Liberalität und Verantwortung: Festschrift für Jan C. Joerden zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428584239, 9783428184231

Mit der Festschrift anlässlich des 70. Geburtstags von Jan C. Joerden am 28. April 2022 würdigen die Autorinnen und Auto

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German Pages 924 [927] Year 2023

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Liberalität und Verantwortung: Festschrift für Jan C. Joerden zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428584239, 9783428184231

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Liberalität und Verantwortung Festschrift für Jan C. Joerden zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von

Eric Hilgendorf, Gudrun Hochmayr, Maciej Małolepszy und Joanna Długosz-Jóźwiak

Duncker & Humblot . Berlin

ERIC HILGENDORF, GUDRUN HOCHMAYR, MACIEJ MAŁOLEPSZY und JOANNA DŁUGOSZ-JÓŹWIAK (Hrsg.)

Festschrift für Jan C. Joerden

Schriften zum Strafrecht Band 412

Liberalität und Verantwortung Festschrift für Jan C. Joerden zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von

Eric Hilgendorf, Gudrun Hochmayr, Maciej Małolepszy und Joanna Długosz-Jóźwiak

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright Frontispiz: Heide Fest (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-18423-1 (Print) ISBN 978-3-428-58423-9 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Zum Geleit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie Christian Becker Spaltung statt Einheit. Überlegungen zur Philosophie des Subjekts . . . . . . . . . .

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Jochen Bung Rekonstruktionen zu Kants Einleitung in die Metaphysik der Sitten und in die Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Norbert Campagna Das Recht auf Strafe als Anerkennung der Menschenwürde? . . . . . . . . . . . . . . .

43

Frank Dietrich Die argumentativen Grundlagen der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Altan Heper Der Einfluss der deutschen auf die türkische Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . .

73

Eric Hilgendorf Follow the Science? Wissenschaft, Pseudo-Wissenschaft und Recht . . . . . . . . .

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Thomas Sören Hoffmann Vom Ursprung des Rechts in der Freiheit und dem Sinn des Begriffs „Liberalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Makoto Ida Norm und Prävention im Strafrecht. Zum dreistufigen Modell der Normkonkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Matthias Kaufmann Sklaverei, Moral und Rasse. Das Gewissen als Wurzel der Diskriminierung . . . 137 Stephan Kirste Das Recht auf Leben als Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben

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Bernd Ludwig Kant und die „Amerikaner“ – Rassismus in der Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . 181 Thomas Nenon Vernunft und Gefühl in Husserls späteren Vorlesungen zur Ethik (1920/1924)

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Inhaltsverzeichnis

Ulfrid Neumann „Logik im Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Michael Pawlik Der unbedingte Wille, sich nichts vorzumachen: Friedrich Nietzsches Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Joachim Renzikowski Verbrechen und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Markus Rothhaar Für ein anerkennungstheoretisches Verständnis der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Pablo Sánchez-Ostiz Freiheit und Verantwortlichkeit unter äußerem Druck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Jan C. Schuhr Bemerkungen zu maschinellem Lernen bei juristischen Entscheidungen – und Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Jesús-María Silva Sánchez Metadogmatik. Über die Methode der Herausbildung der strafrechtsdogmatischen Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Gerhard Wolf Philosophie und Ethik vs. Realistische wissenschaftliche Rechtslehren. Eine (freundliche) „Streitschrift“! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Benno Zabel Kritik der Strafrechtswissenschaft oder wann ist Theorie kritisch? Ein kurzer Kommentar zu einer langen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

II. Allgemeiner Teil des Strafrechts Leandro Dias Asthenische und sthenische Affekte beim Notwehrexzess (§ 33 StGB). Vorschläge auf Grundlage der Philosophie der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Gunnar Duttge Herrschaft des Rechts oder Herrschaft der Algorithmen? Zum Notstandsdilemma beim sog. „autonomen Fahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Volker Haas Die Beteiligung an der Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Urs Kindhäuser Alternative Verhaltenskausalität und Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Lothar Kuhlen Notizen zur strafrechtlichen Irrtumslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Wolfgang Mitsch „Lebensmittelerpresser“ und dolus alternativus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433

Inhaltsverzeichnis

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Roland Schmitz Legaldefinitionen und die Reichweite des Gesetzlichkeitsprinzips in Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Kurt Schmoller Actio libera in causa – Beteiligung an eigener Tat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Frank Peter Schuster Die Rauschtat und ihre strafrechtliche Bewältigung. Zwischen Vorverlagerungs-, Ausdehnungs- und Ausnahmemodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Stefan Seiterle Zum Verhältnis von hypothetischer Einwilligung und mutmaßlicher Einwilligung. Zugleich eine Besprechung von BGH 1 StR 134/11 („Gastroskopie-Fall“) 499 Lucila Tuñón „Means Principle“, verweigerte Einwilligung und die Angemessenheitsklausel des rechtfertigenden Notstands (§ 34 Abs. 2 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Brian Valerius Zum alternativen Vorsatz aus rechtlicher und logischer Perspektive. Überlegungen anlässlich BGH NJW 2021, 795 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537

III. Besonderer Teil des Strafrechts Thomas Crofts Kriminalisierung des Missbrauchs von Intimbildern im Common Law. Eine rechtsvergleichende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 Joanna Długosz-Józ´wiak Die Bekämpfung von Geldwäsche auf dem polnischen Kunstmarkt . . . . . . . . . . 573 Michael Heghmanns Zur Beziehung zwischen Raubmittel und Wegnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 Gudrun Hochmayr „An unpleasant sensory and emotional experience“. Schmerzen als tatbestandsmäßige Gesundheitsschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 Witold Kulesza Die strafrechtliche Verantwortlichkeit kommunistischer Richter wegen Rechtsbeugung in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Henning Rosenau Der österreichische Verfassungsgerichtshof zur Suizidhilfe und das österreichische Sterbeverfügungsgesetz. Anmerkungen aus deutscher Perspektive . . . . . . . 627 Paul Tiedemann Recht und Ethik der unterlassenen Hilfeleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Bettina Weinreich Die Garantenpflicht beim Sozialleistungsbetrug im Bereich des SGB II . . . . . . 655

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Keiichi Yamanaka Sterbehilfe in der Endphase des menschlichen Lebens in Japan. Eine Betrachtung anlässlich des Urteils des deutschen BVerfG vom 26. 2. 2020 . . . . . . . . . . . 671

IV. Recht und Ethik der Medizin Susanne Beck (Straf-)Rechtliche Herausforderungen durch den Einsatz von KI in der Medizin 685 Stefan Huster Selbstverschulden statt Erfolgsaussicht? Der Impfstatus als Triagekriterium . . . 703 Ulrich H. J. Körtner Ethik in der Medizin: Herausforderungen im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 713 Peter Schaber Einwilligung in Odysseusvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725

V. Strafrechtsgeschichte, Strafrechtskultur und Kriminologie Arnd Koch Das Endphaseverbrechen im Zuchthaus Sonnenburg (Słon´sk). Freistellung von NS-Tätern durch Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737 Maciej Małolepszy Deutsche und polnische Strafrechtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 Arndt Sinn Kriminalität im Grenzgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 Emil W. Pływaczewski und Ewa M. Guzik-Makaruk Prostitution in Polen. Ausgewählte kriminologische Aspekte aus historischer Perspektive in der ersten Phase der Wendezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785 Yener Ünver Grundsatz der Unversetzbarkeit von Richtern und Staatsanwälten im türkischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795 Sascha Ziemann Der Rechtshimmel über Berlin. Das Strafverfahren gegen Hans Detlef Tiede und Ingrid Ruske vor dem United States Court for Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807

VI. Verschiedenes Raphael Cohen-Almagor Holocaust Denial and the Abuse of Education . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829

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Hans-Georg Dederer „Rasse“ als Verfassungsbegriff. Zur Diskussion um die Ersetzung des Begriffs der „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849 Andrzej J. Szwarc Die Verdienste von Jan C. Joerden auf dem Gebiet der Zusammenarbeit mit der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867 Hans N. Weiler Von der seltenen Kunst, Grenzen zu überschreiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 Krzysztof Wojciechowski Ein deutsch-polnisches Webervogelnest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 Verzeichnis der Schriften von Jan C. Joerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 923

Zum Geleit Am 28. April 2023 feiert Jan C. Joerden seinen 70. Geburtstag. Dies nehmen seine Freunde, Kollegen, Schüler und wissenschaftlichen Weggefährten aus dem In- und Ausland zum Anlass, ihn mit der vorliegenden Festschrift zu ehren. Der Jubilar wurde 1953 als Sohn von Dr. phil. Rudi Joerden und der Diplom-Bibliothekarin Erika Joerden in Essen geboren. Nach dem Abitur am Walddörfer-Gymnasium in Hamburg-Volksdorf nahm er im Sommersemester 1972 das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Hamburg auf. Während des Studiums war er für drei Semester zur Ableistung des Zivildienstes beurlaubt. Im Oktober 1978 folgte die Erste Juristische Staatsprüfung und kurz danach die Ernennung zum Referendar beim Hanseatischen Oberlandesgericht. Neben dem Referendarsdienst war Joerden ab dem 1. Oktober 1980 als wissenschaftliche Hilfskraft, dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg am Seminar für Rechtsphilosophie tätig. 1981 absolvierte Joerden die Zweite („Große“) Juristische Staatsprüfung. 1982 wurde er zum Akademischen Rat an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ernannt und dem Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie zugeordnet. Dort arbeitete er als Assistent für Joachim Hruschka. Am 10. Mai 1985 wurde Joerden zum Dr. jur. mit einer Arbeit zum Thema „Dyadische Fallsysteme im Strafrecht“ promoviert. Kurz danach, am 2. August 1985, folgte die Eheschließung mit Christa Joerden. 1987 habilitierte sich der Jubilar für die Fächer Strafrecht, Rechtsphilosophie und Juristische Logik an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Am 4. September 1987 wurde er zum Privatdozenten ernannt. Die Habilitationsschrift mit dem Titel „Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen“ wurde mit dem „Konrad Hellwig-Preis“ des Universitätsbundes der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ausgezeichnet. Es folgten die Ernennung zum Akademischen Oberrat und ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Heisenbergprogramms zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, welches während der nachfolgenden Lehrstuhlvertretungen jeweils unterbrochen wurde. Joerden vertrat u. a. an der FU Berlin, an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und an der Universität Trier. Am 14. Juni 1993 wurde er schließlich auf den Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung sowie Rechtsphilosophie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) berufen. Von Anfang an engagierte sich Joerden nicht nur in der Forschung und Lehre, sondern auch in

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der Universitätsverwaltung und war von den Jahren 1994 bis 1998 Prorektor für Struktur, Planung und Finanzen. 1995 – 2019 wirkte er zudem als Geschäftsführender Leiter des Interdisziplinären Zentrums für Ethik (IZE) an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Einen Ruf an die Universität Rostock lehnte er 1997 ab, ebenso einen Ruf an die Universität Augsburg im Jahre 2001. Parallel zu seinen Tätigkeiten an der Viadrina engagierte sich Joerden auch für die akademische Zusammenarbeit mit Polen und wirkte von 1997 bis 2002 als Mitglied des Leitungsgremiums des Collegium Polonicum in Słubice (Polen), einer Gemeinschaftseinrichtung der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´ und der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). 1998 bis 2002 war er als Prorektor der EuropaUniversität Viadrina für das Collegium Polonicum zuständig, ab Mai 1999 als Vizepräsident. 2004 erhielt er in Anerkennung seiner besonderen Leistungen für den Polnisch-Deutschen Austausch die „Medaille für Verdienste um die Adam-MickiewiczUniversität zu Posen“. Darüber hinaus wurde ihm am 20. Februar 2015 die Ehrendoktorwürde der Adam-Mickiewicz-Universität verliehen. Die Arbeitsschwerpunkte von Jan C. Joerden waren und sind neben dem Strafrecht und der strafrechtlichen Grundlagenforschung insbesondere das Medizinstrafrecht und die Rechtsphilosophie. Von 2002 bis 2014 war er Mitglied im Vorstand der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR, Deutsche Sektion). Ebenfalls ab 2002 wirkte er als Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des interdisziplinären Zentrums „Medizin-Ethik-Recht“ der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 2009 bis 2011 war Joerden federführender Leiter der Forschungsgruppe „Herausforderungen für Menschenbild und Menschenwürde durch neuere Entwicklungen der Medizintechnik“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld. Neben diese eindrucksvollen Tätigkeiten in Forschung, Lehre und Selbstverwaltung treten sehr bemerkenswerte rechtsvergleichende Aktivitäten. Joerdens intensive Kontakte nach Polen wurden bereits erwähnt. Zu nennen sind aber auch die engen Verbindungen zur Türkei, nach Japan und nach China, die Joerden zu einem der wenigen deutschen Strafrechtslehrer gemacht haben, deren Werk international rezipiert wird. Besonders bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang seine Tätigkeit als Adjunct Professor an der Özyegin Universität in Istanbul 2012 bis 2018 und der Forschungsaufenthalt an der Kansai-Universität in Osaka (Japan) im September und Oktober 2012. Seit 1993 gibt er, zunächst zusammen mit seinem akademischen Lehrer Joachim Hruschka und mit B. Sharon Byrd, sowie dann ab 2019 mit Jan C. Schuhr (Heidelberg), das renommierte „Jahrbuch für Recht und Ethik“ („Annual Review of Law and Ethics“) heraus, an welchem sich nicht bloß europäische, sondern auch viele ostasiatische und US-amerikanische Rechtsgelehrte beteiligen. Nicht zu vergessen ist schließlich Joerdens Engagement im Chinesisch-Deutschen Strafrechtslehrerverband (CDSV), dem er seit seiner Gründung im Jahr 2010 angehört. Wer das Glück hatte, Jan C. Joerden näher kennenzulernen, erlebt einen immer freundlichen, bescheidenen und zugewandten Gelehrten, der ein gewaltiges Arbeits-

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pensum mit unerschütterlicher Ruhe und überlegener Ironie zu verbinden weiß. Nicht zuletzt wegen seiner umfassenden interdisziplinären Kenntnisse und einem bei Professoren keineswegs selbstverständlichen Blick für das praktisch Notwendige ist Jan C. Joerden ein idealer Organisator; die Zahl der von ihm in Frankfurt (Oder) und anderswo veranstalteten Tagungen und Workshops dürfte in der deutschen Rechtsphilosophie und Strafrechtslehre selten sein. Joerdens eigene wissenschaftliche Leistungen schließlich machen ihn zu einem der führenden deutschen Strafrechtslehrer und Rechtsphilosophen der Gegenwart. Seine Markenzeichen sind Liberalität, Scharfsinn und intellektuelle Offenheit. Viele seiner Arbeiten, etwa zur Juristischen Logik und zur Medizinethik, sind im besten Sinne zeitlos und werden noch viele Generationen von Juristinnen und Juristen inspirieren. Ad multos annos! Würzburg/Frankfurt (O.)/Poznan´, im Oktober 2022

Eric Hilgendorf, Gudrun Hochmayr, Maciej Małolepszy, Joanna Długosz-Józ´wiak

I. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie

Spaltung statt Einheit Überlegungen zur Philosophie des Subjekts Christian Becker

I. Einleitung Ich habe Jan C. Joerden während meines Vertretungssemesters im Sommer 2017 bei einem gemeinsamen Mittagessen im „Kartoffelhaus“ in Frankfurt (Oder) kennengelernt. Damals hatte ich mich – in der Vorbereitung auf meine Vorlesung zur Einführung in die Rechtsphilosophie – das erste Mal näher mit einigen klassischen Texten der (politischen) Philosophie beschäftigt. Und doch wurde mir schon nach wenigen Minuten unseres Gespräches klar, dass der Jubilar sich in einer gänzlich anderen, einer wesentlich gründlicheren, umfassenderen und tiefergehenden Weise mit philosophischen Texten und Themen auseinandergesetzt hatte. Dies wurde mir freilich nicht durch Belehrungen oder gar Überheblichkeit seitens meines Gesprächspartners vermittelt; nichts könnte in einem größeren Gegensatz zu Persönlichkeit und wissenschaftlichem Ethos von Jan C. Joerden stehen, der stets außerordentlich bescheiden, höflich und in jeder Hinsicht ein äußerst angenehmer Gesprächspartner war. Aber es war für mich trotz (und vielleicht gerade wegen) der bedächtigen Zurückhaltung des Jubilars in den von mir vermutlich ungestüm und oberflächlich aufgeworfenen philosophischen Diskussionen deutlich zu spüren, dass hier jemand aus einer profunden Kenntnis heraus zu schöpfen vermag, die offensichtlich das Resultat eines intensiven Studiums philosophischer Werke und Problemstellungen war. Dass ich inzwischen die Nachfolge von Jan C. Joerden auf dem Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Viadrina antreten durfte, ist insofern Ehre und Herausforderung zugleich, haben meine eigenen (rechts-)philosophischen Überlegungen doch bis heute jenen eher ungestümen Charakter nicht verloren. Und so kann ich in dieser Festschrift zu Ehren des Jubilars nicht viel mehr präsentieren als den vorläufigen Stand eines in Bewegung befindlichen Denkprozesses, den Einblick in ein fortdauerndes work in progress – wobei erst die Zukunft zeigen wird, inwiefern meine Gedanken überhaupt mehr oder weniger linear fortschreiten oder sich nicht doch eher ohne klar erkennbares Ziel bewegen. Ich hoffe, der Jubilar weiß die folgenden ihm gewidmeten Zeilen gleichwohl zu schätzen, sind sie doch immerhin ein Einblick in etwas, das ich durchaus als Herzensprojekt bezeichnen kann. Ich möchte mit einigen Gedanken dazu beginnen, welche

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Art von Philosophie hier überhaupt betrieben werden soll (II.). Daraus ergibt sich womöglich ein Anhaltspunkt für den angedeuteten schwierigen Fortschritt meiner Überlegungen, verstehe ich Philosophie insofern doch als den Versuch einer Beschreibung dessen, was sich an sich der Beschreibung entzieht (das möchte ich als spekulative Philosophie, hier konkret als spekulative Subjektphilosophie bezeichnen). In diesem Sinne wird im Hauptteil des Textes der Versuch unternommen, eine bestimmte Struktur menschlicher Subjektivität – das gespaltene Subjekt – zu entwickeln (III.), bevor der Beitrag mit einigen Schlussbemerkungen endet (IV.).

II. Spekulative Subjektphilosophie Ich möchte die im Folgenden umrissenen Überlegungen als spekulative Subjektphilosophie bezeichnen; es handelt sich um den Versuch, Strukturen des Subjekts zu beschreiben oder zumindest zu umschreiben, die eigentlich bei jeder Beschreibung und jeder Erkenntnis immer schon vorausgesetzt sein müssen. Auch wenn eine Philosophie des Subjekts (wie jede Philosophie) ihren Ursprung offensichtlich im „aktiven und bewussten Gebrauch der Intelligenz“1 oder des Verstandes hat, entzieht sich ihr Fragehorizont doch einer vollständigen Durchdringung durch eben jenen Verstandesgebrauch, da das Subjekt der Verstandestätigkeit immer schon vorhanden ist und nicht durch Verstandesgebrauch erworben wird.2 Eine vollständige philosophische (Selbst-)Erkenntnis des Subjekts ist daher unmöglich, weil es nie ganz erkennen kann, was bei jeder Erkenntnis immer schon vorausgesetzt ist.3 Das „bewusste Subjekt“, das „Ich“ ist insofern Grund und Grenze jeder Erkenntnis, Erkenntnis geht vom Subjekt aus und kann dieses nie ganz hinter sich lassen.4 Deshalb bleibt in jedem Denk-, Wahrnehmungs- oder Erfahrungsakt ein Rest, ein Überschuss, der durch den Akt nie vollends eingeholt werden kann. Philosophie im hier zu Grunde gelegten Sinne versteht sich insofern auch als Versuch, diesen sich der Beschreibung entziehenden Überschuss zu beschreiben.5 Wenn dabei von einer (spekulativen) Subjektphilosophie die Rede ist, soll Subjektivität einerseits als begriffliche Struktur verstanden werden, die jedoch andererseits nicht beziehungslos neben empirisch-realen Subjekten steht. Die im Folgenden formulierten Überlegungen haben ihre Grundlage unter anderem in jener eigentümli1

So – über die „Verständigungsbewegung des bewußten Lebens“ – Henrich, Bewußtes Leben, 1999, 21. 2 In diesem Sinne auch Damasio, Selbst ist der Mensch, 2010, 198; siehe auch ebenda, 201 zu ursprünglichen Gefühlen des Körpers, die jeder anderen am Aufbau des bewussten Selbst beteiligten Tätigkeit vorausgehen. 3 Zum Teil ähnlich betont Adorno, dass philosophisches Denken niemals eine Position einnehmen könne, in der die Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgehoben ist, siehe Adorno, Gesammelte Schriften, Band 6, 1970, 92. 4 In einem ähnlichen Sinne Henrich (Fn. 1), 65; angedeutet auch bei Damasio (Fn. 2), 25. 5 Dies kann immer nur approximativ gelingen, so zutreffend Henrich (Fn. 1), 65 f.

Spaltung statt Einheit

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chen Gewissheit, die es nur im subjektiven Erleben des Ich – und zwar eines empirisch-realen Ich – gibt, in der der ersten Person, in meiner Erfahrung und meinem Erleben. Dass ich fühle, denke und erlebe, ist für mich in jedem Moment des Wachseins gewiss (dieses Erleben konstituiert letztlich überhaupt erst das Ich), mag es mir auch oft schwerfallen, ein Gefühl, einen Gedanken oder eine Erfahrung festzuhalten oder in Worte zu fassen. Die subjektive Erfahrung ist alles andere als stabil und verlässlich, sondern sprunghaft, volatil und unbeherrschbar – eine denkbar schlechte Voraussetzung für eine Quelle philosophischer Gewissheit. Die Erste-Person-Perspektive hat noch einen weiteren Nachteil, der sie für die Wissenschaft – auch für die Philosophie – immer wieder desavouiert hat: Sie ist aufgrund ihrer Unmittelbarkeit einer Vermittlung, einer Überführung in eine intersubjektive Perspektive nicht zugänglich. Das ist zwar alles andere als unproblematisch, darf aber doch nicht gleichgesetzt werden mit der Behauptung, die subjektive Perspektive wäre beliebig, weil sie zur Disposition des Subjekts stünde. Das ist falsch, und zwar – bei etwas näherer Betrachtung – geradezu offensichtlich falsch. Mein Erleben, mein Denken und meine Wahrnehmung stehen keineswegs uneingeschränkt zu meiner Disposition, ich erlebe meine mentalen Zustände (passiv) mindestens in demselben Maße wie ich sie aktiv als bewusstes Selbst gestalte und beherrsche. Es ist gerade das Fühlen, das Erleben, das In-einem-Zustand-Sein, das die Unmittelbarkeit und Unhintergehbarkeit meiner subjektiven Welterfahrung ausmacht. Die eigentümliche Gewissheit erlebter Subjektivität besteht darin, dass ich meine Welterfahrung erlebe als etwas, das mir passiert oder widerfährt, also als etwas Fremdes, das als solches aber eben mir passiert. Damit ist die Struktur angesprochen, die ich im Folgenden unter dem Begriff der gespaltenen Subjektivität etwas näher ausführen möchte.

III. Das gespaltene Subjekt 1. Gespaltene Subjektivität als Grundstruktur des reflexiven Bewusstseins Erkenne dich selbst. Diese Aufforderung adressiert ihrer Struktur (oder Form) nach dieselbe Art von Subjekt, die sich durch den Satz „Das bin ich“ selbst bezeichnet. Diese Form der Selbstbezeichnung (-erkenntnis, -wahrnehmung) setzt eine Spaltung des Subjekts voraus, das Subjekt ist gleichzeitig Bezeichnendes und Bezeichnetes (Erkennendes und Erkanntes, Wahrnehmendes und Wahrgenommenes),6 es bezieht sich auf seine eigenen Zustände zugleich als solche (als Teil seiner selbst) und

6 Eine zirkuläre Natur des Bewusstseins beschreibt Sartre, Das Sein und das Nichts, 1952, 23; vertiefend vor dem Hintergrund der Philosophie des deutschen Idealismus (mit besonderem Augenmerk auf Hegel) Iber, Hegel-Studien 35 (2000), 51 ff.

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als etwas anderes.7 Freilich gibt es dabei keinen erstmaligen (ursprünglichen) Akt, durch den sich das Subjekt als gespaltenes konstituiert; es muss vielmehr schon vorhanden sein, soll es sich durch ein „Das bin ich“ selbst bezeichnen, eine solche Selbstbezeichnung ist bestätigend, nicht begründend, nachvollziehend, nicht konstitutiv, es wird eine Symphonie gespielt, bei der Dirigent und Partitur im Moment der Aufführung entstehen.8 Das bedeutet auch, dass, wenn hier von einem gespaltenen Subjekt die Rede ist, damit nicht die Vorstellung einer ursprünglichen Einheit verbunden ist; das gespaltene Subjekt war nicht vorher (ursprünglich) eins und dieses Eine wurde dann in zwei aufgespalten, sondern die Spaltung selbst ist ursprünglich, das Subjekt ist als gespaltenes einfach da.9 Es ist – so lautet jedenfalls die hier vorgestellte Überlegung – diese in der Selbstreferenz zum Ausdruck kommende Spaltung, die menschliches (Selbst-)Bewusstsein kennzeichnet, wobei in diesem Sinne jedes Bewusstsein Selbstbewusstsein insofern ist, als ein sich seiner selbst nicht bewusstes Bewusstsein, ein unbewusstes Bewusstsein, absurd wäre.10 Damit wird nicht in Abrede gestellt, dass es ein nicht-reflexives Erleben gibt;11 die Reflexion hat kein Primat gegenüber dem reflektierten Gegenstand12. Vielmehr wird auch die bewusste Reflexion erlebt oder gefühlt (vgl. zur Vorstellung einer Verschränkung von aktivem Bewusstsein und passivem Erleben sogleich).13 Und doch ist es ein besonderes Merkmal menschlicher Subjektivität, dass sich ein Teil ihres Erlebens, ein Teil der Erfahrung dessen, wie es ist, ein Mensch zu sein, im Modus der Reflexivität vollzieht, im Modus des bewussten Sich-auf-SichSelbst-Beziehens (jedenfalls gehen wir davon aus, dass diese Form der Subjektivität bei anderen Lebewesen nicht vorhanden ist). Und wenn ein Subjekt sich auf sich 7

Eine ähnliche Struktur finden wir bei Luhmanns Kommunikationsbegriff, wo sich Alter (der Kommunizierende) zugleich auf sich selbst als Teil der informationshaltigen Welt und auf sich selbst als den Mitteilenden beziehen muss, vgl. Luhmann, Soziale Systeme, 1984, 195 f. 8 Dieses Bild stammt von Damasio (Fn. 2), 35 f.; Dieter Henrich betont, dass sich das Subjekt und sein Wissen von sich nicht als „zwei voneinander unabhängige Einheiten“ darstellen, sondern „in einem Schlag“ entstehen, Henrich (Fn. 1), 58 f.; Hegel spricht mit Blick auf die Entstehung der „wirklichen Seele“ von einem „Blitz“, siehe Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Band 10, 197. 9 Intellektuell ist uns freilich klar, dass es eine Zeit vor uns gegeben hat und dass es auch eine Zeit nach uns geben wird, aber wir können uns nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, nicht (sei es nicht mehr oder noch nicht) da zu sein, genauso wenig wie wir uns einen Anfang oder ein Ende, einen Moment, in dem wir vom Nichtdasein ins Dasein übergehen (oder umgekehrt) vorstellen können. Das ist im Übrigen eine Bestätigung dafür, dass ein auf Rationalität beschränkter Subjektbegriff unvollständig ist. Dass wir rational ohne Schwierigkeiten darlegen können, dass und warum wir irgendwann nicht mehr da sein werden (bzw. früher nicht da waren), besagt nicht darüber, dass dieses Nichtdasein als Teil unseres subjektiven Erlebens von Welt erfahrbar würde. 10 Sartre (Fn. 6), 20. 11 Hierzu Gallagher/Zahavi, The Phenomenological Mind, 2. Aufl. 2012, 52 ff. 12 Sartre (Fn. 6), 22. 13 Zur Komponente des Fühlens bei Wahrnehmungen und Affekten Solms, Hidden Spring, 2021, 133 ff.

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selbst bezieht, setzt dies voraus, dass es zugleich es selbst und ein anderes ist, es muss gespalten sein. 2. Bewusstsein „eigener“ psychischer Zustände und Verlust der Einheit des Subjekts Wenn wir etwas als außerhalb von uns wahrnehmen – einen Tisch, einen Vogel, einen anderen Menschen –, sind Subjekt und Objekt dieser Wahrnehmung getrennt voneinander, empfinden wir uns als Einheit (als einheitliches Subjekt) gegenüber dem wahrgenommenen Objekt. Es mag zwar so sein, dass die neurophysiologische Struktur – das neurophysiologische Korrelat – dieses Wahrnehmungsaktes diese Trennung nicht widerspiegelt, weil das Objekt unserer Wahrnehmung neurophysiologisch vor allem „intern“ erzeugt wird,14 und es mag schon in dieser Konstellation schwierige erkenntnistheoretische Fragen angesichts eines solchen Subjekt/ObjektDualismus geben; aber für unser Empfinden, unser Erleben dieser Wahrnehmung spielt das keine Rolle, wir erfahren uns als Subjekt, das sich rezeptiv gegenüber einer ihm äußerlichen, ihm entgegengestellten (und damit buchstäblich) objektiven Welt verhält. Die Einheit dieses Subjekts wird durch das Objekt nicht gefährdet, sondern sogar bestätigt, ich unterscheide mich von dem nicht zu mir gehörenden Gegenstand meiner Wahrnehmung, letztlich insgesamt von der mich umgebenden Welt.15 Selbstwahrnehmung, die Wahrnehmung (oder das Erleben) „innerer“ Vorgänge und Zustände, durchkreuzt diese Einheit und stellt sie in Frage. Wenn ich z. B. Angst, Erstaunen oder Neugier erlebe, sind dies meine Empfindungen, sie sind nicht außerhalb von mir. Weil ich aber gleichwohl meine Empfindung (als Gegenstand meines Erlebens) von mir (als demjenigen, der dies erlebt) unterscheide, weist die Erfahrung eines eigenen mentalen Zustands meine Subjektivität als gespalten aus; es ist meine Angst, ich empfinde die Angst – und unterscheide mich damit zugleich auch von ihr. Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, die das Gefühl der Einheit des Subjekts im Falle eines „externen“ Objekts bestätigt, fällt bei der Selbstwahrnehmung des von sich wissenden Subjekts in sich zusammen, es nimmt als Subjekt des Wahrnehmungsaktes seine Empfindungen und Zustände als ein von sich getrenntes Objekt wahr, von dem es doch zugleich weiß, dass es nicht von ihm getrennt ist.16 Ob es dahinter überhaupt noch ein einheitliches Subjekt 14

Siehe hierzu statt vieler nur Solms (Fn. 13), 213 ff. Hier gibt es erkennbare Parallelen zur Entstehung von sich selbst organisierenden Systemen (& Leben), die dadurch bewirkt wird, dass diese sich selbst von allem anderen unterscheiden („separating themselves from everything else“), siehe Solms (Fn. 13), 166 f., wobei diese Unterscheidung letztlich immer eine solche innerhalb des Systems ist (ebenda, 173); weiterführend zur Unterscheidung von System und Umwelt Luhmann (Fn. 7), 242 ff. 16 Antonio Damasio beschreibt den Vorgang der Kartographierung des Körpers durch das Gehirn, also der Erzeugung einer Repräsentation, bei der das, was die Repräsentation erzeugt, Teil dessen ist, was repräsentiert wird. Hierdurch entstehe eine „Resonanzschleife“, die eine „Art Körper-Geist-Verschmelzung“ bewirkt, siehe Damasio (Fn. 2), 213 und passim. 15

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gibt und, falls ja, wo dieses Subjekt seinen Ort hat, ist damit fraglich geworden (siehe dazu unten).17 3. Verschränkung von aktivem Bewusstsein und passivem Erleben Wenn hier von gespaltener Subjektivität oder einem gespaltenen Subjekt die Rede ist, darf das nicht zu dem Missverständnis führen, dass wir es mit zwei kategorial voneinander getrennten Entitäten zu tun hätten. Ich werde im Folgenden die beiden Komponenten der gespaltenen Subjektivität als bewusste aktive Geistestätigkeit einerseits und passives Erleben mentaler Zustände andererseits bezeichnen, ohne im Zuge dieser Unterscheidung aus dem Blick zu verlieren, dass beides miteinander verschränkt ist.18 Zur Erläuterung seien folgende Beispiele angeführt: Wenn wir zwei unterschiedliche Gegenstände (z. B. einen Bleistift und einen Kugelschreiber) hochheben, um zu untersuchen, welcher von beiden schwerer ist, entscheiden wir uns aktiv und bewusst dafür, die Gegenstände hochzuheben, während wir demgegenüber passiv erleben („fühlen“), welcher Gegenstand schwerer ist.19 Wenn wir in einem Restaurant ein bestimmtes Essen bestellen (aktive bewusste Entscheidung), dessen Geschmack wir (passiv) als unangenehm erleben, können wir uns entscheiden, dass Essen nicht aufzuessen oder etwas anderes zu bestellen; hingegen liegt es außerhalb des unserer bewussten Aktivität verfügbaren Bereichs darüber zu entscheiden, dass uns das Essen besser schmecken soll. Wir erleben also z. B. Ekel oder Wohlgeschmack als etwas, das uns passiert (widerfährt), nicht als etwas, das zu unserer bewussten Disposition steht.20 In diesem Sinne ist das passive Erleben mentaler Zustände im Verhältnis zu unserem „bewussten Selbst“ etwas Fremdes. Und gleichzeitig sind derartige Erfahrungen unzweifel-

17 Als ein „Nirgends“ wird der Ort des Denkens bezeichnet von Hannah Arendt, zitiert nach Di Cesare, Von der politischen Berufung der Philosophie, 2020, 66; Di Cesare selbst schreibt, dass „[d]er atopische Zug (…) Existenz und Philosophie auf das Engste“ verbindet, ebenda, 131. 18 Eine ähnliche Figur findet sich zu Beginn von Hegels Seinslogik zum Verhältnis von Sein und Nichts, die „nicht dasselbe (…) absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegenteil verschwindet“, siehe Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Band 5, 83; ebenso ließen sich eine Parallele zur Figur der Falte bei Gilles Deleuze ziehen, Deleuze, Die Falte: Leibniz und der Barock, 2000, passim; neuroanatomisch wird diese Verschränkung repräsentiert durch das Zusammenwirken von Hirnstamm und Großhirnrinde beim Aufbau des Bewusstseins, siehe Damasio (Fn. 2), 263 ff. Der hier verwendete Begriff der Verschränkung (engl. entanglement) stammt aus der Quantenphysik, siehe hierzu Horodecki et al., Reviews of Modern Physics 81 (2009), 865 ff. 19 Das Beispiel stammt von Jaynes, The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind, 1976, 37. 20 Die Kategorie des Pathos, der Widerfahrnis spielt eine zentrale Rolle in der Philosophie von Bernhard Waldenfels, siehe etwa Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, 2002, 14 ff.

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haft meine, ich erlebe Schmerz, Angst, Ekel usw.21 Dies ist die spezifische Form menschlicher („gespaltener“) Subjektivität, ich erlebe mich als Subjekt passiver Erfahrungen und Erlebnisse, bin aber gleichzeitig in der Lage, mich aktiv auf diese zu beziehen und sie zum Gegenstand meiner bewussten Reflexion zu machen. 4. Die Unruhe des gespaltenen Subjekts und seine Neigung zur Unendlichkeit Die hier beschriebene Spaltung des Subjekts, i. e. die Tatsache, dass unsere lebensweltliche Wahrnehmung und Erfahrung durch eine Verschränkung von bewusster Aktivität und passivem Erleben gekennzeichnet sind, begründet eine Unruhe, eine Ortlosigkeit des Subjekts.22 Wir kommen nicht umhin, uns als Einheit, als Kontinuität wahrzunehmen,23 spüren aber zugleich, dass diese Einheit sich immer wieder in der Verschränkung von Aktivität und Passivität verflüchtigt. So selbstverständlich es auch ist, dass wir uns im Wege eines „Das bin ich“ selbst bezeichnen, so unklar bleibt, wo genau dieses sich bezeichnende Subjekt seine Einheit findet in der Zerrissenheit zwischen aktivem Bewusstsein und passivem Erleben. Der Versuch, sich selbst als eine diese Dialektik überwindende Einheit zu begreifen, mag – mit größter Mühe – im philosophischen System gelingen, scheitert jedoch im alltäglichen Erleben des Subjekts.24 Ebenso wenig kann sich das Subjekt mit der aus heutiger Sicht naheliegenden Vorstellung zufrieden geben, dass seine Einheit sich im „biologischen“ Leib, in der Materie erschöpft, denn deren Vergänglichkeit verträgt sich nicht mit einer Subjektivitätserfahrung, die sich weder den eigenen Anfang noch das eigene Ende vorstellen kann. Und weil das Subjekt sich also einerseits als 21

56.

Zur „quality of mineness“ als Merkmal von Erfahrung sie Gallagher/Zahavi (Fn. 11),

22 Lévinas spricht von der „solipsistischen Unruhe des Bewusstseins“ (Lévinas, Die Spur des Anderen, 1983, 198). Auch Charles Taylor kennzeichnet eine Art von Sinnsuche als spezifisches Merkmal des neuzeitlichen Menschen und grenzt diese ab von einer „Angst vor Verdammnis“, die in früheren Kulturen (und in manchen noch bis heute) womöglich die vorherrschende existenzielle Sorge war, siehe Taylor, Quellen des Selbst, 1996, 38 ff. m. w. N. Er weist auch darauf hin, dass es eine Verschiebung in der Diagnose psychischer Beschwerden gibt, die unter Umständen Ausdruck dieses Bedeutungswandels ist (ebenda, 43). An anderer Stelle spricht Taylor von einem „aus dem menschlichen Leben nicht wegzudenkenden Verlangen“, das darauf gerichtet sei, „im Verhältnis zum Guten den richtigen Standort einzunehmen“ (ebenda, 89) und betrachtet sowohl das neuzeitliche Streben nach Sinn als auch die ältere Suche nach Ruhm und Ehre oder Unsterblichkeit als Ausdruck dessen (vgl. ebenda, 87), siehe zu den Anforderungen an das Subjekt auch Fuchs/Iwer/Micali, in: dies. (Hrsg.), Das überforderte Subjekt, 2018, 9 ff. 23 Antonio Damasio zeigt, inwiefern das von ihm sog. „autobiographische Selbst“, das sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinweg als Kontinuität wahrnimmt, zum einen evolutionsbiologisch nützlich, zum anderen aber eine Fiktion, ein „erdachter“ Protagonist ist, siehe Damasio (Fn. 2), 174 ff. 24 Vermutlich ist Angst eines der Gefühle, durch die das Subjekt seine Spaltung, das Scheitern seiner Einheit besonders drastisch erlebt, denn Angst wird ohne Frage von mir empfunden, sie ist meine Angst, befindet sich aber doch ebenso zweifelsfrei außerhalb des meiner „Herrschaft“ zugänglichen Bereichs.

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eine dauerhafte Einheit wahrnimmt, die scheinbar immer schon da war und nie vergehen kann, während es andererseits keinen Ort ausmachen kann, an dem diese Einheit ihren Sitz haben könnte, neigt das Subjekt zur Unendlichkeit, es ist in seiner Existenz stets auf ein „Mehr“, ein „Über“, ein „Meta“ ausgerichtet, in dem es hofft, den Ort seiner Einheit zu finden.25 Vor dem Hintergrund dieser Subjektphilosophie ließe sich die religiöse Vorstellung eines Jenseits ebenso als eine Reaktion auf (oder eine Anpassung an) die Neigung des Subjekts zur Unendlichkeit deuten wie die Verortung in einer Volksgemeinschaft oder die Idee einer Einheit des Menschen mit der Natur oder übernatürlichen Welten. Es handelt sich gewissermaßen um unterschiedliche Angebote für das Subjekt, das nach seiner Einheit im Unendlichen strebt und gleichsam kulturelle Techniken dafür entwickelt, die dabei helfen, dieses Streben aufzufangen, die dem Subjekt in seiner Neigung entgegenkommen. Auch die Philosophie lässt sich als Ausdruck der Unruhe des gespaltenen Subjekts deuten, als eine Reaktion auf die Neigung des Subjekts zum Unendlichen. Indem Sokrates die Frage der Ethik aufwirft, die Frage, wie wir leben sollen,26 richtet er sich an ein Subjekt, dessen Leben nicht einfach passiert,27 das mit kontingenten Situationen konfrontiert ist, in denen Entscheidungen im Modus des aktiven bewussten Denkens gefällt werden. Dieser Modus ist eine strukturelle Konsequenz des hier zu Grunde gelegten Subjektivitätsverständnisses. Ein Subjekt, das sich jedenfalls auch als bewusst reflektierenden Akteur erlebt, muss zu einem Umgang mit der als solcher empfundenen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit finden, es muss im Modus des bewussten Denkens darüber befinden, wie mit Situationen umgegangen werden soll, die sich nicht „von selbst“ erledigen.28 Das wirft zwangsläufig Fragen nach dem „Warum“ oder „Wie“ auf, die zwar nicht unbedingt unter Rückgriff auf eine Ethik, aber doch irgendwie beantwortet werden müssen. Wenn wir in solchen durch die Struktur (oder Form) menschlichen Bewusstseins notwendig aufgeworfenen Fragen einen möglichen Ursprung der Philosophie sehen (wie wir sie seit Sokrates und Platon kennen), könnte dies erklären, warum die Phi25 Hier gibt es Ähnlichkeiten zum Lévinasschen Begehren, durch das das Andere, das begehrt wird, „in den Bereich der Erhabenheit“ versetzt wird, weil es keine Befriedigung für dieses Begehren gibt, es nicht Mangel von etwas ist, Lévinas (Fn. 22), 201. 26 Vgl. dazu, dass der Fokus auf die Ethik die entscheidende Neuerung der sokratischen Philosophie ist, Weber, Platons Apologie des Sokrates, 8. Aufl. 2007, 5 ff. 27 Siehe zu diesem Unterschied Henrich (Fn. 1), 13; vgl. auch Damasio (Fn. 2), 188, der Kennen im Gegensatz zu Sein und Tun unterscheidet sowie – ebenda, 16 – Schmerz und Leid sowie Lust und Glück. 28 In diesem Sinne auch Henrich (Fn. 1), 22; Charles Taylor spricht von einem moralischen Raum, in dem Menschen immer schon mit bestimmten Fragen konfrontiert sind, wobei die Raummetapher auch deshalb gewählt wird, weil wir uns nach Taylor ebenso wenig eine menschliche Kultur völlig ohne moralische Fragen vorstellen können wie eine solche, die sich nicht über ihre Orientierung im Raum Gedanken macht, vgl. Taylor (Fn. 22), 52 ff.; eine mögliche Parallele zu neurophysiologischen Vorgängen ließe sich formulieren mit Blick auf die Ausführungen von Solms (Fn. 13) 133 ff.

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losophie keine endgültigen Antworten finden kann.29 Die Frage ist die Wurzel des Philosophierens, sie ist radikales Fragen – und würde durch „endgültige“ Antworten in der Tat einfach „enden“. Mag auch die moderne Wissenschaft Antworten auf zahlreiche Fragen gefunden haben, so kann sie die Philosophie doch niemals überflüssig machen, weil die Tätigkeit des Philosophierens in einem Modus des nicht endenden Fragens stattfindet, der für „andere“ Wissenschaften nicht zugänglich ist. Indes ist die Philosophie nicht nur Ausdruck und Spiegelung der Unruhe des gespaltenen Subjekts; zugleich setzt vielmehr mit Platon eine Tradition ein, die als Versuch einer Überwindung der Spaltung, also als Bemühen um die Territorialisierung des atopischen Subjekts30 gedeutet werden kann.31 Charles Taylor bezeichnet in seiner großen Untersuchung zu den „Quellen des Selbst“ Platon als Ausgangspunkt einer „umfangreichen Familie von Auffassungen“, für die „das gute Leben als eine Art Selbstbeherrschung“ gilt, „die in der Überwindung der Begierde durch die Vernunft besteht“.32 In ihrer modernen Variante findet dies in einem Verständnis seinen Ausdruck, wonach das Selbst „nicht nur die es umgebende Welt, sondern auch seine eigenen Gemütsbewegungen und Neigungen, Ängste und Zwangsvorstellungen (…) objektivieren“ soll, um vernünftig zu handeln, wobei „Vernunft“ hier „nicht mehr im Sinne einer kosmischen Ordnung bestimmt“ wird, sondern „im Hinblick auf Verfahrensweisen, also im Sinne einer instrumentellen Leistungsfähigkeit, der Maximierung des angestrebten Werts oder der Widerspruchsfreiheit“.33 Während die antike Philosophie (ebenso wie die scholastische) dem Subjekt insofern noch Hoffnung auf eine Einheit außerhalb seiner selbst machte, etwa im Gleichklang mit einer natürlichen Ordnung oder der Begegnung mit einem transzendenten Gott, verlegt die moderne Philosophie die Suche nach der Einheit des Subjekts vollständig in das Innere.34 Das Jenseits fungiert nicht mehr als Hoffnung auf Einheit und wird zunehmend ersetzt durch ökonomisch induzierte Ideen von Wachstum und Konsum, die dem Subjekt zwar ebenfalls eine Art von Transzendenz versprechen, die sich jedoch mit jedem Akt des Konsums als illusorisch erweist. Es liegt in der Logik des Ökonomischen, dass es keine endgültige Befriedigung geben 29

Zum Folgenden eindringlich Di Cesare (Fn. 17), 27 ff. und passim. Die Begriffe des Atopischen und seiner Territorialisierung stammen von Donatella Di Cesare, sind dort aber vor allem auf die Philosophie bezogen und weniger auf das Subjekt – Di Cesare (Fn. 17). 31 Simon Critchley stellt der platonischen, nach Einheit strebenden Philosophie eine in der antiken griechischen Tragödie (und auch im Sophismus) zum Ausdruck kommende Position gegenüber, die Zerrissenheit und Spaltung anerkennt, siehe Critchley, Tragedy, the Greeks, and Us, 2019, passim; auch Bernard Williams deutet Wege an, die in eine Philosophie des gespaltenen Subjekts im hier zu Grunde gelegten Sinne weisen könnten, siehe Williams, Shame and Necessity, 1993, und ders., Ethics and the Limits of Philosophy, 1985. 32 Taylor (Fn. 22), 47. 33 Taylor (Fn. 22), 47. 34 Taylor betrachtet Descartes als den wesentlichen Ausgangspunkt dieser Entwicklung, Taylor (Fn. 22), 262 ff. 30

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darf, dass jedes Wachstum, jeder Konsum stets nur den Wunsch nach mehr Wachstum/Konsum hervorrufen muss. Auch die kapitalistische Ökonomie kann daher ihr Versprechen auf Einheit nur mit Verweis auf die Unendlichkeit einlösen, hat aber die lange Zeit „glaubhafte“ Perspektive auf Unendlichkeit (das Jenseits) unter Zuhilfenahme der Philosophie beseitigt. Das Subjekt ist damit endgültig allein mit seiner Unruhe, es kann entweder einem ökonomischen Imperativ folgen, der die Unerfüllbarkeit seines Versprechens immer mit sich führt, oder es kann sich in die Hoffnungslosigkeit eines im vergänglichen Leib gefangenen Daseins flüchten.35

IV. Schlussbemerkungen Der ökonomisch dominierte Liberalismus hat dem Subjekt womöglich zu wenig zu bieten, nachdem er seine Bezüge zur es umgebenden Welt gekappt und es als für sich selbst stehendes autonomes Individuum inthronisiert hat. Die Sehnsucht des Subjekts, das nach einer Einheit im Unendlichen strebt, um seiner Art und Weise des In-der-Welt-Seins einen Sinn abzugewinnen, schien sich gut mit dem Angebot der kapitalistischen Ökonomie zu vertragen, die mit Wachstum, Profit und Konsum gleich mehrere vermeintlich in die Unendlichkeit weisende Kategorien anzubieten hat. Andererseits erleben wir möglicherweise, dass dieses ökonomisch induzierte Streben nach Unendlichkeit nicht nur planetarische Grenzen zu überschreiten droht; vielmehr könnte sich parallel auch eine Ermüdung des Subjekts andeuten, das sich langsam der Tatsache gewahr wird, dass es mit der vom Kapitalismus in Aussicht gestellten Unendlichkeit nicht weit her ist. Die hier vorgeschlagene Subjektphilosophie zielt insofern zunächst darauf ab, die hier sog. Neigung des Subjekts zur Unendlichkeit anzuerkennen, die einer rein vernunftorientierten Subjektivitätskonzeption entgegensteht, mag diese nun als ökonomisches Kalkül oder als philosophische Ratio daherkommen. So lässt sich auch der Blick darauf richten, wie sich in der philosophischen Herrschaft der Vernunft mit ihrer Objektivierung von Erfahrungen, Neigungen und Empfindungen des Subjekts die reale Objektivierung und Unterdrückung zahlloser (vor allem nichteuropäischer) Menschen spiegelt, über deren Leid die europäische Philosophie viel zu wenig zu sagen hatte, während sie den Triumph von Freiheit und Vernunft verkündete. An anderer Stelle wird auszuführen sein, was aus der hier umrissenen Subjektphilosophie u. a. für die Ethik, für das Recht und für das Verhältnis der beiden folgen

35 Wobei diese Hoffnungslosigkeit nicht nur (und vielleicht nicht in erster Linie) eine Konsequenz des Bewusstseins der eigenen Vergänglichkeit ist, sondern – wie Quentin Meillassoux herausarbeitet – auch auf den Verlust geliebter Menschen zurückgeht, der uns gerade dann in unerträgliche Verzweiflung stürzen kann, wenn es sich um einen „ungerechten“ Tod (zum Beispiel eines Kindes) handelt. Eine Welt, in der es keine Hoffnung auf Gerechtigkeit für diese (von Meillassoux sogenannten) Gespenster gibt, ist für uns nur schwer zu ertragen, siehe Meillassoux, Trassierungen Zur Wegbereitung spekulativen Denkens, 2017, 20 ff.

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könnte.36 Ich würde mich freuen, wenn der Jubilar, nachdem er vielleicht Zeit für die Lektüre dieser Zeilen gefunden hat, auch den nächsten Schritt meines philosophischen Weges mit kritischem Interesse begleitet.

36 In vielerlei Hinsicht wird sich aufbauen lassen auf die Überlegungen bei Becker, in: Joerden/Schuhr (Hrsg.), JRE 27 (2019), 39 ff.

Rekonstruktionen zu Kants Einleitung in die Metaphysik der Sitten und in die Rechtslehre Jochen Bung Kants Arbeitsweise ist, was die Lektüre seiner Texte zuweilen etwas anstrengend macht, stark auf die Konstruktion begrifflicher Zusammenhänge gerichtet. Daher muss man Kant, stärker als andere, zunächst jedenfalls, rekonstruktiv lesen. Man muss die Konstruktionen rekonstruieren, um zu verstehen, um was es überhaupt geht, man muss sich mehr als bei anderen auf terminologische Verdichtungen, auf Unterscheidungen und auf die Gesamtarchitektonik der Darstellung einlassen. Die Mühe lohnt sich aber, die Texte Kants gehören nicht zufälligerweise zu den wichtigsten der Rechtsphilosophie. Die „Metaphysik der Sitten“ [1797, Abk. MS] ist – vor allem in ihren Einleitungspartien – ein besonders anforderungsreicher und komplexer Text, er setzt die Kenntnis der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ [1785; Abk. GMS] voraus, nach Kants Fortschreibung des Systems eigentlich auch die „Kritik der praktischen Vernunft“ [1788, Abk. KpV], jedenfalls, weil man diese Werke ja realistischerweise nicht vorher vollständig durcharbeiten kann, die Entwicklung des Gedankens einer Norm, die unbedingt, sozusagen aus sich heraus, verpflichtet und die nicht im Hinblick auf externe Zwecke relativiert werden darf. Kant bezeichnet diese unbedingte Norm als kategorischen Imperativ. Seine Herleitung erfolgt in der GMS über mehrere Schritte, der Grundgedanke ist aber einfach und betrifft die in jeder Norm angelegte Frage ihrer Generalisierungsfähigkeit, alltagssprachlich: „Was, wenn alle so handeln würden?“ Den Sinn und die Relevanz dieser Frage sehen nach Kant alle ein, man braucht nicht unbedingt Philosophie dazu, man kann dem „gemeinen Menschenverstande“1 folgen.2

1

Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VII, (Hrsg.) W. Weischedel, 24. Aufl. 2020, 31. 2 Der gemeine Menschenverstand kommt von selbst auch auf die sog. Goldene Regel, wonach man andere so behandeln soll, wie man von ihnen behandelt werden will. Kants Konstruktionen verfremden den Sinn dieser Regel zum Teil so, dass die elementare Reziprozität verdeckt wird und die Unbedingtheitsnorm wesentlich als eine einsame Generalisierung erscheint. In Wahrheit geht es aber natürlich um die elementaren Verpflichtungen, die aus der Intersubjektivität für die Subjekte erwachsen: dass ich die anderen in meinem Handeln als wesentlich frei und gleich anerkenne. Die wahre Unbedingtheitsnorm ist Ich = der Andere.

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Die Metaphysik der Sitten – nach Kants eigener Einschätzung ausgestattet mit dem Merkmal eines „abschreckenden Titels“3 – setzt ihre Grundlegung voraus, das bedeutet, dass ihre beiden Teile, Rechtslehre und Tugendlehre aus einem Gemeinsamen heraus verstanden werden müssen, eben jenem Gedanken einer unbedingten Norm. Das ist das Wichtigste im Verständnis, sonst versteht man nichts. Denn es bedeutet, dass Recht und Moral zwar einerseits zu trennen, andererseits aber auch über einen gemeinsamen Gesichtspunkt aufeinander zu beziehen sind. Wenn, nach dem ersten Satz der MS, die Metaphysik der Sitten in die Rechtslehre und die Tugendlehre „zerfällt“4, dann versteht man das nur, wenn man weiß, worin Rechts- und Tugendlehre in eins gefallen waren, bevor sie für die Zwecke „des Systems“5 wieder auseinander gefallen sind. Auch in den Einleitungspartien der MS gibt Kant wichtige Hinweise zum Zusammenhang von Recht und Moral. Ich will sie hier in Form von zwei Rekonstruktionen zugänglich machen und zwar, eng orientiert am Text selbst, zunächst in Form einer Rekonstruktion der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ (I.) und dann als Rekonstruktion der „Einleitung in die Rechtslehre“ (II.). Dabei will ich auch auf Probleme der Konzeption eingehen. Gerne widme ich diese Abhandlung Jan C. Joerden, der unlängst mit einem Beitrag zu einer anderen Festschrift6 in eindrucksvoller Weise verdeutlicht hat, welche enormen Impulse nach wie vor von den klassischen Texten des deutschen Idealismus für die rechts- und verfassungsphilosophische Diskussion ausgehen.

I. Einleitung in die Metaphysik der Sitten 1. Interesse aus Neigung und Vernunftinteresse Kant möchte begründen, dass wir uns im Handeln (im Bereich des Praktischen) nicht lediglich durch Neigungen und Abneigungen, Aversionen und Begierden, Lust und Unlust leiten lassen, sondern auch durch das, was er „Vernunftinteresse“7 nennt. Dass es auch eine Lust ohne Begehren gibt (interesselose Lust), deutet Kant an,8 der Gedanke wird aber nicht systematisch ausgeführt, weil er aus dem Feld des Praktischen herausführt.

3

Kant (Fn. 1), 16. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII, (Hrsg.) W. Weischedel, 18. Aufl. 2017, 309. 5 Kant (Fn. 4), 309. 6 Joerden, FS Merkel, 2020, 153 ff. 7 Kant (Fn. 4), 316 8 Kant (Fn. 4), 315 f. 4

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Im Feld des Praktischen, wo die Lust mit dem Begehren notwendig verbunden ist,9 gibt es zwei Formen des Interesses (Interesse = Verbindung von Lust und Begehren)10, die sich im Hinblick darauf unterscheiden, ob die Lust dem Interesse als Ursache vorausgeht (Interesse der Neigung) oder ob dies nicht der Fall ist und „die Lust nur auf eine vorhergehende Bestimmung des Begehrungsvermögens folgen kann“11. Im letzteren Fall ergibt sich das Interesse aus dem Bestimmungsgrund dieser vorherigen Bestimmung des Begehrens, nämlich der Vernunft. Daraus ergibt sich der Begriff eines Vernunftinteresses. Einfach gesagt: Man will etwas, weil es die Vernunft will. 2. Künstliche Dichotomie und natürlicher Sprachgebrauch Durch seine starke Dichotomisierung – Vernunft vs. Neigung – ergibt sich für Kant eine gewisse Schwierigkeit, begreiflich zu machen, wie die Vernunft zum Handeln geneigt machen kann. Eigentlich dürfen Vernunft und Neigung nicht vermengt werden, wenn Neigung besagt, dass man durch Lust motiviert wird.12 Aber Kant erkennt, dass dieses Problem durch seine dichotome Konstruktion entsteht und es im normalen Sprachgebrauch nicht nur nicht problematisch, sondern ganz natürlich ist, davon auszugehen, dass etwas deswegen gewollt wird, weil es vernünftig ist. Kant verkrampft sich ein bisschen, wenn er argumentiert, so zu reden sei auch ganz in Ordnung, wenn man darauf achtet, dass die Lust die Wirkung, nicht die Ursache des Motivs ist, etwas zu tun, weil es vernünftig ist. Immerhin aber stellt er fest, dass man „um dem Sprachgebrauche gefällig zu sein“13 von einer Vernunftneigung unseres Handelns ausgehen kann. 3. Natürliche Vernunftneigung und natürliches Recht Im Grunde erkennt Kant, dass im normalen Sprachgebrauch, dem Vernunftinteresse immer schon eine Neigung „untergeschoben“14 ist, es handelt sich daher im Grunde gar nicht um ein Unterschieben oder eine unzulässige Vermengung, sondern der Sprachgebrauch belegt, dass wir natürlicherweise von einer Vernunftneigung ausgehen. Wichtig ist zu sehen: Im Gedanken dieser natürlichen Vernunftneigung ist bereits der Begriff eines natürlichen Rechts eingeschlossen, der Begriff einer Verbindlichkeit, die schon bindet, bevor äußere Zwangsvorkehrungen zur Sicherung dieser Bindung getroffen sind.

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Kant (Fn. 4), 316. Kant (Fn. 4), 316. 11 Kant (Fn. 4), 316. 12 Kant (Fn. 4), 316. 13 Kant (Fn. 4), 317. 14 Kant (Fn. 4), 317.

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4. Sprache, zwanglose Bindung Kant steht im Grunde also dicht vor der Lösung des Problems der zwanglosen Bindung, er ahnt, dass sie in der Sprache selbst liegt. Was er „nicht deutlich gedacht haben mag“15, ist, dass die Umgangssprache die „letzte Metasprache“ ist, dass es keine Möglichkeit gibt, die Umgangssprache endgültig durch eine kunstsprachliche Konstruktion zu transzendieren. In der Art, wie wir reden, liegt die Wahrheit. Und daher ist Vernunftneigung kein echtes Problem und Kant redet das Problem auch herbei. 5. Zweistufiges Begehren, Willkür und Wille, praktische Vernunft Kant führt im Begriff des Begehrungsvermögens eine Unterscheidung ein. Zum einen den Begriff eines Vermögens „zu tun oder zu lassen“16, was man will, er nennt es Willkür. Zum anderen den Begriff eines Willens, der sich nicht, wie die Willkür, auf die Handlung (das Tun oder Lassen) richtet, sondern auf die „Willkür zur Handlung“17. Aus dem Begriff dieses Willens, eines Wollens zweiter Stufe, ergibt sich jener der praktischen Vernunft: „Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung, betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst“18. 6. Vernünftige Verallgemeinerung, „Form der Tauglichkeit der Maxime der Willkür zum allgemeinen Gesetze“19 Praktische Vernunft ist nach dieser Vorstellung also dadurch möglich, dass unser Wollen durch ein „höheres“ Wollen bestimmt werden kann, welches seinerseits nicht bestimmt werden muss, weil es der Bestimmung selbst die Form gibt. Die Form, die es der Bestimmung gibt, ist der sog. „kategorische Imperativ“, eine „Probe“20 der Universalisierungsfähigkeit von Handlungsmaximen. Zu prüfen ist, ob die Maxime, der die Handlung folgt, allgemeine Geltung beanspruchen kann. Praktische Vernunft ist nach Kant also „nicht anders möglich, als durch die Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der erstern zum allgemeinen Gesetze“21. 15

Vgl. Kant (Fn. 4), 344. Kant (Fn. 4), 317. 17 Kant (Fn. 4), 317. 18 Kant (Fn. 4), 317. 19 Kant (Fn. 4), 318. 20 Kant (Fn. 4), 331. 21 Kant (Fn. 4), 318.

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7. „Gesetze der Freiheit“ Der vernünftige Wille (der auf praktische Vernunft im Sinne des Vollzugs der Universalisierungsprobe gegründete Wille) ist die Bedingung für Freiheit und Moralität.22 Der freie Wille ist also der Wille, der sich durch Vernunft bestimmen lassen, der vernünftig verallgemeinern kann. Die verallgemeinerungsfähigen Maximen bezeichnet Kant als „Gesetze der Freiheit“ oder auch als „moralische“ Gesetze.23 8. Moralische und juridische Gesetze, Legalität und Moralität Im Begriff dieser moralischen Gesetze führt Kant nun die zentrale Unterscheidung der MS ein, die nämlich von Moralität und Legalität.24 Zu beachten ist, dass in diesem Argument „Moralität“ zweimal vorkommt. Kant sagt: Gesetze der Freiheit sind moralische Gesetze, solche, die einer Form der Verallgemeinerung entsprechen und diese Form kann ich in zwei Richtungen konkretisieren, nach „außen“ und „innen“. Vernünftige Verallgemeinerung hat eine äußere Form und eine innere Form. Die äußere Form erfasst Kant im Begriff der juridischen Gesetze, die innere Form im Begriff der moralischen oder ethischen Gesetze.25 Mit dieser Differenzierung hängt die Unterscheidung „äußerer“ und „innerer“ Handlungen zusammen.26 Man kann sich die Unterscheidung vielleicht so verdeutlichen: Man kann so handeln wollen, dass das Handeln mit dem Gesetz übereinstimmt (rechtliches Handeln), man kann darüber hinaus aber auch so wollen wollen, dass das Handeln mit dem Gesetz übereinstimmt (moralisches bzw. ethisches Handeln). 9. Innen und Außen So weit, so gut. Innen und Außen – das hat eine gewisse Eingängigkeit und führt vielleicht dazu, dass man vergisst, wo die Unterscheidung herkommt. Die Unterscheidung ist nicht aus sich heraus verständlich, sie ist nur aus dem Rückbezug auf ein Gemeinsames hin verständlich. Bevor „das System (…) in (…) Rechtslehre und (…) Tugendlehre zerfällt“27, muss man sehen, wo Recht und Tugend zusammenfallen. Deswegen muss man vor einer Verfestigung und Verselbständigung der Unterscheidung von Innen und Außen auf der Hut sein. Die Unterscheidung ist auf eine Form zu beziehen, der „innen“ und „außen“ gleichgültig ist. Bei Kant kommt das nicht ganz klar heraus, wenn er argumentiert, dass juridische Gesetze auch als moralische Gesetze zu betrachten sind, wenn auch, wie er sagt, „nicht immer in dieser 22

Vgl. Kant (Fn. 4), 318. Kant (Fn. 4), 318. 24 Kant (Fn. 4), 318. 25 Vgl. Kant (Fn. 4), 318. 26 Kant (Fn. 4), 323. 27 Kant (Fn. 4), 309.

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Beziehung“28. Freilich, der Grundgedanke ist richtig: Recht hängt mit Moral zusammen, aber auf den Zusammenhang kommt es nicht immer an (wir können das Recht in bestimmtem Umfang auch ohne Bezug zu außerrechtlicher Normativität betrachten). 10. Recht und Moral wie Raum und Zeit Kant verdeutlicht das Verhältnis von Recht und Moral durch das Verhältnis von Raum und Zeit.29 Auch diese Verdeutlichung ist an der Unterscheidung von Innen und Außen orientiert: der Raum ist für den äußeren, die Zeit sowohl für den äußeren wie den inneren Sinn.30 Dadurch ist die Zeit die wesentlichere Form, auf die man alle Gegenstände letztlich beziehen muss, „weil die Vorstellungen beider doch Vorstellungen sind, und sofern insgesamt zum inneren Sinne gehören“.31 Ist der Vergleich des Verhältnisses von Recht und Moral mit dem von Raum und Zeit gelungen? Die Veranschaulichung unterläuft sich insofern ein wenig selbst, als mit „innen“ und „außen“ Kategorien des Raumes verwendet werden, um die geringere begriffliche Reichweite des Raumes zu verdeutlichen. Andererseits ist der Zeitbegriff durchaus geeignet, eine Veranschaulichung von etwas zu geben, demgegenüber die Unterscheidung von Innen und Außen irrelevant ist. Wie auch immer: Recht und Moral sind viel enger aufeinander bezogen als viele meinen (und sich dabei – fälschlich – auf Kant berufen). Das Recht kann von der Moral abstrahiert werden (vgl. den Begriff des „abstrakten Rechts“ bei Hegel oder den Begriff des „strikten Rechts“ bei Kant, dazu gleich), aber wenn es um den vollständigen Begriff des Rechts geht, müssen „äußeres“ und „inneres Recht“ zusammengedacht werden. Hegel hat verdeutlicht, dass die Abstraktion, auf der das abstrakte Recht beruht, kaum festgehalten werden kann, da „sogleich (…) Reflexion auf höhere Verhältnisse“ stattfindet.32 11. Innere und äußere Gesetzgebung, natürliches und positives Recht Korrespondierend zur Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Handlungen33 führt Kant die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer, zwischen ethischer und juridischer Gesetzgebung ein.34 Die Gesetze, zu denen man auch ohne äußere („juridische“) Gesetzgebung kommt, sind die „natürlichen Gesetze“ (die „natu28

Kant (Fn. 4), 319. Kant (Fn. 4), 318 f. 30 Kant (Fn. 4), 319. 31 Kant (Fn. 4), 319. 32 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7, (Hrsg.) E. Moldenhauer u. K. M. Michel, 14. Aufl. 2015, 97, Anm. zu § 38. 33 Kant (Fn. 4), 323; zur Deutung s. o. I.8. 34 Kant (Fn. 4), 323. 29

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ral laws“ bei Hobbes), das sind die Gesetze, deren Verbindlichkeit „durch die Vernunft erkannt werden kann“35, gleichwohl kann nach Kant „eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter natürliche Gesetze enthielte“36. Der Witz des Begriffs der äußeren Gesetzgebung ist demnach, dass er den Begriff der „positiven Gesetze“ einschließt, also jener Gesetze, „die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden“37, mithin den für die äußere Gesetzgebung typischen „äußere[n] Zwang“38 voraussetzen und in der Regel nicht „durch bloße Vernunft“, sondern „durch die Willkür eines anderen“ vorgeschrieben sind.39 Wenn Kant die positiven Gesetze als diejenigen definiert, die „ohne (…) äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden“40, dann folgt im Umkehrschluss für die natürlichen Gesetze, dass dieselben auch schon (jedenfalls in bestimmtem Umfang) ohne äußere Gesetzgebung verbinden. Das bedeutet, dass die Vernunft die Gesetze nicht nur erkennt,41 sondern – sofern die Vernunft eben auch der Wille ist („Der Wille ist (…) die praktische Vernunft selbst“),42 auch handlungswirksam macht. Anders ausgedrückt: Die moralische Notwendigkeit einer Handlung43 bedarf, um wirksam zu werden, nicht stets einer äußeren Nötigung (Zwangsvorkehrung), sondern „nötigt“ gleichsam von selbst, motiviert intrinsisch, hat die „Triebfeder“44 in sich selbst.

12. Probleme mit der Deutung des Versprechens Kant unterschätzt die fundamentale Bedeutung natürlicher Gesetze. Das wird deutlich in seiner Behandlung des Gesetzes, dass man sein Versprechen halten muss (pacta sunt servanda).45 Bei Hobbes (auch bei Grotius) ist es selbstverständlich, dass pacta sunt servanda aus der Vernunft kommt und deswegen verpflichtet, vgl. auch Hegel zur Bindungswirkung der „Stipulation“46. Kant hingegen verfehlt die Kraft des Versprechens, wenn er argumentiert, die Vernunft entwickle die Pflicht, dass Versprechen gehalten werden müssen, nicht selbst, sondern greife sie aus dem Recht auf. Er meint, „nicht in der Ethik, sondern im Ius liegt die Gesetzgebung, dass angenommene Versprechen gehalten werden müssen“47. Seine Begründung 35

Kant (Fn. 4), 331. Kant (Fn. 4), 331. 37 Kant (Fn. 4), 331. 38 Kant (Fn. 4), 325. 39 Kant (Fn. 4), 323. 40 Kant (Fn. 4), 331. 41 Kant (Fn. 4), 331. 42 Kant (Fn. 4), 317. 43 Kant (Fn. 4), 328. 44 Kant (Fn. 4), 324. 45 Vgl. Kant (Fn. 4), 325. 46 Hegel (Fn. 32), 162 ff., § 79. 47 Kant (Fn. 4), 325. 36

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überzeugt aber nicht, weil sie offenkundig eine petitio principii darstellt: „Denn wäre (…) die Gesetzgebung selber nicht juridisch (…), so würde man die Leistung der Treue (…) mit (…) Handlungen des Wohlwollens (…) in eine Klasse setzen, welches durchaus nicht geschehen muss“48. An anderer Stelle erfasst Kant das Versprechen besser, wenn er verdeutlicht, dass der Begriff des Versprechens voraussetzt, dass Versprechen (jedenfalls überwiegend) gehalten werden.49 13. Verkennung der Sprache Wir stehen hier vor einem Problem, das die gesamte praktische Philosophie Kants betrifft: Warum ist die Motivationskraft der Vernunft für Kant so sehr ein Problem, warum setzt er sich so sehr dem Stress des „Triebfederproblems“ aus, obwohl er doch andererseits selbst – in einer einmalig radikalen Weise – den Begriff der Vernunft mit dem des Willens kurzschließt (s. o. I.11.). Ich bin mir nicht sicher, vermute aber Folgendes: Es ist kein Zufall, dass gerade Kants Analyse des Versprechens nicht überzeugt, denn in dieser Analyse wird deutlich, dass Kant – im Gegensatz etwa zu Grotius und Hobbes – kein Gespür hat für die im Sprechakt des Versprechens selbst angelegte Normativität, deren Bedeutung ja gerade darin liegt, dass ich mich (durch die Form des Versprechens selbst) verpflichte, egal, ob ich es will oder nicht. Im Versprechen handelt gleichsam die Sprache selbst, verpflichtet die Sprache selbst und Sprache ist eben das, was uns von vornherein verbindet, was nicht mir oder dir gehört, denn ich kann nicht darüber disponieren, was meine Worte bedeuten (der Humpty-Dumpty-Fehlschluss),50 vielmehr bin ich, wie Grotius durch ein Zitat aus den Sprüchen Salomos bekräftigt, gebunden durch die Worte meines Mundes.51 14. Verkennung der Intersubjektivität Die Verkennung der Bindungswirkung der Sprache hängt, vermute ich, zusammen mit einem Grundzug der Kantischen Philosophie, nämlich der primären Orientierung am Subjekt (der Erkenntnis oder des Willens), sofern es sich selbst und allein die Fragen „Was kann ich wissen?“ oder „Was soll ich tun?“ vorlegt. Das Alleinsein ist der primäre Modus, die vorrangige Einstellung.52 Kant trägt dem Umstand nicht

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Kant (Fn. 4), 325. Kant (Fn. 1), 29 f. 50 Zu Humpty Dumpty siehe Davidson, Midwest Studies in Philosophy XVI 1991, 1 – 12. 51 Grotius, Drei Bücher über das Recht des Krieges und des Friedens, Erster Band, (Hrsg.) J. H. v. Kirchmann, 1869, 393, Buch II Kap. XI. 52 Bezeichnend etwa Kant (Fn. 4), 330: „entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen“, zur methodischen Verinnerlichung vgl. auch Kant (Fn. 4), 347: Pflichten als „innerer Akt des Gemüts“. 49

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systematisch Rechnung, dass man nur denken, wollen und handeln kann, indem man sein Denken, Wollen und Handeln mit anderen abstimmt. Bei Kant kommen Sprache und Intersubjektivität zu kurz, im Gegensatz etwa zur systematischen Berücksichtigung dieser Aspekte bei Hobbes (Sprache) und Hegel (Intersubjektivität). 15. Problem des Imperativs Auch in Kants zentraler Idee, dass die Vernunft in Form eines Imperativs auftritt, kommen Intersubjektivität und Sprache zu kurz. In einem gewissen Widerspruch zu der Annahme, dass praktische Vernunft „der Wille“ ist, wird der Imperativ reduziert auf die „Vorstellung“53, dass der Mensch, weil er nicht zu den „heiligen Wesen“54 gehört, zur Übereinstimmung seines Handelns mit den Vernunftregeln genötigt (gezwungen) werden muss.55 Freilich finden sich bei Kant immer auch Anknüpfungspunkte für eine Reflexion, die über das äußerliche Konzept des Imperativs hinausführt. Denn das ist die Grundschwäche der Grammatik des Imperativs: Sie ist nicht geeignet, das zum Ausdruck zu bringen, worauf es Kant doch auch wiederum ankommt, nämlich dass Vorstellungen moralischer oder rechtlicher Richtigkeit uns auch „innerlich notwendig beiwohne[n]“56 – auch wenn wir keine Heiligen sind. 16. Problem der Willensfreiheit Nach Kant ist Willensfreiheit eigentlich nicht als Freiheit darstellbar. Nur die Willkür – die Handlungsfreiheit – kann, seiner Auffassung nach, so genannt, also mit dem Prädikat der Freiheit belegt werden, weil der eigentliche Wille gar nicht auf Handlungen, sondern auf die Form der Übereinstimmung der Handlungen mit dem Gesetz geht.57 Dieser Wille kann deswegen nach Kant58 „weder frei noch unfrei genannt werden“ (in ihm drückt sich eine moralische Notwendigkeit aus.59 Also kann Kant zufolge nur von Willkür- oder Handlungsfreiheit gesprochen werden. Aber wie ist sie zu bestimmen? Nach Kant nicht durch die Möglichkeit „für oder wider das Gesetz zu handeln“60. Warum nicht? Weil das, so Kant, eine „Bastarderklärung“61, d. h. eine Erklärung ist, 53

Vgl. Kant (Fn. 4), 328. Kant (Fn. 4), 328. 55 Kant (Fn. 4), 328. 56 Kant (Fn. 4), 328. 57 Vgl. Kant (Fn. 4), 332. 58 Kant (Fn. 4), 332. 59 Vgl. hierzu die Definition des Begriffs der Verbindlichkeit in: Kant (Fn. 4), 327. 60 Kant (Fn. 4), 332. 61 Kant (Fn. 4), 333.

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die Übersinnliches mit Sinnlichem verbindet, was ein Kategorienfehler ist.62 Die praktische Vernunft ist ein Vermögen. Gegen sie zu handeln, ist nach Kant keine Freiheit, sondern ein „Unvermögen“63. Damit desavouiert Kant aber seinen Begriff der Willkürfreiheit. Was an dieser frei sein soll, bleibt unbegreiflich. Oder die Freiheitsannahme beschränkt sich auf das Negative: Wir beziehen uns dann auf den Umstand, dass wir nicht begreifen können, wie es möglich ist, dass wir gegen unsere Vernunft handeln, mit dem Begriff der Freiheit. – Auch bei dieser Freiheitsdiskussion wird deutlich, dass Kant durch seine zum Teil haarspalterische Vorgehensweise Probleme schafft, wo vorher keine waren. Was ist so schlimm an Bastarderklärungen, Erklärungen, die Sinnliches und Übersinnliches aufeinander beziehen? Immer noch besser eine Bastarderklärung als gar keine Erklärung! Im Übrigen verwendet Kant selbst Bastardbegriffe, denn er spricht vom Menschen als einem zugleich sinnlichen und übersinnlichen (noumenalen) Wesen, was nach seinem eigenen Kriterium eigentlich als unzulässige Vermengung zweier kategorial verschiedener Hinsichten angesprochen werden müsste. 17. Begriffe der Person, der Tat und der Zurechnung Am Ende der Einleitung in die Metaphysik der Sitten führt Kant noch einige Begriffe ein, die gerade auch für die Rechtslehre eine besondere Relevanz haben, insbesondere den Begriff der Person („dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“)64, den Begriff der Tat („eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht“)65 und den Begriff der Zurechnung („das Urteil, wodurch jemand als Urheber (…) einer Handlung, die alsdann Tat (…) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird“)66.

II. Einleitung in die Rechtslehre 1. Begriff der Rechtslehre „Rechtslehre“ definiert Kant über den „Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist“67. Das schließt das natürliche Recht ein, denn „[e]s kann (…) eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter natürliche Gesetze enthielte“68. Sofern sich die Betrachtung auf das System des natürlichen Rechts be62

Vgl. Kant (Fn. 4), 333. Kant (Fn. 4), 333. 64 Kant (Fn. 4), 329. 65 Kant (Fn. 4), 329. 66 Kant (Fn. 4), 334. 67 Kant (Fn. 4), 336. 68 Kant (Fn. 4), 331.

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schränkt, ohne Einbeziehung des positiven Rechts und der Anwendung des Rechts auf Fälle, ist sie „Rechtswissenschaft“69. 2. Begriff des Rechts, negative Bestimmung Kant legt Wert auf einen Rechtsbegriff, der sich nicht auf Historie und Empirie beschränkt, einen solche hält er buchstäblich für hirnlos70. „[W]as die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben“,71 kann nicht alles sein, es kommt auch darauf an, „ob das, was sie wollten, auch recht sei, und [auf] das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (…) erkennen könne“72. Um das zu erkennen, muss man über das positive Recht hinausgehen. 3. Begriff des Rechts, positive Bestimmung, striktes Recht Kant führt ein Verständnis des Rechts ein, das er später mit den Begriffen des engen oder strikten Rechts belegt.73 Das strikte Recht ist „das völlig äußere“ und beruht auf der „Möglichkeit eines äußeren Zwangs“74. Das Recht betrifft nach diesem Verständnis nur die Reziprozität freier Willensentschließungen, deren Zwanglosigkeit durch äußere Zwangsvorkehrungen abgesichert ist.75 In der formalen Reziprozität des strikten Rechts kommt es nicht darauf an, was die Beteiligten wünschen, es „kommt (…) nicht die Materie der Willkür (…) in Betrachtung“76, sondern es bezieht sich nur (abstrakt) Freiheit auf Freiheit und was den Rechtsbegriff ausmacht, ist lediglich, dass dieser wechselseitige Bezug der Freiheit Bestand haben muss, dass nicht die eine auf die andere Freiheit übergreift und dass dann, wenn dies geschieht, die übergriffige Freiheit zurückgezwungen werden darf.77 Kant spitzt sogar zu: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei“78. Isoliert zitiert, leistet diese Bestimmung jedoch Missverständnissen Vorschub. Die Definition gilt nicht für das ganze Recht, sondern nur für das strikte Recht. Nicht der Begriff des Rechts insgesamt, sondern lediglich derjenige des strikten Rechts fällt mit der Befugnis zu zwingen zusammen. 69

Kant (Fn. 4), 336. Kant (Fn. 4), 336. 71 Kant (Fn. 4), 336. 72 Kant (Fn. 4), 336. 73 Kant (Fn. 4), 339. 74 Kant (Fn. 4), 339. 75 Vgl. Kant (Fn. 4), 337 ff. 76 Kant (Fn. 4), 337. 77 Vgl. Kant (Fn. 4), 337 ff. 78 Kant (Fn. 4), 340. 70

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4. Shortcomings des strikten Rechts Versteht man Recht so, kommt Unrecht nur als Übergriff in den Blick, die Gleichgültigkeit stellt kein Unrecht dar: „[e]in jeder kann frei sein, obgleich seine Freiheit mir gänzlich indifferent wäre“79. Die Gleichgültigkeit betrifft – genauer – (mit Hegel zu sprechen) das Wohl der anderen. Ob es den anderen gut geht, kann mir im Rechtszustand des strikten Rechts egal sein. Die Rechtspflicht, die aus dem Begriff des strikten Rechts folgt, lautet: „[H]andle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne“80. Freilich könnte man dieser Verpflichtung eine Deutung geben, die mehr als nur den Übergriff als Unrecht erfasst, wenn man bedenkt, dass im Begriff des allgemeinen Gesetzes auch Hilfs- und Förderpflichten enthalten sind,81 Kant möchte jedoch den strikten (engen, abstrakten) Begriff des Rechts durchaus festhalten82 und damit grenzt er aus dem Begriff des Rechts die soziale Frage aus. Der antisoziale Begriff des Rechts kehrt selbst bei der alternativen Ableitung des Rechts aus der inneren Rechtspflicht (der „Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person“)83 wieder, indem sich der Begriff der Rechtsgesellschaft auf den der Eigentumssicherungsgesellschaft beschränkt.84 5. Striktes Recht allerdings nur konstruiert Kant hebt hervor, dass der Begriff des strikten Rechts lediglich eine Konstruktion, eine Modellvorstellung ist,85 deswegen darf man den Begriff des Rechts selbst nicht mit der „Darstellung des Begriffs“,86 seiner Konstruktion, verwechseln. 6. Das vollständige Recht Der vollständige Begriff des Rechts ist selbstverständlich weiter als jene Konstruktion des strikten Rechts darstellt. Er ist auf den Begriff des Rechts „im weiteren Sinne“87 bezogen, in dem der im strikten Recht unterdrückte Gesichtspunkt des Wohls (Hegel) nun in den Rechtsbegriff selbst zurückgeholt wird. Kant demonstriert dieses „ius latum“88 an zwei Fällen, dem Erfordernis materieller Gerechtigkeit im 79

Kant (Fn. 4), 338. Kant (Fn. 4), 338. 81 Entwickelt in Kant (Fn. 1), 62; siehe auch Kant (Fn. 1), 54. 82 Im Gegensatz zu Hegel, siehe oben I.10. a. E. 83 Kant (Fn. 4), 344, dazu gleich. 84 Kant (Fn. 4), 344. 85 siehe Kant (Fn. 4), 340. 86 Kant (Fn. 4), 340. 87 Kant (Fn. 4), 341. 88 Kant (Fn. 4), 341. 80

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Recht89 und dem Recht des Notstands. Für Kant ergibt sich das weite Rechtsverständnis aus einer „Äquivokation“ (ius aequivocum),90 er meint, wenn vom weiten Recht die Rede ist, ist vom Recht in einem anderen Sinne die Rede. Diese Beschreibung bringt allerdings nicht viel; das Recht im anderen Sinne ist eben das weitere: Recht, in dem es auch um das Wohl geht, in dem es auf die „Materie der Willkür“91 ankommt. 7. Alternative Ableitung des Rechts aus dem Begriff des inneren Rechts bzw. der inneren Rechtspflicht Materiell reichhaltiger ist auch eine alternative Begründung des Rechts, die an dem Gedanken einer inneren Rechtspflicht92 anknüpft, während die aus dem Konstrukt des strikten Rechts entwickelte Rechtspflicht lediglich eine äußere Rechtspflicht darstellt (Nichtverletzung anderer Freiheiten). Die innere Rechtspflicht kann – so Kant – „als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden“93. Dieses Recht ist nach Kant ein einziges und ursprüngliches Recht,94 es ist ursprüngliche („angeborene“)95 Freiheit-Gleichheit.96 Diese ursprüngliche Freiheit-Gleichheit lässt sich nicht einfach aus sich selbst heraus verstehen, sondern kann so verständlich gemacht werden, dass es darauf ankommt, „im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten“97. Was sich hier andeutet, von Kant allerdings nicht ganz klar erfasst wird, ist, dass sich Freiheit und Gleichheit aus dem Verhältnis wechselseitiger Achtung und Anerkennung ergeben. Auch in diesem Zusammenhang macht sich Kants Blindheit für den konstitutiven Charakter von Intersubjektivität bemerkbar. Er denkt – solipsistisch – die elementaren Rechte aus dem moralischen Imperativ, der für ihn „ein innerer Akt des Gemüts“ ist.98 Allerdings exponiert Kant auch den Gedanken eines „inneren Mein und Dein“99. Der Gedanke ist nicht ausgeführt, aber man kann ihn wohl durchaus im Sinne einer ursprünglich verpflichtenden Intersubjektivität deuten.

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Kant (Fn. 4), 341 f. Kant (Fn. 4), 341. 91 Kant (Fn. 4), 337. 92 Kant (Fn. 4), 345 o. 93 Kant (Fn. 4), 344. 94 Kant (Fn. 4), 345. 95 Kant (Fn. 4), 345. 96 Zur unmittelbaren Konvertierbarkeit der Begriffe Kant (Fn. 4), 345 f. 97 Kant (Fn. 4), 344. 98 Kant (Fn. 4), 347. 99 Vgl. Kant (Fn. 4), 345.

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8. Recht und Pflicht, Rechtspflicht und Tugendpflicht Was Kant erkennt, ist, dass die Begriffe von Recht und Pflicht aufeinander verweisen und nicht unabhängig definiert werden können.100 Seine Unterscheidung von Rechtspflichten und Tugendpflichten101 wird hinfällig in dem Begriff einer inneren Rechtspflicht.102

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Kant (Fn. 4), 347. Kant (Fn. 4), 347. 102 Kant (Fn. 4), 345. 101

Das Recht auf Strafe als Anerkennung der Menschenwürde? Norbert Campagna*

I. Einleitung Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) verbietet es einem Staat, einen Menschen „der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ zu unterwerfen. Dieser Artikel begnügt sich nicht mit einem ganz allgemeinen Begriff der Behandlung, sondern erwähnt explizit zwei spezifische Behandlungsformen, die Folter und die Strafe. Dabei fällt auf, dass das Nomen „Folter“ adjektivisch unqualifiziert bleibt, woraus man schließen kann, dass Folter an sich schon grausam, unmenschlich oder erniedrigend ist und demnach unter keinen Umständen gerechtfertigt werden kann. Die explizite Erwähnung der Folter ganz am Anfang der Aufzählung soll vermutlich auch verdeutlichen, dass es sich bei ihr um eine ganz besonders schlimme Behandlungsart handelt, deren grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Charakter einerseits nicht noch besonders erwähnt werden muss, die aber andererseits als solche erwähnt werden muss und nicht einfach in der adjektivischen, den Begriff der Behandlung und der Strafe qualifizierenden Trias als mitgemeint vorausgesetzt werden kann. Die drei Adjektive qualifizieren zunächst den ganz allgemeinen Begriff der Behandlung, dann aber auch den spezifischeren Begriff der Strafe. Dass die Verfasser der Erklärung sie auch auf die Strafe bezogen sehen wollten, wird zunächst daraus ersichtlich, dass dem Nomen „Strafe“ kein bestimmter Artikel vorangestellt ist. Hätten die Verfasser die Adjektive nicht auf die Strafe beziehen wollen, hätten sie den Text etwa folgendermaßen formuliert: „der Folter, der Strafe oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung“. Die Strafe wäre dann wie die Folter eine Behandlungsart gewesen, die an sich schon grausam, unmenschlich oder ernied* Ich bin Jan C. Joerden zum ersten Mal – vor vielen Jahren (es muss 2003 oder 2004 gewesen sein) – in Luxemburg begegnet. Ich freue mich, als Luxemburger bei dieser ihm gewidmeten Festschrift mitzuwirken. Und jetzt weiter auf Letzebuergesch: „Professer Joerden, ech wënschen Iech alles Guddes fier Ären siwenzegsten Gebuertsdaag, an hoffen, dass mer nach éng Kéier d’Geleegenheet wärte kréien, eis, fierwaat net nees zu Letzebuerg, erem ze gesinn an an d’Gespréich mateneen ze kommen. Mä vierun allem soen ech Iech en ganz grousse Merci fier d’Publikatiounsméiglechkeeten déi Der mer an den vergaangenen Joeren ginn hutt“.

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rigend gewesen wäre, und man hätte sie mit der Folter an den Anfang des Artikels gesetzt. Art. 5 AEMR verbietet also nicht die Strafpraxis als solche, sondern lediglich bestimmte Formen des Strafens, und zwar diejenigen, die grausam, unmenschlich oder erniedrigend sind. Auch wenn es sicherlich schwer fällt, eine genaue Trennlinie zu ziehen, lassen sich doch Beispiele für Strafen geben, die grausam – jemanden vierteilen, wie es mit Damiens geschah, der Ludwig XV. umbringen wollte –, unmenschlich – jemanden dazu verurteilen, dem qualvollen Tod seiner Kinder zuzusehen – oder erniedrigend – jemanden dazu verurteilen, das entblößte Hinterteil seines Opfers zu küssen – sind.1 Wird aber jemand dazu verurteilt, während einer Woche bei der Straßenreinigung mitzuhelfen, weil er – oder sie – Dreck an einem Straßenrand abgelagert hat, dann kann die Strafe zwar als unangenehm, aber wohl kaum als grausam, unmenschlich oder erniedrigend angesehen werden, da die Aktivität als solche durch keines der drei Adjektive charakterisiert werden kann. In diesem Beitrag werde ich nicht nach einer Trennlinie zwischen erlaubten und unerlaubten Strafen suchen bzw. werde ich dies nicht direkt tun. Meine Absicht ist es vielmehr einen Aspekt zu behandeln, der heute kaum noch berücksichtigt oder diskutiert wird, den man aber bei einigen Autoren in der Vergangenheit erwähnt findet. Anstatt zu fragen, ob eine bestimmte Form der Strafe grausam, unmenschlich oder erniedrigend ist, werde ich fragen, ob es grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein kann, jemanden nicht zu bestrafen, wobei natürlich vorausgesetzt wird, dass die betreffende Person beschuldigt wird, eine Handlung ausgeführt zu haben, die, wie man sagt, eine Strafe verdient, mag diese verdiente Strafe offiziell und formell in einem Strafgesetzbuch festgehalten sein, oder informell, als soziale Praxis, Teil der Lebenswelt der Menschen sein. Ob man diesen Strafverzicht selbst, unter bestimmten Umständen, als Strafe bezeichnen kann, ist eine begriffliche Frage, mit welcher ich mich nicht detailliert auseinandersetzen werde, setzt sie doch voraus, dass man sich zunächst eingehend mit dem Begriff der Strafe befasst. Die primäre Frage ist für mich vielmehr, ob der Verzicht auf eine Bestrafung unter bestimmten Umständen als eine erniedrigende Behandlung angesehen werden kann. Wenn dem so ist, dann ist er eo ipso durch Art. 5 AEMR ausgeschlossen und die Diskussion der Frage, ob es sich dabei auch um eine erniedrigende Strafe handelt, hat dann nur noch rein akademischen Charakter. Meine Diskussion setzt bei einer Passage aus Senecas „De ira“ an, in welcher es um den Strafverzicht und dessen potentiell erniedrigenden Charakter geht.2 Damit 1 Ich gehe hier nicht auf die Frage ein, ob jede grausame Strafe auch unmenschlich, jede unmenschliche Strafe auch erniedrigend ist, usw. Da die Verfasser des Textes die drei genannten Adjektive verwendet haben, gehe ich davon aus, dass es in ihren Augen relevante Unterschiede gibt. 2 Dabei sehe ich davon ab, dass es sich bei Seneca um eine private Angelegenheit handelt und nicht um einen Fall, in dem die öffentliche Hand proprio motu eingreift. Wenn jemand mich beschimpft, hängt es von meiner Entscheidung ab, ob das Strafrechtssystem in Gang gesetzt wird oder nicht.

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ergibt sich implizit eine Frage, die im Rahmen der traditionellen Strafrechtsphilosophie, die sich auf das Recht zu strafen – auf seinen Inhaber, seinen Ursprung, seine Grenzen usw. – fokussiert, unterbeleuchtet bleibt. Es ist die Frage nach einer Pflicht zu strafen. Und auch hier soll nicht (nur) von einer Pflicht gegenüber der Idee der Gerechtigkeit, gegenüber den unmittelbaren Opfern oder gegenüber der Gesellschaft im Allgemeinen die Rede sein, sondern von einer möglichen Pflicht gegenüber dem Täter, also gegenüber derjenigen Person, die für eine Bestrafung in Frage kommt. Die Leitfrage des Beitrags lautet also: Kann es erniedrigend sein, einen Menschen nicht zu bestrafen, der eine Strafe verdient, und wenn ja, kann man dann von einer Strafpflicht des Staates gegenüber dem Täter sprechen bzw. von einem Recht des Täters auf eine Bestrafung? Diese Frage wird besonders im dritten Teil des Beitrags diskutiert, wobei ich einige Autoren (Fichte, Hegel, Duff) anführe, die in mehr oder weniger klaren Worten, wenngleich mit zu berücksichtigenden Nuancen, auf die ich allerdings nicht genau werde eingehen können, die Existenz eines solchen Rechts behauptet haben. Im abschließenden Teil werde ich zwischen dem Recht auf einen Prozess und dem Recht auf eine Strafe unterscheiden.

II. „Der Strafe schimpflichste Art“ Wie schon in der Einleitung gesagt wurde, verbietet Art. 5 AEMR u. a. eine erniedrigende Behandlung und damit auch eine erniedrigende Strafe, da man bei der Bestrafung den Bestraften auf eine bestimmte Art und Weise behandelt – jede Strafe ist eine Form von Behandlung, aber nicht jede Behandlung ist eine Form von Strafe. Auch wenn es nicht allzu schwerfallen dürfte, konkrete Beispiele erniedrigender Strafen zu geben, ist es nicht leicht zu sagen, worin die am meisten erniedrigende Strafe oder, allgemeiner gesprochen, Behandlung besteht. Diese Schwierigkeit dürfte einerseits damit zusammenhängen, dass unsere Phantasie sich zu jeder erniedrigenden Strafe eine noch mehr erniedrigende ausmalen kann, andererseits aber auch damit, dass bestimmte Praktiken, die in einer bestimmten Kultur als sehr erniedrigend empfunden werden, von einer anderen Kultur als nicht so erniedrigend empfunden werden. Hinzu kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt, der darin besteht, dass man unterschiedliche Referenzpunkte nehmen kann: Jemand kann hinsichtlich seines Amtes erniedrigt werden oder aber hinsichtlich seines Menschseins. Dieser Gesichtspunkt hängt mit den unterschiedlichen Dimensionen der dignitas zusammen, die entweder als allgemein-menschliche Würde verstanden werden kann oder aber als eine mit einem bestimmten Amt oder einem bestimmten sozialen Rang verbundene Würde. In seinem „De ira“ hat Seneca anscheinend eine Antwort auf die Frage nach der am meisten erniedrigenden – „contumeliosissimum genus“, wie es im lateinischen Original heißt – Strafe gefunden:

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Norbert Campagna „Eigenart eines großen Herzens ist es, Beleidigungen mit Geringschätzung zu betrachten; der Strafe schimpflichste Art ist es, nicht für würdig zu erscheinen, dass man gestraft werde.“3

Seneca geht hier weit über das Prinzip des De minimis praetor non curat hinaus. Es geht Seneca nicht darum, den Prätor oder eine sonstige, Strafen verhängende Autorität von der Last zu befreien, sich mit jeder Kleinigkeit zu befassen, um durch diese Befreiung die nötige Zeit zu gewinnen, sich mit den wichtigen Fällen zu befassen. Der Prätor, der kleinere Vergehen unbeachtet lässt, will damit nichts Spezifisches über die moralische Qualität des Täters ausdrücken, sondern er handelt im Sinne einer im Rahmen seiner begrenzten Mittel wohlverstandenen Verfolgung von Delikten. Da er nicht alle Vergehen verfolgen kann, stellt er eine Rangordnung auf und verfolgt prioritär diejenigen, deren Nichtverfolgung die größten Risiken für die Gemeinschaft in sich bergen. Dabei kann es vorkommen, dass er geringfügigere Delikte unbeachtet lässt. Bei Senecas Satz haben wir es mit einer ganz anderen Logik zu tun: Indem die Person nicht bestraft wird, drückt man ihr gegenüber aus, dass sie einer Bestrafung nicht würdig ist. Man kann davon ausgehen, dass man über hinreichend Zeit und auch über hinreichende Mittel bzw. über eine hinreichende Macht sowie über ein Recht zu strafen verfügt, so dass der Verzicht auf eine Bestrafung sich nicht aus dem Interesse an dem guten oder effizienten Funktionieren des Strafrechtssystems ergibt und auch nicht aus der Furcht, dass man, würde man selbst bestrafen, unangenehme Konsequenzen riskieren würde, wie etwa Repressalien oder einen Prozess wegen Körperverletzung. Man hätte die schuldige Person also eigentlich durchaus bestrafen können, aber man tut es nicht, weil man dem Täter – aber gegebenenfalls auch anderen Menschen – dadurch eine bestimmte Nachricht vermitteln will. Genauso wie es eine kommunikative Straftheorie hinsichtlich der ausgesprochenen und verhängten Strafe gibt – durch die Bestrafung teilt man dem Täter mit, dass er eine Strafrechtsnorm verletzt hat oder dass er seine Interessen nicht ungestraft gegenüber denjenigen anderer Menschen oder der Gesellschaft durchsetzen kann, oder, im Rahmen der Generalprävention, man teilt dies jedem potentiellen Täter mit, sodass jeder abgeschreckt wird, – kann man auch eine kommunikative Theorie im Hinblick auf den Strafverzicht aufstellen. Durch den Verzicht auf die Bestrafung will man den Unterschied zwischen dem großherzigen und edlen Opfer und dem niederträchtigen Täter mit aller Deutlichkeit betonen und zugleich noch vergrößern. Die Bestrafung besteht hier sozusagen in der Erniedrigung, und diese ist somit keine die Strafe bloß begleitende Erscheinung, sondern sie bildet ihr eigentliches Wesen – falls wir mit Seneca annehmen, dass eine Nichtbestrafung eine Strafe sein kann bzw. als Strafe bezeichnet werden kann. Wer sich nicht erniedrigt fühlen kann, kann in diesem Sinne und auf diese Weise auch nicht bestraft werden. Spielt man ein bisschen mit den Worten, dann könnte man sagen, dass die, wie es in der Übersetzung heißt, „schimpflichste Art“ der Strafe 3

Seneca, De ira, 1999, 209.

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in einer bestimmten Art von Beschimpfung besteht, und zwar in einer Art von Beschimpfung, die in einer Unterlassung besteht. Das De minimis praetor non curat könnte hier so gelesen werden, dass der Prätor, stellvertretend für die bestrafende Instanz, sich nicht um die geringen, im Sinne von geringwertigen, Menschen kümmert. Hier ist nicht der Unwert des Deliktes gemeint – Delikte mit einem kleinen kriminellen Unwert (z. B. das Stehlen eines Apfels) werden nicht bestraft –, sondern der Unwert des Delinquenten – Delinquenten mit einem großen Unwert bzw. mit einem geringen Wert werden nicht bestraft. Bei diesem Unwert des Delinquenten handelt es sich allerdings nicht um seinen kriminellen, sondern um seinen sozialen, moralischen oder gar menschlichen Unwert. Wir bewegen uns hier im Rahmen der dem Begriff der Würde anhaftenden Unterscheidung zwischen dem Höheren und dem Niederen. Die mit einem Amt verbundene soziale dignitas verweist auf eine Hierarchie, die in modernen Gesellschaften einen rein funktionellen Charakter hat und insofern rein oberflächlich ist, die aber in antiken Gesellschaften das Individuum in einer weit tieferen Dimension seines Menschseins betraf. Seneca bringt diesen Unterschied zwischen dem Niederen und dem Höheren wie folgt zum Ausdruck: „Viele haben leichte Kränkungen tiefer in sich eindringen lassen, während sie sie rächten: jener ist groß und edel, der nach Art eines großen Tieres das Gekläffe winziger Hunde unbekümmert überhört.“4

Wenn diese Passage auch den Aspekt der Seelenruhe oder Unbekümmertheit des Beleidigten erwähnt und damit zum Ausdruck bringt, dass der Beleidigte selbst ein Interesse daran hat, die Beleidigung zu übergehen, weisen die Adjektive „groß und edel“ auf der einen Seite und „winzig“ auf der anderen darauf hin, dass wir uns auch auf einer axiologischen Ebene bewegen. Wenn Seneca schreibt, dass die Beleidigung mit Geringschätzung betrachtet wird, so ist damit auch gemeint, dass diese Geringschätzung ebenfalls, wenn nicht sogar primär, den Beleidiger betrifft. Die Beleidigung trifft den angeblich Beleidigten nicht, weil er weit höher steht als der Beleidiger, oder genauer noch, weil er sich als ihm weit höherstehend wähnt. Der Strafverzicht schafft einen Schein, der die Wirklichkeit nicht reflektiert, sondern eine soziale Wirklichkeit schafft. Indem das Opfer auf eine Bestrafung verzichtet, lässt es den Täter als jemanden erscheinen, der nicht würdig ist, bestraft zu werden. Dieses Schaffen einer sozialen Wirklichkeit wird allerdings nur dann funktionieren, wenn das Opfer, wie schon vorhin kurz erwähnt, über die Macht verfügt, den Täter zu bestrafen. Wird die Strafe nicht verhängt, weil das Opfer machtlos ist, dann erleidet das Opfer sozusagen eine zweite Erniedrigung: Es war dem Täter im Augenblick der Tat unterlegen und es ist ihm auch im Augenblick der Bestrafung 4

Seneca (Fn. 3).

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unterlegen. Es ist nicht nur Opfer, sondern es muss mit diesem Opferstatus leben. Insofern durch die Bestrafung des Täters das Opfer – direkt, wenn es selbst bestraft, oder indirekt, wenn der Staat sich seiner Sache annimmt und an seiner Statt bestraft, – auch in einem bestimmten Sinne Täter wird, gewinnt es die Position wieder, die es im Augenblick der Tat verloren hatte. Der Verzicht auf eine Bestrafung hat hier auch nichts mit Mitleid oder Verzeihung zu tun. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass es auch in diesen Fällen zur Schaffung oder Potenzierung einer Asymmetrie kommen kann. Wenn jemand, der mich bestrafen könnte, mir verzeiht, und vor allem dann, wenn ich nicht gefragt habe, dass mir verziehen wird, dann versetzt er mich, ob er es will oder nicht, in die Position eines Unterlegenen, und sei es nur dadurch, dass ich ihm fortan, ob ich es will oder nicht, Dankbarkeit schulde. Der Verzicht auf eine Bestrafung erfolgt auch nicht, weil man die edlen Motive des Täters berücksichtigt. Seneca erwähnt übrigens diesen Fall in „De clementia“, wo es vom weisen und klugen Herrscher heißt, er werde Milde gegenüber bestimmten Feinden walten lassen: „Feinde wird er lebend entlassen, manchmal sogar gelobt, wenn sie aus ehrenhaften Gründen für Treue, für Bündnis, für Freiheit in den Krieg gerufen worden sind.“5

Der Sieger könnte den militärisch unterlegenen Feind bestrafen, aber insofern er ihn als moralisch ebenbürtig ansieht, verzichtet er auf eine Bestrafung und kann den Feind sogar loben. Wird in der Passage aus dem „De ira“ der moralische Unterschied zwischen Täter und Opfer geschaffen oder potenziert, so wird hier die moralische Gleichheit betont. Fassen wir zusammen: Für Seneca gibt es manchmal keine erniedrigendere Strafe als den Verzicht auf eine Strafe im engen Sinn des Wortes, und zwar ist dies dann der Fall, wenn man dem Täter – und gegebenenfalls auch Dritten – durch den Verzicht ausdrücken will, dass er es nicht wert ist, bestraft zu werden, und zwar nicht wegen dessen, was er getan hat, sondern wegen dessen, was er ist.

III. Strafrecht und Strafpflicht Abgesehen von der Frage nach dem Strafzweck hat sich die Strafrechtsphilosophie im Laufe der Jahrhunderte mit der Frage nach dem Strafrecht im Sinne eines Rechts zu strafen befasst: Wer oder was gibt einem bestimmten Menschen oder einer bestimmten Gruppe von Menschen das Recht, einen anderen Menschen zu bestrafen, d. h. diesem anderen Menschen ein Übel zuzufügen oder die Zufügung eines solchen Übels anzuordnen? Denn was immer sie sonst noch sein mag, ist die Strafe eine beabsichtigte Übelszufügung. 5

Seneca, De clementia, 1999, 2.

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Als Minimalbedingung wird man festhalten, dass der bestrafte Mensch ein Übel begangen hat oder zumindest der begründete Verdacht besteht, dass er ein solches begangen hat. Die Strafe ist demnach ein Übel, mit dem man auf das zumindest vermutete Begehen eines Übels reagiert. Und zwar findet diese Reaktion zeitlich nach dem Begehen des ursprünglichen Übels statt. Wenn ich jemandem einen Faustschlag versetze, während er dabei ist, mich anzugreifen, bewege ich mich in der Logik der unmittelbaren Selbstverteidigung. Wenn ich ihm diesen Faustschlag aber versetze, nachdem er von anderen Leuten festgenommen wurde, die ihn festhalten, handele ich gemäß der Logik der Strafe – ich übergehe hier die Frage, wie man Rache, Vergeltung und Strafe voneinander unterscheiden soll. Ich reagiere auf eine Handlung, die in der Vergangenheit stattgefunden hat und die mich nicht mehr unmittelbar, sondern höchstens noch mittelbar durch ihre Konsequenzen – ein blaues Auge, Verletzungen, … – betrifft. Dass ich ein Recht habe, mich bei einem – nicht selbst verschuldeten – Angriff zu verteidigen und dabei dem Angreifer ein Übel zuzufügen, wird kaum von irgendjemandem bestritten, zumindest solange das zugefügte Übel proportional zum Übel ist, das mir widerfahren könnte, wenn ich mich nicht verteidigen würde. Aber woher käme ein Recht jemandem ein Übel zuzufügen, der keine unmittelbare Gefahr mehr darstellt, der also nicht mehr dabei ist, jemandem ein Übel zuzufügen bzw. wodurch könnte ein solches Recht gerechtfertigt werden? Ohne hier eine auch nur annähernd ausführliche Antwort geben zu können, sei gesagt, dass dieses Recht zu strafen, beschränkt man sich auf die zwei großen konkurrierenden Theorien, entweder im Namen einer Logik des Ausgleichs bzw. der Vergeltung gerechtfertigt werden kann oder im Namen einer Logik der – speziellen oder allgemeinen – Prävention. Man geht also entweder davon aus, dass ein begangenes Übel ein Ungleichgewicht geschaffen hat, das wieder ins Lot gebracht werden muss, – und da man das ausgestochene Auge des Opfers nicht ersetzen kann, sticht man dem Täter halt eben auch ein Auge aus6 –, oder man geht davon aus, dass man ein Exempel statuieren muss, durch welches vom Begehen von zukünftigen Verbrechen, durch den Täter oder durch andere, abgeschreckt werden soll. Im ersten Fall wird lediglich bestraft, weil ein Verbrechen begehen wurde, im zweiten, damit kein weiteres Verbrechen begangen wird. Man sollte dabei zwischen dem Zweck der tatsächlichen Strafe und dem Zweck der im StGB niedergeschriebenen Strafandrohung unterscheiden. Letztere hat lediglich einen präventiven Charakter: Jeder soll wissen, dass ihm eine Strafe droht, wenn er eine bestimmte Handlung ausführt. Zu den Zwecken der tatsächlich ausgeführten Strafe zählt auch, dass sie dem Täter und der Gesellschaft zu verstehen gibt, dass der betreffende Paragraf des StGB keine leeren Worte sind.

6 Angenommen, es wäre möglich, Augen zu transplantieren. A hat B ein Auge ausgestochen. Man operiert A ein Auge heraus und pflanzt es B ein. Handelt es sich um eine Strafe oder um eine Wiedergutmachung?

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Hätte niemand das Recht Strafen zu verhängen und zu vollstrecken, dann wären die Normen des StGB leere Worte und die Menschen würden in einer unsicheren Situation leben, wie sie etwa Thomas Hobbes oder, aber weniger dramatisch, John Locke beschreiben, wenn sie ein Bild vom vorpolitischen – und bei Hobbes auch vorgesellschaftlichen – Leben der Menschen zeichnen. Damit ein zivilisiertes Leben unter Menschen möglich wird, muss es also eine strafende Instanz geben, so dass das Recht zu strafen sich vom Recht in einer zivilisierten Gesellschaft zu leben ableiten lässt, wobei man natürlich zusätzlich auf bestimmte anthropologische Prämissen zurückgreifen muss. Und das Recht in einer zivilisierten Gesellschaft zu leben kann seinerseits durch das natürliche Recht eines jeden Menschen begründet werden, sich als Vernunftwesen in seiner intellektuellen und moralischen Dimension sowie sich als Sinnenwesen in seiner ästhetischen Dimension zu vervollkommnen. Bei der Bestimmung des Strafzwecks sollte man nicht nur den unmittelbaren Zweck betrachten, sondern auch den mittelbaren. Die Prävention ist kein Zweck an sich, sondern ein Mittel, d. h. durch die Prävention von Verbrechen entsteht ein sozialer Raum, innerhalb dessen die Menschen sich in Sicherheit fühlen und die Möglichkeit haben, sich als Menschen zu realisieren. Wären die Menschen vollkommen rational im Sinne der praktischen Vernunft Kants, dann könnte man auf Strafen und Strafandrohungen verzichten, d. h. die vis directiva bräuchte dann keine vis coercitiva. Und wären die Menschen vollkommen rational im Sinne der utilitaristischen Vernunft Benthams, dann könnte man zwar nicht auf Strafandrohungen verzichten, wohl aber auf die Strafen als solche, vorausgesetzt natürlich, dass die angedrohten Strafen und/oder das Risiko, nach einer Straftat erwischt zu werden, hoch genug sind, um abschreckend zu wirken. Denn wie schon Cesare Beccaria es im 18. Jahrhundert festhielt: Geringere und gewissere Strafen sind abschreckender als größere und ungewissere.

IV. Das Recht des Täters auf eine Strafe Es scheint auf den ersten Blick seltsam zu behaupten, ein Verbrecher habe ein Recht auf eine Strafe, denn es gibt in der Geschichte kaum einen Verbrecher, der, nachdem er – etwa wegen mangelnder Beweise – von einem Gericht freigesprochen wurde, gegen das Gerichtsurteil Berufung eingelegt hat, weil ihm sein Recht auf Strafe verweigert wurde. Es wird vielmehr Berufung im Falle einer Verurteilung eingelegt, wie es etwa in folgendem Witz zum Ausdruck kommt: Der Anwalt sagt nach dem Prozess und dem Urteilsspruch zum Angeklagten, der im Gefängnis sitzt und nicht am Prozess teilgenommen hat: „Freuen Sie sich, die Wahrheit hat sich durchsetzen können!“. Darauf erwidert der Angeklagte: „Legen Sie unverzüglich Berufung gegen das Urteil ein!“.

Angeklagte wollen im Prinzip nicht bestraft werden, sondern sie versuchen eine Bestrafung zu vermeiden. Wenn dem aber so ist, dann wird man kaum dem Gedanken

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Sinn abgewinnen können, der Staat schulde dem Angeklagten eine Strafe, falls dessen Schuld festgestellt ist. Dass eine solche Strafe dem Opfer, dessen Familie, der Gesellschaft, der Idee der Gerechtigkeit oder wem bzw. was sonst auch immer geschuldet sein kann, kann man nachvollziehen, nicht aber, dass sie dem Angeklagten als solchem geschuldet ist. Wenn man die Strafe lediglich als Übel betrachtet und gegebenenfalls nur die positiven Wirkungen betrachtet, die sie für die Gesellschaft insgesamt oder für die Opfer haben kann, dann wird man sicherlich Schwierigkeiten haben, aus ihr den Gegenstand einer Pflicht gegenüber dem schuldigen Angeklagten zu machen. Anders aber, wenn man, wie Seneca es zumindest implizit tut, auch die kommunikative Dimension des Strafens bzw. des Verzichts auf das Strafen berücksichtigt. Erinnern wir an dieser Stelle an den Art. 5 AEMR, der, neben den ausdrücklich erwähnten Phänomenen der Folter und der Strafe ganz allgemein bestimmte Formen von Behandlung ausschließt, u. a. diejenigen Formen, durch die ein Mensch erniedrigt wird, bei denen also seine ihn über die anderen Lebewesen erhebende Dimension der allen Menschen in gleichem Maße inhärenten Menschenwürde verletzt oder auch nur angetastet wird. Jeder Mensch hat ein unveräußerliches Recht auf Behandlungsformen, die diese Würde achten bzw. durch die diese Würde nicht verletzt wird. Eine solche Verletzung geschieht in den meisten Fällen durch eine Handlung, aber man sollte nicht die Möglichkeit ausschließen, dass auch die Unterlassung einer Handlung die Würde verletzen kann. Unabhängig von der Frage, was schlimmer ist – einen Bekannten, den man nicht besonders mag, mit „Hallo, Du Vollidiot!“ oder ihn gar nicht zu begrüßen –, so liegt in beiden Fällen eine unfreundliche Umgangsart gegenüber einem Mitmenschen vor. Und was für die Verletzung der Freundlichkeitspflicht gilt, gilt auch für die Verletzung der Pflicht, die Würde des anderen Menschen zu respektieren. Insofern sollte man sich nicht nur auf die Handlungen konzentrieren, durch welche die menschliche Würde beim Strafen verletzt werden kann, sondern man sollte auch den Fall bedenken, dass der Verzicht auf eine Bestrafung eine solche Verletzung bedeuten kann. Die Verletzung der Menschenwürde liegt in vielen, wenn auch nicht unbedingt in allen, Fällen nicht so sehr oder primär in der Materialität der Handlung/Unterlassung, also in dem, was man unmittelbar tut und was einer rein externen Beschreibung zugänglich ist, als vielmehr in dem, was der Handelnde/Unterlassende durch seine Handlung/Unterlassung ausdrücken oder kommunizieren will, also in einer Form der Intentionalität bzw. in dem, was man noch zusätzlich tun will. Grundsätzlich kann man sagen, dass eine Verletzung der Menschenwürde dann vorliegt, wenn man durch seine Handlung/Unterlassung zu verstehen geben will, dass der andere, der der Handlung/Unterlassung ausgesetzt ist, es nicht wert ist, auf eine bestimmte Art und Weise behandelt zu werden, und zwar so behandelt zu werden, wie man einen Menschen im Normalfall behandeln würde bzw. wie ein Mensch es auf Grund seines Menschseins verdient, behandelt zu werden.

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In Senecas Beispiel ist es so, dass der Beleidigte im Normalfall auf die Beleidigung reagieren würde. Denken wir hier nur an ein Phänomen, das anderthalb Jahrtausende nach Senecas Tod eine Hochkonjunktur erleben wird, und zwar das Duellieren. Ein Aristokrat, der von einem Mann des Volkes beleidigt wurde, hat diesen nicht zum Duell herausgefordert, sondern ihn durch seine Diener bestrafen lassen. Auf ein Duell ließ er sich nur mit einem ihm ebenbürtigen Menschen ein, also mit einem anderen Aristokraten. Das Duell war ein Mittel, seine eigene Ehre gegen einen Ehrenmenschen zu verteidigen, wohingegen die Bestrafung für diejenigen galt, die keine Ehre besaßen. Wenn das Strafrechtssystem heute nicht mit einer Strafe auf eine Normverletzung reagiert, dann geschieht dies oft, weil der Täter bestimmte Eigenschaften nicht besitzt, allen voran den freien und aufgeklärten Willen und die Kontrolle der Handlungen durch diesen Willen. Ein Kind von 5 Jahren, das mit einem Revolver einen Erwachsenen umbringt, entgeht der Strafe, ebenso eine demente Person, die dasselbe tut. Diesen Menschen fehlt u. a. der Sinn für Recht und Unrecht und insofern wissen sie nicht, was sie tun. Das bedeutet nicht, dass man ihre Menschenwürde verletzt. Sofern ihnen der Sinn für Recht und Unrecht fehlt, behandelt man sie, wie sie es verdienen, behandelt zu werden, indem man sie nicht bestraft. Menschen mit Demenz behandelt man anders als Menschen ohne Demenz, aber man wird sie immer noch als Menschen behandeln. Was bei einem Menschen ohne Demenz als erniedrigende Behandlung erscheinen kann, hat diesen Makel nicht im Falle eines Menschen mit Demenz. Der Verzicht auf eine Bestrafung entspringt in solchen Fällen nicht dem Willen, diese Menschen zu erniedrigen, sondern er drückt ganz einfach die Tatsache aus – und trägt dieser Tatsache Rechnung –, dass nicht alle Menschen gleichermaßen den Sinn für Recht und Unrecht besitzen. Im Falle der dementen Person wird man auf die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt zurückgreifen, und im Falle des Kindes wird man psychologische und erzieherische Maßnahmen ergreifen. Für einen – was das auch immer bedeuten soll – „normalen“ erwachsenen Menschen könnte der Verzicht auf eine Strafe als Gleichsetzung mit einem dementen Menschen oder einem Kind erscheinen. Nehmen wir den Fall eines politischen Attentäters, der von den Psychiatern als unzurechnungsfähig diagnostiziert wird. Dadurch werden die politischen Motive des Attentats in den Schatten gestellt, obwohl gerade sie in den Augen des Attentäters sein Attentat über die wilde Zerstörungswut eines Wahnsinnigen erheben sollten. Der Attentäter kann sich dadurch erniedrigt fühlen, da ihm die Maske des Kämpfers für ein hohes Ideal abgenommen wird und ihm an deren Stelle die Fratze des Verrückten aufgesetzt wird. Er wird aus der Sphäre derjenigen ausgeschlossen, die, zumindest in seinen Augen, nach Höherem streben und wird nicht einmal in die Sphäre derjenigen integriert, die nach Niederem streben – die gemeinen Verbrecher – und bestraft werden, wenn sie das Gesetz verletzen. Um zu zeigen, dass der Gedanke eines Rechts auf Strafe nicht aus meiner Phantasie stammt, sei eine Stelle aus Fichtes „Grundlagen des Naturrechts“ zitiert, in welchem er über den Abbüßungsvertrag spricht:

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„Dieser Vertrag ist ein nützlicher, sowohl für Alle, (das Staatsganze), als für jeden Einzelnen. Das Ganze erhält dadurch die Aussicht, den Bürger, dessen Nützlichkeit seine Schädlichkeit überwiegt, zu erhalten, und die Verbindlichkeit, die Abbüßung anzunehmen; der Einzelne das vollkommene Recht, zu fordern, dass man sie statt der verwirkten größeren Strafe annehme. Es gibt ein Recht, und ein sehr nützliches und wichtiges Recht des Bürgers, abgestraft zu werden.“7

Bei Fichte lautet die Alternative: Ausschließung aus der Rechtssphäre oder Bestrafung. Die Ausschließung ist die im Zitat erwähnte „größere Strafe“ und sie entspricht der Verkündigung, dass der derart Bestrafte nicht mehr würdig ist, in einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen zu leben, da er sein Verhalten nicht vernünftig gestalten kann. Es ist, könnte man sagen, die Verkündigung, dass der Täter eigentlich nicht mehr als ein vernünftiger Mensch betrachtet werden kann, sondern als eine Art wildes Tier, das man, weil es trotzdem noch ein Menschenantlitz besitzt, nicht einfach hinrichten wird, solange es nicht gefährlich für die Menschen wird. Fichte ist nicht der einzige Autor, der Bestrafung und Anerkennung der Rationalität gleichsetzt. So lesen wir etwa bei seinem Zeitgenossen Hegel: „Ferner ist [es] nicht der Begriff des Verbrechens, das Vernünftige desselben an und für sich, mit oder ohne Einwilligung der Einzelnen, was der Staat geltend zu machen hat, sondern auch die formelle Vernünftigkeit, das Wollen des Einzelnen, liegt in der Handlung des Verbrechers. Dass die Strafe darin als sein eigenes Recht enthaltend angesehen wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiger geehrt. – Diese Ehre wird ihm nicht zuteil, wenn aus seiner Tat selbst nicht der Begriff und der Maßstab seiner Strafe genommen wird; – ebenso wenig auch, wenn er nur als schädliches Tier betrachtet wird, das unschädlich zu machen sei, oder in den Zwecken der Abschreckung und Besserung.“8

Die Strafe ist die Reaktion auf eine rational motivierte Normverletzung, und diese kann nur das Werk eines vernünftigen Wesens sein. Durch die Bestrafung wird die Vernünftigkeit des Täters anerkannt und das Ausbleiben einer Strafe kann unter diesen Umständen als Leugnung der Vernünftigkeit des Täters angesehen werden. Interessant ist, dass Hegel hier den Begriff der Ehre mobilisiert und in der Strafe eine Form der Ehrung sieht. Insofern könnte Hegel Seneca zustimmen, wenn dieser schreibt, die schimpflichste Art der Strafe bestehe darin, den Täter als der Bestrafung nicht wert erscheinen zu lassen. Das Recht bestraft zu werden erscheint bei Fichte und Hegel als ein Recht. Es entspricht dem Recht, als ein vernünftiges, der sozialen Kollaboration fähiges Wesen anerkannt zu werden, bzw. ist es, vor allem bei Fichte, ein Recht, weiter unter dem Schutz des Rechts zu stehen, statt aus der Gemeinschaft der Rechtssubjekte ausgeschlossen zu werden und damit vogelfrei zu sein. Auch wenn ein vernünftiges Wesen manchmal unvernünftig handeln, d. h. bestimmte Normen verletzen kann, sollte dieses unvernünftige Handeln nicht prinzipi7 8

Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, 1979, 255. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1970, 191.

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ell als Ausdruck einer absoluten Unvernünftigkeit des betreffenden Wesens angesehen werden, sondern als punktuelles und vor allem einsehbares Fehlverhalten. Es ist eine akzidentelle und keine essentielle Unvernünftigkeit. Und insofern dies der Fall ist, muss das Wesen bestraft und nicht einfach unschädlich gemacht werden. Sollte sich aber zeigen, dass die Strafen keine Wirkung haben, so wird das Wesen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und man gibt ihm keine neue Möglichkeit mehr, sein gesetzwidriges Handeln durch das Erleiden einer Strafe abzubüßen. Man findet den Gedanken eines Rechts auf Bestrafung auch bei Autoren des 20. Jahrhunderts wieder, wie etwa bei Antony Duff, der den Abschnitt eines Kapitels seines Buches explizit mit „The Right to be Punished“ überschreibt: „A sane offender has a right to be punished; a right to be punished rather than be subjected to some kind of manipulative or preventive treatment which would not address him as a rational agent; and a right to be punished rather than be ignored or dismissed, since his punishment expresses a proper response to his crime as the wrongdoing of a responsible moral agent, and a proper concern for his moral well-being as a fellow-member of the community. We owe it to him, as well as to those whom he has injured, to condemn his crime and to try to bring him to repentance and reform.“9

Duff betrachtet die Strafe als ein Mittel den Täter dazu zu bringen, die Schlechtheit seines Verhaltens einzusehen und es zu bereuen, und sich dann auch auf diese Weise zu bessern. Soweit man davon ausgeht, dass jeder Mensch ein Recht hat, sich intellektuell, moralisch und ästhetisch zu vervollkommnen, und wenn man des Weiteren voraussetzt, dass unter bestimmten Bedingungen die Strafe allein dazu führen kann, dass ein Mensch sich zumindest in einer dieser Hinsichten – primär gesehen die moralische – vervollkommnet, dann kann man den Gedanken eines Rechts des Täters auf Bestrafung ableiten, so dass die Strafe dann nicht mehr nur etwas ist, das der Staat den Opfern schuldet, sondern auch dem Täter. Wie Duff an einer Stelle seines Buches über den Täter schreibt: „He may therefore claim a right to be blamed, or even punished, for his wrong-doing; a right to be treated, respected and cared for as a moral agent.“10

V. Schluss Jemanden schlichtweg sozial ignorieren, also so zu tun, als existiere er oder sie nicht, kann manchmal schlimmere psychologische Konsequenzen haben, als diese Person zu beschimpfen. Wie im ersten Teil dieses Beitrags gezeigt wurde, hat Seneca einen ähnlichen Gedanken im Hinblick auf die Bestrafung formuliert: Jemanden nicht bestrafen kann manchmal ein schlimmeres Übel sein als das Übel, das mit einer Strafe einhergeht. Dies ist dann der Fall, wenn der Verzicht auf eine Bestrafung

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Duff, Trials and Punishments, 1986, 263. Duff (Fn. 9), 70.

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aus dem Willen entspringt, den Täter zu erniedrigen, ihm also nicht den ihm gebührenden Respekt zu zeigen. Für Denker wie Fichte, Hegel oder Duff ist die Erniedrigung gleichbedeutend mit einer Nicht-Anerkennung der vernünftigen Natur des Täters, der, für Hegel, als „Vernünftiger geehrt“ und für Duff als „moral agent“ behandelt werden muss. Der Verzicht auf eine Bestrafung kommt demnach einem Ausschluss aus der Gemeinschaft der vernünftigen moralischen Agenten gleich. Und auch wenn in bestimmten Fällen – bei geistig stark umnachteten Personen – ein solcher Ausschluss, der aber dann immer nur ein begrenzter ist, sich aus objektiven Gründen rechtfertigen lässt, ohne dass diesen Personen das Menschsein automatisch abgesprochen wird, so lässt er sich nicht rechtfertigen, wenn man es mit einer „normalen“ Person zu tun hat, mit einer Person von der vorausgesetzt werden kann, dass sie Recht und Unrecht voneinander unterscheiden kann und ihr Handeln derart im Griff hat, dass sie im Regelfall auf die Stimme der Vernunft hört. Man könnte jetzt die Frage stellen, ob die Anerkennung nicht schon durch den Prozess geschehen kann, so dass es für den Täter durchaus ein Recht auf einen Prozess, nicht aber auch unbedingt ein Recht auf eine Strafe geben kann. Weisen wir zunächst darauf hin, dass das Recht auf einen Prozess dem Angeklagten in erster Linie dazu dient, sich gegen eine Schuldzuweisung zu verteidigen und somit aus dem Recht entspringt, seine Unschuld zu beweisen, oder genauer gesagt zu zeigen, dass die vorliegenden Indizien oder Beweise nicht genügen, um einen Schuldspruch zu rechtfertigen. Das Recht auf einen Prozess kann in dieser Hinsicht durchaus als etwas angesehen werden, das im Dienste eines Rechtes, nicht bestraft zu werden, steht. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass die Anwälte sich anstrengen zu beweisen, dass ihr Klient nicht zurechnungsfähig ist oder es zumindest im Augenblick der Tat nicht war. Dadurch soll ihm eine Haftstrafe erspart oder deren Dauer soll zumindest herabgesetzt werden. In manchen Fällen kann es im – reellen oder vermeintlichen – Interesse des Angeklagten liegen, nicht als vernünftiges Wesen geehrt oder als moralischer Agent angesehen zu werden. Man denke hier an den Film „One flew over a Cuckoo’s Nest“, in welcher der Hauptdarsteller sich als verrückt stellt, um dem Gefängnis zu entgehen und in eine Irrenanstalt zu kommen.11

11 Kürzlich hörte ich auf dem Radiosender RTL Paris eine Sendung über den Fall Marcel Léger, der vor etwa einem halben Jahrhundert Frankreich beschäftigte. Léger wurde verdächtigt, ein Kind entführt und umgebracht zu haben. Obwohl es ziemlich klare Beweise für seine Schuld gab, betonte er während des Prozesses seine Unschuld. Sein Anwalt widersprach ihm aber und sagte den Richtern, sein Mandant habe den Mord begangen, sei aber verrückt. Der Anwalt wusste: Wird die Demenz anerkannt, dann kommt sein Klient in eine Anstalt, wird sie nicht anerkannt, dann riskiert er die Todesstrafe. Die Geschworenen erkannten Léger als schuldig an, aber statt der damals noch möglichen Todesstrafe wurde er „nur“ mit einer lebenslänglichen Haftstrafe bestraft.

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Man wird im Falle eines Prozesses unterscheiden müssen, ob es sich um einen Prozess handelt, in dem es um die Zurechnungsfähigkeit des Täters geht, wobei die Schuld – in einem rein objektiven Sinn: der Täter hat eine Veränderung in der objektiven Welt bewirkt – vorausgesetzt wird, oder um einen Prozess, in dem es um seine Schuld geht, wobei die Zurechnungsfähigkeit vorausgesetzt wird – der mutmaßliche Täter gehört zu denjenigen Wesen, von denen angenommen werden kann, dass sie wissen, was sie tun, wenn sie eine solche Veränderung in der objektiven Welt bewirken. Auf jeden Fall sollte jeder Mensch, dem vorgeworfen wird, eine Handlung ausgeführt zu haben, durch die eine Rechtsnorm verletzt wurde, das Recht haben, sich vor einem Richter auszudrücken und damit auch sich zu verantworten. Erinnern wir hier daran, dass es bei der Verantwortung auch um das Geben einer Antwort auf die Frage „Warum haben Sie das getan?“ geht, wobei das Warum nicht primär nach Ursachen fragt, sondern nach Gründen und Motiven. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, dass man sein Verhalten zunächst zu verstehen sucht, und erst dann nach einer Erklärung sucht12, wenn man nicht verstehen kann. Erniedrigend wäre eine Behandlung, die mit dem Erklären anfängt und das Verstehen ausklammert.

12 Diese Gegenüberstellung von Erklären und Verstehen hat in der Philosophie eine lange Geschichte, wobei während der Erklären/Verstehen-Debatte das Erklären den Naturwissenschaften und das Verstehen den Humanwissenschaften zugeordnet wurde. Wer nur erklärt, sieht den Mensch als ein Wesen, das dem, wie Kant sagen würde, „Naturmechanism“ ganz unterworfen ist und demnach keine Freiheit besitzt. Ist es aber die Freiheit, die dem Menschen seine Würde verleiht und ihn über alle anderen Lebewesen erhebt, dann erniedrigt man ihn, wenn man sein Tun nur im Medium des Erklärens betrachtet.

Die argumentativen Grundlagen der Meinungsfreiheit Frank Dietrich

I. Einleitung Die Meinungsfreiheit nimmt im Kanon der individuellen Grundrechte, die in demokratisch verfassten Staaten gemeinhin anerkannt werden, einen zentralen Platz ein. Bereits im ersten Zusatzartikel zur US-amerikanischen Verfassung aus dem Jahre 1791 heißt es: „Congress shall make no law (…) abridging the freedom of speech (…)“. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gewährt in Art. 5 jedermann „(…) das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (…).“ Ähnliche Formulierungen finden sich unter anderem in Art. 21 der italienischen Verfassung, in Art. 54 der polnischen Verfassung sowie in Art. 13 des österreichischen Staatsgrundgesetzes. Auch in den maßgeblichen Menschenrechtsdokumenten des internationalen Rechts hat der Schutz der individuellen Meinungsfreiheit eine sichere Grundlage. So bestimmt Art. 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung (…).“ Ebenso sichert die Europäische Menschenrechtskonvention aus dem Jahre 1950 in Art. 10 und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte aus dem Jahre 1966 in Art. 19 die individuelle Meinungsfreiheit zu. In jüngster Zeit sieht sich die Meinungsfreiheit jedoch in vielen demokratischen Gesellschaften mit problematischen Entwicklungen konfrontiert, die erhebliche Friktionen verursachen. Auf der einen Seite ist eine zunehmende Verrohung des öffentlichen Diskurses zu beobachten, die sich besonders deutlich in digitalen Medien der Kommunikation zeigt. Das Ausmaß der Verunglimpfung und Herabsetzung anderer Personen lässt Rufe nach einem effektiveren Schutz vor Hassrede – und somit nach einer Beschränkung der Meinungsfreiheit – lauter werden. Auf der anderen Seite besteht schon heute in Teilen der Bevölkerung der Eindruck, im alltäglichen Sprachgebrauch immer stärker durch Normen der politischen Korrektheit reguliert zu werden. Damit einher geht die Wahrnehmung, sich nicht mehr ohne Weiteres frei äußern zu können und schon in der Wortwahl auf eine bestimmte Gesinnung festgelegt zu werden.1

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von Münch, Meinungsfreiheit gegen Political Correctness, 2017.

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In Anbetracht der genannten Herausforderungen erscheint es wichtig, sich der Gründe zu vergewissern, die für die Gewährung von Meinungsfreiheit sprechen. So kann z. B. über Maßnahmen zum Schutz vor Hassrede nur dann sinnvoll diskutiert werden, wenn die Bedeutung der Meinungsfreiheit klar zutage liegt. Der vorliegende Beitrag unternimmt daher den Versuch, die unterschiedlichen Argumentationslinien, auf die sich das Recht auf Meinungsfreiheit stützen kann, zu rekonstruieren. Im Folgenden werden zunächst die wesentlichen Charakteristika des Rechts auf Meinungsfreiheit, die der weiteren Diskussion als Bezugspunkt dienen, kurz umrissen (II.). Darauf aufbauend werden drei Begründungen, warum der Meinungsfreiheit eine zentrale Bedeutung zukommt, vorgestellt und kritisch erörtert: im Einzelnen werden die Kommunikationsfunktion (III.1.), die Erkenntnisfunktion (III.2.) und die Demokratiefunktion (III.3.) der Meinungsfreiheit thematisiert. In einem abschließenden Resümee werden die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung kurz zusammengefasst und weiterführende Überlegungen zur Rechtfertigung möglicher Beschränkungen angestellt (IV.).

II. Das Recht auf Meinungsfreiheit Die Berufung auf die individuelle Meinungsfreiheit kann sich sowohl auf ein juridisches wie auch auf ein moralisches Recht beziehen. Das juridische Recht auf Meinungsfreiheit ist in Gesetzestexten, typischerweise der Verfassung, positiviert und schützt die Rechtsträger primär vor staatlichen Sanktionen. Es untersagt dem Gesetzgeber, unliebsame Meinungsbekundungen der Bürger und Bürgerinnen, etwa kritische Äußerungen zu Politik oder Religion, unter Strafe zu stellen. Das moralische Recht auf Meinungsfreiheit formuliert hingegen einen überpositiven Anspruch auf einen toleranten Umgang im öffentlichen Diskurs. Es fordert die Bürger und Bürgerinnen dazu auf, insbesondere Personen, die grundlegende Überzeugungen der Mehrheit in Frage stellen, nicht mit Exklusion oder anderen sozialen Sanktionen zu belegen.2 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung beziehen sich die weiteren Überlegungen ausschließlich auf Meinungsfreiheit im engen juridischen Sinne. Die aktuellen Diskussionen um „Political Correctness“ und „Cancel Culture“, die schwerpunktmäßig nicht auf Rechtsvorschriften, sondern auf soziale Verhaltensnormen abstellen, finden somit keine Berücksichtigung. Das Recht auf Meinungsfreiheit umfasst nicht nur die freie Rede, sondern gilt unabhängig von der Form, in der die jeweilige Auffassung zum Ausdruck gebracht wird. Insofern bildet der Begriff „freedom of speech“, der im ersten Zusatzartikel 2 Die Wichtigkeit der Meinungsfreiheit für das soziale Miteinander hat bereits John Stuart Mill in seiner berühmten Freiheitsschrift hervorgehoben: „Schutz gegen die Tyrannei der Behörde ist (…) nicht genug, es braucht auch Schutz gegen die Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens, gegen die Tendenz der Gesellschaft, durch andere Mittel als zivile Strafen ihre eigenen Ideen und Praktiken als Lebensregeln denen aufzuerlegen, die eine abweichende Meinung haben (…).“ Mill, On Liberty/Über die Freiheit, 2020, 21.

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der US-amerikanischen Verfassung gewählt wird, den Schutzanspruch der Meinungsfreiheit nur unvollständig ab. Treffender ist die Formulierung in Art. 5 des deutschen Grundgesetzes, der zufolge die Individuen das Recht haben, ihre Meinung in „Wort, Schrift und Bild“ zu äußern. Neben der öffentlichen Rede können unter anderem Flugblätter, Zeitungsartikel, Karikaturen oder Kunstwerke zur Meinungsbekundung genutzt werden. Auch symbolische Akte, wie das Verbrennen einer Fahne oder das Zerreißen eines Einberufungsbescheids, sind prima facie durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt. Strittig ist, ob sich der Begriff der Meinung, wie vom deutschen Bundesverfassungsgericht angenommen, nur auf subjektive Äußerungen bezieht, die „durch das Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens“ charakterisiert sind.3 Demnach muss bei der Bestimmung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit zwischen subjektiven Meinungsäußerungen und objektiven Tatsachenbehauptungen differenziert werden. Objektive Tatsachenbehauptungen sind nur dann indirekt geschützt, wenn sie der Wahrheit entsprechen und somit einen Beitrag zur rationalen Meinungsbildung der Bürger und Bürgerinnen leisten können. Hingegen genießen nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts unzweifelhaft falsche Tatsachenbehauptungen nicht den grundrechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit. So könne sich z. B. die Leugnung des Holocausts nicht auf die individuelle Meinungsfreiheit berufen – die so genannte Auschwitzlüge unter Strafe zu stellen, sei daher kein grundrechtsrelevanter Eingriff. Die Engführung des Geltungsbereichs der Meinungsfreiheit auf subjektive Werturteile und zutreffende Tatsachenbehauptungen, die das Bundesverfassungsgericht vorgenommen hat, erscheint aus zwei Gründen problematisch. Erstens kann eine falsche Tatsachenbehauptung durch eine kritische Haltung des Sprechers motiviert sein und insofern auch ein „Element der Stellungnahme“ beinhalten. Beispielsweise will womöglich eine Person, die die Wirksamkeit von Corona-Impfstoffen leugnet, vor allem ihren Protest gegen eine als zu restriktiv empfundene staatliche Pandemiepolitik zum Ausdruck bringen. Die Schwierigkeit, objektive Tatsachenbehauptungen klar von subjektiven Werturteilen abzugrenzen, lässt die vorgeschlagene Beschränkung der Meinungsfreiheit zweifelhaft erscheinen. Zweitens führt die Begriffsbestimmung, die das Bundesverfassungsgericht seiner Spruchpraxis zugrunde legt, gerade im Umgang mit rechtsextremem Gedankengut zu unplausiblen Konsequenzen. Folgt man der Unterscheidung des Bundesverfassungsgerichts fällt zwar nicht die Leugnung des Holocausts als historische Tatsache, wohl aber die Befürwortung der NS-Verbrechen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. In Anbetracht der skizzierten Probleme erscheint es ratsam, den Begriff der Meinung in einem weiten Sinne zu verstehen, der subjektive Werturteile sowie wahre und falsche Tatsachenbehauptungen einschließt.4 3

BVerfGE 61, 1 (15). Grundsätzlich können Leugnung wie auch Verherrlichung von NS-Verbrechen auch dann, wenn sie dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit zugerechnet werden, über die Ab4

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Die Meinungsfreiheit umfasst sowohl eine aktive Komponente der Meinungsbekundung wie auch eine passive Komponente der Meinungsrezeption. Sie gewährt den Individuen einerseits die Möglichkeit, sich anderen gegenüber zu äußern und ihnen den eigenen Standpunkt mitzuteilen. Andererseits beinhaltet sie das Recht, die Überlegungen dritter Personen zur Kenntnis zu nehmen und sie in die eigene Positionierung einzubeziehen. Auf Grund ihrer passiven Komponente schützt die Meinungsfreiheit auch Verlautbarungen, die sich an niemanden richten und keine Mitteilungsabsicht haben. So kann z. B. ein öffentliches Interesse an privaten Aufzeichnungen bestehen, die der Verfasser oder die Verfasserin nicht zur Publikation bestimmt hatten. Wenn etwa ein Staat ein Verbot erlässt, das „Tagebuch der Anne Frank“ zu drucken und in Umlauf zu bringen, verletzt er nicht die Meinungsfreiheit der bereits verstorbenen Autorin, sondern die Rechte eines potenziellen Publikums.5 Das Recht auf Meinungsfreiheit gibt den Individuen primär einen negativen, d. h. auf Unterlassung gerichteten Anspruch gegen den Staat. Den Bürgern und Bürgerinnen dürfen weder bestimmte Verlautbarungen untersagt noch Mittel zur öffentlichen Kommunikation, etwa durch Beschlagnahmung eines Mikrophons oder Unterbrechung der Internetverbindung, entzogen werden. Einen positiven Anspruch, mit Ressourcen ausgestattet zu werden, die eine wirksame Verbreitung der jeweiligen Überzeugungen ermöglichen, besitzen die Rechtsträger hingegen nicht. Zudem steht niemand in der Pflicht, Meinungsbekundungen zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, geschweige denn ihnen zuzustimmen – Nichtbeachtung oder Widerspruch stellen grundsätzlich keine Verletzung der Meinungsfreiheit dar. Staatliches Tätigwerden kann aber zur Rechtsdurchsetzung gegenüber Dritten, die öffentliche Äußerungen bestimmter Personen unterbinden wollen, geboten sein. Wer z. B. von einer Gruppe Störer verfolgt wird, die jede öffentliche Meinungsbekundung niederbrüllen, hat einen positiven Anspruch auf staatliche Hilfe. Wie bereits dargelegt, richtet sich das individuelle Recht auf Meinungsfreiheit vorwiegend gegen staatliche Instanzen. Privatpersonen sind in ihrem Entscheidungsbereich nicht verpflichtet, allen Bürgern und Bürgerinnen die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung einzuräumen. So verletzt z. B. ein Gastwirt, der sich entschließt, seine Lokalität nur einer bestimmten politischen Partei für ihre Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen, nicht das Recht andersdenkender Personen auf Meinungsfreiheit. In wohl begründeten Ausnahmefällen erscheint es jedoch plausibel, eine Geltung des Rechts auf Meinungsfreiheit über den staatlichen Bereich hinaus anzunehmen.6 So lassen sich z. B. mit Bezug auf die demokratietheoretischen Argumente, die im Weiteren noch näher erläutert werden (siehe III.3.), starke Gründe für die Einbinwägung mit dem Schutz anderer Rechtsgüter untersagt werden. Grabenwarter, in: Maunz/ Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 73. Aufl. 2014, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 50. 5 Larry Alexander versteht Meinungsfreiheit sogar ausschließlich als Informationsrecht einer möglichen Hörer- bzw. Leserschaft. Alexander, Is There a Right of Freedom of Expression? 2005, 8 f. 6 Eine weitreichende Drittwirkung der Meinungsfreiheit wird vom Bundesverfassungsgericht bereit im so genannten Lüth-Urteil aus dem Jahre 1958 konstatiert; BVerfGE 7, 198.

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dung marktführender Betreiber von Online-Plattformen, wie Facebook oder Twitter, anführen. Da ein erheblicher Teil des gesellschaftlichen Diskurses in den sozialen Medien stattfindet, liegt es nahe, sie zur Gewährung eines freien Zugangs für alle Personen und Positionen zu verpflichten.7

III. Der Wert der Meinungsfreiheit Das Recht auf individuelle Meinungsfreiheit kann sich im Wesentlichen auf drei Begründungsmuster stützen, die im Folgenden nachgezeichnet und diskutiert werden. Die verschiedenen Rechtfertigungen stellen keine einander ausschließenden Alternativen dar, sondern können als sich wechselseitig ergänzende Gesichtspunkte aufgefasst werden. Im Einzelnen lassen sich drei zentrale Argumentationslinien identifizieren, die auf das individuelle Bedürfnis der Mitteilung, die epistemische Bedeutung der freien Meinungsäußerung sowie die Erfordernisse eines demokratischen Gemeinwesens abstellen. 1. Kommunikation und Integrität Die zunächst zu betrachtende Argumentation verweist auf die grundlegende Bedeutung, die die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung für ein gelingendes Leben hat. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Sozialnatur des Menschen, die sich in unterschiedlichen Formen der Gemeinschaft verwirklicht und ein elementares Bedürfnis nach Kommunikation einschließt.8 Personen, die jeglicher Gemeinschaft entsagen (z. B. Eremiten) oder auf jeglichen sprachlichen Austausch verzichten (z. B. Angehörige von Schweigeorden), bilden seltene Ausnahmen. Die meisten Menschen haben ein starkes Interesse an Kommunikation in ihrer aktiven wie auch passiven Ausprägung; sie möchten sich in aller Regel sowohl anderen gegenüber ausdrücken als auch Eindrücke von ihnen empfangen. Die aktive Komponente der Kommunikation umfasst das Mitteilen von Gefühlen, Beobachtungen und politischen oder anders gearteten Überzeugungen. Sie leistet, wie Kent Greenawalt hervorhebt, typischerweise einen wichtigen Beitrag zur Realisierung eines erfüllten Lebens: „The practice of free speech enhances the lives of those who seek to communicate in various (…) ways. For the speaker, communication is a crucial way to relate to others; it is also an indispensable outlet for emotional feelings and a vital aspect of the development of one’s personality and ideas. The willingness of others to listen to what one has to say generates self-respect. Limits on what people can say curtail all these benefits.“9

Gegen die dargelegte Argumentation kann auf die begrenzte Reichweite verwiesen werden, die staatliche Eingriffe in die Meinungsfreiheit gewöhnlich haben. Zu7

Kramer, Freedom of Expression as Self-Restraint, 2021, 58 ff. Schauer, Free Speech: A Philosophical Enquiry, 1982, 53 ff. 9 Greenawalt, Columbia Law Review 1989, 119 (144 f.). 8

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meist gehen die staatlichen Interventionen nicht so weit, den Bürgern und Bürgerinnen jegliche Form der Kommunikation zu untersagen. Vielmehr stehen spezifische Meinungsbekundungen, z. B. Kritik an den Machthabern oder häretische Äußerungen, im Fokus, die mittels Strafandrohung verhindert werden sollen. Insofern schränken staatliche Eingriffe in die Meinungsfreiheit die Möglichkeit der Bürger und Bürgerinnen, ihre kommunikativen Bedürfnisse zu befriedigen, in der Regel nicht weitreichend ein. Zum einen können sie gegenüber anderen ihre Auffassung zu einer Vielzahl unverfänglicher Themen bekunden, die keiner staatlichen Kontrolle unterliegen. Zum anderen können sie ihren kommunikativen Bedürfnissen nachkommen, indem sie zu kontroversen Fragen der Politik oder Religion die vom Staat präferierte Position vertreten. Wie die vorstehenden Überlegungen verdeutlichen, greift es zu kurz, das Recht auf Meinungsfreiheit allein auf das Bedürfnis nach Kommunikation zu stützen. Die Individuen wollen nicht nur irgendetwas sagen dürfen, sondern das zum Ausdruck bringen, was sie wirklich fühlen und denken. Sie haben ein über die Möglichkeit der Kommunikation hinausgehendes Interesse an Integrität, das wesentlich den Wunsch nach authentischer Mitteilung umfasst. Die Integrität einer Person nimmt Schaden, wenn sie sich nach außen nicht so darstellen kann, wie es ihrem inneren Empfinden entspricht. Staatliche Verbote zwingen die Bürger und Bürgerinnen dazu, sich zu verstellen oder auf Meinungsbekundungen zu verzichten, die ihnen wichtig sind. Sie erschweren die Realisierung eines guten Lebens vor allem deshalb, weil sie den Betroffenen nicht erlauben, im sozialen Miteinander zu sich selbst zu stehen. Der hohe Stellenwert der Integrität lässt sich am Beispiel politischer Dissidenten veranschaulichen, die unter einem Regime leben, das kritische Äußerungen sanktioniert. So konnten sich etwa Oppositionelle in der DDR oftmals nur im engsten Freundeskreis und mit erheblicher Angst vor Spitzeln zu ihrer tatsächlichen Meinung bekennen. Am Arbeitsplatz, im Sportverein und vielen anderen Bereichen mussten sie sich zumeist verstellen, um gravierende Nachteile zu vermeiden. Sie waren somit genötigt, ständig auf der Hut zu sein und ein – zumindest partiell – unaufrichtiges Leben zu führen, das sich nicht mit ihren eigentlichen Überzeugungen in Einklang bringen ließ. Hier ist zu betonen, dass der hohe Wert, der der Integrität zukommt, nicht von dem Inhalt der politischen oder sonstigen Meinungen abhängt, die die Individuen vertreten. So werden z. B. auch Personen, die einem rassistischen Weltbild anhängen, an der Realisierung eines aus ihrer Sicht erfüllten Lebens gehindert, wenn sie ihre Überzeugung nicht offen kommunizieren können. Neben der bisher diskutierten aktiven Komponente der freien Meinungsäußerung besteht typischerweise auch ein starkes Interesse an der passiven Rezeption von Meinungen. Eine wichtige Voraussetzung der individuellen Autonomie besteht darin, verschiedene Handlungsoptionen zur Auswahl zu haben, zwischen denen man eine wohl überlegte Entscheidung treffen kann. Um Kenntnis von verfügbaren Möglichkeiten zu erhalten und sie angemessen bewerten zu können, bedarf es gewöhnlich

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der Mitteilungen anderer Personen.10 Einschränkungen der Meinungsfreiheit erschweren es den Bürgern und Bürgerinnen, sich selbst ein Bild zu machen und informierte Urteile zu fällen. Sie drücken tendenziell ein Misstrauen des Staates gegenüber der Fähigkeit der Individuen aus, die mit einem Verbot belegten Positionen richtig einschätzen zu können. Für Personen, die ihr Leben autonom gestalten wollen, ist es aber wichtig, möglichst unbeschränkt Zugang zu den Auffassungen anderer zu haben und gegebenenfalls selbst zu bestimmen, welche Beiträge sie ignorieren wollen. 2. Erkenntnisgewinn und Wahrheitsfindung Für die Begründung der Meinungsfreiheit spielen neben den vorstehend erörterten Überlegungen auch Argumente, die auf den Erwerb und die Verbreitung von Wissen abstellen, eine zentrale Rolle. Der grundlegende Gedanke findet sich bereits in John Miltons Traktat „Areopagitica“ aus dem Jahre 1644, das sich gegen die Praxis der staatlichen Vorzensur von Druckerzeugnissen wendet.11 Eine detaillierte und systematische Rechtfertigung der Meinungsfreiheit, die ihre Erkenntnisfunktion in den Mittelpunkt stellt, hat aber erst John Stuart Mill in seinem 1859 publizierten Werk „Über die Freiheit“ geleistet.12 Mill stützt seine Freiheitskonzeption auf eine hedonistische Version der utilitaristischen Moralphilosophie, die er in seiner 1861 erschienenen Schrift „Der Utilitarismus“ dargelegt hat.13 Im Unterschied zu naturrechtlichen Theorien geht er nicht von angeborenen Freiheitsrechten aus, sondern verweist auf den sozialen Nutzen, den die Gewährung individueller Freiheitsrechte verspricht. Damit steht er vor der schwierigen Aufgabe, die Zulässigkeit der Verlautbarung und Verbreitung irriger Meinungen mit ihrer Nützlichkeit begründen zu müssen.14 Mill bringt im Wesentlichen vier Argumente vor, warum auch die Äußerung falscher Auffassungen nicht eingeschränkt werden sollte: „Erstens: Wenn man eine Meinung zum Schweigen zwingt, so kann sie doch, soweit wir wissen können, richtig sein. Das Leugnen, hieße unsere eigene Unfehlbarkeit beanspruchen. Zweitens: Mag auch die zum Schweigen gebrachte Meinung irrig sein, so kann sie doch – was häufig genug vorkommt – ein Körnchen Wahrheit enthalten. (…) 10

Thomas Scanlon bemerkt hierzu: „The central audience interest in free expression (…) is the interest in having a good environment for the formation of one’s beliefs and desires.“ Scanlon, The Difficulty of Tolerance. Essays in Political Philosophy, 2003, 91. 11 Milton, Areopagitica and Of Education, 1968, 26. 12 Mill, On Liberty/Über die Freiheit, 2020. 13 Mill, Utilitarianism/Der Utilitarismus, 2006. 14 Mill schreibt: „(…) Ich [verzichte] auf jeden Vorteil, den man für meine Beweisführung aus der Idee eines abstrakten, vom Nützlichkeitsprinzip unabhängigen Rechtes ableiten könnte. Ich betrachte Nützlichkeit als letzte Berufungsinstanz in allen ethischen Fragen (…).“ Mill (Fn. 12), 37.

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Frank Dietrich Drittens: Selbst wenn die überlieferte Meinung nicht nur die Wahrheit, sondern sogar die ganze Wahrheit enthielte, so würden die meisten derer, die sie teilen, sie nur als eine Art Vorurteil annehmen, mit wenig Verständnis oder Sinn für ihre verstandesmäßige Begründung, wenn man nicht zulässt, ja sogar darauf besteht, sie in vollem Ernst zu bekämpfen. Und nicht nur dies, sondern Viertens: Auch der Sinn der Lehre selbst wird in Gefahr sein, verloren zu gehen oder geschwächt und seines lebendigen Einflusses auf den Charakter und die Handlungsweise beraubt zu werden. (…)“15

Zur Unterstützung des ersten Arguments lassen sich verschiedene historische Fälle anführen, in denen sich die unterdrückte Meinung eines Außenseiters im Nachhinein als richtig erwiesen hat. Obwohl sich die Machthaber und die gesellschaftliche Mehrheit in der Ächtung einer vermeintlichen „Irrlehre“ absolut sicher fühlten, musste ihr Urteil im Laufe der Zeit revidiert werden. So findet z. B. das von Galileo Galilei verfochtene heliozentrische Weltbild, das Mitte des 17. Jahrhunderts als Ketzerei galt und nicht öffentlich vertreten werden durfte, heute ungeteilte wissenschaftliche Anerkennung. Wer die Möglichkeit eines Irrtums verneint, erklärt Mill zufolge seine eigene Meinung für unfehlbar, was die menschliche Erkenntnisfähigkeit übersteigt. Grundsätzlich lasse sich das Auftauchen neuer Fakten und Argumente, durch die gesellschaftlich fest verankerte Gewissheiten erschüttert und letztlich überwunden werden, nie ausschließen. Um größtmögliche Sicherheit zu erreichen, mit einer aktuell vertretenen Auffassung richtig zu liegen, müsse man jegliche verfügbare Kritik erlauben und die eigene Position in ihrem Lichte überprüfen.16 Das zweite Argument von Mill macht darauf aufmerksam, dass falsche Meinungen gewöhnlich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Behauptungen bestehen. Auch wenn die vertretene Auffassung insgesamt verfehlt sei, könnten doch einzelne Elemente zutreffen oder zumindest die Aufmerksamkeit auf bis dato ungenügend berücksichtigte Fakten lenken. Zur Illustration denke man an eine rechtsextreme Gruppierung, die gegen die Aufnahme von Flüchtlingen agitiert, indem sie zahlreiche Unwahrheiten über die Folgen einer Grenzöffnung verbreitet. In dem Gespinst von Lügen kann sich durchaus eine empirisch plausible These, etwa über temporär steigende Sozialkosten, finden, die in der Diskussion Berücksichtigung verdient. Gleichsam kann eine falsche Information, z. B. über die vermeintliche Bevorzugung von Flüchtlingen bei der Vergabe von Sozialwohnungen, den Blick auf ein reales Problem lenken, dem sonst vielleicht die Aufmerksamkeit versagt bliebe. Auch wenn die behauptete Privilegierung von Flüchtlingen aus der Luft gegriffen ist, mag es eine verschärfte Konkurrenz um knappe Sozialwohnungen zu Lasten ärmerer Bevölkerungsgruppen geben, die in der öffentlichen Diskussion nicht hinreichend thematisiert wird. Ein Verbot der Verlautbarung überwiegend falscher Auffassungen nimmt der Gesellschaft die Möglichkeit, von den in ihr enthaltenen Erkenntnismöglichkeiten zu profitieren. 15 16

Mill (Fn. 12), 151. Mill (Fn. 12), 61.

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Nach Mills Überzeugung ist es nicht nur wichtig, eine zutreffende Meinung zu haben, sondern auch die Gründe zu kennen, die für ihre Annahme sprechen. Wer eine wahre Auffassung, der die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft anhänge, unreflektiert übernehme, verfüge nicht im eigentlichen Sinne über Wissen. Solange er sich nicht mit den Gründen, die die betreffende Überzeugung plausibel erscheinen lassen, befasst habe, hege er lediglich ein – in der Sache korrektes – Vorurteil. Das dritte und vierte Argument von Mill weist auf die Bedeutung hin, die die Möglichkeit, falsche Meinungen zu äußern, für das Entstehen lebendiger gesellschaftlicher Kontroversen hat. Nur wenn zutreffende Ansichten immer wieder gegen Kritik verteidigt werden müssen, bleiben die Gründe, die sie stützen, einem breiten Publikum präsent. Insofern erfülle die Verlautbarung falscher Meinungen eine wichtige Funktion: Sie bewahre richtige Meinungen davor, zu einem „toten Dogma“ zu erstarren. Selbst wenn man die epistemische Skepsis der ersten beiden Argumente nicht teile und glaube, die Falschheit zumindest mancher Auffassungen zweifelsfrei feststellen zu können, sollte man sie angesichts der Vorteile, die sie für das Erfassen der Wahrheit bieten, nicht unterdrücken. Ganz allgemein darf die Gesellschaft Mill zufolge individuelle Freiheiten nur beschneiden, um eine gravierende Schädigung anderer Personen zu verhindern. Andere Motive, insbesondere der paternalistische Schutz des Einzelnen vor einem selbstschädigenden Verhalten, entbehren aus seiner Sicht der Rechtfertigung. Beispielsweise dürfe man einer Person, die sich durch überhöhten Alkoholkonsum zu ruinieren drohe, zwar Vorhaltungen machen, sie jedoch nicht zu einer gesünderen Lebensführung zwingen. Ausnahmen bilden nach Mills Überzeugung lediglich unmündige Personen, zu denen er neben Kindern auch die Angehörigen „zurückgebliebener Rassen“ zählt.17 Wer noch nicht die notwendige Reife erlangt habe, um verantwortliche Entscheidungen zu treffen, dürfe (oder vielmehr solle) vor verhängnisvollen Fehlern bewahrt werden. Das langfristige Ziel der Bevormundung müsse aber immer darin bestehen, die betreffenden Personen zur Mündigkeit zu erziehen und weitere Eingriffe überflüssig zu machen. Das zentrale Konzept der Schädigung bleibt in der Freiheitsschrift unterbestimmt; Mill bietet an keiner Stelle eine präzise Begriffsdefinition an. Die zahlreichen Beispiele, die er zur Erläuterung seiner Überlegungen anführt, legen jedoch nahe, dass er primär an Verletzungen der körperlichen Integrität und des Eigentums denkt. Seiner Auffassung nach darf die Meinungsfreiheit nur dann eingeschränkt werden, wenn sie kausal mit einer Handlung verknüpft ist, die Leib und Leben oder das Eigentum anderer gefährdet. Grundsätzlich habe z. B. jeder das Recht, seiner Überzeugung öffentlich Ausdruck zu verleihen, dass Getreidehändler Wucherpreise verlangten und die Armen aushungerten. Sollte sich jedoch bereits eine wütende Menge vor dem Haus eines Getreidehändlers versammelt haben, dürfe man die Stimmung nicht durch eine Brandrede, die womöglich einen physischen Angriff oder eine Plün-

17

Mill (Fn. 12), 35.

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derung auslöse, weiter anheizen.18 Hingegen scheint Mill das Verbot von Äußerungen, die mit psychischen Beeinträchtigungen, etwa in Form einer Beleidigung oder der Verletzung religiöser Gefühle, einhergehen, für unzulässig zu halten.19 Die beschriebene Einengung des Schädigungsbegriffs steht in einem Spannungsverhältnis zu der hedonistischen Werttheorie, auf die sich Mill in seiner moralphilosophischen Grundlagenschrift „Der Utilitarismus“ stützt. Dort definiert er unter Berufung auf Epikur und Jeremy Bentham positiven Nutzen als das Erleben von Lust und das Freisein von Unlust.20 Entsprechend muss ein negativer Nutzen, also ein Schaden, als das Erleben von Unlust und das Freisein von Lust verstanden werden. Sowohl das Konzept der Lust wie auch das Konzept der Unlust beschreibt ein weites Spektrum an angenehmen bzw. unangenehmen Bewusstseinszuständen, die ganz unterschiedliche Ursachen haben können. Entscheidend für die Klassifikation einer Körperverletzung oder eines Diebstahls als Schädigung sind letztlich die Schmerzen oder anderen negativen Empfindungen, die die Betroffenen zu erleiden haben. Insofern bleibt unklar, warum der Ärger oder das Gefühl der Demütigung, das eine schwere Beleidigung nach sich zieht, unbeachtet bleiben soll. Ein weiteres konzeptionelles Problem wirft die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Meinungen auf, die Mills Argumentation zugrunde liegt.21 In Hinblick auf naturwissenschaftliche Kontroversen erscheint es plausibel, einen objektiven Standard der Beurteilung vorauszusetzen und von korrekten bzw. irrigen Auffassungen zu sprechen. Im Mittelpunkt vieler gesellschaftlicher Auseinandersetzungen stehen aber konkurrierende politische Ideen oder widerstreitende individuelle Lebensentwürfe, die immer auch normative Komponenten enthalten. Ob sich die divergierenden Meinungen, die z. B. zur Steuergerechtigkeit oder gleichgeschlechtlichen Ehe vertreten werden, in „wahre“ und „falsche“ unterteilen lassen, erscheint fraglich. Eine solche Dichotomie setzt die Anerkennung eines objektiven Wertmaßstabs voraus, den John Stuart Mill vermutlich in der utilitaristischen Moralphilosophie zu finden vermeint. Wer aber – im Anschluss an John Rawls – unauflösbare Meinungsverschiedenheiten in der Moral für möglich hält, kann Mills Argument nur in abgeschwächter Form vertreten.22 Die Gewährung von Meinungsfreiheit stellt dann keine Voraussetzung dar, um die „Wahrheit“ zu ermitteln und lebendig zu erhalten, sondern um gut informierte und wohl begründete Entscheidungen treffen zu können.

18 Mill (Fn. 12), 159. Ganz im Geiste John Stuart Mills hat der amerikanische Verfassungsrichter Oliver Wendell Holmes Jr. die Auffassung vertreten, die Meinungsfreiheit beinhalte nicht das Recht in einem voll besetzten Theater ohne Anlass „Feuer“ zu rufen und damit eine Massenpanik auszulösen; Warburton, Free Speech, 2009, 9. 19 Mill (Fn. 12), 151 ff. 20 Mill (Fn. 13), 21. 21 Niesen, in: Schefczyk/Schramme (Hrsg.), John Stuart Mill: Über die Freiheit, 2015, 33 (38 f.). 22 Rawls, Political Liberalism, 1993, 54 ff.

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Über die vorstehend angesprochenen begrifflichen Probleme hinaus muss gefragt werden, ob ein nahezu uneingeschränktes Recht auf Meinungsfreiheit, das nur unmittelbar gewaltauslösende Äußerungen ausschließt, tatsächlich den höchsten Nutzen verspricht. Nach Mills Überzeugung erfüllen auch verfehlte Auffassungen insofern eine wichtige epistemische Funktion, als ihre Präsenz in öffentlichen Kontroversen die Kenntnis der überlegenen Auffassungen befördert. Dabei nimmt er augenscheinlich an, dass sich in der Regel die Positionen durchsetzen, für die die besseren Gründe sprechen. Die Möglichkeit, dass sich weite Teile der Bevölkerung irreführen und von abwegigen Ideen überzeugen lassen, zieht er nicht ernsthaft in Betracht. Das unbedingte Vertrauen in eine rationale und lösungsorientierte Deliberation, das sich in Mills Ausführungen offenbart, ist aber durch die Erfahrung mit realen gesellschaftlichen Diskursen nicht gedeckt. Typischerweise sind die Chancen, in der öffentlichen Debatte gehört zu werden und auf die Meinungsbildung einzuwirken, sehr ungleich verteilt. Einflussreiche Akteure in den Medien oder der Politik können durchaus ein Interesse an der Propagierung unzutreffender Auffassungen haben, um ihre Verkaufszahlen zu steigern oder die Aussicht auf einen Wahlerfolg zu erhöhen. Folglich ist nicht garantiert, dass die Verlautbarung fehlerhafter Ideen immer zu einer Stärkung der besser begründeten Meinungen und nicht zu einer Verbreitung und Verfestigung von Irrtümern führt. Soweit es nur um die Generierung und Bewahrung von Kenntnissen geht, scheint somit nicht ausgeschlossen zu sein, dass staatliche Reglementierungen zielführender sind.23 3. Demokratische Deliberation und Selbstbestimmung Die bisherigen Überlegungen haben zum einen die Bedeutung betont, die die Individuen gemeinhin der Ermöglichung einer authentischen Kommunikation beimessen, und zum anderen auf die zentrale Rolle hingewiesen, die die Meinungsfreiheit für die Gewinnung und Bewahrung von Wissen spielt. Im Weiteren sollen nun die Argumente von Autoren betrachtet werden, die die staatliche Gewährung von Meinungsfreiheit in erster Linie mit den besonderen Erfordernissen demokratischer Gemeinwesen begründet haben. Insbesondere Alexander Meiklejohn hat in seiner 1948 vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Kommunistenverfolgung publizierten Schrift „Free Speech and Its Relation to Self-Government“ die enge Verknüpfung von Demokratie und Meinungsfreiheit dargelegt. In einer Demokratie träfen die Bürger und Bürgerinnen direkt oder indirekt, d. h. vermittelt über Repräsentanten und Repräsentantinnen, Entscheidungen über ihre gemeinsamen politischen Belange. Das Ideal der demokratischen Selbstbestimmung erfordert Meiklejohn zufolge nicht nur, allen Bürgern und Bürgerinnen eine Stimme zu geben und sie so in die Beschlussfassung einzubeziehen. Zusätzlich müssten sie in den deliberativen Prozessen, die der eigentlichen Entscheidung vorangehen, in der Lage sein, ihre Sichtweise zur Geltung zu bringen. Nur wenn alle über die Möglichkeit verfügten, ihre eigenen 23

Barendt, Freedom of Speech, 2. Aufl. 2005, 11 ff.

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Argumente vorzubringen und die Argumente der anderen zur Kenntnis zu nehmen, könne eine kollektive Willensbildung stattfinden. Auf Grund der besonderen Funktion, die der Meinungsfreiheit für den demokratischen Diskurs zukommt, beschränkt sich ihr Schutzzweck nach dem Verständnis von Meiklejohn auf die politische Rede. „The guarantee given by the First Amendment is not (…) assured to all speaking. It is assured only to speech which bears, directly or indirectly, upon issues with which voters have to deal – only, therefore, to the consideration of matters of public interest. Private Speech, or private interest in speech, on the other hand, has no claim whatever to the protection of the First Amendment.“24

Im Unterschied zum ersten Argumentationstypus (siehe III.1.) geht es Meiklejohn also nicht darum, dem individuellen Bedürfnis, sich anderen mitzuteilen, Rechnung zu tragen. Unter dem besonderen Schutz der Verfassung stehen individuelle Äußerungen nur dann, wenn sie einen Beitrag zur Meinungsbildung in einer politisch relevanten Frage zu leisten vermögen. Dazu muss sich eine Mitteilung entweder direkt auf ein Thema von öffentlichem Interesse beziehen oder zumindest Informationen enthalten, die zu seiner Beurteilung wichtig erscheinen. Auch thematisch einschlägige Äußerungen sind Meiklejohn zufolge nur dann durch den ersten Verfassungszusatz gedeckt, wenn sie die öffentliche Diskussion durch die Nennung eines neuen Gesichtspunktes bereichern. Ein Bürger könne nicht das Recht beanspruchen, seine politische Meinung kundzutun, wenn sein Standpunkt im Diskurs bereits hinreichend abgebildet sei. „If, for example, at a town meeting, twenty like-minded citizens have become a ,party‘, and if one of them has read to the meeting an argument which they have all approved, it would be ludicrously out of order for each of the others to insist on reading it again. No competent moderator would tolerate that wasting of the time available for free discussion. What is essential is not that everyone shall speak, but that everything worth saying shall be said.“25

Innerhalb des Bereichs der politischen Rede müssen nach Meiklejohns Überzeugung aber alle Ideen uneingeschränkt vorgebracht werden können. Auch Auffassungen, die als „unklug“, „gefährlich“ oder „un-amerikanisch“ gelten, dürften in keiner Weise unterdrückt werden. Die demokratische Selbstbestimmung könne sich nur entfalten, wenn den Bürgern und Bürgerinnen, die die politischen Entscheidungen zu treffen haben, kein Standpunkt vorenthalten bleibe.26 Bezogen auf aktuelle Kontro24

Meiklejohn, Free Speech and Its Relation to Self-Government, 1948, 94. Meiklejohn (Fn. 24), 25. 26 Meiklejohn (Fn. 24), 26 f. Ronald Dworkin hat in einem Zeitungsartikel zum dänischen Karikaturenstreit sogar die Auffassung vertreten, die Gewährung voll umfänglicher Meinungsfreiheit sei eine Voraussetzung für die Legitimität demokratischer Entscheidungen. Er schreibt: „Laws and policies are not legitimate unless they have been adopted through a democratic process, and a process is not democratic if government has prevented anyone from expressing his convictions about what those laws and policies should be.“ Dworkin, The New York Review of Books, 23. 3. 2006. 25

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versen müssen somit grundsätzlich auch rassistische oder demokratiefeindliche Positionen als Teil des politischen Diskurses zugelassen werden. Hingegen dürfe die private Rede, die sich weder direkt noch indirekt auf öffentliche Angelegenheiten beziehe, gegen andere Schutzgüter abgewogen werden. So könne z. B. eine politisch irrelevante Meinungsbekundung, die die Sicherheit oder das Wohlergehen anderer erheblich beeinträchtige, untersagt werden. Mit dem auf John Stuart Mill zurückgehenden zweiten Argumentationstypus (siehe III.2.) teilt Meiklejohn den Glauben an die erkenntnisfördernde Funktion der Meinungsfreiheit. Die Bürger und Bürgerinnen könnten nur dann richtige Entscheidungen treffen, wenn sie über alle relevanten Informationen zu dem jeweiligen Gegenstand verfügten. Dazu sei nicht nur Vertrautheit mit den maßgeblichen Fakten erforderlich, sondern auch Kenntnis der einschlägigen Argumente, die von anderen Mitgliedern der demokratischen Gemeinschaft vorgebracht werden. Anders als Mill stellt Meiklejohn in seinen Ausführungen aber nicht in erster Linie auf die Qualität der getroffenen Entscheidungen ab; sein Augenmerk liegt vielmehr auf der Rolle, die die Meinungsfreiheit im Prozess der demokratischen Urteilsbildung und Selbstverständigung spielt. Über Meiklejohn, der beide Aspekte zusammendenkt, hinausgehend kann der Meinungsfreiheit ein eigenständiger, von der Richtigkeit der Entscheidung unabhängiger Wert für die kollektive Willensbildung zuerkannt werden. Zur Illustration denke man an eine Situation, in der ein Teil der Bevölkerung irrationale Ängste hinsichtlich einer politischen Maßnahme hegt, die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren. Wenn die betreffenden Befürchtungen berücksichtigt werden und zu einer Abschwächung der Maßnahme oder zu einer Ausnahmeregelung führen, nimmt die Qualität der Entscheidung ab. Dennoch kann das erzielte Ergebnis als Ausdruck der demokratischen Selbstbestimmung gesehen werden, weil alle in der Gemeinschaft vertretenen Auffassungen – richtige wie falsche – ihren Niederschlag gefunden haben. Die Meinungsfreiheit hat hier keinen epistemischen Nutzen, sondern schafft die Voraussetzungen für die gesellschaftliche Verständigung und kollektive Willensbildung. Neben der von Meiklejohn betonten Bedeutung, die die Meinungsfreiheit für den Prozess der demokratischen Willensbildung hat, übt sie auch eine wichtige Kontrollfunktion aus. Die Entscheidungsträger in demokratischen Systemen sind der Versuchung ausgesetzt, ihre Macht für sich selbst oder andere zu missbrauchen. Daher sehen die Verfassungen demokratischer Staaten gewöhnlich Institutionen, wie z. B. parlamentarische Untersuchungsausschüsse, vor, die die Überprüfung von Regierungshandeln ermöglichen. In dem viel beachteten Aufsatz „The Checking Value of First Amendment Theory“ spricht der US-amerikanische Rechtswissenschaftler Vincent Blasi dem Recht auf Meinungsfreiheit eine wichtige Aufgabe für die Kontrolle politischer Akteure zu.27 Die Meinungsfreiheit gebe den Bürgern und Bürgerinnen die Möglichkeit, das Fehlverhalten von Amtsträgern publik zu machen und 27

Blasi, American Bar Foundation Research Journal, 1977, 521.

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anzuprangern. Da die politischen Repräsentanten auf ihre turnusmäßige Bestätigung durch Wiederwahl angewiesen seien, stelle die öffentliche Kritik eine ernst zu nehmende Gefahr für sie dar, die sie von Regelverstößen abhalte. Zudem erlaube die Meinungsfreiheit den Bürgern und Bürgerinnen, zu Gegenmaßnahmen aufzurufen, die von Demonstrationen bis hin zu zivilem Ungehorsam reichen könnten. Schließlich sei der Druck der öffentlichen Meinung häufig auch vonnöten, um die verfassungsmäßigen Kontrollmechanismen in Gang zu setzen und z. B. die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu bewirken.28 Blasi legt Wert auf die Feststellung, dass die Anerkennung der besonderen Bedeutung der individuellen Meinungsfreiheit nicht an eine bestimmte Demokratiekonzeption gebunden ist. Insbesondere müsse man nicht das Ideal einer partizipativen Demokratie teilen, das sich in Meiklejohns Überlegungen offenbart, um in der Meinungsfreiheit ein wichtiges Gegengewicht zur Machtfülle der politischen Repräsentanten zu sehen. In Blasis Worten: „The checking value grows out of democratic theory, but it is the democratic theory of John Locke and Joseph Schumpeter, not that of Alexander Meiklejohn. Under the Locke or Schumpeter view of democracy, the role of the ordinary citizen is not so much to contribute on a continuing basis to the formation of public policy as to retain a veto power to be employed when the decision of officials pass certain bounds.“29

Eine Regierung, die sich anschickt, die Meinungsfreiheit der Individuen einzuschränken, setzt sich somit dem Verdacht aus, sich selbst oder andere gesellschaftliche Akteure vor Kritik schützen zu wollen.

IV. Resümee Im vorstehenden Abschnitt sind drei Begründungen für die staatliche Garantie eines individuellen Rechts auf Meinungsfreiheit erörtert worden. Erstens erlaubt die Meinungsfreiheit den Bürgern und Bürgerinnen, ihr Interesse an einer unverstellten Kommunikation mit anderen zu befriedigen. Dadurch trägt sie der menschlichen Sozialnatur Rechnung und schafft eine grundlegende Voraussetzung für die Realisierung eines guten Lebens. Zweitens leistet die Verlautbarung von Minderheitenpositionen, die die Meinungsfreiheit ermöglicht, einen wichtigen Beitrag zur Generierung und Verfestigung von Wissen. Sie hilft nicht nur dabei, eigene Irrtümer zu korrigieren, sondern bewahrt auch korrekte Auffassungen davor, zu einem Vorurteil zu verkommen. Schließlich kommt der Meinungsfreiheit, wie die Überlegungen von Meiklejohn und Blasi gezeigt haben, auch eine zentrale Bedeutung für eine funktionsfähige Demokratie zu. Sie ist notwendige Bedingung für einen Prozess demokratischer Selbstbestimmung, in dem alle Bürger und Bürgerinnen ihre Sichtweise zur Geltung bringen können, und trägt wesentlich zur Kontrolle der Regierenden bei. 28 29

Blasi (Fn. 27), 538 ff. Blasi (Fn. 27), 542.

Die argumentativen Grundlagen der Meinungsfreiheit

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Die erörterten Begründungsmuster treffen nicht in gleichem Umfang auf jede Art von Meinungsäußerung zu. Im Allgemeinen ist ein hohes Schutzniveau anzunehmen, wenn sich alle Argumente, die gegen staatliche Eingriffe vorgebracht werden können, als einschlägig erweisen. Entsprechend ist von einem niedrigeren Schutzniveau auszugehen, das leichter durch entgegenstehende Gründe übertrumpft werden kann, wenn nicht alle Gesichtspunkte zutreffen. Ein Beispiel hierfür bietet die kommerzielle Produktwerbung, die grundsätzlich durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt ist. Typischerweise dient Werbung aber weder dem individuellen Bedürfnis nach authentischer Kommunikation noch adressiert sie politische Themen, die eine demokratische Entscheidung erfordern. Allenfalls die zweite – auf Mill zurückgehende – Argumentation, die der Verfügbarkeit zutreffender wie auch unzutreffender Informationen eine epistemische Bedeutung zuerkennt, kann im Kontext der Reklame angeführt werden. Folglich sprechen hinsichtlich der Werbung weniger starke Gründe gegen eine staatliche Reglementierung als in anderen Schutzbereichen. Wie die im vorigen Abschnitt angestellten Überlegungen verdeutlicht haben, sprechen aber alle drei Argumentationslinien für die Schutzwürdigkeit extremer politischer Positionen. So werden beispielsweise die Anhänger von demokratiefeindlichen Ideologien gravierend beeinträchtigt, wenn sie sich nicht öffentlich zu ihren Überzeugungen bekennen dürfen. Zudem profitieren Mill zufolge demokratische Systeme davon, wenn sie von antagonistischen Positionen herausgefordert und so genötigt werden, ihre Vorzüge darzulegen. Schließlich sind extreme Ansichten ein Teil des politischen Diskurses und müssen im Prozess der demokratischen Willensbildung Gelegenheit erhalten, sich Gehör zu verschaffen. Damit ist nicht gesagt, dass ein Verbot von z. B. rassistischen Äußerungen grundsätzlich ausgeschlossen ist; die Rechtfertigung staatlicher Eingriffe kann sich aber nicht der argumentativen Ressourcen bedienen, die der Meinungsfreiheit zugrunde liegen. Eine Einschränkung der Meinungsfreiheit kann sich allenfalls auf konkurrierende Schutzinteressen der demokratischen Institutionen oder marginalisierter Bevölkerungsgruppen, die unter Diffamierungen zu leiden haben, berufen.30 Angesichts der starken Gründe, die für die Zulassung extremer politischer Positionen sprechen, hat die Legitimation von Verboten aber hohe argumentative Hürden zu überwinden.

30 Für kritische Überlegungen zum Konzept der wehrhaften Demokratie siehe Heinze, Hate Speech and Democratic Citizenship, 2016, 129 ff.

Der Einfluss der deutschen auf die türkische Rechtsphilosophie Altan Heper

I. Einführung Der sehr verehrte Jubilar ist ein mit der Türkei eng verbundener deutscher Rechtswissenschaftler. Er ist 2011 an der türkischen Stiftungsuniversität Özyegin zum apl. Professor berufen worden und ist Vorstandsmitglied des Forschungsinstituts Deutsches Recht an der Universität Özyegin. Das Institut ist das einzige in der Türkei mit dem Untersuchungsgegenstand „deutsches Recht“. Die zahlreichen Aufsätze des Jubilars mit rechtsphilosophischen und strafrechtlichen Themen wurden zweisprachig in der Zeitschrift „Rechtsbrücke“ veröffentlicht1, welche vom Forschungszentrum herausgegeben wird. Jan C. Joerden hat zahlreiche Lehrvorträge im Bereich des Medizinrechts, Strafrechts und der Rechtsphilosophie in der Türkei gehalten. Er hat mehrere Veranstaltungen zwischen deutschen, polnischen, japanischen und türkischen Juristen organisiert und diese Länder in wissenschaftlicher Hinsicht zusammengebracht, wobei die gemeinsame Sprache Deutsch war. Er hat mit seinem Engagement in der Türkei bei den türkischen Juristen tiefe Eindrücke hinterlassen. Wegen der tiefen Verbundenheit des Jubilars mit der Türkei beschäftigt sich dieser Beitrag

1 Einige seiner Veröffentlichungen mit Hilgendorf/Thiele: Bielefelder Memorandum zur Bedeutung der Menschenwürde in der Medizin (Tıpta I˙nsan Onurunun Anlamı Üzerine Bielefeld Bildirisi, Übersetzung: Yener Ünver), Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü Dergisi, Nr. 1, 2012, 167, Türkisch 177; Medizinstrafrecht-Einführung (Tıp Ceza Hukuku – Giris¸, Übersetzung: Altan Heper/Hatice Can Ari), Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü, Nr. 1, 2012, 187, Türkisch 193; Der Notstand als Grenze des Strafrechts mit rechtsvergleichenden Überlegungen zum türkischen Strafrecht (Ceza Hukukunun Sınırı Olarak Zorda Kalıs¸ Hali Türk Hukukuna ˙Ilis¸kin Kars¸ılas¸tırmalı Hukuk Görüs¸leriyle, Übersetzung: Yener Ünver), Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü, Nr. 2, 2012, 111, Türkisch 127; Die Zumutbarkeit bei Hilfspflichten im deutschen Strafrecht (Alman Ceza Hukukunda Yardım Yükümlülüklerinin Beklenebilirlig˘ i, Übersetzung: Yener Ünver), Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü, Nr. 3, 2013, 91, Türkisch 105; mit Wrobel, Zum Delikt des Menschenhandels im deutschen Strafrecht – Ein Überblick (Alman Ceza Hukukunda I˙nsan Ticareti Suçuna I˙lis¸kin Genel Bir Bakıs¸, Übersetzung: Yener Ünver), Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü, Nr. 7, 2014, 91; Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Jan C. Joerden über Bioethik durchgeführt von Sevtap Metin (Prof. Dr. Dr. h.c. Jan C. Joerden ile Biyoetik Üzerine Görüs¸me, Übersetzung: Altan Heper), Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü, Nr. 13, 2017, 9, Türkisch 15.

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mit dem Einfluss des deutschen Rechts auf die türkische Rechtsphilosophie.2 Nach dieser kurzen Einführung wird unter II. methodologisch zuerst die aktuelle Situation der türkischen akademischen Lehre der Rechtsphilosophie erörtert. Unter III. werden die Rezeptionsgeschichte in der Türkei und die Geschichte des Einflusses der deutschen Juristen auf das türkische Recht behandelt. Unter IV. erfolgen Feststellungen nach den rechtsphilosophischen Richtungen und dem Einfluss der deutschsprachigen Rechtsphilosophen in der Türkei. Schließlich werden unter V. repräsentativ einige Übersetzungen der Werke deutscher Rechtsphilosophen ins Türkische genannt.

II. Aktuelle Situation In der Türkei hat die akademische Rechtsphilosophie eine relativ lange Geschichte. Bereits in der osmanischen Zeit haben sich schon Rechtsgelehrte über das Wesen und die Natur des Rechts Gedanken gemacht. Bis zur Gründung der modernen Republik durch Atatürk herrschte überwiegend islamisches Recht in der Türkei. Trotz der Vorherrschaft des islamischen Rechts wurden durch die westliche Einflussnahme und die Modernisierungsbestrebungen westliche Gesetze teilweise in das osmanische Rechtssystem integriert. Der Prozess der Übernahme der westlichen Rechtsgedanken wurde in der Republikzeit fortgeführt. Durch den Gedankenaustausch seit der Gründung der Republik 1923 mit westlichen Ländern ist heutzutage westliches Gedankengut in der Rechtswissenschaft trotz der steigenden Tendenz zur Islamisierung vorherrschend. Es gibt ca. 104 juristische Fakultäten an staatlichen und privaten Universitäten. An den juristischen Fakultäten ist Rechtsphilosophie ein obligatorisches Fach und an mehreren Universitäten im philosophischen Studium ein Wahlfach. Es gibt viele Lehrstühle nur für die Fächer Rechtsphilosophie, die mit der Rechtssoziologie zusammengelegt sind, was in Deutschland äußerst selten vorkommt. Angehörige dieser Lehrstühle lehren neben Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie in der Regel noch Rechtsmethodologie sowie manchmal die Einführung in die Rechtslehre. Die Kombination der Rechtsphilosophie mit anderen Fächern, z. B. mit Strafrecht oder weiteren Fächern, kommt in der Türkei – anders als in Deutschland – in der Regel nicht vor. In der Türkei ist die universitäre akademische Laufbahn stark zentralisiert und vom zentralen Hochschulrat organisiert. Das Habilitationsverfahren und die Verleihung des akademischen Grades eines Professors werden vom Hochschulrat in Abstimmung mit der Universitätsleitung durchgeführt. Die akademischen Grade „Pri2 Für eine ähnliche Arbeit Kye-il Lee/Zai-wang Yoon, Die Rezeption der deutschsprachigen Rechtsphilosophie in Korea, IVR Enzyklopedia, abrufbar unter: http://www.enzyklopaedierechtsphilosophie.net/autorenliste/79-autoren/113-kye-il-lee-zai-wang-yoon (zuletzt abgerufen am 9. 12. 2021).

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vatdozent“ (doçent) und „Professor“ werden für die Fächerkombination „Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie“ verliehen. Zur Zeit sind es ca. 20 Professorinnen und Professoren mit dieser Fächerkombination. Es existieren vier akademische Stufen für die Laufbahn. Die erste Stufe ist die Assistentenstelle, bei der der Assistent am Lehrstuhl arbeitet und gleichzeitig eine Magisterarbeit schreibt oder promoviert. Dies entspricht etwa dem wissenschaftlichen Mitarbeiter ohne Promotion in Deutschland. Die zweite Stufe erfolgt nach der Promotion. Der promovierte Wissenschaftler erhält die Lehrbefugnis von der jeweiligen Universität und den Titel Fakultätsmitglied (Dr. Ög˘ retim Üyesi). Die dritte Stufe ist die Habilitation. Nach einiger Zeit der Dozententätigkeit und dementsprechenden Publikationen kann ein habilitierter Wissenschaftler den Titel „Professor“ erwerben. Es gibt zwei wichtige Hauptströmungen in der akademischen Rechtsphilosophie: Erstens den Rechtspositivismus und zweitens das Naturrecht. Der Fachausdruck Nichtpositivismus ist anders als im deutschsprachigen Raum nicht gebräuchlich. In Bezug auf die juristische Landschaft in der Türkei lässt sich feststellen, dass die türkischen Juristen, die dogmatische Fächer betreiben, fast ausnahmslos rechtspositivistisch eingestellt sind. Das ist nicht nur die aktuelle Situation, sondern auch in der Vergangenheit so gewesen. Nach der überwiegenden Meinung ist das Recht die Gesamtheit aller gesetzten, gegebenenfalls mit staatlichen Sanktionen durchgesetzten sozialwirksamen Normen. Der wichtigste Unterschied zwischen Recht und Moral besteht darin, dass das Recht zwangsweise durchgesetzt wird. Man argumentiert auf der Grundlage des positiven Rechts und stellt höchstens einige rechtspolitische Überlegungen zur Debatte. Die Juristen, die dogmatische Fächer betreiben, untermauern ihre Argumente nicht mit rechtsphilosophischen Ansätzen.

III. Die Rezeptionsgeschichte in der Türkei und die Geschichte des Einflusses der deutschen Juristen auf das türkische Recht 1. Osmanisches Reich Im osmanischen Reich wurde der Einfluss der großen Kodifikations- und Rezeptionsbewegungen, die Ende des 18. Jahrhunderts in ganz Europa herrschten, erst nach 1839 spürbar. Der Reformerlass (Gülhane Hattı Humayunu) wurde in Istanbul auf Französisch verkündet und hat einige Grundrechte gewährt. Im Jahr 1876 gab sich das osmanische Reich seine erste Verfassung, welche sich stark an die belgische Verfassung aus dem Jahr 1831 anlehnte. Im handelsrechtlichen Bereich wurde das Gesetzbuch aus dem Jahr 1850 dem französischen Modell nachgebildet. Das Seehandelsgesetzbuch wurde ebenfalls 1850 nach dem französischen Vorbild gestaltet. Im strafrechtlichen Bereich wurde das osmanische Strafgesetzbuch stark von dem französischen Modell beeinflusst. Das gilt ebenfalls für die Strafprozessordnung. Ende

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des ersten Weltkriegs gab es einen Versuch, das deutsche BGB in das osmanische Zivilrecht zu integrieren, welcher jedoch scheiterte.3 2. Gründung der Republik Nach der Gründung der modernen Republik unter Atatürk sollte der neue Staat auf westlichen Prinzipien aufgebaut werden. Im osmanischen Reich wurde das westliche Recht mehr oder weniger aufgrund ausländischen Drucks übernommen. Auch in der Gründungsphase der Republik wurden ausländische Gesetze adaptiert. Dieses Mal war jedoch nicht der ausländische Druck entscheidend, sondern die Modernisierungsbemühungen. Allerdings war ein wichtiges Thema, dass die nichtmuslimischen Bevölkerungsteile des Reiches ausreichend gesetzlich geschützt werden.4 In den ersten Jahren der Republik hat man das schweizerische ZGB und Obligationen-Gesetzbuch fast vollständig übernommen (1926). Dies war selbstverständlich ein enormer Schritt für die Abschaffung der Geschlechterungleichheit und für die Errichtung moderner Rechtsverhältnisse. Im Jahr 1926 wurde das neue türkische Strafgesetzbuch dem italienischen aus dem Jahr 1889 (Zanardelli) nachgebildet. Auch ist der Einfluss des deutschen Strafrechts auf das geltende türkische Strafgesetzbuch des Jahres 2004 groß. Die neue türkische Strafprozessordnung des Jahres 1929 wurde sehr von der deutschen StPO aus dem Jahr 1871 geprägt. Ebenfalls unverkennbar ist der Einfluss der Strafprozessrechtsdogmatik auf die geltende türkische StPO. Auch in anderen Bereichen ist der westliche Einfluss feststellbar, so etwa im Zivilrecht, Handelsrecht und Zivilprozessrecht. Zu diesen Gebieten gehören insbesondere das Arbeits- und das Urheberrecht. Diese Beeinflussung dauert heute noch fort. In der Lehre hat man in den 30er Jahren allmählich angefangen, zunehmend Doktoranden zur Promotion ins westliche Ausland zu senden. Ab 1960 hat sich die Zahl der türkischen Juristen, die insbesondere in Deutschland Forschungsaufenthalte erhielten, ständig erhöht. In der türkischen Geschichte war die freiheitlichste Verfassung die aus dem Jahr 1961. Sie war maßgeblich geprägt vom Bonner Grundgesetz des Jahres 1949, was insbesondere die Grundrechtsdogmatik und die Verfassungsgerichtsbarkeit anbelangt. In den 2000er Jahren wurden alle wichtigen Gesetze wie StGB, StPO, ZGB, ZPO, Obligationen-Gesetz etc. novelliert, wobei der deutsche Einfluss am wichtigs-

3

Für die zivilrechtliche Rezeption: Kayan, Die Legitimität des Rezeptionsprozesses im Bereich des Zivilrechts in der Türkischen Rechtsgeschichte (Türk Hukuk Tarihinde Medeni Hukuk Alanında Resepsiyon Sürecinin Mes¸rulug˘ u), 6, abrufbar unter: https://cdn.istanbul.edu. tr/FileHandler2.ashx?f=turk-hukuk-tarihinde-medeni-hukuk-alanindaki-resepsiyon-surecininmesrulugu_sevgi-kayak_636903130105047480.pdf (zuletzt abgerufen am 16. 11. 2021). 4 Von vielen Werken für die Rezeptionsgeschichte des türkischen Rechts siehe: Can, Die Quellen des türkischen Rechts und die türkische Rechtsrevolution (Türk Hukukunun Kökenleri ve Türk Hukuk Devrimi), 2021; Bozkurt, Die Rezeption des westlichen Rechts in der Türkei, der Rezeptionsprozess vom osmanischen Staat zur Türkischen Republik, (Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi, Osmanlı Devleti’nden Türkiye Cumhuriyeti’ne Resepsiyon Süreci), 1996.

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ten war. Heute gibt es einen regen Austausch zwischen deutschen und türkischen Rechtswissenschaftlern. 3. Die Bedeutung der deutschen Exiljuristen in der türkischen Rechtslehre Da nach der Machtübernahme der Nazis das deutsche Hochschulrecht und das deutsche Berufsbeamtengesetz geändert wurden, wurden Professoren mit jüdischer Abstammung aus dem Dienst entlassen. Die Türkei hat viele deutsche Wissenschaftler, unter denen sich namhaften Juristen befanden, auf Grund der Initiative von Philip Schwarz in die Türkei eingeladen. Diese trugen zu den Reformen der Universitäten bei und gründeten das moderne Hochschulwesen. Im Jahr 1933 gehörten die folgenden Personen zur juristischen Fakultät der Universität Istanbul: Ernst E. Hirsch (Handelsrecht, Grundlagenfächer), Richard Honig (Strafrecht, Rechtsphilosophie), Andreas Schwarz (Römisches Recht), Karl Strupp (Völkerrecht). Dazu kam später Fachphilosoph Ernst von Aster.5 Diese Persönlichkeiten spielten für die Rechtswissenschaft und alle Grundlagenfächer in der Türkei eine entscheidende Rolle, einige davon insbesondere für die Rechtphilosophie. Damals gab es zwei juristische Fakultäten: Die eine war die Juristische Fakultät der Universität Istanbul und die andere die Juristische Fakultät Ankara. Die Professoren hielten in beiden Einrichtungen Vorlesungen. Hirsch hat sogar in der türkischen Sprache gelehrt und Aufsätze und Bücher veröffentlicht. Die deutschen Hochschullehrer haben ihre Schüler akademisch ausgebildet. Diese haben wiederum eigene Nachfolger angeleitet. Seit dem Jahr 1933 haben die Generationen ihre Kerngedanken Nachfolgenden weitergegeben. Daher lässt sich sagen, dass die heutige türkische Rechtswissenschaft im Kern immer noch von diesen Rechtsgedanken beeinflusst ist. Wenn wir einige dieser Persönlichkeiten im Einzelnen exemplarisch näher betrachten wollen, können wir zusammenfassend sagen: 1. Der Tätigkeitsbereich von Ernst E. Hirsch (1902 – 1985) war umfassend. Von Handels- und Gesellschaftsrecht bis zum Urheberrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie war er fast in allen Zivilrechts- und Grundlagenfächern tätig. Sein türkischsprachiges Buch „Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie“6 sowie „Methode im praktischen Recht“7 erfreuen sich als Lehrbuch bzw. als Methodenlehre immer noch neuer Auflagen. An der Juristischen Fakultät Ankara hat er im Jahr 1943 den rechtsphilosophischen Lehrstuhl gegründet.

5

Üner, Von der Scharia zum modernen Rechtsstaat, 2016, 155. Hirsch, Rechtsphilosophische und rechtsoziologische Vorlesungen (Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Dersleri), 3. Aufl. 2021. 7 Hirsch, Methode im praktischen Recht (Pratik Hukukta Metod), 8. Aufl. 2021. 6

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2. Richard Honig (1890 – 1981) war zunächst bis 1933 an der Universität Göttingen als Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie tätig.8 Nach der Emigration hat er in Istanbul rechtsphilosophische Vorlesungen gehalten. Im Jahr 1935 gab er ein – seine Vorlesungen begleitendes – Lehrbuch heraus.9 3. Ernst von Aster (1890 – 1948) war Fachphilosoph. Er hat neben seiner Haupttätigkeit im Fach der Philosophiegeschichte ab 1941 an der Istanbuler Juristischen Fakultät rechtsphilosophische Vorlesungen gehalten und rechtsphilosophische Publikationen verfasst. Seine Vorlesungsskripten hat er als Lehrbuch herausgegeben, das 1943 veröffentlicht wurde.10

4. Historischer Abriss der türkischen Rechtsphilosophiegeschichte In der osmanischen Zeit spielte das Fach „Rechtsphilosophie“ keine wichtige Rolle in der Juristenausbildung. Rechtsphilosophische Vorlesungen wurden unter dem Titel „Hikmet-i Hukuk“ (Wesen des Rechts) gehalten. Das erste Buch über Rechtsphilosophie von Münif Pascha (1830 – 1910) ist 1884 erschienen.11 Pascha absolvierte einen dreijährigen Aufenthalt in München. Man geht davon aus, dass er sich in der Zeit von den Hegelianern beeinflussen ließ.12 Die juristische Ausbildung beschäftigte sich mit der Methodik, die teilweise aus den islamischen Quellen abgeleitet wurde.13 Der Gründer der Republik Mustafa Kemal (später Atatürk) hatte bereits 1925 erklärt, dass man mit dem alten Recht radikal abrechnen solle. Deshalb wurde 1925 eine juristische Fakultät in Ankara gegründet, und neue Fächer wurden eingeführt. Ab dem Jahr 1933 wurde das Fach „Rechtsphilosophie“ in das Lehrprogramm aufgenommen und in Ankara 1941 als obligatorisches Fach vorgeschrieben. Zwischen 1953 – 1982 war „Rechtsphilosophie“ ein Wahlfach, seit 1982 ist es – anders als in Deutschland – nach dem Erlass des Hochschulrates in allen juristischen Fakultäten ein obligatorisches Fach.

