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German Pages 634 Year 1989
Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortu ng Festschrift für Karl Josef Partsch zum 75. Geburtstag
Foto: Christian Sirrenberg
Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung Festschrift für Karl Josef Partsch zum 75. Geburtstag
herausgegeben von
Jürgen Jekewitz · Karl Heinz Klein Jörg Detlef Kühne· Hans Petersmann Rüdiger Wolfrum
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes, Bonn und der Otto-Bagge-Stiftung, Kiel
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung: Festschrift für Kar! Josef Pansch zum 75. Geburtstag I hrsg. von Jürgen Jekewitz ... - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 ISBN 3-428-06672-3 NE: Jekewitz, Jürgen [Hrsg.]; Pansch, Kar! Josef: Festschrift
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45; Druck: W. Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3-428-06672-3
Inhalt Zueignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Akademische Tätigkeiten
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Internationale Tätigkeiten
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Betreute Dissertationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII
I. Universeller Menschenrechtsschutz 1. Grundlagen Menschenrechte auf der Insel Nirgendwo Von Fritz Caspari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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La definition des devoirs des individus par !es instruments internationaux protegeant !es droits de l'homme Par Alexandre Kiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Reflections on the Charter of the United Nations By R. St. J. Macdonald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
Überstaatliche Menschenrechte: Prinzip und Wirklichkeit Von Werner von Simson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
The Progressive Development of Human Rights: A Critical Appraisal of Recent UN Elforts By Rüdiger Wolfrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . .
67
2. Einzelgewährleistungen und -fragen Völkerrechtliche Verbote der Diskriminierung von Individuen Von Rudolf Bernhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Religious Freedom in International Perspective: Existing and Future Standards By Theo van Boven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Taxation under Belligerent Occupation By Yoram Dinstein . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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The Right to Development in the United Nations: An Opportunity for Strengthening Popular Participation in Development. Programs and Projects By Hans Petersmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . • • .
125
Die Neutralität des Roten Kreuzes Von Dietrich Schindler . . . • . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
Völkerrecht und Politik auf den Internationalen Rotkreuzkonferenzen Von Anton Schlögel . • . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
La protection des volontaires humanitaires dans les conflits armes non inter· nationaux et dans les operations de secours en cas de catastrophes Par Erik Suy . . . . . . . • • . . . • . . • . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . • • .
173
Das Recht auf die Heimat. Neue rechtliche Aspekte Von Christian Tomuschat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
3. Umsetzung und Verfahren The Exhaustion of Local Remedies Rule and the International Protection of Human Rights. A Plea for a Contextual Approach By Jost Delbrück . • . . . • . . . • . . . . . . • . . . • . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . .
213
Human Rights and United States Foreign Policy By Louis Henkin . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . .
233
Jurisdiktion und Konsens der Parteien. Bemerkungen zu den relativen Grenzen der internationalen Gerichtsbarkeit Von Hermann Mosler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253
The Choice of Civil or Criminal Sanctions in Dealing with Racial Discrimination By Fred L. Morrison . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
263
The General Comments of the Human Rights Committee By Torkel Opsahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . .
273
Human Rights Complaint Procedures of the United Nations: Assessment and Prospects By M. E. Tardu . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . .
287
Inhalt
VII
II. Menschenrechtsschutz in Europa Entschädigung für Verletzungen von Grundrechten Von Jochen Abr. Frowein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
317
Vier Glossen zur Einheitlichen Europäischen Akte Von Hans Peter Ipsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
327
Die Menschenrechte im klassischen europäischen Völkerrecht. Über frühe Ansätze zur Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes Von Horst Risse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343
Die deutschen Bundesländer und die Europäischen Gemeinschaften nach der Einheitlichen Europäischen Akte Von Walter Rudolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
357
111. Nationaler Grundrechtsbereich Native American Land Treaties: A Prospective View By John Carey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
379
Der Internationale Suchdienst in Arolsen - eine humanitäre Institution im Dienste von Opfern des Zweiten Weltkrieges Von Hans-Peter Gasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
389
Der Schutz Dritter im parlamentarischen Untersuchungsverfahren Von Jürgen Jekewitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
403
Grundrechtsgefährdende Tendenzen im Gewerberecht der Bundesrepublik Deutschland Von Karl Heinz Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
425
Subventionspraxis wider Koalitionsfreiheit - Konkursvermeidung durch Grundrechtskonkurs? Von Jörg-Detlef Kühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
441
Die Grundrechte in der türkischen Verfassungsgeschichte Von Hubertus von Morr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
459
Gleichheitsprobleme bei der Beseitigung der Rassendiskriminierung in den USA Von Jost Pietzcker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VIII
Inhalt
IV. Verwandte Aspekte Internationale Organisationen und das Rechtsstaatsprinzip Von Michael Bothe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
493
Intention und historisch-politische Motivation der Verfassungsväter Von Erhard Denninger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
515
Staatliche Zahlungsunfähigkeit: Zum Begriff und zu den Rechtsfolgen im Völkerrecht Von Rudolf Dolzer . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
531
Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates. Arbeitsthesen zur Verfassungslehre als juristischer Text- und Kulturwissenschaft Von Peter Häberle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . .
555
Bundesbehördlicher Vollzug von Landesrecht am Beispiel des naturschutzrechtlichen Eingriffs- und Ausgleichsverfahrens Von Jürgen Salzwedel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
581
Verzeichnis der Veröffentlichungen von Karl Josef Partsch . . . . . . . . . . . . .
599
Verzeichnis der Herausgeber und Verfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . .
