernen Forschung gegeben werden, die sich vielfach sowohl explizit als auch implizit mit dem Begriff des ‚Archaischen‘ auseinandersetzt, wobei, wie bereits gesagt, die antiken Urteile über Plautus einen nicht geringen Einfluss auf die spätere Einordnung seines Werkes gehabt zu haben scheinen. Ein solcher Überblick verspricht auch deshalb lohnend zu sein, weil im Laufe dieser Untersuchung gezeigt werden wird, dass der Begriff des Archaischen (bzw. dessen lateinische Äquivalente) sowohl in der modernen als auch in der antiken Literaturkritik zu Plautus eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat, obwohl der implizite und explizite Gebrauch des Begriffes ‚alt‘ mit seinen vielfältigen positiven sowie negativen Konnotationen kaum oder gar nicht thematisiert, geschweige denn problematisiert wird. Es wird ferner zu zeigen sein, dass das Spektrum der Wertungen, die sich mit dem ‚Alten‘ in Hinblick auf Plautus verbinden, bereits in der Antike angelegt ist und in der Moderne nicht selten nur weitere Modifizierungen und Übersteigerungen erfahren hat. Die Betrachtung der modernen Literaturkritik schärft zudem das Bewusstsein für die jeweiligen historischen Einflüsse, denen jeder Kritiker unweigerlich ausgesetzt ist und die für die interessante Frage nach dem Warum gewisser Auffassungen und Urteile (was eine eigene Studie wert gewesen wäre und hier nur an einigen ausgewählten Stellen thematisiert werden kann) wichtige Hinweise geben können.  Gilbert Norwood über Maccus: Ein exemplarischer Fall Ich beginne mit der vielleicht harschesten Beurteilung, die das Werk des Plautus im . Jh. erhalten hat. Sie stammt von Gilbert Norwood, der feststellt, dass „although a small portion of Plautus’ surviving work (perhaps one-seventh) is, for reasons that have little to do with his own talents, distinctly good, even brilliant, Plautus is in the remainder of his writing, despite a few good patches, the worst of all writers who have ever won permanent repute.“ Im Folgenden formuliert er noch deutlicher: „[…] the full horror of his ineptitude lies not in crudity of ideas, language, or construction, frequent as this is. No: the offence that puts Plautus outside the pale of art, almost of civilization, is his practice of tying together – not only in the same play, sometimes in the same scene – modes of feeling and treatment utterly incongruous.“¹⁴ Dies erklärt Norwood S. , sowie Ders.: Neues zur Begriffsgeschichte von archaismus, in: Hermes  (), S. –.

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mit der Arbeitsweise des Plautus, der, einerseits gestützt auf griechische Vorlagen, andererseits aber der derben dramatischen Kost der italischen Posse verpflichtet, an die sein Publikum gewöhnt gewesen sei, diese Einflüsse zu einem Amalgam verschmolzen habe, das eben oft genug, viel zu oft, Unebenheiten und unglückliche Fügungen sowohl sprachlicher als auch inhaltlicher und dramaturgischer Art erkennen lasse. Das Interessante an dieser Beurteilung ist in diesem Zusammenhang, dass Norwood zwar nicht explizit auf den Begriff des Archaischen eingeht, sich allerdings sehr wohl der Zeitstellung des Plautus bewusst ist, der nach in der Forschung allgemein verbreiteter Auffassung in das Anfangsstadium der römischen Literatur fällt und vor dem Hintergrund einer reichen griechischen Literaturtradition zu sehen ist. Es fällt dabei auf, dass Norwood vor allem das in seinen Augen Rohe, Unfertige und Inkongruente bei Plautus hervorhebt, das sich ebenso auf den Stil wie auch den Aufbau der Stücke erstrecke und gleichzeitig deren Inhalt beeinträchtige. Plautus erscheint damit geradezu als ‚Opfer‘, das in dieser Zeit des Anfangs gleichsam zwischen die Stühle der elaborierten griechischen und derben italischen Literaturwelten fällt. Die griechische Literaturtradition dient Norwood als Folie, vor der die genannten negativen Züge der frühen römischen Literatur, hier in der Person des Plautus, besonders deutlich hervortreten. Auch die positiven Urteile, die über Plautus in der Antike gefällt wurden und auf die im folgenden noch näher einzugehen sein wird, schätzt Norwood insgesamt nicht hoch ein: „[…] the Romans never had any genuine feeling for the drama.“ Damit untergräbt er die Autorität der römischen Kritiker von vornherein. Das römische Publikum, dem ein tieferes Verständnis für dramatische Kunst gefehlt habe, lasse sich grob in zwei Gruppen einteilen, die Kultivierten und die weniger Kultivierten: „Cultivated Romans preferred rhetoric in various forms, uncultivated Romans preferred gladiators or vaudeville entertainers.“¹⁵ Einzig Horaz und Quintilian mag Norwood als literarische Schiedsrichter gelten lassen; beide hätten sich negativ über Plautus geäußert, und zwar explizit über seine Qualität als Dramenschreiber, nicht nur über seine Sprache und seine Fähigkeiten als Stilist, wie viele andere Stimmen.¹⁶ Mit diesen Prämissen ist es nicht erstaunlich, dass Norwood, wie viele ¹⁴ Gilbert Norwood: Plautus and Terence [künftig zitiert: Plautus], New York , S. . ¹⁵ Norwood: Plautus, S. . ¹⁶ Norwood: Plautus, S. ; Quintilian hat sich allerdings nicht wirklich negativ über Plautus speziell geäußert, sondern lediglich festgestellt, dass die römische Palliata es mit der griechischen Komödie im Vergleich nicht aufnehmen kann, siehe Anm. .

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vor und nach ihm, zu dem Schluss kommt, für die Untersuchung des Plautuscorpus einen streng analytischen Weg beschreiten zu müssen: „The genuinely Greek passages should be distinguished from the far larger bulk where the original has been smothered by barbarous clownery, intolerable verbosity, and an almost complete indifference to dramatic structure.“¹⁷  Zur Kritik und Exegese des Maccus Norwoods Plautuskritik ist freilich in ihrer Heftigkeit für das . Jh. durchaus singulär. Dennoch zeigt sie, wie bedeutsam für die Arbeit des Philologen die jeweiligen Vorannahmen über das Wesen eines Autors sind. Daher ist es, neben der Arbeit an den Texten eines antiken Schriftstellers, sehr wichtig, sich über den Gang der Rezeption und Kritik des jeweiligen Autors von der Antike bis in die heutige Zeit weitestmöglich Rechenschaft abzulegen, um einer einseitigen Ausrichtung des Blicks möglichst vorzubeugen. So sind es in diesem Fall vor allem zwei Gründe, die dafür sprechen, sich eingehend mit den Äußerungen antiker Schriftsteller über Plautus zu beschäftigen. Der eine betrifft die Aufschlüsse, die sich durch eine solche Untersuchung für ein besseres Verständnis der Überlieferungsgeschichte der plautinischen Komödien ergeben können, der andere das Licht, welches die Betrachtung der Argumentationsstrukturen antiker Plautuskritik (und in diesem Zusammenhang besonders der Bewertung des Plautus vor dem Hintergrund seiner Stellung am Anfang der römischen Literaturgeschichte) auf die moderne Beurteilung des Sarsinaten zu werfen vermag. Um bei Letzterem noch einen Moment zu verweilen: Werturteile, welche von der antiken Kritik über Plautus gefällt werden, besitzen schon allein deswegen auch für die heutige Forschung ein besonderes Interesse, weil sie immer wieder, beginnend mit den Herausgebern und Kommentatoren der Frühen Neuzeit seit Publikation der editio princeps bis hin zur Plautusphilologie in der zweite Hälfte des . Jahrhunderts, herangezogen wurden, um

¹⁷ Norwood: Plautus, S. .

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jeweils bestimmte, sich teilweise widersprechende, eigene Thesen der Gelehrten bezüglich der Stilqualitäten des Maccus zusätzlich zu untermauern.¹⁸ Im Methodenkapitel, welches seinen ersten Band Zur Kritik und Exegese des Plautus eröffnet, setzt zum Beispiel Otto Zwierlein eine Reihe moderner Urteile über Plautus, deren weiter Bogen von Friedrich Leo über Eduard Fraenkel bis hin zu Adrian Gratwick und Eckard Lefèvre reicht, in direkte Beziehung zu den antiken Äußerungen über diesen Autor.¹⁹ Zum Kronzeugen der antiken Beurteilung avanciert dabei vor allem Horaz, dessen deutlich formulierte Kritik in Epist. , , – Zwierlein kurz bespricht.²⁰ Er setzt daraufhin das horazische Urteil in Kontrast zu den positiven Bemerkungen, die uns etwa unter den Namen des Volcacius Sedigitus (fr.  Blänsdorf, zitiert bei Gell. Noct. Att. , ), Ciceros (De off. , ) und Varros (Men. , zitiert bei Non. p.  M.) überliefert sind. Mit Hilfe dieser positiven Urteile, so scheint Zwierlein zu hoffen, ließe sich das seiner Meinung nach unhistorische, negative Urteil des Horaz gleichsam aufwiegen. Außerdem verweist er auf die Möglichkeit, dass sich in Horaz’ Händen, also im Rom der augusteischen Zeit, ein bereits durch zahlreiche Interpolationen²¹ entstellter Plautustext befunden haben könnte, dessen deplorable Qualität sein ästhetisches Urteil beeinflusst haben könnte.²² Nun kann dies zwar grundsätzlich nicht ausgeschlossen ¹⁸ Ein Beispiel statt vieler hierfür ist die Berufung von A. O. F. Lorenz in seiner kommentierten Pseudolus-Ausgabe () auf die bei Hor. Epist. , , – geäußerte Kritik, die Eckard Lefèvre: Plautus’ Pseudolus [künftig zitiert: Pseudolus], Tübingen , S. , unter Bezug auf den Schluss dieser Komödie zustimmend zitiert. Die Äußerungen der Literaturkritik des . Jahrhunderts zur Komödie sind hervorragend aufgearbeitet bei Marvin T. Herrick: Comic Theory in the Sixteenth Century, Urbana, Illinois . ¹⁹ Otto Zwierlein: Zur Kritik und Exegese des Plautus I – Poenulus und Curculio [künftig zitiert: Plautus I], Stuttgart , S. –. ²⁰ Horaz, Ars poet. ff. wird en passant erwähnt. Kritik an Zwierleins Deutung der Horazstelle äußert Henry David Jocelyn: Horace and the Reputation of Plautus in the Late First Century BC, in: Homage to Horace. A Bimillenary Celebration, hg. von Stephen J. Harrison, Oxford , S. –. ²¹ Nähere Vermutungen zum Hintergrund des Interpolators, sofern man überhaupt von einer einzelnen Person ausgehen kann, bietet der Folgeband von Otto Zwierlein: Zur Kritik und Exegese des Plautus II – Miles gloriosus [künftig zitiert: Plautus II], Stuttgart , S. – (möglicherweise ein an der Togata geschulter Schauspieldirektor, ein so genannter dominus gregis, in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts v. Chr.?). ²² Vgl. Zwierlein: Plautus I, S. : „Man darf ja auch nicht vergessen, dass Horaz selbst keinen reinen Plautustext zur Verfügung hatte, sondern sein Urteil auf eben jenen ›Plautus‹ gründete, der aus mehr als hundertjähriger Bühnengeschichte und anschließender über Generationen reichender philologischer Bearbeitung zerspielt und zersungen, ergänzt und verändert hervorgegangen war. Es besteht also grundsätzlich immer die Möglichkeit, dass

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werden, hilft aber in der konkreten Frage nicht weiter, da man dann nämlich anzunehmen gezwungen wäre, dass den übrigen Beurteilern des Plautus in republikanischer Zeit, zwischen deren Lebensdaten und denen des Horaz ja nur einige wenige Jahre liegen, ein Plautustext in gänzlich anderer Gestalt vorgelegen hätte. Dies ist allerdings, solange es dafür keine Hinweise aus anderer Richtung gibt (etwa durch weitere text- bzw. echtheitskritische Studien am Plautustext), nicht glaubhaft zu machen. Demgegenüber sieht z. B. Christopher Lowe im Text der angeführten Horazstellen deutliche Hinweise auf eine Kritik am Stegreifcharakter der plautinischen Komödie insgesamt,²³ während Ekkehard Stärk die Plautusschelte bei Horaz so versteht, dass „hier vom Standpunkt fortgeschrittener Kunstübung ein elaborierender Dichter über einen extemporierenden Dichter Gericht hält“.²⁴  Maccus – poeta oder ‚Urvieh‘? Einer Reihe von im . Jh. geäußerten Urteilen über Plautus ist gemeinsam, dass sie sein Oeuvre unter dem Paradigma des Defizitären zu fassen versuchen. So bildet etwa die Suche nach Verstößen gegen die griechische οἰκονομία, deren konsequente Beachtung in der griechischen Neuen Komödie als unhintergehbares ästhetisches Postulat vorausgesetzt wird, ein wichtiges Instrument in der Hand des Plautusanalytikers. Direkt ausgesprochen wird der dieser Vorgehensweise zugrunde liegende Gedanke selten, aber er liegt Phänomene, wie sie Horaz an der plautinischen Gestaltungsweise tadelt, nicht durch Plautus selbst, sondern durch spätere Bearbeiter hervorgerufen worden sind.“ ²³ J. Christopher B. Lowe: Plautus’ Parasites and the Atellana, in: Studien zur vorliterarischen Periode im frühen Rom, hg. von Gregor Vogt-Spira, Tübingen , S. –, hier S. f.; Verweis bei Ekkehard Stärk: Durum equidem judicium: Rettungsversuche des Plautus vor Horaz, in: Plautus und die Tradition des Stegreifspiels: Festgabe für Eckard Lefèvre zum . Geburtstag, hg. von Lore Benz, Ekkehard Stärk und Gregor Vogt-Spira, Tübingen , S. –, hier S.  Anm. . So konstatiert Stärk, ebd., S. : „Bis tief ins . Jahrhundert wussten weder die Gegner noch die Verteidiger des Plautus, dass im Zentrum der horazischen Kritik Plautus’ Anlehnung an die italische Stegreifbühne in der Gestalt des Dossennus lag.“ ²⁴ Stärk, ebd., S. . Dagegen haben andere, z. B. Gregor Maurach: Horaz – Werk und Leben, Heidelberg , S.  Anm. , die künstlerische Sorgfalt des Sarsinaten betont: „Plautus disziplinlos zu nennen, mag hingehen; leider aber gilt er noch heute als ein Schriftsteller, der sich wenig Mühe gemacht habe. Es ist ein Märchen, dass Plautus dem altrömischen Stegreifspiel besonders stark verpflichtet gewesen sei [...], und es ist eine Unwahrheit, dass er grobschlächtig immer nur seine griechischen Vorlagen durcheinanderwirbelte [...] und auch im Metrischen sorglos war [...].“

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auf der Hand: Plautus steht mit einigen anderen Autoren am Anfang der römischen Literatur; er ist der erste ausschließliche Vertreter der Gattung Palliata. Mithin konnte er seine Werke nicht immer so gestalten, wie er es vielleicht gewollt hätte – eine Auffassung, die beispielsweise auch in der oben zitierten Kritik Norwoods durchschimmert. Insbesondere Verstöße gegen die Ökonomie der dramatischen Handlung, aber auch nicht geglückte Motivationen von Ereignissen auf der Bühne, Widersprüche oder Brüche in der Charakterzeichnung und Ähnliches erklären sich demnach aus des Maccus kruder Vorgehensweise, die nicht unwesentlich von seinem Schöpfen aus der zeitgenössischen derben italischen Stegreifposse geprägt sei. In diesem Zusammenhang wird bisweilen noch darauf hingewiesen, dass Plautus ja der antiken biographischen Tradition zufolge und seinem Namen nach möglicherweise auf eine Tätigkeit als Atellanenschauspieler zurückblicken konnte, er also mit Gestaltung und Praxis improvisierter dramatischer Volksbelustigung gut vertraut gewesen sei.²⁵ So wird Plautus unterschoben, dass er über einen eigenen Kunst- und Gestaltungswillen kaum verfügt habe, dass sich in seiner mehr passiven als aktiven Dramatikerpersönlichkeit vielmehr verschiedene kulturelle Einflusslinien getroffen und das Ergebnis gezeitigt hätten, das uns heute erhalten ist – kurz, dass er als „archaischer“ Autor eben nur das tun konnte, was er mit den bescheidenen Mitteln, die zu dieser Zeit zu Gebote standen, leisten konnte.²⁶ Es wird deutlich, dass der Begriff des Archaischen in diesem Zusammenhang neben dem rein chronologisch-verortenden Aspekt (nämlich der Werke des Plautus am Beginn einer römischen Tradition) die Konnotation des Rohen, ²⁵ Blänsdorf: Plautus, S.  (= §  A.a); Gregor Vogt-Spira: Traditionen improvisierten Theaters bei Plautus – Einige programmatische Überlegungen [künftig zitiert: Traditionen], in: Drama  (), S. –, hier S.  mit Anm. . Adrian S. Gratwick: ‚Titus Maccius Plautus‘ [künftig zitiert: Plautus], in: CQ  (), S. –, hält ‚Titus Maccius Plautus‘ mit guten Argumenten für einen nom de plume. ²⁶ Vgl. etwa Jürgen Blänsdorf: Archaische Gedankengänge in den Komödien des Plautus [künftig zitiert: Gedankengänge], Wiesbaden , S. : „[…] Eine durch das Raffinement einer relativ späten Literaturepoche und durch die Anforderungen eines gebildeten, wählerischen Publikums ganz vergeistigte und bewusst schlichte Dichtung kann nicht ohne innerste Verwandlung in die a r c h a i s c h e Epoche [Hervorhebung durch B.] einer anderen Literatur eingehen und nicht vor einem ganz anderen, jedenfalls gröberen und an derbem Scherz und lebhafter Bühnenhandlung interessierten Zuschauer bestehen. Was dort mit der Erfahrung langer Bühnentradition im Argumentieren und Monologisieren, in der Darstellung des Pathos und der Erzählung der Vorgeschichte in feinste Eleganz, spielerisch und mit Verschleierung des Gedankenfindens doch klar und schlicht gesagt werden kann, muss hier mühsam klargemacht und immer wieder abgesichert werden.“

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am Anfang Befindlichen und mithin weit von der Vollendung Entfernten trägt. Die negative Konnotation des Archaischen im gerade genannten Sinne schimmert auch dort durch, wo der Begriff vordergründig chronologisch gebraucht wird. So gelten gerade die ersten Palliatendichter von der Zeit des Plautus und seiner Vorgänger bis Livius Andronicus in der klassisch-philologischen Handbuchliteratur immer noch als typisch ‚archaische‘ Autoren.²⁷ Die Beurteilung des ‚Archaischen‘ wird dabei im wesentlichen an Stilelementen festgemacht, die in der Forschung durch umfangreiche Untersuchungen ermittelt wurden, wobei die dieser Selektion zugrundeliegenden Kriterien bereits die Konstruktion eines Archaischen evozieren, die zuweilen mehr über die Verfasser der jeweiligen Studien als über die Werke des Plautus sagt. Beziehen sich derartige Arbeiten und Ansätze aufeinander, ist die Gefahr eines Zirkelschlusses nicht mehr weit. Neben Jürgen Blänsdorfs Monographie Archaische Gedankengänge bei Plautus existiert eine kaum noch übersehbare Zahl von Arbeiten mit Titeln wie: Das Archaische bei N. N., deren Autoren – anders als Blänsdorf – methodisch auf die Weise vorgehen, dass sie vor allem die Lexik des jeweiligen Autors mit derjenigen des Plautus (oder seltener auch mit derjenigen anderer Autoren des . bzw. . Jahrhunderts v. Chr.) abgleichen. Stellen sie lexikalische Gemeinsamkeiten zwischen Plautus und dem jeweiligen Autor fest, so schließen sie daraus, dass N. N. ‚archaisiere‘. Charakteristisch für ein solches Vorgehen ist die Untersuchung Das Archaische in der Sprache Catulls von Heinrich Heusch, der zum Beispiel auf Grund des Auftretens der Junktur defessus quaeritando, „von der Suche erschöpft“, in der er das Intensivum quaeritare als bewussten Archaismus begreift, eine absichtsvoll archaisierende Plautusreminiszenz im Catull-Gedichtfragment a (bzw. b nach anderer Numerierung) konstatiert.²⁸ ²⁷ So z. B. Eckard Lefèvre: Die Literatur der republikanischen Zeit, in: Einleitung in die lateinische Philologie [künftig zitiert: Literatur], hg. von Fritz Graf, Stuttgart/Leipzig , S. –, hier S. : „Das Jahrhundert von  bis etwa  bildet den Zeitraum der archaischen Literatur, die Roms Aufstieg zur Vorherrschaft im Mittelmeerraum begleitet.“ Ludwig Bieler: Geschichte der römischen Literatur, Berlin/New York ⁴, S.  und passim spricht in der bei ihm auch sonst nicht seltenen bedachtsam-vorsichtigen Weise von den „ältesten Dichtern“ der Römer; für die literarischen Aktivitäten der hadrianisch-antoninischen Zeit verwendet er allerdings die Bezeichnung „Archaismus“ (s. Bielers Index). ²⁸ Vgl. Plaut. Amph. –; Heinrich Heusch: Das Archaische in der Sprache Catulls [künftig zitiert: Das Archaische], Bonn , S. : „Literarhistorisch begreift sich das Gedichtfragment [...] als eine Plautusimitation [...] in episch-mythischer Transposition.“

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Für diesen Ansatz in der Plautusforschung war die grundlegende Untersuchung Lateinische Umgangssprache von Johann Baptist Hofmann aus dem Jahr  (letzte Überarbeitung: ) von äußerster Wichtigkeit, in der Plautus regelmäßig als Muster für das archaische (bei Hofmann = vulgäre bzw. umgangssprachliche) Latein herangezogen wurde;²⁹ ähnlich verfuhr  Leonard R. Palmer in seinem Standardwerk The Latin Language. Schon Heinz Happ hat allerdings in einem programmatischen Aufsatz zur Kunstsprache des Plautus festgestellt, dass diese Ansicht, wie sie neben Hofmann und Palmer zahlreiche andere Philologen vertreten hatten, nicht das Richtige trifft.³⁰ Im Gegenteil scheinen die altlateinischen Autoren sehr bewusst und sorgfältig mit den ihnen in der heute so genannten ‚archaischen‘ oder frühen Zeit der römischen Literatur zur Verfügung stehenden Sprachmitteln, die sich aus griechischer und römischer bzw. italischer Tradition speisten, umgegangen zu sein. Zudem lässt sich auch das u. a. von Norwood vorgebrachte Argument, die frühen römischen Autoren seien angesichts einer hochstehenden und verfeinerten griechischen Literaturtradition und einer mit dieser kontrastierenden primitiv-bäuerlich-derben römisch-italischen Tradition geradezu überfordert gewesen, einen nicht von dieser römisch-italischen derben und einfachen Art beherrschten Stil zu entwickeln, schlicht umkehren, wie es auch mehrfach geschehen ist. So haben nicht zuletzt Eckard Lefèvre und Gregor Vogt-Spira zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Plautus und seine Zeitgenossen eben keine Fauni, „Waldschrate“, waren, die nur über vergleichsweise wenig Bildung und Kenntnisse verfügten,³¹ sondern dass sie sich vielmehr als poetae – so die bei Ennius ebenso wie bei Plautus und Terenz belegte Selbstbezeichnung³² – explizit an die griechische Tradition anschließen. So sind diese Autoren in keinem

²⁹

³⁰ ³¹ ³²

Dies ist aus verschiedenen Gründen kaum haltbar, auch wenn z. B. Kenneth Quinn: Catullus – The Poems, Houndmills/London ², S.  die Amphitruo-Passage in vergleichbarer Weise als „colloquial model“ für die Catullstelle bezeichnet. Durch Licinia Ricottilli hat das Werk eine Übersetzung ins Italienische, eine lehrreiche Einleitung und „note di aggiornamento“ erhalten, die sie zu einem wichtigen Arbeitsinstrument machen; Johann Baptist Hofmann: La lingua d’uso latina, hg. von Licina Ricottilli, Bologna ². Heinz Happ: Die lateinische Umgangssprache und die Kunstsprache des Plautus, in: Glotta  (), S. –. Der polemische Begriff findet sich bei Enn. Ann.  Skutsch. Vgl. Werner Suerbaum: Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter – Livius Andronicus, Naevius, Ennius [künftig zitiert: Untersuchungen], Hildesheim , S. –.

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Falle ‚urwüchsig‘ (oder gar ‚archaisch-primitiv‘) sondern immer schon kulturell ‚vorbelastet‘.³³ Zudem hat Klaus Lennartz in einer wichtigen Studie zur Übersetzungstechnik der altlateinischen Dichter eingehende Untersuchungen zur spezifischen Literarizität der im Spannungsfeld der griechischen und römischen Kultur entstandenen Dramen vorgelegt. Von großer Bedeutung ist insbesondere seine Beobachtung, dass die römischen Dramatiker – und eben auch Plautus, der sich ja explizit auf griechische Vorbilder für seine Stücke bezieht –, wenn sie übersetzen (allerdings auch nur dann), dieses eben nicht oberflächlich, sondern regelmäßig genau-bedachtsam tun.³⁴ Auch dies zeugt von einer sehr bewussten Anwendung sprachlicher Mittel, die den frühen Autoren folglich nicht allein deshalb, weil sie in moderner Terminologie ‚archaisch‘ sind, abgesprochen werden sollte; im Gegenteil scheint sich im Spannungsfeld der griechisch-römischen Kulturbegegnung gerade in dieser Zeit ein äußerst fruchtbarer Boden gebildet zu haben, der von den entsprechenden Autoren sachkundig bestellt und genutzt wurde. Dennoch bestehen auf dem Gebiet der textnahen Einzelanalyse immer noch zahlreiche Forschungsdesiderate; viele Beobachtungen im Kleinen sind erforderlich, wie sie etwa Otto Zwierlein und sein Schüler Marcus Deufert zu Recht gefordert und durch ihre eigenen Arbeiten gefördert haben.³⁵ Insgesamt spricht also tatsächlich vieles dafür – ohne dass hier auf Einzelheiten eingegangen werden kann –, dass Plautus als Bühnenautor, überspitzt formuliert, gerade nicht als ‚Opfer‘ seiner Zeitumstände agierte, dem ein enger Spielraum für das eigene künstlerische Wollen vorgegeben war und der gleichsam aufgrund seines Geburtsjahres und -landes zu einer Form von Primitivität im Vergleich zur hochstehenden griechischen literarischen Kultur verdammt war. Vielmehr scheint Plautus ganz bestimmte sprachliche und ³³ Vgl. Gregor Vogt-Spira: Literarische Imitatio und kulturelle Identität – Die Rezeption griechischer Muster in der Selbstwahrnehmung römischer Literatur, in: Rezeption und Identität: Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, hg. von Gregor Vogt-Spira/Bettina Rommel, Stuttgart , S. –. Vgl. außerdem z. B. Lefèvre: Literatur, S. , der zu Recht bemerkt, dass Livius Andronicus und in seinem Gefolge die römischen Palliatendichter späterer Zeit „eine ausgesprochene Spätform in das Anfangsstadium der römischen Literatur“ transponiert hätten. ³⁴ Vgl. Klaus Lennartz: Non verba sed vim – Die Fragmente archaischer römischer Tragiker, Stuttgart/Leipzig , S. f. zu den von ihm (nicht ganz glücklich) so genannten „Vorbildversen“. ³⁵ Vgl. Zwierlein: Plautus I, S. f., v. a. aber Deufert: Textgeschichte, S. –.

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dramaturgische Mittel jeweils höchst zweckmäßig verwendet bzw. situationsangemessen ausgewählt zu haben. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis wichtig, dass Plautus vor dem Rezeptionshorizont seiner Zeit (und eben vor keinem anderen) bei der Gestaltung seiner Stücke ganz bewusst vorgegangen ist,³⁶ ja geradezu ein eigenes ästhetisches Programm verwirklicht hat.³⁷ Es liegt auf der Hand, dass dieses nicht einfach mit dem der italischen Stegreifposse identisch gewesen sein kann.³⁸ Es bleibt selbstverständlich jedem unbenommen, die Leistung eines Dichters wie Plautus auch zu werten, doch sollten sowohl der historische Hintergrund, vor dem der einzelne Dichter arbeitete, als auch der eigene historische Hintergrund und damit verbunden die Nutzung mit Wertungen besetzter Begriffe nicht aus den Augen verloren werden. Dagegen lässt sich zusammenfassend feststellen, dass der Gebrauch des Begriffes ‚archaisch‘ bzw. der diesen Begriff umschreibenden und implizierenden Feststellungen und Annahmen in der modernen Plautusforschung oft problematisch ist. Neben den in der heute üblichen Epocheneinteilung gebräuchlichen rein deskriptiv-chronologischen Charakter des Begriffs treten schnell Wertungen, die häufig unreflektiert sind. Wohl nicht zuletzt durch den Einfluss des Horaz auf die negative Bewertung des Plautus ist bisweilen in der Forschung ein pejorativ konnotierter Gebrauch des Begriffes ‚archaisch‘ eingedrungen, der wesentlich auf ein ‚ursprünglich-primitives‘ sowie ‚altertümlich-überholtes‘ bzw. von späteren Zeiten zu überholendes Element in den Werken des Dichters abzielt, dessen Existenz aufgrund unterschiedlicher Analysen, darunter wesentlich des Stils, postuliert und damit zugleich auch zementiert wird.  ‚Archaisches‘ bei Maccus und Fronto? Um so dringlicher stellt sich angesichts dieser Auffassung die Frage, inwieweit überhaupt das dem . Jh. entstammende begriffliche Etikett ‚archaisch‘ sinnvoll beschreibend und einordnend auf die Texte des überlieferten Plautuskorpus angewandt werden kann. Korrelat dieser Frage ist diejenige nach ³⁶ Von grundsätzlicher Wichtigkeit hierzu Vogt-Spira: Traditionen. ³⁷ Vgl. Vogt-Spira: Traditionen, S. : „Man muss [...] die plautinische Komödie als eine gelungene Integration zweier elementar verschiedener Theatertraditionen, einer hochliterarischen und einer ursprünglich mündlichen, betrachten.“ ³⁸ Zu Recht differenzierend bemerkt Vogt-Spira: Traditionen, S. : „Indes wäre es falsch, Plautus mit dem Stegreifspiel gleichzusetzen. Einige Indizien weisen im Gegenteil darauf hin, dass ausdrücklich Distanz zur Sphäre des Stegreiftheaters bezogen wird.“

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der Angemessenheit der Bezeichnung der ‚archaistischen‘ Tendenzen, die für das . Jh. n. Chr. postuliert werden. Man sollte dabei nicht unterschätzen, welche Konsequenzen sich aus diesem von der Forschung gezeichneten Bild ergeben. Neben der oben erwähnten Gefahr, in Zirkelschlüsse zu verfallen, indem man etwa postuliert, dass etwas wie ‚archaische‘ Sprache bei Plautus existiert und dass diese für den modernen Leser (und Forscher) identifizierbar sein müsse, ergeben sich aus der wertenden Betrachtung des Plautus ganz handfeste Probleme für die Frage nach der Überlieferungsgeschichte der plautinischen Komödien. Die Geschichte der Wertung des Plautus war in der Tat schon immer – und ist es sogar bis heute – eine Geschichte der Echtheitskritik, die auf die eine oder andere Weise ‚Plautinisches‘ von ‚Nicht-Plautinischem‘ zu scheiden versucht. Dieses Muster findet sich schon in der Generation nach Plautus und in der Gracchenzeit vorgeprägt; es hat die Plautusphilologie nie wieder wirklich ganz verlassen.³⁹ Eine weitere Erkenntnismöglichkeit, die sich durch eine Untersuchung der Geschichte der Plautusbewertung bietet, ist, dass sie auch Rückschlüsse auf die Überlieferungsgeschichte dieses Autors zulässt und damit auch textkritischen Bemühungen um Plautus im . Jahrhundert weitere Hilfsmittel zur Verfügung stellt. Rezeption und Überlieferung der Texte eines Autors gehen Hand in Hand und sind nicht voneinander zu trennende historische Vorgänge. Dies hat für Plautus zuletzt Marcus Deufert deutlich gesehen und bereits im Titel seiner Untersuchung zu Textgeschichte und Rezeption der plautinischen Komödien im Altertum prägnant formuliert.⁴⁰ Außerdem erhalten wir, betrachten wir die näheren Umstände der Rezeption diachron, nähere Informationen über die Modi dieser Rezeption, also etwa Aufschlüsse zur Frage, ab wann Plautus’ Komödien primär als Lesetexte angesehen und auch so aufgenommen wurden bzw. ab wann mit einer unmittelbaren Plautuskenntnis auch bei gebildeten Rezipienten kaum noch zu rechnen ist. Solche näheren

³⁹ Vgl. Jürgen Blänsdorf: Das Bild der Komödie in der späten Republik [künftig zitiert: Bild], in: Musa Iocosa: Arbeiten über Humor und Witz, Komik und Komödie in der Antike, Andreas Thierfelder zum siebzigsten Geburtstag am . Juni , hg. von Udo Reinhardt und Klaus Sallmann, Hildesheim/New York , S. –, hier S. . Zur antiken Echtsheitskritik vgl. auch den Überblick bei Michael Reichel: Überlegungen zur Echtheitskritik der plautinischen Komödien am Beispiel der Asinaria [künftig zitiert: Überlegungen], in: Dramatische Wäldchen: Festschrift für Eckard Lefèvre zum . Geburtstag, hg. von Ekkehard Stärk und Gregor Vogt-Spira, Hildesheim/Zürich/New York , S. –, hier S. –. ⁴⁰ Pointiert auch Deufert: Textgeschichte, S. f.

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Umstände der Rezeption wirken sich auf die von den Rezipienten jeweils formulierten Deutungen aus: Eine Reihe von Textpassagen in den plautinischen Komödien nimmt sich ganz anders aus, wenn man sie gespielt auf der Bühne sieht, als wenn man sie liest. Auch werden Urteile über einen Autor, den man lediglich aus Grammatiker- oder Glossatorenzitaten kennt, wahrscheinlich oft schablonenhafter ausfallen (sofern man sie nicht überhaupt ganz aus zweiter oder dritter Hand übernimmt) als solche, zu denen man auf dem Wege eigener Lektüre (oder unmittelbarer Bühnenanschauung) gelangt. So lassen sich negative Urteile über Plautus ab einer bestimmten Zeit wohl auch auf mangelnde Anschauung der jeweiligen Autoren und vor allem fehlende Theaterpraxis zurückführen. Quellenkritisch ist anzumerken, dass unser größtes Problem darin besteht, dass wir nur auf ganz wenige zeitgenössische (oder zumindest fast zeitgenössische) Äußerungen zu Plautus zurückgreifen können.⁴¹ Alles andere, was wir haben, ist durch die Filter zumindest der spätrepublikanischen und der augusteischen Zeit gelaufen – also in postneoterischer Zeit entstanden, so dass alle ästhetischen Paradigmata in dieser Hinsicht ‚in-formiert‘ sind. Schwierig mutet es auch an, die Geschichte der Terenzkritik und -rezeption von der des Plautus zu trennen, ja überhaupt einen einzelnen Palliatendichter herauszugreifen und dessen Schicksal durch die Antike hindurch verfolgen zu wollen, statt vielmehr die Geschichte der Kritik und Wertung der Palliata als solcher zu schreiben. Letzteres ist aber in dem hier gegebenen Rahmen nicht zu leisten.⁴² Es ist nun an der Zeit, die wichtigsten antiken Zeugnisse zu sichten, welche die Beurteilung des Plautus zum Gegenstand haben, zumal diese einen nicht unerheblichen Einfluss auf die moderne Rezeption und Beurteilung der plautinischen Komödien ausüben. Im Rahmen dieser Fragestellung interessiert besonders, welche Urteile bereits in der Antike über den Stil der Werke des Plautus gefällt worden sind und inwiefern speziell das Begriffsfeld des ‚Alten‘ mit seinen anhand von Beispielen aus der modernen Literaturkritik bereits ⁴¹ Zur Quellensituation für die Zeit der späten Republik ebenfalls skeptisch z. B. Blänsdorf: Bild, S. f.; doch sieht die Lage für andere Zeiten insgesamt auch nicht anders aus, was Blänsdorf wohlbewusst ist. ⁴² Die nähere Beschäftigung mit der Rezeption und Überlieferungsgeschichte der Palliata von der Zeit der ersten Wiederaufführungen des Plautus bis zum Ausgang der Antike bleibt weiterhin ein Gegenstand von höchstem Interesse, wie v. a. die Forschungstätigkeit in jüngerer Zeit gezeigt hat.

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aufgezeigten, grundsätzlich potentiell positiven wie auch negativen Konnotationen bei dieser Bewertung eine Rolle spielte. Es ist seit langem bekannt, dass, betrachtet man die Kritik und Beurteilung des Plautus von der Zeit der letzten belegten Aufführung eines seiner Stücke ( v. Chr.: Pseudolus) bis zur hadrianisch-antoninischen Zeit, sich gleichsam eine Wellenbewegung sowohl in der Plautuskritik als auch in der belegbaren Bekanntheit seiner Stücke konstatieren lässt.⁴³ Bis zum Ausgang der Republik ist Plautus weit mehr als nur oberflächlich bekannt und allgemein wohlgelitten, auch wenn ihm andere Autoren seiner Zeit, vor allem Ennius, bisweilen vorgezogen werden; er gilt doch in allen erhaltenen Zeugnissen einhellig stets als jemand, der zur Spitze des römischen Literaturbetriebs gerechnet werden muss. Mit der frühen Kaiserzeit ändert sich dies, jedenfalls nach Befund der vorliegenden Quellen, recht schnell und nachhaltig: Nach der heftigen Plautusschelte des Horaz rückt der Sarsinate, im Gegensatz zu anderen altlateinischen Autoren, beinahe völlig aus dem Horizont römischer Literaturkritik. Dieser Zustand hält, so scheint es jedenfalls nach Lage der uns vorliegenden Zeugnisse, einige Jahrzehnte an, bis in flavischer Zeit wieder eine intensivere Beschäftigung nachweisbar wird, die in die bei mehreren Autoren greifbaren Wertschätzung des Maccus unter Hadrian, Antoninus Pius und Marc Aurel mündet, deren Auswirkungen letztlich allerdings bis weit in die christlichlateinische Spätantike reichen. Im Folgenden sollen nun die einzelnen Stationen der Plautuskritik näher in den Blick genommen werden.  Maccus bei Plautus Die Geschichte der Plautuskritik im Altertum beginnt bereits zu Lebzeiten des Autors selbst, der, wie sich aus verschiedenen Zeugnissen erschließen lässt, Urteile über seine eigene Arbeit abgegeben hat, was für einen Schriftsteller ja auch zu keiner Zeit ungewöhnlich ist;⁴⁴ sein älterer Zeitgenosse Ennius hat Ähnliches regelmäßig getan.⁴⁵ ⁴³ Mit einem anderen Bild nennt Alfredo J. Schroeder: La comedia plautina: críticas y prejudicios [künftig zitiert: Comedia], in: Revista de Estudios Clásicos  (), S. –, hier S. , zusammenfassend die antike Beurteilung des Plautus „un himno polifónico“, was in der Tat auch eine ganz angemessene Bezeichnung darstellt, sofern man „himno“ nicht nur als Lob, sondern wertneutral als Gesang versteht. ⁴⁴ Für die Äußerungen der älteren römischen Dichter über ihre Werke vgl. Suerbaum: Untersuchungen.

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Am herausragendsten ist hier vielleicht die bei Cicero überlieferte Nachricht (Cato maior )⁴⁶, dass Plautus als alter Mann ganz besonderen Gefallen an seinen Komödien Truculentus und speziell Pseudolus geäußert habe; es besteht kein Grund, an der Glaubwürdigkeit dieser Nachricht zu zweifeln.⁴⁷ Auch in den Texten der Plautuskomödien findet sich in den Abschnitten, die nicht aufgrund innerer Kriterien späteren Bearbeitern zugewiesen werden müssen (z. B. Teilen der Prologe, von denen einer im Folgenden gesondert zu behandeln sein wird), eine Reihe von Selbstaussagen und Urteilen über die dichterische Arbeit, von denen hier nur eine herausgegriffen sein soll, die bei Plautus einem intrigierenden Sklaven in den Mund gelegt ist (Pseud. –): Sed quasi poeta, tabulas cum cepit sibi, quaerit quod nusquamst gentium, reperit tamen, facit illud veri simile quod mendacium est, nunc ego poeta fiam: viginti minas, quae nusquam nunc sunt gentium, inveniam tamen.

Richtig wurde in der Forschung darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen Versen um das Zeugnis eines Vorgangs der „Identifizierung des Dichters mit seinem Geschöpf“ handelt.⁴⁸ Insbesondere ist hervorzuheben, dass poeta hier in vollem Wortsinn als der Hersteller bzw. Schöpfer zu verstehen ist, der auf seinen Schreibtäfelchen im Medium der Schriftlichkeit eine fiktionale Welt erstehen lässt – ein Anlass zu Stolz für den Träger dieses Titels, also: ⁴⁵ Vgl. z. B. Enn. Ann. – Skutsch. Die eingehende Analyse dieser Verse bei Suerbaum: Untersuchungen, S. –, ist bis heute wegweisend. ⁴⁶ Quam gaudebat bello suo Punico Naevius, quam Truculento Plautus, quam Pseudolo. vidi etiam senem Livium, qui cum sex annis ante quam ego natus sum fabulam docuisset Centone Tuditanoque consulibus usque ad adulescentiam meam processit aetate. Interessant in diesem Zusammenhang eine Bemerkung im Text der plautinischen Bacchides (–): Non res, sed actor mihi cor odio sauciat. / etiam Epidicum, quam ego fabulam aeque ac me ipsum amo, / nullam aeque invitus specto, si agit Pellio. Allerdings werden diese Verse, die grundsätzlich durchaus eine Selbstbeurteilung des Plautus darstellen könnten, von Otto Zwierlein: Zur Kritik und Exegese des Plautus IV: Bacchides [künftig zitiert: Plautus IV], Stuttgart , S. – einem späteren Bearbeiter zugewiesen und bleiben hier vorläufig außer Betracht. ⁴⁷ Vgl. z. B. Malcolm M. Willcock: Plautus – Pseudolus [künftig zitiert: Pseudolus], Bristol , S. ; Lefèvre: Pseudolus, S. . ⁴⁸ Lefèvre: Pseudolus, S. ; vgl. auch Vogt-Spira: Traditionen, S. .

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Plautus.⁴⁹ Über den besonderen Status eines Komödientextes in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit war sich Plautus also wohlbewusst; die eindringlich um die zentrale Aussage zum Verhältnis von mendacium und verisimile in V.  herum parallel gebauten Verse unterstreichen dies noch (poeta ... quod nusquamst gentium, reperit tamen – nunc ego poeta ... quae nusquam ... sunt gentium, inveniam tamen). Darüber hinaus spielt vielleicht auch – wenn ja, dann sicherlich indirekt und vermittelt – der antike Gemeinplatz vom Dichter als Lügner bzw. die peripatetische Literaturtheorie des εἰκός in diese Äußerung hinein.⁵⁰ Dort wird das Verhältnis des Dichters zu seinem Stoff auch unter dem Begriff der Lüge gefasst, Dichtung mithin als freie Erfindung des Dichters begriffen und rundweg als ψευδῆ bezeichnet, Dichten als ψεύδεσθαι. Die Grundlinien dieser Idee finden sich schon bei Hesiod.⁵¹ Für das Verständnis dieser Verse ist auch wichtig, sich den Kontext zu vergegenwärtigen, in dem sie geäußert werden: Dem servus callidus Pseudolus ist die scheinbar unlösbare Aufgabe gestellt, in kürzester Zeit einen namhaften Geldbetrag zu organisieren, zugleich aber den von einem Kuppler angestrebten Verkauf eines Mädchens an einen prahlerischen Soldaten zu vereiteln. Die Schwierigkeiten, die er dabei zu überwinden hat, werden zusätzlich durch Faktoren kompliziert, die von der Forschung mittlerweile als römische Zutat identifiziert wurden,⁵² also als Erfindung des Plautus. Die Aufgabe des Sklaven Pseudolus liegt also in gewissem Sinne mit derjenigen auf einer Ebene, vor die sich Plautus selbst gestellt sah, oder in den Worten von Gordon Williams: „[…] what the slave has been set to do is also a figure for the problem the poet of this very play had in achieving originality; here that was solved ⁴⁹ Vgl. Gregor Vogt-Spira: Plautus und die Überwindung des Stegreifspiels, in: Plautus und die Tradition des Stegreifspiels: Festgabe für Eckard Lefèvre zum . Geburtstag, hg. von Lore Benz, Ekkehard Stärk und Gregor Vogt-Spira, Tübingen , S. –, hier S. . Zur Verwendung des griechischen Begriffs poeta (statt vates) und seinem Rang bei den altlateinischen Autoren vgl. auch Suerbaum: Untersuchungen, S. f. ⁵⁰ Vgl. dazu etwa Horaz, Ars poet. f. (über Homer) mit den Erläuterungen von Charles Oscar Brink: Horace On Poetry II – The ‚Ars Poetica‘ [künftig zitiert: Horace], Cambridge , S. f. ⁵¹ Vgl. Wilhelm Kroll: Studien zum Verständnis der römischen Literatur, Stuttgart , S. ; Hes. Theog. f. Weitere Literaturangaben bei Boris Dunsch: Fiktion/Fiktionalität, in: Lexikon der Bibelhermeneutik – Begriffe, Methoden, Theorien, Konzepte, hg. von Oda Wischmeyer, Berlin/New York , S. f. Den griechischen Hintergrund erhellt Mario Puelma: Der Dichter und die Wahrheit in der griechischen Poetik von Homer bis Aristoteles, in: Mario Puelma – Labor et lima. Kleine Schriften und Nachträge, hg. von Irène Fasel, Basel , S. –; zuerst erschienen in: Museum Helveticum  (), S. –. ⁵² Für eine eingehende Analyse vgl. Lefèvre: Pseudolus, S. –.

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by the invention of new material.“⁵³ In gewisser Weise handelt es sich also hier, wie auch an einer Reihe anderer Stellen in der plautinischen Komödie, die hier außer Betracht bleiben müssen, um „a claim to originality for himself“, wie Williams sagt, mit dem Plautus sich innerhalb der Komödientradition als Neuerer, mindestens aber sozusagen als ‚Kreativer‘, einordnet, „and he largely substantiates the claim by blending recognizably Roman elements into the basically Greek plot.“ Vielleicht darf man auch allein schon in der bloßen Tatsache, dass in einer Reihe von Plautusprologen griechisches Theaterstück und lateinische versio desselben mit Titel- und Verfasserangabe nebeneinandergestellt werden, einen implizit formulierten Anspruch des römischen Dichters sehen, mit dem griechischen verglichen werden zu wollen, und zwar auf Augenhöhe, als konkurrierender Dichter, der einen eigenen literarischen Anspruch erhebt, wie etwa in der Asinaria (–): [...] Huic nomen Graece Onagost fabulae: Demophilus scripsit, Maccus vortit barbare; Asinariam volt esse, si per vos licet.

Der vorliegende Fall ist deshalb besonders interessant, weil die neuere Forschung hier die Möglichkeit erwogen hat, dass sich das Stück in seiner Gesamtheit ausschließlich der Feder des Plautus verdankt.⁵⁴ Träfe dies zu, so träte Plautus, der sich hier nach der italischen Atellanenfigur selbstbewusst ‚Maccus‘ nennt,⁵⁵ mit einem gänzlich selbstverfertigten Stück als Konkurrent gegen einen – möglicherweise sogar nur fingierten⁵⁶ – griechischen Autor an. Auch wenn er mit der so formulierten Konstellation Griechenland–Rom lediglich einer literarischen Konvention im Rahmen eines Palliatenprologs genügen würde,⁵⁷ wäre dennoch die Stoßrichtung des Nebeneinandersetzens deutlich: ⁵³ Dieses und das folgende englische Zitat bei Gordon Williams: Roman Poets as Literary Historians – Some Aspects of Imitatio [künftig zitiert: Poets], ICS  (), S. –, hier S. . ⁵⁴ Vgl. Gregor Vogt-Spira: Asinaria oder Maccus vortit Attice, in: Plautus barbarus – Sechs Kapitel zur Originalität des Plautus [künftig zitiert: Asinaria], hg. von Eckard Lefèvre, Ekkehard Stärk und Gregor Vogt-Spira, Tübingen , S. –. ⁵⁵ Näheres z. B. bei Ferruccio Bertini: Plauti Asinaria [künftig zitiert: Asinaria], Genova , S. f. ⁵⁶ Plausibel Vogt-Spira: Asinaria, S. . ⁵⁷ Vorausgesetzt natürlich, dass die Verse tatsächlich von Plautus stammen und nicht späteres Interpolament sind, wofür es aber keine Anhaltspunkte gibt; vgl. Friedrich Leo: Plautinische Forschungen zur Kritik und Geschichte der Komödie [künftig zitiert: Forschungen], Berlin ², S.  und .

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Plautus betont seine Eigenständigkeit; er ist eben gerade kein ‚alter‘, sondern vielmehr ein ‚neuer‘ Autor.⁵⁸ Für die Verbindung des Begriffs poeta mit der Lüge bzw. dem Lügen bei Plautus spricht auch, dass sich ein weiterer Beleg für das Wort ebenfalls in einem Kontext findet, in dem es um das Verhältnis von Lüge und Wahrheit (und zwar wiederum bei einer Intrige) geht (Cas. f.): Nec fallaciam astutiorem ullus fecit poeta atque ut haec est fabre facta ab nobis.

Hier ist besonders die durch Alliteration noch hervorgehobene Wiederholung der Wurzel fac- zu beachten (fecit ... fabre facta),⁵⁹ die mit der Herleitung des griechischen Begriffes (poeta – ποιητής – ποιεῖν, ‚machen‘) zu spielen scheint. An einer anderen Stelle fällt das Wort poeta überraschend im Kontext der Aufforderung an einen Parasiten, die Bedingungen eines von ihm abgefassten Vertrages zu verlesen (Asin. –): Agedum istum ostende quem conscripsti syngraphum inter me et amicam et lenam. leges pellege. nam tu poeta es prorsus ad eam rem unicus.

Die Deutung des Wortes poeta fällt gerade an dieser Stelle nicht leicht. Man wird sich allerdings kaum dem in der Forschung mehrfach geäußerten Vorschlag anschließen können, in dem Wort ein Synonym für scriba und in dieser Stelle einen Hinweis auf das collegium scribarum zu erblicken,⁶⁰ und doch eher geneigt sein, ihn für das erste greifbare Beispiel einer im Ton eher burleskausgelassenen Ironisierung des Dichterbegriffs im Altlatein zu fassen.⁶¹

⁵⁸ Vgl. die interessante These von Williams: Poets, S. , dass für Plautus die imitatio exemplorum Nebensache gewesen sei, sowohl in stilistischer Hinsicht als auch in Bezug auf die Komödiensujets. ⁵⁹ Vgl. Charles Knapp: References to Painting in Plautus and Terence [künftig zitiert: Painting], in: CPh  (), S. –, hier S.  Anm. . ⁶⁰ Vgl. die Diskussion bei Bertini: Asinaria, S. , der sich der Meinung anschließt, es handele sich um eine Anspielung auf das collegium scribarum. ⁶¹ Vgl. Knapp: Painting, S. , der einen „burlesque or mock-heroic effect“ sieht und Übersetzungen wie „maker“, „creator“ oder „composer“ für poeta vorschlägt. Zustimmend jetzt Florian Hurka: Die Asinaria des Plautus. Einleitung und Kommentar, München , S. .

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Besonders hervorzuheben ist im Zusammenhang der Fragestellung, wie ‚Archaisches‘ konstruiert wird, dass Plautus das Wort poeta an einer Stelle mit dem Adjektiv antiquus verbindet (Curc. f.): Antiquom poetam audivi scripsisse in tragoedia mulieres duas peiores esse quam unam. res itast.

Über die Identität dieses antiquus poeta lässt sich nichts sagen; es ist möglich, dass hier ein griechischer, ebenso gut aber, dass ein römischer Tragödiendichter gemeint ist⁶² – vielleicht aber verbirgt sich sogar überhaupt keine Person hinter dieser anzitierten auctoritas, und der fiktionale Bezug auf sie dient lediglich dazu, die folgende misogyn-stereotype Aussage einzuleiten. Immerhin deutet die Setzung des Adjektivs antiquus an, dass es sich nicht um einen Zeitgenossen des Plautus handelt. Dieser Eindruck wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass das Zitat aus der Tragödie dieses Dichters vorgeblich indirekt – zu denken ist wohl an Hörensagen – vermittelt ist; der deutlich gesetzte Kontrast zwischen Oralität (audivi) und Literalität (scripsisse) unterstreicht dies. Schon diese notwendig verknappende Auswahl aus dem Werk des Plautus zeigt, dass dieser sich als eine Dichterpersönlichkeit wahrgenommen hat, die eigenständig und souverän mit den ihr zur Verfügung stehenden Traditionen schaltet.⁶³  Die interpolierten Plautusprologe Nach dem Tod des Plautus (nach  v. Chr.) reißt die belegbare Geschichte seiner Bewertung keineswegs ab, sondern es werden zum einen zahlreiche Bemerkungen über seine Werke in den Prologen des Terenz (ca. /– [?] v. Chr.) gemacht, zum anderen gibt es wertende Bezugnahmen auf seine Stücke in Interpolamenten, die sich in einem Teil der Prologe zu seinen Komödien finden und wahrscheinlich in eine Periode der Wiederaufführung seiner Komödien zu datieren sind, die von der Forschung allgemein in die frühen ⁶² Euripides wäre ein denkbarer Kandidat, aber ein vergleichbarer Gedanke lässt sich im uns vorliegenden Euripideskorpus nicht finden. ⁶³ Hier wäre noch eine Reihe von Stellen aus den Plautuskomödien, namentlich den Prologen (soweit sie nicht interpoliert sind) zu nennen, in denen der Dichter auf seine eigene Arbeit Bezug nimmt. Näheres hierzu jetzt bei Boris Dunsch: Prologue(s) and Prologi, in: The Oxford Handbook of Greek and Roman Comedy, hg. von Adele Scafuro und Michael Fontaine, Oxford (im Druck).

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Jahre der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts v. Chr. gesetzt wird,⁶⁴ die mithin ungefähr zeitgleich zu den Terenzprologen liegen. Zunächst sei also eine Stelle aus dem Prolog zur plautinischen Casina näher betrachtet:⁶⁵ 

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Qui utuntur vino vetere sapientis puto et qui lubenter veteres spectant fabulas; antiqua opera et verba cum vobis placent, aequom est placere ante 〈alias〉 veteres fabulas: nam nunc novae quae prodeunt comoediae multo sunt nequiores quam nummi novi. nos postquam populi rumore intelleximus studiose expetere vos Plautinas fabulas, antiquam eius edimus comoediam, quam vos probastis qui estis in senioribus; nam iuniorum qui sunt non norunt, scio, verum ut cognoscant dabimus operam sedulo. haec quom primum acta est, vicit omnis fabulas: ea tempestate flos poetarum fuit, qui nunc abierunt hinc in communem locum. sed tamen absentes prosunt 〈pro〉 praesentibus. vos omnes opere magno esse oratos volo benigne ut operam detis ad nostrum gregem.

Der Text enthält zahlreiche Wörter aus dem Begriffsfeld alt, einschließlich des Gegensatzpaares ‚alt‘/‚neu‘, sowie in Kombination damit Begriffe, die auf wertende Haltungen, positive wie negative, bezogen sind. Zu den relationalen Altersangaben ist hier auch das Adjektiv Plautinus zu rechnen,⁶⁶ das die Bildung eines Gattungsbegriffs ‚plautinisch‘ voraussetzt, mithin nicht in die

⁶⁴ Vgl. Karlhans Abel: Die Plautusprologe [künftig zitiert: Plautusprologe], Diss. Frankfurt am Main , S. f. (für eine Datierung vor  v. Chr., dem Aufführungsjahr von Terenz’ Eunuchus); W. Thomas MacCary/Malcolm M. Willcock: Plautus Casina [künftig zitiert: Casina], Cambridge , S.  und  (um / v. Chr.); vgl. auch Zwierlein: Plautus II, S.  mit Anm. . ⁶⁵ Pl. Cas. –. ⁶⁶ Plautinus findet sich in den Plautusprologen sonst nur noch in dem kurzen, zwei Verse umfassenden Vorspann zum Pseudolus, der wahrscheinlich ein zu einer Wiederaufführung gehöriges Interpolament ist; dort ist in ähnlicher Junktur von Plautinae fabulae die Rede (Pseud. ). Seit Cicero (Ep. ad Brut. , a, ) ist es regelmäßig in Bezugnahmen auf Plautus’ Werke belegt (z. B. Hor. Ars poet. ; Quint. Inst. or. , , ).

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Zeit des ersten Auftretens des Plautus fallen kann.⁶⁷ Mit diesem Begriff verbindet sich implizit auch schon derjenige seines Gegenteils, des Nichtplautinischen, das gegenüber dem Plautinischen, das vom Publikum, jedenfalls nach der Behauptung des Prologsprechers, studiose herbeigewünscht wird (V. ), abgewertet erscheint.⁶⁸ Der Text wird mit einem anschaulichen Vergleich eröffnet: Alte Texte sind wie alter Wein.⁶⁹ Der genussvolle Konsum beider Dinge wird auf eine Ebene gestellt: Wer beide schätzt, der hat Geschmack, so die prägnant-wertende Bedeutung von sapere an dieser Stelle (V. ). Hieraus geht hervor, dass die Wiederaufführung von fabulae veteres um die Mitte des . Jahrhunderts v. Chr. wohl keine Seltenheit war.⁷⁰ Im Folgenden wird aus der allgemeinen Vorliebe für antiqua opera et verba geradezu in einem logischen Schluss ebenso ein Gefallen an veteres fabulae hergeleitet, die dem Publikum vor allem gefallen müssten. An dieser Stelle wird wiederum die Qualität des Alters mit der Folgerung verbunden, dass Alter hohe Wertschätzung impliziert. Dieser Leitgedanke bereitet nunmehr die Wendung vor, die sich im folgenden Verspaar vollzieht, nämlich die kontrastiv durchgeführte Abwertung des Neuen, genauer der novae comoediae, mit denen zweifellos Palliatenstücke gemeint sind, die auf der zeitgenössischen Bühne zur Aufführung gelangen.⁷¹ Hier wird wiederum ein Vergleich gezogen, diesmal entsprechend der Aussageabsicht des Prologsprechers ein pejorativer: Theaterstücke, die gerade neu auf die Bühne kommen (nunc wird betont hinzugesetzt), sind noch viel schlechter als nummi novi, neu in Umlauf gebrachte Münzen (und die, so wird impliziert, sind eben schon ziemlich schlecht).⁷² ⁶⁷ Vgl. Willcock: Pseudolus, S. , der zu Recht betont: „Plautina fabula is something more, implying a class of fabulae Plautinae, and strongly suggesting a later origin.“ Vgl. auch Alf Önnerfors: Ein paar Probleme im Plautinischen ‚Pseudolus‘, in: Eranos  (), S. –, hier S. –. ⁶⁸ In die Zeit, in der der Casina-Prolog verfasst wurde, fällt auch die erste echtheitskritische Aktivität im Bereich der antiken Plautusphilologie. Zu dieser vgl. ausführlich unten. ⁶⁹ Eine auch sonst nicht ungebräuchlicher Vergleichung, derer sich insbesondere Cicero (Brut. f.) mit Bezug auf die Modellhaftigkeit alter, aber nicht zu alter, Reden verwendet, die er mit altem, aber nicht zu altem Falernerwein vergleicht. ⁷⁰ So Abel: Plautusprologe, S.  gegen die bis dahin gültige Forschungsmeinung, dass hier die Tatsache der Aufführung einer fabula vetus als solcher erklärt werden solle. Unter anderem zeigt der Plural fabulae veteres, dass dem nicht so ist; vgl. auch die soeben zitierte Bemerkung von Willcock: Pseudolus, S. . ⁷¹ Vgl. Abel: Plautusprologe, S. . ⁷² Der Münzvergleich gibt der Forschung noch immer Rätsel auf. Vor allem konnte die Emission der novi nummi bisher zeitlich nicht eindeutig genug fixiert werden, um ohne andere

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Vom Münzvergleich wird nun der Bogen leicht zu den plautinischen Komödien geschlagen: Weil ihr, das Publikum, eifrig (wie Anhänger oder ‚Fans‘⁷³) nach fabulae Plautinae verlangt, so der Prologus, bringen wir die alte Komödie (antiqua comoedia) dieses Mannes auf die Bühne (edimus)⁷⁴ – das Alter des aufzuführenden Stücks wird also erneut betont. Ihr, die ihr jetzt zum fortgeschrittenen Lebensalter zählt (in senioribus),⁷⁵ habt sie bereits geprüft (probastis),⁷⁶ sagt der Sprecher, und ich weiß, dass diejenigen, die zur jüngeren Generation gehören,⁷⁷ das Stück nicht kennen, aber dass sie es kennenlernen, darum werden wir, die Schauspieltruppe, uns nach Kräften bemühen. Hier wird das Informationsgefälle zwischen den seniores, die bereits erfahrene Theaterbesucher sind, und den iuniores, die zumindest dieses Stück noch nicht kennen, betont. Dem einen Teil der angesprochenen Zuschauer also empfiehlt der Prologus sich, indem er ihr überlegenes Wissen und ihren Geschmack lobt, dem anderen, indem er ihnen seine Dienste anbietet.

⁷³ ⁷⁴

⁷⁵

⁷⁶ ⁷⁷

Zeugnisse allein für sich als Datierungshilfe für den interpolierten Teil des Prologs verwendet werden zu können. Vgl. Hubert Zehnacker: Les «nummi novi» de la «Casina», in: Mélanges offerts à Jacques Heurgon, Rom , S. –, sowie Abel: Plautusprologe, S.  mit Anm.  und MacCary/Willcock: Casina, S. . Es fragt sich allerdings, ob hier überhaupt eine Anspielung auf eine konkrete Münzemission vorliegen muss; das Bild zeitigt jedenfalls auch ohne eine solche einen Effekt. Zum Bildfeld ‚Münze und Wort‘, auf das im Zusammenhang mit Horaz (Ars poet. ) unten noch näher einzugehen sein wird, in der europäischen Literatur grundlegend Harald Weinrich, Sprache in Texten, Stuttgart , S. –. Zur intensiven affektiven Färbung von studiosus vgl. z. B. Cic. Tusc. ,  (zum Begriff φιλόπονος): Itaque industrios homines illi (scil. die Griechen) studiosos vel potius amantis doloris appellant. Die Tätigkeit edere kann, bezogen auf literarische Werke, sowohl verwendet werden, um deren schriftliche Herausgabe bzw. Edition (vgl. Oxford Latin Dictionary [künftig zitiert: OLD], hg. von Peter G. W. Glare, Oxford , s. v. edo ), als auch, um deren Bühnenaufführung (vgl. OLD, s. v. edo a) zu bezeichnen. An dieser Stelle ist prinzipiell beides denkbar, aber wohl letzteres wahrscheinlicher. Nach plautinischem wie terenzischem Sprachgebrauch wäre beides singulär. Der Komparativ senior (zu senex) ist ebenfalls nur hier im Plautuscorpus belegt (und findet sich nicht bei Terenz). Zu den iuniores zählen, v. a. in militärischem Kontext, die waffenfähigen - bis -jährigen (OLD, s. v. iuniores). Im Übrigen ist iuvenis ein nur in den Argumenta zu einigen Plautuskomödien (Epid., Mil., Pseud.) belegtes Wort, das auch bei Terenz nicht vorkommt. Probare als Gegensatz zum Nichtkennen (non norunt) im folgenden Vers zielt hier wohl in erster Linie auf das Kennengelernthaben – dass dieses insgesamt ein billigendes war, klingt mit an. Der Genitiv ist partitiv zu verstehen, vgl. MacCary/Willcock: Casina, S. .