8 Eingehend Weiglin, Richard Martin Honig, Leben und Frühwerk eines deutschen Juristen jüdischer Herkunft: zugleich ein Beitrag zur Entwicklung der modernen Lehre von der objektiven Zurechnung, 2011, 28 ff. 9 Honig, Rechtsphilosophie (Hukuk Felsefesi, Übersetzung: M. Yavuz), 2. Aufl. 1935. 10 von Aster, Vorlesungen über Rechtsphilosophie (Hukuk Felsefesi Dersleri, Übersetzung von Assistent Dr. O. M. C¸agıl), 1943. 11 Münif Pascha, Das Wesen des Rechts (Hikmet-I Hukuk), 1884. Das Buch erhielt neben dem osmanischen Titel einen französischen Untertitel: La Philosophie de Droit. Eine neue ins Türkische übersetzte Version ist im Verlag C¸izgi Kitabevi, 2016, erschienen. 12 Is¸ıktaç, Türkische Rechtsgeschichte/Türk Hukuk Tarihi, Nr. 12 – 13, Frühling/Bahar 2012, 9 – 21 (19). 13 Is¸ıktaç, HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi) Nr. 11, 2004, 138 (144).

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Der erste Rechtslehrer, der Rechtsphilosophie im Rahmen der Rechtsgeschichte in Istanbul 1925 – 1926 gelesen hat, war Sadri Maksudi Aral.14 Er war durch und durch Naturrechtler. Nach seinem Naturrechtsverständnis gilt Naturrecht universell, und es besitzt einen unveränderlichen Inhalt. Der Zweck des Rechts sei die Verwirklichung der Gerechtigkeit. Kein Rechtssystem dürfe die Gerechtigkeit leugnen. Ausgehend von seinen Veröffentlichungen ist festzustellen, dass er von neukantianischen Rechtsphilosophen wie Rudolf Stammler und Gustav Radbruch begeistert war.15 Richard Honig hat 1933 – 1958 in Istanbul naturrechtliche Ansichten vertreten. Honig war der Ansicht, dass die Quelle des Naturrechts die menschliche Vernunft sei. Diese sei in der Lage, das richtige Recht zu erkennen. Der Inhalt des Naturrechts sei unveränderbar. Für die Rechtsidee sei die Gerechtigkeit entscheidend. Naturrecht sei Maßstab für das positiv geltende Recht.16 Ernst von Aster war ebenfalls Naturrechtler. Nach seinem Naturrechtskonzept gilt es für alle Menschen und Nationen, d. h. universell. Dieses Naturrecht habe einen absoluten und unveränderlichen Inhalt und entspreche der menschlichen Natur.17 Honigs Schüler Yavuz Abadan beschäftigte sich in seinen Publikationen mit zwei Komponenten des Rechts, nämlich der Gerechtigkeit und der Rechtsicherheit. Der Zweck des Rechts sei die Verwirklichung dieser beiden Komponenten. Das Naturrecht sei unmittelbar mit der Freiheitsidee verbunden. Abadan sah die Rolle der Abwägung in der austeilenden Gerechtigkeit.18 Ein anderer Rechtsphilosoph, Abdülhak Kemal Yörük, war ebenfalls ein Vernunftnaturrechtler. Nach Yörüks Rechtskonzeption ist Recht a priori zu fassen. Empirie könne keine der Rechtsquellen sein. Was durch Vernunft als Recht angenommen werde, sei als das Recht zu erkennen. Nach Yörük stehen Recht und Moral nicht in Widerspruch. Sowohl in der Moral als auch im Recht gebe es unveränderliche Grundsätze.19 Ein besonders wichtiger Naturrechtler war O. Münir Cagil. Auf Grund seiner Bedeutung wird er unten näher untersucht. Unter den deutschen emigrierten Wissenschaftlern und Juristen spielte Hirsch eine besondere Rolle. Hirsch hat das Recht als soziale Tatsache betrachtet und stand dem soziologischen Rechtsverständnis nahe. Die Rechtsnorm sei ein im Sozialleben angewandter Maßstab. In diesem sei der höchste Wert der soziale Frieden. Das Recht sei ein taugliches Instrument, um den sozialen Frieden zu schaffen. Frau Topcuoglu war eine Schülerin von Hirsch in Ankara. In der soziologischen 14 Güriz, HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi) Nr. 11, 2004, 20 (20). 15 Arsal, Grundlagen des Rechts (Hukukun Umumi Esasları), 1937, 18 f. 16 Güriz, HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi) Nr. 11, 2004, 20. 17 von Aster (Fn. 10), 7 ff. Diese Version des Naturrechts weicht vom rationalistischen Naturrecht ab. 18 Abadan, Vorlesungen über Rechtsphilosophie (Hukuk Felsefesi Dersleri), 1954, 100, 111 ff., 310. 19 Yörük, Vorlesungen über Rechtsphilosophie (Hukuk Felsefesi Dersleri), 1958, 9 ff.

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Richtung hat sie das Recht als eine soziale Realität betrachtet. Sie hat sich im Gegensatz zu Istanbuler Kollegen gegen das Naturrecht positioniert.

IV. Rechtsphilosophische Richtungen und der Einfluss der deutschsprachigen Rechtsphilosophen Bis ca. 1990 gab es zwei wichtige juristische Fakultäten: Während in Istanbul die naturrechtliche Richtung dominant war, herrschte in Ankara die rechtspositivistische Tendenz vor. 1. Neukantianismus Orhan Münir Cagil hat nach seiner Promotion in den 30ger Jahren in Bonn angefangen, an der juristischen Fakultät der Universität Istanbul als Assistent zu arbeiten. Da er gut Deutsch konnte, war er in der Lage, deutsche Professoren in den wissenschaftlichen Bereichen zu unterstützen. Er war sehr stark von Rudolf Stammler beeinflusst.20 Stammler wird als einer der bedeutendsten Vertreter des Neukantianismus eingeordnet.21 Das von Stammler formulierte „richtige Recht“ war der Versuch, die nach Hegels Tod unter dem Druck des naturwissenschaftlichen Paradigmas in Misskredit geratene Rechtsphilosophie neu zu konstruieren, ohne sich dem Vorwurf der metaphysischen Spekulation auszusetzen. Die Kontroverse um Stammlers erkenntniskritische Auflösung der Richtigkeitsfrage führte zu materiellen Ansätzen, mit denen gegenüber Stammlers formaler Rechtsidee bedingte und inhaltsvolle Maßstäbe als richtiges Recht formuliert wurden. Aus dem Spektrum der um 1900 vorliegenden Konzepte werden jene untersucht, die auf den Entwicklungsgedanken und den Kulturbegriff rekurrieren. Stammlers Ansatz basiert auf einem Dualismus von Rechtsbegriff und Rechtsidee. Nach Kersting verbergen sich hinter diesem Dualismus die folgenden Thesen: „1. Der rechtsphilosophisch entwickelte Rechtsbegriff ist von einem empirischen Rechtsbegriff zu unterscheiden; seine nur in transzendentaler Untersuchung zu ermittelnden Bestimmungen sind apriorischer Natur; während der empirische Rechtsbegriff induktiv gewonnene Prädikate umfasst. (…) 2. Die Rechtsidee ist vom Rechtsbegriff zu unterscheiden. Das besagt 3. der Rechtsbegriff ist, obzwar nicht empirisch, sondern apriorisch und transzenden-

20 Is¸ıktaç, HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi), Nr. 11, 2005, 145. 21 Kloos, Rechts- und politikphilosophische Denker, Rudolf Stammler, Gustav Boehmer und Ottomar Wuchmann, 2004, 54; eingehend zum Neukantianismus Alexy/Mezer/Paulson/ Sprenger, Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002; auch Wolfgang Kersting bezeichnet Stammler als Neukantianer: Kersting, in: Alexy/Mezer/Paulson/Sprenger (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, 23 (42).

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talphilosophisch nobilitiert (…) 4. Stammlers Dualismus von Rechtsbegriff und Rechtsidee ist dem Dualismus von positivem Recht und Rechtsidee gleichzusetzen.“22

Cagil weist darauf hin, dass vor ihm sein Lehrer Yörük auf die Unterscheidung zwischen der Rechtsidee und dem Rechtsbegriff aufmerksam gemacht hat.23 Er wird als Stammler nahestehender Rechtsphilosoph angesehen. Nach der Rechtskonzeption von Cagil hat das Recht vier grundlegende Funktionen. Davon sind zwei formal, nämlich die Ordnung und die Macht. Die anderen zwei haben objektive Inhalte, nämlich praktisches Leben und Ethik. Praktisches Leben hat soziale, politische, biologische und ökonomische Züge. Ethische Prinzipien werden aus dem Naturrecht und aus dem Gerechtigkeitsgrundsatz abgeleitet. Sowohl formale Züge als auch objektive Züge stehen in dialektischen Gegensätzen. Sie stehen zwar nicht im Widerspruch, aber in Konflikt. Trotz dieser Konflikte sollte der Jurist sie möglichst optimieren und in Harmonie bringen.24 Cagil hat Elemente einer Art des islamischen Mystizismus (Tasavvuf) in sein Rechtskonzept eingebaut.25 2. Objektive Werttheorie von Max Scheler und Vecdi Aral Vecdi Aral hat die objektive Werttheorie von Max Scheler in der Türkei bekannt gemacht. Er ist der Inbegriff und ein leidenschaftlicher Vertreter dieser Theorie. Aral war ein Schüler von Cagil und Yörük und verstand sich als Naturrechtler. Bei der objektiven Werttheorie handelt es sich im Grunde genommen um Wertplatonismus. Der Wertplatonismus stellt ein Begründungsmodell für die Moralphilosophie dar. Bei diesem absoluten Begründungsmodell ist die Berufung auf ewige und unveränderliche Ideen wesentlich. Nach Hilgendorf liege das Hauptproblem des Wertplatonismus darin, „dass weder über die Art und Zahl der absolut vorgegebenen Werte noch über das Verfahren der Werteschau Einigkeit erzielt werden konnte. Deshalb ist dieser Ansatz zur Begründung absoluter Werte heute weitgehend diskreditiert.“26 Nach Aral existieren objektive Werte und Wertordnungen. Diese haben absolute Geltung wie mathematische Wahrheiten. Die Werte ändern sich nicht. Unterschiedliche Wertansichten in der Menschheitsgeschichte sind auf die unterschiedliche Wertung (Werturteile) zurückzuführen. Wenn jemand das Wesen und die Natur von Werten begriffen hat, sieht er, dass die Werte sich nicht verändern. Nach Aral bedeutet die angebliche Relativität eigentlich die Relativität der Wertungen.27 Aral beantwortet die Frage, warum Werturteile von Person zu Person unterschiedlich sind, wie 22

Kersting (Fn. 21), 42 f. C¸ag˘ ıl, Zeitschrift der Juristischen Fakultät der Universität Istanbul/I˙.Ü.H.F. Mecmuası, Band XXIX, Nr. 1 – 4, 1959, 388 (419 ff.). 24 Eingehend C¸ag˘ ıl (Fn 23), 400. 25 C¸ag˘ ıl, Metaphysik des Geistes und Sinnes (Ruh ve Mana Metafizig˘ i), 1978, 7 ff. 26 Hilgendorf, Aufklärung und Kritik 1/2001, 72 (81). 27 Aral, Grundprobleme der Rechtsphilosophie (Hukuk Felsefesinin Temel Sorunları), 2010, 78. 23

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folgt: Erstens hat das bewertete Objekt unterschiedliche Dimensionen, zweitens kann der Wertungsmaßstab unterschiedlich verstanden werden, drittens gehören die Bewertenden zu unterschiedlichen Kulturkreisen, viertens ziehen Menschen unterschiedliche Werte vor, fünftens wird der Träger des Wertes mit dem Wert an sich verwechselt und sechstens verweist er auf die Schwierigkeit des Ausdrucks der Werturteile.28 Nach Aral ist das Recht überhaupt auf den Wert der Gerechtigkeit zurückzuführen. Nach ihm ist Recht eine gesellschaftliche Lebensordnung, die sich stets auf Gerechtigkeit ausrichtet.29 Aral hatte sehr viele Schüler, die die objektive Werttheorie noch heute vertreten. Darunter ist Yasemin Is¸ıktaç die bekannteste Vertreterin dieser Theorie.30 Heute ist in der westlichen Welt die Werttheorie längst überholt.31 Die materielle Wertethik postuliert die Existenz in sich geschlossener und strikt fixierter Rangordnungen der Werte. Scheler geht in seinem Buch „Formalismus in der Ethik“ von einer strukturellen Analogie zwischen Sein und Sollen, zwischen der Welt der Dinge und der Welt der Werte aus.32 Horst Dreier führt in diesem Zusammenhang aus, die materielle Wertethik „(…) sucht in Absetzung gegenüber dem zeitgenössischen Positivismus, Formalismus und Wertrelativismus ,Werte als inhaltlich erfüllte, ontologisch vorgegebene Wesenheiten mit apriorischer Dignität zu erweisen, die durch das konkrete Handeln aktualisiert werden, diesem aber vorgegeben sind‘. Werte sind ihr zufolge Tatsachen, und zwar objektive Tatsachen. Dem Sein der Naturwelt wird ein Sein der Werte zur Seite gestellt, auf das sich unsere Wertungen in analoger Weise beziehen wie die Wahrnehmungen und Beobachtungen auf die Wirklichkeit und die Tatsachen. Diese Rangordnung wiederum liegt in ihrem Wesen selbst begründet. Auch sie ist objektiv und invariabel gegeben. Die Werte existieren dabei unabhängig von menschlicher Schöpfung, ja sogar unabhängig von menschlicher Organisation; sie sind idealseiend. Was ihre Erkennbarkeit angeht, so werden Werte letztlich gefühlt und dieses Wertgefühl soll so objektiv wie mathematische Einsicht sein.“33

In der Philosophiegeschichte hat insbesondere Wilhelm Weischedel darauf aufmerksam gemacht, dass die materielle Wertethik von Nicolai Hartmann und Scheler gegen die Einwände nicht gefeit ist.34 Dreier kritisiert zu Recht die materielle Wertethik als für rechtliche Wertungen ungeeignet. Er stellt fest, dass durch „(…) Werterfahrungen und Werthaltungen von Individuen und Gruppen (…) die materielle Wertethik weder eine einleuchtende Erklärung noch eine zuträgliche Lösung parat [hat]. Die 28

Aral (Fn. 27), 74 ff. Aral (Fn. 27), 155. 30 Isıktaç ist Lehrstuhlinhaberin für Rechtsphilosophie an der Universität Istanbul, die die älteste und traditionsreichste türkische Universität ist. Zu dieser Richtung gehört des Weiteren Ahmet Gürbüz. 31 Hilgendorf, Aufklärung und Kritik 1/2001, 81; Coreth, Philosophie des 20. Jahrhunderts, 1986, 33 f., 97. 32 Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, Band I, 2. Aufl. 1977, 322 ff. 33 Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, 17 f. 34 Weischedel, Recht und Ethik, 1956, 19 ff. 29

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,Richtigkeit‘ bestimmter Werterfahrungen gilt absolut und die davon abweichenden werden auf perspektivische Verengungen oder die ,Wertblindheit‘ ihrer Träger zurückführt. Ein Vermittlungsweg [ist] nicht vorgesehen. Beruft man sich aber im Bereich des Rechts lediglich auf die Absolutheit der eigenen Werterfahrung, so bedeutet das nicht nur den ,Abbruch der Kommunikation‘, sondern im für das zentrale Problem einer modernen, entwickelten, komplexen Gesellschaft, nämlich ,das Faktum des Pluralismus‘ (John Rawls) und die daraus resultierende hochgradige Unterschiedlichkeit, ja Widersprüchlichkeit der Grunde genommen den Verzicht auf die Herstellung von Konsens und die Errichtung einer Rechtsordnung, die Frieden und Freiheit ihrer Bürger gerade wegen oder jedenfalls trotz unterschiedlichster Interessen, Meinungen und Wertauffassungen zu sichern in der Lage ist. Die von der materiellen Wertethik postulierte Absolutheit der Werte und ihrer Erfahrung würde in der Tat zu einer Tyrannei der Werte führen“35

Arals Rechtskonzept hat drei Dimensionen, nämlich eine normative, eine wertbezogene und eine soziale. Die wertbezogene Dimension des Rechts betrifft die Gerechtigkeit, die normative die Ordnung, und die soziale das Recht als soziale Tatsache.36 Nach Aral stehen diese drei Dimensionen in Konflikt. Daher kann das Recht dann seine Funktionen erfüllen, wenn sich die drei Dimensionen in einer richtigen Abwägung befinden. Arals und Cagils Rechtskonzepte sind sich ähnlich. Bei Aral steht die Idee der Rechtssicherheit noch mehr im Vordergrund als bei Cagil. 3. Radbruchsche Formel Nach der Radbruch-Formel muss sich der Richter bei einem Konflikt zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit für die materielle Gerechtigkeit entscheiden, wenn das fragliche Gesetz als unerträglich ungerecht anzusehen ist (Unerträglichkeitsversion) oder die Gleichheit aller Menschen bewusst verleugnet (Verleugnungsversion). Soweit ich feststellen kann, ist die Radbruchsche Formel in der Türkei seit den 90er Jahren bekannt. Radbruchs Aufsatz, der von Stanley Paulson und Ralf Dreier als der einflussreichste juristische Aufsatz bezeichnet wurde37, wurde ins Türkische übersetzt,38 und über die Radbruch-Formel wurden einige Arbeiten veröffentlicht.39 35

Dreier (Fn. 33), 19. Aral (Fn. 27), 162 ff. 37 Paulson/Dreier, in: Paulson/Dreier (Hrsg.), Gustav Radbruch – Rechtsphilosophie, Studienausgabe, 1999, 237 (243). 38 Metin/Heper, Beiträge zur Strafrechtsphilosophie (Ceza Hukuku Felsefesine Katkı), 4. Aufl. 2021, 71. 39 Aydın, Zeitschrift der Juristischen Fakultät der Universität Istanbul/I˙.Ü.H.F., 2015, 7; Kühl, Zeitschrift der Juristischen Fakultät der Universität Istanbul/I˙.Ü.H.F., Band LLX, Nr. 1, 2012, 369 ff.; Uygur, FS Celebican (C ¸ elebican Armag˘ anı), 2011, 99; Ökçesiz, Zeitschrift des Rechtsanwaltskammerverbands/TBB Dergisi Nr. 56, 2005, 167. Für eine Sammlung und Übersetzung von verschiedenen Werken von Radbruch: Aral (Hrsg. und Übersetzer), Weiße Gedanken im Recht (Hukukta Bilgelik Dolu Sözler) 2008; Ökçesiz (Hrsg.), Studien über zeitgenössische Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (C¸ag˘ das¸ Hukuk Felsefesi ve Hukuk Kuramı ˙Incelemeleri), 1997, 66 ff. 36

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4. Prinzipien-Theorie Der namhafte zeitgenössische deutsche Rechtsphilosoph Robert Alexy ist auch in der Türkei bekannt.40 Zu seinen nicht-positivistischen Theorien über das Verhältnis zwischen Recht und Moral und seine Argumentationstheorie sowie Prinzipientheorie gibt es einige Arbeiten. Die Habilitationsschrift von Gülriz Uygur beschäftigt sich mit dem Vergleich der Rechtsprinzipien und Ethik bei R. Alexy und R. Dworkin. Alexy bekennt sich zum Nichtpositivismus. Für ihn ist extremes Unrecht kein Recht. Beim Streit zwischen dem Positivismus und Nichtpositivismus vertritt er die sogenannte Verbindungsthese, d. h. zwischen dem Recht und der Moral bestehe ein begrifflicher Zusammenhang.41 Nach Alexy gibt es erstens begrifflich notwendige Zusammenhänge zwischen Recht und Moral, und zweitens sprächen normative Gründe dafür, die Begriffe des Rechts und der Rechtsgeltung so zu definieren, dass sie moralische Elemente einschließen. Alexy beschränkt die moralischen Anforderungen an das Recht auf ein Minimum. Nach seinem Rechtskonzept besteht das Recht aus den ordnungsgemäß gesetzten, im Großen und Ganzen sozial wirksamen und nicht extrem ungerechten Normen. Aus der Sicht von Alexy ist extremes Unrecht kein Recht. Die entscheidende Rolle in seiner Argumentation kommt dem Richtigkeitsargument zu. Diesem zufolge erheben sowohl einzelne Rechtsnormen und einzelne rechtliche Entscheidungen als auch Rechtssysteme im Ganzen begriffsnotwendig einen Anspruch auf Richtigkeit. Normensysteme, die diesen Anspruch nicht explizit oder implizit erheben, seien keine Rechtssysteme.42 Uygur übernimmt Alexys rechtsphilosophische Position43. Ausgehend von dessen Argumentation weist Uygur auf die Verbindung zwischen der Richtigkeit und der Idee der Gerechtigkeit hin. Bezugnehmend auf Alexy betont Uygur die Bedeutung von Prinzipien für ein Rechtssystem und die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien. Er konstruiert die Verbindung zwischen Recht und Moral über diese Unterscheidung und Uygur zufolge argumentiert auch Alexy selbst so.44 5. Rechtspositivismus Güriz lehrte in Ankara und verteidigte den Rechtspositivismus. Er lehnt den Vorwurf vehement ab, dass der Rechtspositivismus den totalitären Staat ermögliche. 40

Eine systematische Arbeit über Alexys Argumentation/Theorie: Uzun, Rechtsmethodologie (Hukuk Metodolojisi), Türkische Richterakademie/Türkiye Adalet Akademisi, 2014, 57 ff. 41 Alexy, ARSP 1990, Beiheft 37, 9 (12); Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 2. Aufl. 2011, 44 ff. 42 Eingehend Alexy, Der Begriff des Rechts, 2020. 43 Uygur, Recht, Ethik und Prinzipien (Hukuk, Etik ve Ilkeler), 2006, 7; über Alexys Verbindungsthese: Heper/Alexy, HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi) Nr. 12, 2005, 65. 44 Uygur (Fn. 43), 194.

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Nach Güriz kann ein Rechtssystem seine Geltung dann beanspruchen, wenn es sich auf die Prinzipien des Rechtspositivismus stützt.45 In der Türkei herrscht der Rechtspositivismus unter den Rechtswissenschaftlern vor. Kemal Gözler ist ein prominenter Vertreter des Rechtspositivismus und ein sehr bekannter Verfassungsrechtler, der sich auch mit anderen Rechtsgebieten wie der Rechtstheorie beschäftigt. Gözler übernimmt die Kritik von Hans Kelsen am Naturrecht und führt aus, dass die Kriterien der Gerechtigkeit nicht der Gegenstand des Rechts sein können und unbestimmte Gerechtigkeitskriterien zu einem chaotischen Zustand führen und die Rechtssicherheit gänzlich aufheben werden.46 Nach Gözler wird das Rückwirkungsverbot dadurch verletzt, dass ein nachträgliches Gesetz die verfassungsmäßigen Organe und deren Tätigkeit in der Vergangenheit und deren Gesetzgebung aufhebt und außer Kraft setzt. Dies führt zu einem Teufelskreis.47 Unter den Rechtsphilosophen hat sich Tevfik Özcan als rechtspositivistisch hervorgetan.48 6. Hans Kelsen und der Normativismus Die türkischen Juristen sind auf Hans Kelsen relativ früh aufmerksam geworden.49 Das wichtigste Werk von Kelsen, die „Reine Rechtslehre“ (erste Auflage von 1934), wurde im Jahr 2018 ins Türkische übersetzt50. Hans Kelsen wird als einer der bedeutendsten Juristen des 20. Jahrhunderts auch in der Türkei intensiv diskutiert.51

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Güriz, Vorlesungen über Rechtsphilosophie (Hukuk Felsefesi Dersleri), 1985, 436. Gözler, Einführung in die Rechttheorie (Hukukun Genel Teorisine Giris¸), 1998, 62 ff. 47 https://www.anayasa.gen.tr/7248-sayili-kanun.htm (zuletzt abgerufen am 25. 01. 2022). 48 Özcan, FS Güriz, 2016, 541 (543). 49 Soweit ersichtlich, ist die „Reine Rechtslehre“ Hans Kelsens aus dem Jahr 1934 erstmalig auszugsweise erschienen in: Zeitschrift der Istanbuler Rechtsanwaltskammer (I˙stanbul Barosu Mecmuası), Nr. 11, 1937, 584 – 587 und Nr. 12, 617 – 634; Kelsen, Zeitschrift der Juristischen Fakultät der Universität Istanbul/I˙.Ü.H.F., Band XXII, Nr. 1 – 4, 1957, 398. 50 Kelsen, Reine Rechtslehre (Saf Hukuk Kuramı, Übersetzung: Ertug˘ rul Uzun), 2020; Übersetzungen der anderen wichtigen Aufsätze: Kelsen, HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi) Nr. 15, 2006, 64. 51 Einige Publikationen über Hans Kelsen: Aral, Die Methode und Bedeutung der reinen Rechtslehre Kelsens (Kelsen in Saf Hukuk Teorisinin Metodu ve Deg˘ eri), 1976; Akbay, Zeitschrift der juristischen Fakultät der Universität Ankara (Ankara Üniversitesi Hukuk Fakultesi Mecmuası) Band IV, Nr. 1 – 4, 29; Akal, in: Akal (Hrsg.), Was ist Recht (Hukuk Nedir), 2017, 126 (128); Atalay, HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi) Nr. 19, 104. 46

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7. Freie Rechtsschule H. Ökcesiz bezeichnet sich als Freirechtler im Sinne der deutschen Freirechtsschule im rechtstheoretischen und rechtsmethodologischen Sinne.52 Bei ihm handelt es sich um einen Rechtsphilosophen, der in Deutschland überwiegend bei Ralf Dreier ausgebildet wurde und daher die deutsche Rechtsphilosophie sehr nahe verfolgt. 8. Arthur Kaufmann Arthur Kaufmann hat eine lange rechtsphilosophische Propädeutik mit dem Titel „Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie“ geschrieben.53 Sie wurde ins Türkische übersetzt, mehrfach veröffentlicht54 und wird häufig als Lehrmaterial verwendet. Ökcesiz beschäftigt sich rechtsphilosophisch mit dem zivilen Ungehorsam. Nach ihm ist das Wesen des Rechts Widerstand.55 Ökcesiz lehnt sich an die Gedanken von Arthur Kaufmann über das Widerstandsrecht an. Kaufmann führt in diesem Zusammenhang aus, dass „(…) das Widerstandsrecht das Urrecht aller Rechte ist, darin, dass der Mensch nein sagen kann zum Unrecht, liegt seine Freiheit. Und da das Recht Bedingung der Freiheit ist, ist das Widerstandsrecht das ursprünglichste der Menschenrechte. Wenn man aus Artikel 1 des Grundgesetzes, der die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (…). Dieses Recht kann kein Gesetz, keine Verfassung beseitigen. Es ist schlechterdings unlogisch, ,rechtlich‘ festlegen zu wollen, dass man sich dem Unrecht nicht widersetzen dürfe.“56

9. Normkonkretisierungstheorie Friedrich Müllers methodischer Ansatz der Normkonkretisierung ist in der Türkei bekannt57, und er wird von seinem Schüler Fazil Saglam im verfassungsrechtlichen Kontext vertreten.58 Auch bei der Verfassungsrechtlerin Ece Göztepe ist Müllers Konzept in der grundrechtlichen Thematik zu finden.59 52 Ökçesiz, Die Freirechtsschule, in: Ökçesiz (Hrsg.), Das Wesen des Rechts ist das Widerstandsrecht, Essays und Vorträge, 2020, 117 (120); Ökçesiz, HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi) Nr. 22, 2010, 227 (228). 53 Kaufmann/Hassemer, Einführung in Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 1989. 54 Kaufmann, HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi) Nr. 1, 1993, 7. 55 Ökçesiz, Gedanken zu Recht und Justiz, in: Ökcesiz, Das Wesen des Rechts ist das Widerstandsrecht, 2020, 1 (4). 56 Kaufmann, Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit, Aspekte des Widerstandsrechts von der antiken Tyrannei bis zum Unrechtsstaat unserer Zeit, vom leidenden Gehorsam bis zum zivilen Ungehorsam im modernen Rechtsstaat, 1991, 6. 57 Müller, in: Sag˘ lam (Hrsg.), Arbeitsmethoden des Verfassungsrechts (Anayasa Hukukunun C¸alıs¸ma Yöntemleri), 2009, 6. 58 Sag˘ lam, FS-Müller, 2008, 217 (217).

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10. Feindstrafrecht – strafrechtlich-rechtsphilosophische Diskussion Auch in der Türkei hat ab 2008 eine Diskussion über die Thesen Günther Jakobs’ stattgefunden. Für die Diskussionsgrundlage wurden die zwei wichtigsten Artikel ins Türkische übersetzt (Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht; Feindstrafrecht? Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit). Jakobs hat für die türkischen Veröffentlichungen insbesondere darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Aufsätze auf westeuropäische Demokratien beziehen. Damit wollte Jakobs aus seiner Sicht vermeiden, dass seine These für undemokratische Regime eine Unterstützung darstellt.60 In der Türkei hat die Feindstrafrechtstheorie keine Anhänger gewonnen. Vielmehr wurde die Theorie heftig kritisiert. Ökcesiz hat sich mit dem Feindstrafrecht aus der rechtphilosophischen Sicht insbesondere in Bezug auf Person und Unperson sowie Bürger auseinandergesetzt.61 In den großen Schauprozessen ab 2007, in denen versucht wurde, den kemalistisch laizistisch orientierten Staat durch die Gülen-Bewegung abzuschaffen, fand eine Diskussion statt, ob in diesen Prozessen das Feindstrafrecht zur Anwendung kommen soll.

V. Übersetzungen der deutschsprachigen Texte ins Türkische Übersetzungen tragen immer zum Austausch des Gedankenguts zwischen Kulturen bei. Dies gilt auch für Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie. 1. Übersetzungen der deutschen Rechtsklassiker ins Türkische In diesem Kontext sind einige deutsche Juristen beispielhaft erwähnenswert. Zu nennen ist die „Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ von Julius Hermann v. Kirchmann aus dem Jahr 1847. Die bereits 1949 erfolgte Übersetzung des Aufsatzes wird im Zusammenhang mit der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz in den Lehrbüchern oft zitiert.62 F. von Savigny kommt in den türkischen rechtswissenschaftlichen Büchern oft in Bezug auf die historische Rechtsschule und die Auslegungsmethoden vor. Sein wichtiges Werk „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzge59 Göztepe, Siyasal Bilgiler Fakültesi Üniversitesi Dergisi, Bd. 54, Nr. 2, 1999, 220; dies., Rechtliche Dimensionen von Ehrenmorden: Eine Auswertung des neuen türkischen Strafgesetzbuches (Namus Cinayetlerinin Hukuki Boyutu: Yeni Türk Ceza Kanunu’nun Bir Deg˘ erlendirmesi Türkiye Barolar Birlig˘ i Dergisi), 2005/59, 29. Ece Göztepe ist eine deutschsprachige Juristin, die bei Bodo Pieroth promoviert und gearbeitet hat. 60 Jakobs, in: Ünver (Hrsg.), Terror und Feindstrafrecht (Terör ve Düs¸man Ceza Hukuku), 2008, 489 (489). 61 Ökcesiz, in: Ünver (Hrsg.), Terror und Feindstrafrecht (Terör ve Düs¸man Ceza Hukuku), 2008, 553 (554 f.). 62 Zuerst: v. Kirchmann, A.Ü.H.F, 1949, c. 6, 1, 181, neuerer Druck: HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi) Nr. 17, 2007, 1 (7 – 31).

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bung und Rechtswissenschaft“ wurde 2018 ins Türkische übersetzt.63 Rudolf von Jhering ist im Zusammenhang mit der Interessentheorie auch in der Türkei bekannt. Sein berühmter Vortrag des Jahres 1872 „Der Kampf ums Recht“, der in 26 Sprachen übersetzt wurde, wurde im Jahr 1935 ins Türkische übersetzt.64 Jhering war bereits in der osmanischen Zeit in der Türkei bekannt. Ein Teil seines berühmten Buches „Der Zweck im Recht“ wurde im Jahr 1915 ins Türkische übersetzt.65 Jellineks Werk „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ aus dem Jahr 1895 gilt als eine der wichtigsten Schriften zur Geschichte der Menschenrechte und wurde ebenfalls ins Türkische übertragen.66 Nach Roman Schnur stellt diese Schrift die einschlägige Forschung zur Geschichte der Menschenrechtserklärung des Jahres 1789 dar.67 2. Neuere Schriften Das mittlerweile in der 12. Auflage angekündigte Buch von Rüthers/Fischer/Birk „Rechtstheorie und Methodenlehre“68 wurde ins Türkische übersetzt.69 Die Systemtheorie von Niklas Luhmann ist in der Türkei ein relativ neuer Bereich, in dem einige Arbeiten geschrieben wurden.70 Auch Ralf Dreiers Aufsätze71 sowie Klaus Adomeits Buch „Recht -und Staatsphilosophie“72 wurden ins Türkische übersetzt. Der Würzburger Strafrechtler und Rechtsphilosoph Eric Hilgendorf unterhält enge Beziehun-

63 von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (C ¸ ag˘ ımızın Yasama ve Hukuk Bilimi Görevi Üzerine, Übersetzung: Ali Acar), 2018. 64 Jhering, Der Kampf ums Recht (Hukuk Ug˘ una Savas¸, Übersetzung: Rasih Yeg˘ engil), 1935. 65 Has¸im, Rechtszeitschrift (Hukuk Mecmuası), Nr. 1, 1915, 3, 197; Has¸imi hat einige Aufsätze über Jhering geschrieben. 66 Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte (Insan ve Yurttas¸ Hakları Bildirgesi Üzerine Modern Anayasa Tarihine Bir Katkı, Übersetzung: Rezzan I˙tis¸gen Dülger/Muzaffer Dülger), 2017. 67 Schnur, in: Schnur (Hrsg.), Wege der Forschung, 1974, Band XI. 68 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie und juristische Methodenlehre, 12. Aufl. 2022 (im Erscheinen). 69 Die Übersetzung der 9. Auflage erfolgte durch Dog˘ an/Albudak/Eyman-Aydın, 2020. 70 Soweit ersichtlich ist die wichtigste Arbeit über Luhmann in türkischer Sprache: Cataloluks, Rechtssystem und Autopoiesis (Hukuk Sistemi ve Autopoiesis), 2012; ferner: Ökcesiz, in: Ökcesiz (Hrsg.), Studien über zeitgenössische Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Gerechtigkeitsbegriff bei Niklas Luhmanns Systemtheorie (C ¸ ag˘ das¸ Hukuk Felsefesi ve Hukuk Kuramı I˙ncelemeleri, Niklas Luhmann’ın Sistem Kuramında Adalet Kavramı), 1997, 420; Sarıbay, HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi) Nr. 14, 2004, 5. 71 Dreier, HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi) Nr. 2, 1995, 7; Dreier, HFSA (Archiv für Rechtsphilosophie und Soziologie, Hukuk Felsefesi ve Sosyolojisi Arkivi) Nr. 2, 1995, 63; Dreier, HFSA, Nr. 2, 1995, 9. 72 Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie (Hukuk ve Devlet Felsefesi, Übersetzung: Halil Akkanat), 2004.

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gen zu der Türkei. Daher sind auch einige seiner rechtsphilosophischen Aufsätze ins Türkische adaptiert worden.73

VI. Ergebnis Wir stellen fest, dass das deutsche Recht, beginnend mit der Emigration der deutschen Juristen nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland, in der Türkei zunehmend starken Einfluss hatte. Dieser dauert auch heute noch an. Da der Einfluss in allen Rechtsbereichen eindeutig zu verzeichnen ist, gilt diese Feststellung auch für den Bereich der Rechtsphilosophie. Es gibt viele Forschungsaufenthalte der türkischen Rechtsphilosophen in Deutschland und Übersetzungen der Veröffentlichungen der deutschen Rechtsphilosophen ins Türkische. Außerdem finden oft Vorträge von deutschen Rechtsphilosophen und Rechtswissenschaftlern in der Türkei statt. Man kann sagen, dass die deutsche Rechtsphilosophie in der Türkei recht bekannt ist. Doch trotz der zahlreichen Publikationen fehlt ein modernes deutsches rechtsphilosophisches Buch in türkischer Sprache. Wenn man den Austausch zwischen deutschen und türkischen Strafrechtlern mit dem der Rechtphilosophen vergleicht, stellt man fest, dass die Kooperation bei den Rechtsphilosophen weniger intensiv ist. Türkische Rechtsphilosophen wünschen und erhoffen sich, dass die aktuelle Situation sich bald ändert und ein reger Austausch stattfindet.

73 Beispielweise Hilgendorf, Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü, Band 2, Nr. 4, 2013, 33; ders., Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü, Nr. 19, 2020, 9; ders., Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü, Nr. 1, 2012, 51.

Follow the Science? Wissenschaft, Pseudo-Wissenschaft und Recht Eric Hilgendorf Wie kaum ein anderer deutscher Strafrechtswissenschaftler seiner Generation hat sich Jan Joerden mit den logischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Rechtswissenschaft befasst. Das bekannteste Zeugnis dafür ist sein nun schon in dritter Auflage vorliegendes Lehrbuch zur „Logik im Recht“.1 Im Vorwort vergleicht er die Bedeutung der Logik für die (Rechts-)Wissenschaft mit der Bedeutung des Knochengerüsts für den Menschen – der Mensch darf zwar nicht auf sein Knochengerüst reduziert werden, „wenn man ihn adäquat beschreiben und gar verstehen will“. Es sollte aber „auch klar sein, dass er jedenfalls ohne sein Knochengerüst eine eher traurige Figur abgeben würde“.2 Dasselbe gelte für Wissenschaft ohne Logik. Im Recht ist der „Verstoß gegen die Denkgesetze“ ein Revisionsgrund. Logik und andere Standards wissenschaftlichen Arbeitens scheinen allerdings seit einiger Zeit von verschiedenen Seiten unter Beschuss geraten zu sein, wobei die Frontstellung gegen logisch geordnetes Argumentieren nur eine der Angriffslinien bildet. Im Folgenden soll ein Überblick über die damit angedeuteten Auseinandersetzungen und ihre Bedeutung für die Rechtswissenschaft gegeben werden.

I. Leben in der Wissensgesellschaft und der Fall Dieter Nuhr Es ist heutzutage beinahe eine Plattitüde, unsere Gesellschaft als eine Wissensgesellschaft zu bezeichnen. Doch was heißt dies genau? Bereits vor fast 20 Jahren formulierte der Wissenschaftssoziologe Peter Weingart das Ideal der Wissensgesellschaft wie folgt: „In der Wissensgesellschaft nimmt ,wissenschaftliches Wissen‘ (…) gegenüber anderen Wissensarten offenbar eine Sonderstellung ein. Es lässt sich nicht, wie alltägliches, tradiertes, weltanschauliches oder religiöses Wissen, das Geheimwissen von Medizinmännern und Schamanen oder das obskure Wissen von Esoterikern und Astrologen, je spezifischen Gruppen, lokalen und historischen Bedingungen, Interessen und gesellschaftlichen Klassen bzw. Schichten zuordnen. Wissenschaftliches Wissen entzieht sich augenscheinlich der gesell1 Joerden, Logik im Recht. Grundlagen und Anwendungsbeispiele, 3., überarbeitete und ergänzte Aufl. 2018. 2 Joerden (Fn. 1), S. V.

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Eric Hilgendorf schaftlichen Relativierung. Sind die Naturgesetze erst einmal ,entdeckt‘, können sie durch keine Macht der Welt mehr infrage gestellt werden, außer wiederum durch die Wissenschaft selbst. Wer sie bestreitet, macht nicht etwa das Wissen, sondern nur sich selbst lächerlich.“3

Es scheint damit nur konsequent, dass große Teile der Klimaschutzbewegung „Follow the Science“ als ihr Motto ausgerufen haben. Dem korrespondiert eine Dominanz von Medizinern, Virologen und anderen Expertinnen und Experten in der Corona-Pandemie. Doch wo genau liegen die Grenzen zwischen Politik und wissenschaftlicher Expertise einerseits, diejenigen zwischen Wissenschaft und PseudoWissenschaft andererseits? Bleiben dem demokratischen Souverän und seinen Organen überhaupt noch Entscheidungsspielräume, wenn „die Wissenschaft“ entschieden hat? Oder droht eine „Epistemisierung des Politischen“, wie dies der Politologe Alexander Bogner formuliert hat?4 Damit wird nicht nur die Grenzziehung zwischen Politik und Wissenschaft thematisiert, sondern auch die Frage aufgeworfen, was wir überhaupt unter „der Wissenschaft“ verstehen wollen und was für diese Form menschlicher Tätigkeit kennzeichnend ist. Eben dieses Problem hat der Satiriker und Gesellschaftskritiker Dieter Nuhr vor einiger Zeit auf den Internetseiten der DFG angesprochen: Nuhr erklärte, Wissen bedeute nicht, dass man sich zu 100 Prozent sicher sei, sondern dass man über genügend Fakten verfüge, um eine begründete Meinung zu haben. Wissenschaft bedeute auch, „dass sich die Meinung ändert, wenn sich die Faktenlage ändert“. Wer beständig rufe „Folge der Wissenschaft!“, habe das nicht begriffen. Wissenschaft sei keine Heilslehre: „Wissenschaft weiß nicht alles, ist aber die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben. Deshalb ist sie so wichtig.“5 Gegen diese Stellungnahme wurde in den sozialen Medien rasch heftige Kritik laut. Offenbar wurden die Aussagen Nuhrs als Affront gegen die Klimaschutzbewegung und deren Wortführerin Greta Thunberg verstanden. Die DFG nahm deshalb Nuhrs Stellungnahme nach kurzer Zeit wieder aus dem Netz, und zwar offenbar ohne den Autor darüber auch nur zu informieren. Auch hiergegen erhoben sich jedoch Proteste, vor allem in den liberalen und eher konservativen Leitmedien, woraufhin die DFG am 6. 8. 2020 Nuhrs Stellungnahme wieder online stellte. Dazu veröffentlichte sie folgende Erklärung: „Die DFG bedauert es ausdrücklich, das Statement von Dieter Nuhr vorschnell von der Internetseite der online-Aktion #für das Wissen heruntergenommen zu haben. Herr Nuhr ist eine Person, die mitten in unserer Gesellschaft steht und sich zu Wissenschaft und rationalem Diskurs bekennt. Auch wenn seine Pointiertheit als Satiriker für manchen irritierend sein mag, ist gerade eine Institution wie die DFG der Freiheit des Denkens auf der Basis 3

Weingart, Wissenschaftssoziologie, 2003, S. 7. Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, 2021. Kompliziert wird die Situation dadurch, dass auch eine Art „Demokratisierung der Expertenkultur“ stattgefunden hat. Fast jeder glaubt, bei fast jedem Thema kompetent mitreden zu können. 5 Der Beitrag ist nach wie vor auf Youtube abrufbar. 4

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der Aufklärung verpflichtet. Wir haben den Beitrag daher wieder aufgenommen. Die Diskussion um den Beitrag verdeutlicht exemplarisch die Entwicklungen, die aktuell viele öffentliche Diskussionen um die Wissenschaft kennzeichnen.“

Weiter heißt es, in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft habe sich „eine Debattenkultur entwickelt, in der oft nicht das sachliche und stärkere Argument zählt, in der weniger zugehört und nachgefragt, sondern immer häufiger vorschnell geurteilt und verurteilt wird. An die Stelle des gemeinsamen Dialogs treten zunehmend polarisierte und polarisierende Auseinandersetzungen. Gerade bei zentralen Fragen wie dem Klimawandel oder der Coronavirus-Pandemie werden damit die wirklich notwendige Diskussion um wissenschaftliche Themen und der konstruktive Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft behindert. (…) Diese Entwicklungen sind der Gesellschaft nicht zuträglich und umso bedenklicher, als die Wissenschaft bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen eine zentrale Rolle spielt, mit der sie derzeit in der Gesellschaft stark wahrgenommen und geschätzt wird. Dabei ist sie ihrerseits auf eine kritische, offene und konstruktive Kommunikationskultur angewiesen.“6

Dem wird man ohne Weiteres zustimmen können. Besorgniserregend erscheint aber, wie abrupt die Stellungnahme Nuhrs von den Internetseiten der DFG entfernt worden war. Offenbar haben die hierfür Verantwortlichen auf die Kritik an Dieter Nuhr und seine Thesen unkritisch und vorschnell reagiert und damit dem Ansehen der wichtigsten deutschen Wissenschaftsfördereinrichtung schweren Schaden zugefügt. Daraus lässt sich zumindest eine Lehre ziehen: Beim Umgang mit „Kritik aus dem Netz“ sind Umsicht und Sachverstand gefragt. Es ist verfehlt, „kritischen Stimmen“ ohne Weiteres nachzugeben, wobei keine Rollen spielen sollte, aus welcher politischen Richtung die Kritik erfolgt. Größere Organisationen wie die DFG, aber auch Universitäten und andere staatliche Einrichtungen sollten institutionelle Vorkehrungen (etwa Beiräte) einsetzen, um ihre Medienbeauftragten und Pressereferenten vor vorschnellen Reaktionen zu schützen.

II. Was kann Wissenschaft leisten? Auch andere Autoren und Autorinnen haben sich kritisch mit dem Motto „Follow the Science“ auseinandergesetzt.7 Das Motto spielt auf die Aufforderung „Follow the White Rabbit“ aus „Alice im Wunderland“ an,8 sollte also nicht allzu wörtlich genommen werden.9 Das Missverständnis ist dennoch ein produktives, denn auch 6

https://dfg2020.de/beitrag-von-dieter-nuhr-wieder-online. Schneider, Follow the Science? Plädoyer gegen die wissenschaftsphilosophische Verdummung und für die wissenschaftliche Artenvielfalt, 2020. 8 Es handelt sich um eine im angelsächsischen Sprachraum häufig benutzte Redefigur, die unter anderem auch im ersten Matrix-Film (1999) aufgegriffen wurde, wo der Protagonist Neo mit dem Satz „Follow the white rabbit“ aufgefordert wird, einer Frau mit einem auf der Schulter tätowierten Kaninchenbild zu folgen. 9 So aber wohl Schneider (Fn. 7), 11 und passim. 7

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wenn die Wissenschaftsorientierung der Klimaschutzbewegung und die womöglich noch ausgeprägtere Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Pandemie grundsätzlich Zustimmung verdienen, werfen sie doch Probleme auf, die sich in zwei Fragestellungen bündeln lassen: 1. Gibt die Wissenschaft überhaupt Werte oder Ziele vor, die befolgt werden können oder sollen? und 2. Gibt es die eine Wissenschaft, der man folgen könnte?

1. Wissenschaft und Werte Die Frage, ob und unter welchen Umständen die Wissenschaft politische oder ethische Werte oder Ziele vorgeben kann, wurde schon oft kontrovers behandelt. Eine der bekanntesten Antworten gab der Soziologe Max Weber, der im sog. Werturteilsstreit Anfang des 20. Jahrhunderts10 mit großem Engagement die Position vertrat, Wissenschaft sei nicht in der Lage, moralische oder ethische Werte vorzugeben. Gerade für die akademische Lehre sei dies von großer Bedeutung. Man könne, so Weber „niemandem wissenschaftlich vordemonstrieren, was seine Pflicht als akademischer Lehrer sei. Verlangen kann man von ihm nur die intellektuelle Rechtschaffenheit: einzusehen, dass Tatsachenfeststellung, Feststellung mathematischer oder logischer Sachverhalte (…) und andererseits die Beantwortung der Frage nach dem Wert der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte und danach: wie man innerhalb der Kulturgemeinschaft oder der politischen Verbände handeln solle – dass dies beides ganz und gar heterogene Probleme sind. Fragt er dann weiter, warum er nicht beide im Hörsaal behandeln solle, so ist darauf zu antworten: weil der Prophet und der Demagoge nicht auf den Katheder eines Hörsaals gehören. Dem Propheten wie dem Demagogen ist gesagt: ,Gehe hinaus auf die Gassen und rede öffentlich.‘ Da, heißt das, wo Kritik möglich ist. Im Hörsaal, wo man seinen Zuhörern gegenübersitzt, haben sie zu schweigen und der Lehrer zu reden, und ich halte es für unverantwortlich, diesen Umstand, dass die Studenten um ihres Fortkommens willen das Kolleg eines Lehrers besuchen müssen, und dass dort niemand zugegen ist, der diesem mit Kritik entgegentritt, auszunützen, um den Hörern nicht, wie es seine Aufgabe ist, mit seinen Kenntnissen und wissenschaftlichen Erfahrungen nützlich zu sein, sondern sie zu stempeln nach seiner persönlichen politischen Anschauung.“11

Der Kern des Weber’schen Postulats der „Wertfreiheit“ liegt also darin, die Darstellung wissenschaftlich gesicherten Wissens und die eigene (moralische oder politische) Bewertung dieses Wissens auseinanderzuhalten und weder sich selbst noch das Publikum über den Status der jeweiligen Aussage in die Irre zu führen.12 10

Nau (Hrsg.), Der Werturteilsstreit. Die Äußerungen zur Werturteilsdiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik (1913), 1996; vgl. auch Albert/Topitsch (Hrsg.), Werturteilsstreit, 3. Aufl. 1990. 11 Weber, Wissenschaft als Beruf, 1917, Jubiläumsausgabe 2020, 97. 12 Letzteres zeigt die demokratietheoretische Relevanz des Wertfreiheitspostulats.

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Ein anderer Hauptvertreter des Wertfreiheitspostulats ist Hans Albert. Er hat vorgeschlagen, vier Teilprobleme des Wertfreiheitspostulats zu unterscheiden: Das definitorische Problem besteht in der Frage, ob man ein System, in dem Werturteile vorkommen, als wissenschaftlich bezeichnen sollte. Das logische Problem besteht in der Frage nach dem Sinn von Werturteilen, also vor allem die Frage nach dem Unterschied zwischen Werturteilen und moralischen oder politischen Empfehlungen einerseits und Tatsachenaussagen bzw. Tatsachenfeststellung andererseits. Als methodologisches Problem kann die Frage bezeichnet werden, ob Werturteile in der Wissenschaft erforderlich sind. Besonders umstritten ist das Problem der Kathederwertung, welches im Zentrum des obigen Weber-Zitats steht und das man als moralisches Problem bezeichnen könnte: Dürfen oder sollen Wissenschaftler nicht bloß als Privatpersonen, sondern auch als wissenschaftliche Lehrer Werturteile und politische Empfehlungen abgeben?13 Vor allem die Antwort auf das letzte Teilproblem, das wohl die Kernfrage des Werturteilsstreits umfasst, ist umstritten. Eine Kompromisslösung besteht darin, zumindest Wertbewusstsein der Wissenschaft zu fordern.14 Dies bedeutet, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Darstellung von Fakten der eigenen Disziplin und ihre moralische oder politische Bewertung dieser Fakten grundsätzlich voneinander trennen sollen. Daraus folgt, dass ein Unterschied zu machen ist z. B. zwischen der Aussage „Das Weltklima erwärmt sich seit x Jahren um durchschnittlich y Grad pro Jahrzehnt“ und der Aussage „Klimaerwärmung ist schlecht“ oder „Klimaerwärmung ist gar kein Problem“. In einem derartigen, dem Publikum gegenüber offen gelegten Wertbewusstsein drückt sich intellektuelle Redlichkeit, aber auch Fairness dem Adressatenkreis gegenüber aus, den man nicht über die logische Qualität der eigenen Aussagen täuschen sollte. In der Rechtswissenschaft entspricht der genannten Trennung zwischen Tatsachenfeststellung und Tatsachenbewertung die wohl allgemein anerkannte Unterscheidung von Äußerungen de lege lata und de lege ferenda.15 2. Wissenschaft und Wissenschaften Die zweite eben angesprochene Leitfrage richtet sich darauf, ob es tatsächlich die eine Wissenschaft gibt. Oder gibt es vielleicht mehrere Wissenschaften? Was ist Wissenschaft überhaupt? Das Bundesverfassungsgericht hat letztere Frage wie folgt beantwortet: Wissenschaft ist alles, „was nach Inhalt und Form als ernsthafter Versuch zur Ermittlung der 13 Albert, ZgS 112 (1956), 410 ff.; dazu auch Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung, 1997, 115 ff. 14 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 176 ff. 15 Man sollte nicht übersehen, dass Weber als Rechtswissenschaftler sozialisiert wurde, die genannte Unterscheidung also sozusagen von Beginn seiner Karriere an zu seinem „wissenschaftlichen Rüstzeug“ gehörte.

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Wahrheit anzusehen ist“.16 Diese Definition ist sehr weit und lässt es ohne weiteres zu, dass zu ein und demselben Gegenstandsbereich verschiedene Theorien und Wissenschaftsformen existieren, die gleichberechtigt die Wahrheit zu ermitteln suchen. Die Weite der Begriffsbestimmung hat aber zur Folge, dass auch Tätigkeiten erfasst werden, die üblicherweise nicht unter „Wissenschaft“ zu subsumieren sind. So ist nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts wörtlich genommen auch der in einem Kriminalfall ermittelnde Polizeibeamte als Wissenschaftler anzusehen. Ein anderer Ansatz könnte sein, auf die wissenschaftliche Tradition abzustellen. Wissenschaft wäre danach alles, was an Universitäten gelehrt wird. Ein solcher Ansatz umfasst nicht bloß die empirischen Wissenschaften, sondern auch Disziplinen wie die Theologie und die Rechtswissenschaft. Er scheint also gut geeignet zu sein, unsere gegenwärtigen Vorstellungen von Wissenschaft einzufangen. Problematisch ist die Relativität des Ansatzes; was zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Land als Wissenschaft gilt, ist zu einer anderen Zeit und in einem anderen Land möglicherweise keine Wissenschaft. Auch die traditionsorientierte Bestimmung von Wissenschaft ist mit der Existenz verschiedener wissenschaftlicher Ansätze innerhalb einer Disziplin ohne weiteres vereinbar. Allerdings würden jedenfalls in Mitteleuropa etwa die Praktiken eines Schamanen oder Parawissenschaftlers als Wissenschaft ausscheiden.17 Eine dritte Möglichkeit, Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft zu unterscheiden, ist die Orientierung an bestimmten Methoden des Erkenntnisgewinns. Man könnte etwa an empirische Methoden18 anknüpfen, was allerdings die Formalwissenschaften19 und auch die Jurisprudenz aus dem Kreis der Wissenschaften ausschließen würde. Dagegen würde die Orientierung an hermeneutischen Verfahren20 die Naturwissenschaften ausschließen. Weiter gefasste Kriterien, etwa die Verwendung von Analyse, würden viele Ansätze umfassen, die wir bislang als Pseudowissenschaften einstufen würden, denn man wird etwa der Parapsychologie nicht absprechen können, zumindest teilweise auch analytisch vorzugehen. Das heute in der Wissenschaftstheorie vorherrschende Kriterium ist das der Falsifizierbarkeit, also der Widerlegbarkeit von Aussagen.21 Wissenschaftliche Aussagen zeichnen sich danach dadurch aus, dass sie grundsätzlich widerlegt („falsifiziert“) werden können. Aussagen, die grundsätzlich keiner Widerlegung fähig 16

BVerfGE 35, 79 (112). Näher Hilgendorf, FG Paulus, 2009, 87 – 101. 18 Dazu gehört vor allem die Feststellung von Fakten auf der Grundlage von Beobachtung sowie ihre Erklärung. 19 Gemeint sind v. a. Mathematik und Logik. 20 Unter „Hermeneutik“ sei hier im Einklang mit der philosophischen Tradition die „Lehre von der Auslegung“ verstanden, also nicht etwa die „Universalhermeneutik“ im Stil von Gadamer. 21 „Locus classicus“ des Kriteriums des Falsifizierbarkeit ist das Werk „Logik der Forschung“ von Karl Popper (1934/1935); vgl. ferner Kornmesser/Büttemeyer, Wissenschaftstheorie. Eine Einführung, 2020, 53 ff. 17

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sind, also etwa Aussagen wie: „Das Wesen der Gerechtigkeit ist unfassbar“ oder „Gottes Güte ist grenzenlos“ gehören nicht zur Wissenschaft. Wichtig ist, dass das Falsifikationskriterium Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft abgrenzt, nicht aber sinnvolle von sinnlosen Aussagen.22 Eine Aussage kann nach dem Kriterium der Falsifizierbarkeit also als „nicht wissenschaftlich“ eingestuft werden, dennoch bleibt sie als sinnvoll anerkannt. Eine weitere Möglichkeit, die skizzierte Leitfrage zu beantworten, wäre die Position, dass es keine klare Grenze zwischen Wissenschaft und „Nicht-Wissenschaft“ gibt, dass aber dennoch zwischen den Wissensformen deutliche Unterschiede in ihrer Verlässlichkeit und Leistungsfähigkeit existieren. So scheint das in der heutigen Schulmedizin generierte Wissen um Krankheiten und ihre Heilung sehr viel zuverlässiger zu sein als das Wissen von Schamanen und Medizinmännern. Und auch die empirische Klimaforschung, wie sie an Universitäten und akademischen Institutionen durchgeführt wird, scheint verlässlichere Aussagen und leistungsfähigere Prognosen zu generieren als etwa der Hundertjährige Kalender oder Weissagungen der Maya. Noch weiter geht die Radikalposition des „Anything goes“, die etwa dem österreichisch-amerikanischen Erkenntnistheoretiker und Wissenschaftsphilosophen Paul Feyerabend zugeschrieben wird.23 Danach sind sämtliche Wissensformen grundsätzlich gleichwertig.

III. Wissenschaftliche Expertise und Jurisprudenz Die Frage, was als Wissenschaft gelten kann, ist juristisch durchaus von Bedeutung: Welche Wissenschaft bzw. welche Strömung der Wissenschaft soll die Politik beraten und die Inhalte von Gesetzen (mit-)bestimmen? Wer wird zu Sachverständigenanhörungen im Gesetzgebungsverfahren eingeladen?24 Wer erhält Projektförderungen aus staatlichen Mitteln? Oder, um ein paar Fragen aus dem Strafverfahrensrecht anzusprechen: Was zählt im Rahmen der „freien Beweiswürdigung“ (§ 261 StPO) als wissenschaftliche Erkenntnis, an die das Gericht gebunden ist? Welchen Beweiswert haben die neuen Methoden der digitalen Forensik, und wie steht es um die Verwertbarkeit rein digitaler Beweise („digital evidence“)? Die zunehmende Abhängigkeit der Gerichte von technischem und wissenschaftlichem Wissen lässt es als überaus problematisch erscheinen, wenn darüber, was als ernsthafte Technik und ernsthafte Wissenschaft zu gelten hat, keine Einigkeit erzielt werden kann.

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Kornmesser/Büttemeyer (Fn. 21), 57. Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 1976 (engl. Ausgabe unter dem Titel „Against Method“ 1975). 24 Dieselbe Frage lässt sich in Bezug auf Einladungen zu Interviews in überregionalen Tageszeitungen und prominenten Fernseh-Talkshows stellen. 23

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Problematisch wird auch die Gesetzesinterpretation. So tauchen etwa in § 5 BImSchG25 in fast jedem Satz Bezugnahmen auf Wissenschaft und Technik auf, die sich nicht auflösen lassen, solange nicht geklärt ist, was genau als Wissenschaft und Technik gelten kann.26 Bereits in seiner ersten Kalkar-Entscheidung hat das BVerfG ausgeführt, der Maßstab des Standes der Wissenschaft und Technik übe „einen noch stärkeren Zwang dahin aus, dass die rechtliche Regelung mit der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung Schritt hält. Es muss diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird. Lässt sie sich technisch noch nicht verwirklichen, darf die Genehmigung nicht erteilt werden; die erforderliche Vorsorge wird mithin durch das technisch gegenwärtig Machbare begrenzt“.27

Wissenschaftlicher Sachverstand wird auch in anderen Rechtsgebieten häufig benötigt. Ein Beispiel ist die Kausalitätsprüfung: Im Contergan-Fall traten nach der Einnahme des Medikamentes Thalidomid schwere Körperschäden bei neugeborenen Kindern auf.28 Mittels der im Recht üblicherweise verwendeten conditio-sine-quanon-Formel lässt sich ein Kausalzusammenhang nicht überprüfen, solange das Gericht nicht weiß, ob es einen gesetzmäßigen (empirischen) Zusammenhang zwischen der Einnahme des Medikamentes und dem Eintritt der Körperschäden gibt.29 Die Feststellung derartiger Zusammenhänge überfordert allerdings die Möglichkeiten der Jurisprudenz; sie fällt in den Zuständigkeitsbereich der empirischen Forschung, hier also der Naturwissenschaften (unter Einschluss der Medizin), deren Kompetenz z. B. über Sachverständigenanhörungen in das gerichtliche Verfahren eingebunden werden kann.

25 „(1) Genehmigungsbedürftige Anlagen sind so zu errichten und zu betreiben, dass zur Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Umwelt insgesamt 1. schädliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft nicht hervorgerufen werden können; 2. Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen getroffen wird, insbesondere durch die dem Stand der Technik entsprechenden Maßnahmen; 3. Abfälle vermieden, nicht zu vermeidende Abfälle verwertet und nicht zu verwertende ohne Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit beseitigt werden; Abfälle sind nicht zu vermeiden, soweit die Vermeidung technisch nicht möglich oder nicht zumutbar ist; die Vermeidung ist unzulässig, soweit sie zu nachteiligeren Umweltauswirkungen führt als die Verwertung; die Verwertung und Beseitigung von Abfällen erfolgt nach den Vorschriften des Kreislaufwirtschaftsgesetzes und den sonstigen für die Abfälle geltenden Vorschriften; 4. Energie sparsam und effizient verwendet wird.“ 26 Zur Interpretation der Norm vgl. im Übrigen Jarass, Bundes-Immissionsschutzgesetz Kommentar, 14. Aufl. 2022, § 5. 27 BVerfGE 49, 89 ff. (Kalkar I), Rn. 136. 28 Zum Hintergrund des Contergan-Skandals siehe den ebenso aktuellen wie anspruchsvollen gleichnamigen Artikel in der Wikipedia (Stand 10. 10. 2022). 29 Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 13 ff. Rn. 74.

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Auch die Verhältnismäßigkeitsprüfung, die bei Grundrechtseinschränkungen durchzuführen ist, impliziert einen Rekurs auf empirisches Wissen und damit in strittigen Fällen den Rekurs auf wissenschaftlichen Sachverstand.30 Verhältnismäßigkeitsprüfungen erfordern zunächst die Benennung eines legitimen Ziels, welches mit der überprüften Maßnahme erreicht werden soll. Es geht also meist darum, ob sich eine politische Entscheidung im grundrechtlichen Rahmen hält. Dies kann in der Regel mit genuin juristischen Mitteln, also vor allem über eine Interpretation des Gesetzes, festgestellt werden. Schon auf der zweiten Prüfungsstufe, der Frage nach der Eignung der getroffenen Maßnahmen zur Erreichung des angestrebten Ziels, kommt aber empirisches Wissen und damit (in problematischen Fällen) die empirische Wissenschaft ins Spiel. Dasselbe gilt für die Prüfung der Erforderlichkeit der getroffenen Maßnahme, also die Frage, ob andere, weniger schwer in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreifende Maßnahmen existieren. In den alleinigen Zuständigkeitsbereich rechtlicher Expertise fällt erst wieder der letzte Prüfungsschritt, also die Frage nach der „Angemessenheit“ der diskutierten Maßnahme.31 Sonderfälle dieses Prüfverfahrens finden sich überall im Recht, im Strafrecht etwa bei der Notwehr, § 32 StGB, und dem Notstand, § 34 StGB sowie im Recht der Gefahrenabwehr (Polizeirecht), etwa bei der Begrenzung polizeilicher Maßnahmen (z. B. Art. 4 BayPAG). In allen diesen Fällen wird ein Rückgriff auf wissenschaftliche Expertise erforderlich, wenn strittig wird, was „geeignet“ und was „erforderlich“ ist. Damit lässt sich festhalten, dass das Recht und damit auch die Gesellschaft eine zumindest ungefähre Orientierung darüber, was als „wissenschaftliche Erkenntnis“ gelten kann und was nicht, benötigt. Das gilt auch und gerade für die Jurisprudenz, die in einer Vielzahl von Kontexten (Sachverständigenanhörungen, Beweiswürdigung, Technikklauseln, Kausalitäts- und Verhältnismäßigkeitsprüfungen, u. a.) darauf angewiesen ist, wissenschaftlich gestütztes Wissen von Meinungen zu unterscheiden, die nicht wissenschaftlich gestützt sind.

IV. Zur Methode empirischen Arbeitens Wissenschaft ist eine soziale Veranstaltung. Dies gilt für die Geistes- und Sozialwissenschaften nicht weniger als für die Naturwissenschaften. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden durch ihr Studium und durch die wissenschaftliche Anlernphase in die Traditionen und Regeln ihres Faches eingeführt. In empirischen Wissenschaften geht es zunächst um die Feststellung von Fakten, etwa durch Beobach30 Gerade während der Corona-Pandemie wurde deutlich, dass die Rechtmäßigkeit vieler Maßnahmen häufig von ihrer Wirksamkeit in der Pandemiebekämpfung abhing, vgl. auch die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats: Vulnerabilität und Resilienz in der Krise – Ethische Kriterien für Entscheidungen in einer Pandemie, 2022, 127 f. 31 Hufen, Staatsrecht II: Grundrechte, 9. Aufl. 2021, § 9 III.

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tung oder Messungen. Schon diese Tätigkeit geht aber weit über das bloße Konstatieren von Gegebenem hinaus und beinhaltet Elemente der Entscheidung und Konstruktion. Statt der Feststellung von Fakten ließe sich deshalb auch vom „Herstellen“ der Fakten sprechen.32 Um Fakten und ihre Aufeinanderfolge zu erklären, bedarf es der Verwendung von Regelmäßigkeiten.33 Auch dabei handelt es sich nicht um simple Beschreibungen der beobachteten Aufeinanderfolge von Phänomen. Um Regelmäßigkeiten und Muster in natürlichen Abläufen, etwa im Zusammenhang mit dem Klima, dem natürlichen Alterungsprozess von Zellen oder bei der Verbreitung von Viren festzustellen, bedarf es vielmehr der erfahrungsgeleiteten Fantasie,34 die uns hilft, relevante Zusammenhänge zu erkennen und zu beschreiben. Besonders anspruchsvoll ist es, gefundene Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten in Form von empirisch prüfbaren Gesetzesaussagen zu formulieren. Ein so formuliertes nomologisches Wissen steht im Mittelpunkt jeder erfahrungswissenschaftlichen Disziplin.35 Die Prüfung derartiger Aussagen erfolgt in der Weise, dass aus der Gesetzesaussage Prognosen hergeleitet werden, deren Zutreffen sich empirisch prüfen lässt. Formuliert ein Klimaforscher etwa einen Zusammenhang zwischen der CO2-Konzentration in der Luft, dem Anstieg von Durchschnittstemperaturen und dem Auftreten bestimmter Wetterphänomene, so lassen sich derartige Phänomene grundsätzlich voraussagen. Treten sie nicht ein, kann die zugrundeliegende Prämisse bzw. die zugrundeliegende Theorie als widerlegt gelten,36 treten sie dagegen ein, so hat sich die zugrunde gelegte Theorie (ein Komplex von Sachverhaltsannahmen und Hypothesen über empirische Gesetzmäßigkeiten) vorläufig bewährt, was nicht heißt, dass sie nicht schon bei der nächsten Konfrontation mit der Wirklichkeit versagen könnte, so dass zu prüfen wäre, ob sie beibehalten werden soll oder nicht.37 In der Wissenschaftstheorie werden die eben skizzierten Schritte, die in der Forschungspraxis oft nicht weiter reflektiert werden, methodologisch analysiert und strukturiert.38 Den Ursprung der modernen Wissenschaftstheorie bilden die Analysen des Wiener (und Berliner) Kreises in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Nachdem die Bewegung durch die Nationalsozialisten aus dem deutschen Sprachraum vertrieben worden war, wurde ihre Arbeit vor allem im englischsprachigen Ausland 32

Genau genommen geht es dabei um die sprachliche Beschreibung der Fakten, also um Beschreibungen in Form von Tatsachenaussagen, nicht um die „realweltlichen“ und vorsprachlichen Fakten selbst. 33 Kornmesser/Büttemeyer (Fn. 21), 121. 34 Hilgendorf, FS Albert, 2021, 279 ff. 35 Kornmesser/Büttemeyer (Fn. 21), 121 ff. 36 Die logische Struktur einer Falsifikation entspricht der des modus tollens, Kornmesser/ Büttemeyer (Fn. 21), 59. 37 Kornmesser/Büttemeyer (Fn. 21), 56. 38 Neben dem oben Fn. 21 zitierten Werk siehe v. a. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, 4 Bände in 7 Teilbänden, 1969 – 1984, 2. Aufl., Bd. 1 und 2, 1983 – 1987.

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weitergeführt. Besonders einflussreich wurden Karl Poppers „Logik der Forschung“ (1934/1935), aber auch Untersuchungen von Autoren wie Rudolf Carnap und Carl Gustav Hempel, die in den USA die analytische Philosophie (neu-)begründeten, während Otto Neurath, der herausragendste Sozialwissenschaftler des Wiener Kreises, bereits 1945 im Exil verstarb. Heute hat die Wissenschaftstheorie einen Stand erreicht, der es erlaubt, von einer eigenständigen Subdisziplin der Philosophie zu sprechen. Klassische Themen sind die Theorie der „Basissätze“, mittels derer „Tatsachen“ festgestellt werden, die Auseinandersetzung mit empirischen Gesetzmäßigkeiten und ihrer Begründung, die Unterscheidung von deterministischen (strikten) und indeterministischen (statistischen) Gesetzmäßigkeiten,39 Wahrscheinlichkeit und Sicherheit, und die Strukturgleichheit von Erklärung und Prognose.40 Aus der älteren Erkenntnistheorie, die in vielerlei Hinsicht als Vorläufer der Wissenschaftstheorie angesehen werden kann, stammen Themen wie die Wahrheitstheorie, das Induktionsproblem und die Debatten um den erkenntnistheoretischen Realismus. Wissenschaft bedeutet nicht das „Sammeln“ von vorgegebenen Erkenntnissen und deren systematische Darstellung, sondern enthält zahlreiche Elemente schöpferischer Tätigkeit: Angesichts von Problemen jeder Art stehen wir vor der Herausforderung, unter Einsatz unserer Fantasie schöpferisch Annahmen über natürliche Regelmäßigkeiten zu entwerfen, die sodann auf ihre Bewährung in der Realität überprüft werden. Problemlösungen sind also nicht einfach vorgegeben, so dass wir sie passiv aufnehmen könnten, sie sind vielmehr das Ergebnis unserer eigenen geistigen Tätigkeit. Hans Albert, einer der einflussreichsten Schüler Karl Poppers, hat sich dazu wie folgt geäußert: „Sowohl im Hinblick auf die Theoriebildung, als auch im Hinblick auf die Beobachtung wird durch diese Revision der Passivismus überwunden, der in der klassischen Lehre die Deutung des Erkenntnisprozesses beherrscht. An die Stelle der – sinnlichen oder geistigen – Schau tritt die Konstruktion und das Experiment, also: die menschliche Aktivität, die die Erzeugnisse der Einbildungskraft in symbolischen Konstruktionen durchartikuliert und sie in Gedankenexperimenten und Realexperimenten, also durch aktive Eingriffe, erprobt, um ihre Leistungsfähigkeit und damit ihre vergleichsweise Bewährung beurteilen zu können. Die Erkenntnis bewegt sich also zwischen Konstruktion und Kritik; sie ist Teil der menschlichen Praxis, in der laufend Entscheidungen getroffen werden müssen.“41

Es ist bislang trotz vieler Anläufe42 nicht geglückt, die Ergebnisse der modernen Wissenschaftstheorie für die Jurisprudenz fruchtbar zu machen. Dies gilt sowohl für 39

Kornmesser/Büttemeyer (Fn. 21), 121 ff. Kornmesser/Büttemeyer (Fn. 21), 138 f. 41 Albert, Traktat über kritische Vernunft, 1991, 65. Hervorhebungen i.O. 42 Neben dem Werk von Röhl/Röhl (Fn. 14) vgl. etwa Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982; Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen. Logik, Semiotik, Erfahrungswissenschaften, 1980. Dagegen finden sich in den empirischen Sozialwissenschaften zahlreiche anspruchsvolle Lehrbücher zur Wissenschaftstheorie, vgl. etwa Opp, 40

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den angelsächsischen als auch für den kontinentalen Rechtskreis. Ein Grund hierfür liegt wohl in der Verwendung einer zunehmend technischen, oft formalisierten Sprache in der Wissenschaftstheorie, die Juristen den Zugang erschwert, ein anderer in den großen Beharrungskräften juristischen Denkens, das durch Präjudizienorientierung und Dogmatik diszipliniert, aber auch in seinem interdisziplinären Ausgreifen gehemmt wird.43

V. Wissenschaftstheorie im Kontext: Ergänzungen, Auseinandersetzungen, Kritik 1. Die soziologische Perspektive auf Wissenschaft und ihre Geschichte Parallel zur klassischen Formulierung der Wissenschaftslogik durch Karl Popper44 hat der US- Soziologe Robert F. Merton Anfang der 40er Jahre eine Explikation des wissenschaftlichen Ethos vorgelegt,45 die ebenso wie die Vorschläge Poppers bis heute die Debatten prägt. Es handelt sich um den Entwurf eines Gegenbilds zu der autoritär gelenkten Wissenschaft in der Sowjetunion und in Hitler-Deutschland. Unter dem „Ethos der Wissenschaft“ versteht Merton den „affektiv getönte(n) Komplex von Werten und Normen, der als für den Wissenschaftler bindend betrachtet wird“.46 Merton zählt dazu vier Elemente: Universalismus (die Relevanz einer Aussage hängt nicht von personalen oder sozialen Eigenschaften des Äußernden ab), Kommunismus (die Ergebnisse der Wissenschaft sind ein Produkt von Zusammenarbeit und „gehören“ der Gemeinschaft), Uneigennützigkeit (Wissenschaftler sollen keine unerlaubten Mittel zum eigenen Vorteil einsetzen) und organisierten Skeptizismus (sämtliche Aussagen sind einer unvoreingenommenen Prüfung zu unterziehen).47 Trotz einer Vielzahl kritischer Einwände und Gegenentwürfe gilt Mertons Modell immer noch als die klassische Explikation des wissenschaftlichen Ethos.48 Eher als Ergänzung denn als durchgreifende Kritik an Popper sind auch die Darlegungen Thomas Kuhns zur „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ zu verste-

Methodologie der Sozialwissenschaften. Einführung in Probleme ihrer Theoriebildung und praktischen Anwendung, 7. Aufl. 2014. 43 Man könnte von einem „strukturellen Konservativismus“ juristischen Denkens sprechen. 44 Siehe oben IV. 45 „Science and Technology in a Democratic Order“ (1942), dt. u.d.T. „Die normative Struktur der Wissenschaft“ in: Merton, Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie. Übersetzt von Reinhard Kaiser. Mit einer Einleitung von Nico Stehr, 1985, 86 ff. Für eine Darstellung aus heutiger Perspektive siehe McIntyre, The Scientific Attitude. Defending Science from Denial, Fraud, and Pseudoscience, 2019. 46 Die normative Struktur der Wissenschaft (Fn. 45), 88. 47 Die normative Struktur der Wissenschaft (Fn. 45), 90 ff. 48 Weingart (Fn. 3), 17 f.

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hen.49 Kuhn fügt der wissenschaftslogischen Perspektive eine wissenschaftssoziologische und wissenschaftshistorische Perspektive hinzu. Dem oben skizzierte „Leitbild“ wissenschaftlichen Arbeitens entsprechen die Phasen „normaler“ Wissenschaft, in denen innerhalb eines bestimmten, im Großen und Ganzen unbestrittenen wissenschaftlichen „Paradigmas“ gearbeitet wird. Die Phasen „normaler“ Wissenschaft werden, so Kuhn, jedoch immer wieder von „wissenschaftlichen Revolutionen“ durchbrochen. Darunter versteht Kuhn nicht-kumulative Entwicklungsepisoden einer Wissenschaft, in denen ein älteres Paradigma ganz oder teilweise durch ein nicht mit ihm vereinbares (inkompatibles) neues Paradigma ersetzt wird. Paradigmata änderten sich nicht, wie es Poppers Darstellung suggeriere, durch Widerlegung (Falsifikation), sondern durch tiefgreifende soziale Prozesse. Auch Kuhns Thesen sind nicht ohne Widerspruch geblieben. Kritisiert wurde u. a. seine inkonsistente Verwendung des Begriffs „Paradigma“50 und sein oft allzu pauschales Verständnis „wissenschaftlicher Revolutionen“.51 Kuhns Arbeit hat aber zumindest daran erinnert, dass der Gang der Wissenschaft in erheblichem Maß auch von sozialen Faktoren, etwa externen Interessen oder Machtungleichgewichten, beeinflusst wird, eine Erkenntnis, deren Relevanz heute nicht mehr bestritten wird.52 Eben dies ist Ansatzpunkt der in den USA entstandenen „Science and Technology Studies“ (STS), deren Arbeiten man der Techniksoziologie und Wissenschaftsgeschichte zuordnen kann.53 Diese sich oft als radikale Alternative zur bisherigen Wissenschaftstheorie verstehende Forschungsrichtung betont die Vielfalt wissenschaftlicher Ansätze. Es wäre jedoch ein Missverständnis, den Gegensatz zur „Logik der Forschung“ zu verabsolutieren. Der Unterscheid zwischen den STS und der analytischen Wissenschaftstheorie liegt vor allem in der Perspektive. Im einen Fall wird eine historisch-soziologische Perspektive auf die Wissenschaft eingenommen, im anderen eine analytisch-wissenschaftstheoretische. Beide Blickrichtungen ergänzen sich, widersprechen aber einander nicht. 2. Wissenschaftskritik aus dem Umfeld der „Postmoderne“ Die Science and Technology Studies sind grundsätzlich empirisch ausgerichtet; es geht darum, Wissen über die sozialen Faktoren zu gewinnen, die die Entwicklung von Wissenschaft und Technik bestimmen, und problematische Einflüsse zu kritisie49

Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1996 (engl. u.d.T. „The Structure of Scientific Revolutions“ 1967). 50 Masterman, in: Lakatos/Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge. Proceedings of the International Colloquium in the Philosophy of Science, 1970, 59 – 89. 51 Grimen, in: Larsen/Zimmermann (Hrsg.), Theorien und Methoden in den Sozialwissenschaften, 2003, 43 ff. 52 Dies gilt auch für Popper und seine Schüler. 53 Überblick bei Potthast, in: Simon/Knie/Hornbostel (Hrsg.), Handbuch Wissenschaftspolitik, 2010, 91 ff. Ausführlich Beck/Niewöhner/Sorensen, Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung, 2012.

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ren. STS in diesem Sinne ist ohne Weiteres mit Mertons Vorstellungen vom „Ethos der Wissenschaft“ vereinbar. Deshalb bedeutet es einen Bruch mit den Zielen der STS, wenn die These vertreten wird, es gäbe „keine Objektivität“ und „keine Wahrheit“; vielmehr sei die Wirklichkeit „sozial konstruiert“ und zu jeder Tatsache seien auch „alternative Tatsachen“ darstellbar. Derartige, am „postmodernen“ Denkstil54 orientierte Vorstellungen werfen erhebliche Probleme auf, vor allem wenn sie im Verbund mit identitätspolitischen Forderungen55 auftreten und dazu verwendet werden, die empirischen Sozialwissenschaften und die Naturwissenschaft politisch zu gängeln.56 Die postmoderne Wissenschaftsskepsis leidet zudem an teilweise erheblichen grundbegrifflichen Konfusionen. So trifft es zwar zu, dass es kein sicheres empirisches Wissen gibt; alle unsere Annahmen über die Welt könnten auch falsch sein. Diese Einsicht findet sich bereits in der Skepsis der Antike und zieht sich wie ein roter Faden bis in die Gegenwart hinein fort. Aus dem Bewusstsein von der Fehlbarkeit unseres Wissens folgt jedoch nicht, dass es keine wahren Sätze über die Wirklichkeit geben könnte; wir können nur nie sicher sein, dass unsere Annahmen über die Welt, mögen sie auch noch so gut begründet sein, tatsächlich zutreffen. Eine ähnliche Konfusion findet sich in der Rede von der „Konstruktion von Wirklichkeit“. Nicht die Welt selbst wird von uns konstruiert, sondern unsere Annahmen, Aussagen und Theorien über die Welt sind Ergebnis sozialer Prozesse und Konstruktionen. Die Welt würde auch ohne Menschen existieren, sie ist von unserem Dafürhalten unabhängig. Dagegen sind unsere Annahmen über die Welt Ergebnis unserer Phantasie; sie sind unsere eigenen Produktionen. Menschliche Auffassungen von der Wirklichkeit sind also soziale Konstruktionen, die Wirklichkeit selbst aber nicht. Um ein drastisches Beispiel zu nennen: Unsere Darstellung und Wertung des Holocaust beruht auf sozialer Konstruktion; der Holocaust selbst war Realität.57 Wie das Beispiel zeigt, besitzt die Konfusion von sprachlicher Darstellung und Realität durchaus auch moralische Relevanz. Um sicherzustellen, dass unser vermeintliches Wissen der Wirklichkeit zumindest nahekommt, muss es an der Realität getestet und dem Risiko der Widerlegung ausgesetzt werden. Die Vernachlässigung – teilweise wohl sogar: Verweigerung – 54 Das Konzept der Postmoderne ist allerdings außerordentlich weit und erfasst auch (und wohl vor allem) Erscheinungsformen in Architektur, Literatur und anderen Kunstgattungen. In der Philosophie sind prägende Topoi „postmodernen Denkens“ vor allem der „Abschied von den großen Erzählungen“ (Jean-Francois Lyotard), die Verteidigung eines „schwachen Denkens“ (Gianno Vattimo) und die Betonung einer nicht näher bestimmten „Differenz“ (Jacques Derrida). 55 Dazu Hilgendorf, JZ 2021, 853 ff. 56 Dies geschieht heute vor allem über die sozialen Medien, vgl. nur oben I. zum „Fall Dieter Nuhr“. 57 Hier wird übrigens deutlich, dass auch unsere Werte allenfalls theoretisch auf freier Konstruktion beruhen. Die extreme Verwerflichkeit des Holocaust wird von niemandem in Zweifel gezogen. Der postmoderne Relativismus stößt also auch hier an Grenzen.

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der Möglichkeit kritischer Analyse und der Konfrontation von Aussagen mit der Wirklichkeit („Falsifizierung“) bildet eine der wesentlichen Schwächen postmodernen Denkens über Wissenschaft. Hinzu tritt die Neigung mancher postmoderner Denker und Denkerinnen, sich so weitschweifig und unklar auszudrücken, dass ein rationaler Dialog verhindert wird.58 Man könnte geradezu von einer Immunisierung gegen Kritik durch Sprache sprechen. Es überrascht nicht, dass Vertreterinnen und Vertreter „harter“ empirischer Disziplinen immer wieder Einspruch gegen die postmoderne Transformation der Realität in ein primär sprachliches Phänomen erhoben haben. Besonderes Aufsehen erregte der Physiker Alan Sokal, der Mitte der 90er Jahre im postmodernen Jargon einen tiefsinnig klingenden, aber weitgehend sinnfreien Text mit der Kernthese verfasste, Realität sei nur ein Spracheffekt, und diesen Artikel mehreren Zeitschriften anbot. Trotz „peer review“ wurde der Artikel in einem einschlägig bekannten Publikationsorgan angenommen und abgedruckt59, was weder dem Ansehen der Zeitschrift und noch der „postmodernen“ Bewegung insgesamt zuträglich war.60 Im Jahr 2017 wurde ein anderer Nonsense-Artikel, verfasst von Peter Boghossian und James Lindsay, mit dem Titel „The conceptual penis as a social construct“ („Der konzeptuelle Penis als soziales Konstrukt“) in der Zeitschrift „Cogent Social Sciences“ abgedruckt.61 Er erregte erneut erhebliches Aufsehen und führte dazu, dass die Autoren massiven Repressalien ausgesetzt waren, die im Falle von Peter Boghossian so weit gingen, dass er seine Heimatuniversität, die Portland State University, freiwillig verließ.62

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Treffend Laermann, Kursbuch 84 (März 1986), 34 ff. Sokal, in: Social Text 46/47 (1996), 217 ff. 60 Näher zur Debatte um die „Sokal-Affaire“ Sokal/Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen, 1999 (der in Fn. 59 genannte Text ist dort S. 262 ff. abgedruckt); vgl. auch Bammé, Science Wars, Von der akademischen zur postakademischen Wissenschaft, 2004, 123 ff. Aus der Zeit vor der „Sokal-Affäre“ Gross/ Levitt/Lewis (Hrsg.), The Flight from Science and Reason, 1996. 61 Boghossian/Lindsay, „The conceptual penis as a social construct“ (Der konzeptuelle Penis als soziales Konstrukt), 2017, Lindsay & Boyle, Cogent Social Sciences (2017), 3: https://doi.org/10.1080/23311886.2017.1330439: Die Zusammenfassung des Artikels liest sich wie folgt: „Anatomical penises may exist, but as pre-operative transgendered women also have anatomical penises, the penis vis-à-vis maleness is an incoherent construct. We argue that the conceptual penis is better understood not as an anatomical organ but as a social construct isomorphic to performative toxic masculinity. Through detailed poststructuralist discursive criticism and the example of climate change, this paper will challenge the prevailing and damaging social trope that penises are best understood as the male sexual organ and reassign it a more fitting role as a type of masculine performance.“ 62 https://peterboghossian.com. 59

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VI. Wissenschaft heute Auffällig ist die Vielfalt der Wissenschafts-Angebote heute. Sie dürfte vor allem daher rühren, dass Internet und soziale Medien Publikationen ohne redaktionelle Kontrolle oder „peer review“ erlauben. Wie die „Sokal-Affäre“ und andere Ereignisse der „Science-Wars“ zeigen, ist gerade das „peer review“ nicht immer ein zuverlässiger Filter. Die Vielfalt der Angebote scheint zu einem Trend zu einem individualisierten Wissenschaftsverständnis zu führen: Jeder und jede sucht sich das heraus, was gerade „passt“. Parallel dazu gibt es Konzentrationseffekte auf einige wenige Expertinnen oder Experten, ein Phänomen, das sich etwa in den Einladungen zu Talk-Shows und Interviewanfragen widerspiegelt. Hand in Hand damit geht ein Trend zur „Pop-Wissenschaft“63 : Es reicht nicht aus, sachlich Auskunft zu geben, hinzutreten muss, um in der Aufmerksamkeitsökonomie nicht unterzugehen, noch etwas Eigentümliches, Auffälliges, etwa ein besonderes äußeres Erscheinungsbild oder ein Hang zu besonders „steilen“ Thesen oder aufrüttelnden Mahnungen. Wissenschaftler entwickeln damit so etwas wie eine „Marke“. Statt von einer Vielfalt der Wissenschaftskultur könnte man von einem Expertenbasar sprechen, auf dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Laienwissenschaftlern, Pseudowissenschaftlern, „Klimaleugnern“, und „Querdenkern“ konkurrieren.64 Hinzugetreten ist schließlich eine neue Aggressivität gegenüber Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, vor allem in den sozialen Netzwerken, oft verbunden mit einer Attitüde sicheren Wissens und moralischer Überlegenheit.65 Gerade in der Klimaforschung und bei der Auseinandersetzung um die besten Methoden zur Bekämpfung der Pandemie wird mit außerordentlich harten Bandagen gekämpft, wobei nicht selten die Schwelle zu Beleidigung und versuchtem Rufmord überschritten wird.66 Welche Möglichkeiten der Abhilfe kommen in Betracht? Im Zeitalter weitgehend unkontrollierter und wohl auch unkontrollierbarer67 sozialer Medien scheint die Rückkehr zur traditionellen Expertenkultur ausgeschlossen. Auch die Hoffnung 63

Kaeser, Pop Science. Essays zur Wissenschaftskultur, 2009. Es überrascht deshalb nicht, dass in jüngerer Zeit zahlreiche Texte zur Verteidigung der „etablierten“ Wissenschaft(en) erschienen sind, vgl. neben dem oben Fn. 45 genannten Werk von McIntyre etwa Fischer, Vom Staunen in der Welt. Was Wissenschaft möglich macht – und was nicht, 2021; Otto, The War on Science. Who’s waging it, why it matters, what we can do about it, 2016; Zimring, What Science is and how it works, 2019. Siehe außerdem die vom Hans-Albert-Institut hrsg. Essay-Sammlung „Was ist rational?“, 2021. 65 Dazu auch Kastner, Dummheit, 4. Aufl. 2021. 66 Auch hier erfolgen die Angriffe nur selten in der analogen Welt, sondern über soziale Medien. 67 Möglich wäre eine Überwachung des Netzverkehrs allenfalls mittels Künstlicher Intelligenz. Vor dem Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur schrecken bislang aber jedenfalls die Europäischen Staaten zurück. 64

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auf die Renaissance eines qualifizierten Wissenschaftsjournalismus68 als rettendem Anker dürfte trügen. Das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen scheint eine anthropologische Konstante zu sein. Dafür spricht auch die offenbar kulturübergreifende Attraktivität von Verschwörungstheorien.69 Wollen wir vielleicht belogen werden? („mundus vult decipi, ergo decipiatur“!). Ganz abwegig erscheint das nicht. Zumindest ein Schritt in die richtige Richtung dürfte sein, die wissenschaftliche Allgemeinbildung und Kritikfähigkeit zu stärken, also „wissensmündige“ Bürgerinnen und Bürger in die Lage zu versetzen, Scheinwissen zu entlarven und sich mit Imponierprosa, postmodernem Nonsense und anderen Formen „vielversprechenden Tiefsinns“ kritisch auseinanderzusetzen.70 Das bedeutet: Aufklärung und Popularisierung von Wissenschaft als dauernde Aufgabe. Dieser Weg ist angesichts unserer bisherigen Erfahrungen vielleicht nicht sehr vielversprechend, er scheint aber der einzige gangbare Ausweg aus der gegenwärtigen Misere zu sein.

68 Dazu die Beiträge von Kurlemann, Schwägerl, Varwig und Mäder in: Schnurr/Mäder (Hrsg.), Wissenschaft und Gesellschaft. Ein vertrauensvoller Dialog. Positionen und Perspektiven der Wissenschaftskommunikation heute, 2020. 69 Dazu und zu neuen digitalen Varianten der Verführbarkeit Appel (Hrsg.), Die Psychologie des Postfaktischen. Über Fake News, „Lügenpresse“, Clickbait und Co, 2020. 70 Siehe dazu noch einmal das oben Fn. 65 angegebene Werk von Kastner.

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I. Ätiologien des Rechts im Widerstreit Die Frage nach dem Ursprung des Rechts greift ein Thema auf, das die Philosophie mehr oder weniger von ihrem eigenen Ursprung an stetig begleitet hat. Ohne im vorliegenden Rahmen detailliert auf die verschiedenen Antworten eingehen zu können, die dabei auf diese Frage gegeben wurden, vergegenwärtigen wir uns in einem groben Überblick zunächst fünf Grundoptionen, die als paradigmatische philosophische Ätiologien des Rechts gelten können. Der Rechtsursprung konnte in der Philosophiegeschichte zum einen ontologisch angesetzt werden. Beispiele dafür reichen bis auf Anaximander zurück und finden sich in der stoischen Naturrechtslehre genauso wie in der thomasischen Lehre von den naturrechtsrelevanten „inclinationes naturales“1 oder dann in der vollkommenheitstheoretischen Rechtsbegründung der Wolffschen Schulphilosophie. Die entsprechenden Auffassungen korrespondieren dabei vielfach der alten Transzendentalienlehre, das heißt sie weisen auf den Satz zurück, dass alles Seiende als solches auch „gut“ ist und mithin auf eine „Seinsrichtigkeit“ zeigt, in der alles Recht gehalten ist. Der Rechtsursprung konnte, zweitens, ebenfalls seit alters auch machttheoretisch ausgelegt werden, wofür es Beispiele von der Sophistik über Machiavelli bis hin zu Foucault und Derrida gibt. Wir beachten dabei, dass die machttheoretische Ätiologie des Rechts – die These: Recht ist im Kern Befehl der Macht, in dem sich diese zuletzt immer nur selbst affirmiert – nicht notwendig empiristisch ausgelegt sein muss, sondern auch metaphysisch gedacht sein kann – so etwa im Kontext eines theologischen Voluntarismus, für den der Ockhamismus und überhaupt die spätmittelalterliche „via moderna“ mit ihrer Fokussierung der „potestas absoluta Dei“ einschlägige, in der reformatorischen Theologie (und darüber hinaus) wirksam gewordene Belege geliefert hat.2 1

Vgl. Kluxen, Lex naturalis bei Thomas von Aquin, 2001, bes. 39 ff. Noch Carl Schmitt hat sich mit seiner Lehre von der Verfassung als einer „politischen Entscheidung über die Art und Norm des eigenen Seins“ (vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl. 1993, 76) ausdrücklich auf die „mittelalterliche Lehre“ von der „potestas constituens“ Gottes bezogen (a. a. O. 77). 2

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Drittens sodann können das Recht und die Rechtsordnung utilitaristisch rekonstruiert und mit Hilfe dieser Rekonstruktion zugleich legitimiert werden, wofür wir außer an Klassiker wie Bentham und Mill durchaus auch an Hobbes denken können, für den die Etablierung einer souveränitätsbasierten öffentlich-rechtlichen Ordnung nicht zuletzt aus dem Gedanken eines evidenten Nutzens des öffentlichen Friedens für die Ermöglichung menschlicher Kulturtätigkeit3 motiviert ist. Das vierte und für den hier zu entfaltenden Zusammenhang besonders wichtige Modell können wir sodann das selbstbewusstseinstheoretische nennen, das mit Kant und Fichte auftritt und den Rechtsgedanken als notwendiges Moment eines rationalen praktischen Selbstverhältnisses und -verständnisses versteht. Wir können dieses Modell auch das „eleutheriologische“ nennen, was besagt, dass hier die Freiheit die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Rechtes ist und das Recht selbst umgekehrt als Form der Realisierung von Freiheit verstanden sein will. Auf transzendentalphilosophischer Grundlage geht es hier um die Bedingungen der Möglichkeit der Aufrechterhaltung eines originären Freiheitsbewusstseins in Beziehung auf die Sphäre äußerer Handlungen, die ja immer auch anders als von der Freiheit her verstanden werden können. Fünftens schließlich ist das sattsam bekannte positivistische Modell zu nennen, an dem zwei Hauptvarianten unterschieden werden können. Auf der einen Seite nämlich findet sich ein Standpunkt, den wir den Standpunkt eines „Positivismus des Normativen“ nennen können und der den Kern des heute dominierenden juridischen Rechtspositivismus ausmacht. Diese Position setzt einen gegebenen juridischen Normenbestand ohne eigentliche Rückfrage nach dessen Geltungsgrund voraus und entfaltet in Beziehung darauf eine spezifische „deontische“, auch „juristische“ Logik4, die einerseits eine gewisse formal-legitimatorische Bedeutung für diesen Bestand hat, andererseits aber für eine möglichst reibungslose Entfaltung der gegebenen Normativität in ihrer „Anwendung“ Sorge tragen soll. Diesem „Positivismus des Normativen“ steht auf der anderen Seite ein „Positivismus der Faktizität“ gegenüber, wie ihn z. B. die Rechtsgeschichte oder die Rechtssoziologie kultivieren und der die Rechtswirklichkeit konsequent alleine deskriptiv betrachtet, ohne mit dieser Betrachtung eigentlich normative bzw. legitimatorische bzw. delegitimatorische Ansprüche zu verbinden. Der Positivismus bleibt dabei eine eigentliche Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Rechts schuldig; er deutet das Recht als Faktum, das vielleicht anderen Fakten korreliert, aber nicht mit einer Dignität sui generis ausgestattet ist.

3 Vgl. Hobbes, Leviathan I, c. 16, dort besonders den bekannten Abschnitt „The Incommodities of such a War“ (nämlich des Krieges aller gegen alle). 4 Der – keineswegs unproblematische – „Klassiker“ hierfür ist bekanntlich Georg Henrik von Wright, „Deontic Logic“, in: Mind 60 (1951), Nr. 237, 1 – 15. – Über die „deontische Logik“ im engeren Sinne weit hinaus greift die umfassende Beschäftigung mit der „Logik im Recht“ des Jubilars, dem diese Festschrift gewidmet ist; vgl. vor allem Joerden, Logik im Recht. Grundlage und Anwendungsbeispiele, 3. Aufl. 2018.

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Dieser Überblick ließe sich leicht um weitere Positionen oder Unterpositionen erweitern, etwa indem wir das frühneuzeitliche Vernunftrecht oder im Blick auf das 19. Jahrhundert kultur- oder wertphilosophische Rechtsbegründungen ins Spiel brächten. Wir vertiefen jedoch die diesbezüglichen systematischen Betrachtungen hier nicht, sondern reduzieren die gegebene Übersicht vielmehr auf drei materiale Hauptätiologien, um deren Konkurrenz es in rechtsphilosophischer Hinsicht letztlich immer geht: 1. Eine Ableitung des Rechts aus dem Guten, ganz gleich ob das Gute dabei als ontologisches Bonum, als in einer sich selbst genügenden „Wertsphäre“ dargestellt oder als nutzbringend vorgestellt ist; 2. eine Ableitung aus der Kontingenz der Macht, der historischen Umstände und Bedingungen, die dann freilich nur sehr bedingt für eine eigentlich normative Rechtfertigung des existierenden Rechts und seiner Institutionen aufkommen kann; 3. eine Ableitung des Rechts aus der Form des vernünftigen Selbst- und Weltverhältnisses des Freiheitswesens Mensch – die Option also, die Kant und der deutsche Idealismus vertreten haben und um deren Entfaltung es gerade auch in Zeiten der weitgehend hingenommenen Herrschaft des Positivismus an erster Stelle gehen muss. Für die folgenden Überlegungen werden wir uns an diesen drei paradigmatischen Optionen orientieren, um zum einen das Neue und zugleich das für die Neuzeit Repräsentative vor allem in Kants Neueinsatz in der Frage der Rechtsbegründung möglichst präzise zu verstehen. Wie der Titel des Beitrags ankündigt, wollen wir aber zum anderen etwas genauer verstehen, was in Beziehung auf den Kantischen eleutheriologischen Standpunkt das Stichwort „Liberalismus“ besagen kann bzw. welche Aspekte dieses ja durchaus schillernden Begriffs philosophisch auf Kant beziehbar sind, welche eher nicht. Bevor wir freilich auf diese Fragen im Einzelnen zurückkommen, werden wir uns in einem kurzen ersten Teil im Ausgang von der aristotelischen Rechtsätiologie mit einem systematisch unhintergehbaren Strukturmoment eines zu Ende gedachten Rechtsbegriffs befassen, das wir im Sinne einer möglicherweise unabweisbaren, in der Sache jedenfalls höchst fruchtbaren Dialektik des Rechtsbegriffs verstehen können. Der Rechtsbegriff, so die These dieses ersten Teils, zeigt philosophisch eine Janusköpfigkeit, die auch für die Rechtsätiologie von Belang ist. Eine entsprechende Dialektik oder doch „Bipolarität“ im Rechtsbegriff treffen wir, so die These des zweiten Teils, auch bei Kant an, auch wenn die Klammer beider Seiten hier nicht in einer im Guten gehaltenen Teleologie, sondern in einer die Realisierung der Freiheit vollziehenden Synthesis von Empirie und überempirischer Freiheitsidee liegt. Der dritte Teil wird sich dann zumindest im Sinne einer Skizze mit dem politischen Programmbegriff „Liberalismus“ befassen und dabei unter anderem aufzeigen, dass dieser in aller Regel undialektisch gefasst ist und auch deshalb dazu tendiert, auf einen rein instrumentellen Rechtsbegriff zurückzufallen, das Recht also nur als Werkzeug für die Realisierung einer bestimmten Frei-

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heitskonzeption zu verstehen, nicht aber als selbst schon Ausdruck und Wirklichkeitsweise von Freiheit.

II. Die aristotelische Komplementaritätsthese und die Fundierung des Rechts im Guten Aristoteles hat in der „Nikomachischen Ethik“ (NE) den Satz vertreten, dass das staatliche Recht immer zwei Komponenten umfasse, nämlich teils das Naturrecht (vusij¹m d¸jaiom), teils das Gesetzesrecht (molij¹m d¸jaiom) in sich enthalte.5 Damit scheint die ältere, nicht zuletzt von der Sophistik initiierte Kontroverse, ob das Recht denn nun v¼sei oder ¢´sei in die Welt gekommen sei und gelte, im Sinne einer „Vereinigungstheorie“ aufgenommen und gelöst zu sein. Das aristotelische „teils (…) teils“ ist bei näherem Zusehen freilich nicht einfach quantifizierend zu verstehen, so als ob man entsprechende „Anteile“ am geltenden Recht isolieren und gegeneinander aufrechnen könnte. Der Gedanke des Stagiriten ist vielmehr, dass es in allem institutionalisierten Recht immer ein Zusammenspiel von naturrechtlichen und positivrechtlichen Momenten gibt, von denen keines für sich die ganze Rechtswirklichkeit darstellen kann. Nach Aristoteles besteht die Logik dieses Zusammenspiels darin, dass es im Recht immer sowohl zustimmungsunabhängige als auch andere Momente gibt, die erst aus konkreten Entscheidungs- und Zustimmungsakten hervorgehen. Man kann dabei prinzipiell sagen, dass in den zustimmungsunabhängigen Momenten des Rechts seine Geltung oder Normativität begründet liegt, während die zustimmungs- oder entscheidungsabhängigen Momente seine konkrete Bestimmtheit und damit auch Anwendbarkeit auf überhaupt deliberationsfähige Gegenstände wie auch auf Einzelfälle (ja¢’ 6jasta)6 konstituieren. Wir können uns diesen Zusammenhang an einem Beispiel veranschaulichen, das wir in etwas abkürzender Form aus der aristotelischen Theorie des Geldes entwickeln. Die Institution des Geldes findet nach Aristoteles ihre normative Rechtfertigung zuletzt darin, dass sie ein weitgehend konkurrenzloses Mittel darstellt, um Tauschgerechtigkeit herzustellen.7 Der Satz, dass Tauschgerechtigkeit überhaupt sein soll, kann dabei als ein Naturrechtsprinzip angesehen werden, das seiner Gel( ToO d³ pokitijoO dija¸ou t¹ l³m vusijºm esti t¹ d³ molijºm (NE V 10, 1134b 18 f.). Vgl. 1134b 23; das Beispiel im Text ist die Einführung von Opfern für einen gefallenen spartanischen General, Brasidas. 7 In diesem Sinne wird das Thema Geld im Kontext des Gerechtigkeitstraktats in NE V, 8 erörtert. Das Geld schafft als austauschbarer Repräsentant von Bedürfnissen (rp²kkacla t/r wqe¸ar, 1133a 29) überhaupt erst die Vergleichbarkeit von Bedürfnissen bzw. ihrer Befriedigungen (vgl. 1133a 31 f.). In der „Politik“ (I, 9) betrachtet Aristoteles dagegen mehr den pragmatischen Aspekt, dass das Geld den Warenhandel auch über größere Entfernungen hinweg ermöglicht; erst dadurch wird es selbst Gegenstand des Erwerbsstrebens und Grundlage einer nicht eigentlich nur bedarfsdeckenden, sondern „unnatürlichen“ Form der Chrematistik (vgl. dazu Natali, „Aristote et la chrématistique“, in: Patzig (Hrsg.), Aristoteles’ „Politik“. Akten des XI. Symposium Aristotelicum, 1990, 297 – 324, insb. 312 ff.). 5

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tung wie seinem Inhalt nach – also etwa in Beziehung auf die Norm, dass Leistung und Gegenleistung einander entsprechen sollen – nicht erst auf die Zustimmung einzelner Handelnder angewiesen ist. Zustimmungs- und entscheidungsabhängig ist dagegen die Frage, ob man Tauschgerechtigkeit z. B. durch die Einführung von Metallgeld herstellen soll, ob es eine staatliche Münzausgabe und -kontrolle, eine Marktaufsicht usw. geben soll, was alles die gesetzesrechtliche Form der Umsetzung des Gerechtigkeitsimperativs betrifft, auf den sich die Institution des Geldes zuletzt zurückführt.8 Über die konkreten Mittel, die der Gesetzgeber wählt, entscheidet dabei alleine seine vqºmgsir, die Klugheit, nicht das Naturrecht, das hier nur das grundsätzlich zu erreichende Ziel – eben die Ermöglichung von Reziprozität im Tausch oder die Tauschgerechtigkeit – definiert, im Übrigen aber mit einer großen Variationsbreite in der Mittelwahl und insofern der Zielrealisierungsweisen vereinbar ist. In Beziehung auf das Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht treffen wir so in jedem Fall mehr als eine nur äußerliche Vereinigungsthese an. Was Aristoteles präsentiert, ist vielmehr eine den Rechtsbegriff selbst betreffende, funktionale Komplementaritätsthese, mit der die Frage nach dem Rechtsursprung nunmehr mit Verweis auf zwei heterogene, dennoch aber auf einander verweisende Ebenen beantwortet wird: der Setzung des bestimmten Rechts liegt nach diesem Modell immer eine grundsätzliche Zielfokussierung voraus, die nicht dem Belieben des Gesetzgebers untersteht. Die Ziele ergeben sich dabei aus in sich evidenten Prinzipien wie dem Prinzip der( Tauschgerechtigkeit, aber auch überhaupt aus dem Gemeinschaftsethos bzw. der aqet¶ der Polis, aus dem politisch Guten und im Zusammenhang damit aus dem allen Handeln zugrundeliegenden Impuls auf Erreichung einer in sich selbst gegründeten Eudämonie. Die Mittel zur Erreichung dieser Ziele dagegen unterliegen der klugen Wahl; über sie entscheidet nach eigener Einsicht der Gesetzgeber. Unser Zwischenergebnis lautet an dieser Stelle: in der aristotelischen Version einer ontologischen bzw. ontologisch-axiologischen Rechtsätiologie zeigt sich die Perspektive einer (entelechialen) Fundierung des Rechts im Guten, die sich näher als eine teleologisch vermittelte Komplementarität von grundsätzlich nicht zustimmungsabhängigen Zielen auf der einen Seite und einer der Deliberation unterliegenden Mittelwahl auf der anderen Seite darstellt. Auch wenn so der Normativitätsgrund (die Zielgewissheit) und der Bestimmtheitsgrund des Rechts (die institutionalisierten Mittel der Zielerreichung) unterschieden sind, ist doch zugleich sichergestellt, dass, anders als in der Sophistik, das Gesetzesrecht nicht eigentlich als beliebig oder kontingent angesehen werden kann: der Bestimmtheitsgrund ist dem Normativitätsgrund untergeordnet und gleichsam rechenschaftspflichtig. Wollte man den aristotelischen Standpunkt rechtsgeschichtlich weiterdenken, so müsste man sagen, dass es nicht eigentlich eine Geschichte unterschiedlicher Zielsetzungen des Rechts geben kann, da diese Ziele zuletzt immer in zustimmungsunabhängigen Gewissheiten bezüglich des Gerechten und in sich Gesetzmäßigen liegen; Rechtsgeschichte ist viel8 Vgl. NE V, 8, 1133a 29 ff., wo darauf hingewiesen wird, dass bereits die Etymologie des Wortes mºlisla anzeigt, dass das Geld erst „in Geltung gesetzt“ werden muss und nicht von Natur aus da ist.

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mehr allenfalls eine Geschichte der Wahl unterschiedlicher Mittel zur Erreichung dieser Ziele, während eine Geschichte grundsätzlich beliebiger Zielwahlen in letzter Instanz eine Unrechtsgeschichte sein müsste.

III. Die eleutheriologische Fassung des Rechts im Anschluss an Kant und seine Fundierung im vernünftigen Selbstbewusstsein Die aristotelische Rechtsätiologie und ihr Rückgriff auf eine auch das Recht tragende Konzeption des Guten bricht sich historisch nach dem Auftreten von Alternativen, die schon mit den machttheoretischen und auch utilitaristischen Alternativen der frühen Neuzeit entfaltet worden waren, endgültig an Kant, bei dem wir die erste konsequente Ätiologie des Rechts aus dem Freiheitsbegriff bzw. die eleutheriologische Rechtskonzeption antreffen. Das unmittelbare Gegenüber, von dem Kant sich dabei absetzt, ist die Rechtslehre Wolffs und seiner Schule, die auf eine immer noch ontologisch verankerte Vollkommenheitslehre gegründet war; aus dieser Ontologie gewannen die Wolffianer Naturrechtsnormen im Sinne von der Vervollkommnung dienenden „Obligationen“ des einzelnen wie der Gemeinschaft.9 Wir rekapitulieren an dieser Stelle wieder nur kurz, worin Kants „Revolutionierung“ auch dieser Denkart bestanden hat. 1. Mit Kant und seinem Abschied von Wolff, der am konzisesten in der HufelandRezension von 1786 ausgesprochen ist, taucht philosophiegeschichtlich erstmalig die Option auf, das Recht ohne Rekurs auf eine wie auch immer beschaffene Ontologie rein aus der Perspektive praktischer Vernunft, und zwar einer praktischen Vernunft a priori, zu begründen. In der Perspektive, um die es hier geht, fragt die praktische Vernunft nach der Bedingung der Möglichkeit ihrer Selbsterhaltung und dabei an erster Stelle nach der Bedingung der Möglichkeit der Erhaltung ihrer Handlungsfreiheit als Vernunft. Ein im Vergleich zur Tradition entschieden kritisches Moment kann dabei schon darin gesehen werden, dass es nach Kant keines vorgängigen Konsenses über ein Gutes mehr bedarf, um eine Rechtsordnung begründen und etablieren zu können. Kants „Primat des Praktischen“ äußert sich insoweit auch als strikte Autonomie der transzendentalphilosophisch begründeten normativen Sphäre, die keinerlei Hypotheken aus der theoretischen Philosophie mitschleppt. Dem entspricht freilich bei Kant gesamtsystematisch die These, dass ein ontologisch anzusetzendes Bonum am Ende überhaupt nur ein Unbegriff sein kann. „Bonität“ ist bei Kant ein Modus menschlicher Willensbestimmung, nicht eine der Willensbestimmung äußerlich vorgegebene Instanz. 2. Mit seinem Abschied von einem metaphysisch geprägten Naturrechtsdenken geht es Kant gerade nicht um ein Rechtsdenken, das sich nunmehr rein empirisch – z. B. rechtshistorisch oder institutionengeschichtlich – verstünde, wie auch Kants praktisch-philosophischer Rekurs auf die Form der Willensbestimmung in kei9

Vgl. dazu Hoffmann, ARSP 87 (2001), 449 – 467.

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ner Hinsicht als neue Version eines rechtsphilosophischen Voluntarismus nach Art der Sophistik oder des theologischen Nominalismus verstanden werden kann; dies gilt übrigens auch dann, wenn man Kants Inspirationen durch Rousseau in seiner vorkritischen Phase in Rechnung stellt und durchaus sagen kann, dass der Gesamthorizont der Kantischen praktischen Philosophie im Sinne der Frage nach der Realisierung einer volonté générale zu verstehen ist – freilich so, dass der allgemeine Wille bei Kant kein empirisch unmittelbar instantiierbarer, sondern ein rein rationaler Wille ist und daher zunächst nur das Selbstverhältnis reiner praktischer Vernunft in ihrer Selbstaffirmativität betrifft. In diesem Sinne ist bei Kant der Begriff des Rechts als solcher ausdrücklich10 ein Begriff a priori: er ist genauer ein Begriff, der eine empirisch gerade nicht vermittelbare Synthesis zwischen einer überempirischen (intelligiblen) und einer empirischen (phänomenalen) Ebene enthält und zur Darstellung bringt. Man kann dies nicht zuletzt an dem bei Kant hierfür exemplarischen Rechtsbegriff des Eigentums dartun: enthält dieser Begriff doch die Forderung, ein konkretes empirisches Objekt nicht einfach als ein empirisches Objekt, sondern als überempirisch determiniert, d. h. als eine Schranke für den Freiheitsgebrauch anzusehen, der immer eine Darstellung des eigenen Selbstverhältnisses ist. Wenn in diesem Sinne der Rechtsbegriff des Eigentums dazu auffordert, angesichts eines empirischen Gegenstandes ein reflexives Selbstverhältnis zu aktualisieren, das für den Nichteigentümer wesentlich in einer Selbstbindung bezüglich der eigenen Handlungswahl besteht, dann liegt darin auch sogleich ein Beispiel für das, was bei Kant der Begriff „Kausalität aus Freiheit“ bedeutet: denn während dieser empirische Gegenstand – sagen wir: dieses mein Grundstück – im Wege der Naturkausalität Unkraut sprießen und Maulwürfe ansässig werden lässt, hindert derselbe Gegenstand im Wege seiner rechtlich vermittelten Bestimmung eben als mein Eigentum im Wege einer Kausalität aus Freiheit auch zugleich Freiheitswesen daran, auf ihm Getreide anzubauen oder ihrerseits ansässig zu werden. Es ist hier weder der empirische Gegenstand mit seinen dinglichen Eigenschaften als solcher noch auch mein zunächst nur kontingenter Wille, diesen Gegenstand ausschließlich zu besitzen, was die Rechtswirklichkeit konstituiert. Die Rechtswirklichkeit gründet vielmehr in einer weder objektiv noch voluntaristisch-kontingent vermittelten Synthesis meiner Freiheit mit diesem Objekt; sie gründet in einer durch praktische Vernunft geleiteten Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit eines auch empirischen Freiheitsgebrauchs überhaupt und ist insofern praktischer Vernunft auch einsichtig. Fichte wird in etwa zeitgleich mit Kant prägnant herausarbeiten, dass das Recht in diesem Sinne ein im Interesse praktischer Selbsterhaltung der Vernunft als Vernunft zu haben notwendiger Gedanken ist, womit zugleich auf die Normativität dieses Gedankens wie

10 So schon in der KdrV A 728/B 756. Zum Thema der Kantischen „Rechtssynthesis“ vgl. Hoffmann, in: Hogrebe (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie 23.–27. September 2002 in Bonn, 2002, 63 – 72.

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auf die Tatsache seiner Zugänglichkeit für ein rationales praktisches Selbstbewusstsein hingewiesen ist.11 3. Was Kant entwickelt, kann man – auch im Kontrast zur frühneuzeitlichen Naturrechtstradition – den Gedanken eines transzendentalphilosophisch restituierten Vernunftrechts nennen, das die Vernunft nicht einfach als „gegeben“, sondern als sich selbst gebend, sich selbst tätig konstituierend versteht. Der letzte Rechtsgrund ist hier das Recht der Vernunft auf ihre freie Existenz, auf ihre Existenz in Gestalt freien praktischen Daseins. Dieses Recht verfolgt keinen Zweck, der außerhalb der Selbstaffirmation der praktischen Vernunft läge, es dient nicht irgendeinem von anderer Seite definierten Nutzen, ob dieser nun ein partikularer oder ein kollektiver sei. Die spezifische Aufgabe des Rechtes im Unterschied vor allem zur Moral ist dann bei Kant die Aufgabe einer Koordination von Handlungsfreiheiten auf den Gesamtzweck der Freiheitserhaltung hin. Der Satz, dass der Gesamtzweck des Rechtes bei Kant die Selbsterhaltung praktisch wirksam werdender Vernunft, d. h. Freiheitserhaltung ist, mag dabei noch einmal deutlich machen, was es heißt, dass das Recht jetzt nicht mehr teleologisch auf ein Gutes hin ausgerichtet ist, auf das hin es sich zu transzendieren hätte. Der Empiriebezug, den das Recht dabei auf andere Weise als die Moral besitzt, besteht zunächst in dem empirisch mannigfaltigen Gebrauch, den empirische Subjekte von ihrer Freiheit machen und der auf die Idee einer sich gerade in dieser Mannigfaltigkeit der Freiheiten realisieren könnenden Freiheit überhaupt hin zu ordnen ist. In der Spannung zwischen Freiheitsidee und einzelner, immer auch durch Willkür bestimmten Freiheitsverwirklichung kehrt hier so die Komplementarität, wo nicht die Dialektik des Apriori und des Aposteriori im Rechtsbegriff wieder, die wir unter anderen Vorzeichen bei Aristoteles bereits angetroffen und teleologisch aufgelöst gefunden haben. Nach Kant liegt die Auflösung in der dem Recht aufgegebenen Schaffung der Realmöglichkeit einer Selbsterhaltung der Freiheit gerade in der Konstituierung einer Sphäre der Mannigfaltigkeit möglichen Freiheitsgebrauchs. Schauen wir uns nach diesen grundsätzlichen Erinnerungen nun noch etwas näher die Synthese an, die das Recht nach Kant zwischen der Freiheitsidee überhaupt und den empirisch mannigfachen Realisierungen der Freiheit stiftet! Dass Freiheit nach Kant überhaupt auf ihre äußere Realisierung drängt und trotz der scheinbaren Aporie, auf die die dritte Antinomie der reinen Vernunft hier zu führen scheint, nicht bloß in innerer Selbstgewissheit aufgeht, die den Weltlauf betrachtet, aber jede Verwicklung in ihn vermeidet, ergibt sich unter anderem aus einer zentralen Stelle der Kritik der Urteilskraft, an der es heißt, dass „unter den drei reinen Vernunftideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ die Idee der Freiheit „die einzige“ ist, die ihre „objektive Rea11 Die „Deduktion des Begriffs vom Rechte“ in den ersten vier Paragraphen von Fichtes „Grundlage des Naturrechts“ von 1796 mündet in das Ergebnis: „dass der Rechtsbegriff im Wesen der Vernunft liege, und dass kein endliches vernünftiges Wesen möglich sei, in welchem derselbe nicht – keineswegs zufolge der Erfahrung, des Unterrichts, willkürlicher Anordnungen unter den Menschen, usf. sondern zufolge seiner vernünftigen Natur, vorkomme“ (GA I/3, 358).

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lität“ an ihr selbst „beweiset“12 – man kann, was dies nicht zuletzt auch heißt, nicht Freiheit denken, ohne sich selbst schon als frei zu verstehen, d. h. ohne der Idee der Freiheit unmittelbar auch praktische Realität zu geben. In diesem Sinne setzen alle Rechtsbegriffe ein Vorverständnis real wirksamer Freiheit voraus: Wir wissen, was es heißt, mit jemandem einen Vertrag zu schließen – nämlich eine wechselseitige Selbstdetermination im Freiheitsgebrauch vorzunehmen, die bestimmte Handlungen begründen kann, andere aber ausschließt. Wir wissen ebenso, was es heißt, in einen öffentlich-rechtlichen Zustand zu treten, nämlich unter anderem dies, einem Dritten eine determinierende (zwangsbewehrte) Macht in Beziehung auf unser Handeln einzuräumen, sofern unser Handeln sich als nicht rechtskonform erweist. Alles dies zu wissen, ist Inhalt unseres praktischen reflexiven Selbstbewusstseins, zu dessen Inhalt der Begriff einer in Handlungen wirksamen Freiheit gehört. Die spezifische Aufgabe des Rechts ist es dann, eben die in Handlungen wirksam werdende Freiheit im Sinne einer allgemeinen Freiheitserhaltung äußerlich zu bestimmen. Im Unterschied zu einer im Begriff des Guten verankerten Rechtslehre geschieht dies nur nicht durch eine Kritik der Zwecke der Handelnden, sondern durch eine Regulierung ihres Mittelgebrauchs im Hinblick auf den einen Zweck, dass (maximaler) Freiheitsgebrauch überhaupt möglich sein soll. In dieser Hinsicht konvergieren dann auch der Kantische und der klassische „liberale“ Ansatz, der ebenfalls dem Recht keine eigentliche „Zweckkritik“ in Beziehung auf Handlungen zugesteht, sondern nur eine Kritik der Mittel, die zum Maßstab wiederum nur die Freiheitserhaltung hat.13 So ist zum Beispiel der Zweck, meinen äußeren Wohlstand zu mehren, vom Rechtsbegriff her so wenig problematisch, wie es der gleiche Zweck meines Nachbarn ist oder wie es mein entgegengesetzter Zweck wäre, meinen Wohlstand zu mindern; wohl aber würde der Bankraub als Mittel, diesen Zweck zu erreichen, in rechtlicher Hinsicht problematisch erscheinen, und dasselbe würde für eine gewollte Minderung meiner Mittel gelten, wenn diese es mir nicht mehr gestattete, eingegangenen Verpflichtungen nachzukommen. In dem gleichen Sinne wäre auch der Zweck, die Verfassung des Staates, in dem ich lebe, zu ändern, per se kein Unrecht; unrechtmäßig kann auch hier nur der Mittelgebrauch, insbesondere der Rückgriff auf Gewalt sein, während der Gebrauch von Mitteln, deren freien Gebrauch die Verfassung selbst vorsieht, es nicht wäre. Die Tatsache, dass sich die Legalitätsfrage so eigentlich immer nur im Blick auf den Mittelgebrauch stellt, ist dabei für unseren Zusammenhang in zweifacher Hinsicht wichtig. Die erste Hinsicht betrifft den Aspekt, dass das Recht nur auf die empirisch auftretende Handlung, nicht auf die vermutete oder auch erklärte Willensmeinung der Person achtet. Die zweite Hinsicht dagegen betrifft den Aspekt, dass das 12

Kant, KdU AA V, 474; vgl. 468. Ein Unterschied zwischen transzendentalphilosophischem und liberalem Ansatz besteht dann freilich unmittelbar darin, dass der erstere – etwa bei Kant – die Moral zentral von einer Zweckkritik a priori her organisiert, während der Liberalismus in der Regel mit einer empirisch verfahrenden utilitaristischen oder auch hedonistischen Zweckreflexion und Moral vereinbar ist. 13

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Recht mit der Fokussierung des Mittels auf jene Instanz bezogen ist, in der Zwecksetzungen überhaupt aufeinanderprallen können, so dass hier Freiheiten zu koordinieren sind. Das Mittel als Mittel ist grundsätzlich für verschiedenste, ja entgegengesetzteste Zwecke brauchbar, so dass sich gerade in Beziehung auf den Mittelgebrauch die Frage der Kompatibilität oder Nichtkompatibilität von äußeren Handlungen stellt – insbesondere insofern, als hierbei die eine Zwecksetzung die andere vereiteln, Personen sich also durch ihren Freiheitsgebrauch in demselben gegenseitig beeinträchtigen, mittelbar also in ihrer Personalität treffen können. Die fundamentale Aufgabe des Rechts wird hier evident: es hat freiheitserhaltend zu wirken, indem es den Mittelgebrauch dahin reguliert, dass Freiheit sich durch dessen Mannigfaltigkeit überhaupt darstellen und auch als empirisch-konkret werdende Freiheit mit anderer Freiheit koexistieren kann. Die Rechtsordnung ist entsprechend nach Kant eine Ordnung der Koordination von Freiheiten, die ihren unmittelbaren Zweck auch in dieser Koordinierung erschöpft, nicht aber auf eine unmittelbar materiale Bestimmung des Freiheitsgebrauchs zielt. Wir vergegenwärtigen uns an dieser Stelle, was der Begriff einer Koordinationsordnung der Freiheiten bei Kant impliziert und wovon er sich abhebt: 1. „Koordination“ schließt zunächst Subsumtion des einen unter den anderen Freiheitsgebrauch aus. Es kann dem Recht nicht darum gehen, den einen konkreten Freiheitsgebrauch materialiter durch den anderen zu determinieren, sondern nur darum, eine beidseitige Selbstdetermination im Sinne der Achtung der fremden Freiheit zu realisieren. Das Recht „proklamiert“ insofern gleichsam mit der Etablierung der juridischen Koordinationsordnung das, was man die Gleichursprünglichkeit der Freiheiten nennen kann; es setzt die Pluralität der Subjektivitäten ausdrücklich voraus und setzt sie in ihre Befugnis ein, jeweils für sich Sachwalterin der Freiheit zu sein, die alle auch verbindet. Dass Fichte und Hegel das, was wir hier als „Koordination“ bestimmen, über den Begriff der Anerkennung weiterentwickeln konnten, liegt in der Logik der Sache. 2. Wesentlich unterschieden ist der Begriff des Rechts als einer Koordinationsordnung der Freiheit sodann von einem Begriff des Rechts als einer (notwendig immer obrigkeitsstaatlichen) Distributionsordnung der Freiheit oder der Freiheiten, der heute noch keineswegs überwunden, sondern eher wieder auf dem Vormarsch ist. Worum geht es bei dieser Unterscheidung? Man mag hier zunächst daran denken, dass man – wenn auch nicht auf Kantischem Boden – im Gegenzug zu der These, dass das Recht seinen Ursprung in der Freiheit hat, auch sagen kann (und gesagt hat), dass vielmehr umgekehrt alle Freiheit ihren Ursprung in einem dann in der Regel empirisch-faktisch und vor allem machttheoretisch verstandenen „Recht“ hat. Die Freiheiten, die die englische Magna Charta gewährte, waren Freiheiten, die in Berechtigungen bestehen und solange in Geltung bleiben, als die Berechtigungen faktisch in Geltung standen. Wenn nach Hobbes „Freiheit“ die Abwesenheit von äußerem Zwang meint,14 dann reicht auch bei ihm Freiheit jeweils nur soweit, als der 14

Vgl. Hobbes (Fn. 3), II, c. 21.

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einzelne über einen Rechtstitel verfügt, von Dritten nicht gezwungen zu werden. Kein Geringerer als Georg Simmel hat in seiner „Einleitung in die Moralwissenschaft“ zu zeigen versucht, dass genauer besehen nicht das Vorliegen von Freiheit unsere Verantwortlichkeit begründe, sondern umgekehrt Freiheit dort angenommen werden könne, wo man erfolgreich jemanden zur Verantwortung ziehen könne; es sind nach Simmel in diesem Sinne konkrete Rechtspraxen, die am Ende dazu führen, dass wir uns in letzter und abgeleiteter Instanz auch so etwas wie „transzendentale“ Freiheit zuschreiben.15 Man kann gegen das Simmelsche Argument mehrere Einwände erheben, u. a. bereits denjenigen, dass hier nur allzu rasch die ratio cognoscendi mit der ratio essendi kurzgeschlossen wird: dasjenige, woran wir Freiheit aber erkennen (z. B. daran, dass jemand bereit ist, Verantwortung zu übernehmen), ist keineswegs zwingend mit ihrem Realgrund (dem personalen Selbstverhältnis, das wir als Freiheit verstehen) identisch. Von noch einmal größerer praktischer Bedeutung ist dann aber, was mit der Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Recht nach dem Modell einer Distributionsordnung mitgesetzt ist – einem Modell also, das z. B. mit Verweis auf Rawls „liberal“ genannt werden kann, dabei aber nicht zuletzt auch wegen seiner Zentrierung im Problem der distributiven Gerechtigkeit mit Kants streng eleutheriologischer Rechtsbegründung nicht vereinbar ist.16 Zunächst: wenn Freiheiten, Ansprüche, Güter, Chancen etc. durch das Recht bzw. die Rechtsordnung erst distribuiert werden, dann liegt hier ersichtlich eine fundamentale Asymmetrie zwischen denjenigen, die die Rechte und Ansprüche, Güter und Chancen (aktiv) „gewähren“, und denjenigen, die dies alles (passiv) nur empfangen, vor. Es existiert ein Gefälle zwischen den Herren des Verfahrens und den von ihnen mit Rechtsgütern Ausgestatteten, die möglicherweise nicht ohne weiteres verstehen, dass unter Umständen die „Gewährung“ von Ansprüchen und Freiheiten das Gegenteil von „Anerkennung“ als frei meinen kann. Man kann den Punkt, um den es hier geht, bis in die Grammatiken von Rechtstexten hinein verfolgen, wofür wir hier nur auf ein einziges Beispiel verweisen möchten. In der Paulskirchenverfassung von 1849 finden wir in Artikel VI, § 152 den ebenso schönen wie in der Sache für alles Leben im Zeichen der Wahrheit wichtigen Satz: „Die Wissenschaft und Lehre ist frei“. In diesem Satz wird mehr gesagt, als dass „die Wissenschaft und ihre Lehre“ nur frei sein sollen; mit dem Gebrauch des „normativen Ists“ wird vielmehr anerkannt, dass die genuin humane Tätigkeit der Wissenschaft samt ihrer Lehre Freiheitsausdruck und ihrer Natur nach frei sind, d. h. eine Grenze setzen, an der der Staat prinzipiell Halt zu machen und sich zurückzunehmen hat. In der Grundrechte-Charta dagegen, welche die EU im Jahre 2000 verabschiedet hat, lesen wir in Art. 13 zu der gleichen Materie etwas bereits der Rechtsgrammatik nach anderes. Hier heißt es: „Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet“ – oder 15 Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. Zweiter Band, 1991, 130 – 150. 16 Man kann das Fehlen eines eigentlichen Gerechtigkeitsdiskurses in der Rechtslehre Kants auch als Ausdruck der Einsicht verstehen, dass es im Sinne Platons am Ende eben doch keinen Begriff des Gerechten gibt, der nicht schon einen Begriff des Guten voraussetzte.

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noch deutlicher in der englischen Fassung: „The arts and scientific research shall be free of constraint. Academic freedom shall be respected“. Uns interessiert jetzt nicht die Frage, warum in diesem Artikel nur mehr die Forschung als eigentlich frei vorkommt und die akademische Lehre keine ausdrückliche Erwähnung mehr findet – ein Schelm, wer etwa an die Freiheit der Forschung in privaten Laboratorien, etwa der Pharmakonzerne, bei gleichzeitig regulierter Lehre an den öffentlichen Universitäten dächte! Wir stellen nur fest, dass zwar der erste Satz dieses Artikels eben die Freiheit von „Kunst und Forschung“ konstatiert und explizit anerkennt, der zweite Satz aber, in dem es dann um die Wissenschaften und ihre Lehre an den Universitäten geht, ganz anders gebaut ist. Dieser Satz enthält nämlich keine Anerkennung des akademischen Lebens als solchen in seiner Freiheit, sondern nur eine Willenserklärung des Verfassungsgebers, der hier bestimmte Unterlassungen in Aussicht stellt. Der Satz „Die akademische Freiheit wird geachtet“ gewährt und „distribuiert“ Freiheiten, er koordiniert sie nicht. Die Freiheit ist hier nicht als das, was als gelebte und lebendige Freiheit immer schon da ist, vorausgesetzt, sondern sie erscheint als etwas, das seitens der Macht erst eingeräumt und portioniert gewährt werden muss. Sie erscheint mithin als ein Gut, dass der Distribution durch rechtlich-politische Instanzen unterliegt. Aus rechtsphilosophischer Sicht ist ein Hauptproblem dabei, dass dem Distributionsmodell die innere Normativität fehlt, die dem Koordinations- oder Anerkennungsmodell unmittelbar inhäriert: während Anerkennungsakte nämlich in sich lebendige Freiheitsvollzüge sind, die unmittelbar eine Gemeinschaft der Freien konstituieren, sind Distributionsakte nur faktische, z. B. nutzengeleitete Handlungen, die als solche noch keine Gemeinschaft konstituieren und die eine Asymmetrie zwischen Freiheitsgewährern und Freiheitsempfängern sogar auf Dauer stellen. Es ist eines der großen Dilemmata unserer Zeit, dass die de facto immer entmündigenden Implikationen des Distributionsmodells wenig durchschaut werden, ja zugleich eine problematische Bereitschaft dafür gegeben zu sein scheint, sich eher „fürsorglich“ mit „Freiheiten“ und sonstigen „Gütern“ ausstatten zu lassen als sich – im Sinne Kants – selbsttätig als Mitursprung von Freiheitskoordination zu verstehen und darin anerkannt sein zu wollen. Dass man unter solchen Voraussetzungen das Recht dann nicht mehr aus dem Selbstbewusstsein der Freiheit ableiten kann, sondern auf andere „Modelle“ zurückgreifen muss – nicht zuletzt eben auf Modelle von Verteilungsgerechtigkeit –, kann man bei Rawls nachlesen. Dass Rawls dabei als „Liberaler“ gilt und gelten kann, leitet zu unserem abschließenden Punkt über.

IV. Freiheitskoordination statt Freiheitsdistribution und das Problem des Liberalismus In der Diskussion um den Kantischen Rechtsbegriff ist – spätestens seit Wilhelm von Humboldts hier einschlägiger Bezugnahme auf Kant17 – immer wieder die Frage 17

von Humboldt, in: Gesammelte Schriften I, 1968, 97 – 254.

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aufgetaucht, ob oder inwieweit man Kants Ansatz „liberal“ nennen kann oder davon eher absehen sollte. Für eine solche Benennung könnte prima facie die bereits herausgestellte Tatsache sprechen, dass Kant das Recht eben im Freiheitsbegriff verankert und die Rechtsordnung als Ordnung eines lebendigen Freiheitsgebrauchs im Rahmen der Verwirklichung des Freiheitsrechts als des nach Kant einen Menschenrechts versteht. Auf der anderen Seite haben Kritiker wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass Kant offenbar auch in der Rechtsphilosophie den Freiheitsbegriff nicht in jeder Hinsicht nur negativ versteht, wie dies der klassische Liberalismus tut, sondern einen positiven Freiheitsbegriff vertritt, der es dann etwa erlaubt, auch die Rechtsinstitutionen vom Eigentum bis zum Staat als Objektivationen von Freiheit und nicht nur als Instrumente des Freiheitsgebrauchs anzusehen. Wo verläuft hier die Grenzlinie zwischen transzendentalphilosophischer Eleutheriologie und Liberalismus? Mit dem Begriff des Liberalismus, der lexikalisch nicht vor der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftaucht, ist, wie man bei diesem Auftreten sogleich beobachten kann, der Bezug auf die Freiheit nicht mehr ein rein philosophischer; Freiheit ist hier vielmehr zur Weltanschauung geworden und in den Kampf mit anderen Weltanschauungen eingetreten. Als Ahnherr des sich politisch etablierenden Liberalismus gilt dabei der aus Lausanne gebürtige und in Paris verstorbene Benjamin Constant (1767 – 1830), den man im deutschsprachigen Bereich vor allem als Kritiker des angeblichen Rigorismus der Kantischen Moralphilosophie kennt und der in Frankreich als Schriftsteller und Publizist, aber auch als Politiker hervorgetreten ist; 1819 hielt er z. B. die für unsere Frage nicht uninteressante Rede „De la liberté des Anciens comparée à celle des Modernes“. Constant erfüllt dabei grundsätzlich, was 150 Jahre später Milton Friedman als Profil des Liberalen des 19. Jahrhunderts wie folgt zusammengefasst hat: der Liberale „wacht eifersüchtig über der Freiheit“ und fürchtet die zentralisierten Gewalten, sei es in staatlicher oder privater Hand; er kämpft für parlamentarische Institutionen, für eine repräsentative Volksvertretung, für Menschenrechte und anderes dieser Art.18 Friedman stellt dabei freilich fest, dass sich der Sinn des Wortes „Liberalismus“ seither verschoben hat. Zunächst im nordamerikanischen Kontext des 20. Jahrhunderts, inzwischen aber auch sonst weithin sind „die Liberalen“ Staatsgläubige und Zentralisierer (geworden), die der Meinung sind, dass „die Staatsgewalt“ „besser im Staat als in der Stadt“, besser bei einer „Bundesregierung als im Land“, besser „bei einer Welt-Organisation (…) als bei einer nationalen Regierung“ aufgehoben sei.19 Friedman erkennt in dieser Verschiebung eine klare „Korrumpierung“ des Wortes „Liberalismus“, die aus der „Doktrin, (…) die zu einem freien Menschen gehört“,20 das gerade Gegenteil macht, d. h. aus dem liberalen Individualismus einen Kollektivismus, aus dem Kapitalismus einen Sozialismus, aus einem Staat, der die Freiheit des einzelnen soweit irgend möglich schützt, 18

Vgl. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, 11. Aufl. 2016, 28 f. Friedman (Fn. 18), 29. 20 Friedman (Fn. 18), 29.

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ein Orwellsches Monstrum werden lässt, das im vorgeschützten Interesse des Ganzen auch noch die Gedankenpolizei einführt. Beziehen wir den damit berührten Streit der Weltanschauungen auf die uns hier beschäftigenden Überlegungen zurück, so kann man Folgendes festhalten: 1. Kant teilt mit dem Liberalismus, den man seinen programmatischen Gehalten nach bekanntlich auch vor Constant, etwa bei Locke, schon ausmachen kann, die Auffassung, dass das oberste Regulativ in der Entfaltung der Rechtsordnung in dem „einen und einigen angeborenen Recht“, dem der Freiheit21, liegt. Keine, auch keine kollektiv geteilte materiale Vorstellung vom Guten, kann dieses Regulativ außer Kraft setzen und die Freiheit als Grund wie als Zielbegriff überbieten oder auch nur relativieren. 2. Anders als der Liberalismus ist Kant jedoch nicht der Auffassung, dass aus genau diesem Grunde das Recht und seine Institutionen als solche zwingend kritisch, weil potentiell freiheitsfeindlich gesehen werden müssten. Die Tendenz des Liberalismus und übrigens auch liberaler Kant-Leser wie eben Wilhelm von Humboldts, dies zu tun, resultiert daraus, dass der Liberalismus im Recht und seinen Institutionen nur Instrumente zur äußeren Sicherung des individuellen Freiheitsgebrauchs sehen kann, die als mit Macht ausgestattete Instrumente jederzeit auch in einem ganz anderen als freiheitsfreundlichen Sinne gebraucht werden können. Nach Kant hingegen ist das Recht Medium der Selbstrealisierung der Freiheit als Idee und daher nicht nur instrumentell zu verstehen: im Recht lebt die Freiheitsidee, sie bedient sich seiner nicht nur, wie die Freiheit auch im Medium der Staatlichkeit lebt und der Staat so nicht nur jene liberale Rückversicherungsanstalt ist, bei der alle Mitglieder sind, die ihre Freiheit möglichst ungestört durch andere genießen wollen. Kants freiheitliches Rechtdenken ist zumindest insoweit grundsätzlich mit dem Hegelschen Ansatz vereinbar, der Freiheit in der Polarität von Institution und Individuum, objektivem Geist und einzelner Handlung zu denken vermag. 3. Kant teilt mit dem (klassischen) Liberalismus in jedem Fall die Zurückweisung des Distributionsmodells, demzufolge es Aufgabe des Staates ist, die Freiheit in abgewogenen Portionen den Bürgern allererst „zuzuweisen“. Der Bürger ist bei Kant nicht sekundärer Empfänger, sondern ursprünglicher Inhaber der Freiheit und vom Rechtsstaat als solcher auch anzuerkennen; dem ursprünglichen Freiheitsbesitz hat der Staat materialiter nichts hinzuzufügen; seine Aufgabe besteht wie dargestellt nur darin, den Freiheitsgebrauch der einzelnen im Sinne einer maximal freiheitswahrenden, wenn nicht freiheitsmehrenden Ordnung der Dinge zu koordinieren. 4. Kant unterscheidet sich dann aber vom klassischen Liberalismus auch wieder dadurch, dass er den Willen zur Koordination, d. h. zur Anerkennung des ursprünglichen Freiheitsrechtes aller, als fortgeschriebene volonté générale versteht, d. h. als einen Willen, an dem alle einzelnen partizipieren können und sollen. Freiheit entfaltet sich bei Kant selbst in jenen qualifizierten Raum interpersonalen Handelns hinein, 21

Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, AA VI, 237.

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dessen Konstitution bei ihm mit der Etablierung der „republikanischen Verfassung“ verbunden ist. In genau diesem Sinne steht das öffentliche Recht bei Kant in der Tat über dem Privatrecht, während der klassische Liberalismus der Tendenz nach dem Privatrecht und dessen Durchsetzungsbedürfnisse zum Maßstab des öffentlichen Rechtes macht. Zwar wird man mit Kant den Weg Fichtes nicht gehen können, der vor allem im „Geschlossenen Handelsstaat“ alle zumindest ökonomischen Privatrechtsverhältnisse in öffentlich-rechtliche Verhältnisse aufzulösen bereit ist und sich damit einem Ansatz nähert, den man auch in dem nach Friedman korrumpierten Liberalismus des 20. Jahrhunderts findet; man wird aber auf der anderen Seite im Sinne der Kantischen Idee einer wahrhaft republikanischen Verfassung auch den Privatinteressen nicht den Vorrang vor den lebendigen Rechtsinteressen einräumen können. Man mag an dieser Stelle als Summe unseres Vergleichs festhalten, dass der klassische Liberalismus niemals zu einer Auffassung vom Ursprung des Rechts gelangt ist, die das Recht (ähnlich der Moral) anders als utilitaristisch zu denken und zu begründen vermocht hat. Kants Gedanke, dass die Freiheit – das freie Selbstverhältnis des Vernunftwesens in seiner freien Begegnung mit anderen Vernunftwesen – Zweck und Mittel in der Selbstverwirklichung der Rechtsidee ist, wird nicht erreicht, der eigene Ansatz am Ende der rechtspositivistischen Rekonstruktion schutzlos ausgeliefert, was, wie man sich leicht ausmalen kann, nicht zuletzt für den ursprünglich ja liberalen Menschenrechtsgedanken nicht eben hilfreich ist. Auch das Umschlagen des Liberalismus in Richtung auf einen neuen Totalitarismus kann mit dem entsprechenden Defizit in Zusammenhang gebracht werden: wenn das Recht sich nur instrumentell zur Freiheitswirklichkeit verhält, nicht deren eigenster Ausdruck ist, steht der Idee, unter Aufbietung aller Rechtsinstrumente Freiheit (oder was man dafür hält) erst in die Welt zu bringen (statt sie darin schon zu finden), auch dann nicht viel entgegen, wenn das Ergebnis der Bemühungen ganz augenscheinlich die globale Erziehungsanstalt ist. Vermieden werden könnte dies alles, wenn wir neu lernten, mit Kant die Freiheit, das vernünftige Selbstseinkönnen, als schon angeborenes Recht eines jeden zu begreifen, zu dem sich alle anderen je ins Verhältnis zu setzen haben, über das sie aber von außen weder verfügen noch verfügen wollen sollten. Mit Kant verschiebt sich insoweit der Blick weg von der „Freiheitsverwaltung“ hin zu einem Ansatz, der die Freiheitsverwirklichung in allen durch das Menschenrecht der Freiheit qualifizierten Wesen schon am Werke sieht, diese jedoch auf eine freiheitsaffine Form ihrer Selbsterhaltung im Gegenüber zu anderer Freiheit verpflichtet. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass sich Rechtsgenossen so tatsächlich niemals primär als Objekte, sondern eben als Rechts-, d. h. als Freiheitsgenossen im Blick haben und füreinander explizit Subjekte sind. Im Rechtsverhältnis sind Menschen nicht nach welchen deskriptiven Merkmalen auch immer bestimmt; sie sind an erster Stelle existierende Freiheiten, denen es, wenn sie sich recht verstehen, um ihre gemeinsame Freiheit geht. Geht es ihnen aber darum, sind sie in ihren eigenen Ursprung zurückgekehrt.

Norm und Prävention im Strafrecht Zum dreistufigen Modell der Normkonkretisierung Makoto Ida

I. Zur Einleitung Vor über 20 Jahren sprach ich von der „Verwirrung der Normentheorien“ und schrieb: „Angesichts dieses Diskussionsstandes kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man aus der Normentheorie alles Beliebige und damit nichts Entscheidendes ableiten könne.“1 Ich halte diese Feststellung nach wie vor für richtig, obwohl ich bis heute fest davon überzeugt bin, dass die normentheoretische Fundierung des Strafrechtssystems unverzichtbar ist. Die Verwirrung der Normentheorien hat, wie es mir scheint, ihren Grund darin, dass man darüber streitet, als ob es nur einen einzig richtigen Normbegriff gäbe. In diesem Beitrag, der dem Jubilar Jan C. Joerden mit herzlichen Glückwünschen zu seinem 70. Geburtstag gewidmet ist, werde ich versuchen zu zeigen, dass das nicht der Fall ist und den verschiedenen Normverständnissen ein solcher Ausschließlichkeitscharakter nicht zukommt. Die Verschiedenheit der Normkonzepte entspricht vielmehr den zu unterscheidenden multidimensionalen präventiven Aufgaben des Strafrechts, die gegeneinander keinen Ausschließlichkeitscharakter haben. Nur die so verstandene Normentheorie kann der Wirklichkeit des Wirkungsmechanismus des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes gerecht werden und wird auch die weitere wissenschaftliche Diskussion fördern können.

II. Normentheoretische Grundlagen Breiter Konsens besteht seit langem darüber, dass bei der Bildung des Unrechtsbegriffs der Lehre von den Verhaltensnormen zentrale Bedeutung zuerkannt wird. Es ist der theoretische Wesensgehalt der sog. personalen Unrechtslehre, bei der Lösung der Unrechtsprobleme die an das willentlich steuerbare Verhalten des Menschen gerichteten Normen zugrunde zu legen. Die fundamentale Notwendigkeit des Konzepts der Verhaltensnorm im Strafrecht sei hier kurz mit zwei Argumenten begründet: Das 1 Ida, in: Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften?, 2001, 137 (148).

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erste Argument betrifft den funktionalen Aspekt des Strafrechts.2 Das Strafrecht bezweckt den Rechtsgüterschutz durch die Regulierung menschlichen Verhaltens.3 Die Verhaltensregulierung geschieht vornehmlich über die sprachliche Kommunikation, über einen „Dialog zwischen Norm und Täter“.4 Erst durch die Charakterisierung und Sinnbestimmung menschlichen Verhaltens als „ungesollt“ ist es für den Menschen, der der Kommunikation durch die Sprache mächtig ist, steuerbar und dadurch wird das verbotene Verhalten für ihn vermeidbar. Das Strafrecht findet ein Netzwerk von unzähligen formellen und auch informellen Verhaltensregeln (d. h. „sozialen Normen“) vor und bildet daraus selektiv aufnehmend, modifizierend und neu schaffend die Strafrechtsnormen. Die wesentliche Aufgabe des Strafrechts liegt in der Erhaltung ihrer Geltung und damit im Schutz der (Straf-)Rechtsgüter. Ohne die Heranziehung der mit Erlass der Strafvorschriften mitgesetzten Verhaltensnormen5 lässt sich der Wirkungsmechanismus des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes sinnvollerweise nicht erklären. Es ist in der Tat zu eng, die Generalprävention ausschließlich als die Funktion der systematisch auf der Stufe des Unrechts lokalisierten Verhaltensnorm zu begreifen. Wie noch darauf hingewiesen wird (unten V.), kann man auch dort, wo das Strafrecht einer durch die Nicht-Sanktionierung des schuldhaften Normbruchs verursachten Erschütterung des Vertrauens der Allgemeinheit entgegenwirkt, eine generalpräventive Aufgabe des Strafrechts erblicken. Darin erschöpft sich andererseits die strafrechtliche Generalprävention nicht. Sie ist vielmehr multidimensional. Es ist der Wirklichkeit der strafrechtlichen Verhaltensregulierung angemessen, der generalpräventiven Funktion des Unrechtsbegriffs, insbesondere der der Verhaltensnorm, ihren verdienten Platz zu gewähren. Das zweite Argument ist ein methodologisches. Zur Beurteilung menschlichen Verhaltens als Unrecht benötigt man einen Sollenssatz als Maßstab, anhand dessen darüber entschieden werden kann, ob sich die betreffende Person rechtskonform verhalten hat. Dieser Sollenssatz lässt sich nicht einfach durch die Umschreibung des tatbestandlichen Teils der jeweiligen Strafvorschrift gewinnen. Das Strafgesetz richtet sich vorerst an den Rechtsanwender. Um zu einem an den Täter gerichteten konkreten Sollenssatz zu gelangen, bedarf es der Auslegung und auch gegebenenfalls der Ergänzung des Gesetzes. Dabei muss der Interpret, z. B. der Richter, auch jene Gesichtspunkte heranziehen, die nicht gesetzesimmanent sind, sondern über das Gesetz hinausgehen. Solche Gesichtspunkte kann neben der Axiologie6 die auf dem ontolo2

Vgl. Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, 76 f. Das „Strafrecht als Mittel der Verhaltensbeeinflussung im Dienste des Rechtsgüterschutzes“ zählt zu den „Basis-Dogmen“ der Strafrechtsdogmatik; vgl. Hoyer, Strafrechtsdogmatik nach Armin Kaufmann, 1997, 11 ff. 4 Jakobs, ZStW 1989, 516 (531). 5 Vgl. Schünemann, JA 1975, 435 (438). 6 Die früher oft beobachtete Neigung, den Aussagen im axiologischen Bereich keine Wissenschaftlichkeit anerkennen zu wollen, kann nicht mehr als sachgerecht angesehen werden; vgl. hierzu Ida, FS Sieber, 2021, 57 (66 f.). 3

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gischen Befund basierende Normlogik liefern. Eine normlogische Fundierung des Unrechtsbegriffs ist deshalb unentbehrlich, weil erst mit der Heranziehung der Normentheorie klargestellt wird, dass das menschliche Verhalten, eingebettet im sozialen Umfeld, den Gegenstand des strafrechtlichen Unrechtsurteils darstellt, so dass man stets bedenken muss, was und in welchem Umfang das Recht mit seiner Verhaltensanweisung vom in der Gesellschaft lebenden Bürger fordern darf. Das gilt insbesondere für die Fahrlässigkeitsdelikte: Durch die Vermeidbarkeitsprüfung und die dabei vorausgesetzte ex-ante-Betrachtung kann eine zu weit gehende Zurechnung vermieden werden.

III. Zwei Arten bzw. „Stufen“ von Verhaltensnormen 1. Während die Unentbehrlichkeit der Verhaltensnorm eine breite Anerkennung findet, ist man darüber geteilter Ansicht, wie die Verhaltensnorm inhaltlich aussehen soll. Nach einer weit verbreiteten Auffassung7 gibt es für Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte, soweit es sich um eine Rechtsgutsverletzung gleicher Art handelt, nur eine identische Norm: Vorsatz und Fahrlässigkeit gehören nicht zum Inhalt der Norm, weil sie die von den Normelementen zu unterscheidenden Strafbarkeitsmerkmale8 darstellen oder als die Bedingungen der Möglichkeit, die Norm zu befolgen9, auf anderer Ebene lokalisiert werden. Bei der Formulierung des Norminhalts soll daher die Frage von Vorsatz oder Fahrlässigkeit außer Betracht bleiben; es existieren keine selbstständigen Sondernormen für die Fahrlässigkeitsdelikte. Die Norm lautet danach bei der vorsätzlichen wie der fahrlässigen Tötung z. B.: „Kein Mensch soll einen anderen töten“. Kennzeichnend für diese Normkonzeption ist weiterhin, dass sich die Verhaltensnorm, die dem Verletzungsdelikt zugrunde liegt, d. h. ein Verletzungsverbot, nicht ex ante, sondern stets nur ex post feststellen lässt: Von der Normwidrigkeit soll erst dann gesprochen werden, wenn die Rechtsgutsverletzung tatsächlich eingetreten ist.10 Die Vorteile dieses Normverständnisses sind unverkennbar. Die meisten Anhänger dieser Meinungsrichtung wollen durch die Gleichsetzung von normwidrigem und tatbestandsmäßigem Verhalten11 jene Gefahren vermeiden, die dann auftreten, 7

Hierzu zähle ich, obgleich die Meinungen in Details voneinander abweichen, Gössel, in: Maurach/Gössel/Zipf (Hrsg.), Strafrecht, AT, Teilband 2, 8. Aufl. 2014, 2 ff., 182 ff., 208 ff.; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, insb. 16 ff., 40 Fn. 25, 53 ff., 77 ff.; Rostalski, GA 2016, 73 (82 ff.); Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992, 16 ff.; Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, 27 ff., 41 ff., 49 ff., 74 ff. 8 Vgl. Gössel (Fn. 7), 5, 182 f. 9 Kindhäuser (Fn. 7), 40 Fn. 25, 81, 99 Fn. 13, 148; Toepel (Fn. 7), 23 ff.; Vogel (Fn. 7), 41 f., 71, 74 ff. 10 Gössel (Fn. 7), 4. 11 Die Verhaltensnorm sei ein „kontradiktorisch umschriebener Deliktstatbestand“; Kindhäuser (Fn. 7), 29, 53 f.

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wenn man das strafrechtliche Unrecht mit der Verletzung einer vom Strafgesetz losgelösten und nicht als strafrechtsspezifisch gedachten Verhaltensnorm begründet.12 Die Auffassung von Binding, dass die Normen, dagegen nicht die Strafgesetze, die Bürger als Normadressaten hätten, wäre mit dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) kaum vereinbar, wenn die Existenz und der Inhalt der maßgeblichen Verhaltensnorm nicht der konkreten Tatbestandsumschreibung des positiven Strafrechts entnommen würden; dieser Normtheoretiker war nur konsequent, als er dem Gesetzlichkeitsprinzip seine Berechtigung absprach.13 Das Postulat einer identischen Norm für das Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt kann auch quasi klammerartig die konsistente Systembildung absichern: Der gemeinsame Gehalt der beiden Deliktsarten wird dadurch klargestellt und eine parallele Deliktskonstruktion ermöglicht. Es würde gegen das Erfordernis der Konsistenzsicherung verstoßen, wenn etwa eine fahrlässige Strafbarkeit dort angenommen würde, wo bei bestehendem Vorsatz kein Vorsatzdelikt vorliegen würde. Von besonderer Wichtigkeit ist, dass nach diesem Normverständnis der Norminhalt auf konkrete Rechtsgüter bezogen ist. Die Unrechtsrelevanz des Erfolgs, die die sog. monistisch-subjektive Unrechtslehre auf der Basis, der die Bestimmungsfunktion einseitig betonenden Normtheorie konsequenterweise bestreitet14, kann normlogisch dadurch begründet werden, dass ein Verstoß gegen das Verletzungsverbot erst mit dem Erfolgseintritt vorliegt15. Im Schrifttum wird demgegenüber auch ein abweichendes Normverständnis vertreten, das die Existenz selbstständiger Normen für die Fahrlässigkeitsdelikte anerkennt16. Dem liegt erstens die Einsicht zugrunde, dass erst die Angabe des Willensinhalts der Verhaltensanweisung die konkretisierenden Konturen verleiht.17 Das Verbot mit der Willensangabe wie „Du sollst die willentlich auf den Tod einer anderen Person gerichtete Handlung unterlassen“ ist in fast jeder erdenklichen Situation eindeutig zu erfassen. Will man die einheitliche Norm für die Vorsatz- und die Fahrlässigkeitsdelikte postulieren, so müsste man den Norminhalt notwendigerweise abstrakt fassen; das abstrakte Normgebot wie „Du sollst den Tod eines anderen nicht verursachen“ oder „Kein Mensch soll einen anderen töten“ gibt aber in Anbetracht der Situation einer fahrlässigen Erfolgsverursachung keine Verhaltensanweisung, an der der Täter sich orientieren kann18. Die auf die fahrlässige Deliktsbege12

Richtigerweise richtet sich z. B. das Verbot der Bestechlichkeit, das in § 332 StGB ausgeformt ist, nur an die Amtsträger, obwohl jedermann zur Achtung des betreffenden Rechtsguts verpflichtet ist. 13 Vgl. hierzu Westphalen, Karl Binding (1841 – 1920), 1989, 164. 14 Zum Diskussionsstand siehe Hirsch, Strafrechtliche Probleme, 1999, 367 ff. 15 Vgl. Gössel (Fn. 7), 207. 16 Hirsch (Fn. 14), 359 ff., 392 ff.; Armin Kaufmann (Fn. 2), 110 ff.; ders., Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982, 138 ff., 166 ff.; Schöne, GS H. Kaufmann, 1986, 649 (650 ff., 663 ff.); Stratenwerth, FS Jescheck, 1985, 285 ff.; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, 131 ff. 17 Ida, FS Hirsch, 1999, 225 ff. 18 Armin Kaufmann (Fn. 2), 114, 120; Schöne, GS H. Kaufmann, 663.

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hung zugeschnittene Sondernorm wird zweitens deshalb als erforderlich erachtet, weil die Norm in der Lage sein muss, einen Maßstab zu bieten, anhand dessen in der konkreten Handlungssituation zwischen verbotenen und nicht verbotenen Verhaltensalternativen unterschieden werden könnte19. Wenn für die Verhaltensnormwidrigkeit eine ex-post-Beurteilung den Ausschlag gäbe, würde sie dann auch dort angenommen werden, wo sich überhaupt kein Mensch normkonform verhalten könnte, so dass die Norm ihren verhaltensleitenden Charakter verlöre. Von der Vermeidbarkeit des Erfolgs könnte man erst dann sinnvollerweise sprechen, wenn man sich bei der Beurteilung am Tatzeitpunkt orientiert. Überfährt beispielsweise ein Kraftfahrer, der die erlaubte Geschwindigkeit einhält, einen Fußgänger, der unvorhergesehen und nicht erkennbar vor das Auto tritt, so ist die Verletzungsfolge unvermeidbar. Aber auch hier müsste man die Vermeidbarkeit und damit die Verhaltensnormwidrigkeit bejahen, wenn man sie unter Berücksichtigung erst ex post ermittelter Umstände (etwa der Anwesenheit des stark betrunkenen Fußgängers auf der Fahrbahn) beurteilen will. 2. Die beiden, im Konkretisierungsgrad verschiedenen Normkonzeptionen stehen sich jedoch nicht unversöhnlich gegenüber, sondern sie ergänzen sich gegenseitig. Als Stufen der Normverwirklichung ist keine der beiden entbehrlich. Das Verfahren der Normkonkretisierung setzt denknotwendig etwas zu Konkretisierendes, nämlich die abstrakte Norm, voraus. Sie ist, obgleich sie für sich allein für die Verhaltensregulierung nicht ausreichend ist, als ein regulatives und einheitsstiftendes Prinzip der Unrechtsbeurteilung unverzichtbar. Der abstrakte Normbegriff schützt uns vor der Gefahr, trotz der auf die Tatsituation zugeschnittenen Konkretisierung der Norm den Rechtsgutsbezug zu verlieren und zu einer rein ex ante, d. h. allein von der Täterperspektive her zu beurteilenden Unrechtsauffassung verleitet zu werden. Andererseits muss die Verhaltensnorm in Anbetracht des jeweiligen Sachverhalts zu einer Verhaltensanordnung konkretisiert werden, damit den Rechtsgenossen in jeder Situation ein Verhaltensmaßstab angeboten wird und die Strafrechtsnormen verhaltensleitend und damit generalpräventiv wirken können.20 Wie gleich unten gezeigt werden soll, kann darüber hinaus die Anerkennung der beiden Stufen der abstrakten und konkretisierten Normen auch zur Klärung der Beurteilungsstruktur der Erfolgszurechnung beim fahrlässigen Erfolgsdelikt beitragen. Im Übrigen: Auch hinsichtlich der gesetzlich festgelegten Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe erwartet der Gesetzgeber von den Rechtsgenossen, dass sie sich auch bei der Wahrung ihrer berechtigten Interessen innerhalb der Grenzen bewegen. Die Erlaubnissätze, obwohl sie als „Kollisionsnorm“ auf einer höheren 19

Vgl. Kuhlen, GA 1990, 477 (480); dagegen aber Vogel (Fn. 7), 55 f. Die Konkretisierung der Verhaltensnormen ist deshalb unerlässlich, weil mit deren Gelingen das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) und damit die Generalprävention durch das Strafrecht stehen und fallen; hierzu Frisch, GA 2019, 185 (201). Das ist auch der Grund, warum das Sorgfaltserfordernis beim fahrlässigen Erfolgsdelikt nicht durch die Prüfung der objektiven Erfolgszurechnung ersetzt werden kann. 20

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Ebene21 angesiedelt sein mögen als Verbote und Gebote, sollen deshalb in die Verhaltensnormen mit einbezogen werden. Wenn der Täter von dem Vorliegen eines rechtfertigenden Sachverhaltes ausgeht, muss ein vorsätzliches Unrecht verneint werden. Der entsprechende Gedanke gilt auch für die gesetzlich nicht normierten Rechtfertigungsgründe, solange man von den Rechtsgenossen die Einhaltung ihrer Grenzen erwartet.

IV. Erfolgszurechnung über die Normkonkretisierung Etwaigen Bedenken gegen die Zulässigkeit des Verfahrens der Normkonkretisierung kann damit begegnet werden, dass man die Anwendung des Strafgesetzes auf den konkreten Fall als einen Prozess der Konkretisierung des betreffenden Sollenssatzes hinsichtlich der jeweiligen Tatsituation auffasst.22 Auch wer die Normkonkretisierung beim fahrlässigen Delikt für entbehrlich hält, muss nach dieser Sicht bei der Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit das gleiche Verfahren anwenden: Wenn der Täter mit dem in Bezug auf die jeweiligen Tatumstände spezifizierten (konkretisierten) Normsatz übereinstimmend gehandelt hat, heißt dies, dass das Täterverhalten von der abstrakten Norm erfasst und unter den betreffenden Tatbestand subsumiert werden kann. Dagegen kann man wohl nicht einwenden, der konkretisierte Obersatz sei vom Deliktstatbestand des Strafgesetzes verschieden und die Tatbestandsmäßigkeit des Täterverhaltens könne durch seine Subsumierbarkeit unter den konkretisierten Normsatz nicht begründet werden. Selbstverständlich ist der für die Feststellung der Tatbestandmäßigkeit konkretisierte Normsatz von der konkretisierten Verhaltensnorm zu unterscheiden. Die Verschiedenheit beider Sollenssätze liegt darin, dass die Gesetzesnorm als Obersatz zum Zweck der richterlichen Beurteilung über die Tatbestandsmäßigkeit mit dem ex post vollständig zu ermittelnden Sachverhalt „gleichgesetzt“23 wird, während die Verhaltensnorm zu einer am Tatzeitpunkt wirkenden Verhaltensanordnung im Hinblick auf die Tatsituation konkretisiert werden muss. Daher ist für die Verhaltensnormwidrigkeit eine ex-ante-Beurteilung maßgeblich. Die im Hinblick auf die Tatsituation festgestellte Verhaltensnormwidrigkeit deckt sich nicht mit der erst ex post feststellbaren Normwidrigkeit im Sinne der Tatbestandsmäßigkeit. Hier sind beim fahrlässigen Erfolgsdelikt drei Möglichkeiten zu unterscheiden: Wenn erstens der Verstoß gegen die konkretisierte Verhaltensnorm zu verneinen ist, dann liegt kein strafrechtliches Unrecht vor, gleichgültig, ob ein rechtsgutsverletzender Erfolg eingetreten ist oder nicht. Nach der heute herrschenden per-

21

Vgl. Gössel (Fn. 7), 6. Vgl. Gössel, FS Peters, 1974, 41 (55 ff.); Arthur Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 2. Aufl. 1982, 37 ff.; Schünemann, FS Arthur Kaufmann, 1993, 299 (303 ff.). 23 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, 89, 145. 22

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sonalen Unrechtslehre wird das Strafunrecht auf das verhaltensnormwidrige und damit ex ante gefährliche Verhalten eingeschränkt. Zweitens ist jene Fallgestaltung denkbar, in der trotz des zu bejahenden Verstoßes gegen die konkretisierte Verhaltensnorm ein Verletzungserfolg ausgeblieben ist. Die Verhaltensnorm, die hier verletzt worden ist, stellt eine zum Zweck der Verhaltenssteuerung von der übergeordneten Norm abgeleitete konkrete Anweisung dar und ist nicht von selbstständiger Bedeutung. Die Feststellung der Verhaltensnormwidrigkeit bedeutet noch nicht, dass der Täter dem übergeordneten Rechtsgutsverletzungsverbot zuwidergehandelt hat. Hier liegt gewissermaßen ein (strafloser) Versuchsfall. Kann der Autofahrer X beispielsweise wissen, dass die Bremsen seines Kfz nicht in Ordnung sind, und fährt er trotzdem, verhält er sich zwar zum Tatzeitpunkt verhaltensnormwidrig. Das heißt aber noch nicht, dass X gegen die übergeordnete Norm, das Verletzungsverbot in Bezug auf das menschliche Leben, verstoßen hat. In dieser Fallgestaltung wird normlogisch auch ein generalpräventives Strafbedürfnis noch nicht voll begründet. Das Strafrecht kann den generalpräventiven Zweck nur dadurch erreichen, dass es die Geltung der konkretisierten Verhaltensnorm in Anbetracht zukünftiger vergleichbarer Situationen aufrechtzuerhalten sucht. Bei Ausbleiben des Erfolgs bleibt aber die Verletzung der zur Vermeidung dieses Erfolgs gesetzten Verhaltensnorm nur hypothetisch. Eine Strafbarkeit des fahrlässigen Erfolgsdelikts wird bei ausgebliebenem Erfolg nicht begründet; der Erfolg, zu dessen Vermeidung die Geltung der konkreten Norm aufrechterhalten werden soll, ist hier gerade nicht eingetreten. Das heißt aber nicht, dass ein solches Urteil über die Verhaltensnormverletzung gar keine strafrechtliche Bedeutung hätte. Die Zuwiderhandlung gegen die konkretisierte Verhaltensnorm kann etwa gerichtlich festgestellt und in der Begründung eines freisprechenden Urteils ausführlich erwähnt werden. Sie hat dadurch und auch sonst eine in der Praxis maßstabbildende Kraft und entfaltet insofern einen generalpräventiven Effekt.24 Als dritte Möglichkeit kommt der Fall in Betracht, dass bei einem normwidrigen Verhalten ein dadurch kausal bewirkter, rechtsgutsverletzender Erfolg eingetreten ist. Hier haben wir es mit der Frage zu tun, ob der Erfolg dem normwidrigen Täter24 In diesem Zusammenhang taucht das viel erörterte Problem der „Zufallshaftung“ auf; vgl. die Nachweise bei Ida, Die heutige japanische Diskussion über das Straftatsystem, 1991, 114 Fn. 491. Kindhäuser (Fn. 7), 128 f. erblickt in diesem Dilemma eine Schwäche der auf dem personalen Unrechtsbegriff beruhenden Fahrlässigkeitskonzeption. Dieses Problem ist aber nicht etwa Produkt fehlerhafter Theoriebildung, sondern ein „ontologisches Paradox“, das bei der Bestrafung des fahrlässigen Erfolgsdelikts unausweichlich entsteht; vgl. Ida, in: Frisch et al. (Hrsg.), Lebendiges und Totes in der Verbrechenslehre Hans Welzels, 2015, 203 (214). Außerdem: Wenn es sich bei der Bestrafung des fahrlässigen Erfolgsdelikts um eine Zufallshaftung handeln sollte, dann würde auch jene Vorgehensweise den Bedenken gegen eine Zufallshaftung ausgesetzt werden müssen, dass nämlich trotz der ubiquitär bestehenden kriminellen Dispositionen überhaupt nur bei einer mehr oder minder von zufälligen Umständen abhängigen Begehung einer Straftat und damit einem tatsächlichen Normbruch bestraft wird.

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verhalten zugerechnet werden kann. Die Lehre von der strafrechtlichen Erfolgszurechnung geht von der Einsicht aus, dass man den Eintritt des unerwünschten rechtsgutsverletzenden Erfolgs nur über die Verhaltensnormen verhindern kann. Bei der Beurteilung der Erfolgszurechnung muss deshalb geprüft werden, ob der eingetretene Erfolg durch die Einhaltung der auf die Tatsituation zugeschnittenen konkretisierten Verhaltensnorm vermeidbar gewesen wäre. Der Erfolg wird erst dann dem Täterverhalten zugerechnet, wenn der Täter genau die ex post beurteilte, in Bezug auf die Tatsituation konkretisierte Verhaltensnorm verletzt hat, die gerade diesen Erfolg verhindern will. Mit anderen Worten lassen sich hier zwei konkretisierte Normen unterscheiden: die unselbstständige Verhaltensnorm, die in einer ex-ante-Sicht konkretisiert wird, und die Norm, die ex post zur Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit konkretisiert wird. Decken sich die beiden Normen im konkreten Einzelfall, dann kann der kausal verursachte Erfolg dem verhaltensnormwidrigen Verhalten zugerechnet werden. Der Richter muss deshalb prüfen, „ob die ex ante formulierte Norm auch auf der Grundlage des ex-post-Wissens noch als ein sinnvolles, das Erfolgsrisiko reduzierendes Verbot anerkannt werden kann (dann Erfolgszurechnung), oder ob sie von dem neuen Kenntnisstand aus als in concreto untauglich oder zumindest untunlich erscheint (dann keine Erfolgszurechnung)“25. Hieraus erhellt sich, dass der Gedanke des Schutzzwecks der Norm, nach dem der Erfolg nur dann zurechenbar ist, wenn gerade dieser Erfolg von der betreffenden Norm verhindert werden soll, den für die strafrechtliche Zurechnungslehre wesentlichen Gesichtspunkt anspricht. Die Beurteilung der Erfolgszurechnung geschieht über die Normkonkretisierung in Bezug auf die jeweilige Tatsituation. Die Erfolgszurechnung hängt nach alledem davon ab, ob die verletzte Verhaltensnorm auch nach einer ex-post-Betrachtung in Bezug auf den eingetretenen Erfolg eingehalten werden sollte. Hier handelt es sich um eine nachträgliche Prognose. Der strafprozessuale Grundsatz „in dubio pro reo“ zwingt uns nicht, ein jenseits vernünftiger Zweifel zu bejahendes Vermeiden-Können des Erfolgs im Fall der Normeinhaltung zu verlangen26. Denn es geht hier um die materiellrechtliche Frage, ob die verletzte Verhaltensnorm für die konkrete Tatsituation zur Vermeidung des eingetretenen Erfolgs hätte durchgesetzt werden sollen. Es wird hierbei vernünftig sein, dass man auch in Bezug auf zukünftige vergleichbare Fallgestaltungen dann auf die Durchsetzung der betreffenden Verhaltensnorm beharrt, wenn man hinsichtlich dieser konkreten Situation sagen kann, dass bei ihrer Einhaltung mit hoher Wahrscheinlichkeit der Erfolg nicht eingetreten wäre. Dieses Ergebnis unterstützt unsere alltäglichen Erfahrungen, dass das hypothetische Wahrscheinlichkeitsurteil nicht immer mit aller Sicherheit gefällt werden kann; die Relativierung des Wahrscheinlichkeitsgrades erscheint hier unvermeidlich.27 Es reicht andererseits die Feststellung einer bloßen Risikoerhöhung nicht aus. Im praktischen Ergebnis besteht dann kein Unter25

Schünemann, JA 1975, 647 (652). Vgl. Schünemann, JA 1975, 652 ff. 27 Duttge, in: Dölling et al. (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht, 5. Aufl. 2022, § 15 StGB Rn. 47. 26

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schied zur sog. Risikoerhöhungstheorie28, wenn sie zur Zurechnung des Erfolges verlangt, dass das sorgfaltswidrige Verhalten aus der ex-post-Sicht das Risiko des Erfolgseintritts wesentlich erhöht.

V. Die dritte Stufe der Normkonkretisierung In der Straftatsystematik sind die Strafrechtsnormen, um die es bisher ging, im Unrecht lokalisiert. Die Normkonkretisierung findet allerdings dort nicht ihr Ende, sondern setzt sich im Bereich der Schuld fort. Die Strafrechtsnormen müssen hier zu den auf den individuellen Täter zugeschnittenen Normen, den sog. Pflichtnormen,29 konkretisiert werden. Die konkretisierte Verhaltensnorm wie „Du sollst diese willentliche Tötungshandlung lassen“ kann in Bezug auf den Täter X nur dann eine konkrete Rechtspflicht werden, wenn X die Fähigkeit zur normgemäßen Motivation besitzt und damit seinen seelischen Antrieb so steuern kann, dass daraus der Wille zu dieser Tötungshandlung nicht gebildet wird. Die Strafrechtsnorm tritt hier im konkreten Fall als eine Norm auf, die den individuellen Täter dazu verpflichtet, seinen seelischen Antrieb so zu steuern, dass sie der Verhaltensnorm entsprechen.30 Bezüglich des konkreten Einzelfalls erfüllt somit die Strafrechtsnorm eine sehr wichtige präventive Aufgabe: dies geschieht durch die Verpflichtung des individuellen Täters zur Antriebssteuerung. Dieser auf den Täter zugeschnittene Normanspruch muss bei seiner subjektiv zurechenbaren Nichtbeachtung durch den gerichtlichen Schuldspruch kontrafaktisch bestätigt und bekräftigt werden, damit er weiter aufrechterhalten werden kann. Die präventive Funktion der Strafrechtsnorm, die darin liegt, an das Normbewusstsein des individuellen Täters zu appellieren und dadurch seinen seelischen Antrieb der Verhaltensnorm entsprechend zu steuern, ist weder mit der Generalprävention im üblichen Sinne noch mit der Spezialprävention identisch und ihr ist bisher kein passender sprachlicher Ausdruck gegeben worden. Dieser präventive Aspekt, der systematisch auf der Stufe der Schuld lokalisiert wird, ist insbesondere von der (positiven) Generalprävention, die im Ausgleich des durch die schuldhafte Tat verursachten Normgeltungsschadens liegt,31 zu unterscheiden. In der Tat würde das Vertrauen der Allgemeinheit in die Normgeltung er28 Zum Diskussionsstand siehe Roxin/Greco, Strafrecht AT, Band I, 5. Aufl. 2020, § 11 Rn. 88 ff. 29 Goldschmidt, FG Frank, Bd. I, 1930, 428 (433 ff.); vgl. ferner Freund/Rostalski, GA 2018, 264 ff. 30 Goldschmidt, FG Frank, Bd. I, 433 schreibt: „Die Pflichtnorm, welche dem einzelnen gebietet, sich durch die rechtlichen Wertvorstellungen motivieren zu lassen, erstrebt keine ,innere Lauterkeit‘ der Gesinnung, sondern richtet sich an den tatfertigen Willen. Sie fordert deshalb ein Wirksamwerden des Pflichtmotivs, sofern der einzelne nicht schon aus anderen Gründen zu rechtmäßigem Verhalten entschlossen ist“. 31 Vgl. Frisch, GA 2019, 185 (188 ff.).

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schüttert werden, wenn der Normbruch nicht sanktioniert wird. Man mag über die Frage verschiedener Auffassung sein, ob man hier sinnvollerweise der Verhaltensdie Sanktionsnorm gegenüberstellen kann. Die Verursachung des Normgeltungsschadens in diesem Sinne setzt jedenfalls voraus, dass die Verhaltensnorm konkret pflichtwidrig übertreten worden ist: „Die Rede von einem schuldlosen ,Töten‘ oder, allgemeiner, von einer schuldlosen Tat ist keine im strengen Sinn strafrechtliche Rede; denn mangels eines kompetenten Normwiderspruchs ist strafrechtlich nichts ,passiert‘: Im Sinne der Norm ist nicht getötet worden, vielmehr hat sich Leben vernichtende Natur ereignet“.32 Nur: das ist ein weiterer präventiver Aspekt, der andere legitime präventive Aufgaben des Strafrechts nicht ausschließt. Das Ausgleichsbedürfnis des Normgeltungsschadens ist seinerseits zu abstrakt, um die staatliche Strafe zu begründen; das zeigt bereits die Tatsache, dass „die Normgeltung im Einzelfall auch dann nicht gemindert wird, wenn eine Straftat überhaupt keine Reaktion auslöst, weil man z. B. den Täter nicht kennt“.33 Die an das Normbewusstsein des individuellen Täters appellierende Funktion der Strafrechtsnormen ist demgegenüber nicht zuletzt für die Begründung der staatlichen Strafe von kardinaler Bedeutung: Die Tätigkeiten der Juristen in der täglichen Strafpraxis richten sich vor allem auf die exakte Feststellung, ob und wie sich der betreffende Tatverdächtige strafbar gemacht hat. Die essentielle Frage ist dabei, welche (größere oder geringere) Schuld der Täter für die konkrete Tat auf sich genommen hat; diese Frage der Vorwerfbarkeit muss in Anbetracht der äußeren und inneren Tatumstände wie das Alter, die Tatsituation, die seelische Lage und die Motive unter besonderer Berücksichtigung der Kenntnisse der empirischen Wissenschaften geklärt werden. Welchen Sinn und Stellenwert haben nun diese ganzen Bemühungen der Strafpraktiker um die Klärung der Schuld des Täters hinsichtlich der Rechtfertigung der staatlichen Strafe? Für die Vergeltungstheorie hat das Ob und Wie der Schuld überhaupt die zentrale Bedeutung für die Begründung der Strafe. Nach diesem Theoriekonzept ist die Schuld das Begründungsmoment der Strafe; sie bemisst sich nach ihrer Höhe. Aber wie steht es mit der präventiven Straftheorie? Versteht man unter der Prävention die Regulierung des menschlichen Handelns durch die Verhaltensnormen, so geschieht diese Steuerung mittels der systematisch im Bereich des Unrechts lokalisierten konkreten Verhaltensanordnung; man interessiert sich hier nicht für die Schuld des individuellen Täters. Bei der Schuldbewertung geht es um die Verletzung der Pflichtnorm, die den individuellen Täter im Auge hat, und die verallgemeinerungsfähige Beurteilung der Verhaltensnormverletzung geht nicht die Schuld, sondern die Frage des ihr vorausgehenden Unrechts an. Was die Spezialprävention betrifft, hat für sie die Schuldbewertung des Täters eine allenfalls indizierende Bedeutung: Wer für die Straftat eine größere Schuld auf sich genommen hat, kann eine intensivere verbessernde Einwirkung benötigen, aber das ist jedoch nicht immer so. 32 33

Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, 60. Roxin, GA 2015, 185 (189).

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Das bisher im Schrifttum stark vertretene Verständnis, der strafrechtlichen Schuld nur die Bedeutung zuzuerkennen, die eine genuin präventiv begründeten Strafe limitiert,34 ist kontraintuitiv: Die Klärung der Schuld, mit der sich die Strafpraktiker alltäglich beschäftigen, betrifft danach nur die Limitierungsfrage der Strafe. Ihre diesbezüglichen Bemühungen stehen mit der präventiven Aufgabe des Strafrechts nur in einer losen, indirekten Beziehung. Ist es vielmehr nicht so, dass das Strafrecht seine präventive Aufgabe gerade durch die Schuldfeststellung und das Zum-AusdruckBringen dieser Beurteilung erfüllt? Es ist deshalb verständlich, dass in den letzten Jahren „expressive“ Straftheorien immer mehr Anhänger finden.35 In der Tat haben der Straftadel und die dementsprechende Sanktionierung die wichtige Funktion, den Normgeltungsschaden auszugleichen und das Vertrauen in die Normgeltung wiederherzustellen. Hierbei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Strafrechtsnorm auch durch die mit der Warnung einer tadelnden Sanktion verbundene Verpflichtung des individuellen Täters zur Antriebssteuerung eine sehr wichtige präventive Aufgabe im konkreten Einzelfall erfüllt. Mit anderen Worten: Neben der Verhaltens- und der Sanktionsnorm kommt auch der Pflichtnorm eine wichtige präventive Funktion zu.

VI. Schluss Aus den Überlegungen, die ich bis hierher angestellt habe, ergibt sich, dass die präventiven Aufgaben des Strafrechts nicht eindimensional sind, sondern mehrere verschiedene Aspekte aufweisen. Die abstrakte Norm, die dem Tatbestandsteil des jeweiligen Strafgesetzes entnommen wird, ist als ein regulatives und einheitsstiftendes Prinzip der Unrechtsbeurteilung unverzichtbar. Sie muss aber zur auf die Tatsituation zugeschnittenen Verhaltensanordnung konkretisiert werden, damit den Normadressaten in jeder Situation ein Verhaltensmaßstab angeboten wird und die Strafrechtsnorm verhaltensleitend und damit generalpräventiv wirken kann. Diese konkrete Verhaltensnorm ist insofern noch abstrakt, als sie von der individuellen Fähigkeit zur normgemäßen Willensbildung und Motivationssteuerung des Täters absieht. Die Norm muss deshalb auf der dritten Stufe zur Pflichtnorm konkretisiert werden. Der Schutz des Vertrauens der Allgemeinheit in die Normgeltung, die insbesondere die Sanktionierung des Normbruchs erfordert, kann erst unter Einbeziehung der Pflichtnormverletzung thematisiert werden. Darüber hinaus stellt aber die Abhaltung des individuellen Täters von der Straftat im konkreten Fall, die das Strafrecht mittels seiner Pflichtnorm bezweckt, eine seiner wichtigsten Funktionen dar. Wenn man die präventiven Funktionen des Strafrechts nicht einseitig, sondern als Ganzes erfassen will, ist keiner dieser Aspekte, die die drei Stufen der Normkonkretisierung jeweils aufweisen, entbehrlich. 34

Neulich wieder: Greco, GA 2021, 266 (269 ff.); vgl. aber auch Roxin, GA 2015, 201 f. Hörnle, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 2019, 507 (525 ff.). 35

Sklaverei, Moral und Rasse Das Gewissen als Wurzel der Diskriminierung Matthias Kaufmann Zu den dunkelsten Kapiteln, in denen Kolonialgeschichte und Rassendenken, zwei der vieldiskutierten Themen unserer Zeit, verknüpft sind, gehört die neuzeitliche Sklaverei. Besonders betrifft dies die sog. Neue Welt, somit die Versklavung der amerikanischen Ureinwohner, den transatlantischen Sklavenhandel und die Versklavung von Menschen afrikanischer Herkunft. Man geht heute von ca. 12 Millionen aus Afrika nach Amerika deportierten Menschen aus. Da andererseits der Begriff der Rasse sich nach Anfängen im 17. Jahrhundert vor allem im späten 18. Jahrhundert hin zu dem angeblich „wissenschaftlichen“ Rassismus des 19. Jahrhunderts entwickelt, mit dessen Folgen wir heute noch konfrontiert sind, liegt die Frage nahe, ob es zwischen diesem Sklavenhandel und der rassistischen Diskriminierung der Versklavten einen kausalen Zusammenhang gibt. Robert Bernasconi hatte dies mit dem Hinweis bezweifelt, dass es ja 2000 Jahre Sklaverei ohne Rassendenken gegeben habe.1 Nun lässt einerseits Michael Zeuske seine Globalgeschichte der Sklaverei sogar vor 12000 Jahren beginnen und der Rassenbegriff kommt nach Anfängen im 17. Jahrhundert erst im 18. Jahrhundert zur Geltung.2 Andererseits scheint diese Unabhängigkeit für die sog. New World Slavery, also den transatlantischen Sklavenhandel und die Sklaverei in Amerika nicht zuzutreffen, wie ich im Folgenden zeigen werde.

I. Noahs Fluch, Sünden gegen die Natur und homunculi Selbstverständlich begann die Abwertung nichteuropäischer, nicht-weißer Menschen vor der Erfindung des Rassenkonzepts und vor dem transatlantischen Sklavenhandel. Bereits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, also deutlich vor der sogenannten Entdeckung Amerikas, unternehmen die Portugiesen im Auftrag Heinrich des Seefahrers Raubzüge an der Küste Guineas, überfallen Dörfer und versklaven deren Bewohner. Der Chronist Gomes Eanes de Azurara beschreibt dies eindringlich, auch das Leid der Betroffenen, rechtfertigt das Vorgehen aber erstens mit der Not1

Bernasconi, in: Bernasconi (Hrsg.), Race 2001, 21. Zeuske, Handbuch Geschichte der Sklaverei: Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2019. 2

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wendigkeit der Christianisierung und ferner mit Noahs Fluch: Laut Genesis 9:20 – 27 verflucht Noah Ham, der über ihn lachte, als er nach Weingenuss nackt in seinem Zelt lag, und legt fest, dass die Nachkommen von Hams Sohn Canaan den Nachkommen von Sem und Japhet als Sklaven dienen sollen. Wann genau man diese Nachkommen mit den schwarzen Menschen, mitunter auch mit amerikanischen Ureinwohnern, identifiziert hat, ist nicht ganz klar, jedenfalls bleibt diese Rechtfertigung über mehrere Jahrhunderte im Gebrauch, wird noch in der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs vorgebracht.3 Die ersten Jahrzehnte nach der Entdeckung Amerikas sind nach anfänglichen Berichten über die Freundlichkeit der Bewohner der neuen Gebiete durch den Gedanken der Evangelisierung und durch Hinweise auf die vielfachen Verfehlungen dieser Menschen bestimmt, auf Sünden gegen die Natur, als da sind Götzendienst, Kannibalismus, Menschenopfer und „Sodomiterei“.4 Es entsteht auch heftige Kritik am Verhalten der Europäer. Das markanteste Beispiel ist die Adventspredigt des Dominikaners Antonio de Montesinos am 21. Dezember 1511 auf Hispaniola (heute Haiti und Dominikanische Republik), der die spanischen Siedler der schlimmsten Verbrechen bezichtigt. Eher nebenbei nimmt er zu einer Frage Stellung, die über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte in der Diskussion bleiben wird und heute eher gespenstisch wirken mag, nämlich die, ob die Indios im vollen Sinne Menschen sind. Dies wird von Montesinos mit direkter Evidenz angenommen,5 während seine Gegner sie eher als homunculi, als „sprechende Tiere“ verstanden. Papst Pius III. reagierte 1537 in der Bulle „Sublimis Deus“ auf diese Debatte, mit der autoritativen Feststellung, dass die Indios im vollen Sinne Menschen seien und frei, was indessen prominente Gelehrte nicht daran hinderte, dies wieder anzuzweifeln. Der auf Dauer wichtigste darunter ist sicher der Humanist, Aristoteleskenner und Erzieher Philipps II. Juan Ginés de Sepúlveda (1494 – 1573) in seinem 1544 verfassten Werk „Democrates Secundus seu de justis belli causis apud Indos“. Zu den Gründen, die er als Rechtfertigung eines Krieges gegen die „Barbaren“ nennt, gehören insbesondere die Sünden gegen die Natur wie Menschenopfer, Kannibalismus und 3 Zurara, Crónica dos feitos da Guiné, 1989; Beazley, The Chronicle of the Discovery and Conquest of Guinea, Band 1, 2010; Haynes, Noah’s Curse: The Biblical Justification of American Slavery, 2007. 4 Kolumbus, (1826 [1941]): Bordbuch, Aufzeichnungen seiner ersten Entdeckungsfahrt nach Amerika 1492 – 1493, 2005, Martyr von Anghiera, (1532 [1972]): Acht Dekaden über die Neue Welt, übersetzt, eingeführt und mit Anmerkungen versehen von Hans Klingelhöfer, Band 1, Dekade I– IV, 1972; de Oviedo y Valdes, Historia general y natural de las Indias Occidentales, islas y tierra firme del Mar Oceano (1535); die vollständige Fassung wurde erst 1851 – 1855 gedruckt (Madrid: Real Academia de la Historia), englische und französische Übersetzungen der ursprünglich publizierten Teile erreichten eine weite Leserschaft. 5 Über Montesinos vgl. u. a. Schulz, https://www.ptr.uni-bonn.de/downloads/ws-2011-2012/ der-201eerste-schrei-nach-gerechtigkeit-in-amerika201c-zur-201eskandalpredigt201c-gegendie-versklavung-der-indigenas-vor-500-jahren-von-antonio-de-montesinos (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2022).

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Götzendienst.6 Es handle sich daher bei den Indios, ähnlich wie bei den Äthiopiern Afrikas, um Sklaven von Natur, die genug Anteil an der Vernunft nahmen, um Anweisungen nachzuvollziehen, aber selbst nicht in der Lage seien, Vernunft zu gebrauchen.7 Sepúlveda vertrat seine Position dann eben auch in der „Junta de Valladolid“ (1550/51) in der Auseinandersetzung mit dem Dominikaner Bartolomé de Las Casas (1484 – 1566).8 Bemerkenswert an Las Casas’ Argumentation gegen Sepúlveda ist die methodische Vorgehensweise, Barbaren und Sklaven von Natur anhand inhaltlicher Merkmale zu definieren in Verbindung mit der empirischen Feststellung, dass es einerseits auch unter den Spaniern derartige Menschen gebe, andererseits keineswegs alle Indios oder Äthiopier diese Eigenschaften besäßen. Nach Las Casas zeigte diese Methode auf, dass die „Barbaren“ inhaltliche Merkmale aufwiesen, die niemals auf alle Mitglieder einer Gemeinschaft, einer Gruppe, später wurde dafür das Wort „Rasse“ gebraucht, zutrafen. Es ist auffällig, wie Las Casas hier genau die Strategie rassistischer Argumentation bereits avant la lettre unterläuft. Darüber hinaus beklagte er in seiner „Brevisima Relación de la Destruición de las Indias“ (1552) vehement die unbeschreiblichen Grausamkeiten, mit denen die Spanier wie Raubtiere über die Einheimischen hergefallen seien.9 Eine weitere wirkmächtige Gestalt bei der Einordung der Ureinwohner Südamerikas ist der Jesuit José de Acosta, der von 1571 – 1587 im spanischen Vizekönigreich Peru lebte – sich zeitweilig auch in Mexiko aufhielt – und nach der Rückkehr seine „Historia Natural y Moral de las Indias“10 sowie das Werk „De promulgando evangelio apud barbaros sive de procuranda indorum salute libri sex“11 publizierte. Acostas Werk ist auch wegen seiner empirischen Berichte, etwa auch über die Nutzpflanzen Südamerikas wie die Kartoffeln geschätzt und wurde u. a. von Alexander von Humboldt ausgewertet. Zugleich nimmt er eine Beschreibung, Kategorisierung und Hierarchisierung der Barbaren vor, von denen es ja unzählige verschiedene nationes gebe: Eine erste Klasse – darunter Chinesen und Japaner – weicht von der rechten Vernunft und der guten Gewohnheit des Menschengeschlechts nicht weit 6 Sepúlveda, Demokrates Secundus/Zweiter Demokrates, hrsg. und übersetzt von Schäfer, 2018; 59, 65 ff., 147 ff. Vgl. Tuck, The Rights of War and Peace, 43 f. und Philosophy and Government, 13 – 19. 7 Aristoteles, Politik, 1253b1 – 1255b15. 8 Schäfer, in: Vivarium 40 (2002), 242 – 271. 9 Ein Beispiel aus Las Casas, Brevísima relación de la destrución de las Indias: „(…) entraron los españoles desde luego que las conocieron como lobos y tigres y leones crudelísimos de muchos días hambrientos. (…) y nunca otras tales vistas ni leídas ni oídas maneras de crueldad, de las cuales algunas pocas abajo se dirán, en tanto grado que habiendo en la isla Española sobre tres cuentos de ánimas que vimos, no hay hoy de los naturales della docientas personas.“ 10 Acosta, Historia Natural y Moral de las Indias, 1590. 11 Acosta, De procuranda salute Indorum Libri sex, 1588, https://www.salamanca.school/ de/viewer_standalone.html?wid=W0016 (zuletzt abgerufen: 30. 5. 2022).

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ab. Eine zweite, auch in Amerika vorzufindende Klasse hat zwar keine Literatur und keine geschriebenen Gesetze, wohnt aber in festen Städten und besitzt offenkundig eine politische Organisation. Eine dritte Gruppe jedoch lebt wie die Tiere, durchstreift auf der Jagd die Wälder und begeht Sünden wider die Natur. Laut Acosta rechtfertigt deren Verhalten zwar keinen Krieg, wohl aber eine zwangsweise Erziehung durch die Spanier, damit sie schließlich zu Christen werden könnten. Da Acostas „Historia“ sehr rasch ins Englische übersetzt wird, wird er in Großbritannien regelmäßig als Beleg für die zurückgebliebene Natur der amerikanischen Ureinwohner herangezogen. Der Hofkaplan John Donne greift in einer berühmten Predigt vor der Virginia Company am 13. November 1622 auf ihn zurück, in Gegenwart von Thomas Hobbes, dessen Arbeitgeber Cavendish, John Selden und Investoren der Virginia Company.

II. Jesuitische Gewissensberuhigung von Luis de Molina bis Diego de Avendaño Luis de Molina (1535 – 1600), ein lange Zeit in Portugal tätiger spanischer Jesuit, gibt in neun Disputationen seines monumentalen Werkes über Gerechtigkeit und Recht, „De iustitia et iure“,12 das explizit als Unterstützung für Beichtväter gedacht ist, die für lange Zeit „gründlichste und ausführlichste“13 Auseinandersetzung mit dem transatlantischen Sklavenhandel, auf die sich nicht nur seine Ordensbrüder auf beiden Seiten des Ozeans immer wieder beziehen, sondern auch der Consejo de las Indias, das höchste Organ der spanischen Krone im Hinblick auf die überseeischen Kolonien. Molina liefert dort eine grundsätzliche Rechtfertigung der Sklaverei,14 eine Analyse der aus Sicht des ius gentium legitimen Titel für die Versklavung von Menschen,15 eine Darstellung der Entwicklung des portugiesischen Sklavenhandels,16 der dann mit den zuvor erarbeiten Kriterien evaluiert wird,17 sowie eine Reihe von Detailfragen rund um den rechtlichen Umgang mit Sklaven und Sklavenhaltern.

12 Das Werk erschien zwischen 1593 und 1609 in Cuenca und Antwerpen – die letzten Teile wurden von Ordensbrüdern herausgegeben – eine Gesamtausgabe 1659 in Mainz. Im Folgenden wird auf diese Ausgabe bzw. die Teiledition und -übersetzung zurückgegriffen: Luis de Molina, De iustitia et iure/Über Gerechtigkeit und Recht (1593), hrsg. von Kaufmann/ Simmermacher, übers. von Loose/Kaufmann/Simmermacher, 2019. Genannt werden Traktat, Disputation, evtl. Abschnitt und Seitenzahl dieser Ausgabe. 13 Höffner, Christentum und Menschenwürde: das Anliegen der spanischen Kolonialethik im goldenen Zeitalter, 1947. 14 Molina (Fn. 12), II 32.; vgl. Kaufmann in: Kaufmann/Aichele (Hrsg.), A Companion to Luis de Molina, 2014, 183 – 225. 15 Molina (Fn. 12), II 33. 16 Ebd., II 34. 17 Ebd., II 35.