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Zueignung Das Lebenswerk des Mannes, dem diese Festschrift gewidmet ist, wurde wesentlich von dem Bemühen um die Verbesserung und Durchsetzung des Menschenrechtsschutzes auf nationaler und internationaler Ebene geprägt. Es ist daher vertretbar, diesen Themenkomplex in den Mittelpunkt der Festschrift zu stellen, auch wenn damit vielleicht die anderen, vielfältigen wissenschaftlichen Interessen des Jubilars vernachlässigt werden. Karl Josef Partsch hat es auf seinem Lebensweg - und dies ist zugleich ein prägendes Element seines beruflichen Werdeganges - wie nur wenige verstanden, Wissenschaft und Praxis miteinander zu verbinden. Man kann mit einiger Berechtigung sagen, daß er einen großen Teil seiner schöpferischen Kraft gerade aus dieser Verbindung gezogen hat. Sein wissenschaftlichesWerk ist thematisch und methodisch durch seine Arbeit in der Praxis stark geprägt worden: Die thematische Verknüpfung liegt auf der Hand -man vergleiche nur seine internationalen diplomatischen Aktivitäten mit der reichen Fülle an Beiträgen zum völkerrechtlichen Schrifttum. Methodisch verdankt die wissenschaftliche Arbeit seiner Völkerrechtspraxis sicher, daß in seinem wissenschaftlichen Werk der Gesichtspunkt der politischen Realisierbarkeil nie aus dem Auge verloren wird, ohne jedoch je zu dominieren. Genauso hat aber auch der Praktiker Partsch vom Wissenschaftler profitiert, der Einfluß wirkte auch in die Gegenrichtung. Bei seiner Arbeit in den verschiedenen internationalen Gremien -vor allem in denjenigen, die der internationalen Durchsetzung von Menschenrechten dienen -hat sich der Jubilar stets seine persönliche Unabhängigkeit als Wissenschaftler und Völkerrechtler bewahrt. In seiner tiefen Bindung an Recht, Objektivität und Neutralität widerstrebte er Kompromissen. Gegenüber denjenigen, die bereit sind, die Verwirklichung der Menschenrechte politischen Opportunitätsgesichtspunkten zu opfern, hat er es an prononcierter Sprache nie fehlen lassen. Das Feld der internationalen Tätigkeiten von Karl Josef Partsch ist weit. Sie forderten ihn in unterschiedlicher Eigenschaft, sei es als Mitwirkenden bei der Verhandlung von Verträgen und Konventionen oder in Gremien zur völkerrechtlichen Durchsetzung von Menschenrechten. Von 1951 bis 1953 war er Mitglied der deutschen Delegation bei den Verhandlungen des Vertrages über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
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Zueignung
den Drei Mächten, 1953 war er Delegierter auf dem Zweiten Kongreß der Europäischen Bewegung im Haag, und 1955 wirkte er im Rechtsausschuß der Revisionskonferenz des GATI mit. Den Fragen eines internationalen Menschenrechtsschutzes widmete sich Karl Josef Partsch auf dem Seminar der Vereinten Nationen über die Verwirklichung sozialer Menschenrechte in Warschau (1967), an dem er als Delegationsleiter teilnahm, und auf der Internationalen Konferenz für Menschenrechte in Teheran (1968). 1969noch vor dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen - wurde er als Mitglied in den Internationalen Ausschuß für die Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung bei den Vereinten Nationen gewählt (in den er dann auch als einziges Mitglied ununterbrochen wiedergewählt wurde); 1978/79 und seit 1988 wirkte er als Vizepräsident dieses Ausschusses, 1979-1986 als sein Berichterstatter. Daneben traten weitere Aufgaben. Mit der Diplomatischen Konferenz zur Bestätigung und Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts in den bewaffneten Konflikten, der der Jubilar als Rechtsberater der deutschen Delegation und Sprecher in der 1. Kommission angehörte, eröffnete sich ihm ein neuer Themenkomplex. Unmittelbare Frucht der Konferenzarbeit war der mit Michael Bothe und W aldemar Solf zusammen herausgegebene Kommentar zu den beiden Zusatzprotokollen. Seit 1981 ist Karl Josef Partsch Mitglied im Menschenrechtsausschuß des Exekutivrats der UNESCO, und seit 1982 war er Rechtsberater der deutschen Delegation bei den Generalkonferenzen der UNESCO (1982, 1983, 1985, 1987). Die Themen der wissenschaftlichen Publikationen aus dem Bereich des Völkerrechts reichen vom Menschenrechtsschutz über Rassendiskriminierung, den Schutz von Minderheiten, das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, den Schutz in bewaffneten Konflikten, die wirtschaftliche Zusammenarbeit bis hin zur internationalen wissenschaftlichen Kooperation. Vor allem für den Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes, aber nicht nur für diesen, hat Karl Josef Partsch Grundaussagen erarbeitet, die auch heute noch uneingeschränkt gültig sind. Er hat in der völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Diskussion unmittelbar nach dem Weltkrieg als erster auf den engen geistigen und rechtlichen Zusammenhang aufmerksam gemacht, aus dem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Europäische Menschenrechtskonvention, die Internationalen Menschenrechtspakte sowie der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes entstanden sind. Bürger- und Menschenrechte gehören für ihn zur unverzichtbaren europäischen Tradition. Sie sind Ausdruck dafür, daß bestimmte Lebensbereiche aus dem Einflußbereich der Staatsgewalt ausgegliedert sind und die Ausübung der Staatsgewalt gegenüber Bürgern und Ausländern völker- und staatsrechtlichen Schranken unterworfen ist. In der ersten nach dem 2. Weltkrieg verwirklichten Entwicklung des internationalen Men-
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XI
schenrechtsschutzes sieht er eine zwingend notwendige Ergänzung und Sicherung der Gewährleistung von Menschenrechten in nationalen Verfassungen. Schon früh (1948) vertrat er die Meinung, daß das Völkerrecht insoweit dem innerstaatlichen Recht vorgeht. Nie gezögert hat der Jubilar bis in die jüngste Zeit, vor Fehlentwicklungen - etwa bei der Kodifikation von neuen Menschenrechten- zu warnen. In der Diskussion um die Anreicherung der Menschenrechtskataloge um eine sog.• dritte Generation von Menschenrechten" - etwa auf Entwicklung, auf Frieden und Umweltschutz - warnt er in deutlicher Sprache vor einer Gefährdung des mit den Internationalen Menschenrechtspakten und der Rassendiskriminierungskonvention bereits erreichten Schutzstandards, womit ein wirklicher Beitrag zur Förderung der Entwicklungsländer oder der Friedenssicherung dann nicht mehr erreicht würde. So ist eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Wesensfragen des Menschenrechtsschutzes heute ohne die Würdigung der menschenrechtliehen Arbeiten von Karl Josef Partsch kaum mehr möglich: Das zeigen auch die in dieser Festschrift abgedruckten Beiträge. Immer wieder hat sich Karl Josef Partsch in seinem wissenschaftlichen Werk mit dem Verhältnis von Landesrecht und Völkerrecht auseinandergesetzt Umfassend wurde das Problem in dem von ihm 1964 erstellten Bericht der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht aufgearbeitet, in dem er die Vorzüge der Vollzugs- vor der Transformationslehre belegt. Inzwischen folgt auch das Bundesverfassungsgericht diesem Ansatz. Internationales und nationales Recht lassen sich bei Karl Josef Partsch nie streng trennen, seit er sich nach 1945 endgültig vom Zivilrecht ab- und dem öffentlichen Recht zugewandt hat. Durch die Freiburger Schule von Eucken und Großman-Doerth war er mit den Methoden der Rechtstatsachenforschung vertraut gemacht worden, die er in seine Arbeiten zum Staats- und Verwaltungsrecht eingebracht hat. Dazu haben die Institutionen wie die Personen, in denen und mit denen er seine Erfahrungen erwarb, wesentlich beigetragen. Das waren nach Referendarzeit und Assessorexamen 1948 zunächst der Deutsche Städtetag mit Peter van Aubel und Hermann Heimerieb sowie das von diesem getragene Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten in Frankfurt am Main. Dieses Institut war eine von den Amerikanern angeregte, jedoch zu einem eigenen deutschen Beitrag zur institutionellen Absicherung der jungen Demokratie genutzte Gründung der kommunalen Spitzenverbände, welche ihrerseits die ersten nach 1945 zonen-und länderübergreifenden Verbände waren. Seine Aufgabe sah dieses Institut in Arbeitstagungen, in der Herausgabe größerer wissenschaftlicher Werke und in der Verbreitung kleinerer allgemeinverständlicher Schriften. Als Verfassungsreferent des Städtetages hatte Partsch an dieser Arbeit wesentlichen Anteil; er hat sich dazu in der Festschrift für Heimerieb geäußert.