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In den folgenden drei Versen wird eine interessante Information zu den Umständen der ersten Aufführung des Stückes gegeben, in der wiederum der enge Zusammenhang von ‚alt‘ und ‚gut‘ hervorgehoben wird. Als es nämlich zuerst (primum) aufgeführt wurde, da siegte es im Wettkampf (vicit) gegen alle anderen Komödien:⁷⁸ Das war die Zeit, als der flos poetarum gedieh. Bei dem Wort flos, wie bei dem deutschen ‚Blüte‘, schwingen sowohl eine zeitliche Einordnung (im Sinne des Frühen, Jugendlichen) wie auch eine Bewertung (im Sinne eines Höhepunktes, eines In-Blüte-Stehens) mit.⁷⁹ Dieser organizistische Gedanke ist, recht bedacht, leicht paradox: Die (jetzt) Alten von damals repräsentieren den flos der Dichter, deren ἀκμή, während die jetzigen Autoren – das darf man implizit aus dieser Formulierung schließen – die Dürre, das Verblühte darstellen. Und in der Tat fährt der nächste Vers so fort: Jetzt hingegen (wiederum betont nunc, wie schon in V. ), sind alle diese Dichter tot, vielmehr wörtlich: „fortgegangen zu dem Ort, wo wir alle hingehen müssen“ (also: dem Grab).⁸⁰ Die gehobene und bildhafte Ausdrucksweise entspricht dem in diesen Versen angestrebten Pathos, das den Stellenwert der alten Dichter, der besten ihrer Zunft, des flos poetarum, noch hervorheben soll. Spätestens hier wäre für den Prologsprecher Gelegenheit, konkret zu werden und den flos poetarum namhaft zu machen und bei dieser Gelegenheit sogar noch den Verlust eines jeden einzelnen Dichters mit seinen jeweiligen besonderen Begabungen ausführlich zu beklagen. Dies unterlässt er. Nicht einmal Plautus selbst reiht er expressis verbis in die erlesene Gruppe des flos ein, sondern überlässt den Zuschauern diese gedankliche Operation.⁸¹ Ein Grund für diese auffällige Wortkargheit ⁷⁸ MacCary/Willcock: Casina, S.  bezweifeln allerdings, dass dies bedeutet, dramatische Wettbewerbe hätten zu diesem oder einem früheren Zeitpunkt in Rom stattgefunden. ⁷⁹ Vgl. die Belege in OLD, s. v. flos  („the best period, zenith, heyday“) und  („youthful condition or qualities“). Im Plautuskorpus findet sich flos an den übrigen Stellen nur im übertragenen Sinne für guten Wein bzw. dessen Bouquet (Cas. , Curc. , Cist. ); bei Terenz kommt flos einmal vor, wo es auf ein junges Mädchen im Alter von  Jahren bezogen ist (Eun. ); vgl. außerdem Elaine Fantham: Comparative Studies in Republican Latin Imagery, Toronto/Buffalo , S. f. ⁸⁰ Anders als MacCary/Willcock: Casina, S.  halte ich diese Ausdrucksweise (locus communis für „Grab“) nicht für „a traditional euphemism“, sondern für sprachlich auffällig. Ob hier ein griechisches Wortspiel im Hintergrund wirksam ist (τόπος – τάφος)? ⁸¹ MacCary/Willcock: Casina, S. , schlagen vor, dass die erlesene Gruppe Naevius (gestorben  v. Chr.), Plautus (gest. nach  v. Chr.), Ennius (gest.  v. Chr.) und Caecilius (gest.  v. Chr.) umfasst habe, worin ihnen zuzustimmen ist, auch wenn die Liste wahrscheinlich unvollständig ist. Nach den Gepflogenheiten antiker Kanonbildungen wäre eher eine Drei-, Neun-, Sieben- oder Zehnzahl zu erwarten. Zu den Zahlen der Werkauswahlen

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des sonst sehr eloquenten Prologus mag sein, dass eine im Allgemeinen belassene und als vorbildhaft definierte Gruppe wahrscheinlich bei den Zuschauern auf mehr spontane Akzeptanz stößt als eine Aufzählung von Dichterpersönlichkeiten, bei der stets die Gefahr besteht, dass Mitglieder des Publikums den einen oder anderen Autor aus bestimmten Gründen ablehnen, womit zugleich die Allgemeingültigkeit der Auswahlkriterien für die als normativ gefasste Gruppe des flos infrage gestellt wäre. Das Thema Tod wird im nächsten Vers weitergeführt und zu einer leicht paradoxalen Formulierung genutzt. Die alten Dichter sind zwar nicht mehr da, absentes, aber sie sind uns von Nutzen, als wären sie noch da – das ist der Sinn von pro praesentibus.⁸² Interessant ist der betont zugespitzt in Form einer Paronomasie vorgetragene Anspruch des Prologus, dass der flos poetarum trotz seiner physischen Abwesenheit den Anwesenden nützlich sei, wobei das hier Gesagte an das später von Horaz formulierte aut prodesse volunt aut delectare poetae⁸³ erinnert. Das Interpolament schließt mit der Aufforderung an die Zuschauer, dem Stück wohlwollend (benigne) Aufmerksamkeit zu schenken, womit ein letzter wertender Begriff gefallen ist: das Wohlwollen der Zuschauer, das der Prologsprecher für die Aufführung dieses dichterischen Erzeugnisses aus der guten alten Zeit geltend zu machen wünscht.  Die Terenzprologe Die andere wichtige Quelle für wertende Äußerungen zur Arbeit des Plautus im zweiten Jh. v. Chr. sind vor allem die konkret in den Terenzprologen greifbaren literarästhetischen Urteile – überhaupt sind dies die ersten Äußerungen zu Plautus, deren Urheberschaft einer anderen namentlich bekannten historischen Persönlichkeit zugeordnet werden kann. In diesen Texten ist darüber im Rahmen hellenistisch-gelehrter Kanonisierungsprozesse vgl. Jürgen Dummer: Entwicklungen des Kanongedankens in der Antike, in: Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie, hg. von Gerhard R. Kaiser und Stefan Matuschek, Heidelberg , S. –, besonders S. f. ⁸² So auch MacCary/Willcock: Casina, S. ; allerdings ist der Vers unvollständig überliefert und pro eine Konjektur von Seyffert, die sich allerdings (im Gegensatz zu et, das Geppert vorgeschlagen hatte, und anderem) bei den Herausgebern, wohl zu Recht, durchgesetzt hat; s. zuletzt den kritischen Apparat der Ausgabe von Cesare Questa (Sarsina/Urbino ) zur Stelle. ⁸³ Hor. Ars poet. . Der Vers reflektiert letztlich auch hellenistische Dichtungstheorie; vgl. Brink: Horace, S. f.; Ernst-Richard Schwinge: Künstlichkeit von Kunst. Zur Geschichtlichkeit der alexandrinischen Poesie, München , S.  Anm. .

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hinaus, jedenfalls für uns, auch das erste Mal eine Kanonbildung greifbar: Plautus wird in eine Reihe mit anderen, ebenfalls namentlich benannten Autoren gestellt, die nunmehr, bereits wenige Jahrzehnte (oder auch nur Jahre) nach ihrem Wirken (bzw. ihrem Tod), das Prädikat der Mustergültigkeit zugedacht erhalten. Man wird dabei, sicherlich nicht ganz zu Unrecht, an den bereits aus dem Casina-Prolog bekannten Begriff des flos poetarum erinnert, dessen konkrete Identität allerdings dort im Dunkeln blieb. Bei Terenz werden die auctores hingegen in der Regel konkret benannt – im Gegensatz zu dem malevolus vetus poeta,⁸⁴ Luscius Lanuvinus, dem ästhetischen Kritiker und Dauerwidersacher des Terenz, über dessen Namen uns nur die antike Kommentartradition informiert. Bei Terenz wird der Name Plautus bereits mit denen anderer römischer Dramatiker verbunden und programmatisch zu auctores erhoben (And. –):



Qui quom hunc accusant, Naevium Plautum Ennium accusant quos hic noster auctores habet, quorum aemulari exoptat neglegentiam potius quam istorum obscuram diligentiam.

Vergleichbar ist eine Stelle im Heauton timorumenos (V. f.), wo Terenz sich auf das bonorum exemplum beruft, an deren Vorgehen er sein dramatisches Schaffen ausrichtet. Es ist wahrscheinlich, dass es sich bei den boni entweder vollständig um die im Andria-Prolog genannte Dichtertrias handelt, oder dass doch zumindest Plautus an dieser Stelle mitzudenken ist.⁸⁵ Die Notwendigkeit, sich überhaupt auf auctores berufen zu müssen – Plautus tut dies nicht, er erwähnt Rivalen –, liegt wohl darin begründet, dass die terenzischen Palliaten aufgrund ihres ästhetischen Programms als ‚neu‘ empfunden werden, weswegen insbesondere darauf hingewiesen werden muss, dass sie dennoch ‚makellos‘ seien. So erklärt sich auch die Bitte ans Publikum, die der Prologsprecher im selben Stück äußert (VV. –):



Facite aequi siti’, date crescendi copiam novarum qui spectandi faciunt copiam sine vitiis.

⁸⁴ Die Formulierung: Ter. And. f., H.T. .; nur vetus poeta: Phorm. , . ⁸⁵ So auch A. J. Brothers: Terence – The Self-Tormentor, Warminster , S. .

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Die Novität dieser Komödie wird dann wenig später nochmals betont (VV. –):



Nam nunc novas qui scribunt nil parcunt seni siquae laboriosast, ad me curritur; si lenis est, ad alium defertur gregem.

Der Umkehrschluss aus diesen beiden Äußerungen lässt sich kaum vermeiden: Es herrscht ein ästhetisches Vorurteil, dass Neues eher mit vitia behaftet ist als Erprobtes, Altes. Gegen diese Ansicht muss sich Terenz mit Bemerkungen wie diesen durchzusetzen versuchen. Umgekehrt wird das Alter der Vorlagen betont; so an einer Stelle im Eunuchus-Prolog, wo der Protest des Luscius Lanuvinus gegen das Stück in folgenden Worten referiert wird (VV. –):



Exclamat furem, non poetam fabulam dedisse et nil dedisse verborum tamen: Colacem esse Naevi, et Plauti veterem fabulam; parasiti personam inde ablatam et militis.

Terenz entgegnet, er habe nicht gewusst, dass zwei Dichter die Vorlage bereits bearbeitet hätten; das Stück sei eigentlich menandrisch, aber vor ihm, Terenz, eben schon zweimal bearbeitet worden (VV. –): 

Colax Menandrist: in east parasitus Colax et miles gloriosus: eas se non negat personas transtulisse in Eunuchum suam ex Graeca; sed eas fabulas factas prius Latinas scisse sese id vero pernegat.

Schon diese eine Terenzstelle zeigt, dass selbst wenige Jahre nach einer Plautusaufführung über die Authentizität eines Stückes keine Gewissheit mehr herrschte, weil man einfach nicht mehr wusste, dass es das Stück je gegeben hatte bzw. es an Urkunden fehlte, die einem einen Überblick über die Produktionen der Vergangenheit erlaubt hätten.⁸⁶ ⁸⁶ Es gibt keinen Grund anzunehmen, Terenz habe dieses Argument nur vorgeschützt, vgl. Williams: Poets, S. . Auch über die Plautinität von Stücken können verschiedene Meinungen bestehen, wie etwa die Differenz zwischen Terenz (Ad. –) und Varro (bei Gell. Noct. Att. , , ) zeigt, wo eine Komödie Commorientes, basierend auf den diphileischen Synapothneskontes, einmal dem Plautus zu- und einmal ihm abgesprochen wird. Umge-



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Nach dieser situationsspezifischen Verteidigung erweitert Terenz allerdings seine Argumentation und sagt schließlich in sentenziösem Ton, es gebe ohnehin nichts (bezogen wohl auf den Bereich der Dichtung), was nicht schon früher einmal formuliert worden wäre, und daher solle man Nachsicht walten lassen, wenn die ‚Neuen‘ das täten, was bereits die ‚Alten‘ – man darf wohl wieder zumindest an Naevius und Plautus denken⁸⁷ – getan hätten (VV. –): 

[...] Denique nullumst iam dictum quod non dictum sit prius qua re aequom est vos cognoscere atque ignoscere quae veteres factitarunt si faciunt novi.

Das heißt, schon Terenz, obwohl erst vergleichsweise kurze Zeit nach Plautus tätig, führt Naevius und Plautus als veteres an, auf deren Autorität er sich wiederholt beruft. Das Kriterium des Alters wird eingeführt und denjenigen Autoren zugeordnet, an denen man sich als Vorbilder orientiert, die man aber zugleich zu überwinden trachtet. Daher nimmt es nicht wunder, dass die grundsätzliche Frontstellung zwischen den Qualitäten ‚neu‘ und ‚alt‘ ein wiederkehrendes Thema in den Terenzprologen darstellt; so auch im Phormio, wo in paradoxaler Formulierung der alte und der neue Dichter als gegenseitige Voraussetzung ihrer jeweiligen Arbeit in der imaginären hypothetischen Äußerung eines Dritten gegenübergestellt werden (vv. –):



Vetu’ si poeta non lacessisset prior, nullum invenire prologum posset novos quem diceret, nisi haberet cui male diceret.

Diese Stellen aus den Terenzprologen zeigen, dass novus und vetus hier als Schlagworte in einer literaturästhetischen Kontroverse verwendet werden,

kehrt wurde die Boeotia von Varro für plautinisch gehalten, während Gellius (Noct. Att. , , ) sich dem Urteil derjenigen anschließt, die einen gewissen Aquilius für den Autor halten. Auf Urkunden scheinen sich solche Diskussionen, soweit sie heute überhaupt noch nachvollziehbar sind, nicht gestützt zu haben. ⁸⁷ So auch Ronconi: Fortuna, S. .

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

um gegenüberstehende Lager zu bezeichnen.⁸⁸ Es mag sein, dass Luscius Lanuvinus tatsächlich biologisch älter war als Terenz,⁸⁹ aber das ist nicht entscheidend; entscheidend ist, dass beide unterschiedliche ästhetische Ziele verfolgen, dass sie sich jeweils anderen künstlerischen Normen verpflichtet fühlen,⁹⁰ wobei ihr (offenbar regelmäßiges) Aufeinandertreffen stets von einem gleichbleibenden gegenseitigen Unverständnis geprägt gewesen zu sein scheint. Die Wertungen von ‚alt‘ und ‚neu‘ stehen hier in deutlichem Gegensatz zu dem soeben untersuchten Casina-Prolog, wo ‚alt‘ das Erprobte und Empfehlenswerte bezeichnet und ‚neu‘ das zu Verwerfende: Dies ist gerade die Einstellung, gegen die Terenz sich wiederholt verteidigt. Es ist schon allein daher wahrscheinlich, dass die Terenzprologe und das Interpolament im Casina-Prolog zeitlich nahe beieinander liegen und dass es in beiden letztlich um ganz ähnliche, vielleicht sogar dieselben Debatten geht.⁹¹ In diesem Diskursumfeld bezieht Terenz deutlich Position. Man mag zwar versuchen, eine gute Vorlage getreu ins Lateinische zu übertragen, aber damit hat man noch lange kein gutes Werk geschaffen. So kritisiert Terenz seinen Kritiker pointiert (Eun. f.): Qui bene vortendo et easdem scribendo male ex Graecis bonis Latinas fecit non bonas.

⁸⁸ Vgl. auch Ronconi: Fortuna, S. : „Il circolo degli Scipioni era in certo senso il banditore di una poesia «nuova»: la polemica di Terenzio, il poeta novus, con Luscio Lanuvino, il vetus poeta, come la polemica di Lucilio contro Accio, affermava il culto della forma nitida, limata, e della purezza linguistica, contro la forma incondita dei poeti arcaici che amavano le parole sesquipedali, non risparmiavano grecismi, e cercavano nell’enfasi l’espressione della solennità epica o tragica.“ ⁸⁹ Davon wird allgemein ausgegangen, vgl. z. B. Eckard Lefèvre: Luscius Lanuvinus, in: Die Archaische Literatur: Von den Anfängen bis Sullas Tod. Die vorliterarische Periode und die Zeit von  bis  v. Chr., hg. von Werner Suerbaum, München  (= Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, hg. von Reinhart Herzog und Peter Lebrecht Schmidt, Erster Band), S. f. (= § ). ⁹⁰ Für die in diesem Aufsatz verfolgten Fragestellung macht es keinen Unterschied, welchen Inhalt im einzelnen das jeweilige literarästhetische Programm hatte. Ob es etwas mit dem Vorwurf von contaminatio zu tun hatte, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Zur Problematik des Begriffs vgl. Boris Dunsch: Some Notes on the Understanding of Terence, Heauton timorumenos  [künftig zitiert: Notes], in: C&M  (), S. –, hier S. f. ⁹¹ Vgl. Zwierlein: Plautus IV, S. –, der noch weitere Vorschläge für Interpolamente im Plautustext macht, die mit den Terenzprologen wenn nicht zeitgleich, so doch auch nicht weit von ihnen entfernt zu datieren sind.

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Boris Dunsch

Es bleibt eben immer, so der Gedanke, auch dann, wenn man eine Vorlage bearbeitet, genug Raum dafür, ein eigenständiges Werk zu schaffen und nicht nur eine uninspirierte Kopie.⁹² Die eben betrachtete Textauswahl deutet darauf hin, dass bereits zu Lebzeiten des Plautus, vor allem aber danach, in Rom literarische Debatten, und zwar zu Zeiten des Terenz nachweislich mit einiger Heftigkeit, geführt wurden. Dies setzt einen (wie auch immer im Einzelnen sich gestaltenden) Literaturbetrieb voraus, dem im Übrigen auch erste Tendenzen zu einer Kanonbildung nicht fremd sind. Überhaupt kann man angesichts des Materials in den Terenzprologen schon für die ersten Jahrzehnte des . Jahrhunderts v. Chr., spätestens für dessen zweite Hälfte, von einer Verbreitung wichtiger Diskurselemente hellenistischer Literaturtheorie zumindest unter den Verfassern von Dramen in Rom ausgehen.⁹³ So kann sich Terenz etwa – es sei hier dahingestellt, ob zu Recht oder nicht – auf die Vorgehensweise seiner bereits verstorbenen Dichterkollegen Naevius, Plautus und Ennius⁹⁴ als gültige Muster, als Vorbilder (auctores) berufen.⁹⁵  Accius und die gelehrte Plautuskritik Vergegenwärtigt man sich, dass Ennius den Anspruch erhebt, dicti studiosus zu sein,⁹⁶ dass bereits Plautus als ausschließlich auf die Komödie spezialisierter Dichter in seinen Stücken literarkritische Thesen reflektiert und dass Terenz in seinen Prologen regelmäßig geradezu ein kohärentes literarästhetische Programm propagiert, was auch in den anonym überlieferten Interpolamenten der Plautusprologe geschieht, dann erscheint es nur konsequent, dass mit der auf Terenz folgenden Dramatikergeneration die ersten regelrechten ⁹² So auch Williams: Poets, S. . ⁹³ Vgl. hierzu die terminologischen Teile der Untersuchung von Dunsch: Notes, besonders S. –. ⁹⁴ Für Ennius (gestorben  v. Chr.) ist eine persönliche Begegnung mit Terenz (geboren / v. Chr.) chronologisch möglich, aber nicht wahrscheinlich. ⁹⁵ Das Epitaph auf Plautus (überliefert bei Gell. Noct. Att. , , ; angeblich aus Varros De poetis I, wo dieser behaupte, das Epigramm stamme von Plautus selbst, was angesichts des Textes kaum glaubwürdig ist) bleibt hier außer Betracht, da es für die auf die Bewertung des Alten/Neuen bezogene Themenstellung keine Aussgekraft besitzt und überdies nur schlecht datiert werden kann. Es wurde in der Forschung überhaupt die Echtheit des Textes angezweifelt, vgl. Blänsdorf: Plautus, S. f. (= §  A.a mit T. und Lit.). ⁹⁶ Enn. Ann.  Skutsch; vgl. v. a. Suerbaum: Untersuchungen, S. –, Herbert Prinzen: Ennius im Urteil der Antike [künftig zitiert: Ennius], Stuttgart/Weimar , S. f.

Die plautinische Komödie

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Dichtergelehrten auftreten, wie es etwa L. Accius ( – ca.  v. Chr.) war, dessen lange Lebenszeit auch die Spätphase der Palliata in ihrer Gesamtheit umfasst.⁹⁷ Sobald aber einzelnen Autoren (oder auch Autorengruppen) Vorbildcharakter zugesprochen wird, ist es auch erforderlich, sicherzustellen, dass die Vorbilder, auf die man sich beruft, authentisch sind, d. h. im Sinne einer verschrifteten Literaturtradition der Person des jeweiligen Autors zugerechnet werden dürfen, unter dessen Namen sie firmieren. Unter dem erfolgreichen Markennamen ‚Plautus‘ zirkulierten wohl schon zu dessen Lebzeiten zahlreiche Pseudepigraphen, mit denen Trittbrettfahrer aus der Popularität dieses Bühnenautors Kapital zu schlagen versuchten.⁹⁸ Die Plautuskomödien waren daher, anders offenbar als z. B. die Texte des Terenz, schon früh in den Prozess einer lexikalisch-stilistisch ausgerichteten Echtheitskritik einbezogen worden, die es späteren Schriftstellern leicht machte, sich gerade aus dem Wortschatz des Plautus zu bedienen. Zu dieser Entwicklung mögen zwei Faktoren vor allem beigetragen haben: Zum einen, dass Plautus in der Tat unzählige lateinische Ausdrücke zum ersten Mal geprägt zu haben scheint (er geht souverän und kreativ mit den Morphemen der Sprache um), zum anderen dass es, zumindest in der Phase der Mouvance⁹⁹ seiner Texte, keine deutliche Kennzeichnung seiner Stücke als ‚plautinisch‘ gab, wie sie in anderen Fällen gegeben war, denkt man etwa an die Terenzprologe, die ja in gewisser Weise auch Kennzeichnungen der Autorschaft (und insofern einer Art vorangestellter ‚Sphragis‘ vergleichbar) sind. So erklärt sich, abgesehen natürlich von der Tatsache, dass hier auch Momente älterer hellenistischer Literarkritik vorbildhaft wirksam wurden, ⁹⁷ Zu Accius vgl. Ekkehard Stärk: L. Accius [künftig zitiert: Accius], in: Die Archaische Literatur: Von den Anfängen bis Sullas Tod. Die vorliterarische Periode und die Zeit von  bis  v. Chr., hg. von Werner Suerbaum, München  (= Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, hg. von Reinhart Herzog und Peter Lebrecht Schmidt – Erster Band), S. – (= § ). ⁹⁸ Schon allein aus diesem Grund erscheinen übrigens die Überlegungen von Holt N. Parker: Plautus vs. Terence – Audience and Popularity Re-Examined [künftig zitiert: Plautus], in: AJPh  (), S. –, als unzureichend. ⁹⁹ Zum diesem aus der Mediävistik in die Plautusforschung übernomenen Begriff vgl. Deufert: Textgeschichte, S. f. Vgl. jedoch die eindringliche Kritik einer unreflektierten Übernahme dieses mediävistischen Begriffs in die klassisch-philologische bei Gregory Nagy: Poetry as performance – Homer and beyond, Cambridge , S. –; für Texte wie die plautinischen Komödien, die „outright performance traditions“ aufwiesen, sei die Verwendung des Begriffs jedoch durchaus angemessen, wie Nagy (ebd., S. ) zu Recht bemerkt. Mouvance in diesem Sinne ist eine „recomposition-in-performance“ (ebd., S. ).

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Boris Dunsch

sicherlich zu einem guten Teil das Aufkommen echtheitskritischer Fragestellungen im späten zweiten und im ersten Jh. v. Chr., wie es mehrfach gerade für die plautinische Komödie bezeugt ist. So erstellte offenbar Accius, ähnlich wie einige andere Gelehrte,¹⁰⁰ einen Index von Komödien, die als ambiguae galten. Ob Accius dies nun im Rahmen seiner Didascalica oder seiner Pragmatica oder einer anderen, uns unbekannten Schrift getan hat¹⁰¹ – Voraussetzung hierfür war jedenfalls, dass die Komödien des Plautus nicht, wie etwa die des Naevius, Caecilius oder des Terenz, durch frühe Kanonbildung in ihrem Bestand recht gut gesichert waren; in der Tat war dies in der Frühphase der Plautustradition auch noch nicht der Fall – Terenz konnte von Luscius Lanuvinus erfolgreich darauf aufmerksam gemacht werden, dass er ein Plautusstück übersehen habe. Überdies wurde Plautus niemals kanonisierter Schulautor; möglicherweise nicht zuletzt aus dem Grund, weil es eben keine letzte Gewissheit über die Authentizität der unter seinem Namen umlaufenden Texte gab.¹⁰² Es wundert im Übrigen nicht, dass als Kriterium echtheitskritischer Untersuchungen vor allem die Untersuchung der Lexik ins Blickfeld rückte – der Lexik, die auch im weiteren Verlauf der Geschichte der Plautusrezeption und -beurteilung noch solches Gewicht besitzen sollte. Die Lexik steht auch zentral im Blickfeld der antiken imitatio, die, ebenso wie die philologisch-grammatische Kommentartradition, einzelstellenbezogen verfährt.¹⁰³ Damit gilt aber, was hier wenigstens kurz angemerkt sei, dass der authentische ‚Plautus‘, der beim (auch vorläufigen) Abschluss einer echtheitskritischen Operation als ¹⁰⁰ Vgl. Gell. Noct. Att. , , : Verum esse comperior quod quosdam bene litteratos homines dicere audivi, qui plerasque Plauti comoedias curiose atque contente lectitarunt, non indicibus Aelii nec Sedigiti nec Claudii nec Aurelii nec Accii nec Manilii super his fabulis quae dicuntur ‚ambiguae‘ crediturum, sed ipsi Plauto moribusque ingeni atque linguae eius. Noct. Att. , ,  zitiert Gellius dann Accius, und zwar eine im ersten Buch von Varros Schrift De comoediis Plautinis überlieferte Äußerung, nach der die Stücke Gemini Lenones, Condalium, Anus, Bis compressa, Boeotia, Agroecus sowie Commorientes dem Plautus bzw. Macc(i)us Titus abgesprochen werden müssen. ¹⁰¹ Zum Inhalt dieser Schriften des Accius vgl. Stärk: Accius, S. f. (= § b) sowie Niall W. Slater: Two Republican Poets on Drama – Terence and Accius, in: Drama  (), S. –, besonders S. –. ¹⁰² Vgl. Parker: Plautus, S. , der mit gutem Grund auch eine kontinuierliche Aufführungstradition schon allein angesichts der langwierigen und kontroversen Auseinandersetzungen im Rahmen der plautinischen Kanonbildung für unwahrscheinlich hält. ¹⁰³ Vgl. Gregor Vogt-Spira: Klage nach glücklicher Rettung: Lotichius, Elegie , , in: Lotichius und die römische Elegie, hg. von Ulrike Auhagen und Eckart Schäfer, Tübingen , S. –, hier S.  mit Anm. , besonders mit Bezug auf Macr. Sat. , , ff.

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Ergebnis in Form eines kanonisierten Textbestandes zur weiteren Tradierung festgehalten wird, immer in erster Linie als Produkt eben dieses Selektionsprozesses selbst zu gelten hat, unabhängig davon, für welchen Zeitpunkt in der Vergangenheit man einen Abschluss der Auswahl annimmt, dass also, um es zugespitzt zu formulieren, der gesamte kritische Auswahlvorgang ein letztlich zirkulärer Prozess ist, an dessen Ende nur dasjenige als ‚plautinisch‘ stehen kann, was zu dessen Beginn bereits eben unter diesem Begriff postuliert und verstanden wurde. Damit verliert auch die in einigen jüngeren Arbeiten hervorgehobene sprachlich-stilistische Uniformität als Kriterium der Echtheitskritik¹⁰⁴ am Plautuskorpus an Bedeutung.¹⁰⁵  Volcacius Sedigitus, Aelius Stilo und Varro Die bereits bei Terenz fassbare Tendenz der Bildung von Gruppen beispielhafter bzw. hervorragender Vertreter einer Gattung findet sich in großer Konsequenz auch im so genannten ‚Kanon‘ des Volcacius Sedigitus,¹⁰⁶ dessen Entstehungszeit in der Forschung auf frühestens  v. Chr. angesetzt wird,¹⁰⁷ und ¹⁰⁴ Vgl. z. B. Reichel: Überlegungen, S. . ¹⁰⁵ Dies gilt nicht für metrische Kriterien, da Feinheiten der metrischen Gestaltung, zumal der Palliata, deren Metrik schon zur Zeit Ciceros nicht mehr vollständig verstanden wurde, viel schwerer nachzuahmen sind als textuelle Oberflächenphänomene, zu denen neben der allgemeinen Lexik auch die Art der eingesetzten Metaphorik u. ä. gehört. Adrian S. Gratwick, Plautus Menaechmi, Cambridge , S.  schließt aufgrund seiner Untersuchungen daher: „The style certainly seems to be someone’s, not a team’s. But variety is itself a salient feature of this style, the plays as we have them have in varying degrees suffered cuts and revisions, and there is the possibility of occasional joint authorship.“ Ähnlich bereits Ders.: Drama, in: The Cambidge History of Classical Literature, II: Latin Literature, hg. von E. J. Kenney/W. V. Clausen,Cambridge , S. –, hier S. f. und Ders.: Plautus, S. ; nicht überzeugend dagegen Reichel: Überlegungen, S.  Anm. , der „die Sensibilität römischer Dramenautoren“ (also möglicher Nachdichter) überschätzt. ¹⁰⁶ Hierzu immer noch umfassend Theodor Ladewig: Ueber den Kanon des Volcatius Sedigitus, in: Theodor Ladewig – Schriften zum römischen Drama republikanischer Zeit, hg. von Ursula Gärtner und Ekkehard Stärk, München/Leipzig , S. – (zuerst erschienen als Schulprogramm, Neustrelitz ); vgl. jetzt auch Aude Lehmann: Volcacius Sedigitus, auteur du premier «canon» des poètes comiques latins, in: Latomus  (), S. –. ¹⁰⁷ Vgl. Werner Suerbaum: Volcacius Sedigitus, in: Die Archaische Literatur: Von den Anfängen bis Sullas Tod. Die vorliterarische Periode und die Zeit von  bis  v. Chr., hg. von Werner Suerbaum, München  (= Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, hg. von Reinhart Herzog und Peter Lebrecht Schmidt – Erster Band), S. –, hier S.  (= §  a).

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Boris Dunsch

auf den hier wenigstens am Rande eingegangen sei (fr.  Blänsdorf; bei Gell. Noct. Att. , ):



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Multos incertos certare hanc rem vidimus, palmam poetae comico cui deferant. eum meo iudicio errorem dissolvam tibi, ut, contra si quis sentiat, nihil sentiat. Caecilio palmam Statio do comico. Plautus secundus facile exuperat ceteros. dein Naevius, qui fervet, pretio in tertiost. si erit, quod quarto detur, dabitur Licinio. post insequi Licinium facio Atilium. in sexto consequetur hos Terentius. Turpilius septimum, Trabea octavum optinet, nono loco esse facile facio Luscium. decimum addo causa antiquitatis Ennium.

Aus diesem kurzen Text ließe sich manches Interessante entnehmen, z. B. die Information, dass gerade zu seiner Entstehungszeit die Frage der literarkritischen Einordnung der Palliatendichter (denn um diese geht es hier; so ist auch der Begriff poeta comicus in V.  zu verstehen) von großer Aktualität war und sehr kontrovers diskutiert wurde. Außerdem scheint Volcacius die Palliata als abgeschlossen zu betrachten, da er ohne Bedenken auf eine Zahl von jüngeren Dichtern, die er zu je drei Gruppen mit drei Namen gruppiert, einen zehnten folgen lässt, der, gleichsam außer Konkurrenz stehend, die Aufzählung beschließt. Durch Anfügung des Ennius verliert Trabea in V.  seinen Anspruch auf einen eigenen Vers und rückt mit Turpilius enger zusammen. So bleibt das Dreierschema der Verse gewahrt; der Name des Ennius am Ende aber bildet einen Störfaktor in diesem Schema. Die Enumeration macht den Eindruck eines abgeschlossenen Katalogs, und es wundert daher nicht, dass sie in der uns erhaltenen Form überliefert wurde. Die Begründung, Ennius causa antiquitatis in die Liste aufzunehmen, deutet bereits in eine Richtung der Literaturkritik, die ästhetische und chronologische Argumente zunehmend miteinander verquickt, eine Sichtweise, die immer mehr an Bedeutung gewinnen sollte und deren Inhalt man kurz so zusammenfassen kann: alt ist ehrwürdig, ehrwürdig ist gut. Immerhin so gut, dass bloßes Alter als Kriterium ausreicht, um in einen Kanon aufgenommen zu werden, auch wenn – und das ist hier von Volcacius impliziert – sonst wohl

Die plautinische Komödie



nicht viel dafür spricht.¹⁰⁸ Die Beurteilung des Plautus durch Volcacius wiederum ist positiv und bezieht sich, wenn man der Forschung glauben darf, vor allem auf seine Sprache und seinen Stil, die als ausgewogen empfunden werden.¹⁰⁹ Höchstes Lob erhält Plautus für seine λέξις auch von Aelius Stilo, einem ungefähren Zeitgenossen des Volcacius, der wie dieser und Accius einen Index der Komödien des Plautus verfasste und der den sermo Plautinus ausweislich eines Zeugnisses Varros bei Quintilian (Inst. or. , , ) als das Mittel bezeichnete, dessen sich die Musen bedienen würden, wollten sie Latein sprechen: licet Varro Musas, Aeli Stilonis sententia, Plautino dicat sermone locuturas fuisse, si Latine loqui vellent.¹¹⁰ Varro (– v. Chr.), ein Schüler des Aelius Stilo, äußerte sich ebenfalls positiv über Plautus’ Sprachgestaltung (sermones), ohne aber auf das Problem des Alters des Sarsinaten einzugehen: In argumentis Caecilius poscit palmam, ¹⁰⁸ Hier wird zum ersten Mal zumindest am Rande ein Kriterium geäußert, das konstitutiv für die Wahrnehmung des ‚Archaischen‘ bis in unsere Zeit geblieben ist. Das ‚Archaische‘ ist eben primär das chronologisch Alte, dem Anfang oder Ursprung (ἀρχή) Nähere. Das bedeutet, dass das, was den Stempel des Ungewöhnlichen trägt, ohne aber neu zu sein, zunächst als wiederbelebtes Altes betrachtet werden kann. Auf die Lexik bezogen heißt dies, dass ein ungewöhnlicher Ausdruck, der sich in einem Text findet und der gleichsam eine gewisse Patina besitzt, darauf hindeutet, dass der Text alt ist. Damit aber ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Text einer Zeit entstammt, in der eben diejenigen Schriftsteller gelebt haben, die als auctores gelten, weil man sich auf ihre schriftstellerische Praxis beruft, groß, so groß, dass man das (urkundlich, z. B. durch eine Didaskalie, belegte oder das durch Indizien, z. B. stilistische Eigenheiten, vermutete) Alter eines Textes geradezu zu einem echtheitskritischen Kriterium erheben kann. ¹⁰⁹ Deufert: Textgeschichte, S. : „Sein Urteil über den Stil des Plautus teilt Volcacius nicht mit, doch darf man aus der Plazierung zwischen dem mimicus Caecilius und dem fervens Naevius wohl schließen, dass er auch an Plautus die kraftvolle komische Sprache, die von der wohltemperierten Mitte nach oben oder unten ausschlägt, schätzte.“ Die hier greifbare Beurteilung des Plautus – besondere Wertschätzung v. a. des plautinischen Stils, Lob für seine elocutio – verdankt sich wohl in erster Linie der Rezeption der Komödien als Lesetexte. Diese Sicht bleibt während der republikanischen Zeit prägend. Im peripatetischen Schema von λέξις, σύνθεσις τῶν πραγμάτων und ἦθος liegt der Schwerpunkt dieser Qualitätsurteile hier eindeutig auf der λέξις. ¹¹⁰ Nicht übersehen werden darf freilich, dass es sich um ein irreales Bedingungsgefüge handelt: Die Musen wollen eigentlich kein Latein sprechen. Dies ist bei der Deutung dieser Äußerung zu bedenken, deren lobender Charakter nur durch Quintilian verbürgt ist und die sonst auch z. B. als Kritik an der patrii sermonis egestas der Römer gelesen werden könnte. Der Vergleich mit dem Urteil über Xenophon, das bei Cic. Or.  überliefert ist (Xenophontis voce Musas quasi locutas ferunt), lässt jedenfalls im Prinzip die Möglichkeit offen, dass Aelius Stilo diese Aussage ironisiert hat.

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Boris Dunsch

in ethesi Terentius, in sermonibus Plautus (fr.  Funaioli; bei Non. p. ,  M.).¹¹¹ Zu bedenken ist dabei aber, dass Varro mit sehr großer Wahrscheinlichkeit alle drei genannten Dramatiker – Caecilius, Terenz und Plautus – als Trias zusammengefasst gesehen und ihre Leistungen auf allen drei Gebieten, also λέξις (sermones), σύνθεσις τῶν πραγμάτων (argumenta) und ἦθος (von Varro selbst verwendet), jeweils als herausragend verstanden haben, wobei jeweils einem Autor die Spitzenposition unter je einem spezifischen Aspekt zukommt.¹¹²  Cicero und Plautus noster Erst bei Cicero (– v. Chr.), der mit Varro gut bekannt war, finden sich wieder Hinweise auf das Bewusstsein, dass – um einen anachronistischen Vergleich zu wagen – die Uhren in verschiedenen Kulturgemeinschaften verschieden gehen. Aus Sicht der Römer sind die attischen Redner alte Männer (Cicero verwendet den Lebensaltervergleich), aus Sicht der Athener junge Männer (Cic. Brut. )¹¹³: Videsne igitur vel in ea ipsa urbe, in qua et nata et alta sit eloquentia, quam ea sero prodierit in lucem? si quidem ante Solonis aetatem et Pisistrati de nullo ut diserto memoriae proditum est. at hi quidem, ut populi Romani aetas est, senes, ut Atheniensium saecla numerantur, adulescentes debent videri. nam etsi Servio Tullio regnante viguerunt, tamen multo diutius Athenae iam erant, quam est Roma ad hodiernum diem. nec tamen dubito quin habuerit vim magnam semper oratio.

Für Cicero ist Plautus ein nahestehender Dichter, ein Gemeingut des römischen Volkes, dem er in einem Exkurs zur Witztheorie das vertraulich klingende Possessiv noster¹¹⁴ zugedenkt und ihn in einem Atemzug mit den Dichtern der Alten Komödie nennt (De off. , )¹¹⁵: ¹¹¹ Vgl. dazu Aude Lehmann: Varron critique littéraire. Regard sur les poètes latins archaïques, Brüssel , S. f. ¹¹² Insofern ist Deufert: Textgeschichte, S.  Anm.  etwas zu pessimistisch, wenn er sagt, dass wir nicht wissen, wie Varro den Plautus hinsichtlich der Charakterzeichnung beurteilt habe. ¹¹³ Andererseits zählt er Aristoteles, Theophrast, Theodekt und Ephorus zu den antiqui (Cic. Or. ). Zum innovativen, ja kühnen Konzept, das Cicero im Brutus umsetzt, vgl. Gregor Vogt-Spira: Rednergeschichte als Literaturgeschichte. Ciceros Brutus und die Tradition der Rede in Rom, in: Rede und Redner – Bewertung in den antiken Kulturen. Kolloquium Frankfurt a. M., .–. Oktober , Möhnesee , S. –.

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Duplex omnino est iocandi genus, unum inliberale petulans flagitiosum, obscenum, alterum elegans urbanum ingeniosum facetum, quo genere non modo Plautus noster et Atticorum antiqua comoedia, sed etiam philosophorum Socraticorum libri referti sunt, multaque multorum facete dicta, ut ea quae a sene Catone conlecta sunt, quae vocantur apophthegmata.

Auch wenn er Caecilius dem Plautus vorzieht,¹¹⁶ ist die geradezu zeitlose Hervorhebung des Plautus durch noster bemerkenswert, das den Sarsinaten gleichsam zu einem Zeitgenossen Ciceros macht. Im Übrigen spricht Cicero von der elegantia des Plautus – ein Urteil, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der antiken Plautuskritk zieht und bis in die Literatur der christlichen Spätantike wiederfindet.¹¹⁷ Mit seiner Einschätzung des plautinischen Witzes steht Cicero ganz im Gegensatz zu den Äußerungen des Horaz,¹¹⁸ auf die gleich noch näher einzugehen sein wird. Doch trotz des positiven Urteils finden sich nur vergleichsweise wenige Bezugnahmen auf Plautus bei Cicero, gerade auch im Vergleich zu Terenz, den er viel häufiger zitiert,¹¹⁹ und Caecilius¹²⁰. Bezeichnend ist z. B., wie er an prominenter Stelle in seiner an Bezügen zur Palliata insgesamt reichen Rede Pro Caelio (f.) Terenz und Caecilius, nicht aber Plautus heranzieht, um eindrucksvoll charakterisierte Komödienväter zu präsentieren.¹²¹ Über¹¹⁴ Schon im Prolog der Vidularia wird poeta noster offenbar von Plautus gesagt, vgl. Leo: Forschungen, S. . ¹¹⁵ Zur Deutung dieser Stelle vgl. in Kürze Boris Dunsch: Homo an liber? Zur Ethik des Scherzens in Cicero, De officiis , f., in: Hyperboreus  (). ¹¹⁶ Vgl. Enrica Malcovati: Cicerone e la poesia [künftig zitiert: Cicerone], Pavia , S. f. ¹¹⁷ Belege bei Iancu Fischer: Encore sur le caractère de la langue de Plaute [künftig zitiert: Plaute], in: StCl  (), S. –, hier S. , für die Spätantike bei Jürgens: Pompa, S. . Unzutreffend ist die auch heute noch ab und an kolportierte Auffassung von Wilhelm Zillinger: Cicero und die altrömischen Dichter, Würzburg (Diss. Erlangen) , S. , Cicero tadle Plautus nirgends, lobe ihn aber auch nie, weil er ihm „zu derb“ sei. ¹¹⁸ Vgl. Ronconi: Fortuna, S. f.: „Cicerone, ammiratore della poesia arcaica, aveva grossolanamente accostato Plauto ai Comici dell’ἀρχαία e definito il suo iocandi genus con epiteti come urbanum e facetum, che Orazio attribuisce piuttosto alla poesia luciliana di gusto scipionico.“ ¹¹⁹ Vgl. die Stellenangaben bei F. Warren Wright: Cicero and the Theater, Northampton, Massachusetts , S. – (Plautus) und S. – (Terenz). ¹²⁰ Vgl. Malcovati: Cicerone, S. f. ¹²¹ Vgl. Boris Dunsch: ... – Vater sein dagegen sehr. Komik und Spott in der römischen Komödie im Spiegel des Vater-Sohn-Konflikts, in: Chronik Schuljahr /, hg. vom Gymnasium am Kaiserdom, Speyer , S. –; zu Cic. Pro Caelio f. speziell S. –. Katherine A. Geffcken: Comedy in the Pro Caelio, Leiden , sieht zwar viele generelle Anklänge auch

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Boris Dunsch

haupt bleibt unklar, wie viel er von Plautus aus erster Hand kannte, wenn man bedenkt, dass das längste Plautus-Zitat, ein Beispiel in De inventione , , das aus dem Trinummus (–) genommen ist, in der Herennius-Rhetorik wiederkehrt (, ). Illustriert werden soll in beiden Fällen eine infirma ratio (unzulängliche Begründung), wofür die Plautusstelle aber nur taugt, wenn man sie nicht in ihrem Kontext und ohne Rücksicht auf plautinischen Sprachgebrauch liest,¹²² was zum einen auf eine gemeinsame lateinische Quelle beider Werke deutet,¹²³ die dieses Missverständnis ebenfalls enthielt, und zum anderen eine unmittelbare Lektüre des Stückes durch Cicero unwahrscheinlich macht. Als ‚alt‘ wird Plautus von Zeitgenossen Ciceros ebenfalls wahrgenommen, wie einem Bericht von ihm (De off. , ) entnommen werden kann, dem zufolge Crassus in der incorrupta antiquitas der Sprache seiner Schwiegermutter Laelia die Sprache des Plautus und Naevius bewahrt gesehen habe.¹²⁴

an Plautus in Pro Caelio; doch die von ihr angeführten Parallelen sind sehr allgemeiner Art. Das gilt insbesondere auch für die zahlreichen Schimpfwörter, die sich Cicero und Plautus teilen. ¹²² Das nam in V.  ist nicht begründend, sondern explikativ bzw. illustrierend, oder besser, „transitorisch“, vgl. Blänsdorf: Gedankengänge, S. . Zu Trin. – vgl. ebd., S. f. und –. ¹²³ Für eine gemeinsame Quelle nicht nur dieses Teils der beiden Schriften hat Joachim Adamietz: Ciceros de inventione und die Rhetorik ad Herennium, Diss. Marburg , S. , mit überzeugenden und bis heute gültigen Argumenten votiert. Angesichts des Trinummus-Zitats muss man sich allerdings fragen, ob diese Quelle einfach die Übersetzung eines griechischen Rhetorik-Handbuchs gewesen sein kann, oder ob nicht bereits vor Cicero und dem Herenniusautor, also spätestens gegen Ende des . Jahrhunderts v. Chr., ein zumindest teilweise eigenständig, wenn auch vielleicht nach griechischem Muster, konzipiertes lateinisches Handbuch vorlag. Die Frage wäre dann, wer ein solches verfasst haben könnte. ¹²⁴ Deufert: Textgeschichte, S.  vergleicht hierzu passend De orat. , , wo zwar Plautus und Naevius nicht genannt, wohl aber doch gemeint sind, wenn es um die veteres (scil. oratores et poetae) geht, die prope praeclare locuti, quorum sermone adsuefacti qui erunt ne cupientes quidem poterunt loqui nisi Latine, deren Lektüre dem Redner zur Beföderung seiner elegantia loquendi anempfohlen wird. Norwood: Plautus, S.  bemerkt zu diesem Zeugnis in seiner unnachahmlich giftigen Art: „In the lady’s interests, if for no other reason, we may imagine that Cicero was less familiar with our poet than he implies.“

Die plautinische Komödie

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 Horaz Bei Horaz ändert sich der Tenor der Plautuskritik vollständig.¹²⁵ Für Horaz sind die Begriffe ‚neu‘ und ‚alt‘, ähnlich wie für Terenz, deutlich semantisch aufgeladen. In der ästhetischen Beurteilung des Horaz nimmt sich das Streben nach einem alten Ausdruck lächerlich aus, ebenso die Beurteilung des Neuen am Maßstab des Alten, wie er sie beim römischen Volk, seinen Zeitgenossen, zu beobachten meint (Ep. , , –):





[...] nisi quae terris semota suisque temporibus defuncta videt, fastidit et odit, sic fautor veterum, ut tabulas peccare vetantis, quas bis quinque viri sanxerunt, foedera regum vel Gabiis vel cum rigidis aequata Sabinis, pontificum libros, annosa volumina vatum dictitet Albano Musas in monte locutas. si, quia Graecorum sunt antiquissima quaeque scripta vel optima, Romani pensantur eadem scriptores trutina, non est, quod multa loquamur: nil intra est olea, nil extra est in nuce duri; venimus ad summum fortunae: pingimus atque psallimus et luctamur Achivis doctius unctis.

Horaz verweist hier zum einen auf die Ansicht seiner römischen Zeitgenossen,¹²⁶ auch und gerade die älteste Literatur ihres Volkes habe Vorbildcharakter. Als Beispiele nennt er die Zwölftafelgesetze, alte Vertragswerke, die in die Königszeit (also vor  v. Chr.) datieren, Priesterbücher und „in die Jahre gekommene Buchrollen der vates“. Alle diese Dinge, so Horaz, gelten dem heutigen Geschmack so, als sprächen durch sie die Musen vom Mons Albanus herab. Diese detailfreudige Überzeichnung der Verhältnisse endet so, als wäre sie absichtlich mit der oben erwähnten Äußerung des Aelius Stilo im Blick formuliert, würden die Musen Latein sprechen wollen, dann bedienten sie sich des sermo Plautinus. ¹²⁵ Vgl. Charles Oscar Brink: Horace and Varro, in: Varron – Six exposés et discussions, hg. von Olivier Reverdin, Genf , S. –, hier S. , der feststellt, dass gerade die Dramendichter, die Cicero und Varro zu schätzen scheinen, von Horaz angegriffen werden: „Horace’s butt is [...] the doctrine that counted for a whole generation of men, Varro’s and Cicero’s a fortiori, but of many others as well.“ ¹²⁶ Vgl. Brink: Horace, S. f.

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Freilich, so Horaz, sind bei den Griechen die ältesten Autoren (sprich: Homer) auch die besten. Nur heißt dies noch lange nicht, dass man diese Denkfigur analogisch auf die römischen Schriftsteller übertragen kann; das wäre genauso wenig sinnvoll wie der Schluss: „Die Olive ist eine Baumfrucht; sie ist außen weich; auch die Nuss ist eine Baumfrucht, also muss sie außen weich sein.“ Oder wie der: „Wir sind mit den Waffen stärker als alle anderen (auch die Griechen), also (können wir auch sonst alles besser als sie), malen, tanzen und ringen wir besser als die Athener.“¹²⁷ Unmittelbar im Anschluss stellt Horaz die (rhetorische) Frage, wie alt denn eigentlich alt sei und ab wann ein Autor als alt gelten könne, nur um diese Fragestellung auf amüsante Art ad absurdum zu führen, indem er sie als Variante des Haufenparadoxons (ruens acervus) der antiken Logik decouvriert (–): 





Si meliora dies, ut vina, poemata reddit, scire velim, chartis pretium quotus adroget annus. scriptor, abhinc annos centum qui decidit, inter perfectos veteres que referri debet, an inter vilis atque novos? excludat iurgia finis. ‘est vetus atque probus, centum qui perficit annos.’ quid? qui deperiit minor uno mense vel anno, inter quos referendus erit? veteresne poetas, an quos et praesens et postera respuat aetas? ‘iste quidem veteres inter ponetur honeste, qui vel mense brevi vel toto est iunior anno.’ utor permisso, caudaeque pilos ut equinae paulatim vello et demo unum, demo etiam unum, dum cadat elusus ratione ruentis acervi, qui redit in fastos et virtutem aestimat annis, miraturque nihil, nisi quod Libitina sacravit.

Also wäre für die Vertreter dieser Ansicht nur dasjenige, was schon die Libitina geweiht hat, also was auf dem Weg zum eigenen Begräbnis ist, bewundernswert. Horaz hingegen plädiert für den Eigenwert des Neuen, vor allem auch im sich unmittelbar anschließenden Abschnitt (–), der sich gegen

¹²⁷ Beide ‚Schlüsse‘ formuliert Maurach: Horaz, S. .

Die plautinische Komödie

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den übermäßig archaisierenden Geschmack zeitgenössischer critici richtet.¹²⁸ Unter diesen Prämissen wundert es nicht, dass Horaz auch zum Neologismus eine andere Haltung einnimmt als andere, wenn er in der Ars poetica die Freiheit des Dichters in Anspruch nimmt, für Neues auch neue Ausdrücke prägen zu dürfen, wie es ja, und hier argumentiert Horaz ähnlich wie vor ihm Terenz, auch Caecilius und Plautus gestattet sei – so etwas könne dann doch Vergil und Varius, seinen Zeitgenossen, nicht verwehrt sein, und man müsse es letztlich auch ihm erlauben, der die lateinische Sprache, die von Cato und Ennius schon bereichert worden ist, indem diese viele neue Begriffe (nova rerum nomina) prägten (–), seinerseits weiterentwickelt und weiterentwickeln wird ():





In verbis etiam tenuis cautusque serendis dixeris egregie, notum si callida verbum reddiderit iunctura novum. si forte necesse est indiciis monstrare recentibus abdita rerum et fingere cinctutis non exaudita Cethegis, continget dabiturque licentia sumpta pudenter, et nova fictaque nuper habebunt verba fidem, si Graeco fonte cadent parce detorta. quid autem Caecilio Plautoque dabit Romanus ademptum Vergilio Varioque? ego cur, adquirere pauca si possum, invideor, cum lingua Catonis et Enni sermonem patrium ditaverit et nova rerum nomina protulerit? licuit semperque licebit signatum praesente nota producere nomen.

Auffällig ist bei dieser Apologie des Prägens von Neologismen, die bezeichnenderweise in das Diskursfeld der Differenzqualitäten alt/neu gestellt wird, unter anderem die Wiederholung des Begriffes ‚neu‘ in den Variationen novus – praesens – recens. Hinsichtlich der Metaphorik ist bemerkenswert, dass sich Horaz hier, wie schon knapp  Jahre vor ihm der Sprecher dss Casina-Prologs, im Bildfeld ‚Münze als Wort‘ bewegt.

¹²⁸ Zum Verständnis und zur Stoßrichtung dieser wichtigen Passage vgl. jetzt Richard Hunter: Critical Moments in Classical Literature. Studies in the Ancient View of Literature and its Uses, Cambridge , S. –.

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Aber auch andere Bildbereiche werden von ihm herangezogen. Der Forderung nach der Lizenz, neue Begriffe zu prägen, verleiht Horaz im Folgenden mit einem breit ausgeführten Naturvergleich weiteren Nachdruck (–; –). 



Ut silvae foliis pronos mutantur in annos, prima cadunt: ita verborum vetus interit aetas, et iuvenum ritu florent modo nata vigentque. debemur morti nos nostraque [...] [...] mortalia facta peribunt, nedum sermonum stet honos et gratia vivax. multa renascentur quae iam cecidere cadentque quae nunc sunt in honore vocabula, si volet usus, quem penes arbitrium est ius et norma loquendi.

Bäume werfen ihre Blätter zum Jahreswechsel ab, und ebenso muss eine alte Generation von Wörtern (verborum vetus ... aetas) sterben. Neue Wortprägungen, Neologismen, hingegen haben die Kraft der Jugend und stehen in Blüte (florent). Was für Menschenwerk (mortalia facta) gilt, gilt auch für Wörter: Sie müssen vergehen, was allerdings nicht ausschließt, dass Untergegangenes wiederbelebt werden kann. Maßgeblich für diese Prozesse, so Horaz, ist allein der Sprachgebrauch (usus), die Sprache des Alltags. Dieser usus ist für Horaz auch an einer Stelle im Brief an Florus von großer Bedeutung, die sich inhaltlich mit dem Text aus der Ars poetica eng berührt (Ep. , , –): 



At qui legitimum cupiet fecisse poema, cum tabulis animum censoris sumet honesti: audebit, quaecumque parum splendoris habebunt et sine pondere erunt et honore indigna ferentur, verba movere loco, quamvis invita recedant et versentur adhuc inter penetralia Vestae; obscurata diu populo bonus eruet atque proferet in lucem speciosa vocabula rerum, quae priscis memorata Catonibus atque Cethegis nunc situs informis premit et deserta vetustas; adsciscet nova, quae genitor produxerit usus.

Die plautinische Komödie

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Es leuchtet ein, dass die Haltung eines Autors, dessen ästhetische Normen, wie sie sich z. B. für den Bereich der Lexik hier paradigmatisch manifestieren, in diese Richtung gehen, mit seinen altlateinischen Vorgängern (und deren Pateigängern in seiner Zeit) wenig anfangen konnte. Insbesondere der erfolgreiche und bekannte Plautus wird zu einem Fokus seiner Kritik an den zeitgenössischen critici (Ars poet. –)¹²⁹:





non quivis videt inmodulata poemata iudex, et data Romanis venia est indigna poetis. idcircone vager scribamque licenter? an omnis visuros peccata putem mea, tutus et intra spem veniae cautus? vitavi denique culpam non laudem merui. vos exemplaria Graeca nocturna versate manu, versate diurna. at vestri proavi Plautinos et numeros et laudavere sales, nimium patienter utrumque, ne dicam stulte, mirati, si modo ego et vos scimus inurbanum lepido seponere dicto, legitimumque sonum digitis callemus et aure.

Das Modaladverb patienter unterstellt den römischen proavi geradezu einen horazischen Stilgeschmack, anhand dessen Maßstab sie hätten urteilen müssen: ein deutliches Stück Polemik gegen Plautus.¹³⁰ Überhaupt steht dieser Textabschnitt, wie schon zum Teil die vorigen, unter dem Zeichen der Sicht ¹²⁹ Norwood: Plautus, S.  nutzt in seiner Übersicht über die antike Plautuskritik diese Horazstelle, um über die Drastik des Venusiners noch weit hinauszugehen: „The construction of some of his (scil. Plautus’) plays is so bad that even stupidity alone, even ignorance alone, even indifference alone, seem insufficient to explain it. We can but suppose that he neither knew nor cared what a drama is, and was concerned with nothing save to amuse an audience that knew and cared not indeed less, but no more.“ ¹³⁰ Paula de Priester: Over de klassieke beoordeling van Plautus, in: Hermeneus  (), S. –, hier S. , versucht, das Urteil abmildernd zu erklären, indem sie es in den Kontext des zeitgenössischen literarkritischen Diskurses einordnet; ebenfalls mildernd betrachtet Schroeder: Comedia, S.  das Urteil: “En el proceso de helenización que sufre Roma, Plauto y ‘nostri proavi’ es claro que están todavía casi en pañales.” Ebenso mildernd Brink: Horace, S. ; ähnlich Ronconi: Fortuna, S. . An der Schärfe ändert dies alles allerdings nichts. Vielmehr verfallen die Forscher selbst in etwas, das man als ‚Archaismus-Falle‘ bezeichnen könnte: Zwar verteidigen sie Plautus gegen seinen Kritiker, aber hier ist die Kur schlimmer als das Leiden; denn zur Verteidigung wird gesagt, Plautus sei eben ein Dichter der Frühzeit gewesen, den man nicht mit den Maßstäben der Zeit des Horaz messen könne – wobei eine nachgerade strukturell vorgegebene Inferiorität des chronologisch Früheren unreflektiert impliziert ist.

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des Horaz auf seine eigene dichterische Produktion: Es geht in erster Linie um Horaz selbst und seine Zeit, erst in zweiter Linie um Plautus und dessen Zeitgenossen. Das Urteil des Horaz ist parteilich. Es musste parteilich ausfallen, denn letztlich war Horaz in Argumentationsnot. Von der überkommenen Literarkritik her war Plautus nicht beizukommen, was ein Blick auf die Äußerungen über Plautus bei Cicero zeigt, der sich über Plautus noster mindestens neutral, wenn nicht sogar an einigen Stellen positiv äußert, wiederum mit einem Akzent auf der hohen Qualität der plautinischen Lexik und des Wortwitzes. Horaz rekurriert daher auf Argumentationsstrukturen und Bewertungskriterien, die bereits in den Terenzprologen angelegt sind, wo gegenüber dem hergebrachten Drama eine neue Form von Theater vertreten wird und es z. B. vom Heauton timorumenos heißt, er sei eine fabula stataria.¹³¹ So greift Horaz Plautus auf einem Gebiet an, das bisher nicht im Vordergrund stand, dem des Handlungsaufbaus und der Charakterzeichnung, also den bereits aus den weiter oben behandelten Äußerungen der republikanischen Zeit bekannten Kriterien σύνθεσις τῶν πραγμάτων (argumenta) und ἦθος (Ep. , , –): 



[...] Aspice, Plautus quo pacto partes tutetur amantis ephebi, ut patris attenti, lenonis ut insidiosi, quantus sit Dossennus edacibus in parasitis, quam non adstricto percurrat pulpita socco: gestit enim nummum in loculos demittere, post hoc securus, cadat an recto stet fabula talo.

An diesem Urteil ist besonders die ad personam gemünzte Unterstellung perfide, Plautus habe sich lediglich um das Einstreichen des Geldes gekümmert, sei ein Lohnschreiber gewesen, ein künstlerisch letztlich nicht ernstzunehmender Emporkömmling, der stets dem breiten Publikum nach dem Munde geschrieben hätte; danach sei es ihm mehr oder weniger gleichgültig gewesen, ob das Stück ‚funktioniere‘ oder nicht. Der Vorwurf, Plautus habe mit seiner Dichtung Geld verdient, erscheint angesichts etwa der Tatsache reichlich weit hergeholt, dass Terenz, soweit uns die antiken Quellen unterrichten, immerhin den größten Geldbetrag für ein Theaterstück, seinen Eunuchus, erhalten hat, der jemals von den Ädilen (als Ausrichtern der römischen ludi) gezahlt wurde.¹³² Zum Vorwurf, Plautus habe seine Stücke nur um des Geldes ¹³¹ Ter. H.T. .

Die plautinische Komödie

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willen geschrieben, passen allerdings eine ganze Reihe der in der antiken biographischen Tradition auftauchenden, teilweise romanhaft anmutenden Figmente, etwa dass Plautus als Schuldknecht in einer Bäckerei die Handmühle gedreht habe, als er aufgrund fehlgeschlagener Geldspekulationen in Überseegeschäften mittellos geworden war.¹³³ Hier bietet sich übrigens auch ein möglicher Entstehungsort solcher Biographeme an: Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass sie einer (möglicherweise schon spätrepublikanischen) antiplautinischen Polemik entnommen sind. Um so deutlicher tritt hier zutage, wie Horaz Argumente sucht in dem unbedingten Willen, Plautus zu kritisieren. Das Urteil des Horaz lässt insgesamt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig; doch handelt es sich um eine Stimme unter vielen, die dadurch, dass andere Äußerungen dieser Art, die es gegeben hat, sich uns nicht erhalten haben, seit der Renaissance eine Wirkung entfaltet haben, die es schwer macht, die Stimme des Horaz in das polyphone Konzert der übrigen Autoren einzureihen. Es fällt z. B. nicht schwer, bei Ovid und anderen augusteischen Dichtern den deutlichen Einfluss einer mehr als nur gelegentlichen Beschäftigung mit der Palliata, vor allem aber auch mit Plautus, zu postulieren. So vorsichtig man auch vorgehen sollte, wenn es um die Beurteilung der Validität von ‚Zitaten‘ und anderen Spielarten intertextueller Beziehungen geht, lässt sich doch eine ausreichend große Zahl von Passagen im ovidischen Oeuvre ausmachen, die zeigen, dass „Ovid belonged to the body of Augustan admirers of Plautus“.¹³⁴ Ob auch andere Autoren, wie etwa der Elegiendichter Properz, der Palliata

¹³² Vgl. Peter Kruschwitz: Terenz, Hildesheim/Zürich/New York , S.  mit Anm. . ¹³³ Zur Vita des Plautus vgl. aus jüngerer Zeit Deufert: Textgeschichte, S. –. ¹³⁴ Vgl. v. a. den umsichtigen Aufsatz von Harry MacLeod Currie: Ovid and the Roman Stage, in: ANRW II.. (), S. –; das Zitat S. . Vgl. außerdem z. B. James C. McKeown: Ovid Amores ,, in: Papers of the Liverpool Latin Seminar, Second Volume, hg. von Francis Cairns, Liverpool , S. –, besonders zur „audience-participation“ bei Ovid, sowie John T. Davis: Dramatic and Comic Devices in Amores ,, in: Hermes  (), S. –. Das Fehlen einer Erwähnung des Plautus (gegenüber zwei direkten Bezugnahmen auf Menander in Am. , ,  und Trist. ,  und einer auf Terenz in Trist. , ) in den erhaltenen Werken Ovids ist bemerkenswert, vgl. Andrés Pociña: Ovidio y el teatro, in: Ovid: Werk und Wirkung. Festgabe für Michael von Albrecht zum . Geburtstag, Teil I, hg. von Werner Schubert, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien , S. –, sowie Alice Bonandini: Da Taide a Corinna – Infiltrazioni comiche negli Amores di Ovidio, in: Paideia  (), S. –.