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Die rechtliche und moralische Beurteilung des Besitzes von Sklaven und des Handels mit ihnen fällt drastisch verschieden aus, je nachdem, ob sie durch einen legitimen Titel, etwa durch gerechten Krieg, berechtigten Selbstverkauf, als Strafe für begangene Verbrechen zu Sklaven wurden, oder aber durch gewaltsame Raubzüge oder Diebstahl, wie es vor allem in Afrika nicht selten geschieht. Molina zeigt sich entrüstet über die Gleichgültigkeit der Portugiesen in diesem Punkt und über die Ausflüchte, mit denen die Händler auf Nachfragen reagieren.18 Doch sind es nicht nur die Sklavenhändler selbst, die sich offenbar wenig Gedanken um die Richtigkeit ihres Tuns machen, sondern auch diejenigen, deren Aufgabe es wäre, ihnen ins Gewissen zu reden, bis hin zum Bischof von Kap Verde, was Molina ebenfalls erheblich irritiert.19 Molina geht es natürlich nicht nur um das Gewissen von Sklavenhändlern, sondern auch um das Gewissen des Königs. Er schreibt seine Bewertung des portugiesischen Sklavenhandels, damit „diejenigen, denen die Regierung dieses Königreichs Portugal übertragen ist, und diejenigen, die die Aufgabe haben, das, was das Gewissen des Königs angeht, zu prüfen und dieses [Gewissen] zu entlasten, sowie diejenigen, die dem König die Beichte abnehmen, (welche zweifellos alle – und zwar ein jeder jeweils für sich – gemeinsam mit den Bischöfen von Kap Verde und São Tomé unter dem Vorwurf todbringender Schuld dazu verpflichtet sind, dies zu bewirken, wenn sich ihnen diese Sache auch nur im geringsten als zweifelhaft darstellt) dem König vorschlagen, dass er gemäß seiner Gewissenspflicht dafür sorgt, dass diese [Sache] durch gelehrte und gottesfürchtige Männer erwogen und beurteilt wird“.20

Nach seinem Lob für Kaiser Karl V., der für die Ureinwohner Südamerikas, „um für sein und seiner Untertanen Gewissen zu sorgen, das eines christlichen Kaisers würdige Gesetz (erließ), dass alle mit der Freiheit beschenkt (werden) und niemand fortan der Sklaverei unterworfen werden solle“,21 betont er, Philipp II. und ebenso die portugiesischen Könige Immanuel, Johannes III., Sebastian und Heinrich hätten sicher ähnliche Gesetze für die afrikanischen Sklaven erlassen, wenn sie von ihren Beratern angemessen informiert worden wären.22 Bei der inhaltlichen Diskussion gelangt Molina zu der Frage, wie mit Sklaven umzugehen sei, die als Gefangene aus einem Krieg hervorgingen, der von beiden Seiten ungerecht war. Während die Gefangenen, so Molina, welche eine ungerechte Kriegspartei gegen einen gerechten Gegner gemacht hat, zurückzugeben, in die Freiheit zu entlassen sind, können die in beidseitig ungerechten Kriegen Gefangenen behalten werden. Dann fährt er – m. E. etwas ironisch – fort: „Es wird vielleicht nicht an jemandem fehlen, der auf dieser Grundlage die Gewissen derer beruhigen möchte, die in beiden Guineas und im Kaffernland von den Ungläubigen Sklaven 18

Ebd., II 34 6, S. 614 – 617. Ebd. 20 Ebd., II 35, S. 653. 21 Ebd., II 35 1, 655. 22 Ebd., II 35 2, 655. 19

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kaufen und diese in dieses Königreich [Portugal] sowie an andere Orte bringen, und dabei diesen Handel als gerecht und erlaubt zu präsentieren wagt“.23

Molinas Ordensbruder Alonso de Sandovál (1577 – 1652) wurde in Sevilla geboren, jedoch bereits von den Jesuiten in Lima erzogen und lebte seit 1606 in Cartagena (Kolumbien), wo er seit 1623 Prinzipal des Jesuitenkollegs war. Er wurde und wird als „Verteidiger der Schwarzen“, defensor de los negros, gefeiert, lässt bei genauer Betrachtung jedoch rassistische Tendenzen erkennen. Er veröffentlicht sein Werk „De instauranda Aethiopum salute“ 1627, also 34 Jahre nach dem ersten Teil von „De iustitia et iure“ Molinas, den er unter den Dotores, die über die Berechtigung der Sklaverei geschrieben haben, nochmals besonders hervorhebt.24 Seine Schilderungen der schrecklichen Dinge, die den afrikanischen Sklaven widerfahren sind dramatisch25 und werden entsprechend angekündigt: „Christlicher Leser, wer immer das schreckliche Elend sieht, das die schwarzen Sklaven erdulden, wird es nicht übersehen können und wird zu helfen versuchen.“26 Dies impliziert aber keineswegs eine Forderung nach Abschaffung der Sklaverei. Im Gegenteil erklärt er, wenn er von einem sklavenhandelnden Kapitän berichtet, der sich in seiner Gewissensnot an ihn gewandt hat, dass die Sklaven, wenn sie in Kap Verde, dem Haupthandelsplatz für Sklaven in Afrika ankommen, „bereits drei oder vier Mal gekauft und verkauft wurden. Wir sollten uns daher ebenfalls keine Gedanken über die Berechtigung ihres Kaufes und Verkaufes in unseren Häfen machen“.27 Er zitiert anschließend einen Brief von Pater Luis Brandão, dem Rektor des Jesuitenkollegs in Luanda: „Ich glaube nicht, dass Euer Hochwürden sich darüber Sorgen machen sollte. In Lissabon finden weise Männer mit gutem Gewissen die Sklaverei nicht verwerflich. Die Bischöfe von Kap Verde, São Tomé und hier in Luanda, weise und tugendhafte Männer, wenden sich niemals gegen die Sklaverei“.28

Wie gesehen tadelt Molina, auf den sich Brandão in seinem Brief gleichfalls noch beruft, ja eben diese Händler und die genannten Bischöfe sehr heftig dafür, dass sie sich nicht ausreichend der rechtmäßigen Herkunft der Sklaven vergewissern. 34 Jahre später sind Sklaverei und Sklavenhandel hier wesentlich enger mit afrikanischen Menschen verknüpft, wird Sklaverei für natürlich erklärt und obendrein – wiederum anders als bei Molina – Noahs Fluch zur Anwendung gebracht.29 In der zweiten Auflage von Sandovals Werk aus dem Jahr 1646 findet sich im ersten 23

Ebd., II 35 15, 691. Sandoval, De Instauranda Aethiopum Salute (1627), I 17; 1956, 97; Sandoval, Un tratado sobre la esclavitud, transskribiert und übers. Vila Vilar 1987; 142; Sandoval (engl. von Germeten), Treatise on Slavery 2008, 50; zu Sandoval vgl. Hofmeister Pich, in: Patristica et Medievalia XXXVI (2015), 51 – 74. 25 U. a. Sandoval (Fn. 24), II 2; 194 ff.; 235 ff.; 68 ff. 26 Sandoval, De Instauranda … (Fn. 24), 191; 231; 63. 27 Ebd., I 17; 97; 142; 50. 28 Ebd., I 17; 98 f.; 143 f.; 51. 29 Ebd., I 2 u. 3, v. a. 20 ff.; 74 ff., 17 ff. Ähnlich wie hier Hofmeister Pich (Fn. 24). 24

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Buch ein Kapitel, das belegen soll, dass es trotz gegenteiliger Ansicht vieler Theologen (wie eben Molina) auch in statu innocentiae Sklaven gegeben habe und Sklaverei generell erlaubt sei.30 Noch deutlicher wird Diego de Avendaño (1594 – 1688). In Segovia geboren, gelangte er in jungen Jahren nach Lima, wo er von Jesuiten erzogen wurde. Er trat diesem Orden bei und war bis zu seinem Tod Theologieprofessor und Rektor des Colégio Maximo de San Pablo de Lima. Er wurde, nicht ganz zu Recht, seit dem frühen 19. Jahrhundert als Kritiker der Sklaverei und Vorkämpfer des Abolitionismus gerühmt.31 Sein sechsbändiger „Thesaurus Indicus“32 ist nicht weniger umfangreich als Molinas „De iustitia et iure“, auf das er sich gerade im Kontext des Sklavenhandels intensiv bezieht, da Molina auch für ihn die wichtigste Arbeit in diesen Fragen geleistet hat. Der Jesuit aus Lima entscheidet sich gleichfalls für eine der Sklaverei als – nicht naturgegebene – Rechtsbeziehung, da er den betreffenden Abschnitt im neunten Titel des ersten Bandes mit „De contractibus Aethiopum“ überschreibt. Diese Verträge stellen für die christlichen Gewissen ein enormes Risiko dar, da sie kaum jemals völlig beruhigt sein können, wenn sie sich an die Anforderungen der Gerechtigkeit halten wollen.33 Markant ist allerdings die argumentative Pirouette, die Avendaño am Ende seiner Überlegungen über die Verträge, die Afrikaner betreffen, dreht: Er beginnt mit vier Feststellungen, wonach der Ankauf von aus Afrika herbeigeschafften Sklaven in Europa und Amerika ungerecht ist und ihnen die Freiheit erstattet werden sollte.34 Als fünfte These darüber, wie diese Angelegenheit zu beurteilen sei (quid in praesenti caussa (sic) iudicandum), findet sich die Feststellung, der Kauf von Sklaven sei irgendwie (aliqualiter) zu rechtfertigen: Erstens sei dies die Ansicht gelehrter Männer wie Molina, zweitens hätten die Bischöfe keinerlei Skrupel bei diesem Handel, drittens werde dieser Handel vom König nicht nur erlaubt, sondern jener sei daran beteiligt. Wenn viertens die Bischöfe den Diebstahl von Sklaven mit Exkommunikation bestraften, müssten sie deren Besitz ja wohl für legitim ansehen. Fünftens seien diese Menschen zum Dienen geboren und die geringsten unter den Menschen (vilissimi inter homines), weshalb es keiner allzu genauen Überprüfung des Titels bedürfe, wenn sechstens der Staat in Amerika ohne sie nicht bestehen könne.35 Man kann hier also unmittelbar nachvollziehen, wie die rassistische Abwertung afrikanischer Menschen aus dem Wissen um die angebliche Unentbehrlichkeit ihrer Zwangsarbeit 30

Sandoval, De Instauranda … (Fn. 24), I 18. Losada, in: Cuesta Domingo, Proyeccion y presencia de Segovia en América, 1992, 423 – 446; eine ausführliche Liste vergleichbarer Stimmen, aber auch den Nachweis, dass diese Auffassung nicht durch den Text bestätigt wird, gibt Muñoz García, in: Solar, N.8 5, (2009) 133 – 162. 32 Avendaño, Thesaurus Indicus, 1668; Hrsg. u. spanische Übersetzung von Lib. I Tit. I-III, von Muñoz Garcia, 2001. 33 Ebd., Lib. I Tit. IX, cap. n. 180, S. 324. 34 Ebd., I IX XII n. 203 S. 330. 35 Ebd., n. 204. 31

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für den Erhalt des ökonomischen und politischen Status quo in den spanischen Kolonien sowie aus dem Wunsch nach Gewissensberuhigung resultiert. Wie weit die Versklavung afrikanischer Menschen bereits zur Selbstverständlichkeit geworden war, zeigt – neben dem Umstand, dass Avendaño wie die meisten seiner Zeitgenossen die Wörter „Aethiopes“, „mancipia“ und „Nigri“ weitgehend synonym verwendet36 – der Ort, an dem er sich mit dem Umgang mit afrikanischen Sklaven befasst: Während Molina seine Diskussion des Eigentums mit der Frage beginnt, ob es Eigentum an Wesen geben kann, die sich frei entscheiden können, findet sich bei Avendaño die Untersuchung über den Handel mit Aethiopes im selben Titel IX und selben Kapitel XII wie Abschnitt über den Handel mit Coca (De contractu circa Cocam), nur einige Paragraphen später.

III. Rezeption und Modifikation der spanischen Vorgaben in England In England verfolgte man spätestens ab dem späteren 16. Jahrhundert nicht nur die militärischen und politischen Aktivitäten der spanischen Kolonialmacht mit großem Interesse, sondern auch die argumentativen Rechtfertigungsbemühungen – und die kritischen Stimmen. Eine englische Übersetzung von Las Casas’ „Brevisima Relación de la Destruición de las Indias“ erschien 1583 unter dem Titel „The Spanish Colonie, or Brief Chronicle of the Acts and gestes of the Spaniards in the West Indies“,37 häufig verkürzt benannt als „The Spanish Cruelties“. Der Verweis auf diese Schrift diente einerseits zu propagandistischen Zwecken, um die eigene moralische Überlegenheit zu bestätigen, andererseits betonte der einflussreiche Jurist Alberico Gentili, italienischer Protestant, Professor in Oxford und erfolgreicher Anwalt in London, das Recht der Spanier und damit auch anderer Europäer, gegen diese ferae bestiae, diese wilden Tiere vorzugehen, die sich gegen die Natur versündigten, was natürlich auch anderen Kolonisierern den Weg öffnen sollte.38 Zugleich wurde von Geographen wie Richard Hakluyt, einem der wichtigsten Fürsprecher einer englischen Kolonisation, darauf hingewiesen, dass die englische Krone sich die Verbitterung einiger Stämme wie der Chichimeca über die Spanier für den Kampf gegen den Rivalen zunutze machen könnte.39

36 Muñoz Garcia, in: Revista de Filosofia 25 (2007) http://ve.scielo.org/scielo.php?script= sci_arttext&pid=S0798-11712007000200005 (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2022). 37 Las Casas, The Spanish Colonie, or Brief Chronicle of the Acts an gestes of the Spaniards in the West Indies …, ins Englische übersetzt von M.M.S., 1583, https://quod.lib.umich. edu/e/eebo/A18098.0001.001/1:1?rgn=div1;view=fulltext (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2022). 38 Gentili, De iure belli libri tres (1583) 1877, I XXV S. 116: qui peccant euidenter contra leges naturae et hominum, hos coerceri bello posse a quolibet, ego puto. 39 Hakluyt, A Discourse Concerning Western Planting, 1877; Chap. XI, XV.

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1. Acosta und die Virginia Company Wichtig für die Entwicklung des Bildes, welches man in England von den Indians hatte, war das Umfeld der Virginia Company, die für die Gründung und Aufrechterhaltung der ersten englischen Kolonie Jamestown beim Chesapeake River verantwortlich war. Dort kannte man die verschiedenen spanischen und portugiesischen Autoren sehr gut und wusste sie in seinem Sinne zu verwenden.40 Nicht zuletzt aufgrund der Rezeption der Schriften Francisco Vitorias zögerte man zunächst, den Völkern am Chesapeake das Recht auf ihr Land abzuerkennen oder einen Krieg gegen sie zu rechtfertigen. Man lobte die – insbesondere kriegerischen – Tugenden der Indians, beschrieb ihre politische Ordnung als Monarchien, ihre Lebensform als sesshaft und gestand ihnen so etwas wie eine Religion zu.41 Dies änderte sich drastisch, als man sich nach der Gründung der Kolonie Jamestown, nach 1609, nicht mehr an Vitoria, sondern an Acosta ausrichtete, der aufgrund seiner weit verbreiteten Schriften als Autorität galt.42 Dabei kommt insbesondere die Einteilung der Barbaren in drei Klassen zum Tragen, konkret ging es eben darum, die Indians in Virginia als Barbaren des dritten Typus einzustufen, denen man festen Wohnsitz, jede politische Organisation und auch eine ernsthafte Religion absprach und denen man folglich mit der Ansiedlung und Kolonisierung keinen Besitz wegnehmen konnte, weil sie nichts besaßen.43 Eine wichtige Rolle spielte dabei William Strachey, der seine „Historie of Travell into Virginia Britannia“ während seiner Zeit als erster Sekretär der Kolonie Jamestown zwischen 1609 und 1612 verfasste und sich bei seiner Einschätzung der Ureinwohner angeblich nicht sicher war, „what difference may be between them and bruit beasts“ sei, wobei er sich massiv auf Acosta beruft.44 Einer der Autoren, die Acosta in England bekannt machten und damit die Meinung über die Indians prägten, ist der Priester und Kompilator von Reiseberichten und Weltbeschreibungen Samuel Purchas (1577 – 1626), der Acosta umfangreich zitiert und häufig erwähnt, gerade wenn es um die Einschätzung der Barbaren in Amerika geht, wobei klar wird, dass die Einwohner Virginias zur untersten Stufe der Barbaren gehören, auch wenn Acosta sie nicht selbst in Augenschein genommen hatte.45 Nicht nur der radikale Wechsel und die Widersprüche in der Beschreibung 40

Fitzmaurice, Sovereignty, Property and Empire, 1500 – 2000, 2014, chap. 3. Ebd., 65 – 70. 42 Ebd., 75 – 78. 43 Acosta, De procuranda salute Indorum Libri sex, 1588, 116 – 120, https://www.salaman ca.school/de/viewer_standalone.html?wid=W0016 (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2022). 44 Strachey, Historie of travell into Virginia Britannia, hrsg. von Wright/Freund, 1953, 55. Es ist nicht unwichtig, dass in der direkt aus dem Originalmanuskript aus dem British Museum übertragenen Ausgabe von 1849 noch von einer „Historie of travaile“ die Rede ist. Diese alte Schreibweise deutet an, wie sich auch die Reisetätigkeit in das britische Selbstverständnis einer durch Arbeit besonders qualifizierten Zivilisation einfügt. 45 Purchas, Purchas his Pilgrimage: or Relations of the World and its religions observed in all ages and places from the creation unto this present …, 1614, https://archive.org/details/pur chashispilgri00purc/page/n6/mode/1up (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2022); ders., Hakluytus 41

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der Ureinwohner Virginias, die kaum philosophische, sondern weitestgehend politische Gründe hat, sondern die gesamte Art der Darstellung zeigt, dass es nicht zuletzt darum geht, das Gewissen der Kolonisatoren zu beruhigen.46 Ein weiteres wichtiges Dokument ist eine Predigt, die John Donne, Hofkaplan James’ I. von England und Dekan der St. Pauls Cathedral, am 13. November 1622 vor der Virginia Company hielt, in Anwesenheit von John Selden, Thomas Hobbes und mehr als dreihundert einflussreichen Persönlichkeiten, zumeist Investoren der Virginia Company. Donne beschwört den für England, seine Bewohner und seine Krone angeblich charakteristischen Geist der Arbeit47 und verbindet dies mit der Forderung an die Investoren, nicht nur an den weltlichen Reichtum, sondern auch die Evangelisierung der amerikanischen Ureinwohner zu denken. Wenn sie ihren Gedanken an irdischen Gewinn nicht etwa aufgäben oder auch nur zeitweilig außer Acht ließen, so würden sie reich belohnt.48 Diese metaphysics of labor lieferte die Rechtfertigung für die Besetzung der neuen Territorien:49 „In the Law of Nature, and Nations, A Land never inhabited by any, or utterly derelicted, and immemorially abandoned by the former Inhabitants, becomes theirs that wil posesse it. So also is it, if the inhabitants doe not in some measure fill the Land, so as the Land may bring foorth her increase for the use of men: for as a man does not become proprietary of the Sea, because he hath two or three Boats fishing in it; so neither does a man become Lord of a maine Continent, because he hath two or three Cottages in the Skirts thereof (…) Many cases may be put, when not only Commerce and Trade, but also Plantations in lands not formerly our owne, may be lawful“.50

Schließlich sei es Aufgabe der ganzen Menschheit, die ganze Welt so ihrem Besten zu entwickeln.51 Ein gutes Gewissen hat man dabei, weil das eigentliche Ziel nicht Gewinn oder Ruhm, sondern das Bemühen um die Gewinnung von Seelen ist. Hier wird das Gewissen also durch die Verbindung von Arbeitsgeist und Bekehrungseifer beruhigt, es bleibt jedoch dabei, dass die Ureinwohner kein Eigentum am Land hatten, nur weil ein paar Hütten darauf standen. Wenn Locke im fünften Kapitel seines „Second Treatise on Government“ dann eine durchstrukturierte Theorie des Eigentums durch Arbeit entwarf, so konnte er posthumus or Purchas his pilgrimes, 1625 – 1626, http://memory.loc.gov/cgi-bin/query/h?in tldl/rbdkbib:@field(NUMBER+@band(rbdk+d0401)) (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2022). 46 Fitzmaurice (Fn. 40), 79 – 84. 47 Festa in: Project Muse 2009, 76 – 99. 48 Donne, A Sermon vpon the Eight Verse of the First Chapter of the Acts of the Apostles. Preached To the Honourable Company of the Virginia Plantation, 13th of Novemb. 1622, by Ionne Donne Deane of Saint Pauls (1624), https://contentdm.lib.byu.edu/digital/collection/John Donne/id/1243 (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2022), 10 f. 49 Springborg, in: History of Political Thought XXXVI (2015), 113 – 164. 50 Donne (Fn. 48), 11. 51 Ebd.

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sich auf einen bereits seit Langem etablierten Konsens beziehen, den er klar zusammenfasste: „God gave the world to men in common; but since he gave it them for their benefit, and the greatest conveniences of life they could draw from it, it cannot be supposed he meant it should always remain common and uncultivated. He gave it to the use of the industrious and rational, (and labour was to be his title to it)“.52

Und Locke lässt keinen Zweifel daran, wie er die Eigentumsverhältnisse in Amerika interpretiert: „in the beginning all the world was America“.53 2. Nationen, die zum Dienen geschaffen sind Es finden sich in England auch früh generelle Hinweise auf Menschengruppen, die zum Dienen geschaffen sind, während andere – eben die Europäer – natürliche Herrscher sind. Letzteres wird nicht thematisiert, weil es als selbstevident unterstellt wird.54 Dies hat direkte Folgen für das Recht, andere zu unterwerfen, wie bereits Francis Bacon in einem Text mit dem Titel „An Advertisement Touching a Holy War“55 aus den Jahren 1622 – 1623 betont, „that there where is a Heap of People (…) that is altogether unable or Indigne to governe; There is a just Cause of Warre, for another Nation, that is Civill, or Polliced, to subdue them.“56 Auch der Hinweis auf Noahs Fluch ist in der englischen Debatte durchaus geläufig. Das literarisch anspruchsvollste Beispiel dürfte eine Passage aus John Miltons „Paradise Lost“ sein: „Yet sometimes Nations will decline so low From virtue, which is reason, that no wrong, But justice and some fatal curse annext Deprives them of this outward libertie, Thir inward lost: Witness th’irreverent Son Of him who built the Ark, who for the shame Don to his Father, hears this heavie curse, ,Servant of Servants, on his vicious Race‘.“57

Man hat hier also bereits die Rede von einer lasterhaften Rasse, auch wenn der Begriff natürlich nicht in der Weise verwendet wird wie nach der Biologisierung im 18. und vor allem 19. Jahrhundert. Zunächst sind es nationes, nations, nações etc., über die ein entsprechendes Urteil gefällt wird. Es lässt sich somit eine gesamt52

Locke, Second Treatise on Government, V § 34. Ebd., V § 49. 54 Nyquist, Slavery, Tyranny and the Power of Life and Death, 2013, 241. 55 Bacon, An Advertisment Touching a Holy War (1622 – 1623), Introduction, Notes and Interpretative Essay by Laurence Lampert, 2000. 56 Zitiert nach Nyquist (Fn. 54), 241. 57 Milton, Paradise Lost, Buch XII, Verse 97 – 104. 53

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europäische Entwicklung beobachten, dass nach einigen Jahrzehnten pejorative Hypothesen über nicht-europäische Menschen zum selbstverständlich geglaubten Konsens werden (speziell über Menschen aus Afrika und Amerika). Hypothesen, für die man zunächst noch hin und wieder Gründe angab, sei es durch Hinweis auf die Sünden gegen die Natur oder den Götzendienst oder die fehlende politische Organisation, werden nicht etwa aufgrund neu erbrachter Belege selbstverständlich, sondern durch schlichte stete Wiederholung. Nach wie vor umstritten ist, inwieweit Locke rassistischen Denkweisen anhing, was ebenso engagiert behauptet wie bestritten wurde.58 Unbestritten war Locke 1669 an der Verfassung für die Kolonie Carolina beteiligt, deren Artikel 110 lautet: „Every freeman of Carolina shall have absolute power and authority over his negro slaves, of what opinion or religion soever.“ Locke hatte in die Royal African Company investiert, die den britischen Sklavenhandel kontrollierte und für die er von 1672 – 1674 als Sekretär tätig war. Dass Lockes Haltung zum Sklavenhandel und der Versklavung afrikanischer Menschen noch immer nicht ganz klar ist, liegt auch an Besonderheiten seiner Biographie während der restaurierten Herrschaft der Stuarts, dann der Glorious Revolution sowie der Auseinandersetzung zwischen Whigs und Tories.59 Bei den Stuarts war durch eine natürlichen Ordnung der Welt Herrschern, Untertanen und Sklaven ein Platz zugewiesen, wie es speziell Robert Filmer festhielt.60 Parallel zur Erbmonarchie führte man nach der Restauration ab 1660 in den diversen Kolonien auch die Vererbung des Sklavenstandes ein und ferner wurden in Carolina und Virginia für jeden importierten Sklaven 50 acres (etwas mehr als 20 Hektar) Land versprochen.61 Locke begrüßte die Abschaffung dieser Regel durch den späteren Gouverneur Nicholson, ob aus Sympathie für Afrikaner oder weil ihn die Vergabe von immer mehr Land an Großgrundbesitzer, die es nicht bearbeiteten, störte, ist nicht ganz klar. Im Kapitel „On Slavery“ lehnt Locke die freiwillige Selbstversklavung ab, weil die Person über die Freiheit, die sie verkauft, gar nicht selbst verfügt. Dies hat damit zu tun, dass für ihn – anders z. B. als für Molina – zur Versklavung die Herrschaft über Leben und Tod gehört und der Mensch kein Recht hat, über das eigene Leben zu disponieren.62 Wer aber durch ein todeswürdiges Verbrechen sein Leben verwirkt hat, wird völlig zu Recht versklavt.

58 Bernasconi/Mann, in: Valls (Hrsg.), Race and Racism in Modern Philosophy, 2005, 89 – 107; Uzgalis, in: Zack (Hrsg.), The Oxford Handbook of Philosophy and Race, 2017, 21 – 30. 59 Vgl. hierzu u. a. Brewer, The American Historical Review, 122/4 (October 2017), 1038 – 1078, https://academic.oup.com/ahr/article/122/4/1038/4320238 (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2022). 60 Ebd., 1042; Filmer, Patriarcha and other Writings, hrsg. von Sommerville, 1991, 9 – 11. 61 Brewer (Fn. 59), 1048, 1058. 62 Locke (Fn. 52), IV § 24.

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„Having, by his fault, forfeited his own life, by some act that deserves death, he, to whom he has forfeited it, may (when he has him in his power) delay to take it, make use of him to his own service, and he does him no injury by it“.63

Der klassische Fall ist, wenn er in einem gerechten Krieg gefangen wird. Dann ist er legitimerweise einer despotischen Herrschaft unterworfen.64 Mary Nyquist hat gezeigt, dass Locke sich gegen tyrannische Herrschaft wehrt und deutlich macht, dass sich der Tyrann in den Kriegszustand begibt, entsprechend legitimerweise bekämpft werden kann. Zugleich schließt sie aus der Weise, wie Locke diejenigen, die im Naturzustand gewalttätig werden, mit wilden Tieren vergleicht65 und der zu jener Zeit gängigen Abqualifizierung amerikanischer Ureinwohner und afrikanischer Menschen als wilde Tiere, dass Locke eine despotische Herrschaft über diese gutgeheißen hätte. Ein weiteres Indiz sei der Umstand, dass das allgemeine Recht zu strafen damit begründet wird, dass ein englischer, französischer oder holländischer Herrscher andernfalls keine positive Strafbefugnis gegenüber einem Indian besitze.66

IV. Der Weg zur „Wissenschaft“ Gegen Ende des 17. Jahrhunderts ist es in Europa zu einer Art Selbstverständlichkeit geworden, dass schwarze Menschen Sklaven sind oder umgekehrt, dass Sklaven schwarz sind. Seit 1661 gibt es den Barbados „Act for the better ordering and governing of Negroes“, der immer wieder erneuert wird, 1685 wird der Code noir erlassen, der offiziell bis 1848 in Geltung ist. Der nach mehreren Überarbeitungen und Änderungen im Jahr 1740 erlassene South-Carolina Slave Code ist bis zum Ende der Sklaverei 1865 valide und ist „An Act for the better ordering and governing of Negroes and other Slaves“. Außer dem Faktum der bestehenden Sklaverei scheinen diese Normen die vermeintlichen Fakten über angebliche Unzulänglichkeiten nicht-weißer Menschen zu bestimmen oder jedenfalls zu beeinflussen. David Hume formulierte in einer Fußnote zur Ausgabe von 1753/54 seiner Schrift „Of National Characters“ eindeutige Sätze über die Überlegenheit der weißen Rasse und die angebliche Unfähigkeit der Angehörigen der schwarzen Rasse: „Such a uniform and constant difference could not happen in so many countries and ages, if nature had not made an original distinction betwixt these breeds of men. Not to mention our colonies, there are NEGROE slaves dispersed all over EUROPE, of which none ever discovered any symptoms of ingenuity, tho’ low people, without education, will start up amongst us, and distinguish themselves in every profession. In JAMAICA indeed they talk of one

63

Ebd., IV § 23 f. Ebd., XV § 172. 65 Ebd., II § 11; III § 16. 66 Ebd., II § 9; Nyquist (Fn. 54), 336. 64

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negroe as a man of parts and learning, but ’tis likely he is admired for very slender accomplishments like a parrot, who speaks a few words plainly“.67

Bei Immanuel Kant findet er dafür lebhafte Zustimmung: „Die Negers von Afrika haben von Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr Hume fordert jedermann auf, ein einziges Beispiel zu nennen, da ein Neger Talente gewiesen habe (…)“.68 Auch die französischen philosophes hatten mit einigen Ausnahmen wie Montesquieu und Diderot erstaunlich wenig zur Versklavung schwarzer Menschen zu sagen.69 Immerhin, Montesquieu kommentiert 1748 die Versklavung schwarzer Menschen mit bitterster Ironie, indem er das auflistet, was er sagen würde, wenn er die Annahme, man habe das Recht zu dieser Versklavung, unterstützen sollte. Unter anderem heißt es: „Es ist unmöglich, dass wir annehmen, diese Leute da seien Menschen, denn wenn wir sie als Menschen annähmen, begänne man zu glauben, dass wir selbst keine Christen seien.“70 In der Encyclopédie schreibt der Arzt und Aufklärer Louis de Jaucourt, einer der wichtigsten Autoren dieses Großprojekts, im Abschnitt „Traite des nègres“ im Jahr 1751, wenn sich solch ein Handel moralisch rechtfertigen lasse, gebe es kein noch so grauenvolles Verbrechen mehr, das sich nicht legitimieren ließe,71 und gibt im gleichzeitig verfassten Artikel Nègre eine Einschätzung über den „Charakter der Neger im Allgemeinen. Wenn man unter den Negern von Guinea zufällig anständige Menschen findet (die meisten sind immer lasterhaft), so sind sie meist zu Unzucht, Rache, Diebstahl und Lügen geneigt.“72 Diese zunehmende Stabilisierung der abschätzigen Beschreibungen nicht-weißer, insbesondere schwarzer Menschen und amerikanischer Ureinwohner, vor allem ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, schließt also Werke ein, die sich selbst als (natur-) wissenschaftlich verstehen. Allerdings setzt sich der Terminus „Rasse“ bei der Charakterisierung von Menschengruppen gegenüber der Rede von Nationen erst allmäh67 Hume, Of National Characters, in: The Philosophical Works, hrsg. von Green/Grose, 1882, Band 3, 252. Über die Bedeutung dieser Stellungnahme innerhalb der Philosophie Humes vgl. Garrett/Sebastiani, in: Zack (Hrsg.), The Oxford Handbook of Philosophy and Race, 2017, 31 – 43. 68 Kant, Beobachtungen u¨ ber das Gefu¨ hl des Schönen und Erhabenen, 4. Abschnitt, Akademie-Ausgabe, Band 2, 253. 69 Davis, The Problem of Slavery in Western Culture, 1966, chap. 13; Delacampagne, Die Geschichte der Sklaverei, 2004, 199 ff. über „Das Schweigen der Philosophen“. 70 Montesquieu, De l’Esprit des lois, livre XV, chap. V, 1857: „Il est impossible que nous supposions que ces gens-la soient des hommes, parce que, si nous les supposions des hommes, on commencerait à croire que nous ne sommes pas nous-mêmes chrétiens.“ 71 „Si un commerce de ce genre peut être justifié par un principe de morale, il n’y a point de crime, quelque atroce qu’il soit, qu’on ne puisse légitimer.“ Encyclopédie 1re éd. 1751, Band 16, 532 – 533. 72 „Caractere des negres en général. Si par hasard on rencontre d’honnêtes gens parmi les negres de la Guinée, (le plus grand nombre est toujours vicieux.) ils sont pour la plûpart enclins au libertinage, à la vengeance, au vol & au mensonge.“ Encyclopédie 1re ed., Band 11, 76 – 84.

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lich durch. So findet sich im dritten Band von Buffons „Histoire naturelle“ im Kontext der Beschreibung des Menschen möglicherweise erstmals die Rede von einer race d’hommes im modernen Sinn. Zunächst wird der Terminus mit wenig schmeichelhaften Beschreibungen auf die Lappen im Norden der Tartarei angewandt, nach wie vor ist z. B. auch von der nation Tartare die Rede oder den nations de toute la partie septentrionale de l’Afrique.73 Im Folgenden werden auch ausführlich und sogar relativ differenziert die Menschen im subsaharischen Afrika beschrieben, freilich nicht ohne ihnen generell „wenig Geist“ (peu d’esprit) zu attestieren,74 sowie diejenigen in Amerika. Dass diese nicht schwarz sind, obwohl sie die Gegend um den Äquator bewohnen, deutet Buffon als Argument gegen die Klimatheorie der Rassen.75 Ein ebenso markantes Beispiel für die Vermengung wissenschaftlicher und tendenziöser Beschreibung liefert Carl von Linnés Binnenklassifikation des Homo sapiens in Americanus, Europaeus, Asiaticus und Afer, denen er pauschal die säftemedizinischen Charaktere cholerisch (Americanus), sanguinisch (Europaeus), melancholisch (Asiaticus) und phlegmatisch (Afer) zuweist. Der Afrikaner ist außerdem verschmitzt, träge, nachlässig, beschmiert sich mit Fett und wird durch Willkür geleitet (Vafer, segnis, negligens. Ungit se pingui. Regitur Arbitrio). Der Europäer hingegen ist flink, geistreich, mit Erfindungsgeist begabt und folgt der Sitte (Levis, acutissimus, inventor. Regitur Ritibus).76 Ferner trug die Rassenmedizin dazu bei, derartige Rassenkonzeptionen zu verfestigen, wie u. a. Suman Seth gezeigt hat.77 Diese Rassenmedizin diente – auch in Abwehr der erstarkenden abolitionistischen Bewegung – dazu, die Zwangsarbeit schwarzer Menschen in den Kolonien mit den dortigen klimatischen Bedingungen zu rechtfertigen, indem man schon länger vertretene Ansichten wissenschaftlich zu fundieren beanspruchte. Zunächst behauptete man, die schwarze Haut könne die faulige Materie in den feuchtwarmen Gebieten besser absorbieren, später hieß es, afrikanische Menschen seien aufgrund ihres besonderen Nervensystems weniger schmerzempfindlich als Weiße.78 Immer wieder finden sich für die gewöhnlich nicht hinterfragten angeblichen Selbstverständlichkeiten teils religiöse, teils durch angeblich neueste wissenschaftliche Erkenntnisse fundierte Begründungen, teils in einer skurrilen Mischung aus Beidem wie im Artikel „Negro“ der „Encyclopedia Britannica“ von 1797: „Vices the most notorious seem to be the portion of this unhappy race (…) they are said 73

Buffon, Histoire naturelle générale et particulière III, 1749; 371, 379, 448. Ebd., 448 – 484, 468. 75 Ebd., 484. 76 von Linné Systema naturae, tomus I, 1758 , 20 – 22. 77 Seth, in: Haar/Kaufmann/Müller (Hrsg.), Civilization – Nature – Subjugation. Variations of (De-)Colonization, 2021, 271 – 287. 78 Ebd., 276 – 284. 74

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to have extinguished the principles of natural law, and to have silenced the reproofs of conscience“.79 Nach wie vor wird moralisch abqualifiziert, diesmal mit der Behauptung, diese Eigenschaften seien rassenbedingt vererbt. Ganz kann man sich nicht von der Klimatheorie der Rassen trennen, da man darauf besteht, dass Adam und Eva weiß waren, ebenso Noah und seine Familie, von deren Nachkommen dann eben einige im Verlauf mehrerer Jahrhunderte mehr und mehr dunkle Haut bekamen.

V. Kants Rassismus Dies ist in etwa auch die Auffassung, die Immanuel Kant in seiner Kontroverse mit Georg Forster über die Frage des Monogenismus oder Polygenismus vertritt: Forster war der Ansicht, es gebe vermutlich verschiedene Ursprünge des Menschengeschlechts und deshalb nicht nur verschiedene Rassen, „Varietäten“, sondern species,80 die sich dann die für sie geeigneten Klimazonen gesucht hätten. So versteht ihn jedenfalls Kant, der demgegenüber die Ansicht vertritt, beim ersten Menschenpaar seien diverse Keime angelegt gewesen, die sich je nach klimatischen Bedingungen über eine große Anzahl von Generationen verschieden entwickelt hätten und sich nicht in einer Generation durch die Migration in andere klimatische Bedingungen wieder verändern würden.81 Unklar ist noch immer, inwieweit Immanuel Kant zur „Verwissenschaftlichung“ des Rassismus beigetragen hat. Robert Bernasconi hatte in verschiedenen Texten Kant als unerwartete Quelle des Rassismus charakterisiert82 – unerwartet, weil Kant, aber auch seine Umgebung, nicht in den Sklavenhandel und Sklaverei involviert waren, so dass das Gewissensproblem nicht auftaucht. Unstrittig ist, dass Kant mehrfach rassistische Positionen einnimmt und Ansätze zu naturwissenschaftlicher, speziell chemischer Erklärung z. B. anhand der Unterschiede in der Verarbeitung des in allem Tierblut vorhandenen Eisens unternimmt. Dies kann die Ausdünstung des phosphorisch Sauren sein, „wornach alle Neger stinken“ (inzwischen häufig zitiert).83 Berüchtigt sind einige der Passagen aus den Collegentwürfen der achtziger Jahre, wie 79

Encyclopedia Britannica 1797, Band 12, 794 – 798, https://digital.nls.uk/encyclopaediabritannica/archive/192108183#?c=0&m=0&s=0&cv=848&xywh=-1154%2C-1%2C5401% 2C4014 (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2022); Davis, Slavery and Human Progress, 1984, 132. 80 Forster, (zuerst 1786), in: ders., Essays und Reden, Werke in vier Bänden, Band 2, 1971, http://www.zeno.org/Literatur/M/Forster,+Georg/Essays+und+Reden/Noch+etwas+ü ber+die+Menschenraßen (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2022). 81 Kant, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, AA VIII, 172 ff. Ausführlicher zu Kants Rassismus vgl. Kaufmann, in: JRE 27 (2019), 183 – 204. 82 Bernasconi, in: Ward/Lott (Hrsg.), Philosophers on Race, 2002. 83 Ebd., 438.

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„Alle racen werden ausgerottet werden (Amerikaner und Neger können sich nicht selbst regiren. Dienen also nur zu Sclaven), nur nicht die der Weissen“.84

Als Belege dafür, dass dies keine einzelnen Entgleisungen seien, dienen häufig die Vorlesungen zur „Physischen Geographie“, die Kant seit 1756 bis zum Ende seiner Lehrtätigkeit 1796 immer wieder mit erheblichem Erfolg bei den Studenten hielt, überwiegend Exzerpte aus Reisebeschreibungen und zeitgenössischen Periodica,85 mit allerlei abwertende Äußerungen, v. a. über afrikanische und amerikanische, aber auch asiatische Menschen.86 In seiner Herder-Rezension beweist er indessen eine kritische Distanz zu den ansonsten häufig zum Beleg herangezogenen Erzählungen: „Jetzt aber kann man aus einer Menge von Länderbeschreibungen, wenn man will, beweisen, (…) daß Amerikaner und Neger eine in Geistesanlagen unter die übrigen Glieder der Menschengattung gesunkene Race sind, andererseits aber nach ebenso scheinbaren Nachrichten, daß sie hierin, was ihre Naturanlage betrifft, jedem anderen Weltbewohner gleich zu schätzen sind, (…)“.87

Es bleibt dabei, dass Kant im gedruckten Text wohl nicht die Sklaverei befürwortete, jedoch offenbar wenig zu ihrer Verurteilung äußerte, was man von einem Gelehrten seines Formats hätte erwarten können. Umstritten bleibt, ob Kants Rassismus, ob sich Kants private Vorurteile von seiner philosophischen Theorie trennen lassen, wie Robert Louden argumentiert, was von Mills bezweifelt wird.88 Emmanuel Chukwudi Eze hatte 1997 in „The Colour of Reason. The Idea of ,Race‘ in Kant’s Anthropology“89 eine systematische Relevanz von Kants Äußerungen über die Rasse vertreten, Charles Mills hat ihm sogar die Degradierung amerikanischer Ureinwohner und schwarzer Menschen zu Untermenschen unterstellt.90 Kant sehe Schwarze und Amerikaner gar nicht als Menschen an, wenngleich Mills auf dieser Deutung nicht unbedingt besteht.91 Sie passt auch nicht ganz dazu, wie Kant „das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Welttheils“ kritisiert: „Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Cap. etc. waren bei ihrer Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts.“92 Pauline Kleingeld geht von 84

Kant, Collegentwürfe aus den 80er Jahren. Entwürfe zu dem Colleg über (…) Character der Race, L Bl. HA 53 S. I, II, AA XV, 877 f. 85 http://kant.bbaw.de/base.htm/index.htm (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2022). 86 Eine Zusammenstellung findet sich bei Kleingeld, in: Flikschuh/Ypi (Hrsg.), Kant and Colonialism. Historical and Critical Perspectives, 2014, 43 – 68. 87 Kant, Recensionen von I. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Theil 1.2. AA VIII, 62. 88 Louden, Kant’s Impure Ethics: from Rational Beings to Human Beings. 89 Eze, in: ders. (Hrsg.), Postcolonial African Philosophy: A Reader, 1997, 103 – 140. 90 Mills, in: ders., Black Rights, White Wrongs. The Critique of Racial Liberalism, 2017. 91 Ebd., 105. 92 Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII 358.

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einem Gesinnungswandel Kants in der Mitte der neunziger Jahre aus,93 was u. a. von Bernard Boxill bezweifelt wird.94 Bernard Boxill versucht in „Kantian Racism and Kantian Teleology“95 zu zeigen, dass Kants Rassismus das Resultat seines teleologischen Geschichtsdenkens sei, mit drastischen Implikationen für die weniger favorisierten Rassen. Kants Rassismus als „sophisticated and elaborated theoretical position“ zu verstehen96 könnte im Vergleich zu anderen Theoriestücken Kants überzogen sein, ist aber nicht neu. Erich Adickes zum Beispiel sah hier Kants Genie am Werke, welches „die durchgehenden inneren Gesetzmäßigkeiten so klar zu erfassen vermochte. So dürften auch Kants Ansichten über Rasse und Vererbung unter seine Ruhmestitel auf naturwissenschaftlichem Gebiet gezählt werden“.97 Allerdings steht in Kants Überlegungen die Hierarchisierung der Rassen nicht durchgängig im Mittelpunkt, häufig wird sie möglicherweise als selbstverständliche „Tatsache“ unterstellt. Dies macht sie nicht weniger problematisch, beginnt allerdings, wie gesehen, spätestens bei Linné. Kants Autorität in Verbindung mit den angeführten Äußerungen hat mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Beitrag zur Stabilisierung rassistischer Denkmuster geliefert. Gleichwohl geraten diese rassistischen Anwandlungen in erheblichen Widerspruch zu den Resultaten seiner praktischen Philosophie, solange man nicht unterstellt, Kant habe aus Kohärenzgründen seine ganze Ethik und Rechtstheorie den rassistischen Thesen angepasst oder am Ende gar einen Völkermord globalen Ausmaßes gutgeheißen. Ob Bernard Boxill ihm dergleichen unterstellt, wenn er meint, Kants Rassismus sei das Produkt seines teleologischen Geschichtsdenkens, das eine Perfektionierung des Menschengeschlechts vorsehe, zu welcher die schwarze und die rote Rasse nicht fähig seien,98 scheint nicht ganz klar. Dem würde allerdings ein Missverständnis des Perfektionismus in Kants Geschichtskonzeption zugrundeliegen, der sich eher auf die angemessene Institution der Staatenwelt als auf die Entwicklung der Menschen richtet.99

93

Kleingeld, (Fn. 86). Boxill, in: Zack (Hrsg.), The Oxford Handbook of Philosophy and Race, 2017, 46. 95 Ebd. 96 Mills (Fn. 90), 101, 104 f. 97 Adickes, Kant als Naturforscher, Band II, 1925, Kap. 5, 429; Eisenhans, in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft, Leipzig 1904; vgl. Müller, Kant’s unreasonable reasoning – towards a philosophical anthropology of reason after Kant, Vortrag auf dem UK Kant Society Annual Meeting 2019 in Bristol. 98 Boxill, (Fn. 94), 47 – 52. 99 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA VIII, 24 – 28. 94

Das Recht auf Leben als Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben Stephan Kirste

I. Einleitung: Der problematische Dualismus von Leben und Autonomie In seinem Urteil zur Suizidhilfe leitet das Bundesverfassungsgericht das Recht, seinem Leben ein Ende zu setzen und dazu die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen, nicht aus dem Recht auf Leben, sondern aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht ab.1 Damit soll die positive Seite des Rechts auf Leben in Art. 2 II S. 1 GG verankert, die negative Seite – das Recht darauf, nicht leben zu müssen – hingegen Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG enthalten sein. Das ist insofern überraschend, als sich die negative Seite des Grundrechts als Kehrseite der positiven zumeist aus dem selben Grundrecht ergibt. Die Glaubensfreiheit schützt auch darin, keinen Glauben haben zu wollen; die Vereinigungsfreiheit verlangt nicht, dass ich einer Vereinigung angehöre, sondern erlaubt mir, Vereinigungen nicht angehören zu wollen; eine Ehe kann, muss ich aber nicht eingehen.2 Dies bedeutet keine Entscheidung gegen das Grundrecht, sondern gehört zum Gebrauch der jeweiligen Freiheit. Denn ohne die Garantie von Alternativen, hätte ich keine Freiheit. Zum Recht auf Leben soll es jedoch nicht gehören, es nicht haben, sondern beenden zu wollen. Sterbenwollen soll als ein Element des geistigen Bereichs der persönlichen Identität und nicht des biologischen Bereichs des Lebens gewährleistet werden. Im genannten Urteil kommt das Recht auf Leben dann nur in seiner objektiven Dimension als Beschränkung der autonomen Entscheidung über das Leben durch eine staatliche Schutzpflicht ins Spiel. 1

BVerfG NJW 2020, 905 (905 ff.); anders der österreichische Verfassungsgerichtshof. In seinem Urteil zum strafbewehrten Verbot der Suizidassistenz in Österreich wird die freie Selbstbestimmung neben dem Recht auf Privatleben und dem Gleichheitsgrundsatz auch aus dem Recht auf Leben abgeleitet. „Zur freien Selbstbestimmung gehört zunächst die Entscheidung des Einzelnen, wie er sein Leben gestaltet und führt. Zur freien Selbstbestimmung gehört aber auch die Entscheidung, ob und aus welchen Gründen ein Einzelner sein Leben in Würde beenden will. All dies hängt von den Überzeugungen und Vorstellungen jedes Einzelnen ab und liegt in seiner Autonomie.“ (MedR 39 [2021], 538 [540]). 2 All das kann vom Grundrechtsträger für sich selbst abgelehnt werden, ohne das jeweilige Grundrecht selbst in Frage zu stellen: Er macht davon Gebrauch, über das jeweilige Rechtsgut für sich zu entscheiden.

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Sofern in der Literatur nicht überhaupt ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben abgelehnt wird,3 wird dieses Recht mit dem Urteil des BVerfG im allgemeinen Persönlichkeitsrecht verankert. Grundlage für diese Einordnung ist ein bestimmter Begriff des Lebens. Das BVerfG versteht das menschliche Leben als „die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte“.4 Andere nehmen an, das Leben wäre die „natürliche Voraussetzung menschlichen Handelns“5 oder sehen es als „physische Existenz des Menschen als Voraussetzung für seine geistige Existenz“6 an. Kommentatoren des Grundgesetzes gehen davon aus, dass das Recht auf Leben abziele auf den „Schutz der biologisch-physischen Integrität des Grundrechtsberechtigten“.7 Es schütze die „Körperlichkeit des Individuums, sein physisches Da- und Sosein“. Aber physisch „da“ sind auch Mineralien und Leichen, ohne dass man sie deshalb für menschlich lebend halten wollte.8 Es muss also ein anderes unterscheidendes Kriterium gegenüber diesen Formen von lebender Existenz gefunden werden, die den Schutz menschlichen Lebens begründen. Gegenüber der Einordnung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben im Recht auf Leben wird in der Diskussion ferner eingewendet, diese negative Seite der Freiheitsrechte sei nur sinnvoll bei Grundrechten, die eine aktive Handlung voraussetzen.9 Anders als etwa bei der Meinungsfreiheit sei dies aber beim Leben als einem „Statusgrundrecht ohne Handlungsdimension“ nicht der Fall.10 Apodiktisch hält Müller-Terpitz fest: „Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG ist ein Grundrecht mit ausschließlich positivem Gewährleistungsgehalt“.11 Das Recht auf Leben wird daher zu einem Statusgrundrecht, auf dessen Garantie erst die Freiheitsrechte aufbauen können. Diese Argumentation folgt konsequent aus dem Verständnis des Lebens nur im biologischen Sinn. Dieses biologische Leben läuft unabhängig von selbstbestimmten Entscheidungen ab. 3 Weilert, DVBl 2020, 868 (880); Lorenz, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, 133. Lfg. April 2008, Art. 2 Abs. 1 Rn. 54 m. w. N.; Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 192. 4 BVerfGE 39, 1 (42); BVerfGE 72, 105 (115); BVerfGE 109, 279 (311): „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muß, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte“. 5 Di Fabio, in: Maunz/Dürig/Herzog (Hrsg.), GG, 43 Lfg. 2004, Art. 2 Abs. 2, Satz 1 Rn. 9; auch Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 2 Rn. 8. 6 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2004, Art. 2 II Rn. 20. 7 Müller-Terpitz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 147 Rn. 7. 8 Anderheiden, KritV 2001, 353 (368). 9 Zur Problematik grundsätzlich auch Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Grundrechte, 1993, 33 f. und 136 f.; bejahend für das Recht auf Leben: Michael/Morlok, Grundrechte. 7. Aufl. 2020, Rn. 160. 10 So wohl die h. M.: Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 2 II Rn. 32; Kunig/Kämmerer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2021, Art. 2 Rn. 97. – Lang möchte das Recht auf Suizid dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Art. 2 II, S. 1 GG zuordnen, Lang, NJW 2020, 1562 (1563). 11 Müller-Terpitz, in: Isensee/Kirchhof, § 147 Rn. 38.

Recht auf Leben als Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben

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Gewollt oder ungewollt trägt die herrschende Auffassung einen dualistischen Lebensbegriff der Aufklärung in das Recht auf Leben: Die Selbstbestimmung wird vergeistigt; und das Leben auf seine biologischen Mechanismen reduziert. Bereits der Philosoph Max Scheler hat diesen Ansatz beschrieben: „Das neue Prinzip, das den Menschen zum Menschen macht steht außerhalb alles dessen, was wir Leben (…) im weitesten Sinne nennen können. Das, was den Menschen zum Menschen macht, ist ein allem Leben überhaupt entgegengesetztes Prinzip, das man als solches überhaupt nicht auf die ,natürliche Lebensevolution‘ zurückführen kann, sondern das, wenn auf etwas, nur auf den obersten Grund der Dinge selbst zurückfällt – auf denselben Grund also, dessen Teil-Manifestation auch das ,Leben‘ ist. Schon die Griechen behaupteten ein solches Prinzip und nannten es ,Vernunft‘“.12

Selbstverständlich soll hier nicht behauptet werden, dass ausgerechnet Schelers Theorie naturalistisch sei.13 Doch führt die Entgegensetzung von Leben und Vernunft zu einem naturalistischen Lebensbegriff, der von diesem nur die biologische Funktion erfasst und ihm die Vernunft entgegensetzt. Dabei wird die Vernunft aus der IchPerspektive des Grundrechtsträgers dem Leben als objektives Es entgegengesetzt. Dieser Dualismus führt dann zu einem seltsam monodisziplinären Vorverständnis des Lebens, so als ob nur die Biologie zu dessen Bestimmung zuständig sei, während die Rechtswissenschaft „den“ biologischen Begriff des Lebens voraussetzen und sich auf dessen Schutz zurückziehen dürfe. Dies ermögliche den breiten Lebensschutz durch ein schwaches, nicht von anspruchsvollen metaphysischen Annahmen abhängiges Konzept des Lebens. Würde man die Ansprüche an den Begriff des Lebens mit Rücksicht auf menschliche Qualitäten wie Bewusstsein steigern, würde der Schutzbereich immer enger gefasst. Außerdem würde der Rückgriff auf einen naturwissenschaftlichen Lebensbegriff objektive und verlässliche Gründe ergeben, die willkürliche oder ideologische Entscheidungen über das Leben vermeiden hülfen.14 Angesichts der Fortschritte in der Medizin, besonders auch in der Genetik und der synthetischen Biologie ist dieser Dualismus problematisch geworden. Die Medizin nimmt vielmehr verstärkt Einfluss auf Entstehung, Struktur und Ende des Lebens. Getragen ist dieser Einfluss von Vorstellungen über das Leben, die mit den Vorstellungen desjenigen, um dessen Leben es geht, in Konkurrenz treten, bzw. sie belasten können. Das ist etwa dann der Fall, wenn Maßnahmen möglich werden, die das Leben des Menschen irreversibel prägen, bevor er seine Vorstellungen vom Leben ausbilden und artikulieren kann oder wenn sie ihn am Leben erhalten können, obwohl er dies nicht mehr will. Insofern bedeuten die Autonomiegewinne der modernen Medizin auch eine Erweiterung des Handlungsbereichs des Grundrechtsträgers. Die medizinische Vernunft schwebt längst nicht mehr theoretisch über den Wassern des Lebens, sondern ist in sie tief eingedrungen und hat sie modifiziert. Deshalb soll diesem Ansatz gegenüber hier die These vertreten werden, dass die Entscheidung über das 12

Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 2018, 46 f. Zu Scheler auch Augsberg, ARSP 89 (2003), 53 (54 ff.). 14 Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, Art. 2 Rn. 192. 13

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Leben zu diesem selbst gehört. In dem Maße, in dem die Autonomie über die vormals unverfügbare „natürliche Basis“ der Freiheit durch medizinische Fortschritte wächst, ist in rechtlicher Hinsicht zu fragen, wie diese Autonomiegewinne zu verteilen sind. Die Menschenwürde fordert hier, dass die wesentlichen Entscheidungen über das Leben dem Menschen verbleiben und er nicht so ins Leben treten muss, dass es sich als Ausdruck fremder, nicht seiner Zwecke darstellt. In diesem Sinn schlägt Josef Franz Lindner auch eine Grundgesetzänderung des Art. 2 II, S. 1 vor: „Jeder hat das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und selbstbestimmte Entscheidung über seinen Tod.“15 Aber diese selbständige Aufnahme eines eigenen Grundrechts erscheint bei Anerkennung der negativen Freiheit nicht notwendig.

II. Die Diskussion um Begriffe des Lebens in den Lebenswissenschaften und der Philosophie der Wissenschaften 1. Das Problem der Vielfalt der Lebensbegriffe Lebenswissenschaften und Philosophien der Naturwissenschaft teilen nicht den juristischen Optimismus eines einheitlichen biologischen Lebensbegriffs.16 Nicht nur in der Genetik, sondern auch in der künstlichen Herstellung von Leben, insbesondere in der Artificial Life Diskussion werden zunehmend differenzierte Organismen als herstellbar angesehen. Das Leben selbst erscheint so als Ergebnis von Handlungsoptionen. In der Philosophie der Biologie herrscht ausgesprochene Frustration über die Möglichkeit zur Bestimmung des Begriffs des Lebens:17 Er scheint sich nicht definieren zu lassen. Und das, obwohl schon 1930 angenommen wurde „no problem of philosophy is more fundamental than the nature of life“18 und obwohl gerade die synthetische Biologie die Frage nach dem Lebensbegriff erneut aufgeworfen hat.19 Auf einer Metaebene geht der Streit inzwischen darum, nach welche Kriterien sich die Definitionsversuche des Lebens einteilen lassen und darüber, ob es überhaupt sinnvoll ist, eine solche Definition vorzunehmen.20 Es fehlt daher auch nicht an Kritik, 15 16

356. 17

Lindner, MedR 38 (2020), 527 (529). Kritisch daher zur Übernahme naturalistischer Lebensbegriffe Anderheiden, KritV 2001,

Mariscal, „Life“, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Winter 2021, https://plato.stanford.edu/archives/win2021/entries/life/ (zuletzt abgerufen am 21. 2. 2022). 18 Hogben, The Nature of Living Matter, 1930, 80; aktuell auch Dabrock/Bölker/Braun/ Ried (Hrsg.), Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der Synthetischen Biologie, 2011, 12 f. 19 Dabrock/Bölker/Braun/Ried (Hrsg.) (Fn. 18), 16. 20 Bedau/Cleland (Hrsg.), The Nature of Life, 2010, 295 ff.; dort auch Cleland/Chyba, 326 (326 ff.).

Recht auf Leben als Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben

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wenn „sich Philosophen bei Biologen einen vermeintlich geklärten Lebensbegriff abholen, um diesen dann unbesehen in einen philosophischen, z. B. ethischen, Systemkontext argumentativ einzubinden.“21 Auch hier gibt es dann Moden wie etwa genetische,22 systemtheoretische Lebensbegriffe23 oder Netzwerktheorien des Lebens.24 Und diese Kritik lässt sich auf die Rechtswissenschaft übertragen. Das Problem wird nicht geringer, wenn nun von „menschlichem Leben“ gesprochen wird, weil dann sogleich die Frage ist, ob „menschlich“ das Kriterium ist, dass die übrigen Merkmale des Lebens modifiziert oder ob es nur ein einschränkendes Kriterium darstellt, wonach alle allgemeinen Merkmale des Lebens vorliegen müssen, nur dass sie eben ausschließlich auf den Menschen bezogen werden. Aber es gibt auch qualitative Unterschiede: Ist es typisch für das menschliche Leben, dass es sich ab einem gewissen Bewusstseinsgrad auf den Tod einstellen und von daher Handlungsimpulse beziehen kann? Nicht weniger groß ist die Verwirrung über die Abgrenzung zwischen „hergestellt“ und „natürlich“: Ab welchem Grad von natürlicher Unterstützung ist ein Leben künstlich?25 Der Streit ist auch für die Rechtsphilosophie und die Dogmatik des Rechts auf Leben alles andere als trivial: Dieses Recht kommt nicht ohne eine Definition des Lebens aus, um es von anderen Rechten zu unterscheiden und den Schutzbereich einzugrenzen; und die Frage, ob das menschliche etwas anderes als sonstiges Leben sei oder ob es das Leben eben bloß der Spezies Mensch sei, ist für die Reichweite des Schutzes maßgeblich. Definitionen müssen uns nicht blind machen gegenüber neuen Entwicklungen des Lebens; vielmehr markieren sie Grenzen, deren Überschreitung eine Bewertung erforderlich macht. Will man das Neue, das jenseits der Grenze liegt – etwa Chimären sind – noch als menschliches Leben ansehen oder sind sie etwas anderes? Die Frage, wann das Recht auf Leben beginnt, wann es aufhört und wer sein Träger ist, kann nicht beantwortet werden, ohne einen Begriff des menschlichen Lebens. Im Recht ist die Definition des Lebens sachlich notwendig, um menschliches 21

Ingensiep, FS Meyer-Abich, 2002, 103 (105). „Das Leben erscheint unter diesem Aspekt als eine von leblosen Grundbausteinen, Nukleinsäuren und Proteinen, strukturierte genetische Information“, Melderis, Der biologische Urknall. Entstehung von Kosmos und Leben aus der Bewegung, 1999, 197. 23 Weber, „Life“, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Herbst 2021, https://plato.stanford.edu/archives/fall2021/entries/life/ (zuletzt abgerufen am 21. 02. 2022); Harold, The way of the cell. Molecules, organisms and the order of life, 2001, 232, http:// www.loc.gov/catdir/enhancements/fy0610/00056670-d.html (zuletzt abgerufen am 21. 02. 2022). Luhmann, Die Soziologie und der Mensch, in: Neue Sammlung 25 (1985), 33 (38): „Das Leben selbst kann jedenfalls als Autopoiesis begriffen werden. Das heißt: Leben produziert Leben, und nichts von außen kann Leben hinzufügen. Es hat sich als selbstreferentiell geschlossene Reproduktion eingerichtet. Dafür ist das Wort Autopoiesis zunächst geprägt worden“. Auch Müller-Terpitz, in: Isensee/Kirchhof, § 147 Rn. 28 und 35. 24 Ruiz-Mirazo/Peretó/Moreno, in: Bedau/Cleland (Hrsg.), The Nature of Life, 201, 310 (320). 25 Heil, in: Dabrock/Bölker/Braun/Ried (Hrsg.), Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der Synthetischen Biologie, 2011, 147 (148). 22

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von anderem Leben zu unterscheiden, und zeitlich, um Beginn und Ende bewerten zu können. 2. Drei Konzeptionen über das Verhältnis von Leben und autonomer Persönlichkeit Die herrschende Auffassung vom Recht auf Leben als einem Statusgrundrecht zur Erhaltung der biologischen Grundlage der Person einerseits und dem im allgemeinen Persönlichkeitsrecht verankerten Rechten der Selbstbestimmung über die eigene Identität andererseits folgt dem Cartesianischen Dualismus von res extensa und res cogitans und weder der aristotelischen und mittelalterlichen Vorstellung einer gestuften Ordnung des Lebens noch einem rein naturalistisch-monistischen Verständnis, dass auch die geistigen Prozesse nur emergente Ergebnisse biologischer seien. Schon bei Aristoteles war ein lebender Organismus nicht nur durch den Austausch mit der Umwelt, Entwicklung durch Entstehen und Vergehen und somit Dynamik, sondern auch durch eine integrierende und Kontinuität herstellende Seele gekennzeichnet.26 Kennzeichnend für das Leben ist die Möglichkeit einer gewissen Selbstbewegung.27 Jedes Lebendige wird durch ein immanentes Telos entsprechend dem Rang des integrierenden Prinzips angeleitet: Pflanzen verfügen nur über eine anima vegetativa, Tiere und Menschen zudem über eine anima sensitiva. Allein der Mensch verfügt über Vernunft. Ihm ist ein gutes Leben als vita contemplativa und vita activa möglich. Das biologische Leben wird also von seinem integrierenden seelisch-geistigen her verstanden.28 Mit dieser Vorstellung räumt dann René Descartes auf. Die sich im Vollzug ihres Denkens ihrer selbst bewusst werdende Vernunft des Menschen unterscheidet sich als res cogitans grundlegend von der unvernünftigen biologischen Körperlichkeit des Menschen als res extensa.29 Das körperliche Leben funktioniert unabhängig 26

Aristoteles, Über die Seele. De anima: Griechisch-Deutsch, Corcilius (Hrsg. und Übers.), 2015, 413 a, S. 75: „,Lebendig-Sein‘. wird aber auf vielfache Weise ausgesagt, und wir sagen auch dann, wenn nur eines davon darin vorkommt, es sei lebendig, z. B. Vernunft, Wahrnehmung, Ortsbewegung und Stillstand, ferner Nahrungsaufnahme, Schwinden und Wachstum. Deswegen scheinen auch alle Gewächse lebendig zu sein“. 27 Aristoteles, Physik. Zweisprachige Ausgabe, Heinemann (Hrsg. und Übers.), Hamburg 2021, 192 b. 28 Deutlich gerade auch bei Albertus Magnus: „Vita est actus primus et essentialis et continuus animae in corpus“ (L. ist der erste und wesentliche und kontinuierliche Akt der Seele im Körper), zit. nach Vennebusch, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5: L – Mn, 1980, „Leben III: Mittelaltern“, Sp. 61. 29 „Und obwohl ich (…) einen Körper besitze, der mit mir äußerst eng verbunden ist – denn ich besitze einerseits eine klare und deutliche Idee meiner selbst, insofern ich ein denkendes, kein ausgedehntes Ding bin, und anderseits die deutliche Idee des Körpers, insofern er lediglich ein ausgedehntes, kein denkendes Ding ist –, ist es sicher, daß ich von meinem Körper tatsächlich unterschieden bin, und ohne ihn existieren kann.“ Descartes, Meditationen: Me-

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vom geistigen wie ein Automat.30 Der Begriff des Lebens ist nicht mehr die umgreifende Klammer von geistigem, animalischem und vegetativem Leben. Das erlaubt dann die Differenzierung von rein mechanistischen Lebensbegriffen wie etwa bei Julien Offray de La Mettrie31, später eines Schrödinger32 einerseits und einer philosophischen Anthropologie, die das Wesen des Menschen in seiner Vernunft und der von dieser frei geprägten Persönlichkeit sieht. Konsequent unterwirft David Hume den gesamten Bereich des menschlichen Lebens der Gestaltungsmacht des Menschen, so dass Selbsterhaltung und Selbstvernichtung komplett in seine Freiheit gestellt sind.33 Es ist bemerkenswert, dass jedenfalls der späte Immanuel Kant und der Idealismus von diesem dualistischen Verständnis des Lebens Abstand nehmen. In seiner Kritik der Urteilskraft unterscheidet er zwischen einem Mechanismus,34 der von außen aufgezogen wie ein Uhrwerk, seinen Zweck außer sich hat, und einem Organismus, der ein System der wechselseitigen Zwecke darstellt.35 Diese Selbstorganisation ist zwar kennzeichnend für jeden lebenden Organismus;36 für das menschliche Leben kommt ditationen über die Grundlagen der Philosophie, Wohlers (Hrsg. und Übers.), 2009, Sechste Meditation, 85. 30 Descartes, Discours de la Méthode: Im Anhang: Brief an Picot. Adrien Baillet: Olympica. Zweisprachige Ausgabe, Ch. Wohlers/W. Wolfgang (Hrsg. und Übers.), 2011, 29 f., 49. 31 „Da aber alle Fähigkeiten der Seele so sehr von dem eigentümlichen Bau des Gehirns und des ganzen Körpers abhängen, daß sie offensichtlich nur dieser organische Bau selbst sind, so haben wir es mit einer gut ,erleuchteten‘ Maschine zu tun!“, La Mettrie, Die Maschine Mensch. Französisch – deutsch, Becker (Hrsg.), 2009, 95. 32 Schrödinger, Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, 3. Aufl., Neuausg. 1989, 102 f. „Was ist denn dieses kostbare Etwas in unserer Nahrung, das uns vor dem Tode bewahrt? Das ist leicht zu beantworten. Jeder Vorgang, jedes Ereignis, jedes Geschehen – man kann es nennen, wie man will, – kurz alles, was in der Natur vor sich geht, bedeutet eine Vergrößerung der Entropie jenes Teiles der Welt, in welchem es vor sich geht. Damit erhöht ein lebender Organismus ununterbrochen seine Entropie – oder, wie man auch sagen könnte, er produziert eine positive Entropie – und strebt damit auf den gefährlichen Zustand maximaler Entropie zu, der den Tod bedeutet“. 33 „1) Die Selbstvernichtung ist sowenig ein Verstoß gegen den göttlichen Willen wie die Selbsterhaltung. Beide Male wird nur mit den Kräften operiert, die dem Menschen verliehen sind, in beiden Fällen ist es gleich abwegig, von einem Eingriff in die Vorsehung zu sprechen./ 2) Die soziale Verpflichtung erreicht spätestens dann ihre Grenze, wenn das eigene Leben unerträglich wird./ 3) Wird das Leben zur Last, so liegt die Selbstvernichtung legitim im eigenen Interesse“, Ebeling, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9: Se – Sp: 1995, „Selbstmord“, Sp. 496. 34 Kant, Kritik der Urteilskraft, Klemme (Hrsg.), 2009, 280: „Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern sie besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die sie den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert).“ 35 Kant (Fn. 34), 324: „Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist“. 36 „Leben heißt das Vermögen einer Substanz, sich aus einem inneren Prinzip zum Handeln, einer endlichen Substanz, sich zur Veränderung, und einer materiellen Substanz, sich zur Bewegung oder Ruhe, als Veränderung ihres Zustandes, zu bestimmen“, Kant, Metaphysische

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aber noch hinzu, dass dieser Organismus dem Endzweck der Vervollkommnung der Sittlichkeit des Menschen untergeordnet ist. Dieser Endzweck besteht aber darin, dass der Mensch sich selbst tugendhaft auf das Sittengesetz und sich im Verhältnis zu anderen auf das vernünftige Rechtsgesetz stellt. Dabei soll die vernünftige Rechtsordnung – letztlich der gesamten Welt – durch die Abgrenzung von Sphären äußerer Freiheit erst den Freiheitsbereich sichern, in dem der Mensch tugendhaft handeln kann. Das menschliche Leben ist Zweck in sich selbst.37 Das Sittengesetz gebietet dabei, alle Menschen als Zwecke in sich selbst zu behandeln; als Rechtspflicht verlangt es von jeder Person, sich anderen als Zweck in sich selbst im Verkehr mit ihnen anzubieten. Dem menschlichen Leben ist also nicht nur irgendein Zweck inhärent, sondern die Selbstzwecklichkeit. Die Ablösung des biologischen Lebens aus diesem durch die Selbstzweckhaftigkeit organisierten menschlichen Leben, würde es als ein Naturprodukt betrachten. Denn Naturorganismen sind nach Kant zwar selbstorganisiert und haben einen inhärenten Zweck. Dieser kann jedoch einem anderen Zweck untergeordnet werden. Der Instrumentalisierung des menschlichen Lebens wäre also durch eine getrennte Beurteilung von naturalistischem Bios und kulturalistischer Zoe bereits der Weg gebahnt. Die Teleologie auf den Endzweck der Selbstzwecklichkeit sichert also bei Kant, dass das menschliche Leben insgesamt der Instrumentalisierung entzogen ist. Gerade umgekehrt wie bei Hume wird das Leben durchdrungen von der Realisierung der Tugend und darf daher auch nicht durch einen Suizid aufgegeben werden.38 Aber das Verbot des Suizids ist eine Tugendpflicht, keine RechtsAnfangsgründe der Naturwissenschaft. Kant-Werke, Band 9, Weischedel (Hrsg.), 1985, 109 – 110. Kant (Fn. 34), 321 f.: „In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht: welches aber nicht genug ist (denn er könnte auch Werkzeug der Kunst sein, und so nur als Zweck überhaupt möglich vorgestellt werden); sondern als ein die andern Teile (folglich jeder den andern wechselseitig) hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann: und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Naturzweck genannt werden können“. 37 Kant (Fn. 34), 89: „Nur das, was den Zweck seiner Existenz in sich selbst hat, der Mensch, der sich durch Vernunft seine Zwecke selbst bestimmen, oder, wo er sie von der äußeren Wahrnehmung hernehmen muß, doch mit wesentlichen und allgemeinen Zwecken zusammenhalten und die Zusammenstimmung mit jenen alsdann auch ästhetisch beurteilen kann“. „Von dem Menschen nun (und so jedem vernünftigen Wesen in der Welt) als einem moralischen Wesen kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich (…) nur im Menschen, aber auch in diesem nur als Subjekte der Moralität, ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist“, Kant (Fn. 34), 361. 38 Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, in: Immanuel Kant Werkausgabe, Band VIII, Weischedel (Hrsg.), 1982, 501 (554): „Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponieren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertrauet war“.

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pflicht. Rechtspflicht ist, den anderen nicht zu töten, weil dies in seinen Freiheitsbereich eingriffe und sein Leben meinen Zwecken unterstellte. Friedrich Wilhelm Josef Schelling geht dann so weit, die Materie des menschlichen Lebens als Produkt des Geistes zu verstehen.39 Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel hält in den „Grundlinien“ eine Seele ohne Leib für ebenso wenig lebendig, wie einen menschlichen Leib ohne Seele.40 Weil aber der Körper das Dasein der Freiheit der Person ist, darf beides nicht getrennt und womöglich „dieses lebendige Dasein (…) zum Lasttiere mißbraucht werden“.41 Wegen dieser Einheit sieht auch Hegel den Suizid als unzulässig an.42 Das Recht zu leben ist unveräußerlich.43 Es kann hier nicht um eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen drei Begriffen vom Zusammenhang eines biologischen Lebens mit der Persönlichkeit des Menschen und entsprechend dem Recht auf Leben mit demjenigen der Persönlichkeit gehen. Es sollten nur drei Möglichkeiten aufgezeigt werden. Angesichts der eingangs dieses Kapitels angesprochenen Vielfalt der aktuell vertretenen Lebensbegriffe und insbesondere auch berücksichtigend, dass die hier erwähnten alle vor dem großen Aufstieg der Lebenswissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert gebildet wurden, wäre es nicht zielführend einfach auf sie zurückzugreifen. Die kurze Skizze lässt aber eine Einordnung der Vorstellung des Lebens als eine „biologische Grundlage“ der Persönlichkeit in den Cartesianisch dualistischen Begriff des Lebens zu. Dieser dualistische Begriff überwindet zwar die auf Aristoteles zurückgehende Metaphysik der teleologischen Einheit des Lebens; er wird aber nicht dem mit Kant und den Idealisten wieder ins Bewusstsein tretenden Zusammenhang und dem wechselseitigen Einfluss der vernünftig freien und biologischen Funktionen des Lebens gerecht. Diese Wechselbezüglichkeit versuchen sowohl naturalistische, diskurstheoretische als auch kulturalistische Lebensbegriffe weiterzudenken.

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Schelling, Von der Weltseele, in: Werke, Band 1, 1907, 592 (596): „Das Leben ist nicht Eigenschaft oder Produkt der tierischen Materie, sondern umgekehrt die Materie ist Produkt des Lebens“. 40 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen in seinem Handexemplar und den mündlichen Zusätzen, Reichelt (Hrsg.), 1972, § 1 Z, S. 28. 41 Hegel (Fn. 40), § 48, Anm. S. 170: „Nur weil Ich als Freies im Körper lebendig bin, darf dieses lebendige Dasein nicht zum Lasttiere mißbraucht werden. Insofern Ich lebe, ist meine Seele (der Begriff und höher das Freie) und der Leib nicht geschieden, dieser ist das Dasein der Freiheit, und Ich empfinde in ihm“. 42 Hegel (Fn. 40), § 5 Z, S. 63; § 46 Anm., S. 169; § 70. 43 Hegel (Fn. 40), § 66: „Auch das Recht zu leben ist unveräußerlich, d. i. für die Willkür. Es verkauft sich einer, zum Tode; – Geld für seine Familie oder sonstige Verwendung. – Der ihn kauft und tötet, verstümmelt, [ist] Mörder. (Kastration – Lernen von chirurgischen Operationen, – Zahnausreißen).“

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III. Veränderbarkeit und Herstellbarkeit von Leben Die Bedeutung dieser Wechselbezüglichkeit zeigt sich aber gerade in den Diskussionen um die Genetik, synthetische Biologie und Theorien von (soft und hart, dry und wet) Artificial Life. Sie machen deutlich, dass die wissenschaftliche Vernunft im erheblichem Umfang Einfluss auf das Leben nehmen kann. Wenn das Leben als ein System verstanden wird, gehört dann nicht der Fortpflanzungsmediziner, der Nuklearmediziner, der mit CRISPR/CAS-Methoden gezielt DNA Genom Editing betreibt, zum System Leben, das er verändert? Jedenfalls tritt die äußere Freiheit des Lebenswissenschaftlers in ein Verhältnis zur äußeren Freiheit der Person, deren Leben davon betroffen ist oder sein wird. Schon Paracelsus stellte sich vor, durch „spagyrische“ Methoden reine Menschen erzeugen zu können, die wegen ihrer Reinheit viel vernünftiger Handeln könnten als gewöhnliche Menschen.44 Zwar sollten sie „nicht anders als ein anders Kind mit grossem fleiß unnd sorg aufferzogen werden“;45 aber es war ihm doch auch klar, dass „auß solchen Homunculis (…) wunderleut“ werden, „die zu einem grossen Werckzeug und Instrument gebraucht werden, grossen gewaltigen Sig wider ire Feind haben/ alle heymliche und verborgene ding wissen/ die allen menschen sonst nicht möglich sein zuwissen“.46 Gerade die Künstlichkeit des Humunculus verbürgt dessen Reinheit, Intelligenz und insgesamt Perfektion. Die Idee der Erzeugung des menschlichen Lebens erscheint ihm weder schöpfungswidrig noch unmoralisch, denn sie dient der Perfektion des Menschen. Aber der hergestellte Mensch wird zum Instrument der Erkenntnis. Dieses menschliche Leben ist perfekt, weil es rational hergestellt wurde. Der fremde Zweck ruht seiner Entstehung inne: Es ist nicht um seiner selbst willen hergestellt. Die Realität auch des 21. Jahrhunderts legt immer noch nahe, dass dem Menschen in Bezug auf die Herstellung und Verbesserung des Lebens noch keine creatio ex nihilo, sondern auch in der synthetischen Biologie eher eine Rekombination von immer detaillierter analysierten Elementen wie etwa bei Chimärenbildungen gelingt.47 So ist der Forscher weniger ein „homo creator“ als doch eher ein „homo plagiator“, wie Ried und Dabrock treffend schreiben.48 Auch wenn aber die Vorlagen der synthetischen Biologie der natürlichen entstammen, gehen Ansätze von Robotik49 und insbesondere auch von „wet Artificial Life“ 44

„Es ist darneben zuwissen/daß also Menschen mögen geboren werden/ one natürliche Vätter und Müter/ das ist/ sie werden nicht von weiblichem leib auff natürliche weiß/ wie andere Kinder geboren/ sonder durch Kunst/ von eynes erfahrenen Spagiri Geschicklichkeyt/ mag ein Mensch wachsen unnd geboren werden/ wie weiter würt angezeigt“, Paracelsus, De Natura Rerum, IX Bücher, 1584, 2 f. 45 Paracelsus (Fn. 44), 7. 46 Paracelsus (Fn. 44), 7. 47 Ingensiep, FS Meyer-Abich, 116 f. 48 Ried/Dabrock, Zeitschrift für Evangelische Ethik 55 (2011), 179 (184 f.). 49 Zum Lebensbegriff der Robotik Mainzer, Leben als Maschine: wie entschlüsseln wir den Corona-Kode? Von der Systembiologie und Bioinformatik zu Robotik und Künstlicher Intel-

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erheblich darüber hinaus.50 Sie werfen mit ihren lebensartigen Konstruktionen die Frage auf, wann etwas schon als Leben oder doch nur als Mechanik angesehen werden kann. Das Wort „Leben“ hat hier eine unklare Bedeutung, wenn man seine Elemente so anspruchslos fasst, dass es auch auf bestimmte selbständige Produkte künstlicher Existenz passt.51 Aber wenn nicht nur Simulationen wirklichen Lebens („soft Artificial Life“) oder recht klar vom Menschen unterschiedene Roboter („hard Artificial Life“), sondern auch künstliche, für andere Zwecke und nicht um ihrer selbst willen geschaffene Lebewesen geschaffen werden, fordert das auch das Verständnis des menschlichen Lebens heraus. Sie sind Agenten, sofern wir sie dazu gemacht haben.52 Auch wenn solche im Wege der synthetischen Biologie geschaffene künstliche Lebewesen aufgrund von Algorithmen selbstlernende Systeme sind, bleibt ihr Entstehungsmoment doch künstlich und instrumentell zur Verfolgung externer Zwecke („wet Artificial Life“).53 Jedenfalls kommt man nicht umhin festzustellen, dass angesichts solcher Entwicklungen der Bereich des natürlichen Lebens als Basis der Persönlichkeit zugunsten künstlich hergestellter Lebensstrukturen auf dem Rückzug ist. Mariscal hält daher fest: „In principle, most contemporary scientists and philosophers believe life can be created, but there is broad disagreement as to what needs to be recreated for something to be life.“54 Der Gedanke, den Giambattista Vico noch auf die Welt der Politik und Kultur beschränkt hatte: was die Menschen geschaffen haben, das können sie auch erforschen,55 das klingt – ohne Bezug auf Vico – aus dem Mund des Physikers Richard Feynman auf das Leben bezogen so: „what I cannot create I do not understand“.56 ligenz, 2. Aufl. 2020, und eines Posthumanismus Braidotti, Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, 2014, 50 ff. und zur Ethik 193 f. Zu den ethischen Dimensionen Loh, Roboterethik. Eine Einführung, 2019, 19 f. 50 Klassisch schon Langton, in: Langton (Hrsg.), Artificial life. An overview, 1997, IX: „The term Artificial Life literally means ,life made by humans rather than by nature.‘“. Mariscal (Fn. 17), bei 3; Weber (Fn. 23), bei 6. 51 Bedau/Cleland (Hrsg.) (Fn. 20), 217: „Artificial life (also known as ,Alife‘) is an interdisciplinary study that aims to circumvent this difficulty by artificially synthesizing lifelike processes both in isolation and together at different levels of analysis“. 52 Loh (Fn. 49), 48 f. 53 „,Wet‘ artificial life uses the resources found in chemical and biological laboratories to synthesize lifelike systems in a test tube“, Bedau/Cleland (Hrsg.) (Fn. 20), 218. 54 Mariscal (Fn. 17). 55 Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, 2009, 142 f. (331): „Wie nämlich alle Philosophen sich ernsthaft darum bemüht haben, Wissen zu erlangen von der Welt der Natur, von der doch, weil Gott sie schuf, er allein Wissen haben kann, und wie sie vernachlässigt haben, diese Welt der Völker oder politische Welt zu erforschen, von der, weil die Menschen sie geschaffen hatten, die Menschen auch Wissen erlangen konnten“. Dilthey fasst das dann zusammen: „Nur, was der Geist geschaffen hat, versteht er. Alles, dem der Mensch wirkend sein Gepräge aufgedrückt hat, bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften“, Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 4. Aufl. 1993, 180. 56 Feynman, „What I cannot create, I do not understand“, 2019.

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Was ein legitimes Mittel der Erkenntnis ist, bringt offensichtliche Gefahren mit sich: Dasjenige, was man in dieser Weise rekonstruieren kann, das kann man jedenfalls auch manipulieren, wenn nicht auch nach eigenen Zwecken herstellen. Die Charakteristika des Lebens werden zu einem Werkzeugkasten, aus dem man sich für verschiedene Ziele bedient.57 Anders als in der Physik trifft aber beim Leben die Herstellung auf einen sich bereits mehr oder weniger selbst organisierenden Gegenstand. Sie bearbeitet, wie Hans Jonas schreibt, in der Mechanik ein passives und beim organischen Leben ein selbsttätiges,58 beim Menschen aber auch ein autonomes Material. Was immer dann menschliches Leben genau ist, es geht jedenfalls über eine physiko-chemische Reaktionskette und auch ein Reiz-Reaktions-Schema hinaus und muss auch Bedürfnisse, Interessen und auch auf das Leben bezogene autonome Entscheidungen einbeziehen.59 Die Vernunft sowohl des das Leben verbessernden Biologen als auch des sein Leben führenden Menschen haben dann Teil an der Selbstorganisation dieses Lebens.60 Diese Anteile müssen normativ bestimmt werden. In dem Maße, in dem das Leben – auch das menschliche – herstellbar wird, erweitern sich die Freiheitsbereiche in Bezug auf das Leben und schwindet das Natürliche. Je mehr Beginn und Struktur des menschlichen Lebens einerseits und Aufrechterhaltung andererseits durch menschliches Handeln erweitert werden, wird das Natürliche zurückgedrängt. Inzwischen kann das Natürliche nicht als das Unverfügbare, sondern muss als dasjenige bezeichnet werden, über das bislang nicht verfügt wurde, das sich aber der Verfügbarkeit nicht grundsätzlich entziehen kann. Das Natürliche als Unverfügbares sollte aber dem Menschen als Freiheitsgrundlage dienen. Es sollte sicherstellen, dass der Ursprung des Menschen nicht ein fremder Zweck ist, sondern dass er auf der Basis des Natürlichen seine eigenen Zwecke und – in religiöser Perspektive – die Zwecke seines Gottes verwirklichen konnte. Mit der Verfügbarmachung des Natürlichen müssen neue Formen der Sicherstellung für die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen gefunden werden. In dem Maß, in dem 57

Deplazes-Zemp, in: Dabrock/Bölker/Braun/Ried (Hrsg.), Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der Synthetischen Biologie, 2011, 95 (111). 58 „Bei totem Stoff ist der Hersteller der allein Handelnde gegenüber dem passiven Material. Bei Organismen trifft die Tätigkeit auf Tätigkeit: biologische Technik ist kollaborativ mit der Selbsttätigkeit eines aktiven Materials, dem von Natur aus funktionierenden biologischen System, dem eine neue Determinante einverleibt werden soll. (…) Der technische Akt hat die Form der Intervention, nicht des Bauens“, Jonas, Laßt uns einen Menschen klonieren. Von der Eugenik zur Gentechnologie, in: Technik, Medizin und Ethik, 1985, 165. 59 Gerhardt, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), 591 (605). 60 Gerhardt, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), 609: „Die Vernunft ist somit das Organ der Lebensführung. Sie kann diese Aufgabe nur erfüllen, weil sie dem Leben zugehört. Also ist sie ,auch nur‘ ein Moment des sich in allem selbst organisierenden Lebens. Die genauere Kenntnis der Mechanismen des Lebens gibt keinen Anlaß, an dieser organischen Verbindung zu zweifeln. Vielleicht erlaubt sie uns sogar, den Zusammenhang demnächst etwas besser zu verstehen“.

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die Freiheit in der Herstellung und Aufrechterhaltung des Lebens durch die moderne Medizin wächst, muss daher dem Einzelnen die autonome Entscheidung über diese Möglichkeiten gesichert werden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Leben kann nicht einer naturwissenschaftlich verfahrenden Biologie überlassen bleiben, sondern muss ein interdisziplinäres Projekt sein, das die philosophische Anthropologie mit einbezieht.61 Denn erstens verwendet diese und die sie analysierende Philosophie eine solche Fülle von Konzeptionen von Leben, dass es schon als Leistung angesehen werden muss, diese Vielzahl von Lebensbegriffen einigermaßen zu ordnen. Damit ist sie aber nicht in der Lage, dem Recht einen eindeutigen Lebensbegriff vorlegen zu können. Zweitens gerät der Begriff des Lebens als natürliche biologische Grundlage der autonomen Äußerungen der menschlichen Persönlichkeit mit den wachsenden Möglichkeiten zur Schaffung von Lebensvoraussetzungen und zur Modifikation von Strukturen auch des menschlichen Lebens ins Wanken. Auf dieser Basis muss die Rechtswissenschaft dann auch ihren normativen Begriff des Lebens als Grundlage des Rechts darauf bilden. Das juristische Argument gegen das Verständnis einer negativen Seite des Rechts auf Leben, wonach sich die negative Seite von Grundrechten nur auf autonom zu entscheidende Lebensbereiche beziehen könne, versagt damit: Indem die moderne Medizin die Eingriffsbreite und Tiefe nicht nur in die Gesundheit, sondern auch in das Leben erweitert hat, hat sie die Autonomiebereiche eröffnet, bei denen der Träger des Rechts auf Leben sagen können muss, dass er sie nicht nutzen will. Diese Entscheidung ist aber nicht nur eine Frage seiner geistigen Integrität als Persönlichkeit, sondern seines Lebens selbst.

IV. Nicht dualistische Theorien des Rechts auf Leben Es fehlt daher nicht an Theorien des Rechts auf Leben, die von einem normativen Begriff des Lebens ausgehen. Drei möchte ich erwähnen: 1. Norbert Hoersters utilitaristische Konzeption des Rechts auf Leben, 2. Jürgen Habermas’ diskurstheoretische Begründung des Rechts auf Leben und schließlich 3. Kulturalistische Lebensbegriffe. 1. Norbert Hoersters utilitaristischer Lebensbegriff In dezidiert nicht-metaphysischer Weise62 versuchen utilitaristische Philosophen zu argumentieren, dass alle Grundrechte individuelle Interessen schützen sollen: Das Interesse nicht verletzt, gleich behandelt zu werden, das Interesse frei kommunizieren zu können, sich zu versammeln usw. Nur Wesen, die in der Lage sind, solche In61 62

Gerhardt, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), 606. Hoerster, Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 1996, 164 (167).

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teressen auszubilden – aber auch alle diese Wesen –, können dann Träger der entsprechenden Rechte sein. Weil die Ausbildung von Interessen aber einen gewissen Grad von Bewusstsein seiner selbst und der Lebensumstände voraussetzt, können Wesen ohne ein Mindestmaß an Bewusstsein keine Rechte haben. Daraus folgt wiederum, dass Formen embryonalen Lebens oder Menschen mit schwerwiegenden Gehirndysfunktionen keine Rechte und auch kein Recht auf Leben besitzen. Allenfalls kann es im Interesse anderer liegen, sie so zu behandeln, als hätten sie Rechte oder ihnen jedenfalls Schutz zu gewähren. Diese allgemeine Vorstellung wird auch auf das Recht auf Leben angewendet: Das Recht auf Leben schützt das Interesse fortzuexistieren. Da das Bewusstsein des Einzelnen von gewissen Hirnfunktionen abhängt und Interessen nur nach der Geburt geäußert werden können, beginnt nach diesen Theorien das Recht auf Leben zu diesem Zeitpunkt63 (Hoerster und Peter Singer). Es endet wenn alle bewusstseinsrelevanten Funktionen des Gehirns aufgehört haben zu funktionieren ([partieller] Hirntod). Relevant ist der Moment, in dem die Fähigkeit wirklich vorliegt; potentielle Interessen können nicht als Argument für die Begründung des Beginns des Lebens herangezogen werden. Die Alltagserfahrung und auch entsprechende Experimente sollen belegen, dass weder der Fötus noch fast geborene Embryonen ein Überlebensinteresse besitzen.64 Personen, deren Cortex unausgebildet ist, können ebenfalls kein Bewusstsein besitzen. Entsprechend schützt das Recht auf Leben keine Embryonen oder Menschen mit schwerer Demenz. Wichtige Konsequenz ist dann, dass verbrauchende Embryonenforschung, Stammzellforschung und Organtransplantation weitgehend zulässig sind. Im Moment der entsprechenden Handlung hat der Embryo weder ein Interesse, das verletzt werden könnte, noch kann sein späteres Interesse, am Leben zu bleiben, rückwirkend die Maßnahme verhindern. Der Vorteil der Theorie Hoersters gegenüber dem Verständnis des Rechts auf Leben als einem Statusrecht der biologischen Basis der Persönlichkeit liegt schon darin, mit dem Interesse ein normatives Kriterium zur Bewertung des Lebens angegeben zu haben. Hilfreich ist es außerdem, sich bei der Begründung von Menschenund Grundrechten an keine voraussetzungsreiche Metaphysik zu binden. Naturalistische Theorien verwenden klare Kriterien der medizinischen Forschung, Therapie und den gleichen Schutz von Menschen nach der Geburt.65 Kritisch ist aber einzuwenden, dass Hoersters Begriff des Interesses einerseits nicht normativ genug und andererseits zu anspruchsvoll ist. Interessen bestimmen nicht unmittelbar das Recht. Das Recht bewertet diese Interessen, setzt sie ins Verhältnis zu anderen Rechten und wägt sie ab. Im Ergebnis werden individuelle Interessen nur insoweit geschützt, als sie die formalen und materialen Kriterien der jewei63

Hoerster, ARSP 77 (1991), 385 (387 f.); vgl. Singer, Praktische Ethik, 2. Aufl. 1994, 4. Hoerster, Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 1996, 168 – and are not merely incapable of expressing them. These interests only show up only after a couple of months after birth. 65 Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, 1991, 162. 64

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ligen Rechtsordnung erfüllen. Interesse oder sogar die Artikulationsfähigkeit von Interessen zur Voraussetzung von Rechten zu machen, ist aber zu anspruchsvoll. Es ist fraglich, ob die genannten Interessen mit der Geburt und dem Umstand, dass der frühere Embryo nun sichtbar wird, gewissermaßen aus dem Nichts auftreten. Selbstverständlich kann ein Embryo, der vor seiner Geburt stirbt, nunmehr kein Interesse mehr haben, dass er am Leben bleiben sollte, nicht für medizinische Zwecke verbraucht oder im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation genutzt worden zu sein. Im Moment, in dem er nach Hoerster oder Singer fähig sein sollte, Interessen zu haben, existiert er ja gerade nicht mehr. Allerdings wird der lebend geborene Mensch, ein Interesse daran haben, nicht in einer Weise designt worden zu sein, die den Interessen seiner Eltern oder einer anderen Person entspricht. Gegenüber solchen Determinationen wird er möglichst selbständig und jedenfalls immer selbständiger leben wollen. Nimmt man das Ziel eines autonomen Lebens an, so hat das Kind bei der Geburt ein Interesse daran, in sein Leben unabhängig von irreversiblen Manipulationen einzutreten. Demgegenüber will aber die utilitaristische Auffassung den Embryo dem Einfluss von Eltern und Ärzten überlassen. Ihre Autonomie kann aber das spätere Leben dieses Embryo in einer Weise, dass er sich unabänderlich als deren Zweck und nicht als sein eigener verstehen muss. 2. Habermas’ diskursive Rechtfertigung des Rechts auf Leben Hier setzt Habermas’ Theorie des Rechts auf Leben ein. Er beobachtet, dass wir den Bereich der organischen Ausstattung erweitern, die wir uns selbst geben, zum Nachteil der Natur, die wir sind. Die Gentechnologie verschiebe die Grenzen dessen, was Kant „Reich der Notwendigkeit“ nannte, in die Sphäre der Kontingenz.66 Dies hat zwei Konsequenzen: Erstens können wir die ehemals natürliche Basis und organische Ausgangsbedingung unseres Selbstverständnisses manipulieren.67 Dadurch erweitern wir zweitens die Reichweite unseres Selbstverständnisses und Einflusses in die Sphäre des Anderen.68 Dieses Problem könne weder aus den scheinbar objek-

66 Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2001, 53: „Was Kant noch zum ,Reich der Notwendigkeit‘ gerechnet hatte, hat sich aus evolutionstheoretischer Sicht in ein ,Reich des Zufalls‘ verwandelt. Die Gentechnik verschiebt nun die Grenze zwischen dieser unverfügbaren Naturbasis und dem ,Reich der Freiheit‘“. 67 Habermas (Fn. 66), 28 f. 68 Habermas (Fn. 66), 28: „Die Grenze zwischen der Natur, die wir ,sind‘, und der organischen Ausstattung, die wir uns selber ,geben‘, verschwimmt. Für die herstellenden Subjekte entsteht damit eine neue, in die Tiefe des organischen Substrats hineinreichende Art des Selbstbezuges. Nun hängt es nämlich vom Selbstverständnis dieser Subjekte ab, wie sie die Reichweite der neuen Entscheidungsspielräume nutzen wollen autonom nach Maßgabe normativer Erwägungen, die in die demokratische Willensbildung eingehen, oder willkürlich gemäß subjektiven Vorlieben, die über den Markt befriedigt werden“.

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tiven Perspektiven der empirischen Wissenschaften noch der Religion angegangen werden.69 Am Beispiel des embryonalen Lebens, versucht Habermas den Schutz des Lebens aus der Normalform eines moralischen Diskurses zu konstruieren. Das Subjekt, das erst den menschlichen Körper in die Inkarnation des menschlichen Geistes verwandelt, bildet sich nach Habermas nur in wechselseitigen Beziehungen zu anderen.70 Vor seiner Geburt ist das Individuum jedoch nicht Teil der Sprachgemeinschaft, die diesen Prozess der gegenseitigen Anerkennung als Grundlage der Bildung der Person schafft. Die Geburt markiert die beginnende Unterscheidung zwischen der natürlichen Existenz des Individuums und seiner Sozialisation.71 Deshalb führe der Embryo kein soziales Leben. Dennoch sei der Embryo als menschliches Leben zu schützen.72 In einer diskursiven Wendung des kategorischen Imperativs von Kant gilt ein moralisches Argument, wenn es aus der Perspektive des verallgemeinerten Anderen begründet wird. Sicherlich bedeutet jede Erziehung einen Einfluss von Eltern, Lehrern und anderen Kommunikationspartnern auf das Kind und den Jugendlichen. Gegenüber diesen gesellschaftlichen Einflüssen kann der einzelne Mensch aber eine kritische, selbstreflexive Haltung entwickeln und damit diese Prägung im Laufe seines Lebens überwinden. Dies ist im Hinblick auf das genetisch manipulierte Leben nicht möglich. Der Jugendliche erhält einen Körper, von dem er weiß, dass er technisch nach den Vorlieben anderer umgestaltet wird, eine Manipulation, die von ihm nicht rückgängig gemacht oder verändert werden kann, sondern nur akzeptiert werden muss.73 Deshalb sollte der Gentherapeut die Perspektive einnehmen, dass die zukünftige Person mit der genetischen Behandlung einverstanden sein könnte. Dies ist nicht der Fall, wenn diese Person den Eindruck hätte, nur nach den Präferenzen des Arztes oder seiner Eltern manipuliert zu werden.74 Er ist auf den Lebensplan eines anderen festgelegt.75 Andernfalls muss dieser Mensch den Eindruck haben, dass er nicht die Urheberschaft über seine Lebensführung hat, dass seine Persönlichkeit nicht in seinem Leben verkörpert ist.76 Das Prinzip, dass niemand irreversibel von den Entscheidungen anderer abhängig sein darf, wird durch die asymmetrische Beziehung zwischen dem Gentherapeuten und den Eltern, die diesen Einfluss auf ihr Kind und den Embryo bzw. den Menschen, der in das soziale Leben eintritt, erzwingen wollen, verletzt.

69

Habermas (Fn. 66), 61. Habermas (Fn. 66), 63. 71 Habermas (Fn. 66), 102 f. 72 Habermas (Fn. 66), 66 f. 73 Habermas (Fn. 66), 31. 74 Habermas (Fn. 66), 92. 75 Habermas (Fn. 66), 105. 76 Habermas (Fn. 66), 96 f. and 100.

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Habermas konstruiert das Recht auf Leben in der sprachbasierten diskursiven Perspektive der wechselseitigen Anerkennung. Die natürliche Manipulation wird hier zu einer unüberwindbaren Last der späteren individuellen Person. In dieser Perspektive ist das Leben nicht eine bloße Naturtatsache, sondern ein Element der Identitätsbildung. Identität der Person und ihr Leben können aber nicht getrennt werden, ohne dass dieser Sinn der Leiblichkeit für die Identität verloren ginge. Anders als die dualistische Perspektive erkennt Habermas, dass der Zustand dieses Lebens für unser Bewusstsein ein anderer ist, wenn es sich natürlich entwickelt hat oder durch Akteure im Prozess seiner Entwicklung geformt wurde. Letzteres ist nur dann gerechtfertigt, wenn es in der Perspektive der Interessen der zu gebärenden Person geschieht. Der Schutz des Embryos ist um der späteren Person nach der Geburt willen gewährleistet. Im Hinblick auf die Verwandlung von Natur in Kultur ist Habermas’ Perspektive allerdings zu eingeschränkt. Nicht nur die Präimplantationsdiagnostik, die Gewinnung von Stamm- und anderen Zellen, die In-vitro-Fertilisation, die konsumtive Züchtung von Embryonen, sondern auch das Sozial- und Ernährungsverhalten der Eltern vor und während der Schwangerschaft und auch – von Habermas dezidiert ausgeklammert – medizinische lebensverlängernde Therapien haben das Leben von einer naturgegebenen Grundlage der menschlichen Person in ein kulturell geformtes Produkt menschlicher Entscheidung verwandelt. Das ehemals Gegebene wird mehr und mehr durch medizinische Kunst und Technik transformiert. Diese Entwicklung führt nicht nur zu einem Auseinandertreten der Natur- und Geisteswissenschaften; beide Wissenschaften müssen als Formen der Freiheit verstanden und von der Freiheit des menschlichen Lebens abgegrenzt werden. Bevor wir auf diesen Aspekt zurückkommen, möchte ich kurz auf kulturelle Ansätze zum Recht auf Leben eingehen. 3. Kulturalistische Lebensbegriffe Wachsen die Einflussmöglichkeiten des Menschen auf die Grundlagen des Lebens, liegt es nahe, kulturalistische Begriffe des Lebens zu verwenden. Sie können zeigen, dass das Verständnis des Lebens von kulturellen sprachlichen Gebräuchen, weltanschaulichen Überzeugungen abhängt, bzw. dass mit der Erweiterung des Verfügungsbereichs des Menschen über das Leben, dieses selbst als eine symbolische Form verstanden werden kann. Daher sollen hier kurz drei Ansätze angesprochen werden, nämlich eine alltagssprachliche Analyse, zweitens Dworkins Verständnis der Heiligkeit des Lebens und schließlich ein an Ernst Cassirer anknüpfender Ansatz vom Leben als symbolischer Form.

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a) Der alltagssprachliche Begriff des Lebens als Grundlage des Rechts auf Leben Einige kulturelle Ansätze gehen bei ihrer Analyse eines normativen Lebensbegriffs von der Alltagssprache aus.77 Unter Anwendung der Rawls’schen Idee des übergreifenden Konsenses versucht Michael Anderheiden beispielsweise, den Begriff des Lebens und seine Grenzen zu bestimmen.78 Er kritisiert das falsche Vertrauen vieler Interpreten des Rechts auf Leben in die scheinbar objektiven Erkenntnisse der Naturwissenschaften. Die Wissenschaften müssen Bewertungen ihrer Befunde vornehmen und benötigen Begriffe, um ihre Phänomene zu verstehen. Das Recht auf Leben zu bestimmen, bedeutet nicht, herauszufinden, was Leben „ist“, noch wer der Nutznießer dieses Rechts ist, sondern zu bestimmen, welche Bedeutung das Prädikat „Leben“ für eine Entität hat und unter welchen Umständen dieses Prädikat einer Person zugeschrieben werden kann oder nicht.79 All dies setzt Kenntnisse aus den Geisteswissenschaften und insbesondere der Rechtswissenschaft voraus.80 Aufgrund einer sorgfältigen Analyse hält Anderheiden fest, dass nach diesem gewöhnlichen Sprachgebrauch von „Leben“ der irreversible Tod dem Leben entgegensteht, das potentielle Bewusstsein für die Selbstorganisation des Lebens ausreicht.81 Demnach hat der Embryo ab der Nidation ein menschliches Leben, und dieses Leben wird erst durch einen irreversiblen Tod beendet, der der totale Hirntod ist, nicht nur der Tod der Hirnrinde.82 Auch der an Anenzephalitis leidende Embryo ist ein menschliches Wesen und hat ein menschliches Leben, das geschützt werden muss.83 Dabei sieht er, ähnlich wie Habermas, den natürlichen Verlauf der Entwicklung als gut an, die Abweichung davon als rechtfertigungsbedürftiger Akt. Zusammengenommen ist nach diesem Ansatz das menschliche Leben eine sich selbst integrierende psychophysische Einheit.84

77 Die Verfasser des deutschen Grundgesetzes hätten keinen juristischen Fachbegriff kodifiziert, sondern auf den allgemeinen Sprachgebrauch verwiesen, Anderheiden, in: Heun et al., Evangelisches Staatslexikon, 2006, 1403 (1406). 78 Anderheiden (Fn. 77), 1405. 79 Knell/Weber, Menschliches Leben, 2009, 11. Andere wollen „Leben“ gerade nicht als ein Prädikat, sondern als eine „Seinsweise“ verstehen, Martin, in: Dabrock/Bölker/Braun/ Ried (Hrsg.), Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der Synthetischen Biologie, 2011, 117 (121). 80 Anderheiden, KritV 2001, 356. 81 Anderheiden, KritV 2001, 372. 82 Vgl. Art. 3 II TPG: Danach gilt für die Organtransplantation der Tod als „der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist“. Vgl. auch die österreichische Interpretation von Art. 2 ECHR, Kneihs, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band VII/1, 2009, § 189 Rn. 8 und Kneihs, Grundrechte und Sterbehilfe, 1998, 238. 83 Anderheiden, KritV 2001, 360 f. 84 Anderheiden, KritV 2001, 378.

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b) Dworkins Argument aus der Heiligkeit des Lebens In „Life’s Dominion“ wendet sich Ronald Dworkin dem amerikanischen Streit um das Recht auf Leben zwischen Republikanern und Liberalen zu und bezieht sich schließlich auf Umfragen und die Meinungen der großen US-amerikanischen Kirchen.85 Er argumentiert nicht aus dem Blickwinkel von Naturwissenschaftlern, insbesondere von Medizinern oder Biologen. In diesen Debatten sei es fehlerhaft von Rechten des Embryos zu sprechen. Außerdem lehnt er es ausdrücklich ab, Interessen und Grundrechte als Argumente in die Diskussion einzuführen.86 Stattdessen nimmt er an, dass sowohl die konservativen Kritiker als auch die liberalen Befürworter eines Rechts auf Abtreibung von der gemeinsamen Überzeugung ausgehen, dass „das Leben prinzipiell unantastbar“ oder in diesem Sinne „heilig“ ist.87 Ein Kernelement dieser „Heiligkeit des Lebens“ als objektiver Wert ist der Gedanke der Würde.88 Die Feststellung, dass sich die meisten Menschen über dieses Prinzip einig sind und dass es sogar von verschiedenen Weltanschauungen – religiösen, atheistischen und anderen – begründet werden kann, ist nur der Anfang seiner Argumentation. Er räumt ein, dass die meisten Vertreter dieser unterschiedlichen Sichtweisen zwar darin übereinstimmen, dass Abtreibung und Suizid problematisch sind, aber ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen darüber haben, wie diese Probleme zu lösen sind.89 Dworkin teilt die Position, dass ein Recht zu haben, die Fähigkeit voraussetzt, Interessen zu haben, aber anders als die naturalistische Auffassung hält er es für möglich, dass der Embryo um seiner selbst willen geschützt werden kann. Hier kommt sein Konzept der Unantastbarkeit des Lebens ins Spiel. Unter dem Vorzeichen der Würde ist alles menschliche Leben zu schützen. Dies gilt insbesondere für den Embryo; andere Personen haben ein Recht, über die Art und Weise ihres Sterbens zu entscheiden. Eine heteronome Entscheidung darüber sei eine „unmenschliche Tyrannei“.90 c) Zur Kritik dieser Ansätze Diese Theorien entwickeln sicher Argumente, die auch viele andere teilen würden. Alle oben genannten Theorien erwähnen „Intuitionen“ oder „den Gebrauch des Begriffs unter Menschen“. Die Betonung und systematische Auswertung von Intuitionen und Sprachverwendungen unterscheidet die Kulturtheorien jedoch von ihnen. Während sie sowohl die naturalistischen als auch die diskursiven Theorien allenfalls unterstützende Begründungselemente liefern, sind sie für die Kulturtheorien zentral. 85 Dworkin, Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit, 1994, 9 – 38. 86 Dworkin (Fn. 85), 107. 87 Dworkin (Fn. 85), 122 f. 88 Dworkin (Fn. 85), 328. 89 Dworkin (Fn. 85), 216, 270. 90 Dworkin (Fn. 85), 300 f.

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Dworkins Argumentation macht deutlich, dass der Streit zwischen sich widersprechenden Positionen durch ein gemeinsam anerkanntes allgemeines Prinzip und eine normative Rekonstruktion der Schlussfolgerungen aus diesem Prinzip sowie durch die Bestimmung und Abwägung widerstreitender nachrangiger Interessen gelöst werden kann. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Vorgaben aus diesem Verfahren aus den Rechtsordnungen selbst stammen. Intuitionen und Umgangssprache können Werte transportieren, die den Grundwerten der Verfassung zuwiderlaufen. In der Verfassunggebung, in der Gesetzgebung werden diese gegensätzlichen Positionen auf der Basis demokratisch legitimierter Institutionen debattiert, vermittelt und schließlich entschieden. Geleitet von den Verfassungswerten und begrenzt durch Kompetenz- und Verfahrensbeschränkungen debattieren demokratische Diskurse über die Fragen des Lebens mit einer höheren Legitimation als andere Diskurse, obwohl sie immer von öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen vorbereitet und begleitet werden. Das Recht hat die widerstreitenden Positionen der Lebensauffassungen zu entscheiden und dies weder den Wissenschaften noch der Alltagssprache, den Intuitionen oder moralischen Diskursen allein zu überlassen.91 Dies bedeutet nicht, dass die gesamte Argumentation den Verfassunggebern und Gesetzgebern überlassen werden sollte, sondern erinnert daran, dass das Recht auf Leben in erster Linie ein juristisches Recht ist und dass dieses Recht auf einer rechtlichen Grundlage verankert werden muss. Diese rechtliche Grundlage ist nicht weniger eine kulturelle Grundlage als andere Formen von Diskursen, auch wenn sie eine besonders elaborierte Form von Kultur ist. d) Das Leben als symbolische Form Der Kulturphilosoph Ernst Cassirer stellt in seinem „Essay über den Menschen“ (Original: „Essay on Man“) den Menschen als „symbolisches Tier“ dar.92 Durch symbolische Fähigkeiten verwandelt er sowohl die Natur als auch archaische Kulturprodukte in rationale und freie Symbole. Symbole sind Ausdrucksformen von Bedeutungen in sinnlichen Objekten. Unter „symbolischer Energie“ versteht er die Fähigkeit des Menschen, einem Erfahrungsgegenstand einen Sinn zu geben.93 Danach symbolisiert der Mensch in all seinen Lebensvollzügen. In diesem Sinne ist auch das Leben des Menschen nicht nur eine natürliche Tatsache, sondern wird in eine symbolische Form gebracht. Angesichts seiner unzurei91 92

51.

Anders Müller-Terpitz, in: Isensee/Kirchhof, § 147 Rn. 8. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, 1996,

93 Cassirer, in: Gesammelte Werke: Hamburger Ausgabe, Band 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922 – 1926), 2003, 75 (79): „Unter einer ,symbolischen Form‘ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache, tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen“.

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chenden natürlichen Fähigkeiten und seiner Anpassung an eine bestimmte ökologische Nische sind die symbolischen Fähigkeiten des Menschen nicht nur ein kultureller Luxus, sondern notwendig für sein Überleben: Naturtatsachen erhalten für ihn nur in ihrer symbolischen Form Bedeutung.94 Das Ergebnis ist, dass der Mensch „nicht mehr in einem rein physischen Universum“ existiert. Vielmehr gilt: „(…) der Mensch lebt in einem symbolischen Universum“.95 Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Teile dieses Universums. Der Mensch kann der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten, er kann sie nicht mehr sozusagen von Angesicht zu Angesicht sehen. „Die physische Realität scheint in dem Maße zurückzutreten, wie die Symboltätigkeit des Menschen an Raum gewinnt“.96 Das Leben selbst wird selbst zum Artefakt. Dem wird ein biologistisches Verständnis des Lebens nicht gerecht: „Die Metaphysik der neueren Zeit aber macht den Leib, indem sie alles, was der Sphäre des reinen ,Ausdrucks‘ angehört, prinzipiell von ihm abstreift, zum bloßen Körper – und sie bestimmt weiterhin die Materie dieses Körpers als eine rein geometrische Materie“.97 Im Verständnis des menschlichen Lebens als einer symbolischen Form werden medizinische Gestaltung und menschliche Würde und Selbstbestimmung auf den Begriff gebracht. Welche Auswirkungen hat eine solche philosophische Rekonstruktion der Gestaltungsmöglichkeiten des menschlichen Lebens auf das Recht auf Leben?

V. Das Recht auf Leben als Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben Die heutige Situation der Geisteswissenschaften und der Technik passt gut in dieses Bild. Die Errungenschaften bei der Bekämpfung von Erbkrankheiten, der Erfüllung des Wunsches ansonsten kinderloser Eltern nach Kindern und insbesondere nach gesunden Kindern, bei Maßnahmen zur Lebensverlängerung, aber auch die wissenschaftliche Neugier haben zu einer enormen Erweiterung sowohl unseres Wissens als auch unserer Fähigkeiten über die biologischen Grundlagen des Lebens geführt. Nicht nur entscheiden die Eltern, ob und welche Art von Kindern sie wollen – Eugenetik ist nicht neu, Überlegungen dieser Art finden wir schon in Platons Philosophie –,98 sondern auch, wann es angebracht ist, sie zu bekommen („social freez-

94

Cassirer (Fn. 92), 48 f. Cassirer (Fn. 92), 6. 96 Cassirer (Fn. 92), 50. 97 Cassirer, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Band 13: Philosophie der symbolischen Formen, Teil 3: Phänomenologie der Erkenntnis, 2002, 116. 98 Etwa zur sog. „Hochzeitszahl“ Platon in der Republik. Dazu auch Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, 1998, 62 f. 95

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ing“).99 Insbesondere die Genetik hat unsere prometheischen Fähigkeiten erweitert, Menschen nach unseren Vorlieben zu gestalten. Verschiedene Formen der medizinischen Versorgung haben gleichzeitig unsere Lebensperspektive auf das Ende hin erweitert. Obwohl wir weit davon entfernt sind, unsterblich zu sein, betrachten wir unser Leben weniger als ein „Dasein auf den Tod hin“ im Heideggerschen Sinne, sondern denken bewusst über Anti-Aging und andere lebensverlängernde Maßnahmen nach.100 Organtransplantation, Herz-Kreislauf-Maschinen und andere Geräte ermöglichen eine Substitution zentraler Organe und Körperfunktionen, die die Lebenserwartung in vielen Ländern verlängert. Durch kardiovaskuläre Maschinen erweitern wir die menschliche Autonomie über das Leben und reduzieren die „Autonomie“ der autopoietischen Reproduktionsprozesse des Lebens.101 Vernunft wird so nicht eine auszeichnende Eigenschaft des Menschen, die zum biologisch verstandenen Leben im Sinne von Aristoteles hinzutritt; vielmehr ist das Leben selbst zunehmend auf wissenschaftliche Vernunft und Überzeugungen gegründet. Damit stellt sich die Frage, wessen Vernunft das Leben prägen soll und in welcher Weise von ihr Gebrauch gemacht werden soll. In dieser Perspektive ist die Rede von unseren natürlichen Dispositionen nur eine Abstraktion von der kulturellen Form, die Menschen allen natürlichen Tatsachen geben.102 Wir abstrahieren davon, dass wir in der Tat diese natürliche Veranlagung durch die Wissenschaft, durch unsere Interessen und durch unsere Erziehung formen. Diese Abstraktion wird reduktionistisch, wenn der menschliche Körper, das Leben und die Gesundheit als eine bloße Objektivität und nicht als ein unvollständiges Material der Kultivierung angesehen werden. Dann wird von einem notwendigen Element abstrahiert. Nicht weniger als die Erziehung sind auch diese das menschliche Leben formenden medizinischen Handlungen Kultur. Vom Leben als natürlicher Grundlage der menschlichen Persönlichkeit zu sprechen, ist daher eine Abstraktion von der Funktion, die dieses Leben in den Händen desjenigen hat, der es führt, und der anderen, die ihm helfen, es zu kultivieren. Den Naturwissenschaften die Führung bei der Entscheidung über die rechtlichen Kriterien des Lebens zu überlassen, ist dann notwendigerweise reduktionistisch. Für seine Zwecke muss sich das Recht selbst durch seine normativ geregelten Verfahren und seine Grundwerte und -rechte eine Orientierung für den Rechtsbegriff des Lebens geben.103 In dem Maß, in dem die medizinisch technische Vernunft bei der Begründung, Aufrechterhaltung und Beendigung des Lebens zunimmt, muss das Recht auf Leben dem einzelnen Menschen seine autonome Entscheidung über sein Leben si99

Zur Legitimität des Social Freezing auch aus feministischer Sicht Feiler, Social Freezing – Reproduktionsmedizin Im Spannungsfeld zwischen Risiko, Moral und Verantwortung, 2020, 115 ff. 100 Knell/Weber (Fn. 79), 109 ff. 101 Di Fabio, in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 2 Abs. 2, Satz 1 Rn. 21. 102 Höffe, Das Problem der Freiheit, 2015, 89 f. 103 Kneihs, Grundrechte (Fn. 82), 237.

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chern. Dieses Recht muss ihm insbesondere auch die Befugnis zum Schutz der Natürlichkeit und einer Einflussnahme, die seine spätere Selbstbestimmung beeinträchtigt, geben, wie Habermas gezeigt hat. Vor dem Hintergrund der Philosophie der symbolischen Formen bedeuten diese Entwicklungen nicht nur einen technischen Fortschritt hin zu einer Rationalisierung der Wissenschaften vom Leben und seiner Überschaubarkeit. Sie sind notwendigerweise Ausdruck von Vorstellungen, von Weltanschauungen und von Werten. Die ausgedehnten Diskussionen um die „Quality of Life“ und ihre Kriterien,104 die Fragen nach dem „guten Leben“, nach Enhancement nicht nur der körperlichen Funktionen, sondern auch des moralischen Enhancements105 durch Tiefenhirnstimulation oder Gamma Knife,106 die Probleme der Priorisierung der knappen Güter der Medizin,107 aber auch die wissenschaftliche Kernfrage, welches die Kriterien des Lebens sind und welche Organfunktionen tatsächlich durch technische Apparate substituiert werden sollen, sind Fragen nach dieser Bewertung des Lebens. Hat der lebende Organismus ein zentrales Steuerungsorgan, das den Menschen am Leben erhält, so kann eine Organtransplantation durchgeführt werden, ohne dieses Leben zu beenden. Würde eine komplette Hirntransplantation dieses Leben beenden? Und vor allem: Was macht das Leben zu einem menschlichen Leben?108 All diese neuen Entwicklungen zeigen, dass die Freiheiten, die wir durch den wissenschaftlichen Prozess in Bezug auf unseren Umgang mit dem Leben gewonnen haben, eine interdisziplinäre Erkenntnis und Bewertung des menschlichen Lebens erfordern.109 Dazu können das idealtypische Menschenbild, moderne Verfassungen und Menschenrechtsdeklarationen hilfreich sein, obwohl in den meisten von ihnen das Recht auf Leben als wichtigstes oder eines der wichtigsten Rechte rangiert.110 Die anderen Grundrechte schützen die individuelle Freiheit im weitesten Sinne. Demnach ist das Leben zunächst individuelles Leben und nicht Leben als objektiver Wert.111 Gerade

104

Nordenfelt, Concepts and measurement of quality of life in health care, 1994. Paulo/Bublitz, Neuroethics 12 (2019), Nr. 1, 55 (55 ff.). 106 Clausen, European Journal for Neuroscience 32 (2010), 1152 (1152 ff.); Illes, American Journal of Bioethics – Neuroscience 3 (2012), 65 (65 ff.); Müller/Walter/Christen, International Journal of Law and Psychiatry 37 (2014), 295 (295 ff.); Katzenmeier, International Journal of Law and Psychiatry 35 (2012), 130 (130 ff.). 107 Insbesondere bei der Triage, hierzu der Band Hörnle/Huster/Poscher (Hrsg.), Triage in der Pandemie, 2021. 108 Kawaguchi/Seelmann (Hrsg.), Rechtliche und ethische Fragen der Transplantationstechnologie in einem interkulturellen Vergleich, 2003. 109 Zu Notwendigkeit und Möglichkeit interdisziplinären Forschens in den Rechtswissenschaften auch Kirste, in: Kirste (Hrsg.), Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften – Innen- und Außenperspektiven, 2016, 35 (35 ff.). 110 Brugger, Jahrbuch für Recht und Ethik 3 (1995), 121 (121 ff.). 111 Das Bundesverfassungsgericht spricht von „jedes Leben besitzende menschliche Individuum“, BVerfGE 39, 1 (37). 105

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die Individualität unterscheidet das menschliche von anderen Lebensformen.112 Die Menschenwürde schützt das Individuum nicht nur in dieser oder jener Form des Handelns, sondern in seiner Fähigkeit, überhaupt zu handeln, auch wenn er dieses Potential nicht realisieren kann.113 Während die anderen negativen, positiven und aktiven Rechte die tatsächliche Freiheit schützen, schützt die Menschenwürde die Subjektivität als solche, die Potenzialität des Freiseins im rechtlichen Sinne. Die zentrale Voraussetzung dafür ist die Anerkennung als Rechtssubjekt oder als Rechtsperson.114 Wenn also der selbstbestimmte Mensch in einer Gemeinschaft in vielen Verfassungen und Menschenrechtserklärungen zentral für das Menschenbild ist, dann sollte auch das Leben als Ausdruck der Freiheit und der Würde115 betrachtet werden (genauso wie die Gesundheit). Das Recht auf Leben sollte als das Recht angesehen werden, sein Leben nach den eigenen Präferenzen zu führen. Es ist nicht primär ein Recht auf einen bestimmten Zustand, sondern auch ein negatives Recht, in der selbstbestimmten Gestaltung des eigenen Lebens nicht unterdrückt zu werden, einschließlich des Rechts, nicht getötet zu werden, und ein positives Recht auf die Voraussetzungen der autonomen Entscheidung, wie man sein Leben führen will. Letzteres schließt das Recht des Embryos ein, so ins selbständige Leben zu treten, dass das spätere Kind und der Erwachsene es selbstbestimmt führen können. Im Hinblick auf den Beginn des Lebens sollte das Rechtsbild des Menschen als selbstbestimmte Person in einer Gesellschaft auch die Bewertung von Handlungen leiten. Wie Habermas und andere gezeigt haben, wird das Recht auf ein autonomes Leben verletzt, wenn nicht gar unmöglich gemacht, wenn das Leben unwiderruflich durch Entscheidungen im Interesse anderer, seien es Ärzte oder Eltern, geprägt wird, die dem Kind ihre Präferenzen für die Struktur dieses Lebens unabänderbar aufprägen. Dies würde bedeuten, das Leben ihres Kindes zu instrumentalisieren. Die Rückkehr zu den natürlichen Bedingungen des Lebens ist keine Lösung.116 Alle diese Einflussnahmen auf das Leben sollten am Ziel orientieren sein, spätere autonome Entscheidungen ihres Kindes zu fördern und es nicht anderen Zwecken unterzuordnen. In Bezug auf das Lebensende bedeutet dies, dass das Recht in dem Maße, wie die Medizin immer bessere Methoden zur Lebensverlängerung entwickelt hat, die Entscheidung des Individuums, nicht von diesen Möglichkeiten abhängig zu werden und sein Leben zu beenden, schützen muss. Deshalb sollte eine negative Dimension des Rechts auf Leben anerkannt werden, nämlich das Recht zu sterben, wann und wie 112

Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben. 9. Aufl. 1997, 24 f. Kirste, in: Brugger/Kirste (Hrsg.), Human Dignity as a Foundation of Law, 2013, 63 (63 ff.). 114 Kirste, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenrechte. Begründung – Universalität – Genese, Berlin 2017, 41 (41 ff.). 115 Strasser, in: Strasser/Starz (Hrsg.), Personsein aus bioethischer Sicht, 1997, 71 (74): „Das menschliche Leben ist ein Wert an sich, nicht bloß ein Mittel zur Befriedigung von Interessen, zur Verwirklichung von Glück oder Nutzen“. 116 Enders, JURA 2003, 666 (669). 113

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dieser Mensch es will.117 Nur dieses Recht, wenn es frei von drängenden Einflüssen Dritter ausgeübt wird, kann letztlich ein Sterben in Würde sichern. Dieses Recht schafft zugleich den Freiraum, in dem jede Person selbst entscheiden kann, ob sie von dem Recht auch Gebrauch machen will oder es moralische oder religiöse Pflichten empfindet, diesen Wunsch nicht zu realisieren. Aber das Recht ist nicht dazu da, diese Pflichten zu erfüllen. Dabei hat der Staat auch eine Schutzpflicht, „konkret drohenden Gefahren für die persönliche Autonomie vonseiten Dritter entgegenzuwirken.“118 Die Autonomiegewinne im Umgang mit den biologischen Grundlagen des Lebens müssen also auch zu Autonomiegewinnen des Einzelnen führen. Die Herstellung eines biologisch gesehen menschlichen Lebens darf nur diesem Menschen und seiner Autonomie selbst, nicht jedoch anderen Zwecken wie etwa der Perfektionierung der Menschheit oder ihrem moral enhancement dienen.119 Eltern, die ein Kind zeugen, weil sie sich davon eine positive Wirkung auf ihre Ehe versprechen, nutzen den natürlichen Handlungsspielraum. Eltern, die sich ein Kind im Wege genetischer oder sonstiger Veränderung designen, erweitern den natürlichen Handlungsspielraum. Diese Erweiterung darf nicht ihren Zwecken, sondern nur etwa der Gesundheit des gezeugten menschlichen Lebens selbst dienen. Seit der antiken Philosophie von Aristoteles über die mittelalterliche Metaphysik bis hin zu den modernen Theorien wurde das Leben immer als eine unabhängige oder selbständige, sich ständig entwickelnde oder autopoietische Einheit betrachtet. Die Form der Selbstabhängigkeit ist in den verschiedenen Lebensformen unterschiedlich. Das Recht ist in seiner ganzen Struktur und in seinen zentralen Werten und Menschenrechten ausgerichtet auf eine selbstreflexive Form der Selbständigkeit des Menschen durch Selbstbestimmung nach Gründen.120 Diese Autonomie ist die Grundlage unserer Rechtspersönlichkeit, aber auch die Grundlage unseres spezifischen Einflusses auf unser Leben. Sie ist auch dann schutzbedürftig, wenn sie sich noch nicht oder nicht mehr entfalten kann oder durch Todesfälle beeinträchtigt wird. Aufgrund dessen „haben“ Menschen nicht nur ein schutzbedürftiges Leben, sondern führen ihr individuelles Leben und individualisieren dabei in einem historischen und biographi-

117 Gegen die überwiegende Meinung der Verfassungsinterpretation, vgl. Di Fabio, in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 2 Abs. 2, Satz 1 Rn. 47; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 2 II Rn. 32. Dementsprechend verpflichtet Art. 2 EMRK die Vertragsstaaten nicht, die aktive Beihilfe zum Tod zu bestrafen; der EGMR lehnte die negative Seite des Rechts auf Leben zunächst ebenfalls ab (Urt. v. 29. 4. 2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02); in einem jüngeren Urteil akzeptierte er die Entscheidung von Ärzten und der Ehefrau des komatösen Opfers eines Autounfalls, den bewusstlosen Patienten ohne Aussicht auf Besserung seiner Situation sterben zu lassen, EGMR, Urt. v. 5. 6. 2015, Lambert and Other v. France, Nr. 46043/14. 118 BVerfG NJW 2020, 905 (910). 119 Paulo/Bublitz, Neuroethics 12 (2019), Nr. 1, 55 ff. zu ethischen Problemen des moral enhancement. 120 Kirste, Rechtsphilosophie. Einführung. 2. Aufl. 2020, 113 f.; Kirste, in: Seelmann/ Demko (Hrsg.), Würde und Autonomie, 2015, 65 (65 ff.).

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schen Prozess ihr Leben immer mehr.121 Die Autonomie ist nicht der alleinige Grund, warum das Leben geschützt wird, aber ein in diesem Sinne autonomes Leben ist sein höchstes Ziel und seine Würde. Dieses bedarf des Schutzes in allen Phasen des Lebens. Das Recht auf Leben ist also das Recht auf selbstbestimmte Entscheidung über das eigene Leben.

121 Gehlen, Der Mensch, 13. Aufl. 1997, 165: „Der Mensch lebt nicht, sondern er führt sein Leben“.

Kant und die „Amerikaner“ – Rassismus in der Philosophie? Bernd Ludwig Beim Thema „Kants Rassismus“ sollte man drei ganz unterschiedliche Fragen auseinanderhalten, die in den aktuellen Diskussionen mitunter durcheinandergeraten.

I. In der Schrift „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ von 1791 behauptet Kant gegen Georg Forster, dass die „Weißen“, die „Indianer“, die „Negers“ und die „Amerikaner“, diese vier Menschen-„Klassen“, zu einer species gehören (d. h. sie können sich untereinander fortpflanzen). Sie haben daher nicht verschiedene Stämme und stammen demnach – so sollten wir Kant zufolge zweckmäßigerweise annehmen – alle von denselben Vorfahren ab: „Wir kennen mit Gewißheit nicht mehr erbliche Unterschiede der Hautfarbe, als die: der Weißen, der gelben Indianer, der Neger und der kupferfarbig-rothen Amerikaner. Merkwürdig [lies: bemerkenswert] ist: daß diese Charaktere sich erstlich darum zur Klasseneintheilung der Menschengattung vorzüglich zu schicken scheinen, weil jede dieser Klassen in Ansehung ihres Aufenthalts so ziemlich isolirt (d. i. von den übrigen abgesondert, an sich aber vereinigt) ist.“ (08:93).1

Diese „Klassen“ – von Kant auch „Rassen“ genannt – haben sich nur aufgrund der hier konstatierten unterschiedlichen klimatischen Bedingungen in ihren verschiedenen Erdteilen unterschiedlich entwickelt (dass Kant sich gewiss sein kann, dass es gerade vier sind und auch bleiben werden, liegt an der willkommenen Übereinstimmung mit der – auch von Linné noch geteilten – Vier-Säfte-Lehre aus Galens Humoralpathologie) und diese Entwicklung ist irreversibel: Wenn etwa „Neger“-Populationen aus Afrika nach Europa oder Nordamerika kommen, werden sie sich genauso wenig on the long run zu „Weißen“ entwickeln wie „Weißen“-Populationen zu „gelben Indianern“, wenn sie von Zentraleuropa nach Indien ziehen (vgl. 09:313). Die erst in den neueren Zeiten durch den globalen Verkehr dann zunehmende Vermi-

1 Kant-Texte werden grundsätzlich nach „Band:Seite“ der Akademie-Ausgabe (Berlin 1900 ff.) zitiert, die Kritik der reinen Vernunft nach A bzw. B (1. bzw. 2. Aufl.).

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schung beiseite: Die bringt nun besondere Varietäten wie Mulatten, Mestizen oder Kariben hervor, die es „ursprünglich“ nicht gibt (ebd.). Das ist der Kerngedanke von Kants philosophischer Naturgeschichte, die beansprucht, die Fakten der empirischen Naturbeschreibung seiner Zeit auf den Begriff zu bringen und dabei die Einheit des Menschengeschlechts zu betonen. Und das ist, wenn man es denn unbedingt so nennen möchte, Kants naturalistischer Universalismus (aus dem bei ihm für moralische Zwecke allerdings nichts folgt): Eine Menschheit, gegen Forster, der stattdessen zwei – oder mehrere – unabhängige Stämme annehmen will. Unausgesprochen wie unbestritten bleibt dabei, dass alle vier „Menschenrassen“ sich derzeit von den übrigen species auch durch besondere Merkmale ihres Körperbaus (z. B. den aufrechten Gang) sowie durch eine Befähigung zur Sprache (und somit auch zum Verstandesgebrauch) unterscheiden lassen – Merkmale des Menschlichen, die sich im Zuge der Ausdifferenzierung nicht verloren haben. Es ist nicht zuletzt die Ausbildung der den Menschen eigentümlichen Hand (07:323), die äußerlich sichtbar Verstand und Vernunft anzeigt.

II. Die geographischen und klimatischen Entwicklungsbedingungen haben nun aber nicht nur zur spezifischen Hautfarbe der „Weißen“, der „Gelben“, der „Schwarzen“ und der „Roten“ geführt, sondern, zweitens, auch zu bestimmten weiteren physischen und mentalen Ausprägungen – im Körperbau und im Charakter: „Man kann mit dem Ritter Linné für die Archäologie der Natur die Hypothese annehmen: daß aus dem allgemeinen Meer, welches die ganze Erde bedeckte, zuerst eine Insel unter dem Äquator als ein Berg hervorgekommen, auf welchem alle klimatische Stufen der Wärme von der des heißen am niedrigen Ufer desselben bis zur arktischen Kälte auf seinem Gipfel sammt den ihnen angemessenen Pflanzen und Thieren nach und nach entstanden (…)“ (07:323 Fn.).

Wenn es im Rahmen dieser „Hypothese“ dann um die Entwicklung der Menschen geht, sieht es ganz danach aus, dass es bei Kant hier manifest „rassistisch“ im heutigen Alltags-Wortsinne2 zugeht, denn er referiert in seinen Vorlesungen und Texten 2 Im Folgenden werde ich das Wort „rassistisch“ nicht so verwenden, dass z. B. auch bereits die Frage, ob Menschen eher „gelber“ Hautfarbe durchschnittlich in höherer Stimmlage sprechen, als die mit eher „roter“ als „rassistisch“ bezeichnet werden müsste (dass sie ggf. rassistisch-diskriminierend benutzt werden kann, hat mit dieser terminologischen Entscheidung nichts zu tun). Dass Rassismus gar ein „Märchen über angeborene Eigenschaften [ist], die Annahme, dass wir von Natur verschieden seien“ (Hasters, APuZ 70 v. 12. 10. 2020, 4 [5]), scheint mir eine Terminologie zu propagieren, die der Verharmlosung dessen, was man gemeinhin rassistische Diskriminierung nennt, Tür und Tor öffnet. Zudem: Was auch immer man über Umfang und Grad „angeborener Eigenschaften“ im Einzelnen denken mag: Niemanden nach seinen besonderen, gegebenen Fähigkeiten zu behandeln, weil man pauschal bestreitet, dass „wir von Natur verschieden“ sind, führte zu absurden (meritokratischen) Verantwortungszuweisungen für unterschiedliche Erfolgsbilanzen im Leben.

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kanonische, „rassistische“ Positionen seiner Zeitgenossen, ohne diese (zumindest in den uns überlieferten Quellen) auch nur ansatzweise kritisch zu kommentieren: Auch wenn etliche Erwähnungen von besonderen „Rasse-Eigenschaften“ rein physiologisch-deskriptiv sind (Kant räsoniert etwa über den Zusammenhang von Blutfarbe, Phlogiston und Körpergeruch), so fehlt es auch nicht an manifest pejorativen, herabsetzenden Urteilen, die seine Zeitgenossen nicht anders verstehen konnten (und mitunter sogar wollten) als wir Nachgeborenen: Die „Amerikaner“ etwa zeigen eine „halb erloschene Lebenskraft“ (02:438), die „Negers“ sind, kurz gesagt, stark aber faul, intellektuell nicht interessiert und auch nicht weiter entwicklungsfähig (15:878), die „Inder“ „nehmen die Cultur der Kunst an, aber nicht der Wissenschaft und Aufklärung. Sind immer Schüler“ (15:877). Und das alles war, so Kants Gedanke, in ihrer ursprünglichen Klimazone möglicherweise eine durchaus „angemessene“, sprich: eine naturgemäße Ausstattung. Die „Weißen“3 hingegen haben in ihren milderen Klimazonen eher zukunftseröffnende Fertigkeiten und Tugenden herausbilden können: „In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperirten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften“ (09:316).

Wer hier glaubt, etwas beschönigen oder relativieren zu können (oder in hagiographischer Grundgestimmtheit gar: zu müssen), sollte einfach noch einmal gründlicher in die Texte schauen: In Hinblick auf das Potential der Zivilisierung finden wir bei Kant an vielen Stellen eine klare Klassen- oder Rassen-Hierarchie.4 Deren Schärfe 3 Zu denen zählte Kant mitunter auch „Mohren (Mauren von Afrika), die Araber (nach dem Niebuhr), den türkisch-tatarischen Völkerstamm und die Perser, imgleichen alle übrige Völker von Asien, die nicht durch die übrigen Abtheilungen namentlich davon ausgenommen sind.“ (02:432) Kants Rassismus ist also definitiv nicht eurozentristisch – und in gewisser Weise sogar „farbenblind“. 4 Das gilt allerdings nicht für jede Passage, die, sobald man sie außerhalb des argumentativen Kontextes präsentiert, eine rassistische oder gar kolonialistische Färbung suggeriert. So z. B.: „Der Einwohner des gemäßigten Erdstriches, vornehmlich des mittleren Theiles desselben ist schöner an Körper, arbeitsamer, scherzhafter, gemäßigter in seinen Leidenschaften, verständiger als irgendeine andere Gattung der Menschen in der Welt. Daher [!] haben [!] diese Völker zu allen Zeiten die anderen belehrt und durch die Waffen bezwungen“ (09:317). Im Anschluss werden zahlreiche weitere „Völker“ benannt, die insbesondere durch ihre „Kriegskunst“ andere „beeindruckten“, und dabei sind neben Nordländern, Griechen und Römern auch die Truppen „Dschingischans“, „Tamerlans“ und die (wegen ihrer Geringschätzung von Gesetz und Freiheit von Kant wenig geachteten) „Türken“ die Beispiele. Vorher im Text ging es um die klimabedingte Anpassung von Eichhörnchen, Hunden und Norwegern an neue Aufenthaltsorte, und im Anschluss wird berichtet, dass sich manche Eigenschaften von Völkerschaften z. B. nach eroberungsbedingten Ortswechseln nur langsam verlieren. – Wenn man aus dieser Stelle etwa irgendeinen Versuch der Rechtfertigung „weißer“ Hegemonie herauszulesen vermag (statt einer – äußerst fragwürdigen – naturalistischen Erklärung derselben), dann muss man nolens volens auch bereit sein, aus Kant einen Apologeten der Herrschaft von Dschingis Khan und Timur zu machen.

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nimmt allerdings, worauf zu Recht hingewiesen wird,5 in den Äußerungen der späteren Schriften deutlich ab und löst sich möglicherweise sogar in Nichts auf – aber das wird für die folgenden Überlegungen keine zentrale Rolle spielen. Das Vorangehende ist – für Kant – eine durch seine naturgeschichtliche Theorie (siehe oben unter I.) ermöglichte angemessene Erklärung der von seinen z. T. weitgereisten Zeitgenossen berichteten, vermeintlichen Tatsachen, dass nämlich etwa die „Negers“ es in Amerika und die aus dem warmen Indien stammenden „Zigeuner“ es in Europa zu nichts bringen (08:175). Und diesen damaligen „Kenntnisstand“ der europäischen Gelehrtenrepublik vermittelt er seinen Studenten dann pflichtschuldigst in seinen Vorlesungen. Allerdings nicht in denen zu Logik und Metaphysik (wofür er berufen war), sondern in seinen populären Vorlesungen zur pragmatischen Anthropologie und zur physischen Geographie, in denen er seiner Hörerschaft die praktisch-relevanten Ergebnisse der neueren Gelehrsamkeit vermitteln wollte (vgl. 02:312 – und dank deren großer Beliebtheit er nebenbei sein Salär aufbessern konnte). Kant versuchte in diesem Kontext dann auch eine (spekulativ-hypothetische) Erklärung der ihm durch die seinerzeit vermeintlich beste verfügbare „Datenbasis“ (die ja höchst innovative, vorgeblich-empirische Naturbeschreibung weltreisender Forscher) verbürgten „rassischen“ Unterschiede zu liefern, eine Erklärung, die (anders als etwa die von Forster) zumindest an der Gattungseinheit des Menschengeschlechts festhalten konnte. Kants sich hier äußernder Rassismus ist damit im Kern nicht mehr und nicht weniger (und kann aufgrund des pragmatischen Kontextes seiner populären Vorlesungen auch gar nichts Anderes sein) als ein unkritischer Bericht über den impliziten Rassismus von „Naturbeschreibungen“ des späten 18. Jahrhunderts – und damit natürlich auch ein Selbstbericht über die auf diese gegründeten Vorurteile unter den europäischen Gebildeten. Wer Kant als Erfinder oder auch nur als einen bedeutenderen Vertreter des Aufklärungs-Rassismus bezeichnet, hat also ein Terrain betreten, wo es leichtfällt, seinen intellektuellen Beitrag maßlos zu überschätzen: Auffällig wurde Kants Rassismus ja nicht etwa aufgrund seiner Extravaganz oder Originalität, sondern aufgrund des – ganz anderen Qualitäten geschuldeten – immensen Erfolges seiner pragmatischen Vorlesungen (der sich auch heute noch leicht nachvollziehen lässt, wenn man einmal in die überlieferten Nachschriften hineinschaut6). Freilich: Die vermeintlichen „Reiseberichte“ der europäischen Reiseschriftsteller hätte man auch seinerzeit schon mit quellenkritischen Vor5

Schon vor der jüngsten Renaissance der Diskussion eines „Rassismus der Klassiker“ hat Kleingeld (Kant and Cosmopolitanism, 2012, Chap. 4, insbesondere 111 ff.) diesen Befund gültig herausgearbeitet und damit die Debatte auf ein – dann nicht überall gehaltenes – Niveau gehoben. – Siehe für die neuere Diskussion jetzt: Zhavoronkov/Salikov, Con-Textos Kantianos 7 (2018), 275 (275 – 292); und eine detaillierte Debatte in: Haus/Jörke/Traußneck et al., Politische Vierteljahresschrift 62 (2021), 671 (671 – 694). – Zur Frage, inwieweit gerade die Vorlesungsschriften im Detail etwas über Kants Vortrag selbst und nicht etwa primär über dessen Rezeption durch die Zuhörer aussagen, siehe: Stark, in: Elden/Mendieta (Hrsg.), Reading Kant’s Geography, 2011, 87 (87 – 102). 6 Die Nachschriften zu „Anthropologie“ und „Physischer Geographie“ liegen inzwischen in mustergültigen Editionen in den Bänden 25 und 26 der „Akademie-Ausgabe“ vor.

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behalten (und vor allem auch mit einem Einblick in die Gesetze des florierenden Buchmarkts – schon damals galt: „Cannibalism sells!“) unschwer als „unscientific fiction“ entschlüsseln können, aber dazu hat sich Immanuel Kant offenkundig so wenig berufen gefühlt, wie das gros seiner gebildeten Zeitgenossen – obgleich er die „wankende Grundlage“ der Annahme von „Naturverschiedenheiten“ in späteren Phasen seines Denkens ja durchaus eingestand (08:62).

III. Bis hier hat das alles offenkundig mit Philosophie, genauer: mit jener Art von Philosophie, wie man sie in der Nachfolge der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie an den deutschen Universitäten betrieben hat und zu der Kant als ein Professor der Logik und Metaphysik jene Beiträge geleistet hat, deren kritische und positive Impulse bis heute unvermindert nachwirken, nicht das Geringste zu tun – auch wenn man durch die Brille der Kulturkritik des frühen 21. Jahrhunderts die klare Grenze vermutlich nicht mehr erkennen kann. Diese akademische, in der „Unteren Fakultät“ der Universitäten beheimatete Philosophie beschäftigt sich, anders als das damalige „Feuilleton“ namens „Popularphilosophie“, nicht mit den Inhalten (und der Verlässlichkeit) der Reiseliteratur, nicht mit der empirischen Naturforschung, nicht mit Fragen der naturalistischen Anthropologie, ja nicht einmal mit Kultur-Anthropologie, denn eine solche Wissenschaft hatte man seinerzeit ja noch gar nicht erfunden, weil man in einem Entwicklungsmodell der Menschheit befangen war, in dem für einen echten Pluralismus entwickelter Kulturen kaum Platz war (ich werde am Ende kurz darauf zurückkommen). Die Universitäts-Philosophie beschäftigte sich als Metaphysik (neben der Logik) wesentlich mit drei besonderen Gegenständen, denen man seinerzeit immense Bedeutung für das sittliche Leben der Menschen zumaß: Mit der Unsterblichkeit der Seele, mit der Existenz Gottes und mit der Realität der menschlichen Freiheit. Letztlich geht es dabei um die Grundfrage nach der sittlichen Existenz des Menschen: Was ist die Grundlage „unserer“ (d. h.: der Menschen, nicht: der Königsberger, Preußen oder Europäer o. ä.) moralischen Normen, unserer nicht-instrumentellen Werte, der Zurechnung guter und böser Handlungen und welches sind die Ziele, auf die ein genuin menschliches Leben auszurichten ist (eine implizite Leitfrage – nicht nur – der abendländischen Philosophie seit der Antike). Die innere Dynamik dieser Konzeption von Philosophie ist angesichts ihrer historischen Situierung immens: Fragen nach dem Kosmos im Allgemeinen und nach der Stellung des Menschen im Reich der Natur spielen von Anfang an ebenso hinein wie Fragen der Theodizee oder nach der Bedeutung spiritueller Offenbarung(en). Descartes etwa, dem mitunter zugeschrieben wird, dass er den neuzeitlichen Rationalismus auf die Bahn brachte, behandelt in seinen „Meditationen über die erste Philosophie“ von 1641, nachdem er in der ersten der „Meditationen“ den universellen Methodischen Zweifel eingeübt hat, die Immaterialität der Seele, die Existenz Gottes und die Realität der menschlichen Freiheit, bevor er sich dann

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mit der 5. Meditation erstmals der Welt der ausgedehnten Körper zuwendet (um deren Erforschung es ihm im Wesentlichen ging). Dieses Vorgehen ist erklärtermaßen (auch) dem Ziel geschuldet, atheistischen Amoralisten das Handwerk zu legen. Die Fragen und Gegenstände der Philosophie i. e. S. richten sich daher an den Gegenständen einer solchen Metaphysik aus, oder, wie es dann bei Kant heißt: Die Philosophie ist wesentlich Lehre vom Unbedingten – denn mit dem Bedingten beschäftigen sich die empirischen Wissenschaften, die dann zur Physik oder zur Psychologie gezählt werden (und die die Philosophie ihrerseits als erfolgreiche Wissenschaften zur Kenntnis und methodisch auch durchaus zum Ausgangspunkt ihrer Selbstreflexion nehmen kann; vgl. 04:327). Wie etwa bei dem für Deutschland prägenden Christian Wolff ist die Ontologie, die bei Kant in der Analytik der „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781 abgehandelt wird, das Propädeutikum für rationale Psychologie, rationale Kosmologie und rationale Theologie, die ihrerseits bei Kant wiederum ihren Platz in der Dialektik der Kritik fanden. Dort behandelt Kant speziell in der Kosmologie die Frage nach der transzendentalen Freiheit als Voraussetzung der Imputabilität, der Zurechenbarkeit von Handlungen, die bei ihm wiederum die zentrale Frage nach dem praktischen Selbstverständnis des Menschen ist. Damit komme ich zu den Fragen vom Anfang zurück, denn die eigentlich spannende, die dritte Frage ist nun – und dazu lesen und hören wir im Kontext der „Rassismusfrage“ zumeist nichts –, welche Menschen bei Kant den moralischen Status der Person (und damit – gleiche – Rechte, Pflichten usw.) haben (bzw. erwerben) können. Dieser Status hängt für Kant nämlich nicht bereits an jener biologischen Menschheit („von einer menschlichen Mutter geboren“) als einer sprach- und verstandesbegabten species, von der bislang allein die Rede war. Das wäre auch verwunderlich, denn schließlich gibt es für Kant ja „nichts schrecklicheres“ zu denken (27:1320), als ein „Thier das Vernünftelt“ (15:891), das nämlich nicht nur „tierisch“ durch (gerade für uns Menschen ja weitgehend berechenbare) natürliche Instinkte allein, sondern auch „vernünftig“ durch seine je idiosynkratischen Vorstellungen von der Welt und von sich selbst geleitet wird: „Ein Mensch erschrickt in einer Wildnis mehr vor einem andern, als vor einem reißenden Tiere, dem er im Fall eines Angriffs schon zu begegnen wüßte. Was aber der Mensch im Schilde führt, kann er garnicht wissen.“7

Weder die Menschengestalt noch die Befähigung zu Sprache und zu rationalem Handeln macht den Menschen für Kant also bereits zu einem geselligen Zeitgenossen – und schon gar nicht zu einem sittlichen Wesen. Daher war Robinson um seinen 7 Es geht weiter: „Man sieht dies auch bei kultivierten Staaten. Jeder rüstet sich im Fall, daß es nötig wäre, zur Verteidigung, und täte er es nicht, so würde man ihn gewiß angreifen. Obgleich Friede ist, steht alles in Kriegsrüstung. In der Natur [sc. des vernünftigen Wesens, B. L.] liegt also Mißtrauen und Ungeselligkeit.“; die philosophischen Hauptvorlesungen Immanuel Kants. Nach den neu aufgefundenen Kollegheften des Grafen Heinrich zu DohnaWundlacken, Kowalewski (Hrsg.), 1924, 367.

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Schlaf gebracht, als er die „Fußtapfen“ eines menschenfüßigen Tieres auf seiner einsamen Insel entdeckte (nur ein Handabdruck wäre noch untrüglicher gewesen, s. o.): Ein vernünftiges Wesen zwar – aber möglicherweise eines ohne moralische Maßstäbe seines Handelns, ohne das (Sitten-)Gesetz: ein vernunftbegabter „Wilder“ also (ebd.), aber vielleicht doch kein – im Sinne von Kants späterer terminologischer Unterscheidung – der Sittlichkeit fähiges „Vernunftwesen“ (06:418). Kant verweist in diesem Kontext auf jene Neuseeländer, die im Jahre 1772 den „Ritter Marion [Dufresne]“ mitsamt 22 seiner Gefolgsleute „einfach aufgegessen“ haben, vorgeblich „bloß weil sie ihn gerne essen wollten“, bevor die Seeleute, nach einem „Monath in der besten Freundschaft“, dann wieder in ihre Heimat entschwinden wollten (27:1320) – rationale „Wilde“ eben. Personalität und Sittlichkeit setzen bei Kant folglich ein Bewusstsein der Verbindlichkeit nach dem (Sitten-)Gesetz voraus, das über die biologische Gattungszugehörigkeit und auch über die (bekanntermaßen innerhalb aller Menschengruppen höchst ungleich verteilte) Befähigung zur (subjektiven Zweck-)Rationalität noch einmal hinausgeht. Und die (für Kant durch das zeitgenössische „Experten-Vor-Urteil“ ja bereits beantwortete, s. o.) empirische Frage ist: Kann die Zucht der Moralisierung (etwa durch den lutherischen Katechismus oder wodurch, je nach Kulturlage, sonst auch immer) bei sämtlichen Vertretern der menschlichen Gattung in demselben Maße greifen, d. h.: aus zunächst „bloß-vernünftelnden Thieren“ vernünftige Menschen, der Sittlichkeit fähige Wesen machen, oder nicht? Und da ist der Königsberger – vorsichtig gesagt – sehr zurückhaltend. Dass die „Amerikaner“, „die Negers“, „die Inder“ – oder gar die glückseligen Bewohner der Südseeinseln – es in absehbarer Zeit schaffen könnten, will er, wie auch viele seiner wesentlich welterfahreneren, weitgereisten Zeitgenossen (auf deren Urteil der Daheimgebliebene sich seinerzeit nun einmal verlassen musste) nicht so recht glauben. Und schlimmer noch: Bei Kant purzeln in solchen Kontexten zu allem Überfluss dann auch noch „rassistische“ und „kulturalistische“ Vor-Urteile (sogar in einem einzigen Satz!) munter durcheinander8, wenn es etwa heißt: „Dem Wilden [!] ist der [im Krieg] Überwundene zu nichts nütze als um gegessen zu werden, dem Neger [!] um verkauft zu werden als Sclave, dem Gesitteten [!] als Unterthan und Bürger.“ („Collegentwurf“ der 1780er Jahre; 15:895). Man wird freilich zur Kenntnis nehmen, dass der „Neger“ 8 Davor müssen sich insbesondere nachgeborene Leserinnen und Leser hüten, wenn sie bei Kant etwa auf die „Südsee-Einwohner“ (04:423; vgl. 08:64 f.) stoßen: Die Lebensweise dieser Menschen in einem der letzten vermeintlichen Paradiese, in „Otaheite“ (Tahiti), hat – nicht zuletzt wegen der lebensfreundlichen Naturbedingungen und insbesondere wegen der notorischen sexuellen Freizügigkeit – noch 100 Jahre später (etwa bei Paul Gauguin oder Emil Nolde) Aussteigerkarrieren beflügelt. Auch für Kant steht dieses Leben symbolisch für den praelapsalen Zustand der Menschheit, in dem (ganz in der Tradition des Naturrechts: vgl. etwa Pufendorf, De Officio Hominis et Civis, 1673, Praefatio, oder Locke, Second Treatise of Government, 1690, § 128) jede genuin sittliche Normierung noch gegenstandslos war, zu dem es aber aus der Welt „nach dem Sündenfall“ kein Zurück mehr gab (was spätesten seit Rousseaus zweitem Discours dann auch als naturgeschichtlich plausibel galt). Irgendeine Art von Rassismus ist mit einer solchen geschichtsphilosophischen Generalthese allenfalls akzidentiell verbunden.

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von Kant hier nicht etwa als vermeintlich geborener Sklave thematisiert wird, sondern vielmehr als geschäftstüchtiger Sklavenhändler auf der Anklagebank sitzt; damit wird zumindest schon einmal die von je her gängige Versklavung von Kriegsgefangenen (welcher Hautfarbe auch immer) pauschal als „ungesittet“ denunziert (anders als z. B. bei John Locke9) – und dabei gleich auf eine Stufe mit dem Kannibalismus gestellt. In diesen Urteilen, das wurde oben schon unter der zweiten Frage festgestellt, spricht Kant so wenig als Philosoph wie etwa als Logiker, sondern vielmehr als Kind der (modern gesprochen) empirischen Kulturwissenschaften seiner Zeit. Dass wir, wenn wir genau dasselbe tun, heute strengere Maßstäbe an die „Wissenschaftlichkeit“ unserer empirischen Wissenschaften legen können und müssen als Kant es konnte und wollte, liegt schon allein daran, dass wir solche inzwischen haben: Denn insbesondere als empirische müssen die Wissenschaften um ihrer explanatorischen Differenziertheit und prognostischen Verlässlichkeit willen ihre Maßstäbe unablässig verschärfen – und die Zukunft wird dereinst genauso nach ihren schärferen Maßstäben über die unsrigen urteilen, wie die Gegenwart über die der Vergangenheit – vae victis!10

IV. Lernen könnten wir von Kant hier also – gemäß unserer drei Fragen – dreierlei: 1. Die Menschheit hat im Wesentlichen einen gemeinsamen biologischen Ursprung. Das konnte Kant seinerzeit nur kühn vermuten, unsere bewährten biologischen Theorien machen dies – unerachtet aller möglichen Zwischenstufen und Verzweigungen – zu einer derzeit alternativlosen Grundannahme (aus der Kant allerdings keine moralischen Funken schlagen wollte). 2. Das schließt nicht die irreversible Herausbildung einzelner stabiler Phänotypen („Klassen“, „Rassen“ – oder wie auch immer man solche Abteilungen der Menschheit derzeit nennen will) aus: Es ist daher definitiv keine moralische oder ideologische Frage, welche „phänotypischen11 Bündel“ sich dabei ggf. her9

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Zur Legitimität der Versklavung von Kriegsgefangenen etwa: Locke (Fn. 8), §§ 23 f.,

10 Die Debatten um die sogenannte „Reproduktionskrise“ in den Naturwissenschaften (dazu: Fanelli, Proceedings of the National Academy of Sciences 115 (2018), Heft 11, 2628 [2628 – 2631]) sind nur ein blasser Vorschein dessen, was möglicherweise in den Kulturwissenschaften zeitnah zu erwarten ist. 11 Die Frage etwa nach genetischer Diversität spielt an dieser Stelle keine Rolle: Auch wenn zwei „rote Amerikaner“ weniger genetische Eigenschaften miteinander gemein hätten/ haben, als jeder von ihnen mit einem „schwarzen Afrikaner“ – für die die unter der Rubrik „Rassismus“ verhandelten sozialen und politischen Phänomene spielt das nicht die geringste Rolle (es sei denn, man wollte den Rassismus durch einen reinen „Biologismus“ ablösen, der genetische Ähnlichkeit zu einer eigenständigen rechtlich-politischen Kategorie erhebt).

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ausgebildet haben: Ob etwa Hautfarbe, Physiognomie oder Körpergestalt z. B. mit irgendwelchen Kompetenzen bereits natürlich (biologisch) positiv oder negativ korreliert sind, ist eine empirische Frage, die man für sich und für andere nur um den Preis der intellektuellen Selbst-Entmündigung tabuisieren oder moralisieren könnte. Um es an bekannten Vorurteilen über positiv-konnotierte Kompetenzen zu illustrieren: Haben „die Esquimaux“ von Natur ein besonderes Gespür für Schnee, die „Amerikaner“ für das Fährtenlesen, „die Inder“ für die Zahlentheorie, „die Negers“ für den Rhythmus, „die Sineser“ für die Gartenkunst? Oder aber verdanken die einschlägigen Korrelationen (falls es solche denn überhaupt geben sollte) sich wesentlich der aktuellen kulturellen Prägung (auf welcher der beiden Seiten auch immer: der Beobachtenden oder der Beobachteten). Gerade die Option einer nicht hierarchischen und auch nicht bloß-diachronen kulturbedingten Diversität stand Kant – wie den meisten seiner Zeitgenossen – definitiv noch nicht als Alternative vor Augen. Aber ohne eine anthropologische Feldforschung, die die Unterschiede zueinander ins Verhältnis setzt und ggf. dokumentiert, kann man auch heute darüber nichts herausfinden. 3. Alles das hat für den (Moral-)Philosophen Kant aber mit der Frage nach dem moralischen Status, der Personalität von einzelnen Menschen (oder von Menschengruppen) überhaupt nichts zu tun: Diese hängt für ihn am Ende allein daran, inwieweit Menschen sich mit Blick auf andere selbst bestimmen können und wollen. Und das ist eine Frage nach dem menschlichen Selbstverständnis, bei der die Biologie definitiv nicht weiterhilft, denn für Kant ist allein die Freiheit, d. h. eine „unbedingte Kausalität“, die ratio essendi (der Seinsgrund) der Sittlichkeit. Und die ratio cognoscendi (der Erkenntnisgrund) dieser intelligiblen Freiheit – und damit dann auch der moralischen Persönlichkeit – des einzelnen Menschen ist für Kant nicht bereits die Zweckrationalität des Handelns bzw. die Fähigkeit zum abstrakten Denken,12 – oder die „psychologische Persönlichkeit“ (06:223). Es ist (spätestens seit der 2. Auflage der „Kritik“ von 1787 sogar ganz explizit) allein ein darüberhinausgehendes Bewusstsein der Verpflichtung durch das Sittengesetz (das sogenannte „Faktum der reinen praktischen Vernunft“) – ich zitiere ausführlich, weil man es eigentlich gar nicht deutlicher sagen kann: „Denn es folgt daraus, daß ein Wesen Vernunft hat, gar nicht, daß diese ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt durch die bloße Vorstellung der Qualification ihrer Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung zu bestimmen und also für sich selbst praktisch zu sein: wenigstens soviel wir einsehen können. Das allervernünftigste Weltwesen könnte doch immer gewisser Triebfedern, die ihm von Objecten der Neigung herkommen, bedürfen, um seine Willkür zu bestimmen; hiezu aber die vernünftigste Überlegung, sowohl was die größte Summe der Triebfedern, als auch die Mittel, den dadurch bestimmten Zweck zu erreichen, 12 Etwa vermittels von „Ideen“, wie wir es von 1781 bis 1785 bei ihm lesen, siehe KrV A 547 f., 04:345; 04:452. Dazu: Ludwig, Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, 2020, 130 f.

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betrifft, anwenden: ohne auch nur die Möglichkeit von so etwas, als das moralische, schlechthin gebietende Gesetz ist, welches sich als selbst und zwar höchste Triebfeder ankündigt, zu ahnen. Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es als ein solches durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen: und doch ist dieses Gesetz das einzige [!], was uns der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle andern Triebfedern (unsrer Freiheit) und hiemit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht.“ (06:26 Fn.)

Wer z. B. weiß, dass man ein Versprechen geben kann, und sich dessen bewusst ist, es gleichsam „fühlt“ (s. u.), dass man dieses dann auch allein um des Versprechens willen halten soll (d. h.: für den „pacta sunt servanda“ ein kategorischer Imperativ, ein „schlechthin gebietende[s] Gesetz“ ist), ist frei und damit (als ein „Tier, das versprechen darf“13) rechtlich-moralisch „im Spiel“ – auch wenn sie oder er dieses Gesetz möglicherweise niemals um des Gesetzes willen befolgt hat (worüber andere ja ohnehin niemals Gewissheit erlangen können) und ihm auch niemals um des Gesetzes willen tatsächlich folgen wird oder will (was ja sogar die Handelnden selbst nicht wissen).14 In Kants „Rechtslehre“ klingt das so: Das Recht „gründet sich nun zwar auf dem Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze; aber die Willkür darnach zu bestimmen, darf und kann es, wenn es rein sein soll, sich auf dieses Bewußtsein als Triebfeder nicht berufen, sondern fußt sich deshalb auf dem Princip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges, der mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen zusammen bestehen kann.“ (06:232; herv. B. L.).

Das Recht ist damit eine Zwangsordnung für Personen, d. h. für alle Wesen, die über ein „Bewusstsein der Verbindlichkeit“ verfügen (vgl. 06:223), die somit in praktischer Hinsicht frei sind und sich dem Anspruch nach selbst bestimmen können. Diese (und naturgemäß auch nur diese) haben grundsätzlich das Privileg gleicher Rechte und Pflichten – wie alle jene anderen, denen es genauso geht –, d. h., ihnen kann ihr Verhalten als Handeln als freies zugerechnet werden, sie werden als Person, ganz gleich, ob nun von gelber, weißer, schwarzer, roter oder gar (wenn es denn außerirdische Personen gibt) grüner Färbung, von anderen Personen 13

Das ist offenkundig im Kern der alte Epikurische Grundsatz, dass es Gerechtigkeit nur unter denen gibt, die „Verträge (synthèkas) darüber abzuschließen vermochten, einander nicht zu schädigen und sich nicht schädigen zu lassen“ (Kyriai doxai, XXXII). 14 In gleichsam doppelter Umkehrung der Humeschen Formel (Treatise, Book III, I.I) könnte man sagen: „You can deduce an Is from an Ought“: Weil ich soll, bin ich frei (vgl. 05:30.31 f. und 05:159.08 f.). – Es ist geradezu die Pointe der Kantischen Metaphysik, dass sie es ermöglicht, den moralischen Begriffen eine epistemische – und den entsprechenden „praktischen“ Gegenständen damit eine ontologische – Selbständigkeit zuzubilligen (05:06.06 ff.), indem sie die Unterscheidung von sinnlicher und intelligibler Welt einführt: Freiheit (als Grund der Imputabilität; siehe A 448) ist somit nicht auf irgendeine Indeterminiertheit in der Erfahrungswelt angewiesen (menschliche Handlungen sind für Kant im Prinzip nicht weniger vorherbestimmt als Sonnen- und Mondfinsternisse, 05:99), sie zeigt sich daher für praktische Zwecke hinreichend im unabweisbaren kategorischen Sollen (06:144 Fn.). Fragen von Kompatibilismus und Inkompatibilismus etc. sind im Rahmen des transzendentalen Idealismus also selbst dann gegenstandslos, wenn man mit Kant noch irgendeinen (letztlich aber auch bei ihm unbegriffenen) Prä-Determinismus voraussetzt.

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für ihr Handeln verantwortlich gemacht (und folglich nicht zweckmäßig abgerichtet wie Tiere, sondern ggf. gerecht belohnt oder bestraft). Ohne diese sittliche Freiheit bliebe (für Kant) auch ein rationales Wesen bloß ein „automaton spirituale“, von einem Bratenwender, einem „automaton materiale“, wesentlich nur dadurch unterschieden, dass es nicht allein durch prädeterminierte mechanische Kräfte, sondern auch durch gleichermaßen prädeterminierte psychologische Kräfte (Wünsche und Überzeugungen, „desires and beliefs“) blind angetrieben wird (dazu 05:97). Gäbe es solche Menschen, die aufgrund einer besonderen Naturanlage grundsätzlich nicht den Anspruch artikulieren können, frei zu sein, die also gleichsam „zugegebenermaßen“ nur von ihren gegebenen Neigungen und gegebenen Überzeugungen, Automaten gleich, angetrieben werden und sich selbst dabei allenfalls zusehen können: Aus welchem Grund sollte man diese weniger in Käfigen oder Volieren halten dürfen und ohne Nachfrage vor den Wagen spannen als jene Haus- und Arbeitstiere, die die Menschen seit Menschengedenken damit molestieren? Menschen als Personen können sich gegenüber anderen Personen verpflichten und damit umgekehrt diesen gegenüber auch Rechte beanspruchen, weil sie sowohl prospektiv als auch retrospektiv davon überzeugt sind, dass sie sich „mit Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizen“ in einem emphatischen Sinne selbst bestimmen können, und darin sogar „ihr eigentliches Selbst“ (04:457) finden. Versprechen sind eben etwas anderes als empirisch gestützte Prognosen über jene eigenen zukünftigen Motivationslagen, denen wir uns ausgeliefert sehen.15 Wenn wir diese Differenz anerkennen, dann bleibt es allerdings eine darüber noch einmal hinausgehende Frage, wie sich solche Personen denjenigen Angehörigen des Menschengeschlechts16 (species) gegenüber verhalten sollen, die dies ganz offen15 Die Frage, wie man erkennt, dass andere Menschen frei und damit Personen im genannten Sinne sind, wird von Kant mit einem klaren: „Erkennen kann man das nur bei sich selbst“ beantwortet, dann das „Bewusstsein [!] der Verbindlichkeit“ ist naturgemäß ein subjektives (s. o.; vgl. 05:46 und 05:468) der ersten Person. Sollten allerdings andere Menschen mir gegenüber den Personenstatus für sich beanspruchen (auch implizit, indem sie etwa ein Versprechen geben oder eines annehmen), so handelte ich mutmaßlich ohne Recht, wenn ich ihnen den Personenstatus verweigerte, denn es ist kein Gegenstand meines Wissens, ob sie ihn haben oder nicht. Andersherum: bevor man nicht (sehr) gute Gründe hat, bei einem bestimmten Menschen das Gegenteil anzunehmen, ihn für einen bloß-vernünftigen Teufel im Sinne der „Friedensschrift“ zu halten (dazu Ludwig, FS Hruschka, JRE 13 [2005], 275 [280 ff.]), ist man nach Kantischen Prinzipien als Person verpflichtet, diesen Menschen gleichfalls als eine der Zurechnung fähige Person, die Rechte wie Pflichten hat, anzuerkennen – ihn also nicht zur bloßen Sache zu erklären: Eine Sache aus Unkenntnis wie eine (privilegierte) Person zu behandeln ist (ganz anders als eine Person wie eine Sache zu behandeln) schließlich kein Vergehen. 16 Hier mag die Frage aufkommen, in welchem Sinne es „anti-humanistisch“ ist, wenn der moralische Status des einzelnen Menschen von einer Eigenschaft abhängig gemacht wird, die zwar (zu Kants wie auch noch zu unserer Zeit) exklusiv Menschen zuzukommen scheint, ihnen aber (als eine definitiv nicht-natürliche Eigenschaft) nicht notwendigerweise bereits qua (biologischer) Gattungszugehörigkeit zukommt – so etwa: Kozyra, in: Dmitrieva/Hanna/ Chaly (Hrsg.), Kant and the Ethics of Enlightenment: Historical Roots and Contemporary Relevance. Proceedings of the 12th International Kant-Readings Conference (Kaliningrad,

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sichtlich noch nicht können (wie etwa die Kinder „unter sechs Jahren“), temporär nicht können (etwa wegen Schlaf, Krankheit oder Rausch), nicht mehr können (wie z. B. Altersdemente) oder möglicherweise sogar zeitlebens nicht können werden: Hier nun stellte auch Kant zeitweilig die seinerzeit so genannten „Wilden ohne Gesetz“ unter den Generalverdacht, dass sie es in absehbarer Zeit nicht schaffen werden, sich zu selbst-bestimmten Personen zu entwickeln (ein Verdacht, den er zeitweise sogar auf „alles Frauenzimmer“ auszudehnen bereit war – doch das ist ein anderes Thema). Allerdings hat selbst diese Diskriminierung der „Wilden ohne Gesetz“ bei Kant am Ende doch weniger mit natürlichen Rassen oder Klassen zu tun, als – unkantisch gesprochen – mit möglichen Stufen der Kultur der Gattung, Stufen genuin menschlicher Entwicklung, die man seinerzeit ja auch in den Elternhäusern und Schulen „weißer“ Königsbergerinnen und Königsberger vorfand: „Wildheit ist die Unabhängigkeit von Gesetzen. Disciplin unterwirft den Menschen den Gesetzen der Menschheit [dem Sittengesetz, B.L.] und fängt an [!], ihn den Zwang der Gesetze fühlen zu lassen“ (so Kant in seiner Pädagogik, 09:442)

– und das gilt eben nicht nur für Schule und Elternhaus: „Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln. Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinct zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe.“ (08:18: Ideen zu einer allg. Geschichte) „Die Erziehung des Menschengeschlechts [vollzieht sich] im Ganzen ihrer Gattung, d. i. collectiv genommen (universorum), nicht aller Einzelnen (singulorum), wo die Menge nicht ein System, sondern nur ein zusammengelesenes Aggregat abgiebt, das Hinstreben zu einer bürgerlichen, auf dem Freiheits-, zugleich aber auch gesetzmäßigen Zwangs-Princip zu gründenden Verfassung“ (07:328: Anthropologie).

Rechte, Pflichten, Personalität etc. werden nicht von der Natur (und schon gar nicht von Göttern) vergeben oder verliehen – und daher auch nicht von Biologen und Anthropologen (oder von Theologen) erkannt oder zugeschrieben. Diese moralischen Prädikate werden erst in einer sittlichen Gemeinschaft des Menschengeschlechts praktisch etabliert, um damit die „Schrecklichkeit bloß-vernünftelnder Tiere“ (s. o.) zu überwinden. Dies ist und bleibt für Kant eine Aufgabe, deren Bewältigung, wenn überhaupt, nur möglich ist als eine reflexive Leistung der Gemeinschaft aller Personen am einzelnen Menschen – gestern, heute und morgen (und es ist nicht auszudenken, wie die Welt aussähe, wenn etwa in einer Epoche alle Menschen bereits bei ihren eigenen Kindern dabei scheiterten). Dem liegt die Überzeugung zuRussian Federation, 21 – 25 April 2019), 2021, 60. Welche natürliche Gattungseigenschaft könnte hier denn stattdessen einschlägig sein, wo selbst: „von einer menschlichen Mutter geboren“ zu sein, mittlerweile nicht mehr notwendig ist, um etwa als „Menschenkind“ zu gelten (was für das komplementäre „von einem menschlichen Vater gezeugt“ im christlichen Kanon ja schon seit gut 2000 Jahren so ist)?

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grunde, dass eine „globalisierte“ Menschheit nur durch die Stiftung irgendeiner nicht-parochialen, also im Grundsatz universalen, rationalen „Kultur der Sittlichkeit“ sich auf einen Zustand hin bewegen kann, in dem die dominanten, ihrerseits vernunft- und kulturbedingt entstandenen Streit- und Kriegsgründe sukzessive ihre motivationale Kraft wieder verlieren (wenn man sie schon nicht als solche gänzlich abschaffen kann – und will17). Und eine solche Stiftung wird für Kant damit zugleich zur Pflicht derer, die für sich selbst („provisorisch“) das Privileg beanspruchen, von Personen als Personen – also nach universalen Prinzipien und nicht nach Maßgabe der Gewalt – behandelt zu werden: exeundum est e statu naturali. Das gilt insbesondere in einer Zeit, in der man sich angesichts eines Blickes in die Geschichte der Menschheit nicht mehr dem blutigen Traum hingeben sollte, es ließen sich etwa Religions- bzw. Kulturkriege dauerhaft gewinnen – oder gar der Illusion erliegt, die Menschheit könnte sich immer noch in gleichsam praelapsalen Südseeparadiesen wie „Otaheite“ der globalisierten Zivilisation auf Dauer entziehen. Diese Einsichten dürfte auch und gerade vor dem Hintergrund der spirituellen Wiederaufrüstung der Politik seit Beginn des 21. Jahrhunderts eine realistische – und dabei gleichwohl wenig ermutigende – Grundlage irenischer Politik abgeben. Ob ein solches „rassenübergreifendes“ Friedens-Programm für die gesamte Menschengattung am Ende nicht doch wiederum nur Ausdruck irgendeines perfiden „Rassismus der Vernunft“ ist, eines rationalistisch-larvierten Paternalismus, mit dem (u. a.) die europäische Aufklärung antrat, den gesamten Erdball unter der Flagge einer moralischen Erziehung der vermeintlich (noch) kindischen Völker in den außereuropäischen Erdteilen einheitlich zu kolonialisieren, ist eine Frage, die weit über Kants Texte, ja selbst noch über das 20. Jahrhundert hinausweist. Bei deren Beantwortung muss man sich allerdings davor hüten, ausgerechnet jenen Gerichtshof in Trümmer zu legen, vor dem man sein Plädoyer gegen den Rassismus und auch gegen jede andere Art von Diskriminierung dann halten will: „Diversität“ wird ja ausschließlich unter universalistischen Prämissen zu einem nicht-instrumentellen, moralischen Gut. Der Vielleser Kant zumindest war mit den Schattenseiten des „aufklärerischen“ Projekts (und insbesondere mit dessen Potential zur Heuchelei) allzu gut vertraut, und er hatte gerade deshalb den Gerichtshof einer universalen Gerechtigkeit fest im Blick: Beobachtet man – so heißt es in der „Friedensschrift“: „(…) das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Welttheils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Cap etc. waren bei ihrer Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts. In Ostindien (Hindustan) brachten sie unter dem Vorwande blos beabsichtigter Handelsniederlagen fremde Kriegesvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingebornen, 17 Kulturelle Diversität, die sich bei Kant in der Vielfalt von Sprachen und Religionen ausdrückt, ist ein Motor des „lebhaftesten Wetteifer[s]“ (08:367) von Völkern.

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Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnoth, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag.“ (08:358; vgl. auch 23:173).

Streifte man das sprachliche Zeitkolorit ab und tauschte die speziellen regionalen Zuweisungen geeignet aus, dann könnte man diese Zeilen auch im deskriptiven Auftakt eines kritischen Kommentars zur Weltpolitik des 21. Jahrhunderts finden. Was auch immer man Kant vorwerfen möchte, weil er hier ganz selbstverständlich und definitiv nicht pejorativ – daher für historisch ungeübte Ohren möglicherweise unvertraut – etwa von den „Negerländer[n]“ und ihren „Eingebohrnen“ spricht: Dass man diese Menschen „für nichts rechnet“, sie zur Sache macht, ihnen also den Status von Personen, d. h. gleiche Rechten und Pflichten, abspricht, sie aber zugleich zynisch durch scheinbare Verträge vermeintlich bindet (indem man ihre unverschuldete Unwissenheit zementiert und ausnutzt) und dies alles auch noch unter dem Vorwand der Zivilisierung bemäntelt, das hat er (etwa in seiner „Rechtslehre“, s. 06:353 f.) dann kompromisslos und aufs Schärfste verurteilt – unerachtet all dessen, was er bei manchen seiner weißen Zeitgenossen sonst noch so über die gelben, schwarzen oder roten Menschen gelesen hatte: Für Kant bleibt am Ende der eigentliche politische Skandal seiner Zeit der vom frühkapitalistischen „Handelsgeist“ befeuerte Kolonialismus der vorgeblich so „gesitteten“ europäischen Nationen (und weniger die soziopolitischen Verwerfungen in Europa selbst). Und mit seinem Traktat „Zum Ewigen Frieden“ hat er dies den politischen Akteuren des alten Europa unverblümt ins Stammbuch geschrieben – nicht ohne sie, klugerweise, auch darauf hinzuweisen, dass es ihnen bald so ergehen wird, wie dem Ancien Régime 1789 in Frankreich, wenn sie es versäumen, zunächst einmal ihre Verfassungen selbst zeitnah in Blick auf das Ideal der friedenstiftenden Republik hin zu reformieren (etwa 08:373). 4. Die vierte Lektion, die wir demnach von Immanuel Kant, dem Moralisten, lernen könnten, wäre also die, dass unter „gesitteten“ Menschen „rassistische“ (Vor-)Urteile am Ende nicht einmal mehr zu einer schlechten Ausrede taugen, wenn man tatenlos zusehen will, dass Menschen nicht als Personen, also nicht als Wesen, die der Selbstbestimmung fähig sind, behandelt werden – wo auch immer das passiert: Denn durch den weltumspannenden Handels-Verkehr werden nun ja nicht nur Menschen und Waren in alle Weltgegenden gebracht, es werden dabei zugleich auch „Übel und Gewaltthätigkeit an einem Orte unseres Globs an allen gefühlt“ (06:353).

Vernunft und Gefühl in Husserls späteren Vorlesungen zur Ethik (1920/1924) Thomas Nenon Husserls Vorlesungen zur Ethik aus den Sommersemestern 1920 und 1924, die vor wenigen Jahren unter dem Titel „Einleitung in die Ethik“ von Henning Peucker ediert und als Band XXXVII der „Husserliana“1 veröffentlicht wurden, geben einen viel besseren Einblick in Husserls Konzeption der Ethik und Moralphilosophie als die ungefähr zwei Jahrzehnte zuvor erschienenen „Vorlesungen über Ethik und Wertlehre“2 aus den Jahren 1908 und 1914. Sie bieten den bisher einzigen systematischen Überblick über Husserls Ansatz zur Ethik in dem ganzen veröffentlichten Korpus seiner Schriften, der allmählich über vierzig Bände umfasst. Dennoch enttäuschen sie den Leser, der einen eigenen, von Husserl voll entwickelten Entwurf einer phänomenologischen Ethik sehen möchte. Denn man bekommt nur einige Hinweise, wie eine normative Ethik oder eine ausgeführte materielle Wertethik im Husserl’schen Sinne aussehen würde. Immerhin weiß man nach dem Studium dieses Bandes schon viel besser, wie das Projekt aus Husserls Perspektive gestaltet sein müsste, denn man erkennt hier zumindest die Grundzüge einer Husserl’schen Metaethik, und die allgemeine Methode, die ein solches Projekt verfolgen müsste, wird eindeutig dargelegt. Die früheren Vorlesungen aus den Jahren 1908 und 1914 beschränkten sich auf einige allgemeine Bemerkungen zu Parallelitäten zwischen der Logik und der Ethik. Beispielsweise stellt Husserl dort den Begriff des „Wertnehmens“ vor, das als die Grundlage von ethischen Stellungnahmen in ähnlicher Weise funktionieren soll wie die Wahrnehmung, die theoretische Stellungnahmen, z. B. Meinungen und Urteile, begründen kann. Die in den frühen Vorlesungen beschriebene Theorie des Willens beschäftigt sich vornehmlich mit einigen Grundsätzen, die die Vernünftigkeit des Willens in Bezug auf das Wollen von Zwecken und Mitteln und in Bezug auf die Wahl zwischen engeren und umfassenderen Zwecken betreffen. Sie enthalten auch einige kurze kritische Bemerkungen zu Humes und Kants ethischen Theorien, aber Husserls eigene Position bleibt sehr unbestimmt. Diese Vorlesungen sagen fast gar nichts über die Moralität im engeren Sinne aus, die mit unseren Pflichten anderen gegenüber zu tun hat, und sie sagen nur wenig zu Fragen in Bezug auf die vernünftige 1

Husserl, Einleitung in die Ethik, Vorlesungen Sommersemester 1920/1925, Husserliana Band XXXVII, hrsg. von Peucker, 2004. 2 Husserl, Einleitung in die Ethik, Vorlesungen Sommersemester 1920/1925, Husserliana Band XXVIII, hrsg. von Melle, 1998.

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Wahl oder Setzung von den Zwecken selbst, geschweige denn zu den höchsten Zwecken des menschlichen Lebens oder zu den vermeintlichen Quellen der Motivation zur Befolgung oder Umsetzung dieser Zwecke. Wer diese früheren Vorlesungen kennt, wird sich daran erinnern, dass Husserl die Ethik als die allgemeine Theorie vom vernünftigen Wollen überhaupt bestimmt hat, so dass sie viel umfangreicher ist, als das, was man zumeist mit dem Begriff der Moralität verbindet, aber dass er auch im Einzelnen sehr wenig darüber gesagt hat, wie diese Ethik aussehen soll. In den Vorlesungen von 1920/24 beginnt Husserl mit der Bemerkung, dass – obwohl die Begriffe „ethisch“ und „moralisch“ häufig synonym gebraucht werden – er den Begriff des „Ethischen“ in einem Sinne verwenden will, der viel weiter als derjenige des „Moralischen“ sei, da der Begriff der Moralität meistens mit den Einstellungen und Handlungen anderen gegenüber, mit der, wie er es nennt, Nächstenliebe assoziiert wird. Denn er sagt, dass die Fragen des vernünftigen Wollens und Handelns viel weitreichender sind und dass man nicht alle ethischen Pflichten auf Pflichten der Nächstenliebe reduzieren kann. Die Ethik wird normalerweise als die „Kunstlehre des richtigen Handelns“ oder als die „Kunstlehre von den Zwecken, die unser Handeln rechtmäßig zu verfolgen hat“3 bestimmt – eine Auffassung, die mit der breiteren Definition aus den früheren Vorlesungen übereinstimmt. In einer Hinsicht wird die Ethik noch breiter gefasst als in den früheren Vorlesungen. Die Ethik betrifft hier nicht nur den Bereich des Willens im engeren Sinne (als Gegensatz zum Meinen oder Werten), sondern sie wird jetzt als die „königliche unter den Kunstlehren“4 bezeichnet, da sie als die normative Theorie des Handelns überhaupt erst die Grundlage für die normativen Theorien des Wertens (die Axiologie) und des Meinens (die Logik) darstellt, denn auch Werten und Meinen verkörpern spezifische Handlungsarten des Menschen. Allerdings führt Husserls kritische Analyse von Humes und Kants Moralphilosophien in den späteren Vorlesungen dazu, dass Husserl eher der Begrifflichkeit der neuzeitlichen Diskussion folgt und den Begriff des „Moralischen“ nicht nur in Bezug auf Fragen der Nächstenliebe, sondern auf Handlungspflichten überhaupt verwendet, so dass die Bestimmungen von „ethisch“ und „moralisch“ fast synonym gebraucht werden.5 Der größte Unterschied zwischen den früheren und den späteren Vorlesungen besteht aber darin, dass die späteren in dem Aufruf nach „Selbsterneuerung“ durch „Selbstregulierung“ gipfeln, einer Selbstregulierung durch die systematische selbstkritische Reflektion, die das Leben nach Maßstäben der praktischen Vernunft bewertet und dazu führt, dass in uns selbst die angemessenen Gefühle geweckt werden, die zu richtigen Entscheidungen und Handlungen führen.6 Damit hängt zusammen, dass 3

Husserl (Fn. 1), 10. Husserl (Fn. 1), 18, vgl. auch 319. 5 Siehe z. B. Husserl (Fn. 1), § 48, in dem Husserl die beiden Begriffe abwechselnd verwendet und beide benutzt, um die gleichen Phänomena zu beschreiben. 6 Zur Entwicklung von Husserl siehe Melle, Études Phénoménologiques 1991, 13 f., 115 – 135. Siehe auch ders., Husserl Studies 23 (2007), 1 – 15. 4

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die späteren Vorlesungen die Betonung darauf legen, dass die normativen Bewertungen in der Ethik mit den praktischen Stellungnahmen von Personen zu tun haben, also von Subjekten, denen Freiheit zukommt und die durch die von ihnen im Verlauf ihres Lebens getätigten Stellungnahmen einen individuellen Charakter bekommen, der auch deshalb der ethischen Bewertung unterliegt. Wer sich an den Dritten Abschnitt der „Ideen II“ erinnert, der den Titel „Zur Konstitution der geistigen Welt“ trägt und auf Manuskripte zurückgeht, die in dem Jahrzehnt vor den 1920 gehaltenen Ethikvorlesungen verfasst wurden, wird hier eine Konzeption der Personalität finden, die mit der der „Ideen II“ konsistent ist. Wer bereits die Kaizo-Aufsätze von 1923 – 24 (die im Übrigen vom hiesigen Husserl-Archiv bearbeitet und herausgegeben wurden) kennt, wird hier ebenfalls Themen entdecken, die auch in diesen Aufsätzen eine zentrale Rolle spielen. In den Vorlesungen von 1920 und 1924 werden diese in den Kaizo-Aufsätzen eher nur in allgemeinen Zügen vorgestellten Themen viel detaillierter und ausführlicher dargelegt, und manches, was einfach als Behauptung in den kurzen Aufsätzen aufgestellt wird, bekommt in den Vorlesungen eine systematische und einleuchtende philosophische Begründung.7 In diesem Aufsatz möchte ich die wichtigsten Gedanken der Vorlesungen vorstellen, die Husserl dort anhand eines kritischen Kommentars an bedeutsamen Denkern aus der Geschichte der philosophischen Ethik und Moralphilosophie entwickelt. Ich möchte mich insbesondere auf drei zentrale Punkte konzentrieren. Der erste Punkt betrifft Husserls Widerlegung des Naturalismus in der Ethik und seine Überwindung des falschen Dualismus zwischen Vernunft und Gefühl, der die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie so sehr geprägt hat. Zweitens will ich zeigen, wie sein ethischer Entwurf den Gegensatz zwischen einer Pflichtethik und einer Tugendethik überwindet. Der zentrale Begriff für diese beiden Themenkreise ist der der Person. Und zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, wie die Grundvoraussetzungen, die zu der Überwindung des letzteren Gegensatzes führen, in Husserls allgemeiner Konzeption des geistigen Lebens überhaupt verankert sind.8 In den „Ideen II“ hat Husserl die „Person“ als dasjenige Wesen bestimmt, dessen Verhalten am angemessensten mit der Kategorie der „Motivation“ – im Gegensatz 7

2014 erschienen weitere ethische Überlegungen Husserls aus späten Forschungsmanuskripten unter dem Titel „Grenzprobleme der Phänomenologie“, Husserliana Band XLII, hrsg. von Vongehr/Sowa, 2014. Sie ergänzen die in diesem Aufsatz dargelegten Positionen insofern, als sie sich mit der Frage der moralischen Motivation des ethischen Strebens angesichts einer von Katastrophen bedrohten Welt befassen. Im Gegensatz zu Kant, dessen Postulate auf die Hoffnung auf Gerechtigkeit im nächsten Leben hindeuten, deuten Husserls ethische Postulate auf das Vertrauen auf eine göttliche, vernünftige Vorsehung in der Welt im Sinne Fichtes hin. Siehe dazu Heffernan, Universale Besinnung – Selbstbesinnung – Weltbesinnung: Husserl’s Method for the Treatment of Ethical, Existential, and Metaphysical Questions as Grenzprobleme der Phänomenologie, www.memphis.edu/philosophy/opo2019/pdfs/heffernan-george. pdf (zuletzt abgerufen am 27. 2. 2022). 8 Der Herausgeber der Vorlesungen 1920 – 24 hat auch zwei grundlegende Aufsätze zu diesen Vorlesungen veröffentlicht: Peucker, Review of Metaphysics 62 (2008), 307; ders., Journal Phänomenologie 36 (2011), 10.

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zur naturwissenschaftlich verstandenen „Kausalität“ – beschrieben und erklärt wird. Husserl bezeichnet es in den „Ideen II“ und den Ethikvorlesungen als „geistige Welt“, welche den Zusammenhang begründet, der mit Blick auf die Motivationen „verstanden“ werden muss. Das Verhalten eines Wesens in Hinblick auf seine Motivationen zu betrachten, heißt dieses Verhalten in Hinblick auf sein geistiges Leben, d. h. in Hinblick auf die Intentionalität der Meinung, des Wertens und des Wollens zu erklären. Es beinhaltet aber als „Geistiges“ noch mehr, da wir – wie Husserl im zweiten Abschnitt der „Ideen II“ erläutert hat – auch den Tieren gewisse psychische Zustände, eine Schicht des Bewusstseins zuschreiben, die er „Seele“ nennt, ohne dass wir ihnen Personalität, Freiheit und ethische Verantwortung zukommen lassen. Das ist auch richtig so, meint Husserl, da sich Motivationskategorien im eigentlichen Sinne nur für solche Wesen eignen, die auch „höherstufige“ geistige Fähigkeiten, ein Bewusstsein zweiter Stufe haben, d. h. nicht nur ein gegenständliches Bewusstsein, sondern auch ein Bewusstsein über ihre intentionalen Akte des Meinens, Wertens und Wollens, eben Selbstbewusstsein besitzen. Die Ethikvorlesungen zeigen, wie ethisches Handeln und ethische Verantwortung nicht nur das bloße Bewusstsein, die Kenntnis der eigenen Meinungen, Wertungen und „Wollungen“ voraussetzen, sondern auch, dass die Meinungen, die man aus der eigenen Intentionalität und den eigenen Stellungnahmen bildet, ihre eigene Bewertung und die Wünsche oder gar Beschlüsse, die man in Bezug auf sie fasst, zur Änderung dieser Meinungen, Wertungen und Handlungen führen können. Seiner Auffassung nach liegt das Hauptversäumnis der modernen Moralphilosophie darin, die Möglichkeiten, die in diesen spezifischen geistigen Motivationen liegen, übersehen zu haben. Nicht nur die sensualistischen Theoretiker, sondern auch ihre Gegner, einschließlich Kant, betrachten Gefühle und Neigungen als Naturkräfte, die die Menschen wie kausale Mächte bestimmen, über die wir keine oder nur sehr geringe Kontrolle haben. Husserl würdigt ausdrücklich und lobend Diltheys bedeutsamen Beitrag zur moralischen Psychologie, indem er vorschlägt, eine erklärende anstatt eine bloß zergliedernde Psychologie zu entwickeln, die sich an Kategorien des Lebens, des Verstehens orientiert, eine Psychologie der „geistigen Welt“: „Das eigentümliche Wesen alles Geistigen führt zurück auf das Wesen der Subjekte aller Geistigkeit als Subjekte von intentionalen Erlebnissen; diese Subjekte sind Iche, personale Subjekte, indem sie in der Form des Bewusstseins leben, indem sie mannigfaltiges Bewusstsein vollziehen, erfahrendes, vorstellendes, fühlendes, wertendes, strebendes, handelndes Bewusstsein. Bewusstseinstätig leben, d. i. in diesem Bewusstsein von irgendetwas Bewusstsein haben, von diesem Etwas bald affiziert sein und eventuell den Affektionen passiv nachgeben, bald aber sich aktiv dazu verhalten, dazu in eigentlichen Ichakten Stellung nehmen, theoretisch oder praktisch. In diesem intentionalen Leben ist das Ich kein leerer Schauplatz seiner Bewusstseinserlebnisse, auch kein leerer Ausstrahlungspunkt seiner Akte. Das Ich-Sein ist beständiges Ich-Werden. Subjekte sind, indem sie sich immerfort entwickeln.“9

Eine Person vollzieht nicht nur Intentionen, sondern Akte, die Husserl hier „eigentliche Ichakte“ nennt, in denen das Ich zu seinen eigenen Intentionen Stellung 9

Husserl (Fn. 1), 104.

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nimmt, sich als den Ursprung oder zumindest auf der Ebene der „niedersten“ Synthesen als den Schauplatz solcher passiver Prozesse ansieht, als denjenigen, der von ihnen weiß, dazu Gefühle wie Scham oder Stolz, Freude oder Missfallen hat, und in Hinblick auf diese Gefühle und im Vergleich mit anderen Prioritäten, anderen Wertungen und Zwecksetzungen, – wie er hier sagt – entweder nachgeben kann oder dazu aktiv Stellung nehmen und auf sie Einfluss nehmen oder hemmend reagieren kann, weil sie als weniger berechtigt oder dringlich betrachtet werden angesichts anderer Erfahrungen oder Prioritäten, die das Ich gemacht oder gesetzt hat. Man entwickelt sich, macht sich durch seine Stellungnahmen zu derjenigen Person, die man ist und wird, deshalb also die Rede vom „beständigen Ich-werden“. Es ist auch wichtig hier zu bemerken, dass Husserls Arbeit im Bereich der passiven Synthesen, die in der Dingwahrnehmung am Werke sind, und der genetischen Phänomenologie im Allgemeinen ihn zu der Einsicht führten, dass diese verschiedenen Stellungnahmen – in den Ethikvorlesungen häufig als Setzungen oder auch kurz „Sätze“ bezeichnet – in den theoretischen, wertenden oder praktischen Bereichen keine einmaligen Ereignisse sind, die abrufbar in den Fundus des Ich eingehen, sondern dass vorhergehende Akte des Meinens, Wertens und Wollens, auch der Zwecksetzung und der Handlung, die zentrale Tendenz haben, Wirkung zu entfalten und als Präzedenzfälle für künftige theoretische, wertende und praktische Setzungen zu fungieren. Haben wir einmal zu etwas eine Meinung gebildet, so bleibt das unsere Meinung, bis etwas Anderes, Widersprechendes oder Störendes dazwischenkommt oder wir uns bewusst darauf besinnen und uns die Frage stellen, ob sie wirklich ausreichend begründet ist und sich als unsere dauernde und feste Meinung eignet oder nicht. In den Ethikvorlesungen wird klar, dass Husserl diese Struktur nicht nur im Bereich der theoretischen Setzungen entdeckt, sondern im ganzen Bereich des geistigen Lebens überhaupt – einschließlich unserer Bewertungen und unserer praktischen Entscheidungen und Handlungen. Sowohl unsere aktiven als auch unsere passiven Erfahrungen und Stellungnahmen bilden sich zu „Habitualitäten“, die – einmal geschaffen – Tendenzen in uns hinterlassen, die jedem von uns einen eigenen persönlichen Stil, einen Charakter verleihen. Der Begriff der „Person“ beinhaltet daher nicht nur, dass man das Subjekt einer Handlung ist, sondern eine individuelle und einmalige persona hat, die sich aus den früheren Erfahrungen und Stellungnahmen ergibt: „(…) in eben diesem Prozess entwickelt sich zugleich das Ich selbst als Personalität, gewinnt seinen relativ bleibenden und doch immerfort sich wandelnden Habitus, seinen Charakter mit den verschiedensten Charaktereigenschaften, bleibenden Kenntnissen, Fertigkeiten usw.“10 Dieser Punkt wird später von großer Bedeutung sein, wenn wir auf die Frage der Pflichtenethik gegenüber der Tugendethik zurückkommen. Vorerst aber möchte ich hier etwas anderes betonen, nämlich, dass der Habitus nur deswegen ein „relativ bleibender“ ist, weil jemand als Person anzusehen ist, ihm mithin Charakter zuzuschreiben ist, sofern er Stellungnahmen vollzieht und nicht nur von Af10

Husserl (Fn. 1), 105.

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fektionen geleitet wird (ob sinnliche „Wahrnehmungsaffektionen“ oder „Wert- oder Lustaffektionen“, die uns nach Auffassung der naturalistischen Psychologie kausal determinieren). Jemanden als eine Person anzusehen heißt, dass er in einem gewissen Sinne als Quelle seines Charakters fungiert, da er derjenige ist, der aufgrund dieser Affektionen gewisse Stellungnahmen vollzieht, und dass er die Fähigkeit besitzt, sich auch der Resultate der zuerst völlig oder beinahe völlig passiven Stellungnahmen als ihm zugehörig bewusst zu werden, und in dieser reflexiven Haltung – in den höherstufigen Akten – ihnen gegenüber auch wissend, wertend und wollend Stellung nehmen kann, und dadurch auf sie ihre Wirksamkeit inhibierend oder verändernd einwirken kann. Es kann auch sein, dass man als Person diese Fähigkeit nicht ausübt, diese Möglichkeit nicht ergreift, aber die Nichtergreifung dieser Möglichkeit wird der Person zu Recht auch als eine Handlung zugeschrieben. Deshalb sind Personen auch die einzigen Wesen, die ethisch oder unethisch handeln können. „Damit von Moralität (…) die Rede ist, muss das betreffende geistige Wesen ein Vernunftwesen sein; das sagt, es muss die Fähigkeit der Reflexion und, darauf beruhend, der Erkenntnis haben. Der Mensch ist nicht nur edelmütig, freundlich, mitfühlend; dergleichen und überhaupt ähnliche Affekte jeder Art findet man beim Tier. Er kann auch reflektiv auf seine Neigungen und ihre Gegenstände blicken, dafür Begriffe bilden und darüber nachdenken. Hier aber erwachsen neue Affekte, also Affekte einer zweiten Stufe, Gefühle der Achtung und Missachtung, Billigung und Missbilligung, und erst mittels ihrer kommt dem Menschen jene Harmonie oder Disharmonie der Affekte zu Bewusstsein, erst so erwächst das moralische Urteil. Dies ist also nicht Sache des Verstandes als bloßes Erkenntnisvermögen. Vielmehr kommt im Gemüt, in Gestalt des Reflexionsaffektes der Billigung oder Missbilligung die anerkennende und verwerfende Beurteilung zustande (…).“11

Oder, um es etwas anders zu formulieren: Personen sind diejenigen Wesen, die „frei“ sind und deshalb ethisch oder moralisch zu beurteilen sind. Als ethisch (oder unethisch) Handelnde sehen wir sie nicht in der gleichen Weise an wie Tiere, deren Verhalten durch Impulse, Instinkte und Wahrnehmungsaffektionen bestimmt wird. Vielmehr sehen wir Personen als Subjekte ihrer Handlungen, die dafür verantwortlich sind, die letztlich auch für ihre Meinungen und Wertungen zumindest zum Teil verantwortlich sind, da sie die Fähigkeit besitzen, sich ihrer bewusst zu sein, über die Zuverlässigkeit ihrer Begründung zu reflektieren und sie dadurch auch zu verändern oder zumindest auf sie einzuwirken. Natürlich beinhaltet ethische Verantwortung nicht notwendigerweise ethisches Verhalten. Bevor wir uns auf diese Frage näher einlassen, müssen wir uns zuerst darüber im Klaren sein, was hier bei Husserl „Vernunft“ heißt, da er den Begriff in ganz anderer Weise bestimmt, als dieser Begriff sonst in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie üblicherweise verstanden und verwendet wird. Lob findet Husserl z. B. für Hobbes Projekt, die ethische Pflicht, Mitglied einer sozialen Gemeinschaft zu werden, die das Wohl aller schützt, in der rationalen Einsicht der einzelnen Menschen in die effektivste Art und Weise zu finden, ihr eigenes 11

Husserl (Fn. 1), 156.