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Zueignung
Aus seiner konkreten Arbeit beim Städtetag stammen die ersten Veröffentlichungen zum Staatsrecht; die dort gemachten Erfahrungen und geweckten Interessen wirkten auch in die Zeit nach 1950 hinein, als er mit Erich Kaufmann, der zum Rechtsberater des gerade entstehenden Auswärtigen Amtes berufen worden war, als Mitarbeiter nach Bonn ging: Einige der von Karl Josef Partschangesprochenen Fragestellungen sind heute - in seinem Sinne - gelöst, andere werden immer noch kontrovers diskutiert. Eines der ersten staatsrechtlichen Themen, die der Jubilar aufgegriffen hat, ist die Inkompatibilität von Landesministeramt und Bundestagsmandat Es warf bei der Konstituierung des ersten Deutschen Bundestages für einzelne Landesregierungen Probleme auf; in der Praxis hat sich aber die von Partsch bereits 1949 und 1950 verfochtene Ansicht der Unvereinbarkeit von der Mitgliedschaft in einem Landeskabinett und in dem Bundestag durchgesetzt. Einen anderen Schlüssel zum Verständnis seines Interessenschwerpunktes in jenen Jahren bildet der gemeinsam mit Ernst Friesenhahn erstellte Beitrag zur Staatsrechtslehrertagung 1957 zum Thema: .Parlament und Regierung im modernen Staat" sowie seine Auseinandersetzung mit dem bekannten Urteil des niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 19. Dezember 1957. Auch hat das Gutachten für den 45. Deutschen Juristentag 1964 mit dem Thema .Empfiehlt es sich, Funktion, Struktur und Verfahren der Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse grundlegend zu ändern?" bis heute nicht an Aktualität verloren. In unübertroffener Klarheit wird das vorhandene Material geordnet, ausgebreitet und analysiert, um, ausgehend von dieser in jedem Punkt belegten Analyse, zu konkreten Vorschlägen zum Recht der Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zu kommen. Alle wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Themenkreis, ebenso wie die entsprechende Judikatur, haben auf dieses Gutachten verwiesen. Neben seine wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet des Staatsrechts trat auch hier die Politikberatung in weitestem Sinn: Der Deutsche Bundestag berief ihn in die Enquete-Kommission Verfassungsreform, zu deren erstem Arbeitsabschnitt er wichtige Teile beitrug. Seine Ausarbeitung über die Delegation der Gesetzgebungsbefugnis auf Parlamentsausschüsse am Beispiel des italienischen Parlaments vermittelt weiterhin gültige Einsichten. Das gedruckte, vorliegende, nachzulesende Oeuvre des Jubilars erschließt jedoch nur eine Hälfte seiner Persönlichkeit. Stärker und farbiger als in der Disziplin des schriftlichen Ausdrucks kommt sein erzählerisches Talent, das Anschaulichmachenkönnen von Situationen und Charakteren, in der direkten Begegnung zum Tragen. Vor allem seine Freunde, seine Doktoranden und seine .Studienstiftler" wissen davon zu berichten. Und ohne diesen Kreis von Schülern und Lernenden, die er, ein Anachronismus in einer Zeit der behaupteten Bindungslosigkeit, seit Jahren regelmäßig
Zueignung
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einmal im Monat um sich zu versammeln pflegt, wäre Karl Josef Partsch nicht er selbst. Niemand, der einmal dabei war, wird diese Samstagnachmittage und-abendemissen mögen, in denen freimütig Kritik, Witz und Schlagfertigkeit gefordert sind und eine weitere Juristengeneration entscheidend geprägt wurde. Im Geiste solcher Freundschaft möge dieses Buch seiner Freunde nun vom Jubilar als Zeichen des Dankes verstanden werden. Jürgen Jekewitz, Karl Heinz Klein, Jörg-Detlef Kühne Hans Petersmann, Rüdiger Wolfrum
Akademische Tätigkeiten Universitäten Auswärtige Vorlesungen
Vorträge an auswärtigen akademischen Institutionen
1953-1957 Istituto Universitario Privatdozent di Studi Europei, Turin Univ. Bonn (1956)
Neapel (1956, 1957) Reggio Calabria (1956) Bari (1957) 1957: Berlin 1959: Mailand 1960: Brüssel 1962: Berlin 1963: Florenz 1963 und 1965: Dijon 1965: Brügge
1957-1960
Professor Univ. Kiel
1960-1966
Professor Univ. Mainz
1966-1979
Professor Univ. Bonn
Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer, Berlin (1962) Faculte Internationale de Droit Compare, Paris (1965-1969) in Coimbra, Amsterdam, Exeter und Strasbourg Institut International des Droits de l'Homme, Strasbourg (1966-1981)
1967: 1968: 1969: 1970: 1971: 1972:
1979-
Professor emeritus, Univ. Bonn
siehe oben
1973: 1974: 1976: 1977: 1978: 1979: 1980: 1981: 1982: 1983: 1984: 1985: 1987: 1988: 1989:
Warschau, Frankfurt Rom Toulouse, Edinburgh New York, Buffalo IN. Y., Brüssel, Tel Aviv, Malta Aspen/Colorado, TelAviv Uppsala, Rom, Montreal, Kingston, Toronto, Ottawa, Brüssel Berkeley/Calif., Ottawa, Mailand Paris, Heidelberg, Neapel, Brüssel Paris S. Remo, Wien, München Amsterdam, Paris Trier Neapel, Tucson/Arizona Genf San Remo Palermo, München Messina, Moskau Kiel, Los Angeles Maastricht, Harnburg Edinburgh, Lyon Paris
Internatlonale Tätigkeiten 1951-1953
Verhandlungen des Vertrages von Bonn I Paris über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten (Delegationsmitglied)
1953
Zweiter Kongreß der Europäischen Bewegung, Den Haag (Delegierter)
I- III 11955 Revisionskonferenz des GATI, Genf (Rechtsausschuß) 1967
Seminar der Vereinten Nationen über die Verwirklichung sozialer Menschenrechte, Warschau (Delegationsleiter)
1968
Internationale Konferenz für Menschenrechte, Teheran (Rechtsberater)
seit 1970
Internationaler Ausschuß für die Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung bei den Vereinten Nationen, New York I Genf (Mitglied) Wiederwahl1974, 1978, 1982, 1986-1990 Vizepräsident 1978179 und seit 1988; Berichterstatter 1979-1986.
1974-1977
Diplomatische Konferenz zur Bestätigung und Weiterentwicklung des Humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten, Genf (Rechtsberater und Sprecher in der 1. Kommission)
ab 1981
Ausschuß des Exekutivrats der UNESCO für Konventionen und Entschließungen (CR) = Menschenrechtsausschuß, Paris 122. Sitzung (1981) bis 130. Sitzung (1988) -Vertreter des Exekutivratsmitgliedes
ab 1982
Generalkonferenzen der UNESCO (Rechtsberater) 4. außerordentliche Konferenz Paris 1982 22. Konferenz Paris 1983 23. Konferenz Sofia 1985 24. Konferenz Paris 1987
Betreute Dissertationen Univ. Kiel 1963 Univ. Mainz 1963
1966 1967
Univ. Bonn 1969
1970
1971
1972
1975
G. Mau: Gemeindewahlrecht und Wahlrechtsgleichheit K. F. Amdt: Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 37) U. Müller: Die demokratische Willensbildung in den politischen Parteien (Verlag v. Hase und Köhler, Mainz) H. Gestrich: Die Einheit der Staatsverwaltung auf der Bezirksebene in Rheinland-Pfalz W. Diehl: Die Mitwirkung des Parlaments bei der Kündigung völkerrechtlicher Verträge
M. Schröder: Die wohlerworbenen Rechte der Bediensteten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs der Gemeinschaften und der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten (Godesberger Taschenbücher, Wissenschaftliche Reihe Nr. 1) J. D. Kühne: Die Abgeordnetenbestechung- Möglichkeiten einer gesetzlichen Gegenmaßnahme unter dem Grundgesetz (Athenäum Verlag, Frankfurt) M. v. Hippe]: Stellenausschreibung und Garantie des freien Zugangs zum öffentlichen Amt nach Art. 33 Abs. 2 GG. B. Jähnke: Bedürfnisprüfung und Berufsfreiheit - Versuch einer Systematisierung D. Tscherning: Der Standard der Menschenrechte nach den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention R. Wolfrum: Die innerparteiliche demokratische Ordnung nach dem Parteiengesetz (Schriften zum Öffentlichen Recht Nr. 246) F. Meissner: Das Verhältnis des Rechts der EWG zu dem Rheinschiffahrtsrecht der Mannheimer Akte (Schriften zum Völkerrecht Nr. 27) E. Hamacher: Die Bedeutung der Vereinigungsfreiheit für Zwangszusammenschlüsse unter der Herrschaft des Grundgesetzes G. Ohaegbu: The breadth of territorial waters- the practice in some African States. H. Herzog: Doppelte Loyalität - ein Problem für die zur Europäischen Gemeinschaft entsandten Beamten der Mitgliedstaaten (Schriften zum Völkerrecht Band 37)
XVIII 1976 1977
1982
1984 1987
1987 1988
Betreute Dissertationen R. Bentler: Vergleich der Kommunalaufsicht in Italien und der Bun-
desrepublik Deutschland- Vor- und Nachteile der Einstufigkeit und Mehrstufigkeit W. Eggers: Die Staatenbeschwerde- Das Verfahren vor der Vergleichskommissionnach der Rassendiskriminierungskonvention im Lichte vorliegender Modellverfahren (Schriften zum Völkerrecht Band 61) J. Jekewitz: Der Grundsatz der Diskontinuität der Parlamentsarbeit im Staatsrecht der Neuzeit und seine Bedeutung unter der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes- eine rechtshistorische und rechtsdogmatische Untersuchung (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 321) H. v. Morr: Der Bestand der deutschen Staatsangehörigkeit nach dem Grundvertrag (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 330) B. Schlägel: Grenzüberschreitende interkommunale Zusammenarbeit- Voraussetzungen und Rechtsgrundlagen sowie Beispiele in der Abwasserbeseitigung, Energie- und Wasserversorgung und im Nahverkehr (Erich Schmidt Verlag, Berlin) K. J. Engelen: Die .Political Questions Doctrine" und ihre Anwendung durch amerikanische Gerichte auf außenpolitische Sachverhalte seit dem Vietnam-Konflikt K. Heidenstecker-Menke: Die Bestandsgarantie völkerrechtlicher Verträge im Österreichischen und deutschen Recht (Veröffentlichungen des Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel, Band 98) H. Risse: Der Einsatz militärischer Kräfte durch die Vereinten Nationen und das Kriegsvölkerrecht (Europäische Hochschulschriften, Band 702) T. Roeser: Völkerrechtliche Aspekte des internationalen Handels mit konventionellen Waffen (Veröffentlichungen des Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel, Band 104).