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zugeneigt waren, lässt sich anhand der im Einzelnen nur schwer nachvollziehbaren Rezeptionsverhältnisse nicht plausibel aufweisen.¹³⁵ Auch für Vergil sollte immerhin nicht ausgeschlossen werden, dass er den Ansichten, wie Horaz sie vertritt, eher fernstand, auch wenn hier ein genaueres Profil seiner literarischen Vorlieben und Abneigungen nicht gezeichnet werden kann. Immerhin wird er von Quintilian (Inst. or. , , ) als amantissimus vetustatis bezeichnet, was auf jeden Fall auf Vergils intensive Beschäftigung mit Ennius bezogen werden darf.¹³⁶ Zu Vergils Verhältnis gegenüber Plautus und anderen Palliatendichtern lässt sich dagegen kaum etwas sagen; immerhin haben einige Stimmen in der Vergilforschung dafür plädiert, und dies nicht mit den schlechtesten Gründen, im vierten Buch der Aeneis auch einen möglichen Einfluss von Komödiensujets in Rechnung zu stellen.¹³⁷ In der nachaugusteischen Zeit wird es ruhiger um Plautus, dessen Name bei den für uns greifbaren Schriftstellern der Frühen Kaiserzeit nicht mehr genannt wird.¹³⁸ So findet sich sein Name auch in den literarhistorischen Exkursen des Geschichtskompendiums von Velleius Paterculus nicht mehr (Hist. , ,  werden als Dichter Caecilius, Terenz und Afranius erwähnt).¹³⁹ ¹³⁵ Vgl. immerhin z. B. John C. Yardley: Comic Influences in Propertius, in: Phoenix  (), S. –; Ders.: The Door and the Lover: Propertius ,, in: Papers of the Liverpool Latin Seminar, Second Volume, hg. von Francis Cairns, Liverpool , S. –; Ders.: Propertius ., Ovid Amores . and Roman Comedy, in: PCPS  (), S. –. Skeptisch, insbesondere hinsichtlich direkter Einflüsse der Palliata auf die römische Liebeselegie, z. B. Erich Burck: Amor bei Plautus und Properz (Plautus, Trinummus –; Properz II, ), in: Arctos  (), S. –. ¹³⁶ Zitat bei Michael Wigodsky: Vergil and Early Latin Poetry, Wiesbaden , S. , der auch noch Quint. Inst. or. , ,  und , ,  vergleicht. Zu Vergils Beschäftigung mit Ennius ebd., S. ff. ¹³⁷ Vgl. etwa William S. Anderson: Servius and the ‚Comic Style‘ of Aeneid , in: Arethusa  (), S. –; Charles F. Saylor: Some Stock Characteristics of the Roman Lover in Vergil ‚Aeneid‘ IV, in: Vergilius  (), S. –. ¹³⁸ Hier wäre ein vergleichender Blick auf die Ennius-Rezeption der frühen und mittleren Kaiserzeit interessant, der sicherlich auch Rückschlüsse auf die Bewertung des Plautus zuließe. Das gesamte Material hierfür bietet zuverlässig Prinzen: Ennius, S. –. ¹³⁹ Vgl. Ronconi: Fortuna, S. ; Andrés Pociña Pérez: La ausencia de Enio y Plauto en los excursos literarios de Veleyo Patérculo, in: CFC  (), S. –; Ulrich Schmitzer: Velleius Paterculus und das Interesse an der Geschichte im Zeitalter des Tiberius, Heidelberg , S. ; Piero Santini: Storiografia e critica letteraria – I giudizi di Velleio Patercolo sugli scrittori greci e latini, in: POIKILMA: Studi in onore di Michele R. Cataudella in occasione del o compleanno, hg. von Serena Bianchetti et al., La Spezia , S. –, besonders S. . Mit Hinweis auf die lückenhafte Überlieferung bezweifelte Prinzen: Ennius, S. –, dass allen Auslassungen gleiches interpretatorisches Gewicht zukommt.

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Das Datum der Verdrängung des varronischen Autorenkanons, die Marcus Deufert in die Zeit nach  v. Chr. setzt, lässt sich möglicherweise durch Einbeziehung dieser literarhistorischen Abschnitte bei Velleius Paterculus weiter eingrenzen,¹⁴⁰ bei dem neben Plautus auch Ennius nicht mehr auftaucht. Plautus wird auch in den Schriften des jüngeren Seneca an keiner Stelle erwähnt.¹⁴¹ Dies gilt übrigens auch für Seneca den Älteren, für dessen Werke vereinzelt von der Forschung eingestreute Palliatenverse vermutet werden,¹⁴² dies aber mit unzureichenden Gründen.¹⁴³ Bei Plinius dem Älteren fällt der Name Plautus viermal, davon interessanterweise zweimal im Kontext echtsheitskritischer Fragen, aber ohne dass sich damit eine besondere Bewertung verbände.¹⁴⁴ Hierzu passt der Befund, dass sich Plautus als Rezeptionsgegenstand in der Dichtungskritik nachaugusteischer Dichter bis hin zu Juvenal ebenfalls nicht ausmachen lässt; bei Diskussionen der Gattung comoedia, die sich durchaus finden (etwa bei Manilius), wird auf Menander und andere griechische Autoren als musterhaft zurückgegriffen.¹⁴⁵ Bei Plinius dem Jüngeren ( – etwa  n. Chr.) finden sich zwar Äußerungen zu Plautus,¹⁴⁶ aber sie lassen keine definitive literarästhetische Einordnung des Sarsinaten erkennen,¹⁴⁷ außer dass er und Terenz als erfolgreiche ¹⁴⁰ Hierbei darf nicht vergessen werden, dass es sich nicht um geregelt ablaufende Vorgänge handelt, sondern um sich länger hinziehende Verdrängungsprozesse. ¹⁴¹ Vgl. Giancarlo Mazzoli: Seneca e la poesia, Milano , S. . ¹⁴² Mario Bonaria: Versi di palliata in Seneca il Vecchio, in: Hommages à Marcel Renard, Band I, hg. von Jacqueline Bibauw, Brüssel , S. – (auch Bonaria findet keine direkten Bezugnahmen auf Plautus). ¹⁴³ Vgl. Henry David Jocelyn: Studies in the Indirect Tradition of Plautus’ Pseudolus. III. The ‚Archaising Movement‘, Republican Comedy and Aulus Gellius’ Noctes Atticae [künftig zitiert: Pseudolus III], in: Vir Bonus Discendi Peritus: Studies in Celebration of Otto Skutsch’s Eightieth Birthday, hg. von N. Horsfall, London , S. –, hier S.  mit Anm. . ¹⁴⁴ Stellen und Diskussion bei Henry David Jocelyn: Studies in the Indirect Tradition of Plautus’ Pseudolus. I. Rufinus, Pliny, Varro, in: Filologia e forme letterarie: Studi offerti a Francesco della Corte. II, Urbino , S. –, hier S. f. Bemerkenswert ist, dass Plautus an den jeweiligen Stellen mit großer Selbstverständlichkeit, ja Beiläufigkeit, erwähnt wird. Dies mag darauf hindeuten, dass es neben der uns überlieferten Literatur andere Strömungen gegeben hat, die allerdings wohl im Horizont v. a. antiquarischer Bemühungen standen; dazu vgl. Deufert: Textgeschichte, S. f. ¹⁴⁵ Vgl. Peter Dams: Dichtungskritik bei nachaugusteischen Dichtern, Diss. Marburg ; speziell zu Manilius: S. f. ¹⁴⁶ Plin. Ep. , ,  und , , ; vgl. Pier Vincenzo Cova: La critica letteraria di Plinio il Giovane, Brescia , S. f. und . ¹⁴⁷ So auch u. a. Ronconi: Fortuna, S. .

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Nachahmer Menanders gesehen werden, denen Plinius überdies einen zeitgenössischen Komödiendichter, über den er positiv urteilt, an die Seite stellt. Allerdings vergleicht er ihn eben nur mit diesen – und nicht mit Menander, was für seine Auffassung bezeichnend ist.¹⁴⁸ Bei den Komödiendichtern stand Plautus wohl für ihn, wie schon für seinen Lehrer Quintilian, der die griechische Komödie vorzog,¹⁴⁹ nicht im Zentrum seines Interesses. Ähnlich wie schon Volcacius Sedigitus, der Ennius antiquitatis causa immerhin auf den zehnten Platz (von zehn!) in seinem Palliatendichter-Kanon aufgenommen hatte, äußert sich auch Quintilian (Inst. or. , , ) über Ennius, den man ähnlich wie aufgrund ihres Alters heilige Haine (sacros vetustate lucos) verehren solle, in denen große alte Bäume mehr Ehrwürdigkeit als Ansehnlichkeit besäßen (in quibus grandia et antiqua robura iam non tantam habent speciem quantam religionem). Diese Bewertung würde man im Englischen wohl als ‚mixed blessing‘ bezeichnen. Sie zeugt von einer gewissen Kenntnis, auch von Respekt, aber nicht von Interesse oder Bewunderung.¹⁵⁰ Ähnlich wird sich Quintilian auch zu Plautus verhalten haben. Immerhin bescheinigt er den altrömischen Szenikern, die er zusammenfassend als veteres bezeichnet, ohne mit dem Bezug auf das Alter allein eine Wertung zu verbinden, dass sie es wert seien, von Rhetorikschülern studiert zu werden. Bei den Palliatendichtern hebt er besonders deren elegantia hervor. Aber auch dieses Lob ist freilich ein modifiziertes (Inst. or. , , ): ¹⁴⁸ Anders Henry David Jocelyn: Pliny the Younger and Latin Comedy, in: POIKILMA : Studi in onore di Michele R. Cataudella in occasione del o compleanno, hg. von Serena Bianchetti et al., La Spezia , S. –, der Menander den beiden Palliatendichtern bei Plinius gleichgeordnet sieht. ¹⁴⁹ Man denke nur an den bekannten Ausspruch in comoedia maxime claudicamus (Quint. Inst. or. , , ) sowie die Bewertung des sermo Romanus gegenüber der griechischen Sprache (Inst. or. , , ); vgl. dazu insgesamt jetzt Jacqueline Dangel: In comoedia maxime claudicamus (Quint. , , ) – Le commedie di Plauto o l’arte di ben zoppicare in un genere ‚di traverso‘: l’esempio dei ‚loci plautinissimi‘, in: I luoghi comuni della commedia antica, hg. von Gianna Petrone und Maurizio M. Bianco, Palermo , S. –, sowie Regine May, Apuleius and Drama. The Ass on Stage [künftig zitiert: Apuleius], Oxford , S. –. Zur Plautusverwendung durch Apuleius vgl. ebd. S. –, die hier aber nicht näher behandelt werden soll, da trotz vielfältiger und gut nachweisbarer Einflüsse, die von der Lexik über einzelne komische Motive bis hin zu narratologischen Makrostrukturen reichen, wertende Bezugnahmen auf den Dichter, wie sie in dieser Studie im Mittelpunkt stehen, gänzlich zu fehlen scheinen. ¹⁵⁰ Ganz anders versteht die Stelle Prinzen: Ennius, S. , dem zufolge Quintilian der „Urgewalt“ der Begabung des Ennius, „seiner urtümlichen Kraft“, Respekt zolle.

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Multum veteres etiam Latini conferunt, quamquam plerique plus ingenio quam arte valuerunt, imprimis copiam verborum, quorum in tragoediis gravitas, in comoediis elegantia inveniri potest.

Auch bei Tacitus lässt sich eine nähere Beschäftigung mit Plautus nicht einmal in den Abschnitten des Dialogus de oratoribus nachweisen, in denen wegen der dort zwischen den Dialogpartnern kontrovers geführten (im übrigen höchst interessanten) Diskussion der Frage, was eigentlich die antiquitas eines Autors ausmacht, eine Erwähnung des Plautus (oder wenigstens überhaupt eines Vertreters der Palliata) der Sache nach nahegelegen hätte.¹⁵¹  Fronto Nach einer Zeit der zumindest ausweislich unserer Zeugnisse reduzierten Beschäftigung mit Plautus sind es die Schriften des Rhetorikproferssors und Kaisererziehers M. Cornelius Fronto, Konsul des Jahres  n. Chr., in denen sich Plautus nicht nur an zahlreichen Stellen genannt und zitiert findet,¹⁵² sondern auch neu bewertet wird, und zwar als Stilideal, als einer der Autoren, auf die man zurückgreifen kann, wenn man an seinem sprachlichen Ausdruck arbeiten möchte. Von allen antiken Urteilen, die uns greifbar sind, kann wohl das Frontos beanspruchen, Plautus am deutlichsten positiv zu bewerten, auch wenn man nur die bei Gellius überlieferten Äußerungen Frontos kennen würde, an deren Glaubwürdigkeit zu zweifeln jedenfalls die zahlreichen Erwähnungen des Sarsinaten im frontonischen Briefkorpus keinen Anlass bieten. So soll Fronto Plautus als linguae Latinae decus bezeichnet haben; ein ungenannt bleibender Freund lobt ihn als verborum Latinorum elegantissimus, während er für Gellius selbst einen homo linguae atque elegantiae in verbis Latinae princeps darstellt.¹⁵³ Bei Gellius findet sich überdies das Adjektiv Plautinissimus (Noct. Att. , , ), bei Fronto wahrscheinlich dessen griechische Entsprechung Πλαυτινότατος.¹⁵⁴ ¹⁵¹ Tac. Dial. f., ; vgl. Piero Santini: Terminologia retorica e critica del «Dialogus de oratoribus», Firenze . ¹⁵² Eine umfassende und ausgewogen kommentierte Stellensammlung bietet René Marache: Mot noveaux et mots archaïques chez Fronton et Aulu-Gelle, Paris . Vgl. jetzt auch May: Apuleius, S. –. ¹⁵³ Gell. Noct. Att. , , ; , , ; , , ; Verweise bei Jocelyn: Pseudolus III, S. . ¹⁵⁴ Vgl. Charles Henderson: Cato’s Pine Cones and Seneca’s Plums – Fronto p.  vdH., in: TAPA  (), S. –, der S.  die Konjektur von Hertz und Studemund (Plautino-

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Diese Ansichten Frontos zu einer Reihe altlateinischer Dichter sind sattsam bekannt und bedürfen kaum des Belegs.¹⁵⁵ Stattdessen soll hier zunächst näher auf eine interessante Stelle eingegangen werden, die sonst selten beigezogen wird, nämlich auf eine programmatische Äußerung zu Stil- und Sprachverwendungsfragen aus dem De oratione genannten und M. Antoninus gewidmeten Werk Frontos (Fronto, De oratione ad M. Antoninum, p. ,–,  van den Hout²): Revertere potius ad verba apta et propria et suo suco imbuta. scabies, porrigo ex eiusmodi libris concipitur. monetam illam veterem sectator. plumbei nummei et cuiuscemodi adulterini in istis recentibus nummis saepius inveniuntur quam in vetustis, quibus signatus est Perperna, arte factis pristina. Quid igitur? non malim mihi nummum Antonini aut Commodi aut Pii polluta et contaminata et misera et maculosa maculosioraque quam nutricis pallium. [...] ‘T〈a〉ntum antiquitatis curaeque pro Italica gente maioribus fuit’, Sallustius ait. antiquitatis verbum usitatum, sed nusquam isto sensu usurpatum neque ideo probe placitum. nam volgo dicitur, quod potius sit, antiquius esse; inde ‘antiquitas’ a Sallustio derivata et, quoniam minus clarum quod et minus usitatum verbum est, insequenti verbo interpretatus est: ‘antiquitatis curaeque’. [...] Hoc modo ‘municipes sacrorum’ dixeris. [...] in ore plebis adhoc pervolgatum est us〈que〉 hoc genus verborum; Accius, Plautus, Sallustius saepenumero, etiam raro Tullius 〈adhibet〉.

Hier betont Fronto mit starken Worten, Bildern aus dem medizinischhygienischen Bereich (scabies porrigo „Krätze und Grind“, wird sonst nirgends in der Latinität vom Stil gesagt¹⁵⁶), dass man stets um einen angemessenen Ausdruck bemüht sein müsse. Dabei greift er, wie schon der Prologsprecher in der Casina, auf das Bildfeld ‚Münze als Wort‘ zurück und warnt vor wertlosen Münzen aus Blei (plumbei nummi). In einem Exkurs demonstriert er, sogar gegen sein Stilvorbild Sallust, dass an bestimmten Stellen das Wort antiquitas nicht verwendet werden dürfe, wenn es sich um den Ausdruck für ‚Sorge um etwas‘ handelt. Auch wenn antiquius (wie das griechische πρεσβύτερος)¹⁵⁷ komparativisch im Sinne von tato statt des korrupt überlieferten Plautinotrato) zu Recht für plausibel hält. Sehr erwägenswert ist auch die von Friedrich Leo vorgeschlagene transliterierte Form Πλαυτινοτάτῳ. ¹⁵⁵ Die wesentlichen Stellen bietet Ronconi: Fortuna, S. . ¹⁵⁶ Vgl. Michael P. J. van den Hout: A Commentary on the Letters of M. Cornelius Fronto [künftig zitiert: Commentary], Leiden/Boston/Köln , S. . ¹⁵⁷ Hinweis ebd., S. .

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„wichtig“ gefasst werden dürfe, so gelte diese semantische Ausweitung noch lange nicht für das Substantiv. Die Kritik am falschen Ausdruck garniert Fronto im Übrigen mit einem Zitat aus Plautus; so eine Münze, so ein Ausdruck sei (frei übersetzt) „schmutziger als die Schürze einer Amme“¹⁵⁸. Bemerkenswert ist die entscheidende Bedeutung, die hier – wie schon bei Horaz – dem usus zugewiesen wird, der als Maßstab für den angemessenen Ausdruck angesehen wird; zugleich figurieren allerdings die veteres Accius, Plautus und Sallust, zusammen mit Cicero, auch wieder als Stilvorbilder, wie in der im letzten Abschnitt des Briefes angesprochenen Frage deutlich wird. Allerdings figuriert Plautus in einem Brief Frontos an Marc Aurel zusammen mit einer Reihe anderer Autoren explizit als Stilvorbild (Epist. p. , –,  van den Hout²): In verbis vero eligendis conlocandisque ilico dilucet nec verba dare diutius potest, quin se ipse indicet verborum ignarum esse eaque male probare et temere existimare et inscie contrectare neque modum neque pondus verbi internosse. quamobrem rari admodum veterum scriptorum in eum laborem studiumque et periculum verba industriosius quaerendi sese commisere, oratorum post homines natos unus omnium M. Porcius eiusque frequens sectator C. Sallustius, poetarum maxime Plautus, multo maxime Q. Ennius eumque studiose aemulatum L. Coelius nec non Naevius, Lucretius, Accius etiam, Caecilius, Laberius quoque. nam praeter hos partim scriptorum animadvertas particulatim elegantis Novium et Pomponium et id genus in verbis rusticanis et iocularibus ac ridiculariis, Attam in muliebribus, Sisennam in lasciviis, Lucilium in cuiusque artis ac negotii propriis.

Im Briefwechsel Frontos finden sich zahlreiche Stellen dieser Art, an denen Plautus als ein in Stilfragen maßgeblicher Referenzautor herangezogen wird und wo typisch plautinische Wörter wie exradicitus (Most. : p. ,  van den Hout²) behandelt werden. Es handelt sich hier aber nicht, wie man glauben könnte, um eine undifferenzierte Verehrung aller Autoren etwa der Palliata; vielmehr findet Terenz, ein bei anderen Autoren der Zeit (und

¹⁵⁸ Vgl. Plaut. Bacch. : corium tam maculosum quam est nutricis pallium; wohl nicht sprichwörtlich.

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schon bei Quintilian) geschätzter Palliatendichter, bei Fronto kaum Erwähnung und gar kein Lob (geschweige denn überhaupt ein Urteil).¹⁵⁹ Verglichen mit der Häufigkeit der Plautus-Erwähnungen ist diese Vernachlässigung sehr beredt.¹⁶⁰ Damit scheidet als Erklärungsmodell aber auch die bisweilen geäußerte Ansicht aus, Fronto und sein Schüler Marc Aurel seien eben einfach Liebhaber alles Alten, sogar einschließlich alter Architektur.¹⁶¹ Das mögen sie sehr wohl auch gewesen sein; aber diese Liebhaberei erklärt eben überhaupt nicht deren Vorliebe für Plautus. Diese wird vielmehr deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Fronto zwar – sofern man die moderne Bezeichnung verwenden will¹⁶² – ein Archaist war, aber, wie es der maßgebliche Fronto-Kommentar von Michel van den Hout an einer Stelle formuliert, „not without making a distinction.“¹⁶³ Im Zentrum der Stillehre Frontos steht nicht die Suche nach dem Alten um seiner selbst willen, weil es eben alt ist, sondern die Suche nach dem richtigen Ausdruck (verbum quaerere, p. ,  van den Hout²), eine von geradezu wissenschaftlichem Eifer¹⁶⁴ getragene Suche nach dem verbum proprium, und das findet sich eben, so seine Ansicht, oft genug bei altlateinischen Autoren wie Plautus, deren elegantia er wiederholt lobt. Elegantia wiederum ist eben die Sorgfalt bei der Wahl des Ausdrucks in Hinsicht auf Latinitas und aptum. ¹⁵⁹ Zu weit geht allerdings Ronconi: Fortuna, S. , wenn er behauptet: „Frontone si interessa a Plauto piú che a Cecilio: ignora Terenzio.“ Immerhin finden sich drei Stellen, an denen auch aus Terenz zitiert wird: Fronto, Epist. ,  van den Hout²: Ad. ; , f. van den Hout²: Eun. ; ,  van den Hout²: Phorm. . Bewertet wird Terenz freilich nicht. ¹⁶⁰ Der Versuch von Warren, Terenz in die Fronto-Überlieferung p. ,  van den Hout² unter Berufung auf ein Varro-Zitat bei Gellius (Noct. Att. , , –) durch Konjektur hineinzubringen, kann nicht überzeugen und ist im Wesentlichen auf Ablehnung gestoßen; vgl. die Diskussion (mit Literaturangaben) bei van den Hout: Commentary, S. . ¹⁶¹ Johannes F. Westermann: Archaische en archaistische woordkunst, Diss. Amsterdam, Nijmegen/Utrecht , S. f. etwa konstatiert ein allgemein ausgerichtetes antiquarisches Interesse Frontos und seines Schülers Marc Aurel, das sich z. B. auch auf alte Bauwerke bezogen habe. ¹⁶² Vgl. Schindel: Archaismus, S. f.: „Es stellt sich die Frage, ob die Literaten der Zeit, Fronto und Gellius, überhaupt einen festen Begriff für die von uns so bezeichnete Erscheinung (scil. den Archaismus) besessen haben. [...] Dass dieses Stilprogramm Fronto oder Gellius als ‚altertümlich‘ oder auch nur ‚rückwärtsgewandt‘ vorgekommen wäre, ist nicht erkennbar.“ ¹⁶³ Van den Hout: Commentary, S.  zu ,  van den Hout². ¹⁶⁴ Vgl. den guten Überblick über Frontos Lehre von den verba nova bei Paolo Soverini: Aspetti e problemi delle teorie retoriche frontoniane, in: ANRW II.. (), S. –, besonders S. –.

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 Gellius Gellius, ein Schüler Frontos, soll hier nur kurz erwähnt werden, auch wenn er sowohl für die Überlieferungsgeschichte des Plautus¹⁶⁵ als auch für das Verständnis der so genannten ‚archaisierenden‘ Tendenzen der Rhetorik des . Jahrhunderts n. Chr. von großer Bedeutung ist, nicht zuletzt, weil die Rückwendung auf die altlateinischen Autoren, die sich zu seiner Zeit schon gänzlich vollzogen hat, ihn zu einer ganzen Reihe theoretischer Erörterungen veranlasst, die eine Vielzahl sprachlicher Prozesse betreffen – Grammatik, Etymologie, semantischer Wandel, Wortwahl, Stilistik und Euphonie seien hier nur beispielshalber genannt. Doch gerade eine Behandlung des Gellius unter der hier interessierenden Fragestellung bedürfte einer eigenen Untersuchung und würde den Rahmen vollends sprengen, inbesondere da eine genauere Betrachtung ein eher widersprüchliches Bild zutage fördern würde, das sich mit den gängigen Ansichten über diesen Schriftsteller nicht verträgt. Insbesondere die pauschale Einordnung des Gellius in die ‚archaisierende‘ Bewegung des . Jahrhunderts n. Chr. sollte überdacht werden. Gellius äußert sich gleich in einem der ersten Kapitel des ersten Buches seiner Attischen Nächte recht deutlich zur Frage der Verwendung alter Wörter, indem er die Worte wiedergibt, die der Philosoph Favorinus an einen seiner Schüler gerichtet hatte, der auf zu gesuchte und altertümliche Weise gesprochen hatte (, , –): ‘Curius’, inquit, ‘et Fabricius et Coruncianus, antiquissimi viri, et his antiquiores Horatii illi trigemini plane ac dilucide cum suis fabulati sunt neque Auruncorum aut Sicanorum aut Pelasgorum, qui primi coluisse Italiam dicuntur, sed aetatis suae verbis locuti sunt; tu autem, proinde quasi cum matre Euandri nunc loquare, sermone abhinc multis annis iam desito uteris, quod scire atque intellegere neminem vis, quae dicas. Nonne, homo inepte, ut, quod vis, abunde consequaris, taces? Sed antiquitatem tibi placere ais, quod honesta et bona et sobria et modesta sit. Vive ergo moribus praeteritis, loquere verbis praesentibus atque id, quod a C. Caesare, excellentis ingenii ac prudentiae viro, in primo de analogia libro scriptum est, habe semper in memoria atque in pectore, ut “tamquam scopulum, sic fugias inauditum atque insolens verbum”.’

¹⁶⁵ Vgl. insbesondere Lamberto Di Gregorio: Gellio e il teatro, in: Aevum Antiquum  (), S. – (speziell zu Plautus: S. –), sowie jetzt auch May: Apuleius, S. –. Vgl. auch oben Anm. .

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Mit ähnlich griffigen Bildern, die durch die Nennung von Namen aus der römischen Geschichte evoziert werden, wie seinerzeit Horaz tadelt hier Favorinus diejenigen, die sich aus reiner Altertümelei unklar und geheimnisvoll ausdrücken. Die Männer aus der Frühzeit hatten, so die witzige Idee dieser Argumentation, ja auch wiederum andere vor sich, die noch älter waren als sie selbst. Keinesfalls aber haben sich diese der – so wird impliziert – heute noch unverständlicher wirkenden Redeweise bedient, die z. B. die Pelasger benutzt haben. Fazit: Lebe dein Leben nach den alten Normen, aber sprich wie die Menschen deiner Gegenwart. An anderer Stelle wird Gellius noch deutlicher, indem er die unpassende Verwendung altertümlicher Wörter genauso tadelt wie die ganz neuer und unerhörter (Noct. Att. , , ): Verbis uti aut nimis obsoletis exculcatisque aut insolentibus novitatisque durae et inlepidae par esse delictum videtur. Sed molestius equidem culpatiusque esse arbitror verba nova, incognita, inaudita dicere quam involgata et sordentia. Nova autem videri dico etiam ea, quae sunt inusitata et desita, tametsi sunt vetusta.

Hier verbindet Gellius in zugespitzter Formulierung Neu und Alt, indem er sagt, neue Wörter seien für ihn eben auch die aus dem Gebrauch gekommenen, in Einsamkeit geratenen, auch wenn sie (und in dieser Konjunktion wird die primäre Wertung des Alten deutlich) alt sind; also ist das Alte zunächst eine positive Qualität, aber nicht, wenn der usus – ganz im Sinne von Horaz – sich gegen seine Verwendung entschieden hat. Gellius berichtet über Favorinus auch, er habe nach dem Hören eines einzigen Verses aus der Plautuskomödie Nervolaria, die allgemein unter den incertae aufgelistet wurde, diese mit großer Bestimmtheit dem Plautus zugeschrieben. Der Vers lautet: scrattae, scrupedae, strittibillae sordidae („Huren, humpelnd, haarausreißend, hässlich schmutzig“).¹⁶⁶ Über die die Hässlichkeit der Prostituierten angemessen beschreibende altertümliche Formulierung habe er sich sehr gefreut, delectatus faceta verborum antiquitate meretricium vitia atque deformitates significantium, und dann festgestellt, dass dieser Vers allein ausreichend sei, um festzustellen, dass das Stück von Plautus gemacht worden ist (Gell. Noct. Att. , , ): ‚Vel unus hercle‘, inquit, ‚hic versus Plauti esse hanc fabulam satis potest fidei fecisse‘. So ist kaum auszumachen, wie man die Haltung, die Gellius eingenommen hat, am ehesten beschreiben sollte; auf jeden ¹⁶⁶ Plautus fr.  Monda.

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Fall war sie keine extreme, sondern, bei aller persönlichen Vorliebe für die altlateinischen Autoren, eine gemäßigte.  Maccus elegans Das durchweg in der Antike dominante Urteil über Plautus im Bereich der Lexik ist, den Sarsinaten seiner elegantia wegen zu loben. Dieser Bewertungsbereich, also die Erlesenheit plautinischen Sprachgebrauchs, ist eine Konstante, die sich in allen Äußerungen über Plautus findet, beginnend in der Republik und weit hinein bis in die Kaiserzeit.¹⁶⁷ Frontos Schüler Gellius hat , wie oben gesehen, in seinen Attischen Nächten eine Reihe bezeichnender Urteile über Plautus’ Stil zusammengestellt. Er sei zum Beispiel: verborum Latinorum elegantissimus (, , ), homo linguae atque elegantiae in verbis Latinis princeps (, , ) und linguae Latinae decus (, , ). Solche Urteile finden sich auch in der späteren Antike, so etwa beim Hl. Hieronymus, der den von Aelius Stilo formulierten und von Horaz ironisierten Vergleich des Sarsinaten mit dem Musarum eloquium (Ad Pammachium , ) wiederaufnimmt, aber auch bei Rufinus (In Hieron. , , ), der sich, allerdings mit negativer Stoßrichtung auf Hieronymus, zu Plautus’ eloquentia äußert: dum totus Plautinae et Tullianae cupis eloquentiae sectator videri.¹⁶⁸ Für eine solche Sicht auf Plautus spricht auch die Tatsache, dass es sich, jedenfalls soweit man aus den uns vorliegenden Plautuskomödien erkennen kann, keineswegs nur um einen hastig zusammengebackenen Mischmasch ¹⁶⁷ Bei der Frage nach der plautinischen elegantia macht es im übrigen keinen Unterschied, ob nun die  sogenannten fabulae Varronianae eigentlich in der Tat alle ein und derselben Person, einem ‚Titus Maccius Plautus‘, zuzuschreiben sind oder aber nicht. Was bei dieser Frage allein zählt, ist die Tatsache, dass auf Grund zahlreicher echtheitskritischer Urteile des zweiten und ersten vorchristlichen Jahrhunderts ein Kanon entstanden ist, in dem sich ausschließlich Stücke befinden, die zumindest dem einhelligen Urteil einer Reihe namhafter römischer Gelehrter nach einem solchen Autor zuzuordnen sind. Damit entzieht sich zwar der Autor Plautus weitgehend dem philologischen Zugriff, aber das Konzept ‚Plautus‘ als Fokus einer bereits kurz nach dem angeblichen Tod des Schöpfers der plautinischen Komödien einsetzenden Rezeption wird unserem Zugriff um so zugänglicher. ¹⁶⁸ Vgl. Fischer: Plaute, S. : „Il ressort très clairement de tous ces textes que les anciens ne considéraient nullement la langue de Plaute comme équivalente du langage courant; bien au contraire, on lui accordait les attributs de la langage poétique: invention verbale et choix raffiné des moyens d’expression (elegantia).“

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aus Elementen der italischen Posse und des verfeinerten hellenistischen Dramas handelt. Allein die uns erhaltenen Szenen der Bacchides, die wir mit solchen aus den menandrischen Dis exapaton vergleichen können, belehren eines Besseren. Der Prozess des plautinischen vortere ist ein komplexer Vorgang, für den Plautus selbst bereits eine gewisse Wertschätzung von seinem Publikum einfordert. Dass Plautus auch an sich selbst ästhetische Maßstäbe angelegt hat, wissen wir ja nicht zuletzt aus dem schon erwähnten Zeugnis Ciceros im Cato, wo es heißt, dass Plautus an keinem anderen seiner Stücke mehr Gefallen gehabt habe als am Pseudolus.¹⁶⁹ Überhaupt finden sich in den Plautuskomödien viel mehr Äußerungen über das Dichten und den Dichterberuf als man gemeinhin annimmt,¹⁷⁰ zum Beispiel die oben schon besprochenen Verse Pseud. – über die Vorgehensweise des Dichters, die, auch wenn sie aus der griechischen Vorlage stammen, dennoch als Aussage des Plautus über sich selbst aufgefasst werden dürfen,¹⁷¹ die unter Plautus und seinen Zeitgenossen zumindest nicht abwegig klang. Das bedeutet, jedenfalls wenn wir Cicero glauben dürfen, nichts anderes, als dass Plautus selbst der erste gewesen ist, der innerhalb seines Oeuvres explizit eine Rangfolge aufgestellt hat – ein Vorgehen, das spätestens seit dem Kanon des Volcacius Sedigitus dann viele Nachahmer gefunden hat. Insofern könnte man überspitzt formulieren, der Prozess der ‚Archaisierung‘ des Plautus habe mit dessen eigenen Äußerungen eingesetzt, indem er einerseits zu seiner Tätigkeit als Palliatendichter immer wieder wertend Stellung genommen hat, andererseits aber eine Kanonisierung seiner eigenen Werke nicht betrieben hat.¹⁷² Sogar Horaz hat es nicht gewagt, Plautus im Bereich der Lexik zu kritisieren. Im Gegenteil, sein Schweigen zu Plautus’ Sprachgebrauch ist beredt: Hätte ¹⁶⁹ Selbstverständlich lässt sich für kein Stück, das uns unter dem Namen des Plautus überliefert ist, die Echtheit, die Authentizität erweisen. Bevor wir aber gänzlich im Sumpf des Skeptizismus versinken, sei der Hinweis darauf gestattet, dass die Dinge bei Shakespeare kaum anders liegen, was aber niemanden daran hindert, die uns überlieferten Dramen als Kunstwerke (gleich welchen Autors) zu goutieren. ¹⁷⁰ Die Stellensammlung bei Ch. Knapp: References in Plautus and Terence to Plays, Players and Playwrights, in: CPh  (), S. –, bietet einen ersten Ausgangspunkt. ¹⁷¹ So auch Deufert: Textgeschichte, S.  Anm.  mit Hinweisen auf weitere Literatur. ¹⁷² Dieser letztlich widersprüchliche Befund könnte auch darauf hindeuten, dass sich hinter dem Namen ‚Titus Maccius Plautus‘ eine Autorenpluralität verbirgt, zumindest aber, dass er einen nom de plume darstellt, was v. a. von Adrian Gratwick mit gewichtigen Argumenten vertreten wurde; vgl. oben Anm. ,  und .

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doch er, der Verfechter der callida iunctura (Hor. Ars poet. f.) auf den Sarsinaten als ein Paradebeispiel unter anderem auch dieser dichterischen Qualität verweisen können, wie es etwa Fronto später durchaus getan hat. Horaz musste sich regelrecht Vorwände suchen, die er zur Basis einer Plautusschelte machen konnte. Fragt man nach möglichen Gründen dafür, weshalb Plautus gegen Ende der Republik bei Teilen – und es sei hier deutlich festgehalten, dass es sich stets nur um Teile der Schicht der literarisch Gebildeten gehandelt hat – der literarischen Kritik in Ungade fällt, so ist man neben ästhetischen Erwägungen (Stichwort: ‚Epochenschwelle‘) auch und vor allem auf den Bereich des Politischen verwiesen. Horaz (und mit ihm die Poeten um Augustus) waren Vertreter einer neuen Zeit und nahmen sich auch als solche wahr. Diese neue Zeit musste sich von der Republik und ihren eminenten literarischen (und überhaupt geistig-kulturellen) Vertretern absetzen. Sie musste sich auch von Marcus Antonius absetzen, der aus seiner Vorliebe für erlesen-entlegenen Sprachgebrauch offenbar nie einen Hehl gemacht hatte,¹⁷³ ganz im Gegensatz zum Programm des Augustus, das auf eine Wiederherstellung der pristinen virtus im Sinne (jedenfalls von ihm so verstandener) ‚altrömischer‘ Tugenden ausgerichtet zu sein vorgab. So blieb also auch einem Horaz kaum etwas anderes übrig, als vor allem auch Plautus in ein schlechtes Licht zu rücken – was ihm, blickt man zurück und vergegenwärtigt man sich die Wirkung, welche die Ars poetica und Horaz’ literarkritische Urteile in summa seit der frühen Neuzeit gezeitigt haben, auch beinahe vollends gelungen zu sein scheint.¹⁷⁴  Plautus noster – vetus poeta Es bleibt festzuhalten, dass es explizit negative Äußerungen zu Plautus’ Sprache und Stil in der gesamten Antike nicht gibt. Im Gegenteil – selbst Horaz, der verschiedentlich Plautus scharf kritisiert, tut dies mit Blick auf die Konstruktion seiner Komödien, im Vergleich zu den griechischen Originalen usw. Horaz unterlässt es aber, auch dort, wo er könnte, die Sprache des Plautus zu ¹⁷³ Vgl. die interessante Nachricht bei Suet. Aug. , , wo es heißt, Augustus habe Marcus Antonius verrückt genannt, weil er etwas schreibe, was die Menschen eher bewunderten als verstünden. ¹⁷⁴ Die Wellenbewegung in der Beurteilung des Plautus in augusteischer Zeit ist also in erster Linie durch den Aufschlag eines schweren Körpers auf das Wasser entstanden, nämlich durch den Einbruch politischer, außerliterarischer Kriterien in die Plautusbeurteilung. Die moderne Plautuskritik sollte an solchen Vorgängen allerdings nicht irre werden.

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kritisieren. Damit bleibt aber auch eine Heranziehung der antiken Äußerungen zu Plautus’ Sprache für moderne Echtheitskritik problematisch.¹⁷⁵ Plautus’ Sprache (oder präziser: seine Lexik) war in antiker Sicht durchweg ein herausragendes Beispiel für elegantia; also gilt tatsächlich in gewissem Sinne: Maccus elegans als Stilideal. Selbst Gilbert Norwood übrigens, den ich bereits einige Male in der undankbaren Rolle des malevolus ille criticus des Plautus habe auftreten lassen, muss am Ende seiner Untersuchung bekennen: „Plautus is a master of Latin.“¹⁷⁶ Ein solcher Maccus elegans wiederum wäre nun von seinen antiken Rezipienten, zumal denen, die seine Produktion primär als Lesetexte rezipierten, keineswegs als ein ‚archaischer‘ Schriftsteller wahrgenommen worden. Im Gegenteil wird er bei zahllosen Gelegenheiten (und zwar nicht nur in der Zeit des so genannten ‚Archaismus‘ des . Jahrhunderts n. Chr.) als Autorität und Korrektiv gerade auch in konkreten Stilfragen, wenn es um das beste, das passende Wort, die richtige Wortwahl geht, häufig herangezogen. Doch ob wir es mit einem ‚Titus Maccius Plautus‘ zu tun haben, den in der uns vorliegenden Form nur die antike Plautuskritik produziert hat, oder mit einem Maccus, der als nicht weiter fassbare historische Persönlichkeit tatsächlich die uns vorliegenden Texte gedichtet hat, das muss offener bleiben denn je. Im Gegensatz zu den oben dargestellten Tendenzen der modernen Literaturkritik ist das Alter der Plautustexte für ihre Wertschätzung in der Antike mithin zu keiner Zeit ein hinreichend valides Kriterium, auch wenn den antiken Rezipienten bewusst ist, dass zwischen ihrer Periode und der des Plautus eine zeitliche Distanz liegt. Vielmehr jedoch geht es denjenigen, die sich so intensiv mit Plautus auseinandersetzen wie z. B. Fronto es getan hat, um die Erlesenheit plautinischen Sprachausdrucks, um plautinische elegantia. Auf den Punkt gebracht heißt dies, der Grund für den Rückgriff auf den Bestand früheren Sprachgutes, in diesem Fall des Plautus, ist nicht so sehr, dass es alt ist, sondern dass es schön ist. Das Alte um seiner selbst willen interessiert nicht, ja es ist selbst nach der Ansicht des (bis heute etwas unglücklich als ‚Archaist‘ bezeichneten) Fronto im Grunde zu meiden, da es, im Übermaß verwendet, den Text entstellt.¹⁷⁷ ¹⁷⁵ Anders gesagt: Der uns vorliegende Vulgattext der Plautuskomödien ist das Produkt einer unhintergehbaren, oft auch nicht einmal mehr erreichbaren antiken Re-konstruktion spätestens des . Jahrhunderts v. Chr., die ihrerseits seit der der editio princeps durch Giorgio Merula () mit zahlreichen re-konstruierenden Überschreibungen versehen worden ist, die ihrerseits sehr von der (in ihrer Form singulären) Plautusschelte bei Horaz abhängen. ¹⁷⁶ Norwood: Plautus, S. .

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Damit aber ist das Bemühen um diesen Palliatendichter doch eher ‚klassizistischer‘ als ‚archaistischer‘ Natur, sofern man diese in letzer Konsequenz irreführenden Bezeichnungen überhaupt bemühen will, um die literarische Aktivität z. B. der hadrianisch-antoninischen Zeit zu beschreiben.¹⁷⁸ Darüber hinaus ist auch eine befriedigende Abgrenzung von ‚klassischem‘ und ‚archaischem‘ Sprachbestand selbst bei der vergleichsweise guten Überlieferungslage einzelner Autoren der späten Republik oder der Augusteerzeit oft gar nicht möglich; insbesondere der positive Nachweis, dass eine von späteren Autoren verwendete Form eigentlich als ‚archaisch‘ anzusprechen ist, wird oft gar nicht geführt werden können.¹⁷⁹ Dasselbe gilt für den Versuch, etwa bei Plautus oder Cato dem Älteren ‚archaische‘ Formen des Denkens selbst (oder zumindest seines Ausdrucks) dingfest zu machen.¹⁸⁰ ¹⁷⁷ Vgl. Schindel: Archaismus, S. , der zu Fronto und Gellius mit zu Recht feststellt, dass „es sich bei dem [...] Stilprogramm um ein ganz selektives, allein die Lexik betreffendes Nachahmen republikanischer Autoren handelte, keineswegs aber um eine rückwärtsgewandte Weltanschauung, die in Erinnern der Vergegenwärtigung und pauschaler Bewunderung der Republik lebt; um anspruchsvolle, funktionsgerechte Vokabelwahl aufgrund von ausführlicher und kritischer Lektüre literarischer Autoritäten; um lumina in Form von Vokabeln, die dem Text punktuell einen color vetustatis verliehen, ohne dass der Anspruch auf perspicuitas im mindesten aufgegeben wurde.“ ¹⁷⁸ So weist Fischer: Plaute, S.  ganz zu Recht darauf hin, dass „on doit souligner qu’il ne s’agit pas seulement d’auteurs tardifs ou archaïsants, pour lesquels le charme fruste de la vieille langue pouvait donner l’impression de raffinement, mais aussi de critiques et d’écrivains séparés de l’époque de Plaute par quelques dizaines d’années, pendant lesquelles (il s’agit de la seconde moitié du IIe siècle av. n.è.) le latin littéraire n’a fait que des progrès peu notables.“ Überhaupt scheint mir, wenn man denn eine terminologische Etikettierung vornehmen will, die Rede vom ‚Klassizismus‘ der römischen Literaturgeschichte sinnvoller als der Versuch, hiervon spezifisch ‚archaistische‘ oder ‚archaisierende‘ Tendenzen abzugrenzen; vgl. den gedankenreichen Aufsatz von Waldemar Görler: ‚Ex verbis communibus ΚΑΚΟΖΗΛΙΑ‘ – Die augusteischen ‚Klassiker‘ und die griechischen Theoretiker des Klassizismus, in: Le classicisme a Rome aux ers siècles avant et après J.–C., hg. von Olivier Reverdin und Bernhard Grange, Vandoeuvres-Genève , S. –, hier S. –. ¹⁷⁹ Auf diesen Umstand hat z. B. bereits Heusch: Das Archaische, S. f., zu Recht hingewiesen. ¹⁸⁰ Vgl. Hans Jürgen Molsberger: Abstrakter Ausdruck im Altlatein – Form und dramatische Funktion abstrakt-begrifflichen Sprechens in der altlateinischen Bühnensprache, Frankfurt am Main , besonders S. –, der zeigen konnte, dass unsere heutige, für die Neuzeit insgesamt charakteristische nominalistische Auffassung von ‚Abstraktion‘ als post rem gebildetem, inhaltsarmem und abgeblasstem Allgemeinbegriff für die Untersuchung antiker Texte nicht angemessen ist, da sie ein modernes Konzept unhinterfragt in einen vormodernen Kontext hineinträgt. Trotz einiger berechtigter Kritik in Einzelfragen (vgl. dazu Alfonso Traina: Sul problema dell’ astratto nel teatro latino arcaico, in: Poeti latini (e neolatini) – Note e saggi filologici, IV serie, Bologna , S. – (= RFIC  [], S. –), hat die Arbeit von Molsberger schon allein wegen des von ihm zugrundegelegten Ansatzes

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Ähnliche Tendenzen hat es auch in der Homerforschung immer wieder gegeben, wenn Interpreten den Text der Ilias und der Odyssee verschiendentlich als ‚archaisch‘, mithin naiv, oder aber auch ‚ursprünglich‘, also Zeugnis eines unüberbietbaren Originalgenies, aufgefasst haben. Dass es sich bei solchen Bezeichnungen um relationale Ausdrücke handelt, die nicht ohne die Gefahr, innere Widersprüche zu generieren, nebeneinander gesetzt werden können, wird hierbei zu wenig beachtet. So wird man im Gegenteil in den Werken des Ilias- und des Odyssee-Dichters „nicht [den] Ausdruck einer Frühzeit, sondern [...] Zeugnis eines Stadiums der Vollendung, der bewussten Aufarbeitung vorhandenen und bereits vielfach und vielfältig poetisch geformten Materials“¹⁸¹ sehen dürfen. Erst wenn man dies voraussetzt, kann man überhaupt nach der „individuellen Physiognomie“¹⁸² dieser beiden Dichtungen fragen und damit seinen Blick auf die spezifischen Bewegungen von Nachfolge und Absetzung richten, mit denen sich die Dichter der beiden Epen ihren Vorgängern gegenüber positionierten.¹⁸³ Auf den grundlegenden Unterschied, welcher die unter dem Namen Homers überlieferten Epen von denen anderer

bleibenden Wert. Ganz im Sinne des von mir in diesem Aufsatz Intendierten ist Molsbergers Kritik an in früherer Forschung entwickelten Thesen zur ‚Armut‘, die als ‚primitiver‘ aufgefasste Sprachstufen wie die des Altlateins angeblich gegenüber späteren hinsichtlich ihrer Möglichkeiten zu abstrakter Begriffsbildung aufweisen (ebd., S. –). In vergleichbarer Weise hat Michael Weißenberger: Liebeserfahrungen in den Gedichten Sapphos und das Problem des Archischen, in: RhM  (), S. –, überzeugend gezeigt, dass die Behauptung, es gebe eine „spezifisch archaische Sehweise“ in den Fragmenten Sapphos als Anzeichen für ein „archaisches Denken und Fühlen“ (ebd. S. ), sich an den Gedichttexten nicht verifizieren lässt. ¹⁸¹ Arbogast Schmitt: Homer, Ilias – ein Meisterwerk der Literatur?, in: Meisterwerke der Literatur – Von Homer bis Musil, hg. von Reinhard Brandt, Leipzig , S. –, hier S. . Dessen ungeachtet stellen die Epen Homers natürlich auch die jeweilige „Erstfixierung (und mit der Fixierung sich ergebende Umgestaltung)“ der vorher oralen Tradition dar, wie Walter Wimmel: Die Kultur holt uns ein – Die Bedeutung der Textualität für das geschichtliche Werden, Würzburg , S. , es formuliert hat; dies ist kein Widerspruch zum oben Gesagten. ¹⁸² Den treffenden Ausdruck dieses sehr wichtigen Forschungsparadigmas hat Ernst-Richard Schwinge: Die Odyssee – nach den Odysseen. Betrachtungen zu ihrer individuellen Physiognomie, Göttingen , geprägt. ¹⁸³ Ebd., S. : „Ebenso aber kann kein vernünftiger Zweifel bestehen, dass die Verfasser von Ilias und Odyssee in Kenntnis solcher Iliaden und Odysseen: also indem sie an sie anschlossen, sie reproduktiv fortführten, oder indem sie sich von ihnen absetzten, auf Distanz zu ihnen gingen, ihre eigenen Gedichte konzipierten.“

Die plautinische Komödie

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Dichter positiv absetzt, hat bereits Aristoteles, vor allem in der Poetik, nachdrücklich hingewiesen, nämlich eine adäquate Handlungsmimesis, was insbesondere die Darstellung der Charaktere, also die Beschreibung ihrer Gefühle, ihre Entscheidungsprozesse usw. angeht.¹⁸⁴ Wie man bereits den Homertext vergleichsweise häufig in der Absicht gelesen hat, zu seinen Vorläufern vorzudringen, wurde auch die Lektüre des Plautus sehr oft mit dem Zweck verbunden, mehr über seine Vorlagen zu erfahren. Doch auch dort, wo man ihn als eigenständigen Autor begreift, wird er in der Forschung immer noch häufig mit einem Maßstab gemessen, der weder den Vorlagen, von denen wir viel zu wenig wissen, um sicher urteilen zu können, noch seinen Adaptionen vollends gerecht zu werden vermag.¹⁸⁵ Ein auf Quellenforschung beruhendes Vorgehen mag in einem ersten Untersuchungsschritt berechtigt sein, schon weil sich Plautus selbst explizit neben die griechischen Komödiendichter stellt und damit zu einer komparatistischen Perspektive geradezu einlädt; aber dies kann eben nur ein erster (und nicht der wichtigste) Teil der Untersuchung sein, die schließlich zur Herausarbeitung der individuellen Physiognomie des Sarsinaten, zu einer besseren und genaueren ¹⁸⁴ Vgl. Arist. Poet. b–a. Zu der Gesamtthematik sowie terminologischen und literaturtheoretischen Implikationen vgl. jetzt Arbogast Schmitt: Aristoteles Poetik, Berlin , besonders S. , f., und –. Jüngst hat Arbogast Schmitt: Anschauung und Anschaulichkeit in der Erkenntnis- und Literaturtheorie bei Aristoteles, in: Anschaulichkeit und Literatur – Wege bildlicher Visualisierung in der europäischen Geschichte, hg. von Gyburg Radke-Uhlmann und Arbogast Schmitt, Berlin/Boston , S. –, hier v. a. S. f., deutlich und überzeugend die These zurückgewiesen, es habe bei Homer, also in den ‚archaischen‘ Anfängen des europäischen Denkens, eine ursprünglich-naive und einheitliche Anschauung aller Gegenstände in ihrer unverfälschten und natürlichen Erscheinungsweise gegeben. ¹⁸⁵ Vgl. den vorzüglichen Forschungsüberblick bei Gudrun Sander-Pieper: Das Komische bei Plautus – Eine Analyse zur plautinischen Poetik, Berlin/New York , S. –, wie überhaupt diese Arbeit, die konsequent einen methodischen Neuansatz vertritt und am Beispiel der Menaechmi umsetzt, in die Richtung dessen geht, was meiner Ansicht nach, die ich in dieser Studie rezeptionsgeschichtlich begründet habe, ein Desiderat einer neu sich orientierenden Plautusforschung sein sollte. Zu Recht weist Sander-Pieper dabei auf die amerikanischen Forschungen v. a. von H. W. Prescott und J. N. Hough hin, die bereits in den er und er Jahren eine ähnliche Richtung vertraten. Es kann in diesem Zusammenhang wenig wundern, wenn dieser Neuansatz der Palliatenforschung z. B. von Karl Büchner: Das Theater des Terenz, Heidelberg , S. , mit Blick auf Terenz kritisiert wurde, gerade eben weil „Terenz kein Originaldichter in unserem Sinne“ gewesen sei. Bei allem differenzierten Verständnis, das Büchner im Einzelnen für die Anliegen dieser neuen Forschungsrichtung zeigt, dreht sich seine Argumentation hier im Kreis. Ähnliches kann man in Studien zur Palliata teilweise bis in die jüngste Zeit beobachten.

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Boris Dunsch

Kenntnis der Gestaltungsprinzipien seiner Komödien führen könnte: einer individuellen Physiognomie, eines poetischen Wollens und einer technischen Souveränität, die man Plautus – si parva licet componere magnis – ebenso wie Homer zubilligen sollte. Zur Heuristik einer solchen Arbeit wird die Anwendung einer Kategorie wie der des ‚Archaischen‘, die mit wenig hilfreichen Implikationen neuzeitlicher Provenienz befrachtet ist, nicht viel beitragen können.¹⁸⁶

¹⁸⁶ Dies beantwortet die beiden zentralen und hilfreichen Fragen, die mir Hubert Zehnacker in einem anregenden Brief vom . Januar  gestellt hat: „D’un point de vue littéraire, l’archaïsme latin existe-t-il, ou n’est-il qu’une invention des modernes? Appliqué à Plaute et à la première période de la littérature latine, l’archaïsme est-il un concept utile?“

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Wie Horaz und ein Philologe die Satire erfanden¹ Literarhistorische Betrachtungen der römischen Satire pflegen in großer Einhelligkeit² in folgenden Schritten vorzugehen: i) Klärung des Begriffs Satire – ii) die Satire des Ennius – iii) Lucilius – iv) Varros menippeische Satire – v) Horaz, um dann Persius und Juvenal anzuschließen.³ Varianz besteht in der Frage, ob Varro (und Seneca mit der Apocolocyntosis) als ‚alternative Form‘ gesondert betrachtet wird oder nicht. Hierbei scheint ein Konsens zu bestehen, dass angesichts einer Grundbedeutung von satura als einer Art von Mischung, bunter Füllung oder Mélange⁴ dieser Begriff bei Ennius lediglich zur Betitelung eines Gedichtbuchs mit buntem Inhalt verwendet wurde,⁵ um dann von Lucilius umgeprägt zu werden: Lucilius figuriert daher als Erfinder der Gattung Satire:⁶ „The term [sc. satura] takes a drastic turn with Lucilius, the so called inventor of satire (see [sc. Horaz] S. ..), who established the genre’s characteristic form, focus, and tone in his monumental  books of ¹ Folgende Arbeiten werden im Folgenden nur mit dem Namen des Verfassers bzw. Herausgebers zitiert: Joachim Adamietz (Hg.): Die römische Satire, Darmstadt ; Werner Krenkel: Lucilius, Satiren. Lateinisch und deutsch, Berlin ; Gesine Manuwald (Hg.): Der Satiriker Lucilius und seine Zeit, München ; Werner Suerbaum (Hg.): Die archaischen Literatur von den Anfängen bis Sullas Tod, München  (HLL ). ² Hingewiesen sei jedoch auf die reflektierten Ausführung von Suerbaum (wie Anm. ), HLL , §  bzw. § . ³ So etwa Ulrich Knoche: Die römische Satire, Göttingen ⁴; Michael Coffey: Roman Satire, London ; Kirk Freudenburg (Hg.): The Cambrigde Companion to Roman Satire, Cambridge ; ähnlich in Konzeption und Durchführung Kirk Freudenburg/ Andrea Cucchiarelli/ Alessandro Barchiesi (Hgg.): Musa Pedestre. Storia e interpretazione della satira in Roma antica, Rom . ⁴ Siehe dazu Hubert Petersmann: „Der Begriff ‚Satura‘ und die Entstehung der Gattung“, in Adamietz (wie Anm. ), S. –. ⁵ So etwa Udo W. Scholz: „Die Satura des Q. Ennius“, in: Adamietz (wie Anm. ), S. –. ⁶ So etwa in den in Anm.  genannten Literaturgeschichten, die Belege können beliebig vermehrt werden: J. Wight Duff: Roman Satire. Its Outlook on Social Life, Berkeley , Kap. III „Lucilius, Creator of the Roman Type“; Johannes Christes: „Lucilius“, in: Adamietz (wie Anm. ) S. –.

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Saturae.“, schreibt etwa Kirk Freudenburg.⁷ Eine solche Einstufung der Bedeutung des Lucilius lässt sich mit augenscheinlich für altertumswissenschaftliche Verhältnisse unbestreitbarer Beweislage sichern. Denn kein geringerer als Horaz schreibt Lucilius die Erfindung der Satire zu, und Persius bestätigt dieses Urteil. So verkündet Horaz in Satire , : Eupolis atque Cratinus Aristophanesque poetae atque alii, quorum comoedia prisca virorum est, siquis erat dignus describi, quod malus ac fur, … […] multa cum libertate notabant. hinc omnis pendet Lucilius, hosce secutus, mutatis tantum pedibus numerisque […]. (Sat. , , –, /).

Und in Satire ,  stellt er „satura“ und Lucilius in eine Verbindung: Sunt quibus in satura videar nimis acer et ultra legem tendere opus; sine nervis altera quidquid conposui pars esse putat similisque meorum mille die versus deduci posse. […] … […] quid? cum est Lucilius ausus primus in hunc operis conponere carmina morem detrahere et pellem, nitidus qua quisque per ora cederet, introrsum turpis […]. (Sat. , , –, –)

Ein ähnliches Lucilius-Bild entwirft auch Persius: Sat. , –, […] secuit Lucilius urbem, te Lupe, te Muci, et genuinum fregit in illis. omne vafer vitium ridenti Flaccus amico tangit et admissus circum praecordia ludit, callidus excusso populum suspendere naso. … […] hoc ego opertum, hoc ridere meum, tam nil, nulla tibi vendo Iliade. audaci quicumque adflate Cratino ⁷ Kirk Freudenburg: Satires of Rome. Threatening Poses from Lucilius to Juvenal, Cambridge , S. .

Wie Horaz und ein Philologe die Satire erfanden

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iratum Eupolidem praegrandi cum sene palles, aspice et haec, si forte aliquid decoctius audis. (–).⁸

Bestätigung findet die Positionierung des Lucilius als des Erfinders der Satire in Literaturkritik und Grammatik. So heißt es im berühmten Abschnitt in Quintilians Institutio Oratoria (, , ): „satura quidem tota nostra est, in qua primus insignem laudem adeptus Lucilius […].“ Nichts anderes teilt Diomedes’ Ars Grammatica mit (Lib. III, GL Keil I , –): „Satira dicitur carmen apud Romanos nunc quidem maledicum et ad carpenda hominum vitia archaeae comoediae charactere conpositum, quale scripserunt Lucilius et Horatius et Persius. et olim carmen quod ex variis poematibus constabat satira vocabatur, quale scripserunt Pacuvius et Ennius. […].“ Diese Beleglage scheint also den Schluss geradezu zu fordern, dass Lucilius die ‚Satire‘ als literarische Form geschaffen habe. Freilich zeigen sich bei näherer Betrachtung einige gravierende Probleme. So liegt ein unübersehbares Paradox darin, dass in den Fragmenten des Lucilius der Begriff „satura“ als ‚Satire‘ schlichtweg fehlt,⁹ ja Verweise innerhalb der Fragmente auf sich selbst den Begriff ‚sermones‘¹⁰ benutzen: Cuius vultu ac facie ludo ac sermonibus nostris virginis hoc pretium atque hunc reddebamus honorem (Frg. / Kr).¹¹ gaudes, cum de me ista foris sermonibus differs (Frg.  Kr.).¹² et maledicendo in multis sermonibus differs (Frg.  Kr.).¹³ ⁸ „Lucilius hechelte Rom einst,/ Dich Lupus, Mucius dich – und zerbiss sich den Backzahn an ihnen./ Reizt doch verschmitzt ein Horaz dem lachenden Freund seine Schwächen,/ Setzt im Herzen sich fest, treibt dort sein ironisches Neckspiel,/ während er witzig die Menge des Volks am Narrenseil führet./ […] Und dieses Verdeckte,/ Dies mein eigenes Lachen, ein Garnichts, es ist mir um keine/ Ilias feil. Aber du, den der kühne Kratinos beflügelt,/ Der du vor Eupolis’ Zorn und dem alten Riesen erbleichest:/ Sieh auch dies, ob vielleicht ein geläuterter Klang draus zu hören!“ Übersetzung nach Otto Seel: Die Satiren des Persius. Lateinisch und deutsch, München ². ⁹ Statt dessen erscheint der Begriff ‚satura‘ als juristischer Terminus technicus in Frg.  Kr.: „per saturam aedilem factum qui legibus solvat“ ([der Senat], der den durch ein En-blocGesetz gewählten Ädilen dadurch von den gesetzlichen Bestimmungen entbindet), siehe dazu Krenkel (wie Anm. ) S.  ad loc. ¹⁰ Siehe dazu Udo W. Scholz: „Der frühe Lucilius und Horaz“, in: Hermes  (), S. –, hier S. /. ¹¹ „dem Antlitz und Aussehen dieses Mädchens zollten wir immer wieder in unserem ‚Spiel‘ und in unseren ‚Gesprächen‘ diesen Preis und diese Ehre“, Übersetzung W. Krenkel. ¹² „Du freust dich, wenn du derartige Dinge über mich bei den Leuten durch deine ‚Gespräche‘ verbreitest.“

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Darüber hinaus¹⁴ erscheinen ‚nostra poemata‘ (Frg.  Kr.) und ‚schedium‘ (Frg.  Kr.) zur Selbstbezeichnung der Lucilianischen Poesie. Dieser Befund korrespondiert in eigentümlicher Weise mit den Bezeichnungen, die Horaz für die Gedichte seines Vorgängers wählt: In Sat. , ,  heißt es lapidar: „genus hoc scribendi“, in Sat. , ,  „hoc“, in , ,  „sint qualiacumque“, in , ,  „haec ego ludo“. Horaz gibt also keinen spezifischen Begriff für Lucilius’ Satiren – die Forschung hat dies als absichtsvolles Vermeiden gedeutet, mit dem Horaz bei seinen Lesern die Erinnerung an Lucilius und dessen Satiren gleichsam überschreiben und seine eigene neue Art der Satiren-Dichtung etablieren wollte.¹⁵ Diese Deutung ist freilich evident fragil, da sie annimmt, dass a) Lucilius seine Gedichte Satiren genannt hat (wofür es keinen Beleg gibt) und b) Horaz diesen Begriff der Satire gemieden haben soll. ‚Ökonomischer‘ wäre angesichts der fehlenden Bezeugung für Lucilius anzunehmen, dass Horazens scheinbar unterminologische Bezeichnung des Lucilianischen ‚genus scribendi‘ eben die Praxis bei Lucilius spiegelt. Zu diesem sich aus der Beleglage für den Begriff ‚satura‘ ergebenden Problem tritt ein grundsätzlicheres Dilemma, das sich mit der Annahme, Lucilius sei der Schöpfer der Satire, verbindet. Denn hiermit wird ihm eine absichtsvolle Neuschöpfung einer Gattung zugeschrieben. Geht man dabei von den Positionen der Gattungstheorie aus, bedeutet dies nichts weniger, als dass Lucilius aus der ihm vorgängigen Gattung ‚Satura‘ = ‚Mélange‘, die augenscheinlich Ennius’ und Pacuvius’ Gedichtsammlungen darstellten, eine neue Gattung gleichen Namens geschaffen habe, indem er unter Anknüpfung an die Alte Komödie (so Horaz, Persius und Diomedes) Gedichte, für die er selbst die Bezeichnung ‚sermones‘ wählte, komponierte, die den Witz als Waffe einsetzten und Römer namentlich kritisierten. Diese Gedichte hätte er dann in einer oder mehreren Sammlungen (also Büchern) unter dem Titel ‚satura‘ oder ‚saturae‘ veröffentlicht. Erst hiermit würde ja aus den ‚sermones‘ die notwendige Reihe von aufeinander bezogenen Texten entstehen, die für die Verbindung zu einer Gattung ‚satura‘/Satire erforderlich ist. Der Befund zum Corpus Lucilianum ist freilich nicht geeignet, eine solche Konstruktion zu erlauben.¹⁶ Augenscheinlich wurde nach dem Tod des Lucilius eine Gesamtausgabe ¹³ „und durch üble Nachrede reißt du [mich] in vielen ‚Gesprächen‘ herunter.“ ¹⁴ Ob mit sermo/sermones in Frg.  und  die Gedichte bezeichnet werden, ist nicht erkennbar. ¹⁵ So etwa Freudenburg, Satires of Rome (wie Anm. ) S. ; C. A. van Rooy: Studies in Classical Satire and related Literary Theory, Leiden , S. –; Knoche (wie Anm. ) S. . ¹⁶ Zum Folgenden Suerbaum HLL  (wie Anm. ), § , S. –.

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seiner Gedichte in insgesamt  Büchern zusammengestellt, die nicht chronologisch, sondern – soweit erkennbar – metrisch strukturiert war. Buch  bis , die Werke enthielten, die zwischen  und  entstanden waren, enthielten hexametrische Gedichte; Buch  bis  umfassten wohl Epigramme, die sich im Nachlass des Lucilius fanden; Buch  bis  waren nach Metren gegliedert (Buch /: trochäische Septenare; Buch /: iambische Senare und daktylische Hexameter; Buch : Hexameter). Diese Bücher  bis  sind wahrscheinlich zwischen  und  entstanden. Lucilius hat nach Auffassung der Forschung¹⁷ in diesen frühen Büchern sein ‚neues‘ Konzept von Satire entwickelt: Sowohl für die Fragmente aus Buch  (das dann ein „Buch “ der neuen Gattung bedeutete) als auch für Fragmente aus Buch  (dem dann abschließenden Buch  der neuen Gattung) sind in unterschiedlichen Rekonstruktionen programmatische Gedichte – in der Art der Horazischen Satiren , ; ,  oder ,  – angesetzt worden. Akzeptiert man dies (unbeschadet, wie man sich konkret die programmatischen Satiren denkt), so ergibt sich freilich eine ‚generische‘ Aporie. Denn nun hätte der junge Lucilius in seinen frühen Büchern (– bzw. – der späteren Gesamtausgabe) einen neuen Begriff ‚satura‘ = Satire geschaffen, um ihn in seinen späteren Büchern (also – der Gesamtausgabe) wieder ‚aufzuweichen‘ und zum Ennianischen satura-Begriff zurückzukehren. Denn der wahrhaft bunte Eindruck, den die Fragmente dieser späteren Bücher hinterlassen, lässt sich zweifellos nicht mehr mit dem Satire-Begriff verbinden, den man aus der Horazischen Beschreibung des Lucilius gewinnt. Die bislang von der Forschung angenommene Stellung des Lucilius in der Entwicklung der Gattung, so darf man aufgrund dieser Probleme feststellen, ist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Aber deuten nicht die eingangs zitierten vier Testimonien, Horaz, Persius, Quintilian und Diomedes unzweifelhaft auf die von der communis opinio eingenommene Position? Betrachtet man freilich diese Zeugnisse näher, ergibt sich, dass Persius – in seiner Weise – wiederholt,¹⁸ was Horaz bietet: den Rückbezug des nominatim laedere bei Lucilius auf die Alte Komödie, auf Kratinos, Eupolis und Aristophanes, dass Diomedes, der dieselben Merkmale anführt (ad carpenda hominum vitia compositum, character archaeae comoediae) ebenfalls auf Horaz ¹⁷ So etwa Scholz (wie Anm. ); siehe ferner die anders akzentuierenden Rekonstruktionen von Johannes Christes: Der frühe Lucilius, Heidelberg , bzw. ders.: „Der frühe Lucilius und Horaz. Eine Entgegnung“, in: Hermes  (), S. –. ¹⁸ So bereits Richard Reitzenstein: „Zur römischen Satire“, in: Hermes  (), S. –, hier S.  und .