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Interesse an Schutz und Sicherheit zu sichern. Sowohl Hobbes’ Ansatz, das ethische Verhalten aus Einsichten der praktischen Vernunft abzuleiten, als auch die Konstruktion der „Idee einer reinen Staatslehre“12 aus der Vernunft werden positiv bewertet. Der grundlegende Fehler allerdings lag in seiner Reduktion der Vernunft, der ratio, auf die rationcinatio eines reinen Kalküls, wie man am effektivsten die außer-rationalen, durch die Natur vorgegebenen Zwecke des Eigeninteresses der verschiedenen Individuen verwirklicht, die alle für sich dann ausrechnen, wie sie die eigenen Zwecke am ehesten erreichen. Vernunft wird für Hobbes mit dem Intellekt, dem Verstand gleichgesetzt und besteht in der Fähigkeit, richtig zu kalkulieren, wie man Eigeninteressen am besten maximiert. Husserls Konzeption der Vernunft hat damit nur wenig zu tun.13 Er bemerkt, dass die „geistige Welt“ nur deshalb besteht, weil sich das psychische Leben der Menschen aus „intentionalen Erlebnissen“ konstituiert. In den zwei großen systematischen Werken, die vor den Ethikvorlesungen veröffentlicht wurden, hat Husserl schon dargelegt, wie Intentionalität und Vernunft zusammenhängen. Die „Logischen Untersuchungen“ behandeln fast ausschließlich objektivierende theoretische Intentionen, Erkenntnisbehauptungen, die eventuell in wissenschaftliche Erkenntnis münden könnten. In der V. Untersuchung schließt er sich Brentanos Bemerkung an, dass alle Intentionen sich wesenhaft auf einen Gegenstand richten, der existieren oder nicht existieren mag und der vielleicht so ist, wie er durch die Bedeutung intendiert wird, aber vielleicht auch nicht so ist. In der VI. Untersuchung geht Husserl ausdrücklich der Frage nach der Beziehung des intentionalen Gegenstandes zum intendierten Gegenstand nach, d. h. der Frage nach der Wahrheit der Bedeutungsintention anhand einer Analyse derjenigen Erlebnisse, durch die die Intention „erfüllt“ wird, d. h. Erlebnisse, in denen der Gegenstand uns direkt, leibhaft und voll gegeben wird, so dass sie als die zureichende Bestätigung, Ausweis dafür dienen, dass der Gegenstand ist und auch genau so ist, wie er in der Intention gemeint war. Er nennt dieses Erlebnis eine Synthesis der Identifizierung, in der man erfährt, dass der intendierte Gegenstand sich vollkommen deckt mit dem Gegenstand, wie er intendiert wird. So verwandelt sich die alte Frage nach der Überstimmung von Sein und Denken in die Frage nach dem bloß intendierten Sein und dem Sein, wie es sich in erfüllenden Evidenzerlebnissen zeigt. Die Frage wird die nach der Gegebenheitsweise des Gegenstandes mit dem einen Extrem des vollkommen leeren, bloß signitiven Vorstellens des Gegenstands und mit der endgültigen Gegebenheit in adäquater Anschauung, in leibhaftiger Gegenwart als das andere denkbare Extrem. Diese „Evidenzerfahrungen“ für die Intention von „Dingen“, d. h. raum-zeitlich existierende Individuen, würden in sinnlichen Wahrnehmungen bestehen. Für höherstufige Gegenstände, z. B. Sachverhalte und kategoriale Gegenstände, hätten die relevanten „Erfüllungserlebnisse“ eine kompliziertere Struktur, da sie in einfacheren, sinnlichen Erlebnissen 12

Husserl (Fn. 1), 58. Für eine ausführlichere Darstellung von Husserls Vernunftbegriff siehe Nenon, Philosophy Today 2003, 65 – 72. 13

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„fundiert“ sind, auf sie aufbauen, ohne dass sie darauf reduzierbar wären. Solche komplexeren Erlebnisse nennt er dort „kategoriale Anschauungen“. In Teil Vier der „Ideen I“ unter dem Titel „Vernunft und Wirklichkeit“14 rekurriert Husserl dann auf den Begriff der Evidenz in den Kapiteln, in denen er demonstriert, wie für einen gesetzten Sachverhalt „wahr-sein“, „wirklich-sein“ und „vernünftig ausweisbar-sein“ in direkter Korrelation zueinander stehen15 und wie sie alle letztlich auf die Frage nach der möglichen Erfüllung der Intention, durch die der Gegenstand gegeben wird, zurückzuführen sind. In den „Ideen I“ betont Husserl auch die wesenhafte Ausrichtung des intentionalen Bewusstseins auf Erfüllung, z. B. im Fall der Meinungen auf die Urdoxa der Gewissheit, die aus dem Evidenzerlebnis folgen. Denn „Vernunftbewusstsein wird überhaupt als eine oberste Gattung von thetischen Modalitäten bezeichnet, in der eben das auf originäre Gegebenheit bezogene ,Sehen‘ (im extrem erweiterten Sinne) eine festbegrenzte Artung ausmacht“.16 Einige Sätze weiter fügt er hinzu: „Wahrheit ist offenbar das Korrelat des vollkommenen Vernunftcharakters der Urdoxa, der Glaubensgewissheit“.17 Die wesentliche Gerichtetheit des Bewusstseins auf endgültige Bestätigung bezeichnet Husserl auch mit dem Begriff der „Rechtheit“. Die Rechtheit besagt, dass das Setzen des Sachverhalts zu Recht erfolgte, dass der Gegenstand oder der Sachverhalt so gesetzt wurde, wie er gesetzt werden sollte – weshalb die Diskussion um das Phänomen, das in der Neuzeit unter dem Namen der „Objektivität“ der Erkenntnis geführt wurde, sich hier in den „Ideen I“ um den Begriff der Evidenz dreht (genauso wie in den „Logischen Untersuchungen“) und das Ideal der Vernunft in Zusammenhang mit der Suche nach Evidenz diskutiert wird, die subjektive Bewusstseinsgestalten wie Meinungen begründen kann. Der Begriff der Rechtheit drückt den teleologischen Charakter der Vernunft aus, sowohl die inhärente Tendenz der Meinungen auf Bestätigung (oder allgemeiner gesagt: aller setzenden oder thetischen Intentionen, die ungefähr den „objektivierenden“ Intentionen der „Logischen Untersuchungen“ entsprechen, auf Erfüllung) als auch den wesentlichen Anspruch solcher Intentionen, den Gegenstand so vorzustellen, wie er ist – einen Anspruch, der den Maßstab ihrer Bewertung als erfolgreich oder erfolglos enthält. Wichtig ist aber auch, dass in § 138 der „Ideen I“ Husserl die Unterscheidung zwischen sinnlicher und kategorialer Anschauung aus der VI. Logischen Untersuchung weiterdenkt und behauptet: „Jeder Region und Kategorie prätendierter Gegenstände entspricht phänomenologisch nicht nur eine Grundart von Sinnen, bzw. Sätzen, sondern auch eine Grundart von originär gebendem Bewusstsein solcher Sinne und ihr zugehörig ein Grundtypus originärer Evidenz, die wesensmäßig durch so geartete

14 Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch. Husserliana Band III, hrsg. von Biemel, 1953. 15 Husserl (Fn. 14), 281. 16 Husserl (Fn. 14), 285 f. 17 Husserl (Fn. 14), 290.

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originäre Gegebenheit motiviert ist“.18 Die Einführung des Begriffs der Region – jeder Region mit der ihr eigenen Einstellung, Gegenstandsart, Art der Evidenz und den ihr eigenen Grundkategorien – eröffnet die Möglichkeit, viel subtilere Unterscheidungen zu machen als nur die zwischen Gegenständen der Sinne (Dingen) und kategorialen Objektiven (Sachverhalten). Zwar hatte Husserl schon in den „Logischen Untersuchungen“ mehr Unterscheidungen als nur diejenige zwischen sinnlichen und kategorialen Gegenständen angedeutet, aber in den „Ideen I“ beschreibt er eindeutig und klar, dass es eine Vielzahl von Gegenstandsbereichen, „Regionen“ gibt und dass sie sich voneinander in ihren Arten sehr stark unterscheiden und sehr vielschichtig aufgebaut sind. Man denke etwa an den Unterschied zwischen der Region der Natur (d. h. der bloßen Dinge) und der Region des Geistes und innerhalb der Region des Geistes an den Unterschied zwischen Gebrauchs- und Kulturobjekten auf der einen Seite und Personen auf der anderen oder auch an den Unterschied zwischen den Gegenstandsarten, die alle mit Sachen zu tun haben, die im Raum und in der Zeit existieren, und den Regionen von idealen Objekten wie Zahlen und logischen Prinzipien. In § 139 erläutert Husserl die Erweiterung des Evidenzbegriffs und damit auch des Begriffs der Vernunft als Rechtheit über den theoretischen Bereich hinaus in die „axiologische“ oder „ästhetische“ und auch in die praktische Sphäre. In beiden Bereichen besitzt die Vernunft den „Charakter der Rechtheit“, wonach die jeweilige Intention auf die Erfüllung durch die jeweils spezifische Art der Evidenz gerichtet ist, die den Gegenstand idealiter als schön, angenehm oder lobenswert, eine Handlung als gut oder böse, ausweist: „Evidenz ist aber keineswegs ein bloßer Titel für derartige Vernunftvorkommnisse in der Glaubenssphäre (und gar nur in der des prädikativen Urteils), sondern für alle thetischen Sphären und insbesondere auch für die bedeutsamen zwischen ihnen verlaufenden Vernunftbeziehungen.“19 Jede dieser Sphären ist einzigartig und hat ihre eigenen Begründungsweisen, die vielleicht einige Gemeinsamkeiten, aber auch signifikante Unterschiede aufweisen, die alle ein Thema der phänomenologischen Untersuchung darstellen können. Sowohl sachlich wie terminologisch folgt Husserl hierin, wie er in einer aufschlussreichen Fußnote20 feststellt, Franz Brentanos „genialer Schrift“21, in der Brentano die Frage nach dem Ursprung und der Geltung ethischer Normen anhand einer Analyse der Wahrheit von Aussagen darüber und der Evidenz nachging, die die Rechtfertigung dieser Normen gewährleistet. Diese Rechtfertigung der Normen und der Urteile darüber nennt Brentano deren „Rechtheit“.22 Auch in der Unterscheidung der Vermögen in das theoretische, das axiologische und das praktische Vermögen folgt Husserl der Einteilung Brentanos, die Brentano selbst auf Descartes zu18

Husserl (Fn. 14), 288. Husserl (Fn. 14), 290. 20 Husserl (Fn. 14), 290. 21 Brentano, Vom Ursprung der sittlichen Erkenntnis, 1889. 22 Brentano (Fn. 21), 16 – 19. 19

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rückführt,23 die aber – wie wohl Husserl und Brentano selbst wissen – natürlich viel weiter in die Geschichte der Philosophie zurückgeht. In den „Ideen I“ sind Husserls Ausführungen zu diesem Thema recht knapp, und er gibt nur wenige Beispiele, wie die Ausweitung des Begriffs der Rechtheit auf die Gebiete des Wertens und Wollens aussehen soll. In den Ethikvorlesungen dagegen steht diese neubestimmte und erweiterte Konzeption der Vernunft im Zentrum seiner Überlegungen zur Ethik und Moral. Er behauptet sogar: „Alle ethische Fragen sind Rechtsfragen, sind Vernunftfragen“24 und fährt ein paar Seiten weiter fort: „(…) alle Vernunftprobleme ausschließlich Beziehung haben auf das Ich als Subjekt der Akte, auf seine Akte selbst in ihrer spezifischen Aktkausalität und des Näheren auf die eigentümlichen Vernunftmotivationen, die da einsichtige Begründungen heißen, Rechtsausweisungen und Rechtsabweisungen, dann zugleich aber korrelative Beziehung haben auf die in den Akten als Setzungen gemeinten Sätzen: bei den Urteilsakten auf die behaupteten Sätze, bei den wertenden Akten auf die gesetzten Werte, bei den Willensakten auf die Entscheide.“25

In Bezug auf Urteile werden die rational begründeten Urteile als „wahr“ oder „richtig“ bezeichnet, in Bezug auf Wertungen und Wollungen nennt Husserl sie manchmal „wahr“, aber häufiger einfach „richtig“ oder „recht“. Ihre Korrelate erweisen sich als „echt“ (im Gegensatz zu „unecht“), im Fall der Werte und im Fall der praktischen Zwecke, Entscheidungen und Handlungen einfach als „gut“. Man sieht hier, wie Husserl auch glaubt, einen guten phänomenologischen Sinn für die platonische Dreiheit des „Wahren, Guten, Schönen“ gefunden zu haben. Das Programm einer phänomenologischen Ethik nach Husserl könnte als das Projekt angesehen werden, analoge Strukturen der Vernunft in den axiologischen und praktischen Sphären zu denen der reinen Logik zu identifizieren. Er gibt sogar ein sehr spezifisches Beispiel davon in einer Textstelle, die deshalb in voller Länge zitiert werden soll: „In der Tat war wiederholt von einem Unterschied in der Sphäre der Gemütsakte, die wir wertende Gefühlsakte nannten, die Rede, der genau dem Unterschied zwischen urteilendem Meinen und einsichtigem Urteilen als die Wahrheit selbst erfassen parallel geht. Wir müssen nur betonen, dass es sich nicht um passive Gefühle, sondern vom Ich vollzogene Akte handelt. Wir können dann sagen, dass das so genannte Wertnehmen, von dem es hieß, dass es ein liebendes Erfassen des Wertes sei, in dem der Wert selbst umfangen und besessen sei, das ursprünglich erwerbende Aktbewusstein sei gegenüber dem bloßen Für-wert-Halten, dem Ichakt des Liebens, des Sich-an-etwas Freuens usw., das eben nur meint, als erfreulich, liebenswert hält, aber eben den Wert nicht ursprünglich in seiner Selbstheit zu Eigen hat. Und wieder ist es klar, dass es hier eine im Gemütsbewusstsein selbst sich abspielende und wesensmäßig als Möglichkeit vorgezeichnete Erfüllung, Bestätigung, Ausweisung gibt – oder im Gegenfall eine Abweisung, eine Enttäuschung, indem sich das Ich im Versuch ursprüng23

Brentano (Fn. 21), 17. Husserl (Fn. 14), 116. 25 Husserl (Fn. 14), 118.

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licher Zueignung davon überzeugt, dass die für Wert gehaltene Sache in Wahrheit recht unerfreulich ist, die für schön gehaltene in Wahrheit ein übler Kitsch usw.: ebenso in der Willenssphäre der neuartige, aber von vornherein wie in Glaubensakten so in wertenden Akten notwendig motivierten Akte praktischer Entscheidung.“26

„Vernunft“ in dem Bereich der Praxis besteht also nicht nur in der richtigen theoretischen Berechnung und ist nicht nur eine Frage des Verstandes. Sie liegt vielmehr in der Gerichtetheit auf angemessene Erfahrungen und Anschauungen, die als Bestätigung (oder Abweisung) für Wert- und Willenssetzung in Bezug auf das Schöne oder Gute gelten. Sie besteht in der Suche nach den richtigen Gefühlen und den richtigen Handlungsdispositionen. Für Husserl sind nicht alle Gefühle gleich und nicht jedes Gefühl ist sui generis pathologisch, wie Kant gemeint hat. In Husserls Augen ist die Frage nicht, wie reine praktische Vernunft dazu kommt, alle Neigungen und Gefühle außer Acht zu lassen oder zu überwinden, sondern welche Neigungen und Gefühle richtig und begründet sind und welche nicht. Husserl glaubt nicht, dass man gut handelt, wenn man die Gefühle ausschaltet, denn für ihn sind alle Handlungen mit Gefühlen verbunden: „Der bloße Verstand aber ist nicht praktisch. Nur Gefühle können das Handeln bestimmen,“27 und weiter, „Das praktische Verhalten der Menschen ist offenbar vom Fühlen bestimmt. Versuchten wir, alles Gefühl aus der menschlichen Brust auszulöschen, dann verlören alle ethischen Begriffe, Begriffe wie Zweck und Mittel, gut und schlecht, Tugend und Pflicht und all die zugehörigen besonderen Begriffe ihren Sinn. Der Mensch wäre dann kein strebendes, wollendes, handelndes Wesen mehr. Wir müssen also auf die Gefühle rekurrieren und sie genauer untersuchen, um den Sinn aller ethischen Begriffe aufzuklären, den Menschen als ethisches Wesen zu studieren, die Besonderheiten seines moralischen Verhaltens aufzuklären, die es erklärenden moralischen Gesetze zu begründen.“28

Auch Kant gesteht, dass das Gefühl eine zentrale Rolle im ethischen Leben spielt, wenn er lehrt, dass das Bewusstsein des moralischen Gesetzes als für den menschlichen Willen verpflichtend das Gefühl der Achtung hervorruft, das dann Triebfeder für die moralische Handlung wird. Husserl will ein viel breiteres Spektrum an zulässigen Gefühlen für die Motivation von ethischen und moralischen Handlungen zulassen. Er nennt z. B. Billigung und Missbilligung sowie auch die Liebe und „Seligkeit“, zwei Begriffe, die er offensichtlich von Fichte übernommen hat, aber auch Stolz, Selbstachtung oder Scham könnten als zulässige Motive für richtige Entscheidungen und Handlungen dienen. Obwohl Husserl sich von Kant in Hinblick auf die Rolle und den Umfang der für ethische und moralische Handlung zulässigen Gefühle unterscheidet, stimmt er mit ihm in einem wichtigen Punkt überein, nämlich darin, dass der Pflichtbegriff ein Grundbegriff der Moralität darstellt und dass die Pflichtmäßigkeit der Entscheidung und der Handlung auch bedeutet, dass sie jeder vernünftig Entscheidende und Han26

Husserl (Fn. 14), 120. Husserl (Fn. 14), 170. 28 Husserl (Fn. 14), 148. 27

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delnde in der gleichen Situation auch nachvollziehen und billigen könnte. Husserl ist kein Formalist, unter anderem, weil er glaubt, dass die spezifischen Umstände und Begrenzungen in der jeweiligen Situation von entscheidender Bedeutung sein können und dass nichts dagegen einzuwenden ist und es sogar ethisch vernünftig sein kann, Eigeninteresse und empirische Bedürfnisse anzustreben. Aber er glaubt auch, dass es gegen die Vernunft als etwas Allgemeines verstößt, den besonderen eigenen Interessen eine höhere Priorität einzuräumen als den legitimen Zwecken und Bedürfnissen von anderen. Natürlich ist nicht immer klar, welche Zwecke legitim sind und welche nicht, und wie weit die Pflichten anderen gegenüber reichen. Aber hierin sieht er wieder eine Parallele zu theoretischen Behauptungen. Man ist häufig verschiedener Meinung über relativ einfache Tatbestände, und die Menschen haben oft ihre eigenen Meinungen, aber für Husserl bedeutet das nicht, dass alle Meinungen gleich sind und alle gleich wohlbegründet sind, und dass entweder jede Meinung gilt oder dann gar keine. So gilt auch im Bereich der ethischen Pflicht „(…), dass jedes moralische Urteil nicht einem bloß subjektiven Fühlen Ausdruck gibt und auch nicht bloß der allgemeinen Tatsache, dass jeder normale Mensch in solcher Weise faktisch gefühlsmäßig und praktisch sich zu verhalten pflegt, sondern dass es seinem Sinne nach den Anspruch enthalte, dass das betreffende praktische Verhalten ein richtiges oder unrichtiges sei (…). Der moralischen Wahrheit liegt wie jeder mathematischen und jeder Wahrheit sonst, der Sinn ein, dass, wer immer so sich entscheidet, moralisch, mathematisch oder wie immer, sich richtig entscheidet, wie in der Falschheit der Sinn, dass wer so sich entscheidet, sich falsch entscheidet, unrichtig, verwerflich.“29

Ein paar Seiten später vermerkt er aber auch einige wichtige Unterschiede zwischen mathematischem und praktischem Urteilen. Eine mathematische Wahrheit drückt einen Tatbestand aus. Das Urteil wird nach Maßstäben der Begründung beurteilt und unterliegt deshalb auch Vernunftnormen, aber das Urteil selbst drückt keine Norm aus. Anders ist das praktische Urteil: „Du sollst dies oder jenes tun oder unterlassen …“ oder „Du musst das tun oder nicht tun“, das eine Norm für das Handeln aufstellt. Das mathematische Urteil mag auch ein gewisses Gefühl in demjenigen erwecken, der es vollzieht oder nachlernt, aber es gibt keine notwendige inhärente Beziehung zu einem Gefühl, einem Zweck oder einer Handlung, worin es sich aber essenziell von ästhetischen oder praktischen Urteilen unterscheidet. Richtig ist aber nach Husserl, dass das Wesen der praktischen Vernunft insofern zu der theoretischen Vernunft analog ist, dass jede vernünftige Person die Wahrheit und Verbindlichkeit einiger Grundprinzipien der Ethik anerkennen müsste, wie z. B. das Prinzip der Nächstenliebe, das aus der allgemeingültigen Natur der praktischen Vernunft selbst entspringt. So entsteht dennoch eine gewisse Affinität zu Kants kategorischem Imperativ trotz Husserls Vorbehalten in Bezug auf Kants Formalismus und der Unfähigkeit der Kantischen Moralphilosophie. Er stimmt Kant zu, dass die praktische Vernunft es gebietet, diese Prinzipien anzuerkennen, wenn er z. B. sagt, dass auch

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Husserl (Fn. 14), 149.

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der moralische Sünder von der Sünde als solcher weiß oder wissen soll und auch weiß, was er hätte tun sollen. Der Begriff einer absoluten ethischen Pflicht, nach dem ethisch und moralisch bestmöglichen Leben zu streben, beinhaltet im theoretischen Bereich die Bestrebung nach Wahrheit und begründeter Wahrheit, die letztlich in Wissenschaft mündet, im Bereich des Wertens die Bestrebung nach immer echteren und höheren Werten und im Bereich der Praxis einen Sinn für die Nächstenliebe, aber auch die Bestrebung nach dem ethisch bestmöglichen Leben, der Entwicklung der Person als Individuum und sogar die Bestrebung nach Verbesserung der höherstufigen Personalitäten, denen man als Mitglied angehört, etwa seiner Familie, seiner Gemeinde, seines Staates. Was genau die Nächstenliebe als Pflicht beinhaltet, zeigt ein Blick in Husserls drei 1919 gehaltene Vorlesungen zu Fichte30, in denen er dort zustimmend Fichtes Beschreibung der Liebe erwähnt, wonach die Liebe ein Gefühl ist, in dem man sich im Anderen findet – und dabei den falschen Gegensatz zwischen Vernunft und Gefühl überwindet, dem die Sensualisten und die Rationalisten anheimfielen und der auch Kant in fataler Weise zum Opfer gefallen ist. Nebenbei bemerkt: Dies bringt ihn auch in die Nachbarschaft von Hegel, und zwar nicht nur darin, dass die praktische Philosophie von beiden sich um den Begriff der Freiheit dreht, sondern auch zu Hegels Bestimmung der Freiheit als „bei sich sein im Anderen.“ Auch derjenige, der einmal entschieden hat, sich der Bestrebung nach dem bestmöglichen Leben als der absoluten Pflicht eines vernünftigen Wesens zu widmen, hört nicht auf, diese entgegengesetzten Gefühle und Neigungen zu haben. Das menschliche Leben bleibt gespalten. Da unsere Motivationen sich aus verschiedenen Quellen speisen – Trieben und Impulsen, alten Gewohnheiten, Passivitäten, die sich weiterhin auf uns auswirken – bleiben die ethische Selbstregulierung und Selbsterneuerung ein immerwährender Prozess, eine Entwicklung, wie wir gleich zu Anfang gehört haben. Husserl behauptet nicht, dass diese irrationalen Motivationen uns nicht tangieren oder tangieren sollten, sondern dass die Gefühle, die sie erwecken und die Tendenzen, zu denen sie führen, die anderen höheren, im eigentlichen Sinne „ichlichen“ und vernünftigen Motivationen nicht überwältigen dürfen.31 Er glaubt auch nicht, dass alle Passivitäten negative sind. Denn Habitualitäten, die aufgrund vernünftiger praktischer Überlegung und aufgrund von früheren wiederholten ethischen Handlungen zustande kommen, werden bleibenden positiven Charaktereigenschaften, Tugenden, den künftigen ethischen und moralischen Handlungen den Weg bahnen. Die sedimentierten Ergebnisse praktisch guter Einsichten und Handlungen führen genauso zu moralisch guten Neigungen in der praktischen Sphäre wie die sedimentierten Ergebnisse von richtigen Einsichten und Erkenntnissen in der theoreti-

30 Husserl, Drei Vorlesungen zu Fichte, Vorträge und Aufsätze 1911 – 1921, Husserliana Band XXV, hrsg. von Nenon/Sepp, 1987. 31 Husserl (Fn. 14), Beilage XII, 339 – 342.

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schen Sphäre zur Erkenntnis als einem bleibenden Besitz führen, der immer wieder neu getestet und bestätigt werden kann. Damit komme ich zum zweiten Hauptthema dieser Abhandlung, nämlich dass Husserls Ethik dabei den Gegensatz zwischen einer Pflichtenethik und einer Tugendethik entwickelt, den viele Kommentatoren in der Moralphilosophie, z. B. auch bei Kant, finden. Husserls Bestimmung der Vernunft und seine Analysen des Sedimentierungsprozesses innerhalb der genetischen Phänomenologie können erklären, wie Handlungen, die gerne getätigt und für den tugendhaften Menschen beinahe automatisch in Übereinstimmung mit den moralischen Pflichten ablaufen, ebenso ethische Anerkennung verdienen wie die Handlungen, die nur deshalb, und vielleicht ausgesprochen ungerne, unternommen werden, weil man sich bewusst ist, dass die moralische Pflicht es so gebietet. Dies erfolgt im Gegensatz zu Kant, zumindest nach der üblichen Lesart von ihm, die auf Stellen aus der „Grundlegung“ und der „Kritik der praktischen Vernunft“ beruht – eine Interpretation, die Husserl im Übrigen teilt. Für Kant stehen nach dieser Interpretation die Pflichtenethik und die Tugendethik in Konflikt. Husserl gibt zu, dass sogar die gutartigsten Handlungen, die ausschließlich aufgrund von Instinkten oder Impulsen getätigt werden, keinen ethischen Charakter haben, wenn sie nicht als Handlungen einer Person betrachtet werden – von jemandem, der sich seines Verhaltens bewusst ist und aktiv dazu Stellung nimmt. In dieser Hinsicht kann man auch feststellen, dass Husserls allgemeiner Entwurf den leitenden Intuitionen beider Ansätze genügen kann. Eine Pflichtethik nach dem Kantischen Modell hat den Vorteil, dass sie die Rolle der bewussten Handlung, der „eigentlichen Ichakte“, in der Moralität verortet und dass sie die Betonung der zentralen Bedeutung der Freiheit als Grundkategorie der Moralphilosophie und der Ethik erklärt. Sie stimmt mit unserer allgemeinen Intuition überein, dass das Gebiet der Moralität mit den freien Handlungen des Subjekts zu tun hat. Ins Extreme geführt aber resultiert sie leicht in der Auffassung, dass nur diejenigen Handlungen, die explizit aus Pflicht und gegen die eigenen Neigungen getätigt werden, wirklich frei und daher wirklich moralisch sind. Diese Position stößt aber gegen die entgegengesetzte und ebenfalls scheinbar einleuchtende Intuition, dass ein wirklich moralischer Mensch das Richtige so beständig und vielleicht sogar so gerne tut, dass es für ihn beinahe automatisch passiert. Das ist die leitende Intuition der Tugendethik. Ein Vorteil von Husserls Ethik ist, dass sie mit beiden leitenden Intuitionen konsistent ist, solange man sie nicht ins Extreme führt, und dass sie das nicht nur ad hoc behauptet, sondern dass sie in allgemeinen Theorien der Personalität, des geistigen Lebens überhaupt verankert ist. Wir haben gesehen, wie Freiheit die wesentliche Bedingung der Personalität darstellt und wie sie die Fähigkeit voraussetzt, höherstufige Erlebnisse zu haben, die nicht nur im Bewusstsein unserer Grunderlebnisse bestehen, sondern in der Fähigkeit, durch unsere Bewertungen und Beschlüsse auf sie einzuwirken und ihren Einfluss auf unsere Handlung zu verändern, zu hemmen oder zu bejahen. Personen sind daher diejenigen Wesen, die für ihre Handlungen verantwortlich sind, – eine Position,

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die mit der Grundintuition der Pflichtethik konsistent ist. Gleichzeitig aber erkennt Husserl, dass die Gedanken und Handlungen einer Person ihren eigenen Stil haben, dass sie Tendenzen etablieren, die den persönlichen Charakter formieren und offenbaren. Das Leben der Person ist keine bloße Abfolge von isolierten Episoden, sondern hat seine eigene Geschichte, die einen inneren Zusammenhang besitzt, da die Person aber frei ist, ist sie auch für diese Geschichte verantwortlich. Deshalb entsteht kein Konflikt zwischen der Pflichtethik und der Tugendethik innerhalb Husserls Gesamtkonzeption. Nach Husserl bin ich als Person dafür verantwortlich, mir meines Verhaltens und der sie leitenden Neigungen und Werte bewusst zu werden, auch darüber klar zu werden, dass ich sie auch bewerten kann und sie als vernünftig oder unvernünftig, in sich widersprüchlich oder konsistent, wohlbegründet oder unbegründet begreifen kann, und, wenn sie sich als mangelhaft oder verbesserungsbedürftig vom Standpunkt der Vernunft aus erweisen, an mir, meinen Tendenzen und meinen Handlungen zu arbeiten. So sieht es z. B. auch die Pflichtethik, aber gleichzeitig fügt Husserl als Ziel die Person an, die an sich so erfolgreich gearbeitet hat, dass sie viel weniger Konflikte verspürt zwischen dem, was sie tun soll, und dem, wozu sie neigt, als eine Person, die keinen guten Charakter kultiviert hat – genauso wie es die Tugendethik sieht. Interessant ist auch noch, dass Husserls praktische Bestimmung der Personalität in eine viel umfassendere Theorie des geistigen Lebens und der Subjektivität hineinpasst, die ursprünglich gar nichts mit der Ethik zu tun hatte, sondern im Bereich der theoretischen Erkenntnis gewonnen wurde. Immer wieder beschreibt Husserl in seinen erkenntnistheoretischen Analysen, wie Meinungen ursprünglich anhand von direkten Erfahrungen gebildet werden, die nach und nach zu allgemeineren und bleibenden Überzeugungen führen, zu Intentionen, die deutlich über das bisher direkt in der Erfahrung Gegebene hinausgehen. Diese allgemeineren und bleibenden Intentionen werden mit der Metapher der Sedimentierungen beschrieben. Sie weisen auf die ursprünglichen Erfahrungen, die Urstiftungen, als ihre Quelle zurück und weisen auf andere mögliche Erfahrungen als ihre intendierten Erfüllungen oder Bestätigungen dieser Intention. Einmal gestiftet aber haben sie in sich die Tendenz weiter fortzuwirken, ohne dass wir normalerweise das Bedürfnis empfinden, sie nochmals auf ihre Begründung hin unter die Lupe zu nehmen. Seine ersten Arbeiten in der Philosophie der Arithmetik hatten beschrieben, wie Intentionen symbolische Form annehmen können, z. B. im Schreiben schriftlicher Zahlen, die an die Stelle des intendierten Gegenstandes (die Anzahl) treten können und die Möglichkeit der „bloß signitiven“ oder „leeren“ Intention in sich bergen. In den „Logischen Untersuchungen“ hatte Husserl beschrieben, wie wir aufgrund von sinnlichen Wahrnehmungen Intentionen bilden, die über das direkt Erlebte hinausgehen, um Intentionen von Gegenständen zu bilden, die auf mögliche Erfüllungen oder Enttäuschungen im weiteren Verlauf der Erfahrung hinweisen. Später hatte er in Bezug auf die Dingwahrnehmung und die „passiven Synthesen“, die ihr zugrunde liegen, herausgearbeitet, wie diese „sedimentierten“ Intentionen den Untergrund oder Hintergrund für weitere Synthesen bilden und wie die Wahrnehmung von Din-

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gen nicht immer notwendigerweise urteilsmäßige oder linguistische Formen voraussetzt. Trotzdem sind auch auf diesen untersten Stufen der Passivität die Synthesen Aktivitäten, aber da sie auf der vor-prädikativen Ebene und vor Einschaltung von bewussten Ich-Tätigkeiten beruhen, wird Husserl sie nicht mehr „Akte“ nennen, sondern meist als „bloße“ Passivitäten bezeichnen. Er vermerkt auch, dass die Geschichte dieser Erfahrungen als Sedimentierungen den Gang unserer künftigen Wahrnehmung mitbeeinflusst. Die menschliche Erkenntnis ist nicht einfach eine Summe von Einzelerkenntnissen, sondern ein Zusammenhang davon. Sogar noch in § 32 der „Cartesianische Meditationen“, der als „Das Ich als Substrat von Habitualitäten“ überschrieben ist, wird der Begriff des personalen Charakters nicht anhand von Beispielen aus dem Bereich des Praktischen erläutert, sondern in Bezug auf Stellungnahmen von Sachverhalten und Gegenständlichkeiten in theoretischer Hinsicht: „Indem aus eigener aktiver Genesis das Ich sich als identisches Substrat bleibender Ich-Eigenheiten konstituiert, konstituiert es sich in weiterer Folge auch als stehendes und bleibendes personales Ich (…). Sind auch die Überzeugungen im allgemeinen nur relative bleibende (…), so bewährt das Ich in solchen Veränderungen einen bleibenden Stil mit durchgehender Identitätseinheit, einen personalen Charakter.“32 Er nennt diese Tendenz der Stellungnahmen innerhalb der Wahrnehmungssphäre ein „Gesetz der transzendentalen Genesis“33, wonach vom Ich getätigte Akte einen neuen objektiven Sinn, eine bleibende Einheit für das Ich stiften. Die Bemerkung von diesem Gesetz als seine „transzendentale Genesis“ weist auch darauf hin, dass diese Strukturen letztlich alle auf Strukturen der Zeitlichkeit zurückgeführt werden können. Wenn das „Jetzt“ des gegenwärtigen Erlebnisses in die Retention zurücksinkt, verschwindet das Erlebnis nicht, sondern wird als „gerade so-eben gegebene“ im Bewusstsein „retendiert“ und zusammen mit anderen Erlebnissen stiften sie „protentionale“ Tendenzen und Intentionen, die im Verlauf der Erfahrung durch eine künftige Gegenwart bestätigt und damit bekräftigt oder enttäuscht und entkräftigt werden. In seinen späteren Werken hat Husserl auch die Art und Weise analysiert, wie Meinungen von einer Person auf eine andere und sogar – durch mündliche oder schriftliche Kommunikation oder auch einfach durch die Nachahmung von kulturellen Bräuchen – von einer Generation auf die andere übertragen werden können, ohne dass die Person, die die Meinung oder die Praxis übernimmt, jemals die Erfahrungen durchgemacht hat, die die Person oder die Personen hatten, die als die Stifter dieser Meinung oder Praxis dienten. Dies ist nach Husserl nicht nur zufällig, sondern aus wesentlichen Gründen der Fall: „Einstellung (…) besagt einen habituell festen Stil des Willenslebens, in damit vorgezeichneten Willensrichtungen oder Interessen, in den Endzwecken, den Kulturleistungen, deren gesamter Stil, damit bestimmt ist. In diesem bleibenden Stil als Normalform verläuft das jeweilig bestimmte Leben. (…) In irgendeiner Einstellung lebt die Menschheit (bzw. eine 32 33

Husserl, Die Idee der Phänomenlogie, Husserliana Band II, hrsg. von Biemel, 1950, 101. Husserl (Fn. 32), 100.

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geschlossene Gemeinschaft wie Nation, Stamm usw.) in ihrer historischen Lage immer. Ihr Leben hat immer einen Normalstil und eine beständige Historizität oder Entwicklung in diesem.“34

Oder, wie er es ein paar Absätze weiter noch deutlicher formuliert: „Menschen leben selbstverständlich aus generativen Gründen immer in Gemeinschaften, in Familie, Stamm, Nation (…)“.35 Wir erinnern uns natürlich, dass es das Hauptanliegen des Wiener Vortrags und der „Krisis“-Schrift war, das Bedürfnis eines jeden Einzelnen und von Gemeinschaften insgesamt zu betonen, das ursprüngliche Projekt der Philosophie wieder aufzunehmen und den Anforderungen der Vernunft gerecht zu werden, die Verantwortung für ihre vermeintlichen Erkenntnisse und praktischen Normen und Entscheidungen zu übernehmen, indem man systematisch erforscht, ob sie wirklich die vernünftige Begründung in Hinblick auf das Wahre, Schöne und Gute besitzen, die sie zu meinen haben. In den meisten Veröffentlichungen von Husserl wird dieses Anliegen vor allem in Hinblick auf die theoretische Erkenntnis ausgedrückt. Die Ethikvorlesungen aber helfen uns, die praktische Bedeutung besser zu verstehen, die Husserl mit dem Projekt der kritischen Reflektion verband. Da alle Intentionen das Ideal der möglichen Erfüllung und Begründung in sich bergen, muss der für das Meinen, Werten und Handeln verantwortliche Mensch sich notwendigerweise der Aufgabe bewusst sein, sie nach zureichender Begründung durch die angemessenen Erfahrungen zu untersuchen. So unterstreicht auch Husserl in den Vorlesungen zur Ethik aus den Jahren 1920 und 1924 die Anforderung der Vernunft, die die verantwortlich handelnde Person auch für die Tendenzen und Habitualitäten übernimmt, die man entweder durch sich selbst oder auch von anderen erworben oder übernommen hat, und sie nach ihrer Verträglichkeit mit dem echt Wertvollen und echt Guten überprüft, die implizit das Ziel jeder Handlung ist. Das heißt nicht, wie wir gesehen haben, dass die ethische Person jeweils ganz von Neuem anfangen soll oder überhaupt könnte. Es bedeutet nur, dass der selbstverantwortlich Handelnde sich immer bewusst bleibt, dass sein Verhalten den Normen der praktischen Vernunft untersteht, und ständig bestrebt ist, ein ethischer Mensch zu werden. Wir können deshalb jetzt auch verstehen, warum Husserl ganz zu Anfang der Vorlesungen die Ethik in einer Weise beschreibt, die sowohl mit einer Pflichtethik wie auch mit der Tugendethik verträglich ist. Er begann mit der Beobachtung, dass die Ethik primär das „Handeln, die Zwecksetzung und Mittelbestimmung“36 betrifft, aber wenige Seiten danach wird hinzufügt: „,Ethisch‘ nennen wir nicht nur Wollungen und Handlungen und Ziele, sondern auch bleibende Gesinnungen in der Persönlichkeit als habituelle Willensrichtungen (…). Wir beur34

Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II, Husserliana Band IV, hrsg. von Biemel, 1952, 325. 35 Husserl (Fn. 34), 326. 36 Husserl, Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie, Husserliana Band XXX, hrsg. von Panzer, 1996, 4.

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teilen so die sämtlichen habituellen Gemütseigenschaften und zusammengefasst den ganzen ,Charakter‘ einer Person als ethisch oder ethisch verwerflich, den angeborenen wie den erworbenen Charakter, und so schließlich die Person selbst.“37

In diesem Aufsatz habe ich versucht zu zeigen, wie diese verschiedenen Charakterisierungen der Ethik für Husserl keine bloßen Äquivokationen darstellen und keinesfalls aus Konfusionen oder Nachlässigkeiten in der Begriffsbestimmung resultieren, sondern dass ein wesentlicher Zusammenhang besteht, der aus seiner Bestimmung der Personalität und der Vernunft und aus seiner phänomenologischen Analyse der übergreifenden Strukturen des geistigen Lebens überhaupt folgt.38 Die allgemeinen Umrisse einer phänomenologischen Ethik, wie Husserl sie ansatzweise in den 1920/1924er Vorlesungen zur Ethik entwickelt hat, zeigen uns leider nicht, wie eine spezifische normative Ethik nach Husserl aussehen würde, aber ich hoffe gezeigt zu haben, in welche allgemeine Richtung sie weisen und wie seine Theorie der Ethik mit seinem allgemeinen phänomenologischen Projekt zusammenhängt.

37

Husserl (Fn. 36), 8. Vgl. auch die folgende Stelle von 1930 aus den Forschungsmanuskripten zur Lebenswelt, Husserl, Husserliana, Band XXXIX, 47: „In der Tat ist es ein Grundgesetz, dass , was wir in der Einheit des Lebens in irgendwelchen positionalen Akten (in erfahrenden, urteilenden, wertenden, wollenden u. dgl.) ,erstmalig‘ in Geltung gesetzt haben – in urstiftenden Akten, wie wir auch sagen –, bis auf weiteres in Geltung verbleibt. Jeder Akt stiftet eine bleibende (habituelle), über den flüchtigen Akt hinausreichende Geltung, eine fortdauernde Meinung im allerweitesten Sinn (Überzeugung, Entscheidung, Willensentschluss u. dgl.). Darin liegt: Die von der jeweiligen Urstiftung an im weiteren Leben auftretenden Akte von übereinstimmendem Sinn und Geltungscharakter treten nicht als solche auf, die blob die gleiche Meinung haben, verbunden mit der Erinnerung an die früheren Akte und Schlieblich den urstiftenden, sondern alle solche Akte geben sich als wiederholte Aktualisierungen einer und derselben Meinung, die von der Urstiftung her noch gilt. Die neuen Akte derselben im Modus der Noch-Geltung wiederkehrenden Meinung vollziehen eine Nachstiftung und je nach der Vollkommenheit der Aktualisierung in einem verschiedenen Grade der Bekräftigung. Fehlt es an solchen Bekräftigungen, so bübt die nachwirkend Urstiftung ihre Kraft immer ein, also auch an Motivationskraft im weiter gefassten Bewussteseinszusammenhang.“ 38

„Logik im Recht“ Ulfrid Neumann

I. Rechtswissenschaft und Logik – eine „Hassliebe“? Jan C. Joerden, dem diese kleine Studie in kollegialer Hochschätzung und freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet ist, beschreibt in seinem fundamentalen, inzwischen in dritter Auflage erschienenen Werk „Logik im Recht“ das Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Logik als „Hassliebe“.1 Derartige Ambivalenzen können aus unerfüllten hohen Erwartungen resultieren, aber auch, komplementär, aus der Furcht vor anmaßenden Übergriffen in den eigenen Bereich. Meine Vermutung ist, dass im Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Logik beides zutrifft. Auf der einen Seite werden die Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Logik im Recht teilweise so hochgeschraubt, dass sie nicht erfüllt werden können und reaktiv zu der Behauptung der Nutzlosigkeit der Logik im Bereich des Rechtsdenkens führen. Auf der anderen Seite wehrt sich die Rechtswissenschaft gegen eine Vormundschaft der Logik, die ihr Probleme aufzwingen will, die sie nicht hat – beispielsweise in Gestalt der sogenannten Paradoxien. Um das Verhältnis zu entspannen, kann man versuchen, die Bereiche, in denen eine enge Kooperation möglich ist, von denen zu trennen, in denen die Rechtswissenschaft auf ihrer Autonomie bestehen sollte. Diese Autonomie bedeutet zugleich Eigenverantwortlichkeit. Das besagt: Die Rechtswissenschaft kann sich in diesem Bereich nicht mit Aussicht auf Erfolg darauf berufen, dass bestimmte rechtsdogmatische Positionen logisch ausgeschlossen (oder, komplementär, logisch zwingend) seien. Ich werde im Folgenden versuchen, einige Punkte zu markieren, an denen sich eine Grenzziehung zwischen diesen Gebieten orientieren könnte. Ich schließe dabei an frühere Arbeiten zum Thema „Logik im Recht“ an,2 werde aber die dort do1

Joerden, Logik im Recht, 3. Aufl. 2018, Vorwort (S. V). Vgl. insbes. Neumann, Juristische Logik, in: Hassemer/Neumann/Saliger (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl. 2016, 272 ff.; ferner Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, 16 ff. – Nicht thematisiert wird im Folgenden die Frage, ob es zur adäquaten Rekonstruktion juristischer (generell: normativer) Argumentation einer spezifischen deontischen Logik bedarf und wie diese gegebenenfalls auszugestalten wäre. Zu diesem „klassischen“ Problem vertiefend Sieckmann, Logik juristischer Argumentation, 2020. 2

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Ulfrid Neumann

minierende logikkritische Sichtweise um eine Perspektive ergänzen, die den möglichen Leistungen der Logik im Bereich des Rechts und der Rechtswissenschaft in höherem Maße Rechnung trägt. Vorgeschlagen wird, im Kontext des Verhältnisses der Rechtswissenschaft zur Logik zwischen vier Bereichen zu unterscheiden: (1) der Strukturanalyse des Rechts; (2) der Rekonstruktion von Urteilsbegründungen; (3) der Entscheidung rechtsdogmatischer Streitfragen; (4) dem Verhältnis von Gesetzen der Logik zu Standards der juristischen Argumentation.

II. Logik als Instrument der Strukturanalyse des Rechts Es steht außer Zweifel, dass rechtsdogmatische wie auch rechtstheoretische Probleme in vielen Fällen mit Hilfe logischer Modelle transparenter dargestellt werden können als in fach- oder umgangssprachlicher Formulierung. Dafür liefern die Arbeiten Joerdens von seiner Dissertation3 über seine Habilitationsschrift4 bis hin zur „Logik im Recht“ eindrucksvolle Belege. Verwiesen werden kann hier weiter auf die Analysen bei Lothar Philipps5, Ingeborg Puppe6, Ota Weinberger7 und anderen.8 Im Vorwort zur ersten Auflage der „Logik im Recht“ (2005) hebt Joerden zu Recht die Möglichkeit hervor, „mit Hilfe der Logik Probleme des Rechts zu strukturieren und dadurch in eine nachvollziehbare Ordnung zu bringen“. Was die Logik in dieser Hinsicht beitragen kann, wird etwa anhand der Analyse des Kausalitätsproblems, der Konstellationen des rechtfertigenden Notstands und der Abgrenzung von Begehen und Unterlassen demonstriert. Die Leistungsfähigkeit der Logik bei der Strukturierung und der Analyse von rechtsdogmatischen Problemen dürfte per saldo hinreichend erwiesen sein.

III. Rekonstruktion von Urteilsbegründungen im Modell des Syllogismus Größere Skepsis ist gegenüber der Tauglichkeit der Logik zur Rekonstruktion von Urteilsbegründungen angebracht. Denn der „juristische Syllogismus“, der diese Re3

Joerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, 1986 (dazu meine Rezension in: Neumann, Rechtstheorie 18 [1987], 130 ff.). 4 Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, 1988 (dazu meine Rezension Neumann, ZStW 106 [1994], 196 ff.). 5 Philipps, Endliche Rechtsbegriffe mit unendlichen Grenzen. Rechtslogische Aufsätze, 2012. 6 Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 4. Aufl. 2019, 231 ff. 7 Weinberger, Logische Analyse in der Jurisprudenz, 1979. 8 Aus neuerer Zeit etwa Grosse-Wilde, Die Relata eines juristischen Kausalbegriffs und der juristische Syllogismus, in: Bäcker/Ziemann (Hrsg.), Junge Rechtsphilosophie, ARSP-Beiheft 135 (2012), 45 ff.

„Logik im Recht“

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konstruktion leisten soll, vermittelt, wie Joerden zutreffend feststellt, „wie jeder Syllogismus (…) letztlich keine (gegenüber dem bereits in den Prämissen liegenden Wissen) neuen Erkenntnisse“.9 In diesem Sinne sei der juristische Syllogismus „letztlich trivial“.10 In der Tat liegt an diesem Punkt die entscheidende Schwäche des Modells. Denn Argumentation ist dynamisch, progredierend: sie führt von dem Bekannten zu dem Unbekannten oder doch von dem Plausibleren zu dem prima facie weniger Plausiblen. Die logische Deduktion aber dreht sich buchstäblich im Kreis, weil die Konklusion in den Prämissen immer schon vorausgesetzt werden muss.11 Dies ist der Grund dafür, dass auch von einigen Verfechtern des deduktiv-nomologischen Schemas ausdrücklich zugestanden wird, dass die Ableitung der Konklusion im juristischen Syllogismus keine Begründung der Konklusion leistet.12 Dem entsprechend wird der Begriff der deduktiven „Rechtfertigung“ der Entscheidung abgelehnt. So bezeichnet Carsten Bäcker den Begriff unter diesem Gesichtspunkt als „irreführend“. Die Rekonstruktion der juristischen Argumentation in dem deduktivnomologischen Schema solle lediglich verdeutlichen, dass „gegen die Ableitung der Konklusion aus den Prämissen aus logischer Sicht keine Einwände bestehen“.13 Die Feststellung, dass der juristische Syllogismus – wie jeder Syllogismus – trivial ist, besagt allerdings nicht, dass die Darstellung der Urteilsbegründung als Syllogismus „vollkommen wertlos“ wäre.14 Auch in diesem Punkt ist Joerden zuzustimmen. Denn zum einen wird dadurch verdeutlicht, dass sich das Urteil auf eine allgemeine Regel beziehen muss15 – der Obersatz des Syllogismus (die praemissa maior) hat notwendig den Charakter eines logischen Allsatzes. Zum andern verdeutlicht der „erweiterte“ juristische Syllogismus, in den neben einer Paraphrase des Gesetzestextes auch die zur Begründung erforderlichen dogmatischen Regeln einzustellen sind, welche Regeln zur Validierung des Urteils vorausgesetzt und deshalb kenntlich gemacht werden müssen – ein Gesichtspunkt, der von Befürwortern des logischen Modells der Urteilsrekonstruktion immer wieder – und zu Recht – hervorgehoben wird. Ein Modell, das in der Lage sein soll, den dynamischen, progredierenden Charakter der Urteilsbegründung zum Ausdruck zu bringen, muss sich allerdings von dem Schema des Syllogismus lösen. Es muss, ausgehend von den Informationen, die dem 9

Joerden (Fn. 1), 296. Joerden (Fn. 1), 296. 11 Näher dazu Neumann, Juristische Logik (Fn. 2), 284 f.; Neumann, Juristische Argumentationslehre (Fn. 2), 17 ff. 12 Bäcker, Rechtstheorie 40 (2009), 404 (421); Bung, Subsumtion und Interpretation, 2004, 147 f. Nach Alexy soll in dem deduktiven Modell nur der „Kern der Begründung“ dargestellt werden; die „eigentliche Begründung“ habe in der (nicht deduktiven) externen Rechtfertigung stattzufinden (Alexy, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, 71 [81]). 13 Bäcker (Fn. 12), 421. 14 Joerden (Fn. 1), 296. 15 Joerden (Fn. 1), 296 – 297. 10

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Ulfrid Neumann

Richter zur Verfügung stehen, den Weg rekonstruieren, der von diesen Informationen zur Rechtfertigung des Urteils führt. Informationsquellen des Richters sind das Gesetz auf der einen Seite, der im Verfahren festgestellte Sachverhalt auf der anderen Seite. An einem Beispiel: Der Richter weiß, dass der Angeklagte das Opfer im Schlaf getötet hat, und er kennt die Norm des § 211 StGB. Die Urteilsbegründung muss zeigen, dass sich auf der Grundlage dieser Informationen die Behauptung begründen lässt, dass der Angeklagte zu lebenslanger Freiheitsstrafe zu verurteilen ist. Zur Struktur der Argumentation lässt sich vorläufig sagen: Der Angeklagte wird verurteilt, weil er einen Mord begangen hat. Generell: Die Rechtsfolge tritt ein, weil ein bestimmter Sachverhalt vorliegt. Bezeichnen wir den Sachverhalt mit „SV“, die Rechtsfolge mit „RF“, dann gilt:

Dass der Sachverhalt zu der Rechtsfolge führt, muss aber wiederum begründet werden. Zur Begründung verweist der Richter auf das Gesetz. Mit Hilfe des Gesetzes wird also begründet, dass der Übergang vom Sachverhalt zur Rechtsfolge korrekt ist.

Das Gesetz erlaubt also, von dem Sachverhalt zur Rechtsfolge überzugehen. Man kann diese Funktion in einer eigenen „Schlussregel“ darstellen:

Natürlich soll nicht jeder Mörder verurteilt werden. Eine Ausnahme gilt hier etwa dann, wenn der Täter geisteskrank ist. Das Schema muss also einen Platz für Ausnahmen vorsehen:

„Logik im Recht“

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Dieses Modell entspricht sehr genau dem Schema, das der britisch-amerikanische Wissenschaftstheoretiker Stephen Toulmin für die Rekonstruktion von Argumentationen entwickelt hat. Dieses Schema hat gegenüber dem Modell des Syllogismus zwei entscheidende Vorteile: Erstens: Es greift auf die Informationen zurück, die dem Argumentierenden tatsächlich zur Verfügung stehen. Im Falle der Urteilsbegründung sind dies der Sachverhalt einerseits, der Gesetzestext andrerseits. Dagegen steht dem Richter die Prämisse des logischen Modells nicht zur Verfügung. Der Satz „Alle Mörder sollen mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden“ steht nicht im Gesetz. Und er ist auch inhaltlich nicht richtig. Denn selbstverständlich ist nicht jeder Mörder zu bestrafen – siehe oben. Der zweite Vorteil: Die argumentativen Übergänge sind substanziell; sie enthalten keine Tautologien. Das Modell entgeht damit der Kritik, der sich das logische Modell ausgesetzt sieht. Die konkrete Rechtsfolge ist in der Gesetzesbestimmung, auf die der Richter sich stützt, nach diesem Modell logisch nicht enthalten. Das Argumentationsmodell Toulmins hat in der philosophischen Argumentationsund Wissenschaftstheorie erhebliche Resonanz gefunden.16 Für die Analyse der juristischen Argumentation, insbesondere des sogenannten juristischen Syllogismus, ist das Modell Toulmins außerordentlich aufschlussreich.17 Es führt zu einer erheb16 van Eemeren et al., Handbook of Argumentation Theory, 2014, 203 ff.; Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 1981, Bd. 1, 44 ff.; Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 2. Aufl. 2009, 22 ff. 17 Auf Toulmins Modell beziehen sich – mit erheblichen Unterschieden und differierender Bewertung im Einzelnen – u. a. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 4. Aufl. 2001, 112 ff.; Atienza, Rechtstheorie 21 (1990), 393 (395); Bäcker, Begründen und Entscheiden, 2. Aufl. 2012, 306 ff.; Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, 248 – 255; Feteris, Revue Internationale de Sémiotique Juridique, 1994, 133 (137 f.); Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 1982, 184 f.; Patterson, Recht und Wahrheit, 1999, 195 ff.; Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, 1983, 1 f.; Ratschow, Rechtswissenschaft und formale Logik, 1998, 63 ff.; v. Schlieffen, JZ 2011, 109 (113); v. Schlieffen, FS Neumann, 2017, 377 (381 ff.); Stamatis, Argumenter en droit. Une théorie critique de l’argumentation juridique, Paris 1995, 165 ff.; Takahashi, FS Lachmayer, Bern 2014, 89 ff. – Zu dem „völlig misslungenen Angriff von Koch & Rüßmann auf Toulmin“ vgl. Simon, in: Lahusen/Simon (Hrsg.), Zufall, Abfall, Ausfall. Rezensionen und Betrachtungen zur rechtstheoretischen Ge-

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lichen Präzisierung und Weiterführung der bisher am juristischen Syllogismus geübten Kritik. Hatte sich diese Kritik bisher auf die Feststellung beschränkt, dass der Prozess der Rechtsfindung sich nicht in dem Vollzug eines logischen Schlusses erschöpfe, so verdeutlicht die Analyse Toulmins, dass auch die Entscheidungsbegründung nicht als analytischer, sondern als substanzieller Schluss zu verstehen ist.

IV. Logik als Instrument zur Lösung dogmatischer Streitfragen Inwieweit sich das Instrumentarium der Logik zur Beantwortung rechtsdogmatischer Streitfragen einsetzen lässt, ist umstritten. Joerden ist in diesem Punkt zurückhaltend; ihm geht es, soweit ich sehe, um die transparente Darstellung und die Präzisierung, nicht um die Lösung dogmatischer Probleme mit Hilfe der Logik. Allerdings kann die Logik, so verstehe ich Joerden, dazu beitragen, im jeweiligen Problembereich die möglichen Fallkonstellationen kombinatorisch zu strukturieren und auf diese Weise wertungskonsistente Lösungen zu ermöglichen. Die Wahl zwischen diesen Lösungen vermag die Logik selbst aber nicht zu treffen. Demgegenüber wird teilweise versucht, dogmatische Streitfragen unmittelbar durch Rückgriff auf die Logik zu entscheiden. Einen besonders elaborierten Versuch stellen die Analysen von Ingeborg Puppe zur Tragweite des sogenannten Umkehrschlusses in der strafrechtlichen Irrtumslehre dar. Es geht dabei um die Frage, ob sich ein logisch zwingender Zusammenhang zwischen (nicht entlastendem) Subsumtionsirrtum und (straflosem) Wahndelikt einerseits, von (entlastendem) Tatbestandsirrtum und (strafbarem) untauglichen Versuch andererseits nachweisen lässt.18 Ich konzentriere mich im Folgenden auf die dogmatisch nicht verwandte, aber unter dem Gesichtspunkt der Leistungsfähigkeit der Logik im Bereich der Strafrechtsdogmatik und -theorie vergleichbare Frage, ob man eine strafbegründende Funktion der Strafrechtsschuld annehmen muss, wenn man dieser eine strafbegrenzende Funktion zuerkennen will. Arthur Kaufmann bejaht diese Frage. Er sieht einen zwingenden Zusammenhang zwischen der strafbegrenzenden und der strafbegründenden Funktion der Schuld. Wörtlich heißt es: „(…) jedes Merkmal, an das die Strafe geknüpft wird, begrenzt diese zugleich – et vice versa (das folgt logisch zwingend aus dem Gesetz des reziproken Verhältnisses von Begriffsinhalt und Begriffsumfang)“.19 Aber geht es hier wirklich um ein Problem der Logik? Kaufmann stellt hier zwei Behauptungen auf: genwartsliteratur, 2008, 155 (180) (mit Bezug auf Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982) sowie Neumann, Juristische Argumentationstheorie, 2023, § 2 Rn. 40 ff. 18 Puppe (Fn. 6), 247 – 253 (teilw. ausführlicher 3. Aufl. 2014, 217 – 224). Grundlegend Puppe, Strafrechtsdogmatische Analysen, 2006, 309 – 354. Zu letzterem Text vgl. meine Rezension GA 2008, 463 – 466. 19 Kaufmann, in: ders., Strafrecht zwischen Gestern und Morgen, 1983, 69 (70).

„Logik im Recht“

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(1) „Jedes Merkmal, an das die Strafe geknüpft wird, begrenzt diese zugleich“; (2) „Jedes Merkmal, das die Strafe begrenzt, ist eines, das an die Strafe geknüpft ist“ (folgt aus dem „et vice versa“) Die entscheidende Frage ist hier, in welchem Sinne die „Anknüpfung“ des Merkmals (konkret: der Schuld) an die Strafe zu verstehen ist. Wird sie in dem Sinne interpretiert, dass die Schuld eine notwendige Bedingung der Strafe ist, dann sind beide Behauptungen logisch korrekt. Sie ließen sich dann, konkretisiert auf die Schuld, aussagenlogisch folgendermaßen darstellen: Str)

d

Str) ! ( Sch ! d

!

(1) (Sch

zu lesen:20 wenn gilt: „nur bei Schuld Strafe“, dann impliziert das: „ohne Schuld keine Strafe“ !

Str) ! (Sch

d

d

(2) ( Sch !

Str)

zu lesen: wenn gilt: „ohne Schuld keine Strafe“, dann impliziert das: „nur bei Schuld Strafe“. In dieser Lesart sind beide Behauptungen, wie gesagt, logisch korrekt. Allerdings dürfte die Interpretation der „Anknüpfung“ im Sinne einer notwendigen Bedingung, die wir bei dieser Lesart zugrunde legen, dem Kontext der Diskussion kaum gerecht werden. Denn es geht um die Frage, ob man die Schuld auch als strafbegründendes Element verstehen muss, wenn man ihre strafbegrenzende Funktion bejaht. Dieser Deutung als strafbegründendes Element dürfte die Interpretation als hinreichende Bedingung eher entsprechen. In diesem Sinne hatte Kaufmann in einer früheren Arbeit die Auffassung vertreten, dass Schuld Strafe notwendig mache.21 Dann ergibt sich:

Str) ! (Sch ! Str)

d

d

(4) (2‘) ( Sch !

Str)

d

d

(3) (1‘) (Sch ! Str) ! ( Sch !

Keine dieser beiden Darstellungen ist logisch korrekt. Vereinfacht: Aus der Annahme, dass Schuld eine hinreichende Bedingung der Strafbarkeit ist, lässt sich entgegen (1‘) nicht schließen, dass sie eine notwendige Bedingung ist. Ebenso wenig lässt sich entgegen (2‘) aus der Annahme, dass sie eine notwendige Bedingung ist, schließen, dass sie eine hinreichende Bedingung darstelle. Fraglich ist allerdings, ob die Interpretation der „Anknüpfung“ in dem Sinne, dass Schuld eine hinreichende Bedingung für Strafbarkeit sei, der referierten Argumentation Kaufmanns tatsächlich gerecht wird. Denn bei der Frage, ob der Schuld auch eine strafbegründende Funktion zukommt, geht es nicht darum, ob sie eine hinreichende Bedingung für Strafe ist (erst recht nicht darum, ob es sich um eine notwen20 21

Formulierung aus Gründen der besseren Lesbarkeit dem Alltagssprachlichen angepasst. Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, 202.

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dige Bedingung für Strafe handelt – siehe oben). Es geht vielmehr darum, ob Schuld eine Größe ist, die bei der Frage nach der Rechtfertigung und der Funktion der Strafe eine Rolle spielen soll. Kurz: Die Frage lautet, ob Schuld ein „Grund“ für Strafe ist. Dieser inhaltliche Zusammenhang lässt sich mit den Mitteln der Logik nicht erfassen. Berücksichtigt man diesen inhaltlichen Zusammenhang, dann erhält die Auffassung von Kaufmann hinsichtlich einer Korrespondenz von strafbegrenzender und strafbegründender Funktion der Schuld ein hohes Maß an Plausibilität. Denn warum sollte man die Strafe gerade durch das Maß der Schuld (und nicht etwa bloße Gesichtspunkte der Humanität) begrenzen, wenn die Strafe nicht auch als Reaktion auf „Schuld“ zu verstehen ist? Es geht an dieser Stelle darum, ob Schuld als eine intrinsische oder als eine extrinsische Begrenzung der Strafe zu verstehen ist. Interpretiert man Strafe (auch) als Reaktion auf Schuld (im Extremfall: als „Schuldvergeltung“), dann ergibt sich die Begrenzung der konkreten Sanktion auf das schuldentsprechende Maß intrinsisch, nämlich aus der Institution und der Teleologie der Strafe selbst. Andernfalls muss das Maß der Schuld als externer straflimitierender Faktor (extrinsisch) eingeführt werden. Dann aber stellt sich die Frage: Warum gerade das Maß der Schuld? Wäre das Maß der Schuld bei der Bemessung der Strafe nicht ein sachfremder Gesichtspunkt, wenn Schuld nicht auch ein Grund für Strafe wäre? Müsste man nicht hinsichtlich der „gerechten“ Strafe folgerichtig zu der Auffassung von Liszts kommen, diese gerechte Strafe sei nichts anderes als die präventiv erforderliche Strafe? Diese straftheoretische Problematik, die auch in die aktuelle Diskussion über Wert und Unwert des strafrechtlichen Schuldbegriffs führen würde,22 kann hier nicht aufgenommen werden. Aufgezeigt werden sollte lediglich die begrenzte Relevanz logischer Regeln bei der Entscheidung dogmatischer Streitfragen. Mit den Mitteln der Logik ist ein Zusammenhang zwischen strafbegrenzender und strafbegründender Funktion der Schuld, entgegen in der Debatte erhobenen Ansprüchen, weder zu beweisen noch zu widerlegen.

V. Logik und (juristische) Argumentation

d

d

Dass bestimmte Gesetze der klassischen Logik verpflichtende Standards einer rationalen Argumentation bilden, steht außer Streit. Es genügt, hier exemplarisch auf den Satz vom Widerspruch zu verweisen < (p ^ p)>. Eine Argumentation, die einen Widerspruch enthält, ist fehlerhaft, eine widersprüchliche Urteilsbegründung muss in der Revisionsinstanz aufgehoben werden.23 22 Dazu insbes. Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf. Ein Plädoyer für Änderungen in der strafrechtlichen Verbrechenslehre, 2013. 23 BGHSt 6, 70 (72); 19, 33 (34).

„Logik im Recht“

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Auf der anderen Seite gibt es Argumentationsfehler, die nicht aus der Missachtung von Gesetzen der klassischen Logik resultieren, sowie Axiome/Theoreme der klassischen Logik, die keine Standards rationaler Argumentation darstellen. 1. Zirkularität – logisch korrekt, argumentativ fehlerhaft Ein besonders anschauliches Beispiel für die erstere Konstellation bietet die zirkuläre Argumentation, die geradezu als logisch legitimiert betrachtet werden könnte. Denn selbstverständlich ist (p ! p) logisch korrekt; die Begründung der Behauptung „der Kläger hat das Eigentum an der streitbefangenen Sache erworben“ durch den Satz „der Kläger hat das Eigentum an der streitbefangenen Sache erworben“ wäre aber ein Verstoß gegen verbindliche Standards der (juristischen) Argumentation. An dieser Stelle zeigt sich mit besonderer Klarheit der Unterschied zwischen der „Statik“ der klassischen Logik und der „Dynamik“ der Argumentation.24 Argumentativ fehlerhaft ist die zirkuläre „Begründung“ gerade deshalb, weil sie die Argumentation nicht voranbringt, weil das Konsequens lediglich das wiederholt, was in dem Antezedens behauptet wird. Genau dieses statische Element aber kennzeichnet die Gesetze der klassischen Logik: Die Schlussfolgerung wiederholt lediglich eine Behauptung, die in den Prämissen bereits formuliert wurde (siehe oben). 2. Paradoxien der klassischen Logik Zu den logischen Gesetzen, die nicht als Standards rationaler Argumentation anerkannt werden sollten, gehören die sogenannten Paradoxien der Implikation. Joerden unterscheidet hier das verum sequitur ex quodlibet als erstes Paradoxon der Implikation von dem ex falso sequitur quodlibet als dem zweiten.25 Besondere Aufmerksamkeit in der wissenschaftstheoretischen Diskussion erfährt das ex falso quodlibet, das deshalb auch im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen soll. Zunächst aber kurz zu dem ersten Paradoxon. a) „Verum sequitur ex quodlibet“ Das „verum sequitur ex quodlibet“ formuliert ein Gesetz der klassischen Logik und ist als solches auch unmittelbar einsichtig.26 Denn eine Implikation weist (als „Wenn-dann-Relation“) nur dann den Wahrheitswert „falsch“ auf, wenn der Vordersatz „wahr“ und der Nachsatz „falsch“ ist. Die Implikation (y ! x) ist also – unabhängig von dem Wahrheitswert von – stets dann „wahr“,

24 Dass Logik „nicht kreativ“ ist, gilt nicht nur für den Entdeckungs-, sondern auch für den Begründungszusammenhang. Anders offenbar Gabriel, Präzision und Prägnanz, 2019, 110. 25 Joerden (Fn. 1), 22. 26 Im Folgenden vereinfachende Darstellung.

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wenn „wahr“ ist. Dass letzteres der Fall ist, wird durch das erste Element der Formel vorausgesetzt: Wenn , dann (auch): wenn , dann . Als Standard der Argumentation aber wäre das verum sequitur ex quodlibet in hohem Maße befremdlich – und gerade deshalb handelt es sich um ein „Paradoxon“. Ein Beispiel wäre: (1) „Wenn Paris die Hauptstadt Frankreichs ist, dann gilt: Wenn Warschau die Hauptstadt Polens ist, dann ist Paris die Hauptstadt Frankreichs“.27 In diesem Beispiel ist der Wahrheitswert „wahr“ zuzuerkennen. Selbstverständlich würde sich an der logischen Korrektheit der Folgerung nichts ändern, wenn den Wahrheitswert „falsch“ aufweisen würde: (2) „Wenn Paris die Hauptstadt Frankreichs ist, dann gilt: Wenn Luzern die Hauptstadt Österreichs ist, dann ist Paris die Hauptstadt Frankreichs“. Der Eindruck des Kontraintuitiven verschärft sich, wenn man für eine mit unvereinbare Aussage einsetzt. Dann würde sich beispielsweise ergeben: (3) „Wenn Paris die Hauptstadt Frankreichs ist, dann gilt: Wenn Reims die Hauptstadt Frankreichs ist, dann ist Paris die Hauptstadt Frankreichs“. Da jede beliebige Aussage sein kann, also auch die inhaltliche Negation von , könnte man für auch einsetzen: „Paris ist nicht die Hauptstadt Frankreichs“.28 Dann würde sich, als Verschärfung der Paradoxie, ergeben: (4) „Wenn Paris die Hauptstadt Frankreichs ist, dann gilt: Wenn Paris nicht die Hauptstadt Frankreichs ist, dann ist Paris die Hauptstadt Frankreichs“. Es sollte außer Zweifel stehen, dass diese „Schlussfolgerungen“ nicht den Standards vernünftigen Argumentierens entsprechen. Besonders eklatant dürfte das bei dem letzten Beispiel sein. Dass logisch gültige Implikationen einerseits, Standards vernünftiger Rede andererseits hier erheblich differieren, hat seinen Grund bekanntlich in der extensionalen Konzeption der klassischen Logik, der es um die Korrelationen von Wahrheitswerten, nicht aber um Sinnzusammenhänge geht. Es ist aber vorläufig29 kein Grund ersichtlich, die Standards vernünftiger Rede „gewaltsam“ den Axiomen/Theoremen der Logik anzupassen. Drastisch formuliert: wenn jemand jenseits der Diskussion über logische Gesetze behauptet: „Wenn Paris die Hauptstadt Frankreichs ist, dann gilt: Wenn Paris nicht die Hauptstadt Frankreichs ist, dann ist Paris die Hauptstadt Frankreichs“, so wird man ihm vermutlich bescheinigen, Unsinn zu reden.

d

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27 In diesem Kontext kommt es nicht darauf an, dass die Behauptung der Gültigkeit einer Schlussfolgerung nicht der Objektsprache, sondern der Metasprache zuzuordnen ist (dazu Dopp, Formale Logik, 1969, 31 m. Fn. 6). 28 An dem Ergebnis würde sich nichts ändern, wenn man für „Paris ist nicht die Hauptstadt Frankreichs“ < x> notieren würde. Auch ist logisch gültig. 29 Zu möglichen Argumenten für eine solche Anpassung vgl. unter IV.

„Logik im Recht“

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b) „Ex falso/ex contradictione sequitur quodlibet“ aa) Terminologie Die Formulierungen ex falso quodlibet und ex contradictione quodlibet werden teilweise nahezu gleichbedeutend gebraucht, unterscheiden sich aber sowohl hinsichtlich ihres Aussagegehalts als auch hinsichtlich der Sprachstufe, der sie zugehören. Hinsichtlich ihres Aussagegehalts: Denn jeder Widerspruch besagt nach den Regeln der klassischen Logik etwas Falsches; keinesfalls aber enthält jede falsche Aussage einen Widerspruch. Hinsichtlich der Sprachstufe, der sie zugehören: Das ex falso quodlibet bezieht sich auf den Wahrheitsgehalt einer Aussage, ist also im Verhältnis zur Sprache des Kalküls (in der das ex contradictione quodlibet formuliert ist) metasprachlich formuliert. Entsprechend diesem Unterschied der Sprachstufen unterscheidet sich auch die Herleitung: Das ex falso quodlibet ergibt sich bei einer Analyse der Wahrheitswerteverteilung der Implikation (p ! q). Diese ist dadurch definiert, dass die Implikation nur dann falsch ist, wenn der Vordersatz wahr und der Nachsatz falsch ist, also: p!q www wff fww fwf Das bedeutet: Ist der Vordersatz falsch, so ist die Implikation wahr, gleichgültig, ob q wahr oder falsch ist. Es ist allerdings fraglich, ob man hier von einer Folgerungsbeziehung (sequitur) sprechen kann. Denn die Wahrheitswerteverteilung der Implikation bedeutet nichts anderes, als dass diese nichts als falsch ausschließt, wenn der Vordersatz falsch ist. Vor allem aber: Es handelt sich bei dem ex falso quodlibet nicht um ein Theorem der (klassischen) Logik, sondern um eine Formulierung in der Metasprache (siehe oben). Für die Frage nach dem Verhältnis von logischen Gesetzen (Axiomen/Theoremen) zu Standards der Argumentation ist deshalb das ex contradictione quodlibet heranzuziehen. bb) Ableitung des Ex-contradictione-quodlibet-Theorems d

Das ex contradictione quodlibet ist im Rahmen der klassischen Logik ein beweisbares Theorem. Es lässt sich – vereinfacht – folgendermaßen herleiten: d

(1) p ^ p (Widerspruch: „p und nicht p“) Aus einer Konjunktion (1) ist jedes ihrer Glieder ableitbar, also: (2) p

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Es gilt: wenn p, dann auch (p v q): (3) p ! (p v q) (Beispiel: Wenn es regnet, dann regnet es oder es schneit). Aus der Konjunktion (1) ist auch deren zweites Glied ableitbar, also: p

d

(4)

Aus (3) und (4) folgt: (5) q d

Denn es gilt: cc) Konsequenzen des ex contradictione quodlibet Da q jeder beliebige Satz sein kann, folgt in der klassischen Logik in der Tat aus einem Widerspruch alles Beliebige. Selbstverständlich können dann auch Sätze abgeleitet werden, die einander logisch widersprechen. Aus einem einzigen Widerspruch ergeben sich unbegrenzt viele Widersprüche. Die Anerkennung dieses Theorems als Argumentationsregel hätte damit die Konsequenz, dass ein Widerspruch in einer Argumentation die Ableitbarkeit jedes beliebigen Satzes und damit gleichsam die „Explosion“ der gesamten Argumentation zur Folge hätte. Ich habe an anderer Stelle versucht, die möglichen Folgen einer strikten Anwendung des Ex-contradictione-quodlibet-Prinzips auf praktische Argumentationen anhand des Beispiels einer juristischen Prüfungsarbeit zu verdeutlichen, die einen Widerspruch enthält und trotz ansonsten vorzüglicher Ausführungen von dem Korrektor als „ungenügend“ bewertet wird – mit der Begründung, aus einem Widerspruch folge alles Beliebige, also enthalte die Arbeit unendlich viele weitere Widersprüche und sei demgemäß vollständig unbrauchbar.30 Gegen dieses Beispiel und gegen die These, die es illustrieren soll, wurde eingewandt, man brauche die widersprüchliche Behauptung ja nicht zu akzeptieren, dann stelle sich das Problem nicht.31 Doch so einfach dürfte sich das Problem nicht lösen lassen. Denn es geht bei der Frage nach dem Verhältnis von Argumentationsregeln zu logischen Theoremen nicht um die Frage, welche Prämissen man akzeptiert, sondern darum, was aus welchen Prämissen logisch folgt.32 Andernfalls wäre jede Diskussion zur Frage, ob und inwieweit das Ex-contradictione-quodlibet-Prinzip als Argumen-

30

Neumann, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, 56 ff. Mauer, JRE 25 (2017), 299 (306). 32 Näher dazu Neumann, JRE 25 (2017), 311 (314). 31

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tationsstandard anzuerkennen ist, überflüssig. Denn niemand wird Widersprüche in einer Argumentation als solche akzeptieren.33 Joerden anerkennt das ex contradictione quodlibet (bzw. das ex falso quodlibet) als Prinzip, das es erlaubt, Schlussfolgerungen zu ziehen, das also argumentative Übergänge ermöglicht.34 Aus einem Widerspruch lasse sich alles ableiten, sogar ein weiterer Widerspruch. Um „diese Besonderheit der Implikation auch für den umgangssprachlichen Gebrauch zumindest etwas plausibel zu machen“, verweist er auf ein von Menne stammendes Beispiel, dessen Wiedergabe bei Joerden ich hier wörtlich zitiere: „Ein Reisender möchte von Hamburg-Hauptbahnhof mit dem Alpen-Express nach Kopenhagen fahren und wartet in Hamburg-Harburg auf den Vorortzug zum Hauptbahnhof. Da braust plötzlich der Alpen-Express heran und hält außerplanmäßig in Harburg (vielleicht, weil er etwas zu früh ist). Der Reisende erfasst schnell, dass er sich so das Umsteigen ersparen kann, steigt ein, und da ruft der Aufsichtsbeamte: ,Halt, Sie dürfen nicht einsteigen, der Zug hält hier nicht!‘ Der Reisende aber ruft aus dem Fenster die Implikation, die der 4. Zeile [in der Wittgensteinschen Wahrheitswertetafel] entspricht: ,Wenn der Zug hier nicht hält, so bin ich auch nicht eingestiegen!‘“35

Das ist zweifellos ein intellektuell anregendes Szenario – aber ist es auch geeignet, das ex falso quodlibet (bzw. das ex contradictione quodlibet) für den Gebrauch jenseits der Logik plausibler zu machen? Ich habe hier Zweifel. Denn zum einen lebt der Anschein der Plausibilität von einer Doppeldeutigkeit des Begriffs des „Haltens“, der in einem rechtlich-institutionellen wie in einem faktisch-physikalischen Sinne verstanden werden kann. Die Antwort des Reisenden bekommt eine gewisse Plausibilität, wenn man den Begriff in einem faktischen Sinne versteht, denn: Wenn der Zug nicht hält, kann auch niemand ein- oder aussteigen. Der Bahnbeamte verwendet den Begriff aber offensichtlich in einem rechtlich-institutionellen Sinn: Es liegt kein fahrplanmäßiger Halt vor, bei dem das Ein- oder Aussteigen von Fahrgästen erlaubt wäre. Zum andern: Das logische ex falso quodlibet (bzw. ex contradictione quodlibet) setzt einen Sinnzusammenhang zwischen dem Antezedens und dem Konsequens, wie er in dem Beispiel Mennes besteht, gerade nicht voraus. An der logischen Fol33 Selbstverständlich ist ein Widerspruch in einer Argumentation nicht akzeptabel – unabhängig davon, ob aus ihm nach dem Ex-contradictione-quodlibet-Theorem Beliebiges folgt oder nicht. Es ist deshalb nicht überzeugend, wenn Mauer gegen die hier vertretene Position einwendet: „Einen Widerspruch hinzunehmen, weil er weiter keine problematischen Folgen für die Tragfähigkeit eines juristischen Arguments habe (denn ex falso quodlibet gelte in seinem Rahmen nicht) scheint jedenfalls nicht zu den Standards der impliziten Logik der Sprache zu gehören“ (Mauer, JRE 22 [2014], 485 [504]). 34 Es gelte „für die Implikation eine Regel, wonach auch aus einer falschen Aussage eine Folgerung gezogen werden darf (…) sogar eine beliebige Aussage (…)“; Joerden (Fn. 1), 20. 35 Joerden (Fn. 1), 20 (unter Verweis auf Menne, Einführung in die Logik, 2. Aufl. 1973, 37). Versuch einer Plausibilisierung des ex falso quodlibet auch bei Zoglauer, Einführung in die formale Logik für Philosophen, 6. Aufl. 2021, 42.

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gerichtigkeit der Antwort des Reisenden würde sich nichts ändern, wenn der Bahnbeamte geäußert hätte: „Ich feiere heute meinen 150. Geburtstag.“ Zwar würde auch dann eine Antwort wie „Wenn Sie heute den 150. Geburtstag feiern, dann sitze ich nicht in diesem Zug“ (oder: „dann bin ich nicht eingestiegen“) nicht völlig aus dem Bereich des rhetorisch Möglichen herausfallen. Aber gemeint wäre damit natürlich keine mögliche Folgerung, sondern: „So sicher, wie ich in diesem Zug sitze, so sicher feiern Sie heute nicht Ihren 150. Geburtstag.“ Das Beispiel Mennes scheint mir deshalb die Probleme, die sich aus dem argumentativen Einsatz des ex contradictione quodlibet ergeben, nicht zu entspannen. Als Argumentationsmuster verstanden, ist das Theorem in hohem Maße kontraintuitiv. Gleichwohl wird das ex contradictione quodlibet im rechtstheoretischen Schrifttum ganz überwiegend auch als Standard der Argumentation akzeptiert.36 Die Probleme, die sich hier stellen, ließen sich vermeiden, wenn man statt auf den klassischen auf den sogenannten „minimallogischen“ Kalkül zurückgreifen würde; denn das Ex-contradictione-quodlibet-Theorem gilt zwar im klassischen (und im intuitionistischen), nicht aber im minimallogischen Kalkül.37 Das gleiche Ergebnis ließe sich durch die Anwendung der sogenannten parakonsistenten Logik erreichen.38 Möglich wäre auch, zumindest in diesem Punkt auf die Beglaubigung von Standards rationaler Argumentation durch einen wie auch immer konzipierten logischen Kalkül zu verzichten.

VI. „Logischer Dogmatismus“? Das wirft die Frage auf, warum bisher so hartnäckig an der Geltung des ex contradictione quodlibet als Standard der (juristischen) Argumentation festgehalten wird. Carl Friedrich Gethmann sieht hier einen „logischen Dogmatismus“ am Werk. Darunter versteht er die Ansicht, „die Wahl der Logik durch die Wissenschaftstheorie bedürfe keiner Diskussion, werfe also keine Rechtfertigungsprobleme auf, weil eben nur die formal-semantisch konzipierte klassische Logik als Instrument wissenschaftstheoretischer Analyse in Betracht komme.“39 Gethmann bezieht sich hier explizit auf die Wissenschaftstheorie (konkret: den wissenschaftstheoretischen Ansatz von Stegmüller); seine Kritik lässt sich aber ohne weiteres auf das Gebiet der Argumentation und der Argumentationstheorie übertragen. Was, außer einer Position eines (noch dazu: auf einen logischen Kalkül verengten) „logischen Dogmatismus“, sollte uns dazu veranlassen, Argumentationen als folgerichtig anzuerkennen, 36 Joerden (Fn. 1), 20; Puppe (Fn. 6), 133 – 134, 245; vgl. auch schon Tammelo, Theorie der Gerechtigkeit, 1977, 101, 111. 37 Vgl. Gethmann, in: Gethmann (Hrsg.), Theorie des wissenschaftlichen Argumentierens, 1980, 15 (36). 38 Neumann (Fn. 30), 56. Zu weiteren Alternativen (strikte Implikation, schwache Implikation, strenge Implikation) vgl. etwa Dopp (Fn. 27), 268 – 269. 39 Gethmann (Fn. 37), 16.

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die wir in allen wissenschaftlichen und alltagspraktischen Argumentationen (jenseits der Erörterung logischer Kalküle) übereinstimmend als abseitig verwerfen würden? Was, außer einer Position des „logischen Dogmatismus“, sollte uns dazu zwingen können, einen „Schluss“ wie „Wenn Paris die Hauptstadt Frankreichs ist, dann gilt: Wenn Paris nicht die Hauptstadt Frankreichs ist, dann ist Paris die Hauptstadt Frankreichs“40 als korrekte Argumentation zu akzeptieren? Auf diese Fragen gibt es unterschiedliche Antworten. Die erste: Das ex contradictione quodlibet sei geeignet, die große Bedeutung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch zu unterstreichen. In diesem Sinne argumentiert etwa Georg Klaus in seiner einflussreichen Darstellung der modernen Logik. Weil sich bei Zulassung eines logischen Widerspruchs alles beweisen lasse, könne sich keine Wissenschaft mit logischen Widersprüchen abfinden.41 Indes: Widersprüche in wissenschaftlichen Texten sind per se nicht hinnehmbar – unabhängig davon, ob sie zu einer „Explosion“ der gesamten Argumentation führen oder nicht. Richtig ist, dass das ex contradictione quodlibet eine zusätzliche Warntafel vor logischen Widersprüchen markieren kann, wenn es als Argumentationsstandard anzuerkennen ist. Ein selbständiges Argument für die Anerkennung des ex contradictione quodlibet bildet der Hinweis auf dessen disziplinierende Funktion nicht. Gewichtiger erscheint das mögliche Argument, dass alternative Logiksysteme (also solche, die das Ex-contradictione-quodlibet-Theorem nicht enthalten) zugleich auf Theoreme verzichten, die als Standards der (auch: juristischen) Argumentation unverzichtbar erscheinen, dass sie also zu schwach sind, um das im Bereich der Argumentation erforderliche Instrumentarium bereitzustellen. Auch dieses Argument würde aber nicht durchschlagen. Denn die Verbindlichkeit argumentativer Standards ist nicht davon abhängig, dass diese sich als Axiome oder Theoreme in einem bestimmten logischen Kalkül finden. Drastisch: Wenn Gerichte eine Verletzung von „Denkgesetzen“ durch die Vorinstanz beanstanden, dann orientieren sie sich nicht an der Aussagen- oder Prädikatenlogik oder einem sonstigen logischen Kalkül. Vielmehr folgen sie den Regeln einer nicht-kalkülisierten Logik der Argumentation. Dass diese Regeln mit den Axiomen und Theoremen der klassischen Kalküle teilweise isomorph sind, bedeutet nicht, dass sie aus diesen Axiomen und Theoremen abgeleitet würden. Soweit diese Isomorphie reicht, folgen die Kalküle der natürlichen Logik der Argumentation, nicht umgekehrt. Es bleibt somit wohl in der Tat nur die Antwort des „logischen Dogmatismus“ – die Auffassung, dass die klassischen Logiksysteme eben die „richtigen“, per se verbindlichen seien, von denen man nicht aus Gründen der praktischen Konsequenzen abweichen dürfe. Dieses Argument führt allerdings unversehens aus dem Bereich der 40 Ausprägung des „Ersten Paradoxons der Implikation“ (verum sequitur ex quodlibet); dazu oben unter V.2.a). 41 Klaus, Moderne Logik, 1973, 123. Aus dem neueren Schrifttum zur juristischen Logik ähnlich, aber weitergehend Mauer (wie Fn. 31). Indes: Das ex falso quodlibet als Argumentationsstandard zu verwerfen, bedeutet nicht, Widersprüche „hinzunehmen“.

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Logik in den der Metaphysik. Es würde nicht nur eine ontologische Interpretation der Logik voraussetzen,42 sondern darüber hinaus auch, dass die Strukturen des logischen „Seins“ gerade von den Axiomen und Theoremen des klassischen Kalküls abgebildet würden. Beides ist erkenntnistheoretisch nicht haltbar. Fazit: Das ex contradictione quodlibet ist im Rahmen der Kalküle der klassischen Logik ein valides Theorem. In der Theorie und Praxis der (juristischen) Argumentation hat es in „postmetaphysischer“ Zeit keinen Platz.

42 Kritik bei Patzig, Sprache und Logik, 2. Aufl. 1981, 9. Zu Ansätzen einer ontologischen Begründung der Logik im rechtsphilosophischen Schrifttum Neumann, Logik (Fn. 2), 286 f.

Der unbedingte Wille, sich nichts vorzumachen: Friedrich Nietzsches Rechtstheorie Michael Pawlik

I. Eine Schule der Illusionslosigkeit „Ja die Philosophie des Rechts! Das ist Eine Wissenschaft, welche, wie alle moralischen Wissenschaften, noch nicht einmal in den Windeln liegt! Man verkennt z. B. immer noch, auch unter frei sich denkenden Juristen, die älteste Bedeutung der Strafe – man kennt sie gar nicht: und so lange die Rechtswissenschaft sich nicht auf einen neuen Boden stellt, nämlich auf Historie und Völker-Vergleichung, wird es bei dem unseligen Kampfe von grundfalschen Abstraktionen verbleiben, welche heute sich als ,Philosophie des Rechts‘ vorstellen und die sämtlich vom gegenwärtigen M[enschen] abgezogen sind.“1

Es sind harte Worte, die Nietzsche in dieser Notiz von Sommer 1883 an die Juristen richtet, und sie passen auch nicht ganz zu der Tatsache, dass es nicht zuletzt Juristen sind, denen er die Anregungen für sein Projekt einer „Genealogie der Moral“ (1887) verdankt.2 Allerdings ist bereits die Rechtstheorie, die Nietzsche erstmals in „Menschliches, Allzumenschliches“ (1878) entwickelt, reich an faszinierenden Einsichten. Ihre Bedeutung liegt nicht nur darin, dass Nietzsche dort zum ersten Mal die Theorie der Machtquanten formuliert, die später, verallgemeinert, in die Lehre vom Willen zur Macht eingeht.3 Sie beruht vor allem darauf, dass Nietzsche, geleitet von dem „unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen“4, in ihr gnadenlos sämtliche 1

Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882 – 1884, KSA Bd. 10, 1988, 334; ders., Nachgelassene Fragmente 1884 – 1885, KSA Bd. 11, 1988, 697. 2 Neben Jhering, der die Krise der zeitgenössischen Rechtsphilosophie übrigens in ganz ähnlichen Worten beschreibt wie Nietzsche (Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, 81; zu Jherings Einfluss auf Nietzsche Gschwend, Nietzsche und die Kriminalwissenschaften, 1999, 169 ff.; Kerger, Autorität und Recht im Denken Nietzsches, 1988, 11 ff.), sind unter diesem Gesichtspunkt vor allem Josef Kohler und Albert Hermann Post für Nietzsche wichtig geworden (Gschwend a. a. O., 175 ff. [zu Kohler], 178 ff. [ zu Post]; Sommer, Kommentar zu Nietzsches „Zur Genealogie der Moral“, 2019, 264, 266 ff. [zu Kohler], 254 ff., 260 ff., 265, 301 ff., 341 f. [zu Post]). Einen Gesamtüberblick über die Quellen von Nietzsches Rechtsverständnis gibt Orsucci, in: Seelmann (Hrsg.), Nietzsche und das Recht, 2001, 195 ff. 3 Dies hebt bereits Mess, Nietzsche der Gesetzgeber, 1930, 10 f. hervor. – Aus dem heutigen Schrifttum: Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 1987, 352; Straube, Zum gemeinsamen Ursprung von Recht, Gerechtigkeit und Strafe in der Philosophie Friedrich Nietzsches, 2012, 5, 12; Ries/Kiesow, in: Ottmann (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch, 2011, 96. 4 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA Bd. 6, 1988, 156.

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Überhöhungen und Vernebelungen bekämpft, mit denen sich die damalige (und heutige) Rechtsphilosophie über die Härten des gesellschaftlichen Zusammenlebens hinwegzuhelfen versucht. Nietzsche ist einer der ersten in Deutschland, der ungeschminkt ausspricht, was das Recht, wenn man nicht mehr gesonnen oder imstande ist, es als Geist zu begreifen, nur mehr sein kann: ein Machtphänomen.5 Diese Leistung ist das Ergebnis eines jahrelangen Reflexionsprozesses. In seiner Frühzeit beschränkt Nietzsche sich weitgehend darauf, Begründungstopoi aus dem Repertoire der Gesellschaftsvertragslehre aufzugreifen und in seine eigenen Denkzusammenhänge einzufügen. Mit der zunehmenden Klärung seiner philosophischen Grundkategorien, namentlich über die Ubiquität des Machtwillens, gewinnen hingegen auch Nietzsches rechtstheoretische Positionen an Prägnanz und Eigenständigkeit. Sie kulminieren in einer machttheoretischen Analyse von einer Kühle, wie sie in der Geschichte des rechtsphilosophischen Denkens nahezu einzigartig ist. Vergleichsweise unspektakulär ist es zwar, dass Nietzsche vom Recht verlangt, es müsse auf der Macht ruhen, sich durchzusetzen;6 diese Forderung würden Kant und Hegel teilen. Einen irreparablen Bruch mit den rechtsmetaphysischen Entwürfen seiner Vorgänger, die dem Recht eine gegenüber der Welt der Natur eigenständige Seinsund Geltungssphäre zuweisen, stellt es hingegen dar, dass Nietzsche die Frage des Erwerbs und der Verteilung von Rechten abschließend auf „Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein anderes Quantum“ zurückführen zu können glaubt.7 „Kalte Gesellschaften“ repräsentieren ein ungefähres Gleichgewicht der Mächte, während „heiße Gesellschaften“ solche sind, die in Bewegung geraten sind und um eine neue Balance kämpfen.8 Mit Nietzsches Satz: „wir empfinden alle Rechte als Eroberungen“9 hat die von ihm konstatierte „Vernatürlichung des Menschen im 19. Jahrhundert“10 auch die Theorie des Rechts ergriffen. Obgleich die rechtsphilosophischen Ausführungen Nietzsches nicht die Originalität und Detailliertheit der von Platon bis Hegel reichenden Tradition aufweisen,11 verdient die Rechtstheorie, die Nietzsche erstmals in „Menschliches, Allzumenschliches“ entwickelt, deshalb keineswegs jene Missachtung, welche ihr in der Rechtsphilosophie bis heute entgegengebracht wird.12 In der nachfolgenden Untersuchung 5

Petersen (Fn. 2), 59, 63; Ottmann (Fn. 3), 220 ff.; Gschwend (Fn. 2), 83, 137 f., 173; Freitag, ZIS 2019, 427. 6 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885 – 1887, KSA Bd. 12, 1988, 483. 7 Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 483. 8 Safranski, Nietzsche, 2000, 298, von dem ich auch die Bezeichnungen „kalte“ und „heiße Gesellschaften“ übernehme. 9 Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 483. 10 Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 482. 11 Ries/Kiesow (Fn. 3), 100. 12 Krass abwertend („krankhaft, unwahr, unmöglich“) bereits Düringer, Nietzsches Philosophie vom Standpunkte des modernen Rechts, 2. Aufl. 1906, 2. In der älteren Literatur ist es demgegenüber vor allem Mess (Fn. 3), VII, 2, 30, 64, der die Bedeutung von Nietzsches Rechtsphilosophie herausstellt. (Das Lob von Kaßler, Nietzsche und das Recht, 1941, 11 f. ist

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werde ich versuchen, diesen Satz näher zu begründen, ohne allerdings die abgründigen Konsequenzen zu verschweigen, die Nietzsche namentlich in seiner Verbrechenslehre aus seinem Ansatz zieht. Ich hoffe, dass Jan C. Joerden, der verehrte Jubilar, dem die folgenden Seiten zugeeignet sind, sie freundlich aufnehmen wird.

II. Recht und Staat als Klugheitsprodukte Ebenso wie im Modell des Gesellschaftsvertrags bildet auch beim frühen Nietzsche der Naturzustand den Ausgangspunkt und gleichsam die negative Grenzsituation des menschlichen Zusammenlebens. Im Naturzustand – einem Zustand „gegenseitige[r] Zerfleischung und Auslassung aller Affekte“ – trete die menschliche Natur rein hervor;13 Nietzsche charakterisiert ihn bisweilen mit Hobbes als einen Krieg aller gegen alle,14 mitunter auch durch das darwinistische Schlagwort eines Kampfes ums Dasein.15 Nietzsches wichtigster Referenzautor ist allerdings Thukydides,16 den er noch in der Götzen-Dämmerung neben Machiavelli als denjenigen Denker lobt, der ihm in seinem unbedingten Realitätssinn am nächsten stehe.17 Beim Naturzustand als dem „längsten aller Zeitalter“ hat es sich in Nietzsches Worten um ein „Zeitalter der Furcht“ gehandelt, in dem es die Sache jedes Einzelnen gewesen sei, sich gegen Gewalt zu schützen.18 Um dieses Zieles willen habe er selber Gewaltmensch sein müssen;19 eine gesellschaftliche Entwicklung über den engen Kreis der Familie hinaus sei deshalb unmöglich gewesen.20 Die Wiederkehr eines solchen Zustandes ist nach Nietzsche im Prinzip jederzeit möglich. Stürze ein menschliches Gemeinwesen ganz zusammen und mache der Anarchie Platz, so breche sofort wieder der Naturzustand hervor.21 Da der Mensch aber nun einmal gesellschaftlich existieren wolle, brauche er einen Friedensschluss und die „eiserne Klammer“22 des Staates, damit „wenigstens das allergröbste bellum omnium contra omnes aus seiner Welt vernationalsozialistisch infiziert.) Auch im neueren Schrifttum hat Nietzsche einige Verteidiger. Die Vernachlässigung seiner Überlegungen konstatieren mit Bedauern Petersen (Fn. 2), 9, 132 f.; Straube (Fn. 3), 9, 11; Freitag, ZIS 2010, 418; Goodrich/Valverde, in: dies. (Hrsg.), Nietzsche and Legal Theory, 2005, 4, 9. – Zur untergründigen Wirkungsgeschichte Nietzsches umfassend Gluth, Der apokryphe Nietzsche, 2021, passim. 13 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 – 1879, KSA Bd. 8, 1988, 257. 14 Nietzsche, Fünf Vorreden, KSA Bd. 1, 1988, 772. – Über die Parallelen zwischen Nietzsche und Hobbes unterrichten Ottmann (Fn. 3), 228 und Gschwend (Fn. 2), 139. 15 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869 – 1874, KSA Bd. 7, 1988, 143; ders. (Fn. 13), KSA Bd. 8, 590. 16 Exemplarisch Nietzsche (Fn. 13), KSA Bd. 8, 257. 17 Nietzsche (Fn. 4), KSA Bd. 6, 156. 18 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA Bd. 3, 1988, 413. 19 Nietzsche (Fn. 18), KSA Bd. 3, 413. 20 Nietzsche (Fn. 14), KSA Bd. 1, 772. 21 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, KSA Bd. 2, 1988, 563. 22 Nietzsche (Fn. 14), KSA Bd. 1, 769.

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schwinde“23. Der menschliche Trieb zur Gewaltsamkeit sei damit zwar nicht beseitigt, aber doch immerhin so weit domestiziert, dass er sich hauptsächlich in unblutigen Konkurrenzveranstaltungen und nur noch von Zeit zu Zeit – dann freilich umso heftiger – in den zwischenstaatlichen Kriegen entlade. „In den Zwischenpausen aber ist der Gesellschaft doch Zeit gelassen, unter der nach innen gewendeten zusammengedrängten Wirkung jenes bellum, allerorts zu keimen und zu grünen, um, sobald es einige wärmere Tage giebt, die leuchtenden Blüthen des Genius hervorsprießen zu lassen.“24 Mit Hobbes, vor allem aber mit dem von ihm verehrten Spinoza, dessen These von der Identität zwischen Tugend und Macht er zustimmend rezipiert,25 stimmt der Nominalist Nietzsche – und zwar nicht nur der frühe, sondern auch der reife Philosoph – nicht nur in der Kennzeichnung des Naturzustandes, sondern auch darin überein, dass er Existenz natürlicher, also nicht auf Vereinbarungen beruhender Rechte ablehnt. „Es gibt weder ein Naturrecht, noch ein Naturunrecht.“26 Im Naturzustand entscheide vielmehr allein die Macht.27 Der späte Nietzsche begründet diesen Satz in vitalistischer Manier. Leben sei nicht auf die Schonung anderer ausgerichtet, sondern es sei „essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend“; wie sollte es da der Behauptung, dass ein solches Verhalten an sich Unrecht sei, irgendeinen Anhaltspunkt bieten?28 Im Naturzustand tue daher jedermann gut daran, allein auf die Demonstration seiner eigenen Stärke zu setzen und sich nicht auf irgendwelche humanitären Rücksichten einzulassen. „Der Einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur Abschreckung andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen.“29 Nicht von Natur aus habe ich demnach Rechte, sondern nur, weil und soweit meine Nebenmenschen mir dieselben einräumen.30 „Meine Rechte: das ist jener Theil meiner Macht, den mir die Anderen nicht nur zugestanden haben, sondern in welchem sie mich erhalten wollen.“31 Was veranlasst die Anderen zu einer solchen Selbstbeschränkung? Es seien dies vor allem „Klugheit und Furcht und Vorsicht: sei es, dass sie etwas Ähnliches von uns zurückerwarten (Schutz ihrer Rechte), dass sie 23

Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, KSA Bd. 1, 877. Nietzsche (Fn. 14), KSA Bd. 1, 772. 25 Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 261. 26 Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 563. 27 Nietzsche (Fn. 13), KSA Bd. 8, 482. 28 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA Bd. 5, 1988, 312; ders., Nachgelassene Fragmente 1880 – 1882, KSA Bd. 9, 1988, 425; vgl. auch ders., Jenseits von Gut und Böse, KSA Bd. 5, 21 f. 29 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA Bd. 2, 96. 30 Gschwend (Fn. 2), 185 ff.; Ottmann (Fn. 3), 224; Gerhardt, Nietzsche-Studien 12 (1983), 115, 126 ff.; Yang, Die Problematik des Begriffs der Gerechtigkeit in der Philosophie von Friedrich Nietzsche, 2005, 50 ff.; Straube (Fn. 3), 38 ff., 59; Freitag, ZIS 2010, 421 f. 31 Nietzsche, Morgenröthe, KSA Bd. 3, 100 f. 24

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einen Kampf mit uns für gefährlich oder unzweckmässig halten, dass sie in jeder Verringerung unserer Kraft einen Nachtheil für sich erblicken, weil wir dann zum Bündniss mit ihnen im Gegensatz zu einer feindseligen dritten Macht ungeeignet werden“32. Vor allem dort, wo keine Seite ein deutlich erkennbares Machtübergewicht habe und ein Kampf daher zum erfolglosen gegenseitigen Schädigen zu werden drohe, liege der Gedanke nahe, eine friedliche Verständigung zu suchen, bei der jeder etwas aufgebe – nämlich seine unbeschränkte Handlungsfreiheit –, um so etwas zu gewinnen, was er höher schätze als dieses – nämlich ein gewisses Maß an Daseinssicherheit.33 Der „Charakter des Tausches“ sei deshalb „der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit“;34 deren Grundsatz sei nicht etwa: „Jedem das Seine“, sondern: „Wie du mir, so ich dir“.35 Recht und Staat sind demnach Produkte strategischer Rationalität;36 sie gehen in erster Linie „auf den Gesichtspunct einer einsichtigen Selbsterhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Ueberlegung: ,wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?‘“37 Genau jene Motivationsstruktur, die Nietzsche in seiner Kritik an Darwin als klein und erbärmlich schilt,38 zieht er also selbst heran, um die Ursprünge rechtlicher Ordnungen zu erhellen. Diese verlieren damit jede sittliche Dignität. Augustinus bezeichnet Reiche ohne Gerechtigkeit als große Räuberbanden, um sie dadurch als illegitim zu brandmarken.39 Nur für solche Reiche trifft aus seiner Sicht die Antwort eines gefangenen Seeräubers an Alexander den Großen zu, zwischen ihm und dem Imperator bestehe nur ein quantitativer, nicht aber ein qualitativer Unterschied.40 Nietzsche, der auch im Bereich der Moralphilosophie einen qualitativen Unterschied zwischen „moralischen“ und „unmoralischen“ Handlungen leugnet, weil ihnen letztlich dieselben Triebkräfte zugrunde lägen (der Eigennutz bzw., dem späteren Nietzsche zufolge, der Wille zur Macht),41 erweitert diese Sichtweise auf jegliche politischen Gemeinschaften. Der Räuber und der Mächtige, welche einer Gemeinde versprechen, sie gegen den Räuber zu schützen, sind in seinen Worten „im Grunde ganz ähnliche Wesen“, nur dass sie ihren Vorteil auf unterschiedlichen Wegen suchten: der eine durch Brandschatzungen, der andere durch regelmäßige Abgaben.42 32

Nietzsche (Fn. 31), KSA Bd. 3, 101. Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 556. 34 Nietzsche (Fn. 29), KSA Bd. 2, 89. 35 Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 221. 36 Gschwend (Fn. 2), 183; Ottmann (Fn. 3), 225; Petersen (Fn. 2), 67 f.; Straube (Fn. 3), 76. 37 Nietzsche (Fn. 29), KSA Bd. 2, 89 f. 38 Vgl. Nietzsche (Fn. 18), KSA Bd. 3, 585; ders. (Fn. 28), KSA Bd. 5, 315 f.; ders. (Fn. 4), KSA Bd. 6, 120. 39 Augustinus, Vom Gottesstaat, Bd. 1, 1978, 173. 40 Augustinus (Fn. 39), 174. 41 Vgl. nur Nietzsche (Fn. 29), KSA Bd. 2, 23 f., 104, 126 f. 42 Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 555. 33

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Der Beweggrund des klugen Eigeninteresses legt freilich eine Verständigung allein mit jenen Individuen nahe, welche ihrem Kontrahenten „werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen“ erscheinen,43 vor allem, weil sie über ein dem seinigen vergleichbares Machtpotential gebieten.44 Ein annäherndes Gleichgewicht der Machtquanten ist nach Nietzsche die Voraussetzung allen Rechts.45 „Fehlt ein solches Gleichgewicht, stoßen zwei zu verschiedene Macht-Quanten auf einander, so greift das Stärkere über nach dem Schwächeren zu dessen fortgesetzter Schwächung, bis endlich Unterwerfung, Anpassung, Einordnung, Einverleibung eintritt: also mit dem Ende, daß aus Zwei Eins geworden ist.“46 Eben dieses fehlende Machtgleichgewicht kennzeichnet nach Nietzsche im Unterschied zu Hobbes die Situation des Naturzustandes.47 Während Hobbes den status naturalis als einen Zustand existenzieller Gleichheit auffasst – die Unterschiede zwischen den Menschen seien nicht so beträchtlich, dass einer dadurch die gesicherte Herrschaft über die anderen erlangen könne48 –, wird der Naturzustand von Nietzsche als eine Situation „unbekümmerte[r], rücksichtslose[r] Ungleichheit“ charakterisiert.49 Dies macht die Herausbildung und Stabilisierung eines Gleichgewichts noch schwieriger und unwahrscheinlicher als bei Hobbes.50 Die Schwachen – und das seien die allermeisten –, müssen nach Nietzsche zwischen zwei Möglichkeiten wählen. Entweder sie schließen sich selber zu einer hinreichend gewichtigen Macht zusammen, oder aber sie unterwerfen sich einem Mächtigen, dem sie für seine Schutzgewährung Dienste zu leisten versprechen51 und dem gegenüber sie sich mit einer geminderten Rechtsstellung bis hin zum Sklavendasein begnügen.52 Trotz der damit verbundenen Einbußen wird dem letztgenannten Verfahren nach Nietzsche „gern der Vorzug gegeben“.53 Vordergründig erscheint dies zwar unvernünftig; näher betrachtet aber ist es Nietzsche zufolge insofern rational, als die Schwachen dadurch gleich zwei gefährliche Wesen in Schach hielten: den externen Aggressor durch den internen Beschützer54 und den letzteren durch den Gesichtspunkt seines eigenen Vorteils. Es sei nämlich auch für ihn auf längere Sicht günstiger, die Unterworfenen gnädig oder doch zumindest leidlich zu behandeln, damit sie 43

Nietzsche (Fn. 29), KSA Bd. 2, 90. Nietzsche, in: Kommentar zu den Bänden 1 – 13, KSA Bd. 14, 1988, 186. 45 Gleichgewichtsmodelle werden zu Nietzsches Zeit in vielen Bereichen verwandt und könnten Nietzsche in seiner Begriffswahl beeinflusst haben (Gerhardt [Fn. 30], 117 ff.). 46 Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 221. 47 Ottmann (Fn. 3), 228. 48 Dazu Kersting, Thomas Hobbes, 1992, 110 ff. 49 Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 563. 50 Ottmann (Fn. 3), 229. 51 Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 555. 52 Nietzsche (Fn. 29), KSA Bd. 2, 90. 53 Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 555. 54 Nietzsche (Fn. 28), KSA Bd. 9, 465. 44

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nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Beherrscher ernähren können.55 Die Möglichkeit zur Selbstzerstörung verleihe auch den Schwachen noch eine gewisse Gleichstellung mit dem Starken, mit der Folge, dass auch deren Selbstunterwerfung einen rechtsförmigen Akt darstelle;56 „jeder hat etwas zu leisten, und um dies regelmäßig zu erlangen, verzichtet der Mächtigere auf weitere Eingriffe und fügt sich selber einer Ordnung: es gehört dies zur Selbstregulirung“57. Nietzsche ist fern davon, diesen Zustand schönzureden; in ihm könne es immer noch hart und grausam genug zugehen; aber verglichen mit der früher immer möglichen völligen Vernichtung atmeten die Menschen in ihm bereits auf.58 Sei der Herr seiner Stellung sicher, so könne er es sich darüber hinaus auch leisten, den Unterworfenen zusätzliche Rechte einzuräumen, gleichsam als Brosamen, die er vom Tisch seines Überflusses fallen lässt.59 Sei er sogar sehr mächtig, so könne er „sehr weit gehen im Gewährenlassen und Anerkennen des versuchenden Individuums“:60 jenes fortschrittsverheißend-gefährlichen Einzelnen, der andere Menschen versucht, indem er Neues versucht. Das Erste und Entscheidende im Prozess der Schaffung und Aufrechterhaltung rechtlicher Zustände aber sei „der Wille und die Kraft zur Übermacht“;61 Recht und Gerechtigkeit sind Derivate dieses Willens.

III. Große und kleine Verbrecher Zu einem definitiven Ende kommt der Konflikt der einander gegenüberstehenden Machtquanten allerdings nie.62 „Der Naturzustand hört nicht auf“63, er wird nur zeitweilig suspendiert.64 Schon der junge Nietzsche bemerkt: „Der normale Zustand ist der Krieg: wir schließen Frieden nur auf bestimmte Zeiten.“65 Auch vom vitalistischen Standpunkt des späten Nietzsche aus können Rechtszustände in bewusst provokativer Umkehrung der rechtsphilosophischen Standardposition immer nur Ausnahme-Zustände sein,66 „als theilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist, und sich dessen Gesammtzwecke als Einzelmittel unter55

Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 555; in diesem Sinne auch schon ders. (Fn. 29), KSA Bd. 2, 90 f. 56 Nietzsche (Fn. 29), KSA Bd. 2, 90. 57 Nietzsche (Fn. 28), KSA Bd. 9, 522. 58 Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 555. 59 Nietzsche (Fn. 31), KSA Bd. 3, 101. 60 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 11, 245. 61 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 11, 244. 62 Gerhardt (Fn. 30), 124; Yang (Fn. 30), 56. 63 Nietzsche (Fn. 44), KSA Bd. 14, 1988, 186. 64 Ottmann (Fn. 3) 229; Straube (Fn. 3), 74. 65 Nietzsche (Fn. 15), KSA Bd. 7, 442. 66 Dazu Sommer (Fn. 2), 310 f., 316.

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ordnend: nämlich als Mittel, grössere Macht-Einheiten zu schaffen“67. Im gleichen Sinne wie von einem Recht des Individuums, sich zu verteidigen, dürfe man insofern von seinem Recht anzugreifen reden; „denn Beides – und das Zweite noch mehr als das Erste – sind Necessitäten für jedes Lebendige“68. Die Befriedungswirkung einer Rechtsordnung als deren Endzweck zu nehmen, diese Ordnung also „nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt“ zu verstehen, wäre nach Nietzsche daher „ein lebensfeindliches Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts“69. Eine Gesellschaft, die endgültig den Krieg und die Eroberung abweise, sei im Niedergang; „sie ist reif für Demokratie und Krämerregiment“70. Nur der letzte Mensch liebt die Sicherheit, der höhere Mensch will steigen oder fallen, aber jedenfalls kämpfen. Um Moral – genauer gesagt: um das, was die große Masse so nennt – schert der höhere Mensch sich dabei wenig. Dazu hat er auch keinen Anlass, denn nach Nietzsche operiert er jenseits von Recht und Unrecht. „Ich wüßte nicht, woher es abzuleiten wäre, daß das Stärkere, Höhere seine Macht gegen das Geringere ausüben dürfte: noch weniger, warum es das nicht dürfte.“71 Nicht um den Respekt vor normativen Schranken gehe es dabei, sondern um „Fragen der Kraft: wie weit sich durchsetzen gegen die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft und deren Vorurtheile? – wie weit seine furchtbaren Eigenschaften entfesseln, an denen die Meisten zu Grund gehen?“72 Auch vor Verbrechen schrecke der starke Einzelne keineswegs zurück.73 Im Gegenteil: Dass man viele schlimme Handlungen tue und aushalte, emporgehalten durch die Größe der Denkweise, welche sich nicht fürchte vor der Verurteilung durch die Vielen, zeuge von ursprünglicher Festigkeit und Größe.74 „Der Reichste an Lebensfülle, der dionysische Gott und Mensch, kann sich nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und Fragwürdigen gönnen, sondern selbst die furchtbare That und jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung, Verneinung, – bei ihm erscheint das Böse, Sinnlose und Hässliche gleichsam erlaubt, wie es der Natur erlaubt erscheint, in Folge eines Überschusses von zeugenden, wiederherstellenden Kräften, welche aus jeder Wüste noch ein üppiges Fruchtland zu schaffen vermag.“75 Deshalb habe jeder großgesinnte 67 Nietzsche (Fn. 28), KSA Bd. 5, 312 f.; in diesem Sinne auch ders., Nachgelassene Fragmente 1887 – 1889, KSA Bd. 13, 1988, 378. 68 Nietzsche (Fn. 67), KSA Bd. 13, 378 f. 69 Nietzsche (Fn. 28), KSA Bd. 5, 313. 70 Nietzsche (Fn. 67), KSA Bd. 13, 379. 71 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 10, 250. 72 Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 506. 73 Gschwend (Fn. 2), 343, 352, 357, 370. 74 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 11, 79. 75 Nietzsche, Nietzsche contra Wagner, KSA Bd. 6, 425 f. – Die ideologische Missbrauchbarkeit derartiger Äußerungen liegt auf der Hand (Engelhardt, ARSP 71 [1985], 501; exemplarisch für einen solchen Missbrauch Heinze, Verbrechen und Strafe bei Friedrich Nietzsche, Diss. Kiel 1939, 27).

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Mensch „alle Verbrechen gethan; ob juristisch, das hängt mit der Milde und Schwäche der Zeit zusammen“76.

Aber nicht nur die „Vollkommenheit“ der überragenden Freigeister und FreiTäter „entzückt“77 Nietzsche. Auch in vielen gewöhnlichen Verbrechen drücken sich in seinen Worten Eigenschaften aus, welche an einem Mann nicht fehlen sollten.78 Sehr oft gebe der Verbrecher durch sein Tun nämlich einen Beweis von ausgezeichneter Selbstbeherrschung, Aufopferung und Klugheit und halte diese Eigenschaften bei denen, welche ihn fürchten, wach. „Durch ihn wird der Himmel über dem Leben vielleicht gefährlich und düster, aber die Luft bleibt kräftig und streng.“79 Nicht von ungefähr habe Dostojewski die sibirischen Zuchthäusler, in deren Mitte er lange gelebt habe, „sehr anders empfunden als er selbst erwartete – ungefähr als aus dem besten, härtesten und werthvollsten Holze geschnitzt, das auf russischer Erde überhaupt wächst“80. Als selbsternannter „Aesthetiker höchsten Ranges“ möchte Nietzsche daher auch die kraftvoll-beherzten Verbrecher nicht missen.81 „Ein guter Räuber, ein guter Rächer, Ehebrecher – das zeichnete das italienische Mittelalter und [die] Renaissance aus, sie hatten den Sinn für Vollständigkeit.“82 Im Zuge der kulturellen Verfeinerung erscheinen (Gewalt-)Verbrechen allerdings zunehmend als Atavismen;83 Nietzsche kennzeichnet den Typus des achtenswerten Verbrechers deshalb als den „Typus des starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen“: einen Menschentypus, dessen Eigenschaften bestens in rauere Zeiten gepasst hätten, in der Gegenwart jedoch weitgehend funktionslos geworden und von der Gesellschaft in Acht und Bann getan worden seien:84 „brave gesunde Jäger Fischer, mit viel unehelichen Kindern“, die nun ohne Arbeit dastehen und zudem noch in schlechte Gesellschaft geraten.85 Schon in der Generation ihrer Kinder folge dann eine rasche Entartung.86 Indem deren ererbte Triebe mit den niederdrückenden Affekten des Verdachts, der Furcht und der Unehre verschmölzen, verlören sie jede Instinktsicherheit und empfänden ihr eigenes Wesen nur mehr als Fatum, als ein böses, aber unentrinnbares Schicksal.87 Das Ergebnis sei der vorherrschende Ver76

Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 11, 79. Nietzsche (Fn. 28), KSA Bd. 9, 267. 78 Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 480. 79 Nietzsche (Fn. 31), KSA Bd. 3, 55. 80 Nietzsche (Fn. 4), KSA Bd. 6, 147. 81 Nietzsche (Fn. 28), KSA Bd. 9, 586. 82 Nietzsche (Fn. 28), KSA Bd. 9, 267. 83 Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 633. 84 Nietzsche (Fn. 4), KSA Bd. 6, 146. – Näher Stobbe, Nietzsches Lehre vom Verbrecher, Diss. Marburg 1961, 20 ff., 96 ff. 85 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 11, 17. – Wie Stingelin zeigt, handelt es sich bei dieser Stelle um ein Exzerpt aus Francis Galtons „Inquiries into Human Faculty and its Development“; Stingelin, in: Linder/Ort (Hrsg.), Verbrechen – Justiz – Medien, 1999, 145 f. 86 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 11, 17. 87 Nietzsche (Fn. 4), KSA Bd. 6, 146 f. 77

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brechertyp der Gegenwart: der „verkümmerte Verbrecher, erdrückt unter dem Fluch und der Verachtung der Gesellschaft, sich selbst mißtrauend, oftmals seine That verkleinernd und verleumdend“88, kurzum: ein „mißglückte[r] Typus“89, eine „Carikatur“90 von Verbrecher, an dem der Ästhetiker Nietzsche keinerlei Gefallen findet.91 Wie aber mit den Verbrechern umgehen? Nietzsches Antwort auf diese Frage ist nur in einem Punkt eindeutig: Jedenfalls nicht dergestalt, dass man sie mit Schuldvorwürfen überzieht;92 eine negative Wertung von Verbrechen und Verbrechern liegt Nietzsche fern.93 Zarathustra empfiehlt stattdessen einen Kategorienwechsel: „,Feind‘ sollt ihr sagen, aber nicht ,Bösewicht‘; ,Kranker‘ sollt ihr sagen, aber nicht ,Schuft‘; ,Thor‘ sollt ihr sagen, aber nicht ,Sünder‘.“94 An die Stelle der Sanktionierung schuldhafter Missetaten soll also der Umgang mit schuldlosen, aber sozialgefährlichen Individuen treten, und die Reaktion auf Rechtsbrüche soll allein auf das präventive Ziel der Hinderung weiteren Beschädigt-Werdens,95 d. h. auf die Vorbeugung künftiger Taten von Seiten dieses Täters zugeschnitten werden. Wie die Umsetzung dieses Programms im Einzelnen aussehen soll, deutet Zarathustra durch die Nebeneinanderstellung der Bezeichnungen „Feind“ und „Kranker“ an. Feinde gilt es abzuschrecken und niederzuhalten, Kranke hingegen zu behandeln. Dem letztgenannten Gesichtspunkt gibt Nietzsche bis zur „Morgenröthe“ ein Gewicht, das wohltuend von der Härte der meisten seiner Zeitgenossen absticht.96 Seit dem Frühwerk kennt Nietzsche allerdings auch die Deutung der Strafe als soziale Notwehr. Im Laufe der 1880er Jahre tritt dieser Aspekt in seinen Äußerungen zum Strafen zusehends in den Vordergrund. Ihm korrespondiert ein Verbrechensverständnis, dem zufolge eine Straftat unter den Begriff „Aufstand gegen die gesellschaftliche Ordnung“97 zu subsumieren ist. Strafe, realistisch und ohne heuchlerische Obertöne verstanden, sei dementsprechend zu reduzieren „auf den Begriff: Nieder88

Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 405. Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 405. 90 Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 521. 91 Nietzsches Ausführungen weisen zahlreiche Berührungspunkte mit den Atavismus- und Degenerationskonzeptionen auf, die in der zeitgenössischen Debatte über die Ursachen krimineller Dispositionen eine prominente Rolle spielen (dazu Galassi, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich, 2004, S. 147 ff.). 92 Die Forderung nach einer Überwindung von Theorie und Praxis der Schuldstrafe gehört zu den Konstanten in Nietzsches Werk; Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 631; ders. (Fn. 28), KSA Bd. 9, 66, 112; ders. (Fn. 1), KSA Bd. 10, 506; ders. (Fn. 6), KSA Bd. 12, 19; ders. (Fn. 67), KSA Bd. 13, 425. Näher Gschwend (Fn. 2), 294 ff. 93 Gschwend (Fn. 2), 343; Balke, Nietzsche-Studien 32 (2003), 184; Freitag, ZIS 2010, 425; Stobbe (Fn. 84), 27 f. 94 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA Bd. 4, 1988, 45. 95 Nietzsche (Fn. 28), KSA Bd. 5, 374. 96 Die zentrale Textstelle ist: Nietzsche (Fn. 31), KSA Bd. 3, 176 ff. – Zusammenfassend Gschwend (Fn. 2), 303 ff. 97 Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 478. 89

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werfung eines Aufstandes, Sicherheitsmaaßregeln gegen den Niedergeworfenen“98. Dies führt dazu, dass Nietzsches Sprache zusehends bellizistischer wird und die von ihm befürworteten Sanktionen an Härte zunehmen, bis hin zu den Eliminationsphantasien seiner Spätwerke. Zu den Missratenen, dem „Ausschuss“, dem „Abfall“ der modernen Zivilisation, zählt Nietzsche dort neben den physisch oder psychisch schwer Erkrankten auch viele der kleinen Allerweltstraftäter,99 deren Taten nicht von Größe, sondern lediglich von mangelnder Selbstbeherrschung und schnöder Ichsucht zeugen und die deshalb nichts weiter als gesellschaftlich lästig sind.100 Diese seien zunächst an der Fortpflanzung zu hindern.101 Damit aber nicht genug. So wenig man Mitleid mit tierischen Mücken und Flöhe haben solle, solle man es mit menschlichen Schädlingswesen haben. „Die kleinen Diebe, die kleinen Verleumder, die kleinen Hämischen und Ehrabschneider sollte man vernichten“, notiert Nietzsche schon Ende 1882.102 Derartige Laster zeugten nämlich von physiologischer Entartung103 und seien wie sämtliche Dekadenzsymptome unheilbar.104 Auch wenn die Dekadenz eine notwendige Begleiterscheinung der modernen Zivilisation sei, müsse die Einschleppung der kranken Elemente in die gesunden Teile des gesellschaftlichen Organismus mit aller Kraft bekämpft werden.105 Ebenso wie bei der Vergiftung eines einzelnen Körperteils bleibe deshalb nichts anderes übrig als das kranke Glied zu amputieren.106 „Das Leben selbst erkennt keine Solidarität, kein ,gleiches Recht‘ zwischen gesunden und entartenden Theilen eines Organismus an: letztere muß man ausschneiden – oder das Ganze geht zu Grunde.“107 Man wünschte sich, sagen zu können, dass sich in diesen überwiegend von 1888 stammenden Äußerungen bereits der nahende geistige Zusammenbruch Nietzsches angekündigt habe. So einfach ist es aber leider nicht. Die Gedanken, die Nietzsche hier in brutaler Deutlichkeit ausspricht, folgen durchaus konsequent aus seiner Reduktion rechtlicher Beziehungen auf einen Zusammenprall von Machtquanten.108 Es 98

Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 479. Nietzsche (Fn. 67), KSA Bd. 13, 366 f., 412. 100 Näher Balke, Nietzsche-Studien 32 (2003), 178 ff., 189 ff.; Stobbe (Fn. 84), 95 ff., 178 f., 223. 101 Nietzsche (Fn. 28), KSA Bd. 9, 627. 102 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 10, 129. 103 Nietzsche (Fn. 67), KSA Bd. 13, 290. 104 Nietzsche (Fn. 67), KSA Bd. 13, 437. 105 Nietzsche (Fn. 67), KSA Bd. 13, 427. 106 Nietzsche (Fn. 67), KSA Bd. 13, 413. 107 Nietzsche (Fn. 67), KSA Bd. 13, 600. – Zu den trübsten Zügen von Nietzsches Wirkungsgeschichte gehört die Zustimmung, die diese Position gefunden hat – vereinzelt schon vor 1933 (Stettenheimer, ZStW 20 [1900], 399; Mess [Fn. 3], 70), gänzlich ungehemmt aber vor allem danach (Heinze [Fn. 75], 35 f., 46, 180; Kaßler [Fn. 12], 37). 108 Im hiesigen Sinne Gschwend (Fn. 2), 119; Balke, Nietzsche-Studien 32 (2003), 178 ff. Dass es in Nietzsches Philosophie jedenfalls keine moralischen Barrieren gegen derartige Monstrositäten gibt, konstatiert auch Christians, in: Ottmann (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch, 2011, 298 f. 99

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hilft nichts: Auch dies ist authentischer Nietzsche. Wer sich von ihm faszinieren lässt, kann dies nur mit einem groß geschriebenen „Trotzdem“ tun.

IV. Von der Klugheit zum Vertrag und zurück Weil das Recht den Kampf der Machtquanten nicht überwindet, sondern ihn nur organisiert und sublimiert, sind Befehlen und Gehorchen nach Nietzsche auch im Rahmen einer Rechtsordnung „Formen des Kampfspiels“.109 Einerseits liege in jedem Gehorchen nämlich auch ein Widerstreben; „es ist die Eigenmacht durchaus nicht aufgegeben“110. Andererseits beinhalte das Befehlen das Zugeständnis, dass die Macht des Gegners nicht vollständig besiegt, nicht einverleibt und aufgelöst sei;111 deshalb werde zumeist nur dort befohlen, wo Gehorsam erwartet werden könne.112 Es komme hinzu, dass auch die kategorischste Pflichtenformel den Einzelnen nicht der Aufgabe enthebe, sich ihre Worte individuell zu deuten. „Die Auslegung der Formel ist mindestens persönlich, wenn er auch keine Formel schafft: als Ausleger ist er immer noch schaffend.“113 Auch der bestimmteste Befehl eines Oberherrn ist nach Nietzsche nämlich „eine vage Abstraktion, in welcher unzählige Einzelfälle einbegriffen sind“. Deshalb bedürfe es einer Unzahl von Individuen zu seiner Ausführung; „sie müssen ihn verstehen und auch ihre spezielle Aufgabe dabei d. h. es muß immer wieder von neuem bis ins Kleinste hinein befohlen (und gehorcht) werden und dann erst, wenn der Befehl zergliedert ist in die Unzahl kleiner Unterbefehle kann die Bewegung vor sich gehen, die von dem letzten und kleinsten Gehorchenden anhebt“114.

Entgegen dem Mythos vom starken Mann an der Spitze gilt nach Nietzsche deshalb gerade das Gegenteil: Je umfangreicher die Machtorganisationen werden, desto abhängiger sind die organisierenden Kräfte von den organisierten.115 Rechtlich organisierte Macht ist die Macht eines Geflechts, nicht einzelner Individuen. „Die gewisse Unwissenheit, in der der Regent gehalten wird über die einzelnen Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens“, zeugt deshalb nicht etwa von einem Fehler der Staatsmaschinerie, sondern gehört im Gegenteil zu den Bedingungen, unter denen überhaupt nur regiert werden kann.116

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Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 11, 560. Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 11, 560. 111 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 11, 560 f. 112 Nietzsche (Fn. 28), KSA Bd. 5, 33. 113 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 10, 663. 114 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 11, 279. 115 Müller-Lauter, in: Salaquarda (Hrsg.), Nietzsche, 2. Aufl. 1996, 281. 116 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 10, 638. 110

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Als „Prozeß der unaufhörlichen Machtverteilung“ ist das Recht für Nietzsche „nicht Substanz, sondern Tätigkeit“.117 Das Recht ist nicht etwa eine verselbständigte Normenordnung – eine solch verdinglichende Vorstellung hätte Nietzsche weit von sich gewiesen118 –, sondern die zusammenfassende Bezeichnung institutionell eingehegter Handlungspraktiken,119 in denen zwischen Normanwendung und Normerzeugung keine strikte Grenze gezogen werden kann.120 Ebenso wie die Sprache kein dem Sprecher fertig vorgegebenes Regelwerk, sondern ein „Verfahren zur Konstitution von Bedeutung“121 ist, das durch Machtkämpfe ständig verändert wird,122 sind nach der Begründungslogik Nietzsches auch die Normierungen und Wertungen des Rechts den Angehörigen der auf seine Auslegung spezialisierten Interpretationsgemeinschaft nicht objektiv vorgegeben. Sie sind vielmehr „abhängig von konfligierenden Bestimmungsversuchen im öffentlichen Sprachkampf“123, in dessen Rahmen einzelne, nach Rang und Gewicht sehr unterschiedliche Akteure Deutungsvorschläge unterbreiten, die von anderen Akteuren sodann übernommen, verworfen oder verändert werden.124 Sie gelten in dem Ausmaß und mit dem Inhalt, wie sie in der jeweils aktuellen Rechtspraxis als maßgeblich behandelt werden. Aus der Perspektive der Auslegungslehre bestätigt sich damit, dass es den einen Machthaber nicht gibt. Auch die sozialen und politischen Machtverhältnisse, die das Recht hervorgebracht haben, sind fortwährend in Bewegung.125 Damit stehen sie in einer latenten Spannung zu dem Ziel des Rechts, den bestehenden Zustand auf Dauer zu stellen, d. h. „ein jeweiliges Machtverhältniß zu verewigen“126. Hobbes sucht diesem Stabilisierungsanliegen dadurch Rechnung zu tragen, dass er seinen Naturzustandsbewohnern etwas zumutet, was sie als kluge Egoisten weder leisten können noch wollen: Sie sollen sich dazu bereitfinden, einen Gesellschaftsvertrag abzuschließen, durch 117

Mess (Fn. 3), 19 f. Kerger, in: Seelmann (Hrsg.), Nietzsche und das Recht, 2001, 42. 119 Kerger (Fn. 2), 165 f.; ders. (Fn. 118), 55; ders., in: Ottmann (Hrsg.), NietzscheHandbuch, 2011, 307 f. – Der Ansatz Nietzsches wird deshalb verbreitet in die Nähe des Rechtsrealismus gerückt; Kerger (Fn. 2), 166; Gschwend (Fn. 2), 84; Seelmann, in: ders. (Hrsg.), Nietzsche und das Recht, 2001, 8. 120 Dies entspricht einer Grundeinsicht der heutigen juristischen Methodenlehre: Möllers, Die Möglichkeit der Normen, 2015, 180; Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997, 123; Müller, Syntagma, 2012, 145 f.; Somek, Rechtssystem und Republik, 1992, 353; Somek/Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken, 1996, 161 ff. 121 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, 278. 122 Hampe, Die Lehren der Philosophie, 2014, 141; Bourdieu, Was heißt sprechen?, 1990, 35 f., 72. 123 Christensen (Fn. 121), 278. 124 Näher zum Vorstehenden Pawlik, Normbestätigung und Identitätsbalance, 2017, 59 ff. – Einen Versuch, den Verlauf solcher Deutungskämpfe anhand der evolutionstheoretischen Grundkategorien von Variation, Selektion und Stabilisierung nachzuzeichnen, unternehme ich in Pawlik, FS Paeffgen, 2015, 21 ff. 125 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 11, 655. 126 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 10, 275. – Eindringlich dazu Straube (Fn. 3), 118 ff. 118

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den sie den Souverän unwiderruflich dazu ermächtigen, in ihrem Namen tätig zu werden. Auch Nietzsche lässt sich, wohl unter dem Einfluss Jherings,127 dazu hinreißen, die prudentiellen Arrangements der Naturzustandsbewohner mit dem Begriff des Vertrags zu belegen. Recht entsteht in seinen Worten nur da, wo es Verträge gibt;128 ohne Vertrag kein Recht.129 Der Figur des Vertrags schreibt Nietzsche einen spezifischen stabilitätstheoretischen Mehrwert zu. Er bestehe darin, dass zwei Mächte in ihrem Verhältnis zueinander ihrem rücksichtslosen Willen zur Macht einen Zaum anlegen und „einander nicht nur als gleich lassen, sondern auch als gleich wollen“. Diesen Willen manifestierten sie, sobald sie sich nicht damit begnügten, ein bestehendes Machtverhältnis bloß festzustellen, sondern darüber hinaus die Gewohnheit ausgebildet hätten, es „als etwas Dauerndes zu affirmiren und somit bis zu einem gewissen Grade selbst aufrecht zu erhalten“.130 Einen Sinn für den Bedeutungsgehalt vertraglicher Bindungen weist demnach nur auf, wer nicht jede momentane Schwäche des anderen ausnutzt und erbarmungslos in sämtliche Lücken hineinstößt, die dieser etwa lässt, sondern wer als „billige[r] Mensch“131 aus „Lust an dem Gerechtsein“132 der Stabilisierungswirkung des erzielten Ausgleichs ein gewisses Eigengewicht zuerkennt. Dem prudentiellen Grundcharakter von Nietzsches Rechtsverständnis zufolge kann diese Bereitschaft allerdings niemals unbegrenzt sein.133 Letztlich erkennt Nietzsche denn auch ausdrücklich an, dass einer Rechteverteilung, die dem klugen Egoismus entspringt, das Merkmal der Vorläufigkeit auf der Stirn geschrieben steht.134 Nicht dem Vertrag gebührt demnach das letzte Wort, sondern der Macht. „Recht, auf Verträgen zwischen Gleichen beruhend, besteht, solange die Macht Derer, die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich ist“135, aber nicht länger. „Verschieben sich die Machtverhältnisse hingegen wesentlich, so vergehen Rechte und es bilden sich neue, – diess zeigt das Völkerrecht in seinem fortwährenden Vergehen und Entstehen.“ Nehme die Macht des einen Vertragspartners wesentlich ab, so stellten sich die anderen nämlich unweigerlich die Frage, ob nicht der Zeitpunkt gekommen sei, die lästigen vertraglichen Bindungen diesem gegenüber abzuschütteln; gelangten sie zu einer bejahenden Antwort, so leugneten sie von da ab dessen Rechtspositionen.136 Dies führe zu einer Machtakkumulation durch immer weniger 127

Kerger (Fn. 2), 12. Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 221. 129 Nietzsche (Fn. 29), KSA Bd. 2, 290. 130 Nietzsche (Fn. 6), KSA Bd. 12, 221. 131 Nietzsche (Fn. 31), KSA Bd. 3, 102. – Dazu Petersen (Fn. 2), 54 ff. 132 Nietzsche (Fn. 28), KSA Bd. 9, 323. 133 Straube (Fn. 3), 78 ff. 134 Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 560. 135 Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 560. 136 Nietzsche (Fn. 31), KSA Bd. 3, 101. – Kaßler (Fn. 12), 28 sieht diesen Satz Nietzsches 1941 durch das Schicksal des „Versailler Diktats“ auf das Trefflichste bestätigt. 128

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Akteure, bis diese schließlich an ihrer Überdehnung zugrunde gingen;137 „die Großstaaten verschlingen die Kleinstaaten, der Monstrestaat verschlingt den Großstaat – und der Monstrestaat platzt auseinander, weil ihm endlich der Gurt fehlt, der seinen Leib umspannte: die Feindseligkeit der Nachbarn“138. Auch für die innere Stabilität der einzelnen Staaten ist Nietzsche zufolge eine Haltung des klugen Egoismus letztlich desaströs. Die rein prudentielle Staatslegitimation ist nach Nietzsches Überzeugung mitnichten nur ein theoretisches Konstrukt, das sodann eventuell in eine imaginäre Frühzeit des Rechts hineinprojiziert wird, sondern aller überhöhenden Staatsrhetorik zum Trotz spiegele sie in zunehmendem Maße die sozialpsychologische Realität in den Staaten seiner Zeit wider. „Einstmals hatte man die Theorie vom Staat als einer berechnenden Nützlichkeit: jetzt hat man die Praxis dazu!“139 Man ordne sich daher nur noch auf Bedingungen unter, „in Folge gegenseitigen Vertrages, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes“140. Daher laufe das staatliche und soziale Leben „auf ein Gleichgewicht der Egoismen hinaus: Lösung der Frage, wie man ein leidliches Dasein, ohne jede Liebeskraft, rein aus der Klugheit der betheiligten Egoismen erziele“141. Nach Nietzsche ist dies eine höchst bedenkliche Entwicklung, denn sie begründe die Gefahr einer tiefgreifenden sozialen Destabilisierung.142 Das auf seine eigene kurze Lebenszeit fixierte Individuum habe nämlich keine hinreichenden Motive mehr, an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen.143 „Damit es Institutionen giebt, muss es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts in infinitum.“144 Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden seien, um so grösser werde deshalb die innere und äußere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen.145 „Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind, – man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man ,Freiheit‘.“146 Worte wie Bindung oder gar Autorität stünden hingegen in dem Ruf, einer neuen Sklaverei den Weg zu bahnen.147 Wo strikte Verbindlichkeit eingefordert werde, wie im Recht, erschienen dessen Gebote, sobald sie dem Herkommen entrückt und allein auf ihre positive Geltung gestützt würden, unweigerlich 137

Babich, in: Niemeyer (Hrsg.), Nietzsche-Lexikon, 2009, 257 f.; Yang (Fn. 30), 93 f. Nietzsche (Fn. 13), KSA Bd. 8, 344. 139 Nietzsche (Fn. 1), KSA Bd. 10, 260. 140 Nietzsche (Fn. 29), KSA Bd. 2, 288. 141 Nietzsche (Fn. 15), KSA Bd. 7, 441. 142 Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 574 f. 143 Nietzsche (Fn. 29), KSA Bd. 2, 43, 305. 144 Nietzsche (Fn. 4), KSA Bd. 6, 141. 145 Nietzsche (Fn. 29), KSA Bd. 2, 44. 146 Nietzsche (Fn. 4), KSA Bd. 6, 141. 147 Nietzsche (Fn. 4), KSA Bd. 6, 141. 138

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als pure Befehle, d. h. als Zwangsakte, und könnten nur noch als Ausdruck der Notwendigkeit gerechtfertigt werden, dass es (irgend-)ein Recht geben müsse148 – eine ersichtlich schwache, nach Nietzsches Überzeugung auf die Dauer zu schwache Legitimationsbasis. Ein Verbot, dessen Grund wir nicht verstünden oder akzeptierten, sei bereits heute „nicht nur für den Trotzkopf, sondern auch für den Erkenntnissdurstigen fast ein Geheiss: man lässt es auf den Versuch ankommen, um so zu erfahren, wesshalb das Verbot gegeben ist. Moralische Verbote, wie die des Dekalogs, passen nur für Zeitalter der unterworfenen Vernunft: jetzt würde ein Verbot ,du sollst nicht tödten‘, ,du sollst nicht ehebrechen‘, ohne Gründe hingestellt, eher eine schädliche, als eine nützliche Wirkung haben.“149

Auch der Staat als das institutionalisierte Versprechen der Dauerhaftigkeit büße mit dem Wegfall seines metaphysischen, vulgo religiösen Fundaments einen Gutteil seiner Bindungskraft ein. Die demokratisierten Einzelnen sähen nunmehr „immer nur die Seite an ihm, wo er ihnen nützlich oder schädlich werden kann, und drängen sich mit allen Mitteln heran, um Einfluss auf ihn zu bekommen“. Dies führe zu einem wilden Wettlauf um Posten und Pfründen, „die Menschen und Parteien wechseln zu schnell, stürzen sich gegenseitig zu wild vom Berge wieder herab, nachdem sie kaum oben angelangt sind“. Niemand fühle eine andere Verpflichtung gegen ein Gesetz mehr als die, sich augenblicklich der Gewalt, welche ein Gesetz einbrachte, zu beugen; sofort aber gehe man daran, es durch eine neue Gewalt, eine neu zu bildende Mehrheit gegen ein den eigenen Wünschen besser entsprechendes auszutauschen. Das Ergebnis dieses Prozesses ist nach Nietzsche nichts Geringeres als die Abschaffung des Staatsbegriffs und die Aufhebung des Gegensatzes „privat“ und „öffentlich“.150 Dies ist ein Ergebnis, mit dem Nietzsche sich dem Befund Marxens von der Auflösung des politischen Staates in der bürgerlichen Gesellschaft verblüffend weit annähert. Ebenso wie der Hegel-Schüler Marx ist auch Nietzsche alteuropäisch genug gesinnt, um zu wissen, dass die instrumentelle Rationalität, absolut gesetzt, sich ihr eigenes Grab schaufelt. Seine Hoffnung auf die große Alternative in Gestalt einer Herrschaft der Übermenschen hat sich zwar als noch viel katastrophenanfälliger erwiesen. Als Meister der Desillusionierung aber ist er kaum zu übertreffen – auch, ja gerade im Bereich des Rechts.

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Nietzsche (Fn. 29), KSA Bd. 2, 297. Nietzsche (Fn. 21), KSA Bd. 2, 574 f. 150 Nietzsche (Fn. 29), KSA Bd. 2, 305. 149

Verbrechen und Strafe Joachim Renzikowski

I. „Wer die Grenzen der rechtlichen Freiheit überschreitet“, schreibt Feuerbach in seinem Lehrbuch, „begeht eine Rechtsverletzung, Beleidigung (Läsion). Wer die durch den Staatsvertrag verbürgte, durch Strafgesetze gesicherte Freiheit verletzt, begeht ein Verbrechen.“1 Die Frage ist aber, weshalb eine Rechtsverletzung eine strafrechtliche Sanktion erfordert. Wenn beispielsweise jemand die Sache eines anderen entwendet, kann der Eigentümer die Rückgabe der gestohlenen Sache einklagen (§ 985 BGB). Er kann Ersatz für entgangene Nutzungen (§§ 890 i. V. m. 887 BGB) und Schadensersatz verlangen (§§ 992 i. V. m. 823 Abs. 1 BGB), wenn die Sache nicht mehr zurückgegeben werden kann oder beschädigt ist. Wird dagegen der Dieb schuldig gesprochen und zu einer Strafe verurteilt, hat der bestohlene Eigentümer davon nichts. Vielmehr besteht das Risiko, dass der Verurteilte wegen der Strafe nicht mehr dazu in der Lage ist, Schadensersatz zu leisten.2 Nun könnte man zur Begründung des Strafrechts auf die Pflicht des Staates verweisen, seine Bürger zu schützen. Aber dieser Hinweis greift zu kurz. Denn wenn sich eine Straftat in der Verletzung eines subjektiven Rechts erschöpft, dann muss gezeigt werden, warum auf diesen scheinbar privaten Konflikt eine öffentliche Reaktion erfolgt. Anders gewendet: Warum wird der Rechtsbrecher mit einer staatlichen Sanktion, der Strafe überzogen, statt die Erledigung des Konflikts mit den Mitteln des Zivilrechts in das Ermessen des Verletzten zu stellen? Denn es obliegt doch zuerst dem Rechtsinhaber als dem Betroffenen, seinen Schaden geltend zu machen, und die dazu erforderlichen Institutionen stellt der Staat den Bürgern auch zur Verfügung. Mit dieser Frage beschäftigt sich schon Kant. In der Rechtslehre schreibt er, dass „das Privatverbrechen vor die Zivil-, das andere [das öffentliche Verbrechen, J.R.]

1 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, Mittermaier (Hrsg.), 14. Aufl., 1847, § 21. 2 Das OEG lässt den Verletzten in vielen Fällen im Stich, denn es gewährt eine – sozialrechtliche – Entschädigung nur bei Delikten, die gegen die Person gerichtet sind. Entschädigungsfähig ist nach § 1 OEG nur eine gesundheitliche Schädigung.

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vor die Kriminalgerechtigkeit gezogen wird.“3 Als Beispiele für derartige Privatverbrechen, die in die Kompetenz der Zivilgerichtsbarkeit fallen, nennt Kant Unterschlagung und Betrug. Öffentliche Verbrechen sind dagegen Diebstahl und Raub, „weil das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet wird“.4 Bekanntlich behandelt das geltende Strafrecht alle genannten Beispiele unterschiedslos als Straftaten. Ob man dem Argument für die Einordnung des Betrugs als Privatsache – „weil ich nicht nöthig habe, mich mit einem anderen einzulassen“5 – folgen möchte, kann hier dahinstehen. Wichtig ist allein die Unterscheidung zwischen öffentlichem Verbrechen und Privatverbrechen. Ein Diebstahl gefährdet nun nach Kant das „gemeine Wesen“ und nicht nur das Tatopfer, weil der Dieb „aller anderer Eigentum unsicher“ macht,6 indem er sich selbst vom Recht dispensiert. Denn „eine jede Übertretung des Gesetzes kann und muß nicht anders als so erklärt werden, daß sie aus einer Maxime des Verbrechers (sich eine solche Untat zur Regel zu machen) entspringe.“7 Ein Verletzungsdelikt erschöpft sich also nicht nur in der Missachtung einer geschützten Rechtsposition, sondern hat auch eine gesellschaftliche Dimension. Es verletzt das „allgemeine Prinzip des Rechts“.8 Bei einem Diebstahl tritt neben die Beeinträchtigung der Rechtsbeziehung zwischen dem Täter und dem Opfer durch die Missachtung des Eigentums der Verstoß gegen das Recht als solches, weil der Dieb „dem Begriff des Rechts selber alle Gültigkeit (nimmt) (…) und so das Recht der Menschen überhaupt (umstürzt)“.9 Diese Passage kann man auf zwei verschiedene Weisen verstehen, die sich nicht ausschließen, sondern kompatibel sind. Der Dieb verletzt nicht nur das (subjektive) Eigentumsrecht des bestohlenen Opfers, sondern er missachtet auch das Eigentum als Rechtsinstitut – als ob das Verbot des Diebstahls für ihn nicht gälte.10 Insofern ist durch die Tat zugleich „aller anderer Eigentum“ betroffen. Gerade das Eigentum gilt als Rechtsinstitut par excellence,11 aber dies trifft ebenso auf alle anderen absoluten 3 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kants gesammelte Schriften. Erste Abteilung, Band 6, 1907, 203 (331). Zum Folgenden siehe Hruschka, Kant und der Rechtsstaat, 2015, 115 (124 ff.). 4 Kant (Fn. 3), 331. 5 Kant, Naturrecht Feyerabend (1784), in: Kants gesammelte Schriften, Vierte Abteilung, Band 27, 2. Hälfte, Teil 2, 1979, 1390. 6 Kant (Fn. 3), 333. 7 Kant (Fn. 3), 321 (Fußnote zu Anmerkung A zu § 49). 8 Kant (Fn. 3), 230: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür des einen mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze bestehen kann.“ 9 Kant (Fn. 3), 307 f. (abschließende Fußnote zu § 42). 10 Kleinert, Persönliche Betroffenheit und Mitwirkung – Eine Untersuchung zur Stellung des Deliktsopfers im Strafrechtssystem, 2007, 104; siehe dazu auch Ripstein, JRE 16 (2008), 227 (240 ff.). 11 Vgl. BVerfGE 24, 367 (389); eingehend Papier/Shirvani, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 95. Aufl. 2021, Art. 14 Rn. 118 ff. Diese Institutsgarantie ist akzessorisch zum subjektiven (Eigentums-)Recht (ibid., Rn. 121).

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Rechte zu. Man kann das subjektive Recht jedoch auch im Sinne eines bestimmten Status verstehen. In diesem Sinne meint etwa Steigleder in seiner Kant-Interpretation, dass der Verbrecher durch seine Tat die fundamentale rechtliche Gleichheit der Personen im Staat verletzt.12 Beide Aspekte verknüpft das Eingangszitat von Feuerbach: Das Verbrechen ist die Verletzung der durch den Staatsvertrag verbürgten und durch die Strafgesetze gesicherten Freiheit der Bürger: Freiheit als institutionelle Garantie und als rechtlicher Status. Da der rechtliche Status einer Person als Rechtsperson jedoch darin besteht, dass allen anderen dieselben Rechte und dieselbe Rechtspersönlichkeit zugestanden wird, erweist sich die überindividuelle Bedeutung des Verbrechens in doppelter Hinsicht: Betroffen sind auf der Seite des (subjektiven) Rechts das Recht als Institution und auf der Seite des Rechtsinhabers der (überindividuelle) Status als Rechtsperson. Aus dem Verständnis des Verbrechens als Statusverletzung folgt ein wichtiger Unterschied zum zivilrechtlichen Delikt. Von einer Statusverletzung kann man nämlich nur sprechen, wenn der Verbrecher schuldhaft handelt,13 d. h. sich seine Untat zur Maxime macht. Dass das Verbrechen aus einer Maxime entspringt, bedeutet, dass der Täter sich dazu selbst durch seine freie Willkür bestimmt hat, denn andernfalls könnte ihm die Tat nicht zugerechnet werden.14 M. a. W.: Der Täter hat „sich für das Unrecht entschieden (…), obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können“.15 „Recht“ kann in diesem Zusammenhang durchaus wieder in einer doppelten Bedeutung verstanden werden, nämlich als subjektives Recht des verletzten Rechtsinhabers und überindividuell/objektiv als Institution.16 Zwar spielt das „Verschuldensprinzip“ im zivilrechtlichen Deliktsrecht eine gewisse Rolle, aber es ist schon zweifelhaft, ob es denselben Inhalt hat wie die strafrechtliche Schuld.17 Vor allem aber verfolgt das Zivilrecht einen anderen Zweck als das Strafrecht, nämlich Zustände, die dem Zuweisungsgehalt der Rechtsordnung widersprechen und einer anderen Rechtssphäre zugerechnet werden können, gerecht auszugleichen. Die zivilrechtliche Rechtswidrigkeit als Störung eines subjektiven Rechts hängt daher nicht davon ab, ob sie auf eine im strafrechtlichen Sinn schuldhafte Handlung zurückgeführt werden kann, auch wenn das nicht selten der Fall sein mag.18

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Steigleder, Kants Moralphilosophie: Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, 2002, 228. 13 Eingehend Ph.-A. Hirsch, Das Verbrechen als Rechtsverletzung. Subjektive Rechte im Strafrecht, 2021, 172 ff. 14 Das Vermögen, seinen Handlungen Maximen zu geben, nennt Kant (Fn. 3), 213 f., freie Willkür; diese Willkür ist Voraussetzung für Zurechnungsurteile und macht den Betroffenen zu einer „Person“ (ibid., 223). 15 BGHSt 2, 194 (200). 16 Siehe auch Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 186 ff. 17 Vgl. dazu BGHZ (GS) 24, 21 ff. 18 Eingehend zu den verschiedenen Haftungsmodellen im Zivilrecht Rohe, AcP 201 (2001), 117 ff.

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Soweit aber das „gemeine Wesen“, d. h. die staatliche Rechtsordnung schlechthin betroffen ist, ist eine staatliche Reaktion notwendig, die die Geltung der Rechtsordnung gegenüber der für unmaßgeblich zu erklärenden Maxime des Verbrechers bestätigt.19 Die staatliche Reaktion auf die Straftat als Verletzung eines Rechtsinstituts und als Verletzung eines Rechtsstatus ist die Strafe, verstanden als Übelszufügung für schuldhaft begangenes Unrecht.20 Dahinter verbirgt sich keineswegs die viel geschmähte Vergeltungstheorie, als dessen prominenter Vertreter Kant immer noch angesehen wird,21 sondern nichts anderes als die Definition der Strafe. An keiner Stelle spricht Kant davon, dass die Zufügung eines Übels ein außerhalb der Strafe liegender und mit ihr verfolgter, besonderer Zweck sei. Zwar scheint auf den ersten Blick folgende Passage für ein zweckfreies Vergeltungsstrafrecht zu sprechen: „Richterliche Strafe (poena forensis) (…) kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat.“22 Aber das trifft nicht zu. Vielmehr ist das Strafgesetz notwendig, um diejenigen, die sich nicht schon aus vernünftiger Einsicht in die Pflicht zu rechtmäßigem Verhalten bestimmen, dazu zu zwingen. Ohne Rechtsschutz durch Rechtszwang ist ein (subjektives) Recht gar nicht denkbar. Ein Mittel des Rechtszwangs ist die Strafe. In der Sache ist das nichts anderes als Androhungsprävention, wie sie etwa Feuerbach in seiner Lehre vom psychologischen Zwang entwickelt hat.23 Wenn der Gesetzgeber aber für ein bestimmtes Verhalten Strafe androht, muss er sie auch verhängen. Das bedeutet die Bezeichnung des Strafgesetzes als kategorischer Imperativ.24 Dezidiert wendet sich Kant dagegen, die Bestrafung von irgendwelchen nützlichen Zwecken abhängig zu machen.25 Eine derart taktierende Obrigkeit verspielt ihre Autorität – schlimmer noch: sie lügt. Wurde jedoch der Verbrecher zu einer Strafe ver19

Siehe Ripstein (Fn. 10), 243 f. Vgl. die Definition des Strafrechts von Kant (Fn. 3), 331 als „das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen“. 21 Statt vieler Roxin/Greco, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Band I, 5. Aufl. 2020, § 3 Rn. 3; siehe demgegenüber Altenhain, GS Keller, 2003, 1 ff.; Hruschka, FS Puppe, 2001, 17 ff. 22 Kant (Fn. 3), 331. 23 Ausführlich ausgearbeitet in Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Erster Theil, 1799, 43 ff.; siehe dazu Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, 358 ff.; Renzikowski, FS Yamanaka, 2017, 185 (190 ff.). 24 Kant (Fn. 3), 331. Feuerbach (Fn. 23), 54 f., sieht dies übrigens nicht anders. Heutzutage spricht man vom „Legalitätsprinzip“, siehe Byrd/Hruschka, JZ 2007, 957 (960 ff.). 25 Vgl. Kant (Fn. 3), 331 f., mit Hinweis auf die Äußerung des Kaiphas im Prozess gegen Jesus, es sei besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe. Das aber wäre die – äußerste – Konsequenz eines stringent durchgeführten Utilitarismus, vgl. etwa das Beispiel, das J. J. C. Smart (in: Smart/Williams, Utilitarianism for and against, 1973, 79 ff.) diskutiert: Der Sheriff einer Kleinstadt steht zwischen der Wahl, dem Mob einen Unschuldigen zur Lynchjustiz auszuliefern oder Ausschreitungen zu riskieren, bei denen Hunderte ihr Leben verlieren werden. Bernard Williams’ Kritik (ibid., 93 ff.) richtet sich vor allem gegen diese Konsequenz des Utilitarismus. 20

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urteilt, können solche Zwecke, insbesondere seine Resozialisierung, bei der Vollstreckung durchaus berücksichtigt werden.26 Der Streit zwischen Vergeltungs- und Präventionstheorie erweist sich demnach, jedenfalls soweit es Kant betrifft, als ein Scheinproblem. Jede Rechtsnorm, nicht nur ein Strafgesetz, soll das Verhalten der Normadressaten beeinflussen und wirkt daher präventiv. Rechtsnormen müssen jedoch auch angewendet werden – oder sie sind kein Recht. Durch die Verhängung der Strafe demonstriert der Staat, dass er es ernst meint und auch in Zukunft auf Straftaten entsprechend reagieren wird. Wenn ein Rechtsstaat der Inbegriff einer rechtlichen Ordnung ist, dann hört er auf, ein Rechtsstaat zu sein, wenn er seine Gesetze nicht anwendet. Durch die Strafgesetze und ihre Exekution sollen also künftige Straftaten verhindert werden, indem potentiellen Tätern ein Übel in Aussicht gestellt wird, welches im Ernstfall auch eintritt. Prävention ist somit nicht ohne Vergeltung zu haben.27 Prävention ist jedoch nur ein unkontrollierbarer Nebeneffekt von Strafrecht und Bestrafung, weil man die Triebfedern, aus denen jemand handelt, nur theoretisch analysieren, nicht aber praktisch feststellen kann. Vielleicht zeigt sich gerade darin die Liberalität des Rechtsstaats: dass er auf den Anspruch verzichtet, eine moralische Besserungsanstalt zu sein. Neuere Straftheorien rücken den Tadel in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Demzufolge sei es die Funktion der Strafe, das Fehlverhalten des Täters zu missbilligen.28 Vergleichbar ist die verbreitete Redeweise von der Strafe als „sozialethischer Missbilligung“29 – nur dass es hier nicht um irgendeine Form von Sozialethik, sondern um Recht und rechtliche Missbilligung geht. Auch insoweit kann man schon bei Kant fündig werden. Im Anschluss an seine berühmte Definition des Begriffs der Zurechnung schreibt er: „Was jemand pflichtmäßig mehr thut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann, ist verdienstlich (meritum); (…) was er endlich weniger tut, als die letztere fordert ist moralische Verschuldung (demeritum). Der rechtliche Effekt einer Verschuldung ist die Strafe (poena).“30 In heutiger Ausdrucks26 Siehe etwa Feuerbach, Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn, 1798, 226 Fußnote: „Die von den philosophischen Criminalisten so oft gebrauchte Sentenz des Seneca (…) ist daher in verschiedener Rücksicht wahr und falsch. Sie ist jenes, wenn sie auf den Zweck der Execution der Strafe; sie ist dieses, wenn sie auf den Rechtsgrund derselben bezogen wird.“ 27 Siehe auch Ripstein (Fn. 10), 237 ff., 247 f. 28 Siehe etwa A. v. Hirsch, Censure and Sanctions, 1993; Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001. 29 Vgl. BVerfGE 27, 18 (29); 96, 245 (249); Frisch, NStZ 2016, 16 (19 ff.); weitere Nw. bei Kühl, ZStW 116 (2004), 870 (876 ff.). 30 Kant (Fn. 3), 227. „Moralisch“ hat hier nicht die Bedeutung, die man heute mit diesem Ausdruck verbindet, etwa als „den Sitten entsprechend“ im Gegensatz zu „dem Recht entsprechend“. Moralisch bezeichnet vielmehr das System von Verhaltensregeln, an dem die betreffende Handlung gemessen wird. Der Gegensatz zu „moralisch“ ist bei Kant „pragmatisch oder „technisch“. Derartige Regeln formulieren Imperative der Klugheit, die zeigen, welche Handlung vorgenommen werden muss, um einen bestimmten Zweck zu erreichen; siehe dazu Byrd/ Hruschka, Kant’s Doctrine of Right – a Commentary, 2010, 3 f.

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weise: Wer mehr tut, als er muss, wird gelobt,31 wer weniger tut, wird getadelt. Ausdruck findet der Tadel in der Strafe. Damit hat nicht nur das strafrichterliche Zurechnungsurteil die Bedeutung eines Tadels, sondern dieser Tadel ist auch mit der Strafe und ihrer Vollstreckung verbunden – eben weil sie nur durch das Zurechnungsurteil begründet werden kann.

II. Aus normtheoretischer Perspektive stellt sich die Sache folgendermaßen dar. Bekanntlich unterscheidet man zwischen (primären) Verhaltensnormen, die bestimmte Handlungen verbieten (z. B. „Du sollst nicht stehlen!“) und sich an die Bürger richten, und (sekundären) Sanktionsnormen, die an den Staat adressiert sind und für die Übertretung einer primären Verhaltensnorm eine Strafe androhen (z. B. § 242 Abs. 1 StGB: „Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“).32 Daraus ergeben sich zwei Fragen: Wie kann man eine Verhaltensnorm begründen? Wem wird die Befolgung der Verhaltensnorm geschuldet? Wenn nämlich Strafe als die Zufügung eines Übels für begangenes Unrecht definiert ist, muss es jemanden geben, der einen Anspruch auf die Unterlassung – oder je nachdem: die Vornahme – der fraglichen Handlung hat: Wenn niemand berechtigt ist, „von Dritten ein Unterlassen zu verlangen, dann ist nicht ersichtlich, woher der Staat die Berechtigung nimmt, dieses Verlangen mittels Strafandrohung durchzusetzen.“33 Zur Beantwortung der ersten Frage führt abermals das Eingangszitat von Feuerbach. Wenn die Überschreitung der „Grenzen der rechtlichen Freiheit“ zu einer „Rechtsverletzung“ führt, verhalten sich offensichtlich Recht und Pflicht wie zwei Seiten einer Medaille: Wo das Recht des einen endet, beginnt seine Pflicht, das Recht des anderen nicht zu verletzen, und vice versa. Verfassungsrechtlich gewendet: Die in Art. 2 Abs. 1 GG genannten „Rechte anderer“ sind nicht nur eine ausdrückliche Grundrechtsschranke, die die Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit legitimiert. Vielmehr ist diese Grenze bereits logisch mit dem Begriff eines jeden (subjektiven) Rechts verbunden, weil Recht nur als allgemein und damit wechselseitig begrenzt gedacht werden kann.34 Im deontischen Sechseck35 werden die beiden 31

Zur Supererogation siehe Hruschka/Joerden, ARSP 73 (1987), 93 ff. Zu den Ursprüngen und zu einigen Einwänden siehe Renzikowski, in: Aichele/Renzikowski/Rostalski (Hrsg.), Normentheorie – Grundlage einer universalen Strafrechtsdogmatik, 2022, 9 ff. m. w. N. 33 Altenhain, Das Anschlußdelikt, 2002, 295 f. 34 Vgl. Kant (Fn. 3), 230: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ 35 Siehe dazu Joerden, Logik im Recht, 3. Aufl. 2018, 181. 32

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Seiten durch die Begriffe „pflichtig“ und „indifferent“ bzw. „absolut erlaubt“ bezeichnet.36 Wer also ein Recht verletzt, missachtet die Befugnis des Rechtsinhabers, andere – wie es in § 903 BGB passenderweise für das Eigentum heißt – „von jeder Einwirkung auszuschließen“. Diese Ausschlussbefugnis als Pendant der Dispositionsbefugnis, „mit der Sache nach Belieben [zu] verfahren“, kennzeichnet jedes Recht.37 Für Feuerbach ist die Sache in eben diesem Sinn klar. Ohne die Anknüpfung an ein Recht lässt sich keine Straftat denken. Das Verbot „Du sollst nicht stehlen!“ kann demzufolge aus dem Eigentumsrecht begründet werden. Wie schon das Beispiel des Eigentums zeigt, erfolgt die entsprechende Rechtszuweisung jedoch nicht durch das Strafrecht selbst, sondern sie wird von ihm vorausgesetzt. Hierin zeigt sich der akzessorische Charakter des Strafrechts.38 So regelt beispielsweise das Zivilrecht, wie man Eigentum erwirbt und veräußert. Das Merkmal „fremd“ in § 242 Abs. 1 StGB kann also nur zivilrechtsakzessorisch bestimmt werden.39 Allerdings sind die Reichweite der zugewiesenen Rechtsposition und der Schutzbereich der strafrechtlich sanktionierten Verhaltensnorm nicht deckungsgleich. Offensichtlich kann das Eigentum nicht nur durch Wegnahme, sondern auch durch Beschädigung oder Zerstörung verletzt werden. Insoweit kann man auf die Strafbarkeit der Sachbeschädigung nach § 303 StGB verweisen. Mit Ausnahme der fahrlässigen Brandstiftung (§ 306d StGB) sind fahrlässige Sachbeschädigungen jedoch nicht strafbar. Ferner wird das Eigentumsrecht missachtet, wenn sich jemand eine fremde Sache ohne Zustimmung des Eigentümers „ausleiht“. Aber eine derart verbotene Eigenmacht (vgl. § 858 BGB) wird nur dann bestraft, wenn sie sich auf die unbefugte Benutzung eines Kraftfahrzeugs oder Fahrrads bezieht (siehe § 248b StGB). Bei anderen Sachen (Schreibutensilien, Regenschirmen!) ist die Gebrauchsanmaßung straflos. Das Betreten eines fremden Grundstücks ist nur dann als Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) strafbar, wenn es eingefriedet ist. Die Reichweite des defensiven Rechtsschutzes nach § 228 BGB (Defensivnotstand) oder § 1004 BGB (negatorischer Unterlassungsanspruch) ist nicht von einem zurechenbaren Verhalten des Schädigers abhängig.40 Wollte man Beeinträchtigungen des Eigentums völlig ausschließen, müsste man sämtliche Gefährdungen verbieten. Es liegt auf der Hand, dass damit aber auch das soziale Leben weitgehend zum Erliegen kommen müsste. Der Gesetzgeber wägt jedoch durchaus utilitaristisch im Interesse größtmöglicher Handlungsfreiheit für alle zwischen den potentiellen Gefahren für die Rechtssphären der Betroffenen und dem Nutzen einer allgemeinen sozialen Praxis ab. Das subjektive Recht wird insoweit dann nicht mehr durch Verhaltensnormen geschützt. Einen Interessenausgleich im Schadensfall 36 v. Wright, in: Lenk (Hrsg.) Normenlogik, 1974, 25 (31) spricht von einer „free-choicepermission“. 37 Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, 56 f.; siehe ferner Kleinert (Fn. 10), 79 ff. 38 Siehe dazu auch Renzikowski (Fn. 32), 14 ff. 39 Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2021, § 242 Rn. 33. 40 Siehe dazu Haas (Fn. 37), 98 ff.

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ermöglicht die Gefährdungshaftung, im Straßenverkehrsrecht etwa die Halterhaftung nach § 7 StVG. Die zuständige Instanz für die nähere Bestimmung des Gesollten ist der Gesetzgeber; er legt die Maßstäbe nach seinen Vorstellungen von einer optimalen allseitigen Freiheitsverteilung. Weil der Staat selbst das Gemeinschaftsleben ordnet, handelt es sich bei den Verhaltensnormen um öffentlich-rechtliche Normen. Grundsätzlich aber ist der Urheber einer Norm zugleich auch der Berechtigte.41 Das ist der Standpunkt der klassischen Imperativentheorie,42 als deren Urheber neben Binding Austin und Bentham zu nennen sind.43 Der Annahme von Verhaltensnormen, die Befehle des Gesetzgebers an die Bürger formulieren, wird vorgehalten, sie beruhe auf einem autoritären Staatsverständnis und sei für den modernen liberalen Rechtsstaat unzeitgemäß.44 Die Bezeichnung der Norm als Befehl drückt jedoch zunächst lediglich die deontische Modalität des „Sollens“ aus, ist also analytisch. Sobald man die Legitimationsfrage stellt und sich nicht, wie in der Tat die klassische Imperativentheorie, mit der autoritativen Normsetzung durch den Gesetzgeber begnügt, wendet sich die Aufmerksamkeit auf das subjektive Recht. In einem freiheitlichen Rechtsstaat wird das Recht aus der Perspektive der Bürger begründet. Subjektive Rechte sind nach seinem Selbstverständnis nicht die Ergebnisse von Wohltaten, mit denen ein Herrscher seine Untertanen beglückt, sondern werden der Idee nach als „die Rechte anderer“ (Art. 2 Abs. 1 GG) vorgefunden und rechtlich anerkannt. Neben die Rechtssetzung „von Oben“ tritt die Rechtsbegründung „von Unten“ aus der Perspektive des Individuums. Der Zusammenhang zwischen Verhaltensnorm und subjektivem Recht gilt nicht nur für die sog. Individualrechtsgüter, sondern lässt sich ohne weiteres auf Allgemeinrechtsgüter übertragen. Auch dort muss ein Anspruch begründet werden, vom Normadressaten ein bestimmtes Tun oder Unterlassen zu verlangen. Inhaber dieses Rechts ist die Allgemeinheit.45 Kriminalunrecht besitzt damit eine Doppelnatur: horizontal als Verletzung des subjektiven Rechts bzw. einer unmittelbar daraus resultierenden Pflicht und zugleich vertikal als Verletzung einer öffentlich-rechtlichen Verhaltensnorm. Jedoch vermittelt das Strafrecht selbst keine subjektiv-rechtliche Berechtigung, sondern die Verhaltensnormen knüpfen akzessorisch daran an. Es ist daher die Allgemeinheit, deren Recht missachtet wird, wenn der Täter die Verbotsnorm übertritt. Die Berechtigung des von der 41 So etwa Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl. 1996, § 24 II 2; Haas (Fn. 37), 76 ff.; Kleinert (Fn. 10), 84 f., 103 f. 42 Vgl. Binding, Die Normen und ihre Übertretung. Erster Band: Normen und Strafgesetze, 3. Aufl. 1916, 97. 43 Austin, Lectures on Jurisprudence; Or the Philosophy of Positive Law, Vol. I, Campbell (Hrsg.), 1911, 79, 88 f.; Bentham, Of Laws in General, Hart (Hrsg.), 1970, 1. Die Bezeichnung von „Law“ als „Commands“ findet sich schon bei Hobbes, Leviathan or The Matter, Forme, & Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill, 1651, Chap. XXVI. 44 So Hörnle, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Band 1: Grundlagen des Strafrechts, 2019, § 12 Rn. 27; krit. auch Zaczyk, GA 2014, 73 (80 f.). 45 Siehe dazu Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 120 ff.

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Verhaltensnorm begünstigten Bürgers ist folglich nur eine mittelbare. Die Verletzung des subjektiven Rechts ist also der Anlass, und die Übertretung der öffentlich-rechtlichen Verhaltensnorm, die seinem Schutz dient, ist der Grund für die Bestrafung. Während jeder Bürger für die Geltendmachung eines deliktischen Schadens selbst verantwortlich ist, fällt die Durchsetzung der öffentlich-rechtlichen Verhaltensnormen in die Kompetenz des Staates. Strafe ist keine private Angelegenheit.46 Damit besteht vordergründig eine gewisse Nähe zum funktionalen Strafrechtsverständnis von Jakobs, nach dem „die Normgeltung (…) das eigentliche Strafrechtsgut“ ist.47 Das Verbrechen erscheint als „Desavouierung der Norm“, als Angriff auf ihre Geltung, und die Strafe soll dann bekräftigen, dass die Norm weiterhin gilt.48 Im Mittelpunkt seiner Auffassung steht die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft und ihrer Institutionen, durchaus auch im Hinblick auf die Freiheit der Bürger. Allerdings begründet Jakobs strafbewehrte Verbote nicht durch den Schutz (individueller) Rechtsgüter, sondern durch den „Sozialschaden“, den die pönalisierte Handlung verursacht.49 Eine sozialschädliche Erosion des Rechts hängt aber in keiner Weise davon ab, aus welchen Gründen eine Rechtsnorm erlassen wird, sondern ausschließlich davon, ob sie eingehalten und ob ihre Missachtung von der Obrigkeit geahndet wird. Kurz: Da dem Strafrecht nur eine sozial normstabilisierende Funktion zugemessen wird, bleibt der Legitimationszusammenhang der Verhaltensnormen, ihr Bezug zu einem (subjektiven) Recht offen bzw. beliebig.50

III. Philipp-Alexander Hirsch hat jüngst mit seiner Dissertation „Das Verbrechen als Rechtsverletzung. Subjektive Rechte im Strafrecht“ eine lesenswerte Untersuchung vorgelegt, die der hier vorgestellten Ansicht in weiten Teilen entspricht. Allerdings spielt die Verletzung subjektiver Rechte für seine Konzeption eine größere Rolle, denn auch die vorwerfbare Verletzung der öffentlich-rechtlichen Verhaltensnormen sei eine Verletzung subjektiver Rechte.51 Da der Berechtigte durch seine Einwilligung von der Einhaltung der Verhaltensnorm dispensieren könne, kontrolliere er deontisch die Regelbefolgungspflicht.52 Demgegenüber müssten der Urheber einer Norm und der Berechtigte nicht identisch sein.53 Kriminalunrecht geschehe damit gerade nicht der Allgemeinheit, sondern dem von der Verhaltensnorm begünstigten Bürger, weil er 46

Siehe Kleinert (Fn. 10), 121 ff. Jakobs, Rechtsgüterschutz: Zur Legitimation des Strafrechts, 2012, 20. 48 Siehe dazu Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 1/4 ff. 49 Jakobs (Fn. 47), 29. 50 Siehe auch die Kritik von Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 66 ff., 210 f. 51 Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 85 ff., passim. 52 Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 99 ff. 53 Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 124 f.

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die fragliche Pflicht im konkreten Einzelfall deontisch kontrolliere und deshalb einen Anspruch auf die Erfüllung gerade dieser Pflicht habe.54 Allerdings schreibt Hirsch dem Kriminalunrecht auch einen – mittelbaren – überindividuellen Gehalt zu, den er aber weder – wie ich – aus der Normgeltung, noch der institutionalisierten Anerkennungsbeziehung zur Rechtsgemeinschaft als Ganzes, sondern aus der Pluralität der verletzten Rechtssubjekte ableitet, da die Straftat, wenn auch schwächer, auch jedes andere Mitglied der Rechtsgemeinschaft betreffe. Aus diesem Grund handelt es sich nicht bloß um einen privaten Konflikt, dessen Lösung man ins Privatrecht verweisen kann. Weil die Straftat vielmehr in diesem Sinne ein gesamtgesellschaftlich-rechtlicher Konflikt sei, rechtfertige sich die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft zur Erhebung der öffentlichen Klage – gewissermaßen im Namen der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft wegen der Verletzung ihrer überindividuellen Rechtsautorität.55 Ob sich aus der Wirkung der Einwilligung diese Folgerung ziehen lässt, kann man jedoch bezweifeln. Zunächst einmal ist eine Einwilligung nichts anderes als die Manifestation der Dispositionsbefugnis im Rahmen des subjektiven Rechts. Der Rechtsinhaber disponiert über den Gegenstand seines Rechts, indem er eine andere Person nicht ausschließt, sondern ihr eine bestimmte Einwirkung gestattet. Damit entfällt die entsprechende Verhaltenspflicht der anderen Person. Wegen der Akzessorietät des Strafrechts wirkt sich diese Disposition auch auf die öffentlich-rechtliche Verhaltensnorm aus, die ihre Legitimation gerade aus dem subjektiven Recht bezieht. Aufgabe des staatlichen Rechts ist ja nicht nur der Schutz subjektiver Rechte vor Eingriffen anderer, sondern auch die Gewährleistung von Freiheit durch Recht. Die deontische Kontrolle des einwilligenden Rechtsinhabers ist daher nur eine mittelbare, und es ist nicht notwendig, ihn deshalb zum Berechtigten der Verhaltensnorm zu machen. Ein Prüfstein für die Konzeption von Hirsch ist die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs. Da bei einem untauglichen Versuch tatsächlich keine Verletzung eines subjektiven Rechts droht, kann der Inhaber des durch die Verhaltensnorm geschützten subjektiven Rechts keinen Anspruch auf seine Einhaltung reklamieren. Es kann ja gar nichts passieren. Aus dem Blickwinkel des Privatrechts existiert der untaugliche Versuch überhaupt nicht – obwohl aus der Perspektive des Täters die Missachtung einer fremden Rechtsposition intendiert ist. Aus diesem Grund wird die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs verschiedentlich bestritten.56 Aus normtheoretischer Perspektive gibt es jedoch gute Gründe für ein Verbot auch des untauglichen Versuchs. Nicht immer führt eine bestimmte Handlung zu dem intendierten Erfolg. Für einen effektiven Rechtsschutz durch Verhaltensnormen ist es jedoch unbefriedigend, dass man erst hinterher schlauer ist und erst nach dem Eintritt des rechtlich missbilligten Erfolgs wüsste, dass die bereits vorgenommene Handlung 54

Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 107 ff., 180 f., passim. Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 107 ff. 56 Vgl. Köhler, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1997, 456 ff.; einschränkend Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, 252 ff. für den untauglichen Versuch am untauglichen Objekt. 55

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verboten war. Daher ist es zweckmäßig, prospektiv bereits solche Handlungen zu verbieten, die zur Herbeiführung der Rechtsverletzung geeignet sind. Da die Verhaltensnormen nur ein abstrakt beschriebenes Verhalten verbieten, muss der Normadressat ihre Konkretisierung in jeder Situation selbst leisten.57 Deshalb ist es sinnvoll, dass das Verbot an seine Perspektive anknüpft, sei sie auch irrig. Nach Hirsch bleibt die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs auch dann erklärbar, wenn kein subjektives Recht berührt wird, wie beim untauglichen Versuch. Nach seiner Auffassung kontrolliert auch hier der Rechtsinhaber deontisch die Verhaltenspflicht, etwa wenn er die Zustimmung zur Verwendung eines verletzungsuntauglichen Mittels erteile.58 In diesem Fall lässt sich immerhin noch ein Rechtsinhaber ermitteln. Was aber ist bei einem untauglichen Versuch an einem untauglichen Objekt. – Beispiel: Der Täter nimmt seinen eigenen Regenschirm mit im Irrtum, einen fremden zu entwenden. Seinen Regenschirm hat er zufällig vor längerer Zeit in der Gaststube liegen gelassen. Hier ist kein Eigentümer ersichtlich, dessen Eigentumsrecht involviert wäre. Zwar tut der Täter aus seiner Sicht auch in diesem Fall dem vorgestellten Opfer Unrecht,59 aber ein ausgedachtes bzw. mögliches Opfer ist kein wirkliches Opfer. Überantwortet man aber die deontische Kontrolle der staatlichen Rechtsgemeinschaft,60 wobei völlig unklar ist, wer hier irgendeine Einwilligung aussprechen sollte, landet man bei der These, dass Berechtigter der Verhaltensnorm eben die Allgemeinheit ist. Schließlich ist es auch kein Ausweg, eine Identität der Verhaltensnorm bei Verletzung und Versuch anzunehmen, weil es zur Verhaltenssteuerung auf die Tätervorstellung ankomme.61 Auf diese Weise werden jedoch Verletzungs- und Gefährdungsverbot miteinander verwechselt, ein klarer Verstoß gegen die Logik: Potentialität ist nicht Aktualität.62 Das Verbot von erfolgsgeeigneten Handlungen lässt sich daher nicht logisch, wohl aber teleologisch aus den Verletzungsverboten ableiten. Diese Verhaltensnormen verlagern somit den Schutz des subjektiven Rechts vor, und der untaugliche Versuch berührt lediglich die Ebene der öffentlich-rechtlichen Verhaltensnormen. Wenn Kriminalunrecht durch eine Verhaltensnormverletzung gerade dem Verletzten gegenüber gekennzeichnet ist, wie Hirsch meint, stellt sich schließlich die Frage, ob es konsequenterweise nicht auch ein subjektives Recht des Opfers auf Be57 Anders formuliert: Aus den Verhaltensnormen ergibt sich auch eine Pflicht zu eben dieser Konkretisierung, siehe Mañalich, JRE 27 (2019), 411 (417 ff.). 58 Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 127 ff. 59 So Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 129. 60 Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 130. 61 So Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 128 f.; dass eine Verhaltensnorm immer nur die Schaffung eines unerlaubten Risikos verbieten könne, meinen insbes. auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, 69 ff. und Freund/Rostalski, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2019, § 8 Rn. 11. 62 Näher dazu Ast, Handlung und Zurechnung, 2019, 80 f., 102 ff.

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strafung geben müsste.63 Die Folgerungen, die Hirsch im Hinblick auf Privat- und Nebenklage, Opferbeteiligung und Anwesenheitspflicht des Angeklagten zieht,64 sollen hier nicht im Einzelnen diskutiert werden. Bemerkenswerterweise lehnt § 400 Abs. 1 StPO ein (subjektives) Recht der Nebenklage auf eine bestimmte Rechtsfolge ausdrücklich ab. Weniger weitgehend plädiert Tatjana Hörnle für einen Anspruch des Opfers auf das mit der Bestrafung des Täters verbundene Unwerturteil, damit es die Straftat verarbeiten könne. Zur Begründung könnte man darauf verweisen, dass der Staat primär für den Schutz des einzelnen Bürgers vor Straftaten zuständig ist. Wenn diese Primärpflicht nicht erfüllt wird, tritt eine sekundäre Pflicht an ihre Stelle, die dann durchaus in die staatliche Anerkennung als Opfer einer Straftat münden und es damit von Selbstzweifeln entlasten kann.65 Dieser Anspruch besteht aber gegenüber dem Staat, der ja auch für den ausgebliebenen Schutz verantwortlich ist. Er lässt sich so allein in einer Rechtsbeziehung zwischen Opfer und Staat beschreiben, ohne dass es um die Durchsetzung des subjektiven Rechts des Opfers gegenüber dem Täter mittels Strafe geht.

IV. Dieser kleine Beitrag vereint die beiden Wurzeln meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Strafrecht. Mit der Normentheorie wurde ich gleichsam „geimpft“ durch die Strafrechtsvorlesungen bei Karl-Heinz Gössel zu Anfang meines Studiums. Als Joachim Hruschka nach Erlangen kam, befand ich mich schon mitten in der Examensvorbereitung und hatte wenig Sinn für logisch-analytisches Strafrecht. Erst in den berühmten Dienstagabendseminaren, die ich während meines Referendariats besuchte, wann immer ich konnte, wurde mir eine völlig neue Welt vorgeführt: die Rechtsphilosophie der Aufklärung. Damals lernte ich Jan C. Joerden kennen, der auf der einen Seite des Meisters saß, und auf der anderen Seite Georg Lugert. Joerdens Habilitationsschrift „Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettung“ (Berlin 1989) entnahm ich dann viele Anregungen für meine eigene Habilitation. Ich wünsche Jan C. Joerden alles Gute und hoffe, dass wir unseren Austausch noch lange fortsetzen können.

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Siehe auch Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 251: „Dass jemand das Recht hat, auf Erfüllung einer Verhaltenspflicht zu bestehen bzw. die Verhaltenspflicht aufzuheben, liefert uns in der Regel einen guten Grund dafür, ihm auch die Befugnis zur Rechtsdurchsetzung zu gewähren.“ 64 Ph.-A. Hirsch (Fn. 13), 250 ff. 65 Hörnle, JZ 2006, 950 (954 f.).

Für ein anerkennungstheoretisches Verständnis der Strafe Markus Rothhaar

I. Einleitung Das Ziel dieses Beitrags ist es, eine anerkennungstheoretische Konzeption der Strafe zu entwerfen, die es als solche gestattet, einen grundsätzlich retributiven Ansatz mit abschreckungstheoretischen Überlegungen zusammenzudenken. Unter „Zusammendenken“ verstehe ich dabei, dass beide Elemente einer Theorie der Strafe tatsächlich aus einem Prinzip heraus entwickelt werden, dass sie also nicht – wie das bei den im deutschen Sprachraum vor allem unter Juristen sehr beliebten „Vereinigungstheorien“ häufig der Fall ist – einfach unverbunden und oft sogar einander widersprechend nebeneinander gestellt werden. Um ein solches Unterfangen sinnvollerweise durchführen zu können, ist es zunächst einmal erforderlich, sich darüber klar zu werden, worum es bei der Alternative „Abschreckungstheorie der Strafe“ versus „Vergeltungstheorie der Strafe“ eigentlich geht. Im deutschen Sprachraum hat es sich in diesem Zusammenhang eingebürgert, beides als unterschiedliche Auffassungen über Ziel und Zweck der Strafe anzusehen. Das ist m. E. allerdings irreführend oder greift doch zumindest zu kurz. Die Rede von unterschiedlichen „Strafzwecken“ liegt zwar insofern nahe, als sich die verschiedenen Ansätze durch die beiden Aussagen „Wir strafen, um potentielle Übeltäter davon abzuschrecken, Straftaten zu begehen“ (Abschreckungstheorie) und „Wir strafen, um Gerechtigkeit herzustellen“ (Vergeltungstheorie) artikulieren lassen. Wenn man auf dieser Ebene stehenbleibt, lässt sich aber philosophisch nicht viel zu den Ansätzen sagen; welchen man wählt, scheint dann eher auf persönlichen Präferenzen zu beruhen. Das ist anders, wenn man die Frage stellt, wodurch sich das Strafen – das ja immerhin das vorsätzliche Zufügen eines Übels darstellt – eigentlich legitimieren lässt. Stellt man die Frage in dieser Weise, dann eröffnet sich eine Diskussionsebene, auf der eine sinnvolle philosophische Auseinandersetzung mit Gründen und Argumenten möglich wird. Eine Theorie, die beide Ansätze auf dieser Ebene zusammenzudenken geeignet wäre, müsste mithin ein Prinzip oder einen Gedanken angeben können, von dem her sich sowohl die Androhung von Strafe ex ante zu dem Zweck, potentielle Übeltäter vom Begehen einer Straftat abzuhalten, als auch der Vollzug der Strafe zum Herstellen von Gerechtigkeit ex post rechtfertigen lässt. In dieser Aussage kommt bereits

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ein bemerkenswerter Umstand insofern zum Ausdruck, als der Aspekt der Abschreckung offenbar die Frage betrifft, wie das Verhältnis zwischen dem potentiellen Übeltäter und seinem potentiellen Opfer sich in der Zukunft gestaltet, während der Aspekt der Retribution offensichtlich damit zu tun hat, wie das Verhältnis zwischen Täter und Opfer retrospektiv zu bewerten ist. Das legt die Vermutung nahe, dass Abschreckung und Retribution nicht zwei grundsätzlich verschiedene Zwecke oder Begründungen der Strafe bilden, sondern vielleicht „nur“ unterschiedliche Zeitdimensionen eines und desselben Prinzips betreffen. Wie ich bereits eingangs sagte, denke ich, dass dieses Prinzip in einer Anerkennungstheorie des Rechts – genauer gesagt: des objektiven Rechts wie der subjektiven Rechte – zu suchen ist. Einer der Hauptvertreter einer solchen Theorie ist, neben Fichte, bekanntlich Hegel, weshalb denn auch auf den folgenden Seiten immer wieder auf Hegel Bezug genommen werden wird. Freilich, ohne dass das Ziel dieser Arbeit wäre, eine bloße Interpretation der Hegel’schen Straftheorie vorzulegen. Des Weiteren wird ein beträchtlicher Teil der Arbeit einer Rehabilitation des Retributionsaspektes der Strafe gewidmet sein. Das hat seinen Grund zum einen darin, dass die retributive Straftheorie im öffentlichen wie im juristischen Diskurs deutlich umstrittener ist als die Abschreckungstheorie der Strafe. Zum anderen hat es seinen Grund aber auch darin, dass retributive Straftheorien in der Tat auch häufig schlechter begründet sind als Abschreckungstheorien. So findet sich etwa bei Kant, der immerhin als einer der wichtigsten Vertreter einer Retributionstheorie der Strafe gilt, eigentlich gar keine positive Begründung für eine solche Theorie. Die Retribution wird bei Kant vielmehr lediglich ex negativo mit dem Argument begründet, dass die Abschreckungstheorie das Verbot verletze, Menschen als bloßes Mittel zum Zweck zu benutzen. Das wäre allerdings nur dann eine hinreichende Begründung für die Retributionstheorie, wenn Abschreckungstheorie und Retributionstheorie strikte Alternativen wären, die einander logisch ausschließen würden. Dass die retributive Straftheorie von den meisten ihrer Verfechter nur ex negativo begründet wird, bedeutet freilich nicht, dass die Kritik einer rein abschreckungstheoretisch gedachten Straflehre nichts zur Formulierung einer einheitlichen Theorie der Strafe beitragen könnte – ganz im Gegenteil: dadurch, dass eine Kritik der reinen Abschreckungstheorie es erlaubt, deren Defizite präzise herauszuarbeiten, ermöglicht sie es auch zu bestimmen, welche Elemente einer retributiven Straftheorie für die Rechtfertigung des Strafens überhaupt unerlässlich sind. Das wiederum gibt einen Hinweis darauf, wie eine Straftheorie beschaffen sein müsste, die beide Hinsichten wirklich aus einem Prinzip heraus begründet. Ich möchte daher im folgenden Kapitel zunächst die Schwierigkeiten einer reinen Abschreckungstheorie kritisch in den Blick nehmen, um auf der Grundlage dieser Kritik dann meine eigene Position zu entfalten.

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II. Die Defizite präventiver Straftheorien Kant gilt bekanntlich als klassischer „Vergeltungs- oder Gerechtigkeitstheoretiker“ der Strafe. Jedenfalls lässt sich sein bekanntes „Inselbeispiel“, in dem er die Notwendigkeit des Strafvollzugs damit begründet, dass jedem das widerfahren müsse, was „seine Taten wert sind“1, kaum anders verstehen. Noch deutlicher wird Kant, wenn er schreibt: „Richterliche Strafe (…) kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muss jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden.“2 Anders gesagt kritisiert Kant die reine Abschreckungstheorie der Strafe dahingehend, dass sie keine Legitimation für den tatsächlichen Vollzug der Strafe angeben kann, die mit dem Instrumentalisierungsverbot vereinbar wäre. Die Überlegung, die hinter dieser Kritik steht, ist offenbar die Folgende: Würde ein Täter nach der Begehung einer Straftat nicht bestraft, so würde deren Androhung unglaubwürdig. Um potentielle Täter tatsächlich von der Begehung einer Tat abzuschrecken, müssen bereits geschehene Verbrechen daher auch tatsächlich bestraft werden. Der Vollzug der Strafe wird nach der Abschreckungstheorie mithin alleine dadurch gerechtfertigt, dass er dazu dient, die vorgängige Androhung der Strafe glaubwürdig zu machen. Wenn das aber der Fall ist, wird der Straftäter als bloßes Mittel zum Zweck des Glaubwürdig-Machens der Strafandrohung benutzt, von der ihre Abschreckungswirkung abhängt. Wichtig zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass wir uns hier auf der Ebene der möglichen Rechtfertigung des Vollzugs von Strafen bewegen. Es geht nicht um die subjektiven Motive derjenigen, die Strafen androhen und vollziehen, also nicht darum, ob z. B. ein Richter eine Strafe verhängt (oder ein Vollzugsbeamter die Strafe vollzieht), weil er der Meinung ist, dass der Vollzug der Strafe notwendig ist, um die Strafandrohung glaubwürdig zu machen, oder ob er die Strafe aus anderen Motiven verhängt. Kants Argument ist, wenn ich es richtig verstehe, ein anderes, nämlich ein rechtfertigungstheoretisches Argument, das besagt: Wenn der Vollzug von Strafe sich nur abschreckungstheoretisch sollte rechtfertigen lassen, dann lässt er sich gar nicht rechtfertigen. Um Strafe wirklich philosophisch rechtfertigen zu können, müssen wir auf eine retributive statt eine präventive Straftheorie setzen. Mit diesem Argument hat Kant allerdings zum einen noch keine positive Begründung einer Vergeltungstheorie der Strafe geliefert. Zum anderen beruht das Argument auf dem seinerseits umstrittenen Gedanken eines grundlegenden Verbots, ein Vernunftwesen als bloßes Mittel zum Zweck zu gebrauchen. Auch unabhängig davon scheinen mir allerdings zumindest zwei Argumente gegen die Möglichkeit einer rein abschreckungstheoretischen Legitimation der Strafe zu sprechen. Beide Argumente gehen m. E. auf dasselbe, von Kant richtig benannte Problem zurück: das Problem nämlich, dass die Abschreckungstheorie den Vollzug der Strafe ledig1 2

Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Akademieausgabe Band VI, 1900 ff., 333. Kant (Fn. 1), 331.

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lich damit begründen kann, dass ohne ihn die Androhung der Strafe unglaubwürdig würde. Das wiederum hat zwei wichtige Implikationen: Erstens lässt sich nicht mehr plausibel machen, warum die Strafe nur Schuldige und nicht Unschuldige sollte treffen dürfen. Es lassen sich z. B. ja durchaus Konstellationen denken, in den die Androhung eines Übels gegen unschuldige Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte einen potentiellen Straftäter wirksamer von der Begehung des Verbrechens abhalten würde als die Androhung eines Übels ihm gegenüber. Wenn die einzige Rechtfertigung des Strafvollzugs dann, wie es bei einer reinen Abschreckungstheorie ja der Fall wäre, im Glaubwürdig-Machen der Strafandrohung besteht, müssten auch diese „Strafen“ vollzogen werden. Es müssten also Unschuldige für die Taten eines Dritten „bestraft“ werden. Zweitens lässt sich nicht mehr ausweisen, dass und warum die Strafe in irgendeiner Weise dem Verbrechen „angemessen“ sein sollte. Nehmen wir an, es gäbe eine politisch-gesellschaftliche Konstellation, in der alleine die Androhung der Todesstrafe hinreichend geeignet wäre, um in einem großen Maßstab Ladendiebstähle zu verhindern. Da nach dem abschreckungstheoretischen Modell der Strafe die Androhung von Strafe generell legitim ist, um einen potentiellen Straftäter davon abzuhalten, sein Verbrechen in die Tat umzusetzen, wäre dann auch die Androhung der Todesstrafe legitim und geboten. Da die Strafe des Weiteren nach diesem Modell erforderlich ist, um die Androhung der Strafe glaubwürdig zu machen, müsste sie schließlich dann auch vollzogen werden. Beide Probleme haben denselben Grund: In einem rein abschreckungstheoretischen Verständnis der Strafe besteht per Definition kein intrinsischer und notwendiger, normativer Zusammenhang zwischen Verbrechen und Strafe. Die Strafe hat lediglich den pragmatischen Grund, ihre Androhung glaubwürdig zu machen und kann sich nicht anders als durch dieses „Glaubwürdig-Machen“ legitimieren. Der Vollzug der Strafe kann nicht gerechtigkeitstheoretisch damit legitimiert werden, dass der Täter die Strafe in irgendeiner Weise verdient hätte. Anders gesagt: eben, weil der Zusammenhang zwischen Strafandrohung und Strafvollzug nach dem abschreckungstheoretischen Ansatz nur ein kontigenter, äußerlicher und pragmatischer Zusammenhang sein kann, fehlt der Abschreckungstheorie ein theoretisches Element, durch das die Strafe auch als intrinsisch gerecht ausgewiesen werden könnte.

III. Eine anerkennungstheoretische Grundlegung der Retribution Wie könnte nun aber eine Alternative zu einer rein abschreckungstheoretischen Konzeption der Strafe aussehen, die zwar der Abschreckung ihren legitimen Platz einräumt, zugleich aber eine retributionstheoretische Legitimierung für den faktischen Vollzug der Strafe ermöglicht? Wie ich bereits eingangs sagte, scheint mir eine Anerkennungstheorie des Rechts eine solche Möglichkeit zu eröffnen. Nach diesem von Fichte3 und Hegel vertretenen Theoriemodell liegt der Grund rechtlicher 3 Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, in: Fichte (Hrsg.), Fichtes Werke, Band III, ND 1971.

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Normativität in einer Relation der wechselseitigen Anerkennung vernünftiger Freiheitswesen als Träger von subjektiven Rechten. Da dieses Theoriemodell und seine Varianten im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes nicht im Detail erörtert werden können4, seien hier nur kurz die Grundzüge einer solchen Theorie skizziert: Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass endliche Subjektivität sich nur vermittelt über andere endliche Subjektivität konstituieren kann, nicht aber „aus sich selbst heraus“. Der Grund dafür ist letztlich, dass die Genese von Subjektivität ein Vorgang ist, bei dem der praktische Selbstbezug im freien Handeln zugleich ein theoretischer Selbstbezug des Sich-Erkennens als frei handelnd sein müsste. Diese Einheit von theoretischem und praktischem Selbstbezug kann ein einzelnes endliches Subjekt aber nicht leisten, weil es dazu die eigene Subjektivität verdinglichen, d. h. als Objekt seines Erkennens verstehen müsste und damit die Einheit von Erkennendem und Erkanntem verfehlen würde, die für Selbstbewusstsein charakteristisch ist. Nur wenn und indem die Objektivität meiner Freiheit durch ein anderes Subjekt gesetzt wird und ich diese Objektivierung dann als Objektivität meiner selbst im Anderen begreife, kann ich mich daher überhaupt als Subjekt verstehen und zum Subjekt werden. Wenn das richtig ist, setzt das Subjektsein jedes einzelnen Subjektes dasjenige der anderen Subjekte voraus und ebenso umgekehrt. Im Moment der Konstitution seiner selbst als individuelles, endliches Subjekt ist sich das jeweilige Subjekt daher immer schon zugleich der Existenz anderer endlicher Subjekte bewusst. Das Bewusstsein der eigenen Freiheit und Subjekthaftigkeit ist nach dem anerkennungstheoretischen Modell daher gleichursprünglich immer auch das Bewusstsein der Freiheit und Subjekthaftigkeit der Anderen. Da die Freiheit der Anderen die Voraussetzung für die Konstitution meiner selbst als freies selbstbewusstes Individuum ist, kann ich meine eigene Freiheit von vorneherein je nur als eingeschränkte Freiheit denken. Denn sonst könnte ich die Freiheit der Anderen nicht denken, die doch Voraussetzung meiner Freiheit und meiner Existenz als Subjekt ist. Indem diese Reflexion vollzogen wird, ergibt sich an die jeweiligen Individuen in normativer Hinsicht die Forderung, ihre Beziehungen zueinander in die Form des Rechts zu bringen. Das heißt: in ein System praktischer Regeln, das so gestaltet ist, dass es jedem Subjekt eine gleiche Sphäre von eingeschränkter Freiheit zuerkennt, wobei die Einschränkung nur zur Ermöglichung der Freiheit der anderen Subjekte erfolgt. Die Anerkennung des Anderen als freies Subjekt transformiert sich so in die Anerkennung des Anderen als eines Trägers von Rechten. Was das objektive Recht, ebenso wie die subjektiven Rechte, ausmacht, wäre mithin, vereinfachend gesprochen, nichts anderes als die wechselseitige Anerkennung aller Subjekte einer Gemeinschaft als gleiche und freie Träger subjektiver Rechte und die gleichzeitige Objektivierung dieser Anerkennungsbewegung im objektiven

4 Für eine ausführlichere Begründung des anerkennungstheoretischen Normativitätsmodells vgl. Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts. Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion, 2015, 207 – 240.