I. Universeller Menschenrechtsschutz
Partsch I
1. Grundlagen
Menschenrechte auf der Insel Nirgendwo Von Fritz Caspari* I. Das Bild einer Gesellschaft, die Thomas More (Morus) auf der Insel Nirgendwo fern von den Gegebenheiten seiner Zeit angesiedelt hat, trägt dem klassischen Humanismus entstammende Züge. Wie in Platons Staat regieren in Utopia 1 diejenigen, die sich durch Bildung und Charakter auszeichnen. Die die Oberherrschaft Ausübenden sowie die Priester gehören einem Stand der Gebildeten (ordo eruditorwn) an, der sich selbst durch die Erziehung der begabtesten Kinder erhält und erneuert. More vermittelt uns somit in Utopia das Bild einer Regierung durch humanistisch gebildete Gelehrte - ähnlich den Philosophen in Platons Staat -, das er in Gesprächen mit seinem Freund Erasmus von Rotterdam und anderen von ihm erwähnten Humanisten entwickelt hat. Die Beschreibung des Staatswesens legt er in den Mund des Weltreisenden Raphael Hythlodaeus, der die ferne, utopische Gesellschaft im zweiten Buch der Utopia in allen ihren Einzelheiten beschreibt. Auf der Insel Utopia gibt es keine ererbten Rang- oder Standesunterschiede, keinen Privatbesitz und daher auch keine Vermögensunterschiede. Das Prinzip der Gleichheit besteht -im Unterschied zu Platons Gesellschaftsbild - für alle Bürger, mit gewissen Ausnahmen für die Angehörigen des Gelehrtenstandes. Die egalitäre und kommunistische Ordnung des Gemeinwesens ist der hervorstechendste Zug der Utopia und hat eine große Wirkung auf die spätere sozialistische und kommunistische Literatur gehabt. Sie dient dazu, die Ausübung von Herrschaft und Machtaufgrund von ererbtem oder erworbenem Besitz zu verhindem und statt dessen die Herrschaft der ratio, der Vernunft, durch die sie verkörpernden humanistischen Gelehrten zu ermöglichen und zu erhalten. • Prof. Dr. Fritz Caspari, Botschafter a. D., Universität zu Köln. Thomas Morus, Utopia, übertragen von G. Ritter, Nachwort von E. Jäckel, 1964 (wo nicht anders vermerkt, beziehen sich die nachstehenden Seiten- und Zitatangaben auf diese deutsche Übersetzung). - E. Surtz, S.J. I J.H. Hexter (Hrsg.), The Complete Works of St. Thomas More, Bd. 4: Utopia, 1965, enthält die definitiven lateinischen und englischen Texte (im folgenden als CW zitiert). Ich verwende die heute im englischen Sprachraum allein übliche Form More, nicht das latinisierte Morus für den Namen. Wo das Werk angeführt wird, erscheint es als Utopia; wo die Insel oder der Staat gemeint ist, nicht kursiv. 1
I"
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Fritz Caspari
Der More-Biograph Chambers hat erklärt, das Ideal von Mores utopischem Staatswesen sei Disziplin, gewiß nicht Freiheit. 2 Er wies auf Regelungen des dortigen Gemeinschaftslebens hin, die auf die Zucht der spartanischen Krieger und auf diejenige der Klöster zurückgingen und mit äußerster Schärfe, ja, wie er sagt, mit Terror durchgesetzt würden. Die Chambers'sche Interpretation ist nicht unumstritten; so sieht etwa der Mitherausgeber der definitiven Ausgabe der Utopia, J.H. Hexter, nicht Disziplin, sondern Gleichheit als das Grundprinzip dieses Staates an. 3 Jedenfalls aber macht Chambers durch die Betonung der Disziplin als wesentliches Element deutlich, daß den idealistischen Zügen des utopischen Gemeinwesens starke Einschränkungen der Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft gegenüberstehen. Diese sollen zusammen mit den sie begleitenden rechtlichen und gesellschaftlichen Sanktionen seiner Aufrechterhaltung dienen. Auch diese an einem bestimmten Ideal ausgerichtete Gesellschaft nimmt also das Recht in Anspruch, die Rechte und Freiheiten ihrer Bürger zu beschneiden und sie teilweise sogar ganz auszuschließen, um die ihrem Leitbild entsprechende Ordnung aufrecht zu erhalten. Im zwanzigsten Jahrhundert geschah und geschieht dies besonders auch in Gesellschaften, die erklären, sich auf dem Wege zur Vollendung des Sozialismus zu befinden und gerade die Verwirklichung des .Menschenrechts" anzustreben. In der .Übergangsphase" dorthin werden die Menschenrechte oft weitgehend mit der Macht des Staates unterdrückt. In Utopia nun stellt More nicht eine noch in der Entwicklung befindliche, sondern eine voll entwickelte ideale Gesellschaft dar. Es handelt sich also dort nicht um eine .Übergangsphase", sondern um eine endgültige Ordnung. Hieran ändert auch die Aufnahmebereitschaft der Utopier gegenüber neuen Ideen und Einflüssen von außen nichts. Die utopische Gesellschaft soll ihren Bürgern ein ihren Grundanschauungen entsprechendes glückliches und harmonisches Leben ermöglichen und gewährleisten. Die Utopier gehen, wie Hythlodaeus berichtet, von der Prämisse aus, daß jeder Bürger fähig sei, die Prinzipien dessen, was sie .Natur" (natura) und .Vernunft" (ratio) nennen, zu erkennen. Diese Prinzipien soll er zu Leitsternen seines Lebens machen und ihnen selbständig folgen. Es sind auch die Leitlinien des staatlichen Lebens, deren Befolgung zum friedlichen Zusammenleben aller, zur höchsten Entwicklung der Fähigkeiten jedes einzelnen und damit zu Glück und Harmonie der Gemeinschaft führt. Dabei suchen die Utopier ihr Leben so zu gestalten, daß es ihnen ein möglichst hohes Maß an rational zu rechtfertigendem Vergnügen bereitet. 4 2
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R. W. Chambers, Thomas More, 1935, S. 137. More, Cyv, S. CXXIII. Morus, Utopia, S. 96, S. 100 ff.