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gegründet sein könnte, dass Quintilian schließlich ‚unterspezifisch‘ die Satire bestimmt. De facto gelangt man mit Persius und Diomedes nicht über die Bestimmung hinaus, die Horaz für Lucilius gibt. Es eröffnen sich nun zwei Möglichkeiten, diesen Befund zu deuten: Entweder liegt Horaz, Persius und Diomedes eine gemeinsame Quelle zugrunde, oder die späteren Texte basieren auf dem frühesten, d. h. auf Horaz. Den ersten Deutungsweg hat in einem scharfsinnigen Aufsatz (der u. a. Diomedes auf Sueton zurückführt) Friedrich Leo beschritten und als Quelle Varro zu erweisen gesucht.¹⁹ Indes konnte er trotz beträchtlicher Gelehrsamkeit keinen Nachweis führen, dass der Reatiner Alte Komödie und Satire verbunden hat;²⁰ hinzu kommt, dass Horaz in seiner Epistel an Augustus augenscheinlich literaturkritisch gänzlich anders als Varro urteilt.²¹ So empfiehlt sich also die Rückführung der Horazischen Kombination auf den Reatiner nicht, und es liegt näher, die Ausführungen in Sat. ,  zunächst für Horaz selbst in Anspruch zu nehmen. Was geschieht nun in Sat. , ? Bei linearer Lektüre des ersten Buches²² – das mit dem Titel Sermones seinem Leser zunächst anriet,²³ es in der Tradition der ‚sermones‘ eines Lucilius zu lesen und zu verstehen – entfalten die ersten ¹⁹ Friedrich Leo: Varro und die Satire, in: ders., Ausgewählte kleine Schriften, Rom , S. – (zuerst ). ²⁰ Siehe Leo (wie Anm. ) – – es fehlt (wie wir sehen werden: aus gutem Grund) die Verbindung zwischen den Definitionen der Typen der griechischen Komödie und Lucilius oder der Satire in allen von Leo beigezogenen Traktaten. Es sei zudem darauf hingewiesen, dass immerhin Adolf Kiessling: Q. Horatius Flaccus. Satiren. erkl., Berlin  (nicht mehr in den folgenden, von Richard Heinze betreuten Auflagen), S.  (zu Sat. , , ) einen Gegensatz zwischen Horaz’ und Varros Anschauungen über die Genese der Lucilianischen Satire annahm und für Varro – mit Hinweis auf Johannes Lydus: De magistratibus ,  eine Ableitung des Lucilius von Rhinthon her vornahm. ²¹ Dies erkennt auch Leo (wie Anm. ) S.  an, um es mit einem Wandel der Ansichten des Horaz zu erklären: „Erst lange nach Varros Tode wendet sich der in seinen Überzeugungen erstarkte Horaz, in dem der Geist der Zeit mächtig geworden, mit Keulenschlägen gegen den Standpunkt Varros.“ ²² Vgl. dazu die Analysen des Aufbaus von Buch  durch Walter Ludwig: „Die Komposition der beiden Satirenbücher des Horaz“, in: Poetica  (), S. –; James E. G. Zetzel: „Horace’s Liber sermonum. The Structure of Ambiguity“, in: Arethusa  (), S. –, sowie zuletzt ausführlich Ortwin Knorr: Verborgene Kunst. Argumentationsstruktur und Buchaufbau in den Satiren des Horaz, Hildesheim . ²³ Die Mss. geben einhellig ‚sermones‘ als Titel sowohl für Buch  wie für Buch , siehe die Bemerkung O. Kellers in Otto Keller, Alfred Holder (Hgg.): Q. Horati Flacci opera, Vol. II, Jena ², S. , zum Titel: „ex omnibus quos contulimus libris nullus exhibet titulum saturarum.“

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drei Gedichte das breite Spectrum menschlicher Unzulänglichkeiten: Wankelmut und Unzufriedenheit, Habgier und Genusssucht (Sat. ), eheliche Untreue (Sat. ), ungeeignete Behandlung der Freunde und ihrer Fehler (Sat. ). In diesen ersten drei Gedichten fällt kein Wort über ihre literarische Einordnung: Horaz vermeidet es augenscheinlich, seinen Lesern konkrete Hinweise auf die literarische Tradition zu geben, in die sich die sermones stellen wollen. Dies ändert sich, gleichsam paukenschlagartig, mit dem Auftakt von Sat. , . Hier greift Horaz scheinbar literarhistorisch aus, indem er das sattsam philologisch aufgearbeitete Phänomen des ὀνομαστὶ κωμῳδεῖν der Alten Komödie²⁴ (zu dem die hellenistische Literaturwissenschaft ja bereits Kataloge der κωμῳδούμενοι erarbeitet hatte²⁵) mit den Gedichten des Lucilius in Verbindung bringt²⁶ und auf diese Weise an der Erschaffung einer Gattung arbeitet.²⁷ Denn wenn Lucilius seine Gedichte lediglich ‚sermones‘ genannt hat und deren Sammlung mit dem breiten Sammelbegriff der ‚satura‘ bezeichnet werden konnte, so bedeutete dies, dass die poemata Lucili im Niemandsland des Gattungssystems lagen. Mit dem Auftakt von Sat. ,  konstruiert Horaz also eine ‚Ursprungsgeschichte‘ und einen inventor, in dessen Nachfolge er sich selbst mit den Sat. ,  bis  gestellt hat und zu dem er sich mit Sat. ,  in eine spannungsreiche Nachfolge schreibt.²⁸ Die Rhetorik seiner Charakterisierung des Lucilianischen Dichtens ist implikationsreich: ²⁴ Siehe als späte Reflexe dieser Arbeit die von W. J. W. Koster herausgegebenen Prolegomena de Comoedia (Scholia in Aristophanem, Pars I, Fasc. I A, Groningen ), dort etwa Nr. , p. , Z. /, bzw. Nr. , p.  Z. /. ²⁵ Siehe J. Steinhausen: Κωμῳδούμενοι. De grammaticorum veterum studiis ad homines in comoedia attica irrisos pertinentibus, Diss. Bonn ; berühmt waren hier etwa die Schriften des Ammonios oder des Krates-Schülers Herodikos (s. dazu neben Steinhausen Rudolf Pfeiffer: Geschichte der Klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, München ², S. . Die Fragmente beider Autoren bietet Andrea Bagordo: Die antiken Traktate über das Drama. Mit einer Sammlung der Fragmente, Stuttgart/Leipzig , dort Nr.  [Ammonios] bzw. Nr.  [Herodikos]). Hingewiesen sei auch auf die antiquarischen Sammlungen ‚Über athenische Hetären‘, die Aristophanes von Byzanz (FGrHist  F /) bzw. nach Ausweis des Athenaios, Deipnosophistai ,  p.  A, noch zahlreiche weitere Philologen verfassten. ²⁶ Ulrich Knoche: „Betrachtungen über Horazens Kunst der satirischen Gesprächsführung“, in: Philologus  (), S. – bzw. –, hier S.  Anm. , zog aus Sat. , ,  den Schluss, dass Horaz die Ausführungen der Traktate Περὶ κωμῳδίας bekannt waren. ²⁷ Vgl. hierzu Konrad Heldmann: „Die Wesensbestimmung der Horazischen Satire durch die Komödie“, in: A&A  (), S. –. ²⁸ Instruktiv hierzu auch Katherine Schlegel: Satire and the Thread of Speech, Madison , S. –.

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nam fuit hoc vitiosus: in hora saepe ducentos, ut magnum, versus dictabat stans pede in uno cum flueret lutulentus, erat quod tollere velles; garrulus atque piger scribendi ferre laborem, scribendi recte: nam ut multum, nil moror. (Sat. , , –).

In dieser Beschreibung der Dichtkunst des Vorgängers lässt Horaz die Kallimacheische Kritik²⁹ am hellenistischen Großepos anklingen, die in Apolls Rede an Momos enthalten ist: Ἀσσυρίου ποταμοῖο μέγας ῥόος, ἀλλὰ τὰ πολλά λύματα γῆς καὶ πολλὸν ἐφ' ὕδατι συρφετὸν ἕλκει. (Hym. Ap. V. /);

darüber hinaus entspricht der Tadel am Vielschreiber Lucilius der Kallimacheischen Kritik an den Telchinen im Aitien-Prolog (Frg. , – Pf.).³⁰ Hinzu kommt, dass Horaz sich in Sat. ,  als Dichter zeichnet, den die Masse nicht liest: […] cum mea nemo scripta legat, volgo recitare timentis ob hanc rem, quod sunt quos genus hoc minime iuvat, utpote pluris culpari dignos. […]. (Sat. , , –).

Hiermit greift Horaz auf die inszenierte Abscheu vor dem Gemeinen in Kallimachos’ berühmten Echo-Epigramm (Ep.  Pf.) zurück,³¹ gibt der Abgrenzung allerdings eine andere Begründung, wenn er sie nicht im Ästhetischen, sondern im Moralischen ansiedelt. Freilich dienen diese indirekten Zitate der Poetologie des Kallimachos nicht dazu, Horaz als Kallimacheer zu zeichnen.³² Vielmehr haben sie eine persuasiv-rhetorische Funktion, da ²⁹ Dass Horaz die Werke des Kyreners vertraut waren, zeigen die Anklänge an Kall. Ep.  in c. , ,  bzw. c. , , ; vgl. dazu auch Walter Wimmel: Kallimachos in Rom, Wiesbaden  bzw. Hans Joachim Mette: „‚Genus tenue‘ und ‚Mensa tenuis‘ bei Horaz“, in: MH  (), S. –; Therese Fuhrer: „Was ist gute Dichtung? Horaz und der poetologische Diskurs seiner Zeit“, in: RhM  (), S. –, hier S. /. ³⁰ Siehe auch Niklas Holzberg: Horaz. Dichter und Werk, München , S. /. ³¹ Siehe dazu Ernst-Richard Schwinge: „Poetik als praktizierte Poetik: Kallimachos’ Echo-Epigramm“, in: WJB a (), S. –. ³² Siehe dazu Ernst-Richard Schwinge: „Zur Kunsttheorie des Horaz“, in: Philologus  (), S. –.

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über den Prätext des kyrenischen Dichters eine als gerechtfertigt erscheinende Abgrenzung vom – ja konstruierten – Vorgänger vorgenommen werden kann, einem Vorgänger, dessen Zielsetzung, Fehler zu tadeln, Horaz aufnimmt und weiterführt („utpote pluris/ culpari dignos“), dessen Kunstfertigkeit allerdings nur in der Quantität, nicht in der Qualität liegt. Ob die hier von Horaz entworfene Sicht auf Lucilius angemessen ist, kann bezweifelt werden.³³ Wirkungsmacht geht freilich von ihr aus, wie die Rezeption bei Persius und Diomedes (und in der modernen Forschung) zeigt, und Horaz hat sie durch die Wiederholung im Abschluss-Gedicht des ersten Buches noch verstärkt: Nempe incomposito dixi pede currere versus Lucili […]. (Sat. , , /)

Elegant als Verteidigung gegen ein Missverstehen seiner Lucilius-Kritik getarnt heben sich hier zusammenfassend die Merkmale der Horazischen sermones-Dichtung gegen die Darstellung der Eigenheiten des Vorgängers ab: holpriges Versmaß (V. ), politische Invektive (V. /), Länge (V. : enthalten in „est brevitate opus […].“), Mischung griechischer und lateinischer Wörter im Gedicht (V. /)³⁴ stehen für Lucilius zu Buche – und bedeuten gleichzeitig, dass Horaz’ Gedichte metrische Eleganz, Verzicht auf Invektive, prägnante Kürze und sprachliche Reinheit für sich in Anspruch nehmen, sich zugleich aber als Fortsetzung der Lucilischen sermones verstehen dürfen. Im Resultat hat Horaz damit seine sermones durch die Konstruktion der Beziehung zu den sermones des Lucilius in eine veritable ‚Gattungtradition‘ eingeschrieben, ja sie eigentlich erschrieben. Er hat dafür Lucilius’ poemata auf die Facette der politisch-moralischen Satire reduziert und seine eigenen sermones davon abgehoben und gleichsam stilistisch-poetologisch veredelt. Er macht sich durch diese Abgrenzung gleichsam selbst zu einem Klassiker. Mit seinem zweiten Buch sermones setzt Horaz die Ausgestaltung seiner neuen literarischen Form fort. Sie ist augenscheinlich für die Leser soweit etabliert, dass das zweite Buch sogleich mit einem neuerlichen Programm³³ Eine veritable ‚Rettung‘ des Lucilius hat bekanntlich Mario Puelma-Piwonka: Lucilius und Kallimachos, Zürich , unternommen. Siehe dazu auch Andreas Bagordo: „Lucilius und Kallimachos“, in: Manuwald (wie Anm. ), S. –. ³⁴ Siehe dazu auch Thomas Baier: „Lucilius und die griechischen Wörter“, in: Manuwald (wie Anm. ), S. –.

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Gedicht eröffnet werden kann.³⁵ Wiederum skizziert Horaz seine literarische Form durch die Erwiderung auf (wohl fingierte) Kritik: Sunt quibus in satura videar nimis acer et ultra legem tendere opus; sine nervis altera quidquid conposui pars esse putat similisque meorum mille die versus deduci posse. […]. (Sat. , , –).

Hier fällt endlich der Begriff Satire – und damit scheint Horaz an prominenter Stelle schließlich doch seine sermones-Dichtung als Satiren zu benennen und die Gattung, die er von Lucilius übernommen hat, so fortzuschreiben, wie es e. g. Quintilian und Diomedes zu bezeugen scheinen. Indes ist diese Lesart nur dann möglich, wenn Begriff und Gattung bereits von Lucilius geprägt worden sind. Hierfür gibt es, wie gezeigt wurde, jedoch keine brauchbaren Anhaltspunkte. So liegt eine andere Lektüre dieses ersten Verses des zweiten sermones-Buches nahe, die den Ennianischen satura-Begriff (bezeichnenderweise gebraucht ja Horaz auch nur den Singular) zugrunde legt. Die zitierten Verse heißen also schlicht: Einigen erscheine ich in der Gattung der Mélange zu scharf und den Bogen über die für diese Gattung geltenden Gesetze hinaus zu spannen. Ohne Kraft, so meint der andere Teil, sei, was auch immer ich gedichtet habe, und dass man am Tag tausend Verse produzieren könne, die Ebenbilder der meinen sind.

Horaz sieht damit seine Dichtung, die sermones in der Tradition des reduzierten Lucilius, von einigen Kritikern im Verstehenshorizont der poetischen Groß- und Sammelform satura eines Ennius bzw. eines ‚kompletten‘ Lucilius angesiedelt. Hier würde sich dann scheinbar zunächst die kunstvolle Reduktion des Lucilius gleichsam rächen, die Kritiker, die den ganzen Lucilius vor Augen haben, im ersten sermones-Buch die bunte, ausgleichende Fülle des Ennius oder Lucilius vermissen und in der Konzentration auf das „ridentem dicere verum“, also das horazische Satirische, ein „nimis acer“³⁶ feststellen. Erst bei dieser Interpretation wird dieser erste Vorwurf verständlich, der, legte ³⁵ Zum Gebrauch rhetorisch-literaturkritischer Terminologie in Sat. ,  siehe Kirk Freudenburg: „Horace’s Satiric Programm and the Language of Contemporary Theory in Satire , “, in: AJP  (), S. –. ³⁶ Zum Begriff ‚acer‘ vgl. Hor. ep. , .

Wie Horaz und ein Philologe die Satire erfanden



man als Maßstab den ‚satirischen Lucilius‘ der communis opinio zugrunde, ja kein fundamentum in re hätte. Der Kritik, die lex saturae verfehlt zu haben, stellt sodann Horaz ein gleichsam polar entgegengesetzes Monitum gegenüber: fehlende Strukturierung seiner sermones, scheinbar belanglos aneinandergereihte Verse – auch dieser Angriff hat, wie etwa die vergeblichen bzw. komplizierten Versuche zeigen, die ersten drei sermones des ersten Buches als thematisch konsistent zu erweisen, ein gewisses fundamentum in re, in der Horazischen „Kunst der satirischen Gesprächsführung“ (Knoche). Gleichzeitig hat Horaz in dieser doppelten Kritik auf zwei Spezifika seiner sermones hingewiesen und um ein entsprechendes Verständnis geworben, auf die für eine satura ungewöhnliche Schärfe und auf die absichtsvoll lockere Komposition. Dies ergänzt er im Folgenden – wiederum mit Rekurs auf Lucilius um eine weitere Komponente: […] me pedibus delectat claudere verba Lucili ritu, nostrum melioris utroque. Ille velut fidis arcana sodalibus olim credebat libris neque, si male cesserat, usquam decurrens alio neque, si bene; quo fit ut omnis votiva pateat veluti descripta tabella vita senis. sequor hunc […]. (Sat. , , –).

Diese besondere Konstruktion des Sprecher-Ichs, das die sermones auszeichnet und zu biographischen Spekulationen einlädt, leitet Horaz von Lucilius her – soweit den Fragmenten zu entnehmen ist: mit Berechtigung.³⁷ Mit dieser Eröffnung des zweiten sermones-Buches hat also Horaz einerseits seine Konstruktion der Form ‚sermones‘, die das erste Buch vorgenommen hat, wiederholt und bekräftigt, andererseits – erneut mit Bezug auf Lucilius – eine weitere Facette, das Moment des Persönlich-Biographischen, konkretisiert und zum Merkmal der Form erhoben. Nicht jedoch hat er den Gattungsbegriff ‚Satire‘ hier etabliert, da er mit „in satura“ auf die alten Ennianische Mélange Bezug nimmt. Er bleibt bei der im ersten Buch geprägten Bezeichnung sermo.³⁸ ³⁷ Siehe hierzu insbesondere Ernst A. Schmidt: Musen in Rom. Deutung von Welt und Geschichte in großen Texten der römischen Literatur, Tübingen , S. –, der besonders auf Frg. / und  Kr. hinweist. ³⁸ Gegen diese Interpretation spricht auch nicht der zweite Fall des Gebrauchs von ‚satura‘ in den sermones-Büchern, , , : „ergo ubi me in montes et in arcem ex urbe removi, / quid prius inlustrem saturis musaque pedestri?“ Denn Horaz scheint hier absichtlich den wei-

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Martin Hose

Wenn man also festhalten kann, dass Horaz mit den beiden Büchern sermones eine – im modernen Sinn – satirische Form sowohl in der tatsächlichen Ausgestaltung der einzelnen Gedichte als auch durch die Konstruktion einer Gattung im Rückbezug auf einen Ausschnitt aus dem großen Corpus der Lucilianischen poemata geschaffen hat, so stellt sich die Frage, wie die Vorstellung entstehen konnte, dass Horaz hier Satiren in Fortsetzung des Lucilius gedichtet habe. Eine Spur, die zu einer Antwort führt, findet sich im Kommentar des Porphyrio³⁹ zu den sermones, in dem es heißt: quamvis saturam opus hoc suum Horatius ipse confiteatur, cum ait ‚Sunt quibus in satura videar nimis acer et ultra legem tendere opus,‘ tamen proprios titulos voluit ei accomodare. nam hos priores libros Sermonum, posteriores Epistularum inscripsit. in sermonum autem vult intellegi quasi apud praesentem se loqui, epistulas vero quasi ad absentes missas.

Wenn Porphyrio als Beispiel für den Umgang antiker Philologen mit Poesie gelten darf,⁴⁰ lässt sich folgender Gang der Dinge rekonstruieren: Wie im Fall des Lucilius⁴¹ ist auch für Horaz bereits eine wohl kurz nach seinem Tod einsetzende Kommentierung bezeugt, die sich an Namen wie Valerius Probus,⁴² Claranus oder Aufidius Modestus⁴³ knüpft.⁴⁴ Diese Philologen standen vor dem Problem der Zuordnung der sermones zu den ihnen geläufigen Gattungen (augenscheinlich waren sie nicht bereit, den Begriff sermo als Gattungsbegriff zu akzeptieren, wie das zitierte Zeugnis des Porphyrio nahelegt). Auf der Suche nach textinternen Hinweisen auf eine Gattung stießen sie auf Sat. , ,  und zogen den Schluss, dass Horaz offensichtlich seine sermones ‚eigentlich‘ als Satiren ansah, und da Horaz mit zahlreichen deiktischen Verweisen („genus hoc scribendi“) auf Lucilius zurückgriff, wurden für die Philologen auch die sermones des Lucilius zu Satiren. Diese Einstufung wirkte

³⁹ ⁴⁰ ⁴¹ ⁴² ⁴³ ⁴⁴

ten, ennianischen Begriff zu benutzen, um das angekündigte Thema, ein Loblied auf das friedliche Landleben, das thematisch dem Bereich der ‚Satire‘ fern steht, gattungskonform einbeziehen zu können. Zitiert nach Wilhelm Meyer (rec.): Pomponii Porphyrionis commentarii in Q. Horatium Flaccum, Leipzig , p. . Siehe hierzu James Zetzel: Latin textual criticism in antiquity, New York . Siehe zu ihm die Zusammenstellung von Krenkel (wie Anm. ) Bd. , S. /. Siehe hierzu neben Sueton, De Grammaticis et Rhetoribus  insbesondere Frg  (Reifferscheid): „[…] Probus, qui illas [sc. adnotationes] in Virgilio et Horatio et Lucretio apposuit ut Homero Aristarchus.“ Siehe Martial ,  mit Porphyr. ad Horat. Sat. , , . Siehe hierzu Peter Lebrecht Schmidt: s. v. „Horaz“, in: RAC  (), Sp. –, hier .

Wie Horaz und ein Philologe die Satire erfanden



rasch: Quintilian (s. o.) und Juvenal⁴⁵ übernahmen und kanonisierten sie.⁴⁶ Damit war ‚die‘ Satire entstanden, und zugleich ein philologisches Problem: Wie passten die Ennianische satura (= Mélange) und die vorgeblich ‚von Lucilius erfundene‘ Satire zusammen? Diomedes (s. o.) konstatierte die Existenz zweier Typen von carmina, nunc et olim, und um den neuen Typ zu begründen, ersannen die Philologen verschiedene Herleitungen, darunter auch die pseudo-etymologisch naheliegende, die die Satyrn ins Spiel brachte: „Satura autem dicta sive a Satyris, quod similiter in hoc carmine ridiculae res pudendaeque dicuntur, velut quae a Satyris proferuntur et fiunt; sive satura a lance, quae referta variis multisque primitiis […] satura vocabatur […],“ fährt Diomedes fort. Damit war es geschehen. Aus der breiten Bezeichnung satura für Gedichte gemischten Inhalts – sie liegt auch noch den sog. Menippeischen Satiren Varros zugrunde⁴⁷ – wurde durch die Kombination des Horazischen Versuchs, seine neue Form der sermones durch den Rückgriff auf Lucilius als Gattung zu legitimieren, mit einem Missverständnis eines römischen Philologen die ebenso wirkungsmächtige wie problematische Gattung Satire.⁴⁸

⁴⁵ Siehe Iuv. Sat. , : „difficile est saturam non scribere“. ⁴⁶ Für Persius ist nicht erkennbar, ob er an eine Lucilische oder Horazische Satire oder an sermones denkt, wenn er sich auf seine Vorbilder beruft. Der Begriff satura fehlt in seinen Gedichten. Zu Persius’ Verhältnis zu Lucilius, das die biographische Tradition als eigenständigen Zugriff sieht, vgl. etwa G. C. Fiske: „Lucilius and Persius“, in: TAPhA  (), S. –; E. Gaar: „Persius und Lucilius“, in: WSt  (), S. –. ⁴⁷ Siehe hierzu etwa Werner Krenkel, Marcus Terentius Varro. Saturae Menippeae. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert, St. Katharinen , Bd. , p. XXVI: „Die Form der menippeischen Satiren des Varro ist in mehrfacher Hinsicht recht vielfältig […].“ Was die „Satiren“-Dichtung des Varro auszeichnet, ist nicht das ‚Satirische‘ in modernem Sinn, sondern die Ausrichtung einer bunten Fülle poetisch-prosaischer Formen auf die Diatribe des Menippos, siehe dazu Krenkel p. XXI–XXVI. ⁴⁸ Für Hinweise danke ich Therese Fuhrer, Martin Schrage und Claudia Wiener.

Konrad Heldmann

Der Kaiser singt zur Kithara. Tacitus über Neros Künstlerkarriere und den Gang der Geschichte¹ Das einhellig negative Nero-Bild der Antike ist, anders als beim malus princeps üblich, nicht nur vom Vorwurf des Despotismus, sondern auch dadurch geprägt, dass Nero sich trotz seines hohen Amtes leidenschaftlich als Wagenlenker und Kitharöde betätigte und schließlich sogar öffentlich als Bühnensänger auftrat. Die Faszination, die von dem Bild eines römischen Kaisers ausgeht, der sich in erster Linie als Künstler versteht („Qualis artifex pereo“), hat bis in die Neuzeit hinein fortgewirkt und ist sogar im Film des . Jahrhunderts durch Peter Ustinovs geniale Verkörperung des Künstlerkaisers Nero lebendig geworden. Die drei wichtigsten literarischen Quellen, die für dieses Nero-Bild maßgeblich und die uns entweder ganz (Sueton), teilweise (Tacitus, bis zum Jahre  n. Chr.) oder in knapperen Auszügen (Cassius Dio) erhalten sind, stimmen zwar insgesamt so weit miteinander überein, dass sie auf eine gemeinsame Überlieferung zurückgeführt werden können, weichen aber in wichtigen Einzelzügen auch deutlich voneinander ab. Die Forschung hat sich in zahlreichen mit Umsicht und Sorgfalt durchgeführten Arbeiten der daraus resultierenden Aufgabe gestellt und die überlieferten Fakten und den Ablauf der Ereignisse sowie das Selbstverständnis Neros als Prinzeps zu rekonstruieren versucht. Darüber ist jedoch die umgekehrte Perspektive zu kurz gekommen, nämlich die Perspektive des Autors, der das historische Material für seine eigenen Zwecke benutzt, bis hin zur Geschichtsschreibung als Politik mit anderen Mitteln. Tacitus hat, um den Weg Neros vom jugendlichen Prinzeps zum professionellen Bühnensänger – und damit auch zum Despoten – im Sinne eines

¹ Der Beitrag wurde im Mai  fertiggestellt und eingereicht. Seither erschienene Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Wegen zahlreicher Berührungspunkte verweist der Verfasser jedoch auf seine zwischenzeitlich erschienene Studie „sine ira et studio. Das Subjektivitätsprinzip der römischen Geschichtsschreibung und das Selbstverständnis antiker Historiker“ (München ).

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Konrad Heldmann

politischen Lehrstücks als eine schrittweise Enthemmung darstellen und entsprechend seiner Deutung der Prinzipatsgeschichte ursächlich auf die Willfährigkeit des Senats zurückführen zu können, stärker als bisher erkannt in die ihm vorliegende Überlieferung eingegriffen und dafür auch Widersprüche innerhalb seiner eigenen Darstellung in Kauf genommen. Neros Theaterleidenschaft beginnt bei ihm erst im Jahre  mit der Selbstunterwerfung des Senats nach dem Muttermord, und sie erreicht ihren Höhepunkt analog dazu mit dem Vorschlag seiner Vergöttlichung zu Lebzeiten im Jahre , die zu Neros erstem öffentlichen Auftritt als professioneller Kitharöde in Rom führt und zugleich, eingeleitet durch einen irrationalen Gewaltakt gegen seine Gattin Poppaea, zum Beginn seiner Willkürherrschaft nach Art orientalischer Despoten. Dies wird im Folgenden in fünf Abschnitten vorgeführt: . Der tödliche Fußtritt. – . Claqueure machen Geschichte. – . Theater und Zirkus, Prinzeps und Pöbel. – . Prinzeps, Wagenlenker und Bühnensänger: Stationen einer Karriere. – . Letzter Akt: Der Kaiser singt für Rom.  Der tödliche Fußtritt Im Jahre  n. Chr., dem Jahr, in dem Nero zum zweiten Male die nach ihm benannten Fünfjahresspiele durchführen ließ², starb seine Gattin Poppaea Sabina während einer Schwangerschaft. Todesursache war nach einhelliger antiker Überlieferung³ ein Fußtritt Neros. Wie es dazu kam, wird jedoch unterschiedlich dargestellt. Tacitus berichtet in seinen Annalen, Nero habe seiner Gattin den Fußtritt aus einer zufälligen Zornesaufwallung heraus versetzt (ann. , , : fortuita mariti iracundia). Zugleich widerspricht er ganz entschieden einer Überlieferung, in der Nero ein Giftmord unterstellt wurde. Die Autoren, die so etwas behaupteten, hätten sich aus persönlichem Hass über die Tatsachen hinweggesetzt (odio magis quam ex fide). Wer diese Historiker waren, sagt Tacitus nicht, und die moderne Forschung hat ihn unisono dafür kritisiert, weil er selbst kurz zuvor ausdrücklich versprochen habe, bei divergierenden Versionen seiner Gewährsmänner deren Namen anzugeben.⁴ Sie ist damit jedoch einem, ² Zur Datierung der zweiten Neronia s. u., S. f. und Anm. . ³ Eine konzise Übersicht über das Quellenmaterial, das Tacitus, Sueton und Dio für den Prinzipat Neros benutzt haben, gibt Griffin – (= Appendix ). ⁴ Tac. ann. , , . Für die moderne Quellenforschung wäre es gewiss hilfreich gewesen, wenn Tacitus hier und anderswo Namen genannt hätte, und unter diesem Aspekt hat Syme f. einen kurzen Überblick über die einschlägigen Perikopen gegeben und zu unserer

Der Kaiser singt zur Kithara

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wie mir scheint, fundamentalen Missverständnis erlegen. Denn Tacitus hat die Polemik gegen die Autoren, die Nero einen Giftmord unterstellt hatten, so formuliert, dass sie als Selbstzitat und Rückverweis auf das Proömium zu den Annalen gelesen werden muss. Dort hatte Tacitus die Wahl seines Themas damit begründet, dass die Geschichte der Kaiser Tiberius, Caligula, Claudius und Nero in den bisherigen Darstellungen verfälscht worden sei: zu Lebzeiten der Herrscher aus Furcht und Liebedienerei und nach deren Tode aus frischem Hass (recentibus odiis).⁵ Es ist dies einer der berühmtesten Sätze des Tacitus überhaupt, weil er darin das, was aus seiner Sicht Grundprinzip der Geschichtsschreibung sein muss, auf den Begriff gebracht und zugleich seinen Vorgängern, soweit sie dagegen verstoßen hatten, die Qualifikation als Historiker abgesprochen hat. Wir wissen wenig darüber, wie die von Tacitus im Annalen-Proömium angeprangerten Verfälschungen der Geschichte aussahen, aber hier, im Bericht über den Tod der Poppaea Sabina, bekommen wir ein illustratives Einzelbeispiel dafür. Nicht eine negative oder positive Tendenz ist das Kriterium für eine Verfälschung der Geschichte, sondern das Motiv, von dem sich ein Historiker bei seiner subjektiven Darstellung leiten lässt; und wenn eine solche Darstellung durch persönlichen Hass motiviert ist, dann hat das eben zur Folge, dass einem Kaiser auch ein Giftmord angehängt wird, den er gar nicht begangen hat. Diese Leute auch noch namentlich zu erwähnen, wäre dann doch zuviel der Ehre gewesen, ganz abgesehen davon, dass Tacitus mit seiner Ankündigung, seine Gewährsmänner anzugeben, wohl ohnehin nicht ganz so viel versprochen hat, wie man ihm zu unterstellen pflegt.⁶ Stelle die Vermutung geäußert, dass Tacitus aus künstlerischen Erwägungen darauf verzichtet habe, Namen zu nennen (ibid. , Anm. ). Heftigere und leicht moralisch gefärbte Kritik übt Koestermann, der meint, die Einlösung des „Versprechens“ wäre, „wenn irgendwo, so in diesem Zusammenhang angesichts des Gewichts der Anschuldigung geboten gewesen“ (vol. III, ; vgl. auch zu ann. , ,  und , , ); ähnlich z. B. auch Holztrattner , Anm. . Vgl. auch Griffin –. ⁵ Tac. ann. , , f.: Tiberii Gaique et Claudii ac Neronis res florentibus ipsis ob metum falsae, postquam occiderant recentibus odiis compositae sunt. () inde consilium mihi […]. ⁶ Was Tacitus mit seiner Ankündigung, bei divergierender Quellenlage Namen zu nennen, meint, ergibt sich aus dem Kontext des Kapitels. Es geht dort um Neros Muttermord und darum, wer in welcher Weise darin verstrickt war. Darüber gab es in der seriösen Historiographie aber so widersprüchliche Darstellungen, dass Tacitus sich für außerstande erklärt, die historischen Ereignisse zweifelsfrei zu rekonstruieren: Wenn die Prüfung der Quellen zu einem non liquet führt, dann kann der Historiker seiner Verantwortung als Historiker nur unter Vorbehalt gerecht werden. Im Hinblick auf den Tod der Poppaea Sabina ist das Gegenteil der Fall. Über den Ablauf des Geschehens (also den Fußtritt Neros als Todesur-

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Konrad Heldmann

Allerdings bedeutet das noch keine Entscheidung in der Sache, auch für Tacitus nicht. Denn auch wenn ein Historiker sich als Historiker disqualifiziert hat, könnte das, was er behauptet, ja zutreffen. Immerhin ist zu bedenken, dass Poppaea Sabina, wenn Nero an ihr einen Giftmord begangen hätte, nicht sein erstes Opfer gewesen wäre. Folglich müssen Argumente genannt, das Pro und Contra abgewogen und eine Schlussfolgerung daraus gezogen werden. So hat Tacitus es auch in den anderen Fällen gehalten: nicht nur dort, wo er einen Giftmord für unabweisbar hielt wie beim Tode des Britannicus (ann. , f.), sondern auch dort, wo ihm eine sichere Entscheidung unmöglich schien wie beim Tode des Burrus.⁷ Entsprechend verfährt er auch hier. Er widerlegt die Giftmordthese mit einem zweifachen Argument, das, so knapp er es auch formuliert hat, aufgrund der Vorgeschichte geradezu zwingend ist: Nero habe seine Gattin unendlich geliebt und er habe sich sehnlichst Kinder gewünscht.⁸ Das einzige, was an dieser Erklärung auffällt, ist die Entschiedenheit, mit der Tacitus sich darauf festlegt, dass Nero seine Gattin unabsichtlich getötet habe. Wir werden darauf noch zurückkommen müssen. Aber so schlüssig die Darstellung des Tacitus auch zu sein scheint, in einem zentralen Punkt bleibt sie merkwürdig vage: Wenn Nero seine Gattin so sehr liebte und wenn es nur durch einen „zufälligen“ Zornesausbruch, eine fortuita iracundia, zu dem verhängnisvollen Fußtritt kam, dann möchte man eigentlich doch wissen, was es mit diesem Zufall auf sich hatte. Die nächstliegende Vermutung, dass Nero sich durch Poppaea auf irgendeine Weise gereizt gefühlt haben könnte, wird durch den Wortlaut des Textes ausgeschlossen: Nach Tacitus gab es keinen erkennbaren Grund für Neros Zorn. Wenn die Forschung, soweit ich sehe, diese seltsame Unbestimmtheit ignoriert und jedenfalls keinen Anstoß daran genommen hat,⁹ so dürfte das darauf zurückzuführen sein, dass man die fehlende Information stillschweigend aus dem Parallelbericht in Suetons Nero-Biographie (, ) extrapoliert hat, in dem Neros Zorn tatsächlich durch Poppaea ausgelöst wird. Dem üblichen sache) gab es keinerlei Zweifel, und eben deshalb war das Ereignis eine vorzügliche Gelegenheit, um an einem Einzelbeispiel die Methode der im Proömium angeprangerten nerofeindlichen Geschichtsschreibung vorzuführen und sich zugleich davon abzugrenzen. ⁷ Tac. ann. , . Tacitus referiert die beiden Möglichkeiten natürlicher Tod oder Gift mitsamt den jeweils erwogenen Indizien, aber er vermeidet es, sich festzulegen. ⁸ Tac. ann. , ,  quippe liberorum cupiens et amori uxoris obnoxius erat. ⁹ Symptomatisch dafür ist das von Holztrattner  gezogene Fazit: „Nero ist kein grausamer Tyrann, sondern ein sehr oft von seinen Gefühlen getriebener Mensch, der aber gleichwohl von anderen zu Handlungen veranlasst werden kann, die eines Tyrannen würdig wären“ – wer aber sind hier die „anderen“?

Der Kaiser singt zur Kithara

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Schema der Biographie entsprechend ist die Begebenheit bei Sueton nicht chronologisch verortet, sondern sie steht in einem thematischen Zusammenhang, in dem es darum geht, Neros Grausamkeit zu belegen. Dafür wird zunächst von den Ermordungen im familiären Umkreis und dann von weiteren Morden Neros berichtet.¹⁰ Eines der einschlägigen Kapitel ist dem gewaltsamen Tode von Neros Ehefrauen gewidmet (Nero ). Von der ersten, Octavia, habe er sich erst scheiden und sie dann grausam ermorden lassen, er habe aber auch die zweite, Poppaea, getötet, obwohl er sie liebte, und zwar mit einem Fußtritt. Der Grund dafür seien Vorhaltungen gewesen, die sie ihm gemacht habe, weil er so spät von einem Wagenrennen nach Hause zurückgekommen sei, ohne Rücksicht darauf, dass sie schwanger und krank war.¹¹ Die Pointe von Suetons Darstellung sind die Beschwerden einer vernachlässigten Ehefrau, verknüpft mit dem zeitlosen Problem Gewalt in der Ehe, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass infolgedessen das intendierte Tyrannenklischee durch ein Klischee aus dem Privatleben überlagert wird. Gleichwohl (oder gerade deshalb) ist der Bericht mitsamt seinen besonderen Details völlig plausibel¹², und er leistet das, was er bei Sueton leisten soll: Er belegt Neros Grausamkeit auch gegen seine engsten Angehörigen, so dass der geneigte Leser das gewünschte Fazit ziehen und mit dem Autor folgern kann: Nero hat nicht nur seine erste Frau grausam ermorden lassen, sondern sogar die Frau, die er liebte, hat er, weil sie ihm nur allzu verständliche Vorwürfe gemacht hatte, mit einem Fußtritt getötet. In der Römischen Geschichte des Cassius Dio schließlich ist die Episode zwar nur als Epitome erhalten (, , ), aber dass Dio sie erst recht für eine nerofeindliche Darstellung benutzt hat, ist offenkundig. Absichtlich (!) oder unabsichtlich sei Nero auf seine schwangere Gattin gesprungen und habe sie dadurch getötet. Im Anschluss daran folgt noch eine Charakterisierung der Toten und eine detaillierte Schilderung ihres exorbitanten Luxusstrebens, die ¹⁰ Sueton handelt diese Rubrik unter der Überschrift parricidia et caedes ab (Suet. Nero , ). ¹¹ Suet. Nero , : et tamen ipsam quoque ictu calcis occidit, quod se ex aurigatione sero reuersum grauida et aegra conuiciis incesserat. ¹² Suetons Bericht ist immer wieder mit dem Hinweis auf die allzu anschaulichen Details, die in die Parallelberichte keinen Eingang gefunden hätten („Hofklatsch“), für unglaubwürdig erklärt worden. Aber Sueton ist unsere einzige Quelle nicht nur für die Details, sondern auch für die Hauptsache, nämlich dass Poppaea ihrem Gatten Vorhaltungen gemacht habe und er deshalb in Zorn geraten sei, und diese Vorhaltungen werden um so plausibler, wenn sie nicht nur schwanger, sondern zudem auch noch krank war und wenn Nero von einem Wagenrennen (ex aurigatione) zurückkam, als sie so lange auf ihn warten musste; vgl. Rudich f.

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man wohl als Adaptation des Tyrannenklischees an eine Frau zu lesen hat. Erst danach erfahren wir, dass Nero seine Gattin sehr vermisst habe, aber auch dabei kommt es dem Autor offensichtlich vor allem darauf an, dass Nero, so die Behauptung, sich über den Verlust seiner Gattin mit Frauen und Männern, die ihr ähnelten, getröstet habe. Das entfernt sich zu weit von den beiden lateinischen Versionen, als dass es für unsere Fragestellung ergiebig wäre. Somit können wir als Zwischenergebnis festhalten, dass der Bericht des Tacitus und der Suetons zwar in dem wesentlichen Punkt übereinstimmen, dass Nero seine schwangere Gattin im Zorn durch einen Fußtritt getötet habe, dass aber nur Sueton den Grund für Neros Zorn angibt, während Tacitus seinen Lesern diese Information vorenthält und die dadurch entstandene Lücke durch einen dezidiert unbestimmten Hinweis verschleiert. Nun wäre es denkbar, dass sich eine Erklärung für dieses eigenartige Verfahren durch Überprüfung der einschlägigen Überlieferung einschließlich der möglicherweise relevanten Motivgeschichte finden ließe. Die Voraussetzungen dafür sind günstig, da die Forschung sich mit den Berichten über den Tod der Poppaea Sabina vor allem unter dem Gesichtspunkt beschäftigt hat, ob sie den historischen Tatsachen entsprechen oder nicht.¹³ Diese Frage wird in aller Regel verneint, und man hält es für wahrscheinlicher, dass Poppaea durch einen Unfall oder eine Fehlgeburt den Tod gefunden und dass Nero damit nichts zu tun gehabt habe¹⁴. Als Hauptargument für diese Annahme wird angeführt, dass von einem Fußtritt, durch den ein Tyrann seine schwangere Gattin tötet, schon in älteren Darstellungen berichtet werde und dass es sich deshalb um einen aus der Tyrannentopik der griechischen Literatur entnommene Erfindung handeln müsse. Die drei Textstellen, die dafür in Anspruch genommen werden, beziehen sich auf Kambyses, Periander und Herodes Atticus.¹⁵ Sowohl von Kambyses ¹³ Das ist auch die Perspektive von Mayer , der in den Berichten über einen Giftmord (den er selbst für eher unwahrscheinlich hält) eine Parallele zu den Gerüchten nach dem Tode des Agricola sieht. Aber dort liegt der Regelfall vor, von dem der Tod der Poppaea gerade die Ausnahme bildet: Die Umstände, unter denen Agricola stirbt, sind höchst undurchsichtig, und der Tyrann Domitian gerät in Verdacht, weil ihm selbst das, was er vielleicht nicht begangen hat, durchaus zuzutrauen wäre. Allgemeiner gesagt: Wenn ein so integrer und bedeutender Mann unter derart mysteriösen Umständen stirbt, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, wer oder was seinen Tod beschleunigt hat. Dazu und zur festinata mors des Agricola vgl. Schwinge ff. ¹⁴ Vgl. Mayer  und Bradley . ¹⁵ Hdt. ,  (Kambyses), Diog. Laert. ,  (Periander) und Philostr. Vit. soph. , , , p.. – K (Herodes Atticus). Das Beispiel Periander ist erstmals von Mayer f. herange-

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als auch von Periander wird überliefert, sie hätten ihre schwangere Gattin im Zorn mit einem Fußtritt getötet, und beide Male gibt es ein plausibles Motiv für den Zornesausbruch. Im Falle des Kambyses ist dieses Motiv so tyrannentypisch wie nur möglich: Er versetzt seiner schwangeren Gattin, weil sie auf eine von ihm kürzlich begangene Mordtat angespielt hat, einen Fußtritt, der zu einer Fehlgeburt und zu ihrem Tode führt. Periander dagegen lässt sich durch Verleumdungen, die von seinen Konkubinen gegen seine Gattin vorgebracht worden sind, dazu verleiten, mit einem Schemel nach ihr zu werfen oder ihr einen Fußtritt zu versetzen, was sie nicht überlebt. Der dritte Fall ist anders gelagert und sollte deshalb außer Betracht bleiben. Denn abgesehen davon, dass das überlieferte Ereignis in nachtaciteische Zeit gehört, berichtet Philostrat von Herodes Atticus, dass er seine schwangere Gattin nicht unbedacht und auch nicht durch einen Fußtritt, sondern in voller Absicht und durch einen gedungenen Auftraggeber getötet habe, wofür er dann auch wegen Mordes angeklagt worden sei. Mithin bleibt nur ein Beleg für die Nachricht, dass ein Tyrann im Zorn seine schwangere Ehefrau mit einem Fußtritt getötet habe, und ein weiterer dafür, dass er das entweder auf diese oder auf eine andere Weise getan habe. Das ist für einen Topos entschieden zu wenig und keinesfalls ein hinreichender Grund für die Vermutung, die Berichte über den Tod Poppaeas durch einen Fußtritt Neros beruhten auf einer durch literarische Tradition inspirierten Erfindung.¹⁶ Die angeführten Belege kommen aber auch unabhängig davon kaum als literarische Vorbilder in Betracht. Das tertium comparationis ist der Zorn des Tyrannen als populärphilosophisches Paradigma: Über alle hat er Macht, aber zogen worden, der es zwar nicht für eine regelrechte Tyrannentopik in Anspruch nehmen will, aber die Übereinstimmungen mit der Poppaea-Erzählung für signifikant hält; weniger vorsichtig Ameling, der die beiden anderen Beispiele hinzugefügt (f.) und Holztrattner, der ihm darin zugestimmt hat (f.). ¹⁶ Um ihre Argumentation zu stützen, berufen sich Mayer  und mit ihm Ameling  auf einen Grundsatz, den Eduard Fraenkel einmal in einem anderen Zusammenhang formuliert hat: Es könne zwar vorkommen, dass das wirkliche Leben auch einmal einen Topos der konventionellen Literatenbiographie hervorbringe, man dürfe aber gleichwohl nicht das trivialste Klischee gläubig als Faktum buchen. Dieser Grundsatz ist methodisch natürlich unanfechtbar, aber seine Anwendung setzt voraus, dass es das Klischee oder den Topos tatsächlich gibt. Das ist hier nicht der Fall, und es ist zu befürchten, dass die Dinge genau umgekehrt liegen, nämlich dass Gewalt eines aufbrausenden Ehemanns gegen seine schwangere Frau im wirklichen Leben viel häufiger vorkommt als in der literarischen Tradition der Antike.

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der Zorn hat Macht über ihn. In dieser Hinsicht sind die beiden griechischen Episoden repräsentativ, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie den Vorfall anekdotisch verdichten: Kambyses tötet seine Gattin, weil sie es wagt, eine seiner Bluttaten zu erwähnen, Periander tut das gleiche, weil er allzu bereitwillig auf Verleumdungen hört. In Suetons Bericht über Neros Zornesausbruch wird dagegen, wie wir gesehen haben, ein viel differenzierteres, prägnant auf die beteiligten Personen bezogenes Bild gezeichnet, und das ist charakteristisch für die Erzählung eines konkreten Einzelfalles im Unterschied zu einer der Topik geschuldeten Anekdote, ungeachtet dessen, dass sich auch ein solcher Einzelfall popularphilosophisch auswerten lässt. Erst recht aber entzieht sich die Taciteische Version vom Tode der Poppaea dem Modell, dass ein Tyrann eine Gewalttat verübt, nachdem er aus nachvollziehbaren Gründen in Zorn geraten ist. Die Pointe, dass Nero seine überaus geliebte Gattin, von der er sich die Geburt eines Kindes erhofft¹⁷ ohne ersichtlichen Grund durch einen Fußtritt tötet, ist schwerlich mit der vermuteten griechischen Tyrannentopik kommensurabel. Noch rätselhafter aber erscheint diese Version, wenn man bedenkt, mit welcher Entschiedenheit Tacitus sie den nerofeindlichen Darstellungen entgegensetzt, in denen dem Kaiser aus persönlichem Hass ein Giftmord an seiner Gattin unterstellt worden war. Die Lösung des Problems kann kaum darin liegen, dass es Tacitus darum gegangen wäre, den Gewaltakt gegen Poppaea herunterzuspielen und den Kaiser Nero, sonst immer das Musterbeispiel eines malus princeps, auch einmal in ein milderes Licht zu rücken,¹⁸ sondern sie muss sich, da der Episode im Gesamtzusammenhang der Erzählung besonderes Gewicht zukommt, aus dem historiographischen Grundprinzip ergeben, das Tacitus wie kaum ein anderer postuliert und praktiziert hat, nämlich dass ein Historiker den Zusammenhang der Ereignisse, d. h. die causae rerum, herausarbeiten und evident machen muss. Der Tod Poppaeas durch Neros Gewaltakt steht bei Tacitus nicht für sich, sondern bildet den dramatischen Auftakt zu einer ununterbrochenen Kette von Terror und Mord.¹⁹ Diese Funktion des Kapitels hat Tacitus in der für ihn ¹⁷ Beide Motive stehen im Einklang mit dem, was Tacitus in den Büchern  und  über die Liebe Neros zu Poppaea und über seine geradezu maßlose Freude über die Geburt seiner Tochter (die aber schon nach wenigen Monaten gestorben war: ann. , ) berichtet hatte. Auch die außerordentlichen Totenehrungen, die er Poppaea erweisen ließ (ann. , , ), sind gewiss ebenfalls als Zeichen seiner Liebe zu verstehen, ungeachtet der sarkastischen Kritik, die Tacitus daran übt. ¹⁸ Vgl. Holztrattner  (s. o., Anm. ).

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typischen Weise deutlich gemacht. Das erste Signal ist seine Kritik an den von Nero für Poppaea inszenierten Bestattungsfeierlichkeiten (ann. , , ). Statt sich an den mos Romanus zu halten, habe Nero sich die Praxis auswärtiger Könige zum Vorbild genommen (regum externorum consuetudine),²⁰ und darüber hinaus habe er in seiner laudatio funebris anstelle von virtutes die Schönheit der Toten gepriesen und sie dafür gerühmt, dass sie die Mutter eines göttlichen Kindes gewesen sei.²¹ Was Tacitus mit dem Verweis auf die consuetudo regum externorum (und mit der aus Neros laudatio funebris herausgegriffenen Prädikation divinae infantis parens) insinuiert, ist evident, denn von diesem Zeitpunkt an übte Nero, wenn wir der Darstellung der Annalen folgen, seine Macht so schrankenlos aus wie die Despoten des Orients.²² Das beginnt gleich im folgenden Kapitel, und Tacitus hat – das ist das zweite Signal – dieses Kapitel so eng wie nur möglich mit dem Kapitel über den Tod Poppaeas verknüpft: sprachlich durch die einleitenden Worte Mortem Poppaeae (ann. , , ) und inhaltlich nach dem bekannten Taciteischen Muster dadurch, dass der Kaiser dem missliebig gewordenen Senator Cassius die Teilnahme an der Bestattungsfeier verbietet und ihm dadurch seinen baldigen Tod ankündigt (quod primum indicium mali), so wie zwei Jahre zuvor Thrasea die Ankündigung seines Todes durch das Verbot, an der Beisetzung von Neros Tochter teilzunehmen, erhalten hatte (ann. , , ). Aber anders als bei Thrasea wird die Ankündigung nun auch sofort in die Tat umgesetzt. Cassius und zusammen mit ihm der ebenso integre Silanus müssen in die Verbannung gehen (ann. , , f.). Damit ist die lange Reihe der Opfer von Neros Willkürherrschaft eröffnet, die bis zum Ende des erhaltenen Teils der Annalen reicht²³, um schließlich, soweit noch erkennbar, im Prozess gegen den Freiheitshelden Thrasea Paetus ihren Höhepunkt zu erreichen. ¹⁹ So auch – gegen andere Auffassungen – Holztrattner . ²⁰ Gemeint ist offenbar die Einbalsamierung nach ägyptischem Vorbild. ²¹ Tac. ann. , , : ductae tamen publicae exequiae laudavitque ipse apud rostra formam eius et quod divinae infantis parens fuisset aliaque fortunae munera pro virtutibus. ²² Die Antithese mos Romanus – externi reges ist, ebenso wie in dem entsprechenden Vergleich in der Maternus-Rede des Dialogus (Tac. dial. ), zugleich die Antithese libertas – servitus. ²³ Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass Tacitus das letzte Kapitel über das Jahr  (ann. , ) mit den Worten Tot facinoribus foedum annum etiam dii tempestatibus et morbis insignivere beginnen lässt (gemeint sind eine Naturkatastrophe und eine Pestepidemie); gleich danach geht es weiter mit der Darstellung von Neros blutiger Herrschaft im Jahre  (ann. ,  ff.).

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Folglich ist die Frage nach Neros fortuita iracundia, die seine Gattin das Leben kostet, zugleich auch die Frage nach den causae rerum, und die causae rerum sind in diesem Falle die Ursachen dafür, dass der Despot gerade jetzt seine letzten Hemmungen verliert. Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in dem dreigliedrigen Eingangssatz Post finem ludicri Poppaea mortem obiit, fortuita mariti iracundia: an der Spitze eine Zeitangabe in Form einer relativen Datierung, am Schluss und damit korrespondierend ein kausaler Ablativ und in der Mitte, wie zwischen zwei Polen eingespannt und so knapp wie nur möglich formuliert, die zentrale Aussage. Mit der relativen Zeitangabe wird prima vista zwar nur ein Nacheinander der Ereignisse konstatiert,²⁴ aber der von Tacitus für die Datierung gewählte Bezugspunkt ist bemerkenswert: Nero tötet seine Gattin unmittelbar nach den Neronia des Jahres . Damit aber hat Tacitus einen historischen Kontext im Sinne von Geschehen und Folgegeschehen suggeriert, einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung konstituiert, den es in der ihm vorliegenden Überlieferung kaum gegeben haben dürfte. Der Vergleich mit Dio ist jedenfalls höchst aufschlussreich: Er datiert den Tod Poppaeas ebenfalls in das Jahr , berichtet die Ereignisse jedoch in der umgekehrten Reihenfolge: Erst nachdem Nero seine vermeintlichen Gegner wie Soranus und Thrasea ermordet hat (, ), tötet er auch Poppaea mit oder ohne Absicht. Sueton kann, da in der Biographie die chronologische von der thematischen Ordnung dominiert wird, außer Betracht bleiben. Allerdings findet sich bei ihm ein Hinweis darauf, woher Tacitus die Anregung zu seiner suggestiven Verknüpfung gewonnen hat. In der von Sueton repräsentierten Überlieferung wurde ja berichtet, dass es zu dem tödlichen Fußtritt gekommen sei, als Nero von einem Wagenrennen (ex aurigatione) zu Poppaea zurückgekehrt war.²⁵ Von einem Wagenrennen: Ein Datum war das nicht, aber doch immerhin eine konkrete und für Nero charakteristische Situation. Indem Tacitus alle konkreten Umstände des Vorfalls ausblendete und Nero weder von einem Wagenrennen noch überhaupt heimkehren ließ, sondern den Kaiser seine geliebte ²⁴ Repräsentativ für die Auffassung, dass es sich hier nicht um eine kausale, sondern um eine rein chronologische Beziehung handle, ist Tresch . ²⁵ Suet. Nero , ; s. o. S. . Aus der Formulierung ex aurigatione ergibt sich nicht, ob Nero den Wagen nur zu seinem Vergnügen oder bei einem öffentlichen Rennen gelenkt hatte; zu der Unterscheidung vgl. Suet. Nero , : mox et ipse aurigare atque etiam spectari saepius uoluit positoque in hortis inter seruitia et sordidam plebem rudimento uniuersorum se oculis in circo maximo praebuit.

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Gattin unmittelbar nach den Neronia, post finem ludicri, ohne ersichtlichen Grund töten ließ, machte er Poppaeas Tod zu einem schicksalhaften Ereignis und dem symbolträchtigen Beginn einer neuen, noch despotischeren Phase²⁶ in der Herrschaft Neros. Mit anderen Worten: Tacitus folgt der historischen Überlieferung darin, dass Poppaea starb, weil Nero aus welchem Anlass auch immer in Zorn geriet und die Beherrschung verlor, aber bei der Ermittlung der causae rerum und der Analyse des historischen Gesamtgeschehens kommt er zu dem Ergebnis, dass der tödliche Fußtritt der mehr oder weniger zufällige, jedenfalls keiner besonderen Begründung bedürftige Auftakt für die brutale Tyrannei in den letzten Regierungsjahren Neros gewesen und dass der Schlüssel zum Verständnis dieser verhängnisvollen Entwicklung in den Neronia des Jahres  zu finden sei. Damit aber ist vorausgesetzt, dass Tacitus in Neros Bühnenleidenschaft nicht nur ein aus welchen Gründen auch immer denkwürdiges Phänomen gesehen, sondern dass er ihr eine unmittelbare Wirkung auf den Gang der Geschichte zugeschrieben hat, und es wird unsere Aufgabe sein, diesen Wirkungsmechanismus aus seiner Geschichtskonzeption zu erschließen.  Claqueure machen Geschichte Im Schlusskapitel der Tiberius-Bücher hat Tacitus die Regierungszeit dieses Kaisers resümiert, indem er sie in sechs Abschnitte ungleicher Länge eingeteilt hat.²⁷ Alle Abschnitte werden als schrittweise Offenbarung und Entfaltung einer vorgegebenen Disposition des Tiberius gedeutet, und für jede neue Entwicklungsphase wird ein historisches Ereignis als auslösendes Moment genannt. Ein solches Ereignis ist z. B. der Tod seiner Mutter, die nach Darstellung des Tacitus einen erheblichen Einfluss auf Tiberius und seine Politik ausgeübt hatte,²⁸ aber auch der Aufstieg Sejans zum Partner und Stellvertreter des Kaisers bei der Ausübung der Macht. Von den sechs Nero-Büchern²⁹ liegt uns zwar deutlich weniger vor, aber dass Tacitus dort das gleiche Strukturprinzip angewandt hat, ist offenkundig. ²⁶ Vgl. Tresch . ²⁷ Tac. ann. , . Die Streitfrage, ob es Widersprüche zwischen diesem Resümee und der zuvor gegebenen Darstellung gibt, kann hier beiseite bleiben. ²⁸ Vgl. Tac. ann. , , : idem inter bona malaque mixtus incolumi matre. ²⁹ Die in der älteren Forschung häufig vertretene Auffassung, dass Tacitus für die Annalen nur insgesamt  Bücher vorgesehen habe (also nur vier für Nero), scheint mir obsolet. Das historische Material, das in den fehlenden zweieinhalb Büchern zu verarbeiten war, ist außerordentlich umfangreich und vielfältig. In der Konzeption des Tacitus dürften Neros

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Indessen gilt dies nur insoweit, als Tacitus auch die Geschichte dieses Prinzipats als die schrittweise Entfaltung einer vorgegebenen Disposition des Kaisers konzipiert hat, aber es gilt nicht für die grundlegende Frage nach der Qualität der historischen Ursachen, die den Beginn einer neuen Entwicklungsstufe und Herrschaftsphase auszulösen geeignet waren. Ein vorzügliches Beispiel dafür ist der Muttermord. Denn so unangreifbar die übliche Auffassung auch zu sein scheint, dass dieses Ereignis einen entscheidenden Wendepunkt und die erste tiefe Zäsur im Prinzipat Neros bilde, so wenig entspricht sie der Darstellung des Tacitus. Nach dem unzweideutigen Wortlaut des Textes ergeben sich die historischen und politischen Konsequenzen nämlich nicht aus dem Mord selbst, sondern daraus, dass Neros Verbrechen in Rom nicht nur widerspruchslos hingenommen wird, sondern sowohl im Senat als auch in der gesamten Öffentlichkeit größten Beifall findet. Zuerst beschließt der Senat, wohlwissend, was geschehen ist, Dankfeste für den Tod Agrippinas und Ehrungen für Nero,³⁰ und dann wird der Muttermörder, obwohl er trotz der offensichtlichen Willfährigkeit der Senatoren weiterhin von den schlimmsten Ängsten gepeinigt wird und kaum wagt, nach Rom zurückzukehren, dort zu seiner eigenen Überraschung sowohl von der politischen Elite als auch vom Volk wie ein siegreicher Triumphator empfangen und gefeiert.³¹ Tacitus hat von diesem enthusiastischen Empfang des kaiserlichen Muttermörders ein offenkundig einseitiges,³² aber dadurch um so einprägsameres Bild gezeichnet: Nero zieht als Triumphator wie nach dem Sieg über ein unterworfenes fremdes Volk zum Kapitol, aber Sieger ist er, wie Tacitus sarkastisch feststellt, nur insofern, als sich ihm Senat und Volk von Rom Griechenlandtournee, seine ‚triumphale‘ Rückkehr nach Italien und Rom, die erfolgreiche Verschwörung, sein Tod und dann vor allem der Bürgerkrieg bis zum . Dezember  (Anschluss an den Beginn der Historiae) eine zentrale Rolle gespielt haben. Wieviel Tacitus davon noch hat bewältigen können, ist natürlich eine ganz andere Frage. ³⁰ Das Kapitel über die Willfährigkeit des Senats (Tac. ann. , ) beginnt mit den Worten Miro tamen certamine procerum decernuntur supplicationes […]; dazu und zu der Sonderrolle des Thrasea Paetus vgl. Heldmann ff. ³¹ Tac. ann. , ,  über die Ängste, die Nero gleichwohl noch hat und die ihm von den übelsten Kreaturen unter seinen Beratern ausgeredet werden; , ,  über den triumphalen Empfang des Muttermörders: et promptiora quam promiserant inveniunt, obvias tribus, festo cultu senatum, coniugum ac liberorum agmina per sexum et aetatem disposita, extructos, qua incederet, spectaculorum gradus, quo modo triumphi visuntur. ³² In der Parallelüberlieferung (z. B. Suet. Nero , – und Dio , ) wird nicht nur von öffentlicher Zustimmung, sondern auch von zahlreichen Pasquillen und beißender Kritik an Neros Muttermord berichtet; vgl. Tresch .

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zu Füßen werfen, und nur dank dieser freiwilligen und allgemeinen Selbstunterwerfung kommt es zu einem Wendepunkt im Prinzipat Neros. Dass Nero sich nun den Lüsten hingibt, die er zu Lebzeiten seiner Mutter mühsam gebändigt hatte, ist, anders als man erwarten könnte und in den Text hineinzulesen pflegt,³³ nicht auf deren Tod zurückzuführen, sondern auf das Erlebnis, dass ihm auch dann noch applaudiert wird, wenn er seine eigene Mutter umbringt.³⁴ Die Reaktion auf den Muttermord ist ein besonders krasses Beispiel für das publicum servitium und für die Selbsterniedrigung des Senats,³⁵ aber die Erfahrung, die Nero hier macht, wiederholt sich und wird zu einer Grunderfahrung und dadurch zum Erklärungsmuster für die Geschichte des Neronischen Prinzipats bei Tacitus, verstanden als schrittweise Enthemmung Neros, der selbst dort, wo er mit Akteuren rechnet, nur Claqueure vorfindet. Der beste und durch seine Prägnanz geradezu bestechende Beleg für diese Konzeption und Intention findet sich in der Darstellung eines anderen Verbrechens. Nach der Ermordung zweier herausragender Männer, in denen Nero aufgrund ihrer Herkunft mögliche Rivalen gesehen habe und die ihm wegen ihrer Integrität verhasst gewesen seien, habe der Senat nicht nur Dankfeste beschlossen, sondern die beiden unschuldigen Opfer auch noch postum aus dem Senat ausgestoßen. Durch diesen Senatsbeschluss sei Nero zu der Erkenntnis gelangt, dass alle seine Verbrechen als Ruhmestaten aufgenommen würden. Deshalb habe er nun seine Gattin Octavia verstoßen, seine Mätresse Poppaea geheiratet und Octavia wenig später umbringen lassen³⁶. Damit hat Tacitus sein Erklärungsmodell für den Prinzipat Neros auf den Begriff gebracht, und wir können aus dem Kontext der Stelle sogar noch erschließen, dass und wie er die vorgegebene Überlieferung seiner Konzeption angepasst hat. In dem unmittelbar vorausgehenden Kapitel ist nämlich ³³ So z. B. Koestermann (vol. IV) , Bradley  und Devillers . Die umstrittene Frage, wie groß der Einfluss Agrippinas auf Nero von  bis  war, bleibt davon natürlich unberührt; vgl. dazu Morford . ³⁴ Tac. ann. , , : hinc superbus ac publici servitii victor Capitolium adiit, grates exsolvit seque in omnis libidines effudit quas male coercitas qualiscumque matris reverentia tardaverat. ³⁵ Dass die Selbsterniedrigung des Senats nach dem Muttermord so exzeptionell und so monströs ist wie dieser selbst, spiegelt sich bei Tacitus darin wider, dass selbst Nero völlig überrascht davon ist. ³⁶ Tac. ann. , .: Igitur accepto patrum consulto, postquam cuncta scelerum suorum pro egregiis accipi videt, exturbat Octaviam, sterilem dictitans.