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Recht5. Freiheit und Gleichheit wären demnach die zentralen normativen Prinzipien des Rechts, und eben darin liegt auch der Anknüpfungspunkt für die Legitimation der Strafe als Retribution. Um dies zu erläutern, muss zunächst geklärt werden, was in anerkennungstheoretischer Hinsicht Verbrechen und Strafe eigentlich ausmacht: In einer nicht-rechtlichen oder vorrechtlichen Perspektive stellen Verbrechen wie Strafe beide gleichermaßen nichts anderes als Übel dar. Bleibt man bei dieser Sichtweise allerdings stehen, so dringt man, wie Hegel richtig bemerkt, nicht zum Standpunkt des Rechts vor. Hegel führt dazu aus: „Wenn das Verbrechen und seine Aufhebung, als welche sich weiter die Strafe bestimmt, nur als ein Übel überhaupt gesehen wird, so kann man es freilich als unvernünftig ansehen, ein Übel bloß deswegen zu wollen, weil schon ein anderes Übel vorhanden ist.“6 Tatsächlich ist es aber gar nicht der Umstand, dass das Verbrechen ein Übel für das Opfer ist, der es zum Verbrechen macht. Von einem Verbrechen kann vielmehr nur geredet werden, wo und insoweit das Zufügen eines Übels den Charakter einer Verletzung des Prinzips der wechselseitigen Anerkennung als gleicher und freier Personen hat. Aus der Perspektive des Rechts ist der Umstand, ein Übel zu sein, also nur die notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung der Bestimmung einer Handlung als Verbrechen – weshalb denn auch die Zufügung eines Übels im Rahmen von Notwehr oder eben, wie ich zeigen möchte, im Rahmen des Vollzugs einer Strafe gerade kein Verbrechen darstellt. Damit von einem Verbrechen die Rede sein kann, muss also zur Bestimmtheit als Übel noch etwas hinzukommen: Das Verbrechen ist dadurch charakterisiert, dass es die für das Rechtsprinzip konstitutive Wechselseitigkeit, Symmetrie und Gleichheit der Anerkennung der Individuen als Rechtssubjekte aktiv und vorsätzlich negiert. Der Verbrecher verwirklicht durch das Verbrechen, anders gesagt, eine Ungleichheit zwischen sich und dem Verbrechensopfer und setzt an die Stelle der Wechselseitigkeit bzw. Symmetrie der Anerkennung eine von seinem partikularen Willen bestimmte Einseitigkeit bzw. Asymmetrie, die als solche mit dem Anerkennungsprinzip unvereinbar ist. Da das Strafrecht dazu dient, den verschiedenen Rechtssubjekten jeweils legitime und formal gleiche Freiheitssphären zuzuweisen, in die andere Rechtssubjekte nicht eingreifen dürfen, hat das Verbrechen des Weiteren grundsätzlich den Charakter einer illegitimen Beschränkung der Freiheit des Verbrechensopfers. Oder genauer gesagt: Es kommt nur in dieser Hinsicht in das Blickfeld des Rechts, auch wenn natürlich für das Verbrechensopfer psychologisch vermutlich der Charakter des jeweiligen Übels im Vordergrund steht. Um das Recht ebenso wie den Status des Opfers als eines Trägers von subjektiven Rechten angesichts ihrer Beschädigung durch das Verbrechen zu restituieren, muss folglich zwischen Täter und Opfer wieder ein Verhältnis der Gleichheit und Wechselseitigkeit hergestellt werden. Genau darin liegt der Sinn und damit zugleich der 5

Vgl. dazu Hegels prägnante „Zusammenfassung“ des Rechtsprinzips in dem Satz: „Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“ (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Band 7, 1969 – 1971, § 36, 95). 6 Hegel (Fn. 5), § 99, 187.

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Legitimationsgrund der Strafe: Durch die Strafe wird dem Täter eine Freiheitseinschränkung auferlegt, die derjenigen adäquat ist, die der Straftäter seinem Opfer illegitimerweise auferlegt hat. Dadurch wird die Ungleichheit, Einseitigkeit und Asymmetrie wieder aufgehoben, die der Täter durch das Verbrechen realisiert hat: Zwischen Täter und Opfer wird mithin durch die Strafe wieder diejenige Gleichheit, Wechselseitigkeit und Symmetrie hergestellt, die das rechtliche Anerkennungsprinzip fordert. Wenn das aber der Fall ist, wird klar, dass und warum die Strafe nicht nur legitim, sondern auch notwendig ist und real vollzogen werden muss, um das Recht wiederherzustellen. Was damit gemeint ist, wird noch einmal deutlicher, wenn man sich den Unterschied zwischen Strafe und zivilrechtlichem Schadenersatz vor Augen führt: Durch den Schadenersatz werden, wo er denn möglich ist, die materiellen Folgen der Straftat ausgeglichen. Was aber nicht ausgeglichen werden kann, ist der Umstand, dass der Täter sich im Verhältnis zum Opfer zumindest zeitweise mehr Freiheit angemaßt hat, als ihm nach dem Rechtsprinzip zustand. Diese Ungleichheit kann durch bloßen Schadenersatz nicht aufgehoben werden, sondern nur dadurch, dass der Täter selbst wiederum für eine bestimmte Zeit in seiner Freiheit eingeschränkt wird. Durch diese Freiheitseinschränkung wird das Ausmaß an Freiheit, das der Täter in der Gesellschaft genießt, wieder auf dasjenige Maß zurückgeführt, das ihm nach der rechtlichen Grundnorm gleicher Freiheit zusteht. Mithin ist er erst nach der Verbüßung seiner Freiheitsstrafe wieder Gleicher unter Gleichen, wie es die rechtliche Grundnorm fordert. Wo dem Täter keine Freiheitseinschränkung auferlegt wird, bleibt demgegenüber eine Ungleichheit und Asymmetrie zwischen Verbrecher und Opfer bestehen. Das Recht würde ohne Strafe genau die vom Täter in die Welt gebrachte Ungleichheit, Einseitigkeit und Asymmetrie zwischen Täter und Opfer affirmieren, und sich dadurch als Recht selbst dispensieren, indem es Täter und Opfer selbst in einer fundamentalen Weise ungleich behandeln würde. Ebenso würde für den Fall eines Verzichts auf Strafe die Negation der subjektiven Rechte des Opfers, die der Verbrecher verwirklicht hat, in gewisser Weise fortbestehen, da sie durch das Rechtssystem nicht ihrerseits negiert würde. Ich sage an dieser Stelle bewusst „in gewisser Weise“, denn natürlich ist hier mit „Negation der Rechte des Opfers“ nicht gemeint, dass das Opfer durch das Verbrechen in einer normativen Hinsicht den Status eines Trägers von Rechten verlieren würde. Die Negation der subjektiven Rechte des Opfers, die der Verbrecher vollzogen hat, ist zunächst einmal bloß faktisch erfolgt: Der Täter hat die Rechte des Opfers vermittels seiner Handlung faktisch nicht respektiert, was aber selbstverständlich nicht bedeutet, dass das Opfer nicht einen normativen Anspruch darauf gehabt hätte und auch nach dem Verbrechen noch gegenüber allen anderen Menschen hat, dass diese seine subjektiven Rechte achten. Die faktische Negation hat aber insofern auch eine normative Dimension, als der Straftäter damit der rechtlichen Grundnorm der gleichen Freiheit eine Norm der Ungleichheit entgegenhält und seine Handlung eine Realisierung dieser Norm der Ungleichheit bedeutet. Das wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Durchführung einer Handlung auf der Seite des Handelnden notwendigerweise die Annahme impliziert,

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dass diese Handlung legitim ist. Legitim kann eine Handlung, die gegen den Grundsatz der gleichen Freiheit verstößt, aber nur dann sein, wenn statt der Norm der gleichen Freiheit eine Norm der Ungleichheit gilt. Durch seine Handlung behauptet und verwirklicht der Täter damit, auch wenn es ihm selbst nicht bewusst sein mag, eine Norm der Ungleichheit, die im Widerspruch zur überpositiven Grundnorm des Rechts überhaupt steht. Insofern hat die Handlung des Täters von vorneherein nicht nur eine faktische Dimension, sondern auch eine normative Dimension. Durch den Verzicht auf Strafe würde darum die vom Täter durch seine Handlung gesetzte Norm der Ungleichheit durch den Staat affirmiert: Zwar nicht in der Hinsicht, dass das Opfer des Verbrechens den Status eines Trägers subjektiver Rechte verlieren würde, aber in der Hinsicht, dass die faktische Negation der Wechselseitigkeit und Gleichheit, die das Verbrechen darstellt, zumindest für diese konkrete Handlung des Täters vom Recht normativ anerkannt würde. Genau das würde aber eintreten, wenn die Gleichheit und Symmetrie zwischen Täter und Opfer nicht dadurch wiederhergestellt würde, dass dem Täter eine Freiheitseinschränkung zugefügt wird, die derjenigen gleichwertig ist, die er seinem Opfer zugefügt hat. Nur die Strafe kann Täter und Opfer mithin wieder in das Verhältnis der Gleichheit bringen, das von der Rechtsidee als Idee eines symmetrischen Anerkennungsverhältnisses zwischen freien Subjekten gefordert wird. Ohne die Strafe bliebe, anders gesagt, die vom Verbrecher realisierte Asymmetrie im Anerkennungsverhältnis bestehen. Eben das wäre aber mit der überpositiven Rechtsidee als dem Grundsatz wechselseitiger Anerkennung als freier und gleicher Subjekte strikt unvereinbar. An dieser Stelle ließe sich natürlich nun ein Einwand erheben, der auch in der zuletzt zitierten Passage von Hegel über das Verbrechen als Übel bereits angedeutet wird. Dieser mögliche Einwand hätte die folgende Form: Es mag der Fall sein, dass dadurch, dass dem Verbrecher eine seinem Verbrechen gleichwertige Freiheitseinschränkung zugefügt wird, die Gleichheit und Wechselseitigkeit zwischen Täter und Opfer wiederhergestellt wird. Es handele sich dabei aber doch nur um eine „Gleichheit im Negativen“, eine Gleichheit darin, dass nun beide jeweils eine Freiheitseinschränkung erlitten hätten. Damit blieben beide aber doch allen anderen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft, die keine Freiheitseinschränkung erlitten haben, ungleich. Dem wäre zu entgegnen, dass dieser Einwand den Begriff der „Ungleichheit“ wiederum lediglich in einer faktisch-deskriptiven und zugleich quantitativen, statt einer normativen und zugleich qualitativen Hinsicht versteht. Die normative „Gleichheit“, um die es hier geht, besteht darin, dass jedem Rechtssubjekt durch das objektive Recht und den Staat dieselben formalen Freiheitsrechte zugestanden werden und dass jedes Rechtssubjekt alle anderen Rechtssubjekte als Träger dieser Freiheitsrechte anerkennt. Im Fall des Eigentumsrechts besteht die formale Gleichheit beispielsweise darin, dass jedes Rechtssubjekt einen Verfügungsanspruch über sein Eigentum hat, aber keinen Verfügungsanspruch über das Eigentum eines anderen. Ob die Güter selbst gleich oder ungleich verteilt sind, ist aus dieser Perspektive irrelevant, weil es die materiale und quantitative Seite der Gleichheit betrifft, während für das Recht nur die formale und qualitative Seite der Gleichheit von Bedeu-

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tung ist. Der Dieb beansprucht nun aber mit seiner Tat für sich, sowohl über sein Eigentum als auch über das Eigentum seines Opfers verfügen zu dürfen, während er dem Opfer das Recht abspricht, über sein, des Opfers Eigentum verfügen zu dürfen. Damit behauptet und verwirklicht er eine Norm der formalen Rechtsungleichheit zwischen sich und seinem Opfer. Ob er damit eine Ungleichheit der materialen Güterverteilung realisiert (oder vielleicht sogar eine gleichere Verteilung), spielt aus der Perspektive des Rechts keine Rolle. Die Freiheitseinschränkung, die das Verbrechen darstellt, kommt mithin aus der Perspektive des objektiven Rechts als Negation der Gleichheit der formalen Freiheitsrechte und der Wechselseitigkeit der Anerkennung dieser Rechte in den Blick.7 Da es nun aber der Täter ist, der diese Negation durch seine Handlung sowohl behauptet, als auch faktisch vollzieht, nicht jedoch die übrigen Mitglieder der Gesellschaft, wird zwischen dem Opfer und dem Rest der Gesellschaft durch das Verbrechen auch keine Ungleichheit und Einseitigkeit bzw. Asymmetrie gesetzt. Die Handlung des Täters impliziert ja – um beim Beispiel des Diebstahls zu bleiben – nicht, dass Dritte ein Recht hätten, über das Eigentum seines Opfers zu verfügen, sondern „nur“, dass er ein Recht hat, über das Eigentum seines Opfers zu verfügen. Die Freiheitseinschränkung des Verbrechens verwirklicht folglich ebenso wenig eine Ungleichheit und Einseitigkeit zwischen dem Opfer und dem Rest der Rechtsgemeinschaft, wie die Strafe eine Ungleichheit zwischen dem Täter und dem Rest der Rechtsgemeinschaft realisieren würde. Darum muss auch nur die Gleichheit und Wechselseitigkeit der rechtlichen Grundnorm zwischen Täter und Opfer restituiert werden.

IV. Symbolische oder reale Restitution der Gleichheit? Angesichts meiner bisherigen Ausführungen mag sich nun der Eindruck einstellen, es handele sich dabei um eine Variante desjenigen Ansatzes, der sich in den letzten Jahrzehnten unter den Stichworten der „restitutiven“, „expressivistischen“ oder „kommunikativen“ Straftheorie um eine Rehabilitation des Retributivismus bemüht hat. Im deutschen Sprachraum geht dieser Ansatz auf Georg Freund zurück. Nach der von Freund seit den späten 80ger Jahren entwickelten Theorie liegen der Sinn und der Legitimationsgrund der Strafe darin, dass die Strafe die Geltung der durch den Täter 7 Diese anerkennungstheoretische Auslegung der Strafe ermöglicht es nun auch überhaupt erst, diese dahingehend zu denken, dass nicht ein Übel mit demselben Übel zu vergelten ist, sondern mit einer Freiheitseinschränkung, die der Freiheitseinschränkung äquivalent ist, die das Opfer durch den Täter erfahren hat. Diese retributive Freiheitseinschränkung hat in der Regel die Form einer Freiheitsstrafe. Da also die Körperverletzung für das Recht unter dem Blickwinkel der Einschränkung des Verfügungsrechts jedes Subjekts über den eigenen Körper in den Blick kommt, ist die adäquate Form der Restitution der Gleichheit zwischen Täter und Opfer nicht eine Körperverletzung am Täter, sondern eine Freiheitsstrafe. Die Freiheitsstrafe wird damit gewissermaßen zur allgemeinen „Währung“ der Strafe.

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verletzten Norm restituiert und auf diese Weise auch den „Rechtsfrieden“ wiederherstellt. So schreibt Freund: „Tragende Funktion der Strafe ist demnach die Wiederherstellung des gestörten Rechtsfriedens durch angemessen missbilligende Reaktion auf einen begangenen Normverstoß (Straftat). Im Verstoß gegen eine rechtlich legitimierte Verhaltensnorm seitens einer verantwortlichen Person ist eine Infragestellung der Normgeltung zu erblicken. Auf diese Infragestellung muss angemessen missbilligend reagiert werden, wenn die Normgeltung langfristig keinen Schaden nehmen soll: Strafe ist zu verstehen als Widerspruch gegenüber dem Verhaltensnormverstoß zur Beseitigung der Gefahr eines Normgeltungsschadens.“8

Freunds Schülerin Frauke Rostalski hat den Ansatz Freunds zu einer „retributivexpressiven“ Straftheorie ausgebaut. Danach stellen sowohl die Straftat als auch die Bestrafung „Akte der Kommunikation zwischen dem Täter und der Gesellschaft“ dar: Der Täter kommuniziert durch seine Tat, dass er die durch das Recht gesetzten Normen nicht anerkennt und kündigt somit gewissermaßen einseitig die Gleichheit auf, die Grundlage der Rechtsgemeinschaft ist. Da der Täter aber, so Rostalski, dennoch gleichberechtigtes Mitglied der Rechtsgemeinschaft bleibe, müsse die Gesellschaft eine Antwort auf die „unberechtigte Freiheitsanmaßung“9 des Täters geben und diese „Antwort“ bestehe in der Strafe: „Weil der Straftäter seinen Status als Gleicher im Recht durch sein Fehlverhalten nicht einbüßt, verhallt sein ,Ruf‘ nicht unbeantwortet. Im Gegenteil verdient er eine Antwort, die sich konsequent an dem Gewicht (der ,Lautstärke‘ bzw. Intensität) seiner Infragestellung des Rechts orientiert. Getragen ist dieses straftheoretische Modell von dem Gedanken des Ausgleichs unberechtigt angemaßter Freiheitssphären. Durch den Verhaltensnormverstoß nimmt sich der Täter mehr Freiheit, als ihm nach dem Gesellschaftsvertrag zusteht.“10

Man liegt sicherlich nicht ganz falsch, wenn man aus diesen Ausführungen Rostalskis eine Paraphrase von Hegels Dictum heraushört, der Täter habe ein „Recht auf Bestrafung“, weil er durch die Strafe „als Vernünftiges geehrt“11 werde, so dass der Verzicht auf Strafe den Täter mithin aus der Gemeinschaft der vernünftigen Wesen ausschließen würde. Die kommunikativen bzw. expressiven Straftheorien Freunds und Rostalskis haben eine im englischen Sprachraum unübersehbare Parallele in Jean Hamptons Entwurf einer expressiven Theorie der Retribution, die Hampton übrigens auch ungefähr zur selben Zeit entwickelt hat wie Freund – zuweilen scheint ein bestimmter Gedanke in der Tat irgendwie „in der Luft“ zu liegen. Hampton geht, ähnlich der hier vertretenen Position, davon aus, dass der Sinn des Rechts darin besteht, die grundsätzliche normative Gleichheit bzw. Gleichwertigkeit aller Menschen zu schützen. Hampton zufolge ist dasjenige, was ein Verbrechen eigentlich zum Verbrechen 8

Freund, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Personale Straflehre, 2. Aufl. 2009, Rn. 10. Rostalski/Freund, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Personale Straflehre, 3. Aufl. 2019, Rn. 38. 10 Rostalski/Freund (Fn. 9), Rn. 39. 11 Hegel (Fn. 5), § 100, 191. 9

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macht, der Umstand, dass der Straftäter diese grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Menschen nicht respektiert. Er erhebt sich durch seine Tat gewissermaßen über sein Opfer; nimmt sich heraus, es in einer Weise zu behandeln, die die moralische Gleichwertigkeit zwischen ihm und seinem Opfer verleugnet: „Whatever the wrongdoer’s purposes and intentions, we read his actions as one that simultaneously ,humbles‘ the victim and ,elevates‘ the action’s perpetrator. Someone who commits insulting treatment against another is assuming the stance of ,lord‘ entitled to be indifferent to, or use, or harm, the one whom he victimizes (…) he has established that, at least in this instance, he is able to subordinate her to his interests, and thus to master her.“12

Zentral für Hamptons retributivistische Straftheorie ist nun, dass sie die Herabwürdigung, die das Verbrechen darstellt, auf einer kommunikativen und gewissermaßen symbolischen Ebene verortet: Der Verbrecher sendet durch das Verbrechen die „Botschaft“ aus, dass sein Opfer weniger wert ist als er selbst; er kommuniziert, dass er einen höheren moralischen Status hat und sein Opfer einen niedrigeren moralischen Status. Eben diese Botschaft, so Hampton, werde durch die Retribution gewissermaßen zurückgenommen: „The crime represents the victim as demeaned relative to the wrongdoer; the punishment ,takes back‘ the demeaning message. The person who represented himself as elevated with respect to the victim is now suffering something like what he did to his victim, so that his message of elevation with respect to the victim is denied. Or to put it in another way, the evidence of value loss provided by the crime is nullified by the new evidence provided by the subordination effected through the punishment.“13

Die Strafe dient mithin für Hampton dazu, den Anspruch auf Überlegenheit, den der Verbrecher in seinem Verbrechen zum Ausdruck bringt, zu verneinen; Strafe ist eine Antwort auf das Verbrechen, „that subjugates the wrongdoer substantially in order that his claim to being the victim’s superior is effectively denied.“14 In diesem Zusammenhang verwendet Hampton Formulierungen, die sehr deutlich an Hegels Charakterisierung der Strafe als „Negation der Negation“, d. h. als Negation derjenigen „Negation“ des rechtlichen Anerkennungsverhältnisses, die das Verbrechen darstellt, erinnern. So etwa, wenn Hampton von der Strafe als „subjugation of the subjugator“ oder „domination of the one who dominated“15 redet. Nicht zuletzt interpretiert sie Hegels Charakterisierung der Strafe sogar in ihrem Sinn dahingehend, dass Hegel mit „Negation der Negation“ nichts anderes gemeint haben könne, als die Negation der Botschaft, die das Verbrechen zum Ausdruck bringe.16 Alle drei hier referierten „kommunikativen“ bzw. „expressiven“ Straftheorien haben nun ein zentrales Problem: Eben, weil sie Strafe als expressiven Akt, als 12 Hampton, An Expressivist Theory of Retribution, in: Cragg (Hrsg.), Retributivism and its Critics, ARSP 47 (1992), 1 (13). 13 Hampton (Fn. 12), 13. 14 Hampton (Fn. 12), 14. 15 Hampton (Fn. 12), 13. 16 Hampton (Fn. 12), 15.

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„Kommunikation“ zwischen Täter und Opfer bzw. Täter und Gesellschaft verstehen, vermögen sie nicht auszuweisen, dass und warum diese Kommunikation oder Expression gerade die Form der Strafe annehmen muss. Der Zusammenhang zwischen der Strafe und der „Botschaft der Gleichheit“, die mit ihr zum Ausdruck gebracht wird, erscheint letztlich als kontingent: Sofern dem Täter durch die Strafe ein Übel zugefügt wird, das demjenigen Übel gleichwertig ist, das er seinem Opfer zugefügt hat, scheint Strafe zwar in besonderer Weise geeignet, die Gleichwertigkeit zwischen Täter und Opfer angesichts von deren Infragestellung durch den Verbrecher zum Ausdruck zu bringen bzw. wieder zu bestätigen. Aber sie scheint eben nur „in besonderer Weise geeignet“ und keineswegs notwendig oder die einzige Möglichkeit einer solchen Kommunikation. Es sind, wie Hampton übrigens selbst konstatiert, durchaus andere Möglichkeiten denkbar, die Gleichwertigkeit zwischen Täter und Opfer kommunikativ zu bestätigen, etwa eine feierliche öffentliche Verurteilung des Verbrechens oder kommunikative Praktiken des Täter-Opfer-Ausgleichs. Wenn das aber der Fall ist, stellt sich die Frage, ob kommunikative bzw. expressive Theorien der Retribution überhaupt Theorien der Strafe sind, besteht doch zwischen ihrem eigentlichen Anliegen und der Strafe lediglich ein kontingenter Zusammenhang. Es ist dementsprechend kaum verwunderlich, dass es über genau diesen Punkt eine relativ breite Debatte gibt. So kritisiert etwa Nathan Hanna17 Hampton und andere Verfechter der expressivistischen Straftheorie dahingehend, dass aus deren Theorien keineswegs folgen würde, dass Strafe das einzige Mittel wäre, mit dem man eine Missbilligung der Straftat kommunizieren bzw. ausdrücken könne. Ja, die Strafe sei nicht einmal ein besonders plausibles Medium der Kommunikation und Expression.18 17 Hanna, Say What? A Critique of Expressive Retributivism, Law and Philosophy 2008, Vol. 27, No. 2, 123 – 150. 18 Dieser Einwand ist freilich keineswegs neu, sondern wurde in Deutschland bereits in den 1830iger und 1840iger Jahren im Anschluss an Hegel ausführlich diskutiert. So merkt der Jurist August Geyer Mitte des 19. Jahrhunderts zu Hegels Charakterisierung der Strafe als „Negation der Negation“ an, dass diese keineswegs der Strafe bedürfe, um wirksam zu werden: „Höchstens könnte es notwendig werden, feierlich durch ein ,Strafurtheil‘ allgemein bekannt zu machen, daß ein Unrecht, d. h. eine nichtige Handlung begangen worden sei.“ (Geyer, Grundriß zu Vorlesungen über ein gemeines deutsches Strafrecht, 1848, 26). Ähnliche Positionen werden in den 1840iger Jahren auch von Heinrich Luden (Luden, Handbuch des teuschen gemeinen und particularen Strafrechts, 1842, 41) und Ferdinand Carl Theodor Hepp (Hepp, Darstellung und Beurtheilung der deutschen Strafrechtssysteme, Erste Abtheilung, 1845, 200) vertreten. Nach allen diesen Theorien erfolgt die eigentliche Aufhebung der „positiven äußerlichen Existenz“ des Verbrechens durch eine symbolische Kommunikation der „Nichtigkeit“ des Verbrechens, etwa in Form des Aussprechens des Gerichtsurteils. Der faktische Vollzug der Strafe fügt dem dieser Auffassung nach nichts mehr hinzu und könnte dementsprechend auch ebenso gut weggelassen werden, ohne dass sich an der Aufhebung des Verbrechens irgendetwas ändern würde. Hepp, Geyer, Luden und andere verstehen Hegels Straftheorie mithin, ähnlich wie Hampton, als expressivistische bzw. symbolische Straftheorie und kommen, ähnlich wie Hanna, zu der Auffassung, dass die expressive Missbilligung des Verbrechens durch den Staat auch auf andere Weise als der einer Verhängung der Strafe erfolgen kann.

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Um diese Problematik genauer zu einzugrenzen, ist es sinnvoll, sich anhand von Hamptons Ausführungen noch einmal darüber klar zu werden, was eigentlich der Grund dafür ist, dass die Strafe dort primär als ein Akt verstanden wird, durch den die Gleichwertigkeit der Rechtssubjekte im Fall der Rechtsverletzung „nur“ symbolisch oder kommunikativ wiederhergestellt wird. Bei Hampton liegt der Grund offenbar darin, dass sie meint, dass ein anderes Verständnis von Verbrechen und Strafe implizieren würde, dass durch das Verbrechen die Gleichwertigkeit zwischen den Subjekten faktisch aufgehoben würde: Der Straftäter negiert durch sein Verbrechen ja in der Tat, dass eine solche Gleichwertigkeit besteht, oder genauer gesagt: Das Verbrechen impliziert, dass er diese Gleichwertigkeit nicht anerkennt. Man scheint also in ein Dilemma zu geraten: Entweder müsste man sagen, dass die Gleichwertigkeit von Menschen gar nicht wirklich negiert werden könne und dass sie dementsprechend auch gar nicht erniedrigt werden könnten, – eine Auffassung, die Hampton Kant zuschreibt. Wenn die Degradierung des Opfers durch das Verbrechen aber gar nicht „real“ sei, dann sei auch nicht mehr klar, warum man überhaupt strafen müsste, um diese gar nicht reale Degradierung wieder aufzuheben: „According to Kant there is no way that I can lose my worth as a human being unless I cease to becom a human being (…) If I can’t lose value, then why is it necessary to use punishment to reaffirm what I’ve never lost?“ (S. 17).

Oder – das zweite Horn des vermeintlichen Dilemmas – man müsste sagen, dass die Negation der Gleichwertigkeit des Opfers durch den Täter „real“ ist; dann scheint man sich aber die Konsequenz einzuhandeln, dass das Opfer nach dem Verbrechen auch tatsächlich nicht mehr Gleicher unter Gleichen wäre, dass es vielleicht sogar tatsächlich seinen Status als Rechtssubjekt verloren hätte. Aus diesem Dilemma scheint man dann nur noch herauskommen zu können, indem man sowohl die Verneinung der Gleichwertigkeit durch das Verbrechen, als auch die Wiederherstellung der Gleichwertigkeit durch die Strafe als rein symbolische Akte versteht: „(…) there is no way to undo the crime. But if we are able to undo what the crime symbolizes by creating an event that counters the symbolic message sent by the crime, we symbolize the correct moral relationships among human beings (…)“19

Ich denke nun allerdings, dass das Dilemma, das Hampton hier zu sehen scheint, sich auch noch auf eine andere Weise auflösen lässt als dadurch, dass man Verbrechen und Strafe auf einer bloß symbolischen Ebene verortet. Vielmehr genügt es, sich den Unterschied von Normativität und Faktizität klar zu machen: Die Gleichwertigkeit – oder nach dem hier vertretenen anerkennungstheoretischen Ansatz: die Gleichheit und Wechselseitigkeit des Anerkennungsverhältnisses – aller Menschen ist eine Norm. Diese Norm kann, wie alle Normen, durch Handlungen natürlich faktisch verletzt oder missachtet werden, so wie ich etwa das Verbot zu betrügen verletzen kann, indem ich jemanden betrüge. Durch diese faktische Verletzung der Norm wird aber die Norm selbst nicht in Frage gestellt: dass P einen anderen Menschen betrügt, hebt 19

Hampton (Fn. 12), 19.

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nicht die Geltung des Betrugsverbots auf. Die Forderung, andere nicht zu betrügen, bleibt auch dann bestehen, wenn P jemanden betrügt. Ebenso wenig bedeutet der Umstand, dass der Straftäter durch das Begehen eines Verbrechens die grundlegende Norm der Wechselseitigkeit und Gleichheit der Anerkennungsrelation missachtet, in irgendeiner Weise, dass diese Norm damit ihren Geltungsanspruch verlieren würde. Sicherlich stehen wir nun für den Fall, dass ein Verbrechen bereits begangen wurde, vor einem spezifischen Problem, wenn es um die Frage geht, wie die Norm in der Welt realisiert werden kann. Üblicherweise wird eine Norm einfach dadurch realisiert, dass man ihr gemäß handelt: Die Norm, niemanden zu betrügen, wird dadurch realisiert, dass ich niemanden betrüge, obwohl ich vielleicht die Gelegenheit dazu hätte. Wenn eine Norm aber nun schon verletzt wurde, stellt sich die Frage, ob es noch eine andere Möglichkeit gibt, sie zu realisieren als dadurch, dass sie einfach von den Handelnden respektiert wird. Das ist m. E. nach ohne Weiteres der Fall. Dass es neben der Realisierung von Normen durch ihre Beachtung ex ante auch Formen der Realisierung von Normen ex post gibt, ist in der Tat keineswegs außergewöhnlich oder irgendwie geheimnisvoll. Wir kennen solche Formen der Realisierung von normativen Ordnungen ex post bzw. in Reaktion auf faktische Normenverletzungen auch aus anderen Bereichen als dem der Strafe. Ein „Paradebeispiel“ dafür ist die beim Diebstahl relevante Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz. Unter „Besitz“ wird üblicherweise die faktische Verfügungsgewalt über ein Gut bezeichnet, während „Eigentum“ den normativen Anspruch bezeichnet, die faktische Verfügungsgewalt über ein Gut zu haben. „Besitz“ ist mithin ein deskriptiver Begriff, wohingegen „Eigentum“ ein normativer Begriff ist. Charakteristisch für den Diebstahl ist nun, dass er im Regelfall dazu führt, dass Eigentum und Besitz auseinanderfallen: Das gestohlene Gut befindet sich nach dem Diebstahl im Besitz des Diebes; es ist aber nicht sein Eigentum. Der Eigentümer befindet sich dagegen nicht mehr im Besitz des gestohlenen Gutes; es ist aber nach wie vor sein Eigentum. Diese Nicht-Übereinstimmung zwischen normativer und realer Ordnung wird nun für den Fall, dass der Dieb gefasst wird, korrigiert, indem der Dieb das gestohlene Gut dem Eigentümer zurückgeben muss, so dass der Eigentümer auch wieder in den Besitz des Gutes kommt. Die normative Ordnung wird mithin durch eine Handlung, die ex post auf die Verletzung der normativen Ordnung reagiert, auch in der Realität wiederhergestellt. Analoges gilt für die Strafe: Auch hier haben wir es mit dem Fall zu tun, dass zumindest ein Akteur eine bestimmte Norm nicht respektiert hat, indem er eine Handlung verwirklicht hat, die zur Norm im Widerspruch steht. An genau dieser Stelle greift dann die Strafe. Wenn es nämlich richtig ist, dass die überpositive Grundnorm aller rechtlichen Verhältnisse die Gleichheit und Wechselseitigkeit des Anerkennungsverhältnisses ist, dann kann diese Gleichheit und Wechselseitigkeit offenkundig dadurch wiederhergestellt werden, dass der Täter einer Freiheitseinschränkung unterworfen wird, die derjenigen Freiheitseinschränkung gleichwertig ist, der er sein Opfer unterworfen hat. Die Strafe wäre dann nichts anderes als die einzige Möglichkeit, die noch bleibt, um die Realisierung der Norm der Gleichheit und Wechsel-

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seitigkeit ex post zu bewerkstelligen, wenn sie faktisch durch einen Straftäter missachtet wurde. Auch wenn es sich dabei um die Realisierung einer Norm handelt, die auf einem anderen Weg erfolgt als dem, dass ich die Norm einfach in meinem Handeln respektiere, scheint es sich mir, wie bei der Restitution gestohlenen Eigentums, um eine Form der Realisierung einer normativen Ordnung ex post zu handeln. Wenn das richtig ist, dann stellt die Strafe aber eben nicht bloß „symbolisch“ die Gleichheit von Täter und Opfer wieder her. Vielmehr stellt sie die Gleichheit und Wechselseitigkeit, die die Norm fordert, realiter wieder her. Ist das aber der Fall, dann stehen Verbrechen und Strafe nicht bloß in kontigentem Zusammenhang wie zufolge der symbolisch-expressiven Theorie. Die Strafe ist dann vielmehr notwendig mit dem Verbrechen verknüpft, weil sie eben die einzige Möglichkeit ist, die Gleichheit und Wechselseitigkeit der Anerkennung, wie sie von der Norm gefordert wird, angesichts der faktischen Verletzung der Norm ex post zu realisieren. Ein bloßer „feierlicher Schuldspruch“ oder irgendeine andere Form der „Antwort“ auf das Verbrechen kann diesem Kriterium nicht genügen. Wenn das Verbrechen eine ungleiche Freiheitsverteilung zwischen Täter und Opfer etabliert, kann die vom Rechtsprinzip geforderte normative Gleichheit zwischen beiden nur noch dadurch realisiert werden, dass der Täter faktisch einer gleichwertigen Freiheitseinschränkung unterworfen wird, dass er also eben bestraft wird. Würde das nicht geschehen, würde der Staat also generell auf Strafen verzichten, dann würde der Staat nun tatsächlich die Ungleichheit zwischen Täter und Opfer, die der Täter nur faktisch realisiert hat, auch in normativer Hinsicht realisieren, d. h. er würde eine positivrechtliche Norm etablieren, die die Ungleichwertigkeit zweier Individuen in rechtlicher Hinsicht setzt. Das ist es wohl, was Hegel meint, wenn er davon spricht, dass das Verbrechen „sonst gelten würde“:20 Die Ungleichwertigkeit, die durch das Verbrechen realisiert wird, würde den Charakter einer vom Staat gesetzten, der überpositiven Rechtsidee aber widersprechenden positivrechtlichen Norm erhalten. Und das wäre dann in der Tat eine Verletzung der überpositiven rechtlichen Grundnorm, die nicht mehr nur in faktischer Hinsicht durch die Handlung des Straftäters, sondern durch den Staat auch normativ in Form des positiv gesetzten Recht realisiert würde. Das zu verhindern, ist der Sinn der Strafe und es lässt sich auch nur durch die Strafe verhindern, weil nur die Strafe dem Täter eine seiner Tat gleichwertige Freiheitseinschränkung auferlegen kann. Wenn Hampton und andere Autorinnen und Autoren den Sinn der Strafe stattdessen als rein „symbolisch“ bzw. „kommunikativ“ charakterisieren, dann haben sie vermutlich diese normative Dimension der Problematik im Blick; sie missverstehen aber, dass die Affirmation der rechtlichen Grundnorm durch den Staat kein bloß symbolischer Akt ist, sondern den Sinn hat, die – implizite oder explizite, keinesfalls bloß „symbolische“ – Setzung einer der überpositiven rechtlichen Grundnorm der Gleichwertigkeit aller Individuen widersprechenden positiven Norm durch den Staat bzw. das Rechtssystem zu vermeiden.

20

Hegel (Fn. 5), § 99, 187.

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Das alles hat dann zwar den – durchaus bedeutsamen – Nebeneffekt, dass die Geltung der Norm auch expressiv-symbolisch bestätigt und öffentlich kommuniziert wird. Vorrangig stellt die Strafe das gestörte Verhältnis der Gleichheit und Wechselseitigkeit des Anerkennungsverhältnisses aber real wieder her, ja mehr noch: Sie kann die Geltung der Norm überhaupt nur deshalb symbolisch bekräftigen, weil sie die Norm auf ihre spezifische Weise faktisch in der Welt realisiert.

V. Die Einheit von retributiver und präventiver Straftheorie Wie eingangs angekündigt, möchte ich auf der Grundlage dieser „Rehabilitation“ der retributivistischen Dimension der Strafe im Folgenden eine Perspektive skizzieren, wie diese mit der abschreckungstheoretischen Perspektive zusammengedacht werden kann. Als zentrales Defizit der Abschreckung hatte ich im ersten Abschnitt ausgemacht, dass bloße Abschreckung den Vollzug von Strafe gegenüber dem Täter, und nur gegenüber dem Täter, deshalb nicht legitimieren kann, weil sie kein Argument hat, aufgrund dessen Strafe tatsächlich als gerecht ausgewiesen werden kann. Genau das können abschreckungstheoretische Strafkonzeptionen aber nicht, da sie den Vollzug der Strafe lediglich darauf stützen können, dass die vorgängige Androhung der Strafe glaubhaft gemacht werden muss. Daher wurde es erforderlich, den Vollzug von Strafe auf eine retributivistische Straftheorie zu stützen und dies entsprechend zu begründen. Das bedeutet aber nicht, dass es falsch oder illegitim wäre, mit der Androhung von Strafe das Ziel der Abschreckung, sei es in generalpräventiver oder spezialpräventiver Hinsicht, zu verfolgen. Ein Problem entsteht bei abschreckungstheoretischen Konzeptionen der Strafe, wie ich meine gezeigt zu haben, nur dann, wenn die Abschreckung die gesamte Begründungslast der Strafe tragen muss, d. h. wenn sie nicht nur die Androhung von Strafe, sondern auch deren tatsächlichen Vollzug soll legitimieren können. Eine plausible Kritik der präventiven Straftheorie ist daher nicht gezwungen, diese in jeder Hinsicht zu verwerfen. Sie muss aber deren alleinigen Gültigkeitsanspruch und die von ihren Verfechtern oft behauptete Unvereinbarkeit mit der retributiven Straftheorie zurückweisen. Wo das geschieht, wo also keine „reine“ Abschreckungstheorie behauptet wird, lassen sich eine retributive und die präventive Dimension der Strafe sehr wohl zusammendenken. Denn gerade, wenn die Verletzung des Prinzips der wechselseitigen Anerkennung der Grund der Rechtswidrigkeit des Verbrechens ist, dann lässt sich von diesem Prinzip her nicht nur der Strafvollzug, sondern auch der Versuch, Verbrechen durch Strafandrohung zu verhindern, ohne weiteres legitimieren. Das Strafrecht ist dann ja nichts weiter als das System derjenigen Handlungsnormen, deren Einhaltung auf der Grundlage des Anerkennungsprinzips von jedem Rechtssubjekt legitimerweise gefordert werden kann und muss. Dementsprechend kann, darf und muss auf Individuen, die erwägen, diese Normen zu brechen, Zwang in Form der Strafandrohung ausgeübt werden. Oder genauer gesagt: Es ist legitim, mit der Androhung von Strafe den Zweck der Abschreckung zu verfolgen. Es ist nur immer zu bedenken,

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dass sich aus der Legitimität der Strafandrohung nicht bereits die Legitimität des Strafvollzugs folgern lässt. Der Vollzug der Strafe bedarf einer vom Präventionsgedanken verschiedenen Rechtfertigung, die den Vollzug der Strafe gerecht erweist. Wenn meine Überlegungen richtig sind, ist es gerade dasselbe Prinzip der wechselseitigen, gleichen Anerkennung, das es zum einen legitimiert, mit der Androhung von Strafe den Zweck zu verfolgen, die Begehung von Straftaten zu verhindern, wie es auch zum anderen rechtfertigt, Strafe zu vollziehen. Bei beidem – Strafandrohung und Strafvollzug – geht es im Hinblick auf den Gedanken der wechselseitigen Anerkennung als Rechtssubjekt letztlich um dasselbe: nämlich um die Erhaltung des Rechts. Diese „Erhaltung des Rechts“ ist damit der Sinn, Zweck und Geltungsgrund sowohl der Strafandrohung, wie auch des Strafvollzugs, und nicht zuletzt auch von Maßnahmen der Resozialisierung, des Täter-Opfer-Ausgleichs etc. Ein Unterschied zwischen Prävention und Retribution ergibt sich mithin nur daraus, dass das Prinzip der „Erhaltung des Rechts“ sich bei seiner Verwirklichung in die beiden unterschiedlichen Zeitdimensionen der Vergangenheit und Zukunft entfaltet. Verwirklicht wird die Erhaltung des Rechts je nach Zeitdimension in unterschiedlichen Formen: In der Zeitdimension der Zukunft wird sie durch die Strafandrohung verwirklicht, die dazu dient, einen potentiellen Verbrecher ex ante vom Begehen einer Straftat abzuhalten, indem „psychologischer Zwang“ auf ihn ausgeübt wird. In der Zeitdimension der Vergangenheit wird sie durch den Vollzug der Strafe verwirklicht, der ex post die Wechselseitigkeit, Symmetrie und Gleichheit der Anerkennungsrelation wiederherstellt, sofern diese durch ein Verbrechen beeinträchtigt wurde. Schließlich gibt es auch in der Zeitdimension der Gegenwart eine „Erhaltung des Rechts“, nämlich in Form der Vereitelung bzw. der Beendigung von Verbrechen durch polizeiliches Handeln, durch Notwehr oder durch Notwehrhilfe. Strafandrohung, Strafvereitelung und Strafvollzug gehen mithin auf dasselbe Prinzip, nämlich dasjenige der Erhaltung des Rechts zurück. Der Unterschied zwischen den dreien ergibt sich lediglich durch die Konkretisierung, die das Rechtsprinzip durch seine Verzeitlichung, d. h. seine Verwirklichung in den drei unterschiedlichen Zeitdimensionen erfährt.

Freiheit und Verantwortlichkeit unter äußerem Druck Pablo Sánchez-Ostiz Der vorliegende Beitrag soll einen Gesamtüberblick über das allgemeine menschliche Handeln bei Nötigung durch Gewalt oder Nötigung durch Drohung geben, also über Fälle, in denen dem Subjekt keine Verantwortlichkeit zuzuordnen ist. Diese Fälle werden mit dem Handeln „aus Furcht“ vor den in der Strafnorm vorgesehenen Sanktionen verglichen; für diesen Fall wird gefragt, ob hierbei die moralische Freiheit des Handelnden ausgeschlossen ist. Ferner werden sie mit den über die Norm hinausgehenden Handlungen, den supererogatorischen Verhaltensweisen, verglichen. Anders ausgedrückt, soll es hier um die Freiheit des Handelnden in den Fällen gehen, in denen auf den Willen Druck ausgeübt wird (Nötigung durch Gewalt, Nötigung durch Drohung und Furcht vor Sanktionen), dessen Intensität in den drei genannten Fällen freilich nicht dieselbe ist; anschließend folgt der Fall desjenigen, der handelt, indem er eine supererogatorische Handlung vornimmt. Da sich Jan Joerden ebenfalls mit den Themen menschliche Handlungen und Zurechnung befasst, schließt sich dieser Beitrag an die Ehrung an, die wir ihm heute zuteilwerden lassen. Als Frage formuliert hieße das, ausgehend vom Freiheitsbegriff: Warum ist derjenige, der von einem anderen durch Gewalt – oder Drohung – genötigt wird, nicht frei? Inwieweit ist derjenige frei, der Strafnormen aus Furcht vor Sanktionen einhält? Und inwieweit ist derjenige frei, der über das Gesetz hinausgehende Handlungen vornimmt? Zweck des vorliegenden Beitrags ist es, den Begriff der Freiheit des Handelns in den genannten Fällen zu identifizieren bzw. zu vergleichen und zwar unter dem Druck der Nötigung durch Gewalt und der Nötigung durch Drohung (I.), sowie aus Furcht vor Sanktionen (II.) oder in dem Bestreben, eine Belohnung zu erlangen (III.). Die Strafrechtslehre hat Kategorien entwickelt, die auf die erste Frage Antwort geben: So fordert sie, um auf eine Verhaltensweise im strafrechtlichen Sinne Bezug nehmen zu können, ein Mindestmaß an Freiheit des Subjekts. Dieselbe Lehre wiederum hat ganze Straftheorien erarbeitet – Vergeltung, Prävention usw. –, welche die zweite Frage berühren und Einfluss auf das nehmen müssen, was als Straftat betrachtet wird. Trotz ihrer Bedeutung für die systematische Kohärenz wurde der dritten Frage – der nach den supererogatorischen Verhaltensweisen – in der Strafrechtslehre weniger Aufmerksamkeit geschenkt;1 sie soll hier behandelt werden. Diese drei Fragenkomplexe hinterfragen die Straftatlehre, die wohl kaum 1

Vgl. dennoch Joerden, JRE 6, 1998, 145 (159); Hruschka/Joerden, ARSP 1987, 93 (123).

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unabhängig von den Voraussetzungen entwickelt werden kann, die auf anderen Gebieten des praktischen oder moralischen Wissens erforderlich sind.

I. Nötigung durch Gewalt und Nötigung durch Drohung 1. Überwältigende Gewalt führt dazu, dass die Freiheit des Handelnden nicht mehr besteht. Gleiches gilt in bestimmten Fällen auch für die Drohung. Mehr noch: Ungeachtet ihrer Verschiedenheit sind Gewalt und Drohung zwei Formen, eine Person anzugreifen, da durch sie die Kontrolle desjenigen verschwindet, der dieser Gewalt oder Drohung ausgesetzt ist. Genauer gesagt lässt die Gewalt die zur Erkennung einer menschlichen Verhaltensweise minimal erforderliche Selbstkontrolle verschwinden, während die Drohung nicht das Verhalten, sondern die Verantwortung für das verwirklichte Verhalten betrifft (strafrechtlich ausgedrückt beeinflusst die Gewalt das Verhalten und die Drohung die Schuld). Und auf diese Weise instrumentalisieren sie das Opfer zugunsten des Handelnden, der Gewalt ausübt oder Drohung einflößt. Dies zeigt sich bei der Nötigung als eine der Straftaten gegen die Freiheit,2 die eine dieser beiden Formen annehmen: physische Gewalt oder Nötigung durch Gewalt; und psychische Gewalt oder Nötigung durch Drohung (oder Drohung). Gewalt (Nötigung durch Gewalt) und Drohung (Nötigung durch Drohung) sind zwei Möglichkeiten, die Freiheit einer Person zu beeinträchtigen, ebenso wie denjenigen aus der Verantwortung zu entlassen, die ihnen ausgesetzt sind, sofern wir diese nicht dafür verantwortlich machen, sie nicht vermieden oder überwunden zu haben.3 2. Diese beiden Formen der Freiheitsverletzung entsprechen den beiden Willensanforderungen in der Straftatlehre. Zunächst ist der grundlegende oder ursprüngliche Wille erforderlich, der als „Volition“ bezeichnet werden kann: Daher ist das Vorliegen einer Handlung oder menschlichen Verhaltensweise als Ausgangspunkt jeder Straftatlehre erforderlich. Hinzu kommt noch die Anforderung der Freiwilligkeit bei der Schuld als Fehlen von Begründungsdruck, der dem Subjekt seine eigene Entscheidung überlässt und es nicht in den Händen derjenigen belässt, die es tyrannisieren und die Konstrukte zur Übertragung der Verantwortung ermöglichen: Typischerweise ist das die mittelbare Täterschaft. Hierbei handelt es sich um Fälle von Unzumutbarkeit, die in einigen Rechtsvorschriften auf die Fälle von Furcht zurückgeführt 2

Vgl. zu dieser Thematik Jakobs, Nötigung. Darstellung der gemeinsamen Wurzel aller Delikte gegen die Person, 2015; Mañalich, Nötigung und Verantwortung. Rechtstheoretische Untersuchungen zum präskriptiven und askriptiven Nötigungsbegriff im Strafrecht, 2009. 3 Bei den Fällen vermeidbaren Irrtums oder vermeidbarer Gewalt handelt sich um eine außerordentliche Zurechnung, ebenso wie in Fällen überwindbarer Furcht, in denen derjenige, der diese Situationen erlebt, aufgrund der Nichtvermeidung dieser Situation verantwortlich ist. Zur Kategorie der „außerordentlichen Zurechnung“ bereits Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976, 44 ff. und 68 ff., wenn auch ohne diese Begrifflichkeiten; ders., ZStW 1984, 661 (702); ders., Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, 274 ff. Auch Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs. Relationen und ihre Verkettungen, 1988, 30 – 62.

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werden können, und in anderen auf die Fälle von entschuldigendem Notstand.4 Der Wille wird unter Negierung oder Unterdrückung der Volition (oder Mindestfähigkeit) verletzt, wobei die Freiwilligkeit (oder die Fähigkeit, begründet zu handeln) beschränkt oder unterdrückt wird. In beiden Fällen ist es die Freiheit (der Wille), die auf dem Spiel steht, allerdings nicht im gleichen Sinne (Volition und Freiwilligkeit). Daher können die genannten Straftaten als Angriffe betrachtet werden, d. h. als Negierung oder Unterdrückung der Freiheit des Opfers durch physische Gewalt (Nötigung durch Gewalt, erzwungene Vergewaltigung, schwerer Raub usw.) bzw. durch psychische Gewalt (Nötigung durch Drohung, Vergewaltigung unter Drohung, Raub unter Drohung usw.).5 Beide Fälle mangelnden Willens können dem Oberbegriff „Akrasia“ zugeordnet werden, welcher das Fehlen von Willen umfasst, sei es der grundlegende Wille oder Volition, sei es der begründete Wille oder Freiwilligkeit, denen die Fälle von vis absoluta bzw. vis moralis entsprechen.6 Wenngleich der Begriff „Akrasia“ selten verwendet wird (und noch seltener auf dem Gebiet des spanischsprachigen Strafrechts), bin ich davon überzeugt, dass er sich durchaus für die Bezeichnung mangelnden Willens eignet, und in diesem Sinne wird der Begriff hier verwendet.7 Insbesondere kann Akrasia die Formen fehlenden Willens beinhalten, sei es, weil das Subjekt keine Selbstkontrolle besitzt (Volition), oder weil der Handelnde nicht genügend Willenskraft besitzt (Freiwilligkeit). 3. Die Irrtumsfälle wiederum, sei es in Bezug auf faktische Elemente, oder in Bezug auf Sinnelemente wie Rechtswidrigkeit, können unter dem Oberbegriff „Unkenntnis“ zusammengefasst werden, welcher das Fehlen von Vorstellung oder ausreichender Kenntnis bezüglich der Handlung bezeichnet; dies entspricht den Fällen des Tatbestandsirrtums bzw. Verbotsirrtums. Es ist anzunehmen, dass wir die Kenntnis im doppelten Sinne benötigen: In der Tat decken sich die genannten Fälle der Akrasia (Nr. 2) mit den beiden Fällen der Unkenntnis. Obschon der Wille nicht ins Leere läuft, sondern sich auf Gegenstände bezieht, die der Handelnde sich vorstellt, erfordert die Volition oder der grundlegende Wille die Kenntnis von Fakten 4 In jedem Fall handelt es sich nicht um Fälle, die sich auf die Qualität der Handlung auswirken (es handelt sich nicht um einen Rechtfertigungsgrund, Ausdruck einer permissiven Norm), sondern auf die Begründung des Handelnden (es handelt sich um einen Fall von Exkulpation). Dagegen: die einheitlichen Standpunkte in Bezug auf den Notstand. Vgl. in Bezug auf alle Gimbernat-Ordeig, Estudios de Derecho penal, 3. Aufl. 1990, 218 – 230. 5 Es ist daher verständlich, dass Jakobs (Fn. 2), 7, die „Nötigung als Generaltatbestand aller Delikte gegen die Person“ beschreibt. Dies wurde von Jakobs bereits 1974 vertreten (vgl. ebd., 47). Vgl. diesbezüglich Mañalich, Nötigung und Verantwortung, 249 – 258. 6 Ich habe mich an anderer Stelle mit dieser Frage befasst: vgl. Sánchez-Ostiz, Víctimas e infractores, cumplidores y héroes. La culpabilidad en clave de imputación, 2018, 15 – 30; ders., A vueltas con la Parte Especial, 2020, 47 – 54. 7 Soweit mir bekannt ist, wird er in Wright, The Varieties of Goodness, 1964, 113, sporadisch im Sinne von Willensschwäche verwendet. Dieser Begriff wird in diesem Sinne ebenfalls verwendet zumindest von Duff in: Amaya/Ho (Hrsg.), Law, Virtue and Justice, 2012, 195 ff.; Chiao, in: Dubber/Hörnle (Hrsg.), The Oxford Handbook of Criminal Law, 2014, 447 (461 – 462); sowie Husak, The Ignorance of Law. A Philosophical Inquiry, 2016, passim; vgl. diesbezüglich Yaffe, Criminal Law and Philosophy, 2018, 342 – 349.

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bzw. Kennen, während die Freiwilligkeit die Kenntnis der Bedeutung der Handlung bzw. Wissen verlangt. Und beide würden im Falle eines Tatbestandsirrtums in Bezug auf faktische Elemente bzw. im Falle eines Verbotsirrtums in Bezug auf die Beurteilung oder Rechtswidrigkeit nicht mehr bestehen. Obwohl es nicht an Differenzierungen zwischen Irrtum und Unkenntnis mangelt (sofern der Irrtum Kenntnis über den, der sich irrt, voraussetzt, während die Unkenntnis das Fehlen von Kenntnis beinhaltet), wird die Unkenntnis hier als Oberbegriff für die Fälle des Fehlens ausreichender Kenntnis in Bezug auf die Handlung verwendet, dies auf beiden Stufen, tatsächlich und rechtlich. Ebenso besteht keine Freiheit mehr, wenn sich das Subjekt in einer Situation der Unkenntnis befindet: wenn es keine Kenntnis der Fakten hat oder nicht um die Bedeutung seiner Handlungen weiß. Und so wird auch die kognitive Leistungsfähigkeit des Subjekts angegriffen, indem entweder das Kennen oder die minimale Kenntnis negiert oder unterdrückt oder das Wissen oder die Kenntnis über die Bedeutung eingeschränkt oder unterdrückt wird. In beiden Fällen steht ebenfalls die Freiheit auf dem Spiel. Daraus folgt, dass die Irreführung eines anderen einen Eingriff in dessen Freiheit darstellt.8 Dass die Irreführung nicht als Delikt definiert ist, ändert nichts daran, dass sie eine Möglichkeit darstellt, Einfluss auf den anderen zu nehmen.9 4. Unkenntnis und Akrasia bestimmen die Fälle des Mangels an Freiheit entweder wegen fehlender Kenntnis oder fehlendem Willen. Und bei beiden wird wiederum auf die tatsächlichen (Kennen und Volition) und wertenden Aspekte (Wissen und Freiwilligkeit) Bezug genommen. Letztlich besteht die Freiheit in den Fällen von Unkenntnis (Tatbestandsirrtum oder Verbotsirrtum) oder Akrasia (physische oder psychische Nötigung, also: Gewalt oder Drohung) nicht mehr. Im ersten Fall, der Unkenntnis, wird die kognitive Leistung des Subjekts beeinträchtigt, die sich, je nachdem, ob sie sich auf faktische Aspekte oder auf Sinnaspekte (Kennen bzw. Wissen) bezieht, weiter aufgliedert. Im zweiten Fall, der Gewalt, wird die volitive Leistung des Subjekts beeinträchtigt, die sich, je nachdem, ob sie sich auf faktische Aspekte oder auf Sinnaspekte (Volition bzw. Freiwilligkeit) bezieht, weiter aufgliedert. Dies setzt voraus, dass der Adressat normativer Botschaften als handlungsfähiges Subjekt betrachtet wird, wenn er sich die faktischen Elemente und die Sinnelemente vorstellen kann und auch will. Dieses Subjekt wird dagegen nicht handlungsfähig sein,

8 Dass ihr Schweregrad geringer sein soll als bei gewalttätigen Angriffen (Nr. 2), sollte anhand der konkreten Tatbestände diskutiert werden; in jedem Fall bleibt ihre Existenz hiervon unberührt. Ganz offensichtlich wird das Opfer sowohl bei gewalttätigen Angriffen als auch bei den Täuschungsfällen verdinglicht (so der von Silva Sánchez verwendete Ausdruck „Malum passionis“, vgl. Silva Sánchez, Mitigar el dolor del Derecho penal, 2018, 25). 9 Soweit sie Möglichkeiten des Angriffs auf die kognitive Leistung einer Person darstellt (insbesondere durch Täuschung, durch Erregen eines Irrtums, durch Betrug, Lüge usw.), ist davon auszugehen, dass Jakobs den Betrug unter diesem Gesichtspunkt betrachtet: vgl. Jakobs (Fn. 2), 34 – 35, der zu folgendem Schluss kommt: „Mit anderen Worten, auch der Betrug ist – wie jedes Delikt gegen die Person – ein Sonderfall der Nötigung!“ (ebd., 35).

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wenn es sich im Zustand der Unkenntnis oder Akrasia befindet.10 Diese Folge bedarf keiner langen Begründung. Sie steht im Einklang mit der Regelung des in unterschiedlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Ausschlusses der strafrechtlichen Verantwortlichkeit; diese ist verbunden mit der Definition unterschiedlicher Arten von Delikten gegen die Person, deren Grundarten der Übergriff mittels Nötigung durch Gewalt und Nötigung durch Drohung sind und denen das Herbeiführen von Unkenntnis (verschiedene Arten von Täuschungen) hinzuzufügen ist; darüber hinaus entspricht sie den klassischen Rechtsinstituten des Ausschlusses von moralischer Verantwortlichkeit (ignorantia, vis, metus; Tatbestandsirrtum sowie Verbotsirrtum, Unzumutbarkeit; duress, mistake of law usw.). In diesem Zusammenhang ist die Erwägung von Interesse, ob der aus Furcht vor Sanktionen Handelnde ohne Freiheit handelt, weil Angst auf ihn einwirkt. Dies ist kein ungewöhnlicher Fall, sondern die Ausgangslage für die Präventionsthesen (general- und spezialpräventive Thesen) zur Strafbegründung, bei denen die Strafnorm auf ihren Adressaten einwirken soll. Wir werden uns im Anschluss damit befassen.

II. Normbedingter Zwang 1. Wer die Norm einhält, weiß, was er tut und kennt möglicherweise den Sinn seines Handelns, wobei er sich die Norm und die ihr zugrunde liegenden Wertungen möglicherweise sogar zu eigen macht. Für das Recht genügt es, dass der Handelnde – der Täter – erkennt, dass er handelt (erste Stufe: in Kenntnis und mit Volition) und weiß, dass er normwidrig handelt (zweite Stufe: wissentlich und freiwillig). Dagegen interessiert sich das Strafrecht oftmals nicht für die Frage nach dem Verhalten desjenigen, der die Norm eingehalten, also beispielsweise kein Tötungsdelikt begangen hat. Das Verhalten desjenigen, der nicht tötet, scheint das Strafrecht im Allgemeinen nicht zu interessieren: Wenn die Norm eingehalten wurde, ist das Ziel erreicht. Dennoch stellt sich in diesen Fällen die Frage, ob der Anlass oder Grund, aus dem die Norm eingehalten wird, irrelevant ist oder ob es hierfür einer höheren moralischen Kenntnis bedarf; so etwa das Handeln aus Achtung vor dem Recht und nicht aus Furcht vor Bestrafung. Ist derjenige, der aus Furcht vor Sanktionen handelt, nicht mehr frei? 2. Furcht schließt die strafrechtliche Verantwortlichkeit aus, und tatsächlich wird dies durch die Kategorien Unzumutbarkeit einer anderen Verhaltensweise, unüberwindbare Angst und entschuldigender Notstand dort bewirkt, wo sie zulässig sind.11 10 Die Bedeutung, die Husak (Fn. 7), 150, dem Begriff der Akrasia verleiht, stellt sich ein wenig anders dar: In seiner Argumentation geht es nicht so sehr um Willensschwäche, als vielmehr um Verhaltensweisen, bei denen das Subjekt sich – ungeachtet der Anerkennung, dass es moralische Gründe für die Handlung hat – nicht für diese konkrete Handlung entscheidet; es handelt sich um eine Verhaltensweise, die der Abwägung der Begründungen entgegensteht, die wir selbst als ausreichend wahrnehmen (ebd., 188, 215). 11 Vgl. oben I.2.

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Sie alle können als Ausdrucksformen eines Handelnden betrachtet werden, der im konkreten Fall in seinem normwidrigen Handeln nicht uneingeschränkt frei ist. Die Reaktionsfähigkeit des Handelnden auf die Botschaft der Strafnorm ist wiederum ein Erfordernis der Präventionsthesen (General- oder Spezialprävention, Abschreckung usw.), auch wenn diese nicht immer die Freiheit des Empfängers erforderlich machen.12 Insbesondere fordert Feuerbach, Verfechter der Generalprävention, für den die Freiheit nicht unbedingt notwendige Voraussetzung für die Handlung und daher für die Wirkung der Sanktion auf den vernünftigen Bürger ist, dies nicht.13 Und auch von Liszt, Verfechter der Spezialprävention, erklärt, dass er auf die Freiheit verzichtet.14 Obgleich sich nicht alle Verfechter der Prävention zur Handlungsfreiheit des Subjekts äußern15, ist doch festzustellen, dass vom Adressaten Reaktionsfähigkeit auf die Strafnorm erwartet wird. Ansonsten wäre es sinnlos, von Prävention zu sprechen, sei es durch die verhängte Sanktion, sei es durch die Strafnorm. Aus diesem Grund behandelt die Straftatlehre die Fälle der Nichtverantwortlichkeit wegen mangelnder Kenntnis der Norm und wegen mangelnder Willenskraft. Das sind die Fälle der Unkenntnis des Rechts (Verbotsirrtum oder Irrtum in Bezug auf die Rechtswidrigkeit) bzw. Unzumutbarkeit einer anderen Verhaltensweise (oder entschuldigender Notstand). Nach der vorstehend vorgeschlagenen Terminologie sind das die Fälle der Unkenntnis (des Rechts) und Akrasia (ohne Freiwilligkeit). 12

Vgl. diesbezüglich Sánchez-Ostiz, Imputación y teoría del delito, 2008, 229 – 231, 270, 360 – 361. 13 Für Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Teil I, 1799 (Nachdruck 1966), VIII: „Eben darum war ich auch hin und wieder genöthigt, Metaphysiker su seyn. Unsre Criminalisten sprechen von der Freiheit, als einem Prinzip der äusern Strafbarkeit der Handlungen, und jener Begriff gehört, wie ich vollkommen überzeugt bin, blos und allein in die Moral und ist in dem Criminalrecht, sowohl wegen der Natur der Freiheit, als auch wegen der Natur der Strafe, von gar keinem Gebrauch.“ Und in Feuerbach, Revision, II, 1800 (Nachdruck 1966), lehnt es dieser, wenn er die Grundlagen der Strafbarkeit in Revision, II, 41 – 74 darlegt, einmal mehr ab, dass die Freiheit Grundlage und Grund für die rechtliche Zuordnung sei (vgl. ebd., 67 in Fn.*). Dies sind keine vereinzelten Hinweise, sondern ist eines der grundlegenden Argumente seines Ansatzes. 14 Vgl. von Liszt, in: ders., Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Band II, 1905 (Nachdruck 1970), 75 (85): „Für das Strafrecht gibt es keine andere Grundlage als den Determinismus“. Ähnlich von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 2. Aufl. 1884, 137 – 138. Und an anderer Stelle behauptet er, die Frage des freien Willens bei der strafrechtswissenschaftlichen Tätigkeit müsse außen vor bleiben (vgl. ebd., 218). Vgl. auch ebd., 290, wo er darlegt, dass wenn die Strafrechtswissenschaft darin besteht, die Straftat als Produkt sozialer Beziehungen zu untersuchen, diese mit der Frage der Freiheit nichts zu tun hat. An anderer Stelle erklärt von Liszt, dass das Strafrecht der Freiheit bedarf; allerdings wird diese als bloße Selbstbestimmung aus bestimmten Gründen verstanden und nicht als Freiheit im metaphysischen Sinne: vgl. ders., Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 2. Aufl. 1884, 137 – 138; ders., Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 14./15. Aufl. 1905, 158. 15 Mehr noch: die Frage der Freiheit im Präventionsansatz von Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 2. Aufl. 1991, § 17, Rn. 23 – 25, wird als irrelevant betrachtet.

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3. Wer aus Furcht vor Sanktionen handelt, legt, soweit die Freiheit Kenntnis und Willen – insbesondere das Kennen der Norm und die Freiwilligkeit, sie einzuhalten, – erfordert,16 ein Verhalten an den Tag, dessen Freiheit fragwürdig ist. Diese Freiheit ist nach den Bedingungen des Strafrechts sicherlich ausreichend. Mehr noch: Würde das Strafrecht wegen der Gründe des Handelnden die Freiheit des Bürgers, der normenkonform handelt, negieren, hätte es noch weitaus mehr Grund, die Freiheit des Straftäters zu negieren. Dennoch ist dieses Handeln in Bezug auf die Freiheit im moralischen Sinne unzureichend: Wer aus Furcht vor Sanktionen handelt, tut dies mit ausreichender Volition und Freiwilligkeit, wenn vielleicht auch bedingt durch einen Faktor, der die Handlung qualitativ beeinflusst. Handeln aus Furcht vor Sanktionen bedeutet nicht Handeln aus einem weiteren möglichen, vorstellbaren Grund. Letztendlich ist mit Handeln das Handeln aus Gründen gemeint, zu denen unter anderem das Handeln aus Furcht vor Sanktionen zählt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen weiteren unter allen vorstellbaren Gründen. Meines Erachtens handelt derjenige, der aus Furcht vor in der Norm formulierten Sanktionen agiert, mit Freiheit – allerdings nur in einem verhältnismäßig schwachen Sinne. Seine Situation unterscheidet sich von demjenigen, der aus Achtung vor der Norm handelt, aufgrund des Wertes, den diese darstellt, aufgrund des rechtlichen Gutes usw. Die Behauptung, dass der Täter, der sich entscheidet, gegen die Norm zu verstoßen, nicht frei handeln würde, schließt nicht aus, dass es sich um einen Missbrauch der Freiheit handeln könnte – Grund genug, um ihn strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. In Wirklichkeit ist sein Handeln kein uneingeschränkt moralisches Handeln. Dies verhindert indes nicht, dass er sanktioniert werden kann, sondern dass er wegen dieses Freiheitsmissbrauchs sanktioniert wird.17 Und auch das Handeln desjenigen, der Furcht vor 16 Zusätzlich zur grundlegenden Freiheit (Handeln mit Kenntnis und mit Volition): vgl. oben I.4. 17 Vgl. Sánchez-Ostiz, La libertad del Derecho penal y otros estudios sobre la doctrina de la imputación, 2014, 206 f., in dem ich darlege, wie der Täter, der wissentlich und freiwillig entgegen der strafrechtlichen Norm handelt, trotz allem nicht frei handeln würde. Nur derjenige Handelnde würde uneingeschränkt freiwillig handeln, der sich dem Guten, das als solches erkannt wird, verpflichtet, weshalb der Täter nicht frei handeln würde, da er sich dafür entscheidet, eine Tat – aus welchem Grund auch immer – zu begehen (doch offenbar nicht, um das Gute als solches zu erkennen, sondern aus Hass, Rache, Geiz, Vergnügen usw., oder gar, „um Gerechtigkeit zu üben“). Folglich würde es ihm, auch wenn er seine (anthropologische) Grundfreiheit ausübte und volitiv handelte, an dieser Freiwilligkeit fehlen, die die Voraussetzung für die volle Willensfreiheit ist. Dennoch verhindert dies nicht den Rückgriff auf das Strafrecht, weil dort die angeborene grundlegende Freiheit gewährt wird; dies ist die Freiheit anthropologischer Art und der Volition: die Freiheit würde bereits mit der grundlegenden oder anthropologischen Freiheit und mit Ausübung der Volition bestehen, und nicht unbedingt in Bezug auf die erworbene Freiheit. Mit dieser Grundlage für die angeborene Freiheit bestünde bereits ein Mindestmaß an persönlicher Intervention, um im Strafrecht Zurechnungen vornehmen zu können; dies würde bedeuten, dass für die Schuld keine (uneingeschränkte) Freiheit erforderlich ist. Obgleich keine Freiwilligkeit im vollen Sinne besteht, würde diese wegen einer Handlung unabhängig davon, was der Handelnde ausführen sollte, aufgrund eines Freiheitsmissbrauchs zugeschrieben. Dies erklärt, warum das Schuldurteil aufgrund des rechtswidrigen Verhaltens dem Handelnden Vorwürfe macht. Aus dieser Sichtweise geht hervor, dass sich die Schuld nicht auf die uneingeschränkte moralische Freiheit gründet, wenn man

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Strafe hat, wäre im eigentlichen Sinne kein moralisches Handeln. Dies bedeutet nicht, dass dies irrelevant wäre oder dass man die Adressaten der Norm davon abhalten müsste, sie aus diesem Grund zu befolgen. Das Strafrecht hat nicht die Aufgabe, im moralischen Sinne „vollständige“ Verhaltensweisen zu bewirken. Seine Aufgabe reicht bis zu dem Punkt, an dem die wesentlichen Aspekte des sozialen Lebens geschützt werden können, ohne ein höheres Übel zu verursachen, das man zu verhindern sucht. Nach meinem Verständnis liegt uneingeschränkt moralisches Verhalten dann vor, wenn der Handelnde sich als Grund für die Handlung den Wert oder das Gute, welches die Norm verkörpert, zu eigen macht. Es ist nicht erforderlich, dass der Adressat so weit geht, sich mit dem vom Gesetzgeber angestrebten Grund zu identifizieren, da auch dieser nicht immer einen moralischen Wert darstellen wird. Ich behaupte lediglich, dass das uneingeschränkt moralische Handeln darin besteht, als Grund für die Handlung das Gute oder den Wert, den die Norm schützt, anzustreben. 4. Dies bedeutet nicht, dass das Handeln aus Furcht vor Sanktionen und das Handeln aus Achtung vor dem Guten oder vor dem Wert keinen Unterschied macht. Um die Fälle der Angst (welche die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließen) vom Fall des Handelns aus Furcht vor Strafe zu unterscheiden, bedarf es zunächst eines Ansatzes, der beide Inhalte einschließt. Dieser Ansatz des Handelns aus Furcht vor Strafe wiederum müsste, obgleich er den Willen beeinflusst, auch die kognitiven Aspekte zum Ausdruck bringen, die wir neben den volitiven Aspekten für das menschliche Handeln gefordert haben. Konkret behaupte ich, dass der aus Furcht vor Strafe Handelnde durch Zwang beeinflusst wird. Dieser Zwang kann zwar nicht die Zurechnung, ein Spezifikum des Strafrechts,18 verhindern, beeinflusst jedoch durchaus die Zurechnung im uneingeschränkt moralischen Sinne. Wer aus Furcht vor Strafe handelt, tut dies mit klarem Verstand; dabei geht es ihm jedoch nicht um Achtung vor dem Guten oder dem Wert, den die Norm darstellt, sondern darum, das Übel der Sanktion für sich selbst zu verhindern. Und das bedeutet Handeln aus Zwang: Es setzt nicht nur voraus, dass man volitiv und freiwillig handelt, sondern auch, dass diese Freiwilligkeit die Furcht vor Strafe als Grund des Handelns einbezieht. Die Freiheit des Handelnden im moralischen Sinne ist keine uneingeschränkte Freiheit, weil es sich um einen unzureichenden Grund handelt. Und zwar, weil ihr Grund nicht der Wert ist, den die Norm schützt oder weil der Handelnde sich nicht für das Gute, das als solches erkannt wird, entscheidet. Eine Entscheidung aus anderen Gründen lässt die ausreichende Freiheit nicht schwinden, damit das Recht, insbesondere darunter etwas Umfassendes und Vollkommenes versteht (wie wenn sich, nachdem wir uns so lange mit dem „Anders-handeln-Können“ beschäftigt haben, herausstellen sollte, dass dies nicht die entscheidende Frage war). Was sich zweifellos auf die Freiheit stützt, ist das Recht, „das Moralische“. Bei der strafrechtlichen Schuld dagegen ist die Frage eine andere: die des Missbrauchs der Freiheit. 18 Diese Entscheidung erfordert nach der Formulierung, die Hruschka, Rechtstheorie, Band 22, 1991, 449 – 460, allgemein verwendet, sowohl die erste Zurechnungsstufe oder imputatio facti als auch die zweite Zurechnungsstufe oder imputatio iuris.

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das Strafrecht, eingreift, doch sie beeinflusst das Handeln im uneingeschränkt moralischen Sinne. 5. Wenn das uneingeschränkt moralische Handeln ein Handeln aufgrund des Wertes, den die Norm darstellt, erfordert – wie wäre dieses zu bezeichnen? Das Handeln desjenigen, der nicht aus Zwang handelt, könnte als Handeln aus Überzeugung bezeichnet werden. Sowohl der Zwang als auch die Überzeugung nehmen Bezug auf die willentlichen Aspekte des Handelnden. Und in gleicher Weise wie wir vorstehend einen kognitiven Aspekt gefordert haben, der dem volitiven Aspekt entspricht, weil der Wille nicht aus dem Nichts agiert, sondern in Bezug auf bekannte Ziele, könnte man auch hier auf einen kognitiven Aspekt zurückgreifen. In der Tat müsste dieser voluntative Aspekt, der bereits erwähnt wurde (Grund für die Handlung sowie Handeln, aber nicht aus Zwang, sondern für das Gute), mit einem kognitiven Aspekt einhergehen und diesem voranstehen. Daher ließe sich meines Erachtens behaupten, dass, wer aus der Achtung vor dem Guten, das die Norm darstellt, den Grund seines Handelns macht, bewusst gut handelt. Bewusst gut handeln würde in diesem Zusammenhang bedeuten, sich das Gute oder den Wert, den die Norm schützt, als möglichen Grund für das Handeln vorzustellen. Bewusst gut handeln und Handeln aus Überzeugung sind keine Synonyme, sondern Ausdruck der beiden Aspekte (kognitiv bzw. volitiv) des uneingeschränkt moralischen Handelns.19 Dies wären die spezifischen Inhalte des Wissens und der Freiwilligkeit bei einem moralischen Zurechnungsurteil.20 Ebenso wie die Freiheit in den Fällen der Unkenntnis und Akrasia nicht mehr besteht, ist auf beiden Zurechnungsstufen Raum für die Identifizierung der Fälle des Fehlens von uneingeschränkt moralischer Vorstellung – bzw. aus Unvernunft –, und Fehlens von uneingeschränkt moralischem Willen – bzw. aus Zwang. Daher bedeutet das Handeln aus Unvernunft bzw. unvernünftiges Handeln21, dass dem Subjekt 19 Bei diesem Ansatz empfiehlt es sich, zu fragen, ob beide Kategorien – das bewusst gute Handeln und das Handeln aus Überzeugung – eine dritte Zurechnungsstufe darstellen, die über die Stufe der Schuld (die auf der zweiten Stufe wirkt) hinausgeht. Ich meine, dass dies nicht zutrifft. „Bewusst gut handeln“ und „Handeln aus Überzeugung“ bilden keine dritte Zurechnungsstufe über der imputatio facti und der imputatio iuris. Es handelt sich vielmehr um die spezifischen Inhalte des Wissens und der Freiwilligkeit bei Personen, die unter Einhaltung der Norm handeln sowie bei Personen, deren Handlung über die Norm hinausgeht. Das sind die gebotenen Verhaltensweisen sowie die supererogatorischen Verhaltensweisen. Anders ausgedrückt: wir haben es bei der normenkonformen (angepassten) Handlung und bei der über die Norm hinausgehenden (supererogatorischen) Handlung mit dem Inhalt der zweiten Zurechnungsstufe zu tun. Letztlich handelt es sich bei der moralischen Zurechnung nicht um eine dritte Zurechnungsstufe, sondern um das Wesen der Handlung, die nicht gegen die Norm verstößt, sondern sie erfüllt (und die somit nicht verdienstlich ist), und um die Handlung, die über die Norm hinausgeht (und die somit durchaus Lob verdient). 20 Bei der zweiten Zurechnungsstufe oder imputatio iuris (also parallel zu den Urteilen der imputatio iuris). Vgl. Fn. 16. 21 Etym., nescio, nicht wissen, ignorieren; daher stammen nesciencia und nescius. Dies könnte als Bezeichnung für das unvollkommene moralische Handeln dienen, bei dem die Vorstellung des Sinnes des Guten fehlt.

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der Handlung die Vorstellung des Sinnes des Guten der Handlung, die das Subjekt vornimmt oder gerade ausführt, fehlt. Und beim Handeln aus Zwang, dass das Subjekt aus Furcht vor Sanktionen handelt oder aus einem anderen Grund als derjenige, der sein Handeln vollständig macht, handelt. Letztlich würden Unvernunft und Zwang (rectius: unvernünftig handeln, unvernünftigerweise oder aus Unvernunft, sowie Handeln aus Zwang) das bewusst gute Handeln und das Handeln aus Überzeugung ausschließen. Nach der Klärung des so verstandenen Begriffs „Freiheit“ des Handelnden, der aus Furcht vor Sanktionen agiert (ausreichende Freiheit für das Recht, doch nicht über das Recht hinausgehend) und der Unterscheidung von dem, der die Norm aus Überzeugung einhält (Freiheit im uneingeschränkt moralischen Sinn), bleibt uns noch zu untersuchen, ob wir, wenn wir beim Verhalten desjenigen, der über die Norm hinausgeht, fordern, dass er „aufrichtig“ – und nicht im Bestreben, eine Belohnung oder einen Preis zu erlangen – handeln muss (beim Verhalten desjenigen, der die Norm einhält, entsprechen diese beiden Fälle der Sanktion). Wenn wir hierfür fordern, dass er für das Gute, das die Norm darstellt, handelt, ist es dann erforderlich, dass der supererogatorisch Handelnde sich ebenfalls nur um das Gute kümmert, oder lassen wir zu, dass er aufgrund einer Belohnung handeln darf? Dies ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.

III. Überpflichtmäßiges Handeln 1. Damit das moralische Handeln als uneingeschränkt bezeichnet werden kann, sind sowohl Kenntnis als auch Wille erforderlich, wobei beide Begriffe zusätzlich in einem doppelten Sinn existieren: Kennen und Wissen, zuzüglich Volition und Freiwilligkeit. Die zweiten – Wissen und Freiwilligkeit – setzen sich im Falle des uneingeschränkt moralischen Handelns zusammen aus dem bewusst guten Handeln bzw. aus dem Handeln aus Überzeugung. Diese Anforderung wirft die Frage auf, ob der Handelnde, um von einem uneingeschränkt moralischen Handeln desjenigen sprechen zu können, der über die Norm hinausgeht – d. h. bei den supererogatorischen Handlungen – bewusst gut und aus Überzeugung handeln muss. Mit anderen Worten: Wenn das Handeln aus Furcht vor Sanktionen das uneingeschränkt moralische Handeln nichtig macht, was geschieht dann, wenn im Bestreben, eine Belohnung oder einen Preis zu erlangen, gehandelt wird? Gewiss müsste berücksichtigt werden, dass dieselben Gründe, die in den Fällen des Zwangs angeführt werden, um das uneingeschränkt moralische Handeln anzuzweifeln, auf die Fälle zuträfen, bei denen der Handelnde eine Belohnung oder einen Preis oder irgendeinen anderen vergleichbaren Anlass sucht. 2. Die Norm einzuhalten und über sie hinauszugehen ist dahingehend vergleichbar, als dass in beiden Fällen der Verhaltensstandard beachtet oder eingehalten wurde (man tötet nicht, man rettet usw.); dennoch, wenn man über das Geforderte hinausgeht (jemand wird gerettet, obwohl der Retter dabei sein eigenes Leben in Gefahr

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bringt), wird nicht nur die Norm eingehalten, sondern „überschritten“. Im ersten Fall, wenn wir unter Beachtung der Normen handeln, verdienen wir weder Lob noch Tadel; trotzdem verdienen wir gegebenenfalls Lob, wenn unser Handeln über das allgemein Geforderte hinausgeht. Ist das Lob dadurch bedingt, dass der Handelnde bewusst gut oder aus Überzeugung handelt? 3. Ich bin der Ansicht, dass der Handelnde in beiden Fällen einige interessante Aspekte vorweist. Einerseits handelt, wer die Norm einhält, wer sich also sozusagen innerhalb des Gesetzes bewegt, und zwar auch aus juristischer Sicht: dass weder Vorwurf (er ist völlig unschuldig!) noch Lob (letztlich tat er, was er tun musste!) berechtigt sind, ändert nichts daran, dass sein Handeln einen interessanten Aspekt aufweist. Obwohl sich das Recht nicht für die Erforschung der Gründe oder Ursachen des Handelns interessiert,22 sind diese für die Moral sehr wohl von Interesse. In moralischer Hinsicht können wir diese Fälle des uneingeschränkt moralischen Handelns, in denen der Handelnde bewusst gut oder aus Überzeugung handelt, durchaus von den Fällen unterscheiden, in denen der Handelnde aus fadenscheinigen Gründen handelt. In rechtlicher Hinsicht ist das Interessante bei beiden Fällen, dass die Norm eingehalten wurde, jedoch können wir in moralischer Hinsicht nicht sagen, dass es sich um ein uneingeschränktes Handeln handelt, wenn der Handelnde nicht bewusst gut oder aus Überzeugung handelt. Andererseits obliegt es in den Fällen der supererogatorischen Verhaltensweisen ebenfalls nicht dem Recht, die Gründe für eine heroische Handlung zu erforschen (es könnte sich ebenso um einen Kopfgeldjäger wie um einen Helden handeln, der sich in der Überzeugung, das Gute für den anderen zu suchen, in Gefahr begibt). Doch in moralischer Hinsicht können wir lediglich behaupten, dass der Handelnde verdienstlich handelt, wenn dieses Handeln, das über die Norm hinausgeht, bewusst gut und aus Überzeugung erfolgte. Letztlich wären das bewusst gute Handeln und das Handeln aus Überzeugung die Formen, in denen sich das Wissen und die Freiwilligkeit sowohl in den an die Norm angepassten Verhaltensweisen als auch in den supererogatorische Verhaltensweisen konkretisiert.23 4. An dieser Stelle ist bezüglich der Norm zwischen drei Fällen einer Handlung, welche die Norm bestimmt, zu unterscheiden. Im Fall i) des normenkonformen Handelns bzw. der an die Norm „angepassten“ Verhaltensweisen streben das Wissen und die Freiwilligkeit, die das Recht fordert (das rechtliche Handeln) nicht danach, die Gründe für das Handeln zu erforschen; die Moral dagegen schon. Es ist daher in rechtlicher Hinsicht irrelevant, die Gründe für das Einhalten der Norm durch den 22

Man könnte entgegnen, dass der Gesetzgeber bisweilen vorsieht, diese Gründe als subjektive Tatbestandsmerkmale des Unrechts zu berücksichtigen (beispielsweise Habgier bei Mord, § 211 StGB; Zueignungsabsicht bei Diebstahl, § 242 StGB), so dass auch die Motivation des Handelnden in die rechtliche Würdigung einfließt. Doch genau genommen handelt es sich nicht um Schuldgründe, sondern um subjektive Tatbestandsmerkmale des Unrechts in der Legaldefinition für strafbares Verhalten. Diese in der Strafrechtslehre wohlbekannten subjektiven Tatbestandsmerkmale des Unrechts sind mit den Gründen, die wir nun behandeln, nicht zu ermitteln. 23 Vgl. Fn. 20.

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Handelnden zu erforschen. In moralischer Hinsicht ist das Handeln im vollen Sinne durchaus relevant; hierzu sind sowohl das Handeln im Bewusstsein für den Sinn des Guten, das die Handlung enthält, als auch das Handeln aus Überzeugung in Bezug auf dieses Gute erforderlich. Im negativen Sinne ist dies nicht möglich, wenn der Handelnde unvernünftig (bzw. aus Unvernunft oder „unvernünftigerweise“) agiert oder sich durch Zwang leiten lässt. Wenn sich daher nicht die Frage stellt, ob der Handelnde die Norm einhält, heißt das, dass er sich nichts vorstellt, was über die „Einhaltung des Gesetzes“ hinausgeht und er nicht darüber hinausblickt. Im Fall ii) des normwidrigen Handelns, der „unrechtmäßigen“ Verhaltensweisen, verlangt das Recht für die Zuschreibung von Verantwortlichkeit, dass der schuldhaft Handelnde ohne weiteren Inhalt als das Wissen um die Bedeutung der normwidrigen Handlung und dessen ungeachtet des Verlaufs der nachfolgenden Handlung nicht mit dem Willen unterbricht, wissentlich und freiwillig handelt. Dies ist für das Vorwurfsurteil, das der Schuld eigen ist, ausreichend. Auch hier strebt das Recht nicht danach, die Gründe für das Handeln zu erforschen. Ihm genügten das Wissen und die Freiwilligkeit im grundlegenden, minimalistischen oder ausreichenden Sinne des Wissens um die rechtswidrige Bedeutung des Verhaltens, und dass dieses nicht verhindert wird. Negativ ausgedrückt ist dies im Falle der Unkenntnis (Verbotsirrtum) oder Akrasia (ohne ausreichende Freiwilligkeit) des Handelnden nicht möglich. Und im Fall iii) der supererogatorischen Verhaltensweisen oder des „überpflichtmäßigen Handelns“ ist es in Bezug auf das über die Norm hinausgehende Verhalten rechtlich ausreichend, wissentlich und freiwillig zu handeln. Als Gegenstück zu demjenigen, der normwidrig handelt, reicht es nun aus, sich vorzustellen, dass die Norm überschritten wird und dementsprechend zu handeln, und zwar ohne ergründen zu müssen, was wohl die Gründe für sein Handeln sein mögen. In Bezug auf das uneingeschränkt moralische Handeln, d. h. auf die Moral, wird darauf hingewiesen, dass bewusst gut und aus Überzeugung gehandelt werden muss. Hierzu zählt auch, dass er in dem Wissen handeln muss, dass er ein Gut rettet, ohne dazu verpflichtet zu sein, und dass er es für das Gute tut, das die Norm darstellt, und nicht aus fadenscheinigen Gründen. Dies wäre dann der Fall, wenn der Handelnde die heroische Bedeutung seines Handelns nicht kannte oder sich von einem anderen Grund als der Achtung und der Suche nach dem Guten leiten ließe (wie beispielsweise beim „Kopfgeldjäger“ oder bei jemandem, der Schlagzeilen machen will). Man kann daher bei den supererogatorischen Verhaltensweisen von „Irrtumsfällen“ sprechen. Wenn der Handelnde sich nicht bewusst ist, dass sein Verhalten über das Gebotene hinausgeht – in diesem Fall wäre dies ein direkter Irrtum – und er kein Lob verdient24 ; und auch, wenn der Handelnde irrtümlicherweise annimmt, überpflichtmäßig zu handeln und in Wirklichkeit doch nur die Bestimmungen der Norm einhält, würde es sich hier um einen mit dem Umkehrirrtum vergleichbaren Fall handeln (und dies wäre genau ge24 Wobei es das Verdienst und nicht die moralische Verschuldung ist, welches zu einer Sanktion führt. Deswegen sind die Maßstäbe für Irrtum und Vermeidbarkeit dieses Irrtums weniger strikt – oder weniger verschieden – als der Irrtum über die Rechtswidrigkeit, der im Rahmen der Schuld geprüft wird.

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nommen keine supererogatorische Verhaltensweise). Dass im Recht die Gründe für eine Handlung irrelevant sind, bedeutet nicht, dass es diesen Gründen in moralischer Hinsicht an Bedeutung fehlt. Für die Bedeutung ist es durchaus von Interesse zu berücksichtigen, ob der Handelnde bewusst gut (und nicht aus Unvernunft) und aus Überzeugung (und nicht aus Zwang) handelte. Wohlgemerkt: Wer aus Furcht vor Strafe handelt, tut dies aus Zwang; und parallel dazu würde, wer in dem Bestreben handelt einen Preis zu erlangen, „aus Zwang“ handeln, weil ihn ein Ziel antreibt, das nicht das Gute als solches ist. Ob eine Person einen Preis oder ein Lob (als Gegenstück zum Schuldvorwurf) verdient, bedeutet im Recht nicht notwendigerweise, dass es sich dabei in moralischer Hinsicht um einen „guten Menschen“ handelt; dies in dem Fall des Kopfgeldjägers, der sein Leben riskiert und erreicht, was sonst keinem gelingt – doch alles nur, um das Preisgeld zu erlangen.

IV. Fazit 1. Menschliches Handeln erfordert Kenntnis und Willen (Freiheit). Die Kenntnis untergliedert sich in die folgenden drei Stufen: Kennen, Wissen und „bewusst gutes Handeln“; der Wille in Volition, Freiwilligkeit sowie „Handeln aus Überzeugung“. Diese Begriffe schließen sich, wenn sie gemeinsam auftreten, jeweils aus: i) Tatbestandsirrtum, ii) Verbotsirrtum und iii) „Handeln aus Unvernunft“, für a) die Kenntnisfälle, die alle unter den gemeinsamen Begriff der Unkenntnis fallen können; und b) für die Willensfälle, die alle dem Begriff Akrasia zugeordnet werden können, i) Nötigung durch Gewalt, ii) Nötigung durch Drohung (oder Drohung), sowie iii) Zwang. 2. Diese Dimension des menschlichen Handelns steht sowohl im Einklang mit der Feststellung der Quellen der Verantwortlichkeit im Strafrecht für die schuldhafte Handlung als auch mit den normgerechten und den supererogatorischen Handlungen. 3. Dieses Verständnis des Handelns setzt voraus, dass der Freiheitsbegriff, mit dem das Recht operiert, nicht die gesamte begriffliche Realität ausschöpft. Er lässt noch immer den Begriff der moralischen Freiheit zu, der umfassender ist. Dies bedeutet nicht, dass das Strafrecht auf den Begriff der Freiheit verzichten muss; es bedeutet vielmehr, sich mit denjenigen Aspekten des Begriffs zu begnügen, die nicht nur erforderlich, sondern vor allem möglich und zweckmäßig sind. Das Strafrecht muss nicht auf den Begriff der Freiheit verzichten. Freiheit ist jedoch mehr als nur das Entscheiden ohne Nötigung durch Gewalt und ohne Nötigung durch Drohung. Die Freiheit des moralischen Handelns ist vollends erreicht, wenn sich das Handeln bei Volition und Freiwilligkeit (oder anders ausgedrückt: ohne Nötigung durch Gewalt und Nötigung durch Drohung) mit dem Handeln aus Überzeugung (ohne Zwang) verbindet, bzw., parallel dazu, mit dem Handeln in Kenntnis und Wissen sowie dem bewusst guten Handeln. Dass das Handeln aus Überzeugung und das bewusst gute Handeln eine Eigenschaft des uneingeschränkt moralischen Han-

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delns ist, bedeutet nicht, dass das Handeln des Strafrechts auf Freiheit verzichtet oder es diesem an Freiheit fehlt. Um im Strafrecht jemanden zur Verantwortung zu ziehen, braucht es nicht viel, da wir uns mit der Freiwilligkeit begnügen; bisweilen ist sie sogar für die Volition ausreichend, wie dies bereits bei den Sicherungsmaßnahmen geschieht. 4. Dass wir dieser umfassenderen moralischen Dimension des menschlichen Handelns Rechnung tragen, bedeutet nicht, dass wir für eine Beseitigung der Grenze zwischen Recht und Moral plädieren. Ich bin der Auffassung, dass weiterhin zwischen beiden Bereichen menschlichen Handelns zu differenzieren ist. Doch zugleich sollte diesem moralischen Handeln, in das sich das Strafrecht und die Straftatlehre einfügen, zumindest unterschwellig Rechnung getragen werden.

Bemerkungen zu maschinellem Lernen bei juristischen Entscheidungen – und Wittgenstein Jan C. Schuhr

I. Einleitung Über sog. künstliche Intelligenz wird in den letzten Jahren wieder viel diskutiert, nachdem das Thema zumindest unter Juristen nach einigem Interesse mitten in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts für Jahrzehnte weitgehend aus dem Blickfeld geraten war. Mit der Verbreitung von Methoden maschinellen Lernens kam das Thema zurück, und zwar in etlichen verschiedenen Facetten. Der Einsatz solcher Methoden wirft Fragen zu rechtlichen Verhaltensregeln auf, z. B. bezüglich Fairnessgeboten und Diskriminierungsverboten. Es lassen sich auch Zurechnungsfragen konstruieren, z. B. unter dem Aspekt der Intelligenz und Autonomie – bzw. dessen, was in diesen Zusammenhängen so genannt wird. Viel diskutiert werden Fragen nach Haftung und Sorgfaltspflichten, die die Produzenten und Betreiber betreffen. In rechtsphilosophischer bzw. rechtstheoretischer Hinsicht fällt aber auch ein neues Licht auf viele alte Fragen des juristischen Entscheidens sowie der Methoden der Rechtsanwendung, der Erfassung des Rechts, der Darstellung rechtlicher Inhalte und der Genese sowie des In-Geltung-Setzens rechtlicher Vorgaben. Darum soll es im Folgenden gehen. Zunächst ist eine Bemerkung zu etwas veranlasst, das nicht neu ist: Die Idee eines Automaten an der Stelle von Richtern ist ein klassisches Bild für Rechtsbindung – wenn nicht das Bild für rechtliche Verbindlichkeit überhaupt. Diese Idee ist bereits über Jahrhunderte eine produktive Denkfigur.1 Sie skizziert einerseits ein Ideal, an dem sich Juristen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit bis zu einem gewissen Grad orientieren und dabei stets an Grenzen stoßen. Das führt regelmäßig dazu, dass sie sich mit den Gründen und Folgen der Unerreichbarkeit dieses Ideals befassen. Die Idee ist andererseits aber auch ein Mittel, um die logische Konsistenz rechtlicher Regeln zu 1 Formuliert wurde sie oft eher über die Rolle des Gesetzes bzw. die Steuerung der Richter, so spricht Montesquieu, De l’esprit des loix, 1748, Liv. XI, Chap. VI, T. I S. 332, vom Richter als „lediglich der Mund, der den Wortlaut des Gesetzes spricht, Wesen ohne Seele gleichsam“ (Übers. Wiegand 1994). Zur antiken Herkunft und aufklärerischen Betonung des Postulats, dass nicht Menschen, sondern Gesetze herrschen sollen, siehe Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 1971 (engl. 1960), Kap. 11: Der Ursprung der Herrschaft des Gesetzes, Gesammelte Schriften Abt. B, Band 3, 208 ff. Vgl. auch Meder, Rechtsmaschinen, 2020, 12 ff.

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durchdenken, festzustellen, welche Regeln Vorrang vor anderen beanspruchen können, und so zu hinterfragen, was diese Regeln insgesamt eigentlich genau gebieten und welche rechtlichen Hypothesen wie konsequent und ernst gemeint sind.2 Denn Voraussetzung dafür, einen Automaten wirklich zielgerichtet im Voraus zu determinieren, wäre, dass sie wirklich etwas gebieten, und zwar eindeutig. Sonst scheitert die Prä-Determination schon aus logischen Gründen ganz unabhängig von der Existenz von Automatisierungstechnik. In den beiden eben angegebenen Funktionen ist das Bild also ganz unabhängig davon, ob es wirklich einen solchen Automaten geben kann (oder gar gibt), nützlich. Entsprechend wurde es zu Zeiten, in denen es ihn sicher nicht gab, verwendet. Künstliche Intelligenz würde, wenn es sie gäbe, daran nichts ändern, und auch das, was heute (schwache) künstliche Intelligenz genannt wird, ändert an diesen Aspekten nichts. Nicht einmal die Erwartung mancher Personen, ein Entscheidungsautomat lasse sich demnächst (was immer das heißen mag) tatsächlich realisieren, ist wirklich neu. Zumindest in den 1970er und 80er Jahren gab es solche Vorstellungen bereits – bezogen auf das, was wir heute logikbasierte bzw. regelbasierte Systeme oder Expertensysteme nennen,3 und worauf diese Hoffnung sich heute meist nicht mehr bezieht.4 Neu ist aber, dass diese Erwartung sich auf Verfahren sog. maschinellen Lernens bezieht, bei denen auf der Grundlage der Analyse einer nicht ganz kleinen Datenmenge (sog. Trainingsdaten) mittels sog. neuronaler Netze Parameter vorgegebener Klassifikationsmodelle (näherungsweise) berechnet und diese Klassifikationsmodelle dann auf neue Eingabedaten angewendet werden.5 Dass dabei die Entscheidung von Rechtsfragen bzw. rechtlichen Streitigkeiten als Klassifikation von Daten aufgefasst wird, in denen Fälle abgebildet werden, ist weder überraschend noch problematisch. Neu ist es auch nicht, denn über Tatbestandsmerkmale und die Feststellung für sie relevanter Umstände sowie deren Submission ge2

So verwendet z. B. Kant in einer Formel seines Kategorischen Imperativs das Prinzip der Verallgemeinerung zum Test einer Maxime (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, AA IV., S. 402) und konstruiert entsprechend auch sein allgemeines Prinzip des Rechts (Metaphysik der Sitten, 1797, Einl. RL § C, AA VI., S. 230). 3 Sie waren z. B. bereits in der vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Projektgruppe für Vorüberlegungen zu dem, was heute Juris geworden ist, vertreten, vgl. BMJ (Hrsg.), Das Juristische Informationssystem, Analyse Planung Vorschläge, 1972, Pkt. 1.3.4.3 (S. 26). Zur theoretischen Arbeit daran vgl. etwa den Sammelband Podlech (Hrsg.), Rechnen und Entscheiden, 1977, und zur Beziehung zur Gesetzgebungslehre den Sammelband Rödig (Hrsg.), Theorie der Gesetzgebung, 1976, u. a. mit Überlegungen zu automationsgerechter und EDV-gestützter Rechtsetzung von Fiedler (666 ff.), Pultke (679 ff.) und Motsch (696 ff.); vgl. auch die Vorstudien dazu (hrsg. von der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung, 1975). 4 Eingehend zum aktuellen Stand Ashley, Artificial Intelligence and Legal Analytics, 2017, Kap. 2 – 5 (S. 38 ff.). 5 Dazu etwa Ashley, Artificial Intelligence and Legal Analytics, 2017, Kap. 8 (S. 234 ff.), Buyers, Artificial Intelligence, The Practical Legal Issues, 2018, 9 ff., ferner von Bünau, in: Breidenbach/Glatz (Hrsg.), Rechtshandbuch Legal Tech, 2. Aufl. 2021, Kap. 3. E und F (S. 76 ff.).

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schieht bei der Anwendung der Tatbestände nichts grundsätzlich anderes. Bemerkenswert sind aber folgende Aspekte: Erstens zeigt sich eine gewisse Abkehr von der Vorstellung, rechtlich richtiges Entscheiden bestehe im richtigen Anwenden rechtlicher Regeln. Zweitens setzt die skizzierte Art von Verfahren voraus, dass die für die richtige Klassifikation (Entscheidung) neuer Daten (Fälle) nötigen Kriterien den Trainingsdaten (Aufzeichnungen früherer Entscheidungen) zu entnehmen sind, und zwar mittels eines Algorithmus, letztlich also durch Berechnung. Beide Aspekte sind in einer sogleich näher zu behandelnden Weise unmittelbar miteinander verbunden. Sie haben viel mit logischen Strukturen des Rechts zu tun und werfen bei logisch-analytischer Betrachtung etliche Probleme auf. Die folgenden Überlegungen werden sich mit ihnen befassen, können und sollen aber in keiner Weise mit dem Anspruch auf Vollständigkeit auftreten. Es soll darum gehen, einige zentrale Zusammenhänge aufzuzeigen und gedankliche Beziehungen zur späteren Sprachphilosophie von Wittgenstein darzustellen. Der Jubilar hat sich stets mit Rechtslogik, Rechtsphilosophie und logischer Analyse rechtlicher Strukturen befasst; ihm seien die folgenden Bemerkungen mit den herzlichsten Glückwünschen gewidmet.

II. Abkehr von Regeln? 1. Inwieweit rechtlich richtiges Entscheiden als Anwendung bereits zuvor feststehender Regeln aufzufassen ist, war stets umstritten. Die eingangs skizzierte Vorstellung stellt das aber nicht einfach nur einmal mehr infrage. Eine echte Abkehr von der Idee der Regelhaftigkeit stünde sogar in unmittelbarem Widerspruch zu dem zweiten skizzierten Aspekt. Zu dem ins Auge gefassten Vorgehen gehört ja gerade, dass ein Modell „trainiert“ wird – d. h. die Parameter eines vorgegebenen Modells berechnet werden –, durch welches dann künftige Entscheidungen festgelegt sind. Diese Vorstellung ist zunächst rein logisch-deterministisch: Die Trainingsdaten und das Programm (der Trainingsalgorithmus zusammen mit dem zugrunde gelegten Modell) legen das Ergebnis des Trainings eindeutig fest. Dieses Ergebnis (das trainierte Modell) und die künftigen Eingabedaten legen wiederum die Ergebnisse des Klassifikationsalgorithmus (d. h. die Ergebnisse der Anwendung des Modells auf künftige Fälle) eindeutig fest. Alle Schritte bestehen in eindeutigen Berechnungen. Man kann daher das trainierte Modell selbst als Regel auffassen. In diesem Sinne kann man dann auch sagen, beim Training gehe es darum, die maßgebliche Regel zu ermitteln, und die Anwendung des Modells sei die Anwendung eben dieser Regel. Wie „rein“ logisch-deterministisch die Vorstellung bleibt, ist unterschiedlich. Man kann z. B. Trainingsdaten randomisieren. So lassen sich z. B. bei zufälliger Auswahl oder zufällig unterschiedlicher Gewichtung für das gleiche Modell mehrere Varianten für Parameter oder mehrere unterschiedliche Modelle (die ihrerseits zufällig

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ausgewählt werden können) bestimmen und dann spätere Anwendungsergebnisse miteinander vergleichen. Das ändert indes nichts an der Grundstruktur – relativ zu den bereits randomisierten Daten sind die Zusammenhänge wiederum rein logisch-deterministisch. Man kann auch u. U. Trainingsdaten nicht einfach vorgeben, sondern ihrerseits berechnen, und das u. U. aus wiederum randomisierten Ausgangsdaten. Selbst dabei bleiben die Zusammenhänge aber relativ zu den wirklich verwendeten Trainingsdaten rein logisch-deterministisch, und schon die Berechnung der Trainingsdaten selbst ist von dieser Art. Ferner kann man ein bereits angewendetes Modell weiter trainieren – mit den bisherigen eigenen Anwendungsergebnissen oder weiteren, hinzukommenden Daten. Auch dann bleibt es aber dabei, dass das Training bezüglich der Gesamtheit der jeweils verwendeten Trainingsdaten rein logisch-deterministisch erfolgt, und dass die Anwendung bezüglich des trainierten Modells in seinem jeweiligen Zustand auch stets rein logisch-deterministisch ist. Die Situation wird nur insofern komplexer, als dass das als „Regel“ betrachtete Modell Wandlungen in der Zeit unterliegt. Rückblickend betrachtet stellt sich also immer alles, was zu den hier betrachteten Verfahren zählt, als vollständig determiniert und entsprechend reproduzierbar dar. Soweit die Daten aber nicht im Voraus feststehen – das kann künftige (oder künftig randomisierte) Trainingsdaten betreffen und betrifft praktisch immer die künftigen Eingabedaten –, sind auch die Ergebnisse nicht bereits im Voraus determiniert, obwohl sie rein algorithmisch erzeugt werden.6 In dieser Hinsicht – das trainierte Modell als Regel betrachtet – läuft das Verfahren also in keiner Weise auf eine Abkehr von Regeln hinaus, sondern vielmehr auf eine noch ungleich strengere Regelanwendung, als wir sie in der bisherigen Rechtsanwendung kennen. Die Idee ist die eines vollständig berechenbaren, also zumindest im Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidungsfindung rein logisch-determinierten Entscheidungsvorgangs. Insoweit würde die Idee des Entscheidungsautomaten also tatsächlich radikal umgesetzt. 2. Dem trainierten Modell fehlen jedoch wesentliche Eigenschaften dessen, was in der Rechtswissenschaft bislang üblicherweise als Regel angesehen wird. Anders als für das in EDV implementierte Modell gilt für Rechtsregeln, dass sie stets einer Interpretation bedürfen,7 dass in der Anwendung der Regel ihre inhaltliche Auffassung und die Erfassung des Sachverhalts einander gegenseitig bedingen (das „Hinund Herwandern des Blickes“ nach Engisch8), dass Regeln Ausnahmen besitzen (die wiederum Regeln bilden, für die dasselbe gilt), und dass die Bedeutung von Regeln letztlich über Analogien bestimmt wird, d. h. über Ähnlichkeiten, aber nicht über exakte Abgrenzungen. Diese Abkehr (bzw. Ausweitung und Bedeutungsverschiebung 6 Eingehend zu diesem Aspekt unabhängiger Fortentwicklung Turner, Robot Rules, 2019, 70 ff. 7 Zu gescheiterten Versuchen, das sogar seitens des Gesetzgebers anders anzuordnen, erinnere man sich an §§ 46 ff. der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (1794) sowie die Vorarbeiten dazu von Cocceji, Project des Corpus Juris Fridericiani, 1749, Vorrede § 28 IX. (S. 12). 8 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, 15.

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des Begriffs) soll hier weder goutiert noch näher diskutiert, sondern einfach nur festgestellt werden, denn alles andere würde sowohl den Rahmen sprengen, als auch von der eigentlichen Betrachtung abführen. Festzustellen ist hier schlicht, dass das trainierte Modell, auch wenn man es als rechtliche Regel betrachtet, relativ zu den jeweiligen Eingabedaten die Ergebnisse seiner Anwendung eindeutig festlegt. Diese Bestimmtheit wird durch den formalsprachlichen Algorithmus und die Ausführung des Codes im jeweiligen Computer vermittelt. Das bedeutet nicht, dass es hier keine Unwägbarkeiten mehr gäbe. Sie haben ihren logischen Ort aber – anders als in der heutigen juristischen Praxis – nicht mehr (auch) in den Regeln und ihrer Anwendung, sondern nur mehr in den Eingabedaten. Welchen Unterschied das letztlich überhaupt ausmacht, ist hier ebenfalls nicht zu vertiefen. Aber zu bemerken ist, dass bei den tatsächlichen Feststellungen und ihrer Kodierung in Eingabedaten jedenfalls weiterhin gilt: (a) Die Welt muss, zumindest soweit es um menschliches Verhalten und Intentionen geht, weiterhin interpretiert werden. (b) Die Relevanz von Umständen ergibt sich erst aus den rechtlichen Vorgaben, die bei der menschlichen Implementierung der Erfassung der Umstände auch immer noch interpretiert werden müssen. (c) Die Qualität der Daten ist weiterhin nur so hoch, wie in ihnen auch die Besonderheiten des Einzelfalles und d. h. seine Abweichung von Normalfällen abgebildet werden. (d) Die Erfassung von Umständen wird durch Menschen oder Sensoren letztlich stets nach Ähnlichkeitskriterien erfolgen. Die bislang behandelte Abkehr eliminiert also keinen der genannten Aspekte, sondern verschiebt diese Aspekte nur von Eigenschaften, die die Regeln und die Feststellungen des Falles betrafen, zu Eigenschaften der Daten. Wenn man das trainierte Modell selbst als Regel auffasst, erhält man indes nur mehr „eine einzige“ Regel, die die gesamten Entscheidungskriterien abschließend abbildet, und das in einer für den Menschen nicht verständlichen Weise. Diese Unverständlichkeit ist auch nicht nur eine Folge der komplexen Zusammenfassung von vielem, das bislang als Einzelkriterien aufgefasst wurde, und nicht nur eine Folge der mengenmäßigen Beschränkung der Fähigkeit des Menschen, Information zu verarbeiten. Ihr liegen vielmehr auch mathematische Eigenschaften der Modelle zugrunde. Während Rechtsregeln, wie wir sie herkömmlich verwenden, gerade bewirken, dass nach Maßgabe der Tatbestandsmerkmale ähnliche Fälle auch ähnlich zu entscheiden sind, kann die durch das trainierte Modell definierte mathematische Mannigfaltigkeit eine weitgehend beliebig zerklüftete Oberflächenstruktur aufweisen9, 9 Mit diesem bildhaften Ausdruck ist Folgendes gemeint: Gegeben sei ein vollständiger Satz an Eingabedaten. Zu diesen gibt es ein eindeutig bestimmtes Ergebnis der Klassifikation. Dann lassen sich zwar immer andere Eingabedaten, die nur „wenig“ von den gegebenen abweichen, finden, die zum selben Klassifikationsergebnis führen. Es lässt sich aber keine (auch keine noch so kleine) Grenze allgemein angeben, für die gilt, dass alle Eingabedaten, die sich von beliebigen vorgegebenen nur weniger unterscheiden, sicher zum selben Klassifikationsergebnis führen. (Das eben verwendete „wenig“ lässt sich nur für den einzelnen Datenpunkt, aber nicht allgemein bestimmen.) In diesem Sinne können noch so kleine Abweichungen zu einem anderen Ergebnis führen, und es lässt sich nicht allgemein erfassen und

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und d. h., dass für Menschen sehr ähnliche Fälle vom Modell letztlich in keiner Weise ähnlich klassifiziert werden müssen. Während man also für alle möglichen Eingabedaten das Anwendungsergebnis im Voraus berechnen könnte (darin besteht gerade die oben behandelte Determiniertheit), kennt man damit dann doch immer nur das Ergebnis genau dieser Daten, und das sagt im Allgemeinen nichts über die Ergebnisse zu anderen, selbst sehr ähnlichen Daten aus. Obwohl auch bisher eine rechtskräftige Entscheidung in unserem Rechtssystem keine Gewissheit über künftige Entscheidungen ähnlicher Fälle liefert, in der Regel nicht einmal eine formale Bindungswirkung für künftige Entscheidungen entfaltet,10 ist der erfahrungsmäßige Zusammenhang doch stark und ungleich verlässlicher als bei bisher untersuchten Methoden maschinellen Lernens. Und dies steht einem menschlichen Verständnis des trainierten Modells als Regel in grundsätzlicher Weise im Wege. Hier Abhilfe zu schaffen, ist der Kern der Bemühungen um sog. Erklärbares Maschinelles Lernen. 3.a) Inwieweit sich in der Sache letztlich überhaupt ein Unterschied zur klassischen Regelanwendung ergibt, lässt sich nicht allgemein sagen. Das hat folgenden Grund: Der Idee nach bilden die Trainingsdaten eine bestehende menschliche Entscheidungspraxis ab, die beim Training des Modells in formaler Weise erfasst wird. Die Anwendung des Modells führt dann zu den gleichen Entscheidungen, die auch Menschen in entsprechenden Situationen ihrer bisherigen Praxis gemäß getroffen hätten – nur ohne die Unwägbarkeiten der jeweils individuellen Regelanwendung, denn das Modell erfasst die Gesamtheit der zum Training verwendeten Praxis und bildet sie in einer feststehenden, künftige Ergebnisse eindeutig bestimmenden Weise ab. Wenn sich die menschlichen Richterinnen und Richter (und andere juristische Entscheidungen maßgeblich treffende Personen) bislang tatsächlich an Regeln gehalten haben, dann soll das Modell also genau das abbilden. Wenn sie das tatsächlich nicht getan haben, können gar keine tatsächlich wirksamen Regeln verloren gehen, denn die gab es dann ja offenbar nicht. Durch das Training des Modells wird dann aber immer noch die (komplexe) Regel der bisherigen Praxis erfasst, und zwar selbst dann, wenn die Personen diese nicht gekannt haben oder irrig annahmen, ihr Verhalten folge anderen Regeln. Dabei entspricht es durchaus allgemeiner juristischer Erfahrung, dass wir uns zwar grundsätzlich stark an Regeln orientieren, diese „anwenden“, letztlich aber nicht genau vermitteln können, wie die Anwendung dieser Regeln (richtig) geschieht, und insofern alle unsere Regeln und all unser Verständnis von ihnen unvollständig sind. (Für das Lösen von Fällen benötigt man Vorwissen, man lernt es aber letztlich erst beim Lösen von Fällen.) Der Einsatz der Methoden maschinellen Lernens korrespondiert daher dem Wunsch, diese Regeln wirklich genau erfassen zu können. Dass das zu einer komplexen Abbildung führt, die vom

nicht aus den Parametern des Modells nach einem allgemeinen Verfahren erkennen, wo kleine Änderungen zu erheblichen Änderungen führen. 10 Vgl. nur Frank, in: LR-StPO, Band 7/2, 26. Aufl. 2014, § 358 Rn. 10.

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Menschen nicht vollständig zu überblicken ist, überrascht nicht und ist erst einmal kein Einwand gegen das Verfahren. b) Erhebliche Einwände gibt es freilich in etwas anderer, aber damit zusammenhängender Hinsicht: Zunächst müsste sich zeigen lassen, ob und inwieweit das trainierte Modell wirklich zumindest die bisherige Praxis abbildet, und um einen solchen Nachweis zu führen, gibt es zumindest bislang keine Verfahren. Schon das, was als Trainingsdaten bislang zur Verfügung steht, bildet eine bisherige Praxis meist nur sehr unvollständig ab.11 Zudem müsste gewährleistet sein, dass die künftigen Anwendungsfälle sich nur in dem Rahmen bewegen, der der bisherigen Praxis entspricht, denn nur dafür wurde das Modell trainiert. Nur für den Umgang mit den Gesichtspunkten, die im Trainingsmaterial abgebildet sind, und nur für die Gewichtung der Gesichtspunkte in solchen Konstellationen, die auch in ihrer Kombination im Trainingsmaterial abgebildet sind, und zwar mit hinreichender Häufigkeit, wird das Modell überhaupt trainiert. Deshalb kann es auch nur die Grundlage dafür bieten, Fälle, in denen die bekannten Gesichtspunkte in bekannten Kombinationen maßgeblich sind, zu klassifizieren. Soweit neue Fälle lediglich etwas andere Ausprägungen der Gesichtspunkte aufweisen, als die Trainingsfälle, kann man sich vorstellen, dass das trainierte Modell für ihre Klassifikation innerhalb der bekannten bisherigen Praxis interpoliert. Je detailreicher die bisherige Praxis war und in den Trainingsdaten abgebildet wurde, desto plausibler ist es, dass ein solches Verfahren gute Ergebnisse liefert. Nicht geeignet ist es hingegen zur Extrapolation, d. h. im juristischen Kontext für die Berücksichtigung neuer Gesichtspunkte oder die Gewichtung in neuen Konstellationen der Gesichtspunkte. Selbst das perfekt trainierte Modell hat nicht „gelernt“, wie man Fälle entscheidet, sondern nur, mit welchem Ergebnis bestimmte Fälle bisher entschieden wurden. Das liefert noch nicht einmal ein Verfahren, um zu erkennen, ob ein Gesichtspunkt oder eine Konstellation neu ist. Es liefert nur ein Verfahren, das den Blick von vornherein auf bekannte Gesichtspunkte und Konstellationen verengt und dazu dann bisherige Entscheidungen nachahmt. Auch das ist nicht überraschend und nicht ungewöhnlich. Automatisieren lässt sich grundsätzlich nur, was stets gleichförmig wiederkehrt. Ob ein neuer Fall die gleichförmige Wiederkehr von Altbekanntem ist oder relevante neue Aspekte aufweist, kann nicht der Automat erkennen, sondern muss ein Anwender des Automaten prüfen bevor er dessen Ergebnis übernimmt. Unter diesen Voraussetzungen kann dann aber durchaus plausibel sein, dass das Ergebnis einer automatisch nach einem festen mathematischen Modell durchgeführten Klassifikation mit dem übereinstimmt, was von menschlichen Entscheidern als Ergebnis klassischer Rechtsanwendung zu erwarten wäre.

11 Näher dazu Schuhr, in: Vogel (Hrsg.), Zugänge zur Rechtssemantik, 2015, 93 ff., sowie in: Funke/Lachmayer (Hrsg.), Formate der Rechtswissenschaft, 2017, 161 ff.

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III. Wittgenstein und das Erfassen einer Bedeutung ohne Verstehen? 1. Die eben behauptete Plausibilität bedarf allerdings durchaus noch weiterer Begründung und Einschränkungen. Begründungsbedürftig ist, wie man sich das „Training“, das Erfassen der bisherigen Praxis in den Parametern eines Modells im Wege einer mathematischen Berechnung, überhaupt vorzustellen hat. Dabei geht es hier rechtsphilosophisch nicht um die mathematische Methode, nicht um Details der Algorithmen oder die Auswahl zwischen verschiedenen konkurrierenden Modellen. Es geht vielmehr um die prinzipielle Frage, wie die Abbildung einer menschlichen Praxis, die durch Intentionen, Bedeutungen, Zurechnung, Interpretation etc. geprägt ist, durch eine Maschine, die all das nicht verstehen und nicht tun kann, in Zahlenwerten, die wir Menschen dafür jedenfalls sonst nicht verwenden, vorstellbar sein soll. Dabei muss erstens erläutert werden, dass die gesuchte Information in den Ausgangsdaten zu erwarten ist (denn mathematische Formeln generieren Information nicht originär neu). Zweitens muss dargestellt werden, in welchem Sinne sie in Zahlenwerten abgebildet und künftig generierte Resultate, die einem Entscheidungsvorschlag entsprechen, aus ihnen abgeleitet werden können (zu beidem sogleich unter 2.). Schließlich können sich aus diesen Erklärungen Grenzen dafür ergeben, wo solche Abbildungen und Anwendungen sinnvoll sind bzw. wo sie selbstwidersprüchlich oder gefährlich werden (dazu unter IV.). 2.a) Erklärungen der eben unter erstens und zweitens geforderten Art lassen sich auf der Basis von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen geben.12 Dies soll im Folgenden dargelegt werden. Auch die weiteren Überlegungen basieren auf dem sogleich darzustellenden Sprachspielmodell Wittgensteins. Dass die eben geforderten Erklärungen sich nur auf diese Weise geben lassen, soll damit nicht behauptet, aber auch nicht über andere Erklärungsansätze und deren Konsequenzen spekuliert werden. Die hier angestellten Überlegungen werden sich auf die Perspektive des Sprachspielmodells beschränken. Wittgenstein hat seine Überlegungen deutlich vor einer verbreiteten Anwendung von Computern und vor der modernen Diskussion um Künstliche Intelligenz oder maschinelles Lernen angestellt. Sie haben diese Themen nicht zum Gegenstand. In ihnen geht es vielmehr um Sprache (und indirekt um zahllose weitere Themen) in einem weiten Sinne von Kommunikation, die aus Handlungen besteht, die Mitteilungen machen und sich auf vorangegangene Handlungen anderer Kommunikationspartner beziehen. Dabei werden nicht nur Handlungen betrachtet, die Wörter oder Sätze sagen, schreiben etc., sondern das gesamte Verhalten, die ganze „Lebensform“, die mit der Kommunikation in Zusammenhang steht.13 Wittgenstein fragt sich (neben vielem anderen), worin die Bedeutung von Worten bzw. Kommunikationsakten be12

Vgl. dazu auch Yuan, in: Breidenbach/Glatz (Hrsg.), Rechtshandbuch Legal Tech, 2. Aufl. 2021, Kap. 9.4 (S. 371 ff.). 13 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1953, §§ 7, 23, sowie § 546 („Worte sind auch Taten.“).

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steht. Und er antwortet, die Bedeutung bestehe im Gebrauch des Wortes (bzw. des Kommunikationsverhaltens) in der Sprache (in dem eben angegebenen weiten Sinne).14 Er gibt also nicht eine bestimmte Referenz, einen Gegenstand, einen Gedanken etc. als Bedeutung an, sondern er setzt die Bedeutung mit einer Praxis gleich, und zwar in dem Sinne, dass die Praxis auch von einem Fremden, der die Sprache noch nicht kennt, grundsätzlich beobachtet und beschrieben werden kann.15 Dafür entwirft Wittgenstein eine besondere Betrachtungsweise, nämlich die des Sprachspiels:16 Das Verhalten der Kommunikationspartner – Sprechakte und das mit ihnen im Zusammenhang stehende sonstige Verhalten – wird als Züge in einem gemeinsamen Spiel aufgefasst. Dieses Spiel geht immer nach Regeln vonstatten, die aber nicht fest vorgegeben sind, sondern von den Teilnehmern anhand der bisherigen Praxis erlernt und durch die weitere Praxis fortgebildet werden.17 Es wird nicht immer regelkonform gespielt, aber regelwidriges Verhalten wird durch entsprechende Reaktionen im Sprachspiel markiert.18 Die Regeln legen die Zulässigkeit von Spielzügen nicht vollständig fest, sondern ähneln „Wegweisern“.19 Die Klassifikation der Praxis darauf hin, was zur Bedeutung eines bestimmten Ausdrucks gehört, und was nicht, bzw. was einen Anwendungsfall einer bestimmten Regel bildet, und was nicht, erfolgt nicht nach festen, abschließend mitzuteilenden Kriterien, sondern nach „Familienähnlichkeit“20 – Ähnlichkeitsbeziehungen nach der Art, wie sie in Familien vorkommen, in denen zwei beliebige Mitglieder regelmäßig zahlreiche Gemeinsamkeiten haben, aber keineswegs einzelne bestimmte Eigenschaften bei allen vorhanden sind. Wittgenstein liefert keine Theorie dafür, wie Sprache erstmalig entsteht, sondern setzt das Vorhandensein einer Alltagssprache von vornherein voraus. Er liefert auch keine vollständige Erklärung dafür, weshalb Sprache funktioniert, Ähnlichkeiten erkannt und Regeln trotz ihrer Einschränkungen im Hinblick auf Bestimmtheit und Eindeutigkeit hinreichend regelmäßig und vorhersehbar angewendet werden. Hierfür genügt ihm die Alltagserfahrung, die genau das lehrt und immer wieder bestätigt – nicht durch Kontemplation, sondern bei unbefangenem Hinsehen.21 b) Schon sprachliche Bedeutung wird von Wittgenstein also nicht auf innere Vorgänge oder Zustände in einem einzelnen Menschen zurückgeführt, sondern auf soziales, beobachtbares und beschreibbares Verhalten.22 Wenn man über die Kenntnis dieses Verhaltens, namentlich seine Regelmäßigkeit (seine Regeln im Sinne von erkennbarer, tatsächlicher Regelmäßigkeit von Abläufen nach der Art, wie auch Na14

Wittgenstein (Fn. 13), § 43. Vgl. etwa Wittgenstein (Fn. 13), §§ 7, 10, 49, 66. 16 Wittgenstein (Fn. 13), insb. §§ 7, 23. 17 Wittgenstein (Fn. 13), § 5 (Lehren durch „Abrichten“), §§ 31, 54, 82 ff. 18 Wittgenstein (Fn. 13), § 54. 19 Wittgenstein (Fn. 13), § 85. 20 Wittgenstein (Fn. 13), §§ 66 ff. (zentral §§ 67, 68), §§ 199 ff. 21 Wittgenstein (Fn. 13), §§ 66, 100, 116, 120, 129 ff. 22 Dazu auch Wittgenstein (Fn. 13), §§19 f., 33 ff., 125, 199 ff. 15

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turgesetze Regeln sind23) verfügt, weiß man also alles, was die Bedeutung konstituiert. Und wenn auf Basis dieser Kenntnis regelkonforme Spielzüge vorgenommen werden, können andere Teilnehmer am Sprachspiel darauf genauso reagieren, wie auf andere Spielzüge. Ob ein Computer diese Regelmäßigkeit festgestellt und den Spielzug berechnet hat, oder ein Mensch handelt, ist für den Erfolg dieses Teils des Sprachspiels ohne Bedeutung. Dies bestätigt sich z. B. im wachsenden Erfolg automatischer Übersetzungsprogramme und von sog. Chatbots, die in keiner Weise verstehen müssen, was sie übersetzen, gefragt werden, antworten etc. Es genügt, wenn ihr Kommunikationsverhalten regelkonform (und d. h. bei Tatsachenbehauptungen z. B. auch wahrheitsgemäß) erfolgt. Selbst eine völlig automatisch generierte Mitteilung, für die nie eine Bedeutung intendiert war, weil die Maschine das gar nicht kann (dass die Programmiererinnen eine Bedeutung der Ausgabe sehr wohl generell intendiert haben, ist eine andere Frage, betrifft nämlich nicht unmittelbar die konkrete Bedeutung der einzelnen Ausgabe), kann der Mensch verstehen. Das hängt auch nicht davon ab, dass die Zusammenstellung als Manipulation von Zeichenketten nach von einem Menschen vorgegebenen Regeln erfolgt (wie bei Expertensystemen), sondern auch bereits die Erfassung der Regeln kann automatisch erfolgen und muss nicht selbstständig für Menschen zu verstehen sein. Nötig ist nur, dass ihre Anwendung durch die Maschine zu einer regelkonformen Ausgabe führt. Damit ist freilich nicht bloß formale (grammatikalische) Regelkonformität gemeint, sondern der Spielzug muss sich in das ganze Sprachspiel, und d. h. auch in die Lebensform, zu der er gehört, einpassen. Kurz: Er muss für die menschlichen Teilnehmer ebenso Sinn ergeben und „passen“, wie wenn er von einem Menschen in der gleichen Situation vorgenommen worden wäre. Das ist alles andere als eine einfach zu erfüllende Anforderung, aber sie ist eben auch nicht schlechthin unmöglich, sondern kann grundsätzlich auf äußerlich erfassbare Umstände und Regelmäßigkeiten zurückgeführt werden, die prinzipiell auch ein Computer erfassen und verarbeiten kann. c) Für die Erfüllung dieser Anforderung lassen sich im Wesentlichen zwei Typen von Szenarien vorstellen: Entweder es gelingt, die Kommunikation und ihre Umstände in der Lebensform, auf die es im betreffenden Sprachspiel ankommt, sehr umfassend zu erfassen und auszuwerten, sodass die Bedeutungen, die für die Menschen letztlich entscheidend sind, wirklich abgebildet werden.24 Oder es gelingt, die EDV-Anwendung auf einen Ausschnitt des Sprachspiels zu beschränken, in dem sich die Menschen die für den zu automatisierenden Spielzug entscheidenden Informationen regelmäßig vollständig mitteilen. Wenn nämlich die für die zu automatisierende Mitteilung (den Entscheidungsvorschlag) relevanten Gesichtspunkte tatsächlich regelmäßig zuvor ausgesprochen werden, dann genügt es zum Zwecke des Trainings, diese Kommunikationszusammen23

Wittgenstein (Fn. 13), § 54. Einen Überblick zur kommunikativen Erfassung der Realität geben Couldry/Hepp, The Mediated Construction of Reality, 2017, 15 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 24

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hänge in den Trainingsdaten abzubilden. Das größere Sprachspiel und die Lebensform, in die dieser Ausschnitt eingebettet ist, sind dann für den Menschen relevant, um die volle Bedeutung der Mitteilung für das eigene Leben zu erfassen, aber zur Formulierung der Mitteilung kommt es auf diese Hintergrundinformationen nicht an. In einem solchen Fall ist die Komplexität der Gesamtbedeutung für den Ausschnitt, in dem automatisiert werden soll, also reduzibel. Dann ist eine regelmäßig erfolgreiche Automatisierung schon auf Grundlage der bloßen Mitteilungen vorstellbar, und d. h. man kann sich eine praktische Realisierung viel eher vorstellen als im ersten Szenario. Sie hat dann auch viel mit dem Vorgehen zu tun, das wir in juristischen Verfahren ohnehin regelmäßig verfolgen, in denen es ja oft ganz wesentlich darum geht, die für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte zu erfassen, sprachlich festzuhalten, auf ihrer Grundlage zu entscheiden und in Begründungen ihre Relevanz für die Entscheidung auszudrücken. Je vollständiger diese Ziele des Verfahrens erreicht werden und die Dokumentation sprachlich gelingt, desto eher ist auch eine gelingende Automatisierung vorstellbar, die nicht mehr von Kenntnis und Verständnis des Hintergrunds abhängt.25 Dies bestätigt sich auch wiederum in der Alltagserfahrung: Wo die in ein Formular eingetragenen Informationen nur eine hinreichend überschaubare Menge an Varianten bieten und für die Entscheidungsfindung ausreichen, können Menschen auf ihrer Grundlage schematisch entscheiden, und das ist grundsätzlich auch automatisierbar. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber die verarbeitbare Menge an Varianten der Ausgangsinformation wächst mit zunehmender Leistungsfähigkeit von Automaten, und maschinelles Lernen bietet Mittel, ungleich komplexere Zusammenhänge zwischen den Ausgangsdaten und Entscheidungen abzubilden. d) Wittgensteins Überlegungen dazu, dass die relevanten Regeln und ihre Anwendung nie perfekt sind, zur Familienähnlichkeit etc. müssen schon die Menschen, die am Sprachspiel teilnehmen, nicht selbst anstellen und nicht verstehen. Sie dienen denjenigen, die Sprache verstehen wollen dazu, die in ihr wirksamen Zusammenhänge zu verstehen; sie dienen der Beschreibung und der Klärung der Bedeutung der Beschreibung. Dass ein Computer sie nicht verstehen kann, heißt also auch nicht, dass er keine gültigen Züge im Sprachspiel vornehmen könnte. Die Zusammenhänge sagen vielmehr etwas darüber aus, inwieweit er Vorgaben unterliegt, damit seine Spielzüge von anderen Teilnehmern des Sprachspiels wie solche von Menschen behandelt werden können. Sie erläutern, dass auch der Computer die Regeln nicht perfekt erfassen und nicht perfekt einhalten muss, seine Verwendungsweise von Wörtern sich nicht im Rahmen exakter Vorgaben des bestehenden Sprachspiels halten muss (weil es die gar nicht gibt), sondern die Kommunikation schon dann gelingen kann, wenn seine Äußerungen regelmäßig weitgehend passen.

25 Dazu, dass das, was eine Maschine deterministisch „befolgt“ niemals wirklich genau die Regel eines Sprachspiels sein kann, vgl. Kripke, Wittgenstein on Rules and Private Language, 1982, 32 ff. (dt. Übers. Pape, 2. Aufl. 2014, 47 ff.).

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Die Menschen, die am Sprachspiel teilnehmen, müssen sich nicht einmal seiner Regeln bewusst sein.26 Es kann oft nützlich sein, sich diese Regeln zu vergegenwärtigen, sie zu diskutieren etc. Aber für den Erfolg von Sprachspielen genügt es, dass die Regeln tatsächlich regelmäßig (wenn auch nicht immer) befolgt werden, und dass Verstöße gegen die Regeln immer wieder (wiederum nicht immer) als solche markiert werden, sodass eine Orientierung entsteht, ob der Spielzug regelkonform war oder nicht. Tatsächlich folgen wir vielen Regeln intuitiv, durch Nachahmung, durch Routine etc. Auch wie sie in einem Computer abgebildet werden, und ob sie überhaupt als Verhaltensregeln abgebildet werden, ist unerheblich. Entscheidend ist, dass in der jeweiligen Situation passende Spielzüge vorgenommen werden. Deren Steuerung kann – wie alles in einem Computer – letztlich nur über Programmcode und Daten, die beide immer als Zahlen aufzufassen sind, erfolgen. Diese müssen aber eben nicht die ganze Komplexität des Sprachspiels und seines Hintergrundes oder eines inhaltlichen Verständnisses davon abbilden, sondern eben nur das Reaktionsmuster, mit dem der Automat auf Eingaben reagiert.

IV. Grenzen und Gefahren Mit den Mitteln des Sprachspielmodells von Wittgenstein ergibt sich also eine Erklärung dafür, weshalb es prinzipiell vorstellbar ist (um bisherige tatsächliche Anwendungen geht es hier nicht), dass EDV-Systeme mittels maschinellen Lernens juristisch sinnvolle Entscheidungsvorschläge unterbreiten, die regelmäßig übernommen werden können. Verlässlich können sie nicht sein, sondern bedürfen stets einer Prüfung.27 Auch das hat sich aus der Erklärung bereits ergeben. Aus dem Sprachspielmodell folgen allerdings noch wesentlich weitergehende Grenzen und Gefahren, die nun betrachtet werden sollen. Auf Basis des Sprachspielmodells sind sie unausweichlich. Eine zum Sprachspielmodell alternative Erklärung, die diese Grenzen und Gefahren aufheben könnte, ist derzeit nicht ersichtlich, aber auch nicht prinzipiell ausgeschlossen. 1. Zunächst bestehen Probleme inhaltlicher Richtigkeitskriterien. Methoden maschinellen Lernens sind im Training und in der Qualitätskontrolle ihrer Anwendung darauf angewiesen, dass das Ergebnis der Klassifikation sich auf Richtigkeit überprüfen lässt. Entwickelt wurden sie zunächst dafür, physikalische oder chemische Eigenschaften unter komplexen Bedingungen besser vorhersagen zu können, wobei diese Eigenschaften sich dann aber (z. B. wenn eine Substanz, für die sie vorhergesagt wurden, tatsächlich synthetisiert wird) relativ einfach überprüfen lassen. Erfolgreich eingesetzt werden sie auch in anderen Prognosefällen, etwa im Einzelhandel 26

Vgl. Wittgenstein (Fn. 13), §§ 31, 54. Zur hier nicht behandelten, aber ebenfalls bestehenden Notwendigkeit der Prüfung von Algorithmus, Modell und Training z. B. Davenport, Mathematics Today 2017, 162, https:// ima.org.uk/6910/the-debate-about-algorithms/ (zuletzt abgerufen am 22. 4. 2022). 27

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zur Prognose kommender Nachfrage; auch da gibt das Warenwirtschaftssystem im Nachhinein effizient Auskunft. In juristischen Zusammenhängen ist das schwieriger. Juristische Entscheidungen bestätigen sich in ihrem rechtlich wesentlichen Gehalt üblicherweise nicht in äußerlich beobachtbaren Ereignissen in der Welt, und werden durch solche auch nicht widerlegt. Die Situation ist bei ihnen deutlich komplizierter und kann hier auch nur ausschnittartig behandelt werden. a) Zunächst gibt es im Recht echte Kompetenzen für bestimmte Personen, autoritativ zu entscheiden. So ist es z. B. bei Menschen im Hinblick auf medizinische Eingriffe in ihren eigenen Körper (mit wenigen besonderen Ausnahmen, z. B. bei Untersuchungen des Beschuldigten im Strafverfahren). Hier wäre schon die Frage, wie man abbildend lernt, wie Menschen solche Entscheidungen treffen, falsch gestellt, denn jede Ersetzung durch einen anderen Entscheidungsträger als die Person selbst, wäre falsch. Solche „höchstpersönlichen“ Kompetenzen bilden daher eine feste Grenze des Verfahrens. Ganz entsprechend ist es, wenn eine Gruppe von Personen (etwa ein Volk) in Ausübung eigener höchstpersönlicher Kompetenzen (etwa durch Wahl) eine bestimmte andere Person oder Personengruppe (etwa ein Parlament oder eine Regierung) mit der Ausübung bestimmter Kompetenzen betraut hat, und zwar gerade unter Auswahl dieser Individuen. Solche Kompetenzen sind zu unterscheiden von Kompetenzen, die einer Person zugeordnet werden, weil einfach eine eindeutige Entscheidung nötig ist, und die Regeln für diese Entscheidung sich bislang nicht so eindeutig haben herausarbeiten lassen, dass Entscheidungsträger, die den Regeln folgen, grundsätzlich zum selben Ergebnis gelangen. So ist es z. B. in den Fällen, in denen es auf die Zuständigkeit der Behörde, von Beamten oder gesetzlichen Richterinnen wirklich ankommt. Entscheidend ist dann, dass die Stelle, der die Kompetenz zugeordnet wurde, ohne Manipulation entscheidet, und dazu gehört auch, dass sie nicht nachträglich ersetzt oder von vornherein manipulativ ausgewählt wird. Darum, welches Individuum diese Stelle bekleidet, geht es aber im Gegensatz zur „höchstpersönlichen“ Kompetenz nicht. Die Kompetenz als solche steht dann einer Substitution durch einen Automaten nicht grundsätzlich im Wege. Der Grund dafür, dass es der Kompetenzzuordnung überhaupt bedarf (der Mangel an eindeutigen Kriterien), führt indes zu Schwierigkeiten bei der Automatisierung. Auf sie wird sogleich zurückzukommen sein. Nur in den – juristisch typischerweise uninteressanten – Fällen, in denen wirklich schematisch entschieden wird und es auf die Kompetenzzuweisung daher inhaltlich nicht ankommen sollte, sind Entscheidungen – unabhängig davon, wie sie zustande kamen – unmittelbar inhaltlich kontrollierbar. Einen Sonderfall bilden die Situationen, in denen Personen die Kompetenz haben, sich miteinander zu einigen und dadurch (i. d. R. privatautonom) miteinander für sich verbindliche Regeln zu setzen (insbesondere durch Vertrag). Ruft eine der Seiten ein Gericht an, haben die zuständigen Richter zwar eine Entscheidungskompetenz im eben behandelten Sinne. Es steht den Parteien aber weiterhin frei, sich zu einigen, und es steht ihnen frei, eine erhaltene Entscheidung ganz unabhängig davon zu ak-

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zeptieren, ob sie sie für richtig halten. Für den Erfolg von Vergleichsvorschlägen und für die Akzeptanz von derartigen Entscheidungen gäbe es tatsächlich im Nachhinein relativ einfach zu überprüfende Erfolgskriterien, wobei diese Akzeptanz etwas durchaus anderes ist als inhaltliche Richtigkeit. b) Für die inhaltliche Kontrolle gibt es in juristischen Zusammenhängen typischerweise eigene „Sprachspiele“, namentlich die der Rechtsmittelverfahren und der wissenschaftlichen Diskussion über Entscheidungen (z. B. in Form von Entscheidungsanmerkungen). Sie liefern keine selbstständig prüfbaren Kriterien, sind aber Verfahren der Überprüfung, in denen zum Teil Ergebnisse einer Überprüfung auch verbindlich festgestellt werden. Sie können von Beteiligten zusätzlich zum normalen Ablauf des primären Sprachspiels eingeleitet werden. Betrachtet man nur Informationen über diesen normalen Ablauf, erfährt man nur etwas über die Akzeptanz der Entscheidungen durch die Betroffenen (und durch Verallgemeinerung über die Akzeptabilität für sie). Über die inhaltliche Richtigkeit hingegen erfährt man nur insoweit etwas, wie diese mit der Akzeptabilität zusammenfällt. Aspekte juristischer Richtigkeit werden so durch Privatinteressen der Beteiligten zurückgedrängt. Um juristische Richtigkeitskriterien zu behalten, ist es daher wichtig, dass die Sprachspiele der Kontrolle von Entscheidungen tatsächlich weiter gespielt werden, und zwar von Menschen. Zunächst ergibt sich diese Forderung schon daraus, dass keine Erklärung ersichtlich ist, wie das menschliche Verhalten in diesen Sprachspielen hinreichend erfasst werden könnte – in ihnen sind die Abläufe höchstens äußerlich, aber gerade nicht inhaltlich hinreichend wiederkehrend, sodass der Inhalt sich nicht in äußerlich erfassbaren Umständen niederschlagen kann. Es ist auch nicht so, dass die Maschine statt des Lernens situationstypischer Reaktionen einfach das Verfahren richtigen Entscheidens lernen könnte. Das Konzept des Sprachspiels erfasst nur die Vorgänge im Alltag regelmäßig verwendeter Sprache, ist aber nicht auf seine eigenen Konzepte iterativ anwendbar – was Bedeutung ist, was eine Regel, was Familienähnlichkeit, wie Regeln richtig angewendet werden etc. wird nicht selbst in einem Metasprachspiel verhandelt, aus dem es mit entsprechenden Methoden durch Beobachtung von Äußerlichkeiten erfasst werden könnte. Es gibt indes noch weitere, tiefergehende Gründe für die gerade aufgestellte Forderung: 2. Würde man den Menschen nicht nur eine Maschine zur Seite stellen, die Empfehlungen abgibt und so ein Teil der Arbeit erleichtern kann, sondern die Menschen im Sprachspiel tatsächlich funktional ersetzen, hätte das einige weitreichende Folgen: a) Wo die Ersetzung vollständig erfolgt, und d. h. auch keine von Maschinen unabhängige Prüfung mehr stattfindet, gehen die Richtigkeitskriterien verloren, und es entsteht ein selbstbestätigendes System. Das System mag ursprünglich einmal anhand eines realen Sprachspiels trainiert worden sein. Mit der Aufgabe des Sprachspiels geht es aber als Kriterium verloren, und wenn an seine Stelle maschinell erstellte Entscheidungen treten, dann sind diese nur noch deshalb maßgeblich, weil die Maschine eben diese Entscheidung gestellt hat. Man kann von solchen Entschei-

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dungen gar nicht mehr sagen, ob sie richtig oder falsch sind. Sie mögen dann wirksam sein, werden aber inhaltlich beliebig. b) Um Probleme juristisch fassen und Lösungen diskutieren zu können, einen Fall geeignet vortragen, über seine Entscheidung produktiv streiten und Entscheidungen prüfen zu können, bedarf es einer auf die juristische Problematik bezogenen Sprache. Die Sprache muss geeignet sein, die maßgeblichen Gesichtspunkte herauszustellen und die nötigen Unterscheidungen zu treffen. Eine solche Sprache bleibt nur erhalten, wenn sie tatsächlich gesprochen wird, d. h. wenn Menschen auf die jeweilige Sprachverwendung der Gegenseite reagieren. In dem Maße, in dem – und sei es nur für bestimmte Themenbereiche – die Sprachspiele verloren gehen, geht auch juristische Ausdrucksfähigkeit verloren. Man kann dann nicht einmal mehr ordentlich hinterfragen, ob Entscheidungen richtig bzw. geeignet sind. Das gilt selbst dann, wenn die Maschine Texte produziert, die einmal eine entsprechende Bedeutung hatten, denn ohne die aktiven Sprachspiele, werden sie nicht mehr mit der nötigen Präzision verstanden. Die Erklärung zur Automatisierung von Entscheidungsvorschlägen auf Basis maschinellen Lernens geht davon aus, dass bei der Anwendung des trainierten Modells Eingabedaten verwendet werden, die die maßgeblichen Gesichtspunkte des jeweiligen Falles herausstellen, sodass diese Information bei der Anwendung des Modells verfügbar ist. Diese Eingabedaten kann aber nicht die Maschine selbst generieren. Sie kann höchstens relevantere gegenüber weniger relevanten Informationen herausfiltern, aber sie kann nicht die Informationen originär erfassen und dabei sicherstellen, dass jedenfalls auch die relevanten Informationen enthalten sind (denn das wird in der Erklärung logisch vorausgesetzt). Schon hierfür werden weiterhin Menschen benötigt, die auch die juristisch-inhaltlichen Zusammenhänge so gut überblicken, dass sie den jeweiligen Fall entsprechend darzustellen vermögen. 3. Rechtliche Regeln haben in unserer Rechtsordnung keineswegs nur die Funktion, dass ein Rechtsstreit nach ihnen zu entscheiden ist. Sie haben etliche weitere Funktionen, von denen abschließend zwei herausgestellt werden sollen, für die sich ebenfalls Probleme ergeben. a) Eine Rechtsordnung funktioniert nur, wenn die Menschen in ihr typischerweise keine Juristen brauchen. Sie müssen in der Lage sein, ihre rechtlichen Angelegenheiten im Wesentlichen selbst zu pflegen. Wenn häufig professionelle Hilfe erforderlich wird, überfordert das die Institutionen schnell. Eine explizite Darstellung von Regeln und eine Diskussion ihrer Anwendung haben durchaus auch die Funktion, Menschen im Alltag in die Lage zu versetzen, sich darauf zu beziehen, und miteinander im Hinblick auf diese Regeln zu diskutieren (und zwar auch dann, wenn dabei keine professionelle Rechtsanwendung erfolgt). Je obskurer Entscheidungsprozesse werden, desto schwieriger wird dies. b) Vor allem aber ist die explizite Regelsetzung im positiven Recht ein Mittel, rechtliche Änderungen gezielt, gewaltenteilig und demokratisch herbeiführen zu können. Wenn die Rechtsanwendung immer nur einer bisherigen Praxis entnommen

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wird, geht diese Funktion, die Rechtslage nach einer demokratischen Entscheidung zu einem bestimmten Stichtag ändern zu können, verloren. Eine neue Praxis soll sich ja gerade erst danach einstellen, und das regelmäßig nicht einmal für Altfälle, sondern nur für neue. Erst wenn sich wirklich eine neue Praxis auf Basis der neuen Regel etabliert hat, könnte deren Abbild in Daten die Basis eines neuen Trainings im Rahmen eines maschinellen Lernprozesses sein. Bis dahin muss aber eine unmittelbar auf die Regeln des positiven Rechts bezogene Entscheidungsfindung erfolgen, oder die Grundsätze von Gewaltenteilung und Demokratie sowie des lex posterior-Grundsatzes würden verletzt. Anders ausgedrückt: Würde man die Entscheidungsfindung in einem Themengebiet so vollständig automatisieren, dass die Kapazitäten nicht mehr vorhanden sind, die Praxis nach einer Rechtsänderung wieder vollständig ohne Automaten zu betreiben, so würde das die Möglichkeiten von Rechtsänderungen beschränken. Und schon dann, wenn es als besonders aufwendig empfunden würde, die Praxis wieder vollständig durch Menschen zu übernehmen, läge darin ein Hemmnis für die Fortentwicklung der Rechtslage.

V. Fazit Beteuerungen, dass die Automatisierung juristischen Entscheidens ohnehin unmöglich wäre, kann man an vielen Stellen lesen. Die hier angestellten Überlegungen sollten zeigen, dass es so einfach nicht ist, sondern man sich durchaus vorstellen kann, dass mit Mitteln maschinellen Lernens auch bei der Rechtsanwendung Erfolge erzielt werden. Sie sollten zugleich zeigen, dass mit eventuellen Erfolgen aber durchaus tiefer liegende Probleme verbunden sein können. Was zunächst einmal zu funktionieren scheint, kann anfänglich unerkannte Kollateralschäden auslösen. Das bedeutet durchaus nicht, dass alle Entwicklungen in diese Richtung falsch wären. Langfristig erfolgreich werden sie auf Basis bisheriger Technik aber nur sein, wenn der Einsatz im Rahmen einer bisher bereits weitgehend schematischen Praxis erfolgt, den Charakter von Vorschlägen behält und die Verfahren zur inhaltlichen Kontrolle bestehen bleiben.

Metadogmatik Über die Methode der Herausbildung der strafrechtsdogmatischen Regeln Jesús-María Silva Sánchez

I. Die Sprache der Strafrechtsdogmatik 1. Sprache, Recht, Rechtsdogmatik Rechtstheoretiker sind sich nicht einig über die grundsätzliche sprachliche Einordnung von Rechtssätzen. Zu finden ist eine Dreiteilung in deskriptive, präskriptive und askriptive Sätze.1 Eine andere Meinung schlägt die Dreiteilung in deskriptive, evaluative und präskriptive Aussagen vor.2 Eine dritte Ansicht – um nur ein weiteres Beispiel zu nennen – unterscheidet zwischen deskriptiven, evaluativen und askriptiven Aussagen.3 In der Tat ist es notwendig, von vornherein zwischen den Sätzen der Gesetzessprache und jenen der Rechtsdogmatik zu unterscheiden, und zwar in dem hier interessierenden Bereich, der Strafrechtsdogmatik. Eine solche Klassifizierung kann außerdem aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. So soll z. B. die Einteilung der Aussagen in deskriptive und normative – wiederum evaluative oder präskriptive – den Inhalt der Dogmatik in ihrem positivistischen Begriff und in anderen, weiter gefassten Konzeptionen ihres Gegenstandes unterscheiden. In jener der reinen Rechtslehre eigenen Konzeption der Dogmatik kann diese nur deskriptive Aussagen über die möglichen Interpretationsmöglichkeiten eines Gesetzestextes enthalten.4 Ihrerseits sei die Bewertung der verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten des Textes selbst nicht mehr eine dogmatische, sondern eine rechtspolitische Tätigkeit. Dagegen schließt ein umfassenderes Konzept der Dogmatik diese bewertende Dimension ebenso ein wie die Aufforderung an die Rechtsanwender, sich für die eine oder andere Variante zu entscheiden.5

1 Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 1983, 415 ff.; Alcácer-Guirao, FS Ruiz Antón, 2004, 21 (25 ff.). Das Werk Hruschkas hat eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Rolle von askriptiven Aussagen innerhalb der Strafrechtsdogmatik gespielt: Schuhr, Rechtsdogmatik als Wissenschaft, 2006, 50. 2 von den Pfordten, Deskription, Evaluation, Präskription, 1993, 357 ff. 3 Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, 21. 4 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, 15 f., 107 f. 5 Stark, Interdisziplinarität der Rechtsdogmatik, 2020, 39 ff., 41 ff., 92 ff., 95 ff.

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2. Sprache und Strafrechtsdogmatik Für die Zwecke dieses Aufsatzes – der als Beitrag zur Ehrung von Jan C. Joerden anlässlich seines 70. Geburtstags konzipiert ist – ist die obige Unterscheidung von geringem Interesse. Eine Klassifizierung der Aussagen, die in der Sprache der Strafrechtsdogmatik vorkommen, muss mindestens die folgenden fünf Klassen berücksichtigen: deskriptiv, präskriptiv, sinnzuschreibend, bewertend und zurechnend. Sinnzuschreibende, bewertende und zurechnende Aussagen sind jene drei Arten von normativen Aussagen, die speziell von der Dogmatik der Straftatlehre verwendet werden. Bei allen dreien kann man sagen, dass sie eine askriptive Sprache verwenden. Allerdings ist diese weder deskriptiv noch präskriptiv. Die Inhalte dieser drei Arten von Sätzen sind jedoch unterschiedlich. Einer Tatsache Bedeutung zuzuschreiben ist nicht dasselbe wie über sie eine Wertung vorzunehmen oder jemandem diese gewertete Tatsache zuzurechnen. Darüber hinaus bedient sich die Strafrechtsdogmatik deskriptiver Aussagen. Andererseits kann man nur ungenau sagen, dass sie präskriptive Aussagen enthält. Deskriptive Aussagen sind solche der formalen – Logik und Mathematik – sowie der experimentellen Wissenschaften. Diese Aussagen können sich aber auch auf institutionelle Tatsachen beziehen, d. h. auf das Ergebnis menschlicher Konventionen.6 Die Straftatlehre verwendet sie beispielsweise, wenn sie sich auf den Wortlaut eines bestimmten Gesetzestextes bezieht. Wie bereits angedeutet, sollte dies in manchen Auffassungen von Rechtswissenschaft die wesentliche Aufgabe der Tätigkeit des akademischen Juristen sein: das positive Recht zu beschreiben.7 Es gibt jedoch noch weitere Fälle, in denen die Straftatlehre die Sprache deskriptiv verwendet. Die Beschreibung kann sich nämlich auf empirische Angaben, auf sachlogische Strukturen, auf sprachliche Tiefstrukturen oder auf die Welt der idealen – vermeintlich existierenden – Rechtsbegriffe beziehen. Diese außerstrafrechtlichen Strukturen können ihrerseits, außer im Fall der Empirie, einen askriptiven Inhalt innehaben. Kurz gesagt, beschreibende strafrechtsdogmatische Aussagen können auch deskriptiv für vorgegebene Bedeutungszuweisungen (i), Bewertungen (ii) und Zurechnungen (iii) sein. Dann sind sie metasprachliche Aussagen. Es wird allgemein behauptet, dass die Strafrechtslehre bei der Formulierung von Aussagen dieser Art als theoretische Disziplin fungiert.8 Präskriptive Aussagen hingegen sind typisch für die Sprache der Normen. In der Strafrechtslehre ist es üblich zu verstehen, dass sich hinter den gesetzlichen Tatbeständen Verhaltensnormen verbergen, die für die Bürger verbindlich sind. Aber präskriptive Aussagen gehören nicht zur Sprache der Strafrechtsdogmatik. In der Strafrechtslehre wird der präskriptive Modus, wenn auch in unzulässiger Weise, verwendet, wenn jemand behauptet, dass eine bestimmte Lösung – die er für richtig hält – 6

Puppe (Fn. 3), 21. Alcácer-Guirao, FS Ruiz Antón, 28 Fn. 29. 8 Kindhäuser, FS Yamanaka, 2017, 443 (446 f.). 7

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vom Rest der wissenschaftlichen Gemeinschaft oder von den Gerichten akzeptiert werden muss. In der Strafrechtsdogmatik werden deskriptive Sätze also durchaus in fünf Kontexten gebraucht: bei der Verwendung von empirischen, sachlogischen, logisch-analytischen, rechtsbegrifflichen Aussagen oder von Aussagen, die sich auf den Wortlaut des Gesetzes beziehen. Wie bereits erwähnt, handelt es sich dabei um metasprachliche Aussagen.9 Das heißt, sie haben eine bereits bestehende Aussage zum Gegenstand: jene, die von experimentellen Wissenschaftlern, Philosophen der einen oder anderen Strömung, von der Rechtswissenschaft oder vom Gesetzgeber formuliert wurde. Sie sind erkennbar, wenn wir z. B. sagen: „Die wissenschaftliche Forschung sagt (…)“ oder „Das Gesetz lautet (…)“, „Die analytische Handlungstheorie behauptet (…)“ oder „Der Rechtsbegriff ist (…)“. Eine beschreibende Sprache sollte natürlich auch dann verwendet werden, wenn man sich auf ein fremdes Lehrgebäude bezieht. Das Verhältnis von deskriptiven Sätzen zu empirischen Aussagen in der Strafrechtsdogmatik ist umstritten. Zunächst lässt sich sagen, dass eine empirische Aussage, von außen betrachtet, die dogmatische Tätigkeit begrenzt. Insbesondere kann die faktische Prämisse einer bestimmten dogmatischen Regel nicht im Widerspruch zu verifizierten oder nicht falsifizierten empirischen Aussagen stehen. Sie kann also nicht auf gefälschten Aussagen beruhen. Aber empirische Aussagen können den Inhalt der Regel selbst nicht binden. Eine andere Rolle kommt den deskriptiven Aussagen über logisch-analytische oder sachlogische Strukturen zu.10 So argumentierte beispielsweise Welzel, dass eine strafrechtliche Begriffsbildung, die sachlogische Strukturen ignoriert, zum Scheitern verurteilt sei, weil sie nicht in der Realität verankert sei.11

3. Normative Urteile Die eigentliche Sprache der Strafrechtsdogmatik ist jedoch die askriptive, die für jene Begriffe und Urteile charakteristisch ist, die „normativ“ genannt werden. Diese Sätze nehmen einen vorgegebenen beschreibenden Satz und verarbeiten ihn nach einem bestimmten Schema. Je nachdem, welchen Code sie als Maßstab nehmen, führen sie dazu, einem Ereignis eine Bedeutung zuzuweisen, es zu bewerten, nachdem ihm eine Bedeutung zugewiesen wurde, oder das so bewertete Ereignis einem Subjekt zuzurechnen.12 Innerhalb der Straftatlehre sind die Aussagen zur Bedeutungszuweisung und zur Bewertung spezifisch für die Tatbestands- und Rechtfertigungsleh9

Schuhr (Fn. 1), 163. Dazu Joerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, 1986, 43 ff., 70 ff.; ders., Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs, 1988, 16 ff., 87 ff.; ders., Logik im Recht, 2. Aufl. 2010, 2 f., 43 ff. 11 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, 37 ff. 12 Silva-Sánchez, GS Hruschka, JRE 27 (2019), 667 (675 ff.). 10

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re.13 Die Zurechnungsurteile hingegen gehören zur Lehre der Handlung, vom Vorsatz oder der Fahrlässigkeit und vom Schuldvorwurf. So wird beispielsweise beim Urteil über die Tatbestandsmäßigkeit festgestellt, ob eine Tat den Sinn einer „Tötung“ hat, ob ein Täter als „Amtsträger“ angesehen werden kann oder ob ein Gegenstand eine „Sache“ ist. Dieses Urteil geht jedoch über die Bestimmung der Bedeutung eines Verhaltens hinaus und enthält auch wertende Aussagen über dieses Verhalten. So z. B., ob die Tathandlung sozial adäquat ist oder ein erlaubtes Risiko darstellt. Darüber hinaus müssen bei allen Tatbeständen, die normative Elemente enthalten oder eine rechtliche oder soziale Bewertung erfordern, wertende Urteile getroffen werden, um die Tatbestandsmäßigkeit der Handlung zu bestimmen. Im Urteil über die Rechtfertigung eines tatbestandsmäßigen Verhaltens werden grundsätzlich Werturteile gefällt. Paradigmatisch ist in diesem Zusammenhang das Erfordernis des Notstandes, dass das im Notstand geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Auf den systematischen Ebenen der Handlung, des Vorsatzes (oder der Fahrlässigkeit) und der Schuld hingegen geht es um die Zurechnung der Tat zu einem Subjekt. Der Leitgedanke ist die Möglichkeit – und Zumutbarkeit – der Vermeidung des fraglichen Verhaltens. Aber auch in den systematischen Bereichen der Rechtfertigung und der subjektiven Zurechnung werden Urteile über die Bedeutungszuweisung gefällt. 4. Ontologisch, deskriptiv, normativ Betrachtet man die Arbeitsweise der Strafrechtsdogmatik, so zeigt sich, dass eine Quelle der Uneinigkeit darin besteht, ob ein Begriff nach der deskriptiven oder der askriptiven Methode zu konstruieren ist. Dies kommt häufig dadurch zum Ausdruck, dass darüber gestritten wird, ob ein Konzept deskriptiv oder normativ „sein“ muss, z. B. über den Vorsatzbegriff.14 Ähnlich verhält es sich mit der Frage, ob ein bestimmter Begriff – z. B. der Handlungs- bzw. Unterlassungsbegriff – ontologisch oder normativ „ist“. In der Tat kann es Unterschiede geben zwischen denjenigen, die die Bildung eines Begriffs als deskriptiv vorschlagen, und jenen, die behaupten, er müsse ontologisch sein. Wer deskriptive Begriffe formuliert, will sie auf eine empirische – bzw. logischanalytische – Gegebenheit beziehen. So wird beim deskriptiven Vorsatzbegriff argumentiert, dass dieser etwas widerspiegelt – oder widerspiegeln muss –, was in der Psyche eines Menschen vor sich geht und dessen Existenz mit empirisch-klinischen Methoden ermittelt werden sollte. Ähnlich verhält es sich mit deskriptiv-individualisierenden Schuldbegriffen. Andererseits scheinen diejenigen, die die Verwendung ontologischer Begriffe vorschlagen, von vornherein auf eine Tiefenstruktur des Seins 13 14

Sánchez-Ostiz, FS Roxin, 2011, 361 (366 ff.). Mylonopoulos, Komparative und Dispositionsbegriffe im Strafrecht, 1998, 167 ff.

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zu verweisen, so dass solche Begriffe metaphysische Resonanzen haben. So bezieht sich beispielsweise ein ontologischer Schuldbegriff – wie der sachlogische – auf eine metaphysische Eigenschaft des menschlichen Handelns. Tatsächlich gehen jedoch viele Verfechter ontologischer Begriffe nicht von einer metaphysischen Ontologie aus, sondern fordern lediglich, dass die empirische Realität respektiert werden sollte. In Wirklichkeit ist dies nicht verkehrt. Der Begriff Ontologie bezeichnet die Theorie des Seins. In diesem Rahmen stellt der Naturalismus – dessen Postulat lautet, dass es kein anderes Sein gibt als jenes, das durch empirische Erfahrung bestimmt wird – eine (anti-metaphysische) Ontologie dar. Ebenso ist der Konstruktivismus – der postuliert, dass die empirische Realität sinnlos ist, so dass nur das einen Sinn ergibt, was Menschen durch Kommunikation produzieren – eine Ontologie. Dies führt zu dem Paradox, dass das paradigmatische Werk des strafrechtlichen Normativismus – jenes von Jakobs – seinen Ausgangspunkt in einer ontologischen These hat: im Konstruktivismus. In der Tat geht Jakobs von einer konstruktivistisch-holistischen Ontologie aus. In seinem Ansatz ist die Straftat eine Frage der sozialen Semantik des menschlichen Handelns.15 Die Straftatdogmatik muss also von einer wahren Beschreibung der Bedeutungen ausgehen, die den Tatsachen in der sozialen Kommunikation zugewiesen werden. Sie muss außerdem von den Bewertungs- und Zurechnungsregeln ausgehen, die einem bestimmten Sozialmodell immanent sind. Diese Regeln sind institutionelle Tatsachen einer Gesellschaft – ein Ausdruck des Zeitgeistes –, in denen diese ihre normative Identität zum Ausdruck bringt. Die Methode von Jakobs ist also (wie die von Hegel) deskriptiv für eine bereits bestehende (immanente) Normativität. Dann geht es darum, eine Strafrechtsdogmatik zu konstruieren, die für diese normative Identität funktional ist. Hier beginnt die Funktionalisierung als eine Form der strafrechtlichen Normativierung.

II. Die Methode der Ausarbeitung von dogmatischen Regeln 1. Kriterien für die Gestaltung von dogmatischen Regeln Die Urteile der Bedeutungszuweisung, der Bewertung und der Zurechnung sind das Ergebnis bestimmter Regeln. Gerade bei deren Formulierung werden die Unterschiede in der Strafrechtslehre deutlich. Dies wurde bereits bei der Gegenüberstellung des deskriptiven und des askriptiven Vorsatzbegriffs bzw. des ontologischen und des normativen Unterlassungsbegriffs angedeutet. Es gibt drei grundsätzliche methodische Optionen für die Ausarbeitung der Regeln für die Bedeutungszuschreibung, die Bewertung und die Zurechnung: (i) die strukturelle Methode (mit empirischen, sachlogischen, logisch-analytischen oder rechtsbegrifflichen Varianten); (ii) die formalgesetzliche Methode; und (iii) die axiologisch-teleologische Methode. Die strukturelle Methode – mit Ausnahme ihrer rechtsbegrifflichen Variante – steht im 15

Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, 17.

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Einklang mit dem, was oben in Bezug auf die Konstruktion von ontologischen bzw. beschreibenden Konzepten diskutiert wurde. Die rechtsbegriffliche Variante der strukturellen Methode (i), die formalgesetzliche Methode (ii) sowie die axiologisch-teleologische Methode (iii) sind hingegen Varianten des Normativismus. Die strukturelle Methode beruht nämlich auf der Annahme, dass es vor dem Gesetz Strukturen gibt, die die Formulierung dogmatischer Regeln binden. Wer sich dieser Methode bedient, glaubt außerdem, dass solche Strukturen die Ausarbeitung dogmatischer Begriffe vollständig oder fast vollständig leiten können. Diese Strukturen sind in der empirischen, metaphysisch-anthropologischen bzw. sprachlichen Wirklichkeit oder in der Welt der ideellen Rechtsbegriffe zu finden. Die formalgesetzliche Methode geht hingegen davon aus, dass es die strafgesetzlichen oder außerstrafgesetzlichen Bestimmungen sind, die die dogmatische Ausarbeitung von Rechtsbegriffen binden und zu Ende führen. Die axiologisch-teleologische Methode schließlich geht davon aus, dass das Leitkriterium der begrifflichen Ausarbeitung ein Bewertungskriterium, insbesondere das angestrebte Telos ist. Dieses Telos wird durch die allgemeine Aufgabe des Strafrechts und im Rahmen dieser Aufgabe durch die Ziele der einzelnen Rechtsinstitute vorgegeben. Es ist üblich, dass die Befürworter von teleologischen Kriterien sowie von einigen strukturellen – den sachlogischen oder den empirischen – Kriterien den „materiellen“ Charakter ihrer Thesen beanspruchen. Dagegen gelten Kriterien, deren Leitgedanke durch eine Gesetzesvorschrift oder ein logisch-analytisches bzw. rechtsbegriffliches Strukturkriterium vorgegeben ist, als formal. Die Gegenüberstellung der formal-objektiven und der materiell-objektiven Täterbegriffe ermöglicht es beispielsweise, diese methodische Divergenz festzustellen. Die strukturelle Auffassung der Ausarbeitung dogmatischer Begriffe zielt darauf ab, dass sie eine Realität widerspiegeln, die dem Recht vorausgeht. In ihrer formalrechtlichen Variante sollen diese Begriffe die abstrakte Realität des Rechtlichen selbst widerspiegeln. Wie bereits erwähnt, wird diese Art der dogmatischen Tätigkeit oft als ontologische Dogmatik bezeichnet. Diese Bezeichnung ist jedoch unzutreffend. An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was die relevanten Strukturen der Wirklichkeit sind: empirisch, metaphysisch, sachlogisch, sprachlich (logisch-analytisch) oder rechtsbegrifflich. Daher ist es im Allgemeinen besser zu sagen, dass diese Lehren deskriptive metasprachliche Begriffe bearbeiten. Was unterschiedlich ist, ist der beschriebene Gegenstand. Um einige Beispiele zu nennen: Verlassen wir die Straftatlehre und wenden uns den allgemeinen Strafrechtslehren zu, so besteht der Kern der Diskussion zwischen den Befürwortern einer empirischen und den Verfechtern einer metaphysischen Vergeltung darin, dass Erstere versuchen, einen deskriptiven Begriff der sozialen Auffassung davon zu erhalten, wann eine Strafe verdient ist, und Letztere einen ontologischen (oder philosophischen) Strafwürdigkeitsbegriff anstreben. Um auf die Straftatlehre zurückzukommen: Die kausalen, finalen oder negativen Handlungsbegriffe

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sind struktureller Art, auch wenn sie sich in ihrer Auffassung der Handlungswirklichkeit (empirisch, sachlogisch, formalrechtlich) unterscheiden. Ganz allgemein haben die strafrechtlichen Lehren eine starke strukturelle Dimension, die auf einer bestimmten (klassischen oder analytischen) Handlungstheorie oder auf einer (klassischen oder analytischen) Normentheorie beruhen. Ihre Konstruktionen beruhen nämlich auf einer bestimmten Handlungs- bzw. Normlogik.16 Außerdem ist es möglich, dass der Rückgriff auf einen Begriff, der aus der Sicht der Strafrechtslehre metasprachlich-deskriptiv ist, mit der Tatsache vereinbar ist, dass er in seinem außerstrafrechtlichen Ursprung (in der Objektsprache) askriptiv ist. Wer z. B. einen strafrechtlichen Vorsatzbegriff entwickelt, kann von einem außerstrafrechtlichen askriptiven Vorsatzbegriff ausgehen, den er beschreibt – er beschreibt eine Zurechnung – und für die strafrechtliche Zurechnung als begrifflich verbindlich erachtet. Die formalgesetzlich orientierte Dogmatik versucht, Begriffe im Gesetz zu finden. Ihr Paradigma ist also das Konzept, das durch eine gesetzliche Definition oder jedenfalls durch eine systematische Auslegung der gesetzlichen Vorgaben in Bezug auf ein bestimmtes Rechtsinstitut gewonnen wird. Der Begriff kann durch das Strafgesetz, aber auch durch ein außerstrafrechtliches Gesetz vorgegeben sein. In diesen Fällen geht die formalgesetzliche Lehre von der „akzessorischen“ Konstruktion der strafrechtlichen Begriffe auf der Grundlage solcher außerstrafrechtlichen Vorschriften aus. Die Debatte über die Annahme einer formaljuristischen (oder akzessorischen) oder einer faktischen (bzw. wirtschaftlichen, autonomen) Perspektive bei der Ausarbeitung von Begriffen des Vermögens- und Wirtschaftsstrafrechts ist ein Spiegelbild des Gegensatzes zwischen der formalgesetzlichen und einer Variante der teleologischen Methode. In der Tat orientiert sich die axiologisch-teleologische Dogmatik bei ihrer begrifflichen Ausarbeitung an den Zielen des Strafrechts, insbesondere an der Strafwürdigkeit des Verhaltens. Auf einer niedrigeren Abstraktionsebene wird dann eine Verbindung zu den Zielsetzungen der jeweiligen Rechtsfigur oder des jeweiligen Instituts hergestellt. Obwohl der Ausdruck mehrdeutig ist, werden diese Konzepte häufig als „funktional“ bezeichnet. Ein funktionaler Vorsatzbegriff beispielsweise definiert diesen zunächst als „schwerste Form der subjektiven Zurechnung“, und ein funktionaler Täterbegriff assoziiert diesen von vornherein mit der gravierendsten Beteiligungsform. Es gibt jedoch eine große Vielfalt an funktionalen Konzepten, je nach dem Telos der Funktionalisierung.17 Generell kann das Urteil über die mehr oder weniger hohe Strafwürdigkeit eines Verhaltens auf der Grundlage eines individuellen Maßstabs erfolgen (i) oder als Produkt einer expliziten (diskursiven, deliberativen)

16

Joerden, Logik im Recht, 293 ff. Neumann, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Perspektiven der Strafrechtsentwicklung, 1996, 57 (60 ff.). 17

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sozialen Vereinbarung (ii)18 bzw. einer impliziten sozialen Dynamik (iii)19 konzipiert sein. Die Auswirkungen der vorgenommenen Dreiteilung der methodischen Perspektiven lassen sich an den folgenden vier Lehrmeinungen – von denen zwei parallel verlaufen – zur Konstruktion des Unterschieds zwischen Täterschaft und Teilnahme im Strafrecht ablesen; also derjenigen, die behaupten: (i) dass die Täterschaft eine andere sachlogische Struktur darstellt, die sich materiell von jener der Teilnahme unterscheidet (materiell-objektive ontologische Lehren); (ii) dass die Täterschaft eine logisch-analytische Struktur ist, die sich von der Teilnahme unterscheidet (sprachlogische Lehren bzw. Lehren, die auf der Grundlage einer Handlungstheorie konstruiert werden); (iii) dass sich die Täterschaft in formalgesetzlicher Hinsicht von der Teilnahme unterscheidet, da der Täter die tatbestandsmäßige Handlung ausführt, der Teilnehmer hingegen nicht (formal-objektive Lehren); und (iv) dass die Täterschaft schwerer wiegt und daher eine höhere Strafwürdigkeit bzw. -bedürftigkeit zeigt als die Teilnahme (normativ-teleologische oder funktionale Lehren). 2. Die Integration der Methoden Die drei oben genannten Methoden kommen ins Spiel, sobald es darum geht, einen strafrechtsdogmatischen Begriff zu konstruieren. Jedes dogmatische Problem kann aus einer strukturellen (sach- oder formallogischen), einer axiologisch-teleologisch-funktionalen und einer exegetisch-gesetzlichen Perspektive betrachtet werden. Die unterschiedlichen Lösungsvorschläge ergeben sich daher aus den verschiedenen Gewichtungen der Argumente, die aus der einen oder anderen Perspektive stammen. Es ist jedoch zu betonen, dass es – wie bereits erwähnt – Abweichungen gibt, wenn es darum geht, eine bestimmte Ausrichtung innerhalb jeder der drei Methoden zu übernehmen. Darüber hinaus werden häufig eklektische Ansätze gewählt. So ist z. B. die dogmatische Methode von Roxin eklektisch – askriptiv-deskriptiv (normativ-ontologisch). Dies war bereits in seinem Werk über die Täterschaft klar zu erkennen,20 wurde dann aber in seiner letzten Rekonstruktion der komplexen Systemkategorie der Verantwortlichkeit (Schuld und präventive Strafbedürftigkeit) besonders deutlich gemacht. In den eklektischen Lehren werden zuweilen die Grenzen betont, die sich aus dem Gegenstand ergeben, der nicht als bloßes Faktum, sondern als eine Wirklichkeit mit einer Sinndimension verstanden wird.21 Manchmal hingegen wird die teleologische Ausrichtung stärker betont. Die Aufgabe, die Roxin dem Straftatsystem zuschreibt, besteht darin, Lösungen zu formulieren, die dem Gegenstand 18

Neumann (Fn. 17), 57, 68: „diese normativen Konzeptionen beziehen sich nicht auf metaphysische Modelle einer notwendigen Strafe, sondern auf höchst menschliche Vorstellungen von Gerechtigkeit“. 19 Jakobs (Fn. 15), 17. 20 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 1963, passim. 21 Roxin, GS Radbruch, 1968, 260 (265).

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(den psychologisch-empirischen Daten) angemessen sind, und diese klar und geordnet in ihren strukturellen und teleologischen (funktional-normativen) Beziehungen darzustellen – all dies im Rahmen des positiven Rechts. Ein paradigmatisches Beispiel dafür ist die Methode, die Roxin schon früh angewandt hat, um der Täterschaft bei Herrschaftsdelikten einen Inhalt zu geben. Zunächst ging er zur Normativierung des ontologischen (Welzel’schen) Begriffs der Tatherrschaft über.22 Dann griff er auf eine quasi-analoge Begründung mit zunehmender Normativierung (oder Entmaterialisierung) zurück, wobei er die direkte Täterschaft (Handlungsherrschaft) als Ausgangspunkt nahm. Dies veranlasste Roxin, den Inhalt der Mittäterschaft (als funktionale Tatherrschaft) sowie der mittelbaren Täterschaft (als Willensherrschaft) zu unterteilen. Wie bekannt, ist in der Kritik hervorgehoben worden, dass diese Methode die ontologische Grundlage zugunsten der teleologischen Dimension schwächt oder (etwas anders ausgedrückt), dass sie zwischen dem Faktischen und dem Normativen oszilliert.23 So wurde Roxins Lehre, wie es bei eklektischen Stellungnahmen häufig der Fall ist, von allen Seiten kritisiert: aus formalgesetzlicher, sachlogischer, logisch-analytischer und schließlich funktionaler Sicht. Es ist zu beachten, dass bei der Ausarbeitung von dogmatischen Regeln de lege lata die gesetzlichen Vorgaben entscheidend sind: Gesetzlichkeitsprinzip! Das konkrete Ausmaß, in dem dies der Fall ist, hängt auch bei nicht-formalgesetzlichen Ansätzen offensichtlich von der Ausführlichkeit und Rigidität ab, mit der der Gesetzgeber den Gegenstand geregelt hat, zu dem ein Begriff ausgearbeitet werden soll. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet die Diskussion über die Mittäterschaft in Deutschland. Im deutschen Strafgesetzbuch gibt es – anders als etwa im spanischen – keine gesetzliche Regulierung der Rechtsfigur der sog. Hauptgehilfenschaft, d. h. eine Beteiligungsform, die mit der gleichen Strafe wie die Täterschaft bedroht ist. In Deutschland werden alle Formen der Beihilfe mit einer geringeren Strafe belegt. Dieser gesetzliche Rahmen bedingt also die dogmatische Debatte über die Ausweitung der Mittäterschaft aus funktional-teleologischen Gründen. Teleologische Argumente sind sicherlich von großer Bedeutung. Aber freilich kann die Dogmatik de lege lata weder strafrechtliche Begriffe in einer Weise konstruieren, die dem Gesetz zuwiderläuft, noch kann sie das Gesetz übermäßig forcieren. Die Diskussion über einen funktionalen Gewaltbegriff macht dies deutlich. Andererseits erscheint es auch unvernünftig, dogmatische Begriffe zu konstruieren, ohne die begrifflichen Strukturen der außerrechtlichen Realität zu berücksichtigen. Man kann wohl behaupten, dass die beste Lehre diejenige ist, die ein optimales „reflexives Gleichgewicht“ zwischen strukturell-begrifflichen, funktional-teleologischen und gesetzlichen (systematisch-grammatikalischen) Anforderungen herstellt.

22 23

Roxin, Strafrecht AT, Band II, 2003, 25, 38 ff. Haas, Die Theorie der Tatherrschaft und ihre Grundlagen, 2008, 21 ff., 26.

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So muss zum Beispiel die Annahme von einer „mutwilligen Unkenntnis“ (willful blindness)24im Bereich der schwerwiegendsten Form der subjektiven Zurechnung, die wir als Vorsatz bezeichnen, aus dieser dreifachen Perspektive betrachtet werden. Erstens soll erörtert werden, ob ein Vorsatzbegriff, der die außerstrafrechtliche Wirklichkeit berücksichtigt, die Integration dieser Figur zulässt. Ein deskriptiver Vorsatzbegriff für dessen vermeintliche empirisch-klinischen Realität dürfte eine solche Figur ausschließen. Ebenso dürfte sie von einem deskriptiven Vorsatzbegriff ausgeschlossen werden, der außerrechtliche Vorsatzzuschreibungen auf der Grundlage von Sprachstrukturen beschreibt. Zweitens ist zu erörtern, ob die positiven Rechtsvorschriften der einzelnen Länder eine solche Einbeziehung de lege lata zulassen oder im Gegenteil dagegensprechen. Dies wäre dann der Fall, wenn es eine gesetzliche Vorsatzdefinition gäbe, die eine solche Figur ausschließen würde. Drittens sollte eine axiologisch-teleologische Debatte darüber geführt werden, ob zumindest einige Fälle von willful blindness die gleiche Strafe verdienen wie Fälle von sicherem Wissen.

III. Der Inhalt der dogmatischen Regeln und die Beweisfrage Dogmatische Regeln haben eine erkennbare Struktur. Jede dogmatische Regel verknüpft die Anwendung einer bestimmten Rechtsfolge mit der Feststellung eines bestimmten Sachverhalts. Z. B.: einem Subjekt ist ein vorsätzliches Verhalten zuzurechnen, wenn er um die Tatbestandsverwirklichung weiß. Das ist, was die Regel „Vorsatz ,ist‘ Wissen, und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“, heißt. Die Rechtsfolge kann in der strafrechtlichen Bedeutungszuweisung zu einem Verhalten, in der strafrechtlichen Bewertung von dessen Bedeutung oder in der strafrechtlichen Zurechnung des bewerteten Verhaltens zu einem Subjekt bestehen. Die Fragen lauten entsprechend: Wann ist einer Handlung die Bedeutung einer „Täuschung“ zuzuweisen? Wann ist eine Handlung als „angemessen“ zu bewerten? Wann ist eine Tat als „vorsätzlich“ zuzurechnen? Hier ist es notwendig, die Argumente zu liefern, die den Übergang von der Ebene des Seins (der Tatsachen) zur Ebene des Sollens begründen. Solche Argumente (begrifflich-struktureller, gesetzlich-exegetischer sowie axiologisch-teleologischer Art) sollen die Hauptprämisse jeder dogmatischen Regel stützen. Die Mitglieder der dogmatischen Gemeinschaft streiten seit Jahren und Jahrzehnten, sogar Jahrhunderten über ihre Richtigkeit. Die gerichtliche Behandlung einer dogmatischen Regel erfordert daher in erster Linie, dass man von ihrer rechtlichen (Haupt-)Prämisse ausgeht – z. B. was die Täterschaft angeht: Täter ist, wer die Tatherrschaft hat. Zweitens ist zu prüfen, ob die faktische Grundlage der Regel mit den nachgewiesenen Tatsachen vereinbar ist – ob dem Subjekt S. eine Tatherrschaft nachgewiesen worden ist. Ist dies der Fall, so muss der Richter die Regel auf den nachgewiesenen Sachverhalt anwenden und die ent24

Ragués-i-Vallès, GA 2021, 1 (7 ff.).

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sprechende Rechtsfolge bestimmen: S. „ist“ Täter und soll ergo mit der Täterstrafe bestraft werden. Im Allgemeinen haben dogmatische Regeln jedoch eine komplexere Struktur als die oben beschriebene. Normalerweise müssen mehrere Ketten von dogmatischen Regeln aufgebaut werden, bis eine beweisbare Tatsachengrundlage erreicht ist. So kann beispielsweise die Regel „als Täter gilt derjenige, der die Tatherrschaft hat“ gelten, aber dennoch nicht anwendbar sein. Hinzu soll eine weitere Regel kommen, nach der z. B. „derjenige, der Handlungsherrschaft hat, als einer derjenigen gilt, die die Tatherrschaft haben“. Aber auch diese Regel ist nicht anwendbar. Eine dritte, konkretere Regel ist erforderlich, die besagt, dass „derjenige, der das tatbestandsmäßige Verhalten mit eigener Hand ausführt, als einer derjenigen verstanden wird, die Handlungsherrschaft haben“. Erst zu diesem Zeitpunkt muss festgestellt werden, ob bewiesen ist, dass das Subjekt auf diese Weise gehandelt hat. Dies stellt den Übergang von dogmatischen zu Beweisregeln dar. Es ist jedoch nicht immer klar, ob es sich bei einer bestimmten Regel um eine normativ-materiellstrafrechtliche Regel – im Falle des Vorsatzes um eine Zurechnungsregel – oder um eine Beweisregel handelt. So ist beispielsweise bei der Regel zum Vorsatzbegriff von der in allen Rechtsordnungen eindeutigen gesetzlichen Prämisse auszugehen, dass Vorsatz der schwerwiegendste Titel der subjektiven Zurechnung ist. Auf dieser Grundlage bleibt jedoch – wie bereits erwähnt – strittig, ob der Vorsatzbegriff ein deskriptiver oder ein askriptiv-normativer ist. Wenn man zu dem Schluss kommt, dass es sich um einen empirisch-deskriptiven Begriff handelt – was auch immer dieser sein mag –, muss sein Inhalt bereits bewiesen werden. Aber nehmen wir mal an, dass man sich mit überzeugenden Gründen für den Weg der Formulierung eines askriptiv-normativen Begriffs entscheidet. In einem nächsten Schritt ist auf der Grundlage dogmatischer (begrifflich-struktureller bzw. axiologisch-teleologischer) Argumente zu bestimmen, in welchen Fällen eine Zuschreibung von Vorsatz angebracht ist. Der Stand der Diskussion über diese dogmatische Zurechnungsregel besagt, dass sie nur für Fälle von Wissen und Wollen oder auch für Fälle von Wissen „ohne Willen“ oder schließlich sogar für einige Fälle von Nichtwissen (willful blindness) gelten kann. Nehmen wir an, dass man – wiederum auf der Grundlage der entsprechenden dogmatischen Argumentation – zu dem Schluss kommt, dass der Begriff des Vorsatzes nur Fälle der Wissentlichkeit erfassen sollte, nicht mehr und nicht weniger. In einem solchen Fall besteht jedoch erneut ein methodischer Zweifel. Er betrifft die Frage, ob die Wissentlichkeit bereits ein Beweisgegenstand ist oder ob sie Gegenstand einer neuen materiellrechtlichen Zurechnung sein muss; kurz gesagt, ob die Feststellung des Täterwissens nunmehr eine beschreibende Frage ist – eine Tatsachenfrage, die Beweisgegenstand sein muss – oder im Gegenteil noch eine Rechtsfrage. Im letzteren Fall ist es immer noch notwendig, rechtlich-normative Kriterien für die Zuschreibung von Wissen zu finden. Die Unterscheidung zwischen normativen (materiellrechtlichen) Kriterien der Wissenszurechnung und prozessrechtlichen Kriterien des Wissensnachweises ist nicht sehr

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klar. Eindeutig ist jedoch, dass es sich sowohl in kategorialer Hinsicht als auch in Bezug auf die gerichtliche Kompetenz um zwei verschiedene Welten handelt. Wenn es sich bei der Feststellung der Wissentlichkeit um eine Tatfrage handelt, muss man vom materiellen Strafrecht zum Verfahrensrecht und insbesondere zum Beweisrecht übergehen. Dies bedeutet, dass man sich mit den Problemen der Indizienbeweise als Mittel des indirekten Beweises sowie mit der – angeblich aus den Gesetzen der Logik und der Erfahrung abgeleiteten – Verbindung zwischen solchen Beweisen und der bewiesenen Tatsache des Täterwissens auseinandersetzen muss. Handelt es sich beim Täterwissen hingegen um eine Rechtsfrage, d. h. um eine Zurechnung, so muss noch die strafrechtsdogmatische materielle Regel formuliert werden, auf deren Grundlage die Wissentlichkeit zugerechnet werden kann. Dazu ist es erforderlich, „Indikatoren“ – nicht Indizien! – für das Wissen zu konstruieren und zu begründen, warum bestimmte Indikatoren so sein sollten und andere nicht. Diese Indikatoren wären wiederum Gegenstand – nicht Mittel! – des Nachweises. Damit wird deutlich, dass die methodische Diskussion über strafrechtsdogmatische Regeln eine zusätzliche Projektion auf die Unterscheidung zwischen materielle und beweisrechtliche Fragen hat. Dies wirkt sich wiederum auf die Rechtsmittel und die Zuständigkeit der Gerichte aus, die über diese Beschwerden zu entscheiden haben. Lieber Herr Joerden, ad multos annos!

Philosophie und Ethik vs. Realistische wissenschaftliche Rechtslehren Eine (freundliche) „Streitschrift“! Gerhard Wolf Mit dem Jubilar verbinden mich 25 Jahre gemeinsamen Bemühens um „das Strafrecht“ an der Viadrina. Dazu gehörten der Aufbau der strafrechtlichen Lehrstühle1 an der neu gegründeten Europa-Universität, das Engagement für das Collegium Polonicum2, das langjährige deutsch-polnische Forschungsprojekt „Kriminalität im Grenzgebiet“3 und gemeinsame hochschulpolitische Bestrebungen4. Unserer wissenschaftlichen Arbeit liegt der übereinstimmende (heute eher ungewöhnliche) Ansatz zugrunde, dass eine Rechtslehre sich mit den Grundfragen beschäftigen muss, von deren Beantwortung letzten Endes die Lehren zu juristischen Einzelthemen abhängen. Die Wege, auf denen der Jubilar und ich Antworten auf diese Fragen gesucht haben und suchen, sind völlig andere: Die Orientierungspunkte für Joerden sind Philosophie und Ethik, mein Ansatzpunkt ist die (zu klärende und dann anhand der Grundlagen kritisch zu analysierende) bestehende Rechtslage. Ich halte „Philosophie“ für einen historisch überholten Irrweg und ethische „Lehren“ (im Unterschied zu selbstverantwortetem „Ethos“) für eine anmaßende Bevormundung. Joerden hält meinen streng juristischen Ansatz für „positivistisch“ und damit für letztlich belanglos, weil mit dem berühmten Federstrich des Gesetzgebers in der Tat (fast) alles zu Makulatur werden kann. Kurz: Zwischen seinen ideengeschichtlich und auf „Sollen“ ausgerichteten Lehren und meinen, rechtswissenschaftlich strikt auf „Sein“ bezogenen Arbeiten liegen die redensartlich bekannten Welten!

1

Das war vor allem das Verdienst des zuerst berufenen, kürzlich verstorbenen Kollegen Uwe Scheffler, der allein und „bei Null“ angefangen hat. 2 Das war und ist das bleibende Verdienst des Jubilars, das die Adam-Mickiewicz-Universität Posen mit dem Ehrendoktortitel gewürdigt hat. 3 Hier war ich (organisatorisch, nicht sachlich) „federführend“. 4 … bis zum Scheitern der gemeinsamen Verfassungsbeschwerde Joerden, Scheffler, Wolf et al. gegen die brandenburgische Hochschulgesetzgebung (BVerfGE 111, 333 ff.). Ich habe mich aufgrund dieser Entscheidung in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet und arbeite seitdem zufriedener und produktiver als zuvor weiter.

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Die Herangehensweise des Jubilars ergibt sich umfassend aus dem von ihm (mit-) herausgegebenen „Handbuch Rechtsphilosophie“5 – das ist eine wirkliche Handreichung bei der Beschäftigung mit dem Thema „Recht und Ethik“6, die ich mit großem Respekt vor dieser Leistung meiner folgenden Kritik in den Sachauffassungen und der Gegenüberstellung mit meinen eigenen Lehren zugrunde legen kann7. Mögen uns die Auseinandersetzungen über diese Fragen noch lange erhalten bleiben: ad multos annos!

I. Die vermaledeite Frage: „Was ist Recht?“ Das erste Anliegen jedes Juristen muss das Bemühen um eine Antwort auf die Schlüsselfrage „Was ist Recht?“ sein. Aber in dieser Fragestellung steckt eine Teufelei der Sprache8: Hinter nur einer Frage verbergen sich mindestens drei Themenbereiche: Wenn man die (keineswegs einfach zu beantwortende) Frage nach der Wortbedeutung geklärt hat („Wovon ist bei ,Recht‘ überhaupt die Rede?“)9, bleiben vor allem zwei weitere Fragen offen: – Was ist „Recht“, d. h. was lässt sich über den damit bezeichneten vorhandenen Gegenstand „Recht“ sagen? – Was sollte „Recht“ sein, d. h., was ist das Ziel der Bemühungen um „Recht“? Den Jubilar interessiert (vor allem) die Suche nach dem, was Recht sein sollte, mich dagegen (vor allem) das, was „Recht“ ist.

II. Die Rechtslehre des Jubilars Die skizzierte Weichenstellung und damit der Ausgangspunkt der Rechtslehre des Jubilars lassen sich mit zwei bekannten Kant-Zitaten präzisieren:

5

Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2021. Der gleichnamige Titel des in gegenwärtig 27 Bänden erschienenen Jahrbuchs (JRE), begründet 1993 von Byrd, Hruschka und Joerden, sowie das Buch „Logik im Recht“ (3. Aufl. 2018) fassen die Arbeitsgebiete des Jubilars prägnant zusammen. 7 Die Beiträge zum Handbuch sind untereinander und mit den Lehren der Herausgeber konsistent abgestimmt, so dass keine Bedenken bestehen, sie in den wesentlichen Aussagen dem Jubilar zuzurechnen. 8 Vgl. den Aphorismus von Georg Christoph Lichtenberg: „Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs“. 9 Vgl. dazu im Einzelnen unten VII.1. 6

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„Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade, dass er kein Gehirn hat.“10 „Rechtsklugheit (jurisprudentia) ist mehr als ,bloße Rechtswissenschaft‘ (jurisscientia).“11

Diese grundlegende Unterscheidung wird heute (in Lehrbüchern wie Studienordnungen) oberflächlich ignoriert, die Rechtsphilosophie wird irgendwie in die Rechtswissenschaft integriert. Der Jubilar führt die Differenzierung durch – und ihm reicht die „bloß wissenschaftliche“ Arbeit nicht aus: Ihm geht es um „Rechtsklugheit“, besser noch „Weisheit“ (Jurisprudenz).

III. Das gemeinsame Fundament: „Gesetzesklempnerei“! Durch die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Fragestellungen und die Hervorhebung von „Philosophie“ und „Ethik“ als Eckpfeiler im Werk des Jubilars kann der Eindruck entstehen, Joerden lehne die schnöde Gesetzesanwendung ab und halte Gesetzesanwender mit Kant für hirnlose „Holzköpfe“. Die Ausräumung eines solchen Missverständnisses muss am Anfang stehen: Den in der Überschrift verwendeten Ausdruck „Gesetzesklempnerei“ verdanke ich zwar Gesprächen mit dem Jubilar, und seine Missbilligung war dabei nicht zu übersehen. Aber dass die Gesetzesanwendung für einen Juristen – insbesondere für einen Strafrechtslehrer – eine schiere Selbstverständlichkeit ist, stand dabei nicht in Frage (die Gegenposition wäre auch schlicht „indiskutabel“ [Art. 20 Abs. 3, 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB]). Der Jubilar ist weit davon entfernt, dies anzuzweifeln. Dennoch bleibt es dabei, dass ihn als Rechtsphilosophen „bloße Rechtswissenschaft“ nicht sonderlich interessiert und er nicht so furchtbar viel von der Vorgehensweise derer hält, die wie der Autor dieses Festschriftbeitrags ihr Augenmerk demgegenüber auf die Anwendung der geltenden Gesetze richten und meinen, dafür gute Gründe ins Feld führen zu können.

IV. Meine Einwände gegen jede „(Rechts-)Philosophie“ 1. Was ist „Philosophie“? Laut Duden ist „Philosophie“12 das „Streben nach Erkenntnis über den Sinn des Lebens, das Wesen der Welt u. die Stellung des Menschen in der Welt“. Kant umschreibt das mit „wissenschaftlicher Lebensweisheit“.13 10

Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § A. Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § B. 12 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 9. Aufl. 2019, 1367, Schlagwort: Philosophie, „griech. philo-sophia, zu: sophia = Weisheit“. 13 Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 387. 11

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Bei derartigen Umschreibungen kann ernstlich niemanden überraschen, dass das Unternehmen „Philosophie“ trotz 2500-jährigen Bemühens bei ehrlicher Inventur gescheitert ist14: Der „ganze Geschäftszweig (liegt) darnieder“15 : Fragen nach dem „Sinn des Lebens“, dem „Wesen der Welt“ und der „Stellung des Menschen“ sind ebenso wie die kaum differenzierteren vier philosophischen Fragen Kants16 wissenschaftlich nicht beantwortbar. Man mag diese fundamentalen „Sinnfragen“ stellen und sich Rezepte zurechtlegen, mit denen man dann im eigenen Leben zurechtkommt. Aber aus einem Konglomerat von Erkenntnislehre, Verhaltenslehre, Logik, Metaphysik, Ethik, Ästhetik und vielem anderen mehr ein schlüssiges allgemeines, „wissenschaftliches“ oder gar für andere verbindliches Gesamtkonzept machen zu wollen, ist ein in jeder Hinsicht untauglicher Versuch: Die zitierten Fragestellungen sind schlicht vermessen; sie münden zwangsläufig in dem bekannten scio nescio – und dann kann man es der Einfachheit halber von vornherein dabei belassen. 2. Was ist „Rechtsphilosophie“? Die Rechtsphilosophen versuchen daher scheinbar, die Sache etwas bescheidener anzugehen, sie beschränken ihre Bemühungen auf jurisprudentia, aber kommen damit aufgrund des von den Philosophen übernommenen falschen Ansatzes nicht viel weiter: Der Eintrag im Handbuch17 weist methodisch deutliche Ähnlichkeiten zu meiner Vorgehensweise in diesem Festschriftbeitrag auf: „Rechtsphilosophie soll – nach phänomenologischer Auffassung das Wesen des Rechts erfassen, – nach sprachanalytischer Ansicht die Bedeutung von ,Recht‘ bestimmen und – (…) für pragmatische Rechtsphilosophen (…), ermitteln, was Recht ist. Über die Ziele und die Methoden der Rechtsphilosophie gibt es also, wie in der Philosophie üblich, erhebliche Differenzen. Über ihren Gegenstand scheint jedoch insoweit Einigkeit zu bestehen, als es beim Recht um eine spezifische Form der Ordnung menschlicher Verhältnisse geht, die vom Brauchtum, von der Moral und ebenso von der Religion unterschieden werden kann.“

Die Analyse dieser Sätze offenbart allerdings schnell, dass selbst die (mit der behaupteten „Einigkeit“ ja nicht in Einklang zu bringende) Wendung „erhebliche Differenzen“ eine konziliante Untertreibung ist. 14 Vgl. das Schlusskapitel „Die Gegenwart“ in Welzel, Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, 1951, 178 ff. 15 Haym, Hegel und seine Zeit, zitiert nach Welzel (Fn. 14), 178. Die nachhegelianische moderne Philosophie analysiert Welzel sehr differenziert, aber der Befund bleibt letztlich unverändert. Seine Hoffnungen für die Zukunft beschränken sich auf juristische Auswege. 16 „Was können wir wissen?“ „Was sollen wir tun?“ „Was dürften wir hoffen?“ „Was ist der Mensch?“. 17 M. Kaufmann, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.) (Fn. 5), 84.

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a) Phänomenologische Klärung des Wesens des Rechts? Zur phänomenologischen Deutung des „Wesen des Rechts“ verweise ich auf die bissige, zutreffende Kritik von Scheuerle („Das Wesen des Wesens“18). Wenn man mit bzw. trotz Kant die Frage „Was ist Recht?“ nicht beantworten kann19, nützt es nichts, dieses Defizit mit dem Wort „Wesen“ zu verbrämen. Das Produkt einer solchen Konstruktion dann mit dem – sehr marktgängig gewordenen – Anhängsel „Philosophie“ zu verkaufen, ist Hochstapelei: „Phänomenologen“ haben, ungeachtet meiner Sympathie für ihren unvoreingenommenen Standpunkt, zunächst nicht mehr als ihre eigenen „Erscheinungen“, objektiv also nichts, was sie anbieten könnten. Ausgerechnet das „Recht“ als „Phänomen“ erfassen zu wollen, stellt im Übrigen den Ansatz von Husserl auf den Kopf: Man fängt ja nicht bei „Erscheinungen“ an, die es beim Recht „evident“ nicht geben kann, sondern bei den eigenen „Ideen“. b) Sprachanalytische Ansichten zur Bedeutung von „Recht“? Die Klärung der Bedeutung des Wortes „Recht“ müsste selbstredend an erster Stelle aller rechtlichen bzw. rechtsphilosophischen Überlegungen stehen. Dass dies nicht geschieht, ist kein Reihenfolge-, sondern ein sachliches Grundproblem: Die Rechtsphilosophen gehen zunächst aus unterschiedlichsten Perspektiven eine Vielzahl von Problemen an („Was Sie schon immer von Recht wissen wollten“) und versuchen dann, ihre zahllosen inkompatiblen Auffassungen mit dem Schlagwort „Rechtsphilosophie“ unter einen großen Hut zu bringen. Bei der richtigen Reihenfolge wäre ersichtlich, dass es keinen gemeinsamen Gegenstand gibt, über den sie reden. c) Pragmatische „Rechtsphilosophie“? Eine pragmatische Deutung der Rechtsphilosophie ist nicht mehr als der Satz: „Das machen wir halt so, wenn von Recht die Rede ist!“ Das kommt zwar der von mir befürworteten Anknüpfung an die bestehende Gesetzeslage nahe. Aber die Überhöhung dieses Standpunkts durch eine Aufnahme in eine Liste rechtsphilosophischer Ansichten widerspricht schon der eingangs erläuterten Grundunterscheidung. d) Ziele und Methoden der „Rechtsphilosophie“? Mit dem achselzuckenden Hinweis auf den „in der Philosophie üblich(en)“ Streit über Ziele und Methoden der Rechtsphilosophie wird offen eingeräumt, dass hier18

Scheuerle, AcP 163 (1964), 429 ff. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § B: „Das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkenne könne, bleibt (…) verborgen“. 19

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über nur scheinbare Einigkeit besteht: Die auf den ersten Blick durchaus handhabbare Zielbestimmung („Ordnung menschlicher Verhältnisse“) vermeidet zwar die ebenso übliche wie falsche Gleichsetzung von Recht (Objekt) und Gesetz (Mittel), aber sie deckt nur „Gegensätze“ zu, für die es einen bereits angedeuteten, jetzt prägnanter benennbaren Grund gibt: Rechtsphilosophen beziehen ihre Überlegungen nicht etwa auf die reale Ordnung menschlicher Verhältnisse, sondern auf eine ideale Ordnung, d. h., sie reden nicht von der Ordnung, wie sie ist, sondern davon, wie sie sein sollte. Ihnen geht es um „Weisheit“ oder jedenfalls Klugheit bei der anzustrebenden Ordnung des Zusammenlebens der Menschen, prägnanter: um eine „Idee für das Zusammenleben der Menschheit“.