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Getragen wird diese Ordnung in besonderem Maße von denjenigen, die schon in früher Jugend ausgewählt werden, um einer höheren Erziehung teilhaftig zu werden. Ihre Erziehung ist auf diesen Prinzipien aufgebaut und soll deren fortdauernde Wirksamkeit sichern. Nur diejenigen, deren geistige und sittliche Überlegenheit sich als dauerhaft erweist, verbleiben in dem aus dieser Erziehung hervorgehenden Stand; andere werden zu den Handwerkern .zurückversetzt•. 5 Alle Utopier aber erhalten als Kinder Unterricht und haben als Erwachsene die Möglichkeit zur Fortbildung. 6 (Damit entspricht Utopia dem Artikel 26 Abs. 1 der .Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte• der Vereinten Nationen.) Sicher gehen wir nicht fehl in der Annahme, daß nur diejenigen in dem Utopia regierenden Stand der Gebildeten verbleiben können, die sich in Übereinstimmung mit den grundlegenden philosophischen und sozialen Anschauungen Utopias befinden, die also natura und ratio so verstehen und zur Anwendung bringen, wie es die Staatsphilosophie vorschreibt. Welcher vernünftige Mensch könnte sich auch, nach Meinung der Utopier, gegen Glück und Harmonie und die diesen dienende staatliche Ordnung stellen wollen? Und wie könnte jemand, der behauptete, ein Mensch sei fähig, in Utopia auch ohne die vorgesehene philosophische Bildung hohe Ämter auszuüben, dort Einfluß gewinnen? Wenn einer von ihnen sich so irrational und uneinsichtig zeigen sollte, daß er sich für eine Änderung der grundlegenden philosophischen und staatlichen Ordnung - wie etwa für die Einführung von Privateigentum - ausspräche, würde er sehr schnell seiner privilegierten Stellung verlustig gehen. - Zu den Grundsätzen des Lebens in Utopia gehören auch die Glaubensprinzipien, daß die Seele unsterblich sei, und daß es im Jenseits Lohn und Strafe für diesseitiges Verhalten gebe. Auch wer diese Glaubenssätze nicht akzeptiert, kann zum mindesten dem Stand der Gebildeten nicht angehören und sieht sich anderen Diskriminierungen ausgesetzt. Hierüber wird noch in anderem Zusammenhang zu sprechen sein. II. Wie weit nun schränkt der utopische Staat überhaupt die Rechte des Einzelnen ein; umgekehrt also, wie weit reicht in ihm die Rechts- und Freiheitssphäre der einzelnen Person? Schließt das .glückliche Leben• aller das Recht des Bürgers ein, sein Leben so zu gestalten, wie es ihm persönlich am besten scheint, und dabei in seiner Lebenssphäre den Schutz der Gemeinschaft zu genießen? Die Utopier sind, wie wir hören, in philosophischen und religiösen Fragen tolerant und neuen Gedanken und religiösen Ideen gegenüber aufgeschlossen. Sie sind zwar keine Christen, in vielem aber entspricht ihre Weltanschauung schon derjenigen der Christen, von der sie gehört haben, und zu der nicht wenige übergetreten sind. Von erheblichem 5 6
s. 73. s. 91.
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Gewicht bei ihrer Aufgeschlossenheit dem Christentum gegenüber sei gewesen, daß sie hörten, Christus habe die .gemeinschaftliche (kommunistische) Lebensführung seiner Jünger gutgeheißen". (Im Original: .communem suorum victum ... "). 7 Darin also liegt eine Verwandtschaft zu ihrer eigenen Lebensform.- Trotz ihrer Toleranz aber besteht die erwähnte starke Einschränkung der Glaubensfreiheit. Wie steht es mit anderen Freiheiten und Rechten der Bürger? Sie leben in einer kommunistischen Gesellschaft, die kein Privateigentum zuläßt, ein Recht auf solches also verneint. Gibt es aber innerhalb dieser grundsätzlich auf diesem Gebiet scharf eingeschränkten Gesellschaft z. B. freie Berufswahl, Freizügigkeit, Redefreiheit, Schutz der Familie und der privaten Sphäre? More konnte natürlich die Erklärungen und Kodifizierungen der Menschenrechte, die in den letzten zwei Jahrhunderten erfolgt sind, nicht kennen, doch kannte er als Humanist die antiken Vorbilder und Ideale demokratischer und freiheitlicher Gesellschaften. Die staatliche Ordnung ist mit freien Wahlen, Versammlungen des Volkes und einem Senat unter einem gewählten Fürsten demokratisch-patriarchalisch, gewährt also dem Bürger weitgehende politische Rechte. 8 Die Menschenrechte andererseits haben im utopischen Staatswesen nur einen stark eingeschränkten Raum. Die Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte in der amerikanischen und der französischen Revolution, die .Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen von 1948 und die europäische .Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" von 1950 stellen im wesentlichen den Kanon dar, an dem man im 20. Jahrhundert die Menschenrechte und Grundfreiheiten mißt. Auch wenn More diesen Kanon nicht in seiner neuzeitlichen Form kannte, kann man doch an ihm aus unserer Sicht das Maß dieser Rechte und Freiheiten ablesen, das nach der Beschreibung des Hythlodaeus den Bewohnern des utopischen Idealstaats gewährt wird. Dieses übersteigt gewiß erheblich das in den meisten Staaten des 16. Jahrhunderts Übliche: in vielem ist More mit seiner Konzeption darin seiner Zeit um Jahrhunderte voraus. Es wäre unhistorisch und unsinnig, zu erwarten, daß er sich an die heutigen Maßstäbe halten oder sich an ihnen orientieren könnte. In seinem Staatsgebilde eingebettet sind manche Ideen und Praktiken, die er als selbstverständlich aus der Antike, dem Mittelalter und seinem eigenen Zeitalter entnimmt und die im Widerspruch zum heutigen Begriff der Menschenrechte stehen. Dazu gehören z. B. die Sklaverei, die Leibeigenschaft, die körperliche Züchtigung. Manches andere, wie der Zwang zur Gemeinsamkeit und die damit einhergehende rigorose Beschränkung der privaten Sphäre, ergibt sich aus der Gesamtanlage des utopischen Staatswesens, das sich teilweise an antike und mittelalterlich-klösterliche 7
8
s. 134; cw, s. 218. Vgl. hierzu S. 67-68.
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Formen und teilweise auch an Berichte über neuentdeckte Gesellschaften in der Neuen Welt anlehnt. Bei aller Originalität einiger seiner strafrechtlichen Ideen sind die in Utopia vorgesehenen Strafen oft von einer unmäßigen Härte, die den Praktiken seiner Zeit entspricht. Eine Analyse utopischer Regelungen am Maßstab neuzeitlicher Begriffe kann nur mit den dargelegten Einschränkungen erfolgen und nur beschränkte Gültigkeit haben. Immerhin aber kann sie einen wichtigen Aspekt des von Thomas More dargestellten utopischen Staatswesens aus der Sicht des 20. Jahrhunderts beleuchten. III. Die .Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (EMRK) des Europaratsaus dem Jahr 1950, seit 1952 geltendes Recht der Bundesrepublik Deutschland,9 kann für einen solchen Vergleich als Gerüst dienen. Für bestimmte Punkte wird die .Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen von 1948 herangezogen. In dem beschränkten Rahmen dieses Artikels können dabei nur einige wesentliche Punkte ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgeführt werden. In Abschnitt I, Artikel 2 der europäischen Menschenrechtskonvention, in dem das Recht des Menschen auf das Leben geschützt wird, wird das Recht des Staates zur Verhängung der Todesstrafe für Verbrechen aufrecht erhalten, soweit es entsprechende Gesetze gibt. Die Todesstrafe gibt es auch in Utopia; insofern besteht hier keine Divergenz. Wenn allerdings in Artikel3 das Verbot einer •unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung" ausgesprochen wird, so widerspricht die Form der Vollstreckung der Todesstrafe ebenso wie die Form anderer Strafen in Utopia oft diesem Prinzip. So heißt es, daß das Verbrechen des Ehebruchs mit Verstoßung in die Sklaverei bestraft wird. Falls Ehebrecher sich aber in dieser Lage •widerspenstig und störrisch" zeigen, .werden sie schließlich als wilde Bestien, die weder Kerker noch Kette in Zaum halten kann, totgeschlagen" .10 Bürger einer von den Utopiern belagerten Stadt, die sich bemüht haben, ihre Mitbürger von deren Übergabe abzuhalten, lassen sie erwürgen, wobei sie allerdings die übrige Zivilbevölkerung unangetastet lassen. Die Todesstrafe wird nur selten verhängt; an ihre Stelle tritt häufig die Sklaverei. 11 So wird jemand, der versucht, andere zu heftig oder gewaltsam zu seinen eigenen religiösen Auffassungen zu bekehren, mit Verbannung oder Sklaverei bestraft.12 Und wer ohne Erlaubnis außerhalb seines Stadtbezirks reist, wird im 9
BGBI. 1952 II, S. 686.
10 s. 114-115.
11 Die Diskussion über die Sklaverei und die Arbeit von Strafgefangenen in Buch 1 der Utopia, S. 34-37, wird hier nicht behandelt, weil sie sich nicht auf das eigentliche utopische Staatswesen, sondern auf das eines anderen Volkes, der .Polyleriten", bezieht. (Die dort vorgetragenen Ideen wären im Sinne von More sicher auch für das utopische Staatswesen gültig.) 12 s. 136.