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schon einmal von einem Zusammenhang zwischen der Ermordung der beiden Senatoren und der Trennung von Octavia die Rede, aber er wird dort ganz anders begründet: Nach der Ermordung habe Nero vorher gehegte Befürchtungen abgelegt und Vorbereitungen für die Hochzeit mit Poppaea und die Verstoßung Octavias getroffen.³⁷ Das ist, so unbegründet die Befürchtungen auch erscheinen mögen, immerhin eine plausible Überlegung, die ganz im Einklang mit dem konventionellen Nero-Bild der antiken Überlieferung steht.³⁸ Aber, und darauf kommt es an, diese Überlegung bleibt ohne Folgen, und erst die Erfahrung Neros, dass seine Verbrechen vom Senat zu Ruhmestaten erklärt werden, führt zu seiner Entscheidung, Octavia zu verstoßen und Poppaea zu heiraten.³⁹ Dieses Erklärungsmuster steht im Einklang mit dem Geschichtsmodell des Tacitus und seinem politischen Ideal, dass Prinzeps und Senat die Macht gemeinsam ausüben sollten, und es entspricht auch seiner Grundthese, dass der Senat seiner Verantwortung von Anfang an nicht gerecht geworden sei, weder bei der Machtergreifung des Augustus⁴⁰ noch beim Regierungsantritt des Tiberius⁴¹, und dass er dadurch das mit dem Schlagwort Prinzipat und Freiheit umschriebene ideale Gleichgewicht immer wieder verhindert habe. Aber obwohl die These, dass der eigentliche Grund für die Übermacht des Prinzeps in der Selbstentmachtung des Senats zu suchen sei, seine gesamte Darstellung ³⁷ Tac. ann. , , : et posito metu nuptias Poppaeae ob eius modi terrores dilatas maturare parat Octaviamque coniugem amoliri, quamvis modeste ageret, nomine patris et studiis populi gravem. Vgl. dazu Syme f. mit n. ; Koestermann (vol. IV) . ³⁸ Dio berichtet ,  (Xiphilinos und Zonaras) von der Ermordung, ohne dass ein Zusammenhang mit der Verstoßung Octavias erkennbar würde. ³⁹ Dass Nero schon drei Jahre zuvor die Absicht gehabt habe, sich von Octavia zu trennen, um Poppaea heiraten zu können, dass er aber an eine Verwirklichung solcher Pläne zu Lebzeiten seiner Mutter nicht habe denken können, berichtet Tacitus zu Beginn des . Buches. Aber das Kapitel fungiert als dramatische Exposition des Muttermordes und eignet sich – trotz Syme f. – nicht für die Rekonstruktion der historischen Fakten. ⁴⁰ Tacitus hat das in seinen Augen höchst erstaunliche Phänomen, dass Augustus sich ohne nennenswerten Widerstand zum Alleinherrscher aufschwingen und sich seine Macht dauerhaft sichern konnte, im zweiten Kapitel der Annalen damit begründet, dass die Besten den Bürgerkrieg und die Proskriptionen nicht überlebt und alle anderen mehr Gefallen an einem bequemen Leben in freiwilliger Unterordnung als an der Wahrnehmung politischer Verantwortung gefunden hätten. Vor allem der Passus ann. , ,  ist ein Musterbeispiel für die Terminologie von Macht und Unterordnung. ⁴¹ Tac. ann. , , : At Romae ruere in servitium consules, patres, eques. quanto quis inlustrior, tanto magis falsi ac festinantes, vultuque composito ne laeti excessu principis neu tristiores primordio, lacrimas gaudium, questus adulationem miscebant.

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der Kaiserzeit bestimmt, hat Tacitus die letzte Konsequenz daraus erst in den Nero-Büchern gezogen, indem er nun auch die stufenweise Enthemmung des Prinzeps und die damit verknüpfte Verwandlung seiner Herrschaft in eine Despotie als Reaktion des Kaisers auf das servitium publicum interpretiert hat.  Theater und Zirkus, Prinzeps und Pöbel Das Theater und sein Publikum sind in der römischen Historiographie überwiegend negativ konnotiert, aber bei Tacitus ist die Polemik besonders scharf.⁴² Das Stichwort dafür ist licentia theatri. Was damit gemeint ist, kann man der Schilderung eines als symptomatisch empfundenen Vorfalls entnehmen, der sich unter Tiberius abgespielt hatte.⁴³ Nachdem es wiederholt zu Gewaltausbrüchen mit vielen Verletzten und Todesopfern gekommen war⁴⁴ und die Magistrate sich der Pöbeleien aus dem Publikum nicht mehr erwehren konnten, wurde im Senat über Gegenmaßnahmen wie z. B. die Prügelstrafe gegen Schauspieler debattiert. Die tatsächlich getroffenen Beschlüsse richteten sich gegen die Schauspieler – gemeint sind, wie wir erst hier erfahren, die Pantomimen-Spieler –, gegen deren Gönner und gegen die Zuschauer. Den Senatoren und Rittern wurde der persönliche Kontakt mit den PantomimenSpielern verboten, diese sollten nur noch im Theater auftreten dürfen, und die Prätoren erhielten das Recht, Unruhestifter im Publikum mit Verbannung zu bestrafen. Da diese Maßnahmen nicht sehr wirksam waren, wurden einige Jahre später die Schauspieler aus Italien ausgewiesen;⁴⁵ speziell genannt werden diesmal nicht die Pantomimen-Spieler, sondern die Darsteller der Atellane (Oscum quondam ludicrum), über die Tacitus polemisch bemerkt, sie sei zu einer Volkbelustigung auf niedrigstem Niveau degeneriert. Dies Urteil gilt

⁴² Vgl. Goodyear ; Dumont ff.; zur generellen Verachtung von Theater und Zirkus durch die Ober- und Mittelschicht s. Rudich f. ⁴³ Tac. ann. , ; Goodyear ff. ⁴⁴ Das spektakulärste Beispiel außerhalb von Rom sind bei Tacitus die blutigen Auseinandersetzungen im Theater von Pompeji (ann. , ). ⁴⁵ Tac. ann. , , : variis dehinc et saepius inritis praetorum questibus, postremo Caesar de immodestia histrionum rettulit: multa ab iis in publicum seditiose, foeda per domos temptari; Oscum quondam ludicrum, levissimae apud vulgum oblectationis, eo flagitiorum et virium venisse 〈ut〉 auctoritate patrum coercendum sit. pulsi tum histriones Italia. Vgl. auch ann. ,  und , , .

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bei Tacitus mutatis mutandis auch für Pantomimus und Mimus, also für alle im Unterhaltungsbetrieb relevanten Formen des Theaters.⁴⁶ Damit werden klare Kriterien für die Kritik des Tacitus am Theater erkennbar. Wie scharf und wie pauschal sein Urteil ist, ist dennoch bemerkenswert. Terminologisch lässt sich das daran ablesen, dass er mit Vorliebe die Formulierung circus aut theatrum benutzt⁴⁷ und auch nicht zwischen den Aufführungen im Theater und denen im Zirkus differenziert, sondern beide als ludicra bezeichnet. Das Publikum, das auf solche ludicra erpicht ist, besteht aus der plebs sordida und den deterrimi servorum; dass damit exakt das gemeint ist, was man in moderner Terminologie als Pöbel bezeichnen würde, ergibt sich auch aus der negativen Abgrenzung: Zu denjenigen, die nicht ins Theater und in den Zirkus gehen, gehören nicht nur die Senatoren und die führenden Mitglieder der Ritterschaft, sondern auch der unverdorbene Teil des Volkes, der sich den führenden Familien verbunden fühlt.⁴⁸ Pointiert ausgedrückt: Die Elite des römischen Volkes bildet per definitionem den Gegenpol zur Welt des Theaters. Umgekehrt ist für den Pöbel, der sich im Zirkus oder im Theater zu versammeln pflegt, nicht nur Vergnügungssucht auf niedrigstem Niveau kennzeichnend, sondern auch, als Kehrseite dieser Vergnügungssucht, Disziplinlosigkeit (licentia) und das Fehlen jeder Urteilsfähigkeit und Geradlinigkeit.⁴⁹ Folglich ist die Alternative, ob sich jemand vom Theater angezogen oder abgestoßen fühlt, nicht nur eine Frage des intellektuellen Niveaus, sondern sie bezeichnet zugleich auch die Kluft, die sich zwischen dem vergnügungssüchtigen und gewaltbereiten Pöbel und denjenigen, denen das Gemeinwohl am Herzen liegt, auftut. Das sind etwas schlichte, aber durch eine jahrhundertelange Tradition und insbesondere durch Cicero sanktionierte Idealvorstellungen,⁵⁰ und indem Tacitus sich in den Eingangskapiteln seiner Historien ihrer bedient, um sein Urteil über den Kaiser Nero zu fällen, hat er ihnen gleichsam eine neue ⁴⁶ Das ‚seriöse‘ Schauspiel bleibt ausgespart, weil es in der frühen Kaiserzeit zu einer quantité négligeable geworden und die Tragödie nur noch als gesungene Einzelszene präsent ist. ⁴⁷ So oder mit leichter Abwandlung z. B. Tac. h. , , ; h. , , ; h. , , . ⁴⁸ Tac. h. , , : plebs sordida et circo ac theatris sueta, simul deterrimi servorum. vs. pars populi integra et magnis domibus adnexa. Die Zuversicht, mit der Veyne  glaubt, in diesem Satz den Ariadnefaden für die Sociologie urbaine de Rome gefunden zu haben, teile ich nicht; er selbst konzediert , dass nach Tacitus wohl alle Plebejer, nur eben in unterschiedlicher Weise, von dieser oder jener Familie abhängig gewesen seien. ⁴⁹ Vgl. Tac. h. , , ; ann. , , ; ann. , ,  u. ö. ⁵⁰ Vgl. z. B. Cic. Sest. .

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Aktualität verliehen: Der Senat und mit ihm der unverdorbene Teil des Volkes ist erleichtert über seinen Tod, die plebs sordida et circo ac theatris sueta, simul deterrimi servorum sind bekümmert darüber:⁵¹ So werden Pöbel und Kaiser aufgrund der ihnen gemeinsamen Affinität zu Theater und Zirkus zu einer Gesinnungsgemeinschaft und zu Antipoden von Roms unverdorbener Elite.⁵² Der kühle Sarkasmus dieses Urteils ist gewiss nicht nur dem Umstand geschuldet, dass es sich hier um eine Momentaufnahme handelt, mit der Tacitus zu Beginn der Historien die spannungsreiche Situation in Rom nach dem Tode des einen und vor der Etablierung des neuen Prinzeps zu charakterisieren versucht hat, sondern er zieht hier offensichtlich das Fazit aus Überlegungen, die er erst einige Zeit später in den Nero-Büchern der Annalen ausführlich expliziert hat. Sie beruhen, wie zu zeigen sein wird, auf der Überzeugung, dass Neros Verlangen, aktiv an Wagenrennen teilzunehmen, vor allem aber sein Wunsch, öffentlich zur Kithara zu singen, so verhängnisvoll war, dass der Prozess der schrittweisen Enthemmung nicht nur an seinen scelera, sondern zugleich auch an diesen libidines vorgeführt werden musste.⁵³

⁵¹ Tac. h. , , . Dass das tendenziös ist und der komplexen historische Realität nicht gerecht wird (vgl. Bartsch ff.), versteht sich von selbst – auch dies ganz wie bei Cicero. Unter umgekehrtem Vorzeichen wird ein raffiniertes Kompliment daraus: Plinius behauptet, unter Trajan habe zusammen mit dem optimus princeps auch das Volk alle Freude an solchen Theaterdarbietungen verloren (paneg. , ). ⁵² Bartsch hat dem Thema Nero und das Theater ein höchst anregendes Kapitel gewidmet (ff.); ihre Fragestellung unterscheidet sich jedoch trotz evidenter thematischer Berührungspunkte zu sehr von der dieses Beitrags, als dass darauf eingegangen werden könnte: “The use of theatricality is a descriptive Model for Nero’s reign […] Yet Tacitus chose to extend it into the political realm as well, using the idea as actors in the audience as a paradigm for imperial politics from Tiberius on in general, and particularly so under Nero” (). ⁵³ Zu den von Nero Graeco more eingeführten spectacula, die eigentlich nach ganz anderen Maßstäben zu beurteilen gewesen wären (und von Sueton auch entsprechend bewertet wurden), s. u. S. 

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 Kaiser, Wagenlenker und Bühnensänger:⁵⁴ Stationen einer Karriere Als Nero im Jahre  zum Staatsfeind erklärt worden war, soll er, wenn wir Dio glauben dürfen, nicht nur daran gedacht haben, den Senat zu ermorden und Rom niederzubrennen, sondern er habe auch erwogen, nach Alexandria zu fahren, um dort als professioneller Kitharöde und Bühnensänger zu leben.⁵⁵ So bizarr diese Ideen auch anmuten, so entsprechen sie doch ganz dem Bild, das die antike Überlieferung von Nero als einem Despoten und exhibitionistischen Selbstdarsteller⁵⁶ gezeichnet hat. Das Nero-Bild des Tacitus weicht davon nicht grundsätzlich ab, und er hat es sogar in einer besonders eindrucksvollen Szene lebendig werden lassen. Nach der Aufdeckung der Pisonischen Verschwörung gibt ein Offizier auf Neros Frage, was ihn dazu gebracht habe, seinen Treueid zu brechen, die Antwort, er sei Nero so treu und anhänglich wie niemand sonst gewesen, aber er habe ihn zu hassen begonnen, als er zum Muttermörder, zum Mörder seiner Gattin, zum Wagenlenker und Schauspieler und zum Brandstifter geworden sei. Tacitus hat diese Antwort wörtlich wiedergegeben, weil sie so unverblümt und kraftvoll gewesen sei und Nero tief getroffen habe.⁵⁷

⁵⁴ Die Begriffe Bühnensänger und Kitharöde werden im Folgenden synonym verwendet. Aus den Quellen ergibt sich, dass Nero halböffentlich und öffentlich in allen Sparten als Sänger aufgetreten ist; bei den für ihn genannten tragischen Rollen handelt es sich um gesungene Einzelszenen; vgl. Wille  (Anm. ); Schmidt ; Champlin . Wille hat das gesamte einschlägige Material zur bequemen Benutzung zusammengestellt, aber auf eine kritische Würdigung der antiken Quellen weitgehend verzichtet. ⁵⁵ Dio , , ; vgl. Suet. Nero , . Zum Klischee geronnen ist dieses Bild in den Worten „Qualis artifex pereo“, die Nero in Erwartung seines baldigen Todes immer wieder gesagt haben soll (Suet. Nero , ; vgl auch , ); vgl. auch Plin. n. h. , (), –. ⁵⁶ Am sinnfälligsten kommt dieses Phänomen in den von Nero als tragoedus auf der Bühne dargestellten Muttermördern (Orest, Alkmaion) zum Ausdruck. Dadurch verschwinden, wie Bartsch ff. gezeigt hat, die Grenzen zwischen Theater (Mimesis) und Wirklichkeit, und die Identität des Darstellers wird fraglich. ⁵⁷ Tac. ann. , , –: ‚oderam te‘ inquit, ‚nec quisquam tibi fidelior militum fuit, dum amari meruisti. odisse coepi, postquam parricida matris et uxoris, auriga et histrio et incendiarius extitisti.‘ () ipsa rettuli verba, quia non, ut Senecae, vulgata erant, nec minus nosci decebat militaris viri sensus incomptos et validos. nihil in illa coniuratione gravius auribus Neronis accidisse constitit, qui ut faciendis sceleribus promptus, ita audiendi quae faceret insolens erat; vgl. Dio , .

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Insofern ist es nicht ohne Hintersinn, dass er Neros Prinzipat wie mit einem Paukenschlag mit zwei Morden beginnen lässt⁵⁸ und gleich im nächsten Kapitel hinzufügt, dass der junge Prinzeps vor gefährlichen Verlockungen bewahrt werden musste. Aber, und das ist nach dem dramatischen Beginn dann doch eine Überraschung, Nero ist an den Morden gar nicht beteiligt, sondern sie werden von seiner Mutter Agrippina begangen, und zwar, wie Tacitus mit Nachdruck festhält, der eine ohne Neros Wissen und der andere sogar gegen seinen Willen⁵⁹ – gegen seinen Willen freilich nur deshalb, weil der Siebzehnjährige sich aufgrund seiner noch verborgenen üblen Charaktereigenschaften (vitia) durch eine Seelenverwandtschaft mit dem Opfer verbunden fühlt. In diesem Moment treten Burrus und Seneca auf den Plan, und damit verschlingen sich die beiden Leitmotive. Denn zum einen verhindern Seneca und Burrus, dass Agrippina mit dem Morden fortfährt, und zum anderen bemühen sie sich als Mentoren des jungen Kaisers darum, den labilen und durch seine Jugend gefährdeten Prinzeps, wenn er denn schon nicht für die virtus zu gewinnen wäre, durch erlaubte Vergnügungen (voluptates concessae) einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Sie tun dies jeder nach seiner Art und jeder nach seinen Fähigkeiten, aber einander ergänzend und in ungetrübter Gemeinsamkeit, wie Tacitus mit Respekt und Anerkennung hervorhebt.⁶⁰ Allerdings, und das verdient hervorgehoben zu werden, schweigt er sich darüber aus, worin genau die Gefährdung Neros besteht. Immerhin können wir erschließen, was unter den erlaubten Vergnügungen zu verstehen ist, die Seneca und Burrus als pädagogisches Mittel benutzen. Der Begriff voluptates concessae begegnet in den Nero-Büchern nämlich noch ein zweites Mal und bezeichnet dort die Dichter- und Rednerwettkämpfe, die zum Programm der

⁵⁸ Tac. ann. , , : Prima novo principatu mors Iunii Silani proconsulis Asiae ignaro Nerone per dolum Agrippinae paratur […]; , , : [Narcissus] ad mortem agitur, invito principe, cuius abditis adhuc vitiis per avaritiam ac prodigentiam mire congruebat. ⁵⁹ Der Nachdruck ergibt sich daraus, dass die Formulierung prima novo principatu mors (ann. , , ) als kontrastierendes Selbstzitat zum Vergleich mit dem ersten Mord unter Tiberius (ann. , , ) auffordert. ⁶⁰ Tac. ann. , , : Ibaturque in caedes, nisi Afranius Burrus et Annaeus Seneca obviam issent. hi rectores imperatoriae iuventae et (rarum in societate potentiae) concordes, diversa arte ex aequo pollebant, Burrus militaribus curis et severitate morum, Seneca praeceptis eloquentiae et comitate honesta, iuvantes in vicem, quo facilius lubricam principis aetatem, si virtutem aspernaretur, voluptatibus concessis retinerent.

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Neronia gehörten.⁶¹ Deshalb wird man, zumal in der frühen Kaiserzeit sowohl formelle als auch informelle Dichter- und Rednerwettkämpfe gang und gäbe waren, annehmen dürfen, dass der junge Nero dazu angehalten wurde, seine rhetorischen und dichterischen Fähigkeiten zu üben und sich auch mit anderen jungen Männern auf diesen Gebieten zu messen. Zuständig für die Lenkung Neros durch Rhetorik und Dichtung war aufgrund der zwischen den beiden Mentoren vereinbarten Rollenverteilung Seneca, von dem es an der zitierten Stelle heißt, er habe durch praecepta eloquentiae und durch seine comitas honesta auf den gemeinsamen Zögling eingewirkt. Insgesamt vermittelt Tacitus den Eindruck, dass die beiden Erzieher eine so pragmatische und vernünftige Linie verfolgten, dass der Erfolg nicht ausbleiben konnte. Auch die Bemerkung, es sei nicht Neros Art gewesen, sich Sklaven unterzuordnen,⁶² passt vorzüglich zu dem tendenziell positiven Gesamtbild, da der Seitenhieb auf den Freigelassenen Pallas zielt und folglich nicht nur eine Abkehr Neros von der Willfährigkeit des Claudius gegenüber den Freigelassenen impliziert, sondern zugleich auch eine Distanz Neros zu Agrippina, die sich, so Tacitus, bei ihren Machenschaften auf Pallas als wichtigsten Helfershelfer gestützt habe. Besonders deutlich wird die Tendenz der Taciteischen Darstellung aber im Kontrast zur Parallelüberlieferung. Dio stellt die politische Rolle Senecas und Burrus’ und insbesondere ihre Versuche, den Einfluss Agrippinas zurückzudrängen, zwar nicht grundsätzlich anders dar als Tacitus, aber in Hinblick auf die Aufgabe, den jungen Nero zu lenken, vermittelt er einen völlig anderen Eindruck (, ). Seneca und Burrus hätten ihn nämlich im Interesse des Gemeinwohls sich selbst und seinen Leidenschaften überlassen, weil sie naiverweise geglaubt hätten, er werde bald genug haben von seinen Begierden und sich eines Besseren besinnen. Damit aber seien sie gründlich gescheitert. Noch weiter von der Darstellung des Tacitus entfernt ist die Suetons. Hier ist von wie auch immer gearteten Versuchen, den jungen Kaiser zu erziehen, überhaupt nicht die Rede. Vor allem aber: Sofort nachdem er an die Macht gekommen sei (statim ut imperium adeptus est), habe Nero seine neue Unabhängigkeit genutzt und sich der Musik, in der er schon als Kind Unterricht genossen habe, vollkommen hingegeben. Er habe den damals berühmtesten Kitharöden Terpnos engagiert und sich von ihm ausbilden lassen. Tagelang ⁶¹ Tac. ann. , , : oratorum ac vatum victorias incitamentum ingeniis adlaturas; nec cuiquam iudici grave auris studiis honestis et voluptatibus concessis impertire. ⁶² Tac. ann. , , –; das Zitat (, , ): Neroni infra servos ingenium.

Der Kaiser singt zur Kithara



bis weit in die Nacht hinein habe er sich von ihm vorsingen lassen und selbst geübt und habe penibel alle einschlägigen Vorschriften für das Stimmtraining praktiziert.⁶³ Die drei Darstellungen zeichnen ein sehr unterschiedliches Bild von der Person des jungen Nero zu Beginn seiner Regierung im Jahre , aber es ist unverkennbar, dass Tacitus die ungünstigen Züge so weit wie möglich aus der ihm vorliegenden Überlieferung eliminiert hat. Allerdings hat er sie, und das ist für sein methodisches Vorgehen exemplarisch, nicht völlig beseitigt, sondern lediglich aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und umgedeutet. Nachdem Nero die von Seneca verfasste Leichenrede auf Claudius gehalten habe, hätten die Älteren unter den Zuhörern, so erfahren wir im nächsten Kapitel, darüber räsoniert, dass Nero sich als erster Kaiser Roms fremder Beredsamkeit habe bedienen müssen. Diese Kritik nimmt Tacitus zum Anlass, die rhetorischen Fähigkeiten von Neros Vorgängern miteinander zu vergleichen, und er fügt hinzu, Nero habe sich seiner vielseitigen Begabung entsprechend schon in seiner Kindheit und frühen Jugend (puerilibus annis) in den bildenden Künsten, im Gesang und im Lenken von Pferden betätigt und er habe darüber hinaus auch seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, Gedichte zu verfassen.⁶⁴ Das aber sind unverkennbar die bedenklichen Vergnügungen, von denen im Kapitel über die Erziehung Neros erstaunlicherweise kein Wort gesagt wurde, und sie bilden den natürlichen Gegensatz zu den voluptates concessae, mit denen Seneca und Burrus ihre pädagogischen Ziele zu erreichen versuchten. Tacitus hat all diese Vorlieben, auch die besonders prekären Interessen Gesang und das Lenken von Pferden, aber nicht nur dort weggelassen, wo sie der Sache nach ihren Platz gehabt hätten und in der Parallelüberlieferung auch hatten, sondern er hat sie zusätzlich dadurch relativiert, dass er sie

⁶³ Suet. Nero , : Inter ceteras disciplinas pueritiae tempore imbutus et musica, statim ut imperium adeptus est, Terpnum citharoedum uigentem tunc praeter alios arcessiit diebusque continuis post cenam canenti in multam noctem assidens paulatim et ipse meditari exercerique coepit neque eorum quicquam omittere, quae generis eius artifices uel conseruandae uocis causa uel augendae factitarent; sed et plumbeam chartam supinus pectore sustinere et clystere uomituque purgari et abstinere pomis cibisque officientibus. Vgl dazu Bradley . ⁶⁴ Tac. ann. , , : Nero puerilibus statim annis vividum animum in alia detorsit: caelare, pingere, cantus aut regimen equorum exercere; et aliquando carminibus pangendis inesse sibi elementa doctrinae ostendebat.

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als die zwar fragwürdigen, aber doch harmlosen Liebhabereien seiner Kindheit erscheinen lässt. Diesem positiven Bild in den Anfangskapiteln aber entspricht die Darstellung, die Tacitus insgesamt von dem jungen Nero gibt, und zwar nicht nur im Hinblick auf das vielzitierte aureum quinquennium, also nicht nur unter dem Aspekt, dass Seneca und Burrus in den ersten Jahren freie Hand bei der Ausübung der Regierungsgeschäfte gehabt hätten, sondern auch in der beschönigenden Darstellung der Person des jungen Kaisers: Fünf Jahre lang hören wir bei Tacitus nichts von seinen bedenklichen Neigungen und Vergnügungen, fünf Jahre lang scheinen seine Mentoren die darin verborgenen Gefahren im Griff zu haben. Damit aber begibt Tacitus sich in einen so eklatanten Widerspruch zu der in dieser Hinsicht viel schlüssigeren Parallelüberlieferung, dass er starke Gründe dafür gehabt haben muss. Erschließen lassen sich diese Gründe aus seiner Geschichtskonzeption, genauer gesagt aus der These, dass es zu einem Wendepunkt in Neros Prinzipat, wie wir bereits gesehen haben, erst dadurch gekommen sei, dass Nero wider Erwarten für die Ermordung seiner Mutter nicht zur Rechenschaft gezogen wurde, sondern dass sich statt dessen ganz Rom ihm zu Füßen warf. Von diesem Augenblick an, so behauptet Tacitus, habe Nero sich seinen bisher einigermaßen bezwungenen Leidenschaften rückhaltlos hingegeben. Die These bezieht ihre unmittelbare Plausibilität aus der packenden Schilderung des dramatischen Moments, in dem Nero wie in einem dreifach gesteigerten Triumph als Sieger über die allgemeine Selbstunterwerfung zum Kapitol zieht, den Göttern dankt und seinen Leidenschaften freien Lauf lässt.⁶⁵ Das ist zwar ein Meisterstück der Suggestion, aber damit überspielt Tacitus die Diskontinuität seiner Darstellung eher, als dass er eine Erklärung dafür böte, dass Nero sich zwar in seiner Kindheit mit fragwürdigen Liebhabereien beschäftigt haben sollte, dass sie aber während der von Seneca beaufsichtigten imperatoria iuventa und in dem ganzen ersten Jahrfünft seiner Regierungszeit ohne Bedeutung gewesen wären. Aber Plausibilität wird in der antiken Geschichtsschreibung bekanntlich auch durch die Kunst der Darstellung generiert, und wie vorzüglich Tacitus diese Kunst beherrscht, lässt sich daran ablesen, dass die moderne Forschung hier keinen Anstoß genommen hat. Es ist signifikant, dass ausgerechnet der fulminante Schlusssatz des Kapitels über den triumphierenden Muttermörder, der die zentrale Botschaft auf den Begriff bringt, auch den der These inhärenten Widerspruch erkennen ⁶⁵ Tac. ann. , , ; s. o., S. .

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lässt. Denn wenn Nero sich in diesem Moment allen Leidenschaften hingibt, die er bislang aus Rücksicht auf seine Mutter mehr schlecht als recht unterdrückt hatte,⁶⁶ dann setzt das voraus, dass sie auch vor diesem Moment eine gewisse Rolle gespielt haben müssen. Explizit ausgesprochen wird das gleich im nächsten Satz, der das folgende Kapitel einleitet. Schon lange, so heißt es dort, habe Nero nicht nur das Verlangen gehabt, sich als Wagenlenker zu betätigen, sondern auch die abscheuliche Neigung, nach Art eines professionellen Sängers zur Kithara zu singen.⁶⁷ Damit aber ist, über die Verantwortung eines allzu willfährigen Senats hinaus, auch der zweite zentrale Punkt genannt, von dem die Geschichtskonzeption des Tacitus im Kontrast zur sonstigen Überlieferung bestimmt ist. Denn indem er den Wendepunkt in Neros Prinzipat durch den unvermittelten Ausbruch dieser beiden Leidenschaften offenbar werden lässt, insinuiert er einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Bestreben Neros, sich ohne Rücksicht auf sein hohes Amt als ‚Künstler‘ zu profilieren, und der verhängnisvollen historisch-politischen Entwicklung, der sein Prinzipat unterworfen war. In der Erzählfolge spiegelt sich das darin wider, dass Tacitus in diesem Kapitel alles über Nero als Wagenlenker und Nero als Kitharöde zusammengefasst hat, was in den Berichten der Parallelüberlieferung auf die gesamte Zeit seit dem Antritt der Herrschaft bezogen ist. Das gilt schon für die Gründe, mit denen Nero seine Wünsche zu rechtfertigen versucht habe, nämlich die Berufung auf die Könige des Altertums und auf den Gott Apollon.⁶⁸ Denn da Nero diese Gründe, wie sich aus dem Kontext ergibt, seinen Mentoren Seneca und Burrus vorgetragen haben muss, kann dies nicht erst nach dem Muttermord geschehen sein.

⁶⁶ Tac. ann. , , : quas male coercitas qualiscumque matris reverentia tardaverat. Erst hier erfahren wir durch eine Bemerkung im Nebensatz, dass Nero sich seiner Mutter zuliebe zurückgehalten habe. ⁶⁷ Tac. ann. , , : Vetus illi cupido erat curriculo quadrigarum insistere nec minus foedum studium cithara ludicrum in modum canere. ⁶⁸ Tac. ann. , , : concertare equis regium et antiquis ducibus factitatum memorabat idque vatum laudibus celebre et deorum honori datum. enimvero cantus Apollini sacros, talique ornatu adstare non modo Graecis in urbibus sed Romana apud templa numen praecipuum et praescium. Die Forschung hat darin das Bestreben Neros erkannt, sich als römischer Prinzeps in die Tradition des hellenistischen Königtums zu stellen.

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Damit Nero nicht beide Wünsche durchsetzt, machen Seneca und Burrus Konzessionen und gestatten ihm, sich als Wagenlenker in seinen Vatikanischen Parkanlagen zu betätigen.⁶⁹ Die vallis Vaticana ist, da sie einen abgeschlossenen Bereich (clausum spatium) bildet, das kleinere Übel gegenüber einer unbeschränkten Öffentlichkeit (haud promisco spectaculo), und wenn ein Kaiser ein Wagenrennen fährt, ist das jedenfalls erträglicher, als wenn er als Bühnensänger auftritt.⁷⁰ Das sind zwar sehr einleuchtende Überlegungen, aber da sie voraussetzen, dass Nero sich etwas von Seneca und Burrus gestatten lassen muss (concedere), können sie sich gleichfalls nur auf eine frühere Situation und ganz gewiss nicht auf die des Jahres  nach dem Muttermord beziehen. Da die beiden Mentoren aber scheitern mit ihrem Versuch, ihren Zögling durch Konzessionen in ihrem Sinne zu lenken, wird hier implizit der zu Beginn der Nero-Bücher vermittelte Eindruck, Seneca und Burrus hätten mit ihrer durch Konzilianz geprägten Erziehung Erfolg gehabt, wenn schon nicht korrigiert, so doch verwischt.⁷¹ Die Hoffnungen, die sich daran knüpften, dass die vallis Vaticana einen abgeschlossenen Bereich bildet, erfüllen sich jedoch nicht, weil sie gleichwohl genügend Raum für Zuschauer bietet,⁷² und so wird schon bald ein Publikum zu den Vorführungen zugelassen. Auch dabei kann es sich natürlich nur um eine allmähliche Entwicklung handeln, die erst Tacitus zu einer Momentaufnahme aus dem Jahre  verdichtet hat, um seine These von einer plötzlichen Enthemmung Neros (in omnis libidines effudit) begründen zu können. So wird die nächste Stufe erreicht und der Einklang von Pöbel und Prinzeps realisiert, formuliert in der Sentenz, dass die Masse sich freut, wenn ihre eigene Vergnügungssucht auch die ihrer Führer ist.⁷³ ⁶⁹ Tac. ann. , , : nec iam sisti poterat, cum Senecae ac Burro visum ne utraque pervinceret alterum concedere. clausumque valle Vaticana spatium in quo equos regeret haud promisco spectaculo. ⁷⁰ Diese den Erziehern Neros unterstellte Auffassung ist erkennbar auch die des Tacitus. Bei ihm tritt die Freude Neros am Wagenlenken, anders als in der Parallelüberlieferung, sowohl quantitativ als auch qualitativ deutlich hinter die Bühnenleidenschaft zurück; vgl. Heinz . ⁷¹ Damit befindet Tacitus sich wieder in Konsens mit der durch Dio repräsentierten Parallelüberlieferung, wenngleich er das Scheitern der beiden Erzieher nicht so unfreundlich kommentiert; s. o. S.  zu Dio , . ⁷² Nach Schmidt  muss „es sich zwar im rechtlich gesellschaftlichen Sinn um eine private, faktisch jedoch um eine öffentliche Bühne mit einem umfänglichen Zuschauerraum, also um ein normales römisches Theater gehandelt haben“. ⁷³ Tac. ann. , , : mox ultro vocari populus Romanus laudibusque extollere, ut est vulgus cupiens voluptatum et, si eodem princeps trahat, laetum. Seiner bissigen Sentenz zuliebe

Der Kaiser singt zur Kithara



Aber das ist noch nicht einmal alles. Durch die Konzilianz der beiden Erzieher ist der pudor preisgegeben, und das hat statt der erhofften Sättigung einen weiteren Ansporn zur Folge. Der Prinzeps bringt, um die Schande auf möglichst viele zu verteilen und dadurch seine eigene zu relativieren, nun auch verarmte Nachkommen der großen alten Familien dazu, auf der Bühne aufzutreten.⁷⁴ Das aber impliziert, dass Nero auch sein zweites Ziel erreicht hat und nicht nur als Wagenlenker, sondern auch auf der Bühne aufgetreten ist. Die Polemik des Tacitus gegen die aktive Beteiligung römischer nobiles (und darüber hinaus auch prominenter Mitglieder des Ritterstandes⁷⁵) ist zwar äußerst scharf, aber es wäre zu kurz gegriffen, sie mit der konservativen Mentalität traditionsbewussten Römertums abzutun. Aus der Perspektive des Tacitus geht es hier um die Verletzung fundamentaler Prinzipien der res publica. Die Kriterien kennen wir bereits aus der Analyse der spannungsgeladenen Situation nach dem Tode Neros in den Anfangskapiteln der Historien, wo es heißt, dass der an Zirkus und Theater gewöhnte aufsässige Pöbel Nero nachtrauert, während der Senat und der unverdorbene Teil des Volkes den Gegenpol dazu bildet.⁷⁶ Dieser Grundhaltung entsprechend hat Tacitus es sich im Gegensatz zu Dio (, , ff.) versagt, die Namen der Männer zu nennen, die unter Nero um materieller Vorteile willen auf der Bühne aufgetreten waren, aus Rücksicht auf ihre Vorfahren und weil die Schande den treffe, der mit seinem Geld lieber Vergehen belohne, statt es dafür einzusetzen, dass keine Vergehen begangen werden.⁷⁷ Damit hat Tacitus das, was die Überlieferung über die Zirkus- und Theaterleidenschaften Neros in der Zeit seit seinem Regierungsantritt zu berichten wusste, nachgetragen und zugleich den von ihm postulierten Zusammenhang

⁷⁴ ⁷⁵ ⁷⁶

⁷⁷

ignoriert Tacitus, dass nur einem überschaubaren Teil des populus Romanus Zutritt zur vallis Vaticana gewährt werden konnte und es sich folglich nur um eine beschränkte Öffentlichkeit handelte (haud promisco spectaculo; s. o. Anm. ). Tac. ann. , , : ceterum evulgatus pudor non satietatem, ut rebantur, sed incitamentum attulit. ratusque dedecus molliri, si pluris foedasset, nobilium familiarum posteros egestate venalis in scaenam deduxit. Tac. ann. , , : notos quoque equites Romanos operas arenae promittere subegit donis ingentibus, nisi quod merces ab eo qui iubere potest vim necessitatis adfert. S. o., S. . Dass sich immer wieder eine Minderheit (wie hier) oder auch eine Mehrheit (wie nach dem Muttermord) nicht so verhält, wie das der Rolle des Senats eigentlich entspräche, ist bei Tacitus zwar fast die Regel, aber seine Idealvorstellung wird davon nicht berührt. Tac. ann. , , . Der Satz ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr Tacitus sich der ihm durch das Amt des Historikers verliehenen Macht bewusst war; vgl. dazu auch Plin. epist. , .

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zwischen der Selbstunterwerfung des Senats nach dem Muttermord und dem ungehemmten Ausbruch von Neros Leidenschaften illustriert und dokumentiert. Aber nur, indem er das historische Material, das chronologisch überwiegend in die Vorgeschichte gehörte,⁷⁸ auf diesen einen Moment bezog, konnte er den Wendepunkt in Neros Prinzipat mit dem Beginn seiner unsäglichen Künstlerkarriere zusammenfallen lassen. Eine neue Qualität erhält die Bühnenleidenschaft Neros durch die von ihm gestifteten spectacula. Die historische Bedeutung und die Intentionen dieser Feste sind zwar nicht mit völliger Gewissheit zu ermitteln, aber die Vermutung, dass sie der Förderung der Künste dienen sollten und dass Nero sich dafür zumindest in der Anfangsphase auf das Vorbild des Augustus berufen konnte, scheint gesichert.⁷⁹ Sueton hat diese Intention akzeptiert und die spectacula im ersten Hauptteil seiner Biographie behandelt, also zu den non reprehendenda vel laude digna gerechnet,⁸⁰ und schon der die Perikope einleitende Satz zeigt, dass für ihn die spectacula zu den Leistungen des Herrschers für sein Volk gehören.⁸¹ Tacitus dagegen betrachtet die spectacula aus der entgegengesetzten Perspektive und unterstellt, dass es Nero dabei in erster Linie auf seine künstlerische Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung angekommen wäre.⁸² Unter dieser Prämisse ergeben sich folgende Stationen: zuerst die Iuvenalia ( n. C., vor beschränktem Publikum, also keine öffentliche Veranstaltung), im darauf folgenden Jahr die ersten Neronia (öffentlich, aber noch keine aktive Teilnahme Neros als Künstler), dann der Auftritt im Theater von Neapel ( n. C., erster öffentlicher Auftritt), und schließlich im selben bzw. im folgenden Jahr ⁷⁸ Soweit ich sehe, ist das Problem in der Forschung bisher nicht erfasst worden. Bradley  hat eher beiläufig unterstellt, Tacitus habe den Beginn von Neros Betätigung als Wagenlenker und Kitharöde irrtümlich auf das Jahr  statt wie Suet. Nero ,  auf  datiert – eine höchst erklärungsbedürftige Diskrepanz, sobald man das Kapitel nicht nur als historische Quelle benutzt. Champlin – glaubt (ohne dies zu begründen), dass sich das Kapitel (oder dessen zweite Hälfte?) auf die von Tacitus sonst nicht erwähnten Ludi Maximi beziehe. ⁷⁹ Einen guten Überblick über alles, was sich dazu ermitteln lässt (auch im Hinblick auf die Intention Patronage der Künste), gibt Morford ff.; vgl. auch Devillers ff. und, mit etwas anderer Fragestellung, Benoist –. ⁸⁰ So Suet. Nero ,  über das bis dahin Dargestellte; es folgen von da an die probra et scelera. Zur positiven Bewertung der spectacula durch Sueton vgl. auch Bradley . ⁸¹ Suet. Nero , : Spectaculorum plurima et uaria genera edidit […]. ⁸² Daraus erklärt sich wohl auch, dass Tacitus einen Teil der von Suet. Nero ,  angeführten spectacula ignoriert hat.

Der Kaiser singt zur Kithara

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die zweiten Neronia, bei denen Nero erstmals auch in Rom in aller Öffentlichkeit auftrat.⁸³ Die gesamte Schilderung, die Tacitus von Neros spectacula gibt, ist von der Überzeugung geprägt, dass der Kaiser durch sein Auftreten als Bühnenkünstler das verliert, was ihn vor allen anderen auszeichnen müsste, nämlich seine Ehre und Würde (honor). Schon im einleitenden Satz zu den Iuvenalia gibt der Begriff dehonestari das Signal dafür: Ne tamen adhuc publico theatro dehonestaretur, instituit ludos Iuvenalium vocabulo […] (ann. , , ). Indessen bereitet dieser Satz beträchtliche Schwierigkeiten, sobald man ihn auf seinen Kontext bezieht: Warum, so muss man fragen, will Nero seine Entehrung durch einen Auftritt in der Öffentlichkeit vorläufig vermeiden und deshalb nur vor einer beschränkten Öffentlichkeit auftreten, nachdem er sich doch durch die soeben geschilderten halböffentlichen Auftritte als Wagenlenker und Bühnensänger bereits entehrt hatte? Eine befriedigende Antwort auf diese Frage gibt es zwar nicht, aber die Aporie versetzt uns auch diesmal in die Lage zu erkennen, wie Tacitus vorgegangen ist, um die Überlieferung seiner These anzupassen, und wir können sogar die beiden Stellen im Text bestimmen, an denen die Fugen zwischen seiner eigenen Version und dem vorgefundenen Material verlaufen. Denn sobald man die Perikope herauslöst, die von seque in omnis libidines effudit im Schlusssatz von Kapitel  bis zum Ende von Kapitel  reicht,⁸⁴ verflüchtigt sich auch der unterstellte Kausalnexus zwischen Selbstunterwerfung Roms unter den Muttermörder und hemmungsloser Hingabe Neros an seine Zirkus- und Bühnenleidenschaften, und es wird der Zusammenhang sichtbar, den Tacitus vorgefunden haben dürfte: Nachdem Agrippina tot ist und er keine Rücksicht mehr auf seine Mutter (matris reverentia) zu nehmen braucht, stiftet Nero die Iuvenalia. Das ist ein glatter Übergang, ohne die zentrale Botschaft des Tacitus, aber eben deshalb auch ohne deren Dramatik. Aber auch das methodische Verfahren, dessen Tacitus sich bedient hat, lässt sich rekonstruieren, denn sein Erklärungsmuster ist in der durch Dio repräsentierten Überlieferung vorgebildet, dort aber noch auf einen ganz anderen Zusammenhang bezogen. Dort heißt es, Seneca und Burrus hätten sich nach der Ermordung des Britannicus, also seit dem Jahre , nur noch in

⁸³ Zur Datierung der zweiten Neronia s. u., S.  mit Anm. . ⁸⁴ In der Forschung gilt der Satz als Hinweis darauf, dass Nero sich erst nach dem Tode seiner Mutter frei genug gefühlt habe, die Iuvenalia zu veranstalten; vgl. o. Anm. .

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bescheidenem Umfang um die Staatsgeschäfte gekümmert, weil sie ihr eigenes Leben retten wollten, und seitdem habe Nero sich offen und ungestraft allen seinen Wünschen hingegeben.⁸⁵ Der Eingriff in die Überlieferung, den Tacitus vornahm, um seine Darstellung und Deutung des Wendepunkts im Prinzipat Neros plausibel zu machen, führte aber zwangsläufig auch zu einer thematischen Überschneidung, insofern die Iuvenalia als die ersten von Nero veranstalteten ludi eine Art Premiere sind, die Premiere aber bei Tacitus im vorausgehenden Kapitel unter anderen Vorzeichen gerade schon einmal stattgefunden hat. Um dem Eindruck einer bloßen Reprise entgegenzuwirken, bediente er sich der literarischen Mittel Variation und Steigerung, und zwar in den Details wie insgesamt. So findet sich in beiden Kapiteln die Polemik gegen die aktive Mitwirkung von Angehörigen der Nobilität, aber im ersten Fall liegt der Akzent darauf, dass die nobiles verarmt waren und Nero sie deshalb leicht durch finanzielle Zuwendungen gewinnen konnte, bei den Iuvenalia dagegen kommen die vornehmsten Römer scharenweise von sich aus, um sich offiziell als aktive Teilnehmer registrieren zu lassen,⁸⁶ nehmen aber gleichfalls stipes entgegen.⁸⁷ Wenn die Vermutung zutrifft (und vieles spricht dafür), dass sich in Neros Bemühen, Angehörige der Oberschicht aktiv an den ludi mitwirken zu lassen, die Orientierung an hellenistischen Vorbildern widerspiegelt, dann handelte es sich bei den finanziellen Zuwendungen in Wahrheit um eine Patronage der Künste.⁸⁸ Davon freilich ist bei Tacitus nichts zu erkennen. Statt dessen malt er in grellen Farben ein besonders widerwärtiges Bild von der Mitwirkung

⁸⁵ Dio , : καὶ ἐκ τούτου ὁ Νέρων λαμπρῶς ἤδη πάντων ὧν ἤθελεν ἐπ’ ἀδείας ἐνεπίμπλατο. Bei Dio ist mit diesen Wünschen aber nicht Neros Theaterleidenschaft gemeint. ⁸⁶ Einen von ihnen hat Tacitus in den Historien in einem kurzen Nachruf namentlich genannt (h.., ): [Fabius Valens] procax moribus neque absurdus ingenio famam urbanitatis per lasciviam petere. ludicro Iuvenalium sub Nerone velut ex necessitate, mox sponte mimos actitavit, scite magis quam probe. ⁸⁷ Tac. ann. , , : dabanturque stipes, quas boni necessitate, intemperantes gloria consumerent – nur hier nimmt Tacitus durch die Erwähnung der boni eine gewisse Differenzierung vor. ⁸⁸ Vgl. o., Anm. . Sueton macht, bezogen auf die ersten Neronia, konkretere Angaben (Nero , ): dedicatisque thermis atque gymnasio senatui quoque et equiti oleum praebuit.

Der Kaiser singt zur Kithara



der nobiles an den Iuvenalia, so dass der Eindruck einer schier unglaublichen moralischen Verwüstung entsteht.⁸⁹ Die Iuvenalia sind jedoch für Tacitus nicht nur als ein Ereignis des Jahres  bemerkenswert, sondern ihre historische Bedeutung liegt darin, dass sie eine tiefe Zäsur in der moralischen Entwicklung Roms bilden und dadurch weit über sich selbst hinausweisen. Das lasterhafte Treiben bei den Iuvenalia habe nicht nur alles übertroffen, was es in der Vergangenheit an verdorbenen Sitten gegeben habe, sondern die ludi seien selbst ein regelrechter Wettstreit in der Lasterhaftigkeit gewesen, und von da an (inde), so behauptet Tacitus, hätten in Rom flagitia und infamia überhand genommen.⁹⁰ Das ist eine wahrhaft kühne Behauptung. Aber Tacitus hat, um sie seinen antiken Lesern einleuchtend erscheinen zu lassen, ein konventionelles Modell der republikanischen Geschichtsschreibung aufgegriffen und für seine Zwecke umgeformt. In diesem Modell, das sich bekanntlich schon in der hellenistischen und erst recht in der römischen Historiographie großer Beliebtheit erfreute, wurde der Beginn des Sittenverfalls auf ein bestimmtes Datum, etwa auf den Untergang Karthagos, festgelegt, um mit diesem Datum auch den politischen Niedergang der Weltmacht Rom beginnen zu lassen. Im historischen Denken des Tacitus spielt das abgegriffene Thema Sittenverfall keine Rolle mehr, und vor allem verwendet er es nicht mehr für die Periodisierung der römischen Geschichte.⁹¹ Hier dagegen greift er mit einem gewissen Raffinement auf das alte Erklärungsmuster zurück, indem er insinuiert, dass die Iuvenalia eine dem Untergang Karthagos vergleichbare Wirkung ausgeübt hätten,⁹² freilich mit dem tiefgreifenden Unterschied, dass nun statt der Allgemeinheit Nero für einen neuen Beginn des moralischen Niedergangs in Rom verantwortlich zu machen ist. ⁸⁹ Tac. ann. , , f.: non nobilitas cuiquam, non aetas aut acti honores impedimento, quo minus Graeci Latinive histrionis artem exercerent usque ad gestus modosque haud virilis. () quin et feminae inlustres deformia meditari; extructaque apud nemus, quod navali stagno circumposuit Augustus, conventicula et cauponae et posita veno inritamenta luxui. dabanturque stipes quas boni necessitate, intemperantes gloria consumerent. ⁹⁰ Tac. ann. , , : inde gliscere flagitia et infamia, nec ulla moribus olim corruptis plus libidinum circumdedit quam illa conluvies. vix artibus honestis pudor retinetur, nedum inter certamina vitiorum pudicitia aut modestia aut quicquam probi moris reservaretur. Da die Iuvenalia aus certamina in bestimmten Disziplinen bestanden, ist ihre Qualifizierung als certamina vitiorum besonders boshaft. ⁹¹ Tacitus hat, vielleicht als erster, die römische Geschichte in die drei Epochen Alleinherrschaft, libera res publica, Alleinherrschaft gegliedert (ann. , , ). ⁹² Sall. Cat. , ff. [Sed ubi] Carthago aemula imperi Romani ab stirpe interiit […] primo pecuniae, deinde imperi cupido crevit […]; Tac. ann. , , : inde gliscere flagitia et infamia […].



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Neros Auftritt bildet denn auch den Höhepunkt der Darstellung: Wie ein professioneller Bühnensänger begibt er sich auf die Bühne⁹³ und lässt sich von herausragenden Angehörigen des Ritterstandes begleiten, die jedoch keine Ritter mehr sind, sondern als Augustiani dafür zu sorgen haben, dass der Beifall für den kaiserlichen Kitharöden nie verstummt. Der moderne Leser mag geneigt sein, sich durch das Bild des auf einer Bühne zur Kithara singenden Kaisers faszinieren zu lassen, und auch die Perspektive der Parallelüberlieferung ist bei aller moralischen Empörung unverkennbar auf den Unterhaltungswert fixiert. Bei Tacitus dagegen bleibt der politische Bezug bestimmend. Deshalb verzichtet er ganz darauf, die Darbietungen Neros zu schildern, und skizziert lediglich die seltsame Rolle der Augustiani, die Nero Tage und Nächte lang dafür gerühmt hätten, dass seine Schönheit und seine Stimme den Göttern gleiche,⁹⁴ und er verwischt die Maßstäbe im Unterschied zur Parallelüberlieferung nicht durch die Erörterung der Frage, ob die Stimme Neros ein solches Lob verdient habe oder nicht.⁹⁵ Ein noch deutlicheres Indiz dafür, dass es Tacitus allein auf die politische Relevanz ankommt, ist die Bemerkung über Burrus. Dass Neros Mentoren nur noch Zuschauer sind wie andere auch und keinerlei Einfluss auf ihren Zögling mehr haben, wird als selbstverständlich vorausgesetzt und mit der sarkastischen Bemerkung Burrus maerens ac laudans kommentiert.⁹⁶ Damit aber erweisen sich die Iuvenalia als ein Paradigma, mit dem Tacitus die von ihm postulierte Interdependenz von Willfährigkeit des Senats und Neros Künstlertum im konkreten Einzelfall anschaulich zu machen versucht hat. Die Selbstunterwerfung des Senats nach Neros Muttermord führt zum Ausbruch seiner zuvor disziplinierten Leidenschaften, und gleich darauf übt sich die politische Elite bei dem ersten von Nero Graeco more veranstalteten spectaculum in moralischer Selbstprostitution, wodurch wiederum Neros ⁹³ Tac. ann. , , : postremus ipse scaenam incedit, multa cura temptans citharam et praemeditans adsistentibus phonascis. ⁹⁴ Tac. ann. , , : formam principis vocemque deum vocabulis appellantes. Das ist unverkennbar ein Echo darauf, dass Nero selbst sich nach Tac. ann. , ,  auf Apoll als den Schutzgott des Gesangs berufen hatte. ⁹⁵ Vgl. die negativen Kommentare bei Suet. Nero ,  und Dio , , . ⁹⁶ Tac. ann. , , . Nach Dio ,  waren Seneca und Burrus ihm bei seinem Auftritt behilflich. – Aus den von Tacitus ann. ,  referierten Vorwürfen, die nach dem Tode des Burrus im Jahre  gegen Seneca erhoben wurden und die zu dessen unfreiwilligem Rückzug führten, ergibt sich, dass Seneca bei seiner Kritik an Neros Lust an Wagenlenken und Kithara blieb, dieser sich aber dadurch nicht beeindrucken ließ (, , ): nam oblectamentis principis palam iniquum detrectare vim eius equos regentis, inludere voces, quoties caneret.

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Künstlerkarriere gefördert wird. Dass allein der Kaiser tut, was ihm beliebt, und der Senat, indem er ihm zu Diensten ist, den Gang der Geschichte nur ungewollt beeinflusst, steht auf einem anderen Blatt. Ein letztes und etwas überraschend angefügtes Beispiel für Neros obsessive Selbstdarstellung sind dessen poetische Versuche,⁹⁷ für die er sich mangels eigener Begabung fremder Hilfe habe bedienen müssen.⁹⁸ Den eigentlichen Abschluss der Perikope bildet aber erst das folgende Kapitel (ann. , ), in dem Tacitus von den gewalttätigen Auseinandersetzungen der Bürger von Nuceria und von Pompeji – die Stichworte dafür sind theatri licentia und seditio – berichtet. Das ist ein passendes Nachspiel, mit dem Tacitus sich vorläufig von seinem Thema seque in omnis libidines effudit verabschiedet.  Letzter Akt: Der Kaiser singt für Rom Anders als die Iuvenalia, die aus einmaligem Anlass begangen wurden und eigentlich nicht hätten wiederholt werden sollen, waren die Neronia ein quinquennale ludicrum nach dem Vorbild der in Griechenland üblichen Wettspiele. Das war etwas ganz Neues für Rom und, wie Tacitus sagt, eben deshalb sehr umstritten.⁹⁹ Statt aber selbst ein Urteil darüber zu fällen, bedient er sich eines in der antiken Historiographie beliebten Verfahrens und lässt die Gegner und die Befürworter des neuen Festes ausführlich zu Wort kommen. Als das nächstliegende Vorbild dafür gelten die Rede Caesars und die Gegenrede Catos in Sallusts Catilina (Cat. f.). Aber während sich bei dem Sallustischen Redenpaar trefflich darüber streiten lässt, welcher Position die Sympathien des Historikers gehören, hat Tacitus unmissverständlich Klarheit geschaffen: Schon bevor er ihre Argumente wiedergibt, unterstellt er den Befürwortern, sie wollten mit ihren schönen Worten nur ihre Lust an der licentia verbrämen.¹⁰⁰

⁹⁷ Tac. ann. , , , beginnend mit einer sarkastischen Juxtaposition: Ne tamen ludicrae tantum imperatoris artes notescerent, carminum quoque studium adfectavit […]. ⁹⁸ Die Behauptung ist zwar sehr boshaft, widerspricht aber nicht unbedingt dem eher positiven Urteil des Tacitus ann. , , , das sich auf Neros Kindheit bezieht (s. o., S. .). Dass es über die Dichtungen, die Nero als Kaiser verfasst hatte, kontroverse Urteile gab, berichtet Suet. Nero . ⁹⁹ Tac. ann. , , : Nerone quartum Cornelio Cosso consulibus quinquennale ludicrum Romae institutum est ad morem Graeci certaminis, varia fama, ut cuncta ferme nova. ¹⁰⁰ Tac. ann. , , : Pluribus ipsa licentia placebat, ac tamen honesta nomina praetendebant.

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Über den tatsächlichen Verlauf der Neronia berichtet Tacitus im Gegensatz zur Parallelüberlieferung überhaupt nichts, und dieses Desinteresse ist aufschlussreich, weil es offenkundig dadurch begründet ist, dass die Neronia, wie Tacitus formuliert, ohne eine auffällige Schändlichkeit vorübergingen:¹⁰¹ Die Pantomimen waren nicht zugelassen worden, so dass die ludi bei der plebs keinerlei Begeisterung hervorriefen, und, das ist offenbar das Entscheidende, Nero selbst hatte auf eine aktive Teilnahme verzichtet und wurde außer Konkurrenz zum Sieger erklärt.¹⁰² Seit dem Jahre , als er sich im Triumph über das publicum servitium allen seinen Leidenschaften hingab, hatte Nero nach Darstellung des Tacitus die Absicht, in Rom öffentlich als Bühnensänger aufzutreten, auch wenn sich das vorläufig noch nicht realisieren ließ.¹⁰³ Fünf Jahre später ist nach Tacitus ein konkreter Plan daraus geworden, und er hat seinen Bericht darüber in einer für ihn typischen Weise kontextualisiert: Der letzte Satz über das Jahr  berichtet von der Selbstentehrung prominenter Senatoren bei den Gladiatorenspielen in Rom,¹⁰⁴ und im ersten Satz über das Jahr  lesen wir, Nero habe sein Verlangen, als Bühnensänger vor einem Massenpublikum aufzutreten, nun nicht mehr bezähmen können.¹⁰⁵ Bisher habe er nur bei den Iuvenalien und in den Vatikanischen Parkanlagen gesungen, die er jedoch als zu beschränkt und seiner großartigen Stimme unangemessen empfunden

¹⁰¹ Tac. ann. , , : sane nullo insigni dehonestamento id spectaculum transiit; ac ne modica quidem studia plebis exarsere, quia redditi quamquam scaenae pantomimi certaminibus sacris prohibebantur; s. u. Anm. . ¹⁰² Tacitus erwähnt nur den Siegespreis in der Beredsamkeit. Nach den Berichten der Parallelüberlieferung (Suet. Nero ,  und Dio , ) wurde Nero auch zum Sieger in der Dichtung erklärt, und vor allem wurde ihm, ebenfalls als Zeichen seines Sieges, eine Kithara überreicht, die er aber nicht annahm, sondern zur Statue des Augustus bringen ließ. ¹⁰³ Tac. ann. , , : Ne tamen adhuc publico theatro dehonestaretur[…] (s. o. S. ). ¹⁰⁴ Tac. ann. ,  ex.: spectacula gladiatorum idem annus habuit pari magnificentia ac priora; sed feminarum inlustrium senatorumque plures per arenam foedati sunt. ¹⁰⁵ Tac. ann. , ,  C. Laecanio M. Licinio consulibus acriore in dies cupidine adigebatur Nero promiscas scaenas frequentandi. In der Wortwahl ist das Urteil des Tacitus impliziert. Das gilt nicht nur für acriore in dies cupidine adigebatur, sondern auch für den Begriff promiscus, der bei Tacitus hochgradig negativ besetzt ist und auf die durch Theater und Zirkus konstituierte Gemeinsamkeit von Prinzeps und Pöbel verweist; vgl. ann. , ,  haud promisco spectaculo (dazu o., S. ); , ,  coetu promisco.

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

habe.¹⁰⁶ Er habe jedoch nicht gewagt, seine professionelle Bühnenkarriere in Rom zu beginnen. Deshalb habe er sich überlegt, dass die Graeca urbs Neapel sich am besten als erste Station eigne, und sich vorgenommen, danach eine Griechenlandtournee zu unternehmen, bei der er, so sein Kalkül, so viele Siegespreise erringen werde, dass auch die Bürger Roms danach verlangen würden, den kaiserlichen Künstler auf der Bühne zu erleben.¹⁰⁷ Im selben Augenblick befinden wir uns schon in Neapel. Allerdings gibt Tacitus zwar ein paar knappe Informationen über die Organisation der Aufführung,¹⁰⁸ aber über den ersten öffentlichen Bühnenauftritt Neros berichtet er noch weniger als über den Auftritt bei den Iuvenalia, nämlich kein einziges Wort. Statt dessen führt der Erzählstrang von Benevent,¹⁰⁹ wo Nero vorläufig auf die Reise nach Griechenland verzichtet habe, zurück nach Rom und gibt Gelegenheit, erneut den Konsens von plebs und Prinzeps zu dokumentieren und die zwiespältigen Gefühle des Senats gegenüber dem grausamen Herrscher wiederzugeben.¹¹⁰ Durch die rigorose Sparsamkeit, mit der Tacitus seine Leser hier informiert, verleiht er den Überlegungen, die Nero über seine Zukunft als Bühnensänger anstellt, besonderes Gewicht. Er benutzt dafür ein erzähltechnisches Verfahren, mit dem ein neuzeitlicher Historiker mehr als nur Befremden hervorrufen würde, das aber in der antiken und insbesondere römischen Geschichtsschreibung ganz geläufig war: Um den Zusammenhang der Ereignisse und seine eigene Deutung des Geschehens plausibel zu machen, gibt der Historiker unausgesprochene Gedanken und Wünsche, aber auch verbale Äußerungen der Akteure wieder, von denen er schlechterdings nichts wissen kann und die er folglich erfunden haben muss. Die Legitimität eines solchen Verfahrens beruht auf einem Konsens mit den Lesern, die, da sie die Fiktion ¹⁰⁶ Tac. ann. , , : nam adhuc per domum aut hortos cecinerat Iuvenalibus ludis, quos ut parum celebris et tantae voci angustos spernebat. Auch hier verzichtet Tacitus darauf, durch polemische Bemerkungen über Neros Stimme vom Wesentlichen abzulenken (s. o., Anm. ). ¹⁰⁷ Tac. ann. , , : non tamen Romae incipere ausus Neapolim quasi Graecam urbem delegit: inde initium fore ut transgressus in Achaiam insignisque et antiquitus sacras coronas adeptus maiore fama studia civium eliceret. ¹⁰⁸ Tac. ann. , , : ergo contractum oppidanorum vulgus […]; im Anschluss daran erwähnt Tacitus noch den Zusammensturz des Theaters nach der Vorstellung. Die Parallelüberlieferung ist bei weitem nicht so zurückhaltend ¹⁰⁹ Tac. ann. , –; in , ,  sind die beiden Leitbegriffe seines Nero-Bildes, voluptates und scelera, miteinander verwoben. ¹¹⁰ Tac. ann. , , : senatus et primores in incerto erant procul an coram atrocior haberetur.