V. Meine Einwände gegen jede („Rechts-)Ethik“ „Ethik“ ist laut Duden eine „philosophische Disziplin od. einzelne Lehre, die das sittliche Verhalten des Menschen zum Gegenstand hat; Sittenlehre, Moralphilosophie“, dann aber auch die „Gesamtheit sittlicher Normen und Maximen, die einer [verantwortungsbewussten] Einstellung zugrunde liegen“.20 Akzeptiert man die Einordnung der Ethik in die Philosophie, gelten für eine (Rechts-)Ethik zunächst dieselben Einwände wie bei einer (Rechts-)Philosophie: Regeln für eine ideale Ordnung des eigenen Lebens bzw. des Zusammenlebens mit anderen? Schön wär’s! Die grundlegenden Einwände gegen eine auf eine „allgemeine Ethik“ gestützte „Rechtsethik“ werden im Handbuch aufgelistet, aber natürlich nicht aufgelöst: Die Streitfragen sind: Woher kommen die ethisch verbindlichen Maßstäbe, warum sind sie angeblich verbindlich, worin unterscheidet sich (angeblich graduell) ihre Verbindlichkeit von der Verbindlichkeit rechtlicher Regelungen und welchen konkreten Inhalt haben sie dann überhaupt noch? Gegen die hierzu angebotenen, überaus heterogenen, speziell ethischen Ansätze21 ergeben sich zahllose Einwände, bei denen ich mich hier auf die wichtigsten beschränken muss: – Bei der „Deontologischen Ethik“, also einer „Pflichtenethik“, der sich der Jubilar unter Bezugnahme auf Kant anschließt, ist man sich nur darüber einig, woher die Pflichten nicht kommen können: aus Religion und „bloßem Brauchtum“, weil man andernfalls die Tragfähigkeit der Konstruktion einer „objektiven Ethik“ von vornherein Zweifeln aussetzen würde22. Versucht man aber, die Ethik von

20

Duden (Fn. 12), 566, Schlagwort: Ethik. von der Pfordten, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.) (Fn. 5), 101 – 106. 22 Überzeugend ist das nicht; Glaube und Moral sind ebenso subjektiv vertretbare Grundlagen wie alle anderen genannten Beurteilungsmaßstäbe. 21

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den Gepflogenheiten usw. zu unterscheiden, öffnet sich nur die nächsthöhere Problemschublade, die Suche einer „Theorie moralischer Wertungen (Metaethik)“23. – „Utilitarismus“, „teleologische Ethiken“ und jede andere „praktische Ethik“ scheitern daran, dass der herangezogene Nutzen gerade nicht der konkrete (volkswirtschaftliche oder gar betriebswirtschaftlich ermittelte) Vorteil als Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Rechnung ist, sondern die lediglich postulierte Vorteilhaftigkeit von Verhaltensweisen für alle Menschen – was sich aufgrund deren widerstreitender Interessen sofort als Illusion erweist, vor allem aber zu einer „Ethik“ führt, in deren Konsequenz der Zweck die Mittel heiligt. – „Vertragstheorie“ bzw. „Diskurstheorie“ vermengen Entstehung und Inhalt der Ethik und stützen sich auf bloße Intersubjektivität, die aber kein sachlicher Maßstab, sondern nur „Verständigung“ ist und zudem evident überaus unethisch sein kann, wenn sie nicht wiederum idealisiert wird. – „Tugendethik“ klingt wunderschön. Diese nicht auf die Wirkungen von Handlungen, sondern auf den „Charakter des Akteurs“ abstellende Variante wirft allerdings die Frage auf, was ein „guter Charakter“ ist, beantwortet sie aber leider nicht: Na klar, kein schlechter Charakter, also „nicht korrupt und eigensüchtig“24. Aber das ist für ein ethisches Konzept offensichtlich zu dürftig. – Der „Ethik des normativen Individualismus“ liegt eine contradictio in adjecto zugrunde: „Individuum“ und „Norm“ sind als Prüfungsmaßstab im Ansatz unvereinbar, jedenfalls heterogen. Bei allen diesen Lehren fehlt die konkrete Formulierung der jeweils befürworteten „Verhaltensmaximen“, vor allem aber beißt sich dabei methodisch die Katze in den Schwanz: Ethik kann nicht zugleich Grundlage als auch Korrektur einer auf einer anderen Grundlage errichteten Rechtslehre sein, ganz abgesehen von der schon erwähnten Frage, wie sich aus Unverbindlichem eine verbindliche Verhaltensanforderung herleiten lassen soll: Maßstäbe für das eigene Handeln sind zwangsläufig subjektiv25 : Jedes solche „Ethos“, alle ethischen Forderungen und Ratschläge sind völlig unproblematisch; jeder mag selbst entscheiden, ob er sich an sie halten will oder nicht. Mit dieser ernstlich kaum bestreitbaren Überlegung bricht allerdings das ganze Anliegen einer „objektiven“ Ethik in sich zusammen. Dass jedes „Ethos“ subjektiv ist, ist bekannt und bedarf nicht einmal einer Begründung: Die Beweislast dafür, dass es angeblich darüber hinausgehende „objektive“ Beurteilungsmaßstäbe gibt, läge bei denen, die sie proklamieren (aber untereinander so zerstritten sind, dass allein dies als Beleg für die Fragwürdigkeit solcher ob23

Neumann, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.) (Fn. 5), 13. von der Pfordten (Fn. 21), 105. 25 Auch Kant greift zum „guten Willen“ als alleinigem Maßstab, bevor er diesen dann „dem moralischen Gesetz in mir“ unterwirft – vgl. von der Pfordten (Fn. 21), 103. 24

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jektiven Lehren ausreicht). Es sind schlicht Fragen, die nur jeden Einzelnen etwas angehen und nur von jedem Einzelnen beantwortet werden können. Die Antworten sind situations- und auf die eigene Person bezogen (d. h. für einen Wissenschaftler im Ruhestand andere als für einen Konzernchef, der das Wohl von Tausenden Mitarbeitern beachten muss), sie ändern sich häufig, und haben vor allem auch als „Prof.“ und „Dr.“ keine höhere Verbindlichkeit als die aller anderen Menschen. Bei den vielfach und zu Recht erwähnten wirklich „leuchtenden Vorbildern“ (Erzieher, Lehrer, Berufsausbilder, Ärzte, Pfleger, Seelsorger usw.) kann man mit einer am Schreibtisch entworfenen „Ethik“ keinen Eindruck schinden, sondern man sollte sich drauf beschränken, mit ganz großem Respekt vor deren fachlich begründeter, auf eigenem Ethos beruhender Kompetenz den Hut zu ziehen. Die ergänzenden juristischen Anmerkungen hierzu sind einfach: Eine verbindliche Ethik wäre der Schritt in einen totalen Staat. „Moral“ und „Sitte“ sind nur eine Vergesellschaftung des Ethos. Die entsprechenden Lehren sind autoritär, weitgehend verlogen, häufig absurd. Sie beruhen (soweit sie nicht nur eigenen Interessen dienen) auf dem falschen Wunsch, eine für besser gehaltene Welt zu schaffen – aber das geht nur, wenn man anderen Menschen Vorschriften macht. Das ist zwar rechtlich und staatlich in der Tat unabdingbar, aber darüber hinaus steht eine solche Fremdbestimmung niemandem zu. Man braucht als nachdenklicher, verantwortlich handelnder Mensch keinen „Ethikrat“26, selbst für die sog. Sozialethik verfälscht eine solche Einrichtung die klare Aufteilung in rechtlich bindende und persönlich frei und eigenverantwortlich zu entscheidende Fragen.27 Ethik ist als – mit welchem Grund und in welchem Maße auch immer – verbindliche Aufforderung an andere, sich in bestimmter Weise zu verhalten, letztlich arrogant; auf das eigene Verhalten bezogen ist sie nur ein Deckmäntelchen für unzureichende Übernahme von Verantwortung. Über mein „Ethos“ zerbreche ich mir also selbst den Kopf – situationsbedingt, zeitbedingt, altersbedingt und ständigen eigenen Zweifeln unterworfen. Aber das alles ist allein meine Sache. So hilfreich das Handbuch für die Erläuterung der bisherigen philosophischen und ethischen Lehren ist, so untauglich wäre es, wenn man es als „rechtsethische Bibel“ für das eigene Handeln missverstehen würde. Diese Beliebigkeit des eigenen Ethos ist kein Manko, sondern nichts anderes als die „Freiheit der Person“: Sie hat weder etwas mit Verantwortungslosigkeit noch mit Beratungsresistenz zu tun, sondern besagt ganz einfach: Diese Fragen kann letztlich nur ich selbst entscheiden – wer denn sonst?

26

Vgl. auch die vorsichtige Kritik von Neumann (Fn. 23), 12. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei betont: Jeder Expertenrat ist willkommen – soweit es um Erkenntnisfragen geht, bei Bekenntnisfragen hilft er nicht weiter. 27

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VI. Zwischenergebnis: Die übereinstimmenden Einwände gegen jede Überhöhung der „jurisscientia“ zur „jurisprudentia“ Aus den bisherigen Überlegungen ergeben sich für Philosophie und Ethik zwei Eckpunkte, an denen ich einen anderen als den von Joerden eingeschlagenen Weg gehe: 1. Philosophie oder Wissenschaft!? Die beiden Kant-Zitate zu Beginn legen offen: Rechtsphilosophen und Rechtswissenschaftler streben schlicht unterschiedliche Ziele an, und das tun sie naheliegenderweise auf verschiedenen Wegen, die sich folglich schlicht trennen: Was Rechtswissenschaftler betreiben, bezeichnen (Rechts-)Philosophen als „szientizistisch“, ich fasse diesen Vorhalt (auf deutsch lautet er schlicht: „wissenschaftlich“) als großes Kompliment auf, das mir zudem als Klempner „handwerkliche“ Fähigkeiten bescheinigt und mit wünschenswerter Deutlichkeit alles ausklammert, was unwissenschaftlich ist. Das Wort „Philosoph“ ist dagegen aus meiner Sicht fälschlicherweise positiv besetzt: Der „Ideenhimmel“28, in dem er lebt, ist für einen Realisten wie mich wolkig und nebulös, bei exakter Analyse nicht fassbar, kurz: auf Erden unbrauchbar.29 2. Individuum oder „Idee des Menschen“!? Gegenstand von „Rechtsphilosophie“ und „Rechtsethik“ ist nicht etwa das konkrete Verhalten einzelner Menschen, sondern ein abstraktes allgemein(verbindlich) es „Sollen“: Es geht um die von der Realität völlig losgelöste Frage, wie „das“ sittliche Verhalten „des“ Menschen sein sollte. Nach meinem Ansatz bringt man „die Menschheit“ allenfalls dann „in Ordnung“, wenn dieses Vorhaben bei den einzelnen Menschen gelingt (angefangen bei jedem Einzelnen selbst). Der Jubilar hat überzeugend dargelegt30, dass der Maßstab für ethisches Verhalten nicht die Gesamtheit aller Menschen sein kann (das wäre ein denkbar schlechtes Vorbild, insoweit genügt ein Blick in eine Tageszeitung) und auch das wohlklingende Schlagwort „Menschlichkeit“ die Probleme nur zudeckt (idem per idem). Er bezieht seine Überlegungen daher mit Kant auf die „Idee des Menschen“. Aber diesen abstrakten Menschen gibt es realiter natürlich nicht: Um einen „Imperativ“ dennoch überindividuell und dann auch noch rücksichtslos verbindlich („kategorisch“) festlegen können, greift Kant daher zu einem Taschenspielertrick: Mit dem „morali28

Vgl. von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 1884. Es ist daher äußerst irreführend, das Problem in einem „pragmatischen“ Zweig der Rechtsphilosophie auflösen zu wollen: Entweder muss man die Pragmatik oder den Vorhalt „szientizistisch“ aufgeben; beides passt nicht zusammen. 30 In: Klemme (Hrsg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, 2009, 448 ff. 29

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sche(n) Gesetz in mir“ verlegt er ein allgemeines Gesetz in eine imaginäre Person, die als „Repräsentant der Menschheit“ fungiert. Bei Zugrundelegung von Realität und Logik lassen sich solche aus dem Zylinder gezauberten Kaninchen einfach beiseitelegen: Ethische Maßstäbe liegen entweder in mir oder außerhalb meiner. Tertium non datur. 3. Die nicht nur von mir gezogene ernüchternde Bilanz Von den Lehren zu Rechtsphilosophie und Ethik kann als Wunschvorstellung vieles erhalten bleiben, aber als belastbare Grundlage einer Rechtslehre scheiden sie aus. Aus dieser vor geraumer Zeit von kompetenter Seite getroffenen Feststellung31 muss man ganz einfach die Konsequenzen ziehen – und klären, was positiv an die frei gewordene Stelle treten kann.

VII. Skizzierung der eigenen Position: Realistische wissenschaftliche Rechtslehren Rechtswissenschaft ist keine „Sollenswissenschaft“32, sondern beschränkt sich – wie jede Wissenschaft – auf strikt empirisch begründete, also aus Erfahrungen abgeleitete Erkenntnisse.33 Bekenntnisse und Ziele sind für wissenschaftlichen Streit von vornherein ungeeignet: 1. Was ist „Recht“? Die Antwort auf die Frage nach der Wortbedeutung findet sich naheliegenderweise nicht in juristischen oder gar philosophischen Lehrbüchern, sondern im „Wörterbuch der deutschen Sprache“ der Gebrüder Grimm: „recht“ ist ursprünglich ein Adjektiv, es bedeutet zunächst einmal nicht mehr als „richtig“. In der Rechtslehre geht es also – hierin liegt eine Parallele zur Ethik – um die „Richtigkeit“ des Verhaltens, also um die Beurteilung einzelner Handlungen bzw. Unterlassungen einzelner Menschen, also um konkrete wirkliche Gegebenheiten, die der Beurteiler vorfindet und sich als Erkenntnisobjekt aussucht. Es geht um Sachverhalte, d. h. das („konkrete“) Verhalten einzelner Menschen unter bestimmten Umständen, und deren Beurteilungen durch andere Menschen anhand vorhandener verbindlicher Beurteilungsmaßstäbe (insbesondere Gesetze, Verträge, behördliche Anordnungen). Kurz: „Recht“ ist eine zusammenfassende Bezeichnung für auf ihre Richtigkeit überprüfbare Beurteilungen, dass einzelne Verhaltensweisen einzelner Menschen mit bestehenden, also 31 Siehe oben Welzel (Fn. 14), 178: Seine Kritik an der Philosophie gelte „in vollem Umfang auch für Ethik und Rechtsphilosophie“. 32 Contradictio in adiecto! Dazu gleich unter VII.2. 33 „Im Namen des Volkes wird für Recht erkannt: …“

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wiederum realen Regelungen des Zusammenlebens vereinbar sind, deren Beachtung von Staats wegen erzwungen werden kann. 2. Wissenschaftstheoretischer Ansatz Jede wissenschaftliche Lehre muss sich auf empirische Analysen der Realität stützen können. Die Realität ist keine Konstruktion menschlicher Gehirne („Hirngespinst“), sondern beruht auf Wahrnehmungen34 und auf sie gestützte Erfahrungen, deren Existenz auch Philosophen nicht bestreiten: Auch sie wollen nicht an der nächsten Straßenkreuzung von dem Auto überfahren werden, das ihre Lehren schmerzlich widerlegt, sie zweifeln nur „rein theoretisch“ die philosophische Belastbarkeit der Wahrnehmungen an, die jedoch alltagstauglich und weitgehend experimentell überprüfbar ist. Das menschliche Erkenntnisvermögen ermöglicht keine holistische Gesamtschau der Welt, wohl aber verlässliche Beurteilungen einzelner wirklicher Gegebenheiten. Dabei ist zwischen erkennendem Subjekt, Erkenntnisobjekt, dem gedanklichen Inhalt der Erkenntnis und seiner sprachlichen Bezeichnung zu unterscheiden. Der Ausgangspunkt ist zwangsläufig das Subjekt („Unser geheimnisvolles Ich“35). Aber die methodisch-analytische Beurteilung der Wirklichkeit (also der körperlichen Gegenstände und der Vorgänge im Menschen bei der eigenen Wahrnehmungs- und Denktätigkeit), vor allem aber der Diskurs über die eigenen Überlegungen mit anderen Menschen, führt zu wissenschaftlich begründeten Erkenntnissen („Stand der Wissenschaft“). 3. Anknüpfung an strikt empirische Wissenschaftslehren Der für die Rechtslehre zentrale Streitpunkt in der Wissenschaftslehre ist die Frage, ob der Wissenschaftsbegriff auch Handlungskonzepte, insbesondere „Regeln, Prinzipien, Postulate, Maximen, kurz: (…) Grundsätze mit aufforderndem Charakter“36 erfasst: Der Duden, die Lehren zum Wissenschaftsbegriff in den Einzelwissenschaften und ich verneinen dies und befürworten die als „naturalistisch“ bzw. „szientizistisch“ (auf deutsch: „wissenschaftlich“) diskreditierte Gleichsetzung von „Wissenschaft“ und „Erkennen“. Das führt zu dem Gegensatz zur Philosophie, die damit – nach dem Abschied vom Götterglauben der Antike und der Emanzipation von der mittelalterlichen Religionsphilosophie – in der Neuzeit ihre Daseinsberechtigung mit gutem Grund an die naturwissenschaftlich geprägten Einzelwissenschaften verloren hat.

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Grundlegend Wiesing, Das Mich in der Wahrnehmung, 2015. So der Titel einer dreibändigen ZEIT-Edition, hrsg. v. Sentker, 2015. 36 Janich, Was ist Erkenntnis? Eine philosophische Einführung, 2000, 96.

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Mit der erforderlichen strikten Trennung von „Sein“ und „Sollen“ (Kelsen) wird nicht etwa bestritten, dass die Frage, was man tun und lassen soll, von Interesse ist – es wäre absurd, die hierzu angestellten Überlegungen kurzerhand in Grund und Boden zu verwerfen. Aber sie sind wie dargelegt nur subjektiv beantwortbar und keine tragfähige Grundlage einer wissenschaftlichen Rechtslehre. Ich halte daher eine plakative Forderung „Abschied von Philosophie und Ethik“ für eine wünschenswerte Klarstellung. 4. Die benötigten Beurteilungsmaßstäbe Die Rechtslehre wird bei dieser Gegenstandsbestimmung aus dem „Ideenhimmel“ geholt, m. a. W. „geerdet“: Soweit es uns gelingt, verlässliche Maßstäbe für das zu liefern, was im Einzelfall „recht“ ist, haben wir eine Menge erreicht. Und die Frage nach den verbindlichen Maßstäben für die Beurteilung des Verhaltens von Menschen lässt sich für die Rechtslehre – im Unterschied zu Moral und Ethik – einfach und objektiv begründet beantworten: Zunächst genügt ein Blick in die Gesetzblätter. Und wenn man das dort Publizierte kritisch analysiert, gibt es immerhin einen „Ariadnefaden“: Geht man von der beobachtbaren, d. h. ernstlich kaum bestreitbaren, ebenso zweifellos aber nicht unbegrenzten Entscheidungsfreiheit des einzelnen Menschen aus37 (sie ist das zentrale Element der Menschenwürde), ist die Frage nach dem richtigen Verhalten auch rechtlich grundsätzlich dem Einzelnen überlassen. Die „Ordnung des Zusammenlebens der Menschen“38 besteht in der Regelung der rechtlichen Zulässigkeit, Grenzen und Folgen von Beeinträchtigungen dieser Freiheit (sei es durch einzelne andere Menschen [z. B. Eltern, Pfleger, Vertragspartner], sei es durch staatliche Instanzen). Dadurch entsteht die bekannte klassische Konstellation von „Eingriff“ und „Rechtfertigung“, keineswegs nur bei den unerlaubten Handlungen, sondern in der gesamten Staatslehre und ihren Konsequenzen für die „Staatsaufgabenlehre“ und den „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“. 5. Rechtswissenschaft und Rechtslehre Rechtswissenschaft ist danach von vornherein (sowohl bei den Beurteilungsmaßstäben als auch auf der Sachverhaltsseite) auf die Erkenntnis wirklicher Gegebenheiten beschränkt: Gesetzesauslegung und Beweisaufnahme. „Normwissenschaft“ ist demgegenüber als bloße Behauptung dessen, was sein soll (aber eben nicht ist), fälschlicherweise zur Wissenschaft umetikettiertes, objektiv nicht begründbares Wunschdenken, das man dann auch noch („normativ“, „teleologisch“) in den Einzelfall projiziert: Das hättest Du hier aber besser anders machen sollen! 37 Vgl. im Einzelnen meine Ausführungen zu „Einheit der Kriminalwissenschaften?“, in: FS Dölling (im Druck, erscheint 2022). 38 Vgl. oben IV.2.

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Über die Berechtigung eines solchen Vorwurfs kann man endlos streiten. Rechtswissenschaft beschränkt sich demgegenüber auf die Erkenntnis der allgemeinen Beurteilungsgrundlagen, der individuellen, konkreten Sachverhalte, auf die sie anzuwenden sind, sowie der Analyse, was bei der Anwendung eines Maßstabs auf den Sachverhalt geschieht. Diese rechtliche Beurteilung ist eine gedankliche Subsumtion, also keine reale Gegebenheit, sondern Kopfsache der einzelnen, bei der Beantwortung von Rechtsfragen zusammenwirkenden Menschen. Schroffer formuliert bedeutet dies: Recht ist nur ausgedacht! Aber es ist mit gutem Grund so ausgedacht – und es hat reale Bezüge, für die man den Beweis bzw. Gegenbeweis antreten kann. Das beantwortet die im Handbuch zu Recht aufgeworfene Frage, inwieweit eine Rechtslehre dem Anspruch „Wissenschaft“ genügt.39 6. Die staatsrechtlichen Grundlagen Die Maßstäbe für rechtliche Beurteilungen werden, soweit sie nicht der (eigenen bzw. der einem anderen rechtsgeschäftlich eingeräumten) Entscheidungsfreiheit einzelner Menschen überlassen sind, von Staats wegen festgelegt. Dafür haben in den Grenzen des Staatsrechts staatliche Legislative und Exekutive, kontrolliert durch die Judikative, die ihnen durch die Verfassung und an der Wahlurne erteilte Handlungsvollmacht. Über die Resultate dieser komplexen Aufgabenverteilung mag man bisweilen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, aber man hat sie – als Bürger, auch als Rechtsphilosoph – schlicht als verbindlich zu akzeptieren. 7. Der Umgang mit rechtswidrigen und „ungerechten“ Gesetzen Das im Mittelpunkt der rechtsphilosophischen Diskussion stehende Problem, wie mit „rechtswidrigen“ Gesetzen umzugehen ist, lässt sich staatsrechtlich verblüffend einfach, also gerade ohne Rückgriff auf rechtsphilosophische „Ideen“ lösen40: Die Frage nach der Wirksamkeit von Gesetzen ist zunächst einmal die nach der Legitimation für den sie erlassenden Staat. Dabei ergibt sich, dass ein Staat per se auf Angelegenheiten beschränkt ist, deren Erledigung für alle Bürger erforderlich sind (wenn auch vielleicht in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlicher Bedeutung), und die nur gemeinschaftlich erledigt werden können. Er hat sich rechtlich auf das zu beschränken, wozu er da ist. Für alle anderen Themen gilt, dass sie den Staat nichts angehen, sondern der freien Entscheidung des einzelnen Bürgers überlassen 39 Zur Vermeidung von Missverständnissen ist zu betonen, dass die Antworten, die sich bei strenger Gesetzesanwendung ergeben, nicht bis ins Detail allgemein festgeschrieben, sondern teilweise dem aus gutem Grund unter Berücksichtigung des Einzelfalls entscheidenden Anwender überlassen werden: Das gilt sowohl für Ermächtigungen der Richter (beispielsweise für die Strafzumessung innerhalb gesetzlicher Strafrahmen) als auch für Ermessensentscheidungen der Exekutive. 40 Vgl. im Einzelnen meine Ausführungen zu „Abschied vom Völkerstrafgewohnheitsrecht!“, in: FS Werle, 2022, 409.

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sind (und diese Entscheidungsfreiheit ist ein Menschenrecht, das durch angemaßte Gesetzgebungszuständigkeit verletzt wird). Die Lösung liegt also insoweit in der sog. Staatsaufgabenlehre: Fehlt eine Staatsaufgabe, fehlt zwangsläufig ein wirksames Gesetz. Der nicht gerechtfertigte Eingriff in die Menschenrechte (der mit jeder staatlichen Tätigkeit verbunden ist) liegt in allen diesen Fällen nicht in der Art und Weise des Tätigwerdens, sondern darin, dass der Staat überhaupt tätig wird, obwohl ihm hierfür eine Zuständigkeit (Kompetenz, Legitimation) fehlt. Es geht nicht um das „Wie“ des Eingriffs, sondern um das „Ob“. In derartigen Fällen sind auch formal korrekt beschlossene Gesetze kein Rechtfertigungsgrund. Versuche, dem Gesetzgeber darüber hinaus bei „ungerechten Gesetzen“ mit scheinbarer philosophischer, ethischer oder wissenschaftlicher Autorität rechtspolitisch „ins Handwerk pfuschen“ zu wollen, sind nichts anderes als Versuche, die allein ihm zustehende, demokratisch legitimierte Einschätzungsfreiheit durch nicht legitimierte eigene subjektive Wünsche unter der Hand wieder zu beschneiden bzw. nach eigenen Vorstellungen zu prägen. Die auf diesem Gebiet besonders aktiven Strafrechtslehrer41 unterscheiden sich insoweit von Lobbyisten nur dadurch, dass sie keine profitablen Interessen, sondern vermeintliche Wahrheiten durchsetzen wollen. Für sie alle gilt: Sie können gerne mit Rat und Tat behilflich sein, aber damit endet ihr zulässiger Einflussbereich, sie haben keinerlei Entscheidungskompetenz. Für Rechtspolitik gilt der Satz Bismarcks: „Politik ist keine Wissenschaft, wie einige Herren Professoren meinen“. Insoweit geht es nur teilweise um Erkenntnisse, häufiger um Bekenntnisse42 und Ziele43, jedenfalls nicht um erkenntnistheoretisch lösbare Fragen, sondern um Entscheidungen, für die es nur (aber immerhin) Argumente gibt. Für die Gesetzgebung ist die dabei unvermeidliche Subjektivität vor allem in Art. 38 Abs. 1 GG durch die Freiheit der Abgeordneten garantiert: Gegen sachverständige Beratung aller an der Gesetzgebung Beteiligten (insbesondere bei Detailarbeit, die niemand allein bewältigen kann) ist selbstredend nichts einzuwenden, aber jeder Versuch einer ideologischen Gängelung der Gesetzgebungsorgane durch eigene Vorstellungen ist rechtsstaatlich abwegig – und gerade keine Unmündigkeit der Bürger gegenüber dem (selbstgewählten) Staat, sondern die Konsequenz aus mündiger Delegation an den Wahlurnen und der sich daraus ergebenden Repräsentation.

VIII. Fazit Auf welchem Wege verbindliche Entscheidungen über das Zusammenleben von Menschen zu treffen sind, ist in einem demokratischen Staat per definitionem gere41

Das Schulbeispiel insoweit sind die sog. Rechtsgutslehren. Vgl. z. B. die christlichen Parteien (CDU/CSU, Bibelpartei). 43 Vgl. die zahllosen Parteien für Menschenrechte, Tierwohl, Naturschutz, Gesundheit, Senioren u. v. a. m. 42

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gelt: Der Ausgangspunkt ist das durch die Bürger erteilte Mandat, aus ihm ergibt sich die rechtsstaatlich gebundene Einschätzungsfreiheit des Parlaments, ihr entspricht die Richtlinienkompetenz der Regierung und auf diese Grundlagen stützen sich die einzelfallbezogenen sachkundigen Entscheidungen der Verwaltung. Alle werden von unabhängigen Gerichten kontrolliert. Den Schlusspunkt bei dieser Argumentation bildet wiederum die Freiheit der Bürger, in diesem Rahmen zu tun und zu lassen, was sie wollen. Welche Entscheidungen die Beteiligten dabei jeweils („inhaltlich“) treffen, ist abgesehen von den für sie jeweils geltenden rechtlich bindenden Vorgaben jedem selbst überlassen. Diese (eigentlich ganz einfache) Lösung gilt es zu beherzigen: – Philosophen und Ethiker benötigen eine „Booster“-Aufklärung, eine Rückbesinnung auf Friedrich den Großen: „In meinem Staate kann jeder nach seiner Façon selig werden“. „Jeder“ ist nicht ein als „Idealbild“ ausgedachter Mensch, sondern jeder Einzelne, und „selig“ meint nicht nur den Glauben, sondern „freie Entfaltung der Persönlichkeit“. – Diese bei der individuellen „Würde des Menschen“ und den „Menschenrechten“ ansetzende Struktur ist im Grundgesetz umgesetzt. – Alle -ismen, -ologien und ähnliche Altlasten der Philosophiegeschichte kann man entsorgen, ohne dass irgendetwas fehlt. – Für einen Rückgriff auf philosophische Welterklärungen oder für ethische Postulate bleibt heute weder Bedarf noch Raum.

Kritik der Strafrechtswissenschaft oder wann ist Theorie kritisch? Ein kurzer Kommentar zu einer langen Geschichte Benno Zabel Fragen der Straflegitimation, aber auch Probleme der Ethik und Logik des Rechts, haben das wissenschaftliche Arbeiten Jan C. Joerdens geprägt.1 An dieser Grundlagenausrichtung akademischer Forschung will der folgende Festschriftbeitrag anknüpfen. Der Beitrag möchte erkunden, was es für die heutige Strafrechtswissenschaft bedeutet, kritisch und insofern freiheitsverbürgend zu sein. Zwar werden das kritische Potential, namentlich die Reflexions- und Problemlösungskompetenz der Wissenschaft immer wieder hervorgehoben und verteidigt.2 Gleichzeitig stehen sich aber eine Vielzahl gegensätzlicher Standpunkte und Theorien in einem „Kampf ums Strafrecht“ (Bernd Schünemann) gegenüber, der – ironischerweise – das kritische Potential eher zu untergraben als zu befördern scheint.3 Es lohnt sich daher, die Selbst- und Fremdbeschreibung der Strafrechtswissenschaft genauer in den Blick zunehmen und sich auf diese Weise der Frage nach dem kritischen Potential zu nähern.

I. Welche Wissenschaft für welches Strafrecht? Die Strafrechtswissenschaft ist wie jede andere Wissenschaft ein institutionalisierter Diskurs, der in kooperativer und kompetitiver Form bestehendes Wissen reflektiert, neues hervorbringt und dadurch – etwa mittels Dogmatik und Rechtsprechung – die Freiheitsbereiche des Einzelnen oder ganzer Gesellschaften gestaltet. Diese Kennzeichnung des modernen wissenschaftlichen Projekts (und dem, was heute als scientific community benannt wird) dürfte heute kaum auf Widerspruch stoßen. Freilich bleibt damit zunächst offen, was konkret unter Wissen und einer frei1 Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs. Relationen und ihre Verkettungen, 1989; ders., Menschenleben. Ethische Grund- und Grenzfragen des Medizinrechts 2003; ders., Staatswesen und rechtsstaatlicher Anspruch. Ethische Fragestellungen zwischen Recht und Politik, 2008; ders., Logik im Recht. Grundlagen und Anwendungsbeispiele, 3. Aufl. 2018. 2 So zuletzt wieder Schünemann, ZIS 2020, 479 (482). 3 Erinnert sei nur an die Debatte zum ultima ratio-Prinzip, vgl. Gärditz, JZ 2016, 641; Jahn/Brodowski, ZStW 129 (2017), 363; Prittwitz, ZStW 129 (2017), 390; Schünemann, ZIS 2016, 654 (658).

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heitsverbürgenden Wissensproduktion verstanden wird, welche Funktion und welche Ziele sie hat. Und offen bleibt ebenso, wie sich Wissenschaft und Wissensanwendung in die Infrastrukturen des demokratischen Rechtsstaates einfügen, wie sie mit ihnen kommunizieren soll. Gerade diese Wirksamkeit von Wissen und Wissenschaft findet sich aber in einem Diskurs wieder, der zwischen Ernüchterung und Selbstzufriedenheit, Krisenrhetorik und Pragmatik schwankt, ohne dass erkennbar würde, welches theoretisches Niveau die Strafrechtswissenschaft ihren Problemlösungsangeboten (sprich: der Zurechnung, der Strafbegründung, der Auslegung von Tatbeständen usw.) zugrunde legen möchte.4 Ist es übertrieben von einer Wissenschaft zu sprechen, die immer weniger versteht, was eigentlich ihr Proprium, ihre wissenschaftliche Identität ist und die deshalb verlernt, ihre kritischen Potentiale auszuspielen? In einer Hinsicht ist es das. Denn nicht übersehen sollten wir, dass es die Strafrechtswissenschaft als ein homogenes Theoriefeld genauso wenig gibt, wie ein einmal festgelegtes theoretisches Niveau der Problemverarbeitung. So macht die Wissenschafts- und Dogmengeschichte darauf aufmerksam, dass erst der Pluralismus der Theorien und Deutungen (und die schon erwähnten kooperativen und kompetitiven Elemente) die Dynamiken erzeugt, die eine kritische Bewertung bestehender und die Ausbildung neuer Wissensressourcen ermöglichen. Beispielhaft sei nur auf den Wandel der Verbrechenslehre oder die Dogmatik von Täterschaft und Teilnahme hingewiesen.5 Entscheidend ist daher nicht, ob sich Theorien und Argumentationsfiguren im Nachgang als fehlerhaft oder dysfunktional herausgestellt haben. Das mag so sein oder auch nicht. Theoriebildung und -wandel markieren eher, wie Strafrechtswissenschaftler:innen versuchen, das Wissen in Abhängigkeit zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zu transformieren6 und damit auch den Wissenshaushalt der Institution Strafrechtswissenschaft wirksam werden zu lassen. Wissen und Wissenschaft sind nichts Gegebenes, sondern gemacht. Dass Prozess und Dynamik der Wissenschaft keine lineare und bruchlose Fortschrittsentwicklung etablieren, ist so evident, dass es kaum einer Erwähnung bedarf. Bereits der Hinweis auf die theoretische und dogmatische Indienstnahme des Strafrechts für das nationalsozialistische Regime, aber auch generell für Diskriminierungen, Rassismen und koloniale Interessen (mit weitreichenden Folgen für das Delikts-, Täter- und Strafverständnis)7 zeigt sehr deutlich, dass Wissenschaft, Theorie 4 Bezeichnend ist, dass Ausgangspunkt der jüngsten Kontroverse zwei Rezensionen waren; vgl. zum einen Stuckenberg, ZIS 2021, 279, zum anderen Kuhlen, ZIS 2020, 327. 5 Siehe zum einen Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906; Graf zu Dohna, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 1936, 3. Aufl. 1946, 22; Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems, 1951, 1; zum anderen Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 1963, 10. Aufl. 2019, 611; Puppe GA 1982, 101. 6 Zur wissenschaftsphilosophischen Einordnung der Rechtswissenschaft vgl. Zabel, in: Lohse/Reydon (Hrsg.), Grundriss der Wissenschaftsphilosophie, 2017, 167. 7 Für das nationalsozialistische Strafrecht etwa Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, 1933; Mezger, Deutsches Strafrecht, 3. Aufl. 1943, 27; für die anderen Bereiche Binding/Hoche, Die Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920; Brinkmann, Strafrecht und Strafverfahren für die Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete, 1904.

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und Dogmatik, gerade weil sie gemacht und nicht einfach vorgefunden werden, in Ideologien verstrickt sein können und daher ihre Sprache, ihre Begriffsverwendungen und ihre Funktionen reflektieren müssen. Hat die moderne Strafrechtswissenschaft, so ließe sich die obige Frage wieder aufnehmen, überhaupt noch ein vitales Interesse daran, mit den Mitteln von Urteil und Diskurs die Rationalität, aber auch die Grenzen des geltenden Rechts auszuloten, Krisen zu erkennen und kritisch zu begleiten? Und wenn ja, welche Wissenschaft wird dann eigentlich für welches Strafrecht und für welche Gesellschaft in Stellung gebracht? Orientieren wir uns zur besseren Einordnung der Problemdiagnose an der gegenwärtigen Kontroverse um die Leitkategorien Wissenschaft und Strafrechtspolitik. Vom Ethos der Wissenschaft: Die Strafrechtswissenschaft soll Freiheitsspielräume absichern und gleichzeitig den gesellschaftlichen Frieden zu bewahren helfen. Dafür erscheint eine analytische Durchdringung des Normhaushalts und sämtlicher Formen der Rechtsanwendung unerlässlich. Das ist allgemein bekannt und jedenfalls im Grundsatz nicht kontrovers. Allerdings ist heute umstrittener denn je, auf welcher wissenschaftlichen Basis diese analytische Durchdringung erfolgen kann oder sogar erfolgen sollte. Der entscheidende Punkt in diesem Streit dürfte die Frage sein, welchen Wissenschaftsstandards eine Einzelwissenschaft – und darum handelt es sich bei der Strafrechtswissenschaft zumindest auch – entsprechen muss. Das Spektrum der Standpunkte reicht von philosophischen und gesellschaftstheoretischen Rahmungen bis hin zu pragmatischen und transnational ausgerichteten Perspektiven.8 Auch wenn sich einige Positionen teilweise überschneiden oder Bezugspunkte aufweisen, kommen das vorhandene Unbehagen, die Differenzen und die Dynamik der Kontroverse klar zum Vorschein. So kritisieren philosophische und gesellschaftstheoretisch orientierte Positionen eine eklatante Vernachlässigung der begrifflichen, rechtsprinzipiellen und kulturellen Grundlagen der Dogmatik, wie sie namentlich die aufgeklärte europäische Strafrechtstheorie entwickelt habe.9 Die Strafrechtswissenschaft, so Schünemann, verlöre insofern auch die Möglichkeit der intellektuellen Kontrolle von Gesetzgebung und Rechtsprechung.10 Im Gegenzug wird diesen Positionen verschiedentlich vorgeworfen, an metaphysischen, abstrakten und aristokratischen Deutungen des Strafrechts festzuhalten und damit das kritische Potential zu untergraben, das sie eigentlich zu verteidigen suchen.11 Aus transnationaler Perspektive wird diese Krisendiagnose noch zusätzlich verschärft, wenn, wie bei George P. 8 Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für eine aufklärungsphilosophische Deutung etwa Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012; mit stärkerem gesellschaftstheoretischem Akzent Schünemann, in: Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2021, 259; weitere Positionen finden sich etwa bei Vogel, JZ 2012, 25; zur internationalen Debatte etwa Donini, Strafrechtstheorie und Strafrechtsreform, 2006; Robles Plenas, ZIS 2010, 357; Silva-Sanchéz, GA 2004, 682. 9 Pawlik (Fn. 8), 2012, 26. 10 Schünemann, ZIS 2020, 482. 11 Pointiert Donini (Fn. 8), 7 („tendenziell demokratiefernes, aristokratisches Diskursmodell“).

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Fletcher, die „selbstbewusste Provinzialität“ der (deutschen) Strafrechtswissenschaft kritisiert und inzwischen auch die Produktivität der dogmatischen Kategorien bezweifelt wird.12 Die deutsche Strafrechtswissenschaft könne sich jedoch nur behaupten und weiterentwickeln, so etwa Joachim Vogel, Tatjana Hörnle oder Thomas Weigend, wenn sie ihre eigenen Theorietraditionen kritisch reflektiere und sich auf das Irritationspotential und die produktiven Einflüsse anderer Rechtskulturen einlasse.13 Anschlussfähigkeit und Offenheit statt Einübung in Gralshüter-Attitüden ist die Devise.14 Die in der wechselseitigen Kritik markierten Differenzen (die hier keineswegs umfassend rekonstruiert wurden) machen so aber deutlich, dass es nicht nur um irgendwelche Oberflächenspannungen geht, sondern dass in der Tat das Proprium der Strafrechtswissenschaft und ihre wissenschaftliche Identität zur Debatte stehen. Gleichzeitig zeigt sich an der Art der Kontroverse, dass der Pluralismus der Standpunkte auf kaum noch geteilten Theorie- und Wissensressourcen beruht. Die Gegensätze sind bekanntermaßen Legion: Denken wir an die Kontroverse zwischen positivistischen und nicht-positivistischen Ansätzen.15 Denken wir an die höchst unterschiedliche Gewichtung von Prinzipien und Pragmatik,16 an die konträre wissenschaftliche Einordnung von Theorie und Dogmatik.17 Oder denken wir an das umstrittene Feld der Methoden und Systeme.18 Die Selbstreflexion der Strafrechtswissenschaft moderiert äußerst heterogene Wissensansprüche und Wissensfelder oder versucht dies wenigstens. Dem widerspricht nicht die grundsätzlich anerkannte Stellung der Dogmatik. Vielmehr lässt sich daran erkennen, dass sich die Strafrechtswissenschaft – wie die Rechtswissenschaft allgemein19 – auch als eine Entscheidungstechnik (im Sinne der griechischen techne¯) versteht, die Wissen nur selektiv verarbeitet, auf dieser Basis jedoch Konflikte bewältigen und Gesellschaften ordnen will. Wenn aber ein solches Wirksamkeitsund Legitimationsinteresse generell besteht, dann kann sich Kritik und Selbstreflexion nicht allein auf die Binnenkohärenz einer Rechts- und Wissenschaftskultur beschränken. Das jedoch ist häufig der Fall und dürfte ein Grund für die erwähnten Pro12

Fletcher, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, 235 (239); zur These vom Bedeutungsverlust deutscher Strafrechtsdogmatik Ambos, GA 2016, 177. 13 Vogel, JZ 2012, 25; Hörnle, in: Tiedemann et al. (Hrsg.), Verfassung moderner Strafrechtspflege, 2016, 289; Weigend, GA 2020, 138; darüber hinaus u. a. Ambos, ZIS 2020, 452. 14 So Vogel, JZ 2012, 29. 15 Siehe Gärditz, Der Staat 49 (2010), 331; Zaczyk, Der Staat 50 (2011), 295. 16 Dazu Schünemann (Fn. 8), 259 (261 ff.); Hassemer, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? Was leistet und wie steuert die Dogmatik des Öffentlichen Rechts?, 2012, 3; Vogel, JZ 2012, 29 ff. 17 Den Wissenschaftscharakter verneinend Jakobs, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, 103 (105 f.); zur entgegengesetzten Position Hörnle, in: Dreier (Hrsg.), Rechtswissenschaft als Beruf, 2018, 183 (187 ff.). 18 Überblick bei Pawlik, FS Jakobs, 2007, 469. 19 Vgl. Gutmann, in: Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2021, 94 (95).

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bleme sein. Die Leistungsfähigkeit und damit die Akzeptanz der Strafrechtswissenschaft muss sich gerade daran beweisen, ob und, wenn ja, wie es ihr gelingt, mit ihrer Sprache, mit ihren Theorien und Argumentationsmustern ein Strafrecht zu anzuleiten, das die demokratische Basis pluralistischer Gesellschaften schützt; mehr noch, das die demokratische Verfassung in ihrer Sprache, Theorie usw. verarbeitet. Damit zur zweiten Leitkategorie, der Strafrechtspolitik. Was auf den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, entpuppt sich bis heute als theoretische und praktische Herausforderung, nämlich als Herausforderung, Zwang – sozialethischen Tadel – und Freiheitsverbürgung in Einklang bringen zu müssen. Je unbestrittener die Einbettung des Strafrechts in die Infrastrukturen liberaler Verfassungen ist, desto verbissener wird allerdings um die Art und Weise dieser Einbettung gestritten.20 Dreh- und Angelpunkt ist hierbei das demokratische Gesetz und die demokratische Rechtfertigung des Strafhandelns. Denn die Codierung des Demokratischen markiert wie nirgends sonst das Ringen um den Kern des Strafrechts und der Strafrechtswissenschaft, das Ringen zwischen Idealismus und Idealtypen, zwischen Gesetzgebung und Gerechtigkeit, Metaphysik und Kontingenz. Nun könnte dieser Streit um die Codierung des Demokratischen auf sich beruhen, wenn er nicht den Umgang mit der Strafrechtspolitik nachhaltig prägen würde. Auch hier ist die Diskussionslage unübersichtlich und vielstimmig. Und doch lassen sich zwei charakteristische Positionen ausmachen, eine relativistische und eine universalistische: Die relativistische Position wird vor allem von denjenigen befürwortet, die das Strafrecht als Instrument einer umfassenden Sozialtechnologie begreifen: Eine proliferierende Gesetzgebung hätte dafür zu sorgen, dass das Strafrecht auf die Interessen pluraler Gesellschaften und die Kontingenz von Pönalisierungsbedürfnissen reagieren kann und auf diese Weise Freiheit im Sinne der Verfassung gestaltet. Demokratische Strafrechtspolitik ist zweckrational ausgerichtet und wendet sich zugleich gegen alle Versuche, eine vordemokratisch orientierte Wissenschaft zu etablieren.21 Klar ist dann aber auch, dass Strafrechtswissenschaft nur als eine auf die Gesetzgebung bezogene Regulierungswissenschaft Bestand haben kann. Im Unterschied dazu bestreitet die universalistische Position die Ermäßigung des Demokratischen auf das Normalmaß eines verfassungspositivistischen Programms. Demokratie und universalistische Strafrechtslegitimation stünden sich nicht unversöhnlich gegenüber. Ganz im Gegenteil, Demokratie sei jedenfalls in ihrer aufgeklärten Form notwendig mit der Freiheit des Einzelnen, mit den Prinzipien der Autonomie und der Gleichheit verknüpft. Und es sei genau diese Freiheit, die sich in einem verfassungs20

Statt Vieler: Appel, Verfassung und Strafe, 1998; Brunhöber et al. (Hrsg.), Strafrecht und Verfassung, 2013; Gärditz, Staat und Strafrechtspflege, 2015; ders., JZ 2016, 641; Jahn, in: Tiedemann et al. (Hrsg.), Verfassung moderner Strafrechtspflege, 2016, 63 (65 ff.); Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, 2014; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken des Grundgesetzes, 1996; Schünemann, ZIS 2020, 486; Stuckenberg, GA 2011, 653 (656); Zaczyk, Der Staat 50 (2011), 295; speziell zum ultima ratio-Prinzip auch die in Fn. 3 Genannten. 21 Gärditz, JZ 2016, 647 f.; ähnlich Stuckenberg, GA 2011, 658 f.; vgl. zu dieser Debatte auch Kaspar (Fn. 20), 241 ff.; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, 27.

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gebundenen Strafrecht realisieren muss, will es nicht den Täter als Feind denunzieren und zu einer offenen oder camouflierten Machtveranstaltung verkümmern.22 Demokratische Strafgesetzlichkeit ist danach nicht das „metaphysische Andere“ der Sozialtechnologie, sondern deren Voraussetzung. Insofern wird es auch nicht als Aufgabe der Strafrechtswissenschaft angesehen, nur eine Regierung des Voluntarismus zu verteidigen. Sie stellt vielmehr eine Reflexionsinstanz dar, die, so Wolfgang Naucke, das einmal erreichte Freiheitsniveau in der Theorie und Praxis des Strafrechts zur Geltung bringen soll.23 Der hier erkennbare Kampf um die Deutungshoheit des Strafrechts und seiner Wissenschaft als Institutionen eines freien Gemeinwesens demonstriert eindrücklich die theoretische Zerrissenheit, aber auch ein diametrales Verständnis von Recht und Politik, von Verantwortungsbegründung und Freiheitschutz. Die Blockade, die Sprach- und Verständnislosigkeit, die hieraus innerhalb der Strafrechtswissenschaft und im interdisziplinären Diskurs entsteht, dürfte den jeweils starken Festlegungen der jeweils anderen Seite geschuldet sein. So ist es alles andere als ausgemacht, dass die politische oder demokratische Einbettung des Strafrechts nur in dem autoritativsozialtechnologischen Sinne gedeutet werden kann, wie das seitens einer relativistischen Strafrechts(wissenschafts)theorie unternommen wird. Zwar ist offenkundig, dass sich Gesetzgebung und Strafrechtsgestaltung auch in den etwa von Klaus Ferdinand Gärditz skizzierten Formen realpolitischer Herrschaftsausübung in Rechtsausschüssen und Parlamenten vollziehen24 und sich hierin auch die Kontingenzsensibilität spätmoderner Gesellschaften (Niklas Luhmann) zeigt. Ebenso offenkundig ist allerdings auch, dass diese Prozeduren der Strafrechtsrealpolitik von einem gemeinsamen demokratisch-ideellen Wissen zehren, das durch die akademische Expertise und die politische Urteilskraft aller Bürger:innen gleichermaßen repräsentiert wird, und ohne das sich jegliche demokratische Verfahren als willküranfällige Zufallsprodukte einer politischen Elite erweisen würden (was nicht als Kontingenz missverstanden werden sollte). Es spricht deshalb auch wenig dafür, beide Aspekte des Politischen, den realen und den ideellen, voneinander zu trennen oder sogar gegeneinander auszuspielen. Zumal gar nicht klar wäre, wie sich Wissenschaft ansonsten als kritische Gegenöffentlichkeit (Gärditz) etablieren könnte. Demokratie und damit auch Strafrechtspolitik sind soziale Phänomene, die wir als Bürger:innen vorfinden, die real wirken und die dennoch von unserer Zustimmung abhängig sind. Diese Zustimmung verweist immer auch auf ein universalistisches Moment des Demokratischen bzw. der Strafrechtspolitik. Aber dieses universalistische Moment ist nicht selbstverständlich, es ist nicht einfach vorhanden, statisch oder funktionalisierbar. Es ist vor allem kein Zustand, den das Recht nur dezisionistisch zu verwalten hätte. Sondern es speist sich aus der Überzeugung, dass jede Zeit die handlungs22 Zaczyk, Der Staat 50 (2011), 296 ff.; ähnlich bereits Köhler, ZStW 104 (1992), 3; dezidierte Kritik an der Position von Gärditz bei Schünemann, ZIS 2020, 486. 23 Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000. 24 Gärditz, JZ 2016, 648.

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leitenden Prinzipien des Strafrechts neu durchdenken und sie immer wieder neu in die politische und rechtliche Kultur integrieren muss. Eine Strafrechtswissenschaft, die diese Einsicht ignoriert, kann dem Strafrecht freier Gesellschaften nicht gerecht werden.

II. Konturen einer kritischen Strafrechtswissenschaft 1. Was bedeutet kritisch? Wir haben gesehen, dass die Strafrechtswissenschaft äußerst heterogen, ja gespalten ist und das Proprium aus dem Blick zu verlieren droht. Als eine professionelle und akademisch gelehrte Urteils- und Entscheidungstechnik scheint es so, als könnte sie sich damit begnügen, die demokratischen Regeln der Gesetzgebung nachzuvollziehen und die Anwendbarkeit des geltenden Rechts dogmatisch abzusichern. Als kritische Wissenschaft kann sie sich darauf nicht beschränken. Eine Wissenschaft reflektiert das vorhandene Wissen und passt es an die sozialen Umstände an. Für die Strafrechtswissenschaft (als nationale und transnationale) heißt das, sie muss die Bedingungen, die Bedeutungen und die Regeln reflektieren, die die Zurechnungsmuster stabilisieren und die in der Ordnung des Strafrechts zur Anwendung kommen.25 Eine Strafrechtswissenschaft, die auf der Höhe der Zeit ist, beobachtet, irritiert, beunruhigt – und verändert auch dadurch ihren Gegenstand und sich selbst. Aber was genau ist daran kritisch und wie entwickelt sich daraus eine Kritik des Strafrechts? Wenn wir uns fragen, was eine kritische Strafrechtswissenschaft ausmacht und wie wir Kritik verstehen sollten, dann kommen wir nicht umhin, uns näher mit diesen Begriffen zu beschäftigen. In der herkömmlichen Verwendungsweise (die auch schon hier zu Tage trat), wird kritisch und Kritik als ein Medium der Abgrenzung, der Differenz oder des Entscheidens eingesetzt. Leitend ist hier die ursprüngliche griechische Wortbedeutung von krisis, krite¯s, kitiko¯s. Der Rechtsstab exerziert dieses Bedeutungsmuster bis heute durch, wenn er urteilt, das Richtige vom Falschen, das straflose Verhalten von der schuldhaften Tat unterscheidet.26 In ähnlicher Weise geht auch die Wissenschaft vor, was kaum verwundert. Denn die Strukturen der Zurechnung27 haben vor allem den Sinn, die Praktiken der Normstabilisierung theoretisch zu durchdringen – also das, was als Straftatbegriff bezeichnet wird – und Veränderungen vorzuschlagen, soweit herkömmliche Konfliktlösungsstrategien versagen oder die erwünschten Ziele nicht erreicht werden (man denke etwa an die Entwicklung der 25 Für die transnationale Debatte Dubber/Hörnle (Hrsg.), Oxford Handbook of Criminal Law, 2014. 26 Röttgers, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, 1982, 651; zum Ganzen auch Bung, Subsumtion und Interpretation, 2004; Vismann/Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, 2006. 27 Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012.

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objektiven Zurechnung oder die Anerkennung subjektiver Tatbestandsmerkmale usw.).28 Diese Form der Zurechnung als Kritik gehört heute so selbstverständlich zum Inventar juristischen Denkens, dass sie selten als solche wahrgenommen wird. Insofern ist die Strafrechtswissenschaft durchaus kritisch. Aber schöpft sie damit ihr kritisches Potential wirklich aus? Vor allem wird selten thematisiert, woher die Interessen kommen und welche Gründe die Basis für diese Form der Zurechnung abgeben. Zurechnung als Kritik setzt die Norm und die sozialen Umstände voraus. Diese Voraussetzungen werden – als Kriterien des Zurechnungsurteils – an die Person adressiert. „Was auch sonst?“ könnte die naheliegende Frage sein. Denn in vielen Fällen erscheint die Zurechnung zur Tat durch die Regeln des Rechts klar entscheidbar; und wenn nicht, bleiben die Ausschlussgründe.29 Aber Klarheit und Folgerichtigkeit sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die in den Zurechnungsregeln verdichteten Interessen, Ansprüchen und Erwartungen selbst nicht mehr zur Debatte stehen. Der Diebstahl etwa bestätigt als Eigentumsdelikt die bestehende bürgerliche Rechtsordnung und ist daher bei einem Einbruchsdiebstahl ebenso einschlägig wie bei Fällen des sog. Containerns, also der Entnahme nicht mehr zum Verkauf geeigneter Lebensmittel aus Abfallcontainern eines Lebensmittelgeschäfts.30 Das ist insoweit konsequent, als jeder mit seinem Eigentum grundsätzlich so verfahren kann, wie es ihm oder ihr beliebt, § 903 BGB. Auch wenn die Sozialbindung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 2 GG dieses freie Belieben bis zu einem gewissen Grade beschränkt, so ändert das an der generellen Rechteposition und der starken Rechtfertigungsbedürftigkeit jedes Eingriffs nichts.31 Nun geht es hier nicht darum, das Eigentumsregime eines demokratischen Gemeinwesens ad acta zu legen, das Privateigentum als solches ist nicht das Problem. Zeigen lässt sich indes, dass der unbefragte Rückbezug auf die gegebenen normativen und sozialen Voraussetzungen Ambivalenzen und Widersprüche produzieren kann, die nur schwer aufzulösen sind. Und zeigen lässt sich so auch, dass eine kritische Strafrechtswissenschaft die genealogische Dimension einbeziehen muss, will sie wirklich kritisch und gleichzeitig sozial sensibel sein. Unter der genealogischen Dimension oder einer genealogischen Kritik ist die Analyse und Verarbeitung des Gegebenen – der Interessen, Ansprüche, Erwartungen –, etwa in den Theorien und Praktiken der Wissenschaft zu verstehen. Genealogische Kritik verweist mit an28 Für die objektive Zurechnung etwa Honig, Kausalität und objektive Zurechnung, 1930; zur aktuellen Debatte Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 45 ff.; für die subjektiven Tatbestandsmerkmale etwa Mezger, Der Gerichtssaal, Band 89, 1924, 207. 29 Zum Verhältnis von Typus und Ausnahme Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968; Schild, Die Merkmale der Straftat und ihres Begriffs, 1979; Schünemann, FS Hirsch, 1999, 363. 30 Zur Strafbarkeit des sog. Containerns nun BVerfG, Beschl. v. 5. 8. 2020 – 2 BvR 1985/19, 2 BvR 1986/19. 31 Böckenförde, in: ders. (Hrsg.), Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, 318.

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deren Worten auf das Gewordensein des Wissens und auf die ideologischen Ablagerungen in den verwendeten Kategorien, auf die sichtbaren und unsichtbaren Machtkonstellationen.32 Der Kritik in diesem Sinne geht es also nicht (nur) um die Aufdeckung bestimmter Strukturen, die die Realität und die Konflikte verstehbar machen, das leistet die erwähnte Zurechnung als Kritik, durch die Rekonstruktion der schuldhaften Tat und im Umgang etwa mit Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- oder Strafausschließungsgründen.33 Strafrechtswissenschaftliche Kritik als genealogische Kritik hat hingegen ein Sensorium für die Kontingenz rechtlicher Urteile. Sie sieht und anerkennt die Aporien der Zurechnung und bringt das auch im Akt des Zurechnens selbst zum Ausdruck (was das konkret heißt, ist im Anschluss noch genauer zu diskutieren). Es ist aber vor allem dieses Bewusstsein für die Formen und die Funktionen, die Zwecke und die Grenzen der Zurechnung, die vielleicht nicht das Proprium der Strafrechtswissenschaft und damit auch des Strafrechts, aber jedenfalls einen wichtigen Teil desselben ausmacht. Wenn eine Strafrechtswissenschaft in diesem umfassenden Sinne kritisch ist (oder sie es zumindest sein sollte), wie schlägt sich das in der Beschäftigung mit der Strafgesetzlichkeit, mit individuellen und gesellschaftlichen Konflikten, d. h. mit der Adressierung von schuldhaften Taten nieder? Verdeutlichen lässt sich die Stoßrichtung an dem Verhältnis von Strafrecht, Wissenschaft und Vulnerabilität. 2. Wissenschaft als responsive Institution. Das Beispiel von Strafrecht und Vulnerabilität Dass Strafrecht und Strafrechtswissenschaft eng mit Phänomenen der Vulnerabilität oder Verletzlichkeit verknüpft sind, ist kaum überraschend. Das Strafrecht bedeutet im Kern Beschäftigung mit Verletzlichkeit und mit realer Verletzung. Gerade das zwischen diesen beiden Phänomenen aufgespannte Kraftfeld hat aber für die Prozeduren der Zurechnung zentrale Bedeutung. Auf der anderen Seite sind Phänomen und Begriff der Vulnerabilität in der Strafrechtswissenschaft und der juristischen Praxis kaum rezipiert worden. Zwar heißt das keineswegs, dass die damit einhergehenden Fragen und Probleme nicht diskutiert würden. So finden bekanntermaßen die körperliche Disposition der Täter, diverse psychische Zustände bzw. Affekte oder sonstige Motivationslagen sehr wohl Beachtung und sind zugleich Teil einer ausgefeilten Dogmatik.34 Und doch werden Phänomen und Begriff der Vulnerabilität insofern noch nicht erfasst. Vulnerabilität bezeichnet nicht nur eine dogmatische Kategorie, die allein das einzelne Konfliktgeschehen konturiert; sie verweist vielmehr auf eine allgemeine Wissens- und Erfahrungsressource des Strafrechts, die im Zu32 Zur Genealogie als Mittel der Kritik Foucault, Was heißt Kritik?, 1992; Menke, DZPhil 2018, 143 (148); Saar, Genealogie als Kritik, 2007. 33 Ein gutes aktuelles Beispiel bildet die theorie-dogmatische Befassung mit der Triage, vgl. hierzu Hörnle/Huster/Poscher (Hrsg.), Triage in der Pandemie, 2021. 34 Schild/Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 6. Aufl. 2023, § 20 Rn. 5.

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rechnungsregime ganz unterschiedlich verarbeitet werden muss (was Folgen für die Zurechnung selbst hat). Aber worum geht es konkret? Unter Vulnerabilität wurde und wird in der klassischen medizinischen und sozialwissenschaftlichen Forschung die Fragilität, die Störanfälligkeit oder Verwundbarkeit von Individuen, von Gruppen, Kollektiven oder auch technischen Systemen verstanden. Vulnerabilität dient hier als analytische Kategorie zur systemischen Beschreibung von schutzbedürftigen Akteuren oder Zuständen.35 Inzwischen gibt es zahlreiche Erweiterungen der Ursprungssemantik: Vulnerabilität beschränkt sich danach nicht auf einen rein statischen Zustand, im Gegenteil, sie wird dynamisch aufgefasst, im Sinne eines Fragil-, Verwundbar- oder Anfällig-werdens, man denke nur an die Anfälligkeit für Erkrankungen aufgrund genetischer, psychischer oder sonstiger Umweltfaktoren als Ausgangspunkt für eine spätere Pathogenese.36 Darüber hinaus markiert Vulnerabilität soziale Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zwischen Subjekten, Gruppen und Lebensformen, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen System und Umwelt; mehr noch sie zeigt, wie Gefährdungen erzeugt oder auch abgemindert werden können. Vulnerabilität hat insoweit einen normativen und politischen Kern. Sie bezeichnet keine nur passive, sondern auch aktive Erscheinungsweise des Sozialen. D. h. Vulnerabilität ist nicht einfach da, sie wird gemacht, erlebt und reproduziert. Vulnerabilitätseffekte können daher auch beurteilt, anerkannt oder kritisiert werden.37 Überträgt man diesen dichten Bedeutungskern auf das Strafrecht, dann lassen sich zunächst zwei Punkte festhalten: (1) Vulnerabilität als strafrechtliche Kategorie macht auf die grundsätzliche Fragilität moderner Rechtsverhältnisse aufmerksam, insofern wir als Rechtssubjekte verletzbar sind und einer sozialen Absicherung bedürfen (bis hin zur Statuierung von positiven Pflichten als Garanten). Das Strafrecht lässt sich vor diesem Hintergrund auch als Vulnerabilitätsbegrenzungsinstrument verstehen. (2) Vulnerabilität kann aber auch als Indikator für die prekäre Lebenswelt eines Rechtssubjekts oder einer Gruppe aufgefasst werden. Vulnerabilität wird hier zum signifikanten Ausdruck für einen gefährdeten Rechtestatus. Gefährdeter Rechtestatus meint, dass ein Subjekt oder eine Gruppe vielfältigen Macht- und Repressionsstrukturen unterworfen wird und die Gefährdungen jederzeit in Rechtsverletzungen umschlagen können. Diese Verknüpfung von Subjekt und Status, Macht und Repression wird beispielsweise in den Konstellationen häuslicher oder partnerschaftlicher Gewalt (aber nicht nur dort) sichtbar. Was allerdings häufig übersehen wird, ist die Tatsache, dass solche Gewaltverhältnisse nicht allein durch das individuelle Ge35 Statt Vieler: Bohle/Glade, in: Felgentreff/Glade (Hrsg.), Naturrisiken und Sozialkatastrophen, 2007, 99. 36 Bergemann/Frewer (Hrsg.), Autonomie und Vulnerabilität in der Medizin, 2018. 37 Zur Debatte Butler, Kritik der ethischen Gewalt, 2003, 33; Lessenich, in: WSI, Mitteilungen, 73. Jg., 2020, 454; Raimondi, in: Aktas¸ (Hrsg.), Vulnerabilität. Pädagogisch-ästhetische Beiträge zu Korporalität, Sozialität und Politik, 2020, 83; Stöhr et al., in: dies. (Hrsg.), Schlüsselwerke der Vulnerabilitätsforschung, 2019, 1; zur rechtswissenschaftlichen Perspektive vgl. Landwehr/Bernhardt, Recht und Emotion II. Sphären der Verletzlichkeit, 2018.

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walthandeln konfiguriert werden. Wenn Vulnerabilität signifikanter Ausdruck eines gefährdeten und inferioren Rechtsstatus ist, dann ist damit ein Bündel von Gefährdungsfaktoren angesprochen, das im Ergebnis die realen Rechtsgutsverletzungen ermöglicht, forciert oder bewirkt.38 Zu solchen Gefährdungsfaktoren gehören folglich auch Bedingungen, die der konkreten physischen oder psychisch ausgeübten Gewalt Vorschub leisten oder sie nicht effektiv eindämmen, etwa das Nichttätigwerden des Gesetzgebers, von Behörden oder Verwaltungen bei allgemein bekanntem Gefährdungswissen und vieles mehr. Das Rechtssystem und besonders das Strafrecht treten dann als Vulnerabilitätsverstärker in Erscheinung. Wir können daher von sozialer, institutioneller oder rechtlicher Gefährdung, ja sogar von Gewalt sprechen.39 Hier zeigt sich nicht nur die komplexe Dynamik der Vulnerabilität (und damit ihre Genealogie). Es zeigt sich auch, wie mit Hilfe der Vulnerabilitätsanalytik die Umschlagpunkte des strafrechtlichen Freiheitsschutzes offengelegt werden können. Welche Folgen hat das für die strafrechtliche Zurechnung? Im gängigen Verständnis der Zurechnung als Kritik geht es darum, Praktiken der Normstabilisierung theoretisch zu durchdringen und mit Blick auf die konkreten Tatumstände gerechte Formen des Zurechnungsausschlusses zu finden. Zurechnung bezeichnet hier einen normativ-juridischen Filter, der dazu beiträgt, dass das Strafrecht die Tatverarbeitung individualisieren und nicht-rechtliche Faktoren aussparen kann. Zurechnung als Kritik setzt die Norm und die sozialen Umstände voraus im Namen derer sie urteilt. Strafrechtswissenschaft als genealogische Kritik verweist dagegen auf die Kontingenz dieser Annahmen, auf die Möglichkeit, die Zurechnung als Kritik selbst einer Kritik zu unterziehen. Die Vulnerabilitätsanalytik ist ein Ausdruck dieser Kritik (es mag weitere geben). Denn sie macht darauf aufmerksam, dass Zurechnung nur als multidirektionale Verantwortung reflexiv mit dem Geflecht vorausgesetzter Interessen, Erwartungen und Bedürfnissen des Rechts und seiner Akteure umgehen kann. Multidirektionale Verantwortung markiert dieses Geflecht und versucht, den Tatausgleich nicht vorschnell dem Anliegen der Normstabilisierung unterzuordnen, sondern auch die tatspezifischen, institutionellen und demokratischen Verantwortungsüberlagerungen zur Sprache zu bringen. Im Verantwortlich-machen den prekären Status, die Verletzlichkeit aller tatbeteiligten Personen und die darin zum Vorschein kommenden Mitverantwortung des Rechts sichtbar zu machen, heißt, Verantwortung kritisch zu verstehen. Das ist ansatzweise mit der Opfereinbeziehung schon diskutiert und praktisch umgesetzt worden.40 Aber darauf kann sich eine kritische Strafrechtswissenschaft nicht beschränken.

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Zabel, Rechtswissenschaft 11 (2020), 233. Zur ausgefächerten Semantik von Gewalt siehe Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, 1976; Galtung, Strukturelle Gewalt, 1975; Bundeskriminalamt (Hrsg.), Was ist Gewalt? 1986; Heitmeyer/ Hagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, 2002; Lembke, in: dies. (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2012, § 11 Rn. 38. 40 Beispielhaft Günther, in: Honneth (Hrsg.), Strukturwandel der Anerkennung, 2013, 185. 39

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Kommen wir zur Verdeutlichung der Skizze nochmals auf die strafrechtspolitisch und dogmatisch schwierigen Fragen der partnerschaftlichen Gewalt zurück. Neben den Femizid-Taten (d. h. der Tötungen von Frauen, weil sie Frauen sind, etwa in Form sexualisierter Gewalt, unter Berufung auf die „Ehre“ usw.41) sind es vor allem die Intimizid-Fälle (sog. Haustyrannentötungen u. a.), die bis heute eine zentrale Rolle spielen.42 In den letztgenannten Fällen tötet nicht selten die Lebenspartnerin den anderen Partner bzw. die Partnerin, um sich aus einer jahrelangen Gewaltherrschaft zu befreien. Als Gewaltherrschaft sind solche Partnerschaften deshalb zu bezeichnen, weil physische und psychische Gewalt zum Medium der Kommunikation schlechthin sowie zum Mittel der Unterwerfung und rigiden Durchsetzung narzisstischer Interessen wird. Strafrechtswissenschaft und Rechtsprechung benennen zwar den Tatkonflikt, der sich hieraus ergibt, nämlich die Flucht aus der Gewalterfahrung durch Gewalt. Die dogmatische Lösung bleibt dann allerdings in den üblichen Bahnen, indem das Handeln als strafwürdige Tat rekonstruiert und Zugeständnisse nur auf der Strafzumessungsebene gemacht werden.43 Bemerkenswert ist die Begründung: So wird im Rahmen des entschuldigenden Notstandes, § 35 StGB, die Gefährdung in Form einer Dauergefahr angenommen, ebenso die Unzumutbarkeit diese hinzunehmen, im Gegenzug jedoch auch die anderweitige Abwendbarkeit der Gefahr bejaht. Gerade weil mit der Tötung das Rechtsgut Leben in Rede stünde, müsste an die rechtsstaatliche Verpflichtung zur Begrenzung dieser Konflikte (etwa auf Grundlage des Gewaltschutzgesetzes) erinnert werden, weshalb die Personen sich der Hilfe Dritter, namentlich staatlicher Stellen zu versichern hätten.44 Macht man mit der Kritik ernst, dann sieht man schnell, wie das Zurechnungsregime das offensichtliche Dilemma überspielt und zwischen den individuellen Vulnerabilitätserfahrungen und dem Gesellschaftsschutz ein Konkurrenzverhältnis etabliert, das am Ende zugunsten des letzteren aufgelöst wird. Doch verkennen Wissenschaft und Rechtsprechung so die Tiefendimension des Konflikts. Denn anders als sie zu unterstellen scheinen, stehen sich individuelle Lebens- und Gewalterfahrung und Gesellschaft nicht als separate Sphären gegenüber. Familiäre Strukturen und die Selbstkonzepte pluraler Lebensformen werden vielmehr durch gesellschaftliche Vorstellungen, durch Rollenmodelle, milieubedingte Identitäten und Moralvorstellungen geprägt, was sich positiv oder auch negativ in 41

Dazu Habermann, NK 2021, 189; Foljanty/Lembke, KJ 2014, 298; BGHSt 53, 31. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeusli che-gewalt (zuletzt abgerufen am 27. 7. 2022); Deutscher Juristinnenbund, Themenpapier Femizid, https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st19-24 (zuletzt abgerufen am 27. 7. 2022); Perron, in: Eser/Perron (Hrsg.), Strukturvergleich strafrechtlicher Verantwortlichkeit und Sanktionierung in Europa, 2015, 27; zur aktuellen rechtspolitischen Debatte Herzog, FS Wolf, 2018, 263 und Zabel, JZ 2021, 1035. 43 BGH NStZ 1984, 20; BGHSt 48, 255; dem BGH weitgehend folgend Duttge, ZIS 2018, 133, 140; differenzierend Hillenkamp, JZ 2004, 48; kritisch und aus feministischer Perspektive Lembke (Fn. 39), § 11 Rn. 34. 44 BGHSt 48, 255. 42

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den privaten Lebenswelten abbilden kann. Es ist heute aus wissenschaftlicher Sicht kaum mehr zweifelhaft, dass individuelle und gesellschaftliche Verantwortung einander bedingen und dass diese Verschlingung der Verantwortungsbereiche auch in den genannten Gewaltverhältnissen ihren Ausdruck findet. Wie sehr die übliche Verarbeitung der Tat an der Oberfläche des Konflikts verbleibt, wird aber dort deutlich, wo das Idealbild eines Gemeinwesens aufgerufen wird, das mit seinen Gesetzen zur Gewaltprävention oder zum Schutz von Gewaltopfern effektive Konfliktlösung verspricht. Es ist aber gerade diese juristische Deutung der Interessen und Erwartungen, die wenigstens in die Gefahr gerät, die Gesetzeslage gegen die Vulnerabilitätserfahrungen, gegen die begrenzte Handlungsmacht einzelner Personen und ganzer Gruppen auszuspielen. Dabei ist es eine Trivialität, dass institutionelle Hilfen, die seitens des Rechtsstaats zur Verfügung gestellt werden, um Konflikte abzufedern, auch durch die Rechtssubjekte in Anspruch genommen werden sollten, wollen sie nicht – bei anschließenden Eskalationen – empfindliche Sanktionen riskieren. Wissenschaft und Rechtsprechung sollten sich jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass sich ein Strafanspruch gegen die Normadressaten nur dann erheben lässt, wenn Gesetze und Institutionen deren Lebenswirklichkeit auch konkret anleiten und das hiermit verknüpfte Verletzlichkeitsbewusstsein reflektieren. Das gilt umso mehr in denjenigen Konfliktgestaltungen, deren Besonderheit darin besteht, dass die Ausnutzung und Verstärkung der Verletzlichkeit auf einem asymmetrischen Machtverhältnis beruht, das die Täter (die gleichzeitig Opfer sind) in eine ausweglose Situation hineintreibt: entweder den Gewaltzusammenhang durch Tötung des Partners auflösen oder an der Vulnerabilität zerbrechen. Eine kritische Strafrechtswissenschaft muss Neutralität politisch und rechtlich verstehen. Das heißt nicht, dass sie parteiisch, willkürlich oder moralisierend auftritt. Doch kann sie anerkennen, dass das, worauf sie ihre Urteile aufbaut, unmittelbar mit dem gesellschaftlichen und politischen Freiheitswissen verbunden ist. Man kann das die Kontingenz juridischer Neutralität nennen. Dieses Wissen kann nicht als Rechtspolitik oder als Refugium irgendeiner Gerechtigkeitsidee einfach aus dem Bereich der Strafrechtswissenschaft ausgelagert werden, will die Strafrechtswissenschaft mehr sein als ein normativer Mechanismus, der über die Akteure hinwegzieht (wenngleich nicht bestritten werden soll, dass Rechtspolitik und Strafrechtsphilosophie auch eine theoretische und praktische Eigenständigkeit besitzen). Nun liegt der Einwand nahe, dass es sich um spezielle Fälle handeln würde und dass ansonsten einmal mehr die Subversion demokratischer Grundlagen des Strafrechts bzw. der Strafrechtswissenschaft zu befürchten sei. Aber dass es sich um Einzelfälle handelt, kann getrost bezweifelt werden (man denke etwa an die nach wie vor akuten Fälle der Kindestötung, § 217 a. F. StGB, an die Sexualdelikte, an die vielfältigen Konflikte am Beginn und am Ende des Lebens oder an den Umgang mit zivilem Ungehorsam, die aktuellen Demonstrations- und Blockadefälle und vieles mehr). Und selbst wenn es Einzelfälle wären, müsste sich daran die soziale Angemessenheit der Zurechnungsstrukturen bewähren.

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Eine Strafrechtswissenschaft, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist, ist responsiv, d. h. sie versteht sich als responsive Institution. Unter Responsivität im Rechtssinne ist eine theoretische und praktische Einstellung zu verstehen, die sich aktiv auf das Prekärwerden von Freiheitserfahrungen und das damit verbundene Vulnerabilitätsbewusstsein einlässt. Responsivität und Vulnerabilität können insofern als Inklusionsmarker aufgefasst werden. Eine kritische Strafrechtswissenschaft ist eine responsive Institution in der Weise, dass sie das Strafrecht als inklusive und auf die Form bedachte Infrastruktur rekonstruiert – in Gestalt der Gesetze, der Sprache, der Dogmatik und der Verfahren. Ein inklusives Strafrecht reflektiert seine Doppelstellung, seine innere Spaltung, als Teil der Gesellschaft und als Teil einer Verfassungsordnung. Rechtssubjekte werden daher nicht nur als Normunterworfene oder Zurechnungspunkte (Hans Kelsen) konstruiert, sondern zugleich als mit vielfältigen Interessen ausgestattete Gesellschaftsbürger:innen. Darin kommt die demokratische Wirksamkeit eines solchen Rechts zum Vorschein. Diese Wirksamkeit ist aber selbst prekär und ambivalent. Denn die Gesetze, die Sprache, die Dogmatik und die Verfahren müssen beide Seiten, die staatlich-autoritative und die gesellschaftliche, miteinander in Einklang bringen. Wie schwer sich Wissenschaft und Rechtsanwendung damit tun, zeigt der Theorie- und Praxisalltag zur Genüge, man denke, neben dem großen Bereich der Zurechnungs- und Verantwortungsstrukturen, an das, was gemeinhin als schützende Formen bezeichnet wird, man denke an die Begründung von Tadel und Strafschmerz oder an die Strafzumessungsprozeduren. Die stärkere Beachtung der Inklusionsmarker könnte allerdings helfen, einer staatlichen bzw. gesellschaftlichen Mitverantwortung, neuen Verfahren verletzlichkeitssensibler Zukunftsorientierung (für Opfer und Täter)45 und der Strafrechtssolidarität46 einen prominenteren Platz einzuräumen. Das löst gewiss nicht alle Probleme, mobilisiert aber einen Grad an Selbstreflexivität, der Strafrechtswissenschaft und Strafrecht daran erinnert, wieviel Leiden nicht nur mit der Tat, sondern auch mit deren Verarbeitung verbunden ist. In Bezug auf die schwierige Frage der partnerschaftlichen Gewalt könnte eine solche Perspektivierung der Dogmatik bedeuten, dass neben den üblichen Ausschlussgründen (namentlich §§ 34, 35 StGB), unter Umständen § 33 StGB, auch die Möglichkeit eines Schuldspruchs, d. h. Tadels, bei gleichzeitigem Absehen von Strafe zu erwägen ist (was de lege lata allerdings nicht über § 60 StGB, sondern u. U. nur über den Gnadenweg zu erreichen ist). Schließlich bliebe noch die Anwendung von §§ 21, 49 StGB, doch wäre das in der Regel mit einer zeitigen Freiheitsstrafe verbunden, d. h. mit einer Vertiefung vulnerabler und prekärer Lebensverhältnisse.

45

Ansätze dazu bei Jahn/Schmitt-Leonardy, FS Streng, 2017, 499 (514 ff.). Einkreisung des Problems bei von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013. 46

Kritik der Strafrechtswissenschaft oder wann ist Theorie kritisch?

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III. Schluss Damit schließt sich hier der Kreis der vorliegenden Überlegungen. Ausgangs- und Zielpunkt kritischer Strafrechtswissenschaft ist der Wille zur Selbstreflexion. Selbstreflexion ermöglicht einen produktiven und offenen Umgang mit theoretischem Wissen und praktischen Einsichten und wirkt sich so auch auf das Verständnis des demokratisch-rechtsstaatlichen Strafrechts aus. Selbstreflexion kann aber nur gelingen, wenn die (vergessenen, verdrängten oder ignorierten) Untergründe des Wissens mitbedacht werden und nicht nur die Verwaltung bestehender Ressourcen das Anliegen ist – Strafrechtswissenschaft ist mehr als eine professionelle Theorie der Rechtsanwendung. Dass das kein Ausspielen der verschiedenen Standpunkte intendiert, der Theorie engeren Sinnes, der Dogmatik und der Urteilskraft der Praktiker:innen, versteht sich von selbst. Viel eher verweist es darauf, dass sich die Frage nach dem Proprium nicht in der Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Werte- und Verfassungskultur (ob national oder transnational) erschöpft. Wenn das aber so ist, wenn es also wirklich um Selbstreflexion der Wissenschaft geht, dann sollten wir auch den politischen Kern des Strafrechts und insbesondere der Strafrechtswissenschaft anerkennen. Diese Anerkennung des politischen Kerns unterminiert nicht die Eigenrationalität strafrechtlichen Wissens und Urteilens, sondern löst überhaupt erst das daran geknüpfte Freiheitsversprechen ein.47

47

Für wichtige Impulse danke ich den Frankfurter Kolleg:innen.

II. Allgemeiner Teil des Strafrechts

Asthenische und sthenische Affekte beim Notwehrexzess (§ 33 StGB) Vorschläge auf Grundlage der Philosophie der Emotionen Leandro Dias

I. Problemaufriss Die Regelung in § 33 StGB über Notwehrüberschreitungen ist weder neu noch eine Besonderheit des deutschen Strafrechts: Der aktuelle Wortlaut ist praktisch identisch mit dem des RStGB1 und analoge oder nur geringfügig abgewandelte Vorschriften finden sich auch außerhalb der deutschen Rechtsordnung.2 Das zeigt, dass sich die Diskussion um diese Rechtsfigur bereits über Jahrzehnte erstreckt und somit als historisch eingestuft werden kann. Dennoch bleiben zahlreiche Auslegungs- und Anwendungsprobleme des Gesetzes ungelöst.3 Schon die Grundlagen dieses Rechtsbegriffs sind mehr oder weniger umstritten.4 Es scheint aber auch Einigkeit über bestimmte Fragen der Regelung des § 33 StGB zu geben, über die derzeit wenig diskutiert werden. Dieser Beitrag wird sich auf einen dieser vermeintlich unstrittigen Aspekte des Notwehrexzesses konzentrieren, da, wie der kürzlich verstorbene schottische Rechtsphilosoph John Gardner hervorhob,5 die herrschenden Meinungen eine strengere Prüfung verdienen als die umstrittenen, schon weil sie im Allgemeinen so leichtes Spiel haben. Insbesondere wird die These der herrschenden Meinung problematisiert, dass § 33 StGB mit der Erwähnung, der Exzess habe „aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken“ statt1

Siehe § 53 Abs. 3 StGB a. F. Zur Entstehungsgeschichte der aktuellen Regelung Zieschang, in: Cirene et al. (Hrsg.), LK-StGB, 13. Aufl. 2019, § 33 Rn. 659 f. 2 Ähnliche Regelungen sind beispielsweise in Argentinien (Art. 35 argStGB), China (§ 20 Abs. 2 chinStGB), Österreich (§ 3 Abs. 2 öStGB) oder der Schweiz (Art. 16 Abs. 2 schweizStGB) zu finden. Für eine kurze rechtsvergleichende Betrachtung siehe Dubber/Hörnle, Criminal Law, 2014, 417 f. 3 Zu den noch offenen Problemen Motsch, Der straflose Notwehrexzess, 2003, 18 ff.; Zimmermann, ZIS 2015, 57 (57). Zum rechtsgeschichtlichen Hintergrund Diederich, Ratio und Grenzen des straflosen Notwehrexzesses, 2001, 5 ff. 4 Vgl. nur Freund/Rostalski, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2019, § 4 Rn. 59. Kritisch auch Roxin, FS Schaffstein, 1975, 105 (105). 5 Gardner, From Personal Life to Private Law, 2018, 189 f.

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Leandro Dias

gefunden, nur sogenannte asthenische Affekte („Schwächeaffekte“6), nicht aber zumindest bestimmte sthenische Affekte („Kraftaffekte“) erfasse und erfassen solle.7 Ferner wird eine neuartige Auffassung dargelegt, die in der bisherigen wissenschaftlichen Diskussion nicht im Detail entwickelt wurde: Nämlich die, dass diese Unterscheidung aufgegeben und durch eine sozialethische Bewertung der zu einem Exzess führenden Emotionen ersetzt werden sollte, sodass nur aus sozialethischer Sicht als vernünftig zu beurteilende Emotionen das Verhalten entschuldigen dürfen. Diese strafrechtsphilosophischen Überlegungen sind Professor Jan Joerden gewidmet, der sich in seiner langen Karriere intensiv mit der Analyse der Tiefenstrukturen des Strafrechts8 beschäftigt hat.

II. Die herrschende Meinung: Entschuldigung nach § 33 StGB nur bei asthenischen Affekten § 33 StGB besagt lakonisch: „Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft“. Schon aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich,9 dass in bestimmten Fällen der Notwehrüberschreitung der Täter straffrei bleibt, obwohl sein Verhalten rechtswidrig wäre, weil er die Grenzen des Notwehrrechts nach § 32 StGB überschritten hat.10 Dabei handelt es sich um Fallkonstellationen, in denen die Überschreitung zumindest durch einen der drei Sonderfälle des inneren Ausnahmezustands, nämlich Verwirrung, Furcht oder Schrecken, mitverursacht wird.11 Es fragt sich nun, warum es zu einer solchen abschließenden Aufzählung12 kommt und andere innere Zustände, die den Exzedenten prinzipiell auch in eine außergewöhnliche emotionale Lage versetzen könnten, nicht erfasst sind.

6 Zu dieser Begrifflichkeit Kindhäuser/Hilgendorf, LPK-StGB, 9. Aufl. 2022, § 33 Rn. 2; Zabel, in: Kindhäuser/Pawlik (Hrsg.), Notwehr in Deutschland und China, 2020, 345 (351 f.). 7 Laut Zimmermann, ZIS 2015, 57, gäbe es einen „Konsens“ darüber. Ähnlich Roxin/ Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 5. Aufl. 2020, § 22 Rn. 75, 76. 8 Beispielsweise Joerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, 1986, passim; ders., Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs, 1988, passim; ders., FS Jakobs, 2007, 235 (235 ff.). 9 Vgl. Zieschang, LK-StGB, § 33 Rn. 2. 10 Kindhäuser/Hilgendorf, LPK-StGB, § 33 Rn. 2. Siehe auch Freund/Rostalski (Fn. 4), § 4 Rn. 59; Gropp/Sinn, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 6 Rn. 157. 11 Siehe nur Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 51. Aufl. 2021, Rn. 699; Zieschang, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2020, Rn. 370. 12 Vgl. J. Fischer, Die straflose Notwehrüberschreitung, 1971, 39; Hauck, in: Leipold/ Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar-StGB, 3. Aufl. 2020, § 33 Rn. 7; Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 5. Aufl. 2017, § 33 Rn. 21. Wohl auch Heghmanns, Ad Legendum 2/2015, 96 (100).

Asthenische und sthenische Affekte beim Notwehrexzess (§ 33 StGB)

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In der heutigen Literatur ist die Unterscheidung zwischen asthenischen und sthenischen Affekten eine durchaus verbreitete Begründung dieser Entscheidung des Gesetzgebers.13 Bei den asthenischen Affekten handele es sich um Gemütsbewegungen, die eine auf die Schwäche der Handlungs- und Steuerungsfähigkeit gerichtete Einschränkung bewirken würden.14 Sthenische Affekte (wie Zorn, Wut oder Hass) seien dagegen solche, die zwar ebenfalls die Fähigkeiten des Täters beeinträchtigen, aber durch aggressive und auf Kraftsteigerung abzielende Gemütsbewegungen bestimmt sind.15 Der Gesetzgeber habe bei der Entscheidung, welche Affekte zugunsten des Täters zu entschuldigen sind, mit seiner Aufzählung festgelegt, dass nur erstere die Anwendung der Vorschrift des § 33 StGB zur Folge haben können.16 Insbesondere kann man in Stellungnahmen der herrschenden Meinung lesen, dass nur bei Schwächeaffekten vom Fehlen des Strafbedürfnisses gesprochen werden könne, das bei sthenischen Affekten hingegen gegeben sei.17 Asthenische Affekte seien Ausdruck einer Ausnahmesituation emotionaler Schwäche des Exzedenten, die der Gesetzgeber als eine verständliche Reaktion auf einen (manchmal sogar existenziellen) Konflikt ansieht, der in erster Linie dem rechtswidrigen Angreifer zuzurechnen ist und der die Notwehrhandlung auslöst.18 In diesem Zusammenhang würde die Rechtsordnung durch § 33 StGB Verständnis für die rechtswidrige Tat des Täters zeigen und diese entschuldigen, was in archetypischen Fällen wie dem folgenden durchaus sinnvoll erscheint: Schreck in der Nacht: A geht nachts durch einen dunklen Park in einer Gegend, in der es häufig zu Gewalttätigkeiten kommt. Dieb B kommt plötzlich auf ihn zu und verlangt von A die Herausgabe seiner Brieftasche, andernfalls werde er ihn „zu Brei 13 Engländer, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), StGB-Kommentar, 2. Aufl. 2020, § 33 Rn. 10 f.; Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 33 Rn. 3 f.; Freund/Rostalski (Fn. 4), § 4 Rn. 59; Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 2020, 6. Kapitel Rn. 39; Gropp/Sinn (Fn. 10), § 6 Rn. 168; Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), SK-StGB, 9. Aufl. 2017, § 33 Rn 6; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 20/29; Kindhäuser, NK-StGB, § 33 Rn. 21; Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 33 Rn. 3; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier (Hrsg.), StGB, 5. Aufl. 2021, § 33 Rn. 7 f.; Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2021, § 27 Rn. 22; Roxin/Greco (Fn. 7), § 22 Rn. 69; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 11), Rn. 699; Zieschang, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Band 2, 2020, § 45 Rn. 23. 14 Engländer, StGB-Kommentar, § 33 Rn. 10; Gropp/Sinn (Fn. 10), § 6 Rn. 168; S/S/WRosenau, StGB, § 33 Rn. 7; Roxin/Greco (Fn. 7), § 22 Rn. 69; Zabel (Fn. 6), 354; Zieschang, LK-StGB, § 33 Rn. 24; ders. (Fn. 11), Rn. 370; ders. (Fn. 13), § 45 Rn. 24. 15 Engländer, StGB-Kommentar, § 33 Rn. 10; Kindhäuser, NK-StGB, § 33 Rn. 21; S/S/WRosenau, StGB, § 33 Rn. 8; Roxin/Greco (Fn. 7), § 22 Rn. 69; Zieschang, LK-StGB, § 33 Rn. 24; ders. (Fn. 13), § 45 Rn. 23; Zimmermann, ZIS 2015, 57. 16 Vgl. nur Hoyer, SK-StGB, § 33 Rn. 6; Kindhäuser, NK-StGB, § 33 Rn. 21; Roxin/Greco (Fn. 7), § 22 Rn. 77. 17 Vgl. Duttge, in: Dölling/Duttge/König/Rössner (Hrsg.), NK-GS, 5. Aufl. 2022, § 33 Rn. 13; Erb, in: Erb/Schäfer (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2020, § 33 Rn. 21; Jakobs (Fn. 13), 20/29; Roxin/Greco (Fn. 7), § 22 Rn. 77; Rosenau, FS Beulke, [erste Seite] (231). 18 Vgl. Hoyer, SK-StGB, § 33 Rn. 3 m. w. N.; Rosenau, FS Beulke, 231.

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schlagen“. A gerät aufgrund der Konfrontation in Panik und beschließt, B mit einem leicht erreichbaren Stock auf den Kopf zu schlagen, was einen Schädelbruch zur Folge hat, obwohl er ihn mit der gleichen Erfolgsaussicht auch an nicht vitalen Körperstellen hätte schlagen können, um den Angriff abzuwehren. Dies gilt jedoch nicht für die üblichen Fälle von sthenischen Affekten, bei denen eine Entschuldigung offensichtlich zu verneinen ist. Man denke an Fälle wie den folgenden: Wut in der Kneipe: A trinkt mit Freunden ein paar Bier in einer Kneipe. Sein Feind B ist wieder einmal stinksauer auf A, kommt auf ihn zu und beginnt ihn mit einer Schimpftirade zu beleidigen. Als B erneut zu einem beleidigenden Ausspruch ansetzt, beschließt A, sich zu wehren. Er könnte den Angriff einfach abwehren, indem er mit einem Schlag gegen das Kinn von B kontert. Aus Wut darüber, dass B ihn „aus heiterem Himmel“ und vor den Augen seiner Freunde angegriffen hat, beschließt A jedoch, ein Bierglas zu nehmen und es B über den Kopf zu schlagen, wodurch dieser eine schwere Schädelverletzung erleidet. Derartige Stärkeaffekte sind zumindest prinzipiell nicht zu entschuldigen, da eine solche Gemütsbewegung zur Gewalt absolut unverständlich erscheint. § 33 StGB scheint diesen Fall adäquat lösen zu können, weil A nicht aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, sondern aus Wut gehandelt hat. Da Wut wie auch andere, nicht von der Vorschrift erwähnte Gefühlsregungen wie beispielsweise Hass oder Zorn zur Stärke und nicht zur Schwäche tendieren, kann man von einem sthenischen Affekt sprechen und darauf hinweisen, dass die Vorschrift diese Art von Affekten aus dem Bereich des Entschuldbaren ausschließe. Mit diesen Überlegungen lässt sich der Gedanke der herrschenden Meinung, dass hinter der Aufzählung der Affekthandlungen in § 33 StGB die Unterscheidung zwischen asthenischen und sthenischen Affekten steht, theoretisch im Grundsatz nachvollziehen.

III. Kritik an der herrschenden Meinung 1. Über- und Unterinklusivität Ein Ansatzpunkt, die vorherrschende Meinung zu kritisieren, besteht darin, Fälle der Überinklusivität heranzuziehen, d. h. Fälle, welche die Vorschrift gemäß der beschriebenen Auslegung erfassen würde, die sie nach dem Rechtsgefühl aber nicht erfassen sollte.19 Beispiele dieser Art lassen sich leicht finden. Nehmen wir eine relativ 19 Diese Begriffe stammen aus der angelsächsischen rechtsphilosophischen Diskussion. Siehe nur Alexander/Sherwin, The Rule of Rules, 2001, 103; Duff, The Realm of Criminal Law, 2018, 64; Green, Criminal Law and Philosophy 14/2020, 417 (418 ff.); Mihal, Jurisprudence 12/2021, 175 (175 ff.); Schauer, Playing by the Rules, 1991, 31 ff.; Shapiro, Legality, 2011, 8; Sunstein, California Law Review 83/1995, 953 (992 ff.); Tamanaha, A Realistic Theory of Law, 2017, 38 ff. In den letzten Jahren werden sie aber auch in der deutschen

Asthenische und sthenische Affekte beim Notwehrexzess (§ 33 StGB)

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freie Umformulierung des bekannten Goetz-Falls,20 der sich 1984 in New York City ereignete: Rassistische Furcht: A wartet nachts auf seinen Zug in einer U-Bahn-Station, in der Raubüberfälle üblich sind. Plötzlich nähert sich der junge Afrikaner B dem A und fordert ihn auf, seine Brieftasche herauszugeben, sonst werde er ihn „zu Brei schlagen“. A hat große Angst um sein Leben, denn er hält Afrikaner von Natur aus für grausam und mörderisch. Deshalb zieht er eine Pistole und schießt B in die Brust, obwohl ein Warnschuss oder jedenfalls ein Schuss auf eine weniger risikoreiche Körperstelle den Angriff hätte verhindern können. B erleidet lebensbedrohliche Verletzungen. Fallkonstellationen dieser Art sind sicherlich kein bloßes Gedankenexperiment, sondern können in den heutigen westlichen Gesellschaften, in denen Rassismus ein mehr oder weniger großes Problem darstellt,21 vorkommen. Es überzeugt nicht, eine Überschreitung der Notwehrgrenzen allein aufgrund rassistischer Vorstellungen zu entschuldigen, auch wenn diese einen asthenischen Affekt wie Furcht ausgelöst haben mögen. Die Vorschrift des § 33 StGB scheint jedoch Straffreiheit vorzuschreiben. Es stimmt, dass die vorherrschende Meinung dieses Problem nicht verursacht hat. Insbesondere arbeiten Juristen mit den zur Verfügung stehenden rechtlichen Quellen, und wenn es um strafrechtliche Vorschriften geht, können sie wegen der Beschränkungen des Grundsatzes „nullum crimen sine lege“ die Grenze des Wortlauts zulasten des Täters22 nicht überschreiten. Daher sei es in Fällen wie rassistische Furcht nicht möglich, die Entschuldigung des A nach § 33 StGB zu verneinen, da alle Voraussetzungen der Vorschrift erfüllt seien und eine zusätzliche Einschränkung dem Analogieverbot zuwiderliefe. Das zeigt, dass die derzeitige Regelung aufgrund ihrer Überinklusivität zu kontraintuitiven Lösungen führt und dass es notwendig ist, das aufgezeigte theoretische Problem zu diskutieren, um schließlich eine Reform des StGB vorzuschlagen zu können. Aber dies reicht aus, um zu zeigen, dass dieser Aspekt des § 33 StGB nicht auf so festem Boden steht.

Diskussion relativ häufig verwendet. Vgl. Coupette, Juristische Netzwerkforschung, 2019, 33; Osterloh-Konrad, Die Steuerumgehung, 2019, 609; Peralta, ZStW 2012, 881 (891). 20 Court of Appeals of New York, People v Goetz, 68 NY2d 96; siehe Fletcher, Notwehr als Verbrechen, 1993. 21 Zum Problem aus rechtlicher Sicht siehe Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, 27 ff.; Liebscher, Rasse im Recht, 2021, 26 ff. Vgl. auch Wolff, An Introduction to Moral Philosophy, 2. Aufl. 2020, 339 ff. 22 Pars pro toto Fischer, StGB, § 1 Rn. 21; Hecker, in: Schönke-Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 1 Rn. 54 f.; Hilgendorf/Valerius, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2022, § 1 Rn. 30; Nestler, Jura 2018, 568 (569); Rengier (Fn. 13), § 5 Rn. 31; Roxin/Greco (Fn. 7), § 5 Rn. 28; Dannecker/Schuhr, in: Cirene et al. (Hrsg.), LK-StGB, 13. Aufl. 2020, § 1, Rn. 38, 111, 238 ff.; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 11), Rn. 80. Aus kritischer Sicht nur Kubiciel, Die Wissenschaft Vom Besonderen Teil des Strafrechts, 2013, 31 ff. m. w. N.

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Bei einer zweiten möglichen Kritik an der geltenden Regelung und der herrschenden Meinung zu ihrer Auslegung stellt sich die Problematik des nullum crimen sine lege nicht, da sie auf eine Ausdehnung der Entschuldigung zugunsten des Täters abzielt. Ebenso wie Fälle denkbar sind, in denen die Vorschrift den Rechtsanwender zwingt, jemanden zu entschuldigen, der nicht entschuldigt werden sollte, sind auch Konstellationen denkbar, in denen jemandem, der nach dem Rechtsgefühl entlastet werden sollte, die Entlastung gemäß § 33 StGB versagt werden müsste. Dies ist die Umkehrung des vorangegangenen Problems: Unterinklusivität.23 Insbesondere scheinen einige Fälle von sthenischen Affekten zumindest für eine Entschuldigung in Betracht zu kommen, wie beispielsweise die folgende Situation aufzeigt: Berechtigter Zorn: A kommt nach Hause und findet B halb nackt auf seinem Sohn C, den B zu vergewaltigen versucht. A bekommt einen Zornesanfall und ergreift in einem gewalttätigen Affekt einen Baseballschläger und schlägt B hart auf den Kopf, um den sexuellen Angriff zu verhindern, was eine Schädelverletzung zur Folge hat. Aufgrund seiner körperlichen Stärke hätte A den B leicht an einer weniger neuralgischen Körperstelle treffen oder ihn sogar ohne größere Probleme körperlich überwältigen können. Zwar hat A in seiner Notwehrhandlung gegen B überreagiert, allerdings scheint seine zornige Reaktion, die für einen sthenischen Affekt charakteristisch ist, absolut verständlich zu sein. Wahrscheinlich ist auch nicht zu befürchten, dass A erneut gewalttätig wird und es kann auch nicht gesagt werden, dass er von seiner Rolle als rechtstreuer Bürger abgewichen ist.24 Man könnte sogar sagen, dass das Fehlen eines sthenischen Affekts in dieser Situation ein Indiz für ein Sozialisierungsproblem oder einen Mangel an Bindung an ein Familienmitglied als Opfer einer besonders schweren Straftat wäre.25 Allerdings ließe § 33 StGB nach der herrschenden Auslegung nicht einmal eine Diskussion um eine Entschuldigung des A in dieser Situation zu, da er nicht „aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken“ gehandelt hat, also nicht aus einem sogenannten asthenischen Affekt. Und eine analoge Anwendung der Regel auf Fälle wie den vorgenannten wird derzeit nicht befürwortet.26 Diese Situation ist besonders besorgniserregend, weil auf diese beiden Probleme bereits in der älteren Literatur hingewiesen wurde. Man erinnere sich nur an die Aussage von M. E. Mayer, § 53 a. F. StGB sei eine „grobe Regel“,27 weil sie dazu verpflichtete, auch dann von Strafe abzusehen, wenn der Affekt absolut ungerechtfertigt war, und auch dann zu

23

Vgl. nur Coupette, Juristische Netwerkforschung (Fn. 19), 33 Fn. 95. Zum Verhältnis zwischen Rechtsfrieden und § 33 StGB siehe Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, 359 f. 25 Siehe auch Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 269 (294). 26 Vgl. nur Kindhäuser, NK-StGB, § 33 Rn. 21. Auch Roxin/Greco (Fn. 7), § 22 Rn. 75, 76 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung. Siehe schon v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrecht, 10. Aufl. 1900, 126. 27 M. E. Mayer, Der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, 1915, 282. 24

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bestrafen, wenn er angemessen war.28 Heute ist die Diskussion jedoch in Vergessenheit geraten. 2. Zu Spendels Auslegung Natürlich könnte § 33 StGB gegebenenfalls einen Spielraum für die Entschuldigung bestimmter Fälle sthenischer Affekte auf der Grundlage einer extensiven Auslegung einiger seiner Merkmale bieten. In diesem Sinne äußerte sich Spendel,29 der die Auffassung vertrat, dass der Begriff „Verwirrung“ nicht immer mit emotionalen, zur Schwäche neigenden Reaktionen einhergeht, sondern dass die meisten Verwirrungen durch einen sthenischen Affekt, wie z. B. gerechten Zorn, ausgelöst werden. Da die Vorschrift nicht ausdrücklich zwischen asthenischen und sthenischen Affekten unterscheidet (dies ist nicht Teil des Wortlauts), sollten sthenische Affekte im Prinzip entschuldigt werden können, solange sie beim Exzedenten einen Zustand der Verwirrung hervorrufen.30 Nach der vorherrschenden Meinung gilt diese Position als falsch und wird heute kaum noch diskutiert, was sich in Roxins klassischem Lehrbuch (jetzt Roxin/Greco) deutlich zeigt. Bis zur vierten Auflage des Bandes I des Buches (2006) war eine Randnummer der Behandlung von Spendels Position gewidmet, die wie folgt zurückgewiesen wurde: Solche Fälle von Selbstjustiz seien aus sozialpsychologischer Sicht gefährlich, weil sie in weiten Kreisen der Bevölkerung latente Aggressivität freisetzen könnten, die durch Strafe verhindert werden sollte.31 Für die neueste Auflage des Lehrbuchs wurde dieser Abschnitt gestrichen32 und die Lösung wird fast als Binsenweisheit angesehen, was mit der üblichen Behandlung der herrschenden Meinung in anderen Werken übereinstimmt: Da die Verwirrung durch eine emotionale, zur Gewalt neigende Reaktion hervorgerufen wurde, liegt ein sthenischer Affekt vor, der von der betreffenden Vorschrift nicht gedeckt sei.33 Dazu ist zunächst zu sagen, dass weder diese Kritik an Spendels Auffassung noch die der herrschenden Meinung überzeugend ist. Was Erstere betrifft, so mag es sein, dass Fälle wie berechtigter Zorn solche der Selbstjustiz sind, da es wahr ist, dass A die Grenzen des ihm zustehenden Notwehrrechts (aufgrund seines Zorns und wahr-

28 Siehe auch Kohlrausch/Lange, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen und Nebengesetzen, 43. Aufl. 1961, 207; v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Band 2, 1930, 215 Anm. 6. 29 Spendel, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), LK-StGB, 11. Aufl. 2003, § 33 Rn. 58, 66 f. Im Wesentlichen zustimmend Zieschang (Fn. 13), § 45 Rn. 24. 30 Spendel, LK-StGB, § 33 Rn. 67 ff. 31 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 76. 32 Roxin/Greco (Fn. 7), § 22 Rn. 75, 76 Fn. 147. 33 Vgl. nur Engländer, StGB-Kommentar, § 33 Rn. 10; Kindhäuser, NK-StGB, § 33 Rn. 22; S/S-Perron/Eisele, StGB, § 33 Rn. 4. Siehe auch Erb, MK-StGB, § 33 Rn. 19 ff.; Sauren, Jura 1988, 567 (568).

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scheinlich aufgrund eines begleitenden Vergeltungsgefühls34) überschreitet. Aber eine solche allgemeine Aussage sagt nichts über die Gefährlichkeit dieser Handlung aus. Dazu müssten beispielsweise empirische Untersuchungen durchgeführt werden,35 um die besondere Gefährlichkeit derjenigen zu belegen, die als Folge von auf aggressiven Affekten in Notwehrsituationen, in denen die getätigte emotionale Reaktion verständlich ist, die Grenzen der Notwehr übertreten. Roxin liefert solche empirischen Daten nicht, so dass die Argumentation auf allgemeinen common sensePlausibilitätsüberlegungen36 beruht. In Fällen dieser Art, in denen eine Ausnahmesituation vorliegt, die durch eine schwere Straftat gegen ein Familienmitglied verursacht wurde, scheint es vernünftig zu sagen, dass die Wiederholungsgefahr gering ist und dass es keine besonderen oder allgemeinen präventiven Gründe für eine Bestrafung gibt. Vielmehr neigt man dazu, diese Art von Reaktion zu verstehen. Die Behauptung, dass es sich in diesen Fällen nicht um einen Schwächeaffekt, sondern um einen Kraftaffekt handele und dass er deshalb nicht entschuldigt werden könne, macht die Sache nicht besser. Denn wie Spendels Argumentation zu Recht zeigt, unterscheidet das Gesetz in § 33 StGB nicht ausdrücklich zwischen asthenischen und sthenischen Affekten, vielmehr stellt dies eine dogmatische Erklärung der gesetzgeberischen Entscheidung dar, nur „Verwirrung, Furcht oder Schrecken“ in die Vorschrift aufzunehmen. Spendel fragt sich aber gerade, ob eine solche Erläuterung im Falle von Verwirrung richtig ist, da diese oft durch zur Gewalt neigende Regungen (also sthenische Affekte) hervorgerufen wird und in solchen Beispielen vielleicht eine Entschuldigung diskutiert werden sollte. Das Problem mit Spendels These beschreibt genau das Gegenteil. Es besteht nicht darin, dass sie die Voraussetzungen für die Entschuldigung zu sehr „lockert“, sondern dass sie sie nicht genügend lockert. Richtigerweise löst sein Vorschlag zumindest teilweise das Problem der Unterinklusivität, indem er eine Entlastung in diesen Fällen zulässt: Zorn und Verwirrung: A kommt nach Hause und findet B halb nackt auf seinem Sohn C, den B versucht, zu vergewaltigen. A bekommt einen Zornesanfall und in einem gewalttätigen Affekt, der zu enormer geistiger Verwirrung führt, ergreift er einen Baseballschläger und schlägt B hart auf den Kopf, um den sexuellen Angriff zu verhindern, was eine Schädelverletzung zur Folge hat. Aufgrund seiner körperlichen Stärke hätte A den B leicht an einer weniger neuralgischen Körperstelle treffen oder ihn sogar ohne größere Probleme körperlich überwältigen können. Während eine Entschuldigung in diesen Fällen vertretbar erscheint, würde diese Auffassung jedoch eine Ausweitung der Entschuldigung auf Fälle mit der Struktur des berechtigten Zorns nicht zulassen, obwohl bereits erwähnt wurde, dass es triftige 34

Besser: Der sthenische Affekt des Vergeltungsdrangs. So Zimmermann, ZIS 2015, 57. Zum Problem der Kontingenz Greco, Lebendiges und Totes, 2009, 231 ff.; ders., InDret 2010, 1 (6). 36 Siehe auch Hoyer, SK-StGB, § 33 Rn. 6: alltagstheoretische Überlegung. 35

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Gründe gibt, die Möglichkeit einer solchen Rechtsfolge nicht von vornherein zu blockieren. Denn in Konstellationen, in denen der sthenische Affekt keine Verwirrung erzeugt, sondern ein „einfacher“ sthenischer Affekt ist, käme eine Entschuldigung nach Spendels These gar nicht in Betracht. 3. Motivbündelfälle Bevor eine Lösung des Problems vorgeschlagen wird, sollte erwähnt werden, dass es in der Literatur oft eine weitere Diskussion gibt, die diese Nachteile vielleicht relativieren könnte. Es handelt sich um das sog. Motivbündel-Problem,37 d. h. um die Handlung des Exzedenten, die durch einen der drei in § 33 StGB genannten asthenischen Affekte (nicht nur Verwirrung) verursacht wird, aber auch von emotionalen als sthenische Affekte einzuordnenden Reaktionen begleitet wird. Insoweit scheint in der herrschenden Meinung Einigkeit darüber zu bestehen, dass die zur Schwäche neigende Gemütsbewegung zumindest für den Notwehrexzess mitursächlich sein muss und somit keine bloße untergeordnete Begleitemotion sein kann.38 Der Grund für diese Entscheidung dürfte sich aus der in § 33 StGB verwendeten Wortwahl ergeben, insbesondere in der Verwendung der Präposition „aus“:39 Diese erweckt den Eindruck, der dem Willen des Gesetzgebers entspräche, dass der Täter die Grenzen seines Notwehrrechts aufgrund von Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschreiten muss.40 Dies könnte von dem hier vertretenen Standpunkt aus bedenklich sein, weil es Fälle wie den des berechtigten Zorns ohne Weiteres aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift ausschließt, soweit der Täter neben dem Zorn zumindest eine gewisse Verwirrung, Furcht oder Schreck hatte, auch wenn diese nicht kausal im engeren Sinne für die Überschreitung war. Diese Frage soll aber offengelassen werden, da die zentrale Diskussion jetzt eine andere ist: Ob es neben einem Kausalzusammenhang zwischen den in § 33 StGB ausdrücklich genannten Schwächeaffekten und dem Notwehrexzess erforderlich ist, dass einer dieser Affekte das dominierende Motiv für die Handlung darstellt oder ob ein kraftorientierter Affekt, wie z. B. Hass, das überwiegende Motiv sein kann, solange der asthenische Affekt den Exzess verursacht hat. Ein Teil der 37

Vgl. nur Diederich (Fn. 3.), 190 f.; Motsch (Fn. 3), 29. Engländer, StGB-Kommentar, § 33 Rn. 11; Kindhäuser, NK-StGB, § 33 Rn. 25; Roxin/ Greco (Fn. 7), § 22 Rn. 77; Zieschang, LK-StGB, § 33 Rn. 30. 39 Im Gegensatz zu der in § 53 Abs. 3 StGB a. F. verwendeten Präposition („in“). Zum Auslegungsstreit vor der Reform der Vorschrift siehe nur Mezger/Blei, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 15. Aufl. 1973, 237; Paul, Persönliche Strafausschließungsgründe und innerer Tatbestand, 1963, 42; Spendel, LK-StGB, § 33 Rn. 70 Fn 58. Siehe auch Zieschang, LKStGB, § 33 Fn. 4. 40 Vgl. Kindhäuser, NK-StGB, § 33 Rn. 25; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 12 Rn. 147; Motsch (Fn. 3), 39 f.; Roxin/Greco (Fn. 7), § 22 Rn. 77, mit Verweisen auf den Bericht des Sonderausschusses, BT-Drs. V/1095, 15; Spendel, LK-StGB, § 33 Rn. 70; Zieschang, LK-StGB, § 33 Rn. 30. 38

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Lehre verlangt, dass der asthenische Affekt das vorherrschende Motiv des Täters sein muss.41 Daher würde in Fällen wie Zorn und Verwirrung keine Entschuldigung erfolgen, weil der Exzedent trotz der Tatsache, dass die Verwirrung kausal für den Exzess ist, überwiegend durch einen sthenischen Affekt motiviert gehandelt hätte. Diese Position erlaubt es natürlich nicht, die hier aufgeworfenen Probleme zu lösen, da nur Fälle erfasst würden, in denen der sthenische Affekt nur als untergeordnetes, nicht-dominantes Motiv eines durch einen asthenischen Affekt verursachten Exzesses auftritt. Die von einem anderen Teil der Lehre42 und auch in einigen Entscheidungen des BGH43 vertretene zweite Position sieht es als ausreichend an, dass der asthenische Affekt für den Exzess mitursächlich ist, verlangt aber nicht, dass dieser (zusätzlich) das beherrschende Motiv gewesen sein muss. Diejenigen, die eine solche Auffassung vertreten, kommen zu den gleichen Ergebnissen wie Spendel, zumindest dann, wenn der asthenische Affekt zu Verwirrung führt und diese wiederum kausal für den Exzess ist (nicht in Fällen, in denen z. B. Zorn Verwirrung erzeugt, der Exzess aber durch den Zorn und nicht durch die Verwirrung verursacht wird, weil keine Kausalität vorliegt).44 Mit dieser Position lässt sich das Problem der Unterinklusivität in größerem Umfang lösen. Allerdings gilt für sie die gleiche Kritik wie für die ursprüngliche Stellung von Spendel in dem Sinne, dass in Fällen reiner, aber verständlicher sthenischer Affekte (wie z. B. des berechtigten Zorns) § 33 StGB überhaupt nicht anwendbar wäre. Das Problem der Unterinklusivität bliebe also im Wesentlichen bestehen, wenngleich es abgeschwächt würde.

IV. Lösungsvorschlag 1. Kognitiv-evaluative Theorien der Emotionen als Ausgangspunkt Damit bestimmte dogmatische Lösungen sowohl für eventuell verurteilte Täter als auch für die Öffentlichkeit überzeugend sind und nicht als bloße unkritische Wie41

Siehe nur Duttge, NK-GS, § 33 Rn. 13; Erb, MK-StGB, § 33 Rn. 22; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl. 1996, § 45 II 2; Motsch (Fn. 3), 106; Müller-Christmann, JuS 1989, 717 (719 Fn. 30); S/S-Perron/Eisele, StGB, § 33 Rn. 5; Roxin/Greco (Fn. 7), § 22 Rn. 80. 42 Pars pro toto Diederich (Fn. 3), 190 f.; Engländer, StGB-Kommentar, § 33 Rn. 2; ders., HRRS 2013, 389 (392); Geilen, Jura 1981, 370 (379); Geppert, Jura 2007, 33 (38); Kindhäuser, NK-StGB, § 33 Rn. 25; Kindhäuser/Hilgendorf, LPK-StGB, § 33 Rn. 3; Kühl (Fn. 40), § 12 Rn. 147; Rengier (Fn 13), § 27 Rn. 23; S/S/W-Rosenau, StGB, § 33 Rn. 7 f.; Spendel, LK-StGB, § 33 Rn. 70 f.; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 11), Rn. 699; Zieschang, LKStGB, § 33 Rn. 30; ders. (Fn. 13), § 45 Rn. 24. 43 Siehe BGH NStZ-RR 1999, 264 (265); 2018, 272 (273); NJW 2001, 3200 (3202); 2013, 2133 (2136). Aber siehe die Ungereimtheiten der Rechtsprechung bei Roxin/Greco (Fn. 7), § 22 Rn. 81. 44 Im Fall Zorn und Verwirrung ist diese Detailfrage bewusst offengelassen worden.

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derholung von Präjudizen und aus der Tradition überlieferten Argumenten dargestellt werden, ist es notwendig, ihre rechtsphilosophischen Grundlagen zu untersuchen.45 Daher ist es für die Analyse des spezifischen strafrechtsdogmatischen Problems der asthenischen und sthenischen Affekte im Rahmen des Notwehrexzesses zumindest zweckmäßig, die Ratio dieser Unterscheidung zu untersuchen und zu prüfen, ob es möglich ist, einige allgemeine Schlussfolgerungen zu diesem Thema zu ziehen. Eine denkbare rechtsphilosophische Alternative ist, diese Ratio in der „Natur“ der Affekte zu suchen – und zwar auf der Grundlage eines kurzen Überblicks über die aktuelle rechtsphilosophische Diskussion über Emotionen.46 Der Wortlaut des § 33 StGB macht mit dem Erfordernis einer Handlung „aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken“ unmissverständlich klar, dass für die Entschuldigung das Vorliegen einer emotionalen Handlung entscheidend ist: Handlungen, die durch eine oder mehrere bestimmte Emotionen bestimmt sind und zur Begehung einer rechtswidrigen Tat führen.47 Zu den menschlichen Erlebnissen, die üblicherweise als Emotionen bezeichnet werden und die sich von körperlichen Begierden (z. B. Hunger oder Durst) und gegenstandslosen Stimmungen (z. B. Ärger oder endogene Depression) unterscheiden, gehören unter anderem Freude, Trauer, Furcht, Zorn, Hass, Mitleid oder Mitgefühl, Eifersucht, Hoffnung, Schuld, Dankbarkeit, Ekel und Liebe.48 Die zu untersuchende Vorschrift konzentriert sich auf drei Emotionen oder Affekte, die die Tatentschlüsse auslösen oder zumindest in irgendeiner Weise beeinflussen. Es stellt sich nochmals die Frage, warum in Fällen des Notwehrexzesses nur diese drei zur Entschuldigung herangezogen werden. Eine erste Antwort könnte die sogenannte mechanistische Auffassung von der Natur der Emotionen bieten.49 Nach dieser Auffassung wären Emotionen Kräfte, denen es an Denken oder Wahrnehmung mangelt. Sie wären also gleichbedeutend 45

Siehe nur Pawlik, JRE 2003, 287 (287); ders., GA 2014, 369 (369 ff.). Zusammenfassend Deigh, in: Goldie (Hrsg.), The Oxford Handbook of Philosophy of Emotion, 2013, 17 (17 ff.); Demmerling/Landweer, Philosophie der Gefühle, 2007, 1 ff.; Döring, in: Döring (Hrsg.), Philosophie der Gefühle, 2009, 12 (12 ff.); Scarantino/De Sousa, Stanford Encyclopedia of Philosophy: https://plato.stanford.edu/entries/emotion/ (zuletzt abgerufen am 23. 8. 2022). Aus einer ideengeschichtlichen Perspektive Landweer/Renz, in: Landweer/Renz (Hrsg.), Klassische Emotionstheorien, 2012, 1 (3 ff.). Zur Bedeutung der Theorie der Emotionen für die Rechtsphilosophie und insbesondere der Ideen von Martha Nussbaum siehe Hilgendorf, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2021, 176 (179). Zum Verhältnis von Strafrecht und Emotionen Fabricius, in: Berner/ Faß (Hrsg.), Sichtbares und Unsichtbares, 193 (193 ff.). 47 Vgl. Manrique, En Letra: Derecho Penal 4/2017, 10 (10); Tadros, Modern Law Review 67/2004, 322 (332). 48 Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 275 f.; Nussbaum, Hiding from Humanity, 2004, 23. Im Einzelnen Demmerling/Landweer (Fn. 46), 35 ff. 49 Vgl. Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 275 ff. Für einen vollständigen Überblick über diese Auffassungen durch eine Analyse der Ideen der Aufklärungsphilosophen siehe Newmark, Passion – Affekt – Gefühl, 2008, 145 ff. 46

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mit Impulsen, die unabhängig von den Überzeugungen einer Person und von der möglichen Bewertung der Richtigkeit oder Unrichtigkeit solcher Emotionen durch einen Dritten zu deren Handeln führen.50 Es handelt sich um äußere Kräfte, die das Handeln der Menschen irrational lenken, sodass es einen Gegensatz zwischen Vernunft und Emotionen gibt.51 So wie ein Windstoß das Verhalten von außen „lenken“ und jemanden zum Straucheln bringen kann, so wären auch Emotionen etwas, das auftritt und sich der Kontrolle der Menschen entzieht.52 Problematisch an dieser Auffassung ist, dass, sofern Emotionen keine Überzeugungen des Handelnden beinhalten, sondern externe Kräfte sind, es nicht möglich sei, das Objekt der Emotionen zu berücksichtigen, dessen Rolle in der emotionalen Handlung von der Interpretation abhängt, die die jeweilige Person diesem Objekt gibt.53 Man denke an Trauer über den Tod eines Menschen. Diese Emotion lässt sich kaum ohne Bezug auf die verstorbene Person, z. B. einen Angehörigen erklären. Es handelt sich nicht um eine bloße Empfindung, die zufällig auftritt wie etwa eine Verdauungsstörung, sondern sie ist speziell mit einem Gegenstand verbunden: Die Trauer wird durch den Gedanken an den Tod dieses Angehörigen, dessen Bedeutung für das eigene Leben und dessen Folgen hervorgerufen.54 All dies lässt sich kaum mit einer Vorstellung erklären, die Emotionen als externe Ereignisse betrachtet, die unabhängig von den Handelnden und ihren Überzeugungen und Wertungen sind. Außerdem kann die mechanistische Auffassung nicht zwischen verschiedenen Arten von Emotionen unterscheiden.55 Die einzige Differenzierung, die diese Auffassung vornehmen könnte, ist eine, die auf dem Unterschied der Empfindungen beruht, die die Emotion hervorrufen würde, nicht aber eine, die auf einem Bezug zu bestimmten inneren Überzeugungen des Handelnden beruhe,56 wie beispielsweise der Ansicht, ungerecht behandelt worden zu sein oder dass jemand unverdientermaßen leidet.57 So wäre es nicht möglich, zwischen Zorn und Neid oder Furcht zu unterscheiden, die oft ähnliche Empfindungen hervorrufen, und wäre es nicht möglich, eine weitere Abgrenzung vorzunehmen, ohne die Überlegungen des Handelnden zu berücksichtigen.58 Das Gleiche gilt für die positiven Emotionen, weshalb in der Philosophiegeschichte praktisch keine rein mechanistischen Auffassungen vertreten werden, sondern nuancierte Varianten angeboten werden.59 50

Vgl. Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 277 f. Manrique, Doxa 39/2016, 289 (292). 52 Vgl. González Lagier, Emociones, responsabilidad y derecho, 2009, 49. 53 Manrique, Doxa 39/2016, 294 f.; Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 282. Siehe auch Nussbaum (Fn. 48), 24 f. 54 Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 282. 55 Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 283; Nussbaum (Fn. 48), 27 ff. 56 Siehe Nussbaum (Fn. 48), 34. 57 Vgl. Nussbaum (Fn. 48), 27. 58 Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 283 f. 59 Vgl. Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 284. 51

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Diese Ablehnung rein mechanistischer Thesen über die Natur der Emotionen scheint auch hinter der Regelung des § 33 StGB zu stehen. Denn wenn es für die Gewährung der Entschuldigung nur auf die Existenz des Affekts als etwas außerhalb der Kontrolle des Täters Stehendes ankäme, würde es keinen Sinn machen, nach der Art der beim Exzess zu empfangenden Emotionen zu differenzieren. Stattdessen scheint die zu untersuchende Vorschrift davon auszugehen, dass nicht alle Emotionen für eine Entlastung „gleichwertig“ sind und dass es eine normativ relevante Möglichkeit geben sollte, sie zu unterscheiden, was durch die heute im Strafrecht vorherrschende Auffassung mit der Unterscheidung zwischen asthenischen und sthenischen Affekten gegeben ist.60 Eine mechanistische Auffassung der Emotionen ist zu einer solchen Unterscheidung nicht in der Lage. Hinter der Vorschrift des § 33 StGB muss also eine andere These stehen. In der Rechtsphilosophie taucht die kognitiv-evaluative Auffassung der Emotionen auf.61 Hier geht man von einer radikal anderen Prämisse aus als bei der mechanistischen Konzeption, und zwar in dem Sinne, dass Emotionen keine äußeren Kräfte mehr sind, die als Naturereignisse auf den Handelnden einwirken und über die er keine Kontrolle hat. Diese gegenwärtig in der Philosophie vorherrschenden Theorien62 gehen im Gegenteil davon aus, dass Emotionen mit Bewertungen oder Einschätzungen verbunden sind,63 die man in Bezug auf bestimmte Objekte hat, denen man eine entscheidende Bedeutung beimisst und dass dies der Grund ist, warum es zu Affekten kommt.64 So werden Menschen normalerweise nicht wegen Kleinigkeiten „einfach so“ zornig, sondern ihr Zorn ist in der Regel mit einer positiven Schätzung von Objekten verbunden, die für sie wertvoll sind, wie etwa die Sicherheit der von ihnen geschätzten Personen. Die Emotion selbst würde also eine ethische Bewertung beinhalten.65 Dabei handelt es sich nicht um irgendeine Bewertung, sondern um eine, die sich auf bestimmte Objekte bezieht, die für das Wohlbefinden einer Person oder ihre spezifische Rolle in ihrem Lebensentwurf wesentlich sind und die sich in der Regel zumindest teilweise der Kontrolle des Handelnden entziehen, wie etwa die Furcht vor der Zerstörung bestimmter besonders wichtiger Ziele, Beziehungen oder Pläne.66 Man sieht, dass es sich dabei nicht mehr um absolut unkontrollierbare Kräfte handelt, um Ereignisse, die dem Handelnden zustoßen und über die er keine Steuerungsmöglichkeit hat. Vielmehr entstehen Emotionen als Folge von Abschätzungen bestimm60

Ähnlich Zabel (Fn. 6), 352. Vgl. Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 285 ff. 62 Siehe Manrique, Doxa 39/2016, 294; Scarantino/De Sousa (Fn. 46); Zhao, Philosophy & Public Affairs 48/2020, 285 (286): „fairly uncontroversial assumption“. 63 Kurz gesagt, es geht um Emotionen als Urteile. Siehe Nussbaum, Upheavals of Thought, 2001, 33 ff.; dies., in: Solomon (Hrsg.), Thinking about feeling, 183 (183 ff.); Solomon, American Philosophical Quarterly 25/1988, 183 (184 ff.). 64 Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 286. 65 Siehe Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 285. 66 Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 286. 61

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ter Objekte, die verändert und kontrolliert werden können, z. B. durch die moralische Erziehung des Handelnden.67 Dies hat als Kehrseite, dass diese Bewertungen auch Gegenstand einer kritischen Einschätzung sein können: Die eigenen Bewertungen des Handelnden können als richtig oder falsch angesehen werden,68 was die Tür zu einer Analyse der Angemessenheit69 von Emotionen öffnet. Es besteht dann die Möglichkeit, auf bestimmte normative Maßstäbe zurückzugreifen, um festzustellen, ob eine emotionale Handlung ihrerseits auf einer sozialethisch richtigen Bewertung beruht. Man denke an jemanden, der mit Furcht reagiert, wenn er sieht, dass sich zwei Menschen gleichen Geschlechts in der Öffentlichkeit küssen.70 Diese Emotion wäre nicht etwas Äußerliches, das man nicht kontrollieren kann. Vielmehr handelt es sich um eine falsche Reaktion, die auf einer Reihe von verwerflichen Einschätzungen des Handelnden beruht, die er nicht haben sollte und die in keiner Weise ein infolgedessen begangenes Unrecht entschuldigen können.71 Diese Analyse der (sozialethischen) Angemessenheit des Affektes wird der Schlüssel sein, um eine Lösung für das in diesem Text gestellte Problem aufzuzeigen. 2. Vorschläge de lege lata und de lege ferenda Geht man davon aus, dass hinter § 33 StGB eine normative Grundlage steht, die durch eine kognitiv-evaluative Auffassung der Emotionen ergänzt wird, so ist zunächst festzustellen, dass die Unterscheidung zwischen asthenischen und sthenischen Affekten unzureichend ist. Wie bereits erwähnt, führt sie zu Problemen der Über- und Unterinklusivität. Diese einfache und in der aktuellen Literatur etablierte Differenzierung muss also aufgegeben werden. Aber die Lösung kann nicht darin bestehen, das Kind mit dem Bade auszuschütten, in dem Sinne, dass jede Art von Affekten zu einer Entschuldigung führen kann. Das würde eine Kapitulation vor der mechanistischen Auffassung der Emotionen bedeuten. Vielmehr muss nach einem normativen Maßstab gesucht werden, um zwischen entschuldbaren und nicht entschuldbaren Affekten sachgerecht zu unterscheiden. Um diese Frage zu klären, bieten Nussbaum und Kahan72 einen Überblick darüber, wie man feststellen könnte, ob eine bestimmte emotionale Handlung gemäß einer kognitiv-evaluativen Auffassung angemessen ist. Im Einzelnen weisen sie auf Folgendes hin: „If we claim that emotions involve evaluative thought, we naturally begin to ask questions about the sort of evaluations reasonable people ought to make. Thinking this way, Aristotle 67 Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 273, 297 ff. Vgl. Nussbaum (Fn. 48), 31 ff. 68 Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 287; Nussbaum (Fn. 48), S. 31. 69 Ähnlich Manrique, Doxa 39/2016, 294 f.; Nussbaum (Fn. 48), 31 ff. 70 Das Beispiel stammt aus Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 272. 71 Ausführlich Nussbaum (Fn. 48), 38 ff., 126 ff. 72 Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 285 ff.; 301 ff.

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holds that the virtuous person observes the mean (by which he means not a middle course, but a course of appropriateness) with regard to both action and emotion, and that the criterion of appropriateness should be found by asking what a person of practical wisdom would do and feel in the situation. The person of practical wisdom is an ideally reasonable agent who has a well-formed character and who embodies ,reputable views‘ of the community at their best, after these have been scrutinized and sifted by critical argument. In other words, he embodies a recognizable be ideal of appropriate behaviour and evaluation, although in many respects this may be distinct from average or common behaviour and evaluation.“73

Um festzustellen, ob ein bestimmter Affekt entschuldbar ist, könnte man fragen, ob die exzessive Reaktion diejenige ist, die ein vernünftiger Mensch auf der Grundlage seiner sozialethischen Bewertungen (derjenigen der Gesellschaft, gefiltert durch kritische Einschätzung) in der Lage des Täters hätte haben können. Dieser Bewertungsstandard hat den Vorteil, dass er dem klassischen Maßstab für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht bei Fahrlässigkeitsdelikten entspricht.74 Obwohl also eine kognitiv-evaluative Auffassung verlangt, die konkrete Einschätzung der Objekte der vom Exzedenten vorgenommenen Handlung zu untersuchen und sie zu bewerten, gäbe es einen relativ einfachen Weg, dieses Unternehmen durchzuführen, ohne eine komplexe Analyse der philosophischen Ethik vornehmen zu müssen. Es würde dann genügen, die Rechtsfigur des vernünftigen Menschen in der Situation des Täters (eines besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden75) als Kriterium für die Unterscheidung zwischen entschuldbaren und nicht entschuldbaren Affekten zu verwenden.76 Dieser Test würde es ermöglichen, Fälle von Über-und Unterinklusivität in geeigneter Weise zu lösen. Im Fall rassistischer Furcht wird es sich nicht um einen entschuldbaren, sondern um einen strafbaren Affekt handeln, da die Überschreitung durch eine Emotion verursacht wird, die auf einer der Menschenwürde anderer absolut widersprechenden Vorstellung beruht, die keine vernünftige Person in der Situation des Täters haben würde. Und im Falle eines berechtigten Zorns würde ein besonnener und gewissenhafter Mensch in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden Trauer empfinden, wenn er sieht, wie das Kind einer Erfahrung ausgesetzt wird, die es wahrscheinlich für sein ganzes Leben traumatisieren wird, sodass die Emotion des Zorns absolut verständlich erscheint. Diese Analyse geht, wie man 73

Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96/1996, 287 f. Siehe pars pro toto Hilgendorf/Valerius (Fn. 22), § 12 Rn. 22; Nestler, Jura 2015, 562 (562 f.); Rengier (Fn. 13), § 52 Rn. 15; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 11), Rn. 1114; Zieschang (Fn. 11), Rn. 430. Zur Mindermeinung, die diese Rechtsfigur kritisiert und die sogenannte „Theorie von der individuellen Sorgfaltswidrigkeit“ vorschlägt, siehe nur Beck, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Band 2, 2020, § 36 Rn. 41 ff.; Kühl (Fn. 40), § 17 Rn. 27 ff. 75 Vgl. nur BGH NStZ 2003, 657 (658); 2005, 446 (447); NJW 2000, 2754 (2758); 2015, 96 (98). 76 Ähnlich Nussbaum (Fn. 48), 67 ff., die die Verwendung des Kriteriums des „reasonable man“ (siehe Fletcher, Harv. L. Rev. 98/1985, 948 (962 ff.); Gardner, Torts and Other Wrongs, 2019, 271 ff.) vorschlägt. 74

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sieht, ausschließlich von einer hypothetischen Feststellung aus, welche emotionsauslösende Bewertung eine vernünftige Person in der Situation des Täters vorgenommen hätte, und berücksichtigt nicht, ob der Affekt zur Schwäche oder zur Stärke tendierte. Es stellt sich natürlich die Frage, wie dieser Vorschlag in das geltende Recht integriert werden könnte, da er auf eine eher „philosophische“ Weise erfolgt ist. Zur Beantwortung dieser Frage ist es erforderlich, den konkreten Vorschlag in Überlegungen de lege lata und de lege ferenda zu unterteilen. De lege lata ist dies keine einfache Aufgabe, zumindest wenn weitreichende Ergebnisse erzielt werden sollen. Der Wortlaut des § 33 StGB ist recht eindeutig, indem er eine Entschuldigung in Fällen von Exzessen aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken ohne weitere Qualifikation der Motivation des Täters zulässt. Dies würde die sachgerechte Lösung in Fällen von Überinklusivität, wie z. B. rassistische Furcht, verhindern: Wenn der Täter aus Furcht handelt, ist die Vorschrift anwendbar und die Entlastung muss erfolgen. Die Qualifizierung des betreffenden Affekts als „vernünftige Furcht“ würde dem Gesetzlichkeitsprinzip zuwiderlaufen, der heutzutage für allgemeine Fragen des Strafrechts wie Entschuldigungsgründe als anwendbar gilt.77 Einige Probleme der Unterinklusivität könnten jedoch gelöst werden, ohne dass das geltende Recht reformiert werden muss. Ein erster Vorschlag besteht darin, Spendels Auslegung des Merkmals „Verwirrung“ und eine weite Auslegung im Streit um das Motivbündelproblem mit gewissen Nuancen zu akzeptieren. Was das Element „Verwirrung“ betrifft, so hat Spendel Recht, dass es keine überzeugenden Gründe dafür gibt, die Fälle der Entschuldigung von Exzessen aus Verwirrung auf Schwächeaffekte zu beschränken. Es könnte Fälle von Kraftaffekten geben, die durchaus entschuldbar sind und wenn sie ihrerseits Verwirrung hervorrufen, sollten sie entschuldigt werden, wie im Fall von Zorn und Verwirrung. Aber nicht alle Fälle von sthenischen Affekten, die Verwirrung verursachen, sollten entschuldigt werden, sondern nur solche, die als Ergebnis einer Bewertung auftreten, die eine vernünftige Person in der Situation des Täters vorgenommen hätte. Wenn der Zorn durch einen bloßen „Rachedurst“ verursacht wird, der nicht durch eine vernünftige Grundlage für diese Rache, wie z. B. eine schwere Verletzung eines Familienmitglieds, vermittelt wird (man denke an eine Variante des berechtigten Zorns), dann sollte die Entschuldigung nicht erfolgen. Ähnlich verhält es sich mit der Motivbündel-Problematik. Wenn einige der in § 33 StGB genannten Merkmale (und nicht nur „Verwirrung“) die emotionale Handlung zumindest mitverursachen, sollte es nicht erforderlich sein, dass dieser Affekt auch das Hauptmotiv für die Handlung ist, solange der Gefühlsausbruch, wie z. B. Wut, selbst eine nach der Einschätzung eines vernünftigen Menschen zu erwartende 77

Vgl. Dannecker/Schuhr, LK-StGB, § 1 Rn. 84 f.; Dannecker, FS Otto, 25 (25 ff.); Frister (Fn. 13), 4. Kap Rn. 35; Jakobs (Fn. 13), 4/9; Otto, Grundkurs Strafrecht – Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 2 Rn 26; Satzger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 5. Aufl. 2021, § 1 Rn. 12; ders., Jura 2016, 154 (156); Schmahl, in: Hilgendorf/Kudlich/ Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Band 1, 2019, § 2 Rn. 50, m. w. N.

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Reaktion ist. Überwiegt jedoch ein unvernünftiger Affekt, wie z. B. Wut, der auf einem ungerechten Angst verursachenden Rachedurst beruht, dürfte eine Entschuldigung grundsätzlich nicht möglich sein. Ein zweiter de lege lata-Vorschlag betrifft auch die Lösung einiger Fälle von Unterinklusivität. Konkret könnten Fälle wie berechtigter Zorn nach geltendem Recht entschuldigt werden, ohne dass die Affekthandlung in Richtung Kraft mit Verwirrung, Furcht oder Schrecken einhergeht: Auf der Grundlage einer analogen Anwendung des § 33 StGB auf bestimmte Fälle, die nach herrschender Meinung als strafbare sthenische Affekte angesehen werden. Damit wird zugestanden, dass im Wortlaut der Vorschrift kein Raum für eine teleologische Ausdehnung ist, wohl aber für eine Analogie zugunsten des Täters in bestimmten von der Vorschrift grundsätzlich nicht erfassten Fällen, die aber nach wohlüberlegtem Rechtsgefühl erfasst sein sollten.78 Einschränkend ist hier anzumerken, dass diese analoge Anwendung nach der hier vertretenen Auffassung nur für einen nicht in § 33 StGB genannten („asthenischen“ oder „sthenischen“) Affekt gelten soll, der als Reaktion eines vernünftigen Menschen in der Lage des Täters angesehen werden kann. Mit einer weiten Auslegung der derzeit in der Vorschrift genannten Merkmale und der analogen Anwendung auf andere Fälle wären zumindest einige Probleme der Unterinklusivität gelöst. Für die Fälle der Überinklusivität kann jedoch nur ein de lege ferenda-Vorschlag wegen der Einschränkungen des nullum crimen sine lege-Grundsatzes gemacht werden. Ein einfacher Weg wäre, die historische Gesetzgebungstechnik des § 33 StGB zu verändern und die Aufzählung der Affekte durch das Wort „Affekthandlung“ zu ersetzen, mit einer Ergänzung um einen Maßstab der (sozialethischen) Bewertung der zugrunde liegenden Emotion. Die Frage ist, welcher Begriff verwendet werden sollte. Im geltenden Recht stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, wie z. B. die Ausdrücke „den guten Sitten entsprechend“ (§ 228 StGB a contrario sensu), „nicht verwerflich“ (§ 240 Abs. 2 StGB a contrario sensu) oder „angemessen“ (§ 34 Satz 2 StGB). Alle diese Klauseln sind mehr oder weniger unbestimmt und werfen Gesetzlichkeitsprobleme auf.79 Es handelt sich jedoch um bekannte Klauseln, die die Einbezie78

Dieser Vorschlag könnte von denjenigen kritisiert werden, die unbewusste Unvollständigkeit des Gesetzes, Vergleichbarkeit von Normzweck und Interessenlage fordern, damit eine Analogie zugunsten des Straftäters in Betracht kommt. Vgl. Berster, GA 2016, 36 (47 f.); Zieschang (Fn. 11), Rn. 8. Insbesondere das Vorliegen einer „planwidrigen Gesetzeslücke“ könne bezweifelt werden, da sich der Gesetzgeber der getroffenen Unterscheidung wohl bewusst gewesen sei. Diese Position hat das Problem, dass sie von einer sehr fragwürdigen methodischen Prämisse ausgeht: Einem Primat der subjektiven Auslegung, die auf dem Willen des Gesetzgebers beruht. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass diese Annahme keineswegs selbstverständlich ist. Vgl. nur Klatt, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2021, 233 (236). Siehe auch Coca Vila, InDret (ExLibris) 4/2020, 562 (565 f.); Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 4. Aufl. 2019, 126. 79 Aber die Verwendung von unbestimmten Klauseln ist in diesem Zusammenhang nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Recht feststellt. Vgl. BVerfGE 4, 352 (357 f.); 26, 41 (42); 28, 175 (183); 37, 201 (208); 45,

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hung der hier vorgeschlagenen evaluativen Maßstäbe ohne größere Probleme ermöglichen würden. Insbesondere der Begriff „angemessen“ ist womöglich derjenige, der den Gedanken der Übernahme dieses Korrektivs am besten wiedergibt, da er in einem Rechtfertigungsgrund, der auf Notrechten beruht, wie dem rechtfertigenden Notstand, verwendet80 und sogar in gewissem Umfang in der Notwehrliteratur diskutiert wird.81 Eine mögliche Neuformulierung des § 33 StGB würde also wie folgt lauten: „Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aufgrund einer angemessenen Affekthandlung, so wird er nicht bestraft“.82 Mit einer solchen Vorschrift müssten Fälle wie rassistische Furcht nicht entschuldigt werden, da der die Überschreitung verursachende Affekt nicht einer Emotion entspricht, die sich aus Bewertungen ergibt, die eine vernünftige Person in der Situation des Täters vorgenommen hätte.

V. Fazit In diesem Text wurde versucht zu zeigen, dass die von der herrschenden Meinung vorgenommene Unterscheidung zwischen asthenischen und sthenischen Affekten bei der Auslegung des § 33 StGB nicht so offensichtlich und unbestreitbar ist, wie man üblicherweise annimmt. Insbesondere wurde gezeigt, dass die dem Wortlaut der Vorschrift zugrundeliegende Abgrenzung Probleme der Über- und Unterinklusivität aufwirft. Um dies zu lösen, wurde eine Übernahme einer kognitiv-evaluativen Auffassung der Emotionen vorgeschlagen. Darauf aufbauend wurden ein de lege 363 (371 f.); 75, 329 (340 ff.); 92, 1 (12). Zu dieser Rechtsprechung im Einzelnen Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008, 308 ff.; Ruppert, ZIS 2020, 14 (17); Schmahl (Fn. 77), § 2 Rn. 57 f. 80 Die Auffassung der h. M., dass die Angemessenheitsklausel in § 34 S. 2 StGB einen eigenständigen Inhalt hat, wird hier als richtig angenommen. Vgl. Erb, MK-StGB, § 34 Rn. 244; Hilgendorf/Valerius (Fn. 22), § 5 Rn. 85; Jakobs (Fn. 13), 13/36; Kühl (Fn. 40), § 8 Rn. 166 ff.; Rengier (Fn. 13), § 19 Rn. 48. Zur Minderheitsmeinung, die versucht, den Inhalt der Klausel so weit wie möglich einzuschränken, siehe Küper, JZ 1980, 755 (755 f.); S/SPerron/Eisele, StGB, § 34 Rn. 46; Zieschang, LK-StGB, § 34 Rn. 152; ders., JA 2007, 679 (684). 81 Die „sozialethischen Einschränkungen“, die in der Regel auf der Grundlage des Merkmals „Gebotenheit“ vorgenommen wurden (nur Grünewald, Sancinetti-FS, 427 [427 ff.]) sind in letzter Zeit als faktische Anwendung einer Angemessenheitsklausel angesehen worden. So Bülte, Neue Kriminalpolitik 2016, 172 (175 ff.). Siehe Engländer (Fn. 79), 311 ff.; Greco, GA 2018, 665 (669 ff.). Zur Verwendung einer Angemessenheitsklausel z. B. im sogenannten „Radbruch-Entwurf“ (1922), siehe nur Grünewald, ZStW 2010, 51 (59 ff.). 82 Vgl. diese Lösung mit der Regelung im alten Vorentwurf 1909, Deutsches Reich/ Reichsjustizamt, Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch, 1909 (Neudruck: 2018), § 66 Abs. 2: entschuldbare Aufregung; im Einzelnen: Kantorowicz, MSchrKrimPsych 7/1910/ 1911, 257 (295); Kitzinger, ZStW 1911, 204 (223 f.); von Liszt, ZStW 30/1910, 250 (268). Vgl. auch ähnliche Regelungen in den Entwürfen 1913 (Deutsches Reich/Justizministerium, Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, 1920, § 27 Abs. 3), 1919 (Schubert/Regge, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, I. Abt., Band 1, 1995, 3) und 1925 (a. a. O., 203). Siehe dazu M. E. Mayer (Fn. 27), 282; v. Hippel (Fn. 28), 215.

Asthenische und sthenische Affekte beim Notwehrexzess (§ 33 StGB)

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lata-Lösungsansatz und ein de lege ferenda-Vorschlag gemacht. Sofern dieser Lösungsversuch zu einem kleinen Fortschritt in der Kenntnis der betreffenden Rechtsfigur beigetragen hat, ist das Hauptziel dieses wissenschaftlichen Beitrags erreicht.

Herrschaft des Rechts oder Herrschaft der Algorithmen? Zum Notstandsdilemma beim sog. „autonomen Fahren“ Gunnar Duttge

I. Der Anlass Der hochverehrte Jubilar hat sich im besten Sinne des Begriffs um eine Aufklärung der rechtsphilosophischen, norm- und denklogischen wie bioethischen Grundfragen des (Straf-)Rechts verdient gemacht. Sein wissenschaftliches Oeuvre bietet für jeden, der sich zu seinen Ehren mit einer reizvollen Fragestellung befassen will, vielfältige Anknüpfungspunkte – aus der Perspektive des Medizinstrafrechtlers: von der fundamentalen Menschenwürdegarantie (im Kontext der modernen Medizintechnik)1 über Grenzfragen von Sterben und Tod2 bis hin zu den rechtsethischen Implikationen des rechtfertigenden Notstands3 – um nur eine kleine Auswahl an Forschungsschwerpunkten eines viel weiter gespannten Horizonts zu benennen. Das Notstandsdilemma selbstfahrender Autos bildet dabei nicht nur einen zukunftsträchtigen, bereits heute intensiv diskutierten Ausschnitt aus dem Kernbereich der Forschungsinteressen Joerdens, sondern ist auch von ihm selbst schon ausführlich behandelt worden.4 Diesem Text mit seiner souveränen, glasklaren Problembeschreibung und seiner rechtsethisch überzeugend begründeten Beharrlichkeit gegenüber Tendenzen einer dem Kollektivnutzen dienlichen Hinnahme „menschlicher Kollate1 Gemeinsam mit Hilgendorf/Petrillo/Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und moderne Medizintechnik, 2011 und Menschenwürde in der Medizin: Quo vadis?, 2012; siehe auch Hilgendorf/Joerden/Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2013; Joerden, in: Dabrock/Denkhaus/Schaede (Hrsg.), Gattung Mensch. Interdisziplinäre Perspektiven, 2010, 363 ff.; ders., FS Neumann 2017, 159 ff. 2 Insbesondere Joerden, Menschenleben. Ethische Grund- und Grenzfragen des Medizinrechts, 2003, in: Frewer/Rödel (Hrsg.), Person und Ethik, 1993, 111 ff.; ders., NStZ 1993, 268 ff. (zum Hirntod), in: Groß/Esser/Knoblauch/Tag (Hrsg.), Tod und tote Körper, 2007, 124 ff.; ders., FS Roxin-II, 2011, 593 ff., in: Schäfer/Müller-Busch/Frewer (Hrsg.), Perspektiven zum Sterben, 2012, 121 ff.; ders., in: Bormann (Hrsg.), „Töten“ und „Sterbenlassen“, 2017, 275 ff. 3 Z. B. Joerden, GA 1991, 411 ff.; ders., GA 1993, 245 ff.; ders., JRE 5 (1997), 43 ff.; ders., in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 5/6, 2002, 33 ff.; ders., Rechtsbrücke 2 (2012), 111 ff. 4 Joerden, in: Hilgendorf (Hrsg.), Autonome Systeme und neue Mobilität, 2017, 73 ff.

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ralschäden“ verdankt der Autor nicht nur die Inspiration für eine eigene Befassung, sondern zugleich die Betitelung dieses Beitrages.5 Mit den nachfolgenden Überlegungen zum Thema verbindet sich ein ganz besonderer Dank an den Jubilar für wiederkehrende, liebenswürdige Einladungen zu fachlichem Austausch und stets auch persönlich angenehmen Begegnungen anlässlich interdisziplinärer und/oder internationaler Veranstaltungen oder zu einzelnen Schwerpunktausgaben des renommierten „Jahrbuchs für Recht und Ethik“. Dem Jüngeren ward dabei von der ersten Begegnung an bewusst, dass hier ein wahrer „Brückenbauer“ (zu anderen Fachdisziplinen, ausländischen Fachkollegen/-innen, aber insbesondere auch dem Einzelnen zugewandt) am Werke ist, wie er auch von anderen, etwa ausweislich seiner Ehrung mit der Doktorwürde der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´, wahrgenommen wird. Eine ganz besondere Erinnerung verbindet der Autor mit seinen Bemühungen bei der Abfassung seines allerersten kleinen Aufsatzes zum „Streit um die Gänsebrust“ (§ 229 BGB) – weil schon hier nachdrücklich von Joerdens vorausgegangener Stellungnahme6 inspiriert.

II. Die technische Entwicklung: Aktueller Stand und Perspektiven Schenkt man den jüngeren und aktuellen Ankündigungen der Automobilbranche und deren Begleitforschung7 Glauben, wird der öffentliche Straßenverkehr in absehbarer Zeit – zunächst nur im Nahverkehr („autonome Taxen“) und für betagte oder sonst körperlich eingeschränkte Personen (modernes „Car-Sharing“), sodann sukzessive für jedermann – mit vollautomatisiert betriebenen Kraftfahrzeugen bevölkert sein. Die Utopie verheißt eine rapide Senkung der Unfallzahlen und Verkehrstoten sowie einen massiven Zugewinn an Fahrkomfort („Zeitung lesen, während der Autopilot fährt“)8. Die allgemeinen Entwicklungsschritte finden sich in einer „Road Map“ in fünf Etappen unterteilt,9 beginnend mit punktuellen Assistenzsystemen (die bereits heute standardmäßig eingebaut werden, z. B. Bremskraftverstärker, Tempomat, Abstandsregelhilfe, Spurhalteassistent) über teilautomatisierte Funktionseinheiten (wie beim Einparken oder Überholen) bis hin zum hochautomatisierten „Level 5

Joerden (Fn. 4), 96. Joerden, JuS 1992, 23 ff. – nachfolgend Duttge, Jura 1993, 416 ff. 7 Bspw. die „Automated Driving Roadmap“ des European Road Transport Research Advisory Council (ERTRAC), Version 8 vom 8. 3. 2019, https://webcache.googleusercontent.com/ search?q=cache:UgyMu76DIXMJ; https://www.ertrac.org/uploads/documentsearch/id57/ER TRAC-CAD-Roadmap-2019.pdf (zuletzt abgerufen am 1. 2. 2022). 8 Die Zeit v. 1. 12. 2021 – zu den ökonomischen und klimatologischen Zukunftshoffnungen siehe z. B. Podszus/Degirmenci/Breitner, in: Oppermann/Stender-Vorwachs (Hrsg.), Autonomes Fahren, 2. Aufl. 2020, Kap. 2.3; zu den Perspektiven für die Stadtentwicklung Voß, ebd., Kap. 2.2. 9 Z. B. Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Ausarbeitung: Autonomes und automatisiertes Fahren auf der Straße – rechtlicher Rahmen, Stand: 22. 5. 2018, WD 7 – 3000 – 111/18. 6

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3“ unter vordefinierten Bedingungen (zeitweise Vollautomatisierung mit jederzeitiger Eingriffsmöglichkeit des Fahrers), der zeitlich unbegrenzten Vollautomatisierung ohne jederzeitige Kontrolle („Level 4“, beispielsweise in Parkhäusern oder auf Autobahnen der Zukunft) und schließlich der umfassenden Automatisierung sämtlicher Verkehrsvorgänge („Level 5“), die das Lenkrad entbehrlich werden lassen soll. In der letzten Vollendungsstufe gäbe es daher überhaupt keine „Fahrzeugführer“ mehr, sondern nur noch Passagiere in Fahrzeugen, die ausschließlich durch das komplexe Zusammenwirken fortlaufend aktivierter Algorithmen (d. h. einer strukturierten, logikbasierten Matrix vorweg programmierter Anweisungen)10 und durch „Wahrnehmungstechnik“ (bezogen auf den eigenen Standort und insbesondere die jeweiligen Umweltbedingungen)11 in jeweiliger Echt-Zeit bewegt werden. Der aktuelle Stand der technischen Entwicklung wird allgemein „auf dem Sprung“ zu Level 3 und höher gesehen: Während die gegenwärtig zugelassenen Fahrzeuge standardmäßig bereits mit einer Reihe von technischen Assistenzsystemen ausgerüstet sind, bereitet die vollständige Überantwortung der komplexen Fahraufgabe an das programmierte System – und sei es auch nur zeitweise unter festgelegten Bedingungen – offenbar nach wie vor einige Schwierigkeiten. Im Kern sind diese durch die Unvorhersehbarkeit und damit unmögliche konkrete Planbarkeit aller künftigen, überhaupt denkbaren Verläufe und Verkehrssituationen zum Zeitpunkt der Programmierung durch deterministisch12 konstruierte Algorithmen bedingt. Denn diese führen stets zum vorprogrammierten Resultat, so dass dem so gesteuerten Prozess jedwede „Freiheit“ zu einer situativ angepassten Reaktion auf unvorhergesehene Ereignissen verschlossen ist. Regelbasierte Algorithmen funktionieren nach Maßgabe von Entscheidungsbäumen, deren Verbindungsglieder jeweils nur eindeutige Antworten vorsehen. Die unüberschaubare Menge an potentiell relevanten Umweltdaten und große Vielfalt an möglichen Kollisionsgefahren im Straßenverkehr macht per saldo Programmiercodes erforderlich, die nicht nur einen hohen Ressourcenaufwand erfordern, sondern durch ihre Komplexität ein erhöhtes Fehlerrisiko mit sich bringen.13 Von hier aus erklärt sich die derzeitige Strategie des vorsichtigen Vorantastens der Entwicklung mit der jederzeitigen Eingriffsoption des Fahrzeuginsassen14, die jedoch mit dem „Out-of-the-Loop“-Phänomen ihrerseits neue Risiken produziert: Wie unlängst eine Studie empirisch untermauert hat, sind Menschen ver10

Im Überblick: Fry, Hello World, 2019, 20 ff.; Lenzen, Künstliche Intelligenz, 2018, 42 f.: „Vorschrift zur Lösung eines mathematischen Problems“, „Problemlösungsprozess“. 11 Details hierzu z. B.: Gruber/Eisenberger, in: Eisenberger/Lachmayer/Eisenberger (Hrsg.), Autonomes Fahren und Recht, 2017, 51 (53 ff.). 12 Teilweise werden hiervon nochmals „determinierte“ Algorithmen unterschieden, die u. U. auf einem anderen Weg zu demselben Ergebnis gelangen: Misselhorn, Grundfragen der Maschinenethik, 2018, 78. 13 Z. B. Gruber/Eisenberger (Fn. 11), 51 (56). 14 Inwieweit es sich dabei überhaupt noch um einen „Fahrzeugführer“ im Sinne der §§ 315c, 316 StGB handelt, ist in der Tat eine noch weithin ungeklärte Frage des Strafrechts, dazu aktuell die Potsdamer Dissertation von Berndt, Das Führen eines Fahrzeugs im Strafrecht, 2022.

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haltenspsychologisch (ohne Training) nur sehr begrenzt in der Lage, im vorübergehenden „Ruhezustand“ gleichsam auf Knopfdruck im Bedarfsfall eine sie konfrontierende (anspruchsvolle) Aufgabe zuverlässig zu bewältigen.15 Ungeachtet dieser gewaltigen Herausforderungen hat der Gesetzgeber bereits im Jahr 2017 die rechtliche Basis für den Betrieb von Kraftfahrzeugen mit „hoch- oder vollautomatisierter Fahrfunktion“ geschaffen, sofern der „Fahrzeugführer“ (!) „wahrnehmungsbereit“ bleibt, um „jederzeit“ seiner Pflicht zur unverzüglichen Übernahme der Fahrzeugsteuerung nachkommen zu können (§§ 1a, b StVG)16. Diesem ersten Schritt folgte im vergangenen Jahr bereits der zweite: Das StVG-Änderungsgesetz vom 12. 7. 2021 erlaubt den Betrieb von Fahrzeugen mit vollautomatisierter („autonomer“) Fahrfunktion „ohne fahrzeugführende Person“ innerhalb eines räumlich begrenzten Straßenraums (nach Erteilung einer Betriebserlaubnis durch das Kfz-Bundesamt), wenn die eingebaute „technische Ausrüstung“ in der Lage ist, den jeweils geltenden Verkehrsvorschriften während des Fahrens „selbstständig (…) zu entsprechen“ und bei drohender Verletzung das Fahrzeug eigenständig „in einen risikominimalen Zustand zu versetzen“ (§§ 1d, e Abs. 2 StVG)17. Insbesondere muss ein „System der Unfallvermeidung“ installiert sein, das zumindest auf Schadensreduzierung ausgelegt ist und bei unvermeidbarer alternativer Schädigung „die Bedeutung der Rechtsgüter berücksichtigt, wobei der Schutz des menschlichen Lebens die höchste Priorität genießt“ (§ 1e Abs. 2 Nr. 2 lit. b StVG n. F.). Dem Gesetzgeber war dabei nur allzu bewusst, dass mit dieser „Rahmenvorgabe“ noch keine Lösung des „echten Notstandsdilemmas“ gefunden ist – trotz beredter Bezugnahme auf die Menschenwürdegarantie, das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit.18 Zuvor hatte eine vom Bundesminister für Digitales und Verkehr einberufene Ethik-Kommission (unter dem Vorsitz des früheren Bundesverfassungsrichters Di Fabio) die Einschätzung formuliert, dass dilemmatische Leben-gegenLeben-Entscheidungen „nicht eindeutig normierbar und auch nicht ethisch zweifelsfrei programmierbar“ seien: „Technische Systeme (…) sind auf eine komplexe oder intuitive Unfallfolgenabschätzung [hin] nicht so normierbar, dass sie die Entscheidung eines sittlich urteilsfähigen, verantwortlichen Fahrzeugführers ersetzen oder vorwegnehmen könnten“.19 Soll das heißen: Das Problem ist durch Technik (bis auf Weiteres) nicht lösbar, so dass es besser ignoriert werden kann? 15 Vgl. Maggi/Romano/Carsten, Transportation Research Part F: Psychology and Behaviour 84 (2022), 9 ff. 16 I. d. F. des 8. StVG-ÄndG v. 16. 6. 2017 (BGBl. I, 1648). – Interessanterweise ist diese Pflicht aber auf Fälle beschränkt, in denen der Pflichtige die Notwendigkeit hierzu „erkennt oder auf Grund offensichtlicher Umstände [wie einer dahingehenden Warnung des Systems] erkennen muss“ (§ 1b Abs. 2 StVG). 17 I. d. F. des Gesetzes zum autonomen Fahren v. 12. 7. 2021 (BGBl. I, 3108). 18 Vgl. BT-Drucks. 19/24739, S. 22. 19 Bericht der Ethik-Kommission „Automatisiertes und vernetztes Fahren“ (Juni 2017), Ziff. 8, https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/publikationen/bericht-der-ethik-kom mission-729110 (zuletzt abgerufen am 5. 2. 2022).

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III. Die strafrechtliche und rechtsethische Perspektive: Bisheriger Stand der Erkenntnis Die bisherigen Überlegungen konzentrieren sich im Kern auf die Frage, wie Programmierern rechtssicher die Sorge genommen werden könnte, bei späteren schadensträchtigen Unfällen mit der von ihnen konstruierten Software dem scharfen Schwert des Strafrechts ausgesetzt zu sein – denn „kein Programmierer wird sich solchen Risiken aussetzen wollen“!20 Es sei daher die Aufgabe der Strafrechtswissenschaft, „technikfreundliche Lösungen“ bereitzustellen, auf dass sich das deutsche Strafrecht am Ende nicht „als echtes Innovationshemmnis erweis[e]“. Immerhin gründet sich der deutsche Wohlstand doch ganz wesentlich auf die Innovationskraft der deutschen Automobilindustrie: „Damit sie das Rennen nicht verliert, müssen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft die noch offenen Rechtsfragen des autonomen und vernetzten Fahrens klären“21 – gemeint: im Sinne einer Öffnung der nötigen Handlungsspielräume. 1. Um dieses Ziel zu erreichen, sind argumentationsstrategisch drei Wege denkbar – und sie werden allesamt diskutiert bzw. zum Teil auch vertreten: Der kürzeste und zugleich radikalste ist, bezogen auf die damit verbundene Veränderung des tradierten Rechtsverständnisses, die Abkehr vom menschenwürdebasierten Verbot der Quantifizierung menschlichen Lebens und damit die konsequentialistische Zulassung einer aktiven Tötungserlaubnis nach dem Prinzip der (gesamtnützlichen) Schadensminimierung. In Nachfolge des klassischen Weichensteller-Falles,22 philosophisch vertieft durch die Debatte um das sog. „Trolley“-Problem,23 zeigt sich unter dem Eindruck der modernen Terrorgefahr („Flugzeugabschuss“-Szenario)24 inzwischen eine deutliche Neigung zur Relativierung des hehren früheren Selbstverständnisses; mitunter wird bereits das „Ende des Unabwägbarkeitsdogmas“ nahe gesehen:25 Vor dem Hintergrund einer derartigen gesamtgesellschaftlichen Bedrohung könne der Einzelne selbst im Stand seiner „Unschuld“ (wenn von ihm keine rechtswidrige Bedrohung ausgeht) nicht mehr auf eine unbedingte Geltungskraft seines Existenzrechts vertrauen, sofern das zur Folge habe, eine Vielzahl von (anderen) Unschuldigen „opfern“ zu müssen.26 Daher sei ein „Zwang zur Untätigkeit“ um der Menschenwürde willen nicht deren Triumpf, sondern Kapitulation;27 das Dilemma auf eine Weise aufzulösen, „dass am Ende niemand gerettet werden kann und alle 20

Schuster, in: Hilgendorf (Hrsg.) (Fn. 4), 99 ff. Schuster (Fn. 20), 115. 22 Vgl. Welzel, ZStW 63 (1951), 47 (51 ff.). 23 Grdl. Foot, Oxford Review 1967, 5 ff. 24 Vgl. BVerfGE 115, 118 ff. 25 Siehe z. B. Fahl, GS Joecks, 2019, 67; Neumann, FS Merkel, Teilband 1, 2020, 791 (792). 26 Bereits – als akademisches Gedankenspiel – Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, 27. 27 Isensee, AöR 131 (2006), 173, 192. 21

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untergehen“, kennzeichne einen lebensfernen Fundamentalismus, ja „die Unvernunft selbst“28. Mit Recht hat Joerden jedoch auf die Unvereinbarkeit der postulierten „Entpersonalisierung“ der Opfer29 (durch Hoheitsakt oder privaten Eingriff) qua zwangsweisem Hinauswurf aus dem Solidaritätsverbund aller existentiell berechtigten Subjekte mit „den rechtsethischen Fundamenten des deutschen Strafrechtsdenkens“ hingewiesen: Denn dieses „steht in der Tradition einer deontologischen Ethik“30 und bewertet das menschliche Verhalten „primär an dessen Sosein“ und nicht (ausschließlich) anhand seiner Konsequenzen.31 Nur das „universale utilitaristische Optimierungsgebot“32 kann den Einzelnen für die Abwendung sämtlicher von anderen verursachten Übel „verantwortlich“ erscheinen lassen, so dass Nichthandeln – etwa die versäumte Rettung aller hungernden Menschen auf unserem Planeten – unweigerlich zum (massenmörderischen) Verbrechen wird.33 Die Folge wäre die Anordnung eines permanenten, schicksalhaften status impossibilitas, was den Verantwortungsbegriff gänzlich ad absurdum führen würde, abgesehen von jener mit den bestehenden Rechtsstrukturen nicht vereinbaren Gleichsetzung der Handlungsmodi „Bewirken“ und „Unterlassen“ a priori (vgl. § 13 StGB). Nur weil von (rechtlicher) „Verantwortung“ immer erst dann die Rede sein kann, wenn der Einzelne in Bezug auf das relevante Tatgeschehen auch über eine – tatsächliche wie rechtliche – „Vermeidemacht“ verfügt und für das Abwenden „zuständig“ ist, ermöglicht es, ihm bei Kollision gleichrangiger Handlungspflichten für sein teilweises Nichtretten (wie etwa in der Triage-Situation)34 einen Unrechtsvorwurf zu ersparen („rechtfertigende Pflichtenkollision“). Wer hingegen glaubt, bei Bedrohung mehrerer Menschenleben einen Mord begehen zu dürfen (bzw. gar zu müssen)35, ordnet die fundamentalen Rechte des Einzelnen anti-individualistisch (und dem Gleichheitsgebot zuwider) dem „Kalkül der gesellschaftlichen Interessen“ unter.36 Oder wie es der BGH im Kontext der ärztlichen Anstaltsmorde während des NS-Regimes formuliert hat: Es widerspricht elementar der herrschenden „Kulturauffassung über Wesen und Persönlichkeit des 28 Isensee, FS Jakobs, 2007, 205 (229); ähnlich Hillgruber, JZ 2007, 209 (217): „widersinniges Ergebnis“. 29 Jakobs, FS Krey, 2010, 207 (208 Fn. 1). 30 Zu den verschiedenen Deutungsweisen des Deontologischen zuletzt z. B. Duttge, GS Spaemann, 2022 (im Erscheinen) m. w. N. 31 Joerden (Fn. 4), 81; siehe auch R. Merkel, Die Zeit v. 8. 7. 2004, S. 33: Aufkündigung des Bürgerstatus. 32 Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, 2001, 238 ff. et passim. 33 Zugespitzt bei Ott, Moralbegründungen, 2001, 113. 34 Jedenfalls im Zeitpunkt vor Aufnahme der Rettungsbemühungen; zur Streitfrage um die sog. „ex post-Triage“ z. B. Duttge, in: Römelt/Bahne (Hrsg.), Lebenswert in Verantwortung. Ethische Herausforderungen in der Corona-Pandemie, 2022, 147 ff. m. w. N. 35 Treffend Spaemann (Fn. 30), 398: damit kann man nur einem Konsequentialisten drohen. 36 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, 48.

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Menschen“, „den für die Erhaltung von Sachwerten angemessenen Grundsatz des kleineren Übels [auch dann]37 anzuwenden (…), wenn Menschenleben auf dem Spiel steht“38. Anders als etwa Rousseau39 meinte, ist dem gesellschaftsvertraglichen Bund aller Rechtsgenossen nach Maßgabe der Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG gerade nicht die „totale Übereignung jedes Teilhabers (…) an die Gemeinschaft“ immanent – selbst im „Ausnahmezustand“ nicht und schon gar nicht in der „Normallage“.40 2. Weil der „Höchstwert“41 menschlichen Lebens somit einer utilitaristischen „Verrechnung“ nach dem „Prinzip des überwiegenden Interesses“ (§ 34 StGB)42 im klassischen Entscheidungskonflikt einer Kollision von Handlungs- (erstrebte Lebensrettung) und Unterlassungspflicht (Tötung eines anderen Menschenlebens als „Preis“) entgegensteht, öffnet sich die Perspektive für eine evtl. andere Bewertung nur bei modifizierter Deutung der Kollisionslage: Der anerkannte Erlaubnisfall einer rechtfertigenden Pflichtenkollision – bei Kollision gleichrangiger Handlungspflichten – steht aber zweifelsohne nicht in Rede, weil jedenfalls die ausweichende Veränderung der Fahrtrichtung und Schädigung zuvor nicht in den Gefahrenbereich einbezogener Verkehrsteilnehmer als aktive Tatbegehung und damit als Verletzung einer Unterlassungspflicht zu qualifizieren ist.43 Das Beibehalten des laufenden Fahrvorgangs und damit Geschehenlassen eines Unfalls ohne vorherige Intervention (in der Voraussicht, dass auf diese Weise die tödliche Wirkung nur verlagert, nicht aber abgewendet werde) stellt sich jedoch ebenfalls als aktive Herbeiführung des Taterfolges dar, denn die schadensverursachende Energie resultiert nicht aus einer (reinen) Naturgegebenheit, einem Dritthandeln oder einer besonderen Opferdisposition (wie beim Behandlungsabbruch)44, sondern dem vom Fahrer aktivierten Fahrzeug. Dieses wurde von Menschenhand in den Zustand der Aktivität versetzt und hat durch die darin inhärente Bewegungsenergie die Schadensfolgen verursacht: Es dürfte aber keinen wertungsmäßigen Unterschied machen, ob das Fahrzeug (zu Beginn) beschleunigt oder seine Geschwindigkeit im fahrenden Zustand nicht verringert 37

Klammerzusatz durch Verf. BGH NJW 1953, 513 (514). 39 Du contrat social Kap. I, 6. 40 Dazu treffend Pawlik, JZ 2004, 1045 (1052): performativer Selbstwiderspruch der Rechtsordnung, da de facto Verabschiedung von ihrer Rechtlichkeit. 41 Zum „Aggregationsproblem“ (über Personengrenzen hinweg) näher W. Lübbe, in: von Hirsch/Seelmann/Neumann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, 201 ff. 42 Z. B. Joerden, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Band 2, 2020, § 39 Rn. 12 ff. 43 Dies dürfte wohl unstreitig sein, wie hier z. B. auch Feldle, Notstandsalgorithmen, 2018, 78. 44 Vgl. BGHSt 55, 191 (204 f.): „Eine Rechtfertigung durch Einwilligung kommt daher nur in Betracht, wenn sich das Handeln darauf beschränkt, einen Zustand (wieder-)herzustellen, der einem bereits begonnenen Krankheitsprozess seinen Lauf lässt (…). Nicht erfasst sind dagegen Fälle eines gezielten Eingriffs, der die Beendigung des Lebens vom Krankheitsprozess abkoppelt“. 38

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wurde. Schließlich würde niemand auf den Gedanken kommen, beim Umstoßen einer anderen Person durch den Läufer „eine Unterlassungstat anzunehmen, weil der Täter seinen Schritt nicht verlangsamt hat und rechtzeitig zum Stehen gekommen ist“45. Sollte künftig die Vollautomatisierung erreicht sein und es im eigentlichen Sinne keinen „Fahrzeugführer“ mehr geben, ändert sich allenfalls der Adressat der Erfolgszurechnung (Hersteller/Programmierer?), nicht aber der Handlungsmodus der Tatverwirklichung. Bei der somit im Raum stehenden Kollision zweier Unterlassungspflichten46 (einen konkreten Eingriff in Rechtsgüter anderer nicht zu verüben), in der im Entscheidungszeitpunkt47 bloßes Nichtstun den drohenden Taterfolg eben nicht mehr abzuwenden vermag, hält insbesondere Schuster eine erweiterte Anwendung der rechtfertigenden Pflichtenkollision für naheliegend: Denn das Recht dürfe dem Bürger „nicht jede Handlungsmöglichkeit verwehren, alles andere liefe auf eine für den Bürger unausweichliche Normenfalle hinaus“48. Übersehen wird damit aber, dass diese Konfliktlage – anders als im Vorfeld der kollidierenden Handlungspflichten (etwa im Klassiker der zeitgleich ertrinkenden Kinder des Rettungsgaranten) – gerade nicht unvermeidbar gewesen ist, sondern der Fahrer zuvor durch Ingangsetzen des risikobehafteten Fahrbetriebes selbst den auslösenden Faktor gesetzt hat. Zudem dürfte sich kaum akzeptieren lassen, dass die beiden Gruppen der unschuldig Gefährdeten von Rechts wegen ihre drohende Tötung einfach hinzunehmen verpflichtet seien: Denn auch die zunehmende Automatisierung der Automobile bewirkt nicht, dass die anderen Straßenverkehrsteilnehmer allein durch ihren Teilhabeentschluss und der nicht auszuschließenden erlaubten Begegnung künftig mit einer „Verwirkung“ ihres Existenzrechts zu rechnen hätten.49 Im Übrigen macht die schicksalhafte Unausweichlichkeit in einer Situation, in der sich der Mensch immer (womöglich schuldlos) „schuldig“ macht, gleich wie er sich entscheidet, überhaupt erst das moralische „Dilemma“50 aus, und es kann nicht die Aufgabe des Rechts sein, dem sich in solcher Lage Befindlichen zu Lasten anderer einen „Freibrief“ auszustellen. Für den in der Akutsituation entscheidungs- und eingriffsfähigen Fahrer gibt es daher keine Erlaubnis zur Verletzung/Tötung, gleich zu welcher Seite der beiden gefährdeten Personen/-gruppen hin; es handelt sich – mit Hilgendorf – „vielmehr um eine tragi-

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Feldle (Fn. 43), 79; i. E. ebenso Hilgendorf, in: Hilgendorf (Hrsg.) (Fn. 4), 143 (163). Wie hier auch Weigend, ZIS 2017, 599 (603). 47 Zu diesem Zeitpunkt sieht Gropp den Verstoß gegen eine Unterlassungspflicht bereits als begangen und deshalb eine „Handlungspflicht aus Ingerenz“: FS Hirsch, 1999, 207 (220). 48 Schuster (Fn. 20), 111 f.; ebenso Otto, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.) (Fn. 42), § 41 Rn. 23. 49 Unabhängig davon, ob bei zunehmender Vollautomatisierung noch von einem „Angriff“ im Sinne des § 32 StGB gesprochen werden kann; dazu näher Mitsch, KriPoZ 2018, 70 (73 ff.); auf § 228 BGB weist zutreffend Joerden (Fn. 4), 83 f. Fn. 18 hin. 50 Zur moralphilosophischen Debatte gründlich Raters, Das moralische Dilemma. Antinomie der praktischen Vernunft? 2013. 46

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sche Situation, in der jede mögliche Geschehensvariante Unrecht verwirklicht“51. Soweit eine der beiden Optionen die Lebens- oder Körperverletzungsgefahr für den Fahrer selbst abzuwenden vermag, schließt die so motivierte Entscheidung – sofern tatbestandsmäßiges Unrecht vorliegen sollte – gem. § 35 Abs. 1 StGB seine Schuld aus.52 3. Joerden hat jedoch nur allzu berechtigt klargestellt, dass die evtl. Anwendbarkeit eines (gesetzlichen oder übergesetzlichen) Entschuldigungsgrundes für die strafrechtliche Beurteilung im Zeitpunkt des Programmierens – in sicherer Distanz zu einem späteren Unfallgeschehen – ganz und gar irrelevant ist, zumal von den Programmierern stets ein erlaubtes Verhalten erwartet wird.53 Die Kernfrage lautet daher, ob ein Algorithmus, der generell stets auf eine Schadensminimierung ausgerichtet ist und dem daher bzgl. einer evtl. Kollisionsgefahr zwangsläufig ein vorgegebenes Muster des (automatisierten) Wertvergleichs (z. B. „Menschen sind wertvoller als Sachobjekte“) inhärent sein muss, an die vorskizzierten Abwägungsgrenzen des deutschen Rechts in Notstandslagen gebunden oder hierfür – bei der Programmierung im Vorfeld – ein größerer Handlungsspielraum eröffnet ist. Letztere Auffassung scheint sich mittlerweile mehr und mehr durchzusetzen, indem unter Verweis auf die „Konfliktferne der Situation“54 von einem „erlaubten Risiko“55 ausgegangen wird: In der Tat sind seit Aufbruch der Gesellschaft(en) in die Moderne, insbesondere seit der industriellen Revolution und den technischen Innovationen des letzten Jahrhunderts, kaum noch soziale Begegnungen denkbar, denen selbst bei entsprechender Sorgfalt aller Beteiligten nicht doch gewisse Schadensrisiken immanent sind. Der treibende gesamtgesellschaftliche Motivations- und Legitimationsgrund hierfür dürfte im evolutionär verankerten Streben des Menschen nach Wohlstandsmehrung und Ausdehnung seiner Entfaltungsmöglichkeiten liegen.56 Mit Blick auf die technologische Innovation einer künftig vollautomatisierten Mobilität kommt vor allem die – ethisch hochrelevante – Erwartung erheblich verminderter Unfall- und Todesfälle hinzu, des Weiteren die besonderen „Mobilitätsgewinne“ für ältere 51

Hilgendorf, ZStW 130 (2018), 674 (692): „Aus der Tatsache, dass ein Umsteuern des Wagens als rechtswidrig einzustufen ist, folgt nicht, dass ein Weiterfahren rechtmäßig wäre“. 52 Selbstredend ermöglicht der „Insassenschutz“ keine Priorisierung dergestalt, dass aus Gründen der eigenen Gefahrenabwehr die Tötung anderer (etwa infolge eines Ausweichmanövers) erlaubt wäre. Dies gilt für den Fahrer, aber auch für antizipierende Programmierer: Gless/Janal, JR 2016, 561 (574). 53 Joerden (Fn. 4), 86 f.; ebenso Wörner, ZIS 2019, 41 (45). 54 Greco, FS Kindhäuser, 2019, 167 (172). 55 Vor allem Hilgendorf (Fn. 45), 164 ff. und ZStW 130 (2018), 699 ff.; siehe auch Schuster (Fn. 20), 113 ff. (mit der älteren Begrifflichkeit der „Sozialadäquanz“); modifizierend Greco, FS Kindhäuser, 173: „Kombination von erlaubtem Risiko und rechtfertigender Pflichtenkollision“. 56 Vgl. z. B. V. Gerhardt, in: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.), Glanzlichter der Wissenschaft, 2011, 79 (82): „Es ist die Technik (…) ein wesentliches Moment seiner Funktionsund Lebenslust, sie zu gebrauchen und sich mit ihr zu verbessern; zugleich ist es eine Notwendigkeit, dies mit Erfolg zu tun, wenn er in und mit seiner Kultur überleben will“.

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und/oder behinderte Menschen, ggf. auch die Energieeffizienz und der Umweltschutz.57 Die Pointe der rechtsdogmatischen Kategorie „erlaubtes Risiko“ liegt nun gerade darin, dass sie ungeachtet aller missverständlichen Rede über eine „notstandsähnliche Abwägung“58 den Verkehrsteilnehmer „von der Pflicht zur Abwägung der widerstreitenden Interessen und damit überhaupt von der Pflicht zur Reflexion auf Folgen, die andere betreffen, befreit“59. Denn wenn beispielsweise die Fahrzeugführer erst fortlaufend eine umfassende, alle denkbaren Einflussfaktoren detailliert einbeziehende Risikofolgenabschätzung vorzunehmen hätten, bevor sie sich weiter fortbewegen dürften, wären die zu treffenden Risikoentscheidungen ad infinitum suspendiert – und das soziale System des Straßenverkehrs bis auf Weiteres allen versperrt. Mit anderen Worten hat daher eine moderne Gesellschaft ein vitales Interesse „an der Verfügbarkeit von Schemata legitimen Handelns“, damit alle Rechtsunterworfenen zur Beantwortung der Frage nach der Erlaubtheit ihres jeweiligen Tuns „auf weniger komplexe, rascher verfügbare und besser objektivierbare Legitimationsgrundlagen zurückgreifen können“60 (wie z. B. mittels der die Regeln in kodierter Anschaulichkeit symbolisierenden Verkehrszeichen)61, als es die höchstpersönliche, stets perspektivisch limitierte und im Auge eines objektiven Beurteilers daher niemals verlässliche eigene Risikoeinschätzung jemals vermochte.62 Damit sich aber der einzelne Nutzer unbesehen auf das unvermeidliche „Grundrisiko“ einlassen darf, d. h. sich von den hieraus u. U. resultierenden Schadensfolgen „freigestellt“ wissen kann,63 müsste es bereits einen „normativen Konsens“64 in Gestalt von konkret ausformulierten rechtlichen Sicherungsvorkehrungen geben. An der notwendigen Anerkennung durch die Rechtsordnung auf Basis eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses über die Akzeptabilität der spezifischen Risiken des Einsatzes von automatisierten Autos wie an der notwendigen Festlegung, auf welche konkrete Weise eine effektive Risikominimierung unter Aufbietung „alles Zumutbaren“65 sichergestellt werden soll, 57

Siehe z. B. Beck, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.) (Fn. 42), § 36 Rn. 130; Hilgendorf (Fn. 45), 144 et passim. 58 Hardtung, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2021, § 222 Rn. 15; Hoyer, ZStW 121 (2009), 860. 880; Schünemann, JA 1975, 575 f. 59 W. Lübbe, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), 951 (953). 60 W. Lübbe, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), 957. 61 Zur kognitionspsychologischen Dimension im Überblick Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, 414. 62 Siehe bereits Duttge, FS Maiwald, 2010, 133 (142) unter Verweis auf die systemtheoretische Beschreibung des Sinns von „kongruent generalisierten, normativ stabilisierten Verhaltenserwartungen“ (Luhmann). 63 Zum letztendlichen Erlaubnisinhalt des „erlaubten Risikos“ analytisch Kindhäuser, GA 1994, 197 (216 f.). 64 M. Köhler, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1997, 186; näher Schürer-Mohr, Erlaubte Risiken. Grundfragen des „erlaubten Risikos“ im Bereich der Fahrlässigkeitsdogmatik, 1998, 100 ff. 65 Hilgendorf, ZStW 130 (2018), 699.

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fehlt es aber bisher. Wie Susanne Beck zutreffend festgestellt hat, gibt es bis heute insbesondere keinerlei rechtliche Vorgabe darüber, mit welchen Bewertungen evtl. Notstandsdilemma-Situationen auf Basis von Algorithmen vorgebahnt werden sollten;66 die vagen Generalklauseln des § 1e Abs. 2 Nr. 2 StVG werden dem erforderlichen Maß an rechtlicher Positivität67 zweifelsohne nicht gerecht. Solange diese Regulierungsaufgabe nicht geleistet ist (oder gar – nach erfolgter Rahmensetzung – de facto an die Automobilindustrie abgetreten werden soll)68, bildet der Verweis auf das „erlaubte Risiko“ in der Tat nur eine „bloße Behauptung“69. Damit ist zugleich der Annahme widersprochen, dass die verschiedenen, im Lichte ihrer jeweiligen rechtlichen Beurteilung im Einzelnen zu unterscheidenden Dilemmasituationen zum Zeitpunkt der Programmierung nicht zu interessieren brauchen (und deshalb einem Zufallsgenerator überlassen werden dürfen):70 Gewiss steht der Programmierer naturalistisch betrachtet nur am Anfang einer Kette von nachfolgenden Entscheidungen; je mehr jedoch die Funktionalität des Autos durch die ihm eingepflanzte Software und nicht mehr durch einen „Fahrer“ in der akuten Verkehrssituation bestimmt wird, umso deutlicher liegt schon in der Konstruktion des Programms die ausschlaggebende „Handlungsmacht“ (vorbehaltlich der Zukunftsutopie „selbstlernender Maschinen“), indem die spätere „Reaktion“ des Autos mit einem notwendig eindeutigen Entscheidungsrahmen versehen und damit bereits hierdurch vorentschieden wird.71 Dies gilt schon im gegenwärtigen Erprobungsstadium einer Reduktion der Fahrerkontrolle auf bloß notfallmäßige Eingriffsnotwendigkeiten („Level 3“)72 und mehr noch für eine Zukunft der allein durch Algorithmen „kontrollierten“ Vollautomatisierung. Oder wollte man ernstlich behaupten, mit jener für zwei tragische Flugzeugabstürze einer „Boeing 737 Max“ ursächlichen Zusatzprogrammierung (Maneuvering Characteristics Augmentation System, MCAS)73 sei der „Eingriff in die fremde Rechtssphäre“ noch nicht buchstäblich vorprogrammiert gewesen?74 Das Programmieren kann sich dabei nicht von den bestehenden rechtlichen Grenzen distanzieren und für sich eine Art „rechtsfreien Raum“ 66 Zu den verschiedenen Optionen bei der Programmierung Beck, in: Hilgendorf (Hrsg.) (Fn. 4), 117 (136 f.). 67 Siehe W. Lübbe, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), 962: „Unvermeidbarkeit der Positivität des Rechts“. 68 Zur (insbesondere auch verfassungsrechtlichen) Problematik des Transfers „technischer Normen“ in das Recht zuletzt instruktiv Nussbaum, ZIS 2021, 33 ff.; siehe auch Beck, ZStW 131 (2019), 967 ff. 69 Joerden (Fn. 4), 88. 70 So insbes. Greco, FS Kindhäuser, 173 f. 71 Wie hier bereits überzeugend Beck (Fn. 66), 136. 72 Zu den technologischen Entwicklungsschritten bereits oben bei Fn. 9. 73 Zur Funktionsweise im Überblick: https://skybrary.aero/articles/maneuvering-characteris tics-augmentation-system-mcas (zuletzt abgerufen am 1. 2. 2022). 74 In diesem Sinne aufgrund einer rein räumlich-zeitlichen Betrachtungsweise Greco, FS Kindhäuser, 172 f.

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reklamieren, indem das folgenreiche Wirken des Programms als etwas Schicksalhaftes („Zufall“) deklariert wird. Aber auch der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht frei, in seinen Setzungen zur Reichweite „erlaubter Risiken“ die „Höchstwertigkeit“ menschlichen Lebens (eines jeden Einzelnen) zu ignorieren – und „menschliche Kollateralschäden“ um der ersehnten „Zukunftstechnologie“ willen zumindest übergangsweise zu tolerieren.

IV. Perspektiven Die konkrete Ausgestaltung der Software streng abhängig von den dadurch determinierten (möglichen) Folgen wie den rechtlichen Rahmenbedingungen zu sehen ist daher schlechthin alternativlos: Selbst die Anfänge einer „Maschinenethik“ haben das nicht bestritten, sondern – man denke etwa an die einflussreichen Asimov’schen Robotergesetze75 – dezidiert anerkannt. Dieser Schlüsselpunkt ist auch deshalb von essentieller Bedeutung, weil eine strafrechtliche Inverantwortungnahme der künftigen Nutzer „selbsttätig funktionierender“ Fahrzeuge auf Basis der geltenden Prinzipien ausgeschlossen und im Übrigen unangemessen sein dürfte. Denn wer sich pflichtgemäß eines zwar nicht risikofreien, aber doch erlaubterweise mit Billigung der Rechtsordnung in Verkehr gebrachten (Fortbewegungs-)Mittels bedient, kann nicht ohne Verstoß gegen das fundamentale Schuldprinzip sanktioniert werden. Die Annahme einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit dürfte, eklatante Bedienungsfehler oder Manipulationen am Fahrzeug ausgenommen, jedenfalls für den Regelfall ausgeschlossen sein: Denn ein jeder darf sich darauf verlassen, dass ein ordnungsgemäß zugelassenes Fahrzeug bei bestimmungsgemäßem Gebrauch keine signifikant erhöhten Risiken mit sich bringt.76 An der Erlaubtheit des mit der Fahrzeugnutzung geschaffenen Risikos scheitert auch die Idee eines kreativ zu etablierenden „Risikodelikts“ in Anlehnung an § 231 oder § 323a StGB (mit Verletzungs-/Tötungserfolg als objektiver Bedingung der Strafbarkeit) – was letztlich einer mit dem deutschen Strafrecht unvereinbaren strict liability gleichkäme.77 Unabhängig davon wäre eine Inverantwortnahme des Nutzers für Fehl-„Entscheidungen“ der Software aber auch eine unverdiente, „unfaire“, weil er nicht als einziger von den Vorteilen der mobilen Automatisierung profitiert – mehr noch: Sie liefe der Grundidee einer Übertragung der Handlungsmacht geradewegs zuwider. Denn die Vollautomatisierung soll den

75 Von Isaac Asimov erstmals in seiner Kurzgeschichte „Runaround“ (Astounding, 1942) formuliert; referiert beispielsweise von Misselhorn (Fn. 12), 189 f. 76 Dazu näher Beck (Fn. 66), 120 ff., allerdings die Entscheidung für die Nutzung im öffentlichen Straßenverkehr nicht kategorisch als Anknüpfung für eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zurückweisend. 77 Wie hier auch Fateh-Moghadam, ZStW 131 (2019), 863 (881); für die zivilrechtliche Haftungsfrage im hiesigen Kontext eingehend Thöne, Autonome Systeme und deliktische Haftung, 2020, insbes. 113 ff.

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Nutzer gerade von seiner persönlichen jederzeitigen Fahrzeugkontrolle „in time“ entlasten.78 Der richtige Anknüpfungspunkt kann daher nur in der Entwicklung und Festlegung sämtlicher Bedingungen liegen, die bei fortschreitender Automatisierung eine hinreichende Minimierung der Risiken (nach bestem menschlichen Wissen) sicherstellen und in eventuellen Dilemmasituationen eine aktive Tötung anderer („unschuldiger“) Verkehrsteilnehmer verlässlich ausschließen. Solange letzteres nicht gewährleistet ist, erscheint es nicht unbillig, das Inverkehrbringen solchermaßen „waffenähnlicher“ Automobile zu untersagen. Generell bedarf es dabei eines detailliert festgelegten Erprobungsprozederes analog zu den klinischen Prüfungen potentiell gesundheitsgefährlicher Arzneimittel nach den §§ 40 ff. AMG (mit mehreren Prüfphasen). Soweit die Gefahr gesehen wird, dass selbsttätig fahrende Fahrzeuge u. U. ohne Durchlaufen der rechtlichen Prüfanforderungen in Verkehr gebracht werden könnten, ist selbstredend auch eine dahingehende strafrechtliche Absicherung denkbar, auch im Sinne des von Hilgendorf vorgeschlagenen abstrakten Gefährdungsdelikts des „Inverkehrbringens gefährlicher Produkte ohne hinreichende Sicherung“79 (s. auch § 95 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 5 AMG für „bedenkliche Arzneimittel“). Sie trifft dann aber selbstredend allein den Hersteller, nicht den Nutzer. Für diesen kommt darüber hinaus die allgemeine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in Betracht; um der strafrechtlichen Gesetzlichkeit willen sollten zuvor allerdings die Sorgfaltspflichten konkret benannt werden.80 Oder allgemeiner formuliert: Die technische Innovation der zunehmenden Automatisierung des Fahrzeugverkehrs fordert insbesondere auch (neben Stadtplanung und Architektur) die Innovationskraft des Rechts heraus. Und diese sollte nicht zuletzt auch eine sorgfältige Aufklärung der künftigen Nutzer enthalten, auf dass diese nicht am Ende ein „böses Erwachen“ – rechtlich oder gar tatsächlich81 – erleben müssen. „Die Gefahr besteht in Wirklichkeit womöglich gar nicht darin, dass sich unsere Apparate selbstständig machen; bedrohlicher könnte es sein, dass Menschen dies nur behaupten, um ihre Verantwortung auf die Apparate abzuwälzen.“ (Mark Siemons)

78

Zutreffend Beck (Fn. 66), 128 f. Hilgendorf, FS Fischer, 2018, 99 (111). 80 Zutreffend Fateh-Moghadam, ZStW 131 (2019), 886. 81 Vgl. Joerden, (Fn. 4), 96 f. zur Frage einer Priorisierung anderer Straßenverkehrsteilnehmer in Notstandslagen gegenüber den Fahrzeuginsassen, um die ansonsten drohende Tötungstat zu vermeiden. 79

Die Beteiligung an der Beteiligung Volker Haas

I. Einleitung Den Jubilar darf man mit Fug und Recht zu den Vertretern der analytischen Strafrechtsdogmatik zählen. „Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen“ lautet der Titel einer ihrer wichtigsten Monografien. Einen thematischen Teilbereich dieses Werks – die Beteiligungslehre – greift der nachfolgende kleine Beitrag auf. Sein Gegenstand ist die Beteiligung an der Beteiligung. Beteiligung an der Beteiligung wird hier definiert als Stufung von Beteiligungsformen oder – um die Terminologie der gerade erwähnten Monografie aufzugreifen – als Kette von Beteiligungen. Die Beteiligung kann nach Ordnungen sortiert werden (Beteiligung logisch erster Ordnung, zweiter Ordnung, dritter Ordnung etc.), wobei die Beteiligung der höheren Ordnung auf die Beteiligung der niedrigeren Ordnung in spezifischer Weise bezogen ist. Untersuchungsgegenstand sind im Folgenden die Ketten zwischen denjenigen Beteiligungsformen, die eine unrechtsbegründende Zurechnungsfunktion ausüben, nicht also die unmittelbare Täterschaft. Beteiligung an der Beteiligung bezeichnet also im hiesigen Kontext das Problem einer gestuften Anwendung von Zurechnungsfiguren. Es soll der Frage nachgegangen werden, wie das Strafrecht de lege lata die Beteiligung an der Beteiligung erfasst bzw. wie das Strafrecht gegebenenfalls de lege ferenda die Beteiligung an der Beteiligung erfassen sollte. Strafrechtsdogmatik erschöpft sich nicht in der Auslegung des geltenden kodifizierten Strafrechts. Es liegt in der methodischen Tradition der analytischen Strafrechtsdogmatik, den gesamten logischen Raum zu beschreiben, das heißt sämtliche mögliche Fallkonstellation systematisch zu erfassen – im hiesigen Kontext also sämtliche Fallkonstellationen der Beteiligung an der Beteiligung. Die erste Fallkonstellation betrifft die Täterschaft, bei der folgende Fallvarianten angesprochen werden sollen: die mittelbare Täterschaft in mittelbarer Täterschaft, die mittelbare Täterschaft in Mittäterschaft, die Mittäterschaft in mittelbarer Täterschaft und die Mittäterschaft in Mittäterschaft. Die zweite Fallkonstellation betrifft die Teilnahme und damit folgende Fallvarianten: die Anstiftung zur Anstiftung, die Beihilfe zur Beihilfe und gemischte Fallvariante wie die Anstiftung zur Beihilfe und die Beihilfe zur Anstiftung. Die dritte Fallkonstellation betrifft Fallvarianten, bei denen Täterschaftsformen und Teilnahmefor-

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men involviert sind, also die Teilnahme in mittelbarer Täterschaft und Mittäterschaft sowie die Teilnahme an der mittelbaren Täterschaft und der Mittäterschaft.

II. Die Täterschaftsformen als alleinige Bezugspunkte 1. Die mittelbare Täterschaft in mittelbarer Täterschaft Die erste der oben aufgeführten Fallvarianten ist die mittelbare Täterschaft in mittelbarer Täterschaft. Zu denken ist etwa an den möglichen, wohl aber seltenen Fall, dass der mittelbare Täter logisch zweiter Ordnung den mittelbaren Täter logisch erster Ordnung unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zwingt, den unmittelbar Handelnden als Werkzeug logisch erster Ordnung durch Täuschung zu veranlassen, unvorsätzlich eine bestimmte Tat zu begehen. Ebenso ist natürlich der umgekehrte Fall denkbar wie auch Fälle gestaffelter Täuschungen bzw. Drohungen. Schließlich ist an den Fall von Befehlsketten bzw. Weisungsketten zu denken, wobei nach herrschender Auffassung derartige Ketten sich innerhalb eines organisatorischen Machtapparats ereignen müssten, um mittelbare Täterschaft begründen zu können. Zu überlegen ist, ob in derartigen Fällen die Voraussetzungen des § 25 Abs. 1 2. Var. StGB verwirklicht sind. Dies gilt sowohl für die Lehre, die die mittelbare Täterschaft als besondere phänotypische Ausformung bzw. als Spezialfall der unmittelbaren Täterschaft deutet, wie für die Lehre, die die mittelbare Täterschaft als echte Zurechnungsfigur versteht, bei der das Verhalten des Werkzeugs dem Hintermann wie eigenes Verhalten zugerechnet wird. Der ersten Lehre zufolge vollzieht der mittelbare Täter dadurch das tatbestandsmäßige Verhalten, dass er auf den Vordermann einwirkt. Die mittelbare Täterschaft unterscheidet sich also lediglich dadurch von der unmittelbaren Täterschaft, dass die Relation zwischen dem Verhalten und dem Erfolg unter anderem in dem Verhalten eines Werkzeugs besteht, das aber aufgrund von dessen Zurechnungsdefizit oder sonstiger Umstände der reinen Naturkausalität gleichgestellt wird.1 § 25 Abs. 1 2. Var. StGB hätte demnach eigentlich nur die deklaratorische Funktion festzustellen, dass der Kausal- und objektive Zurechnungszusammenhang durch das menschliche Verhalten nicht unterbrochen wird. Im Grunde genommen würde bei Zugrundelegung dieser Lehre die mittelbare Täterschaft nicht mehr vom Untersuchungsgegenstand dieser kleinen Abhandlung umfasst sein. Dennoch sei angemerkt: Bei Anerkennung der Theorie, dass es sich bei § 25 Abs. 1 2. Var. StGB nur um eine Spezifizierung der allgemeinen Voraussetzungen des § 25 Abs. 1 1. Var. StGB handelt, wäre die mittelbare Täterschaft in mittelbarer Täterschaft aus materieller Sicht völlig unproblematisch. Die Feststellungsfunktion würde gleichermaßen dann eingreifen, wenn die Zwischenursachen nicht nur in dem Verhalten eines einzigen Werkzeugs, sondern in dem Verhalten mehrerer Werk1 Vgl. Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 2020, 25/8; Jakobs, GA 1996, 253 (256); ders., GA 1997, 552 (560 f.).