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Wiederholungsfall in die Skalverei verstoßen. 13 Neben den Sklaven gibt es auf dem Lande auch Leibeigene. 14 -Diese Beispiele sollten genügen, um zu zeigen, daß solche Praktiken im Widerspruch stehen nicht nur zu dem zitierten Artikel3 EMRK, sondern auch zu Artikel4 (1), demzufolge .niemand ... in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden" darf. Hierzu ist noch zu bemerken, daß die Utopier nicht nur solche eigenen Bürger, .die bei ihnen selbst wegen eines Verbrechens der Sklaverei verfallen sind", sondern auch solche zu Sklaven machen, .die in auswärtigen Städten wegen irgendeiner Untat zum Tode verurteilt sind". Diese Sklaven, die billig oder umsonst zu haben sind, halten sie beständig in Arbeit und in Fesseln aus Gold, wobei sie ihre eigenen Landsleute noch härter behandeln als diese ausländischen Verbrecher. Nur solche armen Knechte aus einem fremden Volk, die freiwillig zu ihnen kommen, um als Sklaven zu arbeiten, behandeln sie humaner. 15 In Utopia verrichten Sklaven die niedrigsten Formen der Arbeit; so sind sie Metzger und, noch niedriger, Jäger- womit More zweifellos die Jagdleidenschaft der zeitgenössischen Adligen lächerlich machen wollte. Auch die niedrigen Dienstleistungen bei den gemeinsamen Mahlzeiten werden von Sklaven besorgt. 16 Wir hören, daß für die meisten Verbrechen keine bestimmte Strafe gesetzlich vorgesehen ist, sondern daß der Senat von Fall zu Fall die Strafe je nach der Schwere des Delikts bestimmt. 17 Es gibt also für die meisten Fälle keine gesetzlichen Regelungen, wie diese in Artikel 5 der europäischen Konvention vorgeschrieben sind, sondern eine unmittelbare Gerichtsbarkeit der Regierung; nach deren Ermessen wird die Schwere des Vergehens beurteilt und die Strafe festgesetzt. Wenn somit bei der Bestrafung von Delikten nicht geltendes Recht, sondern das Ermessen der Regierung angewandt wird und Willkür herrscht, so trifft letzteres auch für die Züchtigung der Frauen durch ihre Ehemänner und die der Kinder durch die Eltern zu. 18 Die Utopier haben überaus wenige Gesetze und schließen auch grundsätzlich sämtliche Advokaten aus: jeder führt seinen Prozeß selber, denn eine schlichte Deutung der sehr einfachen Gesetze ist für jeden möglich. 19 More, selbst Anwalt, ironisiert hier seinen eigenen Berufsstand und kritisiert die Kompliziertheit der Rechtsbestimmungen und -praktiken seiner Zeit. In Ziffer (2) des zitierten Artikels 4 EMRK wird erklärt: .Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten. • Der Staat 13 14
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s. 83.
s. 62. s. 110.
s. 79. s. 114.
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Utopia ist aber geradezu auf dem Prinzip der Zwangs- oder Pflichtarbeit aufgebaut. Von der für alle bestehenden allgemeinen Arbeitspflicht sind nur die Angehörigen des Gelehrtenstandes ausgenommen. 20 Die zwischen diesen und dem Volk stehenden Philarchen sind auch befreit, beteiligen sich aber im allgemeinen freiwillig an der Arbeit. Für alle anderen Bürger besteht die Pflicht, sechs Stunden am Tag zu arbeiten. 21 Die Einhaltung dieser Pflicht wird von den die Arbeit beaufsichtigenden Vorstehern der großen Familienverbände, den Philarchen überwacht. Man arbeitet entweder als Handwerker in der Stadt oder als Landwirt auf dem Lande. Die auch für heutige Begriffe geringe Anzahl der zu leistenden Arbeitsstunden wird dadurch ermöglicht, daß alle arbeiten müssen, auch die Frauen, daß es keine untätigen Ordensbrüder gibt, keine im Luxus ohne Arbeit lebenden Adligen mit ihren unproduktiven Dienern, keine Landstreicher und Bettler. 22 Dadurch wird auch bei der kurzen Arbeitszeit die Produktion von allem, was benötigt wird, im Überfluß ermöglicht. Die materiellen Bedürfnisse der Utopier sind im übrigen sehr gering und leicht zu befriedigen. Der Arbeitspflicht kann sich niemand entziehen. Ihre Einhaltung wird genau überwacht. Auch solche, die im eigenen Bezirk außerhalb der Stadt unterwegs sind, müssen arbeiten, bevor sie etwas zu essen bekommen. 23 Aus diesem Arbeitszwang ergibt sich komplementär das Recht auf Arbeit, wie es in Artikel 23 der .Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen vorgesehen ist. Dieses Recht ist somit in der utopischen Gesellschaft verwirklicht, allerdings als Zwang. Auch das in Artikel24 dieser Erklärung verkündete .Recht auf Ruhe und Freizeit, insbesondere auf angemessene Begrenzung der Arbeitsstunden", ist in Utopia in vollem Umfang ausdrücklich gewährleistet. Die Nutzung des Tages und der Freizeit wird ausführlich dargestellt. 24 Das Recht auf Arbeit und das Recht auf Freizeit sind utopische Grundprinzipien; in ihnen werden Grundsätze der Menschenrechtserklärung verwirklicht. Wenn allerdings Artikel 23 der Erklärung dem Bürger auch die .freie Wahl seiner Beschäftigung" gewährleistet, so ist diese Wahl in Utopia nur in begrenztem Maß vorhanden. Alle Utopier erlernen die Landwirtschaft; in den Städten erlernen die meisten das väterliche Gewerbe; auch Frauen betreiben weniger schwere Gewerbe. Um ein anderes Handwerk zu erlernen, muß der Lehrling in eine andere Familie überwechseln und von dieser adoptiert werden. 25 Diese recht schwerfällige Prozedur ermöglicht nur eine sehr geringe Freiheit der Berufswahl. Es findet 20
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s. 73. s. 70. s. 72.
s. 83.
s. 70. s. 69.
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ein geregelter Wechsel zwischen Stadt und Land statt: städtische Bürger ziehen abwechselnd aufs Land, wo sie zwei Jahre bleiben. Niemand soll gezwungen werden, das mühsame Leben auf dem Lande längere Zeit fortzusetzen. 26 Zur Erntezeit werden je nach Bedarf städtische Bürger als Erntehelfer aufs Land geschickt. Durch diese Vorschriften wird die Freiheit der Wahl der Beschäftigung ebenfalls eingeschränkt, denn der Wechsel zwischen Land und Stadt findet offenbar nicht freiwillig statt. Auch kann niemand von sich aus in den Stand der Gebildeten eintreten; er wird dafür ausgewählt, auch noch als Erwachsener, wenn er besondere Eignung aufweist. Trotz dieser Einschränkungen ist in dem das Recht auf Arbeit und Freizeit behandelnden Teil von Utopia ein wesentliches Anliegen der Menschenrechtserklärung teilweise verwirklicht. Das in Artikel 13 der .Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen vorgesehene Recht auf Freizügigkeit besteht in Utopia nicht. Um zu reisen, kann man zwar meistens leicht den notwendigen Urlaub von den Philarchen und Oberphilarchen bekommen; der Fürst stellt dann die Reiseerlaubnis aus. Falls gewünscht, stellt er einen Reisewagen mit Sklaven zur Verfügung. Er schreibt den Tag der Rückkehr vor- also eine recht bürokratische Prozedur. Jeder übt in der besuchten Stadt sein Gewerbe aus und muß auch dort seiner Arbeitspflicht genügen, wenn er sich länger als einen Tag aufhält. Wer außerhalb seines Bezirks ohne Urlaubsschein ergriffen wird, gilt als Ausreißer, wird scharf gezüchtigt und, wie wir schon sahen, im Wiederholungsfall mit Sklaverei bestraft: Wer außerhalb seiner Stadt im Bezirk spazierengehen will, kann das tun, braucht aber auch dafür das Einverständnis seines Hausvaters und seiner Ehefrau. 21 Die besagten Regelungen lassen erkennen, daß es zwar Reisemöglichkeiten gibt, aber mit solchen Einschränkungen und Strafen, daß von Freizügigkeit nicht die Rede sein kann. Dies trifft auch für den Wechsel des Arbeitsplatzes zwischen Stadt und Land und den Wohnungswechsel zu; sie erfolgen nicht auf freiwilliger Basis. Auslandsreisen unternehmen die Utopier, um ihre Waren zu exportieren; aber ein verbrieftes Recht, das eigene Land zu verlassen, wie es im 2. Absatz des Artikels 13 der .Erklärung der Menschenrechte" proklamiert wird, existiert nicht. Nach Artikel 8 EMRK hat jedermann .Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs". Wie steht es mit der Privatsphäre der utopischen Bürger? Eine solche gibt es eigentlich nicht, denn sie leben wie in einem Glashaus: .Ihr seht schon, es gibt dort nirgends eine Möglichkeit zum Müßiggang, keinen Vorwand zum 26 21
21,
s. 62.