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selbstverständlich durchschauen und ihnen das literarische Verfahren wohlvertraut ist, zu Komplizen des Autors werden.¹¹¹ Auf unseren Fall angewendet bedeutet das: Der öffentliche Auftritt eines Kaisers als Bühnensänger in Rom ist ein Vorgang, zu dem es niemals hätte kommen dürfen, und um jeden Zweifel an dieser Auffassung auszuschließen, nimmt Tacitus dafür Nero selbst als Kronzeugen in Anspruch, indem er ihm unterstellt, dass er es noch im Jahre  für ausgeschlossen gehalten habe, in Rom öffentlich auf der Bühne aufzutreten, es sei denn, er könnte durch eine erfolgreich absolvierte Griechenlandtournee die Voraussetzung dafür schaffen. Die Forschung hat die Historizität dieses Plans so diskutiert, als ob er Bestandteil der antiken Überlieferung wäre, ohne zu bedenken, dass es sich um eine Nachricht handelt, für die sich nicht einmal Tacitus selbst verbürgt und die er eben deshalb weder einer Ereignisfolge zuordnet noch als Information eines Gewährsmanns oder als Zitat aus einer seiner Quellen wiedergibt. Wenn sich die Überlegungen Neros aber lediglich einer Erfindung des Tacitus verdanken, dann wird auch die immer wieder erörterte Frage gegenstandslos, warum Nero die damals geplante Griechenlandreise nicht realisiert habe.¹¹² Die Begründung, die Tacitus dafür gibt, könnte ein fiktionaler Erzähler nicht besser formulieren: causae in incerto fuere (ann. , , ). Folglich haben wir statt nach der Historizität des Plans danach zu fragen, warum und mit welcher Absicht Tacitus seinen Nero solche Überlegungen anstellen und einen solchen Plan fassen lässt. Die Frage ist zur Hälfte schon durch den Hinweis beantwortet, dass Tacitus seinen Nero die Griechenlandtournee als condicio sine qua non für einen öffentlichen Theaterauftritt in Rom planen lässt. Der Nero unterstellte Gedankengang wird aber geradezu zum Schlüsselsatz für die Konzeption des Tacitus, wenn man bedenkt, dass die tatsächliche Reihenfolge der Ereignisse, wie allgemein bekannt, gerade umgekehrt und Nero schon vor seiner Griechenlandtournee in Rom öffentlich als Bühnensänger aufgetreten war. Tacitus hat damit ein Bedingungsgefüge konstruiert, das sich ausschließlich seiner besonderen Konzeption und seiner Deutung des Geschehens verdankt. ¹¹¹ Ein illustratives Beispiel ist die Ansprache, die der nordafrikanische Kleinkönig Micipsa nach dem Bericht Sallusts (Iug. ) auf dem Sterbebett an seine Söhne gerichtet habe und die Sallust wörtlich wiedergibt, obwohl sich die Szene ein Jahrhundert zuvor, in einem anderen Erdteil und in den Privatgemächern eines Königs abgespielt haben müsste, wenn es sich nicht um eine freie Erfindung handelte. ¹¹² Vgl. z. B. Griffin . Dagegen hat Bradley f. die von Tacitus gemachten Angaben für wenig plausibel und den Bericht für verdächtig erklärt.

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Nach Sueton trat Nero schon  n. Chr., also im selben Jahre, in dem er in Neapel auf der Theaterbühne gestanden hatte, auch in Rom öffentlich auf. Um sich diesen Wunsch erfüllen zu können, habe er die zweiten Neronia im Jahre  vor dem eigentlichen Termin veranstaltet. Zwar habe er zunächst vorgegeben, nur in seinen Parkanlagen auftreten zu wollen, dann aber, als alle danach verlangten, seine göttliche Stimme zu hören, nach allen Regeln der Kitharödenzunft auf öffentlicher Bühne mehrere Stunden lang gesungen.¹¹³ Danach habe er die ludi jedoch unterbrechen lassen, um sich für das nächste Jahr erneut die Gelegenheit zu einem Auftritt zu verschaffen.¹¹⁴ Er habe jedoch, weil er nicht so lange warten wollte, auch in der Zwischenzeit bis zur Wiederaufnahme der Neronia immer wieder in Rom öffentlich und bei privaten Gelegenheiten gesungen und ein vielfältiges Repertoire geboten.¹¹⁵ Der Bericht Suetons ist für sich genommen plausibel und bietet keinen Anstoß, und er ist nur deshalb in Frage gestellt worden, weil bei Tacitus von all dem nichts steht, weder von einem öffentlichen Auftritt Neros im Jahre  und in der Zeit direkt danach noch von einer Unterbrechung der zweiten Neronia, die nach Tacitus ganz ins Jahr  gehören. Indessen wäre die Version Suetons – also wiederholte öffentliche Auftritte in Rom gleich nach der Rückkehr aus Neapel – mit der skizzierten Konzeption des Tacitus auch gar nicht vereinbar gewesen, und deshalb dürfte er auch hier, ähnlich wie bei der Ignorierung von Neros Leidenschaften für Wagenlenken und Kithara vor dem Jahre , von der vorgefundenen Überlieferung abgewichen sein. Dort hatte Tacitus das, was erkennbar in die Zeit von  bis  gehört, erst zum Jahre  berichtet.¹¹⁶ Hier liegen dieselben Voraussetzungen vor, da die von Sueton ¹¹³ Suet. Nero , : Cum magni aestimaret cantare etiam Romae, Neroneum agona ante praestitutam diem reuocauit flagitantibusque cunctis caelestem uocem respondit quidem in hortis se copiam uolentibus facturum, sed adiuuante uulgi preces etiam statione militum, quae tunc excubabat, repraesentaturum se pollicitus est libens; ac sine mora nomen suum in albo profitentium citharoedorum iussit ascribi […]. ¹¹⁴ Über die Datierung der zweiten Neronia hat sich bisher keine Einigung erzielen lassen. Bolton ff. hat darauf hingewiesen, dass Feste, die wie die Neronia als quinquennale certamen bezeichnet werden, jeweils im fünften Jahr, also im Vierjahresrhythmus gefeiert wurden, und er hat auf dieser Grundlage geschlossen, dass die zweiten Neronia tatsächlich schon im Jahre  gefeiert, aber vor Durchführung des vollen Programms abgebrochen worden seien, so dass das ludicrum des Jahres  nur eine Wiederaufnahme gewesen sei. Diese Datierung hat in der Forschung zu einer kontroversen Diskussion geführt, an der sich u. a. Mac Dowall f., Bradley ff. (gute und besonnene Übersicht über die Forschungsmeinungen, wichtige Hinweise auch S. , Anm. ), Griffin  und , Kierdorf , Rudich f. und f. und Champlin ff. beteiligt haben. ¹¹⁵ Suet. Nero , f., mit detaillierten Angaben zu den von Nero gesungenen Rollen.

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berichteten Auftritte nach der Rückkehr aus Neapel sich wiederum nicht mit der besonderen Konzeption des Tacitus vertragen. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit, dass Tacitus einiges von dem, was Sueton berichtet, ausgelassen und anderes erst bei seinem Bericht über die Neronia des Jahres  berücksichtigt hat, viel höher als die Vermutung, dass Sueton in umgekehrter Weise verfahren sein könnte. Ein weiteres Indiz dafür, dass Suetons Darstellung der zweiten Neronia der Überlieferung entspricht und dass Tacitus davon abgewichen ist, ergibt sich aus den Berichten über die Pisonische Verschwörung. In den Plänen der Akteure spielte, auch nach Tacitus, das Bild eines Kaisers, der zum Bühnensänger geworden war, eine entscheidende Rolle.¹¹⁷ Der deutlichste Hinweis darauf ergibt sich aus den bereits zitierten Worten des Offiziers, der erklärt, er habe Nero zu hassen begonnen, als er zum Muttermörder, zum Mörder seiner Gattin, zum Wagenlenker und Schauspieler und zum Brandstifter geworden sei.¹¹⁸ Es ist evident, dass dieses Bekenntnis viel besser begründet ist, wenn Nero schon vor der Pisonischen Verschwörung nicht nur als parricida matris et uxoris, sondern auch als histrio bezeichnet werden konnte, also schon öffentlich auf der Bühne aufgetreten war, so wie es in Suetons Version vorausgesetzt ist.¹¹⁹ Folglich wird man, auch wenn sich keine völlige Gewissheit über den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse erzielen lässt, das Fazit ziehen müssen, dass die Glaubwürdigkeit der von Sueton gegebenen Darstellung nicht durch die eigenwillige Konzeption des Tacitus zu erschüttern ist.¹²⁰ Damit sind wir bei der Pointe der Überlegungen Neros, die Tacitus ihm im Hinblick auf seine professionelle Bühnenkarriere unterstellt hat, nämlich bei der Frage, wie es dazu kommen konnte, dass es der Griechenlandtournee ¹¹⁶ Tac. ann. , ; s. o. S. ff. ¹¹⁷ Tac. ann. , ,  (über einen früheren Attentatsplan): et cepisse impetum Subrius Flavus ferebatur in scaena canentem Neronem adgrediendi; , ,  (die Verschwörer zu Piso über Nero): etiam fortis viros subitis terreri, nedum ille scaenicus, Tigellino scilicet cum paelicibus suis comitante, arma contra cieret; vgl. auch ,  über den citharoedus Nero; der Begriff scaenicus imperator ist später zum Schlagwort der antineronischen Propaganda geworden (vgl. Plin. paneg. , ). ¹¹⁸ Tac. ann. , , –; s. o., S. . ¹¹⁹ Auch das Gerücht, Nero habe sich vom Brande Roms vor allem künstlerisch inspirieren lassen und mit Blick auf die brennende Stadt zur Leier gesungen (Tac. ann. , , ), passt besser in eine Situation, in der sich Nero in Rom schon öffentlich als Bühnensänger profiliert hat. ¹²⁰ Vgl. Rudich : “This means that what is portrayed in the Annales was the final part of the second Neronia, held in AD  and possibly intended by Nero as a propaganda coup following his recent victory over the Pisonians.”

Der Kaiser singt zur Kithara

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als einer condicio sine qua non für einen öffentlichen Auftritt in Rom nicht mehr bedurfte. Die Antwort ergibt sich, wie so oft bei Tacitus, aus dem Kontext seiner Erzählung. Das fünfzehnte Buch der Annalen endet damit, dass in Rom nach dem Scheitern der Pisonischen Verschwörung und den zahlreichen Hinrichtungen von Beteiligten und Unbeteiligten eine dramatische Veränderung eintritt. Tacitus hat diese Veränderung unter Berufung auf die Senatsakten und in lakonischer Kürze wirkungsvoll in einer einzigen Szene vorgeführt: Der designierte Konsul Cerialis Anicius stellt den Antrag, für Nero einen Tempel zu errichten, da er die den Menschen gesetzten Grenzen überschritten und göttliche Verehrung verdient habe.¹²¹ Tacitus lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Antrag und seine Begründung die allgemeine Stimmung widerspiegelt. Nur weil der Kaiser selbst Einspruch dagegen eingelegt habe, sei es doch nicht zum Bau eines Nero-Tempels in Rom gekommen. Nero habe nämlich befürchtet, dies könnte als Vorzeichen für seinen baldigen Tod ausgelegt werden, weil einem Kaiser erst dann göttliche Verehrung zuerkannt werde, wenn er nicht mehr unter den Lebenden wirke.¹²² Eine ähnliche dramatische Veränderung hatte es aber nach Darstellung des Tacitus sechs Jahre zuvor schon einmal gegeben, direkt nach dem Muttermord. Damals hatte Nero die Konsequenzen aus dem publicum servitium gezogen, indem er sich ungehemmt seinen Leidenschaften hingab und sich, wenn auch nur in einem clausum spatium, als Wagenlenker betätigte und zur Kithara sang. Jetzt ist ihm in Rom sogar die Vergöttlichung angetragen worden, er ist am Ziel aller seiner Wünsche, und deshalb braucht er den Ruhm einer erfolgreichen Griechenlandtournee nicht mehr, um in Rom in aller Öffentlichkeit als professioneller Bühnensänger aufzutreten. Dass die Zäsur noch tiefer ist als die nach dem Muttermord, lässt sich kompositorisch daran ablesen, dass hier nicht nur ein neues Buch, sondern auch die zweite und letzte Triade beginnt. Besonders markiert ist dieser Beginn durch die ersten Worte Inlusit dehinc Neroni fortuna, mit denen Tacitus

¹²¹ Tac. ann. , , : reperio in commentariis senatus Cerialem Anicium consulem designatum pro sententia dixisse ut templum divo Neroni quam maturrime publica pecunia poneretur. quod quidem ille decernebat tamquam mortale fastigium egresso et venerationem hominum merito. ¹²² Tac. ann. , ,  (Schlusssatz). Zur Schlussszene des . Buches insgesamt vgl. Woodman  ff.

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bekanntlich auf den Beginn der zweiten Triade der Tiberius-Bücher zurückverweist. Dort hatte er die Darstellung mit einem bedeutungsschweren Eingangssatz begonnen,¹²³ dessen Formulierung jeden Leser an das berühmte Kapitel Sallusts erinnern musste, in dem dieser den Beginn von Roms Niedergang mit dem unerklärlichen Walten Fortunas und zugleich mit dem sehr wohl erklärbaren Verhalten der Römer nach der Beseitigung Karthagos umschrieben hatte.¹²⁴ Dieses Modell einer doppelten Kausalität hat Tacitus benutzt, um die negative Wende im Prinzipat des Tiberius als ein schicksalhaft verhängtes Geschehen darzustellen und sie zugleich auf den Aufstieg Sejans zurückzuführen. Die Formulierung, die Tacitus in den Nero-Büchern für den Beginn der zweiten Triade gewählt hat, ist weniger pathetisch,¹²⁵ aber durch das temporale dehinc wird das nun folgende um so deutlicher mit dem unmittelbar vorausgehenden Geschehen verknüpft:¹²⁶ In Rom ist Nero die Vergöttlichung zu Lebzeiten angetragen worden, und nun beginnt Fortuna, ihr Spiel mit ihm zu treiben. Das Präludium dazu ist eine Posse: Nero fällt aufgrund seiner eigenen vanitas auf die abenteuerlichen Traumgesichte eines geistig gestörten Puniers herein, der ihm Hoffnungen auf den Schatz der Dido macht. Die Geschichte ist ein Kabinettstück der Erzählkunst, voller beziehungsreicher Einzelzüge und mit einem Akteur im Mittelpunkt, der sich aus der Realität verabschiedet hat.¹²⁷ Vor allem aber ist sie, und das macht sie zu einem Präludium im besten Sinne des Wortes, verwoben mit den Neronia,¹²⁸ und diese wiederum sind das Bindeglied zu den scelera Neros, zu denen sein tödlicher Fußtritt den Auftakt bildet. ¹²³ Tac. ann. , , : cum repente turbare fortuna coepit, saevire ipse [sc. Tiberius] aut saevientibus vires praebere. initium et causa penes Aelium Seianum […]. ¹²⁴ Sall. Cat. , f.: […] saevire fortuna ac miscere omnia coepit. () qui labores, pericula, dubias atque asperas res facile toleraverant, iis otium divitiaeque, optanda alias, oneri miseriaeque fuere. ¹²⁵ Tac. ann. , , : Inlusit dehinc Neroni fortuna per vanitatem ipsius et promissa Caeselli Bassi, qui origine Poenus, mente turbida, nocturnae quietis imaginem ad spem haud dubiae rei traxit […]. ¹²⁶ Explizit bezieht sich das dehinc zwar nur auf die Geschichte vom Schatz der Dido, aber die Textsignale am Ende von Buch  und Anfang von Buch  gehen weit darüber hinaus; vgl. Hauser f. (hinzuzufügen wäre per vanitatem ipsius). ¹²⁷ Vgl. Tac. ann. , , : Igitur Nero, non auctoris, non ipsius negotii fide satis spectata nec missis per quos nosceret an vera adferrentur, auget ultro rumorem.Vgl. auch Griffin  und Woodman f. ¹²⁸ Schatz der Dido: ann. , –, Neronia: , –; die Gleichzeitigkeit wird in , ,  expliziert und in , ,  mit einleitendem Interea nochmals hervorgehoben.

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Beginnen lässt Tacitus die Neronia mit einem letzten Versuch des Senats, das Unabwendbare durch das Angebot abzuwenden, Nero im vorhinein zum Sieger in den Disziplinen Gesang und Redekunst zu erklären.¹²⁹ Schon die Terminologie, mit der er diesen Versuch beschreibt, signalisiert, dass er hier den Spannungsbogen zum Ziel führen will, den er nach dem Muttermord hatte beginnen lassen und der seitdem immer wieder sichtbar geworden war.¹³⁰ Erzähltechnisch gesehen ist das Angebot des Senats, insofern seine Ablehnung a priori feststeht, das Gegenbild zu den ersten Neronia, an denen Nero nicht aktiv teilgenommen und für die er sich dennoch im nachhinein zum Sieger hatte erklären lassen. Die Begründung, mit der er das Angebot jetzt ablehnt, macht explizit, dass er sich jetzt nicht mehr als Amateur, sondern als professioneller Bühnensänger versteht, der mit seinen Konkurrenten von gleich zu gleich kämpfen¹³¹ und ohne Fürsprache des Senats durch den Schiedsspruch der Juroren den verdienten Ruhm erlangen werde.¹³² An dieser Stelle werden die literarischen Mittel wirksam, durch die Tacitus die zweiten Neronia zu einem dramatischen Höhepunkt gemacht hat: Der Auftritt des Kaisers auf öffentlicher Bühne ist nach seiner Darstellung nicht nur der erste in Rom, sondern in der historischen Erzählung der erste überhaupt, da Tacitus über den in Neapel nichts berichtet hatte. Darüber hinaus hat Tacitus, indem er alle anderen Disziplinen ausgeblendet¹³³ und die Konkurrenten Neros konsequent ignoriert hat, die zweiten Neronia auf einen Solo-

¹²⁹ Tac. ann. , , : Interea senatus propinquo iam lustrali certamine, ut dedecus averteret, offert imperatori victoriam cantus adicitque facundiae coronam qua ludicra deformitas velaretur. ¹³⁰ Tac. ann. , , . Die Bezugsstellen zu ut dedecus averteret / qua ludicra deformitas velaretur sind: , ,  (Vetus illi cupido erat curriculo quadrigarum insistere nec minus foedum studium cithara ludicrum in modum canere); , ,  (evulgatus pudor; dedecus; foedasset); , ,  (Ne tamen adhuc publico theatro dehonestaretur); , ,  (sane nullo insigni dehonestamento id spectaculum transiit); vgl. auch , ,  (non tamen Romae incipere ausus). ¹³¹ Champlin f. hat zu Recht darauf hingewiesen, dass noch wichtiger als die Unterscheidung zwischen privatem (bzw. halböffentlichem) und öffentlichem Auftreten die zwischen einem Amateur und einem professionellem Kitharöden ist, der sich auf der Bühne einem regelrechten Wettkampf mit anderen Kitharöden stellt. ¹³² Tac. ann. , , : sed Nero nihil ambitu nec potestate senatus opus esse dictitans, se aequum adversum aemulos et religione iudicum meritam laudem adsecuturum […]. ¹³³ Die Dichter- und Redneragone hat Tacitus vorweg in den Kapiteln über den Schatz der Dido erwähnt (ann. , , ), die beiden Disziplinen cantus und (nochmals) facundia sind in dem Angebot des Senats an Nero , ,  genannt.

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Auftritt Neros reduziert und diesen wiederum auf den Auftritt als professioneller Kitharöde, also auf diejenige unter den Leidenschaften des Kaisers, die er von Anfang an als die schlimmste und verhängnisvollste dargestellt hat. Der Kaiser trägt zunächst ein Gedicht vor und lässt sich dann vom Publikum auf die Bühne rufen. Was er dort singt, interessiert Tacitus auch diesmal nicht. Statt dessen wird dem Leser ein ebenso degoutantes wie anschauliches Bild vom Kaiser auf der Bühne vor Augen gestellt: wie er peinlich genau alle Vorschriften der Zunft befolgt, wie er den Zuschauern auf den Knien seine Ehrerbietung bezeugt und wie er in gespielter Furcht auf den Spruch der Jury wartet.¹³⁴ Die städtische plebs klatscht ihren rhythmischen Beifall dazu und scheint sich unglaublicherweise über den Anblick zu freuen (crederes laetari), freut sich aber vielleicht wirklich, weil ihr das publicum flagitium genauso gleichgültig ist wie dem Kaiser.¹³⁵ Mithin endet der Bericht des Tacitus damit, dass die Seelenverwandtschaft zwischen Pöbel und Kaiser vollendet ist, entsprechend der Situation nach Neros Tod, die er zu Beginn der Historien skizziert hat. Ganz anders die Reaktion der Zuschauer, die aus den ländlichen Gebieten Italiens gekommen sind, in denen der mos antiquus noch lebendig ist. Sie und die Besucher aus den ferner gelegenen Provinzen sind so sprach- und hilflos, dass sie gewaltsam dazu gezwungen werden müssen, sich den Regeln entsprechend zu verhalten und mit dem Applaus für den kaiserlichen Kitharöden nicht nachzulassen. Tagelang werden sie mit systematischem Terror zu ihren Aufgaben als Zuschauer angehalten,¹³⁶ so dass Nero zugleich als Bühnensänger und als Despot in Erscheinung tritt. Davon handelt das fünfte Kapitel, und es endet mit einer Szene, in deren Mittelpunkt Vespasian steht, der sich ebenfalls nicht so beträgt, wie es von den Zuschauern verlangt wird, und der dadurch in Lebensgefahr gerät.¹³⁷ Der Parallelüberlieferung ¹³⁴ Tac. ann. , , f. (ficto pavore). Nach Suet. Nero ,  hatte Nero wirklich Angst vor den Preisrichtern. Champlin ff. vertritt mit guten Gründen die Auffassung, Nero habe alles daran gesetzt, sich als Kitharöde zu vervollkommnen, so dass er sich schließlich für einen wirklich guten Bühnensänger hielt, dabei aber immer unsicher und auf Anerkennung erpicht blieb. Dazu würde Tacitus wahrscheinlich sagen: um so schlimmer. ¹³⁵ Tac. ann. , , : crederes laetari, ac fortasse laetabantur per incuriam publici flagitii. ¹³⁶ Die Frage, ob es zutrifft, dass auf die Zuschauer während der Bühnenauftritte Neros Druck ausgeübt wurde in welcher Weise das geschah, ist in der Forschung umstritten, hier aber ohne Belang. ¹³⁷ Tac. ann. , , : ferebantque Vespasianum, tamquam somno coniveret, a Phoebo liberto increpitum aegreque meliorum precibus obtectum, mox imminentem perniciem maiore fato effugisse […].

Der Kaiser singt zur Kithara

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zufolge war der Vorfall eigentlich nicht allzu spektakulär gewesen und hatte sich auch in einem anderen historischen Kontext, nämlich erst bei Neros Griechenlandtournee, ereignet.¹³⁸ Tacitus hat ihn vorverlegt und zugleich dramatisch so zugespitzt, dass am Ende der zweiten Neronia mit ihrem fast gespenstisch wirkenden Szenario ein unübersehbarer Vorverweis auf den künftigen Kaiser steht,¹³⁹ der dem ihm drohenden Verderben nur knapp durch eine höhere Bestimmung (maiore fato) entgeht, passend zu dem Eingangssatz des . Buches: Inlusit dehinc Neroni Fortuna. Da Tacitus in unmittelbarem Anschluss daran berichtet – und damit kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück –, Nero habe durch einen unglücklichen Zufall seine geliebte Gattin im Affekt getötet, darf man auch die Formulierung fortuita iracundia als Chiffre für das Spiel Fortunas deuten. Damit aber gewinnt unsere eingangs formulierte These, dass mit der relativen Zeitangabe post finem ludicri ein historischer Kontext im Sinne von Geschehen und Folgegeschehen konstituiert und auf die causae rerum verwiesen wird,¹⁴⁰ ein deutlicheres Profil. Von diesem Zeitpunkt an, gleich nachdem ihm im Senat die Vergöttlichung angetragen worden war, lebt Nero ganz seiner Leidenschaft als Bühnensänger und beginnt zugleich, seine Macht so despotisch wie die Herrscher des Orients auszuüben.¹⁴¹ Das erste Signal dafür ist die römischem Herkommen widersprechende Einbalsamierung Poppaeas, der erste Mord wird dadurch angekündigt, dass das dafür ausersehene Opfer an den Beisetzungsfeierlichkeiten für Poppaea nicht teilnehmen darf, und das letzte Beispiel ist in dem uns erhaltenen Teil der Annalen der Prozess gegen Thrasea Paetus, mit dem Nero, wie Tacitus formuliert, die virtus ipsa ausmerzen will. Einer der ¹³⁸ Suet. Vesp. ,  (Vespasian schläft ein) und Dio , ,  (er zeigt seinen Unmut über Neros Bühnenauftritt). Nach Sueton entzieht Nero ihm eine Zeit lang seine Gunst, und Vespasian zieht sich, weil er sein Leben nicht gefährden möchte, aus der Öffentlichkeit zurück. Dio berichtet wie Tacitus, dass Phoebus Vespasian beschimpft habe, aber das führt zu keinerlei Konsequenzen. Vgl. Bartsch ff. und f. ¹³⁹ Die Vermutung von Champlin , dass die abweichende Version des Tacitus auf eine andere als die von Sueton und Dio benutzte Quelle zurückzuführen sei, ist unnötig. ¹⁴⁰ Der innere Zusammenhang ist auch an dem Leitbegriff mos abzulesen, der sowohl bei den Neronia als auch bei der Beisetzung Poppaeas die Antinomie zum Despoten und Bühnensänger auf den Begriff bringt; Neronia: antiqui moris retinente Italia (Tac. ann. , , ); Beisetzung Poppaeas: corpus non igni abolitum, ut Romanus mos, sed regum externorum consuetudine differtum odoribus conditur (Tac. ann. , , ). ¹⁴¹ S. o., S. . Auch Bartsch  (n. ) verweist auf den suggestiven Zusammenhang, aber der historische Bezugspunkt ist für sie das Debakel der Pisonischen Verschwörung und nicht der in den commentaria senatus verzeichnete Antrag auf Vergöttlichung Neros zu Lebzeiten.

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Gründe aber, aus denen Thrasea des Hochverrats beschuldigt wird, ist, dass er es unterlassen habe, für das Heil und für die göttliche Stimme Neros Opfer darzubringen.¹⁴²

¹⁴² Tac. ann. , , : ad postremum Nero virtutem ipsam excindere concupivit interfecto Thrasea Paeto et Barea Sorano; , , : numquam pro salute principis aut caelesti voce immolavisse […].

Der Kaiser singt zur Kithara

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Klaus-Detlef Müller

Einspruch gegen den Klassizismus

Lenz’ Hofmeister und das Problem der Gattungsmischung in der deutschen Literatur des .Jahrhunderts

In einem Brief an Schiller anlässlich der Übersendung des Manuskripts der Abhandlung Über epische und dramatische Dichtung schreibt Goethe am . . : „Es ist mir dabei recht aufgefallen, wie es kommt daß wir Moderne die Genres so sehr zu vermischen geneigt sind, ja daß wir gar nicht einmal imstand sind, sie voneinander zu unterscheiden. Es scheint nur daher zu kommen, weil die Künstler, die eigentlich die Kunstwerke innerhalb ihrer reinen Bedingungen hervorbringen sollten, dem Streben der Zuschauer und Zuhörer, alles völlig wahr zu finden, nachgeben.“¹

Das gilt nicht nur für die hier eingeforderte und begründete Unterscheidung epischer und dramatischer Verfahrensweisen, sondern auch für die Differenzierung der im aristotelischen Verständnis je eigenen Gattungen Tragödie und Komödie. Gattungsmischung ist hier im . Jahrhundert eine gängige Praxis und Gegenstand vielfältiger poetologischer Reflexion. Sie ergibt sich aus der Notwendigkeit, zwei Grundsätze der weiterhin als gültig angenommenen Poetik des Aristoteles zu vereinbaren. Denn es zeigte sich, dass die in der klassizistischen Dramentheorie, insbesondere im französischen Klassizismus, unter Berufung auf Aristoteles festgeschriebenen Gattungsnormen nicht mehr wirklich praktikabel waren, wenn der ihnen vorgeordnete Grundsatz, dass die Bühne handelnde Menschen glaubwürdig nachzuahmen habe, pragmatisch verstanden und also auf die zeitgenössische Lebenswirklichkeit ¹ Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs herausgegeben von Hans Gerhard Gräf und Albert Leitzmann, Frankfurt am Main/Wien/Zürich , S. .

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oder zumindest deren akzeptiertes Wunschbild bezogen werden sollte, also im Grundsatz „völlig wahr“ erscheinen sollte. Das führt zunächst dazu, dass die für die traditionellen Poetiken verbindliche Ständeklausel obsolet wird. Schon Gottsched versteht sie nur noch als eine nützliche Konvention für die Einkleidung der Demonstration eines moralischen Satzes in eine Fabel. Was er als Natur darzustellen vorgibt, ist die im Rahmen des Leibniz-Wolffschen Systems philosophisch gedeutete Welt,² so dass ein Widerspruch zwischen der Intentionalität literarischer Formen und den im Grundsatz der Naturnachahmung formell anerkannten Ansprüchen der Wirklichkeit gar nicht entstehen kann. Gerade durch ihr Personal, das nur „entweder bürgerlich, oder zum höchsten adelich“ sein darf,³ gewinnt aber die Komödie im Zeichen der Ständeklausel ihre Wirklichkeitsnähe und wird zur für die Dramatik des . Jahrhunderts wichtigsten Gattung. Folgerichtig akzeptiert Gottsched deshalb trotz seines Gattungspurismus die Mischform der comédie larmoyante, des rührenden Lustspiels, allerdings mit einem Vorschlag zur Terminologie, der den Sachverhalt zusätzlich verdeutlicht: „Man (muß) sie nur nicht Komödien nennen. Sie könnten viel eher bürgerliche, oder adeliche Trauerspiele heißen; oder gar Tragikomödien, als ein Mittelding zwischen beyden, genennet werden.“⁴ Der Erfolg dieser neuen Gattung ist allerdings sehr kurzlebig. Gellerts nachträgliche Apologie in seiner Schrift Pro comoedia commovente () hat eher den Charakter einer Poetik als einer Kampfschrift. Es ist deshalb aufschlussreich, dass Lessing sie in seiner Theatralischen Bibliothek der Polemik Chassirons gegen das ‚Weinerlich-Komische‘ gegenübergestellt hat. Chassirons Kritik gilt der angeblich widernatürlichen und durch antike Vorbilder nicht beglaubigten Aufhebung der Grenzen, „welche von je her das Tragische von dem Komischen getrennt haben“, und der Wiederkehr der „ungeheuren Gattung des Tragikomischen“.⁵ Gellert versteht die Komödie hingegen als „ein dramatisches Gedicht, welches Abschilderungen von dem gemeinen Privatleben enthalte, die Tugend anpreise und verschiedene Laster und Ungereimtheiten des Menschen auf eine scherzhafte und feine Art durchziehe.“⁶ ² Vgl. hierzu S. Joachim Birke: „Gottscheds Neuorientierung der deutschen Poetik an der Philosophie Wolffs“, in: ZfdtPh  (), S. – und ders.: Christian Wolffs Metaphysik und die zeitgenössische Literatur- und Musiktheorie, Berlin . ³ Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, Leipzig . Photomechan. Nachdruck, Darmstadt ⁵, S. . ⁴ Gottsched (Anm. ), S. . ⁵ Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in  Bänden. Band : Werke –, Frankfurt/Main , S. .

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Aufschlussreich ist Lessings Stellungnahme zu der von ihm arrangierten Kontroverse. Er lehnt das rührende Lustspiel als Darstellung von Tugenden und anständigen Sitten, wie es vor allem Nivelle de La Chaussée vertritt, ab. Es erscheint ihm auf anderer soziologischer Ebene – der der ‚Leute von Stande‘ – ebenso einseitig und unverbindlich wie das reine Possenspiel als Belustigung des ‚Pöbels‘, und er plädiert deshalb für die ‚wahre Komödie‘ als eine Form ‚für das Volk‘, d. h. von allgemeiner und die Stände übergreifender Gültigkeit.⁷ Gehaltlich versteht er sie als eine Verbindung satirischer und rührender Elemente, poetologisch hingegen als Komödie. Aus dem gleichen Bedürfnis nach klarer Gattungsunterscheidung wendet er sich im . und . Stück der Hamburgischen Dramaturgie ausdrücklich gegen die Tragikomödie und das ‚Mischspiel‘. Dabei lässt er das Argument der Naturwahrheit nicht gelten, denn damit ließe sich „jedes dramatische Ungeheuer“ rechtfertigen: „Die Nachahmung der Natur müßte folglich gar kein Grundsatz der Kunst sein; oder wenn sie es doch bliebe, würde durch ihn selbst die Kunst, Kunst zu sein aufhören.“⁸ Aus ästhetischen Gründen tritt Lessing also für eine klare Gattungsunterscheidung ein. Allerdings ist die ‚wahre Komödie‘ zugleich die ‚ernste Komödie‘.⁹ „Die Komödie soll ein Spiegel des menschlichen Lebens sein“¹⁰, sie erhält, wie Walter Hinck festgehalten hat, eine „Verankerung im Geschichtlichen“, so dass „an die Stelle von Gottscheds „Moralprinzip“ das „realistische“ Prinzip“ tritt.¹¹ Der Wirklichkeitsbezug impliziert also Momente der Gattungsmischung trotz des Festhaltens an reinen Formen. Sehr viel provozierender und folgenreicher als im rührenden Lustspiel war die Gattungsmischung im bürgerlichen Trauerspiel. Für die Regelpoetik war auch diese Gattungsbezeichnung eine contradictio in adjecto: eine Trauerspielhandlung mit dem Personal der Komödie – die Aufhebung der Ständeklausel als Programm. Sie wird legitimiert durch die Erwartung, dass die tragische Dichtung ihre sittliche Wirkung um so weiträumiger und nachhaltiger erreichen werde, je mehr sie die handelnden Personen und ihre Lebenswelt dem ⁶ Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann und Franz Muncker, Bd. , Stuttgart , Photomechan. Neudruck, Berlin/New York , S. . ⁷ Gotthold Ephraim Lessing (Anm. ), S. . ⁸ Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in  Bänden, Band : Werke –, Frankfurt/Main , S. . ⁹ Vgl. hierzu Helmut Arntzen: Die ernste Komödie. Das deutsche Lustspiel von Lessing bis Kleist, München , hier besonders S. –. ¹⁰ Hamburgische Dramaturgie, . Stück, in: Gotthold Ephraim Lessing (Anm. ), S. . ¹¹ Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des . und .Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell’ arte und théâtre italien, Stuttgart , S. f.

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Erfahrungsbereich ihres Publikums angleiche. Insoweit wird das neue dramatische Genre, wie Peter Szondi pointiert, mit der selbstbewussten These eingeführt: „Nicht der Bürger braucht die Tragödie, sondern die Tragödie den Bürger.“¹² Das heißt, dass die dramatische Produktion sich über die Grenzen und Zwänge hinwegsetzen muss, die die klassizistische Poetologie festgeschrieben hat, um ihrem Wirkungsanspruch gerecht werden zu können. Allein durch die Verletzung der Ständeklausel gilt das bürgerliche Trauerspiel den Dogmatikern als Mischgattung. Das wertet sie aber im Horizont der Wirkungspoetik auf, indem sie den aristotelischen Grundsatz der Naturnachahmung strenger und wirklichkeitsgerechter auffasst. Terminologisch bleibt die deutsche Gattungsreflexion der traditionellen Poetik weiterhin verpflichtet, insofern die Bezeichnungen ‚rührendes Lustspiel‘, ‚ernste Komödie‘, ‚bürgerliches Trauerspiel‘ und ‚Tragikomödie‘ an der Dichotomie von Tragödie und Komödie festhalten, indem sie die Neuerungen durch attributive Hinzufügungen aus dem Material der jeweils korrespondierenden Gattung kennzeichnen. Diese vorsichtige Rückbindung an die Tradition gibt Diderot in seinen Unterredungen über den ‚Natürlichen Sohn‘ auf, indem er ein dramatisches System vorschlägt, das zwischen der komischen und der tragischen eine eigenständige dritte Gattung annimmt, die er als „genre sérieux“ (‚ernsthafte Gattung‘) bezeichnet und bestimmt.¹³ Sie ermöglicht die dramatische Nachahmung des ‚gemeinen Lebens‘, also realitätsnaher und dem Prinzip der Bühnenillusion verpflichteter Bühnenhandlungen, die komische und tragische Momente beinhalten können, aber von ihnen nicht bestimmt sind. Diderot unterscheidet sie dezidiert von der Tragikomödie, die „notwendig eine schlechte Gattung sein muß, weil man zwei entfernte und durch einen von der Natur selbst festgesetzten Rain getrennte Gattungen darin vermengt.“¹⁴ In seiner zweiten dramentheoretischen Schrift Von der dramatischen Dichtkunst hat er sein System erweitert und dabei die ernsthafte

¹² Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im . Jahrhundert. Der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister, Frankfurt/Main , S. . Szondi begründet diese These aus den poetologischen Überlegungen George Lillos, dessen London Merchant zum bestimmenden Muster des bürgerlichen Trauerspiels wurde. ¹³ Das Theater des Herrn Diderot aus dem Französischen übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing, hg. v. Klaus-Detlef Müller, Stuttgart , hier: S. . ¹⁴ Ebd., S. .

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Gattung in zwei eigenständige Formen aufgeteilt, für die er sich der traditionellen Terminologie wieder annähert, ohne jedoch ihre Eigenständigkeit infragezustellen: ‚comédie sérieuse‘ und ‚tragédie domestique et bourgeoise‘.¹⁵ Lessing hat in der Vorrede zu seiner Diderot-Übersetzung Theorie und Praxis des Franzosen ausdrücklich als die einer „neuen Gattung“¹⁶ bezeichnet und eingeschätzt und hat für die beiden Dramen, auf die sich die theoretischen Überlegungen beziehen und berufen, die Gattungsbezeichnung ‚Schauspiel‘ gewählt. Wichtigstes Kriterium der ‚ernsthaften Gattung‘ ist ihre Lebensnähe und ihr moralisches Wirkungspotential, nicht ihr affektbestimmendes Verfahren. Allerdings ist Lebensnähe nur bedingt Wirklichkeit, weil ihr moralische Zwecke immer übergeordnet sind. Auf dem von Diderot eingeschlagenen Weg geht Louis Sébastien Mercier einen Schritt weiter, indem er fordert: „Es wäre vielleicht noch eine Gattung zu erfinden, in welcher die Kunst weit höher stiege, als sie in unsern Trauer- und Lustspielen […] nicht gegangen ist.“¹⁷ Das neue Genre nennt er ‚Drama‘ und sieht dessen Aufgabe darin, „nützlichere Lehren in dem Gemälde der jetzigen Sitten […] zu geben“, was leichter durchzusetzen wäre, „wenn man sich nicht gleich anfangs auf die Namen Trauer- und Lustspiele eingeschränkt hätte.“¹⁸ Die Gattungslehre wird also als ein Hindernis für die sachgerechte und künstlerische Darstellung zeitgenössischer Wirklichkeit auf der Bühne verstanden. Damit ist ein Punkt erreicht, an dem der aristotelischen Poetik und ihrer klassizistischen Auslegung eine Aporie unterstellt werden kann: In dem Maße, wie der Nachahmungsgrundsatz auf die moderne soziale und politische Welt und ihre mentalen und philosophischen Vorstellungshorizonte bezogen wird, stoßen die Darstellungsformen der Tragödie und der Komödie an ihre Grenzen, selbst wenn sie durch Mischformen modifiziert und erweitert werden. Ein solcher Schluss verkennt zwar den ästhetischen Charakter der Dramatik, bestimmt aber eine wichtige Phase ihrer Produktion, die ihm zugleich folgt und zwangsläufig widerspricht. In der Bestimmung von Mischformen wird der Gattungsdogmatismus der klassizistischen Poetik unterlaufen, indem er diskutierbar wird und dem Horizont eines veränderten Wirklichkeitsverständnisses angepasst werden kann. Was hier noch als Vermittlung und Kompromiss versucht wird, ist im Sturm und Drang zum Widerruf aufgehoben, wenn ¹⁵ Ebd., S. f. ¹⁶ Ebd., S. . ¹⁷ [Mercier-Wagner]: Neuer Versuch über die Schauspielkunst, Faksimiledruck, hg. v. Peter Pfaff, Heidelberg , S. . ¹⁸ Ebd., S. 

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auch in einer Weise, die das Negierte mehr als nur unterschwellig bewahrt. Das lässt sich am dramatischen Werk von Jakob Michael Reinhold Lenz, exemplarisch an seinem Hofmeister, und an dessen theoretischen Schriften Anmerkungen übers Theater und Rezension des Neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt, nachweisen.¹⁹ Als Lenz das Hofmeister-Projekt in einem Brief an Johann Daniel Salzmann vom . Juni  zum ersten Mal erwähnt, spricht er von einem ‚Trauerspiel‘ und relativiert diese Bezeichnung zugleich mit dem Zusatz: „Ich muß den gebräuchlichen Namen nennen.“²⁰ Damit deutet er an, dass er mit dem traditionellen Gattungsbegriff Schwierigkeiten hat, dass aber ein anderer Terminus nicht zur Verfügung steht. Bekanntlich hat er das Drama bei seiner Veröffentlichung  ‚Eine Komödie‘ genannt und damit auch die zuvor im Manuskript erwogene Bezeichnung ‚Lust- und Trauerspiel‘ verworfen. Was diese Unentschiedenheit deutlich macht, ist die Untauglichkeit der poetologischen Begrifflichkeit zur Bezeichnung dramatischer Vorgänge, die sich in verbürgter Weise auf die gesellschaftliche Wirklichkeit beziehen, und zugleich die Notwendigkeit, sie dennoch zu verwenden, weil eine andere und sachgerechte nicht vorhanden ist. Indem Lenz auf sie zurückgreift, hebt er sie zugleich in seiner Verwendung auf, bricht also entschiedener als die unentschlossene Nomenklatur der Gattungsmischung mit der poetologischen Tradition. Weil diese seinen dramatischen Vorstellungen nicht entspricht, er aber gleichwohl auf ihre Begrifflichkeit zurückgreifen muss, um sich artikulieren

¹⁹ Die dramentheoretische Bedeutung dieser Schriften ist wiederholt eingehend und schlüssig begründet worden. Zu verweisen ist insbesondere auf Fritz Martini: „Die Einheit der Konzeption in J. M. R. Lenz’ ‚Anmerkungen übers Theater‘“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft  (), S. –; René Girard: Lenz –. Genèse d’une dramaturgie du tragi-comique, Paris ; Carsten Zelle: „Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Drei Bemerkungen dazu, was bei Lenz gespielt wird“, in: Karin A. Wurst (Hg.): J. M. R. Lenz als Alternative? Positionen zum . Todestag, Köln/Weimar/Wien , S. –; Roger Bauer: „Die Komödientheorie von Jakob Michael Reinhold Lenz, die älteren Plautus-Kommentare und das Problem der ‚dritten‘ Gattung“, in: Stanley A. Corngold, Michael Curschmann und Theodore J. Ziolkowski (Hg.): Aspekte der Goethezeit, Göttingen , S. –. Auch die zahlreichen Interpretationen der Lenzschen ‚Komödien‘ gehen darauf ein. Mir geht es hier nur um ihren Stellenwert in der Gattungsdiskussion. ²⁰ Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. v. Sigrid Damm. Band : Gedichte, Briefe, Frankfurt/Main und Leipzig , S. . Auch in zwei weiteren Briefen an Salzmann von Oktober  spricht Lenz von seinem ‚Trauerspiel‘ (ebd., S. , ).

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und kommunizieren zu können, greift er in den Anmerkungen übers Theater²¹ deren immer noch allgegenwärtige Grundlage, die Poetik des Aristoteles, direkt an. Wo es bisher nur um vermittelnde Aristotelesauslegung ging, wenn modernere Vorstellungen geltend gemacht wurden, wählt er die Konfrontation. Auch die rechnet freilich mit der kanonischen Geltung des Werkes. In ausdrücklicher Übereinstimmung mit Aristoteles bestimmt er das Wesen der Poesie als Nachahmung der Natur (T ). Allerdings legt er diesen Grundsatz im Sinne der Genieästhetik aus: Die Dichter werden als Schöpfer verstanden, deren „Glückseligkeit“ es ist, als „erste Sprosse auf der Leiter der frei handelnden selbständigen Geschöpfe“ dem „unendlich freihandelnden Wesen […] nachzuäffen, seine Schöpfung ins Kleine zu schaffen.“ (T ) Auf dieser Grundlage stellt sich die Frage, was „beim Schauspiel eigentlich der Hauptgegenstand der Nachahmung [ist]: der Mensch oder das Schicksal des Menschen?“ (T ). Aus dieser Alternative ergibt sich ganz traditionalistisch die Unterscheidung von Tragödie und Komödie. Da nach Aristoteles „das Trauerspiel Nachahmung einer Handlung ist“ (T ), ist sie für ihn in Lenz’ Auslegung Darstellung von Begebenheiten und nicht von Personen. Diese Annahme begründet er kulturgeschichtlich im kultischen Ursprung der griechischen Tragödie:²² Sie kenne nur knechtische Furcht vor dem „blinden Despotismus“ des Götterwillens, der den Menschen ein fremdbestimmtes Schicksal bereite (T ). Religionsbegriffe, Denkungsart und Volksgeschmack der Gegenwart verlangen hingegen, dass das Trauerspiel Darstellung des freihandelnden selbstständigen Individuums, des „Kerls“, ist: „Der Held allein ist der Schlüssel zu seinen Begebenheiten.“ (T f.) Nicht die griechische Tragödie und ihre klassizistische Nachfolge sind deshalb das Muster für das moderne Trauerspiel, sondern die „Charakterstücke“ Shakespeares, und dessen dramaturgische Praxis erweist auch die aristotelischen Regeln als obsolet. Zugleich folgt aus dem modernen Verständnis des Trauerspiels eine Umkehrung der Gattungsbestimmungen: „Der Hauptgedanke einer Komödie (ist) e i n e S a c h e, einer Tragödie e i n e P e r s o n.“ (T ).²³ ²¹ Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. v. Sigrid Damm, Band : Lustspiele nach dem Plautus, Prosadichtungen, Theoretische Schriften, Frankfurt/Main und Leipzig . Nach dieser Ausgabe werden die Schriften im Folgenden im Text zitiert, mit der Sigle T für Anmerkungen übers Theater, M für Rezension des Neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt und G für Über Götz von Berlichungen. ²² Vgl. hierzu Roger Bauer (Anm. ), S. – und Carsten Zelle (Anm. ), S. –. ²³ Lessing argumentiert im . Stück der Hamburgischen Dramaturgie noch ganz im Sinne der von Lenz in Frage gestellten aristotelischen Gattungsbestimmung: „In der Komödie

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Person meint hier „selbstständige Existenz“ (G ), deren Signatur Lenz in seiner Schrift Über Götz von Berlichingen festgehalten hat: für sie gilt, dass „handeln, handeln die Seele der Welt sei, nicht genießen, nicht empfindeln, nicht spitzfündeln, daß wir dadurch allein Gott ähnlich werden, der unaufhörlich handelt und unaufhörlich an seinen Werken sich ergötzt. […] daß die in uns handelnde Kraft, unser Geist, unser höchstes Anteil sei, daß die allein unserm Körper […] die wahre Konsistenz den wahren Wert gebe, daß ohne denselben all unser Genuß all unsere Empfindungen, all unser Wissen doch nur Leiden, doch nur ein aufgeschobener Tod sind […], daß diese unsere handelnde Kraft nicht eher ruhe, nicht eher ablasse zu wirken, zu regen, zu toben, als bis sie uns Freiheit um uns her verschafft, Platz zu handeln, guter Gott Platz zu handeln und wenn es ein Chaos wäre das du geschaffen, wüste und leer, aber Freiheit wohnte nur da und wir könnten dir nachahmend drüber brüten, bis was herauskäme – Seligkeit! Seligkeit! Göttergefühl das!“ (G )

So versteht Lenz das Lebensgefühl, das den Helden einer neuen Tragödie bestimmen sollte. Er hat sein göttliches, prometheisches Wesen darin, dass es ihn zum Handeln anleitet. Und hierfür ist Goethes ‚Schauspiel‘ Götz von Berlichingen ein leuchtendes Beispiel. Es könne, recht verstanden, „die stummen Personen auf dem großen Theater der Welt“ (G ) veranlassen, zu aktiven Spielern zu werden. Das Theater ist damit als eine Schule des Weltverhaltens verstanden, in dem zur Aktivität aufgerufen wird. Das ist Lenz’ zugleich ästhetisches und politisches Programm, das aus seiner Anthropologie, seinem Wesensverständnis des Menschen hervorgeht. Und so ist auch die Definition der dramatischen Gattungen in den Anmerkungen übers Theater zu verstehen: die Poetik ist die dialektische Kehrseite einer sozialen Anthropologie. Das wird erst vollends deutlich in der Rezension des Neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt. Noch einmal kommt Lenz hier auf die Unterscheidung von Tragödie und Komödie zurück, wobei er nun den unausgesprochenen Gesichtspunkt der Wertung berührt. Die Tragödie ist die höhere Form, die eigentliche Wesenserfüllung des Dramatischen: Sie ist das als Darstellung des freien, autonom handelnden, seine Begebenheiten selbst schaffenden und darin seine anthropologische Bestimmung erfüllenden Individuums. Aber eine solche Form setzt ein (sind) die Charaktere das Hauptwerk, die Situationen aber nur die Mittel, jene sich äußern zu lassen. […] Umgekehrt ist es in der Tragödie, wo die Charaktere weniger wesentlich sind, und Schrecken und Mitleid vornehmlich aus den Situationen entspringt.“ (Gotthold Ephraim Lessing (Anm. ), S. f.).

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Publikum voraus, das ihr gewachsen ist, und eine substantielle Wirklichkeit, die in ihr nachgeahmt werden kann. Beides sieht Lenz in seiner Realität nicht gegeben, so dass die Wirklichkeit der Zeit die Tragödie zu einer Utopie macht, die erst in der Zukunft eingelöst werden kann. Der zeitgenössische Dramatiker muss sich deshalb mit der bescheideneren Form der Komödie begnügen, die Lenz als volkstümliche und anspruchslose Form des Dramas versteht. Das mag eine willkürliche Setzung sein, aber man muss ihr folgen, um die spezifische Eigenart des Lenzschen dramatischen Realismus zu begreifen und Gattungsbezeichnung und Formwillen seiner Dramatik zu verstehen: „Ich nenne durchaus Komödie nicht eine Vorstellung die bloß Lachen erregt, sondern eine Vorstellung die für jedermann ist. Tragödie ist nur für den ernsthaftern Teil des Publikums, der Helden der Vorzeit in ihrem Licht anzusehn und ihren Wert auszumessen im Stande ist. […] Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden. […] Daher müssen unsere deutschen Komödienschreiber komisch und tragisch zugleich schreiben, weil das Volk, für das sie schreiben, oder doch wenigstens schreiben sollten, ein solcher Mischmasch von Kultur und Rohigkeit, Sittigkeit und Wildheit ist. So erschafft der komische Dichter dem tragischen sein Publikum.“ (M f.)

Damit ist zunächst eine Wiederkehr der Ständeklausel bezeichnet, allerdings auf der Ebene der Rezeption, nicht der Gegenständlichkeit. Und zugleich hält Lenz fest, dass die zeitgenössische Gesellschaft kein Gegenstand für Tragödie im Sinne seines Gattungsverständnisses sein kann, also für die autonom handelnde, freie und selbstbestimmte Person, den großen ‚Kerl‘. Die Wirklichkeit bietet nur fremdbestimmte Subjekte, denen die sozialen Verhältnisse ihr Schicksal bereiten. Damit entspricht die Komödie in Lenz’ Verständnis paradoxerweise seiner Lesart der aristotelischen Tragödie: Nachahmung (‚Gemälde‘) von Begebenheiten, die eine fremde, jetzt aber säkulare Instanz organisiert. Daher ist es folgerichtig, dass er den Hofmeister zunächst als ein Trauerspiel bezeichnet, indem er auf den ‚gebräuchlichen Namen‘ zurückgreift, nach seiner Gattungsreflexion aber den Terminus Komödie wählt, weil sie die einzig mögliche Form ist, die Realität angemessen wiederzugeben und ein zeitgenössisches Publikum zu erreichen, durch das Theater „Einflüsse auf eine Nation“ (M ) auszuüben. Der Wirklichkeitsanspruch höhlt die überlieferten Gattungsbegriffe aus, er führt im Sinne der eingangs zitierten Überlegung Goethes dazu, dass die Genres vermischt werden müssen, um dem Anspruch auf Wahrheit zu genügen.

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Klaus-Detlef Müller

Der Versuch, die Lenzsche Verfahrensweise („komisch und tragisch zugleich zu schreiben“) poetologisch als Tragikomödie zu fassen,²⁴ gilt inzwischen zu Recht als überholt. Lenz ist ein sehr entschiedener Kritiker der überlieferten Gattungsbegriffe, sucht aber für die drei Stücke, die für die vorliegenden Überlegungen einschlägig sind und auf die sich auch seine theoretischen Schriften beziehen, keine alternative Terminologie, sondern verwendet die geläufige mit ausdrücklichen Vorbehalten, die sie faktisch aufhebt und umkehrt. Es handelt sich um gesellschaftsanalytische und gesellschaftskritische Dramen, die in poetischer Nachahmung die zeitgenössische Wirklichkeit zu anschauender Erkenntnis bringen. Sie sind mit diesem Anspruch ein praktischer Einspruch gegen die klassizistische Poetologie. Wenn dabei die wahre Tragödie als Utopie im Blick bleibt, so setzt sie eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit als Zielvorstellung voraus. Auf sie richtet sich der sozialreformerische Impuls, der in den Dramen manifest ist. Das soll in gebotener Kürze am Hofmeister verdeutlicht werden. Hier ist eine Wirklichkeit dargestellt, in der alle Personen lächerlich sind, wenn auch nicht in gleichem Maße. Sie sind es aber nicht im Sinne eines Defizits von Moral oder Vernunft, sondern als Konsequenz gesellschaftlicher Verhältnisse. Es geht also nicht um selbst zu verantwortende und korrigierbare oder verwerfliche Formen eines Fehlverhaltens, sondern um soziale Zwänge. Nicht zufällig ist deshalb auch der Bereich der Erziehung und Bildung satirisch involviert: Er ist nicht Korrektiv, sondern Teil des Problems. Das Lächerliche ist Darstellung eines gesellschaftlichen Mangels, nicht eines individuellen Versagens. Daher verbietet sich für den Künstler, dem es um „Genauigkeit und Wahrheit“ geht, das „Ideal der Schönheit“ – Lenz zieht „den charakteristischen, selbst den Karikaturenmaler“ dem „idealischen“ vor (T ). Karikatur und Groteske sind Mittel einer Deutung der Wirklichkeit, durch die die Darstellung selbst schon zur Interpretation ihrer Gegenstände wird: Nachahmung ist nicht einfach Imitation, sondern ein schöpferisches Verfahren. Von seinen ‚Begebenheiten‘ her hat der Hofmeister durchaus das Potential zu einem Trauerspiel: Die Selbstverstümmelung des Protagonisten und das elende Schicksal eines gefallenen Mädchens weisen in diese Richtung,

²⁴ Vgl. hierzu Karl S. Guthke: Lenzens Hofmeister und Soldaten: Ein neuer Formtypus in der Geschichte des deutschen Dramas, in: Wirkendes Wort  (), S. –; ders: Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, Göttingen ; René Girard (Anm. ).

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zugleich lässt aber die Wirklichkeit das zum Handeln fähige, freie und selbstständige Individuum nicht zu. Läuffer hat keine Möglichkeit, eine soziale Identität auszubilden. Als Hofmeister ist er, wie der Geheime Rat im Gespräch mit seinem Vater richtig festhält, ein „Sklave“, Marionette einer lächerlichen Adelsfamilie, die fortlaufend das ihm zugesagte Einkommen verkürzt. Der Geheime Rat, der ihm wie sein Vater jede mögliche Alternative verweigert, formuliert zugleich das Menschenbild, das er in seiner Existenz verfehlt: „Ohne Freiheit geht das Leben bergab, rückwärts. Freiheit ist das Element des Menschen wie das Wasser des Fisches, und ein Mensch der sich der Freiheit begibt, vergiftet die edelsten Geister seines Bluts, erstickt seine süßesten Freuden des Lebens in der Blüte und ermordet sich selbst. […] Er hat den Vorrechten eines Menschen entsagt, der nach seinen Grundsätzen muß leben können, sonst bleibt er kein Mensch.“ (II/, )²⁵

Das sind Grundsätze der Aufklärung, die der Geheime Rat auch in seiner Ablehnung der Hofmeistererziehung und in seinem Plädoyer für öffentliche Schulen vertritt, denen der Pastor Läuffer aber entgegenhält, dass sie sehr theoretisch und abstrakt sind: „Das ist sehr allgemein gesprochen, Herr Rat.“ (II/, ) Damit ist nicht weniger bezeichnet als das grundsätzliche Scheitern des Aufklärungsdiskurses an den realen Verhältnissen, wie denn der Geheime Rat zwar richtig denkt, aber immer wieder borniert handelt und insoweit von der allgemeinen Lächerlichkeit des Figurenensembles nur graduell unterschieden ist. Es ist nun sehr auffällig und für die Struktur des Dramas höchst bedeutsam, dass die Personen, die keine Individualität und Identität ausbilden können, sich selbst und andere in literarischen Rollen wahrnehmen. Ihr Wirklichkeitsbewusstsein ist von Artefakten (fremd)bestimmt, wodurch die Mimesis auf komplexe Weise eine intertextuelle Signatur erhält.²⁶ Literatur wird zum Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodus und generiert Ersatzidentität, wobei die Rollenmuster nach Bedarf aus einem breiten Repertoire ausgewählt und variiert werden können. Von Gustchen weiß ihr Vater, dass sie „Tag und Nacht ²⁵ Zitate mit Angabe von Akt und Szene sowie Seitenzahl nach folgender Ausgabe: Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. v. Sigrid Damm. Band : Dramen, dramatische Fragmente, Übersetzungen Shakespeares, Leipzig . ²⁶ Vgl. hierzu auch Bernhard Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen, Tübingen , S. – [s. v.] und Günter Saße: Das Drama der Liebesheirat im . Jahrhundert. Darmstadt . Hier das Kapitel: „Zum Verhältnis von Liebe und Literatur in Lenz’ Der Hofmeister oder die Vorteile der Privaterziehung“ (S. –).

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über den Büchern [d. h. Romanen] und über den Trauerspielen“ liegt (I/, ), und folglich spielt sie mit ihrem Vetter Fritz Julia und Romeo (I/). Und als Fritz ihr entzogen wird, weil sein Vater ihn zur Strafe für sein Fehlverhalten zum Studium in das weit entfernte Halle schickt und jeden Umgang für Jahre verbietet, bestimmt sie Läuffer zu ihrem Ersatz-Romeo (II,). Der erkennt die Gefahr dieses Abenteuers in der Reminiszenz an ein bekanntes Muster: „Es könnte mir gehen wie Abälard“ (II/, ), was Gustchen sofort in einen weiteren literarischen Kontext verschiebt, indem sie auf die Nouvelle Héloïse verweist: für sie das Wunschbild einer Liebe von und zu zwei Männern. Auch ihr Selbstmordversuch ist von romanhafter Phantasie bestimmt: Im Traum sieht sie ihren Vater als einen anderen Lear, der „sich die Haare ausriss und Blut in den Augen hatte“ (IV/, ). Längst aber weiß sie schon, dass Selbstmordabsichten enden, „wie im Gellert steht“ (I/, ), also ohne Konsequenz. Läuffers Flucht aus dem von ihm entehrten Hause führt ihn zum Schulmeister Wenzeslaus, der genau das ist, was sein Vater dem Geheimen Rat als Defizit der von diesem gepriesenen öffentlichen Schulen vorhält: ein „nüchternes Subjekt“ mit „pedantischen Methoden“ (II/, ). Lenz’ Neigung zur charakteristischen Kunst bewährt sich hier in einer Gestaltung, die in die Nähe zur Karikatur führt. Zwar verfügt Wenzeslaus über ein bürgerliches Selbstbewusstsein, mit dem er sein Hausrecht unerschrocken gegen Übergriffe des Adels geltend macht (III/), aber er vertritt eine Lebensphilosophie, die sich vergnügt mit den Erniedrigungen durch seinen sozialen Status abfindet: Exemplarisch ist seine Bereitschaft zum Triebverzicht aus der Einsicht, dass er eine Frau nicht ernähren könnte. Er lebt genau das, was für Läuffer zum Problem geworden ist, den Mangel an einer selbstbestimmten Existenz und an Identitätsbildung. Allerdings täuscht Läuffer sich, wenn er Wenzeslaus’ Lebensweise über seine „Sklaverei im betressten Rock“ stellt und emphatisch seine „Freiheit, güldene Freiheit“ (III/, ) preist, damit den Aufklärungsdiskurs des Geheimen Rates aufnimmt und unvermerkt dessen Phrasenhaftigkeit ausstellt. Und Wenzeslaus schickt sich dann an, den Hofmeister als seinen Kollaborator zu seinem Ebenbild zu machen, gleichsam zum Zitat eines nicht mehr literarischen, sondern eines von ihm vorgelebten realen Rollenmusters, was Läuffer zu Recht als eine „Demütigung“ empfindet (III/, ). Als er dann aber nach der Begegnung mit seinem Kind die Konsequenzen der Vorgänge erfährt und sie nach einer anerzogenen Gesellschaftsmoral, der er gar nicht gewachsen sein kann, als schuldhaftes Vergehen deutet, sich daraufhin aus Gewissensqualen selbst kastriert und damit den verfehlten Mordanschlag des Majors in der Selbstverstümmelung halbwegs verwirklicht, greift Wenzeslaus auf ein ganzes

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Bündel zitierter Rollenmuster aus Kirchengeschichte und Bibel zurück, um diese Tat zu überhöhen: Läuffer ist für ihn ein „zweiter Origines“ (V/, ), der sogar zugleich das Askesegebot der Essener überbietet. Und er ist gewissermaßen „zum Wenzeslaus wiedergeboren“, als dessen „geistlicher Sohn“ (V/, f). Und auch hier zeigt sich, dass die Identitätslosigkeit, das Leben in Zitaten, immer neue Muster aufrufen lässt: Was Läuffer als einem neuen Abälard nicht angetan wird, kann er sich als ein neuer Origines selbst antun. Aber auch wenn Wenzeslaus sich durch seinen Schüler überboten glaubt und versucht ist, es ihm nachzutun, scheitert die Schulmeistererziehung. Die sinnlichen Begierden sind durch die Kastration nicht abgetötet: Wie Lots Weib wendet sich der ‚Gerettete‘ nach Sodom um (V/, ) und verfällt den Reizen der umwerfend naiven Lise, die auch Wenzeslaus nicht ohne Anfechtung lassen. Seine in vielen Zitaten begründeten Warnungen bleiben fruchtlos, weil das törichte Kind einwilligt, den Eunuchen zu heiraten. Und selbst dieser Konstellation ist der mit angelesenen Weisheitslehren umfassend gewappnete Schulmeister gewachsen, indem er Paulus zitiert: „So kriecht denn zusammen, meinetwegen, weil doch Heiraten besser ist als Brunst leiden.“ (V/, ).²⁷ Er weist aber den ‚geistlichen Sohn‘, der kein zweiter Wenzeslaus und schon gar nicht ein „Origines der Zweite“, sondern nur ein „Kapaun“ geworden ist (ebd.), aus dem Haus, entzieht ihm damit selbst die kümmerlichste Form einer sozialen Existenz. Die potentiell tragische Begebenheit wird durch die Handlungsführung sukzessiv ins Groteske aufgehoben. Das entspricht dem Lenzschen Wirklichkeitsverständnis. Das Geschehen wird durch die Form der Darstellung interpretiert. Und das gilt für das Stück insgesamt. Wie die Personen auf Literatur zurückgreifen, um sich wenigstens punktuell Identität zuzuschreiben, so benutzt Lenz in umgekehrter Entsprechung ein Repertoire geläufiger Formen, um eine Realität zur Anschauung zu bringen, die sich ihnen in Wahrheit schon entzieht, und durch die Differenz von Form und Gehalt anschauende Erkenntnis zu vermitteln. Das wird durch strukturelle Intertextualität geleistet. Die Erniedrigung Läuffers in der Hofmeisterexistenz wird komödienhaft, weil die Personen, die sie ihm antun, lächerlich sind. Sie stammen, wie Walter Hinck nachgewiesen hat, aus der commedia-dell’arte-Tradition, folgen den „Modellen des Polterers, der komischen Alten und des lächerlichen Marquis“²⁸. Und auch die Studentenszenen mit ihren aus Geldnot begründeten ²⁷ Zitat nach . Korinther , Vers . Wenzeslaus versteht das wie Paulus als das kleinere Übel gegenüber der höher geschätzten Ehelosigkeit.