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zeuge bestünden. Dieser Umstand wäre daher auch von vornherein ungeeignet, in formeller Hinsicht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG zu begründen. Anders mag die Beurteilung ausfallen, wenn man der zweiten Lehre folgt. Ihre These ist, dass der Hintermann aufgrund der Zurechnung des Verhaltens des Tatwerkzeugs nur so behandelt wird, als habe er in eigener Person das tatbestandsmäßige Verhalten vollzogen. Die Einwirkung auf den Tatmittler ist nicht Teil der Tat, sondern ihr vorgelagert.2 An dieser Stelle kann nicht die Diskussion um das richtige Verständnis der mittelbaren Täterschaft fortgeführt und nicht das gesamte Spektrum an Gesichtspunkten aufgeführt werden. Mit der Nennung weniger Argumente muss es sein Bewenden haben. Für die erste Lehre spricht de lege lata prima facie, dass § 30 StGB nicht die mittelbare Täterschaft erfasst. Beleg für die Richtigkeit der ersten Lehre soll auch die Formulierung des § 25 Abs. 1 2. Var. StGB sein. Die Vorschrift begnüge sich nicht damit, dass der Hintermann die Tat von einem anderen begehen lasse.3 Dieses Argument verkennt allerdings, dass die Formulierung den Rechtssatz „Qui per alium facit, per se ipse facere videtur“ bzw. „Qui per alium facit, per se ipsum facere censetur“ aufgreift, der seit jeher eine Rechtsfiktion umschreibt – nämlich jene, dass der Hintermann so behandelt werde, als habe er das Verhalten des Vordermanns selbst vollzogen.4 Die Formulierung legt also genau den umgekehrten Schluss nahe. Gegen die erste Lehre lässt sich zudem einwenden, dass sie die Grenzen des möglichen Wortsinns der betreffenden Tatbestände überschreitet. So wäre es sprachwidrig zu behaupten, der mittelbare Täter vollziehe eine Tötungs-, Körperverletzungsoder Sachbeschädigungshandlung, indem er den Vordermann durch Drohung oder Täuschung, Befehl oder Anweisung veranlasse, ein Verhalten zu vollziehen, das den betreffenden Taterfolg herbeiführt. Die Tatbestände, die das tatbestandliche Verhalten eigens umschreiben, bilden nur einen besonders anschaulichen Beispielsfall und sind daher ein besonders deutlicher Beleg für die Richtigkeit dieser Diagnose. So spiegelt der mittelbare Täter, der den Tatmittler durch Drohung oder Täuschung, Befehl oder Weisung veranlasst, gegenüber dem Vermögensinhaber oder einem Dritten falsche Tatsachen vorzuspiegeln, nicht selbst falsche Tatsachen im Sinne von § 263 StGB vor. Dasselbe gilt beispielsweise in dem Fall, dass der Hintermann den Vordermann in entsprechender Weise veranlasst, eine fremde bewegliche Sache im Sinne von § 242 StGB wegzunehmen. Schließt man sich daher der Sichtweise der zweiten Lehre an, bestehen zwar keine Bedenken gegen die mittelbare Täterschaft in mittelbarer Täterschaft aus materieller Sicht. Es bestehen hinreichende Gründe für eine iterative Verhaltenszurechnung. Allerdings entsteht die Problematik eines möglichen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG, weil die Zurechnung des Verhaltens des Werkzeugs logisch zweiter Ordnung, also des mittelbaren Täters logisch erster Ordnung, nicht dazu führt, dass der mittel2

Haas, Die Theorie der Tatherrschaft und ihre Grundlagen, 2008, 47 ff., 86 ff. Frister (Fn. 1), 25/8. 4 Vgl. Haas (Fn. 2), 86 ff.

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bare Täter logisch zweiter Ordnung die Tat durch diesen begeht. Der Wortlaut des § 25 Abs. 1 2. Var. StGB deckt offensichtlich diese Stufe der Verhaltenszurechnung nicht ab. Das Verhalten des Werkzeugs logisch zweiter Ordnung, also des mittelbaren Täters logisch erster Ordnung, vollzieht sich im Vorfeld der eigentlichen Tat. Dass Tat im Sinne von § 25 Abs. 1 StGB die Verwirklichung eines Deliktstatbestandes meint, ergibt sich nicht nur systematisch aus dem Umstand, dass sich der Tatbegriff der Vorschrift auch auf die unmittelbare Täterschaft erstreckt, dort aber natürlich nichts anderes meinen kann als Verwirklichung eines Straftatbestandes des Besonderen Teils bzw. des Nebenstrafrechts, sondern auch aus der Gesetzesgenese5 einschließlich des Entwurfs von 1962, der einleitend zu Täterschaft und Teilnahme bemerkt, dass mehrere an einer Straftat beteiligt sein könnten, dass sich jedoch stets die Strafdrohungen des Besonderen Teils in ihrem Wortlaut an die Personen richten würden, die den Tatbestand selbst verwirklichen würden.6 Weiter unten wird sich bei der Erörterung der nächsten Fallkonstellation dieser Verweis auf die Gesetzesgenese noch einmal bestätigen. Man müsste daher zu der Auffassung gelangen, dass die Vorschrift eine iterative Verhaltenszurechnung nicht abdeckt. Zugegeben: Die Erwägungen mögen ein Ausmaß an konstruktiver Feinheit erreicht haben, das bei der Rechtsprechung keine Resonanz mehr finden und vielleicht auch aus ihrer Sicht die Erheblichkeit des Eingriffs in den Schutzzweck des Art. 103 Abs. 2 GG in Frage stellen mag. Man könnte eventuell argumentieren, dass zumindest der Zurechnungsgrund in § 25 Abs. 1 2. Var. StGB positiviert sei. Verneint man diesen Ausweg, bedürfte es aber genau genommen einer Ausweitung der Vorschrift oder der Einführung einer entsprechenden Vorschrift, die diese Fallvariante der Beteiligung an der Beteiligung erfasst. 2. Die mittelbare Täterschaft in Mittäterschaft Identische Probleme stellen sich bei der Fallvariante der mittelbaren Täterschaft in Mittäterschaft. Einschlägige Sachverhalte sind leicht vorstellbar. Man könnte beispielsweise an den Fall denken, dass mehrere Hintermänner gemeinschaftlich den Tatmittler bedrohen oder ihn täuschen, um ihn dadurch zu veranlassen, die Tat zu begehen. In der Literatur finden sich diesbezüglich nur vereinzelte Äußerungen, die – von der soeben beschriebenen ersten Konzeption mittelbarer Täterschaft ausgehend – eine Strafbarkeit befürworten.7 In der Tat wäre bei Anerkennung dieser Prämisse die Anwendung von § 25 Abs. 2 StGB eigentlich ganz unproblematisch. Die Tat wird deswegen im Sinne der Vorschrift gemeinschaftlich begangen, weil die Einwirkung auf den Tatmittler als tatbestandsmäßige Handlung schon zur Tat gehört. 5 Vgl. Gallas, Täterschaft und Teilnahme, in: Materialien zur Strafrechtsreform, Band 1, Gutachten der Strafrechtslehrer, 1954, 121; Vorschläge und Bemerkungen der Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums zum Thema Täterschaft und Teilnahme, in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Band 2, 1958, Anhang Nr. 16, 38, 40. 6 BT-Drs. IV/650, 146 f. 7 Frister (Fn. 1), 25/7 f.

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Genau gegenteilig wäre die Rechtslage zu beurteilen, wenn man sich der hiesigen Auffassung anschließen, also die zweite Konzeption zugrunde legen würde. Die Einwirkung auf den Tatmittler vollzöge sich im Vorfeld der eigentlichen Tat. Und damit wäre § 25 Abs. 2 StGB unanwendbar. Die gemeinschaftliche Einwirkung auf den Tatmittler wäre nicht gemeinschaftliche Begehung der Tat. Im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG bedürfte es daher wiederum einer Ausweitung der Vorschrift oder der Einführung einer entsprechenden Vorschrift, die diese Fallvariante der Beteiligung an der Beteiligung erfasst. Ob es überhaupt einer Verhaltenszurechnung im Sinne der Mittäterschaft bedarf, ist allerdings ohnehin fraglich. Wenn man den Fall der gemeinschaftlichen Veranlassung des Tatmittlers durch Täuschung oder Drohung so konkretisiert, dass jeder der Hintermänner den Tatmittler droht oder täuscht, so genügt richtiger Auffassung nach schon die je eigene mitursächliche Drohung oder Täuschung aus, um das Verhalten des Tatmittlers zuzurechnen. Konkretisiert man den Fall hingegen so, dass nicht alle Hintermänner selbst drohen oder täuschen, die anderen Hintermänner vielmehr in anderer Weise mitwirken, so wäre nach hier vertretener Auffassung eine mittelbare Täterschaft in Form des Mandats einschlägig.8 Eine wechselseitige Verhaltenszurechnung würde leerlaufen und sich damit erübrigen. 3. Die Mittäterschaft in mittelbarer Täterschaft Diese Fallvariante betrifft Fälle, in denen der Hintermann den Vordermann mittels Täuschung oder Drohung dazu bewegt, mit anderen Tatgenossen die Tat gemeinschaftlich zu begehen, das heißt, die Begehung der Tat mit den potenziellen Tatgenossen zu verabreden und selbst an der Tatausführung in der erforderlichen Weise mitzuwirken. Verwirklicht der Tatmittler als Werkzeug selbst ein Tatbestandsmerkmal oder den gesamten Tatbestand, ist er insoweit unmittelbarer Täter. Es stellen sich daher auch insoweit keine Probleme, da es sich diesbezüglich um einen Normalfall mittelbarer Täterschaft handelt, der – wie oben ausgeführt – eigentlich nicht Gegenstand der Untersuchung sein soll. Die gegenteilige Einschätzung ist allerdings angezeigt, wenn die Frage im Raum steht, ob dem Hintermann auch die Tatbeiträge der Tatgenossen des Tatmittlers zuzurechnen sind. Von praktischer Bedeutung wäre dies natürlich nur dann, wenn jene Tatbeiträge den Tatbestand ganz oder teilweise verwirklichen würden. Grundlage der Verhaltenszurechnung ist nach hier vertretener Auffassung bei der Mittäterschaft die Vereinbarung der Tatgenossen – im Normalfall die Tatverabredung im Sinne von § 30 Abs. 2 StGB –, durch die sich ein Gesamtwille bildet, was nichts anderes heißt, dass der Wille eines jeden Tatgenossen zugleich als Wille seiner Komplizen betrachtet wird. Jeder der Tatgenossen handelt kraft des Gesamtwillens nicht nur für sich, sondern zugleich für alle anderen Tatgenossen, die diesen ihrerseits kraft des Gesamtwillens autorisieren, für sie zu handeln. Entgegen 8

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der Ansicht der Anhänger der Tatherrschaftslehre9 begründet das Erbringen des eigenen Tatbeitrags keineswegs die mittäterschaftliche Verantwortlichkeit. Auch dieses Problem kann an dieser Stelle nicht erschöpfend erörtert werden. Nur so viel: Sofern man sich auf die sogenannte negative und positive funktionale Tatherrschaft im Sinne der Tatherrschaftslehre beruft, stellen sich unüberwindliche Probleme. So ist die positive funktionale Tatherrschaft, also die Fähigkeit, die Tat durch das Leisten des eigenen Tatbeitrags ablaufen lassen zu können, auf den eigenen Tatbeitrag beschränkt, da die Tatgenossen ohne Zurechnungsdefekt handeln und daher eine Herrschaft über ihren Tatbeitrag der Prämissen der Tatherrschaftslehre zufolge ausgeschlossen ist. Und über die negative funktionale Tatherrschaft, also die Fähigkeit die Tat verhindern oder hemmen zu können, kann unter Umständen auch ein Gehilfe verfügen.10 Die Willensäußerung des Tatmittlers, durch die die Vereinbarung zur Begehung der Tat geschlossen wird, könnte dem Hintermann kraft Täuschung oder Drohung zugerechnet werden. Die Gründe, die die Verhaltenszurechnung legitimieren, würden auch in diesem Fall eingreifen. Aus materieller Sicht bestehen daher keine Bedenken gegen eine Verhaltenszurechnung, so dass dem Hintermann auch die Tatbeiträge der Tatgenossen des Tatmittlers zugerechnet werden könnten, obwohl die Tatgenossen des Tatmittlers selbst nicht Werkzeuge in der Hand des Hintermanns sind. Allerdings ist man de lege lata wiederum mit der Gesetzesfassung konfrontiert, also mit dem Umstand, dass § 25 Abs. 1 2. Var. StGB zufolge der Hintermann die Tat durch den Tatmittler begehen muss. Da die Vereinbarung zur Begehung der Tat aber nicht Teil der eigentlichen Tat, sondern ihr vorgelagert ist, deckt die Strafvorschrift diese Verhaltenszurechnung nicht ab. Es besteht also wiederum eine Gesetzeslücke, deren Schließung durch die Rechtsprechung gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen würde. 4. Die Mittäterschaft in Mittäterschaft Diese Tatvariante umfasst Fälle, in denen durch gemeinschaftliches Handeln die Zustimmung eines Tatgenossen zur gemeinschaftlichen Tatbegehung und damit der Abschluss der Tatvereinbarung erwirkt wird. Es wird aber rein praktisch kaum vorstellbar sein, dass sich jemand an der gemeinschaftlichen Herbeiführung der Tatvereinbarung beteiligt, ohne selbst an der Tat als Mittäter beteiligt zu sein. Diese Tatvariante soll daher ausgeblendet werden und daher das Augenmerk nunmehr auf die gestufte Anwendung der Teilnahmeformen gerichtet werden.

9 Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, 299 ff.; vgl. auch Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 2, 2003, § 29 Rn. 188, 299. 10 Haas (Fn. 2), 32 ff.

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III. Die Teilnahmeformen als alleinige Bezugspunkte 1. Vorbemerkung Die strafrechtliche Erfassung der Teilnahme an der Teilnahme wäre kein Problem, wenn man die Teilnahme selbst als Tat im Sinne der §§ 26 f. StGB qualifizieren würde. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB.11 Demnach ist eine rechtswidrige Tat nur eine solche, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht. Entscheidend wäre also, wie der Begriff des Tatbestandes eines Strafgesetzes definiert werden muss. Möglich ist, darunter jede strafbegründende Strafvorschrift zu verstehen, ebenso möglich wäre jedoch die Alternative, dass nur Straftatbestände des Besonderen Teils des StGB und des Nebenstrafrechts gemeint sind. In der Literatur wird vereinzelt die Ansicht vertreten, dass rechtswidrige Tat im Sinne der §§ 26 f. StGB auch die Teilnahme selbst sei.12 Zumindest soll der Wortlaut der §§ 26 f. StGB dieser Auslegung nicht entgegenstehen.13 Es spricht allerdings schon aufgrund der Gesetzesgeschichte viel dafür, dass die zweite Alternative zutreffend ist. Die durch das 2. Strafrechtsreformgesetz eingeführte Neuregelung der Beteiligungsregeln hat sich weitgehend an der auf das RStGB zurückgehenden alten Gesetzesfassung orientiert. Diesbezüglich findet sich in dem Gutachten der Großen Strafrechtskommission zur Beteiligungslehre die Analyse, dass Mittäter und Täter die strafbare Handlung selbst begehen würden. Anstifter und Gehilfe würden sich hingegen an der strafbaren Handlung, die ein anderer als Täter begehe, beteiligen. Sie würden an fremder Tat teilnehmen und seien mithin im Gegensatz zu Täter und Mittäter Teilnehmer im eigentlichen Sinne.14 Allerdings folgt aus diesen Ausführungen noch nicht zwingend, dass die Teilnahme an fremder Tat selbst nicht als strafbare Handlung bezeichnet werden kann, weil die Betrachtung nicht absolut, sondern relativ formuliert ist.15 Es sind daher weitere Stellungnahmen der Gesetzgebungsgeschichte einzubeziehen. So wurde von Seiten des Bundesjustizministeriums ausgeführt, der eigene Entwurfsvorschlag stelle klar, dass die Teilnahme keine Tatbegehung sei. Nur Anstiftung und Beihilfe seien echte Teilnahmeformen, durch die die Strafbarkeit ausgedehnt würde. Anstiftung und Beihilfe seien keine Tatbegehung, sondern Beteiligung an fremder Tat. Dies solle durch die Verwendung des Wortes „dessen“ bei dem Wort „Tat“ unterstrichen werden. Der Entwurfsvorschlag des Bundesjustizministeriums, auf den sich diese Bemerkungen beziehen, gleicht den heutigen §§ 26, 27 StGB in 11

Siehe nur Selter, Kettenanstiftung und Kettenbeihilfe, 2008, 123 f. Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 25 ff. Rn. 26; Janß, Die Kettenteilnahme, 1988, 127 ff. 13 Selter (Fn. 11), 123 f. 14 Gallas (Fn. 5), 121. 15 Vgl. Gallas, JR 1956, 226 f., der als Verfasser des Gutachtens davon ausgegangen ist, dass auch die Teilnahme eine strafbare Handlung im Sinne des § 48 StGB aF ist. 12

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den relevanten Passagen vollkommen.16 Den Diskussionen der Großen Strafrechtskommission lassen sich keine gegenteiligen Anhaltspunkte entnehmen. Es scheint, dass das hier erörterte Begriffsverständnis außer Streit stand.17 Der Entwurf eines Strafgesetzbuchs von 1962 hat dann die Vorschläge der Großen Strafrechtskommission weitestgehend übernommen. In der Begründung zum Entwurf wird zwar nicht expressis verbis behauptet, dass der Teilnehmer keine eigene Tat begehe. Es wird aber sehr wohl deutlich, dass der heute in den §§ 26, 27 StGB verwendete Tatbegriff die Verwirklichung der Straftatbestände des Besonderen Teils des StGB und des Nebenstrafrechts meint. So heißt es – wie oben schon dargelegt –, dass sich die Strafdrohungen des Besonderen Teils in ihrem Wortlaut stets an die Personen richten würden, die den Tatbestand selbst verwirklichen würden. In aller Regel gebe der Besondere Teil aber nicht an, wie jemand zu bestrafen sei, der einen anderen zu einer Straftat verleite oder ihn bei seinem strafbaren Tun unterstütze. Es seien daher Vorschriften notwendig, die die Strafdrohungen des Besonderen Teils auch für diese Fälle anwendbar machen würden.18 In den Beratungen des Sonderausschusses wurden die soeben zitierten Formulierungen des Entwurfs eines Strafgesetzbuchs von 1962 weitestgehend übernommen.19 In dem zweiten schriftlichen Bericht des Sonderausschusses zur Beteiligung finden sich keine abweichenden Stellungnahmen.20 Es besteht daher kein Zweifel, dass dem historischen Willen des Gesetzgebers zufolge der Tatbegriff der §§ 26 f. StGB die Verwirklichung der Straftatbestände des Besonderen Teils meint. Auch aus systematischer Sicht ist diese Annahme schlüssig. Wäre mit Tat im Sinne der §§ 26 f. StGB die Verwirklichung jeder strafbegründenden Strafvorschrift gemeint und damit eben auch die Teilnahme selbst, müsste gleichermaßen die von § 30 StGB erfasste versuchte Anstiftung Tat sein und daher jegliche Teilnahme an der versuchten Anstiftung zu einem Verbrechen und an der Verabredung, zu einem Verbrechen anzustiften, strafbar sein. Dies aber entspricht ganz gewiss nicht dem historischen Willen des Gesetzgebers. Es bestehen zudem keine Anhaltspunkte dafür, dass der Tatbegriff der §§ 26 f. StGB vom Tatbegriff der §§ 16 ff. StGB divergiert. So regelt § 22 StGB offensichtlich nicht die Strafbarkeit der versuchten Beihilfe.21 Was den Tatbegriff des § 25 StGB anbetrifft, wurde oben schon nachgewiesen, dass Tat hier nur Verwirklichung des Straftatbestandes des Besonderen Teil bzw. des Nebenstrafrechts meinen kann. 16 Vorschläge und Bemerkungen der Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums zum Thema Täterschaft und Teilnahme (Fn. 5), Anhang Nr. 16, 38 ff. 17 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Band 2, 1958, 16. bis 18. Sitzung, 67 ff., 108 ff., 115 ff. 18 BT-Drs. IV/650, 146 f. 19 Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Band 5, 1965, 82. Sitzung, 1647. 20 BT-Drs. V/4095, 12 ff. 21 Sippel, Zur Strafbarkeit der „Kettenanstiftung“, 1989, 91.

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Es kann daher festgehalten werden, dass der Teilnehmer keine eigene Tat im Sinne der §§ 26 f. StGB begeht, an der der Teilnehmer logisch zweiter Ordnung sich seinerseits beteiligen kann.22 Die nachfolgenden Ausführungen gehen von dieser Prämisse aus und setzen sich infolgedessen mit einer Ausnahme nur mit der Möglichkeit auseinander, die Teilnahme an der Teilnahme als mittelbare Teilnahme an der Tat – oder wie die herrschende Terminologie formulieren würde, die allerdings im Gesetz selbst keine Stütze findet – an der Haupttat zu konstruieren. 2. Die Anstiftung zur Anstiftung zur Tat Der Bundesgerichtshof hat vor der Reform des Allgemeinen Teils des StGB durch das 2. Strafrechtsreformgesetz die Ansicht vertreten, dass die Anstiftung zur Anstiftung deswegen strafbar sei, weil die Anstiftung selbst eine mit Strafe bedrohte Handlung nach § 48 StGB a. F. sei, und diese Rechtsprechung nach Inkrafttreten des 2. Strafrechtsreformgesetzes im Jahre 1975 bis in die Gegenwart fortgeführt. Die Anstiftung zur Anstiftung könne man als mittelbare Anstiftung auffassen, da der Anstifter nach dem Gesetz zu bestrafen sei, welche auf die Handlung Anwendung finde, zu der er angestiftet habe.23 Doch nicht nur die Rechtsprechung, auch die ganz herrschende Lehre in der Literatur deutet die sogenannte Kettenanstiftung als mittelbare Anstiftung zur Tat.24 Man beruft sich – darunter auch der Jubilar25 – unter anderem auf die Anerkennung der Kettenanstiftung durch § 30 StGB.26 Doch ist dieses Argument stichhaltig? In den Beratungen der Großen Strafrechtsreform wurde zunächst die Ansicht geäußert, dass die versuchte Kettenanstiftung schon deswegen strafbar sei, weil die versuchte Anstiftung zur Anstiftung zu einem Verbrechen selbst erfolglose Anstiftung zu einem Verbrechen sei. Die diskutierte Entwurfsfassung stellte das Zu-Bestimmen-Versuchen eines anderen zu einem Verbrechen unter Strafe. Verwiesen wurde dabei auf die gerade wiedergegebene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die die Anstiftung selbst als Tat im Sinne der Teilnahmevorschriften qualifiziert hat. Der Tatbegriff in den Teilnahmevorschriften wurde also mit dem Verbrechensbegriff in der den Versuch der Beteiligung regelnden Vorschrift parallelisiert. Es bestand aber zunächst keine Einigkeit, ob überhaupt die versuchte Kettenanstif22 Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), SK-StGB, 9. Aufl. 2017, Vor §§ 26 – 31 Rn. 30; § 26 Rn. 32; Sippel (Fn. 21), 90 ff.; Küpper, JuS 1996, 23 (25). 23 BGHSt 6, 359 (361); 7, 234 (236); 8, 137 (139); 14, 156 (157); 40, 307 (313); BGH NStZ-RR 2022, 49; vgl. auch BGHSt 48, 77 (83), zum Strafrecht der ehemaligen DDR. 24 S/S-Heine/Weißer, StGB, § 26 Rn. 15; Kudlich, in: von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), BeckOK-StGB, § 26 Rn. 26.1; Schünemann/Greco, in: Cirener et al. (Hrsg.) LK-StGB, § 26 Rn. 104; Frister (Fn. 1), 25/7; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, 697; Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2021, § 45 Rn. 75 f.; Roxin (Fn. 9), § 26 Rn. 176; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 50. Aufl. 2020, Rn. 934. 25 Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, 1988, 141, Fn. 151. 26 Schünemann/Greco, LK-StGB, § 26 Rn. 104; Roxin (Fn. 9), § 26 Rn. 177.

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tung strafbar sein soll.27 Aussagekräftiger sind daher die Äußerungen in der Folgesitzung. In Bezug auf einen Regelungsvorschlag, der die Bestrafung desjenigen, der einen anderen zu bestimmen versucht, ein Verbrechen auszuführen, vorsah, wurde bemerkt, dass der Begriff der Verbrechensausführung nur die Täterschaft erfasse und daher die Strafbarkeit der Kettenanstiftung ausgeschlossen sei, ohne dass gegen diese Ansicht Widerspruch erhoben wurde.28 Die Prüfung der Strafbarkeit der versuchten Kettenanstiftung wurde dann einer Unterkommission überantwortet. Beschlossen wurde schließlich die Fassung, dass derjenige, der einen anderen zu bestimmen versucht, ein Verbrechen auszuführen oder zu ihm anzustiften, nach den für den Versuch des Verbrechens geltenden Vorschriften bestraft werde.29 Daraus kann geschlossen werden, dass der Begriff der Verbrechenausführung im Einklang mit dem Verständnis des Tatbegriffs in den §§ 26 f. StGB nur die täterschaftlichen Tatbestandsverwirklichung meinte und die ausdrückliche Einbeziehung der versuchten Kettenanstiftung in der beschlossenen Fassung nicht lediglich dazu diente, die Strafbarkeit einer Fallvariante klarzustellen, die ohnehin vom sonstigen Wortlaut der Vorschrift erfasst war. In der Begründung des Entwurfs eines Strafgesetzbuchs von 1962 wird dann allerdings die Einbeziehung der versuchten Anstiftung zur Anstiftung zu einem Verbrechen wiederum als Bestätigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aufgefasst, dass die Kettenanstiftung schon nach geltendem Recht strafbar sei, ohne dass jedoch deutlich wird, ob den Verfassern der Begründung überhaupt bewusst war, aus welchen Erwägungen der Bundesgerichtshof zu seiner Auffassung gelangt war.30 Der Entwurf von 1962 hat den Begriff der Tatausführung durch den Begriff der Tatbegehung ersetzt, ohne dass insoweit eine inhaltliche Abweichung zur Beschlussfassung der Großen Strafrechtskommission ersichtlich ist. Ganz im Gegenteil: Es wurde oben schon nachgewiesen, dass der Begründung zu dem Entwurf von 1962 entnommen werden kann, dass nur der Täter eine Tat begeht. In den Beratungen des Sonderausschusses wurde zunächst die ausdrückliche Erwähnung der versuchten Kettenanstiftung für überflüssig gehalten, da die Anstiftung zu einem Verbrechen ebenfalls ein Verbrechen sei. Mit dieser Argumentation habe die Rechtsprechung – so wurde ergänzt – die Strafbarkeit der Kettenanstiftung zu einem Verbrechen bejaht. Dieser Argumentation wurde jedoch unter Verweis auf der dem heutigen § 25 StGB entsprechenden, bereits verabschiedeten Entwurfsregelung entgegengehalten, dass die Worte „begehen“ im ersten Absatz im Sinne von Täterschaft zu verstehen sei. Zwar wurde diese technische Bedeutung des Wortes „begehen“ vereinzelt in Zweifel gezogen und daher vorschlagen, die Formulierung „ein Verbrechen als 27 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Band 2, 1958, 21. Sitzung, 215 f. 28 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Band 2, 1958, 22. Sitzung, 262 ff. 29 Vorschläge der Vollkommission zum Thema § 49a StGB, in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Band 2, 1958, 129. 30 BT-Drs. IV/650, 153 f.

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Täter zu begehen“ zu wählen. Diese Fassung wurde sogar zunächst angenommen,31 letztendlich aber, wie der zweite schriftliche Bericht des Sonderausschusses32 und die heutige Fassung des § 30 StGB zeigen, verworfen, ohne dass irgendwelche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Begriff der Verbrechensbegehung nunmehr auch die Teilnahme abdecken sollte. Dagegen spricht zudem, dass die versuchte Anstiftung zu einer Beihilfe aus dem Bereich des Strafbaren fallen sollte. Es ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass die Konstruktion der Kettenanstiftung als mittelbare Anstiftung zur Tat auf eine Entscheidung des Preußischen Obertribunals zurückgeht, das die Strafbarkeit der Kettenanstiftung mit dem Wesen der Anstiftung als mittelbare bzw. intellektuelle Urheberschaft begründet hatte.33 Die mittelbare bzw. intellektuelle Urheberschaft war seinerzeit eine Rechtsfigur, die der heutigen mittelbaren Täterschaft entspricht. Sie betraf im Kern Fälle des Mandats – Fälle also, die heute die herrschende Lehre nicht dem § 25 Abs. 1 2. Var. StGB zuordnen würde, sondern dem § 26 StGB. Gemäß dem schon oben zitierten Rechtssatz „Qui per alium facit, per se ipse facere videtur“ bzw. „Qui per alium facit, per se ipsum facere censetur“ wurde dem intellektuellen Urheber das Verhalten des physischen Urhebers wie eigenes Verhalten zugerechnet. Im weiteren Verlauf wurde dann allerdings das mandatum mit dem consilium zusammengefasst und der Beihilfe, dem auxilium, als weitere Teilnahmeform zur Seite gestellt. Die heutige Anstiftung ist daher keine Rechtsfigur der Verhaltenszurechnung mehr, da andernfalls der Anstifter mittelbarer Täter wäre. Ihre dogmatische Herkunft ist nur noch an der fragwürdigen tätergleichen Bestrafung erkennbar – fragwürdig deswegen, weil eine tätergleiche Bestrafung bei dem bloßen Rat, eine Straftat zu begehen, nur schwer zu rechtfertigen ist.34 Ein Teil der Literatur – darunter auch der Jubilar – ist daher der Auffassung, dass die Anstiftung eine Aufforderung zur Tat voraussetzt. Eine bloße Entscheidungshilfe soll nicht ausreichen.35 Diese Auffassung ist strafzumessungssystematisch durchaus nachvollziehbar und sachgerecht. Sie entspricht nur nicht der Dogmengeschichte und dem Willen des Gesetzgebers. Erkennt man gleichwohl an, dass der Anstifter vom Täter die Tat als eine ihm zu erbringende Leistung fordern muss, kann man die Strafbarkeit der Anstiftung logisch zweiter Ordnung alternativ nicht damit begründen, dass die Handlung des Hintermanns vermittelt über den Vordermann indirekt oder mitmotivierend auf den Täter einwirke bzw. jedes Glied in der Kette den Täter mitbestimme.36 Diese Annahme, die das Theorem mittelbarer Anstiftung stützen soll, könnte überhaupt nur dann in Betracht gezogen werden, wenn man für das Bestimmen des Täters zur Tat schon 31 Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Band 5, 1968, 91. Sitzung, 1833 f. 32 BT-Drs. V/4095, 13. 33 Preußisches Obertribunal, GA 10 (1862), 177. 34 Haas (Fn. 2), 86 ff. 35 Joerden (Fn. 25), 119 ff. 36 Hoyer, SK-StGB, § 26 Rn. 32; Roxin (Fn. 9), § 26 Rn. 176.

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genügen lässt, dass der Anstifter eine Bedingung für den Tatentschluss des Täters setzt.37 Unter dieser Voraussetzung wäre es dann angesichts der tätergleichen Bestrafung des Anstifters schlüssig, die Relation „Anstifter von“ als transitive Relation einzuordnen und eine mittelbare Anstiftung zu befürworten. Dies entspricht der Ansicht des Jubilars, der sich darauf beruft, dass der Anstifter den Beweggrund des Vordermanns verursacht, wobei der Jubilar insoweit von einem weiten Verursachungsbegriff ausgeht.38 Doch dieses reduktionistische Verständnis von Bestimmen ist meines Erachtens mit der Vorschrift nicht zu vereinbaren. Anstiftung erschöpft sich nicht – gerade wenn man wie der Jubilar eine Aufforderung verlangt – im Setzen einer bloßen Bedingung für den Beweggrund des Angestifteten. Das Auffordern zur Deliktsbegehung, das der Jubilar für maßgebend hält, erfüllt die Eigenschaft der Transitivität nicht. Eine mittelbare Einwirkung durch den Anstifter logisch zweiter Ordnung, die durch das Setzen einer Bedingung für den Beweggrund des Täters definiert ist, erfüllt nicht die Voraussetzung, dass der Anstifter hinter dem Anstifter vom Täter in eigener Person fordern muss, die Tat für ihn zu begehen. Eine Bedingung dafür zu setzen, dass ein anderer den Täter auffordert, eine Tat zu begehen, ist nicht dasselbe, wie den Täter aufzufordern, eine Tat zu begehen. Entsprechendes gilt, wenn man ein bloßes Anraten der Deliktsbegehung für genügend erachtet, wie dies der hier vertretenen Position entspricht.39 Nicht der mittelbare Anstifter, sondern nur der unmittelbare Anstifter gibt dem Täter den Ratschlag, die Tat zu begehen. Die Anstiftung zur Anstiftung zur Tat ist daher rechtslogisch keine Anstiftung zur Tat. Ergo besteht de lege lata eine Strafbarkeitslücke, die nur geschlossen werden kann, wenn man eine Regelung einführt, die die Teilnahme an der Teilnahme erfasst. Die Einschätzung in der Begründung des Entwurfs von 1962, die Anerkennung der Strafbarkeit der versuchten Kettenanstiftung bestätige die Rechtsprechung in ihrer Annahme der Strafbarkeit der Kettenanstiftung de lege lata, ist also eine Fehleinschätzung. Auf einen weiteren Gesichtspunkt, der gegen die Strafbarkeit der Anstiftung zur Anstiftung zur Tat ins Feld geführt werden kann, wird im nächsten Abschnitt aufmerksam gemacht. 3. Die Beihilfe zur Beihilfe zur Tat Die nächste Fallvariante, der es sich jetzt zuzuwenden gilt, ist die Beihilfe zur Beihilfe zur Tat, die laut Rechtsprechung40 und herrschender Lehre in der Literatur41 als 37

BGHSt 9, 370 (379); 45, 272 (374). Joerden (Fn. 25), 115, 141. 39 So Haas (Fn. 2), 112. 40 BGH NJW 2001, 2409 (2410); 2016, 463 (464); BGH StV 2017, 307 (308). 41 S/S-Heine/Weißer, StGB, § 27 Rn. 25; Hoyer, SK-StGB, § 27 Rn. 37; Schünemann/ Greco, LK-StGB, § 27 Rn. 83; Frister (Fn. 1), 25/7; Jescheck/Weigend (Fn. 24), 697; Wessels/ Beulke/Satzger (Fn. 24), Rn. 925. 38

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mittelbare Beihilfe zur Tat strafbar sein soll. Da bei der Beihilfe ebenso wenig wie bei der Anstiftung eine Verhaltenszurechnung als Begründungsweg in Betracht kommt, bleibt zu untersuchen, ob die Beihilfe zur Beihilfe zur Tat in derselben Beziehung zur Tat steht wie die unmittelbare Beihilfe zur Tat. So wird argumentiert, die Beihilfe umfasse jegliche Förderung der Tat.42 Demgemäß könnte man auf der Grundlage der Verursachungstheorie behaupten, dass der Gehilfe logisch zweiter Ordnung ebenso eine Bedingung für die Tat des Täters setzt wie der Gehilfe erster Ordnung. Man könnte sich also wie soeben bei der Anstiftung auf die Transitivität der Kausalrelation stützen.43 Was die Relation zwischen dem Hilfeleisten und der Tat anbetrifft, so gilt ganz allgemein, dass eine Ursächlichkeit für die Art und Weise der Tatausführung ausreichend sein soll.44 Eine Kausalität des Hilfeleistens für den Taterfolg als solchen wird also nicht verlangt. Damit entspricht die Kausalitätstheorie der Förderungstheorie der Judikatur, die sich mit der Erleichterung der Tat begnügt, eine Ermöglichung der Tat also nicht fordert. Die Eigenschaft, die Tat zu erleichtern, kann aber nur festgestellt werden, wenn man die Tatausführung mit und ohne Hilfeleistung miteinander vergleicht, wobei substitutive Hilfeleistungen Dritter oder eigene Vorbereitungshandlungen des Täters außer Betracht bleiben. Unter diesen Voraussetzungen kann freilich schon rein faktisch nicht ausnahmslos eine mittelbare Beihilfe bejaht werden. Die Erleichterung der Beihilfehandlung logisch erster Ordnung durch den Gehilfen logisch zweiter Ordnung impliziert nicht eine Erleichterung der Tatbegehung selbst. Allerdings kann die erforderliche Relation zwischen der Hilfeleistungshandlung logisch zweiter Ordnung und der Tat durchaus im Einzelfall bestehen – wie insbesondere in dem Fall, in dem der Gehilfe logisch zweiter Ordnung die Hilfeleistung logisch erster Ordnung ermöglicht. Im Einzelfall kann also die erforderliche Beziehung existieren, so dass zumindest in diesen Fällen prima facie lediglich eine einstufige Zurechnung notwendig erscheint. Es bedarf daher noch weiterer Gründe, um eine etwaige Straflosigkeit der mittelbaren Beihilfe zur Tat de lege lata zu belegen. Ein erster Grund wird ersichtlich, wenn man den Strafgrund der Beihilfe berücksichtigt. Die Beihilfe ist nach hier vertretenem Verständnis eine Rechtsfigur der Unrechtsbegründung. Und zwar wird dem Gehilfen die Tat mittelbar zugerechnet, weil sein Verhalten nur so gedeutet werden kann, als bezwecke es die Förderung der Tat. Der Gehilfe macht sich mit der Tat gemein bzw. solidarisiert sich mit ihr. Durch ein derartiges Verhalten überschreitet der Gehilfe die Grenzen seiner Handlungsfreiheit. Das Opfer hat einen Anspruch auf Unterlassen eines derartigen Verhaltens. Erst dieser Aspekt des Sich-gemein-Machens bzw. der Solidarisierung mit der Tat macht erklärlich, warum bei der Beihilfe ein normatives Regressverbot nicht gilt, der Gehilfe sich also nicht darauf berufen darf, dass ihm das Verhalten des Täters nichts angehe, weil dieses ausschließlich in dessen Ver42

Schünemann/Greco, LK-StGB, 27 Rn. 83. Janß (Fn. 12), 55, 60. 44 S/S-Heiner/Weißer, StGB, § 27 Rn. 10; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1993, 22/34; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 20 Rn. 220. 43

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antwortungsbereich falle.45 Folgt man dieser Theorie, deren Anliegen es ist, das Regressverbot außer Kraft zu setzen, bedarf es aber einer gestuften Zurechnung. Der Gehilfe logisch zweiter Ordnung macht sich mit der Beihilfe logisch erster Ordnung gemein bzw. solidarisiert sich mit ihr. Erst dadurch wird die mittelbare Verantwortlichkeit für die Beihilfe logisch erster Ordnung begründet. Und diese wiederum begründet die mittelbare Verantwortlichkeit für die Tat. Diese Stufung wird allerdings durch § 27 StGB nicht abgebildet, weil die Vorschrift nur das unmittelbare GemeinMachen bzw. die unmittelbare Solidarisierung mit der Tat erfasst. Entsprechendes gilt übrigens auch für die Anstiftung zur Anstiftung zur Tat. Ein zweiter Grund, den der Jubilar schon überzeugend vorgetragen hat, ergibt sich aus § 27 Abs. 2 StGB.46 Die obligatorische Strafmilderung berücksichtigt nur die Beihilfe logisch erster Ordnung, nicht aber die weitere Verdünnung der Beziehung zur Tat bei der Beihilfe zur Beihilfe. Die in der Literatur vertretene Gegenauffassung, dass auch bei einer Beihilfe logisch höherer Ordnung nur eine einzige Strafmilderung angezeigt sei,47 lässt diese weitere Verdünnung völlig außer Betracht und ist daher strafzumessungssystematisch verfehlt. Als Ergebnis kann daher festgehalten werden, dass de lege lata die Beihilfe zur Beihilfe zur Tat nicht strafbar ist. 4. Die Anstiftung zur Beihilfe zur Tat Rechtsprechung48 und herrschende Lehre in der Literatur49 meinen, dass die Anstiftung zur Beihilfe zur Tat als mittelbare Beihilfe zur Tat einzuordnen ist. Diese Ansicht ist freilich schon kontraintuitiv. Der Hinweis, dass immer die schwächste Form der Teilnahme den Ausschlag gebe,50 kann die erforderliche Begründung nicht leisten. Stützt man die These mittelbarer Beihilfe auf eine Verhaltenszurechnung, greifen die eben dargelegten Einwände durch. Teilweise wird geltend gemacht, dass durch die Anstiftung zur Beihilfe zur Tat diese mittelbar gefördert werde.51 Dies stellt der Jubilar zutreffend in Abrede. Der Anstifter zur Beihilfe zur Tat soll kein Gehilfe sein.52 Man könnte jedoch darauf ver45

Haas (Fn. 2), 134 ff. Joerden (Fn. 25), 139. 47 Schünemann/Greco, LK-StGB, § 37 Rn. 83; S/S-Heine/Weißer, StGB, § 27 Rn. 25; Jescheck/Weigend (Fn. 24), 697. 48 BGHSt 7, 234 (236); BGH NStZ 2009, 392 (393). 49 S/S-Heine/Weißer, StGB, § 26 Rn. 27; Hoyer, SK-StGB, § 26 Rn. 32; § 27 Rn. 37; Kudlich, BeckOK-StGB, § 26 Rn. 26; Schünemann/Greco, LK-StGB, § 26 Rn. 105; § 27 Rn. 83; Frister (Fn. 1), 25/7; Jakobs (Fn. 44), 22/30; Jescheck/Weigend (Fn. 24), 697; Rengier (Fn. 24), § 45 Rn. 78 f.; Roxin (Fn. 9), § 26 Rn. 178; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 21), Rn. 924. 50 Kudlich, BeckOK-StGB, § 26 Rn. 26; Frister (Fn. 1), 25/7; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 24), Rn. 925. 51 Schünemann/Greco, LK-StGB, § 26 Rn. 105; Roxin (Fn. 9), § 26 Rn. 178. 52 Joerden (Fn. 25), 143. 46

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weisen, dass der Anstifter dadurch, dass er den Entschluss zur Unterstützung des Täters hervorruft, eine mittelbare Bedingung für die Förderung der Tat durch den Gehilfen setzt. Aber dies bedeutet mitnichten, dass in der Person des Anstifters die Voraussetzungen der Hilfeleistung erfüllt sind. Denn es müsste sich um eine mittelbare Bedingung handeln, die sich auf die Hilfeleistungshandlung des Teilnehmers logisch erster Ordnung bezieht, indem diese ermöglicht wird. Dies aber ist keineswegs der Fall. Die Relation „Bestimmen eines anderen zur Tat“ ist von der Relation „Leisten von Hilfe zur Tat“ eindeutig zu unterscheiden. Der Anstifter und der Gehilfe tun völlig Verschiedenes. Die Anstiftung ist durch eine spezifische Beziehung zum Täter gekennzeichnet, die Beihilfe durch eine spezifische Beziehung zur Tat.53 Als weiteres Argument ist wiederum zu beachten, dass es ohnehin einer gestuften Zurechnung bedarf, weil nur dadurch in konstitutiver Weise festgestellt wird, dass die Teilnahme erster Ordnung in den Verantwortungsbereich des Anstifters fällt. Insoweit gilt dasselbe wie bei der Beihilfe zur Beihilfe zur Tat. Der Jubilar meint nun gleichwohl, dass die Anstiftung zur Beihilfe zur Tat strafbar sei, der Anstifter allerdings nur gleich einem Gehilfen strafbar sei, weil er lediglich den Teilnahmeentschluss des Gehilfen hervorgerufen habe.54 Wenn sich der Anstifter allerdings nicht wegen Beihilfe strafbar macht, dann kann er sich nur wegen Anstiftung strafbar machen. Nach hier vertretener Ansicht kann es sich allerdings schon deswegen nicht um eine Anstiftung handeln, weil der Tatentschluss des Täters durch die involvierten Teilnehmer nicht hervorgerufen wird.55 Der Anstifter ruft nur den Entschluss des Gehilfen zur Unterstützung des Täters hervor. Die Hilfeleistung ist allerdings nicht Tat, zu der angestiftet werden kann. 5. Die Beihilfe zur Anstiftung zur Tat Auch in dieser Fallvariante nimmt die Rechtsprechung56 wie die herrschende Lehre in der Literatur57 eine mittelbare Beihilfe zur Tat an. Die Lehre ist wiederum kontraintuitiv. Der oben erwähnte Hinweis, dass immer die schwächste Form der Teilnahme den Ausschlag gebe, kann wiederum die erforderliche Begründung nicht leisten. Es wurde auch oben schon dargelegt, dass die Beihilfe ebenso wenig wie die Anstiftung eine Rechtsfigur der Verhaltenszurechnung ist. Wäre sie es, müsste man vielmehr eine mittelbare Anstiftung annehmen. Es bleibt daher nur die Option darzulegen, dass die Relation zwischen Handlung und Tat bei § 27 Abs. 1 StGB auch 53

Vgl. Hruschka, JR 1988, 177. Joerden (Fn. 25), 143. 55 Vgl. Roxin (Fn. 9), § 26 Rn. 178; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 24), Rn. 925. 56 BGH NStZ 1996, 562 (563); NStZ 2000, 421 (422); OLG Bamberg NJW 2006, 2935. 57 S/S-Heine/Weißer, StGB, § 27 Rn. 27; Hoyer, SK-StGB, § 26 Rn. 27; § 27 Rn. 37; Kudlich, BeckOK-StGB, § 26 Rn. 26.1; Schünemann/Greco, LK-StGB, § 26 Rn. 105; § 27 Rn. 83; Frister (Fn. 1), 25/7; Jakobs (Fn. 44), 22/30; Jescheck/Weigend (Fn. 24), 697; Rengier (Fn. 24), § 45 Rn. 78 f.; Roxin (Fn. 9), § 26 Rn. 178; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 24), Rn. 925. 54

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dann besteht, wenn die Handlung nicht unmittelbar die Tat fördert, sondern lediglich die Anstiftung zur Tat. Die Annahme aber, dass die Beihilfe zur Anstiftung zur Tat diese mittelbar ermöglicht bzw. fördert,58 ist freilich geradezu absurd, da die Anstiftung selbst nicht diese Eigenschaften im Verhältnis zur Tat aufweist. Allerdings könnte man argumentieren, dass der Anstifter zugleich psychische Beihilfe leiste und dieser Umstand die Annahme mittelbarer Beihilfe zur Tat trage. Die psychische Beihilfe könnte darin liegen, dass der Anstifter zugleich den Täter in seinem Tatentschluss bestärkt.59 Aber was heißt dies eigentlich? Gemeint ist wohl nicht, dass der wankelmütige Täter kraft der psychischen Einflussnahme durch den Teilnehmer an seinem Tatentschluss festhält. In einem solchen Fall wäre der Teilnehmer wohl so zu behandeln, als ob er den Tatentschluss hervorgerufen habe. Er wäre also Anstifter. Gemeint ist daher offenbar, dass der Täter von der Billigung seiner Tat Kenntnis nimmt und sich dadurch psychisch unterstützt fühlt. Allein dadurch werden jedoch noch nicht die Voraussetzungen der Beihilfe verwirklicht, wenn man anerkennt, dass die Beihilfe eine spezifische Einwirkung auf die Tat voraussetzt, wie oben schon dargelegt. Der erforderliche Bezug zur Tat ist erst dann gegeben, wenn die Stärkung und Unterstützung, die der Täter fühlt, es ihm erleichtert, die Tat auszuführen und sich diese Erleichterung auf die Tatausführung selbst auswirkt. Eine Präsumtion, dass diese Voraussetzungen bei jeder Anstiftung als erfüllt gelten, ist freilich nicht anzuerkennen. Es handelt sich vielmehr um eine Tatfrage. Sollten jedoch im Einzelfall diese Voraussetzungen erfüllt sein, ist die Fallvariante der Beihilfe zur Beihilfe zur Tat einschlägig und damit die Bedenken, die gegen die gesetzliche Erfassung dieser Fallvariante der gestuften Teilnehme erhoben wurden. 6. Zwischenfazit Das geltende Strafrecht erfasst die Teilnahme an der Teilnahme an der Tat nicht. Aus materieller Sicht ist allerdings kein Grund ersichtlich, warum die Teilnahme an der Teilnahme an der Tat nicht strafbar sein sollte – nicht in dem Sinne, dass sie als mittelbare Teilnahme an der Tat aufzufassen wäre, sondern in dem Sinne, dass Bezugspunkt der Teilnahme zweiter Ordnung die Teilnahme erster Ordnung ist. Es bedürfte daher wiederum einer Ausweitung der § 26 StGB und § 27 StGB oder der Einführung einer entsprechenden Vorschrift, die die Teilnahme an der Tat der Tat selbst gleichstellt und dadurch diese Fallvariante der Beteiligung an der Beteiligung erfasst. Damit kann sich der kleine Beitrag der letzten Fallkonstellation zuwenden.

58 59

S/S-Heine/Weißer, StGB, § 27 Rn. 27; Schünemann/Greco, LK-StGB, § 26 Rn. 105. BGHSt 40, 307 (315 f.); 46, 107 (115).

Die Beteiligung an der Beteiligung

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IV. Täterschafts- und Teilnahmeformen als Bezugspunkte 1. Die Teilnahme in „mittelbarer Täterschaft“ und in „Mittäterschaft“ In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass die Teilnahme auch in mittelbarer Täterschaft oder in Mittäterschaft begangen werden kann.60 Teilweise wird dies nur für die Anstiftung explizit festgestellt, ohne dass daraus aber der Umkehrschluss gezogen werden darf, dass dies für die Beihilfe nicht gelten soll.61 Begründet wird dies bei der Mittäterschaft damit, dass die Bestrafung als Täter sich auch auf die Beteiligungsformen bzw. Teilnahmeformen und nicht nur auf die Tatbestände des Besonderen Teils beziehe.62 Dagegen ist vehement Widerspruch anzumelden. Das StGB differenziert zwischen Tätern und Teilnehmern. Schon die Beschränkung auf Täter durch den Wortlaut des § 25 Abs. 2 StGB schließt die Anwendung auf gemeinschaftliches Handeln bei der Teilnahme aus und macht kenntlich, dass Tat im Sinne des § 25 StGB Verwirklichung eines Straftatbestandes des Besonderen Teils oder des Nebenstrafrechts ist. Die zusammenwirkenden Teilnehmer begehen nicht gemeinschaftlich eine Tat, sondern nehmen nur gemeinschaftlich an der Tat des Täters teil. Daran ändert auch die Anerkennung der Verabredung, zu einem Verbrechen anzustiften, in § 30 Abs. 2 StGB nichts. Sofern dagegen eingewandt wird, es handle sich um ein den Täterschaftsformen entsprechendes Verhältnis,63 ist dies natürlich aus materieller Sicht völlig zutreffend. Aber es ist eben nur ein entsprechendes Verhältnis, so dass die Bedenken im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG weiterhin Bestand haben. Dasselbe gilt bei der mittelbaren Täterschaft, wenn man diese als Rechtsfigur der Verhaltenszurechnung deutet. 2. Die Teilnahme an der mittelbaren Täterschaft und Mittäterschaft Diese letzte Fallkonstellation, die nicht mehr diskutiert, sondern nur noch angerissen werden soll, wirft auf den ersten Blick die Frage auf, worin ihre Eigenständigkeit bestehen könnte. Die Schilderung zweier Fälle mag die Eigenständigkeit demonstrieren. So ist, was die Mittäterschaft anbetrifft, an den Fall zu denken, dass eine Person die Mittäter bei der Tatverabredung unterstützt, nicht aber bei der Tatausführung selbst – wie zum Beispiel dadurch, dass die Person Räumlichkeiten zur Verfügung stellt, in der die Tat verabredet werden soll. Was die mittelbare Täterschaft anbetrifft, stellt sich das Problem wiederum nur, wenn man diese als Rechtsfigur der Verhaltenszurechnung begreift. Hier ist an den Fall zu denken, dass eine Person den mittelbaren Täter bei der Einwirkung auf den Tatmittler unterstützt, nicht aber diesen beim Vollzug des Handelns, das dem Hintermann als tatbestandsmäßiges 60 Schünemann/Greco, LK-StGB, § 26 Rn. 100, 103; § 27 Rn. 80, 82; Frister (Fn. 1), 25/7; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 24), Rn. 923; Küpper, JuS 1996, 23 ff. 61 Rengier (Fn. 24), § 45 Rn. 74; Roxin (Fn. 9), § 26 Rn. 173 ff. 62 Roxin (Fn. 9), § 26 Rn. 173 ff. 63 Küpper, JuS 1996, 25.

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Verhalten zugerechnet wird. Können diese Fälle dem § 27 StGB subsumiert werden? Diese Frage soll hier offen gelassen werden, um die Möglichkeit weiterer Aufsätze nicht zu versperren!

V. Schlussbemerkung Damit ist der kleine Beitrag an sein Ende gelangt. Die Beteiligung an der Beteiligung ist – dieses Fazit kann gezogen werden – weniger aus materieller Sicht, sondern vielmehr im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG problematisch. Die Argumentationsansätze, die bemüht werden, um die Strafbarkeit der Beteiligung an der Beteiligung de lege lata aufzuweisen, sind alles andere als überzeugend. Änderungen des Strafgesetzbuchs, die die Beteiligung an der Beteiligung unter Strafe stellen, sollten so gefasst sein, dass auch die Beteiligung logisch höher Ordnung abgedeckt wird. Der Jubilar hat zutreffend darauf aufmerksam gemacht, dass die Anzahl der Kettenglieder beliebig groß sein kann.64 Dem müsste die neue Gesetzesfassung Rechnung tragen. Zum Schluss bleibt nur noch, dem Jubilar viele schöne Jahre mit voller Schaffenskraft und ungetrübter Freude an der Beschäftigung mit der Strafrechtsdogmatik und dem Medizinrecht zu wünschen!

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Joerden (Fn. 25), 142.

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I. Einleitung Unter dem Stichwort „alternative Kausalität“ werden bei den Begehungsdelikten1 Fälle erfasst, in denen ein Erfolg durch zwei oder mehr Verhaltensweisen bedingt wird, von denen wenigstens eine zur Erfolgsherbeiführung faktisch überflüssig ist. Da sich solche Konstellationen nur schwer in ein alltägliches Geschehen einbetten lassen, haben die in der Literatur diskutierten Beispiele zumeist den Charakter lebensfremder Lehrbuchkriminalität. Unser Jubilar hat jedoch einen Beispielsfall gebildet, anhand dessen sich die zwar in der forensischen Praxis weitgehend bedeutungslose, für Kausalitätstheorien aber kaum lösbar erscheinende Problematik anschaulich darstellen lässt:2 O steht auf einem Schrottplatz unter einem schweren Schrottpaket, das von einem großen Elektromagneten gehalten wird. In der Stromversorgungsleitung des Elektromagneten liegen zwei Schalter in Reihe,3 die an je verschiedenen Stellen auf dem Schrottplatz montiert sind. Zwei voneinander unabhängige Personen P1 und P2 schalten gleichzeitig – ohne Wissen voneinander – die beiden Schalter auf „aus“, um O zu töten. Sie haben Erfolg: O wird von dem herunterfallenden Schrottpaket erschlagen. Mit Blick auf diesen Fall mag sich zunächst die Frage aufdrängen, inwieweit sich hier überhaupt ein Kausalitätsproblem stellen könnte. Der Tod des O lässt sich medizinisch durch die infolge des herabfallen Schrottpakets erlittenen letalen Verletzungen erklären. Der Sachverhaltsschilderung ist auch eine erschöpfende Antwort zu der Vorfrage zu entnehmen, wie es zum Herabfallen des Schrotts kam, nämlich 1 Bei den Unterlassungsdelikten handelt es sich entsprechend um zwei Handlungen, die von zwei oder mehreren Personen vorgenommen werden müssten, um einen Erfolgseintritt zu verhindern. Es geht also hierbei um das Unterlassen nur kumulativ kausal wirkender Verhaltensweisen; vgl. hierzu Joerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, 1986, 151 f. mit Fn. 33, unter Verweis auf ein Beispiel von Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, 136 ff. 2 Joerden (Fn. 1), 152, Sachverhalt hier wörtlich wiedergegeben. Die Frage nach der „Kausalität“ von Sorgfaltspflichtverletzungen sei im Folgenden ausgeblendet. 3 Erläuterung bei Joerden (Fn. 1), 152 mit Fn. 34: „Unter ,Reihenschaltung‘ wird eine Anordnung zweier Schalter in ein und demselben Stromkreis verstanden, die gewährleistet, dass bei Stellung jedes einzelnen Schalters oder auch beider Schalter auf ,aus‘ jeweils der Stromkreis unterbrochen wird.“

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durch den Ausfall der Stromversorgung des Magneten. Kurz: Der Todesfall ist jedenfalls schon nach der allgemeinen Lebenserfahrung unschwer zu erklären. Allerdings enthält die Sachverhaltsschilderung noch weitere Informationen, die mit der kausalen Erklärung des deliktischen Erfolgs, also mit der Frage, warum der Erfolg eintrat, in keinem notwendigen Zusammenhang stehen. Für das Herabfallen des Schrotts kommt es nur darauf an, dass überhaupt die Stromversorgung abgeschaltet wurde. Mit welcher Anzahl von Schalterbetätigungen dies erfolgte, ist ersichtlich belanglos. Wären etwa die Schalter nebeneinander montiert gewesen, so wäre es für die kausale Erfolgserklärung irrelevant, ob P1 als Alleintäter den rechten oder den linken Schalter oder beide Schalter zugleich auf „aus“ gestellt hätte. Die für die kausale Warum-Frage des Erfolgseintritts irrelevante Information, die Stromversorgung sei durch zwei zeitgleich agierende Personen an zwei verschiedenen Schaltern abgebrochen worden, ist jedoch für die strafrechtliche Beurteilung des Geschehens bedeutsam, und zwar vor dem Hintergrund eines den rechtlichen Sollensanforderungen entsprechenden alternativen Weltverlaufs. Oder anders formuliert: Von strafrechtlichem Interesse ist nicht die Frage, warum der Erfolg eingetreten ist, sondern ob er unter bestimmten Bedingungen ausgeblieben wäre, und zwar vornehmlich bei (gesollt) alternativem Verhalten von Personen. Denn das Strafrecht bezweckt den Schutz von Rechtsgütern, indem es deren Verletzung (oder Gefährdung) untersagt, was impliziert, dass es ein Alternativverhalten vorschreibt, bei dessen Ergreifen die Verletzung oder Gefährdung nicht eingetreten wäre. Der strafrechtliche Kausalbegriff hat daher eine spezifische Alternativstruktur, d. h. er bezieht sich auf einen faktischen Kausalverlauf in Relation zu einem möglichen alternativen Kausalverlauf. Das für die strafrechtliche Kausalanalyse maßgebliche Interesse am Ausbleiben eines eingetretenen Erfolgs bei alternativem Verhalten kennzeichnet die – auch Unterlassungen umfassende – fachspezifische Verhaltenskausalität, die jedoch gerade in Konstellationen wie dem Schrottplatzfall zu einem mit dem Rechtsgefühl4 kaum vereinbaren Ergebnis führen kann. Die Gründe hierfür seien im Folgenden kurz aufgezeigt, um so auch den von Joerden vorgeschlagen Ausweg aus dem Dilemma etwas näher betrachten zu können.

II. „Ursache“ als condicio sine qua non Im Bereich des Strafrechts deuten Rechtsprechung und h. L. die Kausalität im Sinne der sog. Äquivalenztheorie.5 Hiernach wird jede notwendige Bedingung 4

So Joerden (Fn. 1), 157. Vgl. nur RGSt 1, 373; 44, 137 (139); 44, 230 (244); BGHSt 45, 270 (294 f.); 49, 1 (3); v. Buri GA 11 (1863), 756 (757); Frisch, FS Gössel, 2002, 51 ff.; Glaser, Abhandlungen aus dem österreichischen Strafrecht, 1858, 298; Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980, 3 ff.; Samson, FS Grünwald, 1999, 585 (605); Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992, 52 ff.; erörtert bereits bei Stübel, Ueber den Thatbestand der Verbrechen, die Urheber derselben und die zu einem verdammenden Endurtheile 5

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eines Erfolgs als dessen Ursache angesehen. Zur Identifizierung notwendiger Bedingungen bedient man sich der sog. condicio sine qua non-Formel und wendet sie wie folgt an: Ursache eines Erfolgs ist jedes Verhalten, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele.6 Der Anwender der Formel soll das Täterverhalten wegdenken und dann nach dem möglichen Ausbleiben des betreffenden Erfolgs fragen. Von dieser Fragestellung her gesehen scheint die condicio sine qua non-Formel dem strafrechtlichen Erkenntnisinteresse gut zu entsprechen, gewiss ein Grund für ihre praktische Bedeutung.7 Entfernt man jedoch etwas ersatzlos aus der realen Welt, in der alles mit allem (naturgesetzlich) zusammenhängt, stürzt diese ein wie ein Kartenhaus, aus dem man eine Karte zieht. Jeder Sachverhalt in der realen Welt ist eine notwendige Bedingung dafür, dass die Welt so ist, wie sie ist.8 Man erhält daher keine mit der tatsächlichen Welt vergleichbare alternative Welt, sofern man aus der realen Welt etwas ersatzlos streicht. Zudem hinterlässt das Wegdenken nur eine unerklärliche Lücke in dem zu beurteilenden Geschehen. Wenn man im Eingangsbeispiel die Abhängigkeit eines Elektromagneten von seiner Stromversorgung nicht kennt, kann man etwa das Verhalten von P1 so lange wegdenken, wie man will, ohne etwas über dessen mögliche kausale Relevanz für den Erfolg herauszufinden. Nun lässt sich die Eliminationsmethode auf eine einfache Weise in eine brauchbare Methode der Kausalanalyse umwandeln. Man muss nur, wie dies auch Joerden befürwortet,9 das Wegdenken nicht auf Sachverhalte in der realen Welt, sondern auf die Voraussetzungen beziehen, unter denen sich der Eintritt des relevanten Erfolgs naturgesetzlich10 hinreichend erklären lässt.11 So kann im Beispielsfall der Tod erforderliche Gewißheit des erstern, besonders in Rücksicht der Tödtung nach gemeinen in Deutschland geltenden und Chursächsischen Rechten, 1805, §§ 34, 137, 153 und passim: jedes für einen Erfolg unerlässliche Verhalten. 6 Vgl. v. Buri, Über Causalität und deren Verantwortung, 1873, 1, 3; ihm folgend die Rechtsprechung (vgl. nur Fn. 5), hierzu Spendel, Die Kausalitätsformel der Bedingungstheorie für die Handlungsdelikte, 1948, 23 ff. Zur teils heftig geführten Diskussion über Stärken und Schwächen der condicio sine qua non-Formel aus neuerer Zeit Aichele, ZStW 123 (2011), 260 (269); Frisch, FS Gössel, 51 ff.; Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, 144 ff.; Maiwald (Fn. 5), 3 ff.; Merkel, FS Puppe, 2011, 151 ff.; Toepel, FS Puppe, 2011, 289 ff., jew. m. w. N. 7 Hierzu Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 1950, 132 f.; Frisch, FS Gössel, 60 ff.; zu dem ideengeschichtlich engen Zusammenhang zwischen Handlung, Verantwortung und Kausalität vgl. nur Cohen, Journal of the History of Ideas, 1942 (3), 12 ff.; Kelsen, Vergeltung und Kausalität, 1941, Kap. V; Specht, Kausalität, in: Ritter/Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1976, Bd. 4, Sp. 798 f. 8 Vgl. auch Gössel, GA 2015, 18 (24); Rödig (Fn. 1), 122 f. 9 Joerden, in: Aichele/Renzikowski/Rostalski (Hrsg.), Normentheorie. Grundlage einer universalen Strafrechtsdogmatik, 2022, 159 (160). 10 Weite strafrechtlich relevante Bereiche – wie etwa die Beteiligungslehre – sind dieser Form der Kausalanalyse jedoch nicht oder zumindest nicht in praktikabler Weise zugänglich, näher zur Problematik Frisch, FS Gössel, 65 ff.; Merkel, FS Puppe, 151 (159 ff.): Renzikowski,

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des O nicht ohne Berücksichtigung der mangelnden Stromversorgung in dieser Weise erklärt werden. Allerdings ergibt sich diese Information bereits aus der Sachverhaltsschilderung. Von strafrechtlichem Interesse ist dagegen die weitergehende Frage, welche Verhaltensweisen der Beteiligten nicht aus der Erklärung gestrichen werden können, ohne dass sich der Erfolgseintritt nicht mehr erklären ließe. Dies gilt zunächst für das Verhalten des O, dessen Tod sich ohne Berücksichtigung des Sachverhalts, dass er unter dem herabfallenden Schrott stand, nicht explizieren lässt. Unberücksichtigt bleiben kann dagegen sowohl das Verhalten von P1 als auch das Verhalten von P2. Denn beider Verhalten kann jeweils für sich betrachtet außer acht gelassen werden, ohne dass der Eintritt des Erfolgs nicht mehr erklärt werden könnte. Ein verblüffendes Ergebnis: Nicht das Verhalten von P1 oder P2, sondern das Verhalten von O selbst wäre als Ursache seines Todes anzusehen. Der gängige Ausweg aus dem Dilemma verbindet das Verhalten von P1 und P2 disjunktiv nach der Formel, dass von zwei Verhaltensweisen, die zwar nicht isoliert, wohl aber zusammen notwendig für einen Erfolg bzw. für dessen kausalgesetzliche Erklärbarkeit sind, jede als Ursache anzusehen ist.12 In der Sache geht es bei dieser Formel um eine Ausweitung der ursprünglichen, allein auf notwendige Bedingungen bezogenen Ursache-Definition. Man erhält dann eine komplexe Definition mit einem alternativ formulierten Definiens. Im Beispielsfall wären also das Verhalten von P1 wie auch das Verhalten von P2 jeweils als Ursachen anzusehen. Denn zwar nicht jede, wohl aber doch zumindest eine von beiden Verhaltensweisen muss notwendig vorliegen, damit der Erfolg bzw. die Erklärung seines Eintritts Bestand haben kann. Der Gewinn einer solchen modifizierten condicio sine qua non-Formel ist zunächst nur terminologischer Natur: Was nach dieser Formel mangels Notwendigkeit für einen Erfolgseintritt bzw. dessen kausalgesetzliche Erklärbarkeit nicht als Ursache anzusehen ist, kann nun durch eine Erweiterung der Definition um einen disjunktiv notwendigen Bedingungskomplex als Ursache bezeichnet werden.13 Die Berechtigung der definitorischen Ausweitung ergibt sich hierbei nicht aus sachlogischen Vorgaben eines bestimmten Begriffs der Ursache, sondern allein aus der Zwecksetzung, ein mit dem common sense verträgliches Ergebnis zu erzielen. Nach Joerden ist diese Definition jedoch nicht mit den strafrechtsspezifischen Anforderungen an die Verhaltenskausalität zu vereinbaren. Denn das Erkenntnisinteresse des Strafrechts sei nicht auf die Erklärbarkeit des Erfolgs schlechthin, sondern FS Puppe, 2011, 201 ff; ders., FS Kindhäuser, 2019, 379 (381 ff.); Schulz, FS Lackner, 1987, 39 (41 ff.). 11 Grundlegend Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, 13 ff.; heute wohl vorherrschende Lehre, vgl. die Nachw. bei Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 5. Aufl. 2020, § 11 Rn. 15; zu den normativen Implikationen dieses Ansatzes Frisch, FS Gössel, 57 ff. 12 Grundlegend Traeger, Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, 1904, 45 f.; vgl. ferner BGHSt 39, 195; Hilgendorf NStZ 1994, 561 ff.; Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 4 Rn. 19, jew. m. w. N. 13 Merkel, FS Puppe, 151 (155): „ad hoc herbei zitierter Verlegenheitsbehelf“.

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nur auf die Erklärbarkeit durch Bezugnahme auf ein bestimmtes Verhalten bezogen. Gerade dies sei aber bei einer disjunktiven Verbindung des Verhaltens mit dem Verhalten einer anderen Person nicht gewährleistet.14 Hierfür spricht, dass das Tötungsverbot nicht besagt, dass es P1 oder P2 verboten ist, den O zu töten, sondern dass es P1 und unabhängig davon auch P2 verboten ist, so zu handeln. Dass die strafrechtlich relevante Verhaltenskausalität nur einen Ausschnitt aus einem kausalen Gesamtgeschehen in den Blick nimmt, schließt also unter diesen Voraussetzungen keineswegs aus, dass dem jeweiligen Verhalten der beiden Täter aus einer anderen Perspektive durchaus kausale Relevanz beizumessen sein kann.

III. „Ursache“ als Bestandteil einer hinreichenden Erfolgsbedingung Als weiterer Ausweg aus dem Dilemma wird vorgeschlagen, es für die Prädikation eines Verhaltens als Ursache ausreichen zu lassen, dass das betreffende Verhalten15 unter den gegebenen Umständen herangezogen werden kann, den Eintritt des Erfolgs nach allgemeinen Gesetzen16 zu erklären.17 Dadurch wird der Kreis potenzieller Ursachen gegenüber der strengen condicio sine qua non-Formel, die hierfür eine notwendige Berücksichtigung des Verhaltens zur Erklärbarkeit des Erfolgseintritts verlangt,18 erheblich ausgeweitet. Denn auf diese Weise kann das hier relevante Problem der wechselseitigen Paralyse ceteris paribus hinreichender Bedingungen um14

Joerden (Fn. 1), 154; vgl. auch Frisch, FS Gössel, 55 f. Genauer: Das Verhalten unter der jeweils relevanten Beschreibung, hier z. B. als Abschalten der Stromversorgung. Zur Beschreibungsabhängigkeit von Verhalten und Erfolg bei der Kausalanalyse wünschenswert präzise Mañalich, FS Kindhäuser, 2019, 245 ff. 16 Ausführliche Auseinandersetzung mit den nach diesem Ansatz für eine hinreichende Erfolgserklärung relevanten Regularitäten bei Puppe, FS Merkel, 2020, 681 ff.; grundsätzliche Kritik bei Kindhäuser ZIS 2016, 574 (582); Renzikowski, FS Kindhäuser, 2019, 379 (384 ff.). 17 Diese Ansicht firmiert auch unter der Bezeichnung NESS-Test (Ursache als „necessary element of a minimally sufficient set“), vgl. hierzu nur Grosse-Wilde, in: Aichele/Renzikowski/Rostalski (Hrsg.), Normentheorie. Grundlage einer universalen Strafrechtsdogmatik, 2022, 165 (172 ff.); Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK-StGB, 5. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 110; Roxin/Greco (Fn. 11), § 11 Rn. 15a–15g; Wright, California Law Review 73 (1985), 1735 (1788 ff.); Wright, Iowa Law Review 73 (1988), 1001 (1019 ff.); Wright, in: Goldberg (Hrsg.), Perspectives on Causation, 2011, 285 (286 ff.). In diese Richtung gehen u. a. auch: Mackie, American Philosophical Quarterly, 1965, 245: „indispensible part of a sufficient which is also not a necessary condition“; Marc-Wogau, Theoria 28 (1962), 226 f.: „a moment in a minimal sufficient and at the same time necessary condition post factum“; Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, 13: „Bedingung des Gesamtkomplexes (…), der den Kausalgesetzen entsprechend den Erfolg mit Notwendigkeit bedingt“. 18 Die Feinheiten sind hier bedeutsam: Das fragliche Verhalten muss nicht – wie bei der condicio sine qua non – notwendig für die Erfolgserklärung, sondern nur notwendiger Teil einer zur schlüssigen Erfolgserklärung hinreichenden Gesamtbedingung sein. Und das Verhalten braucht auch nicht – wie bei der condicio per quam (unten IV.) – die Bedingung zu sein, die notwendig ist, um die Gesamtbedingung zu einer hinreichenden Erfolgsbedingung werden zu lassen, die also den Erfolg ceteris paribus herbeiführt. 15

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gangen werden. Es braucht nur bei der Erfolgserklärung durch ein Verhalten das jeweils andere Verhalten nicht – bzw. nicht vollumfänglich – berücksichtigt zu werden. Oder anders formuliert: Es ist nur notwendig, jeweils eine der beiden Verhaltensweisen heranzuziehen, um den Erfolgseintritt kausalgesetzlich schlüssig zu erklären. Bezogen auf den Beispielsfall besagt dies: Nach der strengen condicio sine qua non-Formel ist das Verhalten eines jeden Täters für sich gesehen nicht notwendig, um den Eintritt des Erfolgs zu erklären und scheidet damit als dessen Ursache aus. Lässt man es jedoch für die Ursächlichkeit eines Verhaltens genügen, dass es überhaupt zu einer ceteris paribus schlüssigen Erklärung des Erfolgseintritts herangezogen werden kann, so kann im Beispielsfall das Verhalten eines jeden der beiden Täter als Todesursache angesehen werden. Diese Bestimmung der Ursache umfasst damit, was kaum verwundern kann, auch das mit der modifizierten condicio sine qua non-Formel erzielte Ergebnis. Wenn von zwei Verhaltensweisen jede ceteris paribus hinreicht, den Erfolg zu bedingen und damit für sich gesehen nicht notwendig für den Erfolgseintritt ist, dann kann auch jede dieser Verhaltensweisen zu einer ceteris paribus hinreichenden Erklärung des Erfolgseintritts herangezogen werden, ohne jeweils für sich gesehen für die Erklärbarkeit des Erfolgs erforderlich zu sein. Konkret: Der Tod des O kann gleichermaßen schlüssig erklärt werden, wenn jeweils nur das Verhalten von P1 oder P2 berücksichtigt wird. Auch für diese kausale Interpretation von Geschehensverläufen mag manches gute Argument sprechen. Maßgeblich für ihre Brauchbarkeit im strafrechtlichen Kontext ist jedoch, ob sie den hier geltenden spezifischen Anforderungen gerecht wird. Joerden bezweifelt dies in den Fällen der alternativen Kausalität aus zwei gewichtigen Gründen. Zunächst: Im Beispielsfall liefere die Erklärbarkeit eines Erfolgseintritts unter Bezugnahme auf eine der beiden Verhaltensweisen keine sichere Auskunft darüber, ob dieses Verhalten auch tatsächlich erfolgswirksam geworden ist. Die Erfolgswirksamkeit sei unter den gegebenen Umständen nicht gewiss, sondern nur möglich, und Sachverhalte, die nur möglich seien, schieden grundsätzlich als Ursachen aus.19 Dieser Grundsatz lasse sich nur bei rechtlicher Gleichwertigkeit durchbrechen, etwa beim (doppelkausalen) Handeln nur einer Person oder beim (doppelkausalen) Handeln zweier Personen in Mittäterschaft. Da aber im Strafrecht ein Einzeltäter nur für je eigenes Verhalten hafte, fehle es an der Gleichwertigkeit der Verhaltensweisen beider Täter, mit der Folge, dass der Grundsatz in dubio pro reo zugunsten eines jeden eingreife.20 Auf diese Begründung wird zurückzukommen sein. Weiterhin macht Joerden darauf aufmerksam, dass die Definition der Ursache als notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Erfolgserklärung noch deutlich über den Anwendungsbereich der modifizierten condicio sine qua non-Formel hinausgeht. Denn sie kennt dem Grunde nach keine quantitative Begrenzung der kausalen Relevanz eines Verhaltens auf das tatsächliche Maß. Verdeutlichen lässt sich dies an 19 20

Joerden (Fn. 1), 153. Joerden (Fn. 1), 157 ff.

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drei Varianten eines Standardbeispiels für zwei parallel agierende Täter: Die Neffen N1 und N2 schütten unabhängig voneinander Gift in den Morgenkaffee ihres Erbonkels E; E stirbt unmittelbar nach dem Genuss des Kaffees. Variante 1): Jeder Neffe verwendet jeweils eine tödliche Menge Gift. Variante 2): Keine der von den Neffen verwendeten Giftmengen ist für sich gesehen letal; in der Addition beider Mengen wirkt die gesamte Dosis jedoch tödlich. Variante 3): Nur N1 verwendet eine für sich gesehen letale Dosis; die Dosis von N2 hätte bei isolierter Verwendung allenfalls zu einer leichten Übelkeit bei E geführt. Die Lösungswege zu Variante 1) sind bereits dargelegt: Nach der strengen condicio sine qua non-Formel hat kein Neffe den Tod des E verursacht, da für sich gesehen kein Verhalten für die Erklärung des Erfolgseintritts notwendig ist. Nach der modifizierten condicio sine qua non-Formel ist dagegen Ursächlichkeit bei beiden Verhaltensweisen zu bejahen, da zwar das Verhalten von jeweils nur einem Neffen, nicht aber die Handlungen beider Neffen zusammen bei der Erklärung des Erfolgseintritts unberücksichtigt bleiben dürfen. Hiermit stimmt die Theorie der hinreichenden Erklärbarkeitsbedingung überein, da es ausreicht, nur jeweils eine der beiden Verhaltensweisen in eine schlüssige Erklärung des Erfolgs einzubeziehen. In der Variante 2), dem Normalfall der sog. kumulativen Kausalität, kommen alle Ansätze zum selben Ergebnis: Beide Verhaltensweisen sind Ursachen, da sie beide zusammen berücksichtigt werden müssen, um den Erfolgseintritt zu erklären. In Variante 3) kommen die strenge wie auch die modifizierte condicio sine qua non-Formel zu dem Ergebnis, dass nur das Verhalten von N1 als Ursache für den Erfolgseintritt anzusehen ist. Das Verhalten von N2 ist dagegen kausal unbeachtlich, weil es für sich gesehen zur Erfolgserklärung nichts beiträgt und damit auch nicht als kausal hinreichende Alternative zum Verhalten von N1 in Betracht kommt. Anders fällt dagegen das Ergebnis nach der Definition der Ursache als möglicher Bestandteil einer hinreichenden Erfolgserklärung aus. Nach den Prämissen dieses Modells genügt jede beliebige Giftmenge, sofern sie nur unter den gegebenen Umständen in eine schlüssige Erklärung eingestellt werden kann. In der Variante 3) könnte also die von N2 verwendete Giftdosis durch eine Ergänzung aus dem von N1 stammenden Giftquantum zu einer ceteris paribus erklärungstauglichen Giftmenge komplettiert werden. Im Ergebnis wäre dann neben N1 auch N2 als Verursacher des Todes von O anzusehen. Dass diese Methode, so ausgestaltet, den Anforderungen an die strafrechtliche Verhaltenskausalität nicht gerecht werden kann, ist offensichtlich. Ein Verhalten, das zur Erfolgserklärung ceteris paribus nicht notwendig ist, ja dem ggf. weder aus der ex-ante- noch aus der ex-post-Perspektive eine auch nur minimale Gefährlichkeit attestiert werden kann, kommt als Ursache eines Erfolgs und damit als Grundlage strafrechtlicher Verantwortlichkeit für den Erfolgseintritt schwerlich in Betracht; dies wäre mit dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes unvereinbar.21 21 Dass man ein faktisch unbeachtliches Quantum kausaler Relevanz auch – z. B. nach § 153 StPO – als normativ unbeachtlich ausweisen kann, ändert nichts an der zunächst kon-

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Wohl deshalb wird von Vertretern der hinreichenden Erklärungsbedingung versucht, eine der strafrechtsspezifischen Zwecksetzung entsprechende Ursachenbestimmung durch ein Aufspaltungsverbot zu retten. Demnach darf ein auf ein Täterverhalten bezogener Bestandteil einer hinreichenden Erklärungsbedingung generell nicht mehr zur Bildung weiterer minimaler hinreichender Bedingungen aufgespalten werden.22 In Variante 3) dürfte also die von N2 verabreichte Giftmenge nicht mehr durch Gift aus der Dosis von N1 angereichert werden, um so ein Quantum zu erhalten, das den Tod des E ceteris paribus hinreichend erklärt. Mit dieser normativen Zusatzannahme werden allerdings – wissenschaftstheoretisch wenig überzeugend – die Prämissen der Theorie nur zu dem Zweck modifiziert, ein unliebsames Ergebnis zu vermeiden. Denn bei der (normalen) kumulativen Kausalität – wie in Variante 2) – dürfen durchaus zwei Verhaltensweisen addiert werden, um so das ansonsten – d.h bei jeweils isolierter Betrachtung – nicht hinreichende Quantum an kausaler Relevanz zu erreichen. In der Sache hat das Aufspaltungsverbot zur Konsequenz, dass sich die modifizierte condicio sine qua non-Formel und die Definition der Ursache als hinreichender Erklärungsbedingung in Fällen der alternativen Kausalität bei den Begehungsdelikten decken. Allerdings steht die Theorie der hinreichenden Erklärungsbedingung weiterhin vor dem Problem einer sinnvollen Begrenzung strafrechtlich relevanter Ursachen.23 Im Eingangsbeispiel gehören ja zu der unüberschaubaren Menge von Umständen, die notwendig sind, um den Tod des O schlüssig zu erklären, auch Handlungen anderer Personen, namentlich das Verhalten des O selbst. Ohne Berücksichtigung des Umstands, dass O unter dem Elektromagneten stand, lässt sich sein Tod nicht erklären. Da es nun, wie bereits erwähnt, ersichtlich kontraintuitiv wäre, das Stehen unter dem Elektromagneten als Todesursache zu bezeichnen, wird vorgeschlagen, die potenziellen Ursachen auf unerlaubt riskante bzw. sorgfaltswidrige Verhaltensweisen zu begrenzen. Die Prädikation als sorgfaltswidrig hat indessen nur vor dem Hintergrund eines sorgfaltsgemäßen Alternativverhaltens Sinn. Sorgfaltswidrigkeit ist kein factum brutum, sondern kennzeichnet die Abweichung vom Gesollten.24 Da jedoch nach der Theorie von der hinreichenden Erklärungsbedingung nur reale Vorgänge in die Kausalerklärung einbezogen werden dürfen, ist ihr Rückgriff auf hypothetische Verläufe bei der Ursachenbestimmung verstellt.

statierten Ursächlichkeit, zumal diese Theorie Kausalität als theoretische Kategorie und nicht als energetische Größe interpretiert, so nachdrücklich Puppe, NK-StGB, Vor § 13 Rn. 81 f. 22 Wright/Puppe, Chicago-Kent LawReview 91 (2016), 485. 23 Vgl. auch Frisch, FS Gössel, 57 ff.; ferner Renzikowski, FS Kindhäuser, 2019, 379 (382): „Der NESS-Test formuliert einen unerfüllbaren Scheinbegriff von Kausalität.“ 24 „Sorgfaltswidrig“ impliziert die Bezugnahme auf eine normative Anforderung, die das den Anforderungen entsprechende Alternativverhalten benennt; vgl. auch Frisch, FS Gössel, 69 f.; Kindhäuser, ZIS 2016, 574 (576); Lampe, FS Armin Kaufmann, 1989, 189 (197 ff.).

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IV. „Ursache“ als condicio per quam 1. John Stuart Mill konstatiert in seinen Ausführungen zur Kausalität, dass wir im Alltag „selbst dort, wo wir nach Genauigkeit streben, nicht alle Bedingungen aufzählen, (…) weil sich einige von ihnen in den meisten Fällen, auch ohne ausdrückliche Erwähnung, von selbst verstehen, oder weil wir sie für den vorliegenden Zweck ohne Schaden übersehen können.“25 Und Mill fährt fort: „wenn wir zum Beispiel sagen, die Ursache von jemandes Tode war, daß sein Fuß beim Ersteigen einer Leiter ausglitt, so übergehen wir als einen selbstverständlichen Umstand die Thatsache, dass er ein Gewicht besitzt, obgleich es eine ganz ebenso unerläßliche Bedingung der eingetretenen Wirkung ist.“26 In solchen Fällen, so Mill, „war die Thatsache, der man die Ehre erwies, sie Ursache zu nennen, die eine Bedingung, die zuletzt ins Dasein trat.“27 „Sie ist es gewöhnlich, deren Unentbehrlichkeit zur Erzeugung der Wirkung in der Praxis hervorgehoben werden soll.“28 Von einer solchen alltäglichen Begriffsverwendung unterscheidet Mill den Begriff der Ursache im philosophischen Sinne, den er definiert als „Inbegriff der Bedingungen, positiver und negativer zusammengenommen, die Gesammtheit der Eventualitäten jeder Art, bei deren Verwirklichung das Consequens unvermeidlich erfolgt“.29 In diesem Sinne ist für Mill also eine Ursache die Gesamtheit der Antecedentien, die gesetzmäßig dem als Wirkung bezeichneten Ereignis vorangehen. Nun ist Mills philosophischer Begriff der Ursache für praktische Belange evident untauglich, zumal es hier ja nicht um die Frage geht, warum ein Erfolg eingetreten ist – die Natur wird sich schon an ihre Gesetze halten –, sondern unter welchen Bedingungen er als ausgeblieben gedacht werden könnte.30 Plausibel und zugleich forensisch praktikabel wäre es jedoch, so folgert v. Buri im Umkehrschluss, alle Teilelemente, die notwendig sind, damit es zu einer Gesamtursache kommt, jeweils als Ursachen zu bezeichnen.31 Damit ist die condicio sine qua non-Formel als Kriterium in die strafrechtliche Ursachenbestimmung eingeführt, jedoch – wie die Theorie der hinreichenden Erklärungsbedingung – mit einem schweren Geburtsfehler behaftet. Denn jedes Teilelement der nach Mill unermesslichen Gesamtursache im Weltverlauf kommt nun auch als Einzelursache in Betracht mit der Folge, dass die Straf25 Mill, System der deductiven und inductiven Logik, Übersetzung von Th. Gomperz unter Mitwirkung des Verf., 1872, 2. Band, 17. 26 Mill (Fn. 25), 17. 27 Mill (Fn. 25), 17 f. 28 Mill (Fn. 25), 19. Nach Ewing, Proceedings of the Aristotelian Society, Suppl. Vol. XVII (1938), 86 (92), sind mit Ursachen in der Umgangssprache stets Teilbedingungen eines Syndroms von Phänomenen gemeint, die ein Ereignis hinreichend bedingen; aus einem Tatsachenkomplex, der in seiner Gesamtheit ursächlich für ein Ereignis geworden sei, greife man Teilelemente heraus, die im jeweiligen Kontext maßgeblich zu sein scheinen, und bezeichne sie als Ursachen. 29 Mill (Fn. 25), 21 f. 30 Zur Kritik insoweit vgl. nur Rödig (Fn. 1), 111 ff. 31 v. Buri, Beiträge zur Theorie des Strafrechts und zum Strafgesetzbuche, 1894, 69 ff.

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rechtsdogmatik über Jahrzehnte hin – von der Adäquanztheorie über die Relevanztheorie bis zur Lehre von der objektiven Zurechnung – bemüht ist,32 faktisch äquivalent notwendige Bedingungen als normativ nicht gleichwertig33 auszuweisen. Erheblich einfacher wäre es indessen, zur Gewinnung eines praxisorientierten Begriffs der Ursache an Mills Überlegungen zur umgangssprachlichen Verwendung dieses Begriffs anzuknüpfen. Danach wäre dasjenige Verhalten als ursächlich zu bezeichnen, das unentbehrlich34 ist, um unter den gegebenen Umständen den Erfolg herbeizuführen.35 Diese Definition kommt dem Alltagsverständnis der kausalen Weltsicht näher als der diffuse und uferlose Rückgriff auf (beliebige) notwendige Bedingungen. Der von Mill erwähnte Grundgedanke ist einfach: Ein beliebiges Ereignis in der Welt findet nicht in einem „luftleeren“ Raum, sondern unter jeweils gegebenen Umständen statt. Diese ceteris paribus gegebenen Umstände sind das kausale Feld des zu erklärenden Ereignisses, ohne für die Kausalanalyse selbst von Interesse zu sein.36 So ist das Vorhandensein von Sauerstoff in der Luft fraglos notwendig, damit ein Brand ausbricht, ohne dass in einem alltäglichen Kontext das Vorhandensein von Sauerstoff in der Luft als Ursache des Brandes angesehen würde. Vielmehr wird als Ursache des Brandes der Umstand bezeichnet, der zu einem gegebenen kausalen Feld hinzutritt und dadurch den Brand auslöst, etwa das Wegwerfen einer klimmenden Zigarette, die auf feuergefährliches Material fällt.37 Auch die typischen strafrechtsspezifischen Erfolgsverben wie „töten“, „verletzen“, beschädigen“ oder „verursachen“ werden implizit nicht unter Bezugnahme auf notwendige, sondern auf ceteris paribus hinreichende Bedingungen gebraucht. Beispielhaft: Wenn B den C mit einer Pistole erschießt, die ihm A verschafft hat, so lässt sich nicht sagen, A habe C getötet, indem er B eine Pistole gegeben hat. Denn durch dieses Verhalten ist C nicht gestorben. Getötet wurde C, bei korrekter umgangssprachlicher Wortverwendung, nur durch den Schuss des B, mag auch A eine notwendige Bedingung dafür gesetzt haben, dass B die Tötungshandlung ausführen konnte.38 32

Hierzu Renzikowski, in: Matt/Renzikowski, StGB, 2013, Vor § 13 Rn. 80 ff. m. w. N. Auf der Nichtäquivalenz der Erfolgsursachen baut namentlich die sog. Tatherrschaftslehre auf, hierzu Kindhäuser, GS Tröndle 2019, 295 (301 ff.). 34 Die Notwendigkeit in diesem Sinne ist abhängig von der jeweils relevanten Begründung des Kausalzusammenhangs. 35 Vgl. v. Wright, Explanation and Understanding, 1971, 56: „The ,cause‘ is a factor which, when ,addded‘ to a given constellation of circumstances, (…) turns this constellation into a sufficient condition of something else.“ Dieses Kausalitätsverständnis baut wesentlich auf einer Logik der Veränderungen und dem Begriff der Handlung auf; hierzu auch Gasking, Mind 1955 (LXIV), 479 ff.; Kindhäuser, Intentionale Handlung 1980, 79 ff., 83, 88 ff. 36 Vgl. Mackie, The Cement of the Universe, 1980, 34 f. 37 Vgl. hierzu auch Hart/Honoré, Causation in the Law, 2. Aufl. 1985, 112: „it is plain that the man’s action is required to complete such a set of conditions jointly sufficient to produce the fire“. 38 Erfolgsverben implizieren Dadurch-dass-Relationen. Deshalb lässt sich sagen: „dadurch, dass C ihm die Pistole gegeben hat, konnte A den B töten“, aber nicht: „dadurch, dass C 33

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Die Elemente des kausalen Feldes, das gegeben sein musste, damit ein Ereignis stattfinden konnte, erweisen sich erst ex post als hierfür notwendige Bedingungen. Vor Eintritt des Ereignisses haben sie noch keine kausale Relevanz. Im Beispielsfall gehört das Verschaffen der Pistole zum kausalen Feld und wird erst dadurch zu einer notwendigen Bedingung des Todes von C, dass B mit dieser Waffe auf C schießt und diesen tödlich trifft. Die Notwendigkeit des Verschaffens der Pistole für den fraglichen Erfolg ist also kausal abhängig von der Abgabe des tödlichen Schusses. Unabhängig von dem tödlichen Schuss ist das Verschaffen der Pistole zunächst ein kausal irrelevantes Verhalten, mag es auch zur Begründung eines Gefahrurteils ex ante bedeutsam sein. Erfolgsverben wie „töten“, „verletzen“, beschädigen“ oder „verursachen“ haben in ihrer umgangssprachlichen Verwendung die Bedeutung, das durch sie bezeichnete Verhalten als erklärende Bedingung für den Eintritt des sie definierenden Erfolgs zu benennen. Der Satz „B hat C getötet“ besagt demnach, dass das Verhalten des B ceteris paribus der maßgebliche Grund für den Tod des C ist. Maßgeblich ist gewöhnlich das Verhalten, das den Erfolg unmittelbar bedingt, also das Verhalten, das nicht erst vermittelt durch ein weiteres Verhalten39 zu einer notwendigen Bedingung des Erfolgseintritts wird.40 Auch der Schuss des B auf C ist eine notwendige Bedingung für dessen Tod, nur eben diejenige, die zu den bereits gegebenen Umständen nur noch hinzutreten muss, um den Eintritt des Todes herbeizuführen. Im Unterschied zu den gegebenen Umständen, die sich ex post als condiciones sine quibus non ausweisen lassen, ist der Schuss mit anderen Worten der Umstand, der ceteris paribus hinreicht, damit der Tod eintritt, also die condicio per quam. Aufgrund der zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen bestehenden Relation lässt sich die condicio per quam unschwer ermitteln. Es gilt: Wenn h eine hinreichende Bedingung von n ist, dann ist n eine notwendige Bedingung von h – und vice versa. Ersetzt man daher in einer der realen Welt entsprechenden Alternativwelt den Sachverhalt, dass C zum Zeitpunkt t starb, durch den Sachverhalt, dass C zum Zeitpunkt t noch lebt, dann müsste nach den einschlägigen Gesetzmäßigkeiten nur noch ein weiterer Sachverhalt durch einen Alternativsachverhalt ersetzt werden, nämlich der Sachverhalt, dass B auf C schießt. Der Sachverhalt dagegen, dass A dem B eine Pistole reichte, könnte in der Alternativwelt weiterhin Bestand haben, nämlich unter Zugrundelegung des Alternativsachverhalts, dass B nicht geschossen hätte.41 dem A die Pistole gegeben hat, hat er den B getötet“; näher hierzu Kindhäuser, ZIS 2016, 574 (585 ff.) m. w. N. 39 Genauer: Durch ein Verhalten, zu dem die betreffende Person eine Verhaltensalternative hatte, also etwa kein durch vis absoluta bedingtes Verhalten; zur Problematik ausf. Ling, Die Unterbrechung des Kausalzusammenhangs durch willentliches Dazwischentreten eines Dritten, 1996, 128 ff. 40 Hierzu schon Ortmann, GA 1875, 268 ff. 41 Zur Explikation der hier relevanten Begriffe des Sachverhalts und der Alternative Rödig (Fn. 1), 16 ff.

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Demnach lässt sich (vereinfachend) festhalten, dass im Sinne der von den Erfolgsverben implizierten Kausalität (nur) derjenige den jeweiligen Erfolg i. e. S. verursacht hat, der sich hätte anders verhalten müssen, als er sich verhalten hat, falls der Erfolg nicht eingetreten wäre. Damit dürfte auch auf der Hand liegen, warum im Strafrecht das Setzen einer condicio per quam, wie dies bereits Hruschka darlegte,42 Ausgangspunkt einer normtheoretisch ausgerichteten Kausaltheorie sein sollte. Denn nur ein Verhalten, zu dem eine Alternative hätte ergriffen werden müssen, kann Gegenstand des Vorwurfs sein, den Eintritt eines deliktischen Erfolgs nicht durch normgemäßes Alternativverhalten vermieden zu haben. Alle anderen Verhaltensweisen, die erst durch den Vollzug der condicio per quam zu (ebenfalls) notwendigen Bedingung des Erfolgs werden, kann man einer „beitragenden Kausalität“ zuweisen, die den Gegenstand einer akzessorischen Unrechtszurechnung bilden.43 Da der Umfang „beitragender“ Bedingungen uferlos ist, muss er über normativ bestimmte Zurechnungsfiguren – wie Mittäterschaft, Anstiftung, Beihilfe – begrenzt werden.44 2. Eine Übertragung des Modells der condicio per quam auf die Fälle der alternativen Kausalität ist jedoch, wie Joerden zeigt, einem Einwand ausgesetzt.45 Denn, so lautet sein bereits oben erwähntes Argument, man könne aus einer ex-post-Perspektive, also zu einem Zeitpunkt, zu dem der Erfolg bereits eingetreten ist, gar nicht wissen, ob in den Fällen alternativer Kausalität beide Verhaltensweisen für sich genommen hinreichend für den Erfolgseintritt gewesen sind. Denn ex post wisse man gerade nicht, ob im Eingangsbeispiel auch das Verhalten der beiden Akteure einzeln ausgereicht hätte, den Erfolg herbeizuführen, da tatsächlich beide zugleich gehandelt haben. Aus der ex-post-Perspektive könne man deshalb widerspruchsfrei nur behaupten, dass erst das Handeln beider Akteure zusammen hinreichend war, den Erfolg herbeizuführen.46 Dagegen lasse sich von einem ex-ante-Standpunkt durchaus sagen, dass auch das Verhalten beider Akteure jeweils hinreichend für den Erfolgseintritt sei. So könne man im Eingangsbeispiel ex ante davon ausgehen, dass die Betätigung eines der beiden Schalter ceteris paribus ausreichend sei, den Todeserfolg bei O herbeizuführen. Das Problem liege jedoch darin, dass ein vom ex-ante-Standpunkt als hinreichend angesehenes Verhalten auch dann hinreichend bleibe, wenn es sich de facto nicht ausgewirkt hat, etwa, wenn O, bevor ihn das Schrottpaket getroffen habe, von D erschossen worden sei.47

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Hruschka, ZStW 110 (1998), 581 (588 ff.). Vgl. auch insoweit Hruschka, ZStW 110 (1998), 582 ff. 44 Vgl. Kindhäuser, GS Tröndle, 295 (303 ff.); zu den Täterschaftsformen auch Haas, in: Matt/Renzikowski, StGB, 2013, Vor § 25 Rn. 14 ff.; Renzikowski, in: Maurach/Gössel/Zipf, § 48 Rn. 2 ff., § 49 Rn. 3 ff. 45 Joerden (Fn. 1), 155 f. 46 Joerden (Fn. 1), 155. 47 Joerden (Fn. 1), 155 f. 43

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Bei diesem Einwand verwendet Joerden den Ausdruck „hinreichend“ in einer Bedeutung, die als „schwach hinreichend“ bezeichnet werden kann.48 In diesem „schwachen“ Sinne ist eine Bedingung unter der Hypothese hinreichend, dass die für die Prädikation vorausgesetzten Umstände, einmal gegeben, nicht mehr verändert werden. Insoweit lässt sich das Umlegen eines Schalters auf „aus“ auch dann in einem abstrakten Sinne als hinreichend tödlich bezeichnen, wenn es konkret zur kausalen Erklärung des Todeseintritts nicht herangezogen werden kann, weil das Opfer etwa kurz vor Herabfallen des Schrotts von D erschossen wurde. Als Definiens des Begriffs der Ursache nach Maßgabe der condicio per quam wird „hinreichend“ jedoch in einer „starken“ Bedeutung gebraucht,49 bei der der zu erklärende Erfolg zugleich als notwendige Bedingung für das ihn hinreichend bedingende Verhalten zu verstehen ist. Wäre also im Beispielsfall nur ein Schalter umgelegt worden und wäre O durch den herabfallenden Schrott zu Tode gekommen, dann hätte in einer Alternativwelt, in der O nicht zum Zeitpunkt t gestorben wäre, notwendig auch das Umstellen des Schalters nicht stattfinden können. Fraglich ist aber, ob sich auch in den Fällen der alternativen Kausalität ein Ursachenzusammenhang unter diesen Voraussetzungen konstruieren lässt. Auf den ersten Blick scheint dies im Schrottplatzfall mühelos zu gelingen. Hier dürfte sich ex post wohl mit forensisch angemessener Sicherheit nachweisen lassen, dass sich mit beiden Schaltern die Stromversorgung gleichermaßen effizient abstellen ließ. Demnach könnte unter der Hypothese, dass O zum Zeitpunkt t des Erfolgseintritts noch lebte, mit zweifelsfreier Gewissheit gesagt werden, dass dann weder P1 noch P2 den Strom abgeschaltet haben könnten, sie also jeweils eine ceteris paribus hinreichende Bedingung für den Tod des O gesetzt hätten. Doch das logische Problem der Prädikation ist damit noch nicht geklärt. Denn um „hinreichend“ in einem starken Sinne korrekt gebrauchen zu können, muss die fragliche Bedingung auch notwendig für den Erfolg sein, was sie im Falle einer Bezeichnung als schwach hinreichend nicht zu sein braucht. Es ist also weniger eine Frage der Beweisschwierigkeiten, die sich etwa auch im Unterlassungsbereich in mehr oder weniger paralleler Weise stellen, als vielmehr eine Frage der strafrechtsspezifischen Anforderungen an den Begriff der Ursache, die im Bereich der alternativen Kausalität Schwierigkeiten bei der konkreten Begriffsverwendung aufwerfen. Wenn die Kausalanalyse hier auch die Grundlage für die Beantwortung der Frage liefern soll,50 ob der jeweilige Erfolg bei Ergreifen einer Verhaltensalternative ausgeblieben wäre, wird man – mit Joerden – auch im Schrottplatzfall nicht sagen können, dass beide Akteure jeweils eine condicio per quam für den Tod des O gesetzt hätten.

48

Mackie (Fn. 36), 39. Vgl. Hart/Honoré (Fn. 37), 112 f.; Mackie (Fn. 36), 39 f. 50 Diese Frage soll hier nicht entschieden werden. 49

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V. Außerordentliche Zurechnung Das Ergebnis der vorangegangenen Überlegungen fällt ernüchternd aus. Obgleich im Eingangsfall beide Akteure jeweils eine Bedingung für den Tod des Opfers gesetzt haben, die zwar nur in einem schwachen Sinne als hinreichend anzusehen ist, die aber ersichtlich in ihrer kausalen Relevanz nicht durch einen hinzutretenden Sachverhalt – etwa durch das Eingreifen eines Dritten – paralysiert wurde, kann ihr Verhalten nach keiner strafrechtlichen Kausaltheorie ohne gewichtige Einwände als Erfolgsursache angesehen werden. Bedenkt man, dass an der Ursächlichkeit in solchen Fällen nicht zu zweifeln wäre, wenn die beiden Verhaltensweisen erst kumulativ kausale Relevanz erlangt hätten, die Täter also bei jeweils deutlich ungefährlicherem Verhalten als Verursacher des Erfolgs zu betrachten wären, mag der hier aufgezeigte Befund, wie es Joerden formuliert, mit dem Rechtsgefühl nur schwer zu vereinbaren sein. Joerden setzt sich kritisch mit dem zur Lösung des Dilemmas angebotenen Vorschlag auseinander, die Fälle alternativer Kausalität in eine Welt zu verlegen, in der sich alle anderen außer dem gerade hinsichtlich der Kausalitätsfrage geprüften Täter normgemäß verhalten.51 Für die einschlägigen Fälle hätte dies zur Folge, dass jeder der beiden Täter sich nicht auf das normwidrige Verhalten des jeweils anderen zu seiner Entlastung berufen könnte. Joerden hält es zwar für richtig, dass in diesen Fällen dann, wenn der jeweils andere Täter sich normgemäß verhielte, nur der erste Täter als Verursacher des Erfolgs anzusehen wäre. Jedoch sei eben der zur Diskussion stehende Fall nicht so gewesen. Die ein anderes Ergebnis erzielende Fiktion normgemäßen Verhaltens der jeweils anderen Person überzeuge daher nicht. In der hier skizzierten Gestalt ist der fragliche Vorschlag in der Tat auch nicht tragfähig. Denn Kausalität, die Gegenstand der strafrechtlichen Zurechnung ist – dem Täter wird beim vollendeten Delikt die Verursachung des Erfolgs durch sein Verhalten zugeschrieben –, kann schwerlich fingiert werden. Dies wäre mit dem Schuldprinzip nicht zu vereinbaren. Vielmehr setzt der Vorschlag, um überhaupt plausibel sein zu können, in den Fällen der kausalen Überdetermination einen Ursachenzusammenhang zwischen dem jeweiligen Täterverhalten und dem Erfolg als gegeben voraus, etwa im Sinne der modifizierten condicio sine qua non-Formel oder der hinreichenden Erklärungsbedingung. Gleichwohl könnte sich bei gegebener Kausalität in diesem Sinne jeder der Täter darauf berufen, dass ihm der Erfolg nicht zugerechnet werden könne, weil er selbst dessen Eintritt wegen des normwidrigen Verhaltens des je anderen Täters hätte gar nicht vermeiden können. Diesem Argument könnte man wiederum entgegnen, dass es einem allgemeinen rechtlichen Zurechnungsprinzip52 entspreche, sich nicht zu seiner Entlastung (!) auf rechtswidriges Alternativverhalten berufen zu dürfen. Dieser Argumentation ist jedoch wiederum von vornherein der 51

Joerden zitiert als Vertreter eines solchen Ansatzes Timpe, JR 2017, 58 (67 f.). Dieses Prinzip liegt gerade der außerordentlichen Zurechnung zugrunde, vgl. Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“. Vorstudien zu einem dialogischen Modell strafrechtlicher Zurechnung, 1985, 268 (276 ff. und passim). 52

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Boden entzogen, wenn mit einer strengen condicio sine qua non- bzw. condicio per quam-Formel bereits der Ursachenzusammenhang verneint wird.53 Joerden regt schließlich an, das von den Fällen alternativer Kausalität aufgeworfene Wertungsproblem durch einen Rückgriff auf die Figur der außerordentlichen Zurechnung zu beheben. Hierbei solle die mangelnde Ursächlichkeit eines Verhaltens in den einschlägigen Fällen als Zurechnungsdefekt zu behandeln sein. Das heißt: Begibt sich der Täter – sei es vorsätzlich, sei es fahrlässig – in eine sich tatsächlich realisierende Situation alternativer Kausalität, so scheide zwar eine ordentliche Zurechnung des Erfolgs mangels Ursächlichkeit des eigenen Verhaltens aus. Es könne der Täter aber für den Erfolg im Wege außerordentlicher Zurechnung verantwortlich gemacht werden, weil er die Voraussetzungen des Defekts schuldhaft geschaffen habe. Nun widerspricht dieser Ansatz Joerdens eigener Prämisse, dass Kausalität nicht unter fiktiven Bedingungen konstruiert werden dürfe. Wenn ein Ursachenzusammenhang verneint wird, ist er eben nicht vorhanden und kann nicht wegen der Zuständigkeit für den Grund mangelnder Kausalität dennoch als faktisch gegeben betrachtet werden.54 Der Konstruktion liegt zudem ein Kategorienfehler zugrunde, weil die Erfolgsverursachung als verwirklichtes (objektives) Unrecht Gegenstand und nicht Kriterium der Zurechnung ist.55 Die Konstellationen der außerordentlichen Zurechnung betreffen Situationen, in denen sich der Täter nicht auf seine zum Zeitpunkt der Tat gegebene Unfähigkeit zur Vermeidung tatsächlich verwirklichten Unrechts berufen kann, weil er bei Einhaltung der von ihm als rechtstreuem Normadressaten erwarteten Sorgfalt aktuell vermeidefähig gewesen wäre. Beispielhaft hierfür sind die Zurechnungskriterien der 53 Irreführende Darstellung des Arguments bei Roxin/Greco (Fn. 11), § 11 Rn. 19a: mit der Begründung der Zurechenbarkeit werde Kausalität fingiert. Auf einem Missverständnis beruht auch Grosse-Wildes These ([Fn. 17], 169 mit Fn. 16), das Entlastungsverbot versage bei kumulativer Kausalität, weil niemand mehr kausal (?) sei, wenn zum Herbeifu¨ hren eines Erfolges mehrere Handlungen notwendig seien, aber der je andere als normtreu fingiert werde. Das hierzu angeführte Beispiel: „Wenn jemand aus Versehen einen anderen in einen Kanalschacht schubst, den ein Dritter verkehrswidrig offengelassen hat, brauchen wir beide Sorgfaltspflichtverletzungen, um eine hinreichende Bedingung fu¨ r das gebrochene Bein des Opfers zu erhalten“. Zum einen: condicio per quam ist hier das Schubsen; der offene Kanalschacht ist nur eine hierzu notwendige Rahmenbedingung. Zum anderen: Es geht bei der Problematik nicht um (evident gegebene) Kausalität, sondern um deren mangelnde normgemäße Vermeidbarkeit aufgrund der Sorgfaltswidrigkeit des je anderen. Dies ist hier wiederum nicht relevant, weil der Täter ex hypothesi das Schubsen bei Aufbietung erwarteter Sorgfalt hätte vermeiden können. 54 Noch weiter als Joerdens Vorschlag geht derjenige Hoyers, dem zufolge selbst demjenigen Akteur der Erfolg als verursacht zurechenbar sein soll, der nur das maßgebliche Erfolgsrisiko erhöht hat, für dessen Realisierung dann ein Dritter nur noch die de facto hierfür notwendige Bedingung setzt; vgl. FS Jakobs 175 (187 f.). – Auch insoweit gilt jedoch: Fakten lassen sich normativ eingrenzen, aber nicht normativ schaffen; Kausalität ist Gegenstand, nicht Produkt der Zurechnung. 55 Treffend Toepel (Fn. 5), 16 ff.

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Fahrlässigkeit, der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums oder die actio libera in causa. Bei der außerordentlichen Zurechnung geht es um eine normative Verweigerung der Entlastung eigener Verantwortung – der Täter wusste z. B. etwas nicht, kann sich aber auf dieses Defizit nicht berufen, weil er es bei hinreichender Sorgfalt hätte wissen können. Dagegen ist der Kausalzusammenhang zwischen Täterverhalten und Erfolg kein Kriterium der Vermeidbarkeit, sondern das durch normgemäßes Verhalten zu Vermeidende. Der Täter hat nicht Sorge dafür zu tragen, dass er nicht in eine Situation kommt, in der er einen Erfolg nicht verursacht, sondern er hat die Pflicht, das Verursachen eines Erfolgs erst gar nicht zu versuchen. Folgt man demnach Joerdens Prämissen konsequent, dann ist in den Fällen der alternativen Kausalität beim Erfolgsdelikt nur eine Bestrafung wegen Versuchs möglich, sofern die entsprechenden Voraussetzungen hierfür erfüllt sind.

Notizen zur strafrechtlichen Irrtumslehre Lothar Kuhlen

I. Einleitung Irrtümer beschäftigen die Rechtsprechung immer wieder, die strafrechtliche Irrtumslehre spielt in der Dogmatik wie in der Juristenausbildung seit langem eine wichtige Rolle. Dementsprechend wird sie in einer Vielzahl von Lehrbüchern und Kommentaren eingehend behandelt. Trotz mancher verbleibender Streitfragen hat sich dabei seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts ein gefestigter Bestand an Begriffen und Regeln herausgebildet. Es ist vorhersehbar, dass die Aneignung dieses Bestandes nicht allen Studenten gleichermaßen gelingt – gerade deswegen ist die strafrechtliche Irrtumslehre zu Recht als Prüfungsgegenstand beliebt. Demgegenüber darf man erwarten, dass diese Lehre in der strafrechtlichen Rechtsprechung und Literatur richtig verstanden und wiedergegeben wird. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Um diese These zu begründen, werde ich zunächst einige Aussagen der strafrechtlichen Irrtumslehre vorstellen, die ich zu deren gefestigtem Bestand rechne. 1. „Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“ (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB), unterliegt einem Deliktstatbestandsbzw. Deliktstatumstandsirrtum.1 Ein solcher Irrtum hat zur Folge, dass der Täter nicht vorsätzlich handelt (§ 16 Abs. 1. S. 1 StGB). Diese Rechtsfolge tritt ohne weiteres ein, also auch dann, wenn der Tatumstandsirrtum für den Täter vermeidbar war.2 „Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun“ (§ 17 S. 1 StGB), so handelt er in einem Verbotsirrtum.3 Dieser führt 1 Die Alternative ist rein terminologischer Art. In der Folge werde ich vom „Deliktstatumstandsirrtum“ ausgehen und ihn zumeist, wie üblich, abkürzend als „Tatumstandsirrtum“ bezeichnen. 2 Ich rechne diese Aussage zum gefestigten Bestand der strafrechtlichen Irrtumsregeln, obwohl sie de lege ferenda seit einiger Zeit kritisiert wird (dazu jüngst Ragués, GA 2021, 1 ff. mit weiteren Hinweisen). De lege lata halte ich diese Kritik wegen des durch § 16 Abs. 1 S. 1 StGB festgeschriebenen Kenntnisprinzips nicht für vertretbar; so bereits Kuhlen, in: Mellinghoff (Hrsg.), Steuerstrafrecht an der Schnittstelle zum Steuerrecht, 2015, 117 (136 ff.). 3 Beruht dieser auf einem Irrtum über die Verbotsnorm, bezeichnet man ihn als direkten, beruht er auf einem Irrtum über eine Erlaubnisnorm, als indirekten Verbotsirrtum oder Erlaubnisirrtum. Vgl. etwa Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 51. Aufl. 2021, Rn. 728, 760.

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zur Rechtsfolge des Schuldausschlusses nur, wenn er unvermeidbar war (§ 17 S. 1 StGB), der vermeidbare Verbotsirrtum ermöglicht lediglich eine Strafmilderung (§ 17 S. 2 StGB). Wegen dieses Unterschieds ist die gesetzliche Regelung des Verbotsirrtums strenger als die des Tatumstandsirrtums. 2. Oft wird ein Tatumstandsirrtum mit einem Verbotsirrtum zusammentreffen. Wer beispielsweise aufgrund einer Verwechslung eine fremde Sache für die eigene hält, handelt bei deren Wegnahme oder Zerstörung nicht nur in einem Tatumstands-, sondern auch in einem Verbotsirrtum, wenn er (was naheliegt) annimmt, eigene Sachen wegnehmen und zerstören zu dürfen. Dass ein Tatumstandsirrtum von einem Verbotsirrtum begleitet wird, ändert nichts daran, dass er gem. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB ohne Weiteres den Vorsatz ausschließt. 3. Nicht jeder Irrtum über die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens ist ein Tatumstandsirrtum. Betrifft er lediglich die Auslegung des Straftatbestandes, handelt es sich vielmehr um einen bloßen Subsumtionsirrtum, der den Vorsatz bestehen lässt. Allenfalls kann er zu einem Verbotsirrtum (und damit zur Anwendung von § 17 StGB) führen. Das ist jedoch nicht zwingend, der Subsumtionsirrtum als solcher ist also unbeachtlich. Wer beispielsweise vorsätzlich einen fremden Hund vergiftet, wohl wissend, dass er anderen gehörende Gegenstände nicht zerstören darf, aber im Glauben, ein Hund sei als Tier keine Sache, begeht trotz seines Subsumtionsirrtums eine vorsätzliche Sachbeschädigung und handelt nicht in einem Verbotsirrtum.4 4. Der Tatbestandsvorsatz erfordert jedenfalls bezüglich normativer Tatbestandsmerkmale eine über die Kenntnis der Tatsachen hinausgehende Parallelwertung in der Laiensphäre. Um vorsätzlich zu handeln, muss der Täter also zwar nicht die juristische Beurteilung seines Verhaltens, wohl aber dessen soziale Bedeutung kennen.5 Dieses Erfordernis wirkt sich auf das Verständnis des Subsumtionsirrtums aus. In einem solchen Irrtum handelt nur, „wer sich trotz Bedeutungskenntnis falsche Vorstellungen von der Einordnung seines Verhaltens unter den objektiven Tatbestand einer Strafnorm macht“6, denn nur dann betrifft der Irrtum lediglich die Auslegung des Straftatbestandes. 5. Die irrige Annahme einer rechtfertigenden Sachlage bezeichnet man als Erlaubnisumstands- bzw. Erlaubnistatbestandsirrtum.7 Nach überwiegender Auffassung schließt dieser Irrtum den Vorsatz oder doch die Vorsatzstrafbarkeit aus. Diese Rechtsauffassung ist nach wie vor umstritten. Einigkeit besteht dagegen über das Verständnis des Begriffs. In einem Erlaubnisumstandsirrtum handelt, wer irr4 Zu diesem und anderen Beispielen Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Aufl. 2020, § 12 Rn. 102. 5 Zum verbreiteten Verständnis der Parallelwertung als Kenntnis der sozialen Bedeutung vgl. etwa Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2021, § 15 Rn. 4. 6 So die Formulierung bei Rengier (Fn. 5), § 15 Rn. 4. 7 Welche der beiden Bezeichnungen man wählt, ist wiederum eine rein terminologische Frage.

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tümlich Umstände annimmt, „bei deren Vorliegen sein Verhalten von einem Rechtfertigungsgrund gedeckt wäre“.8 6. Dass ein Erlaubnisumstandsirrtum von einem Verbotsirrtum begleitet wird, ändert nichts an seiner Rechtsfolge. Nach der überwiegenden Auffassung schließt er also ohne weiteres den Vorsatz oder die Vorsatzstrafbarkeit aus, auf seine Vermeidbarkeit kommt es dafür ebenso wenig an wie auf die eines Deliktstatumstandsirrtums. Diese sechs (komplexen) Aussagen mögen mit Blick auf die strafrechtliche Irrtumslehre des heutigen deutschen Rechts als trivial erscheinen, und m. E. sind sie das auch. Das heißt aber nicht, dass sie in Rechtsprechung und Literatur durchgängig respektiert würden.

II. Der Pseudo-Doppelirrtum Wer irrig annimmt, er befinde sich in einer Notwehrlage, und bei der Verteidigung gegen den vermeintlichen Angriff die Grenzen des Erforderlichen oder Gebotenen überschreitet, was er wegen rechtsirriger Bestimmung dieser Grenzen nicht erkennt, handelt nach verbreiteter Auffassung in einem Doppelirrtum. Im Ergebnis ist unstrittig, dass dieser Irrtum nach § 17 StGB zu behandeln ist. Ob man ihn als Doppelirrtum bezeichnen sollte, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit.9 Eindeutig falsch ist dagegen die Ansicht, hier treffe ein Erlaubnisumstandsirrtum mit einem Erlaubnisirrtum zusammen, die in der Literatur des Öfteren zu finden ist.10 So spricht Heuchemer von einem Doppelirrtum, der auf der „Kombination eines Erlaubnistatbestandsirrtums mit einem Erlaubnisirrtum“ beruhe, wenn etwa ein „Täter die tatsächlichen Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstandes (§ 34) annimmt, bei seiner Notstandshandlung aber ohne Unrechtsbewusstsein auch die Grenzen überschreitet, die ihm bei einer wirklich gegebenen Notstandslage zukämen“.11 Das verkennt den allgemein akzeptierten Begriff des Erlaubnisumstandsirrtums (Aussage 5), der voraussetzt, dass der Täter von Annahmen ausgeht, die alle Voraus8

So die Formulierung bei Murmann, Grundkurs Strafrecht, 7. Aufl. 2022, § 25 Rn. 12. M. E. ist sie zu verneinen, es handelt sich um einen bloßen Pseudo-Doppelirrtum: Kuhlen, FS Paeffgen, 2015, 247 (253 f.); dagegen C. Wolf, ZIS 2019, 418 (421 f.). Für die gänzliche Verabschiedung des Begriffs „Doppelirrtum“ Gropp, ZIS 2016, 601 ff. 10 Dazu mit Belegen Kuhlen, FS Paeffgen, 252 f. (die dort in Fn. 43 angeführten Aussagen von Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 44. Aufl. 2014, Rn. 485, und Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 17 Rn. 11, sind in neueren Auflagen beider Werke geändert; vgl. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 3), Rn. 767; Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, 30. Aufl. 2019, § 17 Rn. 11); C. Wolf, ZIS 2019, 422. 11 Heuchemer, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), BeckOK-StGB, 55. Edition, Stand 1. 11. 2022, § 17 Rn. 23 (die zitierte Formulierung ist schief, gemeint ist wohl nicht, dass dem Täter bei wirklich gegebener Notstandslage „Grenzen zukämen“, sondern dass er die Grenzen dessen überschreitet, was ihm bei einer wirklich gegebenen Notstandslage zukäme). 9

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setzungen eines Rechtfertigungsgrundes erfüllen.12 Die irrige Annahme einer Notwehr- oder Notstandslage allein ist also noch kein Erlaubnisumstandsirrtum, hinzutreten muss vielmehr die Annahme einer Situation, in der die Tat als Notwehr- oder Notstandshandlung zulässig wäre. Auf diesen sehr schlichten Fehler ist, da er „sich in der Literatur in bedenklicher Häufung“ findet,13 in den letzten Jahren mehrfach deutlich hingewiesen worden,14 unter anderem auch im gleichen Kommentar, in dem sich die hier kritisierte Aussage findet.15 Dass er in einer Entscheidung des BGH (aus dem Jahr 1952) ebenfalls begegnet,16 macht die Sache nicht besser. Es gibt auch keinen vernünftigen Grund, die fachsprachliche Verwendung des Begriffs „Erlaubnisumstandsirrtum“ so zu ändern, dass für einen solchen Irrtum schon die Annahme einer Rechtfertigungslage genügt. Denn dieser Begriff dient als Grundlage für die kontroverse Diskussion verschiedener Rechtsfolgen dieses Irrtums und diese Funktion kann er nur erfüllen, wenn seine Anwendung voraussetzt, dass „das Verhalten des Täters, wäre die von ihm irrig angenommene Sachlage wirklich gegeben, gerechtfertigt wäre“.17 Ein weiterer Fehler kommt hinzu, wenn das unstrittige Ergebnis (Anwendung von § 17 StGB) darauf gestützt wird, in Fällen des Pseudo-Doppelirrtums bestehe ein Vorrang des Erlaubnisirrtums gegenüber dem Erlaubnisumstandsirrtum.18 Denn wenn wirklich ein Erlaubnisirrtum, also ein indirekter Verbotsirrtum, mit einem Erlaubnisumstandsirrtum zusammentrifft, hat letzterer den Vorrang, nach h. M. ist also – ebenso wie beim Zusammentreffen von Tatumstandsirrtum und Verbotsirrtum (Aussage 2) – der Vorsatz oder doch die Vorsatzstrafbarkeit ohne weiteres ausgeschlossen (Aussage 6).

III. Der übersehene Tatumstandsirrtum Die unzutreffende Auffassung, ein Verbotsirrtum gehe einem Tatumstands- oder Erlaubnisumstandsirrtum vor, wird nur selten explizit formuliert. Häufiger kommt es vor, dass die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums geprüft wird, weil der Tatum-

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Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2011, § 9 Rn. 158. So C. Wolf, ZIS 2019, 422. 14 Kuhlen, FS Paeffgen, 252 ff.; C. Wolf, ZIS 2019, 422. 15 Kudlich, BeckOK-StGB, § 16 Rn. 26. Heuchemer, BeckOK-StGB, § 17 Rn. 23, geht auf diese Kritik nicht ein und glaubt sogar, das von ihm fälschlich angenommene Zusammentreffen eines Erlaubnistatbestandsirrtums mit einem Erlaubnisirrtum spreche für die strenge Schuldtheorie. 16 BGHSt 3, 105 (108). Dazu Kuhlen, FS Paeffgen, 253. 17 Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 12), § 9 Rn. 158. 18 So Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2022, Rn. 1148. Kritisch zu dieser These bereits Kuhlen, FS Paeffgen, 252 ff. 13

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standsirrtum, den der Verbotsirrtum begleitet, übersehen wurde.19 Dafür seien an dieser Stelle zwei aktuelle Beispiele genannt, die den Vorsatz zu einer Bestechung (§ 334 StGB) betreffen. Das AG Tübingen verurteilte 2021 eine Zahnärztin wegen Bestechung, weil sie einem Professor Geld für die Betreuung ihrer Dissertation gezahlt hatte. Dieser hatte die Übernahme der Betreuung von der Zahlung abhängig gemacht, die ihm als Entschädigung dafür gewährt werden solle, dass er in seiner Freizeit das Dissertationsvorhaben betreue. Im Urteil des AG heißt es hierzu: „Selbst wenn die Angeklagte – wovon das Gericht nicht ausgeht – angenommen hätte, dass es sich bei der auf ihre Doktorarbeit bezogenen Tätigkeit des Professors um eine genehmigte oder genehmigungsfähige Nebentätigkeit gehandelt hätte, wie z. B. sonstige Dozententätigkeiten, läge allenfalls ein vermeidbarer Verbotsirrtum vor (vgl. BeckOK StGB/ Heintschel-Heinegg StGB § 334 Rn. 5).“20 Wäre die Zahnärztin wirklich von der genannten Annahme ausgegangen, hätte sie jedoch verkannt, dass sie für eine dienstliche Tätigkeit ihres Doktorvaters bezahlte. Sie hätte also in einem ohne weiteres vorsatzausschließenden Tatumstandsirrtum über die Diensthandlung (als objektives Tatbestandsmerkmal der Bestechung) gehandelt. Auf die Vermeidbarkeit eines diesen Irrtum begleitenden Verbotsirrtums kam es dann für die Anwendung von § 334 StGB nicht an.21 Ebenfalls im Jahr 2021 hob der BGH den Freispruch eines wegen Bestechung angeklagten Buchhändlers durch das LG Erfurt auf.22 Dieser hatte Schulen bzw. Schulfördervereinen als Gegenleistung für die Bestellung von Schulbüchern Geld gezahlt. Das entsprach einer verbreiteten Praxis. Deren Bewertung als (von den jeweiligen Buchhändlern begangene) Bestechung bzw. (von den jeweiligen Schulleitern begangene) Bestechlichkeit löste, als sie vom ermittelnden Staatsanwalt einer Versammlung von etwa 150 Schulleitern vorgetragen wurde, „großes Erstaunen bei den anwesenden Schulleitern aus, die sich bis dahin keiner Schuld bewusst waren“.23 Das LG Erfurt sprach den Angeklagten frei, weil er in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt habe. Der BGH hob das Urteil auf, weil das LG zu Unrecht die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums angenommen habe. Nun war allerdings die Annahme des Buchhändlers, seine Geldzuwendungen seien rechtmäßig, untrennbar mit der verbunden, auch die Vereinbarung und Annahme dieser Zuwendungen durch die beteiligten Schulleiter sei rechtmäßig, womit der 19 Daneben begegnet (in einem Urteil des AG Hamburg aus dem Jahr 2008) die Annahme, eine Angeklagte habe ohne Steuerhinterziehungsvorsatz gehandelt (womit eine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung ausscheidet) und sei wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums straflos; dazu Kuhlen (Fn. 2), 135 Fn. 92. 20 AG Tübingen, Urt. v. 14. 7. 2021 – 12 Cs 11 Js 12344/20, 8. 21 Aus der in dem zitierten Satz angezogenen Stelle im BeckOK-StGB ergibt sich nichts anderes. 22 BGH StV 2021, 701 mit Anm. T. Zimmermann = BGH NStZ 2022, 30 mit Anm. Becker. 23 BGH StV 2021, 701 Rn. 5.

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für § 334 StGB erforderliche Vorsatz bezüglich der Pflichtwidrigkeit der Diensthandlung fehlte. T. Zimmermann schreibt deshalb zutreffend: „Die Krux der Entscheidung besteht darin, dass der BGH, indem er sich auf § 17 S. 2 StGB kapriziert, einem Roten Hering hinterherjagt. Tatsächlich handelt es sich bei dem festgestellten Unrechtsbewusstseinsmangel lediglich um einen akzessorischen Verbotsirrtum im Gefolge eines Tatumstandsirrtums, für dessen Rechtsfolge es auf § 17 StGB gar nicht ankommt.“24

IV. Subsumtionsirrtum In einer Rezension habe ich gegen die Behauptung, bei einem Irrtum über die Amtsträgereigenschaft, der den Vorsatz zur Begehung eines Amtsdelikts bestehen lässt, komme „allenfalls ein schuldausschließender Subsumtionsirrtum gem. § 17 StGB in Betracht“, eingewendet, diese Aussage verkenne den „Unterschied zwischen Subsumtions- und Verbotsirrtum“.25 Tatsächlich enthält sie zwei Fehler. Ein Irrtum über die Amtsträgereigenschaft, der den Vorsatz zu einem Amtsdelikt nicht ausschließt, ist ein als solcher unbeachtlicher Subsumtionsirrtum. Da dieser zu einem Verbotsirrtum (und damit zur Anwendung von § 17 StGB) führen kann, aber nicht muss (Aussage 3), gibt es keinen „Subsumtionsirrtum gem. § 17 StGB“. Nur dieser Fehler wird in der Rezension beanstandet.26 Hörnle hat dieser Kritik entgegnet, die Einordnung des Irrtums über die Amtsträgerschaft „als entweder Subsumtions- oder anderen Verbotsirrtum (…) [sei] kompliziert“, die kritisierte Behauptung zeige nicht, „dass die Verfasserin den Unterschied von Subsumtions- und Verbotsirrtum als solchen nicht kenne“.27 Diese Entgegnung verkennt ebenfalls das begriffliche Verhältnis zwischen Subsumtions- und Verbotsirrtum, ist also ihrerseits fehlerhaft, da sie den Subsumtionsirrtum von einem „anderen Verbotsirrtum“ unterscheidet, ihn also als eine Art des Verbotsirrtums betrachtet. Demgegenüber ist nach der hier in Aussage 3 wiedergegebenen Lehre der Subsumtionsirrtum vom Verbotsirrtum begrifflich unabhängig, da er nicht zu einem Verbotsirrtum führen muss.28 24

T. Zimmermann, StV 2021, 704. Kuhlen, ZIS 2020, 327 (330). 26 Der zweite, ebenfalls offenkundige, Fehler besteht darin, dass selbst bei einem Verbotsirrtum nicht nur ein unvermeidbarer und damit schuldausschließender, sondern auch ein vermeidbarer Irrtum in Betracht kommt, der die Schuld bestehen lässt. 27 Hörnle, ZIS 2020, 468 (469 Fn. 2). Vgl. dazu bereits Kuhlen, ZIS 2020, 488 (494 f.). 28 Diese Lehre ist so fest eingebürgert, dass sie in Lehrbüchern und Kommentaren meist ohne Nennung abweichender Ansichten vorgetragen wird (und vorgetragen werden kann), so etwa bei Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 2020, 11/33; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2022, Rn. 419; Rengier (Fn. 5), § 15 Rn. 4 ff.; Roxin/ Greco (Fn. 4), § 12 Rn. 101 f.; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 12), § 8 Rn. 72 f.; Wessels/Beulke/ Satzger (Fn. 3), Rn. 360; Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 16 Rn. 13; S/S-Sternberg-Lieben/ Schuster, StGB, § 15 Rn. 43 f.; Vogel/Bülte, in: Cirener et al. (Hrsg.), LK-StGB, 13. Aufl. 25

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Wie schon beim Pseudo-Doppelirrtum29 kann man sich für die hier abgelehnte Auffassung möglicherweise auf die Rechtsprechung berufen. So wird in einer älteren Entscheidung des BGH zum Irrtum über den Interessengegensatz beim Parteiverrat ein Subsumtionsirrtum als „Fall des Verbotsirrtums“ bezeichnet.30 Und in einem neueren Urteil führt der BGH aus, die irrige Annahme des Täters, die von ihm betriebenen Bankgeschäfte seien nicht erlaubnispflichtig, stelle sich „als bloßer Subsumtions- und damit als – vermeidbarer – Verbotsirrtum i. S. d. § 17 StGB dar“.31 M. E. ist es plausibel, derartige Formulierungen lediglich auf die konkreten Irrtümer zu beziehen, um die es in den jeweiligen Entscheidungen ging. Denn dass ein Subsumtionsirrtum über den Interessengegensatz beim Parteiverrat oder über die Erlaubnispflicht bei Bankgeschäften zu einem Verbotsirrtum führt, ist32 so naheliegend, dass die zitierten Wendungen, die diesen Weg durch die Nichterwähnung der Möglichkeit eines bloßen Subsumtionsirrtums abkürzen, nicht als fehlerhaft,33 sondern lediglich als missverständlich erscheinen.34 Für diese Interpretation spricht auch, dass der BGH in anderen Entscheidungen das begriffliche Verhältnis von Subsumtions- und Verbotsirrtum zutreffend charakterisiert.35 2020, § 16 Rn. 108 f. Hinweis auf vereinzelt vertretene andere Auffassungen, darunter auch die, der Subsumtionsirrtum sei eine Art des Verbotsirrtums, noch bei Eser/Burkhardt, Strafrecht I, 4. Aufl. 1992, 16/12 ff. 29 Vgl. Fn. 16. 30 BGHSt 7, 17 (23). Ähnlich qualifiziert BGHSt 9, 341 (347) einen Irrtum über den Begriff des entgegengesetzten Interesses als „reinen Subsumtionsirrtum“ und fährt fort: „Ein solcher Irrtum ist kein Tatbestandsirrtum, sondern ein Verbotsirrtum.“ 31 BGH NStZ 2020, 167. Zumindest irreführend ist es auch, wenn OLG Stuttgart NZWiSt 2014, 301 (303) ausführt, der dort angenommene Subsumtionsirrtum sei „wie ein Verbotsirrtum (…) zu behandeln“, und sich (im amtlichen Leitsatz) zur „Feststellung der Unvermeidbarkeit eines Subsumtionsirrtums“ äußert. 32 Anders als bei einem Subsumtionsirrtum über die Amtsträgereigenschaft. Auch dort kommt zwar ein (oft vermeidbarer) Verbotsirrtum in Frage (Kuhlen, in: Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen [Hrsg.], NK-StGB, 5. Aufl. 2017, § 331 Rn. 117), nicht weniger nahe liegt aber ein reiner Subsumtionsirrtum. Dass beispielsweise der Geschäftsführer einer GmbH, die als verlängerter Arm des Staates agiert, aufgrund fehlerhafter Subsumtion über seine Amtsträgerstellung irrt, wird schwerlich zu einem Verbotsirrtum über die Annahme von Schmiergeldern führen. 33 Weil das begriffliche Verhältnis zwischen Subsumtions- und Verbotsirrtum verkennend. 34 Es ist deshalb durchaus vertretbar, dass etwa Vogel/Bülte, LK-StGB, § 16 Rn. 109 Fn. 316, die Urteile BGHSt 7, 17 (23) und BGHSt 9, 341 (347) neben anderen Entscheidungen ohne weiteres als Bestätigung der hier durch Annahme 3) explizierten Standardauffassung anführen und nicht mehr (wie noch Eser/Burkhardt [Fn. 28], 16/14 ff.) als ernsthaft vertretene abweichende Rechtsauffassung. 35 So heißt es bei BGH NStZ 2010, 337, ein bestimmter Irrtum (über die Arbeitgebereigenschaft) „würde vorliegend einen den Vorsatz des Angekl. nicht berührenden Subsumtionsirrtum darstellen, der allenfalls geeignet wäre, einen (…) Verbotsirrtum zu begründen.“ Und BGH NZWiSt 2018, 345 Rn. 13 formuliert ebenfalls korrekt, nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH zu § 266a StGB unterliege bei Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse der Täter, „wenn er glaubt, nicht Arbeitgeber zu sein oder für die Abführung der Beiträge

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Freilich könnte man die erörterten Entscheidungen auch so interpretieren, dass der BGH dort – entgegen der heutigen Standardauffassung – ernsthaft die Auffassung vertritt, Subsumtionsirrtümer seien immer Verbotsirrtümer. Das ist fernliegend, da die Entscheidungsgründe keinen Anhaltspunkt dafür enthalten, dass das Gericht bewusst vom etablierten fachsprachlichen Gebrauch der Begriffe „Subsumtionsirrtum“ und „Verbotsirrtum“ abweichen wollte. Vor allem aber wäre es wiederum36 zwar möglich, jedoch in hohem Grade unzweckmäßig, dieses Begriffsverständnis zu ändern und den Subsumtionsirrtum als Teilklasse des Verbotsirrtums aufzufassen. Denn das gängige Verständnis des Subsumtionsirrtums als vom Verbotsirrtum begrifflich unabhängige Irrtumsart führt dazu, dass „sich die Fehlvorstellungen über die Tatbestandsmäßigkeit erschöpfend in zwei Klassen aufteilen [lassen]: den vorsatzausschließenden Tatumstandsirrtum und den vorsatzirrelevanten Subsumtionsirrtum“.37 Versteht man dagegen den Subsumtionsirrtum als eine Art des Verbotsirrtums, so erfasst er nur noch den Fall, dass der Täter zwar vorsätzlich handelt, aber infolge falscher Auslegung des gesetzlichen Tatbestandes sein Verhalten für nicht rechtswidrig hält.38 Folglich müsste man – wie etwa der Fall der Hundevergiftung zeigt39 – neben dem Tatumstands- und dem Subsumtionsirrtum eine dritte Art der Fehlvorstellungen über die Tatbestandsmäßigkeit vorsehen (und mit einem neuen Terminus benennen). Das mag vielleicht als interessantes, weil „innovatives“ Dissertationsvorhaben erscheinen, würde aber zu einer sachlich unergiebigen und deshalb jedenfalls abzulehnenden Komplizierung der strafrechtlichen Irrtumslehre führen.

V. Parallelwertung in der Laiensphäre Die Lehre vom Subsumtionsirrtum hängt eng mit dem Vorsatzerfordernis einer zutreffenden Parallelwertung in der Laiensphäre zusammen.40 Wenn der Vorsatz schon nicht voraussetzt, dass der Täter sein Verhalten korrekt unter den Straftatbestand subsumiert, so doch immerhin, dass er es der juristischen Subsumtion entsprechend laienhaft beurteilt bzw. seine soziale Bedeutung erkennt. Ob man die Parallelwertungslehre überhaupt benötigt und wie das Erfordernis der parallelen Beurteilung einer Tat bzw. der Kenntnis ihrer sozialen Bedeutung zu verstehen ist, ist ebenso umstritten wie die Frage, ob diese Lehre nur für normative Tatbestandsmerkmale gilt und wie diese von anderen abzugrenzen sind.41 Der mit einem 1952 ergangenen UrSorge tragen zu müssen, keinem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum, sondern (allenfalls) einem – in der Regel vermeidbaren – Verbotsirrtum“. 36 Vgl. bereits den Text bei Fn. 16. 37 Eser/Burkhardt (Fn. 28), 16/16. 38 Eser/Burkhardt (Fn. 28), 16/14. 39 Vgl. oben Aussage 3. 40 Vgl. dazu Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum, 1987, 182 ff., 204 ff. mit weiteren Hinweisen. 41 Eingehend dazu Puppe, NK-StGB, § 16 Rn. 41 ff.

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teil des BGH42 einsetzende „rasche, vollständige und nachhaltige Siegeszug“43 der Parallelwertungslehre ist durch all das nicht verhindert worden. Dass nach h. M. jedenfalls der Vorsatz bezüglich normativer Tatbestandsmerkmale eine zutreffende Parallelwertung des Täters voraussetzt, zählt deshalb zum gefestigten Bestand der heutigen strafrechtlichen Irrtumslehre, und dies unabhängig davon, ob man diese Meinung teilt oder nicht. Bemerkenswert ist deshalb eine 2013 ergangene Entscheidung des AG Köln, in der es um den Vorwurf einer Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) ging.44 Der Angeklagte hatte in mehreren Steuererklärungen ersparte Aufwendungen nicht angegeben, was nach Auffassung des Gerichts den objektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllte. Den Vorsatz bejahte das AG, obwohl der Angeklagte angenommen hatte, die ersparten Aufwendungen seien „nicht zu versteuern“ gewesen.45 Das schließt nach herrschender Auffassung den Vorsatz zur Steuerverkürzung aus, weil dieser Kenntnis des verkürzten Steueranspruchs voraussetzt. Begründet wird diese sogenannte Steueranspruchstheorie heute meist damit, dass die Steuerverkürzung als Taterfolg der Steuerhinterziehung ein normatives Tatbestandsmerkmal ist, dessen vorsätzliche Verwirklichung Kenntnis des verkürzten Steueranspruchs verlangt.46 Auch das AG Köln geht davon aus, die Verkürzung des Steueranspruchs sei ein normatives Tatbestandsmerkmal, folgert daraus jedoch, für den Vorsatz komme es nicht darauf an, ob der Täter „eine rechtskonforme Wertung vornimmt“, entscheidend sei vielmehr, ob er „die richtige Parallelwertung in seiner Laiensphäre vornehmen kann“.47 Da dem Angeklagten nach Auffassung des Gerichts diese Wertung möglich war, habe er vorsätzlich (und lediglich in einem vermeidbaren Verbotsirrtum) gehandelt.48 In einer Besprechung ist dieses Urteil mit Respekt aufgenommen worden. Ihr Verfasser begrüßt, dass es der Steueranspruchstheorie widerspricht, weil diese nicht mit „den allgemeinen strafrechtlichen Irrtumsgrundsätzen für normative Tatbestandsmerkmale“ übereinstimme.49 Dabei wird übersehen, dass die Parallelwertungslehre nach einhelliger Auffassung ihrer Anhänger wie ihrer Kritiker für den Vorsatz eine wirkliche und nicht nur eine mögliche zutreffende Parallelwertung fordert (Aussa42

BGHSt 3, 248 (254 f.). So die Formulierung von Puppe, NK-StGB, § 16 Rn. 50. 44 AG Köln ZWH 2013, 371 mit Anm. Roth; Wedler, NZWiSt 2015, 99 ff. 45 AG Köln ZWH 2013, 371 Rn. 44. 46 Zu dieser Auffassung Kuhlen (Fn. 2), 118 ff.; Schmitz/Wulf, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MK-StGB, 3. Aufl. 2019, § 370 AO Rn. 397; ablehnend C. Wolf, Error facti et error iuris, 2019, 334 ff.; jeweils mit weiteren Hinweisen. 47 AG Köln ZWH 2013, 371 Rn. 44. 48 AG Köln ZWH 2013, 371 Rn. 45 f. 49 So Roth, ZWH 2013, 373, wo das Urteil als „Rechtsprechungsänderung hin zur allgemeinen Verbotsirrtumslehre“ gewürdigt wird. 43

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ge 4).50 Nicht die Steueranspruchstheorie, sondern das erörterte Urteil widerspricht deshalb den genannten Irrtumsgrundsätzen. Dass die „dogmatisch etwas wirre Entscheidung des AG Köln“51 dies verkennt, ist ein klarer Fehler, der dazu führt, dass die Grenze vom Vorsatz zur Fahrlässigkeit überschritten wird.52

VI. Übertragbarkeit der Anforderungen der Unvermeidbarkeit auf den Tatbestandsirrtum?53 1. Die Überschrift dieses Abschnitts ist einem Aufsatz mit dem Titel „Cum/ExGeschäfte – kommen Strafrechtsdogmatik und Strafrechtspraxis an ihre Grenzen?“ entnommen.54 Dort wird es als „zum Teil“ vertretene Auffassung bezeichnet, dass die „von der Rspr. entwickelten Anforderungen an die Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtum, namentlich die Verlässlichkeit des Gutachters und der Auskunft selbst, auf den Tatbestandsirrtum übertragbar sind“.55 Knigge und Wittig, denen diese Übertragbarkeitsthese zugeschrieben wird, konstatieren, dass „anwaltliche Beratung und Rechtsgutachten (…) vor allem im Zusammenhang mit dem Verbotsirrtum nach § 17 StGB eine bedeutende Rolle [spielen]“ und dort zur Unvermeidbarkeit des Irrtums führen können.56 Bei einem Irrtum über den verkürzten Steueranspruch gehe es nach der Steueranspruchstheorie zwar um einen Tatbestandsirrtum.57 „Da es sich bei der Frage der steuerrechtlichen Zulässigkeit um eine sog. Rechtstatsache handelt, ist jedoch auch hier die Heranziehung von Rechtsrat notwendig, um die Grenze zum Eventualvorsatz nicht zu überschreiten. Jemand, der meint, eine bestimmte steuerrecht50 Ein weiterer Fehler der zitierten Aussage besteht darin, dass die Steueranspruchstheorie allenfalls (wie in der Literatur gelegentlich behauptet wurde) gegen die von der h. M. anerkannten strafrechtlichen Irrtumsgrundsätze verstoßen könnte, die für Blankettmerkmale – und gerade nicht für normative Merkmale – gelten. Dazu Kuhlen (Fn. 2), 135, mit Hinweis (in Fn. 92) darauf, dass die immerhin seit Beginn der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts herrschende Lehre vom Irrtum über Blankettmerkmale auch in Entscheidungen hoher deutscher Gerichte falsch verstanden wird. 51 So Roxin/Greco (Fn. 4), § 12 Rn. 107 Fn. 406. 52 Kuhlen (Fn. 2), 135; zustimmend Wedler, NZWiSt 2015, 101; Roger, StraFo 2016, 497 (498 f.). 53 Der folgende Abschnitt enthält Teile eines Aufsatzes, der unter dem gleichen Titel in wistra 2022, 45 erschienen ist. Für eine ausführlichere Diskussion, die auch die neuere Entwicklung der Lehre vom Vorsatz bei der Steuerhinterziehung berücksichtigt, sei auf diesen Beitrag verwiesen. 54 Knauer/Schomburg, NStZ 2019, 305 (314). 55 So Knauer/Schomburg, NStZ 2019, 314 unter Hinweis auf Knigge/Wittig, ZWH 2019, 69, wo u. a. die „strafrechtlichen Dimensionen von Cum/Ex- und Cum/Cum-Geschäften“ erörtert werden. 56 Knigge/Wittig, ZWH 2019, 69 (78). 57 Knigge/Wittig, ZWH 2019, 77 f.

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liche Auffassung sei rechtlich zutreffend, nimmt es zumindest billigend in Kauf, dass dies nicht zutrifft und eine Steuerverkürzung eintritt. Die Maßstäbe bleiben dabei im Wesentlichen die gleichen, so dass die zum Verbotsirrtum ergangene Literatur [sic!] fruchtbar gemacht werden kann.“58

Bei Knauer und Schomburg heißt es zunächst: „Wenn ein ,für möglich halten‘ der Steuerverkürzung demnach für die Annahme eines bedingten Vorsatzes genügt, bedeutet dies im Ergebnis, dass für [sic!] die Anforderungen an den unrechtsverneinenden Aussagegehalt eines Gutachtens auch bei der Beurteilung eines Tatbestandsirrtums keinen wesentlich anderen Anforderungen, als denen des Verbotsirrtums gem. § 17 StGB unterstellt werden dürfen.“59 Zur von Knigge und Wittig vertretenen Ansicht schreiben die Verfasser sodann: „Der vorgenannten Auffassung – Übertragbarkeit der Anforderungen an die Unvermeidbarkeit eines (Verbots-)Irrtums auch auf den Tatbestandsirrtum gem. § 16 StGB – ist insoweit zuzustimmen, als ein Tatbestandsirrtum jedenfalls dann vorliegt, wenn auch die (strengen) Voraussetzungen der Unvermeidbarkeit vorliegen.“60 Sie treten offenbar auch der Auffassung bei, „bedingter Vorsatz hinsichtlich der Rechtswidrigkeit“ sei gegeben, wenn trotz „unklare[r] Rechtslage“61 kein Rechtsrat eingeholt wurde, „denn andernfalls würde derjenige, der Rechtsrat einholt, schlechter stehen als derjenige, der dies von vornherein unterlässt, um nicht auf rechtliche Risiken aufmerksam gemacht zu werden“.62 Des Weiteren sei „in Anlehnung an die Kriterien zur Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums“ davon auszugehen, „dass ein ,für möglich halten‘ nur durch ein objektives Gutachten einer zuverlässigen Auskunftsperson ausgeschlossen wird“, bei einem diesen Anforderungen nicht genügenden Rechtsrat könne „bedingter Vorsatz weiterhin angenommen werden“.63 2. Diese Ausführungen sind an dieser Stelle nicht im Einzelnen zu kritisieren.64 Der hier interessierende strukturelle Fehler, den sie enthalten, liegt auf der Hand. 58

So Knigge/Wittig, ZWH 2019, 78. Knauer/Schomburg, NStZ 2019, 314. 60 Knauer/Schomburg, ZWH 2019, 314. 61 So die Formulierung bei Knigge/Wittig, ZWH 2019, 77. 62 Knauer/Schomburg, NStZ 2019, 314. Die Einschränkung („offenbar“) ist nötig, weil die Autoren ihre Zustimmung zur entsprechenden Ansicht von Knigge und Wittig folgendermaßen formulieren: „Es überzeugt auch, soweit klargestellt wird, dass bedingter Vorsatz hinsichtlich der Rechtswidrigkeit angenommen wird, wenn der Handelnde ,eine ihn ›belastende‹ außerstrafrechtliche Rechtslage als ernsthaft möglich erkennt und bei seiner Handlung billigend in Kauf nimmt, ohne z. B. zumutbare ›Verhinderungsmaßnahmen‹ getroffen zu haben‘“. Unter den in der zitierten Äußerung genannten Voraussetzungen (ernsthafte Möglichkeitserkenntnis und billigendes In-Kauf-Nehmen der Tatbestandsverwirklichung) ist der bedingte Vorsatz gegeben, ohne dass es auf das Einholen von Rechtsrat oder andere Verhinderungsmaßnahmen ankäme, so dass die bloße Zustimmung zur Vorsatzbejahung in diesem Fall trivial wäre und nichts für die, alles andere als triviale, Übertragbarkeitsthese ergäbe. 63 Knauer/Schomburg, NStZ 2019, 314. Zu einer schwer durchschaubaren Ausnahme von der Übertragbarkeit vgl. Knauer/Schomburg, NStZ 2019, 314 f. 64 Dafür sei auf Kuhlen, wistra 2022, 45 ff. verwiesen. 59

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„Überträgt“ man die Anforderungen an die Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums auf den Tatumstandsirrtum,65 macht man (entgegen den eingangs formulierten Aussagen 1 und 2) das Vorliegen des Tatumstandsirrtums oder doch die Rechtsfolge des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB von der Unvermeidbarkeit des Irrtums abhängig.66 Das führt dazu, die nach § 17 S. 1 StGB erforderliche zweistufige Prüfung67 auch beim Tatumstandsirrtum durchzuführen, obwohl es für die Rechtsfolge des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB nur auf die eine Frage ankommt, ob ein Tatumstandsirrtum vorlag.68 Vor allem aber überschreitet es – wie schon das zuvor erörterte Missverständnis der Parallelwertungslehre – die von § 16 Abs. 1 S. 1 StGB gezogene Grenze des Vorsatzes zur Fahrlässigkeit. Zwar ist im Rahmen der Beweiswürdigung über den Vorsatz als „innere Tatsache“69 eine „Gesamtwürdigung aller Umstände [erforderlich], die für das Vorstellungsbild des Angekl. von Bedeutung waren“.70 Für diese Gesamtwürdigung können Umstände bedeutsam sein, die für das Urteil über die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums ebenfalls relevant sind. Insofern mag auch die Kasuistik zur Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums eine Rolle spielen.71 Als „Übertragung“ der dort entwickelten Grundsätze auf den Tatumstandsirrtum lässt sich das allerdings nicht bezeichnen. Denn es ändert nichts daran, dass Beweisthema bei der Prüfung von § 16 Abs. 1 S. 1 StGB nicht die Unvermeidbarkeit eines Irrtums, sondern seine Existenz ist und dass Umstände wie das Einholen und die Verlässlichkeit eines Rechtsrats bloße Indizien bei der Bildung des Gesamturteils über diese innere Tatsache sind. Demgegenüber führt die Übertragbarkeitsthese dazu, dass nach der Feststellung bestimmter Tatumstandsirrtümer in einem zweiten Schritt deren Vermeidbarkeit zu prüfen ist und dass entgegen § 16 Abs. 1 S. 1 StGB nur unvermeidbare Irrtümer als vorsatzausschließend eingestuft werden. 65 Was ohne Benutzung der Wörter „Übertragung“ oder „Übertragbarkeit“ auch Knigge/ Wittig tun, wenn sie behaupten, die „Maßstäbe“ für die Unvermeidbarkeit des Irrtums seien beim Tatumstandsirrtum über die Steuerverkürzung „im Wesentlichen die gleichen“ wie beim Verbotsirrtum (Knigge/Wittig, ZWH 2019, 78). 66 Wobei es wohl nur konstruktiv, aber nicht im Ergebnis einen Unterschied macht, ob man auf die Vermeidbarkeit des Tatumstandsirrtums selbst oder auf die eines ihn begleitenden Verbotsirrtums abstellt. 67 Lag ein (Verbots)Irrtum vor? War er unvermeidbar? 68 Sehr deutlich wird dieses Verfahren – durch das der im ersten Prüfungsschritt festgestellte Irrtum über den Steueranspruch zum bloßen prima facie-Tatumstandsirrtum degradiert wird – bei Knauer/Schomburg, NStZ 2019, 314 f. 69 Rönnau/Becker, NStZ 2016, 569 (570) mit weiteren Hinweisen in Fn. 25. 70 BGH NStZ 2012, 160 Rn. 25. Vgl. dazu Kohlmann/Ransiek, Steuerstrafrecht, Stand: 76. Lfg. 2022, § 370 AO Rn. 603. 71 So kann es nach BGH NStZ 2012, 160 Rn. 27 ein belastendes Indiz sein, „wenn es ein Steuerpflichtiger unterlässt, in Zweifelsfällen Rechtsrat einzuholen.“ Kritisch zur Umdeutung von Erkundigungspflichten in „belastende Beweisanzeichen, nach denen die Feststellung eines auf Irrtümern über Bezugsnormen basierenden Tatbestandsirrtums möglichst vermieden wird,“ Gaede, Der Steuerbetrug, 2016, 486 f.

Notizen zur strafrechtlichen Irrtumslehre

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3. Die Übertragbarkeitsthese ist nicht nur dogmatisch verfehlt, sondern auch im Ergebnis bedenklich. Denn indem sie zusätzliche Anforderungen an die Qualität eines vorsatzausschließenden Irrtums über den Taterfolg der Steuerhinterziehung stellt, eröffnet sie – entgegen § 16 Abs. 1 S. 1 StGB – die Möglichkeit, dass Beschuldigte wegen Steuerhinterziehung verurteilt werden, die von der steuerrechtlichen Zulässigkeit ihres Handelns ausgingen und deshalb keine Kenntnis davon hatten, dass dieses Handeln zur Verkürzung von Steuern oder zum Erlangen nicht gerechtfertigter Steuervorteile führen würde. Das könnte im Steuerstrafrecht eine praktisch erhebliche Rolle spielen.

„Lebensmittelerpresser“ und dolus alternativus Wolfgang Mitsch

I. Einleitung Zum „dolus alternativus“ hatte Jan Joerden schon zu einer Zeit Stellung genommen, als der Bundesgerichtshof noch nicht die Gelegenheit hatte, der vielstimmigen Diskussion in der Strafrechtswissenschaft einen höchstrichterlichen Spruch hinzuzufügen. Mit seinem Urteil vom 14. 1. 2021 hat der 4. Strafsenat des BGH nun das Lager derjenigen verstärkt, die im Ergebnis den dolus alternativus dem dolus cumulativus gleichstellen. Der Angeklagte, der eine einzige vollendete gefährliche Körperverletzung begehen wollte, wird wegen einer vollendeten gefährlichen Körperverletzung und in Tateinheit dazu einer versuchten gefährlichen Körperverletzung verurteilt. Dagegen hat sich der Jubilar mit einer Anmerkung gewandt, die schon deswegen überzeugt, weil nach ihr dem Täter nicht mehr Tatvollendungsvorsätze angelastet werden, als dieser tatsächlich hat: im BGH-Fall einen und nicht zwei oder gar fünfzig, wie in dem von Roland Schmitz zu Beginn seines Habilitationsvortrags gebildeten Flaschenwurf-Beispiel1 oder siebenhundert in dem Sprengfallen-Beispiel von Christoph Sowada.2 Allerdings ist das Echo, das die neue BGH-Entscheidung in der Fachliteratur ausgelöst hat, keineswegs einheitlich ablehnend. Sowohl der Jubilar als auch der Verfasser des vorliegenden Beitrags dürften sich daher als Angehörige einer Meinungsminderheit betrachten.3 Dies reizt zum einen den Verfasser, sich des Themas noch einmal anzunehmen4, und könnte zum anderen auch für den mit der Festschrift zu Ehrenden ein Grund sein, diesen Text mit Interesse zu lesen. In Reaktionen auf die Entscheidung des 4. Strafsenates wurde auch darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung durchaus schon früher Anlass gehabt hat, sich mit dem dolus alternativus auseinanderzusetzen.5 Nur haben die Richter nicht erkannt, dass der von ihnen zu beurteilende Fall das Thema berührt. Das lenkt den Blick auf eine andere recht aufsehenerregende Entscheidung des BGH aus letzter Zeit, in der es zwar nicht um den dolus alternativus ging, die aber gleichwohl geeignetes Anschauungsobjekt für einige Bemerkungen zu dieser dogmatischen Figur ist. In dem Beschluss vom 1

Schmitz, ZStW 112 (2000) 301. Sowada, ZfL 2021, 41 (45). 3 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 52. Aufl. 2022, Rn. 349. 4 Mitsch, NJW 2021, 798. 5 Schuster, NStZ 2021, 422; Theile, ZJS 2021, 551. 2

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5. 6. 2019 hatte der 1. Strafsenat keinen Grund, auf einen dolus alternativus des Angeklagten einzugehen. Das wäre anders gewesen, wenn das Gericht den strafbefreienden Rücktritt vom Versuch abgelehnt hätte.6 Denn der angeklagte „Lebensmittelerpresser“ hatte zweifellos einen dolus alternativus, der sich – anders als der des Angeklagten im Fall des 4. Strafsenates @ nicht nur auf zwei Opfer, sondern auf unzählige Opfer bezog.7 Deswegen sollen hier einige dogmatische Glasperlenspiele mit dem dolus alternativus des Lebensmittelerpressers veranstaltet werden.

II. Die beiden Entscheidungen Die Sachverhalte der beiden Entscheidungen sind bekannt, sollen dennoch hier kurz in Erinnerung gerufen werden. Dem Urteil des 4. Strafsenates lag folgendes Geschehen zugrunde:8 Der Angeklagte schlug mit einem Hammer in Richtung einer Frau. Unmittelbar hinter der Frau stand ihr Bruder. Der Angeklagte hielt es für möglich, dass der Hammer eine der beiden Personen verletzen würde und nahm dies billigend in Kauf. Die Frau und ihr Bruder konnten den Schlag so weit ablenken, dass der Hammer den Bruder leicht am Kopf traf. Die wesentlichen Fakten des „Lebensmittelerpresser“-Falles sind:9 Der Angeklagte versetzte mehrere Gläser Babynahrung mit einem tödlich wirkenden Gift. Sodann brachte er fünf dieser Gläser an einem Samstagnachmittag in fünf verschiedene Lebensmittel- und Drogeriemärkte. Dort stellte er je ein Glas in ein Verkaufsregal. Im unmittelbaren Anschluss daran verschickte der Angeklagte eine E-Mail an sechs Einzelhandelskonzerne, das Bundeskriminalamt und eine Verbraucherschutzorganisation. In dem Schreiben informierte er über die von ihm geschaffene Situation in den Märkten und forderte die Zahlung einer Geldsumme in zweistelliger Millionenhöhe. Alle fünf Gläser konnten an darauffolgenden Tagen sichergestellt werden.

III. Dolus alternativus Beim Streit um den dolus alternativus geht es im Wesentlichen darum, ob dem Täter im Strafurteil so viele strafbare (vollendete und versuchte) Tatbestandsverwirklichungen angelastet werden, wie er alternative Vorsätze hat oder ob für die Strafbarkeitsbegründung von vornherein nur ein Vorsatz und somit eine einzige Tatbestandsverwirklichung berücksichtigungsfähig ist.10 Im letzteren Fall entsteht keine Konkurrenzsituation, also nicht, wie der BGH behauptet, ein Fall von Idealkonkur6 Grund zur Befassung mit dem dolus alternativus hätte die Strafkammer (LG Ravensburg) gehabt, die den Rücktritt ablehnte und wegen versuchten Mordes verurteilte. 7 Sowada, ZfL 2021, 43 Fn. 15. 8 BGH NJW 2021, 795. 9 BGH NStZ 2020, 221 (222). 10 Eisele/Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2020, Rn. 199.

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renz, § 52 StGB. Zur Korrektur des in der BGH-Entscheidung vertretenen – nach hiesiger Meinung unrichtigen @ Ergebnisses bedarf es auch keiner Rückführung auf eine einzige Tat mittels Gesetzeskonkurrenz.11 Der Täter hat den Tatbestand nur einmal verwirklicht. Hier ist nicht der Raum für eine erschöpfende Diskussion der gegensätzlichen Standpunkte. Einige ergänzende Bemerkungen sollen aber gemacht werden. Der auch vom Verfasser vertretenen „Ein-Vorsatz-Lösung“ wird entgegengehalten, dass der Täter „rein psychologisch“ mehrere alternative Erfolgsmöglichkeiten erkenne und jeden einzelnen potentiellen Vollendungserfolg billigend in Kauf nehme.12 Diese tatsachenbezogene Aussage ist richtig, die daraus gezogenen strafrechtlichen Schlussfolgerungen sind es nicht. Verkannt wird bereits, dass es zur Erfüllung von Strafbarkeitsvoraussetzungen nicht genügt, Vorsatz zu „haben“. Der Täter muss „vorsätzlich handeln“, § 15 StGB. Vor allem müssen Vorsatz und objektiv tatbestandsmäßiges Handeln koinzident sein (Simultaneitätsprinzip).13 Strafbarkeit wegen Versuchs begründet nur ein Vorsatz, der während der Handlung, die „unmittelbares Ansetzen“ (§ 22 StGB) ist, besteht.14 Dies deutet auf ein zweites fundamentales Defizit in der Debatte um den dolus alternativus: über die Strafbarkeitsvoraussetzung „unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung“ wird schweigend hinweggegangen.15 Die Erfüllung dieser Strafbarkeitsvoraussetzung meinen ohne Prüfung nicht nur diejenigen bejahen zu können, die wie der BGH mit der auf mehrfache Tatbestandsverwirklichung gestützten Verurteilung zufrieden sind, sondern auch die Kritiker, die in der Gesetzeskonkurrenz das einzige Mittel zur Vermeidung der unerwünschten Kumulation der Strafgesetzverletzungen (§ 52 StGB) sehen.16 Betrachtet man den Hammerschlag-Fall des 4. Strafsenates, scheint tatsächlich nichts gegen ein „unmittelbares Ansetzen“ zur Verwirklichung des Körperverletzungstatbestandes in Bezug auf die letztlich unverletzt gebliebene Schwester zu sprechen. Das liegt aber in diesem Fall17 daran, dass bei lebensnaher Betrachtung der Schlagbewegung ohnehin eine kumulative Verletzung beider Opfer nahe gelegen hat18 und auch ein dolus cumulativus plausibler erscheint als ein dolus alternativus19 oder gar eine aberratio ictus.20 Ein Vorsatzbegriff ohne voluntative 11

Dafür Sowada, ZfL 2021, 44 ff. Li, ZIS 2022, 27 (29); Sowada, ZfL 2021, 43. 13 Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Aufl. 2020, § 12 Rn. 89. 14 Anders Herzberg, JuS 1985, 1 (9). 15 Kurze Erwähnung des § 22 StGB aber bei Schefer/Kemper, HRRS 2021, 173 (175). 16 Sowada, ZfL 2021, 42, 44: „Vorsatzebene“, „Konkurrenzebene“, aber keine „unmittelbares-Ansetzen-Ebene“; ebenso Kudlich, JA 2021, 339 (341). 17 Ebenso in dem Faltboot-Fahrer-Fall bei Joecks/Kulhanek, in: v. Heintschel/Heinegg (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2020, § 16 Rn. 20. 18 Schwer vorstellbar ist, dass in diesem Fall nur eine der beiden Möglichkeiten verwirklicht werden kann, wie es bei Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 3), Rn. 348 behauptet wird. 19 Zutreffend der Hinweis von Schefer/Kemper, HRRS 2021, 176, dass der Hammerschlag gegenüber beiden (potentiellen) Opfern das Gefahrpotential eines tauglichen Versuchs hat. 20 Zumindest sprachlich ungenau ist die Behauptung, der Angeklagte „wusste“, dass er mit dem Hammerschlag entweder die Nebenklägerin oder ihren Bruder, „also nur einen der beiden 12

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Komponente hätte zwangsläufig zu dem Ergebnis geführt, das der BGH für richtig hält, nur dass das Ergebnis dann nicht auf einem dolus alternativus, sondern auf einem dolus cumulativus beruhte. Nach Rolf Dietrich Herzberg läge bezüglich beider Opfer eine „unabgeschirmte Gefahr“ und deshalb Vorsatz vor.21 Interessanter ist die Frage des unmittelbaren Ansetzens bei Sachverhalten mit echter Alternativität, also Fällen, in denen eine Erfolgskumulation ausgeschlossen ist (Exklusivität).22 Da dies auf den Lebensmittelerpresser-Fall zutrifft, soll darauf in dem dortigen Zusammenhang eingegangen werden.

IV. Erpressung mit vergifteten Lebensmitteln Rechtsprechung und Literatur beurteilen Taten wie die des Lebensmittelerpressers von Friedrichshafen als – je nach Erfolg vollendeten oder versuchten – Mord in Tateinheit mit besonders schwerer räuberischer Erpressung mit Todesfolge.23 Dieser tatbestandlichen Einordnung liegen zahlreiche rechtsirrige Annahmen bezüglich § 250 StGB und § 251 StGB zugrunde.24 Der Täter hat nämlich nicht ein „anderes gefährliches Werkzeug“ @ die Gläschen mit toxischem Inhalt25 – „bei der Tat (…) verwendet“ (§ 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB).26 Er hat auch nicht – wenn es zum Tod eines Kleinkindes kommt – den Tod eines Menschen „durch die räuberische Erpressung“ (§ 251 StGB) verursacht. Offensichtlich ist, dass der Täter zu keinem relevanten Zeitpunkt27 ein gefährliches Werkzeug „bei sich geführt“ hat (§ 250 Abs. 1 Nr. 1 a treffen“ werde, so Schuster, NStZ 2021, 422. „Wissen“ konnte der Täter überhaupt nicht, welche Folge sein Hammerschlag haben werde, schon gar nicht, dass nur eine der beiden Personen getroffen würde. 21 Herzberg, JuS 1986, 249 (255). 22 Eine andere Vorstellung von der Struktur des „dolus-alternativus-Falles“ scheint bei Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 29 II 4 zugrunde zu liegen: Bei allen genannten Beispielen ist eine der Alternativen in der anderen als „Durchgangsstadium“ oder „wesensgleiches Minus“ enthalten, sodass es einen Versuch neben der Vollendung dann nicht gibt, wenn die „einschließende“ Alternative vollendet ist (z. B. Bewegungsunfähigkeit, § 226 Abs. 1 StGB, ist enthalten in Todeserfolg, § 212 StGB). Ist die „eingeschlossene“ Alternative (z. B. Unterschlagung, § 246 StGB) vollendet, bleibt freilich die Frage nach zusätzlichem Versuch bezüglich der einschließenden Variante (versuchter Diebstahl, §§ 242, 22 StGB). 23 BGH NStZ 2020, 221 Rn. 10 – 13. 24 Ausführlich dazu Mitsch, NZWiSt 2022, 181 – 185. 25 Aus § 224 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB kann man schließen, dass Gift kein „gefährliches Werkzeug“ ist, so Hardtung, in: Sander (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2021, § 224 Rn. 15: „keine Flüssigkeiten und Gase“. 26 Anders der BGH NStZ 2020, 221 Rn. 24, nach dem der Angeklagte die Qualifikation dadurch verwirklicht habe, dass er „als Drohmittel am 16. 9. 2017 fünf Gläser mit vergifteter Babynahrung in die Verkaufsregale von Einzelhandelsgeschäften stellte“. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Täter noch nicht einmal einen Erpressungsversuch begangen. 27 Unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Erpressungstatbestandes bis zur Vollendung der Erpressung; Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 250 Rn. 6.

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StGB). Wie soll er dann bei der Tat ein gefährliches Werkzeug „verwendet“ haben? Der Täter hat auch nicht „durch die Tat“ eine Person in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung (§ 250 Abs. 1 Nr. 1 c StGB) oder in die Gefahr des Todes (§ 250 Abs. 2 Nr. 3 b StGB) gebracht. Er hat also letztlich überhaupt keine Qualifikation gem. § 250 StGB oder gem. § 251 StGB verwirklicht. Alles das hat mit dem Thema „dolus alternativus“ nichts zu tun. Es verschafft aber einen lebhaften Eindruck von der Qualität der richterlichen Rechtsanwendung in diesem Fall. Daher überrascht es auch nicht, dass die dolus-alternativus-Komponente der „Lebensmittelerpressung“ nicht gesehen wird.28

V. Einige Probleme 1. Versuchsbeginn Oben wurde schon moniert, dass die an der Diskussion über den „dolus alternativus“ Beteiligten das „unmittelbare Ansetzen“ ausblenden. Auf die strafrechtliche Würdigung der Lebensmittelerpresser-Tat trifft das ebenso zu. Zwar wird in den Gründen der Gerichtsentscheidung festgestellt, dass der Täter die Versuchsschwelle überschritten habe. Der Eindruck, dass dem eine erschöpfende Prüfung dieser Strafbarkeitsvoraussetzung vorausgegangen ist, entsteht aber nicht. Der BGH erwähnt mit keinem Wort, dass der Mordversuch, den der Lebensmittelerpresser begeht, eine mittelbar-täterschaftliche Tat i. S. des § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB ist. Das ist so, weil die Kleinkinder nicht unmittelbar von dem Lebensmittelerpresser, sondern von ihren Eltern getötet worden wären. Ein wenige Monate altes Kleinkind ist selbst noch nicht in der Lage, mit einem Löffel Brei aus dem Gläschen oder einem sonstigen Gefäß zu kratzen und in den geöffneten Mund zu schaufeln. Es wird also von Mutter oder Vater „gefüttert“. Verfehlt sind deshalb im vorliegenden Zusammenhang die Verweise auf den „Bayerwaldbärwurz-Fall“ BGHSt 43, 177.29 Dass sich ein wenige Wochen altes Baby irgendwann „in den Wirkungskreis des Tatmittels begibt“, ist eine groteske Fehlvorstellung. Im Passauer Fall30 ging es um die vom Angeklagten geschaffene Gefahr der Selbsttötung eines ahnungslosen Erwachsenen, der selbst aus der Flasche mit der vergifteten Flüssigkeit trinkt. Der BGH (1. Strafsenat) hatte ausdrücklich diese Konstellation nicht als Fall mittelbarer Täterschaft anerkannt, sondern lediglich erklärt, die „für Fälle der mittelbaren Täterschaft entwickelten Grundsätze“ gälten auch, wenn „dem Opfer eine Falle gestellt wird, in die es erst durch eigenes Zutun geraten soll“.31 Christian Jäger ordnet in seinem „Examens-Repetitorium“ den „Bayerwaldbärwurz-Fall“ ebenfalls nicht der Thematik „Versuchsbeginn bei mittel28

Das LG Ravensburg hätte sie sehen und berücksichtigen müssen. Jäger, Examens-Repetitorium Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 2021, Rn. 446 (S. 330). 30 Vorinstanz war das LG Passau. 31 BGH NStZ 2020, 221 Rn. 9. 29

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barer Täterschaft“32 zu, sondern dem „Versuchsbeginn beim beendeten Versuch“.33 Weder er noch der 1. Strafsenat erkennen also, dass jedenfalls dann, wenn es sich – wie im Friedrichshafener Fall @ bei den vergifteten Nahrungsmittel um Babynahrung handelt, eine Tötung in mittelbarer Täterschaft versucht wird. Die Eltern sind unvorsätzlich (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB) handelnde „Werkzeuge“ des Lebensmittelerpressers, weil sie die toxische Qualität des Breis nicht kennen, § 16 Abs. 1 S. 1 StGB. Es mag sein, dass die Beurteilung der Tat im Lichte der mittelbaren Täterschaft am Ende zu keinem anderen Ergebnis führt, als in einem Fall unmittelbar-täterschaftlicher Tötung. Das hängt aber davon ab, welcher Theorie man bei dem umstrittenen Thema des unmittelbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirklichung in mittelbarer Täterschaft folgt. Bekanntlich werden dazu verschiedene Ansätze vorgeschlagen.34 Nach der „Gesamtlösung“ genannten Ansicht ist das unmittelbare Ansetzen eine Eigenschaft des „Werkzeug-Verhaltens“, aus dem ein unmittelbares Ansetzen des Hintermannes qua Zurechnung dieses Verhaltens wird.35 Im Friedrichshafener Fall hätte der Angeklagte demnach das Versuchsstadium noch gar nicht erreicht, die Erörterungen zum Rücktritt wären daher obsolet. Stellt man mehr materiell orientiert auf das Kriterium der Gefährdung des angegriffenen Rechtgutes ab, ist die Tat des Lebensmittelerpressers je nach Tatzeit ebenfalls noch weit von der Versuchsgrenze entfernt, solange sich die vergifteten Nahrungsmittel im Verkaufsraum befinden. Deponiert der Täter diese an einem Samstagabend kurz vor Ladenschluss, ist bei normalem Verlauf der Dinge mit einem Verkauf und damit einer das Kleinkind gefährdenden Situation frühestens in ca. 35 bis 40 Stunden (Montagmorgen) zu rechnen.36 Dann kann keinesfalls davon die Rede sein, dass „das Werkzeug ohne wesentliche Zusatzvorbereitungen die vorgesteuerte Tat nur noch zu vollziehen braucht“.37 Ein „Werkzeug“ gibt es – wenn überhaupt @ erst am kommenden Montag, der Lebensmittelerpresser kann also nicht bereits am Samstagabend die Versuchsgrenze überschritten haben. Eine Vorverlagerung der Versuchsgrenze, die auch den Lebensmittelerpresser betrifft, ist die Konsequenz des Abstellens auf das „Aus-der-Hand-Geben“. Der mittelbare Täter setzt zur Tatbestandsverwirklichung unmittelbar an, sobald er den von ihm angestoßenen Geschehensverlauf aus seinem Einflussbereich entlässt. Vorzug dieser Theorie scheint zu sein, dass sie die Einhaltung des Vorsatz-Koinzidenzerfordernisses gewährleistet. Der Täter muss Vorsatz haben, während er die tatbestandsmäßige Handlung vollzieht,38 beim Versuch also während der Handlung, die zumindest Teil 32

Jäger (Fn. 29), Rn. 427. Jäger (Fn. 29), Rn. 428. 34 S/S-Eser/Bosch, § 22 Rn. 54. 35 Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 20 Rn. 90. 36 Zum „verfrühten“ Erfolgseintritt auf Grund eines Lebensmittel-Diebstahls durch Personal oder Reinigungskräfte unten 3. 37 So S/S-Eser/Bosch, StGB, § 22 Rn. 54a. 38 S/S-Sternberg-Lieben/Schuster, § 15 Rn. 48. 33

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des unmittelbaren Ansetzens ist.39 Das ist vordergründig betrachtet faktisch nicht möglich, wenn das unmittelbare Ansetzen erst mit dem Tätigwerden des Vordermannes existent wird.40 Diese Einschätzung ändert sich aber, wenn anerkannt wird, dass das „unmittelbare Ansetzen“ ebenso wie z. B. die Rechtsgutsverletzung bei einer vollendeten Tat ein Erfolg sein kann, mit dem erst der objektive Tatbestand des Versuchsdelikts erfüllt wird. Zur Wahrung der Vorsatz-Handlung-Synchronität (§ 15 StGB) genügt es dann, wenn der Täter während des noch nicht tatbestandsmäßigen Aus-der-Hand-Gebens (Vorbereitungsstadium) Vorsatz hat und später durch Annäherung des Geschehens an die Tatbestandsverwirklichung der Erfolg „unmittelbares Ansetzen“ eingetreten ist. Das näher auszuführen ist hier nicht der Ort. Die h. M., die zu Recht an das „Aus-der-Hand-Geben“ anknüpft, muss allerdings ihre Beschreibungen des Tatablaufs korrigieren, wenn sie dem Lebensmittelerpresser schon nach Verlassen des von ihm aufgesuchten Supermarktes einen Mordversuch zur Last legen will. Das scheitert mit einer Versuchsdefinition, die darauf abstellt, dass der Hintermann auf das „Werkzeug“ eingewirkt und es aus seinem Herrschaftsbereich entlassen hat.41 Von einer „Einwirkung auf ein Werkzeug“ oder gar einer „Entlassung des Werkzeugs aus dem Herrschaftsbereich“ kann nicht die Rede sein, wenn der erste potentielle Babybrei-Käufer den Laden erst am übernächsten Tag betreten wird. Worauf es also ankommt ist, dass der Hintermann ein „technisches“ Werkzeug – hier die Gläser mit vergiftetem Brei @ aus seinem Wirkungsbereich entlassen hat und damit nach seiner Vorstellung ein ahnungsloses „menschliches“ Werkzeug demnächst eine tatbestandsmäßige Handlung ausführen wird. Dass die Variabilität der Bestimmung des unmittelbaren Ansetzens im Lebensmittelerpresser-Fall Einfluss hat auf die Relevanz des dolus alternativus, ist leicht zu sehen. Beginnt der Versuch erst mit dem Handeln des Tatmittlers, kann es schon objektiv keine Alternativität geben. Wer Opfer der Giftattacke wird, steht von da an fest: eine Tochter oder ein Sohn des Käufers. Deswegen hat der Täter auch nur einen eindeutigen Vorsatz ohne begleitende doli alternativi. Zwar bereitet – wie gesagt – diese Konstellation dem Simultaneitätsgrundsatz Probleme. Der mittelbare Täter bildet seinen Vorsatz, bevor der Tatmittler zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt. Zu diesem Zeitpunkt, ist noch völlig offen, welches potentielle Opfer durch den Verzehr des vergifteten Nahrungsmittels geschädigt werden wird. Der Tatmittler hat also ursprünglich dolus alternativus. Aber dieser Vorsatz im Vorbereitungsstadium ist bis zum unmittelbaren Ansetzen noch ein unbeachtlicher dolus antecedens, der die – erst später einsetzende @ Strafbarkeit nicht bestimmt. Zu einem echten strafbarkeitsbegründenden dolus wird das Wissen und Wollen erst in dem Moment, wenn das Geschehen die Grenze des unmittelbaren Ansetzens überschreitet. Der Vorsatz des mittelbaren Täters verengt sich nun auf einen alternativlosen Tater39

Anders Herzberg, JuS 1985, 1 (7 ff.). Deshalb überzeugt die von Schuster, NStZ 2021, 422 gegebene Begründung für das richtige Ergebnis im „Sprengfallen-Beispiel“ nicht ganz. Richtig ist, dass der Täter nur zur Tötung des Menschen unmittelbar ansetzt, der das präparierte Fahrzeug tatsächlich benutzt. 41 So Murmann, in: Leipziger Kommentar, StGB, 13. Aufl. 2021, § 22 Rn. 200. 40

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folg. Der dolus alternativus fällt weg, weil der mittelbare Täter dies von vornherein antezipiert hatte, er nach seiner Vorstellung also nur zur Tötung des Kleinkindes unmittelbar ansetzt, dessen Mutter oder Vater das Gläschen mit vergiftetem Brei gekauft hat.42 Der Täter hat also beim Vollzug seiner den Versuch vorbereitenden Handlung einen Vorsatz, der alle Alternativen umfasst. Zugleich weiß er aber von vornherein, dass sich der Tatverlauf ab dem Verkauf des kontaminierten Artikels auf ein bestimmtes Opfer konzentrieren und verengen wird, also letztlich nur ein Kind zu Tode kommen wird. Der Täter hat somit nur einen Vollendungsvorsatz, weshalb ihm auch nur eine Verletzung eines Strafgesetzes i. S. des § 52 StGB vorgeworfen werden kann. Das sollte die Strafrechtslehre akzeptieren und sich um eine Lösung bemühen, die Konkurrenzüberlegungen entbehrlich sein lässt.43

2. Unterlassen Auch als Beispiel eines Unterlassungsdelikts mit dolus alternativus eignet sich die Situation vergifteter Lebensmittel im Supermarkt. Man stelle sich einen Garanten44 vor, der Kenntnis davon erlangt hat, dass in den Verkaufsregalen im Supermarkt Gläser mit vergifteter Babynahrung auf Kunden warten. Fasst dieser Täter den Entschluss, die gefährlichen Gegenstände pflichtwidrig nicht aus dem Verkehr zu ziehen und nimmt er zumindest billigend in Kauf, dass infolge des Verzehrs Kleinkinder zu Tode kommen, hat er vielfachen alternativen Tötungsvorsatz. Strafbarkeitserheblich ist aber nur der Vorsatz im Zeitpunkt des „unmittelbaren Ansetzens“.45 Das ist beim Unterlassungsdeliktsversuch ähnlich umstritten wie beim Versuch in mittelbarer Täterschaft.46 Sofern der Versuch bereits beginnt, während sich das Gläschen noch im Verkaufsraum befindet, hat der Garant den alternativen Vorsatz in Bezug auf alle Kleinkinder, deren Eltern in diesem Supermarkt einkaufen könnten. Das können sehr viele sein. Wird das unmittelbare Ansetzen hingegen verschoben auf einen Zeit42 Ähnlich Schuster, NStZ 2021, 422, nach dem sich der Vorsatz des Täters nur auf ein Opfer „konkretisiere“, nämlich dasjenige, welches tatsächlich in den Gefahrenbereich gerät. 43 Das Akzeptieren dürfte leichter fallen, wenn man sich von der heute einhellig praktizierten Methode, beim Versuch den subjektiven Tatbestand vor dem objektiven Tatbestand zu prüfen, verabschieden und wieder zu der früher – zuletzt von Günter Spendel und Winrich Langer @ vertretenen umgekehrten Reihenfolge zurückkehren würde. 44 Beispiel: Ein Täter, der fahrlässig Gläschen mit vergiftetem Brei in die Regale gestellt hat (Ingerenz). 45 Missverständlich ist die Aussage, der Tatentschluss müsse „noch beim Eintritt in das Versuchsstadium vorliegen“, so Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil II, 2003, § 29 Rn. 59 (Hervorhebung W. M.). Ein Entschluss vor dem Versuchsstadium ist strafrechtlich irrelevant. Die Empfehlung von Herzberg (JuS 1985, 9), man müsse die „gewohnte Vorstellung von der rechtlichen Bedeutungslosigkeit dessen, was der Täter im Vorbereitungsstadium tut und beschließt“ aufgeben, konfligiert mit dem Gesetz. Der Täter muss Vorsatz haben, während er tatbestandsmäßig handelt, § 15 StGB. 46 Jäger (Fn. 29), Rn. 426; Roxin (Fn. 45), § 29 Rn. 271.

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punkt nach dem Verkauf des Gläschens, kann der Garant nur noch einen Vorsatz ohne Alternativen haben. Das Ausmaß der Strafbarkeit hängt deswegen auch davon ab, wann der Garant auf die gefährliche Lage im Supermarkt aufmerksam wird bzw. wann er den Entschluss fasst, die Gefahr nicht zu beseitigen. Die am Sonntag erfolgende Sicherstellung des am Samstagabend vom unbekannten Täter in das Regal gestellten Gläschens bewahrt den Garanten vor Strafbarkeit, wenn die Grenze des unmittelbaren Ansetzens noch nicht erreicht war. Das ist in diesem Fall richtig und dürfte auch der h. M. entsprechen.47 Vor allem kann man bei einem Garanten, der zum Personal des Supermarkts gehört und auf Grund seiner Stellung – z. B. als Filialleiter – Maßnahmen zur Verhinderung des Verkaufs – z. B. vorübergehende Schließung bis zur Sicherstellung der vergifteten Ware – ergreifen kann, das unmittelbare Ansetzen nicht mit „Aus-der-Hand-Geben“ begründen.48 Nach der Ansicht, die den Versuch des Unterlassungsdelikts mit Nichtwahrnehmung der ersten Erfolgsabwendungsmöglichkeit beginnen lässt49, wäre der Garant nach der zum dolus alternativus in Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertretenen Meinung wegen versuchten Mordes durch Unterlassen in zigfacher Tateinheit strafbar.50 Lediglich einen (vollendeten oder versuchten) Mord begeht also der Täter, wenn die Strafbarkeit erst nach dem Verkauf des Gläschens begründet wird, sei es, weil erst jetzt die Grenze des unmittelbaren Ansetzens überschritten wird, oder sei es, weil der Garant erst jetzt den Vorsatz zur Nichtabwendung des Erfolges fasst. 3. Rücktritt vom Versuch Da die h. M. beim dolus-alternativus-Fall vor Erreichung der Vollendung mindestens zwei alternative Versuche annimmt, ist es interessant zu untersuchen, wie sich der Rücktritt vom Versuch darstellt. Egal ob der Versuch unbeendet oder beendet ist, bedarf es nur einer einzigen Rücktrittsleistung, damit die Tat nicht vollendet wird. Das ist selbst dann ausreichend, wenn schon ein Opfer verletzt worden ist und vom Tötungsversuch zurückgetreten wird. Darin unterscheidet sich die dolus-alternativus-Tat von der dolus-cumulativus-Tat: Wurden durch die Handlung, wie der Täter es vorhergesehen und gewollt hat, bereits beide Opfer lebensgefährlich verletzt, bedarf es zur Erlangung der Freiheit von Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags zweier Rettungshandlungen. Dies bestätigt, dass die mit dolus cumulativus begangene Tat mehr Unrechtsgehalt hat als die Tat mit dolus alternativus und die h. M., die den Unterschied zwischen dolus alternativus und dolus cumulativus einebnet, der falschen Theorie folgt.51 Der Fall mit dem bereits verletzten Alternativ-Opfer 47

Kühl (Fn. 35), § 18 Rn. 148; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 3), Rn. 1224. Roxin (Fn. 45), § 29 Rn. 272. 49 Diese Ansicht wird freilich heute nicht mehr vertreten, vgl. Hillenkamp/Cornelius, 32 Probleme aus dem Strafrecht Allgemeiner Teil, 15. Aufl. 2017, 118. 50 Eine Pflichtenkollision bestünde nicht, weil der Garant durch eine einzige Handlung der Verwirklichung sämtlicher Tötungsvorsätze die Grundlage entziehen kann. 51 Schmitz, ZStW 112 (2000) 306; Schefer/Kemper, HRRS 2021, 175. 48

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deutet die Probleme an, die dem Rücktritt vom Versuch durch die dogmatische Figur „fehlgeschlagener Versuch“ bereitet werden könnten. Dazu soll hier wieder zum Fall „Lebensmittelerpressung“ zurückgekehrt werden. Der Plan des Täters geht dahin, dass das Gläschen von einem Kunden gekauft, nach Hause getragen und dort der Inhalt an ein kleines Kind verfüttert wird. Bevor es zum Verkaufsfall kommt, steht dem einen Gläschen im Regal ein großer Kreis potentieller alternativer Opfer gegenüber. Da der Täter das weiß und billigend in Kauf nimmt, hat er dolus alternativus, dessen Ausdehnung so groß ist, wie es tatsächlich potentielle Opfer gibt. Findet die Polizei das kontaminierte Gläschen, bevor es verkauft wird, ist der Täter wegen versuchten Mordes strafbar. Nach der Rechtsprechung impliziert die Tat eine Vielzahl von „Verletzungen“ der §§ 211, 22 StGB, die zueinander in Tateinheit stehen, § 52 StGB. Die genaue Anzahl muss man für die Strafzumessung nicht kennen,52 da der BGH den Angeklagten ohnehin durch Strafzumessung davor bewahren will, wie ein Täter mit dolus cumulativus sanktioniert zu werden.53 Der Versuch des Täters ist fehlgeschlagen. Wie viele fehlgeschlagene Versuche das sind, interessiert nicht, wenn strafbefreiender Rücktritt nicht geprüft wird, weil der Fall dazu keinen Anlass gibt. Der „fehlgeschlagene Versuch“ hat sein strafrechtliches Domizil allein in § 24 StGB, obwohl dessen Wortlaut dazu nicht einlädt. Außerhalb des § 24 StGB spielt der „fehlgeschlagene Versuch“ keine Rolle.54 Bleibt die Vollendung indessen aus, weil der Täter selbst dies verhindert hat, könnte die Versuchsstrafbarkeit durch Rücktritt gem. § 24 Abs. 1 StGB beseitigt worden sein. Die Annahme, dadurch verschaffe sich der Täter völlige Freiheit von Versuchsstrafbarkeit, wäre voreilig. Zu unterscheiden sind zwei verschiedene Konstellationen: Wurde das Gläschen noch nicht verkauft und holt der Täter es zurück, verhindert er den Eintritt jedes alternativen Todeserfolgs. Er hat die Vollendung komplett verhindert und geht straffrei aus. Sieht der Täter, wie das Gläschen gerade einer Kundin, die eine 2-jährigeTochter hat, verkauft wird, kann er die Vollendung auch noch verhindern. Er kann die Kundin warnen oder ihr sogar mit Gewalt das Gläschen entwenden. Die Frage ist aber, was aus den vielen alternativen Tötungsversuchen geworden ist, die kurz vor dem Kauf des Gläschens durch die Kundin noch im Raum standen. Diese haben sich tatsächlich – möglicherweise aber nicht rechtlich @ erledigt. Es steht nun fest, dass maximal ein Kind sterben wird, nämlich die 2-jährige Tochter der Kundin. Welchen Einfluss hat das auf die Strafbarkeit des Täters? Lässt er die Kundin ziehen, kommt es zum Tod des Kindes und zur Strafbarkeit wegen vollendeten Mordes. Die h. M. würde daneben noch zahlreiche in Tateinheit 52 Die interessante Frage nach „Wer“ und „Wieviel“ bezüglich des Strafantragsrechts (§§ 230, 77 StGB) stellt sich, wenn der dem Brei beigemischte Stoff nicht zum Tod oder einer schweren Gesundheitsschädigung, sondern nur zu Durchfall oder einem anderen leicht pathologischen Zustand führen kann und soll. 53 BGH NStZ 2021, 420 Rn. 17. 54 Bezeichnend, dass im Sachverzeichnis bei Roxin (Fn. 45), 897 unter „Versuch“ das Sachwort „fehlgeschlagener“ hinter einem Spiegelstrich weiterverweist zu „Rücktritt vom Versuch“. Dort (S. 893) thront der fehlgeschlagene Versuch über acht Unter-Spiegelstrichen.

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stehende Mordversuche in den Schuldspruch des Urteils aufnehmen.55 Um die Zahl der Opfer einzugrenzen, könnte man versuchen zu ermitteln, wer in der Zeit zwischen dem Platzieren des Gläschens durch den Täter und dem Ergreifen des Gläschens durch die Käuferin Gläschen der gleichen Sorte gekauft und nur zufällig nicht das Glas mit dem vergifteten Brei genommen hat. Das könnte bei der Frage nach der Nebenklagebefugnis helfen (unten 4.). Verhindert der Täter die Tötung der Tochter, indem er die Mutter über die Gefahr aufklärt, tritt er gem. § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB vom beendeten Mordversuch gegenüber diesem Kind zurück. Die alternativen Vollendungen verhindert er nicht, diese Vollendungen sind ohne sein „Zutun“ unterblieben. Da der Täter das erkannte, als er den Verkauf des Gläschens an die Kundin beobachtete, wusste er in diesem Moment, dass diese Vollendungen nicht mehr möglich waren. Zugleich erkannte der Täter, dass eine Vollendungsverhinderung durch ihn, also ein Rücktritt vom Versuch, nicht mehr möglich ist. Obwohl ich den Begriff nicht mag, halte ich diese Situation für die des „fehlgeschlagenen Versuchs“. Nach der h. M. hat das zur Konsequenz, dass Rücktritt gem. § 24 Abs. 1 StGB überhaupt nicht geprüft werden kann.56 Die Versuchsstrafbarkeit bleibt bestehen. Wer davon nicht überzeugt ist, betrachte folgende Abwandlung: Als die Kundin das Gläschen vom Förderband der Kasse nimmt, fällt es ihr aus der Hand, prallt auf den harten Boden und zerspringt. Letztendlich landet der vergiftete Brei im Müll. Im selben Moment hatte der Täter den Entschluss gefasst, die tödliche Verwendung des Breis durch die Käuferin zu verhindern. Sein Tötungsversuch ist fehlgeschlagen, bevor er eine Rücktritts-Leistung erbringen konnte. Da ein Rücktritt nicht möglich ist, bleibt es bei der Strafbarkeit des Täters, wie sie zuvor begründet worden war. Nach h. M. hat der Täter also durch eine Handlung tateinheitlich die Strafbarkeitsvoraussetzungen von §§ 211, 22 StGB vielfach erfüllt. Mit welchen strafrechtsdogmatischen Erwägungen die multiple Versuchsstrafbarkeit vielleicht vermieden werden kann, zeigt folgende Abwandlung: Nachdem der Täter am Montagmorgen kurz nach Öffnung des Supermarktes ein Gläschen mit vergiftetem Brei im Regal platziert hat, bleibt er in der Nähe und behält die Situation im Blick. Als eine Kundin das Gläschen in ihren Einkaufswagen legt, beschließt er, sie nach Verlassen des Ladens zu verfolgen. In diesem Fall lässt sich argumentieren, der Täter habe das gefährliche Geschehen noch nicht „aus der Hand gegeben“, solange er gegen den Kauf oder die Verwendung des gekauften Gläschens einschreiten kann. Die richtige Lösung muss wohl aus dem „unmittelbaren Ansetzen“ gewonnen werden. Straffreiheit ohne eigenes Zutun fällt dem Täter in den Schoß, wenn es entgegen dem Tatplan zum vorzeitigen Erfolgseintritt kommt, weil etwas Unvorhergesehenes passiert und die nach der Vorstellung des Täters kritische Phase des Geschehens nicht mehr erreicht wird. Angenommen, in der Nacht von Samstag auf Sonntag verrichtet eine Kolonne Gebäudereiniger in dem Supermarkt ihre Arbeit. Eine diebische Rei55

Zur Limitierung des Urteilstenors durch das Schuldprinzip treffend Schmitz, ZStW 112 (2000) 307. 56 Kühl (Fn. 35), § 16 Rn. 10; dagegen z. B. Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2021, § 23 Rn. 18.