S. 83. (Ich beziehe die .coniux" auf die eigene Ehefrau, im Unterschied zu Anm.
s. 163).
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Faulenzen. Keine Weinschenke, kein Bierhaus ... , kein heimliches Zusammenhocken, sondern überall sieht die Öffentlichkeit dem einzelnen zu und zwingt ihn zu der gewohnten Arbeit und zur Ehrbarkeit beim Vergnügen." 28 Die Jugend hat keine Freiheit; sie steht ständig unter Aufsicht der Familienväter und -mütter. Es .wird vorgesorgt, daß alle Bewegungen aller Jüngeren außerhalb des Hauses von denen überwacht werden, unter deren Autorität und Zucht sie auch zu Hause stehen". 29 Einen Anspruch auf Privatleben in ihren Wohnungen haben dieUtopierauch nicht, denn, wie wir hören, haben alle HäuserVorder-und Hintertüren, die leicht zu öffnen sind und jedermann den Zugang ermöglichen sollen. Es besteht wohl ein Recht auf Wohnung, aber nicht auf eine bestimmte: alle zehn Jahre müssen die Wohnungen gewechselt werden.• So weit geht die Beseitigung des Privateigentums", wird hierzu von Hythlodaeus vermerkt. 30 Die Familie und das Familienleben sind die Grundpfeiler des utopischen Gemeinwesens. Dreißig Familien bilden zusammen eine Sippe; alle unterstehen einer patriarchalischen Ordnung. Der .Anspruch auf Familienleben" ist also gewahrt. Die Pflicht zum Familienleben allerdings geht weit über die Bestimmung der Menschenrechtskonvention hinaus. Ihr kann man sich nicht entziehen, auch nicht der Autorität des ältesten Familienhauptes. Wenn es in Artikel 12 der EMRK heißt: .Mit Erreichung des Heiratsalters habenMännerund Frauen das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie ... zu gründen•, so besteht das Recht auf Eheschließung auch in Utopia, wird aber, wie auch das Recht auf Arbeit, anscheinend praktisch zur Pflicht gemacht. (Eine Ausnahme bildet die religiöse Sekte der Unverheirateten. 31 ) Die Frauen werden, .sobald sie körperlich ausgereift sind, ... verheiratet und ziehen in die Wohnungen ihrer Männer. "32 Bei der Auswahl der Gatten, die eingehend und originell beschrieben wird, besteht für beide Teile eine gewisse Freiheit der Wahl. 33 Die Sexualmoral ist außerordentlich streng: vorehelicher Geschlechtsverkehr führt zu gänzlichem Eheverbot, 34 und der Ehebruch wird, wie wir sahen, mit Sklaverei und sogar mit dem Tode bestraft. Andererseits besteht die sehr begrenzte Möglichkeit der Ehescheidung und desEingehenseiner neuen Ehe, 35 also eine gewisse Liberalität in dieser Hinsicht. Durch die Eheschließung wird zwar eine Familie gegründet, aber das neue Ehepaar ist gezwungen, in der Großfamilie des Mannes zu 28
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35
s. 83. s. 146.
s. 66. s. 140. s. 76-77.
s. 112. s. 111. s. 113-114.
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leben, wo es unter der Gewalt des ältesten Familienhauptes steht, 36 also kaum ein eigenes Familienleben führt. Auf dem Lande bestehen diese Großfamilien aus mindestens 40 Erwachsenen, in der Stadt aus zehn bis sechzehn. Wenn es mehr Personen werden, wird der Überschuß in andere Großfamilien versetzt. Es wird nicht gesagt, ob bei solchen .Versetzungen" die Einheit der eigentlichen Familien gewahrt wird. Wie wir gesehen haben, macht aber jedenfalls einWechselder Berufswahl für den Jugendlichen den Wechsel der Familie notwendig, wodurch deren Integrität gestört wird. Für die eigentlichen Familien gibt es, wie gesagt, kaum ein Privatleben, denn fast alles spielt sich im Rahmen der Großfamilie oder der Sippe ab. Die Mahlzeiten werden gemeinsam unter Aufsicht der Ältesten eingenommen; jede Sippe von dreißig Großfamilien ißt gemeinsam in ihrer Halle. 37 Es ist keinem verwehrt, nicht an diesen gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen und zu Hause zu essen, doch gilt dies nicht als anständig und obendrein als töricht. 38 So besteht also ein moralischer Zwang zur Gemeinsamkeit. Auf dem Lande allerdings essen die Familien zu Hause. 39 Beim Essen sitzt der Philarch mit seiner Frau an einem zentral gelegenen Tisch, von dem aus die ganze Gesellschaft im Saal übersehen werden kann; ungehöriges Reden und Benehmen wird durch sie und dadurch verhindert, daß jeder jeden Nachbarn beobachtet!0 Im übrigen ist der Hergang der Mahlzeiten genau geregelt; es werden dabei auch Reden von Älteren und Jüngeren gehalten, und Musik fehlt nicht. Die Beschreibung des gemeinsamen Essens in einer Halle erinnert an derartige, More bekannte Mahlzeiten in klösterlichen Refektorien, in den Hallen der Colleges in Oxford und Cambridge und der Londoner Juristeninnungen. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, daß hier die gesamten Familien, nicht nur einzelne Personen, einer Art klösterlicher Zucht mit strengen Regeln und Sitten unterworfen werden. Die dauernde öffentliche Kontrolle durch die Oberen, die Älteren und die Mitbürger bei Essen, Arbeit und Wohnen beläßt dem Einzelnen und der Familie nur eine sehr geringe private Sphäre. In dieser Hinsicht entspricht .Utopia" der Forderung der .Menschenrechtskonvention" nach Achtung des Privat- und Familienlebens und derWohnungnur in sehr geringem Maße. Im Zwang zur Gemeinsamkeit ist wohl die stärkste Beschränkung der Rechte des Einzelnen und der Familie in der utopischen Gesellschaft zu sehen. 36 37
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40
s. 76-77.
s. 78.
s. 79.
s. 82. s. 81.