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Erniedrigungen und dem Versuch, Ehrenhändel im Duell auszutragen, sind Imitationen gängiger Verhaltensformen. Ebenso greift die nach dem Muster der „Komödie von Damon und Pythias“ (III/, ) durchgespielte Bürgschaftsepisode auf das Komödienrepertoire zurück, wobei nicht von ungefähr eine Aufführung von Lessings Minna von Barnhelm handlungsbestimmend ist. Gänzlich unerwartet im Hinblick auf die Konfliktanlage und allen Regelkonventionen provozierend gegenläufig ist aber der Schluss des Dramas: Er ist ein geradezu perfekter Komödienschluss, obwohl Gustchen ein gefallenes Mädchen mit einem unehelichen Kind ist, obwohl die Familienehre des Majors von Berg beleidigt ist und obwohl die gesellschaftliche Externalisierung Läuffers durch die physische Beschädigung auf groteske Weise gesteigert ist. Lenz verwendet den üblichen Komödienschluss der Heirat, indem er ihn zu einer dreifachen Eheschließung mutwillig überbietet. Diese Lösung kommt durch die törichte Naivität eines Landmädchens, durch die realitätsfremde Großmütigkeit Fritz von Bergs und durch eine ganz ungewöhnliche Reihe von Zufällen zustande, gesteigert noch durch einen Lotteriegewinn. Sie führt dazu, dass allseits zerstörte Familienbeziehungen in den höheren Ständen nach dem Muster der Legende vom verlorenen Sohn wiederhergestellt werden.²⁹ Allerdings verändert Lenz auch diese Vorgaben: Es ist weniger die Güte der Väter, die das gute Ende herbeiführt, als die Großmütigkeit der Söhne. Selbst der bis zum Schluss rechthaberische Geheime Rat muss einräumen: „Ich sehe wohl, ihr wilde Bursche denkt besser als eure Väter.“ (V/, ) Der doppelte Schluss verwendet das Material der Burleske und des rührenden Lustspiels in jeweils übertriebener Weise und erweist sich damit als erzwungen. Lenz arbeitet ostentativ mit der Gattungskonvention der Komödie, indem er zugleich deren Unglaubwürdigkeit dadurch verdeutlicht, dass er ihre unwahrscheinlichen Prämissen ins Spiel bringt.³⁰ Die realistische Lösung bleibt in dieser Nachahmung der Wirklichkeit erkennbar. Sie läge im Bereich des Trauerspiels,

²⁸ Walter Hinck (Anm. ), S. . ²⁹ Vgl. hierzu Albrecht Schöne, Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne, Göttingen ², S. –. ³⁰ Vgl. hierzu Walter Hinck: Vom Ausgang der Komödie. Exemplarische Lustspielschlüsse in der europäischen Literatur, Opladen ; Karl Eibl: „‚Realismus‘ als Widerlegung von Literatur. Dargestellt am Beispiel von Lenz’ ‚Hofmeister‘“, in: Poetica  (), S. –. Einen anderen Aspekt behandelt Georg Michael Schulz: „Das ‚Lust- und Trauerspiel‘ oder Die Dramaturgie des doppelten Schlusses. Zu einigen Dramen des .Jahrhunderts“, in: Lessing Yearbook  (), S. –.

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wenn die Personen nicht zu banal wären und wenn sie frei und selbstständig handeln könnten. Damit ist ein Problem der Wirklichkeit bezeichnet, das eine Zuordnung der dramatischen Vorgänge zu den vorgefundenen Gattungsbegriffen unmöglich macht. Die schwankenden Bezeichnungen, die Lenz wählt, zeigen das Inkommensurable einer Darstellungsintention, die zugleich dezidiert publikumsbezogen und realitätsorientiert ist und die doch die Bedingungen des literarischen Mediums und seiner traditionsbedingten Vorgaben akzeptiert. Mit den Gattungsbezeichnungen kündigt er eine Vorgehensweise an, die er unterläuft, weil sie der Gegenständlichkeit nicht gerecht werden kann. Das ist keine poetologische Schwäche, sondern verweist auf eine Schwäche der Poetologie. Lenz schreibt kein Lustspiel und kein Trauerspiel, sondern sucht für einen dichterischen Text eine Bezeichnung, die den Rezipienten vorinfomiert, ohne aber wirklich einzulösen, was sie ankündigt. Wird die Differenz bemerkt und ihre Notwendigkeit verstanden, so ergibt sich eine Metakommunikation, die sowohl auf reale gesellschaftliche Mängel als auch auf die Begrenztheit und Vorläufigkeit des literarischen Systems hinweist. Dabei ist impliziert, dass die Dichtung lebensweltliche Bedeutung hat, insofern sie die Welt- und die Selbstwahrnehmung mitbestimmt, wie das ja die Figuren des Hofmeisters bezeugen. Insoweit hat die Intertextualität hier auch poetologische Bedeutung: Die Inanspruchnahme inadäquater Muster korrespondiert dem Rückgriff auf Gattungsbegriffe, die dem Sachverhalt nicht entsprechen. Die damit verbundene Kritik gilt nicht so sehr der Gattungskonvention, sondern den in der Literatur reproduzierten Weltvorstellungen und Wirklichkeitsformen, also der Gesellschaft. Wie seine literarischen Zeit- und Generationsgenossen beruft auch Lenz sich auf Shakespeare, aber er rechtfertigt damit nicht nur die Befreiung von formalen Zwängen und vom Diktat der Regelmäßigkeit, sondern verschafft so dem Drama seinen Platz im Leben. Er wird damit zum Wegbereiter des sozialen Dramas und der offenen Dramenform. Lenz’ dramatische Praxis und seine theoretischen Überlegungen bezeugen, dass das zum Dogma verfestigte Gattungsverständnis seine Geltung verloren hat. Bestenfalls kann es noch zu einer historisch begründeten Norm relativiert werden, die durch die veränderten mentalen Vorstellungen und gesellschaftlichen Verhältnisse überholt ist. Lenz kann deshalb die aristotelische Bestimmung von Tragödie und Komödie nach dem von ihm als bestimmendes Kriterium angenommenen Gesichtspunkt umkehren und seinem Wirklichkeitsverständnis neu zuordnen. Die Gattungsbegriffe werden dadurch flexibel: Die unglückselige Existenz der Figuren im Hofmeister und in den Sol-

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daten, das philiströse Bewusstsein im Neuen Menoza lassen sich komisch darstellen und erweisen zugleich den Funktionszusammenhang ihrer Welt als ein Trauerspiel. Auf die kompromisslerische Terminologie der Mischgattungen kann Lenz bei seiner Vorgehensweise verzichten. Allerdings produziert und argumentiert er noch in einem Horizont, der zeitgleich überholt wird, indem das Gattungsproblem aus der Poetologie in die Ästhetik und deren philosophische Begründung überführt wird.³¹ Goethe und Schiller verständigen sich in ihrem Briefwechsel auf dieser Grundlage über ihre Ablehnung der Gattungsmischung. Grundlage ist hier aber ein dezidierter Einspruch gegen eine wirklichkeitsnahe dramatische Mimesis. Schiller schreibt am . . : „Der Neuere schlägt sich mühselig und ängstlich mit Zufälligkeiten und Nebendingen herum, und über dem Bestreben, der Wirklichkeit recht nahe zu kommen, beladet er sich mit dem Leeren und Unbedeutenden, und darüber läuft er Gefahr, die tiefliegende Wahrheit zu verlieren, worin eigentlich alles Poetische liegt. Er möchte gern einen wirklichen Fall vollkommen nachahmen und bedenkt nicht, daß eine poetische Nachahmung mit der Wirklichkeit eben darum, weil sie absolut wahr ist, niemals koinzidieren kann.“³²

Reine Gattungen als ästhetische Medien verlangen den „Ausgang aus der Empirie“³³ – für Schiller ist die „Forderung des Naturwirklichen“ genau so vorästhetisch wie die „Foderung des Moralischen und Naturmöglichen oder vielmehr Vernunftmöglichen“³⁴. Jeder direkte Wirklichkeitsbezug gilt ihm als kunstfeindlich: „Der Realism kann keinen Poeten machen.“³⁵ Er weiß, dass seine Natur ihn in „starken Gegensatz […] gegen die Zeit und gegen die Masse des Publikums“³⁶ stellt, und erklärt schließlich: „Das einzige Verhältnis gegen das Publikum, das einen nicht reuen kann, ist der Krieg.“³⁷ Mit dieser Ablehnung einer wirklichkeitsnahen Mimesis und der Geringschätzung des ³¹ Hierzu grundsätzlich: Peter Szondi: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik, in: Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II, Frankfurt/Main , S. –. Vgl. a. Ernst-Richard Schwinge: „Anmerkungen zu Goethes Gattungstheorie“, in: DVjs  (), S. –. ³² Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe (Anm. ), S. . ³³ Ebd., S. : Schiller an Goethe, . . . ³⁴ Ebd., S. : Schiller an Goethe, .  .. ³⁵ Ebd., S. : Schiller an Goethe, . . . ³⁶ Ebd., S. : Schiller an Goethe, . . . ³⁷ Ebd., S. : Schiller an Goethe, . . .

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Publkums bezieht er einen Standpunkt, der dem Lenzschen strikt entgegengesetzt ist. Das erklärt, warum Goethe und Schiller die Gattungsmischung als Konzession an das „Streben der Zuschauer, alles völlig wahr zu finden“, ablehnen und dagegen das Postulat setzen, „die Kunstwerke innerhalb ihrer reinen Bedingungen hervorzubringen.“³⁸ Für das Drama, bei dem die Reform, d. h. die Reinigung der Gattung, beginnen könnte, bedeutet das, dass die „gemeine Naturnachahmung“ durch die „Einführung symbolischer Behelfe“ verdrängt werden sollte, was Schiller in der Oper schon ansatzweise verwirklicht sieht: Hier könnte sich, „obgleich nur unter dem Namen der Indulgenz […], das Ideale auf das Theater stehlen.“³⁹ Reine Formen sind die unabdingbare Voraussetzung für das idealistische Kunstverständnis der klassischen Dioskuren. Sie sind in der Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Möglichkeiten erst herzustellen. Wie flexibel und diskutierbar dabei die Gattungsbegriffe nach dem Geltungsverlust der klassizistischen Poetik geworden sind, lässt sich abschließend am Beispiel der Komödie zeigen. Für Lenz ist Komödie eine ‚Vorstellung für jedermann‘, also für die ‚Masse des Publikums‘, der Schiller den Krieg erklärt. Und sie ist ein ‚Gemälde der menschlichen Gesellschaft‘, also wirklichkeitsbezogen. Sie ist außerdem der geringerwertige Vorläufer der wirklichen Tragödie, die als Utopie erst in der Zukunft zu erhoffen ist. Genau umgekehrt argumentiert Schiller in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung: „In der Tragödie geschieht schon durch den Gegenstand sehr viel, in der Comödie geschieht durch den Gegenstand nichts und alles durch den Dichter. Da nun bey Urtheilen des Geschmacks der Stoff nie in Betrachtung kommt, so muß natürlicherweise der ästhetische Werth dieser beyden Kunstgattungen in umgekehrtem Verhältniß zu ihrer materiellen Wichtigkeit stehen. […] Wenn also die Tragödie von einem wichtigern Punkt ausgeht, so muß man auf der andern Seite gestehen, daß die Comödie einem wichtigern Ziel entgegengeht, und sie würde, wenn sie es erreichte, alle Tragödie überflüssig und unmöglich machen.“⁴⁰

³⁸ Ebd., S. : Goethe an Schiller, . . . ³⁹ Ebd., S. : Schiller an Goethe, . . . Auf den forcierten Klassizismus dieses Opernbegriffs weist Peter Szondi hin: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik (Anm. ), S. f. Er ist überhaupt eine Eigenart der spekulativen Gattungspoetik. ⁴⁰ Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Band , Weimar , S. f.

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Ästhetische Bestimmung der Komödie ist es, die „Freyheit des Gemüths in uns hervorzubringen“⁴¹, und mit dieser Aufgabe ist sie, nicht wie bei Lenz die Tragödie, für Schiller die Utopie der dramatischen Form.⁴² Nur die ‚große Idylle‘ könnte die ‚hohe Comödie‘ noch überbieten. Wenn es sich aber zeigte, „daß sich das Ideal nicht individualisieren ließe – so würde die Comödie das höchste poetische Werk seyn, für welches ich sie immer gehalten habe – biß ich anfieng an die Möglichkeit einer solchen Idylle zu glauben.“⁴³ Der Komödienbegriff meint bei Lenz und bei Schiller also etwas gänzlich Verschiedenes. Er lässt sich nicht auf Gattungstraditionen und -normen verpflichten und beweist damit einen Geltungsverlust, der aber gerade ihren neuen Wert als Reflexionsmedium begründet. Auch wenn beide den Gattungscharakter mit ihm fremden Vorstellungen ‚mischen‘, hat wenigstens in diesem Punkt der Lenzsche Ansatz mehr Zukunft.

⁴¹ Ebd., S. . ⁴² Schon Diderot hatte den Vorzug der Komödie vor der Historie und der Tragödie betont, weil hier „der Dichter alles erfindet“, so dass „der komische Dichter vorzüglicherweise den Namen Dichter verdienet“. (Das Theater des Herrn Diderot (Anm. ), S. ). Allerdings kritisiert Schiller ihn dafür, dass er „bei ästhetischen Werken noch viel zu sehr auf fremde und moralische Zwecke (sieht), diese nicht in dem Gegenstande und seiner Darstellung (sucht)“. Dagegen erlaube die neuere, d. h. die Kantische Philosophie, die subjektive Wirkung des Ästhetischen zu begründen. (Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe (Anm. ), S. : Brief Schillers an Goethe vom . . .) ⁴³ Brief Schillers an Wilhelm von Humboldt, . . , in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Band , S. .

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Tragische Experimente

Zu Friedrich Schillers Braut von Messina

Theorie und dichterische Praxis durchdringen sich in Friedrich Schillers Werk ständig. Schillers besonderes Augenmerk gilt der tragischen Form, mit der er sich in mehreren Abhandlungen und einer Vielzahl von Briefen – häufig in Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie¹ – theoretisch beschäftigte, bevor er in seinem Spätwerk, Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder aus dem Jahre , die theatralische Realisierung wagte. Besondere Bedeutung in der Konzeption der ‚poetischen Tragödie‘, deren Musterbeispiel Schiller mit der Braut vorzulegen den Anspruch erhebt, misst er dem Chor bei, in dem er das geeignete Medium sieht, das Theater zu einer ‚moralischen Anstalt‘ zu machen, das den Zuschauer zur Reflexion anregen solle.² Der Chor verhindert nach Schillers Verständnis, wie er es in der Vorrede zur Braut, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie zum Ausdruck bringt, als ein die Illusion störendes Element einer Aufführung die vollständige Identifikation des Zuschauers mit dem Bühnengeschehen und den Bühnenpersonen, verhindert also das nach der aristotelischen Tragödientheorie (Poetik c. , b–) höchste Ziel einer tragischen Aufführung, Furcht ¹ Vgl. dazu die Darstellung von Ernst-Richard Schwinge: Schiller und die griechische Tragödie, in: Hans Feger (Hrsg.): Friedrich Schiller. Die Idealität des Idealisten, Heidelberg , S. – (= Göttingen  [Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft e. V., Hamburg, Jahrgang , , Heft ]). ² Vgl. Joachim Müller: Choreographische Strategie. Zur Funktion der Chöre in Schillers Tragödie „Die Braut von Messina“, in: Helmut Brand (Hrsg.): Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs, Berlin/Weimar , S. –; Burkhard Bittrich: Zur Konfiguration in Schillers Trauerspiel mit Chören Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder, in: Karl Konrad Polheim: Die dramatische Konfiguration, Paderborn u. a. , S. –; Anton Sergl: Das Problem des Chors im deutschen Klassizismus, in: Jahrb. der Dt. Schillergesellschaft  () –.

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und Mitleid zu erwecken und dadurch eine psychische Reinigung, eine Katharsis,³ im Zuschauer herbeizuführen:⁴ So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er Ruhe in die Handlung – aber die schöne und hohe Ruhe, die der Charakter eines edlen Kunstwerkes sein muss. Denn das Gemüt des Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten, es soll kein Raub der Eindrücke sein, sondern sich immer klar und heiter von den Rührungen scheiden, die es erleidet. Was das gemeine Urteil an dem Chor zu tadeln pflegt, dass er die Täuschung aufhebe, dass er die Gewalt der Affekte breche, das gereicht ihm zu seiner höchsten Empfehlung, denn eben diese blinde Gewalt der Affekte ist es, die der wahre Künstler vermeidet, diese Täuschung ist es, die er zu erregen verschmäht. /…/ Dadurch, dass der Chor die Teile auseinanderhält, und zwischen die Passionen mit seinen beruhigenden Betrachtungen tritt, gibt er uns unsre Freiheit zurück, die im Sturm der Affekte verlorengehen würde.

Der Chor soll demnach dazu eingesetzt werden, um der Reflexion zu ihrem Recht zu verhelfen, um das Vergnügen des Zuschauers an einer Aufführung zwar nicht aufzuheben, es aber doch zu ‚veredeln‘. Die Nähe von Schillers Katalog möglicher Inhalte von Chorliedern zur Ars poetica des Horaz (–)⁵ lässt sich nicht leugnen (Schiller, Über den Gebrauch des Chors):⁶ Nun aber ist der Mensch so gebildet, dass er immer von dem Besonderen ins Allgemeine gehen will, und die Reflexion muss also auch in der Tragödie ihren Platz erhalten. /…/ Und dies leistet nun der Chor in der Tragödie. Der ³ Wie man den wohl berühmtesten Genitiv der griechischen Literatur (τῶν τοιούτων παθημάτων), ob als separativus oder obiectivus, zu verstehen hat, ist in diesem Zusammenhang unerheblich; man vgl. die ausführliche Diskussion bei Arbogast Schmitt: Aristoteles, Poetik, Berlin , S. –, –. ⁴ Zitiert nach Friedrich Schiller, Sämtliche Werke in  Bänden, München , hier Bd. , S. . ⁵ Zwar schließt sich Horaz der aristotelischen Weisung an (Poetik c. , a–), den Chor wie einen Schauspieler zu behandeln und ihn keine bloßen Intermezzi singen zu lassen. Im Gegensatz zu Aristoteles jedoch gibt er eine Reihe von Hinweisen zum Inhalt der Chorlieder: popularphilosophische Themen wie das Lob der Bescheidenheit, der Gerechtigkeit und des Friedens, dazu kommen Aufforderungen (Paränesen), Hymnen und Gebete. Hinter dieser Liste steht unverkennbar das doppelte Wirkungsziel, das Horaz der Dichtung insgesamt zuschreibt: zu nützen oder zu erfreuen oder Angenehmes mit Nützlichem zu verbinden (Ars poetica f. aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae). ⁶ Schiller, Werke (wie Anm. ), Bd. , S. .

Tragische Experimente

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Chor ist selbst kein Individuum, sondern ein allgemeiner Begriff, aber dieser Begriff repräsentiert sich durch eine sinnlich mächtige Masse, welche durch ihre ausfüllende Gegenwart den Sinnen imponiert. Der Chor verlässt den engen Kreis der Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um die großen Resultate des Lebens zu ziehen, und die Lehren der Weisheit auszusprechen. Aber er tut dies mit der vollen Macht der Phantasie, mit einer kühnen lyrischen Freiheit, welche auf den hohen Gipfeln der menschlichen Dinge wie mit Schritten der Götter einhergeht – und er tut es von der ganzen sinnlichen Macht des Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen begleitet. Der Chor reinigt also das tragische Gedicht, indem er die Reflexion von der Handlung absondert, und eben durch diese Absonderung sie selbst mit poetischer Kraft ausrüstet.⁷

Der Chor ist demnach das geeignete Medium, plumpe Naturnachahmung zu umgehen. Da er die Illusion stört, macht er erst eine „poetische Darstellung“ möglich, die „mit der Wirklichkeit eben darum, weil sie absolut ist, niemals koinzidieren kann“ (Brief an Goethe, ..).⁸ Diesem Ideal kommt, wie Schiller an Goethe am .. schreibt, die Oper am nächsten:⁹ Ich hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper, dass aus ihr wie aus den Chören des alten Bacchusfestes das Trauerspiel in einer edlen Gestalt sich loswickeln sollte. In der Oper erlässt man wirklich jene servile Naturnachahmung, /…/ Die Oper stimmt durch die Macht der Musik und durch eine freiere, harmonische Reizung der Sinnlichkeit das Gemüt zu einer schönern Empfängnis; hier ist wirklich auch im Pathos selbst ein freieres Spiel, weil die Musik es begleitet.

⁷ Schiller deutet also die aristotelische Katharsis-Konzeption werkimmanent-poetologisch um; ebenso verfährt er mit der stoischen Affekten-Lehre, die er in der Vorrede zur Braut produktionsästhetisch auslegt. Ganz unaristotelisch ist die Bedeutung, die Schiller der Musik und dem Rhythmus beimisst, also Elementen, die nach Aristoteles wie die Inszenierung nicht zum Handwerk des Dichters gehören (Poetik c. , b–). Schiller sieht also, um Brechts Terminologie zu verwenden, in der Musik eine Quelle des Verfremdungseffekts, der den Zuschauer das Stück als Kunstgebilde erleben lässt und eine Identifikation verhindert; diese Wirkung konnten Musik und Rhythmus auf einen Zuschauer des . Jahrhunderts v. Chr. nicht ausüben, da chorische Aufführungen zu seiner täglichen Lebenserfahrung zählten. ⁸ Zitiert nach Friedrich Schiller, Briefe in  Bänden, Weimar ², hier Bd. , S. . ⁹ Briefe (wie Anm. ), Bd. , S. .

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Schillers Überlegungen zur Rolle des Chores im Handlungsgefüge eines Dramas müssen in engster Beziehung zu seinen theoretischen Schriften zur Tragödie und zur Ästhetik gesehen werden (Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, Über die tragische Kunst, Vom Erhabenen und Über naive und sentimentale Dichtung).¹⁰ Zwar müsse das Vergnügen als Hauptzweck der Kunst im Zentrum jeder Überlegung über die Dichtkunst stehen. Die Anlehnung an Kant und – damit verbunden – die bewusste Ablehnung der Tragödien-Theorie des Aristoteles sind jedoch vor allem darin zu sehen, dass Schiller das Vergnügen des Mitleids als den höchsten Zweck der tragischen Kunst definiert und dies moralisch, nicht ästhetisch fundiert. Durch die auf der Bühne dargestellten Leiden – das folgende ist ein Referat aus Über die tragische Kunst – werde die „sympathetische Lust“ der „Rührung“ erweckt, die unser Gemüt („Sinnlichkeit“) anrege. Doch letztlich sollen sich unsere „moralische Freiheit“ und die „Selbsttätigkeit der Vernunft“ gegen die Rührung durchsetzen. Nur die Tätigkeit der Vernunft ist nach Schiller wie nach Kant Tätigkeit und Handeln im eigentlichen Sinne, da sich das Gemüt nur in seinem sittlichen Handeln vollkommen unabhängig und frei fühlt. /…/ Nur im Zustand seiner vollkommenen Freiheit, nur im Bewusstsein seiner vernünftigen Natur äußert das Gemüt seine höchste Tätigkeit, weil es da allein eine Kraft anwendet, die jedem Widerstand überlegen ist.¹¹

Auch das zweite Wirkungsziel des aristotelischen Tragödienverständnisses, nämlich Furcht zu erregen, fehlt bei Schiller nicht. Er spricht nicht von Furcht, sondern von „Rührung“: Rührung zu erzeugen ist der poetische Zweck der Tragödie, und sie erzeugt Rührung, um dadurch ästhetisches Vergnügen zu vermitteln. Die höchste Rührung wird erzeugt, wenn die Ursache eines Unglücks gerade durch die „Moralität“ der Handelnden bewirkt wird. Die Überlegungen, wie sich das Moralisch-Gute und die tragische Kunst verbinden lassen, führt Schiller in seiner kleinen Schrift Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen in enger Anbindung an Kants Philosophie aus. Schiller geht von dem angeblichen Widerspruch aus zwischen dem Vergnügen, das Kunst bereiten kann, und ihren höheren Zwecken, die Moral – ¹⁰ Schwinge, Schiller (wie Anm. ), S. –. Vgl. außerdem Arbogast Schmitt: Zur Aristoteles-Rezeption in Schillers Theorie des Tragischen, in: Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Antike Dramentheorien und ihre Rezeption, Stuttgart , S. –. ¹¹ Schiller, Werke (wie Anm. ), Bd. , S. f.

Tragische Experimente

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Schiller spricht von „Sittlichkeit“ – der Menschen zu fördern. Es müsste demnach eine Theorie des Vergnügens und eine Philosophie der Kunst geschaffen werden. Letztlich könne die Kunst ihren Zweck, Vergnügen zu bereiten, nur „durch moralische Mittel“ erreichen, so dass „also die Kunst, um das Vergnügen als ihren wahren Zweck vollkommen zu erreichen, durch die Moralität ihren Weg nehmen müsse.“¹² Wenig später definiert Schiller das für seine Konzeption wichtige Wort „frei“ und „freies Vergnügen“:¹³ Frei aber nenne ich dasjenige Vergnügen, wobei die geistigen Kräfte, Vernunft und Einbildungskraft tätig sind und wo die Empfindung durch eine Vorstellung erzeugt wird; im Gegensatz von dem physischen oder sinnlichen Vergnügen, wobei die Seele einer blinden Naturnotwendigkeit unterworfen wird, und die Empfindung unmittelbar auf ihre physische Ursache erfolgt.

Die Dichtungsart, die die moralische Lust in vorzüglicher Weise bereiten kann, ist die Tragödie, und ihr Gebiet umfasst alle möglichen Fälle, in denen irgendeine Naturzweckmäßigkeit einer moralischen, oder auch eine moralische Zweckmäßigkeit der anderen, die höher ist, aufgeopfert wird. Es wäre vielleicht nicht unmöglich, nach dem Verhältnis, in welchem die moralische Zweckmäßigkeit im Widerspruch mit der anderen erkannt wird, eine Stufenleiter des Vergnügens von der untersten bis zur höchsten hinaufzuführen.¹⁴

Schiller ist sich durchaus bewusst – und damit komme ich zur Einleitung der Braut von Messina zurück –, dass er dem Chor einen zwiespältigen Charakter zuweist: einerseits ist er in die Handlung eingebunden, andererseits soll er über ihr stehen (Brief an Christian Gottfried Körner vom ..):¹⁵ Wegen des Chores bemerke ich noch, dass ich in ihm einen doppelten Charakter darzustellen hatte, einen allgemein menschlichen nämlich, wenn er sich im Zustand ruhiger Reflexion befindet, und einen spezifischen, wenn er in Leidenschaft gerät und zur handelnden Person wird. In der ersten Qualität ist er gleichsam außer dem Stück und bezieht sich also mehr auf den Zuschauer. Er hat als solcher eine Überlegenheit über die handelnden Personen, aber ¹² ¹³ ¹⁴ ¹⁵

Schiller, Werke (wie Anm. ), Bd. , S. . Schiller, Werke (wie Anm. ), Bd. , S. . Schiller, Werke (wie Anm. ), Bd. , S. . Schiller, Briefe (wie Anm. ), Bd. , S. . Zum Bild des Zuschauers am sicheren Ufer, während das Schiff mit den Wellen kämpft, vgl. Lukrez , f.; Augustinus, De beata vita , .

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Bernhard Zimmermann

bloß diejenige, die der Ruhige über den Passionierten hat, er steht am sicheren Ufer, wenn das Schiff mit den Wellen kämpft. In der zweiten Qualität, als selbsthandelnde Person, soll er die ganze Blindheit, Beschränktheit, dumpfe Leidenschaftlichkeit der Masse darstellen, und so hilft er die Hauptfiguren herausheben. /…/ Ich habe den Chor zwar in zwei Teile getrennt und im Streit mit sich selbst dargestellt; aber dies ist nur dann der Fall, wo er als wirkliche Person und als blinde Menge mithandelt. Als Chor und als ideale Person ist er immer eins mit sich selbst. Ich habe den Ort verändert und den Chor mehrmals abgehen lassen; aber auch Aeschylus, der Schöpfer der Tragödie, und Sophokles, der größte Meister in dieser Kunst, haben sich dieser Freiheit bedient.

Schillers Unterscheidung zwischen einem mithandelnden und einem reflektierenden Chor ist ein Nachhall der aristotelischen Definition der Chorfunktionen im . Kapitel der Poetik, sie spiegelt aber auch die Praxis wider, wie sie vor allem in den sieben erhaltenen sophokleischen Tragödien nachweisbar ist: der Chor beteiligt sich, vertreten durch den Chorführer, an den Dialogen, ohne allerdings in die Handlung einzugreifen, während er als Kollektiv in der chorlyrischen Tradition der pindarischen Gesänge vom Aktuellen, Speziellen zum Allgemeinen übergeht. Seine Theorie des Tragischen und der Funktion des Chores versucht Schiller in der Braut von Messina in die Praxis umzusetzen.¹⁶ Nicht nur dadurch, dass er einen Chor bzw. zwei Halbchöre in sein Stück integriert, sondern auch inhaltlich sucht er die Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie. In einem Brief an Christian Gottfried Körner vom ..¹⁷ – aus der Zeit der ersten Konzeption des Stücks – schreibt er, dass er sich nach langem Zögern zu diesem Stoff durchgerungen habe, da er sich in einer neuen Form betätigen wollte, „die ein Schritt näher zur antiken Tragödie wäre, welches hier wirklich der Fall ist, denn das Stück lässt sich wirklich zu einer äschyleischen Tragödie an.“ Schillers Bemühen um die antike Tragödie wird ganz deutlich in einem Brief an Wilhelm von Humboldt (..):¹⁸ ¹⁶ Vgl. Schwinge, Schiller (wie Anm. ), S. –. Äußerst kritisch geht mit Schillers theatralischem Experiment Joachim Latacz ins Gericht (Schiller und die griechische Tragödie, in: Hellmut Flashar [Hrsg.]: Tragödie. Idee und Transformation, Stuttgart / Leipzig , S. –); vgl. auch Peter-André Alt: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers, München , S. –. ¹⁷ Schiller, Briefe (wie Anm. ), Bd. , S. . ¹⁸ Schiller, Briefe (wie Anm. ), Bd. , S. .

Tragische Experimente

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Mein erster Versuch einer Tragödie in strenger Form wird Ihnen Vergnügen machen, Sie werden daraus urteilen, ob ich als Zeitgenosse des Sophokles auch einmal einen Preis davongetragen haben möchte.

In die gleiche Richtung geht sein Brief an A. W. Iffland vom ..:¹⁹ Bei der Braut von Messina habe ich, ich will es Ihnen aufrichtig gestehen, einen kleinen Wettstreit mit den alten Tragikern versucht, wobei ich mehr an mich selbst als an ein Publikum außer mir dachte, wiewohl ich innerlich überzeugt bin, dass bloß ein Dutzend lyrischer Stücke nötig sein würden, um auch diese Gattung, die uns jetzt fremd ist, bei den Deutschen in Aufnahme zu bringen, und ich würde dieses allerdings für einen großen Schritt zum Vollkommenen halten.

Dass er zum ersten Mal in seinem Leben erfasst habe, was eine wahre Tragödie sei, sei einzig und allein dem Chor zu verdanken, so Schiller in einem neun Tage nach der Premiere der Braut von Messina verfassten Brief an Chr. G. Körner vom . . .²⁰ Wie in seinem Jugendwerk, den Räubern, stellt Schiller auch in Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder, so der vollständige Titel, ein ungleiches Brüderpaar in den Mittelpunkt. Es sind dies Don Manuel und Don Cesar, die nach dem Tod ihres Vaters im Kampf um die Herrschaft über Messina das Land zu zerstören drohen. Ohne Zweifel ist Schiller durch seine Beschäftigung mit den Phönizierinnen des Euripides im Jahre  auf den Stoff gestoßen.²¹ Dass Euripides neben dem sophokleischen König Ödipus für die Braut von Messina Pate gestanden hat, wird schon durch die bloße Skizze der Handlung deutlich: Isabella, die Mutter der verfeindeten Brüder, gelingt es, Don Manuel und Don Cesar zu versöhnen. Sie will ihnen nach dem Tod des Vaters ihre Schwester zuführen. Diese namens Beatrice hätte nach ihrer Geburt auf Befehl des Fürsten getötet werden sollen (Ödipus-Motiv). Ein Magier hatte dem Vater geweissagt, die Tochter werde ihm beide Söhne umbringen und ¹⁹ Schiller, Briefe (wie Anm. ), Bd. , S. f. ²⁰ Schiller, Briefe (wie Anm. ), Bd. , S. f. ²¹ Der Doppeltitel „Die feindlichen Brüder“ verweist auf den Bruderzwist in Theben, wie er in Aischylos’ Sieben gegen Theben und Euripides Phönizierinnen bearbeitet wurde. In zwei Briefen, an Karoline von Beulwitz vom .. (Briefe [wie Anm. ], Bd. , S. ), und an Charlotte von Lengefeld und Karoline von Beulwitz vom .., spricht er mit Begeisterung von Euripides’ Stück – er bezeichnet das Stück als „eins der schönsten /…/, die je aus einem Dichterkopfe gegangen sind“ (Briefe [wie Anm. ], Bd. , S. ).

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Bernhard Zimmermann

sein Geschlecht ausrotten. Doch wie der thebanische Hirte den kleinen Oidipus nicht im Kithairongebirge aussetzte, rettete auch Isabella das Leben der Tochter: sie ließ sie in einem Kloster unterbringen. An dem Tag der Versöhnung der Brüder soll sie wieder heimkehren – dieses „heute“, der Tag der Krise, an dem alles, was zuvor geschah, ans Licht kommen wird, durchzieht motivisch das Drama und ist ein deutlicher Hinweis, dass es Schiller darum ging, seine am sophokleischen Ödipus gewonnene Idee des analytischen Dramas in die Tat umzusetzen (Brief an Goethe vom ..).²² Es stellt sich heraus, dass Beatrice eben die Frau ist, die Don Manuel seiner Mutter als Schwiegertochter vorstellen wollte, und dass Don Cesar sich beim Begräbnis seines Vaters, an dem Beatrice unerkannt teilnahm, in niemand anderen als Beatrice verliebt hatte. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf: Don Cesar trifft seinen Bruder in den Armen Beatrices an und ersticht ihn. Isabella verhöhnt wie Iokaste in Sophokles’ König Ödipus (ff.) angesichts des toten Sohnes, in der Meinung, er sei durch Räuber umgekommen (Laios – Ödipus-Motiv), die Orakel, die doch vorausgesagt hätten, die Tochter werde ihre Söhne in heißer Liebe vereinen (f.). Die ‚Wiedererkennungen‘ – in der Häufung dieses Handlungselements sucht Schiller den direkten Agon mit Euripides – rollen unaufhaltsam ab: Nachdem Beatrice als erste das inzestuöse Verhältnis und den Brudermord erkannt hat (–), ist es an Don Cesar, seine verhängnisvolle Tat zu erkennen (ff.). Er nimmt sein Schicksal an (f.):

²² „Ich habe mich dieser Tage viel damit beschäftigt, einen Stoff zur Tragödie aufzufinden, der von der Art des Oedipus Rex wäre und dem Dichter die nämlichen Vortheile verschaffte. Diese Vortheile sind unermeßlich, wenn ich auch nur des einzigen erwähne, daß man die zusammengesetzteste Handlung, welche der Tragischen Form ganz widerstrebt, dabey zum Grunde legen kann, indem diese Handlung ja schon geschehen ist, und mithin ganz jenseits der Tragödie fällt. /…/ Der Oedipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt.“ (Nationalausgabe Bd. , S. )

Tragische Experimente

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Den alten Fluch des Hauses lös ich sterbend auf, Der freie Tod nur bricht die Kette des Geschicks.²³

Sein Entschluss, trotz der Bitten des Chors und der Mutter seine Tat durch den Selbstmord zu sühnen, ist seine erste freie Handlung im Verlauf des Stücks! Tragische Hauptperson im Sinne von Schillers Tragödienverständnis ist allerdings Donna Isabella. Sie fühlt sich unter dem Druck der Notwendigkeit stehend (Eröffnungsvers: „Der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb“), zwischen Staat und Familie gestellt (–).²⁴ Nur sie allein kann tragisch scheitern (–): Was kümmert’s mich noch, ob die Götter sich Als Lügner zeigen, oder sich als wahr Bestätigen? Mir haben sie das Ärgste Getan – Trotz biet ich ihnen, mich noch härter Zu treffen als sie trafen – Wer für nichts mehr Zu zittern hat, der fürchtet sich nicht mehr. /…/ – Komm meine Tochter! Hier ist unsers Bleibens Nicht mehr – den Rachegeistern überlass ich Dies Haus – Ein Frevel führte mich herein, Ein Frevel treibt mich aus – Mit Widerwillen Hab ich’s betreten, und mit Furcht bewohnt, Und in Verzweiflung räum ich’s – Alles dies Erleid ich schuldlos, doch bei Ehren bleiben Die Orakel und gerettet sind die Götter.

Noch deutlicher wird Isabellas tragisches Los am Ende (–): O hab ich euch nur darum nach Messina Gerufen, um euch beide zu begraben! Und ein verderblich Schicksal kehret all Mein Hoffen in sein Gegenteil mir um! ²³ Das Motiv des Freitods ist stoisch. Zu Schillers Kenntnis von und Auseinandersetzung mit stoischen Positionen vgl. Barbara Neymeyr: „Seelenstärke“ und „Gemütsfreiheit“. Stoisches Ethos in Schillers ästhetischen Schriften und in seinem Drama Maria Stuart, in: Barbara Neymeyr / Jochen Schmidt / Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Stoizimus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, Berlin / New York , S. –. ²⁴ „Des Staates Bande sahet ihr zerreißen, / Doch mir zerriss im Innersten das Herz – / Ihr fühltet nur das öffentliche Leiden, / Und fragtet wenig nach der Mutter Schmerz.“



Bernhard Zimmermann

Ganz im Sinne der dialektischen Tragik-Konzeption scheitert Isabella.²⁵ Wenn man diese Verse liest, wird deutlich, dass Schiller in seinen Briefen mit Recht seine Tragödie in die Tradition des Aischylos stellt: Isabella ist es, die durch ihr Leid zur Erkenntnis in die Gültigkeit der Orakel und der göttlichen Ordnung findet. So kommt auch eine besondere Bedeutung der Tatsache zu, dass Isabella – anders als Iokaste im sophokleischen König Ödipus – sich nicht umbringt, sondern nach ihrem tragischen Scheitern ihr Schicksal akzeptiert und mit ihrer Tochter weiterzuleben beschließt. Das Medium, die strenge antike, antikisierende Form herzustellen, die seiner Konzeption des Tragischen am ehesten entspricht, ist der Chor der Braut von Messina. Dieses Antikisieren lässt sich auf mehreren Ebenen nachweisen: . Strukturell: Die Handlung der Braut wird, der klassischen griechischen Tragödie des . Jahrhunderts v. Chr. entsprechend, durch Chorlieder untergliedert, durch – um die aristotelischen Begriffe zu verwenden – die Parodos (–), durch Stasima (–, –, –, –, –, –) und eine kurze Exodos im euripdeischen Stil (–). Daneben gibt es wie in der griechischen Tragödie die Handlung auflockernde und Schauspieler und Chor in Kontakt bringende Wechselgesänge (Amoibaia) in I  (–), II  (–) und in IV  (–) als richtigen Klagegesang (Kommos; mehrfaches „Wehe“ in V. , , , ,  und Refrain in chiastischer Stellung in  und ) oder als Totenklage in IV  (–). In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Schiller wie Euripides das lyrische Element den Schauspielern nicht vorenthält, sondern Beatrices großen Monolog in II  (–) durch lyrische Versmaße teilweise zur Monodie umgestaltet. . Formal: Die Chorpartien sind – der Vorrede entsprechend²⁶ – dazu eingesetzt, die „Sprache des Gedichts zu erheben und dadurch die sinnliche Gewalt des Ausdrucks überhaupt zu verstärken“. Dies gelingt Schiller durch eine an antiken Versformen orientierte Metrik. Man könnte sie daktylische Variationen nennen, oder wenn man die metrischen Formen der griechischen Tragödie im Ohr hat, äolischchoriambische Verse, mit denen übrigens auch Seneca experimentierte. Es sei angemerkt, dass Schiller wie auch Goethe sich mit Johann Gottfried Hermanns (–) einflussreicher metrischer Abhandlung De metris ²⁵ Vgl. Peter Szondi: Versuch über das Tragische, Schriften, Bd. , Frankfurt/M. , S. . ²⁶ Schiller, Werke (wie Anm. ), Bd. , S. .

Tragische Experimente



poetarum Graecorum et Latinorum () beschäftigte (Brief an Goethe, .., in dem er Hermanns Abhandlung anfordert und Auskunft über die beste Anfängergrammatik des Griechischen erbittet).²⁷ . Sprachlich: Die Lyrisierung wird durch eine Vielzahl rhetorischer Klangfiguren hergestellt, z. B. die Alliterationen in I  (): „Mir ein ewiges Schwanken und Schwingen und Schweben“ oder das anaphorische, alliterierende Polyptoton in I  (–): „Dieser Ehe segenloser Bund, / Diese lichtscheu krummen Liebespfade, / Dieses Klosterraubs verwegne Tat“. Im Gegensatz zur griechischen Chorlyrik, die den Reim nicht kannte, unterstreicht natürlich der Endreim in Schillers Drama den lyrischen Charakter. . Die Aufteilung des Chores in zwei Halbchöre und Auflösung in Einzelstimmen, die Schiller in der Braut von Messina vornimmt, wurde in der zeitgenössischen Philologie diskutiert. So nimmt wiederum Gottfried Hermann in Euripides’ Taurischer Iphigenie in den Versen –, einem kurzen Kommos, die Aufteilung in zwei Halbchöre vor.²⁸ Abgang und Wiedereinzug des Chores während des Stücks sind in der griechischen Tragödie selten und werden nur dazu eingesetzt, um Ortswechsel anzuzeigen wie z. B. in Aischylos’ Eumeniden oder in Sophokles’ Aias. Ein Problem für einen Zuschauer oder Autor, der logisch-analytisch die Handlung eines Stücks seziert, stellt allerdings dar, dass der Chor Dinge mitbekommt und weiß, die er den handelnden Personen nicht sagen darf – und wenn er dies doch tut wie in Aischylos’ Choephoren oder Euripides’ Ion, stellt es eine Durchbrechung des Erwartungshorizontes dar. Diese störende Präsenz des Chores das ganze Stück hindurch vermeidet Schiller, indem er die beiden Halbchöre auf- und abtreten oder ihre Anwesenheit motivieren lässt. Ja, er nimmt sogar an, dass Euripides in der Taurischen Iphigenie den Chor nach dem Klagegesang – habe abtreten lassen, was tatsächlich nicht der Fall ist.²⁹ . Der Inhalt der Chorlieder entspricht ganz und gar den Vorschriften des Horaz und der senecanischen Praxis. Man findet das Lob des einfachen, bescheidenen Lebens (–, –), die verschiedenen Lebenswege (–), das vanitas-Motiv (–), stoische Reflexionen (–, –), popularphilosophisch-religiöse Gedanken ²⁷ Schiller, Briefe (wie Anm. ), Bd. , . ²⁸ Vgl. Maurice Platnauer: Euripides, Iphigenia in Tauris, Oxford , S. . ²⁹ In der Besprechung von Goethes Iphigenie, Werke (wie Anm. ), Bd. , S. ; vgl. dazu Schwinge, Schiller (wie Anm. ), S. –.

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Bernhard Zimmermann

(– Ate und Hybris, Gesetz, – Rolle des Schicksals), um nur einiges zu nennen. Es wäre nun eine lohnende philologische Kleinarbeit, all die griechischrömischen Subtexte herauszuarbeiten, auf die Schiller in der Braut von Messina anspielt. In den Chorliedern sind es berühmte Stasima der griechischen Tragödie: das „Ungeheure“ in V.  evoziert zweifelsohne das berühmte . Stasimon der Antigone, die Furien-Vision in den Versen – eindeutig die Bakchen des Euripides (ff.). Der Chor ist gleichsam als Resonanzboden der dramatischen Handlung eingesetzt, der tatsächlich das tragische Geschehen durch seine Reflexionen beruhigt. Und dies legt Schiller Isabella in den Mund (–), wenn sie die Choreuten anfährt: O ihr seid undurchdringlich harte Herzen, Vom ehernen Harnisch eurer Brust, gleichwie Von einem schroffen Meeresfelsen schlägt Die Freude meines Herzens mir zurück! Umsonst in diesem ganzen Kreis umher Späh ich nach einem Auge, das empfindet.

Die Braut von Messina ist ein theatralisches Experiment, das den Agon mit den griechischen Klassikern sucht und sie durch Akkumulation und Synkretismus zu übertreffen sucht, das – ähnlich wie dies Euripides tut – den Kunstcharakter des Stücks betont und dadurch jeden Realismus vermeidet, die Braut von Messina ist ein Stück, das durchwirkt ist von der zeitgenössischen philologischen Diskussion der Wende des . zum . Jahrhundert, zur Metrik, zur Inszenierung, zum Chor usf. und das beinahe in jeder Szene Schillers Tragödien-Theorie und Ästhetik offenbart. Die Braut von Messina ist, um Werner Frick zu zitieren,³⁰ die „Inszenierung einer eigenwertig-autonomen Kunst-Welt von der grandiosen Selbstbezüglichkeit des radikalen ästhetischphilosophischen Experiments“.

³⁰ Werner Frick: „La Querelle des anciens et des anciens“: Tragödienexperimente in der Ära der Weimarer Klassik, in: Werner Frick (Hrsg.): Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur, Göttingen , S. –, hier S. .

Friedhelm Krummacher

Antigone „mit seinem Ohr“

Mendelssohns Musik in Droysens Sicht

„So auch las der Componist das Drama des Sophokles, mit seinem Ohr erlauschte er die Klänge jener Rhythmen, das Tönen und Hallen jener großen Geschehnisse; und sein Hören war sofort ein neues lebendiges Verstehen…“¹ Mendelssohns Musik hatte der damals in Kiel lehrende Johann Gustav Droysen noch im Ohr, als er im April  nach einer Berliner Aufführung seine Rezension veröffentlichte. Der  geborene Historiker war mit dem nur ein Jahr jüngeren Komponisten befreundet, seit er ihn durch vertiefende Unterweisung in den alten Sprachen auf das Studium an der Friedrich-WilhelmsUniversität vorbereitete, an der dann beide Hegels Vorlesungen zur Ästhetik hörten.² Wichtigstes Zeugnis ihrer Freundschaft ist ein Briefwechsel, der die langen Pausen zwischen seltenen Begegnungen überbrückte und den Austausch über Musik zu antiken Sujets belegt.³ Nahezu verstummt war für fast hundert Jahre die Musik, die Droysen einst so sehr beeindruckt hatte. Dass sie nach  erneut Interesse fand, ist nicht zuletzt den grundlegenden Arbeiten des Altphilologen Helmut Flashar zu verdanken.⁴ Bevor die Gründe der gespaltenen Rezeption erörtert werden, ist ¹ Johann Gustav Droysen, Die Aufführung der Antigone des Sophokles in Berlin, in: ders., Kleine Schriften zur Alten Geschichte, Bd. , hg. von Emil Hübner, Leipzig , S. –, hier S. ; zuerst in: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen (Spenersche Zeitung) , Nr.  vom . April. ² Carl Wehmer (Hg.), Ein tief gegründet Herz. Der Briefwechsel Felix Mendelssohn Bartholdys mit Johann Gustav Droysen, Heidelberg , Einleitung S. ff. Dass Droysen Lehrer Mendelssohns war, bezweifelte Christiane Hackel, „Freundschaft mit Felix Mendelssohn Bartholdy“, in: dies. (Hg.), Johann Gustav Droysen –. Philologe – Historiker – Politiker, Berlin , S. , Anm. . ³ Wehmer, a. a. O., S. –; Mendelssohn wurde zuvor von Karl Wilhelm Ludwig Heyse unterrichtet, seine metrische Übersetzung einer Komödie von Terenz wurde  durch Heyse ediert, vgl. ebd., S. .



Friedhelm Krummacher

zunächst die Entstehungsgeschichte des Werks zu resümieren. Was aber Droysens Stellungnahme besagt, kann erst deutlich werden, wenn auch die Komposition in den Blick genommen wird. I Am . Oktober  wurde die Antigone des Sophokles im Neuen Palais zu Potsdam erstmals in der Neuzeit aufgeführt. Dazu hatte Mendelssohn seine Musik komponiert, die schon bald im Klavierauszug gedruckt wurde.⁵ Zu dem Ereignis kam es auf Wunsch von König Friedrich Wilhelm IV., der sich seit seiner Thronbesteigung  um die Förderung der Künste und Wissenschaften bemühte. Nachdem er Peter von Cornelius und Christian Daniel Rauch an die Berliner Akademie berufen hatte, suchte er Mendelssohn für den Bereich der Musik zu gewinnen. Der Komponist sah sich aber seinen Aufgaben in Leipzig verpflichtet und entschloss sich nur zögernd, im Herbst  für zunächst ein Jahr nach Berlin zu gehen.⁶ Die geplante Aufführung der Antigone, deren Leitung Ludwig Tieck übertragen wurde, verzögerte sich jedoch und wurde erst auf Mendessohns Drängen hin in Angriff genommen.⁷ Dem befreundeten Leipziger Konzertmeister Ferdinand David berichtete er am . Oktober : „sie wollten es aufs nächste Spätjahr verschieben und dgl.; und wie mich das Herrliche des Stücks so packte, da kriegte ich den alten Tieck so an, und sagte: jetzt oder niemals. Und der war liebenswürdig, und sagte jetzt, und da componirte ich aus Herzenslust drauf los, und wir haben täglich  Proben davon und die Chöre knallen, dass es eine wahre Wonne ist.“⁸ Nachdem ⁴ Hellmut Flashar, Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit –, München , S. –; zu Mendelssohns Terenz-Übersetzung vgl. ebd., S. , Anm. . ⁵ Susanne Boetius, Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie auf der Bühne des . Jahrhunderts. Bühnenfassungen mit Schauspielmusik, Tübingen  (Theatron, ), S. –, zuvor schon Peter Andraschke, „Felix Mendelssohns Antigone“, in: Felix Mendelssohn Bartholdy. Kongreß-Bericht Berlin , hg. von Christian Martin Schmidt, Wiesbaden und Leipzig , S. –. ⁶ Boetius, a. a O., S. f. Nach Berlin zog Mendelssohn die Nähe zu Mutter und Geschwistern, vgl. die Briefe an Karl Klingemann vom . März und . September  bei Karl Klingemann (Hg.), Felix Mendelsohn-Bartholdys Briefwechsel mit Legationsrat Karl Klingemann in London, Essen , S. ff. und f., sowie an Erich Heinrich Verkenius vom . Juli und . August  bei Ernst Wolf (Hg.), Meister-Briefe. Felix Mendelssohn Bartholdy, Berlin , S. –. ⁷ Vgl. den Brief an Droysen vom . Dezember  bei C. Wehmer (wie Anm. ), S. –, hier S. f.

Antigone „mit seinem Ohr“



er sich früher an einer eigenen Übersetzung versucht hatte,⁹ lag ihm nun die  erschienene metrische Version des Stuttgarter Philologen Johann Jakob Christian Donner vor, die für die Aufführung gewählt worden war.¹⁰ An Droysen schrieb er: „Mit den ziemlich holprigen Worten hat man freilich seine Not, aber die Stimmungen und die Versrhythmen sind überall so echt musikalisch, dass man an die einzelnen Worte nicht zu denken und nur jene Stimmungen und Rhythmen zu komponieren braucht, dann ist der Chor fertig. Man kann sich ja noch heut keine reichere Aufgabe wünschen, wie die der mannigfaltigen Chorstimmungen: Sieg und Tagesanbruch, ruhige Betrachtung, Melancholie, Liebe, Totenklage, Bacchuslied, und ernsthafte Warnung zum Schluß – was will unsereins da mehr!“¹¹ Die Rede von „Stimmungen“ kann heute verfänglich klingen, meint hier aber eher die Gestimmtheit und Charakteristik eines Werkes oder Satzes, womit die Chöre dennoch nicht einfach gleichzusetzen sind. Problematisch blieben vor allem die „Versrhythmen“, die von der metrischen Übertragung vorgegeben waren. Weil die „holprigen Worte“ in Donners Text Schwierigkeiten machten, wurde August Böckh zu Rate gezogen, der damals im Hause der Mendelssohns wohnte.¹² Bei der Potsdamer Aufführung entfiel im zweiten Stasimon (Satz No. ) noch das zweite Verspaar, für das nachträglich Böckhs Übertragung gewählt wurde.¹³ Aus Mendelssohns autographem Particell geht hervor, dass die Vertonung der entsprechenden Worte Donners zunächst noch in d-Moll, aber ohne Tempowechsel an das erste Verspaar anschließen sollte. ⁸ Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe aus Leipziger Archiven, hg. von Hans-Joachim Rothe und Reinhard Szeskus, Leipzig , S. . ⁹ Das in Privatbesitz befindliche Manuskript veröffentlichte H. Flashar, „F. MendelssohnBartholdys Vertonung antiker Dramen“, in: Berlin und die Antike, Berlin , S. –, Abdruck in: ders., Eidola. Ausgewählte Kleine Schriften, hg. von Manfred Kraus, Amsterdam , S. –, hier S. ff. ¹⁰ Sophokles. Tragödien. Übertragen von Johann Jacob Christian Donner, Heidelberg . Der Wortlaut mit Mendelssohns Textvarianten wurde wiedergeben bei Boetius, a. a. O., S. –. Vgl. weiter ebd., S. –. ¹¹ Brief vom . Dezember , vgl. Wehmer, a. a. O., S. –, hier S. . Ähnlich hieß es in dem in Anm.  zitierten Brief an David: „Die Aufgabe an sich war herrlich, und ich habe mit herzlicher Freude gearbeitet. … die Stimmungen all dieser Chöre sind noch heut so ächt musikalisch, und wieder so verschieden unter sich, dass sich’s kein Mensch schöner wünschen könnte zur Composition“. ¹² Boetius, a. a. O., S. ff. ¹³ Ebd., S. , Anm. ; zuvor schon H. Flashar, „August Böckh und Felix Mendelssohn Bartholdy“, in: Disiecta membra. Studien, Karlfried Gründer zum . Geburtstag, Basel und Stuttgart , S. –; auch in: Eidola (wie Anm. ), S. –, hier S. ff.



Friedhelm Krummacher

Diese Lösung wurde dann gestrichen und durch eine variierte Wiederholung der ersten Gegenstrophe ersetzt. Erst nachträglich wurde auf einem Doppelblatt unter Wechsel zu f-Moll das zweite Verspaar nach Böckhs Übertragung eingefügt. In dieser Fassung ging es in die nächsten Aufführungen in Berlin und Leipzig sowie – mit einigen Korrekturen – in den gedruckten Klavierauszug ein.¹⁴ Vorerst ist allerdings offen, ob der Nachtrag im Particell – wie Boetius annahm – noch vor dem . November  erfolgte.¹⁵ Das Autograph enthält zwar den Widmungsvermerk „Dies schlechte vierhändige Arrangement widmet seinem geliebten Fenchel zum . November . Der Author!“, wobei der familiäre Kosename auf die Schwester Fanny und ihren Geburtstag verweist.¹⁶ Da aber ausdrücklich das „vierhändige Arrangement“ genannt wird, in dem nur eine gekürzte Fassung der Ouvertüre vorliegt, kann die Datierung nicht ohne Vorbehalt auch auf das Particell bezogen werden, das im üblichen Klaviersatz geschrieben ist und vielleicht erst später mit der Ouvertüre zusammengebunden wurde.¹⁷ Dagegen ist die „vierhändige“ Ouvertüre – wie üblich – auf gegenüberliegenden Seiten für beide Spieler notiert, wobei das Wort „Arrangement“ die Einrichtung einer früheren Originalfassung impliziert.¹⁸ Doch lassen zahlreiche Korrekturen darauf schließen, dass das Particell ein Arbeitsmanuskript darstellt, auch wenn dafür bei größerer Besetzung gewöhnlich die Partiturform bevorzugt wurde.¹⁹ Indes entsprach ein Particell im Klaviersatz dem primär akkordischen Chorpart, der durch die metrische Übersetzung bedingt war und dann auch den Orchestersatz prägte. ¹⁴ Vgl. dazu Boetius, a. a. O., S. ff.; dieselbe, „ ‚…da componirte ich aus Herzenslust drauf los …‘. Felix Mendelssohn Bartholdys kompositorische Urschrift der Schauspielmusik zur ‚Antigone‘ des Sophokles, op. “, in: Die Musikforschung , , S. –, besonders S. –, wo auch die fraglichen Seiten des Autographs im Faksimile wiedergegeben sind (Abb. , a–b sowie a–c). Die Arbeiten von S. Boetius werden fortan zitiert: Boetius  bzw. . ¹⁵ Boetius , S.  und ff., dies. , S.  und f. ¹⁶ Staatsbibliothek zu Berlin Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv, Mus. ms. autogr. Mendelssohn  []. ¹⁷ Zu untersuchen bleibt, ob zwischen den Bestandteilen der Quellen Differenzen in Papier und Schriftduktus bestehen (freundlicher Hinweis von Herrn Dr. Roland Schmidt-Hensel, Mendelssohn-Archiv Berlin). ¹⁸ Damit dürfte die längere Erstfassung der später als „Introduktion“ bezeichneten Ouvertüre gemeint sein, die der Komponist nicht in die Erstausgabe aufnahm, vgl. Boetius , S. ff. ¹⁹ Vgl. dazu Fr. Krummacher, Mendelssohn – der Komponist. Studien zur Kammermusik für Streicher, München , S. –.

Antigone „mit seinem Ohr“

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Der Zwiespalt zwischen Donners Übersetzung, die für die Uraufführung gewählt war, und der gerade erst entstehenden Fassung von Böckh hatte Folgen für weitere Aufführungen, die ab März  in Leipzig und dann auch andernorts stattfanden. Denn neben manchen Retuschen versuchte Mendelssohn nachträglich, weitere Teile des Vokalparts an Böckhs Version anzupassen.²⁰ Als jedoch  der Klavierauszug publiziert werden sollte, wies er den Leipziger Verleger Friedrich Kistner ausdrücklich an: „Aber eins bitte ich Sie noch vor dem Beginn des Stichs machen zu lassen. Ich möchte, dass durchgängig (nur mit Ausnahme des f-moll Allegros in no. ) der Donnersche Text wieder untergelegt würde, da ich es doch einmal nach dem componirt habe. Verbessern mag sich’s jeder nachher, wie er will.“²¹ Obwohl demgemäß der Klavierauszug Donners Text bietet, spiegelt er noch den Konflikt. Mendelssohn wünschte dem Druck den gesamten Text voranzustellen, da aber der Heidelberger Verlag Winter, in dem Donners Version erschienen war, Bedingungen für den Abdruck stellte,²² entschied sich der Komponist für Böckhs Fassung. Mitsamt den Versmaßen „der lyrischen Theile nach der Urschrift“ wurde sie hier erstmals gedruckt und stand nun dem Klavierauszug voran, der seinerseits im wesentlichen auf Donners Text beruhte.²³ ²⁰ Boetius , S. – und –. Weitere, nur teilweise berücksichtigte Vorschläge kamen von Johann Friedrich Bellermann, vgl. ebd., S. ff.; ebd. S. – Bellermanns Brief an Mendelssohn vom . November  sowie S. – eine Gegenüberstellungen aller Textentwürfe. Ferner Hermann Weiss, „Unbekannte Zeugnisse zu den Leipziger Aufführungen von Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik zur ‚Antigone‘ in den Jahren  und “, in: Die Musikforschung , , S. –; H. Flashar, „Mendelssohns Antigone in Leipzig“, in: Dem Stolz und der Zierde unserer Stadt. Felix Mendelssohn Bartholdy und Leipzig (Leipzig, Musik und Stadt, Bd. I), hg. von Wilhelm Seidel, Leipzig , S. –. ²¹ Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe an deutsche Verleger, hg. von Rudolf Elvers, Berlin , S.  (. Juni ). Mit der Ausnahme „in no. “ ist der Teil genannt, der erst später zu Böckhs Fassung entstanden war. Ralf Wehner zufolge erschien der Klavierauszug  (vgl. Art. „Felix Mendelssohn Bartholdy“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, Personenteil Bd. , Kassel u. a. , Sp. ). Doch deutet die Plattennummer  auf  (vgl. Otto Erich Deutsch, Musikverlagsnummern. Eine Auswahl von  datierten Listen, Berlin ², S. ). Erst postum folgte  die Partitur, hg. von Julius Rietz. ²² Boetius , S. f. ²³ Mit der Freigabe zögerte Winter wohl nicht nur im Interesse Donners. Seine Übertragung der Antigone brachte der Verlag vielmehr  als Einzelausgabe heraus (Sophokles. Antigone von J. J. C. Donner), wogegen die Erstausgabe  die sophokleischen Dramen insgesamt enthielt (was auch für spätere Auflagen gilt). So liegt es nahe, dass der Verlag durch die Sonderausgabe der Antigone der Nachfrage Rechnung tragen wollte, die sich mit der Reihe weiterer Aufführungen abzeichnete. Der Text der Einzelausgabe zeigte schon nicht

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Friedhelm Krummacher

II In seiner einsichtsvollen und doch wenig beachteten Rezension umriss Droysen die Aufgabe, die Mendelssohn zu lösen hatte: „Auch die Griechen haben die Chöre gesungen. Aber es galt nicht etwa den Versuch griechische Musik zu componieren; wer sollte es? weder der Componist noch sonst jemand weiß, wie sie gewesen, wenn nicht etwa gewisse Kritiker, welche seine Composition nicht griechisch genug gefunden haben. Seine Aufgabe war eine ungleich idealere; es galt mit allen Kunstmitteln, die ihm in so reichem Maße zu Gebote stehen, das alte, gleichsam verstummte Werk wieder zu beleben und ertönen zu lassen.“²⁴ Das Dilemma gründete darin, dass die erhaltenen Zeugnisse griechischer Musik keine verlässliche Realisierung zulassen.²⁵ Zudem wurde das Problem, das die Musik zu lösen hatte, durch die Prämissen verschärft, die August Wilhelm Schlegel  genannt hatte. Die „tragische Deklamation“ sei demnach „durchaus dem Rezitativ unähnlich gewesen“, wogegen „in der syllabischen Komposition … der feierliche Chorsang …ohne Begleitung von Instrumenten“ geblieben sei.²⁶ Diese Auffassungen galten, wiewohl vielfach differenziert, auch für Böckh, der die Potsdamer Aufführung begleitete.²⁷ Eine Musik jedoch, die rein vokal, dazu nur einstimmig sein und gar noch das Metrum syllabisch deklamieren sollte, hätte jedem Komponisten die Hände gebunden. Mendelssohn entschied sich von vornherein für eine Vertonung, die zwar vielfach einstimmig ansetzt, um sich aber mehrstimmig zu erweitern, ohne

²⁴ ²⁵ ²⁶

²⁷

unbeträchtliche Abweichungen, die in weiteren Auflagen derart zunahmen, dass Donner sich schließlich dazu veranlasst sah, der fünften Auflage  als „Anhang zur Antigone“ den Wortlaut der ersten Fassung von  beizugeben, die „von Mendelssohn-Bartholdy für die Aufführung in Potsdam und Berlin componirt wurde.“ Vgl. J. J. C. Donner, Sophokles. Deutsch in den Versmaßen der Urschrift, Leipzig und Heidelberg ⁵, S. f. Droysen, a. a. O., S. . Die Rezension fehlt in J. G. Droysen, Historik. Historisch-kritische Ausgabe, Teilband . Texte im Umkreis der Historik, hg. von Horst Walter Blanke, StuttgartBad Cannstatt  (mit Texten aus den Jahren –). Egert Pöhlmann, Art. „Griechenland. A. Antike Musik“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. ), Sachteil Bd. , Kassel u. a. , hier Sp. –. A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Erster Teil, hg. von Edgar Lohner, in: ders., Kritische Schriften und Briefe, V, Stuttgart u. a. , S. f. Freilich war Schlegel auch überzeugt, dass „die griechische Tragödie in ganz unveränderter Gestalt für unsre heutigen Theater immer eine ausländische Pflanze bleiben“ müsse, „der man kaum im Treibhause gelehrter Kunstübung und Kunstbeschauung einiges Gedeihen versprechen darf“, vgl. ebd., S. . August Böckh, „Über die Darstellung der Antigone“, in: Allgemeine Musikalische Zeitung , . November , Sp. – (Nachdruck aus der Allgemeinen Preußischen StaatsZeitung vom . November ).

Antigone „mit seinem Ohr“

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grundsätzlich die syllabische, weithin akkordische Diktion aufzugeben. Während sie die metrischen Vorgaben nicht außer Acht lässt, verzichtet sie nicht auf das Orchester, das dem Vokalsatz weithin zugeordnet bleibt, um sich erst schrittweise von ihm abzulösen. Nachdem der Gedanke einer rezitativischen Behandlung der Chöre rasch verworfen wurde, kam Mendelssohn – wie der befreundete Schauspieler und Sänger Eduard Devrient berichtete – zur Überzeugung, „er müsse die Chöre singen lassen, wie wir die Rollen sprechen würden, d. h. nicht im Bestreben, die Vortragsweise der attischen Tragödie nachzuahmen…“²⁸ Es galt daher, für die deutschen Verse mit ihrer Akzentuierung, die der quantifizierenden Metrik des griechischen Textes folgte, eine musikalisch adäquate Rhythmik zu finden. Wenn dem Wechsel metrischer Längen und Kürzen das Verhältnis betonter und unbetonter Wörter und Silben entsprach, so ließen sich Betonungen durch entsprechende Abstufung der Tonhöhe, Tondauer und rhythmischen Position umsetzen. Dabei konnte sich aber – wie Peter Andraschke hervorhob – von vornherein keine so regelhafte Taktgruppierung ergeben, wie sie für die kompositorische Tradition seit der Wiener Klassik konstitutiv war.²⁹ So konzentrierte sich die Forschung – soweit sie sich der Musik zuwandte – auf das Verhältnis zwischen metrischem Versgefüge und rhythmischer Umsetzung, und bevorzugt wurde zumal Satz Nr. , dessen Strophen auf Donner wie auf Böckh rekurrieren.³⁰ Weit weniger kamen bisher die komplexen Satzanlagen zur Sprache, in denen der Komponist die von ihm erfassten „Stimmungen“ ausformte. Obwohl Mendelssohns Briefe vor allem die „Chöre“ der Vorlage erwähnen,³¹ umfasste seine Komposition nicht schematisch alle Textglieder, die bei Donner und Böckh dem Chor zugewiesen sind. Nicht vertont wurden einerseits kurze Einwürfe, die innerhalb der dialogischen Epeisodia – oft weit entfernt von den strophischen Teilen – dem Chor zufielen. Doch wurden andererseits im Kontext der Strophen auch dialogische Texte berücksichtigt, für die sich das solistische Melodram, mitunter mit Einwürfen im Chorrezitativ, anbot. Das forderte von den Schauspielern statt Gesangs nur eine entsprechende Deklamation, die sich aber dem rhythmisch flexiblen Orchestersatz anpassen musste. Der Wechsel von Strophen und Gegenstrophen schließlich ²⁸ Eduard Devrient, Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy und Seine Briefe an mich, Leipzig , zitiert ², S. –, besonders S. . ²⁹ Andraschke, a. a. O. (wie Anm. ), S. . Vgl. weiter die Nachweise in Anm. . ³⁰ Andraschke, ebd., S. –, Boetius , S. ff. ³¹ So in den in Anm.  und  genannten Briefen.

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Friedhelm Krummacher

– die gleichwohl das Zentrum der Komposition darstellen – wurde durchaus unterschiedlich ausgeformt, wie schon wenige Hinweise andeuten können. Den regulären Grundriss gibt zunächst die Parodos in C-Dur vor (Satz No.  Strahl des Helios, schönstes Licht): Strophe I und Gegenstrophe I bilden im Wechsel von Chor I und Chor II zwei Varianten eines musikalischen Satzes, der abwechselnd ein-, drei- oder vierstimmig angelegt ist, während den abschließenden Anapästen beidemal der Übergang vom Maestoso im /-Takt zum Lento im /-Takt entspricht.³² Dazu kontrastiert Strophe II durch Wechsel nach c-Moll und straff beschleunigte Deklamation, wobei die Schlusszeilen als solistisches Rezitativ vertont werden. Der Tonsatz zur Gegenstrophe II schließt jedoch nicht an das Modell von Strophe II an, sondern greift unter Rückkehr nach C-Dur auf das erste Strophenpaar zurück, dessen variierter Satz nun beide Chöre zum partiell achtstimmigen Doppelchor vereint. Die kompositorische Planung überformt also die Textanlage, um eine Rahmenanlage und zugleich einen krönenden Abschluss zu gewinnen, der gleichwohl im Rezitativ einer Solostimme samt dreistimmigem Chor zurückgenommen wird. Um eine weitere klangliche Abstufung zu erreichen, wird innerhalb des Chores hier und in weiteren Sätzen ein wechselnd solistisch oder mehrstimmig gefasster „Chorführer“ introduziert, der derart weder bei Donner noch bei Böckh vorgesehen ist.³³ Strikter strophisch noch ist das erste Stasimon gefasst (No.  Vieles Gewaltige lebt), sofern beiden Strophenpaaren hier ein jeweils verschiedener Tonsatz zugrundeliegt. Zudem ist ihnen außer der Tonart A-Dur auch der /-Takt gemeinsam, der durchweg beibehalten wird.³⁴ So befremdlich sich gegenüber dem Textanfang das tänzerische Melos im schwebenden Taktmaß ausnehmen mag, so bedacht ist es im Blick auf Wortlaut und Kontext der Strophen gewählt. Eine abschließende Steigerung jedoch gewann der Komponist diesmal, indem er am Ende der Gegenstrophe II, die wieder beide Chöre zusammenführt, von Donners Übersetzung abwich. Ihren Wortlaut „Hebend die Stadt“ ersetzte Mendelssohn durch die Variante „Segen der

³² So ab den Takten  bzw.  (Taktangaben zählen hier wie weiterhin vom Satzbeginn an). ³³ Böckhs Aufsatz (wie Anm. ) erwähnt hier den Chorführer, doch ist in seiner wie in Donners Übersetzung nur vom „Chor“ die Rede. ³⁴ Zur Konnotation und kompositorischen Differenzierung dieses Taktmaßes vgl. Boetius , S. f.

Antigone „mit seinem Ohr“

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Stadt“.³⁵ Sie erlaubte die mehrfache Wiederholung mit abschließender Fermate, während der Satzschluss nach chorischem Rezitativ erstmals in einem kurzen Melodram ausläuft.³⁶ So geschlossen also die Chorsätze anmuten, so genau kalkuliert ist ihre Integration in das gesprochene Drama, sofern die chorischen Strophen am Ende jeweils im Rezitativ oder Melodram münden. Für das zweite Stasimon (No.  Ihr Seligen, deren Geschick nie kostet’ Unheil), dessen Anlage Andraschke ausführlich darstellte,³⁷ sei nur auf den heftigen Kontrast der Strophenpaare hingewiesen. Während sich im ersten Paar Strophe und Gegenstrophe trotz feinsinniger Varianten prinzipiell entsprechen, schlägt das zweite vom Moderato in F-Dur zum Allegro con fuoco in f-Moll um. Und dem lyrischen Melos des ersten tritt im zweiten Strophenpaar eine gestraffte Deklamation im Allabreve-Takt entgegen, die durch punktierte Rhythmik und instrumentale Akzente noch weiter markiert wird.³⁸ Wieder anders verhält es sich mit dem dritten Stasimon in G-Dur (No. ), sofern der Vokalpart im ersten Strophenpaar nur sparsam von instrumentalen Einwürfen gestützt wird (O Eros, Allsieger im Kampf!). So konzentriert sich die Vertonung auf die Entfaltung des Chorklangs a cappella, und indem zur jeweils letzten Zeile beide Stimmpaare in Imitation mit melodischer Umkehrung einsetzen, wird unauffällig ein erster Ansatz kontrapunktischer Technik eingeführt. Überraschen mag anfangs die helle Tönung und reduzierte Dynamik des sonst durchaus akkordischen Satzes, doch bildet sie in der internen Strategie nur die Folie für das zweite Strophenpaar in g-Moll, mit dem der Chor im Kommos den Eintritt Antigones kommentiert. Dass die Komposition hier auch Texte umfasst, die schon zum vierten Epeisodion zu gehören scheinen, mag auch mit Differenzen der Anordnung bei Donner und Böckh zu tun haben. Ohne Strophen und Gegenstrophen abzuheben, die sich nur im Versschema des Anhangs ermitteln lassen, unterscheidet Böckhs Fassung im Erstdruck des Klavierauszugs nach der „Parodos“ (Satz No. ) vier Stasima (Sätze No. –) von fünf Epeisodia, denen der „Chortanz“ (Satz No. ) und die „Exodos“ (Satz No. ) folgen. Diese Bezeichnungen fehlen bei Donner, ³⁵ Takte –; Boetius , S.  Anm. , nennt die Textvariante ohne die musikalischen Konsequenzen. ³⁶ Die Worte des Chores, die in Satz a der Chorführer als Melodram vorträgt, wurden von Mendelssohn nach Ausweis des Autographs erst nachträglich vertont, vgl. Boetius , S. f., und , S. . ³⁷ Andraschke, S. –. ³⁸ Vgl. die punktierten Auftakte zwischen den Takten  und  bzw.  und .

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Friedhelm Krummacher

der dagegen die Strophen und Gegenstrophen benannte. Nach dem ersten Strophenpaar des dritten Stasimons bezeichnete Donner die Wechselrede zwischen Antigone und Chor, die bei Böckh zum Epeisodion gehören, als Strophen II–III samt Gegenstrophen mit chorischer Antwort. So wurden sie von Mendelssohn im Wechsel melodramatischer Soloteile und chorischer Glieder vertont, so dass Satz  erstmals größere Teile der Dialoge umfasst. Zugleich reagiert die Vertonung auf die strophische Anordnung, indem sie die chorischen Partien durch lastend punktierte Motivik auszeichnet, die das Orchester in kurzen Einwürfen aufnimmt (Beispiel ). Dagegen werden Antigones Strophen wechselnd von Streichern und Bläsern mit liegenden und repetierten Akkorden begleitet, die zu den letzten Worten fast verstummen, bis im Nachspiel wieder die punktierte Motivik erklingt.³⁹ Entsprechend beginnt No.  (Noch toset des Sturmes Gewalt) mit dem Ende des vierten Epeisodion, so dass zwischen melodramatischen Partien nur rund  Verse für den gesprochenen Dialog bleiben. Wiewohl der Text bei Donner wie bei Böckh nicht strophisch erscheint, beginnt der Satz als Melodram, in dem die klagenden Worte Antigones durch auffahrende Gesten des Orchesters aufeinander bezogen werden.⁴⁰ Erst danach folgt in e-Moll das vierte Stasimon (Auch der Danae Reiz), dessen erste Strophe durchweg im Unisono erklingt und zur Gegenstrophe praktisch ohne Varianten wiederkehrt (Beispiel ). Danach wahrt das zweite Strophenpaar zwar die Grundtonart, wird aber wieder in der Gegenstrophe weiter ausgearbeitet. Vom erregten Dialog, mit dem der Satz beginnt, heben sich diesmal also die Strophenpaare durch betonte Zurückhaltung ab (Beispiel ). Ähnlich genau wird die Strophenfolge im Satz No.  eingehalten, der sich strikter als sonst auf die beiden Strophenpaare beschränkt (Vielnamiger! Wonn’ und Stolz). Bei Böckh als Chortanz bezeichnet, werden sie nur hier in doppelchörigem Satz vertont, der freilich zumeist auf vierstimmigem Gerüst basiert. Besondere Aufmerksamkeit verdient in Strophe I der Ruf Hör uns! Baccheus, der nur in Donners erster Fassung vorkommt, aber schon in der zweiten ³⁹ Im Vorspiel führen die Instrumente die später dem Chor zufallende Motivik ein (ab Takt ), die noch im Ausklang nach Antigones Worten erklingt (ab Takt ). ⁴⁰ Vgl. die Takte , ,  und f. A. Böckh, a. a. O. (wie Anm. ), Sp. , richtete sich gegen den Einwand, „auch ein Theil des Dialoges sei bei unserer Aufführung mit Musik begleitet worden“. Ohne No.  zu erwähnen, verwies er darauf, dass die chorischen Anteile im Kommos aus No.  und in der Klage Kreons aus No.  der Musik bedürften, weshalb die Worte sehr wohl „gesprochen, aber mit melodramatischer Begleitung“ versehen worden seien. In seiner Übersetzung indessen erscheinen diese Texte im vierten Epeisodion.

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Antigone „mit seinem Ohr“

  

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Beispiel : Satz  (Kommos), Takte – (Antigone – Chor) Auflage fehlt und auch bei Böckh abweicht (O Baccheus, hier).⁴¹ Seine Vertonung kehrt zwar in der Gegenstrophe zu anderem Text wieder (Dir singt grüner Strand), vor der zweiten Strophe erscheint aber erneut die der ersten Strophe entnommene Anrufung (Hör uns! Bacheus!), deren Zitat nun auch das zweite Strophenpaar durchzieht (Beispiel ). Sein Text im einen Chor tritt hinter den markanten Ruf im Gegenchor zurück, bevor die Anrufung im Wechsel beider Chöre den ganzen Satzschluss bestreitet.⁴² Nach dem ersten Strophen⁴¹ Donner folgte wohl Böckhs Anregung, denn gerade hier änderte er auch das metrische „Schema beider Strophen und Gegenstrophen nach einer brieflichen Mittheilung von Böckh“ (Donner ², S. ). Gemeint ist V.  (Δηοῦς ἐν κόλποις, ὦ Βακχεῦ). ⁴² Die Chorpaarung beginnt in Takt , zum Abschluss vgl. Takte –. Ferner Boetius , S. .



Friedhelm Krummacher

Beispiel : Satz , Takte – (Antigone – Chor) paar in strahlendem D-Dur setzt das zweite in h-Moll an, doch lenkt die zweite Gegenstrophe, die auch melodisch von ihrem Modell abweicht, nach D-Dur zurück, sobald die Paarung mit den Rufen im Gegenchor ansetzt. Indem ihre Motivik wachsende Dominanz gewinnt, beherrscht also ein kurzes Textglied, das aus dem Kontext gelöst wurde, den gesamten Satzverlauf. Man übertreibt kaum, wenn man zusammenfassend konstatiert, dass mit No.  ein Prozess beginnt, in dem der Zugriff des Komponisten die Vorgaben der Textvorlage mehr und mehr überformt. Anders gesagt: Im Verlauf des Werks kommt zunehmend eine musikalische Planung zur Geltung, die auf die geschlossene Formung der Sätze und auf ihre individuelle Charakteristik bedacht ist. Hintergründig wird sie schon zuvor wirksam, wenn in den zwei ersten Sätzen der akkordische Orchesterpart der Strophen in den Gegenstrophen figurativ aufgefächert wird. Sein Ziel erreicht der Prozess im Schlusssatz (No. ), sofern hier die metrisch geformten Strophen durchweg der Rezitation im Melodram überlassen sind, wogegen sieben chorische Einwürfe weiter profiliert werden. In dem Maß, wie die Strophen nicht mehr dem Chor, sondern Antigone und Kreon zufallen, müssen sich in der Vertonung die anfänglichen Relationen umkehren. Im Melodram tritt einerseits



Antigone „mit seinem Ohr“

h. = 63.



  















  

 











  



 

   

 







      

  

 

 









     



 



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Beispiel : Satz , Takte – (Chor I–II) die im Text vorgegebene Verschränkung der Strophen zurück, obwohl sie von Donner und Böckh markiert wurde.⁴³ Wenn andererseits die kurzen chorischen Partien klanglich, rhythmisch und satztechnisch abgehoben werden, so setzt sich damit jene Planung durch, die zuerst in Satz  wirksam wurde. Auf den ersten mehrstimmigen Choreinsatz weisen zwei weitere einstimmige Einwürfe nur im rhythmischen Duktus zurück. Komplizierter ist das Verhältnis der beiden folgenden Einsätze, die als zweistimmiges Allabreve und zudem durch analoge Imitation verknüpft werden. Während die Stimmen mit analoger Motivik zuerst von d-Moll aus zweimal in fallenden Quinten einsetzen, kehrt dann von Es-Dur aus dasselbe Motiv nur einmal wieder.⁴⁴ Nach dem nächsten Choreinsatz jedoch, der so wie frühere knapp und einstimmig bleibt, wird eigens ein Schlusschor ausgeformt, der latent auch auf die Introduktion des Werkes zurückblickt. Denn beide Rahmensätze stehen nicht nur in c-Moll, sondern dem /-Takt im Allegro assai agitato der Introduktion entspricht im ⁴³ Doch entspricht Donners Strophenzählung dem Strophen- und Versschema bei Böckh (Strophe und Gegenstrophe –, Strophe und Gegenstrophe –). ⁴⁴ Die Imitation umfasst jeweils sechs Töne, wobei der Quartsprung des Incipits im ersten Fall nach d- und g-Moll bzw. c- und f-Moll und im zweiten nach Es- und As-Dur zielt (Takte – und –).



Friedhelm Krummacher

Schlusschor der /-Takt, der hier freilich zum Andante con moto maestoso verlangsamt wird. Die melodischen Linien der Sätze entsprechen sich zwar nicht genau, sondern nur in ihrem fallenden Duktus. Indes tritt der Instrumentalpart, der bisher in No.  die melodramatischen Abschnitte stützte, hier spürbar mehr als bisher hervor. Zwischen Vor- und Nachspiel fügt sich der Chorsatz ein, dessen imitierte Motivik dann aber auch das Orchester aufnimmt.⁴⁵ Von der Mitte des Zyklus an lässt sich also eine zunehmende Veränderung der musikalischen Disposition verfolgen. Sie entspricht zwar dem Text, soweit die Strophenpaare anfangs dem Chor und dann dem Melodram zufallen. So ist es konsequent, dass sich auch die kompositorische Formung mehr und mehr an der klanglichen Rolle des Chors statt an der Strophenordnung orientiert. Über diese Vorgaben greift die Komposition aber nicht erst durch die motivische Verkettung im doppelchörigen Satz  hinaus. Mittels instrumentaler Einwürfe tritt sie auch in melodramatischen Strophen aus No.  und  hervor und zieht noch in das Melodram zu Beginn von Satz  ein, ohne hier von strophischem Text gefordert zu sein. III „…es sind fremdartige und doch verständliche Klänge, mit denen er zu uns spricht, nicht antike Musik, aber der Eindruck antiker Musik, wie sie ihm [sc. Mendelssohn] sich erschlossen“.⁴⁶ Droysen beließ es nicht bei einer generellen Charakteristik, sondern beschrieb die Wirkung, ohne den befremdenden Eindruck zu verschweigen, den „die erste Scene zwischen Antigone und der Schwester … mit so fremdartigem Klang des Verses“ machte: „sie lässt uns zunächst ziemlich kalt.“ Doch „dann kommt der singende Chor, und sofort mit dem Klange der Musik wird uns heimisch zu Mute, wir fühlen uns in unserem Gebiet, in unserer Empfindungsweise, wir werden warm und wärmer! die nächste Scene findet uns schon vorbereiteter, empfänglicher über uns selbst hinaus; der folgende Chorgesang hat uns völlig in dieser neuen, idealen Welt heimisch gemacht … Mit einem Wort, wie der Übersetzer das Stück unserm Verständnis, so hat die Musik es unserm Empfinden zugänglich gemacht.“ Um den „Eindruck antiker Musik“ zu erwecken, genügte offenbar eine Rhythmik, die den metrischen Vorgaben des Textes folgte, wogegen Harmonik und Melodik eher vertraut wirken konnten. Diese Kreuzung hatte zur ⁴⁵ So zum Text Der Vermessene büßt das vermessene Wort in den Takten –. ⁴⁶ Vgl. dazu und zum folgenden Zitat Droysen, a. a. O. (wie Anm. ), S. f.

Antigone „mit seinem Ohr“



Folge, dass ein sensibler Zeitgenosse zugleich „fremdartige und verständliche Klänge“ zu hören vermochte, die den Text dem „Empfinden zugänglich“ machten. Entsprechend fand man nach der Leipziger Aufführung vom . März , erst die Musik habe das Publikum „für den etwas starren, spröden Stoff der Dichtung empfänglich“ gemacht.⁴⁷ Man mag argwöhnen, als Freund Mendelssohns sei Droysen befangen gewesen, doch stand er mit seiner Reaktion nicht allein. Auch einen kundigen Kritiker konnte es  befremden, dass hier von regulärem „musikalischen Periodenbaue in unserm und dem strengen Sinne … nicht die Rede sein“ könne.⁴⁸ Und Carl Dahlhaus wies darauf hin, dass die Verschränkung des Tonsatzes mit dem metrischen Gepräge ihre Wirkung nicht eingebüßt habe.⁴⁹ Bellermann begann seine Vorschläge zur Übersetzung mit dem „innigsten Dank“ für die Vertonung und äußerte „den lebhaften Wunsch“, Mendelssohn möge „auch andere Stücke auf ähnliche Weise hier heimisch“ machen.⁵⁰ Der Leipziger Altphilologe Johann Gottfried Hermann zeigte sich „von der groszartigkeit und tiefen auffassung der musik wie von der genialen direction Mendelssohns ergriffen“.⁵¹ Die Zustimmung von August Böckh geht bereits aus der Tatsache hervor, dass er seine Übersetzung erst Mendelssohns „Wunsche gemäß“ begann und ihrem Erstdruck im Klavierauszug zustimmte.⁵² Als besonders „reizend“ erschien ihm „die geistreiche Heiterkeit“ im zweiten Chor, wogegen er sich Satz  „mehr im Karakter eines Threnos“ wünschte. Insgesamt aber „darf sich jedes antiquarische Gewissen beschwichtigt fühlen, da zumal kein Antiquar im Stande sein wird, an die Stelle dieser Musik eine antike zu setzen.“⁵³ ⁴⁷ Vgl. Neue Zeitschrift für Musik , , S. . ⁴⁸ Julius Becker, „Über die Bearbeitung der antiken Dramen: Antigone und Medea, für unsere Bühnen“, in: Neue Zeitschrift für Musik , Bd.  (), S. . Dagegen sprach Wagner nur noch spöttisch von der „Quadratur des Rhythmus“, vgl. Richard Wagner, Über das Operndichten und Komponieren im besonderen, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Volks-Ausgabe, Bd. , Leipzig⁶ o. J., S. . ⁴⁹ Carl Dahlhaus, „Mendelssohn und die musikalischen Gattungstraditionen“, in: ders. (Hg.), Das Problem Mendelssohn, Regensburg  (Studien zur Musikgeschichte des . Jahrhunderts, ), S. –, wo es S.  heißt, die „kantable Chordeklamation“ wirke „in einer paradoxen Verschränkung von Gegensätzen zugleich hartnäckig pedantisch und vorwärtsdrängend emphatisch“. ⁵⁰ Boetius , S. . ⁵¹ Ebd., S.  (Hermann hatte im März  eine Aufführung in Leipzig gehört). ⁵² H. Flashar, „August Böckh und Felix Mendelssohn Bartholdy“ (wie Anm. ), S. . ⁵³ A. Böckh, „Ueber die Darstellung der Antigone“ (wie Anm. ), Sp. . Vgl. auch Boetius, S. , Anm. , sowie ebd., S. , Anm. , das Urteil Varnhagens von Ense.

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Friedhelm Krummacher

Nicht unbegreiflich ist es, dass eine Komposition, die zuerst eine so heikle Aufgabe löste, auch widersprüchliche Reaktionen auslösen musste. Zu denen, die – mit Droysen zu sprechen – die Musik „nicht griechisch genug“ fanden, gehörte nicht nur Bellermann, der Mendelssohn vorschlug, für weitere Werke „dieselben  Tonarten“ zu verwenden, die auch „die Alten“ kannten.⁵⁴ Angesichts der „unvereinbaren Gegensätze“ zwischen heutiger Musik und „dem classischen Alterthum“ wünschte sich der Leipziger Kritiker Julius Becker „eine dem Begriffe des alten Kunstwerks entsprechende Musik“. Zwar bezweifelte er nicht die Qualität der Vertonung, doch hielt er eine so „kunstreich ausgeführte, vierstimmige Composition“ für „vollends verfehlt“,⁵⁵ während andere Rezensenten die Musik viel zu opernhaft fanden.⁵⁶ Je mehr man sich aber an sie gewöhnte, desto stiller wurde es um sie, bis Wagner für die Erstaufführung nur mehr Spott übrig hatte: „Wie freuten sich die gelehrten armen Kinder über diese ‚Antigone‘ im Hoftheater zu Potsdam!“⁵⁷ Obwohl er „Mendelssohn seiner fertigen Philologie willen beneidete“, fand er es erstaunlich, „dass diese seine Philologie ihn nicht davon abhielt, zu Sophokleischen Dramen gerade seine Musik zu schreiben“.⁵⁸ Konkreter noch hieß es: „Wenn er seine Chöre zu ‚Antigone‘ nicht so gut komponierte, … so lag dies daran, dass er gerade das nicht konnte“.⁵⁹ Zwar ist Wagners Polemik – wie Jason Geary zeigte – als Apologetik seiner Vorstellungen zu lesen,⁶⁰ die weite Verbreitung seiner Schriften lässt aber kaum bezweifeln, dass sein Urteil nicht folgenlos blieb. Schwerer wiegt eine Äußerung von Robert Schumann, gerade weil sie sich nicht in einer Rezension, sondern in einem privaten Brief findet. Seiner in Kopenhagen weilenden Frau berichtete er am . März : „Die Antigone

⁵⁴ Boetius , S. . Bellermanns Vorschlag gründete in der – heute unhaltbaren – Überzeugung, die antiken Tonarten glichen denen, die auch „in unserer Kirchenmusik fast allein gebräuchlich sind“. ⁵⁵ Deshalb wandte sich Becker kategorisch „gegen jedes Componiren im modernen Sinne“ und forderte „eine dem Begriffe des alten Kunstwerks entsprechende Musik“, vgl. J. Becker (wie Anm. ), S. . ⁵⁶ Vgl. Boetius , S. ff., wo zahlreiche weitere Rezensionen zitiert werden. ⁵⁷ Richard Wagner, Oper und Drama (), in: Sämtliche Schriften und Dichtungen (wie Anm. ), Bd , S. . ⁵⁸ Ders., An Friedrich Nietzsche, ebd., Bd. , S. –, hier S. . ⁵⁹ Ders., Über das Dichten und Komponieren, ebd., Bd. , S. . ⁶⁰ Jason Geary, „Reinventing the Past: Mendelssohn’s Antigone and the Creation of an Ancient Greek Music Language“, in: The Journal of Musicology , , S. –, hier S. .

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hörte ich. Könnte nicht sagen, dass ich mich sehr erbaut. Die eigentliche Tragödie ist dadurch gänzlich unkenntlich geworden. Viel zu viel Musik und doch nicht tief und bedeutend genug.“⁶¹ Zwar verkannte er nicht die „schwierige Aufgabe“, auch fand er die „Ouvertüre … schön, zart und leidenschaftlich durcheinander“, doch fasste er zusammen: „Das Ganze aber gibt wie gesagt keinen reinen Kunstgenuß; es ist halb Oper, halb Tragödie“. Schumann hatte in Leipzig eine der Aufführungen im März  gehört und war gewiss nicht befangen, sondern zollte zugleich Mendelssohns Schottischer Symphonie op.  höchste Anerkennung.⁶² Sein Befund, die Musik zur Antigone sei „halb Oper, halb Tragödie“, entsprach dem gespaltenen Urteil anderer Rezensenten. Wer hier aber „viel zu viel Musik“ wahrnahm, übersah wohl, dass die Vertonung nicht alle chorischen, sondern primär die strophischen Texte erfasst, während nur ausnahmsweise Worte wiederholt und sparsam instrumentale Vor-, Zwischen- oder Nachspiele zugefügt werden.⁶³ Weiter noch hält sich die Musik zurück, wo die Strophen Antigones und Kreons als Melodram gefasst werden. Die Meinung aber, die Vertonung sei „nicht tief und bedeutend genug“, zielte genau auf jene Balance, um die es Mendelssohn offenbar zu tun war. Denn wenn seine Musik einer Metrik folgte, die sich befremdlich ausnahm, so musste sie zugleich vergleichsweise einfach bleiben und ohne die polyphonen Mittel auskommen, über die Mendelssohn in Schumanns Sicht sonst souverän verfügte. Man kann die differierenden Urteile zwar nicht versöhnen, vielleicht aber verständlich machen, wenn man sich der Funktion erinnert, die den Chören für die Zeitgenossen zukam. Ihre Sicht war nicht zuletzt durch Schiller ⁶¹ Clara und Robert Schumann, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Eva Weissweiler, Bd.  –, Frankfurt am Main und Basel , S.  (dort auch die folgenden Zitate). Wenn Schumann freilich meinte, Beethoven hätte die Aufgabe „ganz anders gelöst“, so übersah er, dass sie sich derart früher nicht stellte. Zu den Leipziger Aufführungen am ., ., . und . März  vgl. Boetius , S. , Anm. . ⁶² „Dagegen strahlt in der Symphonie Mendelssohns ganzer schöner Geist. Sie ist sehr eigenthümlich… Effect wird sie nicht machen in der Welt; sie ist nur für sehr gebildete Menschen; aber spurlos vorbeigehen auch nicht, erst nach vielen Jahren recht gewürdigt werden.“ Schumann hatte am . März  in Leipzig die Uraufführung von Mendelssohns a-Moll-Symphonie op.  gehört. ⁶³ Ein Jahr später relativierte Schumann seine Meinung in der Rezension von Mendelssohns Musik zu Ein Sommernachtstraum mit dem Hinweis, hier trete die Musik „noch bescheidener zurück, als in der ,Antigone‘, wo freilich die Chöre den Musiker zu reicherer Ausstattung zwangen“, vgl. ders., „Der Sommernachtstraum“, in: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, hg. von Martin Kreisig, Leipzig , Bd. , S. ff. (zuvor in: Neue Zeitschrift für Musik , , S. f.).

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geprägt, der im Vorwort zur Braut von Messina formuliert hatte: „Der Chor ist selbst kein Individuum, sondern ein allgemeiner Begriff.“⁶⁴ Gemeint war zwar vorab „die neuere Dichtung“, die den Chor „zu einem Kunstorgan“ werden lasse, wogegen er „in der alten Tragödie mehr ein natürliches Organ war“. Doch hieß es weiter: „Der Chor verlässt den engen Kreis der Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten …“ Schärfer formulierte August Wilhelm Schlegel, in dessen viel beachteten Vorlesungen „die Chöre und die lyrischen Gesänge überhaupt“ als „der schwerverständlichste Teil der alten Tragödie“ erschienen. Dabei stelle der Chor vorab „die allgemeine menschliche Teilnahme vor“ und sei „mit einem Worte der idealisierte Zuschauer“.⁶⁵ Zwar warnte Ernst-Richard Schwinge , „dass nicht A. W. Schlegels vor allem hierzulande zu unverdienter Geltung gelangte Deutung des Chores als eines ‚idealisierten Zuschauers‘ weiterhin als Maßstab für dessen Verständnis die entscheidende Rolle spielen dürfe“.⁶⁶ Die Warnung wäre aber nicht nötig, wenn nicht Schlegels Auffassung im . Jahrhundert wirksam geblieben wäre. Doch hatte Mendelssohn auch Hegels Ästhetik gehört, nach der dem Chor zwar „die ruhige Reflexion über das Ganze zukomme“, er aber nicht eine „wie der Zuschauer reflektierende moralische Person“ bleibe, sondern „die wirkliche Substanz des sittlichen Lebens und Handelns selbst“ vertrete. Indem er „dieses gesicherte Asyl“ bewusst macht, „spricht er … sein Urteil, warnt, bemitleidet oder ruft das göttliche Recht und die inneren Mächte an“.⁶⁷ Unter diesen Voraussetzungen lässt sich Mendelssohns Komposition angemessener verstehen. Am zweiten Stasimon (No. ) hat Andraschke gezeigt, welch subtile Varianten selbst dort vorliegen, wo Strophen und Gegenstrophen sich kaum zu unterscheiden scheinen.⁶⁸ Hier ist nicht der Ort, um auf die Fülle weiterer Details einzugehen, die in der Stimmführung und Instrumentation oder der Harmonik und Deklamation zu beobachten sind.⁶⁹ Doch lassen ⁶⁴ Friedrich Schiller, Werke und Briefe, Bd. , hg. von Mathias Luserke, Frankfurt a. M. , S.  (dort auch die folgenden Zitate). Zum Zusammenhang vgl. Ernst-Richard Schwinge, Schiller und die griechische Tragödie, Hamburg und Göttingen  (Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaft Hamburg, Jg. /), S. –. ⁶⁵ August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (wie Anm. ), S.  und f. ⁶⁶ E.-R. Schwinge, „Die Rolle des Chors in der sophokleischen ‚Antigone‘“, in: Gymnasium , , S. –, hier S. . ⁶⁷ Hegel, Ästhetik, hg. von Friedrich Bassenge, Bd. II, Berlin und Weimar ², S. . ⁶⁸ Andraschke, „Felix Mendelssohns Antigone“ (wie Anm. ), S. ff. ⁶⁹ Weitere Nachweise seien einem späteren Beitrag vorbehalten.

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sich manche Vorbehalte ausräumen, wenn man die planvolle Disposition verfolgt, der die Sätze folgen. Wer von heutigen Vorstellungen geleitet ist, mag zuerst ein seltsames Missverhältnis zwischen Text und Musik wahrnehmen. Er dürfte kaum noch erkennen, was Droysen zugleich als „alt“ und „vertraut“ erschien, sondern eher wie Schumann finden, die Chöre gemahnten zu sehr an andere Chormusik Mendelssohns. Die verschwiegene Prämisse ist dabei die Erwartung, die Musik habe den Sinn des Textes so wiederzugeben, wie es der Gang des Dramas fordere. Eine andere Perspektive – die für Donner und Böckh wie für Droysen und Mendelssohn wohl wichtiger war – eröffnet sich, sobald man die Funktion erkennt, die der Chor für Schiller, Schlegel und Hegel hatte. Wie die Parodos (No. ) gar zu heldenhaft und marschartig in strahlendem C-Dur einzutreten scheint, so wirkt auch das erste Stasimon (No. ) im hellen A-Dur mit wiegendem /-Takt ein wenig zu pastoral. Mit der Parodos scheint der Chor in das Drama so einzutreten, als nehme er vom vorherigen Dialog kaum Notiz. Der triumphale Ton indes, in dem die Erinnerung an das siegreiche Theben besungen wird, wird schon im ersten Strophenpaar gebrochen, sobald den Anapästen ein gänzlich veränderter Rhythmus entspricht. Zu den warnenden Worten in Strophe II wechselt auch die Musik nach Moll, bis sie schon innerhalb der Strophe zum unisonen Rezitativ umlenkt. So sehr es überraschen mag, wenn dann die Gegenstrophe erneut das Modell des ersten Strophenpaars aufnimmt, so genau folgt die Vertonung damit dem Text, der hier vom Beistand der „namenverleihenden Nike“ berichtet. Und die Vermittlung zum gesprochenen Dialog übernimmt schließlich die rezitativische Vertonung der abschließenden Anapäste, in die der Satz am Ende einmündet. Auch der helle Ton des A-Dur-Satzes No.  wird verständlich, sobald man sich nicht nur an die ersten Worte hält („Vieles Gewaltige lebt“). Denn hinter ihnen steht die Einsicht, dass Gewalt sich zuletzt als hinfällig erweist. Wenn demgemäß Strophe II auf eine Warnung zuläuft („nur nicht den Tod ward zu flieh’n ihm vergönnt“), so gibt hier auch die Musik mit dem Più mosso in fisMoll ihre Zurückhaltung auf. Zwar endet sie – scheinbar glanzvoll – erneut in Dur, doch schlägt das chorische Rezitativ nach a-Moll zurück, um im kurzen Melodram des Wächters zu enden. Ähnlich gibt sich der solistisch beginnende F-Dur-Satz (No. ) eingangs fast wie ein schlichtes Lied, wogegen die verhaltenen G-Dur-Klänge im nächsten Satz (No. ) eher als Missverständnis des Textes anmuten, der vom „Allsieger“ Eros spricht. Schon im lyrischen Ton, den das erste Strophenpaar in No.  anstimmt, mahnen aber weite Sprünge in chromatischer Folge zweimal an das

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dem Geschlecht des Oedipus bestimmte Unheil.⁷⁰ Stößt das Lied in beiden Strophen auf das rhythmisch gestraffte Rezitativ der letzten Verse, so werden die Schlussworte nochmals vom kantablen Bogen der Solostimme überwölbt. Desto wirksamer hebt sich das zweite Strophenpaar als Allegro in f-Moll ab, doch endet es wieder im Rezitativ des Chors, der erstmals mit Hämon, Antigone und Kreon die Hauptpersonen benennt. Entsprechend wird der siegende Eros in No.  nicht in triumphalen Tönen besungen, sondern mit verhaltenen Klängen im Pianissimo. In ihrer sehr hellen Tönung genügen leichte, sonst eher konventionell wirkende Trübungen, um in dezenter Dehnung oder Melismatik auf die ambivalente Korrespondenz der Verse hinzuweisen, die einmal auch mit gegenläufiger Imitation bedacht werden.⁷¹ Doch ist das erste Strophenpaar nur die Folie, vor der sich im zweiten Antigones Klage in g-Moll abhebt. Im Orchester erklingt dazu die punktierte Motivik, die einem Trauermarsch gleicht und noch die Einwürfe des Chores bestimmt. Befremdlich neutral wird im vierten Stasimon (No. ) von Danaes verblassendem Reiz berichtet, und vollends scheint die klangmächtige Anrufung des Baccheus (No. ) dem Kontext des Dramas zu widersprechen. Unübersehbar geht aber der Chorsatz in No.  aus einem Melodram hervor, in dem Antigone und Kreon aufeinander treffen. Wird hier Antigones Part durch vier heftige Einwürfe des Orchesters markiert, so gemahnt der Chor an die strenge Ordnung der Strophen. Nach dem ersten Paar, das in e-Moll noch verhalten an das Geschick der Danae erinnert, verweist das zweite mit melodischen Sprüngen, chromatischen Linien und orchestralen Akzenten auf die „Leiden der Elenden“, ohne Ton- und Taktart wechseln zu müssen. Dagegen ist das fünfte Stasimon (No. ) zwischen die Weissagung des Teiresias und die Wehklagen Kreons als mächtiger Doppelchor eingelagert. Von Böckh als „Chortanz“ bezeichnet, mag er zunächst wie eine kultische Anrufung des Baccheus aus „des Zeus Geschlecht“ klingen. Doch bezieht die Musik ihre Stringenz aus der steigernd wiederholten Anrufung, die sich erst der Entscheidung des Komponisten verdankt.

⁷⁰ Takte – und – („von Geschlecht zu Geschlecht“ und „ein Geschlecht dem Geschlecht“). ⁷¹ Vgl. zu Beginn und am Ende die Worte „Allsieger“ und „böse Schuld“ sowie „Ergriffene“ und „Aphrodite“, ferner die Imitationen in Takt – und – („kein Sterblicher auch“ bzw. „gewinnt im Spiel den Sieg“), die im übrigen motivisch auf das später Antigones Klage begleitende Thema voranweisen.

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Wie sehr sich die Verhältnisse verschoben haben, wird vollends in der Exodos (No. ) greifbar, in der die Musik am Geschehen mehr noch als zuvor teilhat. Einerseits muss hier das Gerüst der Strophen dem Sprecher Kreons im Melodram überlassen bleiben, das vom Orchester intensiver als sonst gestützt wird. Andererseits gewinnen die chorischen Einwürfe, die zum Drama jetzt unmittelbar Stellung beziehen, durch die Prägnanz ihrer Diktion ein eigenes Gewicht. Werden die ersten drei Einsätze durch rhythmische Analogie verkettet, so ist den zwei letzten die Deklamation in halben Noten gemeinsam, die zudem durch variierte Imitationen markiert sind.⁷² Ist der Chor spätestens hier vom „idealisierten Zuschauer“ zum wissenden Teilhaber geworden, so wird das besonders durch die Musik erfahrbar. Und damit entspricht sie der Definition Hegels, der zufolge der Chor „wesentlich zur dramatischen Handlung selbst gehört“.⁷³

 „Nicht die abgestorbenen Vergangenheiten sollen uns wiederkehren; aber was in ihnen Großes und Unvergängliches, das soll mit dem frischesten und lebendigsten Geist der Gegenwart erfasst, von ihm durchdrungen zu neuer, unberechenbarer Wirkung in die Wirklichkeit geführt werden“.⁷⁴ Als Droysen zur ersten öffentlichen Wiederaufführung der Antigone Stellung nahm, formulierte er eine Überzeugung, von der dann sein  publizierter Grundriß der Historik ausging: „Nicht die Vergangenheiten werden hell, sondern was von ihnen unvergangen ist. Diese erweckten Scheine sind ideell die Vergangenheit, sind das geistige Bild der Vergangenheiten“.⁷⁵ Präziser noch hieß es in einer

⁷² ⁷³ ⁷⁴ ⁷⁵

„Gewalt begehrst du“ bzw. „Das bringt die Zukunft“ (Takte ff. und ff.) Hegel, Ästhetik (wie Anm. ), S. . Droysen, a. a. O. (wie Anm. ), S. . Droysen, Grundriß der Historik, in: ders., Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. von Rudolf Hübner, München ⁷, Reprint Darmstadt , S. , Anm. , § .; dazu vgl. die Textvariante in: Historisch-kritische Ausgabe, Bd.  Historik, hg. von Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt , S. . Auf Droysens Grundlegung einer hermeneutischen Historiographie bezog sich Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen ³, S. ff.

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späteren Auflage: „Diese erweckten Scheine sind … die geistige Gegenwart der Vergangenheiten“.⁷⁶ Droysen fuhr  fort: „So die Aufgabe; die herrlichsten Kräfte vereinten sich ihre Lösung zu versuchen. Zuerst der Componist“. Mendelssohn fiel es also zu, mit seiner Musik „die geistige Gegenwart“ einer Tragödie zu vermitteln, die sonst zur toten Vergangenheit gehören müsste. Seine verbale Reaktion mag zunächst etwas naiv klingen: „die Stimmungen all dieser Chöre sind noch heut so ächt musikalisch …, dass sich’s kein Mensch schöner denken könnte zur Composition“. Voran aber ging der nachdenkliche Satz: „Mir war’s merkwürdig, wie es so viel Unveränderliches in der Kunst giebt.“⁷⁷ Das Staunen über eine ferne Vergangenheit, die in der eigenen Lektüre gegenwärtig wird, wirkt wie ein Reflex der theoretischen Reflexionen Droysens. Daraus aber resultiert der Vorsatz, die antike Tragödie in gegenwärtiger Interpretation für andere lebendig werden zu lassen. Das erfassten offenbar wenigstens die Hörer, die nicht puristisch genug waren, um entweder jede Vertonung abzulehnen oder aber eine noch engere Bindung an die Antike zu fordern. Dem Musikhistoriker – und wohl auch dem Gräzisten – ist nicht immer hinreichend bewusst, dass die antike Tragödie mit den Aufführungen in Potsdam und Berlin zum ersten Mal auf die moderne Bühne trat und damit für weitere Kreise zugänglich wurde. Die Paarung des alten Textes mit dieser Musik mag auf den ersten Blick als naiver Anachronismus oder als doppelter Klassizismus erscheinen. Mit Droysen wäre jedoch daran zu erinnern, dass jeder Versuch, einen solchen Text zu verstehen, notwendig eine neue Interpretation unter veränderten Bedingungen sein muss. Anachronistisch wäre es also, nur eine scheinbar antike oder allein eine pointiert moderne Vertonung gelten zu lassen. Als Exempel eines formalen Klassizismus kann das Werk aber nur solange gelten, wie damit die bloße Nachahmung alter Vorbilder gemeint ist. Anders verhält es sich, sobald man Klassizismus – so wie in der Kunstgeschichte – als interpretierende Auseinandersetzung mit der Geschichte versteht.⁷⁸ Sofern Mendelssohns Musik dann klassizistisch genannt werden kann, ⁷⁶ Droysen, Grundriß der Historik, S. , § . Die Prämisse war Droysens These: „Nicht die Summe, die Addition aller Einzelheiten, sondern die erste Zusammenfassung derselben als ein Ganzes …: das ist die erste Quelle“, in: Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, ebd. S. ff. Vgl. auch Historisch-kritische Ausgabe, Bd. , S.  und . ⁷⁷ Vgl. den Brief an David vom . Oktober , in: Briefe aus Leipziger Archiven (wie Anm. ), S. . ⁷⁸ Fr. Krummacher, Art. „Klassizismus“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. ), Sachteil Bd. , Kassel u. a. , Sp. –, sowie die dort genannte Literatur.

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sind ihre klassischen Vorgaben nicht nur mit dem antiken Drama, sondern ebenso in der kompositorischen Tradition seit der Wiener Klassik vorgegeben.⁷⁹ Die Leistung des Komponisten war es, mit seiner Musik zur heiklen Balance zwischen scheinbarer Ferne und gleichzeitiger Vergegenwärtigung der Tragödie beizutragen. Wer die Probleme der Aufgabe ermisst, wird die Eigenart der Lösung um so mehr schätzen, je genauer er die Musik hört. Will man sie nicht nur dem Konzertsaal oder dem „Treibhause gelehrter Kunstübung“ überlassen,⁸⁰ so müsste man für die gesprochenen Anteile falls nicht Donners oder Böckhs Übersetzung, so doch eine dem vertonten Text gemäße Fassung wählen. Was dabei vielleicht noch befremdlicher wirken mag, könnte jedoch die „Gegenwart der Vergangenheiten“ höchst pointiert hervortreten lassen.

⁷⁹ Die Bemerkung, die Musik erinnere „im Ton … unwillkürlich an Gluck“, schränkte Dahlhaus mit dem Zusatz ein, ohne „zitierbare Reminiszenzen“ bleibe ein solcher Ton „ungreifbar“, vgl. „Mendelssohn und die musikalischen Gattungstraditionen“ (wie Anm. ), S. f. ⁸⁰ Zu Schlegels Befürchtung vgl. Anm. .

Schriftenverzeichnis Ernst-Richard Schwinge 1. Die Stellung der Trachinierinnen im Werk des Sophokles, Göttingen  (Hypomnemata ; urspr. Diss. Hamburg ). 2. „Zur Kunsttheorie des Horaz“, Philologus , , –. 3. „Festinata Mors. Zum Ende des taciteischen Agricola“, Rheinisches Museum für Philologie , , –. 4. Rez. zu: T. G. Rosenmeyer, The Masks of Tragedy, Austin ; in: Gnomon , , –. 5. „Horaz, Carmen , “, Hermes , , –. 6.  Artikel über das Gebiet Griechische Tragödie, Griechisches Theater; in: Lexikon der Alten Welt, hrsg. von C. Andresen u. a., Zürich und Stuttgart . 7. Rez. zu: T. C. W. Stinton, Euripides and the Judgement of Paris, London ; in: Gnomon , , –. 8. Einleitung zu: Euripides, hrsg. von Ernst-Richard Schwinge, Darmstadt  (Wege der Forschung ), VI–XVIII. 9. Die Verwendung der Stichomythie in den Dramen des Euripides, Heidelberg  (urspr. Habilitationsschrift Tübingen ). 10. „Abermals: Die ‚Elektren‘“, Rheinisches Museum für Philologie , , –. 11. „Die Schlacht bei Bedriacum. Ein Beitrag zur Frage der historischen Wahrheit bei Tacitus“, in: Silvae. Festschrift für Ernst Zinn, Tübingen , –. 12. Rez. zu: Rhesos. Tragödie eines unbekannten Dichters, griechisch und deutsch von D. Ebener, Berlin ; in: Gnomon , , –. 13. „Zwei sprachliche Bemerkungen zu Euripides’ Alkestis“, Glotta , , –. 14. Rez. zu: H. Rohdich, Die Euripideische Tragödie. Untersuchungen zu ihrer Tragik, Heidelberg ; in: Poetica , , –. 15. „Die Rolle des Chors in der sophokleischen Antigone“, Gymnasium , , –. 16. „Euripides. Essay“, in: Die Großen der Weltgeschichte, hrsg. von K. Fassmann, Bd. I, Zürich , –. 17. Rez. zu: A. A. Long, Language and Thought in Sophocles. A Study of Abstract Nouns and Poetic Technique, London ; in: Gymnasium , , –.

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18. Rez. zu: M. Imhof, Euripides’ Ion. Eine literarische Studie, Bern und München ; in: Gnomon , , –. 19. Rez. zu: A. Vögler, Vergleichende Studien zur sophokleischen und euripideischen Elektra, Heidelberg ; in: Gnomon , , –. 20. „Theokrits ‚Dichterweihe‘ (id. )“, Philologus , , – (urspr. Antrittsvorlesung Tübingen ). 21. „Zur Ästhetik der aristophanischen Komödie am Beispiel der Ritter“, Maia , , –. 22. „Kritik und Komik. Gedanken zur Aristophanes’ Wespen“, in: Dialogos. Festschrift für Harald Patzer, Wiesbaden , –. 23. Rez. zu: G. Jäger, Einführung in die Klassische Philologie, München , in: Gnomon , , –. 24. Rez. zu: L. Bergson, Die Relativität der Werte im Frühwerk des Euripides, Stockholm ; in: Gnomon , , –. 25. „Aristophanes und die Utopie“, Würzburger Jahrbücher N. F. , , – (urspr. Antrittsvorlesung Kiel ). 26. Rez. zu: J. de Romilly, Magic and Rhetoric in Ancient Greece, Cambridge, Mass./London ; in: Gnomon , , –. 27. „Poetik als praktizierte Poetik: Kallimachos’ Echo-Epigramm ( Pf.)“, Würzburger Jahrbücher N. F. a,  (Festschrift für Hartmut Erbse, hrsg. von Joachim Latacz, Klaus Nickau, Günter Neumann, Ernst-Richard Schwinge, Ernst Siegmann), –. 28. „Homer, Ilias“, in: H. Brackert/J. Stückrath (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Grundkurs , Reinbek bei Hamburg , –. 29. „Griechische Poesie und die Lehre von der Gattungstrinität in der Moderne. Zur gattungstheoretischen Problematik antiker Literatur“, Antike & Abendland , , –. 30. „Anmerkungen zu Goethes Gattungstheorie“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte , , –. 31. Rez. zu: A. Demandt, Metapher für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München ; in: Gnomon , , –. 32. „Alte Komödie und attische Demokratie. Notizen zu ihrer Interdependenz“, in: W. Barner u. a. (Hrsg.), Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum . Geburtstag, München , –. 33. „Wilamowitz und das Verständnis der hellenistischen Poesie“, in: W. M. Calder III, H. Flashar, T. Lindken (Hrsg.), Wilamowitz nach  Jahren, Darmstadt , –.

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34. Künstlichkeit von Kunst. Zur Geschichtlichkeit der alexandrinischen Poesie, München  (Zetemata ). 35. Goethe und die Poesie der Griechen, Abh. Mainz , Nr. . 36. Rez. zu: Gnomosyne. Menschliches Denken und Handeln in der frühgriechischen Literatur. Festschrift für W. Marg zum . Geburtstag, München ; in: AAHG , , –. 37. „Aischylos, Sophokles, Euripides – ein Vergleich“, Christiana Albertina. Forschungsbericht und Halbjahresschrift der Universität Kiel, Heft , , –. 38. Rez. zu: C. W. Müller, Erysichthon. Der Mythos als narrative Metapher im Demeterhymnos des Kallimachos, Abh. Mainz /; in: Göttingische Gelehrte Anzeigen , , –. 39. „Aristoteles und die Gattungsdifferenz von Epos und Drama“, Poetica , , –. 40. Rez. zu: C. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München ; in: Gnomon , , –. 41. „Homerische Epen und Erzählforschung“, in: J. Latacz (Hrsg.), Zweihundert Jahre Homer-Forschung, Stuttgart/Leipzig  (Colloquium Rauricum ), –. 42. Rez. zu: U. Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München ; in: Göttingische Gelehrte Anzeigen , , –. 43. „Griechische Helle im grauen Norden: Die Athena-Statue in der Kieler Gelehrtenschule“, in: W. Paravicini (Hrsg.), Begegnungen mit Kiel. Gabe der Christian-Albrechts-Universität zur  Jahr-Feier der Stadt, Neumünster , –. 44. „Griechische Tragödie: Das Problem ihrer Zeitlichkeit“, Antike & Abendland , , –. 45. Die Odyssee – nach den Odysseen. Betrachtungen zu ihrer individuellen Physiognomie, Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Hamburg, Nr. , Göttingen . 46. „Griechiche Tragödie: Das Problem ihrer Zeitlichkeit“, in: E. Pöhlmann/W. Gauer, Griechische Klassik. Vorträge bei der interdisziplinären Tagung des Deutschen Archäologenverbandes und der Mommsen-Gesellschaft vom .–.. in Blaubeuren, Nürnberg  (Erlanger Beiträge zur Sprache, Literatur und Kunst ), – (Wiederabdruck von Nr. 44). 47. Rez. zu: J. Gregory, Euripides and the Instruction of the Athenians, Ann Arbor ; in: Gnomon , , –.

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48. „Das Menschenbild der griechischen Tragödie“, in: Christiana Albertina. Forschungsbericht und Halbjahresschrift der Universität Kiel, Heft , , –. 49. Rez. zu: Peter Riemer, Sophokles, Antigone – Götterwille und menschliche Freiheit, Abh. Mainz , Nr. ; in: Gnomon , , –. 50. Einleitung zu: U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische Literatur des Altertums, ³, Nachdruck: Stuttgart u. Leipzig , III–VIII. 51. Die Wissenschaften vom Altertum am Ende des . Jahrtausends n. Chr.  Vorträge gehalten auf der Tagung der Mommsen-Gesellschaft in Marburg usw., hrsg. von Ernst-Richard Schwinge, Stuttgart/Leipzig . 52. „Aristoteles über Struktur und Sujet der Tragödie. Zum . Kapitel der Poetik“, Rheinisches Museum für Philologie , , –. 53. Rez. zu: K. H. Kinzl (Hrsg.), Demokratia. Der Weg zur Demokratie bei den Griechen, Darmstadt  (Wege der Forschung Bd. ); in: Das Historisch-Politische Buch , , . 54. „Zu Thukydides’ historischer Erzählung“, Poetica , , –. 55. „Epilog“, in: H. Flashar (Hrsg.), Tragödie, Idee und Transformation, Stuttgart/Leipzig  (Colloquium Rauricum Bd. ), –. 56. Griechische Tragödie und zeitgenössische Rezeption: Aristophanes und Gorgias. Zur Frage einer angemessenen Tragödiendeutung, Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Hamburg, Jg. , , Heft , Hamburg . 57. „Tyrtaios über seine Dichtung (Fr.  G.-P. =  W.)“, Hermes , , –. 58. Rez. zu: P. von Möllendorff, Grundlagen einer Ästhetik der Alten Komödie. Untersuchungen zu Aristophanes und Michail Bachtin, Tübingen  (Classica Monacensia ); in: Göttingische Gelehrte Anzeigen , , –. 59. Rez. zu: E. Heitsch, Geschichte und Situationen bei Thukydides, Stuttgart/ Leipzig  (Beiträge zur Altertumskunde ); in: Gnomon , , –. 60. Rez. zu: H. G. Günther/A. Rengakos (Hrsg.), Beiträge zur antiken Philosophie. Festschrift für Wolfgang Kullmann, Stuttgart ; in: Das HistorischPolitische Buch , , –. 61. Rez. zu: P. Scholz, Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philosophie und Politik im . und . Jahrhundert v. Chr., Stuttgart ; in: Das Historisch-Politische Buch , , –.

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62. „Merkwürdigkeiten in Euripides’ Medea (zu –)“, in: ARS PHILOLOGICA. Festschrift für Baldur Panzer zum . Geburtstag, hrsg. von Karsten Grünberg und Wilfried Potthoff, Frankfurt am Main-BerlinBern-New York-Paris-Wien , –. 63. Rez. zu: Jürgen von Ungern-Sternberg/Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt“, Historische Mitteilungen, Beiheft , Stuttgart ; in: Das Historisch-Politische Buch , , f. 64. Rez. zu: Harald Patzer, Die Formgesetze des homerischen Epos, Stuttgart ; in: Gnomon , , –. 65. Rez. zu: Hans-Joachim Gehrke (Hrsg.), Alfred Heuß. Ansichten seines Lebenswerkes, Stuttgart ; in: Das Historisch-Politische Buch , , –. 66. „Ich bin nicht Goethe“. Johann Gottfried Herder und die Antike, Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Hamburg, Jahrgang , Heft , Hamburg . 67. Rez. zu: Apollonios von Rhodos, Das Argonautenepos. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Reinhold Glei und Stepanie Natzel-Glei,  Bde., Darmstadt ; in: Interntional Journal of the Classical Tradition , , –. 68. Rez. zu: Stefan Kipf, Herodot als Schulautor. Ein Beitrag zur Geschichte des Griechischunterrichts in Deutschland vom . bis zum . Jahrhundert, Köln ; in: Das Historisch-Politische Buch , , f. 69. Rez. zu: Anikó Szabó, Vertreibung, Rückkehr, Wiedergutmachung. Göttinger Hochschullehrer im Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen ; in: Das Historisch-Politische Buch , , f. 70. Rez. zu: Bernhard Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie. Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart, Frankfurt/Main ; in: Das Historisch-Politische Buch , , f. 71. Wolfgang Schadewaldts Studien zu Goethe, Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Hamburg, Jahrgang , Heft , Hamburg . 72. Rez. zu: Reinhold Bichler, Herodots Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder und Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte, Berlin ; in: Das Historisch-Politische Buch , , f. 73. Rez. zu: Reinhold Bichler, Robert Rollinger, Herodot, Hildesheim  (Studienbücher Antike Bd. ); in: Das Historisch-Politische Buch , , .



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74. “Ο Όμηρος στα χρόνια του Γκαίτε”, in: Η ΚΑΘΗΜΕΡΙΝΗ, Επτα ΗΜΕΡΕΣ,  ΣΕΠΤΕΜΒΡΙΟΥ , – (neugriechisch: Homer in der Goethezeit). 75. Rez. zu: G. Danek, Epos und Zitat. Studien zu den Quellen der Odyssee, Wien  (Wiener Studien. Beiheft ); in: Gnomon , , –. 76. Rez. zu: Veit Rosenberger, Griechische Orakel. Eine Kulturgeschichte, Stuttgart ; in: Das Historisch-Politische Buch , , . 77. Rez. zu: Marion Giebel, Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte (Griechisch/Deutsch), Leipzig ; in: Das Historisch-Politische Buch , , f. 78. Rez. zu: Karl-Wilhelm Welwei, Polis und Arché. Kleine Schriften zu Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen in der griechischen Welt, hrsg.von Mischa Meier, Stuttgart  (Historia Einzelschriften ); in: Das Historisch-Politische Buch , , . 79. „Προλεγόμενα στον Όμηρο: Η κλασσική φιλολογία στην εποχή του Goethe“, in: ΝΕΚΡΑ ΓΡΑΜΜΑΤΑ; ΟΙ ΚΛΑΣΣΙΚΕΣ ΣΠΟΥΔΕΣ ΣΤΟΝ 21 ο ΑΙΩΝΑ, επιμέλεια Αντώνης Ρεγκάκος, Athen , – (= Nr. 74). 80. „Aristophanes und Euripides“, in: A. Ercolani (Hrsg.), Spoudaiogeloion. Form und Funktion der Verspottung in der aristophanischen Komödie, Stuttgart  (Drama. Beiträge zum antiken Drama und seiner Rezeption ), –. 81. „Zur individuellen Physiognomie der Odyssee. Vortrag“, Mitteilungen Deutscher Altphilologenverband, Landesverband Baden-Württemberg , Heft , , – . 82. Rez. zu: Johann P. Arnason, Peter Murphy (Hrsg.), Agon, Logos, Polis. The Achievement and its Aftermath, Stuttgart ; in: Das Historisch-Politische Buch , , . 83. Rez. zu: Uwe Beyer, Ursula Brauer, „Streit und Frieden hat seine Zeit.“ Hölderlins Entwicklung seiner Geschichtsphilosophie aus der Anschauung der Gegegenwart (Fünf Zeitgedichte vor ), Stuttgart ; in: Das Historisch-Politische Buch , , . 84. Rez. zu: Jürgen Dummer, Meinolf Vielberg (Hrsg.), Leitbilder in der Diskussion, Stuttgart  (Altertumswissenschaftliches Kolloquium ); in: Das Historisch-Politische Buch , , f. 85. Rez. zu: Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit. Band : Die Griechen ( Teilbände), Stuttgart ; in: Das Historisch-Politische Buch , , f.

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

86. „‚Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter‘? Beobachtungen zu Hölderlins Hyperion“, in: W. Frick u. a. (Hrsg.), Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum . Geburtstag, Tübingen , –. 87. Rez. zu: Irene Polke, Selbstreflexion im Spiegel des Anderen. Eine wirkungsgeschichtliche Studie zum Hellenismusbild Heynes und Herders, Würzburg ; in: Göttingische Gelehrte Anzeigen , , –. 88. „Schillers Tragikkonzept und die Tragödie der Griechen“, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft , , –. 89. „Medea bei Euripides und Christa Wolf“, Poetica , , –. 90. „Wer tötete Medeas Kinder? Einige Bemerkungen zu Euripides, Kreophylos und Christa Wolf“, in: A. Bierl/A. Schmitt/A. Willi (Hrsg.), Antike Literatur in neuer Deutung. Festschrift für Joachim Latacz, München/Leipzig , –. 91. Rez. zu: Susanne Moraw/Eckehart Nölle (Hrsg.), Die Geburt des Theaters in der griechischen Antike, Mainz ; in: Das Historisch-Politische Buch , , f. 92. Rez. zu: Holger Sonnabend, Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta, Stuttgart ; in: Das Historisch-Politische Buch , , . 93. Rez. zu: Karen Piepenbrink, Politische Ordnungskonzeptionen in der attischen Demokratie des vierten Jahrhunderts v. Chr. Eine vergleichende Untersuchung zum philosophischen und rhetorischen Diskurs, Stuttgart  (Historia Einzelschriften ); in: Das Historisch-Politische Buch , ,  . 94. Rez. zu: Andrew Ford, The Origins of Criticism. Literary Culture and Poetic Theory in Classical Greece, Princeton, N. J./Oxford ; in: Gnomon , , –. 95. Schiller und die griechische Tragödie, Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Hamburg, Jahrgang , , Heft , Hamburg . 96. „Wolfgang Schadewaldts Studien zu Goethe“, in: Th. A. Szlezák (Hrsg.), Wolfgang Schadewaldt und die Gräzistik des . Jahrhunderts, Hildesheim/Zürich / New York  (Spudasmata ), – (Wiederabdruck von Nr. ). 97. Rez. zu: Salvatore Settis, Die Zukunft des Klassischen. Eine Idee im Wandel der Zeiten, Berlin ; in: Das Historisch-Politische Buch , , f.



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98. „Schiller und die griechische Tragödie“, in: H. Feger (Hrsg.), Friedrich Schiller. Die Realität des Idealisten, Heidelberg , – (Wiederabdruck von Nr. ). 99. Rez. zu: Markus Janka, Dialog der Tragiker. Liebe, Wahn und Erkenntnis in Sophokles’ Trachinierinnen und Euripides’ Hippolytos, München/ Leipzig  (Beiträge zur Altertumskunde ); in: Gnomon , , –. 100. Rez. zu: Jürgen Dummer, Philologia sacra et profana. Ausgewählte Beiträge zur Antike und zu ihrer Wirkungsgeschichte, hrsg. von Meinolf Vielberg, Stuttgart  (Altertumswissenschaftliches Kolloqium ); in: Das Historisch-Politische Buch , , . 101. „Die Großstruktur der Epen“, in: J. Latacz u. a. (Hrsg.), Homer. Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst, München , –. 102. Komplexität und Transparenz. Thukydides: Eine Leseanleitung, Heidelberg  (Bibliothek der Klassischen Altertumswissenschaften ). 103. Rez. zu: Martin Hose, Euripides. Der Dichter der Leidenschaften, München ; in: Das Historisch-Politische Buch , , . 104. „Schiller und die griechische Tragödie“, in: P. Chiarini/W. Hinderer (Hrsg.), Schiller und die Antike, Würzburg  (Stiftung für Romantikforschung ), – (Wiederabdruck von Nr. ). 105. Rez. zu: Ernst Osterkamp: Gewalt und Gestalt. Die Antike im Spätwerk Goethes, Basel  (Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen ); in: Goethe–Jahrbuch , , f. 106. Rez. zu: M. Bernett/W. Nippel/A. Winterling (Hrsg), Christian Meier zur Diskussion. Autorenkolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, Stuttgart ; in: Das Historisch-Politische Buch , , . 107. „Die Hoffnung im Faß. Abermals Hesiods Pandorageschichte“, Hermes , , –. 108. Rez. zu: Caroline Alexander, Der Krieg des Achill. Die ILIAS und ihre Geschichte, Berlin ; in: Das Historisch-Politische Buch , , f. 109. Rez. zu: K.-J. Hölkeskamp/S. Rebenich (Hrsg.), Phaëthon. Ein Mythos in Antike und Moderne, Stuttgart ; in: Das Historisch-Politische Buch , , f. 110. „Uralte Gegenwart“. Studien zu Antikerezeptionen in Deutschland, Freiburg i.Br./Berlin/Wien  (Paradeigmata ). 111. Rez. zu: M. Zimmermann, Pergamon. Geschichte, Kultur, Archäologie, München ; in: Das Historisch-Politische Buch , .

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

112. Rez. zu: Tanja S. Scheer, Griechische Geschlechtergeschichte, München  (Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike, Bd. ); in: Das Historisch-Politische Buch , . 113. Rez. zu: M. Vielberg (Hrsg.), Die klassische Altertumswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Eine Ringvorlesung zu ihrer Geschichte, Stuttgart ; in: Das Historisch-Politische Buch , . 114. „Hesiods Geschichte von den Menschengeschlechtern (Erg. –)“, Gymnasium , , –. 115. „Kunst und Wirklichkeit in Aristoteles’ Poetik“, Rheinisches Museum für Philologie , , –.