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Nach Artikel 9 der europäischen Konvention hat jedermann .Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit". Wir haben schon früher gesehen, daß das in Utopia geltende Prinzip der religiösen Toleranz 41 und Aufgeschlossenheit, das diesem Artikel entspricht und im frühen 16. Jahrhundert ganz ungewöhnlich ist, bei näherer Betrachtung einer starken Beschränkung unterliegt. Der Begründer des Staatswesens, König Utopus, hatte es .jedem einzelnen überlassen, welchen Glauben er für richtig halten will". 42 Keiner darf versuchen, seinen Glauben anderen gewaltsam zu oktroyieren, doch sind die Utopier neuen religiösen Ideen gegenüber aufgeschlossen, auch solchen, die von außen kommen. Diese Freiheit ist aber, wie schon im Zusammenhang mit dem .Gebildetenstand" erwähnt, in wesentlichen Punkten scharf eingeschränkt: der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und an göttliche Vorsehung sowie an Strafen und Belohnungen im Jenseits für diesseitiges Verhalten wird von allen Bürgern verlangt. 43 Wer das Gegenteil glaubt, .den zählen sie nicht einmal unter die Menschen" und rechnen ihn nicht unter die Bürger, denn ihm würden alle bürgerlichen und moralischen Grundsätze nichts gelten, und er würde zweifellos versuchen, die utopische Ordnung umzustoßen. 44 Ein solcher kann kein öffentliches Amt versehen und wird verachtet, jedoch nicht bestraft oder gezwungen, seinen Glauben zu wechseln. Er darf seine Meinung nicht öffentlich verbreiten. Hierin liegt offensichtlich eine starke Diskriminierung aller derjenigen, die die utopischen Grundanschauungen nicht teilen, und eine weitgehende Beschränkung ihrer Meinungsfreiheit. Diese Diskriminierung erstreckt sich auf alle Bürger. Die in Artikel 9 EMRK vorgesehene Freiheit zur Verbreitung der eigenen Weltanschauung besteht also nicht, wenn diese gegen die genannten religiösen Grundprinzipien Utopias verstößt. Abgesehen davon kann jeder der Religion anhängen, die ihm beliebt, und er darf auch andere dazu bekehren, wenn dies durch Zureden freundlich geschieht. Einer, der hierbei zu heftig oder gewaltsam vorgeht, wird, wie schon erwähnt, mit Verbannung oder mit Sklaverei bestraft. Die Praxis der Utopier gegenüber denjenigen, die nicht an die genannten religiösen Grundprinzipien glauben, ist bei aller Härte doch toleranter als die in späteren Jahren von More selbst als Lordkanzler eingenommene Haltung bei der Verfolgung von protestantischen Ketzern, entspricht aber dennoch nicht der Menschenrechtskonvention; in anderer Hinsicht nähert sie sich ihr in einem für das 16. Jahrhundert ungewöhnlichen Maß. Die in Artikel 10 der Konvention festgelegte Freiheit der Meinungsäußerung besteht in Utopia, soweit erkennbar, nur innerhalb der Grenzen, die 41 42
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s. 35 ff. s. 136.
s. 136-137. s. 137.
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durch die dargelegten Grundprinzipien der Staatsordnung, Philosophie und Religion gesetzt wird. Innerhalb dieser Grenzen werden z. B. bei den gemeinsamen Mahlzeiten Meinungsäußerungen besonders der Jüngeren gefördert; ihre geistigen Fähigkeiten werden durch die Älteren beurteilt, •wenn diese die Freiheit beim Mahle benutzen, um sich auszusprechen". 45 In ihrer Erziehung und in der Erwachsenenbildung finden Streitgespräche und Diskussionen statt, die - im Rahmen der gesetzten Grenzen - frei sind, und auf die großer Wert gelegt wird. Von einem verbrieften Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung ist nicht die Rede, doch ist diese anscheinend mit den besagten Einschränkungen weitreichend. In den Volksversammlungen und im Senat des demokratisch organisierten Staatswesens wird offensichtlich über die gemeinsame Angelegenheit gesprochen. Allerdings gibt es eine eigenartige Bestimmung, die Verschwörungen und Umsturzpläne der Regierenden verhindem soll: Außerhalb dieser Gremien .über öffentliche Angelegenheiten zu beraten, gilt für ein todeswürdiges Verbrechen". 46 Diese außerordentliche Strafandrohung, die nicht von großem Vertrauen in die Integrität der regierenden Gelehrten zeugt. schränkt die Freiheit der Meinungsäußerung außerhalb der erwähnten Gremien scharf ein. -Im Ganzen gesehen aber kommen die utopischen Regelungen dem Artikel10 der Menschenrechtskonvention entgegen; auch dieser enthält unter Ziffer (2) nicht unerhebliche Einschränkungen. Die in Artikel 11 vorgesehenen neuzeitlichen Rechte der Versammlungsfreiheit und zur Bildung von Gewerkschaften kann es in der utopischen Ordnung nicht geben. Versammlungen sind wohl nur in den verschiedenen öffentlichen Gremien vorgesehen, und Gewerkschaften hätten neben der staatlichen Organisation und Kontrolle der Arbeit keinen Platz in Utopia. IV. Wie schon eingangs dargelegt, besteht in Utopia das Prinzip der Gleichheit. Das Staatswesen ist auf ihm aufgebaut und so konstruiert, daß es die Erhaltung dieses Prinzips gewährleistet. Insofern entspricht diese Ordnung dem Artikel14 EMRK oder Artikel2 der .Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte"; ersterer legt fest, daß .der Genuß der ... Rechte und Freiheiten" allen ohne Unterschied gewährt werden muß. In Utopia sind diese Rechte und Freiheiten selbst aber, wie wir gesehen haben, in vielen Fällen stark eingeschränkt. Manche sind überhaupt nicht vorhanden; teils sind die Rechte gleichzeitig Pflichten. Diese Beschränkungen werden von der auf einer bestimmten Ideologie beruhenden utopischen Gesellschaft als für ihren Bestand und ihre fortdauernde Selbsterhaltung notwendig angesehen und mit großer Konsequenz und Härte durchgesetzt. Trotz aller Toleranz und Offenheit kann in Utopia nicht jeder .nach seiner Far;on selig werden". Er wird nur glücklich und genießt nur dann die beschränkten 45
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s. 81.
s. 68.
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Menschen- und Bürgerrechte, wenn er die dem utopischen Staatswesen zugrundeliegenden sozialen, wirtschaftlichen und weltanschaulichen Prinzipien zu seinen eigenen macht und ihnen gemäß handelt und lebt. Hierin liegt auch in dieser als Ideal konzipierten Gesellschaft eine sehr starke Einengung, teilweise bis hin zur Negierung der Menschenrechte, wie wir sie heute definieren; andererseits sind in Utopia einzelne Menschenrechte in einer für das 16. Jahrhundert ungewöhnlichen, fast neuzeitlichen Form verwirklicht.
Thomas Mores Utopia war in seiner Zeit ein revolutionäres Werk. Auch bei der originellen Behandlung der Menschenrechte darin hat er trotz ihrer Begrenzung mit diesem Werk einen bedeutenden Schritt ihrer Entwicklung zwischen Mittelalter und Neuzeit vollzogen.
La definition des devoirs des individus par les Instruments intemationaux protegeant les droits de l'homme ParAlexandre Kiss• Souvent, lorsque l'on parle de droits de l'homme Ia question est posee de savoir si, apres les avoir formules et proclames, il ne eonvient pas aussi de definir et de proclamer d'une fa~on parallele les devoirs des individus et de leurs groupes. II serait tentant de repondre a eette question par une boutade. Les devoirs de l'individu? mais Ia presque totalite de Ia legislation de ehaque pays s'emploie a les proclamer, a les definir et a les imposer. Des lors, a quoi bon ehereher eneore a formuler sur le plan international ee qui existe en fait a l'interieur de tous les Etats du monde, selon les modalites et dans les formes qui sont propres a ehaeun d'eux? II est bien evident que les ehoses ne sont pas aussi simples que eela. II en est ainsi d'autant plus que presque tous les grands textes internationaux parlent de devoirs des individus et que le plus reeent parrni eux, Ia Charte africaine des droits de l'homme et de peuples, adoptee le 26 juin 1981 et entree en vigueur le 21 octobre 1986, tente meme d'en donner une liste. 1 II eonvient done d'exarniner Ia question. Le premierproblerne que I' on devrait envisager a eet egard est de savoir si des traites inernationaux peuvent imposer directement des Obligationsades individus. II est resolu en fait par le droit positif applieable en matiere de protection internationale des droits des individus et de responsabilite personnelle. D'une part, un eertain nombre d'instruments internationaux eoneernant directement Ia proteetion mentionnent expressement eertains devoirs a Ia eharge d'individus, d'autre part Ia reeonnaissanee meme de Ia responsabilite des individus par Ia eondarnnation de erimes de guerre, de erimes eontre l'humanite et de erimes eontre Ia paix ainsi que eelle du genocide par Ia Convention du 9 deeembre 1948 implique qu'il existe des devoirs imposes par le droit international directement aux individus. Quant • Secretaire general de l'Institut international des droits de l'homme. I En annexe ala presente etude figurent des extraits d'instruments intemationaux enon