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nigungskraft ergreift aus dem Regal unglücklicherweise das Gläschen mit dem vergifteten Brei, nimmt es mit nach Hause und vergiftet ahnungslos das eigene Kind. Hier führt auch ein „dolus generalis“ nicht zur Strafbarkeit wegen vollendeten Mordes, wenn man die Grenze zwischen Vorbereitung und Versuchsbeginn nach hinten verlagert. Möglich ist nur eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit.57 Auf der Grundlage eines vorverlagerten Versuchsbeginns sind dagegen dem Täter neben der vollendeten – vorsätzlichen oder fahrlässigen – Tötung zahlreiche alternative Mordversuche vorzuwerfen, von denen er nicht mehr zurücktreten kann. 4. Nebenkläger Praktisch wird es gewiss nicht passieren, dass in einem Strafverfahren gegen den rachsüchtigen gekündigten Mitarbeiter eines Carsharing-Unternehmens, dem eine dolus-alternativus-Tat gegen ca. siebenhundert Opfer vorgeworfen wird58, siebenhundert Nebenkläger aufmarschieren.59 Es ist nicht bekannt, dass die Kapazität des Gerichtssaals, in dem vor dem LG Ravensburg die Hauptverhandlung gegen den Lebensmittelerpresser von Friedrichshafen stattfand, durch eine große Zahl von Nebenklägern strapaziert wurde. Aber theoretisch wäre das vielleicht möglich, weil das Strafprozessrecht diese Möglichkeit eröffnet. Gemäß § 395 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO kann sich der erhobenen öffentlichen Klage als Nebenkläger anschließen, wer durch einen versuchten Mord oder Totschlag verletzt wurde. Die h. M. muss zugeben, dass es in dem fiktiven Strafverfahren gegen den Carsharing-Bomber ungefähr siebenhundert Personen gäbe, denen gegenüber der Beschuldigte versuchten Mord begangen hätte. Das wären siebenhundert potentielle Nebenkläger. Den Kommentaren zur StPO ist zu entnehmen, dass die Nebenklagebefugnis selbst dann besteht, wenn das Nebenklagedelikt im Weg der Gesetzeskonkurrenz hinter einem Nichtnebenklagedelikt zurücktritt. Also müssten auch die Befürworter einer Reduzierung der in den Schuldspruch aufzunehmenden Versuche auf der Konkurrenzebene hinnehmen, dass der Strafprozess diesem extremen Stress ausgesetzt werden könnte. In der Hauptverhandlung vor dem OLG München im NSU-Prozess betrug die Zahl der Nebenkläger und ihrer anwaltlichen Vertreter ein Bruchteil dessen, worüber hier gerade nachgedacht wird. Abhilfe könnte vielleicht die Voraussetzung „wer verletzt ist“ schaffen. Tatsächliches physisches Verletztsein durch eine versuchte Tötung ist zwar möglich. Kommt es aber dazu, dass ein Opfer den Angriff auf sein Leben mit Gesundheitsschäden überlebt hat, ergibt sich dessen Nebenklagebefugnis bereits aus § 395 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO. Insofern wäre § 395 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO überflüssig. Also muss Verletztsein durch einen Totschlags- oder Mordversuch auch ohne vollendete körperliche Misshandlung oder Gesundheitsschädigung (§ 223 Abs. 1 StGB) möglich sein. Natürlich fällt einem sofort die konkrete Lebensgefährdung ein, die durch taugliche 57

Roxin/Greco (Fn. 13), § 12 Rn. 184. Beispiel von Sowada, ZfL 2021, 45. 59 Im Verfahren zum „Hammerschlag-Fall“ war die unverletzt gebliebene Schwester des Verletzten als Nebenklägerin zugelassen worden. 58

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Tötungsversuche häufig verursacht wird und die bestätigt, dass ein Versuch nicht nur „Auflehnung gegen die Rechtsordnung“ ist,60 sondern auch objektive Unrechtssubstanz haben kann. Aber dem Gesetzestext des § 395 Abs. 1 StPO ist eine Begrenzung auf Versuche mit dieser Gefahrerfolgskomponente nicht zu entnehmen. Es wäre eine willkürliche Grenzziehung, die zudem erhebliche praktische Abgrenzungsprobleme mit sich brächte. Deshalb ist anzunehmen, dass mit „verletzt“ in § 395 Abs. 1 StPO nicht mehr gemeint ist als ein Versuch, der sich gegen ein identifizierbares Opfer richtet. Das kann auch ein untauglicher Versuch sein, außer es handelt sich um eine Tat, die § 23 Abs. 3 StGB unterfällt und entgegen der h. M. kein tatbestandsmäßiger Versuch ist.61 Eventuell könnte der Andrang von Nebenklägern durch Anwendung des § 154a StPO abgewendet werden. Diese Vorschrift wird in einigen Texten zum dolus alternativus erwähnt, ohne dass dabei konkret auf die Nebenklagethematik Bezug genommen wird.62 Die Staatsanwaltschaft kann im Ermittlungsverfahren den Verfahrensstoff beschränken, ohne dass es einer Zustimmung des Gerichts oder des potentiellen Nebenklägers bedarf. Allerdings ist fraglich, ob die abgetrennten alternativen Versuche wirklich „nicht beträchtlich ins Gewicht“ fallen, wenn es sich – anders als im „Hammerschlag-Fall“ – um sehr viele handelt. Zudem funktioniert die Prozessverschlankung nach § 154a StPO nicht in Fällen ohne Vollendung. Wie will man in einem Fall mit über hundert potentiellen Opfern begründen, dass das Verfahren auf den gegen das Opfer A gerichteten Versuch beschränkt wird und die Versuche gegen die Opfer B, C, D usw. „nicht beträchtlich ins Gewicht“ fallen? Sicher trifft es zu, dass es zur Abgeltung des Unrechts genügt, den Beschuldigten wegen eines einzigen Versuchs zu verurteilen und zu bestrafen. Die anderen Alternativen fallen daneben wirklich nicht ins Gewicht. Aber das liegt allein daran, dass der Täter von vornherein nur einen einzigen Versuch begangen hat und es daneben keine tateinheitlichen Alternativ-Versuche gibt. Zugegebenermaßen befreit diese Erkenntnis nicht von dem Problem zu bestimmen, wer denn Opfer dieses einen Versuchs ist, wenn niemand verletzt und vielleicht auch niemand konkret gefährdet wurde. Durch eine restriktive Bestimmung des „unmittelbaren Ansetzens“ könnte das Problem verkleinert werden. Im Lebensmittelerpresser-Fall bietet sich an, den Versuch nicht vor dem Verkauf des Gläschens mit dem vergifteten Brei beginnen zu lassen (siehe oben 1.). Dann steht fest, wer Opfer ist, wenn der gekaufte Brei letztlich doch nicht verfüttert worden ist, und es gibt keine weiteren potentiellen Nebenkläger. 5. „Internationales“ Strafrecht Mit realitätsferner „Lehrbuch-Kriminalität“ lässt sich demonstrieren, welche Rechtsgeltungsfragen der dolus alternativus bei Fällen mit Auslandsberührung auf60

Streng, ZStW 109 (1997) 862 ff. passim. Mitsch, ZIS 2016, 352 ff. 62 Schuster, NStZ 2021, 423. 61

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wirft: Bei einem Massenkrawall im Zentrum von Wien wirft ein österreichischer Staatsbürger eine leere Bierflasche in Richtung einer Ansammlung von über 20 dicht gedrängt stehenden Menschen. Unter diesen Menschen befindet sich ein einziger Deutscher. Getroffen wird ein Österreicher. Der Täter wird an seinem Wohnort München festgenommen. Hinsichtlich des von der Flasche getroffenen Österreichers könnte in Deutschland ein Strafverfahren allein auf der Grundlage des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB durchgeführt werden. Möglicherweise ist aber auch § 7 Abs. 1 StGB einschlägig, weil unter den von dem Flaschenwurf Gefährdeten ein Deutscher war. Ein rechtskräftiges Urteil gegen den Täter wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung würde einen Strafklageverbrauch (Art. 103 Abs. 3 GG) erzeugen, der auch die vollendete gefährliche Körperverletzung zum Nachteil des österreichischen Mitbürgers des Täters beträfe. Das schwerere Delikt könnte dann nicht geahndet werden; von der deutschen Justiz nicht, weil der räumliche Geltungsbereich des deutschen Strafrechts nicht weit genug geht, von der österreichischen Justiz nicht wegen Art. 54 SDÜ. Zweckmäßig wäre es daher, wenn sich deutsche Strafverfolgungsbehörden der Durchführung eines Strafverfahrens gegen den Verdächtigen enthielten. Dem steht zwar grundsätzlich das Legalitätsprinzip entgegen, § 152 Abs. 2 StPO. Aber § 153c Abs. 1 S. 1 StPO eröffnet der Staatsanwaltschaft einen Ermessensspielraum. Die Thematik lässt sich übrigens auch auf den Lebensmittelerpresser-Fall übertragen: Der Täter versteckt Gläschen mit vergiftetem Babybrei in einem Wiener Supermarkt, in dem auch einige Deutsche die Nahrungsmittel für ihre Kleinkinder kaufen.

VI. Schluss Von der besten Lösung der dolus-alternativus-Problematik sind wir noch entfernt. Das liegt auch daran, dass das Phänomen vereinzelt anscheinend noch nicht richtig erfasst worden ist. Jedenfalls gelingt es nicht immer, die passenden Worte zu finden. Evident unrichtig ist die Aussage, beim dolus alternativus beziehe sich der Vorsatz des Täters auf „zwei sich ausschließende Tatbestände“, es könne in diesem Fall „nur einer der beiden Tatbestände verwirklicht werden“.63 Das ist zumindest missverständlich.64 Die Verwendung des Wortes „Tatbestand“ in diesem Zusammenhang

63

Zieschang, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2020, Rn. 172; ebenso Krey/Esser, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2022, Rn. 403; Schaefer, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller, StGB, 3. Aufl. 2020, § 15 Rn. 5. 64 Was die Autoren beschreiben, ist ein Fall wie folgender: Jurastudent T bedroht seinen Kommilitonen O mit geladener Pistole und fordert: „Geld her!“. Dabei stellt sich T vor, seine Tat verwirkliche entweder den Tatbestand des qualifizierten Raubes (§§ 249, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB) oder den Tatbestand der qualifizierten räuberischen Erpressung (§§ 253, 255, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB). In der Vorlesung hatte T gehört, Raub und räuberische Erpressung stünden zueinander in einem Exklusivitätsverhältnis.

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stimmt nicht. Was der Autor meint, ist der „Sachverhalt“.65 Und es stimmt auch nicht, dass nur einer der beiden Tatbestände verwirklicht werden kann. Im HammerschlagFall ging es nur um einen Tatbestand, den der gefährlichen Körperverletzung. Und selbst wenn verschiedene Straftatbestände im Raum stünden @ z. B. Totschlag bzw. Mord, weil wegen der physischen Konstitution des einen Opfers (Bluter) mit dessen Tötung zu rechnen wäre, – könnten beide Straftatbestände verwirklicht werden; alternativ sowieso und im Hammerschlag-Fall sogar kumulativ. Dass die Vertreter der h. M. die Argumentation der Gegner offenbar nicht recht verstehen, zeigt der untaugliche Versuch, mit einer „Analogie“ zum untauglichen Versuch der Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen: „Auch für den untauglichen Versuch, der von vornherein nicht zur Vollendung führen kann, wird nicht in Abrede gestellt, dass ein Tatentschluss gegeben ist, obwohl die Tat von vornherein aus objektiven Gründen nicht vollendet werden kann“ schreibt Hans Theile.66 Hier wird haarscharf aneinander vorbeigeredet. Nicht, dass die Tat aus objektiven Gründen nicht vollendet werden kann, ist beim dolus alternativus der Punkt, sondern dass der Täter weiß, es kann neben der einen Vollendung keine weiteren Vollendungen geben. Das ist der Unterschied. Der Täter des untauglichen Versuchs hat selbstverständlich Vollendungsvorsatz, weil er die objektive Untauglichkeit nicht erkennt. Die beiden Fälle nebeneinander zu betrachten, bringt überhaupt keinen Erkenntnisgewinn, jedenfalls keinen, der der h. M. den Rücken stärken könnte. Wie oben mehrfach angedeutet wurde, dürfte der Schlüssel zur Lösung im objektiven Versuchstatbestand liegen, also beim „unmittelbaren Ansetzen“. Ein alternativer Vorsatz, dem die objektive Grundlage des unmittelbaren Ansetzens fehlt, geht ins Leere oder „hängt in der Luft“. Im Lebensmittelerpresser-Fall setzt der Täter mit der Platzierung jedes einzelnen Gläschens im Supermarktregal zur einmaligen Verwirklichung des Mordtatbestandes an. Die „entweder-oder-Vorstellung“ mag zwar auf der Vorsatzebene die von der h. M. befürwortete Vielheit psychologisch tragen. Der Entscheider, der auf der Ebene des objektiven Versuchstatbestandes das unmittelbare Ansetzen festzustellen hat, wird aber nur eine Handlung sehen, die diese normative Eigenschaft einmal hat, also das Strafgesetz nicht „mehrmals“ (§ 52 Abs. 1 StGB), sondern nur einmal verletzt.

65 Eisele/Heinrich (Fn. 10) Rn. 56; B. Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2022, Rn. 292. 66 Theile, ZJS 2021, 553.

Legaldefinitionen und die Reichweite des Gesetzlichkeitsprinzips in Art. 103 Abs. 2 GG Roland Schmitz

I. Einführung Legaldefinitionen sind jedem Rechtsanwender vertraut. Der Gesetzgeber normiert Legaldefinitionen sowohl im Allgemeinen Teil1 als auch im Besonderen Teil2 des StGB und besonders oft in den strafrechtlichen Nebengesetzen3. Insbesondere Legaldefinitionen im Allgemeinen Teil des StGB dienen der Vereinfachung des Gesetzestextes, weil die einzelnen Tatbestände dadurch schlanker gehalten werden können, denn ein einmal legaldefinierter Begriff muss nicht mehr in jedem Tatbestand, in dem er vorkommt, mit seinen einzelnen Merkmalen umschrieben werden.4 Gleiches gilt für Legaldefinitionen in den strafrechtlichen Nebengesetzen, die regelmäßig nicht (nur) für die dort aufzufindenden Strafvorschriften gelten, sondern schon – vorgelagert – für in den Gesetzen getroffene Regelungen, auf die die jeweiligen Strafvorschriften sich (meist als Blanketttatbestände) beziehen. So wird beispielsweise für das gesamte Arzneimittelgesetz durch (mindestens) § 2 Abs. 1 und 3a AMG definiert, was „Arzneimittel“ sind,5 durch § 4 Abs. 1 AMG, was „Fertigarzneimittel“ sind,6 und durch § 3 AMG, was „Stoffe“ i. S. des Gesetzes sind. Auf diese so definierten Begriffe nehmen dann auch die Straftatbestände der §§ 95, 96 AMG Bezug. Bislang nicht erörtert wurde erstaunlicherweise, inwiefern Legaldefinitionen dem Gesetzlichkeitsprinzip unterfallen. Der BGH ist jüngst wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Legaldefinition der „Vereinigung“ in § 129 Abs. 2 StGB als Konkretisierung der „kriminellen Vereinigung“ nach § 129 Abs. 1 StGB Tatbestandsmerkmale enthält, die dem „Verschleifungsverbot“ i. S. der Rechtsprechung 1

Insbesondere in § 11 Abs. 1, aber z. B. auch in § 28 StGB. Z. B. in § 92 Abs. 2, 3, § 129 Abs. 2, § 264 Abs. 8, 9, § 330d Abs. 1 StGB. 3 Z. B. in § 2 – 4 AMG, wo sich auch negative Legaldefinitionen finden lassen (§ 2 Abs. 3 AMG); § 2 Abs. 2 – 25 AWG; §§ 2, 3 LFGB. 4 Bekanntlich gelten die Legaldefinitionen des AT des StGB auch für das Nebenstrafrecht und das Landesrecht, Art. 1 EGStGB, sofern nicht dort genannte Ausnahmen eingreifen. 5 Ob auch § 2 Abs. 2, 4 AMG Legaldefinitionen enthält, soll an dieser Stelle offen bleiben. 6 § 4 Abs. 2 – 41 AMG enthalten weitere 40 Legaldefinitionen. 2

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des BVerfG zu Art. 103 Abs. 2 GG7 unterfallen.8 Die Kommentarliteratur hingegen thematisiert die Frage, soweit ersichtlich, nicht ausdrücklich9 – vielleicht auch, weil die (Gleich-)Behandlung von Legaldefinitionen mit Tatbestandsmerkmalen so selbstverständlich erscheint? Betont wird allerdings der Vorrang einer Legaldefinition bei der Auslegung eines Tatbestandsmerkmals vor anderen Interpretationsansätzen.10 Nur Sánchez-Ostiz, der wohl am ausführlichsten „die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts“ hinterfragt hat,11 legt sich insofern eindeutig fest, dass (jedenfalls bestimmte)12 Legaldefinitionen „nicht nur eine Bedeutung fest[legen], sondern deren Sinn wird Teil einer strafrechtlichen Norm, um dieser zu dienen“.13 In ersten Stellungnahmen zu dem den Begriff der „kriminellen Vereinigung“ betreffenden Urteil wird dies jedoch ausdrücklich bestritten: Tatbestandsmerkmal i. S. des Art. 103 Abs. 2 GG sei allein der Begriff der Vereinigung in § 129 Abs. 1 StGB, nicht ihre Konkretisierung durch § 129 Abs. 2 StGB,14 weil Tatbestandsmerkmale – so muss man es wohl verstehen – genuin im Tatbestand genannt sein müssen und nicht in einer davon separierten Legaldefinition. Aufgeworfen ist damit die Frage nach der Einordnung von Legaldefinitionen im Kontext des Gesetzlichkeitsprinzips, speziell in seiner Ausprägung als Bestimmtheitsgebot und den daraus abgeleiteten Konsequenzen.

II. Legaldefinitionen und Bestimmtheitsgebot – ein Problem? Auf den ersten Blick scheint es, als sei die Frage, ob es einen Widerspruch zwischen gesetzlicher Bestimmtheit und einer Legaldefinition geben können, etwas ab7 Vgl. BVerfGE 126, 170 (198); BVerfGE 87, 209 (229); dazu Saliger, ZStW 2000, 563 (568 ff.). 8 BGH wistra 2021, 441 Rn. 28, 34 f. In diesem Sinne wohl auch Schäfer/Anstötz, in: Erb/ Schäfer (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2021, § 129 Rn. 33. 9 Diesen Vorwurf muss ich mir auch selbst machen, da ich mich in meiner Kommentierung zu § 1 StGB im MK-StGB bislang nicht dazu verhalten habe. – Insofern danke ich meinem Osnabrücker Kollegen Arndt Sinn für seinen Hinweis darauf sowie für seine Anregung, darüber doch einmal näher nachzudenken (und für seine Stellungnahmen zur Thematik, siehe sogleich), der an dieser Festschrift ebenfalls beteiligt ist, weil er wie ich das große Vergnügen hatte, seinen ersten Ruf an die Viadrina zu erhalten und dort unmittelbarer Kollege von Jan C. Joerden zu werden. 10 Vgl. nur Dannecker/Schuhr, in: Cirener et al. (Hrsg.), LK-StGB, 13. Aufl. 2020, § 1 Rn. 303 m. w. N.; Schmitz, in: Erb/Schäfer (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2020, § 1 Rn. 87 m. w. N. 11 Siehe den gleichlautenden Beitrag von Sánchez-Ostiz, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012, 69 ff., in dem aber vor allem die Leistungsfähigkeit von Legaldefinitionen für die Rechtsanwendung untersucht wird. 12 Dazu näher unten IV. 13 Sánchez-Ostiz (Fn. 11), 76, weiterer Nw. dort in Fn. 43 i. V. m. Fn. 3. 14 Sinn/Iden/Pörtner, ZIS 2021, 435 (449); Sinn, ZJS 2021, 673 (678).

Legaldefinitionen des Gesetzlichkeitsprinzips in Art. 103 Abs. 2 GG

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surd: Wenn der Gesetzgeber sich schon die Mühe macht, einen Begriff im Wege einer Legaldefinition festzulegen, dann kann es doch gerade keinen Widerspruch zum Bestimmtheitsgebot als Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips nach Art. 103 Abs. 2 GG geben! Was will man mehr als eine gesetzgeberische (eindeutige) Festlegung, die dem Rechtsanwender die unter Umständen mühselige Auslegung von Begriffen abnimmt? Ganz so einfach ist es natürlich aber schon deshalb nicht, weil letztlich auch Legaldefinitionen aus Gesetzestext bestehen, der ausgelegt werden kann oder muss,15 – je nachdem, wie präzise der Gesetzgeber eine Definition fasst. Man denke nur an die Definition von „Amtsträger“ in § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB, die zahlreiche Entscheidungen des BGH und Stellungnahmen in der Literatur hervorgerufen hat.16 Legaldefinitionen sind interpretierbar nach den allgemeinen Regeln. Die Frage, um die es also geht, ist, ob die Interpretation an die Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG gebunden ist bzw. durch sie begrenzt wird – oder nicht. Hinzu kommt, dass die Bejahung der Frage eben auch weitere Konsequenzen nach sich zieht wie die nach dem „Verschleifungsverbot“ von Tatbestandsmerkmalen, von dem der BGH (vorstehend) ausgegangen ist. Hier geht es um die Grenze der noch zulässigen Auslegung. Die Frage, ob der Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 2 GG auch Legaldefinitionen erfasst, ist also durchaus von – auch praktischer – Bedeutung.17 Die Grundaussagen von Art. 103 Abs. 2 GG sind allseits bekannt und müssen hier nicht näher ausgeführt werden. Im hiesigen Zusammenhang von Bedeutung ist aber die Frage, was alles „Gesetz“ i. S. von „gesetzlich bestimmt“ in Art. 103 Abs. 2 GG ist. Insoweit geht es aber nicht darum, dass nach ganz h. M. dazu jede verfassungskonform zustande gekommene positiv-rechtliche Norm zählen kann (und darüber hinaus auch EU-Rechtsakte, soweit sie durch Blanketttatbestände Teil der Strafnorm werden).18 Es geht vielmehr um die Frage, was die gesetzlich bestimmte Strafbarkeit ausmacht bzw. was Art. 103 Abs. 2 GG damit einbezieht. Art. 103 Abs. 2 GG bezieht sich nach h. M. auf die Umschreibung des strafrechtlich verbotenen Verhaltens, damit der Gesetzesunterworfene erkennen kann, wie er sich verhalten muss, um sich nicht strafbar zu machen.19 Den strafrechtlichen Nor-

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Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 9 Rn. 63; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2021, § 7 Rn. 63; ausführlich Sánchez-Ostiz (Fn. 11), 77 ff., 84 ff. 16 Ausführlich dazu Radtke, in: Erb/Schäfer (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2020, § 11 Rn. 44 ff. m. w. N. 17 Siehe dazu die Kritik an der Entscheidung des BGH wistra 2021, 441 Rn. 28, 34 f. von Sinn/Iden/Pörtner, ZIS 2021, 435 (449); Sinn, ZJS 2021, 673 (678). 18 Vgl. nur Dannecker/Schuhr, LK-StGB, § 1 Rn. 118 m. w. N.; Schmitz, MüKo-StGB, § 1 Rn. 25 ff. m. w. N. 19 Vgl. nur BVerfGE 105 (135) m. w. N.; Schmitz, MüKo-StGB, § 1 Rn. 8 ff. m. w. N.

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men kommt aus dieser Perspektive eine verhaltensleitende Funktion zu.20 Dementsprechend sind die jeweiligen Straftatbestände und mit ihnen die zugrunde liegenden Verhaltensnormen Bezugspunkt des Gesetzlichkeitsprinzips.21 Allerdings entspricht es auch der heute – allerdings immer noch umstrittenen – h. M., dass nicht nur die Straftatbestände vom Gesetzlichkeitsprinzip erfasst werden, sondern grundsätzlich auch die allgemeinen Regeln des Allgemeinen Teils des StGB, sofern sie über die Strafbarkeit im Einzelfall mitentscheiden;22 dies gilt insbesondere für (gesetzlich umschriebene) Rechtfertigungsgründe.23 (Nicht nur) auf Basis der herrschenden Normentheorie ist dies konsequent, weil die aus der Norm abzuleitende individuelle Pflicht im Einzelfall nur unter Berücksichtigung einer etwaigen Rechtfertigung als Freistellungsnorm entstehen kann.24 Vereinfacht gesagt bestimmen auch die Regeln des Allgemeinen Teils die Reichweite der Strafbarkeit mit. Dies sagt nun noch nichts darüber aus, ob deshalb auch Legaldefinitionen vom Gesetzlichkeitsprinzip erfasst werden, zumal sie an unterschiedlichen Stellen im Gesetz vorfindlich sind. Dafür scheint allerdings zu sprechen, dass sie – wohl – auch über die Reichweite des Strafbaren mitzuentscheiden haben. Ein denkbarer Einwand dagegen könnte allerdings sein, dass bei der Umschreibung der „gesetzlichen Bestimmtheit“ bislang zu ungenau vorgegangen und nicht hinreichend herauskristallisiert wurde, was genau das strafbare Verhalten beschreibt. Denn der Gegeneinwand im zitierten Schrifttum lautet ja, dass sich Art. 103 Abs. 2 GG nur auf Tatbestandsmerkmale beziehe, die das strafbare Verhalten umgrenzen. – Ich gehe davon aus, dass es sich dabei um eine verkürzte Aussage handelt und damit nicht gemeint sein soll, dass per se die Regelungen des Allgemeinen Teils des StGB vom Gesetzlichkeitsprinzip ausgenommen wären, die vorstehend skizzierte h. M. also bestritten werden sollte,25 denn Regelungen wie etwa § 25 Abs. 2, §§ 26, 27 StGB ergänzen bzw. erweitern die Tatbestände des Besonderen Teils (wie des Neben-

20 Ausführlich zur herrschenden Sichtweise etwa Schladitz, Normtheoretische Grundlagen der Lehre von der objektiven Zurechnung, 2021, 210 ff., auch mit Darstellung abweichender Konzepte. 21 Grundsätzlich abweichend insofern Rostalski, Der Tatbegriff im Strafrecht, 2019, 86 ff.: Das Gesetzlichkeitsprinzip sei ausschließlich auf die Sanktionsnorm bezogen, weil die Verhaltensnormen vorstrafrechtlich seien, auf sie könne sich Art. 103 Abs. 2 GG daher nicht beziehen. – Rostalski bestreitet damit die verhaltensleitende Funktion von Straftatbeständen, die nach h. M. (auch) dem Gesetzlichkeitsprinzip entnommen wird. Ausschließlich über Bestrafung (oder Nichtbestrafung) wirke der Gesetzgeber auf den Bürger ein. Für die hiesige Fragestellung dürfte diese an sich fundamentale Divergenz keine Bedeutung haben. 22 Ausführlich dazu Kirsch, Zur Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs, 2014, 104 ff. m. w. N. 23 Näher dazu Schmitz, MK-StGB, § 1 Rn. 13 ff. m. w. N., auch zur Gegenansicht. 24 Dazu Schladitz (Fn. 20), 313 ff. 25 Vgl. auch Gropp/Sinn, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 3 Rn. 7 ff.

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strafrechts),26 während die Rechtfertigungsgründe (als negative Tatbestandsmerkmale)27 die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens begrenzen. Die kritischen Aussagen wurden im Zusammenhang mit dem vom BGH angesprochenen „Verschleifungsverbot“ gemacht und bezogen sich daher wohl nur auf diesen Zusammenhang. – Der Gegeneinwand könnte dann berechtigt sein, wenn Legaldefinitionen das tatbestandsmäßige Verhalten nicht konkretisierend beschreiben und festlegen, sondern nur Hinweise zur Interpretation einzelner Tatbestandsmerkmale – die der Rechtsanwender aber noch selbst vornehmen muss – gäben.

III. Legaldefinitionen und „Legalinterpretationen“ Ein solches Verständnis – Legaldefinitionen legten nichts fest, sondern dienten nur der Auslegung – ist im Schrifttum schon seit längerem präsent:28 Legaldefinitionen verkürzten als „Legalinterpretationen“ den Auslegungs- und Subsumtionsvorgang und sollten „die Auslegung durch die Rechtspraxis in eine gewisse Richtung“ steuern.29 Versteht man die Funktion von Legaldefinitionen so, konkretisieren sie zwar in gewisser Weise, was der Gesetzgeber mit bestimmten Begriffen grundsätzlich gemeint hat, legen den Rechtsanwender bei der Auslegung von Begriffen aber nicht auf das Konkretisierte fest – er soll ja nur „in eine gewisse Richtung“ der Auslegung gesteuert werden. Legaldefinierte Begriffe wären dann grundsätzlich wie normative (bzw. „institutionelle“30) Tatbestandsmerkmale zu verstehen, ihre Reichweite aber immer noch im normativen Zusammenhang durch Auslegung zu bestimmen. Der Rechtsanwender müsste dabei zwar die „Legalinterpretation“ beachten, könnte aber wohl auch feststellen, dass es einen in der Legaldefinition nicht genannten Bereich gäbe, der dem Inhalt der Definition jedoch so nahe kommt, dass er gleich zu behandeln sei.31 Eine

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Auf Basis des herrschenden Verständnisses vom restriktiven Täterbegriff; vgl. dazu nur Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vorbem. §§ 25 ff. Rn. 4 f. m. w. N.; Gropp/Sinn (Fn. 25) § 10 Rn. 41 f. 27 Es handelt sich um eine bewusste Verkürzung, um die Diskussion über die „Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen“ im Rahmen der Irrtumslehren soll es hier nicht gehen. Auch ohne auf normtheoretische Feinheiten einzugehen (dazu erneut Schladitz [Fn. 20], 313 ff.) begrenzen die Rechtfertigungsgründe jedoch unstrittig das mögliche strafbare Verhalten im Einzelfall – und bestimmen es also mit. 28 Weber (Fn. 15), § 9 Rn. 61 ff., setzt „Legalinterpretationen“ mit „Legaldefinitionen“ gleich; ebenso Eisele (Fn. 15), § 7 Rn. 61 ff. 29 Weber (Fn. 15), § 9 Rn. 61; Eisele (Fn. 15), § 7 Rn. 61. 30 Siehe die Kritik von Puppe an der Begrifflichkeit „normativer“ Tatbestandsmerkmale, etwa Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 5. Aufl. 2017, § 16 Rn. 31 m. w. N. – Darauf kommt es hier nicht an, weil es nicht um den Vorsatzgegenstand geht. 31 Noch treffender wäre vielleicht ein Vergleich mit der Regelbeispielstechnik innerhalb der Normierung besonders schwerer Fälle einer Tat: Die „Legalinterpretation“ gäbe den Re-

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abschließende Festlegung des jeweiligen Begriffs durch die für ihn geltende Legaldefinition gäbe es also nicht. Ob so ein Verständnis allerdings wirklich den Legaldefinitionen gerecht würde – bzw. der Gesetzgeber es grundsätzlich so gemeint hat, erscheint auf den ersten Blick doch etwas zweifelhaft. Warum sollte etwa eine Ergänzung wie § 11 Abs. 1 Nr. 2a StGB, mit der der Gesetzgeber den Begriff des Europäischen Amtsträgers definiert hat, in das StGB eingefügt worden sein,32 wenn die Definition in § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht als abschließend zu verstehen wäre? Der Umstand, dass „Amtsträger“ traditionell nur solche Dienst-/Amtsverhältnisse erfasst, deren Bestellung auf deutschem Recht beruht,33 hätte angesichts der immer stärkeren Einbindung Deutschlands in die EU bei einer zulässigen freien Handhabung der Definition in § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB einer erweiternden Auslegung wohl nicht zwingend entgegengestanden. Da der Gesetzgeber aber mit der Nr. 2a eine zusätzliche Definition eingeführt hat, hat er die Definition in Nr. 2 offenbar als abschließend angesehen. Es ist jedoch auch nicht zu übersehen, dass gesetzgeberische Konkretisierungen nicht immer gleich verbindlich sind. Es gibt erkennbare Unterschiede, schon zwischen § 11 Abs. 1 und Abs. 2 StGB, obwohl sie beide gesetzgeberische Vorgaben zur Auslegung von Strafvorschriften beinhalten; insofern ist interessant, dass die Neufassung des § 11 Abs. 3 StGB34 nunmehr den Begriff „Inhalte“ definiert, während die frühere Fassung des Absatzes 3 keine Legaldefinition des „Schriftenbegriffs“, sondern nur eine Gleichstellung enthielt.35 Offensichtlich nicht abschließend sind Konkretisierungen wie die der Steuerverkürzung in § 370 Abs. 4 S. 1 AO, die nur „namentlich“ die typischen Fälle benennt, in denen Steuern verkürzt worden sind. Insofern scheint es angebracht, einen differenzierten Blick auf solche gesetzgeberischen Vorgaben zu werfen, die dem Rechtsanwender Vorgaben für die Auslegung bestimmter Begriffe machen.

IV. Legaldefinitionen als Nominaldefinitionen 1. Die Einordnung In der klassischen Logik werden üblicherweise Nominaldefinitionen (Worterklärungen) und Realdefinitionen (Sacherklärungen) unterschieden.36 Nominaldefinitiogelfall vor, hinderte den Rechtsanwender aber auch nicht, einen „unbenannten“ Fall durch Auslegung festzustellen. 32 Mit Gesetz vom 20. 11. 2015, BGBl. I, 2025. 33 Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 11 Rn. 14. 34 Mit Gesetz vom 30. 11. 2020, BGBl. I, 2600. 35 Zutreffend Radtke, MK-StGB, § 11 Rn. 166; anders allerdings a. a. O. Rn. 1. 36 Zu weiteren Definitionsformen etwa Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 37 ff.

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nen sollen „die genaue Bedeutung eines Sprachzeichens angeben“,37 also die Bedeutung eines Begriffs festlegen. Dies kann intensional geschehen, indem ein Begriff eine Spezifizierung erfährt, oder extensional, indem eine abschließende Menge einem Begriff untergeordnet wird;38 eine solche Regelung findet sich z. B. in § 1 Abs. 1 BtMG, der als Betäubungsmittel die in den Anlagen I bis III des BtMG aufgeführten Stoffe definiert. Realdefinitionen sollen dagegen die Feststellung ermöglichen, „welches einerseits die nächste Gattung ist, in welcher das zu Definierende enthalten ist“, und andererseits die Unterscheidungsmerkmale bezeichnen, die den Definitionsbegriff von anderen der Gattung angehörigen Gegenständen unterscheiden.39 Vereinfachend gesagt kommt ihnen eine erklärende Funktion zu.40 Legaldefinitionen sind regelmäßig Nominaldefinitionen, denn sie verleihen einem Begriff im Tatbestand eine vom Gesetzgeber vorgegebene Bedeutung.41 Der Begriff ist nur die Kurzform der Aussage der Nominaldefinition und mit ihr identisch, soweit die Definition reicht (im hiesigen Kontext also im Rahmen des Rechts, während der definierte Begriff im allgemeinsprachlichen Sinn etwas anderes oder Weiteres bedeuten kann).42 Legaldefinitionen definieren im eigentlichen Sinn, was ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal bedeuten soll. Sie sind damit Definitionsnormen43 bzw. „Substitutionsvorschriften“, die mit dem definierten Begriff austauschbar sind.44 Bei § 129 Abs. 2 StGB, dem Ausgangspunkt der Kontroverse, handelt es sich zweifelsfrei um eine solche Definitionsnorm. Der Gesetzgeber wollte die als nicht mehr EU-rechtskonform – weil als zu eng – angesehene Rechtsprechung des BGH zur Auslegung des Begriffs „kriminelle Vereinigung“ an die Vorgaben des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität45 anpassen46 – den BGH also zu einer Rechtsprechungsänderung47 zwingen. Die gesetzgeberische Vorgabe ist eindeutig: Für eine ergänzende Auslegung im Sinne einer bloßen „Legalinterpretation“ besteht kein Raum.48 Jedenfalls im Rahmen der §§ 129 – 37 Klug, Juristische Logik, 4. Aufl. 1982, 88 f. m. w. N. Dem entspricht in der modernen Logik die explizite Definition im engeren Sinne; Klug a. a. O., 89 f., 94. 38 Für alle Röhl/Röhl (Fn. 36), 38. 39 Klug (Fn. 37), 89. Ob es sich um „echte“ Definitionen handelt, ist zweifelhaft; Klug a. a. O., 96 ff.; Sánchez-Ostiz (Fn. 11), 74 m. w. N. 40 Klug (Fn. 37), 90 ff.; Röhl/Röhl (Fn. 36), 39 ff. 41 Vgl. Röhl/Röhl (Fn. 36), 38 f.; ebenso Sánchez-Ostiz (Fn. 11), 74 m. w. N. 42 Röhl/Röhl (Fn. 36), 38 f. 43 Sánchez-Ostiz (Fn. 11), 76 mit Verweis auf Fikentscher (Fn. 35). 44 Klug (Fn. 37), 94 m. w. N. 45 Vom 24. 10. 2008, ABl. L 300, 42. 46 BT-Drucks. 18/11275, 1, 7 f., 11; vgl. dazu auch Sinn, ZJS 2021, 675. 47 Die mit der Entscheidung BGH wistra 2021, 441 erfolgt ist. 48 Verkannt von LG Köln NStZ-RR 2021, 74; dazu Sinn, ZJS 2021, 673 ff.

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129b StGB ist der Begriff der Vereinigung festgelegt, das Tatbestandsmerkmal „Vereinigung“ im jeweiligen Absatz 1 ist als Begriff die Kurzfassung dessen, was in § 129 Abs. 2 StGB definiert ist. Dass der Begriff allgemeinsprachlich weiter verstanden wird (oder nach der früheren BGH-Rechtsprechung enger), ist für die Auslegung der Tatbestände unerheblich. 2. Die Konsequenzen Wenn es die Eigenschaft von Nominaldefinitionen ist, dass sie den definierten Begriff festlegen und der im Tatbestand vorfindliche Begriff nur die Kurzform der Nominaldefinition ist, dann ist die Legaldefintion ein Teil des Tatbestands selbst und wird deshalb von Art. 103 Abs. 2 GG unmittelbar erfasst.49 Die Reichweite der Definition entspricht der Reichweite des Wortlauts des Tatbestands, er darf weder überschritten werden noch darf ein Teil der Definition bei der Auslegung und Anwendung des Tatbestand ausgeblendet werden. Insofern ist der Verweis des BGH auf die Einschlägigkeit des „Verschleifungsverbots“50 zutreffend.51 Ebenso verbietet sich eine Analogie zum Nachteil des Täters, indem etwa die Legaldefinition als bloße Legalinterpretation herangezogen wird. Allerdings kann es im Einzelfall sein, dass auch eine Legaldefinition nicht abschließend ist. Das ist etwa bei § 330d Abs. 1 Nr. 1 StGB der Fall, der „Gewässer“ i. S. des 29. Abschnitts des StGB definiert: „ein oberirdisches Gewässer, das Grundwasser und das Meer“. Es ist leicht erkennbar, dass die Aussage hinsichtlich der oberirdischen Gewässer zirkulär ist und nur durch Heranziehung von § 3 Nr. 1 WHG eine sinnvolle Aussage52 erhält. Zur Vermeidung von Widersprüchen zwischen Strafrecht und Verwaltungsrecht wird auch das Grundwasser nach § 3 Nr. 3 WHG bestimmt.53 Dies weist aber vor allem auf den schon konstatierten Befund zurück, dass auch Legaldefinitionen ausgelegt werden müssen. Die Legaldefinition in § 330d Abs. 1 Nr. 1 StGB beinhaltet insoweit selbst zwei Begriffe, die anderswo legaldefiniert werden.54 49

Gedanklicher Umwege wie etwa, den Begriff im Tatbestand als Blanketttatbestandsmerkmal anzusehen, über das die Legaldefinition in den Tatbestand integriert wird, bedarf es daher nicht. 50 Oben unter I. 51 Offenbleiben muss hier, ob das Problem im konkreten Fall bestand; siehe BGH wistra 2021, 441 Rn. 23 ff. und dazu Sinn/Iden/Pörtner, ZIS 2021, 435 (442 ff.). 52 Danach ist oberirdisches Gewässer „das sta¨ ndig oder zeitweilig in Betten fließende oder stehende oder aus Quellen wild abfließende Wasser“. 53 Als „das unterirdische Wasser in der Sa¨ ttigungszone, das in unmittelbarer Beru¨ hrung mit dem Boden oder dem Untergrund steht“. 54 Dies gilt nicht für den dritten Begriff „Meer“, der im WHG gar nicht vorkommt, weil das deutsche Verwaltungsrecht sich nur auf deutsches Hoheitsgebiet bezieht und daher nur das „Küstengewässer“ und das „Meeresgewässer“ in § 3 Nr. 2, 2a WHG kennt, letzteres beschränkt auf die ausschließliche Wirtschaftszone (und den Festlandssockel). Der strafrechtliche Begriff von „Meer“ ist daher autonom auszulegen und weiter als der des WHG; vgl. Schmitz in: Erb/Schäfer (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2022, § 330d Rn. 2 f. m. w. N.

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Ob eine solche Gesetzgebung den Erfordernissen an klar erkennbare Strafvorschriften dient, sei an dieser Stelle dahingestellt. Der Umstand, dass Legaldefinitionen unmittelbarer Bezugspunkt des Gesetzlichkeitsprinzips sind, hat zwei weitere Konsequenzen: - Es muss feststellbar sein, ob eine gesetzliche Aussage eine Nominaldefinition (i. S. einer Legaldefinition) darstellt. - Für die gesetzliche Aussage selbst gilt insbesondere auch der Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 Abs 2 GG. a) Legaldefinition oder nur Realdefinition? Die vorstehend genannte Konsequenz, dass Legaldefinitionen den Rechtsanwender binden, setzt voraus, dass es sich bei der jeweiligen Norm um eine Nominaldefinition und nicht nur um eine Realdefinition handelt. aa) § 11 Abs. 1 Nr. 7 StGB: Gerichte sind Behörden Diese Problematik geht schon bei § 11 StGB los, der ja „Begriffe“ festlegen soll. So sagt dessen Absatz 1 Nr. 7 aus: Behörde ist auch ein Gericht. Dies sieht zunächst wie eine Nominaldefinition aus, denn es wird der Behördenbegriff über seine übliche Verwendung hinaus erweitert. Allerdings weiß man dadurch nur, dass Gerichte strafrechtlich (auch) als Behörden anzusehen sind, nicht aber, was Behörden oder Gerichte sind.55 Eine allgemeine Legaldefinition von „Behörde“ existiert nicht. Zwar bestimmt § 1 Abs. 4 VwVfG als Behörde „jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt“ – aber nur „im Sinne dieses Gesetzes“. Abgesehen davon, dass noch zu konkretisieren wäre, was alles „öffentliche Verwaltung“ umfasst, findet sich in § 6 AO56 eine sehr ausdifferenzierte Behördendefinition, die auch unter bestimmten Umständen „nicht-öffentliche Stellen“ einbezieht und damit auch den Behördenbegriff i. S. des Achten Teils der AO (Steuerstraftaten) definiert. Gemeinsam ist beiden Regelungen, dass „Aufgaben der öffentlichen Verwaltung“ wahrgenommen werden müssen. Dies tun Gerichte – vorbehaltlich dessen, was alles ein Gericht i. S. der Regelung ist – aber nur selten.57 Und offen bleibt eben auch, was als „Gericht“ i. S. des § 11 Abs. 1 Nr. 7 StGB anzusehen ist. Art. 92 GG könnte man entnehmen, dass sie die „rechtsprechende Ge55

Vgl. auch Hilgendorf, in: Cirener et al. (Hrsg.), LK-StGB, 13. Aufl. 2020, § 11 Rn. 92. I. d. F. des Gesetzes v. 17. 7. 2017, BGBl. I, 2541. 57 Im Steuer(straf)recht kommt hinzu, dass nach der Rechtsprechung des BFH nur solche Behörden adressiert sind, die steuerlich erhebliche Entscheidungen treffen; BFH HFR 2002, 378; dazu Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MK-StGB, 3. Aufl. 2019, § 369 AO Rn. 24 ff. m. w. N. 56

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walt“ des Bundes und der Länder verkörpern. Da aber § 11 Abs. 1 Nr. 2a lit. a und § 162 Abs. 1 StGB europäische und supranationale Gerichte adressieren, müssen diese mindestens auch von § 11 Abs. 1 Nr. 7 StGB einbezogen sein.58 Daher enthält § 11 Abs. 1 Nr. 7 StGB keine Legaldefinition – weil kein Begriff definiert wird, sondern nur eine Realdefinition, die der Klarstellung59 dient:60 dass immer dann, wenn eine Strafvorschrift den Begriff „Behörde“ enthält, auch ein Gericht erfasst ist. bb) § 2 Abs. 4 AWG – Ausfuhrsendung In § 2 Abs. 4 AWG ist festgelegt, woraus eine Ausfuhrsendung besteht: „Ausfuhrsendung umfasst die Waren, die ein Ausfu¨ hrer gleichzeitig u¨ ber dieselbe Ausgangszollstelle nach demselben Bestimmungsland ausfu¨ hrt.“ Diese Festlegung hat für das AWG selbst gar keine Bedeutung, weil darin nirgendwo darauf Bezug genommen wird. Ausfuhrlieferungen werden dagegen in der AWV61 an verschiedenen Stellen erwähnt, im hiesigen Zusammenhang ist der Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 81 Abs. 2 Nr. 3 AWV von Interesse. Auf den ersten Blick scheint dies nur eine beschreibende Festlegung zu sein, also eine Realdefinition, indem bestimmte Waren einer Ausfuhrsendung zugeordnet werden, der Begriff selbst aber nicht definiert wird. Auf den zweiten Blick ergibt sich aber im gesamten Regelungszusammenhang, dass es um die Festlegung dessen geht, was ein „Anmelder“ oder „Ausführer“62 zusammengefasst gem. § 12 Abs. 1 AWV bei der Ausfuhrzollstelle gestellen muss.63 Ausfuhrsendung ist deshalb der vom Gesetzgeber festgelegte Begriff dafür, was als Gesamtheit „gestellt“ werden muss, und daher eine Legaldefinition. b) Problematische Legaldefinitionen Wenn Legaldefinitionen wie festgestellt unter das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG fallen, dann begrenzen sie nicht nur die Reichweite von Tatbeständen, sondern müssen selbst hinreichend bestimmt sein, um den Verfassungsansprüchen zu genügen. Ob das dem Gesetzgeber immer gelungen ist, erscheint zweifelhaft. Dies soll an zwei Legaldefinitionen aus ganz unterschiedlichen Rechtsgebieten illustriert werden.

58 Vgl. nur S/S-Hecker, StGB, § 11 Rn. 57 m. w. N.; Radtke, MK-StGB, § 11 Rn. 152 m. w. N. A. A. Hilgendorf, LK-StGB, § 11 Rn. 95: nur nationale Gerichte. 59 Hilgendorf, LK-StGB, § 11 Rn. 92. 60 Was angesichts der offenen Fragen aber auch kaum gelingt. 61 Außenwirtschaftsverordnung i. d. F. vom 25. 8. 2021, BAnz AT 7. 9. 2021 V1. 62 Definiert in § 2 Abs. 2 AWG. 63 Vgl. auch § 15 Abs. 3 AWV.

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aa) § 2 Abs. 1 AMG – was ist ein Arzneimittel? Wie eingangs schon erwähnt, wird in § 2 Abs. 1 AMG (ergänzt durch § 3a AMG) definiert, was ein Arzneimittel ist. Danach gibt es zwei verschiedene Arzneimittelbegriffe, den des „Präsentationsarzneimittels“ in Absatz 1 Nr. 164 und den des „Funktionsarzneimittels“ in Absatz 1 Nr. 265. In beiden Fällen handelt es sich zweifelsfrei um Nominaldefinitionen. Die Festlegung des Arzneimittelbegriffs ist insbesondere entscheidend für die Abgrenzung gegenüber (einfachen) Lebensmitteln und Medizinprodukten, für die das AMG und dessen Strafvorschriften nicht gelten. Während der Begriff des Präsentationsarzneimittels auf die dem Produkt beigegebene Bestimmung abstellt,66 soll es beim Funktionsarzneimittel auf dessen Eignung ankommen.67 Entscheidende Bedeutung dafür kommt der pharmakologischen Wirkung eines Stoffes zu,68 was grundsätzlich auch dem allgemeinsprachlichen Verständnis von „Arzneimittel“ entspricht. Nur bildet dies im Zusammenhang mit einer Definition von „Arzneimittel“ ein Problem: Es handelt sich schlicht um eine Tautologie.69 Denn ein Arzneimittel ist auch ohne gesetzliche Definition ein „Pharmakon“, der Begriff wird mit sich selbst definiert. Nun könnte man darüber hinwegsehen und inhaltlich danach fragen, wann denn eine solche pharmakologische Wirkung vorliegt. Und damit beginnt dann das materielle Problem: Ein Arzneimittelbegriff existiert nicht nur im AMG, sondern auch auf europäischer Ebene in Art. 1 Nr. 2 Richtlinie 2001/83/EG.70 Hinzu kommt, dass es nicht nur auf nationaler Ebene das Problem gibt, Arzneimittel von Lebensmitteln abzugrenzen, sondern auf europäischer Ebene verschiedene Rechtsakte existieren, die dies gewährleisten sollen. Offen bzw. stark umstritten ist, wie sich das europäische Recht und die Definition in § 2 Abs. 1 AMG zueinander verhalten.71 Dies liegt vor 64 Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, „die zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierischen Ko¨ rper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhu¨ tung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind“. 65 Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, „die im oder am menschlichen oder tierischen Ko¨ rper angewendet oder einem Menschen oder einem Tier verabreicht werden ko¨ nnen, um entweder a) die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder b) eine medizinische Diagnose zu erstellen“. 66 Zu den damit verbundenen Problemen Markwardt, Die Bestimmtheit der Straf- und Bußgeldvorschriften im Arzneimittelgesetz – Untersuchung des Arzneimittelbegriffs und der Blankettverweisungen am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG, 2022, 38 ff. m. w. N. 67 Ausführlich dazu Markwardt (Fn. 66), 31 ff., 49 ff. m. w. N. 68 Weil die immunologische oder metabolische Wirkung auch vielen Lebensmitteln zukommt und deshalb nichts für die Konkretisierung eines Arzneimittels leistet; Markwardt (Fn. 66), 35 m. w. N. 69 Markwardt (Fn. 66), 102. 70 Vom 6. 11. 2001, ABl. L 311, 67. 71 Markwardt (Fn. 66), 106 ff. m. w. N.

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allem daran, dass umstritten ist, ob die Richtlinie vollharmonisierend ist – was gerade der EuGH verneint,72 während der BGH und Teile der Literatur dies bejahen.73 Noch weiter verkompliziert wird die Frage dadurch, dass der EuGH in einem spezifischen Zusammenhang geurteilt hat, Arzneimittel sei nur ein solcher Stoff, der eine gesundheitsfördernde Wirkung habe.74 Auch wenn der EuGH damit wahrscheinlich nur die (verfehlte) frühere Rechtsprechung des BGH zur Einordnung von „Designerdrogen“ (die noch nicht in den Anlagen I–III zum BtMG gelistet waren) als Arzneimittel zurückweisen wollte,75 hat er damit der Rechtssicherheit den sprichwörtlichen Bärendienst erwiesen: Wenn dies zuträfe, wären zahlreiche Stoffe wie Kontrazeptiva oder Diagnostika keine Arzneimittel.76 Wie anderswo gezeigt wurde, sind die Unklarheiten über die Voraussetzungen der „pharmakologischen“ Wirkung eines Arzneimittels so gravierend, dass von einer hinreichenden Bestimmtheit nicht die Rede sein kann.77 Selbst wenn man der Rechtsprechung des BVerfG zustimmen wollte, dass den Gerichten eine Präzisierungsaufgabe hinsichtlich unbestimmter Rechtsbegriffe zukommt („Präzisierungsgebot“),78 wäre dies vorliegend nicht gewährleistet, weil die Rechtsprechung nicht in der Lage ist, eine solche Präzisierung zu leisten. Die in § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG genannten Bedingungen des Funktionsarzneimittels bleiben so unklar, dass sie mit dem Bestimmtheitsgebot nicht mehr zu vereinbaren sind – die Definition ist nicht verfassungskonform.79 Was ein Arzneimittel ist, kann derzeit nur über die Definition des Präsentationsarzneimittels in § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG bestimmt werden.80 bb) § 330d Abs. 1 Nr. 3 StGB In § 328 Abs. 3 Nr. 2 StGB hat der Gesetzgeber das Befördern, Versenden etc. „gefährlicher Güter“ für den Fall unter Strafe gestellt, dass dies unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten (definiert in § 330d Abs. 1 Nr. 4 StGB) geschieht, und es dadurch zu einer Gefährdung der Gesundheit eines anderen, von Tieren oder Pflanzen etc. kommt. Was gefährliche Güter im Sinne dieser Norm sind, ist in § 330d Abs. 1 Nr. 3 StGB definiert.81 Ein gefährliches Gut ist danach „ein Gut im Sinne 72

EuGH PharmR 2008, 59 (62) m. w. N. BGH PharmR 2010, 181 (182) m. w. N.; zu den Einzelheiten Markwardt (Fn. 66), 108 f. m. w. N. 74 EuGH PharmR 2014, 347 ff.; näher dazu Markwardt (Fn. 66), 57 ff. m. w. N. 75 Die Entscheidung erging auf Vorlagen des BGH, PharmR 2013, 379 und PharmR 2014, 296. 76 Eingehend dazu Markwardt (Fn. 66), 61 ff. 77 Siehe Markwardt (Fn. 66), 61 ff. m. w. N. 78 Ablehnend dazu Schmitz, MK-StGB, § 1 Rn. 57 ff. m. w. N. 79 Ausführlich dazu Markwardt (Fn. 66), 79 ff. 80 Markwardt (Fn. 66), 111. 81 Die Legaldefinition betrifft tatsächlich nur diesen Tatbestand, weil es im 29. Abschnitt nirgendwo sonst um gefährliche Güter geht. 73

Legaldefinitionen des Gesetzlichkeitsprinzips in Art. 103 Abs. 2 GG

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des Gesetzes über die Beförderung gefährlicher Güter [GGBefG] und einer darauf beruhenden Rechtsverordnung und im Sinne der Rechtsvorschriften über die internationale Beförderung gefährlicher Güter im jeweiligen Anwendungsbereich“. Auch insoweit liegt eine Nominaldefinition vor. Die Frage ist nur, ob sie zweckmäßig ist – oder im Gegenteil sogar in einem Ausmaß unbestimmt, dass sie den Bedingungen des Bestimmtheitsgebots nicht mehr genügt. Die Gesetzesbegründung zum 1. UKG82 nennt als Zweck der Definition, „die Weite des Begriffs des gefährlichen Gutes (…) aufzuzeigen und zu umgrenzen“.83 Dies erstaunt schon etwas, denn eine Legaldefinition sollte ja vor allem einmal konkretisieren, nicht verunsichern. Richtig aber ist, dass der Begriff des „gefährlichen Gutes“ durch die Legaldefinition eine enorme Weite erfahren hat. Das liegt zum einen daran, dass der in Bezug genommene § 2 Abs. 1 GGBefG seinerseits eine ausufernde Legaldefinition der gefährlichen Güter darstellt.84 Zum anderen – und dies ist noch weit problematischer – werden auch aufgrund des GGBefG erlassene Rechtsverordnungen85 sowie (überwiegend in englischer Sprache abgefasste) internationale Abkommen über die Beförderung gefährlicher Güter erfasst. Letztere sind zwar überwiegend statischer Natur, jedoch existieren zahlreiche Ausführungsvorschriften, die regelmäßig geändert werden und daher dynamisch sind;86 der Gesetzgeber kann daher gar nicht genau wissen, was alles Regelungsgegenstand sein wird.87 Schließlich kommt hinzu, dass im grenzüberschreitendem Verkehr nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 GGBefG alle unmittelbar geltenden Rechtsvorschriften der EU vorgehen,88 was die Erkennbarkeit der Regelungsmaterie noch unübersichtlicher macht. Eine solche Legaldefinition ist nicht nur unzweckmäßig, weil sie die Rechtsunterworfenen vor praktisch unlösbare Aufgaben stellt und deshalb nicht mehr als ver82 18. StrÄndG vom 28. 3. 1980, BGBl. I, 373; näher dazu Schmitz, MK-StGB, Vor § 324 Rn. 2 ff. 83 BT-Drucks. 8/2382, 27. – Die Systematik des damals neuen (noch) 28. Abschnitts des StGB war eine andere als heute, zudem war die ursprüngliche Definition (in § 330c Nr. 4 a. F.) anders – enger, wenngleich auch schon sehr weit – formuliert; vgl. dazu Möhrenschlager, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2020, § 330d Rn. 3. 84 „Gefa¨ hrliche Gu¨ ter im Sinne dieses Gesetzes sind Stoffe und Gegensta¨ nde, von denen auf Grund ihrer Natur, ihrer Eigenschaften oder ihres Zustandes im Zusammenhang mit der Befo¨ rderung Gefahren fu¨ r die o¨ ffentliche Sicherheit oder Ordnung, insbesondere fu¨ r die Allgemeinheit, fu¨ r wichtige Gemeingu¨ ter, fu¨ r Leben und Gesundheit von Menschen sowie fu¨ r Tiere und Sachen ausgehen ko¨ nnen“. 85 Beispiele bei Möhrenschlager, LK-StGB, § 330d Rn. 3; Schall, SK-StGB, 9. Aufl. 2016, § 328 Rn. 53. 86 Siehe Alt, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MK-StGB, 3. Aufl. 2019, § 328 Rn. 35 m. w. N.; S/S-Hecker, StGB, § 328 Rn. 18 m. w. N.; Möhrenschlager, LK-StGB, § 330d Rn. 3 m. w. N. 87 Ein solches „aus der Hand geben“ der Tatbestandsvoraussetzungen hat das BVerfG im Zusammenhang mit Blanketttatbeständen als verfassungswidrig eingestuft; BVerfG wistra 2017, 60 Rn. 48 ff. („RiFlEtikettG“). 88 Dazu Möhrenschlager, LK-StGB, § 330d Rn. 3, § 328 Rn. 32 m. w. N.

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nünftige Kommunikation des Gesetzgebers mit den Bürgern angesehen werden kann. Sie verfällt damit auch dem Verdikt einer so unbestimmten Vorgabe, dass sie als nicht mehr hinreichend bestimmt bezeichnet werden kann.89 Eine Legaldefinition, deren Reichweite nicht mehr erkennbar ist, trägt nicht nur nichts zu einer Eingrenzung der Regelungsmaterie bei. Sie ist kontraproduktiv, weil sie den Bürger ratlos zurücklässt. Dem Gesetzgeber ist insoweit Versagen vorzuwerfen – und die Definition als zu unbestimmt zurückzuweisen.90

V. Epilog Jan C. Joerden, dem dieser Text gewidmet ist, wird das alles nicht überraschen – es würde mich überraschen, wenn er es nicht schon gewusst hätte. Er gehört zu den scharfsinnigsten, belesensten und vielseitigst interessiertesten Rechtswissenschaftlern unserer Zeit. Dennoch musste es einmal von einem aufgeschrieben werden, damit in Zukunft niemand mehr sagen kann, es sei noch nicht gesagt worden. – Lieber Jan, es heißt im Kontext von Festschriften oft: „ad multos annos“. Das wünsche ich Dir, aber auch der gesamten Rechtswissenschaft, damit Du uns noch sehr viele Jahre mit Deinen klugen Überlegungen bereichern kannst!

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a. F.

Zu einer deshalb fehlenden Bestimmtheit BVerfG NJW 2004, 2213 (2218 f.) zum AWG

90 Die Bestimmtheit bezweifeln auch Schall, SK-StGB, § 330d Rn. 8; Michalke, Umweltstrafsachen, 3. Aufl. 2021, Rn. 381.

Actio libera in causa – Beteiligung an eigener Tat? Kurt Schmoller Jan Joerden und ich kennen uns seit der Zeit, als wir uns als junge, gerade habilitierte Dozenten auf teilweise dieselben Professuren bewarben. Seine freundliche und integre Persönlichkeit sowie sein analytisches, genaues und unbeirrtes Denken beeindruckten mich von Anfang an. Auch nach seiner Berufung an die Viadrina arbeiteten wir immer wieder bei Projekten zusammen und trafen uns bei Veranstaltungen in Deutschland, Österreich und Polen. Über eine Erasmus-Gastvorlesung des Jubilars in Salzburg im Jahr 2000 freute ich mich in besonderer Weise. Unsere Kontakte intensivierten sich weiter, seit meine frühere geschätzte Mitarbeiterin Gudrun Hochmayr im Jahr 2009 nach vorangegangener Lehrstuhlvertretung ebenfalls an die Viadrina berufen wurde. Zu Deinem nunmehrigen 70. Geburtstag, lieber Jan, gratuliere ich Dir aufs herzlichste, verbunden mit den allerbesten Wünschen – ad multos annos!

Vorbemerkung Als der Jubilar in seiner Habilitationsschrift Relationen und deren Verkettungen bei der Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit untersuchte, setzte er sich nicht zufällig (unter anderem) einerseits mit der actio libera in causa, andererseits mit der mittelbaren Täterschaft und den anderen Formen der Beteiligung an einer Straftat auseinander.1 Dem dabei aufgezeigten engen Bezug zwischen einer actio libera in causa und der Beteiligung an einer Straftat soll im Folgenden nachgegangen werden.

I. Actio libera in causa bei einer Vollrauschtat 1. Berauschung als relevante Tathandlung Begeht jemand eine Tat im Zustand einer so hochgradigen Berauschung, dass dadurch die Schuldfähigkeit bzw. Zurechnungsfähigkeit ausgeschlossen ist (im Folgenden: „Vollrausch“), handelt er in diesem Zeitpunkt schuldlos, sodass eine „direkte“ strafrechtliche Verantwortlichkeit entfällt. In Deutschland, Österreich und der Schweiz gilt dies auch im Fall einer selbstverschuldeten Berauschung. Die in einer Reihe anderer Rechtsordnungen getroffene Regelung, dass eine selbstverschul1 Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, 1988.

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dete Berauschung die Zurechnungsfähigkeit generell unberührt lasse,2 setzt sich in inkonsequenter Weise über das Schuldprinzip hinweg; denn auch eine solche Regelung kann nichts daran ändern, dass der Täter zum Zeitpunkt der Tat aufgrund seiner tiefgreifenden Bewusstseinsstörung nicht in der Lage ist, sich normgemäß zu motivieren, sodass die inhaltlichen Voraussetzungen eines schuldhaften Verhaltens nicht erfüllt sind.3 In Deutschland, Österreich und der Schweiz bleibt grundsätzlich auch bei selbstverschuldeter voller Berauschung die Schuld ausgeschlossen. Allerdings ist für solche Fälle ein eigener Straftatbestand vorgesehen, dessen tatbestandsmäßiges Unrecht in der (vorsätzlichen oder fahrlässigen) Herbeiführung eines Vollrausches besteht und der wegen dieser eingeschränkten Unrechtskomponente eine maßhaltende Strafdrohung aufweist.4 Zusätzlich wird jedoch unter bestimmten Voraussetzungen doch eine Strafbarkeit nach dem im Vollrausch verwirklichten Delikt befürwortet, nämlich wenn bei einem Vorsatzdelikt bereits zum Berauschungszeitpunkt ein Vorsatz auf die anschließende Verwirklichung dieses Delikts bestand („vorsätzliche actio libera in causa“) bzw. wenn bei einem Fahrlässigkeitsdelikt bereits zum Berauschungszeitpunkt erkennbar war, dass die Berauschung zur Verwirklichung des betreffenden Delikts führen kann („fahrlässige actio libera in causa“). In der Schweiz ist diese Konstruktion in Art. 19 Abs. 4 schwStGB (im Kontext der Schuldfähigkeit) gesetzlich verankert, wenngleich diese Regelung zu weit gefasst und insofern missglückt ist.5 Keine explizite Regelung findet sich dagegen in Deutschland6 und Österreich.7 2 Z. B. Art. 92 Codice Penale Italiano; Art. 31 § 3 (polnischer) Kodeks Karny; Kap. 1 § 2 Abs. 2 (schwedischer) Brottsbalken; § 20 Abs. 4 (norwegisches) Straffeloven; § 16 (dänisches) Straffeloven; Kap. 3 § 4 Abs. 4 (finnisches) Rikoslaki/Strafflag; Art. 34 Abs. 2 Türk Ceza Kanunu; Art. 23 StGB der Russischen Föderation. 3 Eine schuldhafte Berauschung (mit nachfolgender Deliktsverwirklichung) kann einer schuldhaften Deliktsverwirklichung nicht pauschal gleichgesetzt werden. Näher z. B. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, 407 ff. 4 Vgl. § 323a dStGB, § 287 öStGB, Art. 263 schwStGB. 5 Art. 19 Abs. 4 schwStGB erweckt den Eindruck, als käme bei selbstverschuldeter Berauschung schon dann, wenn der Täter bei der Berauschung die Tatbegehung voraussehen konnte, eine Strafbarkeit nach dem später begangenen Vorsatzdelikt in Betracht. Die in der Schweiz h. M. legt die Vorschrift aber (richtigerweise) einschränkend i. S. der Konstruktion der actio libera in causa dahin aus, dass für eine Strafbarkeit wegen des Vorsatzdelikts bei der Berauschung bereits ein entsprechender Tatbegehungsvorsatz vorliegen muss; z. B. Bommer, in: Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht, Band I, 4. Aufl. 2019, Art. 19 Rn. 93 und 98; Stratenwerth/Wohlers, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Rn. 10; Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2011, § 11 Rn. 35; Trechsel/Pieth, Schweizerisches Strafgesetzbuch Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 22. – Eine gesetzliche Sonderregelung für die actio libera in causa enthält ferner z. B. Art. 20 Nr. 1 und 2 (spanischer) Código Penal, eine solche allein für die vorsätzliche actio libera in causa Art. 20 Nr. 4 (portugiesischer) Código Penal. 6 Dort wird die actio libera in causa deshalb auch teilweise als Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip generell abgelehnt (unten Fn. 62).

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Von den früher vertretenen unterschiedlichen Ansätzen, die Strafbarkeit der actio libera in causa ohne gesetzliche Sonderregelung zu erklären, erscheinen einige überholt. Eine „gewohnheitsrechtliche“ Anerkennung der Strafbarkeit trotz zeitlichen Auseinanderfallens von Schuld (im Zeitpunkt der Berauschung) und Tatbegehung (später im Vollrausch)8 lässt sich nicht aufrechterhalten. Sie verstößt gegen das im Strafrecht geltende Gesetzlichkeitsprinzip, das eine Strafbarkeitsbegründung durch Gewohnheitsrecht ausschließt und das auch seinerseits nicht gewohnheitsrechtlich außer Kraft treten kann.9 Auch eine „Ausdehnung“ der relevanten Tat von der Berauschung bis zur späteren Tatbegehung im Vollrausch, sodass auch der schuldrelevante Zeitraum entsprechend weit zu erstrecken sei,10 hilft wenig weiter. Denn das eigentliche Problem, dass im schuldfähigen Zustand allein eine Berauschungshandlung gesetzt wird, kann durch die Ausdehnung des Tatbegriffs nicht überdeckt werden.11 Im Übrigen verlagert sich dadurch die Problematik nur; denn die von den sonst üblichen Maßstäben abweichende weite Definition der Tat erscheint im gleichen Maß legitimationsbedürftig wie die actio libera in causa selbst. Heute ist deshalb weitgehend anerkannt, dass eine Strafbarkeit infolge actio libera in causa allenfalls durch die Anknüpfung an die Berauschungshandlung als die relevante Tathandlung begründet werden kann, weil der Täter zu deren Zeitpunkt noch schuldfähig war.12 Die entscheidende Frage ist allerdings, wie weit es rechtlich mög7 Eine – wenngleich unvollständige – Regelung fand sich in Österreich vor dem StGB 1974 in § 2 lit. c StG, wonach die Strafbarkeit dann ausscheiden sollte, wenn die Tat „in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung (…) oder einer anderen Sinnesverwirrung, in welche der Täter sich seiner Handlung nicht bewusst war“ (Hervorhebung vom Verf.), begangen wurde. Im umgekehrten Fall, wenn der Täter die volle Berauschung mit Absicht auf das Verbrechen herbeiführt, lag danach eine – nach dem Gesetzeswortlaut strafbare – actio libera in causa vor. 8 So z. B. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, 445; in Österreich Moos, in: Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer (Hrsg.), Salzburger Kommentar zum StGB, 10. Lfg. 2004, § 4 Rn. 27; Seiler, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2020, Rn. 511; Seiler, in: Birklbauer et al. (Hrsg.), Strafgesetzbuch Praxiskommentar, 2018, § 11 Rn. 23. 9 Z. B. Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 5. Aufl. 2020, § 20 Rn. 58; Perron/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 20 Rn. 35a; beide m. w. N. Ebenso ausdrücklich BGHSt 42, 235 (dort Rn. 17). 10 Insb. Streng, ZStW 1989, 273 (310 ff.); Streng, in: Erb/Schäfer (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2020, § 20 Rn. 128 ff. und 133 ff.; in diese Richtung auch Yamanaka, Einführung in das japanische Strafrecht, 2018, 242 f. 11 Ausdrücklich ablehnend auch BGHSt 42, 235 (dort Rn. 16). 12 Für die überwiegende Ansicht in Deutschland (sog. „Tatbestandsmodell“) z. B. Roxin/ Greco (Fn. 9), § 20 Rn. 57 und 59; Rogall, in: Wolter (Hrsg.), SK-StGB, Band I, 9. Aufl. 2017, § 20 Rn. 72; Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2015, § 6 Rn. 108 (abweichend Gropp/Sinn, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 6 Rn. 112); Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 2020, 18. Kap. Rn. 19; alle m. w. N. Für die h. M. in Österreich z. B. Triffterer, Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1994, Kap. 12 Rn. 65 ff.; Triffterer, in: Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer (Hrsg.), Salzburger Kommentar zum StGB, 4. Lfg. 1996, § 11 Rn. 78; Fuchs/Zerbes, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 11. Aufl. 2021,

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lich ist, die Verantwortlichkeit wegen des später verwirklichten Delikts an die Tathandlung der „Berauschung“ zu knüpfen. Zur Abgrenzung ist zu beachten, dass der Begriff „actio libera in causa“ im Schrifttum nicht nur für Fälle einer späteren Tatbegehung im Vollrausch, sondern auch für andere Fälle verwendet wird, in denen der Täter einen Defektzustand selbst verursacht, der für einen späteren Zeitpunkt die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließt. Darunter kann auch ein Ausschluss der Handlungsfähigkeit fallen, etwa wenn der Täter eine Situation verursacht, in der er im Zustand des Schlafes oder der Bewusstlosigkeit durch eine vom Willen nicht beherrschbare Körperbewegung einen Straftatbestand verwirklicht. Die folgenden Überlegungen beschränken sich jedoch auf Fälle, in denen – wie im Fall voller Berauschung – allein die Schuld ausgeschlossen wird, der Täter also handlungsfähig bleibt und auch einen Vorsatz bilden kann. 2. Berauschung als tatbestandsmäßige Handlung? a) Grundgedanke Kann somit eine actio libera in causa nur schlüssig begründet werden, wenn man die Berauschung als die relevante Tathandlung einordnet,13 steht man allerdings vor der Frage, ob diese wirklich als tatbestandsmäßige Handlung des in der Folge verwirklichten Delikts angesehen werden kann. Nur soweit die Berauschung eine mögliche tatbestandsmäßige Handlung des jeweiligen Strafgesetzes darstellt, lässt sich eine Strafbarkeit in Form der actio libera in causa legitimieren. Damit richtet sich der Blick auf die Reichweite der einzelnen Straftatbestände. Weniger Probleme bereiten in dieser Hinsicht die reinen Verursachungsdelikte, bei denen die Herbeiführung eines bestimmten Erfolgs durch jede beliebige Handlung unter Strafe gestellt wird, wie etwa bei vorsätzlicher oder fahrlässiger Tötung,14 bei vorsätzlicher oder fahrlässiger Körperverletzung, bei Freiheitsentziehung15 oder Sachbeschädigung. Denn bei diesen Tatbeständen ist es mit dem Wortlaut vereinbar, jede Handlung als tatbestandsmäßig einzustufen, die den tatbestandsmäßigen Erfolg

22. Kap. Rn. 18; Brandstetter, Grundfragen der Deliktsverwirklichung im Vollrausch, 1992, insb. 97 ff.; Plöchl, in: Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., 288. Lfg. 2022, § 287 Rn. 5; Kienapfel/Schmoller, Strafrecht Besonderer Teil III, 2. Aufl. 2009, § 287 Rn. 7 ff.; wohl auch Steininger, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 3. Aufl. 2019, 13. Kap. Rn. 13 ff.; Eder-Rieder, in: Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer (Hrsg.), Salzburger Kommentar zum StGB, 21. Lfg. 2009, § 287 Rn. 8 ff. 13 Nachweise vorstehend in Fn. 12. 14 Dies gilt ungeachtet der unterschiedlichen Bezeichnung und Ausgestaltung der vorsätzlichen Tötungsdelikte in §§ 211 ff. dStGB, Art. 111 ff. schwStGB und §§ 75 ff. öStGB. 15 In Deutschland und der Schweiz: „Freiheitsberaubung“.

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kausal und in einer der Handlung zurechenbaren Weise herbeiführt.16 Somit kommt auch eine Berauschung als tatbestandsmäßige Handlung in Betracht, sofern sie den tatbestandsmäßigen Erfolg in zurechenbarer Weise bewirkt. Wenn sich jemand in einer Situation in einen Vollrausch versetzt, in der es voraussehbar ist oder sogar seinem Vorsatz entspricht, dass dies zum Tod eines Menschen führen wird, kann man deshalb in der Berauschung die entscheidende fahrlässige oder vorsätzliche Tötungshandlung sehen. Die im Schrifttum zum Teil getroffene Aussage, bei Fahrlässigkeitsdelikten bereite die Strafbarkeitsbegründung über eine actio libera in causa keine Probleme,17 geht wohl darauf zurück, dass Fahrlässigkeitsdelikte in den allermeisten Fällen als reine Verursachungsdelikte ausgestaltet sind. b) Problematik Anders verhält es sich bei den verhaltensgebundenen Delikten, bei denen das tatbestandsmäßige Verhalten näher umschrieben ist, etwa als „Gewalt“, „Drohung“, „Täuschung“, „geschlechtliche/sexuelle Handlung“18, „Missbrauch einer Befugnis“ oder „Aussage vor Gericht“. Da sich der Genuss berauschender Mittel begrifflich nicht als „Gewalt“, „Drohung“, „Täuschung“ etc. verstehen lässt, kann bei diesen Delikten in der Berauschung wortlautkonform keine tatbestandsmäßige Handlung gesehen werden. Besonders deutlich hat dies der BGH in einer richtungsweisenden Entscheidung aus dem Jahr 1996 ausgedrückt, wonach eine Berauschungshandlung nicht als „Führen eines Fahrzeugs“ i. S. des § 315c dStGB angesehen werden kann; der BGH hat deshalb die Begehbarkeit des § 315c dStGB in Form der actio libera in causa abgelehnt.19 Die angesprochenen Schwierigkeiten bei der Begründung einer actio libera in causa ergeben sich bei allen verhaltensgebundenen Delikten aufgrund der näheren Beschreibung der tatbestandsmäßigen Handlung, unabhängig davon, ob zusätzlich ein Erfolg verlangt wird oder es sich um ein schlichtes Tätigkeitsdelikt handelt.20 Dieselben Probleme stellen sich im Übrigen auch bei fahrlässig begehbaren verhaltensgebundenen Delikten, die allerdings nur ausnahmsweise anzutreffen sind. Beispielsweise kann eine Berauschung nicht als „falsch schwören“ i. S. eines fahrlässi16 Sogenannte „objektive“ Zurechnung, weil die Erfolgszurechnung unabhängig von den subjektiven Voraussetzungen des Vorsatzes oder der Fahrlässigkeit bzw. der Schuld beurteilt wird. 17 Z. B. Roxin/Greco (Fn. 9), § 20 Rn. 59 m. w. N.; Steininger (Fn. 12), 13. Kap. Rn. 14a. 18 Das österreichische StGB verwendet den Begriff der „geschlechtlichen Handlung“, das deutsche und schweizerische StGB jenen der „sexuellen Handlung“. 19 BGHSt 42, 235 (Rn. 7 ff.). 20 Zur Problematik bei verhaltensgebundenen Delikten in Österreich Eder-Rieder, SbgKStGB, § 287 Rn. 9; Kienapfel/Schmoller (Fn. 12), § 287 Rn. 11 f. – Fuchs/Zerbes (Fn. 12), 22. Kap. Rn. 19, lehnen eine actio libera in causa bei verhaltensgebundenen Delikten – wie der BGH – generell ab.

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gen Falscheids gemäß § 161 i. V. m. § 154 dStGB oder nicht als „Verheimlichen“ oder „Verhandeln“ i. S. einer (grob) fahrlässigen Abgabenhehlerei gemäß § 37 Abs. 3 öFinStrG angesehen werden. In diesem Bereich trifft nicht zu, dass die actio libera in causa bei Fahrlässigkeitsdelikten unproblematisch sei.21 Zu den verhaltensgebundenen Delikten gehören insbesondere die eigenhändigen Delikte, bei denen das deliktische Unrecht nur dann entsteht, wenn das umschriebene tatbestandsmäßige Verhalten von einer Person vorgenommen wird, die bestimmte besondere Eigenschaften oder Verhältnisse aufweist.22 Wenn sich eine solche Person im Vorfeld der tatbestandlich umschriebenen Verhaltensweise voll berauscht, liegt darin nicht die im Tatbestand umschriebene Handlung. Dies gilt erst recht, wenn die Person zum Zeitpunkt ihrer Berauschung noch gar nicht die persönlichen Eigenschaften oder Verhältnisse aufweist, die das jeweilige eigenhändige Delikt voraussetzt. Die letzte Überlegung zeigt, dass eine Strafbarkeitsbegründung durch actio libera in causa generell bei Sonderdelikten Probleme bereiten kann, wenn zum Zeitpunkt der Berauschung die Sondereigenschaft noch nicht vorlag. Beispielsweise setzt § 92 Abs. 2 öStGB als besondere Tätereigenschaft eine Person voraus, deren „Fürsorge oder Obhut“ das Opfer untersteht. Versetzt sich z. B. eine Tagesmutter in einen Vollrausch, bevor das Kind in ihre Obhut gelangt, und nimmt sie schon bei der Berauschung in Kauf, dass sie anschließend, wenn ihr die Obhut über das Kind obliegt, diese gröblich vernachlässigen wird, so fehlt ihr zum Berauschungszeitpunkt die erforderliche Tätereigenschaft, weil sie vor Übernahme des Kindes diesem gegenüber nicht zur Obhut verpflichtet ist; die Berauschung kann schon aus diesem Grund kein tatbestandsmäßiges Verhalten nach § 92 Abs. 2 öStGB sein. Die angestellten Überlegungen bedeuten nicht, dass man in allen diesen problematischen Fällen auf eine Strafbarkeitsbegründung durch actio libera in causa verzichten müsste. Vielmehr ist zu einer allfälligen Strafbarkeitsbegründung eine zusätzliche Argumentation erforderlich. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob sich eine solche zusätzliche Begründung aus den Regeln der strafrechtlichen Beteiligung gewinnen lässt. 21

Vgl. dagegen die Nachweise oben in Fn. 17. – Zu Recht hat deshalb der BGH (BGHSt 42, 235, dort Rn. 4) formuliert, dass eine actio libera in causa (nur) bei „fahrlässigen Erfolgsdelikten“ unproblematisch sei, wenn bei ihnen jedes sorgfaltswidrige Verhalten den Erfolg ursächlich herbeiführen kann (womit ersichtlich nur die fahrlässigen reinen Verursachungsdelikte gemeint sind). Dagegen stellt sich die Problematik bei verhaltensgebundenen Delikten im Vorsatz- und Fahrlässigkeitsbereich gleichermaßen. 22 So die Umschreibung der eigenhändigen Delikte in § 14 Abs. 1 Satz 2 erster Fall öStGB. In Deutschland wird als Kennzeichen der eigenhändigen Delikte betont, dass das spezifische Unrecht „nur durch eine unmittelbare eigenhändige Vornahme der Ausführungshandlung“ hergestellt werden kann, sodass eine Begehung in Mittäterschaft oder mittelbarer Täterschaft ausscheidet (z. B. Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 13 ff. Rn. 132). Die etwas unterschiedliche Nuancierung im österreichischen und deutschen Recht kann hier jedoch außer Betracht bleiben; zudem bestehen auch innerhalb der beiden Rechtsordnungen unterschiedliche Ansichten, welche Delikte zu den „eigenhändigen“ zählen.

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II. Bezug zu strafrechtlicher Beteiligung 1. „Mittelbare“ bzw. „verdeckte unmittelbare“ Täterschaft? a) Grundgedanke Der Situation, dass jemand aufgrund einer vorgelagerten Verhaltensweise für eine Deliktsverwirklichung verantwortlich gemacht werden soll, obwohl dieses Verhalten nicht der tatbestandlichen Handlungsumschreibung entspricht, begegnet man nicht nur bei der actio libera in causa, sondern ebenso im Rahmen der strafrechtlichen Beteiligung. Es verwundert deshalb nicht, dass zur Erklärung der actio libera in causa immer wieder Parallelen zur strafrechtlichen Beteiligung gezogen werden. Vor allem in Deutschland wird die Nähe der actio libera in causa zur „mittelbaren Täterschaft“ hervorgekehrt;23 ähnliche Aussagen finden sich in der Schweiz.24 Gemäß § 25 Abs. 1 zweiter Fall dStGB liegt „mittelbare Täterschaft“ vor, wenn jemand eine Straftat „durch einen anderen begeht“. Der Täter bedient sich dabei einer anderen Person (die i. d. R. aufgrund eines Defekts selbst nicht oder nicht in vollem Umfang verantwortlich handelt) gleichsam wie eines „Werkzeugs“ zur Tatbegehung; er steuert das Verhalten des anderen zur Verwirklichung des Straftatbestands. In Anlehnung daran wird argumentiert, dass es als Form der mittelbaren Täterschaft auch möglich sein müsse, die eigene Person (sofern sich diese in keinem voll verantwortlichen Zustand mehr befindet) wie ein „Werkzeug“ einzusetzen.25 Das Verhalten der vollberauschten Person werde durch das frühere verantwortliche Verhalten dieser Person gesteuert. Eine Tatbegehung in Form der actio libera in causa sei sohin ein besonderer Fall der „mittelbaren“ Täterschaft; die Straftat werde durch ein späteres eigenes, nicht mehr verantwortliches Verhalten ausgeführt. Die strafrechtliche Verantwortung knüpft dabei allein an das vorgelagerte Verhalten als „mittelbare“ Täterschaft an, das spätere Geschehen sei gleichsam nur der Kausalverlauf zur Tatbestandsverwirklichung.26

23 Roxin/Greco (Fn. 9), § 20 Rn. 61; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1993, 17. Abschn. Rn. 64 ff.; Rogall, SK-StGB, § 20 Rn. 72 ff.; Schild, in: Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 5. Aufl. 2017, § 20 Rn. 112; weitere Nachweise z. B. bei S/SPerron/Weißer, StGB, § 20 Rn. 35. 24 Da der Wortlaut des Art. 19 Abs. 4 schwStGB zu weit gefasst ist (oben Fn. 5), wird der Gedanke der „mittelbaren Täterschaft“ zur notwendigen eingrenzenden Auslegung dieser Vorschrift herangezogen; vgl Stratenwerth (Fn. 5), § 11 Rn. 34; Trechsel/Pieth (Fn. 5), Art. 19 Rn. 20. Kritisch dazu Bommer, BK-StGB, Art. 19 Rn. 123 ff., der den Grundgedanken der actio libera in causa stattdessen mit dem Verbot des Rechtsmissbrauchs begründet (letztes erscheint zur Erklärung und Präzisierung der gesetzlichen Regelung in Art. 19 Abs. 4 schwStGB möglich, würde aber in Deutschland und Österreich gegen das Gesetzlichkeitsprinzip verstoßen, weil eine Strafbarkeit nicht allein auf das Rechtsmissbrauchsverbot gestützt werden kann). 25 Vgl. die Nachweise in Fn. 23. 26 Vgl. erneut die Nachweise in Fn. 23.

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Auch in Österreich wird die actio libera in causa teilweise als Unterfall der „mittelbaren Täterschaft“ erklärt.27 Diese Einordnung ist aber jedenfalls seit dem StGB 1974 angesichts des Wortlauts der Einheitstäterregelung in § 12 öStGB, nach der jede strafbare Beteiligung eine Verantwortlichkeit als Täter begründet,28 unklar. In § 12 öStGB wird der „unmittelbare Täter“ von jenem, „der einen anderen dazu bestimmt, sie auszuführen“ („Bestimmungstäter“) oder „der sonst zu ihrer Ausführung beiträgt“ („Beitragstäter“), unterschieden; eine Regelung der „mittelbaren Täterschaft“ enthält das öStGB nicht. Infolge der Einheitstäterregelung könnte man unter „mittelbarem Täter“ im weiten Sinn jeden Bestimmungs- und Beitragstäter (also jeden Beteiligten) verstehen, weil deren Täterschaft „mittelbar“ über die Ausführung durch den „unmittelbaren Täter“ begründet wird.29 Allerdings ist mit „mittelbarer Täterschaft“ in Österreich, sofern dieser Begriff überhaupt Verwendung findet, i. d. R. eine besondere Form der „unmittelbaren Täterschaft“ gemeint, nämlich der Fall, dass trotz Zwischenschaltung einer anderen Person zur Deliktsausführung ausnahmsweise eine „unmittelbare Täterschaft“ anzunehmen ist.30 Da aber eine „unmittelbare Täterschaft“ schwerlich gleichzeitig „mittelbar“ sein kann, wurde die Bezeichnung „verdeckte unmittelbare“ Täterschaft eingeführt.31 Eine solche liegt insbesondere dann vor, wenn das nachfolgende Verhalten einer anderen Person nicht einmal objektiv tatbestandsmäßig ist, sodass der Hintermann als einziger den objektiven Tatbestand erfüllt und aus diesem Grund „unmittelbarer Täter“ ist.32 Wenn die

27 Vor allem Brandstetter (Fn. 12), 83 ff.; früher schon Nowakowski, JBl 1947, 453 ff. – Darüber hinaus wird im Schrifttum der Gedanke, dass der Täter im Fall der actio libera in causa sich selbst „als Werkzeug“ benutzt, auch unabhängig vom Begriff der „mittelbaren Täterschaft“ immer wieder erwähnt, etwa Fuchs/Zerbes (Fn. 12), 22. Kap. Rn. 18; Höpfel, in: Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB, 22. Lfg. 2012, § 11 Rn. 13; Kienapfel/ Höpfel/Kert, Grundriss des Strafrechts Allgemeiner Teil, 16. Aufl. 2020, Rn. 17.20; Plöchl, WK-StGB, § 287 Rn. 5; Steininger (Fn. 12), 13. Kap. Rn. 13. 28 Vgl. die Überschrift zu § 12 öStGB („Behandlung aller Beteiligten als Täter“) sowie den Gesetzeswortlaut, wonach jeder Beteiligte „die strafbare Handlung begeht“. 29 Vgl. z. B. Schmoller, ÖJZ 1983, 337, 379 (347 m. N. dort in Fn. 129). 30 Z. B. Brandstetter (Fn. 12), 68 ff., der im Zusammenhang mit der actio libera in causa eine Parallele zu den „traditionellen Fällen der ,mittelbaren Täterschaft‘“ (70) zieht und diese am Kriterium der „Tatherrschaft“ ausrichtet, wodurch eine Art „mittelbarer unmittelbarer Täterschaft“ entsteht. 31 Burgstaller, RZ 1975, 13, 29 (17); Schmoller, ÖJZ 1983, 347; Triffterer (Fn. 12), Kap. 16 Rn. 52 m. w. N. 32 Ein Beispiel wäre etwa die Verbindung eines Sprengkörpers mit einem Lichtschalter in der Weise, dass der Sprengkörper explodiert, wenn ein anderer (ahnungslos) den Lichtschalter betätigt. Da die Betätigung des Lichtschalters für diesen ein sozialadäquates, nicht sorgfaltswidriges Verhalten darstellt, erfüllt er schon nicht den objektiven Tatbestand eines Tötungsdelikts; deshalb begründet die vorangegangene Montage des Sprengkörpers als einziges tatbestandsmäßiges Verhalten eine „(verdeckte) unmittelbare Täterschaft“ des Tötungsdelikts. Gleiches gilt bei Versendung einer Briefbombe: Auch wenn der Deliktserfolg erst durch das dazwischen geschaltete Verhalten eines (ahnungslosen) Briefträgers ausgelöst wird, ist der Absender (verdeckter) unmittelbarer Täter.

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actio libera in causa in Österreich mit der „mittelbaren Täterschaft“ in Verbindung gebracht wird, ist damit i. d. R. eine „verdeckte unmittelbare Täterschaft“ gemeint.33 Die Einordnung der actio libera in causa als ein Fall der „mittelbaren“ bzw. „verdeckten unmittelbaren“ Täterschaft würde erklären, dass sie auch bei verhaltensgebundenen Delikten in Betracht kommt, obwohl die maßgebliche Berauschungshandlung nicht der tatbestandsmäßigen Handlungsbeschreibung entspricht, etwa bei Delikten, deren Tathandlung als „Gewalt“, „Drohung“, „Täuschung“, „geschlechtliche/ sexuelle Handlung“ etc. umschrieben wird. Denn ein „mittelbarer Täter“ bzw. „verdeckter unmittelbarer Täter“ verantwortet einen Straftatbestand definitionsgemäß dadurch, dass er das tatbestandsmäßig umschriebene Verhalten nicht selbst ausführt, sondern durch ein menschliches „Werkzeug“ ausführen lässt.34 b) Problematik Allerdings löst die Parallele zur „mittelbaren Täterschaft“ bzw. „verdeckten unmittelbaren Täterschaft“ nur einen Teil der Probleme und wirft zudem neue auf. Ein Problem besteht darin, dass nach h. M. eine mittelbare Täterschaft i. S. des § 25 Abs. 1 zweiter Fall dStGB bei eigenhändigen Delikten sowie generell bei Sonderdelikten für Personen, welche die geforderte Sondereigenschaft nicht aufweisen, ausgeschlossen ist.35 Hängt nämlich das Unrecht der Tat davon ab, dass eine bestimmte Person das tatbestandsmäßige Verhalten eigenhändig vornimmt, entsteht das spezifische Unrecht nicht, wenn diese Person nur ein vorgelagertes Verhalten setzt. Ebenso kann eine Person, die eine tatbestandlich geforderte Sondereigenschaft nicht aufweist, generell nicht Täter dieses Delikts sein. Auch wenn sie sich einer anderen Person, die diese Sondereigenschaft aufweist, als „Werkzeug“ bedient, fehlt ihr selbst die für eine Täterschaft erforderliche Sondereigenschaft. Die strukturelle Parallele zwischen der actio libera in causa und der mittelbaren Täterschaft ermöglicht deshalb zwar die Anerkennung einer actio libera in causa bei verhaltensgebundenen Delikten, nicht aber ohne Weiteres bei eigenhändigen und Sonderdelikten.36 Beispielsweise hat der BGH bei § 315c dStGB, dessen Tathandlung im „Führen eines Fahrzeugs“ besteht, eine actio libera in causa auch unter dem Gesichtspunkt 33

Insb. Brandstetter (Fn. 12), 68 ff., infolge seiner Ausrichtung der „mittelbaren Täterschaft“ an der „Tatherrschaft“. 34 Soweit eine „mittelbare Täterschaft“ auch bei „verhaltensgebundenen Delikten“ generell abgelehnt wird, wie z. B. von Frister (Fn. 12), 25. Kap. Rn. 10 ff., beruht dies darauf, dass die Bezeichnung i. S. von „eigenhändigen Delikten“ verwendet wird. Jedoch sind z. B. Betrug und Nötigung zwar „verhaltensgebunden“, aber keine „eigenhändigen“ Delikte. 35 Für die h. M. Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 25 Rn. 49 f.; Jakobs (Fn. 23), 21. Abschn. Rn. 22 und 67; Jescheck/Weigend (Fn. 8), 267; Frister (Fn. 12), 25. Kap. Rn. 10 ff.; zu den eigenhändigen Delikten auch Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 25 Rn. 288 ff. 36 Roxin/Greco (Fn. 9), § 20 Rn. 62; Bommer, BK-StGB, Art. 19 Rn. 124.

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einer „mittelbaren Täterschaft“ ausdrücklich abgelehnt;37 im Schrifttum wird dies durch die Einordnung des § 315c dStGB als „eigenhändiges Delikt“ erklärt (wenngleich diese Zuordnung als fraglich bezeichnet wird).38 Auch eine falsche Zeugenaussage kann als „eigenhändiges Delikt“ grundsätzlich nicht durch Berauschung in mittelbarer Täterschaft begangen werden, weil zum Berauschungszeitpunkt die Eigenschaft als Zeuge während einer Vernehmung noch nicht begründet war. Ferner kann auch jedes sonstige Sonderdelikt nicht in Form der mittelbaren Täterschaft verwirklicht werden, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Berauschung noch nicht die erforderlichen persönlichen Eigenschaften oder Verhältnisse aufwies, sodass auf diesem Weg auch eine actio libera in causa nicht begründbar wäre. Dies gilt etwa für das bereits erwähnte Beispiel39 der Tagesmutter, die sich voll berauscht, bevor das Kind in ihre Obhut gelangt, und sich dabei damit abfindet, dass sie anschließend die Obhut über das Kind i. S. des § 92 Abs. 2 öStGB gröblich vernachlässigt. Da Täter nur eine Person sein kann, der zum Tatzeitpunkt die Obhut obliegt, kann die Tathandlung nicht gesetzt werden, solange diese Voraussetzung nicht zutrifft. Insofern käme weder mittelbare Täterschaft noch actio libera in causa in Betracht. Eine Anwendung der actio libera in causa auf alle Delikte lässt sich deshalb nicht über die „mittelbare Täterschaft“ erklären. Darüber hinaus ist bei der actio libera in causa die für eine mittelbare Täterschaft erforderliche Annahme, dass man sich durch die volle Berauschung der eigenen Person bezüglich des anschließenden Handelns im Vollrausch wie eines „Werkzeugs“ bediene, fraglich. Denn der Berauschte ist in keiner Weise an das gebunden, was er sich vor der Berauschung vorgenommen hat; er kann seine eigenen Entschlüsse vielmehr jederzeit abändern und wird insofern nicht durch seine früheren Vorstellungen „gesteuert“. Im Schrifttum wird deshalb zu Recht in Frage gestellt, ob der später vollberauschte Täter tatsächlich als „Werkzeug“ seines zunächst nüchternen Selbst agiert, ob also der Täter bei der Berauschung tatsächlich die „Tatherrschaft“ über sein späteres eigenes Verhalten im Rausch innehat.40 Zudem führt die Parallele zur mittelbaren Täterschaft zu der problematischen Tendenz, die Versuchsstrafbarkeit im Fall der actio libera in causa sehr weit vorzuverlagern, nämlich in den Bereich der Berauschungshandlung. Zwar bestehen auch zum Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft unterschiedliche Ansichten.41 Wenn man aber jener Meinung folgt, nach der die Handlung des mittelbaren Täters als maßgebliche Tathandlung bereits eine Versuchsstrafbarkeit auslöst, müsste dies konsequenterweise auch für die Berauschungshandlung im Fall einer actio libera in 37

BGHSt 42, 235 (Rn. 15). Roxin/Greco (Fn. 9), § 20 Rn. 64. Zu verschiedenen Nuancierungen, was genau ein „eigenhändiges Delikt“ ausmacht, vgl. oben Fn. 22. 39 Oben I.2.b). 40 Ausdrücklich ablehnend Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NKStGB, 5. Aufl. 2017, § 323a Rn. 7. 41 Meinungsstand bei Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 22 Rn. 54 f.; Roxin (Fn. 35), § 29 Rn. 226 ff. 38

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causa gelten.42 In Wahrheit ist eine so weite Vorverlagerung der Versuchsstrafbarkeit bei der mittelbaren Täterschaft generell problematisch, wenn der Tatmittler selbst noch vorsätzlich oder fahrlässig tätig werden muss und dies daher ebenso unterlassen kann.43 Bei der mittelbaren Täterschaft, bei der der mittelbare Täter einen anderen als „Werkzeug“ benützt, gibt dieser allerdings das Geschehen immerhin so weit aus der Hand, dass die Deliktsverwirklichung anschließend allein von einer anderen Person abhängt. Bei der actio libera in causa dagegen besteht zusätzlich die Besonderheit, dass der (einzige) Täter, wenngleich dann im vollberauschten Zustand, bis zuletzt selbst entscheiden kann, den Tatbestand doch nicht zu verwirklichen, indem er einfach die weitere Ausführung aufgibt. Es wird deshalb zu Recht vielfach als zu weitgehend angesehen, den Täter, der sich mit dem Vorsatz auf eine spätere Deliktsverwirklichung voll berauscht, schon zu diesem Zeitpunkt wegen eines Versuchs des späteren Delikts zu belangen; denn trotz des ausgelösten Defektzustands (volle Berauschung) behält er das Geschehen noch selbst (wenngleich abgeschwächt) in der Hand.44 Im Schrifttum wird ferner darauf hingewiesen, dass die Erklärung der actio libera in causa über die mittelbare Täterschaft es in Deutschland und der Schweiz nicht ermögliche, über die Annahme einer – die Strafe herabsetzenden – „verminderten Schuldfähigkeit“ hinwegzuhelfen;45 denn die Einwirkung auf eine bloß vermindert schuldfähige Person begründet generell keine mittelbare Täterschaft. Für das österreichische Recht überzeugt die Parallele zur mittelbaren Täterschaft schließlich schon deshalb nicht, weil es eine „mittelbare“ Täterschaft im Sinn des deutschen Rechts nicht gibt. Ebenso wenig hilft auch das Pendant im österreichischen Recht, die „verdeckte unmittelbare“ Täterschaft, weiter. Denn als „verdeckte unmittelbare“ Täterschaft werden allein Fälle diskutiert, bei denen ein nachfolgendes Verhalten schon objektiv nicht den betreffenden Tatbestand erfüllt, weil es sich um kein vom Willen beherrschbares Verhalten handelt (also schon der Handlungsbegriff nicht erfüllt ist) oder sich die nachfolgende Handlung als sozialadäquat und völlig sorgfaltsgemäß darstellt.46 Diese Fälle passen jedoch nicht zu der hier erörterten Konstellation einer actio libera in causa infolge voller Berauschung, weil die 42 Dieses Ergebnis ausdrücklich befürwortend z. B. Roxin/Greco (Fn. 9), § 20 Rn. 61; in Österreich Brandstetter (Fn. 12), 70 ff. 43 Dagegen leuchtet die Vorverlagerung der Versuchsstrafbarkeit in jenen Fällen ein, in denen nach der Handlung des mittelbaren Täters keine relevante Handlung mehr gesetzt wurde, weil der mittelbare Täter eine handlungsunfähige Person als „Werkzeug“ benützt, oder in denen der Tatmittler zumindest keine tatbestandsmäßige Handlung mehr vornimmt, weil die nachfolgend handelnde Person in sozialadäquater, vollkommen sorgfaltsgemäßer Weise tätig wird (vgl. oben Fn. 32). 44 Z. B. Paeffgen, NK-StGB, § 323a Rn. 42 ff.; Streng, MK-StGB, § 20 Rn. 119 und 146; Eschelbach, in: von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, 48. Aufl. 2020, § 20 Rn. 77; S/S-Perron/Weißer, StGB § 20 Rn. 35. 45 Paeffgen, NK-StGB, § 323a Rn. 10; Bommer, BK-StGB, Art. 19 Rn. 124. 46 Oben bei Fn. 31 und 32.

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nachfolgende Handlung im Vollrausch durchaus den objektiven (und i. d. R. auch subjektiven) Deliktstatbestand erfüllt und lediglich die Zurechnungsfähigkeit fehlt. In solchen Fällen läge nach der österreichischen Beteiligungslehre nicht eine „verdeckte unmittelbare“ Täterschaft, sondern eine Bestimmungs- oder Beitragstäterschaft vor (dazu näher unten II.). c) Gesetzeswortlaut Ein Hauptproblem bei der Begründung der actio libera in causa über die Regelung der mittelbaren Täterschaft ergibt sich jedoch bereits aus dem Wortlaut der Regelung in § 25 Abs. 1 zweiter Fall dStGB. Denn dort wird die Täterschaft ausdrücklich nur auf die Begehung der Straftat „durch einen anderen“ ausgeweitet, die im Fall der actio libera in causa gerade nicht vorliegt. Unter den Begriff des „anderen“ auch den Täter selbst zu subsumieren, lässt sich – ungeachtet einer inhaltlichen Ähnlichkeit – mit dem Wortlaut kaum vereinbaren.47 Zwar wird im Schrifttum teilweise argumentiert, der vollberauschte Täter sei aufgrund seiner Schuldunfähigkeit nicht mehr mit dem ursprünglich schuldfähigen Täter identisch und insofern (psychisch) ein „anderer“, sodass man auch die actio libera in causa als Begehung „durch einen anderen“ auffassen könne.48 Ob diese Überlegung aber ausreicht, um dem Wortlautargument entgegenzutreten, ist zu bezweifeln. Denn die Konsequenz wäre, dass der Begriff „ein anderer“ in den strafgesetzlichen Vorschriften sehr unterschiedlich ausgelegt würde. Wer sich beispielsweise voll berauscht, um dann im betrunkenen Zustand eine Selbstverletzung herbeizuführen, kann gewiss nicht mit dem Argument wegen Körperverletzung bestraft werden, er habe „einen anderen“, nämlich die vom Täter verschiedene vollberauschte Person, verletzt. Der Ausdruck „ein anderer“ muss deshalb im Strafrecht wohl in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Sprachgebrauch auf eine physisch verschiedene Person bezogen werden; ein geänderter Zustand derselben Person lässt sich sprachlich nicht als „eine andere Person“ begreifen.49 Nach österreichischem Recht ist es schon vom Wortlaut her kaum möglich, eine Berauschungshandlung, die erfolgt, um später im Rauschzustand ein Delikt auszuführen, als (wenngleich „verdeckte“) „unmittelbare Täterschaft“ zu bezeichnen; denn zum Zeitpunkt der Berauschung führt der Täter die Tat offensichtlich gerade noch nicht „unmittelbar“ aus, sondern nimmt sie sich erst für einen späteren Zeitpunkt vor. 47 Z. B. S/S-Perron/Weißer, StGB, § 20 Rn. 35; Bommer, BK-StGB, Art. 19 Rn. 124. Deshalb wird im Schrifttum verschiedentlich angenommen, dass richtigerweise statt einer mittelbaren Täterschaft gemäß § 25 Abs. 1 zweiter Fall dStGB doch eher eine unmittelbare Täterschaft gemäß § 25 Abs. 1 erster Fall dStGB („selbst begeht“) vorliege; z. B. Rogall, SKStGB, § 20 Rn. 72 m. w. N. dort in Fn. 504. 48 Roxin/Greco (Fn. 9), § 20 Rn. 63; Jakobs, FS Nishihara, 1998, 105 (119). 49 Z. B. Paeffgen, NK-StGB, § 323a Rn. 7, dort in Fn. 27, spricht von einer „vermeintlich normativen ,Ich-Spaltung‘“.

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Im schweizerischen Recht ist die Situation infolge der gesetzlichen Regelung der actio libera in causa in Art. 19 Abs. 4 schwStGB etwas anders. Hier wirkt die Parallele zur mittelbaren Täterschaft nicht strafbegründend, sondern dient der Präzisierung der zu weit geratenen Regelung in Art. 19 Abs. 4 schwStGB. 2. „Beitragshandlung“ zur Tatausführung? a) Die Berauschung als „Beitragstäterschaft“ i. S. des § 12 dritter Fall öStGB Die inhaltlichen Bedenken gegen die Einordnung der actio libera in causa als Fall der „mittelbaren“ Täterschaft, vor allem aber die mangelnde Vereinbarkeit mit dem Gesetzeswortlaut, regen an, diesen Ansatz zu modifizieren. Anlass dafür gibt eine Betrachtung des Gesetzestexts der österreichischen Beteiligungsregelung. In § 12 öStGB werden der „unmittelbare Täter“ einer strafbaren Handlung, jener, „der einen anderen dazu bestimmt, sie auszuführen“, und jener, „der sonst zu ihrer Ausführung beiträgt“, unterschieden. Die Berauschungshandlung im Rahmen einer actio libera in causa kann dabei, wie dargestellt, schwerlich als „unmittelbare“ (auch nicht als „verdeckte unmittelbare“) Täterschaft erfasst werden, weil die Tatbestandsverwirklichung nicht direkt, sondern über ein späteres, seinerseits tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Verhalten (der Tatbegehung im Vollrausch) erfolgt. Auch als „Bestimmungstäterschaft“ kann die Berauschung nicht erfasst werden, weil der Täter dazu „einen anderen“ zur strafbaren Handlung „bestimmen“ müsste; es fehlt jedoch sowohl eine andere Person als auch die notwendige kommunikative Einwirkung auf diese.50 Demgegenüber zeigt eine Betrachtung des Wortlauts der „Beitragstäterschaft“, dass diese auch zur Erfassung der actio libera in causa geeignet erscheint. Denn es lässt sich ohne Schwierigkeit sagen, dass der Täter mit seiner Berauschungshandlung, bezogen auf die spätere Tatbegehung, „zu ihrer Ausführung beiträgt“, also einen relevanten Beitrag zur späteren Tatbestandsverwirklichung leistet.51 Zwar ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber bei der Formulierung der Beitragstäterschaft gemäß § 12 dritter Fall öStGB die Beteiligung an der Tat eines anderen (unmittelbaren) Täters, nicht aber die Fallkonstellation einer actio libera in causa (Beitrag zu einer späteren eigenen Tatausführung) vor Augen hatte. Durch die umfassende Umschreibung der Beitragstäterschaft, die bewusst jeden (sonstigen) Beitrag zur Deliktsverwirklichung erfasst, ohne auf eine Hilfeleistung gegenüber einer anderen Person abzustellen, wurde allerdings eine kluge Formulierung gewählt, die 50

Zudem entstünde ein logischer Widerspruch im Vorsatzbereich: Als Bestimmungstäter müsste der Täter bei der Berauschung schon einen definitiven Vorsatz auf Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale gefasst haben; eben deshalb könnte er aber gar nicht mehr „bestimmt“ werden, weil der volle Tatentschluss ja bereits bei der Bestimmungshandlung vorlag. 51 Vgl. in diesem Zusammenhang z. B. die Formulierung von Streng, MK-StGB, § 20 Rn. 116, wonach mit der Defektherbeiführung „ein Tatbeitrag“ geleistet werde.

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auch der Strafbarkeitsbegründung mittels actio libera in causa eine gesetzliche Grundlage geben kann. Denn wer sich voll berauscht, wobei er vorsätzlich oder fahrlässig im Hinblick auf eine spätere Deliktsverwirklichung handelt, trägt jedenfalls (vorsätzlich oder fahrlässig) zur späteren Deliktsverwirklichung bei und ist insofern „Beitragstäter“.52 Zwar hat dieselbe Person, wenn sie anschließend (im Vollrausch) auch selbst die Tat unmittelbar ausführt, gleichzeitig auch die Stellung des (tatbestandsmäßig und rechtswidrig handelnden) „unmittelbaren Täters“ inne, mangels Verantwortlichkeit für die unmittelbare Ausführung bleibt es aber bei der Verantwortlichkeit als Beitragstäter. Anders gelagert sind nur jene Fälle der actio libera in causa, in denen der herbeigeführte Defektzustand nicht nur die Schuld zum Zeitpunkt des nachfolgenden (tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen) Verhaltens beseitigt, sondern bewirkt, dass gar kein tatbestandsmäßiges Verhalten mehr nachfolgt, etwa weil anschließend die Handlungsfähigkeit ausgeschlossen ist oder das nachfolgende Verhalten sonst nicht mehr als strafrechtsrelevant erscheint. In solchen Fällen wäre tatsächlich eher an eine „(verdeckte) unmittelbare Täterschaft“ zu denken, weil die Herbeiführung des Defektzustands dann ohne Dazwischentreten eines weiteren tatbestandsmäßigen Verhaltens den Tatbestand verwirklicht. Der Ansatz, in der Berauschungshandlung bei der actio libera in causa eine „Beihilfehandlung“ zur späteren Deliktsverwirklichung zu sehen, wird auch in Deutschland – vor allem für Fälle, in denen eine mittelbare Täterschaft ausscheidet – vereinzelt erwogen;53 die gesetzliche Umschreibung der Beihilfe im deutschen Strafrecht macht diesen Schritt aber deutlich schwerer als bei der österreichischen Beitragstäterschaft (näher dazu unten 3.). b) Vorteile der Einordnung als „Beitragshandlung“ Die durch den österreichischen Gesetzeswortlaut nahegelegte Konzeption der actio libera in causa als spezielle Form der „Beitragstäterschaft“ erweist sich unter inhaltlichen Gesichtspunkten als vorteilhaft und sollte deshalb weiterverfolgt werden. Ein erster Vorteil besteht darin, dass eine Beitragstäterschaft (so wie die deutsche Beihilfe oder die schweizerische Gehilfenschaft) bei jedem Delikt möglich ist. Nach den allgemeinen Regeln ist eine Beitragsleistung gleichermaßen auch bei verhaltensgebundenen Delikten, eigenhändigen Delikten und (sonstigen) Sonderdelikten straf52 Die Verbindung zwischen actio libera in causa und Beitragstäterschaft gemäß § 12 dritter Fall öStGB hat ursprünglich Triffterer bezüglich der Frage des Versuchsbeginns hergestellt, wobei er aber noch für eine „analoge“ Anwendung auf die actio libera in causa eintritt; Triffterer (Fn. 12), Kap. 12 Rn. 78 f.; Triffterer, SbgK-StGB, § 11 Rn. 81. Für eine Verallgemeinerung und für unmittelbare Anwendbarkeit des § 12 dritter Fall StGB EderRieder, SbgK-StGB, § 287 Rn. 9 f.; Kienapfel/Schmoller (Fn. 12), § 287 Rn. 12 ff. 53 Jakobs (Fn. 23), 17. Abschn. Rn. 67. Vgl. auch die Formulierung von Streng (wie Fn. 51).

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bar, sofern das Unrecht der Tat insgesamt (von einem der Beteiligten) hergestellt wird.54 Entsprechende Beschränkungen, wie sie für die (deutsche) mittelbare Täterschaft, insbesondere bei eigenhändigen Delikten und Sonderdelikten, bestehen, gelten für die Beitragstäterschaft nicht, sodass diese Argumentation eine actio libera in causa grundsätzlich bei allen Deliktstypen ermöglicht. Darüber hinaus erscheint die Einordnung der Berauschungshandlung als Beitragstäterschaft ebenso bei den reinen Verursachungsdelikten sachgerecht, auch wenn es bei diesen am ehesten möglich erschiene, die Berauschungshandlung direkt als tatbestandsmäßige Handlung einzustufen (oben I.2.c)). Denn auch bei reinen Verursachungsdelikten besteht im Fall einer actio libera in causa die Besonderheit, dass im Anschluss an die Berauschungshandlung noch ein weiteres tatbestandsmäßiges Verhalten nachfolgt, das erst den Deliktserfolg unmittelbar herbeiführt, sodass dieser durch die Berauschung eben noch nicht unmittelbar herbeigeführt wird, sondern die Berauschung eher als ein Beitrag dazu erscheint. Damit wird insgesamt eine sinnvolle einheitliche Einordnung der actio libera in causa (in Fällen eines Vollrauschs) erreicht. Da zweitens die Regelung der Beitragstäterschaft gemäß § 12 dritter Fall öStGB nach h. M. auch im Bereich fahrlässiger Begehung anwendbar ist,55 schafft diese Regelung gleichermaßen eine gesetzliche Grundlage für die fahrlässige actio libera in causa. Gerade bei den (allerdings seltenen) fahrlässig begehbaren verhaltensgebundenen Delikten, eigenhändigen Delikten und Sonderdelikten wird erst dadurch die Möglichkeit einer actio libera in causa eröffnet. Denn auch ein Fahrlässigkeitsdelikt kann nicht durch eine Handlung verwirklicht werden, die jenseits des Tatbestandswortlauts liegt.56 Durch die Einordnung als Beitragstäterschaft ergibt sich somit die generelle Möglichkeit einer fahrlässigen actio libera in causa. Drittens erübrigt sich die bei der mittelbaren Täterschaft geführte Diskussion, ob man sich allein dadurch, dass man sich voll berauscht (und obwohl man anschließend noch Entschlüsse fassen oder aufgeben kann), tatsächlich selbst zu einem eigenen „Werkzeug“ macht.57 Eine Beitragstäterschaft verlangt gerade nicht die Benützung einer Person als „Werkzeug“. Vielmehr kann einfach daran angeknüpft werden, dass die Berauschungshandlung einen „Beitrag“ zur späteren (tatbestandmäßigen und rechtswidrigen, lediglich nicht schuldhaften) Deliktsverwirklichung im Vollrausch leistet. Viertens schließlich vermeidet die Konzeption der actio libera in causa als Beitragstäterschaft auch eine allzu weite Vorverlagerung des Versuchsbeginns. Denn 54

Speziell zu den verhaltensgebundenen Delikten Eder-Rieder, SbgK-StGB, § 287 Rn. 9 f.; Kienapfel/Schmoller (Fn. 12), § 287 Rn. 12 ff. 55 Z. B. Fabrizy, in: Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB, 112. Lfg. 2014, § 12 Rn. 63 ff. und 106 ff.; Kienapfel/Höpfel/Kert (Fn. 27), Rn. 33.29 ff.; Fuchs/Zerbes (Fn. 12), 36. Kap. Rn. 36 ff.; Leukauf/Steininger/Öner/Schütz, Strafgesetzbuch Kommentar, 4. Aufl. 2017, § 12 Rn. 52 f.; Steininger (Fn. 12), 21. Kap. Rn. 25 f.; dazu Schmoller, GA 2006, 365 (369). 56 Vgl. oben bei Fn. 21. 57 Oben bei Fn. 40.

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der Gesetzgeber hat aus gutem Grund einen bloß versuchten Beitrag noch nicht für strafbar erklärt; die Strafbarkeit des Beitragstäters wegen Versuchs beginnt vielmehr erst, wenn auch der unmittelbare Täter ins Versuchsstadium tritt.58 Dies deckt sich inhaltlich mit der Straflosigkeit der versuchten Beihilfe bzw. Gehilfenschaft nach deutschem und schweizerischem Recht.59 Der Zurückhaltung bei der Versuchsstrafbarkeit liegt die Überlegung zugrunde, dass bei einem bloßen Beitrag im Vorfeld einer Straftat stets eine erhebliche Ungewissheit besteht, ob wirklich eine solche Straftat nachfolgt; deshalb setzt die Strafbarkeit erst ein, wenn es tatsächlich zur nachfolgenden Straftat kommt. Dieselbe Wertung trifft ebenso auf die actio libera in causa zu: Zum Zeitpunkt der Berauschung ist stets unsicher, ob der Täter im Vollrausch die Tat tatsächlich begehen wird, dies hängt von seiner eigenen späteren Entscheidung ab. Während die Parallele zur mittelbaren Täterschaft tendenziell nahelegt, eine Versuchsstrafbarkeit bereits ab der Berauschungshandlung anzunehmen,60 führt die Einordnung der Berauschung als „Beitragshandlung“ i. S. des § 12 dritter Fall öStGB klar zu einer – inhaltlich zu befürwortenden – restriktiven Festlegung des Versuchsbeginns. Die Berauschungshandlung allein begründet, wie eine (sonstige) Beitragshandlung, noch keine Versuchsstrafbarkeit; die Strafbarkeit der Beitragsleistung beginnt erst, wenn der (vollberauschte) Täter später im Rahmen seiner (wenngleich straflosen) unmittelbaren Täterschaft ins Versuchsstadium eintritt.61 Insgesamt erweist sich § 12 dritter Fall öStGB somit als eine tragfähige Rechtsgrundlage zur Erfassung der actio libera in causa. Diese wird durch den Gesetzeswortlaut angemessen abgedeckt, und die Einordnung als „Beitragstäterschaft“ führt auch in einzelnen Detailfragen zu ausgewogenen Ergebnissen. c) Übertragbarkeit auf Deutschland und die Schweiz? Bietet somit die Beitragstäterschaft gemäß § 12 dritter Fall öStGB für Österreich eine adäquate gesetzliche Verankerung der actio libera in causa, ist im Folgenden zu überlegen, inwieweit sich diese Überlegungen auf Deutschland und die Schweiz übertragen lassen. Vor allem in Deutschland wird die Strafbarkeit auf der Grundlage einer actio libera in causa mangels entsprechender gesetzlicher Regelung de lege lata generell infrage gestellt.62 Der Beitragstäterschaft des österreichischen Strafrechts entspricht die – wenngleich zum Teil anders konzipierte – Beihilfe gemäß § 27 Abs. 1 dStGB. Inhaltlich 58 Die Straflosigkeit des bloßen Beitragsversuchs ergibt sich aus § 15 Abs. 2 öStGB, die Strafbarkeit des Beitrags zum Versuch aus § 15 Abs 1 am Ende öStGB. 59 Vgl. § 30 dStGB bzw. Art. 24 Abs. 2, 25 schwStGB. 60 Oben bei Fn. 42. 61 Ebenso Triffterer (Fn. 12), Kap. 12 Rn. 78 f.; Triffterer, SbgK-StGB, § 11 Rn. 81; EderRieder, SbgK-StGB, § 287 Rn. 10; Kienapfel/Schmoller (Fn. 12), § 287 Rn. 14. 62 Paeffgen, NK-StGB, § 323a Rn. 4 und 29; Paeffgen, ZStW 1985, 513 (516 ff.); S/SPerron/Weißer, StGB, § 20 Rn. 35b; Gropp/Sinn (Fn. 12), § 6 Rn. 112.

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würde eine Zuordnung der actio libera in causa in Fällen voller Berauschung zur Beihilfe63 ebenfalls eine Reihe von Vorteilen aufweisen: Beihilfe ist grundsätzlich zu jedem Delikt möglich, insbesondere auch bei verhaltensgebundenen Delikten, eigenhändigen Delikten und (sonstigen) Sonderdelikten (nach Maßgabe des § 28 dStGB). Die – für die mittelbare Täterschaft notwendige – etwas konstruierte Annahme, dass der vollberauschte Täter als „Werkzeug“ des zuvor noch nicht vollberauschten Täters agiere, wäre nicht mehr notwendig, da die Vollrauschtat jene (tatbestandsmäßige und rechtswidrige) Tatbegehung wäre, zu der die Berauschung beiträgt. Auch dass die Beihilfehandlung keine selbständige Versuchsstrafbarkeit begründet, sondern erst mit dem späteren Versuch der Tatausführung strafbar wird, passt wertungsmäßig zur actio libera in causa, weil es vielfach als problematische Vorverlagerung empfunden wird, die Versuchsstrafbarkeit bereits mit der vorangehenden (versuchten) Berauschung einsetzen zu lassen; die Zuordnung zur Beihilfe würde daher dazu führen, dass auch bei der actio libera in causa eine Versuchsstrafbarkeit erst mit dem Versuch der Vollrauschtat anzunehmen wäre. Die gesetzliche Voraussetzung der Beihilfe, dass diese in Bezug auf eine „vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat“ erfolgen muss, träfe bei der actio libera in causa zu, weil auch der Vollrauschtäter anschließend tatbestandsmäßig, rechtswidrig und (bei einem Vorsatzdelikt) vorsätzlich handelt. Aufgrund fehlender Schuld zum Zeitpunkt der täterschaftlichen Begehung könnte in der vorangegangenen Berauschung eine Art der Beteiligung daran gesehen werden. Ein Unterschied zur österreichischen Beitragstäterschaft besteht allerdings darin, dass Anstiftung und Beihilfe in Deutschland auf Vorsatzdelikte beschränkt sind. Diese für die Beteiligung ausdrücklich getroffene Einschränkung hat z. B. zur Folge, dass bei fahrlässigen verhaltensgebundenen Delikten, eigenhändigen Delikten und Sonderdelikten eine fahrlässige Beteiligung generell strafrechtlich nicht erfasst werden kann, weil diese weder eine fahrlässige Täterschaft noch eine fahrlässige Beihilfe darstellt.64 Bei dieser Ausgangsposition wäre es dann allerdings ohnehin konsequent, dieselbe Wertung auch für die actio libera in causa zu übernehmen, also bei den genannten Deliktstypen keine fahrlässige actio libera in causa anzuerkennen. Die von der österreichischen Regelung abweichende obligatorische Strafmilderung bei der Beihilfe gemäß § 27 Abs. 2 dStGB würde für die Fälle der actio libera in causa gut passen. Denn die Berauschungshandlung, auf die allein sich die Verantwortlichkeit des Täters stützt, liegt noch ebenso im Vorfeld der Tatausführung wie allgemein eine Beihilfehandlung. Ein Haupthindernis ergibt sich indes erneut65 aus dem Wortlaut des § 27 Abs. 1 dStGB, der darauf abstellt, dass „ein anderer“ die Tat begeht und diesem „Hilfe ge63

Dies wird auch im deutschen Schrifttum vereinzelt erwogen; vgl. oben bei Fn. 53. Z. B. S/S-Heine/Weißer, StGB, Vor §§ 25 ff. Rz 6. 65 Vgl. schon zur gesetzlichen Formulierung der „mittelbaren Täterschaft“ in § 25 Abs. 1 zweiter Fall dStGB oben II.1.c). 64

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leistet“ wird. Bei einer actio libera in causa ist gerade kein „anderer“ vorhanden; die vereinzelte Argumentation (bei der mittelbaren Täterschaft), den vollberauschten Täter im Vergleich zu seinem früheren nüchternen Zustand als „einen anderen“ einzuordnen, entfernt sich vom allgemeinen Sprachgebrauch.66 Zudem deutet der Begriff „Hilfe leisten“ auf eine Relation zwischen zwei Personen hin. Sollte der Gesetzgeber auch in Deutschland die Bestrafung aufgrund von actio libera in causa auf eine rechtsstaatlich einwandfreie gesetzliche Grundlage stellen wollen, wäre die Regelung der Beihilfe in § 27 dStGB jedoch ein Ort, an dem dies auf sachgerechte Weise möglich erschiene. Die Regelung im Zusammenhang mit der Beihilfe wäre einer solchen bei der Schuldunfähigkeit vorzuziehen, weil das Schuldprinzip gerade nicht durchbrochen werden soll. So bestünde beispielsweise die Möglichkeit, den folgenden neuen § 27 Abs. 1a dStGB einzufügen: § 27. Beihilfe. (1) (…) (1a) Ebenso wird als Gehilfe bestraft, wer durch sein vorangegangenes Verhalten vorsätzlich zu einer eigenen, anschließend im schuldunfähigen Zustand vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Tat beigetragen hat.

In der Schweiz ist die actio libera in causa derzeit, wie erwähnt, als eine Ausnahmebestimmung im Rahmen der Schuldfähigkeit in Art. 19 Abs. 4 schwStGB geregelt, die aber – jedenfalls für die vorsätzliche actio libera in causa – zu weit geraten und durch Auslegung einzuschränken ist.67 Insofern wäre zu überlegen, die vorsätzliche actio libera in causa präziser über die Regelung der Gehilfenschaft in Art. 25 schwStGB zu erfassen. Dafür würden dieselben Argumente sprechen wie vorstehend für Deutschland ausgeführt. Der Wortlaut des Art. 25 schwStGB68 stellt wie § 12 dritter Fall öStGB und anders als § 27 dStGB nicht darauf ab, dass die Tat durch „einen anderen“ ausgeführt wird. Allerdings wird wie in Deutschland ein „Hilfeleisten“ vorausgesetzt und dadurch eine Relation zwischen zwei Personen indiziert. Insofern könnte z. B. folgende Ergänzung durch einen angefügten zweiten Absatz erfolgen: Art. 25. Gehilfenschaft. (1) (…) (2) Ebenso wird als Gehilfe bestraft, wer durch sein vorangegangenes Verhalten zu einem eigenen, anschließend im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich einen Beitrag leistet.

Damit hätte die vorsätzliche actio libera in causa auch in der Schweiz eine solide Grundlage. Die durch Art. 25 schwStGB nicht erfasste fahrlässige actio libera in causa könnte durch Art. 19 Abs. 4 schwStGB weiterhin angemessen abgedeckt werden.

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Oben vor Fn. 47. Oben bei Fn. 5. 68 Art. 25 schwStGB lautet: „Wer zu einem Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich Hilfe leistet, wird milder bestraft.“ 67

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III. Ergebnisse 1. Die rechtliche Grundlage einer Bestrafung nach dem letztlich verwirklichten Delikt, wenn sich jemand vorsätzlich oder fahrlässig im Hinblick auf eine spätere Deliktsbegehung in einen Vollrausch versetzt und anschließend im vollberauschten Zustand das Delikt begeht (actio libera in causa), ist nach wie vor nicht endgültig geklärt. Heute besteht aber weitgehende Einigkeit, dass eine gewohnheitsrechtliche oder sonst außergesetzliche Begründung wegen des Gesetzlichkeitsprinzips ausscheidet. Eine Beibehaltung der Rechtsfigur ist nur möglich, soweit in der Berauschungshandlung selbst die relevante tatbestandsmäßige Handlung gesehen werden kann. Diese Möglichkeit scheidet indes für verhaltensgebundene Delikte aus, weil die Berauschung als solche nicht als „Gewalt“, „Drohung“, „Täuschung“, „geschlechtliche/sexuelle Handlung“ etc. bezeichnet werden kann. 2. Der im Schrifttum verbreitete Vorschlag, in der actio libera in causa einen Anwendungsfall der „mittelbaren Täterschaft“ (bzw. für Österreich der „verdeckten unmittelbaren Täterschaft“) zu sehen, weil der Täter sich selbst bei der späteren Tatausführung als „Werkzeug“ benütze, stößt ebenfalls auf verschiedene Bedenken. So ist eine „mittelbare Täterschaft“ nach h. M. bei eigenhändigen Delikten und Sonderdelikten nicht möglich. Außerdem erscheint die zugrundeliegende Vorstellung problematisch, dass ein vollberauschter Täter im Vergleich zu seinen früheren Vorstellungen im nüchternen Zustand nur mehr als „Werkzeug“ agiere. Wenn ferner aus der Parallele zur mittelbaren Täterschaft abgeleitet wird, dass bereits die Berauschungshandlung einen Versuch des nachfolgenden Delikts begründe, wird die Strafbarkeit zu weit vorverlagert. In den Fällen bloß verminderter Schuldfähigkeit lässt sich eine actio libera in causa von vornherein nicht auf die mittelbare Täterschaft stützen. Nicht zuletzt steht die gesetzliche Formulierung der mittelbaren Täterschaft in § 25 Abs. 1 zweiter Fall dStGB, wo ausdrücklich auf die Begehung „durch einen anderen“ abgestellt wird, einer Anwendung auf die actio libera in causa entgegen. 3. Deshalb wurde – ausgehend von der österreichischen Beitragstäterschaft gemäß § 12 dritter Fall öStGB – der Gedanke weiterentwickelt, zur Erklärung der actio libera in causa die Berauschungshandlung als eine „Beitragshandlung“ zur späteren Tatausführung einzustufen. Dies würde mehrere Probleme beseitigen: Ein Beitrag ist auch bei verhaltensgebundenen Delikten, eigenhändigen Delikten und (sonstigen) Sonderdelikten möglich. Die vollberauschte Person muss nicht als „Werkzeug“ im Vergleich zu ihren früheren Vorstellungen im nüchternen Zustand eingestuft werden; vielmehr verwirklicht auch der vollberauschte Täter den Straftatbestand, zu dem die vorangegangene Handlung einen Beitrag leistet. Entsprechend der Straflosigkeit des Beitragsversuchs würde auch bei der actio libera in causa die Versuchsstrafbarkeit erst beim Versuch der Deliktsverwirklichung im Vollrausch beginnen. Die gesetzliche Regelung der „Beitragstäterschaft“ in § 12 dritter Fall öStGB bildet, weil sie nicht auf „einen anderen“, sondern allgemein auf einen Beitrag zur Tatausführung abstellt, für Österreich eine geeignete gesetzliche Grundlage auch zur Miterfassung der actio libera in causa.

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Inhaltlich würde viel dafür sprechen, diese Überlegungen auf Deutschland und die Schweiz zu übertragen und in der actio libera in causa einen Anwendungsfall der Beihilfe gemäß § 27 dStGB bzw. der Gehilfenschaft gemäß Art. 25 schwStGB zu sehen. Anders als bei § 12 dritter Fall öStGB ist der Wortlaut dieser Vorschriften aber nicht weit genug formuliert, um eine actio libera in causa mit zu erfassen. Insofern wurden Überlegungen angestellt, wie auch in Deutschland und der Schweiz (ohne Systembruch) de lege lata eine sachgerechte gesetzliche Erfassung der actio libera in causa aussehen könnte.

Die Rauschtat und ihre strafrechtliche Bewältigung Zwischen Vorverlagerungs-, Ausdehnungs- und Ausnahmemodell Frank Peter Schuster

I. Einleitung Ein mildes Urteil des Amtsgerichtes Würzburg1 gegen einen hochalkoholisierten Unfallfahrer löste im Jahre 2019 bundesweit in den Medien und sozialen Netzwerken eine Welle der Empörung aus. Der Angeklagte hatte nach den Feststellungen des Jugendschöffengerichts nach einem Weinfest in Untereisenheim mit einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 2,9 % eine 20-jährige Frau überfahren und dadurch getötet. Gegen den zur Tatzeit 18-jährigen Angeklagten wurde wegen fahrlässigen Vollrauschs gem. § 323a StGB erstinstanzlich lediglich eine Geldauflage in Höhe von 5.000 Euro als jugendstrafrechtliches Zuchtmittel gem. § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 JGG2 verhängt. Eine Verurteilung wegen der objektiv gegebenen fahrlässigen Tötung gem. § 222 StGB (sowie § 315c StGB und § 142 StGB) kam für das Gericht nicht in Betracht, da nach seiner Überzeugung nicht auszuschließen war, dass die Alkoholisierung zum Zeitpunkt des Unfalls zur Schuldunfähigkeit im Sinne von § 20 StGB geführt hat. Die Berufungsinstanz verurteilte den Angeklagten dagegen wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung, allerdings nur, weil der Sachverständige befunden hatte, dass der Angeklagte doch schuldfähig gewesen sei. Das Berufungsurteil wurde nach Verzicht aller Beteiligten auf Rechtsmittel sofort rechtskräftig. Ein Erwachsener hätte im Fall von §§ 222, 315c Abs. 1 Nr. 1a, 52 StGB sogar mit einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr3 rechnen müssen, wobei auch bei Ersttätern i. d. R. § 56 Abs. 3 StGB4 zur Anwendung kommt. Wenn beim Vollrausch gem. § 323a StGB dagegen nominell nur die Selbstberauschung bestraft wird,5 erscheint es zwar auf den ersten Blick konsequent, für die kon1

AG Würzburg, Urt. v. 23. 10. 2019 – 708 Ls 913 Js 7648/17 jug. Der bei Geldstrafen berechtigte Vorwurf in den Medien sollte besser Tagessatzzahl und Tagessatzhöhe (§ 40 StGB) mitgeteilt werden, greift hier ausnahmsweise nicht. 3 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl. 2017, Rn. 1736. 4 Etwa OLG Hamm NStZ-RR 2014, 321; vgl. aber auch BGH NJW 1990, 193 (besondere Umstände bei Tat und Täter sind zu beachten). 5 Vgl. BGHSt 17, 333 (334). 2

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krete Strafzumessung auf das Maß der Vorwerfbarkeit des Sich-Betrinkens abzustellen und nicht auf die Folgen der Rauschtat. Dennoch war das erstinstanzlich verhängte Strafmaß zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens offensichtlich nicht geeignet. Das „allgemeine Rechtsempfinden“ mag zwar kein juristischer Begründungsansatz sein. Die durchaus heftigen Reaktionen sollten aber Anlass sein, die gesetzlichen Regelungen der §§ 20, 21 und 323a StGB und das deutsche Vorverlagerungsmodell nochmals einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Die Zuschreibung von Verantwortlichkeiten ist schließlich auch ein Thema, welches Jan C. Joerden bereits in seiner Habilitationsschrift6 behandelt hat. Die deutsche Vorverlegungsdoktrin konnte er dabei bis auf Kant7 zurückführen. Selbst favorisiert der Jubilar in Anschluss an seinen akademischen Lehrer8 jedoch das Ausnahmemodell.9 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob dieses – vor allem mit Blick auf den Individualschaden des Opfers – eher geeignet ist, tat- und schuldangemessen auf im Vollrausch begangenes Unrecht zu reagieren.

II. Praktische Bedeutung 9,5 Mio. Menschen in Deutschland konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form und etwa 1,3 Mio. Menschen gelten als alkoholabhängig.10 Unter Alkoholeinfluss begangene Straftaten spielen statistisch gesehen ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle.11 Dies gilt vor allem für den Straßenverkehr: Im Jahre 2019 wurden 167.360 Täter wegen Straftaten im Straßenverkehr verurteilt, 70.862 Taten wurden dabei im Zustand der Trunkenheit begangen.12 Bei 39.764 Verkehrsunfällen (von 2,7 Mio. Unfällen insgesamt) stand mindestens ein Beteiligter unter dem Einfluss berauschender Mittel.13 7,5 % aller tödlich verletzten Verkehrsteilnehmer starben infolge eines Alkoholunfalls. Selbst Fahrlehrer sind mitunter betrunken, können jedoch von einer vom Jubilar ausgemachten Strafbarkeitslücke profitieren.14 Jenseits des Straßenverkehrs wurden von insgesamt 141.808 polizeilich aufgeklärten Fällen der Gewaltkriminalität 36.335 (25,6 %) unter Alkoholeinfluss verübt, 10.648 Tatverdächti6 Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, 1988. 7 Joerden (Fn. 6), 39. 8 Hruschka, JuS 1968, 554 (558); ders., JZ 1996, 64; ders., JZ 1997, 22. 9 Joerden (Fn. 6), 40 ff.; ders., in: Hilgendorf (Hrsg.), Das Schuldprinzip im deutsch-chinesischen Vergleich, 2019, 207 (214 ff.). 10 Vgl. etwa Dettmeyer/Veit/Verhoff, Rechtsmedizin, 3. Aufl. 2019, 195. 11 Möglicherweise sind sie in der Statistik überrepräsentiert, weil sie leichter auffallen; vgl. Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, 1161 f., 1258. 12 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 2019, Abschnitt 2.3. 13 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Verkehrsunfälle – Unfälle unter dem Einfluss von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln im Straßenverkehr 2019, S. 6. 14 Joerden, Blutalkohol 43 (2006), 316.

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ge waren Konsumenten harter Drogen (7,5 %).15 Auch wenn der Alkoholkonsum selten die alleinige Ursache für die Straftat darstellt, erhöht sich das Gewaltrisiko bei Männern etwa um den Faktor 9 – 15.16 Aus der alkoholbedingten Enthemmung und der Verminderung des Einsichts- und Unterscheidungsvermögens ergeben sich also erhebliche Gefahren für strafrechtlich geschützte Güter,17 wenngleich immer auch individuelle Faktoren eine Rolle spielen.18

III. Schuldgrundsatz bei Rauschtaten In einer Gesellschaft, in der die Menschen zum Teil auf engem Raum zusammenleben, lässt sich die grundsätzliche Notwendigkeit der Ahndung von Rauschtaten kaum leugnen. Strafe setzt allerdings Schuld voraus und die Trunkenheit kann dazu führen, dass die Fähigkeit zu normgemäßer Motivation im Tatzeitpunkt erheblich beeinträchtigt oder ausgeschaltet ist. 1. Ideengeschichtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen Der Grundsatz nulla poena sine culpa wird heute in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG verortet und gehört damit zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität.19 Er war natürlich schon weit früher anerkannt. Die eingängige lateinische Formel ist aber nicht etwa römisch-rechtlichen Ursprungs, sondern eine Abwandlung des Satzes nulla poena sine lege von Feuerbach (1755 – 1833).20 Der Wortlaut geht dabei nicht einmal auf diesen zurück, steht aber im Zusammenhang mit seiner psychologischen Zwangstheorie. Derjenige, der der abschreckenden Botschaft der Strafdrohung nicht zugänglich ist, kann strafrechtlich auch nicht zur Verantwortung gezogen werden.21 Eine Regelung, die eine Strafbefreiung wegen rauschbedingter Schuldunfähigkeit generell ausschließt, wie sie in anderen Ländern (z. B. China22 und Russland23) existiert, wäre in Deutschland also ver-

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Vgl. BKA (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik 2019, Tabelle 12. Dreßing/Foerster, in: Venzlaff et al., Psychiatrische Begutachtung, 7. Aufl. 2020, 210. 17 Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 323a Rn. 1. 18 Gegen die laienhafte Annahme Alkohol habe per se eine kriminogene Wirkung Dreßing/ Foerster (Fn. 16), 210; Seifert, in: Venzlaff et al., Psychiatrische Begutachtung, 7. Aufl. 2020, 435 m. w. N. 19 Vgl. BVerfGE 20, 323 (331); BVerfGE 123, 267 (413); siehe auch BVerfGE 45, 187 (228); BVerfGE 50, 205 (214); BVerfGE 57, 250 (275); BVerfGE 80, 244 (255); BVerfGE 95, 96 (140); BGHSt 2, 194 (200). 20 Vgl. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 1801, § 20. 21 Vgl. Schiemann, Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen, 2012, 111. 22 ). Vgl. § 18 Abs. 4 des chinesischen Strafgesetzbuchs ( 16

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fassungswidrig. Schließlich ist der Fall denkbar, dass sich der Täter unter Umständen betrinkt, die eine spätere Rechtsgutsverletzung als sehr fernliegend erscheinen lassen. Möglich ist es sogar, dass der Täter gar nicht wusste, welche Alkoholmengen er zu sich nimmt (z. B. bei Wodka-Mixgetränken, Alkopops etc.), oder dass ihm heimlich Drogen verabreicht wurden. Jedenfalls in den letztgenannten Fällen erschiene eine Bestrafung – ganz ungeachtet zwingender verfassungsrechtlicher Vorgaben – auch kriminalpolitisch als absolut verfehlt. 2. §§ 20, 21 StGB und Feststellung der Voraussetzungen im Einzelnen Nach § 20 StGB handelt ohne Schuld, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder aus anderen Gründen unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen (Var. 1) oder nach dieser Einsicht zu handeln (Var. 2). Meistens ist bei Rauschzuständen die Einsichtsfähigkeit (Var. 1) noch intakt, während das Hemmungsvermögen (Var. 2) bereits ausgeschlossen ist.24 Dies gilt allerdings nicht unbedingt für Verkehrsdelikte. Ist die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters bei Begehung der Tat aufgrund des Alkoholrausches i. S. des § 21 StGB nur vermindert, so kann die Strafe zwar gemildert werden. Insbesondere die uneingeschränkt schuldhafte Herbeiführung des Rauschzustands wird dabei von der Rspr.25 in der Regel jedoch als ein schulderhöhender Faktor angesehen, der gegen eine Strafmilderung spricht. In § 7 Abs. 1 WehrStG ist der Fall der selbstverschuldeten Trunkenheit in diesem Sinne sogar ausdrücklich geregelt. Bei der Frage, ab wann von Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit ausgegangen werden muss, hat die Blutalkoholkonzentration (BAK) immer noch eine wichtige Bedeutung: Ursprünglich hatte sich in der Rechtsprechung die Auffassung durchgesetzt, dass für Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) ein Schwellenwert von 3,0 % zur Tatzeit maßgeblich ist, bei Tötungsdelikten 3,3 %. Für die Annahme von verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) liegt der Wert bei 2,0 %.26 Um die genannten Werte zu erreichen, müssten an sich ganz erhebliche Alkoholmengen konsumiert werden.27 Allerdings kann die BAK im Tatzeitpunkt oftmals nur geschätzt 23 Vgl. Art. 23 des russischen Strafgesetzbuches (DT_\_S^lZ [_UV[b A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY – D; AE). 24 S/S-Perron/Weißer, StGB, § 20 Rn. 16. 25 BGH(GSt)St 62, 247 (263); BGH NStZ 2016, 203; BGH NStZ-RR 1999, 12; siehe auch Detter, NStZ 1992, 169 (171) m. w. N. Nicht uneingeschränkt vorwerfbar ist der Alkoholrausch z. B. dann, wenn der Täter alkoholkrank ist oder überempfindlich auf Alkohol reagiert (BGH NStZ 2012, 687). 26 BGHSt 37, 231 (234). 27 Ein 80 kg-schwerer Mann mit einer Köpergröße von 180 cm müsste für eine BAK von 3,0 % in fünf Stunden um die 200 g reinen Alkohol (5 Liter Bier oder 0,7 Liter Schnaps) zu sich nehmen.

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werden. Dabei gehen viele Einzelfaktoren in das Ergebnis ein, wobei in Anwendung des Zweifelssatzes jeweils der für den Angeklagten günstigste Wert angesetzt werden muss (so liegt der Alkoholabbau bei Gelegenheitstrinkern zwischen 0,12 und 0,18 % pro Stunde, bei massiv Alkoholgewöhnten bis zu 0,35 % pro Stunde).28 Dies führt zu einer systematischen Verfälschung des Resultats.29 Nicht nur deshalb ist die Rechtsprechung von einer einseitigen Betonung der Tatzeit-BAK abgerückt.30 Auch im medizinischen Schrifttum wird die Auffassung vertreten, dass der BAKWert bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung lediglich eine grobe Orientierungshilfe darstellt. Ab einer anzunehmenden Tatzeit-BAK von 3,0 % liegt die Schuldunfähigkeit zwar so nahe, dass sie vom Tatrichter eingehend und in aller Regel mit Hilfe eines Sachverständigen zu prüfen ist. Bei alkoholungewohnten Heranwachsenden und Jugendlichen kann Schuldunfähigkeit jedoch auch bei geringerer Alkoholisierung vorliegen. Sehr selten ist dagegen der sog. pathologische Rausch.31 Andererseits kann ein Autofahrer, der beim Fahren unter Alkoholeinfluss mit über 3,0 % erwischt wird, sich nicht ohne Weiteres auf einen Mangel seiner Steuerungsfähigkeit berufen. Die Tatsache, dass ein Autofahrer fähig war, einen PKW zu steuern, gibt vielmehr ein erhebliches Gegenindiz dazu ab.32

IV. Möglichkeiten der Verhängung einer Kriminalstrafe trotz rauschbedingter Schuldunfähigkeit Trotz einer im eigentlichen Tatzeitpunkt anzunehmenden Schuldunfähigkeit kann man auf unterschiedlichen Wegen dennoch zur Verhängung einer Kriminalstrafe gelangen. 1. Actio libera in causa Die ältere33 und weiterhin vorrangige Rechtsfigur ist die der actio libera in causa. Der Begriff soll auf den Würzburger Ordinarius Kleinschrod (1762 – 1824) zurück-

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Haffner/Batra/Bilzer et al., Blutalkohol 29 (1992), 53 (55, 57). Dies gilt erst recht, wenn die BAK anhand von Trinkmengen ermittelt wird, wo acht verschiedene Einflussvariablen Berücksichtigung finden; vgl. etwa Kröber/Graw, Psychiatrische Praxis 37 (2010), Heft 1, 4 (4 f.). 30 BGHSt 43, 66. 31 Aufgrund einer Hirnschädigung oder schwerwiegenden körperlichen Erkrankung kommt es auch beim Erwachsenen schon bei relativ niedriger Blutalkoholkonzentration zum abrupten Erregungszustand, eher ungezielten Aggressionen und Orientierungsstörungen; vgl. Dettmeyer/Veit/Verhoff (Fn. 10), 324. 32 Fahl, JuS 2005, 1076 (1077). 33 RGSt 22, 413; RGSt 60, 29; RGSt 73, 182; BGHSt 2, 17; BGHSt 17, 259; BGHSt 17, 333 (335). 29

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gehen.34 Wer im Zustand des § 20 StGB eine vorsätzliche Straftat begeht, soll sich im Ergebnis nicht auf seine Schuldunfähigkeit berufen können, wenn er den Ausnahmezustand schuldhaft herbeigeführt und sich dabei sein Vorsatz bereits auf die später begangene Vorsatztat erstreckt hat.35 Die Tat (actio) ist unfrei in ihrem Vollzug, aber frei in ihrer Ursache (in causa).36 Umstritten ist jedoch die dogmatische Begründung.37 a) Vorverlagerungsmodell und Kritik Das vorherrschende Modell in Deutschland ist die Vorverlagerungstheorie,38 die wohl auch einzig mit dem Wortlaut des § 20 StGB, der keine Ausnahmen vorsieht, zu vereinbaren ist. Der Täter, der sich vorsätzlich in den Zustand des § 20 StGB befördert, um z. B. einen Totschlag zu begehen, setzt bereits durch das Betrinken eine Ursache (causa causae est causa causati) für den späteren Tod des Opfers. Der Täter benutze sich quasi selbst als schuldlos handelndes Werkzeug39 (freilich ohne dass er „ein anderer“ i. S. des § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB ist)40 und könne deshalb wegen § 212 StGB bestraft werden. Nicht unberechtigte Zweifel an der Nachweisbarkeit der Kausalität im Einzelfall – schließlich wird man schwer ausschließen können, dass der tatgeneigte Täter nicht auch im nüchternen Zustand gehandelt hätte,41 – werden mit der Überlegung zu überwinden versucht, dass die Tat des Nüchternen dann eben eine andere gewesen wäre.42 Wird das Sich-Berauschen als eigentliche Tathandlung angesehen, führt dies zu einem übermäßig frühen Erreichen des Versuchsstadiums.43 Eine verbreitete Literaturmeinung hält die Konstruktion (nach derzeitigem Gesetzesstand) deshalb für verfassungswidrig.44

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Vgl. Hruschka, JuS 1968, 554 Fn. 2 und Kleinschrods Systematische Entwickelung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinlichen Rechts, § 17 (S. 26), § 64 (S. 106), hier zitiert nach der 1. Aufl., 1794. 35 RGSt 73, 177; BGHSt 21, 381 (382); Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil, 4. Aufl. 2021, § 40 Rn. 4 m. w. N. 36 Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 11 Rn. 6. 37 Eine umfassende Aufbereitung von Rechtsprechung und Literatur findet sich bei Hettinger, Die „actio libera in causa“: Strafbarkeit wegen Begehungstat trotz Schuldunfähigkeit?, 1988, 179 ff. 38 Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 5. Aufl. 2020, § 20 Rn. 59; S/S-Perron/Weißer, StGB, § 20 Rn. 35; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2021, § 17 Rn. 37 ff.; Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2021, § 25 Rn. 15. 39 Vgl. RGSt 22, 413 (415); Baumann/Weber/Mitsch/Eisele (Fn. 37), § 17 Rn. 38. 40 S/S-Perron/Weißer, StGB, § 20 Rn. 35. 41 Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985, 26 f. 42 Roxin, FS Lackner, 1987, 307 (312 f.). 43 Dies räumt auch Roxin, FS Lackner, 313 f. ein, der dies jedoch für hinnehmbar erachtet.

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Auch wenn man diese Bedenken nicht teilt, versagt das Vorverlagerungsmodell bei eigenhändigen, verhaltensgebundenen Delikten und schlichten Tätigkeitsdelikten wie der Trunkenheit im Straßenverkehr gem. § 316 StGB (früher der praktisch wichtigste Anwendungsfall der actio libera in causa), weil ein Betrinken rein vom Wortlaut her kein Führen eines Kraftfahrzeugs darstellen kann.45 Dies hat die zumindest für Nichtjuristen ungereimte Konsequenz, dass mit steigender BAK beginnend bei 0,3 % (§ 316 StGB, sofern Fahrausfälle) über 0,5 % (§ 24a StVG, auch ohne Fahrausfälle) und 1,1 % (§§ 316 oder 315c StGB) bis hin zu 1,6 % (zwingende MPU für Neuerteilung der Fahrerlaubnis) die Sanktionen und Sperrfristen schärfer werden, im Falle ganz erheblicher Alkoholisierung die Strafe wegen der Alkoholisierung dagegen gem. § 21 StGB gemildert bzw. bei noch stärkerer Alkoholisierung der Täter „nur“ noch wegen § 323a StGB bestraft werden kann. Im Ausgangsfall (und vergleichbaren Konstellationen) hätte man allerdings auch bei Annahme eines § 20 StGB an eine fahrlässige Tötung gem. § 222 StGB denken können, sofern der Angeklagte von vornherein vorgehabt hätte, vom Weinfest mit dem PKW heimzufahren. Schließlich wäre es als sorgfaltswidrig anzusehen, wenn er – ohne für eine sichere Heimfahrt gesorgt zu haben – beginnt, im erheblichen Umfang alkoholische Getränke zu sich zu nehmen (im Originalfall war der festgestellte Sachverhalt jedoch wohl anders)46. b) Ausnahme- und Ausdehnungsmodell sowie Kritik Das Ausnahmemodell – zum Teil auch de lege lata in der Literatur47 vertreten – knüpft dagegen bei der Strafbarkeit an das tatbestandsmäßige Verhalten im Rauschzustand an. Die bei der Tatbegehung fehlende Schuld soll durch das schuldhafte Vorverhalten ausgeglichen werden. Manche bezeichnen es als „rechtsmissbräuchlich“, sich auf die Schuldunfähigkeit „zu berufen“,48 wenn man diese selbst zu einem rechtswidrigen Zweck herbeigeführt hat. Dem könnte man entgegenhalten, dass es im Inquisitionsprozess gar keiner „Einrede“ bedarf (anders als im angloamerikanischen Rechtskreis, wo Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe als „defences“ ausgestaltet sind), der man verlustig werden könnte. Der Jubilar unterscheidet dagegen zwischen einer ordentlichen und einer außerordentlichen Zurechnung. Vernünftige Kritik an einer Person wegen ihres Verhaltens könne man nur üben, wenn die 44

Etwa Hettinger (Fn. 37), 436 ff.; Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 5. Aufl. 2017, Vor § 323a Rn. 29; Zieschang, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2020, Rn. 339. 45 BGHSt 42, 235 (238 ff.). 46 Nach den Feststellungen des Gerichts wollte der angeklagte Fahrer bei der Großmutter eines der mitangeklagten Beifahrer in der Nähe übernachten, entschloss sich dann jedoch spontan zur Fahrt. 47 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 40 VI; Kühl (Fn. 36), § 11 Rn. 6 ff. 48 Otto, Grundkurs Strafrecht. Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 13 Rn. 26.

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Handlung oder das Unterlassen frei vorgenommen wurde. Für eine freie Handlung muss die Person nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv die Möglichkeit gehabt haben, sich anders zu verhalten. Solange keine causa moralis libera gefunden sei, sei auf der Suche nach dem Verantwortlichen für den Eintritt eines Erfolges der Regress zur nächsten und übernächsten usw. Ursache erlaubt und geboten.49 Bei einem Zurechnungsdefekt habe der Täter aber immer noch eine Verhaltensalternative,50 es greife jedoch eine außerordentliche Zurechnung aufgrund des Vorverhaltens. Voraussetzung für ein solches Vorgehen ist die Annahme einer Obliegenheit, sich nicht in einen Defektzustand zu begeben.51 Konzeptionell halte ich dieses Modell für durchaus tauglich. Weder die akute Alkoholintoxikation noch der chronische Konsum führen unweigerlich zu delinquentem Verhalten.52 Der Täter muss im Vollrausch noch weitere Handlungen vornehmen, die eine unmittelbare Gefahr für das tatbestandlich geschützte Rechtsgut begründen. Es ist aber ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass erschlichene Rechtspositionen unbeachtlich bleiben müssen. Das Ausnahmemodell setzt sich allerdings über den Wortlaut des § 20 StGB hinweg, der bei der Schuldfähigkeit nur auf den Zeitpunkt „bei Begehung der Tat“ abstellt. Diesen Bedenken kann m. E. auch nicht mit dem Ausdehnungsmodell Rechnung getragen werden: So möchte Streng die Tatvorbereitung in schuldfähigem und die Durchführung in schuldunfähigem Zustand durch einen übergreifenden Vorsatz zu einer Bewertungseinheit verklammern.53 Ähnliches gilt für den Ansatz von Jerouschek und Kölbel, die das Wort „bei“ im Zusammenhang mit § 20 StGB funktional i. S. von „bezüglich“ interpretieren wollen.54 Es erscheint jedoch wenig plausibel, dass der Gesetzgeber die identische Wendung „bei Begehung der Tat“ in § 20 StGB weiter oder anders verstanden wissen wollte als bei § 16 Abs. 1 StGB.55 Das Ausnahme- und das Ausdehnungsmodell verstoßen also gegen das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip aus Art. 103 Abs. 2 GG, was letztendlich auch der Jubilar nolens volens nicht in Abrede stellt.56

49

Joerden (Fn. 6), 35 ff. Joerden (Fn. 6), 41 f. 51 Joerden (Fn. 6), 45 ff., 58 f.; vgl. auch ders., Logik im Recht, 2. Aufl. 2009, 264 ff. 52 Seifert (Fn. 18), 435. Die meisten Menschen dürften im Rausch zunächst mit gesteigert sozialem Verhalten und danach mit Müdigkeit reagieren. 53 Streng, in: Erb/Schäfer (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2020, § 20 Rn. 137; ders., JZ 1994, 709 (713 f.). 54 Jerouschek/Kölbel, JuS 2001, 417 (421 f.). 55 BGHSt 42, 235 (241). 56 Joerden, in: Hilgendorf (Fn. 9), 216; ebenso Hruschka, JZ 1997, 24. 50

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2. Vollrauschtatbestand a) Tatbestandsvoraussetzungen Der Tatbestand des § 323a StGB, der im erstinstanzlichen Urteil des AG Würzburg zur Anwendung kam, folgt ebenfalls dem Vorverlagerungsmodell und schließt die sonstigen Strafbarkeitslücken. Als § 330a RStGB wurde die Strafbestimmung erstmals durch den NS-Strafgesetzgeber im Wege des Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 193357 in das Strafgesetzbuch eingefügt, damals noch mit einem sehr maßvollen Strafrahmen bis zu zwei Jahren Gefängnis58. Gleichwohl kann die Vorschrift nicht als Ausdruck nationalsozialistischer Strafrechtspolitik verstanden werden,59 da selbst der nichtamtliche Entwurf (1922) von Gustav Radbruch in § 327 E eine entsprechende Regelung enthielt.60 Bereits die Tatsache, dass sich jemand vorsätzlich oder fahrlässig in einen Rausch versetzt, bei dem er nicht mehr in der Lage ist, den Anforderungen der Gesetze zu genügen, soll nach § 323a StGB das strafwürdige Unrecht begründen.61 Die Herbeiführung des Rauschzustandes muss zumindest fahrlässig geschehen, d. h. es muss dem Betroffenen erkennbar sein, dass er Alkohol oder ein anderes berauschendes Mittel zu sich nimmt und dies in einer Menge geschieht, die zu psychischen Veränderungen führt. Eine Ahndung erfolgt jedoch unter dem Vorbehalt (objektive Bedingung der Strafbarkeit), dass es im Rauschzustand zu einer weiteren Straftat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) gekommen ist. Im Rausch muss der Täter also u. a. im strafrechtlichen Sinne gehandelt, einen etwaig notwendigen Taterfolg verursacht haben und die notwendigen subjektiven Voraussetzungen (Vorsatz „im natürlichen Sinne“) erfüllen, wobei es insoweit dem Täter nicht schadet, dass eine etwaige Handlungsunfähigkeit oder ein Irrtum auf übermäßiger Berauschung beruht.62 Beim Fahrlässigkeitsdelikt 57

Damals als § 330a RStGB; siehe RGBl. 1933 I, S. 995. Bereits der NS-Strafgesetzgeber erhöhte den Strafrahmen auf bis zu fünf Jahre Gefängnis (RGBl. 1941 I S. 550). 59 Vgl. auch Popp, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB, 12. Aufl. 2019, § 323c Rn. 16. 60 Der Entwurf wurde von Radbruch nach Ernennung zum Reichsminister der Justiz (1921 – 1923) in politisch turbulenten Zeiten vorgelegt. Er war Teil einer geplanten deutschösterreichischen Rechtsangleichung und ein durchaus klares Bekenntnis zu einem humanen Strafrecht für ein Land, das sich Radbruch als sozialen Volksstaat und als Rechtsstaat in einem wünschte, vgl. Eb. Schmidt, in: Dehler/Eb. Schmidt (Hrsg.), Gustav Radbruchs Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches, 1952, S. VII; Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl. 2019, 159, 169 ff. betont allerdings, dass der Entwurf durchaus auch massive Verschärfungen strafrechtlicher Sanktionen enthielt. 61 Anders BGHSt (GrS) 9, 390 (396), wobei nicht zwischen Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit unterschieden wurde. 62 Popp, LK-StGB, § 323a Rn. 62, 65. 58

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als Bezugstat gilt dagegen der Sorgfaltsmaßstab eines Nüchternen.63 In der Praxis dient § 323a StGB nicht nur der Erfassung solcher Fälle, in denen die Schuldunfähigkeit feststeht, sondern auch solcher, in denen diese nicht auszuschließen ist und die Bestrafung der Rauschtat in dubio pro reo ausgeschlossen ist, was sogar der Hauptanwendungsfall sein dürfte. Ob damit dem Schuldgrundsatz besser gedient ist als mit einem Ausnahmemodell, ist durchaus fragwürdig. b) Probleme bei der Strafzumessung Was die Rechtsfolgen anbelangt, erscheint die maximale Freiheitsstrafe von fünf Jahren, wenn es sich bei der im Rausch begangenen Tat um einen Mord oder Totschlag handelt, eher unzureichend.64 In anderen Fällen wiederum ist das Höchststrafmaß vielleicht sogar zu hoch. Die Strafe wird zwar gem. § 323a Abs. 2 StGB durch die Obergrenze des Strafrahmens der Rauschtat begrenzt. Mit Blick auf die Strafmilderungsmöglichkeit gem. §§ 21, 49 Abs. 1 StGB bei bloß verminderter Schuldfähigkeit könnte man die Frage stellen, warum sie nicht darunterliegt.65 Das Hauptproblem liegt jedoch darin, dass durch das Gesetz die schuldhafte Herbeiführung des Rauschzustandes bestraft wird und nicht die Rauschtat selbst. Die Ausgestaltung als abstraktes Gefährdungsdelikt66 soll auf die Sanktionsbemessung im Einzelnen durchschlagen. So wurde vom Bundesgerichtshof immer wieder Berücksichtigung der Motive und der Gesinnung des Täters, die zu den Folgen der Rauschtat geführt haben, beanstandet.67 Allerdings dürfen nach BGHSt 23, 375 tatbezogene Merkmale der im Vollrausch begangenen Tat durchaus herangezogen werden, insbesondere auch deren Folgen.68 Dies wurde in der Literatur teilweise als „ein mit dem Schuldgrundsatz unvereinbares Erfolgsdenken“69 kritisiert. Mit Blick auf § 46 Abs. 2 StGB und das Schuldprinzip behilft sich die Rspr. jedoch mit der Überlegung, dass die schweren Folgen „Anzeichen für den Gefährlichkeitsgrad des Rausches“70 seien.

63

OLG Hamm Blutalkohol 51 (2014), 118 f.; Popp, LK-StGB, § 323a Rn. 67. So zu Recht Joerden, in: Hilgendorf (Fn. 9), 210. 65 Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Strafrahmenmilderung wegen verminderter Schuldfähigkeit nicht zwingend vorgeschrieben ist, sondern in die Entscheidung des Tatgerichtes gestellt ist (siehe zudem Fn. 25). 66 Kritisch dazu Popp, LK-StGB, § 323c Rn. 28 ff. 67 BGH 8. 1. 1965 – 2 StR 465/64; BGHSt 23, 375; BGH, Urt. v. 16. 4. 1975 – 2 StR 61/75; BGH, Beschl. v. 11. 3. 1981 – 4 StR 72/81; BGH NStZ-RR 1997, 300; BGHR § 46 Abs. 3 StGB Vollrausch 1. 68 Unter Berufung auf BGHSt 10, 259, welches jedoch vor Inkrafttreten von § 46 Abs. 2 StGB ergangen war. 69 Kusch, NStZ 1994, 131 (132); ähnlich Bruns, FS Lackner, 1987, 439 (440 f., 445, 449); Paeffgen, NK-StGB, § 323a Rn. 90. 70 BGH NJW 1992, 3309 (3311). 64

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Im Ergebnis wird man tatsächlich nicht anders entscheiden können: Wäre die Rauschtat irrelevant, erschienen die Vorschriften des § 323a Abs. 2 StGB und des § 122 OWiG nicht verständlich. Zudem blieben kaum noch Kriterien zur Bestimmung einer angemessenen Strafe übrig. Allein nach „Intensität der Berauschung“71 (hier stellt sich die Frage, ob diese be- oder entlasten soll), „Häufigkeit derartigen Tuns“ (eine besondere Häufigkeit könnte auch für eine schwerwiegende Abhängigkeitserkrankung sprechen), „Verständlichkeit des Anlasses“ (sind soziale Trinkmotive ehrenwerter als Trinken zur Problembewältigung oder sogar weniger verzeihlich) und „Gegensteuerungsmaßnahmen“ (diese dürften in der Tat entlasten) lässt sich kaum sinnvoll zwischen Geldstrafe und mehrjähriger Freiheitsstrafe entscheiden. Hinzu kommt, dass bei einer bloßen Ordnungswidrigkeit als Bezugstat (auch wenn der Rausch noch so vorwerfbar ist) nur eine Geldbuße in Betracht kommt. Die im Rausch verübte Tat prägt das Unrecht des Vollrausches nun einmal wesentlich mit.72 Im Lichte dieser Überlegungen hätte vielleicht auch das AG Würzburg bei Annahme von Schuldunfähigkeit zu einer schärferen Sanktion gelangen können.73

V. Alternativen zur derzeitigen Regelung Das Opfer und unbeteiligte Dritte werden als „Tat“ ohnehin nur die Rauschtat selbst und ihre Folgen, nicht aber die Herbeiführung des Defektzustandes ansehen.74 Wenngleich mit dem Tatbestandsmodell ohne Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG Strafbarkeitslücken vermieden werden können, bleibt das Problem, dass der eigentliche Unrechtsgehalt bei § 323a StGB im Urteilstenor gar nicht bzw. bei der Strafzumessung nur auf dogmatisch angreifbaren Umwegen berücksichtigt werden kann. Wenn das Ausnahmemodell im Falle der verminderten Schuldfähigkeit gem. § 21 StGB von den Gerichten faktisch praktiziert wird, bei der Schuldunfähigkeit gem. § 20 StGB jedoch allein vom Gesetzeswortlaut her ausscheidet, stellt sich die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber eine Regelung schaffen könnte, die eine Strafbefreiung im Falle der schuldhaften Herbeiführung des Rauschzustandes ausschließt. Eine solche gab es in § 15 Abs. 3 des StGB der DDR (1968).75 Sie findet sich aktuell auch in Art. 19 Abs. 4 des schweizerischen StGB, dort heißt es: 71

Alle vier genannten Kriterien finden sich bei Paeffgen, NK-StGB, § 323a Rn. 87. S/S-Hecker, StGB, § 323a Rn. 1; Safferling, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), StGB, 2. Aufl. 2020, § 323a StGB, Rn. 25. 73 Auch bei Fahrlässigkeitstaten ist eine Verhängung einer Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 JGG) nicht ausgeschlossen (AG Dillenburg NStZ 1987, 409; OLG Braunschweig NZV 2002, 194). Kritisch allerdings Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, § 17 Rn. 52; zurückhaltender auch OLG Karlsruhe, NStZ 1997, 241. 74 Vgl. S/S-Perron/Weißer, StGB, § 20 Rn. 35. 75 Dort hieß es: „Wer sich schuldhaft in einen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rauschzustand versetzt und in diesem Zustand eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht, wird nach dem verletzten Gesetz bestraft.“ 72

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1 War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar. 2 War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so mildert das Gericht die Strafe. 3

Es können indessen Massnahmen nach den Artikeln 59 – 61, 63, 64, 67, 67b und 67e getroffen werden. 4

Konnte der Täter die Schuldunfähigkeit oder die Verminderung der Schuldfähigkeit vermeiden und dabei die in diesem Zustand begangene Tat voraussehen, so sind die Absätze 1 – 3 nicht anwendbar.

Wenn der Täter bei Herbeiführung des Defektzustandes mit Blick auf die spätere Vorsatztat nur fahrlässig gehandelt hat, wäre demnach vom Wortlaut her sogar eine Bestrafung wegen Vorsatz möglich; die h. M. in der Schweiz76 möchte jedoch nur wegen Fahrlässigkeit bestrafen. Deshalb gibt es in Art. 263 schweizerisches StGB77 auch weiterhin einen Vollrauschtatbestand, der die übrigen Lücken schließt. Dem Ausnahmemodell folgen auch Kap. 1 § 2 Abs. 2 des schwedischen Strafgesetzbuches (Brottsbalken)78, Art. 31 § 3 des polnischen Strafgesetzbuches (Kodeks karny)79 und Art. 87 des italienischen Strafgesetzbuches (Codice Penale)80. Dabei ist zu erwähnen, dass in Art. 27 Abs. 1 der italienischen Verfassung (1947) das Schuldprinzip ausdrücklich garantiert wird; es genießt wie in Deutschland also eine besonders hohe Anerkennung. In (West-)Deutschland konnten sich entsprechende Gesetzesvorschläge81 aber aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken (Schuld- und Koinzidenzprinzip) nicht durchsetzen. 76 Siehe etwa BGE 117 IV, 292; Bommer, in: Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 19 StGB Rn. 107 m. w. N.; anders Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2011, § 11 Rn. 35. 77 Dort heißt es: „1Wer infolge selbstverschuldeter Trunkenheit oder Betäubung unzurechnungsfähig ist und in diesem Zustand eine als Verbrechen oder Vergehen bedrohte Tat verübt, wird mit Geldstrafe bestraft. 2Hat der Täter in diesem selbstverschuldeten Zustand ein mit Freiheitsstrafe als einzige Strafe bedrohtes Verbrechen begangen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.“ 78 Dort heißt es: „Wurde die Tat in einem selbst herbeigeführten Rausch begangen oder war der Täter aus eigenem Verschulden vorübergehend nicht bei Sinnen, so führt dies nicht dazu, dass die Tat nicht als Straftat angesehen wird.“ 79 Dort heißt es: „Die §§ 1 und 2 finden keine Anwendung, wenn sich der Täter in einen Trunkenheits- oder Rauschzustand versetzt hat, der zum Ausschluss oder zu einer Einschränkung seiner Zurechnungsfähigkeit geführt hat, die er vorausgesehen hat oder voraussehen konnte.“ 80 Die Vorschrift regelt den Fall der vorsätzlichen actio libera in causa, wobei die Strafe nach Art. 92 Abs. 2 c.p. sogar um bis zu einem Drittel erhöht werden kann. Aber auch darüber hinaus sind die bedingt vorsätzliche und die fahrlässige actio libera in causa anerkannt, vgl. etwa Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozeßrecht, 2008, 121 f. 81 Abschlußbericht der Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems, März 2000, Abschn. 11.3.2; dort wird folgender § 20 StGB vorgeschlagen (Beschluss 11 – 5): „Abs. 1 wie bisher; Abs. 2: Hat sich der Täter vorsätzlich in einen derartigen Zustand (oder: in einen Zustand i. S. des § 20 Abs. 1) versetzt und wenigstens in Kauf genommen, dass er in ihm

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Anders als das Wortlautargument halte ich diese Bedenken für überwertet: Das in Art. 1 Abs. 1 GG verortete Schuldprinzip verbietet es nicht, Ausnahmen vom Simultanitätsgrundsatz zu machen, sofern an ein im Hinblick auf das später verwirklichte Tatunrecht spezifisch vorwerfbares Vorverhalten angeknüpft wird. Das Koinzidenzpostulat, wonach Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld zwingend einmal während der Tatausführung gemeinsam vorliegen sollen,82 bleibt letztendlich unbelegt.83 In vielen ähnlichen Konstellationen stellt der Gesetzgeber auf ein Vorverschulden ab: Im Rahmen eines Verbotsirrtums kommt es nicht darauf an, ob der Täter noch zur Tatzeit selbst in der Lage war, das Unrecht der Tat zu erkennen.84 § 35 Abs. 1 S. 2 StGB knüpft ebenfalls an ein früheres Verhalten an und schließt eine Entschuldigung des Täters aus. Strafbarkeitsbegründend wirkt ein pflichtwidriges Vorverhalten im Rahmen der Fahrlässigkeit beim Übernahmeverschulden85, bei § 32 StGB im Fall der Notwehrprovokation86, bei Unterlassungsdelikten im Rahmen der Ingerenz87 und bei der omissio libera in causa88, wobei im letztgenannten Fall richtigerweise wegen eines Unterlassungsdelikts bestraft wird, nicht etwa wegen der aktiven Herbeiführung des Defektzustandes89. Auch das bürgerliche Deliktsrecht folgt in § 827 S. 2 BGB dem Ausnahmemodell. § 323a StGB löst letztendlich ein Problem des Allgemeinen im Besonderen Teil.90 Menschen reagieren auf Alkohol sehr unterschiedlich.91 Wenig glaubwürdig erscheint es, dass in einer Gesellschaft, in der kollektiver Alkoholkonsum allgemein akzeptiert und sogar staatlich (Wein- und Bierfeste) gefördert wird (anders mag man dies in den USA oder skandinavischen Ländern sehen), das bloße Betrinken als strafwürdiges Unrecht angesehen werden soll, welches mit Freiheitsstrafe bis

eine bestimmte rechtswidrige Tat vorsätzlich begehen wird, so ist diese Tat strafbar. Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. Abs. 3: Hat sich der Täter vorsätzlich oder fahrlässig in einen derartigen Zustand (oder: in einen Zustand i. S. des § 20 Abs. 1) versetzt und voraussehen können (oder: müssen), dass er in ihm eine bestimmte rechtswidrige Tat begehen wird, so ist diese Tat strafbar, soweit deren fahrlässige Begehung mit Strafe bedroht ist. Die Strafe kann (wie bei § 20 Abs. 2)“. Siehe ferner Gesetzentwurf der Abgeordneten Norbert Geis u. a., BT-Drucksache 14/545. 82 Roxin, FS Lackner, 310 f. 83 Streng, FS Kindhäuser, 2019, 501 (511) sieht darin ein Relikt der früheren Einstufung des Vorsatzes als Schuldelement. 84 Joecks/Kulhanek, MK-StGB, § 17 StGB Rn. 75 ff.; S/S-Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, § 17 Rn. 17 ff. m. w. N. 85 S/S-Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, § 15 Rn. 136. 86 S/S-Perron/Eisele, StGB, § 32 Rn. 54 ff. m. w. N. 87 S/S-Bosch, StGB, § 13 Rn. 32 ff. m. w. N. 88 S/S-Bosch, StGB, Vor § 13 Rn. 144; kritisch Haas, Matt/Renzikowski, § 13 Rn. 28. 89 Joerden (Fn. 6), 52. 90 Vgl. Popp, LK-StGB, § 323c Rn. 2. 91 Dreßing/Foerster (Fn. 16), 210; Seifert (Fn. 18), 435 m. w. N.; vgl. bereits oben Fn. 18.

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zu fünf Jahren zu ahnden sei,92 während vergleichbare abstrakte Gefährdungsdelikte, wie § 316 StGB, weit geringere Strafrahmen aufweisen. Der Gesetzgeber sollte besser im Rahmen des § 20 StGB zwischen anlagebedingten und selbst herbeigeführten Zuständen unterscheiden. Ein schuldhaftes Sich-Betrinken müsste dann nicht mehr als strafbare Handlung angesehen werden, sondern wäre Grundlage dafür, dass der Täter für die tatbestandsmäßige und rechtswidrige Rauschtat persönlich verantwortlich gemacht werden kann.93 Handelte der Täter bei Herbeiführung des Defekts zumindest bedingt vorsätzlich – auch mit Blick auf die Begehung einer Rauschtat (Fall einer vorsätzlichen actio libera in causa), sollte er unterschiedslos nach dem im Rausch verwirklichten Tatbestand bestraft werden. Ein im Defektzustand durchgeführter Rücktritt käme dem Täter aber ohne Frage zugute.94 Im Falle von Fahrlässigkeit im Zeitpunkt der Herbeiführung des Defekts95 sollte die Vorsatzstrafe nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden. Ein Strafrahmen von 2 Jahren Freiheitsstrafe bis zu 11 Jahren und 3 Monaten für einen Totschlag erscheint nicht überzogen, wenn man beim Ersttäter im Rahmen der Zumessung – wie üblich – im unteren Drittel ansetzt. Vor allem aber ließen sich so schwerwiegende Delikte wie § 177 StGB (Vergewaltigung)96, die im Vollrausch mit Vorsatz („im natürlichen Sinne“) begangen werden, als solche erfassen (abweichend von der h. M. in der Schweiz). Ist die im Rausch verwirklichte Straftat ein Fahrlässigkeitsdelikt, bedarf es keiner Milderung.97 Im Falle des vorsätzlichen Betrinkens und einer fahrlässigen Tatbegehung bleibt es beim Fahrlässigkeitsdelikt.98 Ein gesonderter Tatbestand für die Berauschung als solche käme allenfalls dann zur Anwendung, wenn sich der Täter unter Umständen betrinkt, die eine spätere Rechtsgutsverletzung als sehr fernliegend erscheinen lassen. Er wäre wahrscheinlich sogar verzichtbar,99 käme jedenfalls mit einem deutlich engeren Strafrahmen aus.

92

Neumann (Fn. 41), 56 ff. Wie Hruschka, JZ 1996, 67. 94 So auch BGH StV 1994, 304 zu § 323a StGB, allerdings in analoger Anwendung der Rücktrittsregeln. 95 An die Vorhersehbarkeit der Begehung einer Straftat sollten keine erhöhten Anforderungen gestellt werden, wenn sich der Täter so sehr betrinkt, dass er den Anforderungen der Strafgesetze nicht mehr genügen kann. 96 Von 7.969 Tatverdächtigen wegen Vergewaltigung und anderer schwerer Formen sexueller Nötigung handelten 1.915 (24,0 %) unter Alkoholeinfluss (vgl. auch Fn. 15). 97 Der Unterschied zur derzeitigen Rechtslage bestünde nur darin, dass der Täter wegen der Handlung im Defektzustand bestraft wird. Aufgrund der schuldhaften Herbeiführung des Rauschzustandes könnte er sich nicht mehr auf sein alkoholbedingtes subjektives Unvermögen berufen. 98 Eine Konsequenz, die die herrschende Vorverlagerungstheorie de lege lata eigentlich nicht ziehen müsste. 99 So Hruschka, JZ 1996, 71. 93

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VI. Fazit Rauschtaten spielen statistisch gesehen eine nicht unerhebliche Rolle. Eine angemessene Sanktionierung bereitet aus strafprozessualen und forensisch-toxikologischen sowie verfassungsrechtlichen und schulddogmatischen Gründen Schwierigkeiten. Wenn im Tatzeitpunkt die Schuldunfähigkeit nicht ausgeschlossen werden kann, knüpft das deutsche Recht an das schuldhafte Sich-Betrinken als tatbestandsmäßige Handlung an, um kriminalpolitisch unvertretbare Strafbarkeitslücken zu vermeiden. Der unmittelbare Rechtsgutsangriff taucht im Urteilstenor dann gar nicht mehr auf, der Individualschaden des Opfers kann auch bei der Strafzumessung nur auf Umwegen berücksichtigt werden. Wenn all dies – was Einzelfälle immer wieder zeigen – doch wenig Rückhalt im Rechtsdenken der Bevölkerung findet, ist es ein richtiges Anliegen, über gesetzliche Alternativen nachzudenken. Es ist ein Verdienst von Jan C. Joerden, dem ich hiermit meine allerbesten Glückwünsche zu seinem 70. Geburtstag darbringe, dass er dafür theoretische Grundlagen geliefert hat. Auch wenn man über einzelne Aspekte der Ausgestaltung streiten kann, ist das vom Jubilar favorisierte Ausnahmemodell de lege ferenda vorzugswürdig.

Zum Verhältnis von hypothetischer Einwilligung und mutmaßlicher Einwilligung Zugleich eine Besprechung von BGH 1 StR 134/11 („Gastroskopie-Fall“) Stefan Seiterle

I. Einleitung Der Jubilar hat sich schon zu Beginn seiner akademischen Laufbahn mit Fragen der Einwilligungsdogmatik und – häufig in Kombination – mit solchen des Medizinstrafrechts auseinandergesetzt. Er hat diese Themen auch später nicht nur nicht aus den Augen verloren, sondern die Auseinandersetzung mit ihnen vertieft und verbreitert, so dass es sich ohne Zweifel hierbei um Domänen des Jubilars handelt.1 Mit der hypothetischen Einwilligung trat vor nicht einmal zwei Jahrzehnten ein weiteres Institut dieses Themenkreises hinzu, dessen strafrechtswissenschaftliche Erörterung binnen kurzer Zeit ein kaum zu überblickendes Ausmaß angenommen hat,2 und welches weiterhin zu den intensiv diskutierten strafrechtlichen Problemen zählt.3 Auch die mutmaßliche Einwilligung wird nach wie vor erörtert, nicht zuletzt seit ihrer (partiellen) Regelung in § 1901a Abs. 2 BGB einerseits und § 630d Abs. 1 S. 4 BGB andererseits.4 Eine Frage, die bei der lebhaften Diskussion um Zulässigkeit, Vorausset-

1

Exemplarisch: Joerden, Einwilligung und ihre Wirksamkeit bei doppeltem Zweckbezug. Zugleich ein Beitrag zum Problem der Strafbarkeit heimlicher HIV-Tests, Rechtstheorie 1991, 165 ff.; ders., Bedingungen der Akzeptanz medizinischer Versuche am Menschen, in: Joerden (Hrsg.), Der Mensch und seine Behandlung in der Medizin: Bloß ein Mittel zum Zweck? 1999, 229 ff.; ders. (zusammen mit Długosz), Zur mutmaßlichen Einwilligung bei medizinischen Eingriffen. Zugleich eine Besprechung des Urteils des polnischen Obersten Gerichts in Strafsachen vom 27. November 2007, FS Szwarc, 2009, 467 ff.; ders., Zur Einwilligung, insbesondere im Medizinstrafrecht, in: Hilgendorf (Hrsg.), Rechtswidrigkeit in der Diskussion. Beiträge der dritten Tagung des Chinesisch-Deutschen Strafrechtslehrerverbandes in Würzburg, 2018, 161 ff.; ders., Patientenautonomie am Lebensende, MedR 2018, 764 ff. 2 Beulke, medstra 2015, 67 (71, Fn. 66). 3 Siehe stellvertretend Hardtung, in: Erb/Schäfer (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2021, § 223 Rn. 118 ff.; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 223, Rn. 40g ff., jeweils m. w. N. 4 Joerden (zusammen mit Długosz) (Fn. 1), 467 ff.; Mitsch, ZJS 2012, 38 ff., Valerius, JR 2021, 453 ff.

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zungen und potentielle Anwendungsbereiche der hypothetischen Einwilligung5 bislang indes jedenfalls nicht vorrangig behandelt wurde, ist deren Verhältnis zur mutmaßlichen Einwilligung. Da zwei Senate des Bundesgerichtshofs die hypothetische Einwilligung im Grundsatz als möglichen (wenigstens teilweisen) Strafbarkeitsausschlussgrund nach wie vor anerkennen,6 handelt es sich weiterhin um ein Thema von auch beträchtlicher praktischer Bedeutung: Akzeptiert man die hypothetische Einwilligung im Grundsatz als Instrument, das die Bestrafung eines ärztlichen Behandlers zumindest wegen Tatvollendung ausschließen kann, könnte sich hieraus eine Relativierung hergebrachter Grundsätze der mutmaßlichen Einwilligung ergeben, wenn nicht sogar die „Aushebelung“ ihrer „Subsidiarität“7 gegenüber der tatsächlichen Einwilligung.8 Wenn nämlich die hypothetische Einwilligung nicht nur in Fällen mangelhafter (oder auch ganz fehlender) Aufklärung durch den Behandler anwendbar sein sollte, sondern auch dann, wenn die Zustimmung des Rechtsgutsinhabers an einem anderen Wirksamkeitsmangel (wie etwa der Einwilligungsunfähigkeit des Rechtsgutsinhabers) leidet, wäre diese „Aushebelung“ der mutmaßlichen Einwilligung gerade in Fällen der so genannten Operationserweiterung eine mögliche und, wie gezeigt werden soll, bedenkliche Konsequenz. Die Entscheidung des 1. Senats des BGH in dem „Gastroskopie-Fall“9 deutet sogar in diese Richtung, so dass eine Beschäftigung mit der aufgeworfenen Fragestellung nicht nur aus theoretischer Perspektive angezeigt scheint.

5 Siehe hierzu die Übersicht bei Rönnau, in: Cirener et al. (Hrsg.), LK-StGB, 13. Aufl. 2019, Vor §§ 32 ff. Rn. 230 ff. m. w. N. sowie unten IV. Dass die Diskussion weiterhin hochaktuell ist, zeigen etwa die jüngsten Beiträge von Schlehofer und Beck, jeweils in FS Merkel, 2020, 745 ff. bzw. 761 ff. 6 Siehe für Nachweise etwa Sternberg-Lieben in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Band 6, 2022, Ärztliche Heilbehandlung und Fahrlässigkeitsstrafbarkeit, Rn. 121 Fn. 779. – Die Front der Befürworter der Anwendbarkeit der hypothetischen Einwilligung im Schrifttum scheint indes merklich zu bröckeln; siehe nur Rönnau, LK-StGB, Vor §§ 32 ff., Rn. 230 ff., 231e f. m. w. N.; Rönnau selbst hat die Abkehr von seiner ursprünglich vertretenen Zustimmung zwischenzeitlich ausdrücklich erklärt (a. a. O.). 7 Dieser Begriff wird ubiquitär für den Umstand verwendet, dass eine Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilligung ausgeschlossen ist, wenn von dem Rechtsgutsinhaber (rechtzeitig) eine wirksame Einwilligung erlangt werden könnte; siehe nur Sowada, NStZ 2012, 1 (5) m. w. N. Mit Mitsch, JZ 2005, 279 (282), lässt sich allerdings besser davon sprechen, dass die reale Möglichkeit des Behandlers, (rechtzeitig) eine wirksame Einwilligung von dem Rechtsgutsträger zu erlangen, eine „Sperrwirkung“ gegenüber der Anwendbarkeit der mutmaßlichen Einwilligung entfaltet. 8 So Swoboda, ZIS 2013, 18 (26). 9 BGH NStZ 2012, 206.

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II. Der „Gastroskopie-Fall“ Der dem „Gastroskopie-Fall“10 zugrundeliegende Sachverhalt, soweit er für die hier diskutierte Frage von Interesse ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen – wobei vorwegzuschicken ist, dass dessen Feststellung das Tatgericht (Landgericht Bayreuth) augenscheinlich vor große Probleme stellte, was einer der Gründe für die strafrechtsdogmatische Angreifbarkeit der jeweiligen Entscheidungen sein mag. Der Arzt A führte bei dem Patient P zunächst mit dessen wirksamer Einwilligung eine Darmspiegelung durch, weil sich Blut in dessen Stuhl gefunden hatte. Nachdem die Darmspiegelung keinen Hinweis auf eine Blutungsquelle ergeben hatte, wollte A gleich im Anschluss eine Gastroskopie (Magenspiegelung) vornehmen. Obwohl diese Untersuchung jedenfalls zu diesem Zeitpunkt nicht dringlich war, wollte A die noch anhaltende Narkotisierung des P nutzen, um eine erneute Narkotisierung zu vermeiden und dem P die Strapazen einer erneuten Anreise und Untersuchung zu ersparen. A glaubte, dass P mit diesem Verfahren einverstanden sein würde, wobei nach den Feststellungen des Landgerichts auch nicht ausgeschlossen werden konnte, dass A den P über die Magenspiegelung ordnungsgemäß aufgeklärt und dass P dieser auch zugestimmt hatte.11 Jedenfalls war P aber aufgrund des Einflusses der Narkotika nicht in der Lage, wirksam in die Magenspiegelung einzuwilligen, was A auch erkannt hatte.12 Davon, dass P seine Einwilligung auch wirksam erklärt hätte, wenn dies möglich gewesen wäre, ist nach den Urteilsgründen des Landgerichts auszugehen.13 Zwei Versuche, das Endoskop für die Magenspiegelung einzuführen, scheiterten. Nach einer längeren Pause und erneuter Gabe eines Narkotikums fuhr A mit seinen Bemühungen fort, wobei es schließlich zu einer Perforation der Speiseröhre kam. P wurde daraufhin in einem Krankenhaus an der Speiseröhre operiert und starb schließlich, nachdem er sich zunächst auf dem Wege der Besserung befunden hatte, es im Rahmen des stationären Aufenthalts im Klinikums allerdings zu Fehlern gekommen 10 Eine einheitliche Terminologie hat sich hier noch nicht herausgebildet; wie hier Haas, GA 2015, 147 (149); Hengstenberg, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, 2013, 398 und passim; andere verwenden etwa die Bezeichnung „Speiseröhrenfall“ (Swoboda, ZIS 2013, 20) oder „Koloskopie“-Fall (Sternberg-Lieben [Fn. 6], Rn. 121 Fn. 779). 11 Der genaue Ablauf ist, wie im Text angedeutet, unklar, insbesondere, inwieweit sich P in welchem Zustand vor der Magenspiegelung tatsächlich geäußert hat. Laut Anklageschrift sei P weder aufgeklärt worden, noch habe er in die Magenspiegelung eingewilligt, wohingegen das Landgericht weder Aufklärung noch Einwilligungserklärung ausschließen konnte (siehe jeweils BGH NStZ 2012, 205 [205]). Laut Angaben einer Zeugin sei P sogar ansprechbar und durch die Sedierung nur einer Amnesie erlegen gewesen, was dann nahelegen würde, dass er sich durchaus verständlich geäußert hat (siehe BGH NStZ 2012, 205 [206]). Für die folgenden Erwägungen wird davon ausgegangen, dass P sich zwar äußerte, dass seine kognitiven Fähigkeiten aufgrund der nachhaltigen Wirkung des Narkotikums jedoch soweit reduziert waren, dass er nicht mehr einwilligungsfähig und seine Einwilligung somit unwirksam war. 12 BGH NStZ 2012, 205 (206). 13 Nach Ansicht des BGH hat das Landgericht diese Annahme allerdings rechtsfehlerhaft getroffen, BGH NStZ 2012, 205 (205).

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war, infolge u. a. einer Lungenentzündung an Multiorganversagen. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist nicht auszuschließen, dass das Leben des P bei ordnungsgemäßer Behandlung im Krankenhaus hätte gerettet werden können. 1. Die Entscheidungen von Vorinstanz und BGH In Rede stand eine Strafbarkeit des A nach § 227 StGB.14 Deren Vorliegen hing davon ab, ob sich nachweisen ließ, dass sich die spezifische Gefährlichkeit der Körperverletzung – der Speiseröhrenperforation durch A – in der Todesfolge niedergeschlagen und A insoweit wenigstens fahrlässig gehandelt hatte. Eine Rechtfertigung durch eine wirksame Einwilligung des P war ausgeschlossen, weil dieser wegen der noch anhaltenden Sedierung einwilligungsunfähig war. Da P zumindest nach der Überzeugung des Landgerichts den Magenspiegelungen (wirksam) zugestimmt hätte, wenn dies zum entsprechenden Zeitpunkt, also vor den Magenspiegelungen, möglich gewesen wäre,15 hatte sich das Landgericht mit Fragen der Rechtfertigung zu beschäftigen. Letztlich sprach das Gericht A mit der Erwägung frei, es habe eine hypothetische Einwilligung des P vorgelegen, weil dieser „auch seine Einwilligung erklärt [hätte], wenn er vor der Maßnahme ordnungsgemäß über die Notwendigkeit, über Risiken und mögliche Komplikationen aufgeklärt worden wäre.“16 Eine – vorrangig zu prüfende – mutmaßliche Einwilligung des P war dem Landgericht keine Erwägung wert. Der Sache nach erkennt der 1. Senat des BGH dieses Versäumnis, indem er in seiner Entscheidungsbegründung zutreffend ausführt: „Die Feststellung, dass auch eine Magenspiegelung grundsätzlich indiziert war, sagt nichts darüber aus, dass diese Untersuchung eilig erfolgen musste und nicht eine vorherige Einwilligung des P. eingeholt werden konnte. Das zur Wahrung der Persönlichkeit des Patienten erforderliche Selbstbestimmungsrecht (…) steht einer voreiligen ärztlichen Maßnahme entgegen, zumal, wenn es sich – wie hier – nicht um eine dringende Heilbehandlung, sondern lediglich um eine Untersuchung aus Diagnosegründen handelt.“17

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Vgl. zu den körperverletzungsspezifischen Aspekten dieses Falles Jäger, JA 2012, 71; die hier adressierte Problematik stellt sich natürlich nur dann, wenn man die Magenspiegelung als tatbestandsmäßige körperliche Misshandlung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB betrachtet, denn nach anderer Ansicht schließt ein lege artis vorgenommener ärztlicher Heileingriff (zu dem auch ein – wie hier erfolgter – medizinisch indizierter Diagnoseeingriff zu zählen ist) bekanntlich bereits den Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB aus (siehe nur S/S-Sternberg-Lieben, StGB, § 223 Rn. 29 ff. m. w. N.). Siehe instruktiv zur Einwilligung im Medizinstrafrecht Joerden, in: Rechtswidrigkeit in der Diskussion (Fn. 1), 161 ff. 15 Es muss an dieser Stelle so allgemein formuliert werden, weil sich bereits daran, wie das Landgericht – und auch der BGH – formulieren, zeigt, dass es hier seitens der Gerichte zumindest Missverständnisse über die genaue Bestimmung der Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung einerseits und der hypothetischen Einwilligung andererseits gab. 16 BGH NStZ 2012, 205 (205). 17 BGH NStZ 2012, 205 (206).

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Der Senat lehnt mit dieser Argumentation hier ersichtlich dem Inhalt nach die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung ab, da A die Magenspiegelung und somit die Einholung einer wirksamen Einwilligung des P auf einen späteren Zeitpunkt hätte verschieben können.18 Im Anschluss nimmt der BGH den Faden des Landgerichts allerdings auf, und das macht den Fall dogmatisch interessant: In seiner „Segelanweisung“ befindet der BGH: „Für den Fall, dass der Angekl. irrig angenommen hat, P hätte bei vorheriger Befragung19 der Erweiterung zugestimmt, so liegt ein Erlaubnistatbestandsirrtum vor, der entsprechend § 16 StGB zu behandeln ist.“ Der Senat fährt fort: „Die Rechtswidrigkeit entfällt, wenn der Patient bei wahrheitsgemäßer Aufklärung in die tatsächlich durchgeführte Operation eingewilligt hätte (…). Dass bei ordnungsgemäßer Aufklärung die Einwilligung unterblieben wäre, ist dem Arzt nachzuweisen. Verbleiben Zweifel, so ist nach dem Grundsatz ,in dubio pro reo‘ zu Gunsten des Arztes davon auszugehen, dass die Einwilligung auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung erfolgt wäre.“

2. Analyse a) Sonderfall der Operationserweiterung Der „Gastroskopie-Fall“ erweist sich zunächst als eine Variante der Fallgruppe der „Operationserweiterungen“.20 Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sich während eines Eingriffs, zu dem der Patient sich im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit befindet, herausstellt, dass ein weiterer Eingriff medizinisch indiziert ist. Das Bemerkenswerte an der Entscheidung des BGH in dem „Gastroskopie-Fall“ ist, dass diese Fälle der Operationserweiterung bislang stets im Hinblick darauf diskutiert wurden, ob der Arzt bezüglich des zweiten Eingriffs über eine mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt sein kann21 – und eben nicht über eine hypothetische Einwilligung. Allerdings handelt es sich hier nicht um eine klassische Situation der Operationserweiterung. Denn in dieser ist der Patient normalerweise narkotisiert und er befindet sich somit gleichsam in einem Zustand absoluter Einwilligungsunfähigkeit. In dem „Gastroskopie-Fall“ war hingegen (zumindest nach der Feststellung des Landgerichts) zunächst nicht auszuschließen, dass P (ordnungsgemäß) aufgeklärt worden war. Außerdem, und hierin besteht der Unterschied, war nicht auszuschließen, 18

Siehe zu den Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung beispielhaft Mitsch, ZJS 2012, 38 (39 ff.) m. w. N. 19 Hier scheint der BGH nunmehr davon auszugehen, dass weder eine Aufklärung stattfand noch dass P eine (wenn auch unwirksame) Einwilligungserklärung abgegeben hatte. Da dies jedoch gerade nicht feststand, wie der BGH zuvor noch bemerkte (vgl. oben Fn. 11), scheint sich bereits hier anzudeuten, dass der BGH eine allgemeine Formel ohne Berücksichtigung der Besonderheiten des Falles auf diesen gestülpt hat. 20 Vgl. Jäger, JA 2012, 70 f. 21 Siehe nur S/S-Sternberg-Lieben, StGB, § 223 Rn. 44b m. w. N.

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dass P der Magenspiegelung sogar tatsächlich zugestimmt hatte und dass diese Zustimmung nur deshalb nicht wirksam war, weil P aufgrund der noch andauernden Sedierung nicht einwilligungsfähig war. Diese Fallkonstellation ließe sich als „(objektiv) untauglicher Aufklärungsversuch am untauglichen Subjekt“ bezeichnen. Im Unterschied zu einem vollnarkotisierten und somit voll einwilligungsunfähigen Patienten erschiene ein solcher Patient als „halb“ einwilligungsunfähig, weil er sich anders als ein Bewusstloser immerhin noch äußern kann. Da es sich bei der Einwilligungsfähigkeit, zumindest was ihre Eigenschaft als Wirksamkeitsvoraussetzung für die Einwilligung betrifft, um ein Schwellenkonzept handelt, es also zwischen Einwilligungsunfähigkeit und Einwilligungsfähigkeit keine Abstufungen geben kann, gilt jedoch auch der „halb“ Einwilligungsfähige (straf-)rechtlich als voll einwilligungsunfähig. b) Beurteilung Zunächst lag der BGH mit der (inhaltlichen) Prüfung der mutmaßlichen Einwilligung hier ebenso richtig wie mit der Ablehnung des Vorliegens ihrer Voraussetzungen.22 Denn die mutmaßliche Einwilligung hat als zentrale Voraussetzung, dass sie der aktualen Einwilligung gegenüber subsidiär ist, d. h., dass sie überhaupt nur dann in Betracht kommt, wenn die Erteilung einer wirksamen Einwilligung nicht abgewartet werden kann, also bis die Einwilligungsfähigkeit des Rechtsgutsinhabers wiederhergestellt ist.23 Hier, auch insoweit ist dem Senat zu folgen, schied eine mutmaßliche Einwilligung aus diesem Grund aus, da der zweite (Diagnose-)Eingriff in Form der Magenspiegelung zu diesem Zeitpunkt nicht dringlich war. Daher hätte es die Achtung des grundrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrechts des Patienten24 geboten, dass A abgewartet hätte, bis P wieder in einen einwilligungsfähigen Zustand zurückgekehrt wäre. Bis hierhin ließe sich folglich noch vermuten, dass das Landgericht sich schlicht keine Gedanken über eine mögliche Rechtfertigung durch eine mutmaßliche Einwilligung machte, welche der BGH mit seinen eigenen Erwägungen dann stillschweigend nachtrug. Die erwähnte „Segelanweisung“ hinsichtlich der vorzunehmenden Prüfung eines Erlaubnistatbestandsirrtums irritiert jedoch. Insbesondere hinsichtlich des Bezugs auf eine „wahrheitsgemäße“ bzw. „ordnungsgemäße“ Aufklärung entspricht sie nämlich genau der gängigen Formel, mit der die hypothetische Einwilligung umschrieben wird.25 Die Irritation speist sich daraus, dass, wie gesehen, in dem 22

So auch Jäger, JA 2012, 71. Mitsch, ZJS 2012, 41 m. w. N. 24 Siehe hierzu auch BGH NStZ 2011, 343 („Zitronensaft-Fall“). – Auch zu dieser Entscheidung hat Joerden publiziert: Joerden, Ärztliche Aufklärungsfehler und strafrechtliche Haftung bei ungewöhnlichen Behandlungsmethoden am Beispiel insbesondere des „Zitronensaft-Falles“ des BGH, in japanischer Sprache (übersetzt von Yuri Yamanaka), Kansai University, Hogaka Ronshu, Band 64 (2015), 250 ff. 25 Vgl. BGH NStZ 2004, 442, worauf der Senat hier ausdrücklich Bezug nimmt. 23

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zu beurteilenden Fall eine wahrheitswidrige oder eine nicht ordnungsgemäße Aufklärung gar nicht in Rede stand. Vielmehr hatte das Landgericht ja angenommen, dass A den P „nicht ausschließbar über die bevorstehende Magenspiegelung aufgeklärt“ hat; dass die Aufklärung fehlerhaft war, wurde dabei gerade nicht vermutet. Aber auch wenn man davon ausginge, dass hier überhaupt keine Aufklärung stattfand,26 bliebe unklar, was der BGH mit dem Bezug auf „wahrheits-“ oder „ordnungsgemäße Aufklärung“ aussagen wollte, denn auch diese Situation lag nicht vor. Die Gerichte haben in ihren Entscheidungsbegründungen somit jedenfalls implizit eine Frage aufgeworfen, die, soweit ersichtlich, im Zusammenhang mit Operationserweiterungen noch nicht ausdrücklich diskutiert wurde27 und die ggf. weit über diesen Bereich hinaus Auswirkungen auf das austarierte Zusammenspiel der verschiedenen Einwilligungsarten und -substitute haben könnte: Ob nämlich bei „Operationserweiterungen“ im Speziellen, wie in allen Fällen der Einwilligungsunfähigkeit des Patienten im Allgemeinen, neben der mutmaßlichen Einwilligung auch eine die Vollendungsstrafbarkeit ausschließende hypothetische Einwilligung in Betracht kommt28 – mit der Folge, dass gegebenenfalls die Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung „ausgehebelt“ bzw. umgangen werden könnten. Andernfalls müsste die hypothetische Einwilligung, ihre grundsätzliche Anwendbarkeit im Strafrecht unterstellt, auf die Fälle mangelhafter (oder ggf. fehlender) Aufklärung durch den Behandler beschränkt bleiben. c) Abhängigkeit der Aufklärungspflichten von der Einwilligungsfähigkeit? Eine Lesart, die die Bezugnahme auf eine fehlende ordnungsgemäße Aufklärung eventuell verständlich machen würde, wäre die, dass der BGH hier die fehlende Ordnungsgemäßheit der Aufklärung nicht daraus geschlossen hat, dass A die Pflichten im Hinblick auf den Inhalt der Aufklärung verletzt hat, sondern dass die Aufklärung deswegen fehlerhaft war, weil sie an einen Einwilligungsunfähigen gerichtet war. Mit dieser Folgerung läge der BGH jedoch falsch. Die geschuldete ärztliche Aufklärung ist unabhängig von der Frage der Einwilligungsfähigkeit zu beurteilen. Zwar geht es 26

Vgl. oben Fn. 11. Siehe jedoch Beck, ZJS 2013, 42 (47), die ohne weitere Erörterung feststellt: „Erfasst sind [von der hypothetischen Einwilligung] auch (nicht auf einem Notfall basierende) Operationserweiterungen, in denen der Arzt vermutet, dass der Patient zustimmen würde, um sich eine weitere Operation zu ersparen.“ 28 Diese Möglichkeit hat der BGH im Übrigen bereits 1991 ausgesprochen: „(…) ist eine ,hypothetische Einwilligung‘ auch in der Form denkbar, daß es nicht schon an der Aufklärung, sondern erst an der Einwilligung fehlt. Zwar entzieht eine klare Ablehnung des Patienten derartigen hypothetischen Erwägungen den Boden. Für sie kann aber etwa Raum sein, wenn der Patient, nachdem er aufgeklärt worden ist, in einen nicht mehr erklärungsfähigen Zustand gerät, aber auch, wie hier in Frage steht, wenn in Betracht kommende Erweiterungen der Operation zwar mit ihren Risiken erörtert worden sind, jedoch eine hinreichend klare Verständigung zwischen Arzt und Patient nicht zustande gekommen oder nicht nachweisbar ist.“, BGH NJW 1991, 2342 (2343). 27

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bei diesen beiden Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer Einwilligung letztlich um den Schutz des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Nur erfolgt der jeweilige Schutz auf gänzlich unterschiedliche Weise: Bei den Aufklärungspflichten geht es darum, dass der Arzt alle relevanten Informationen bereitstellen muss, damit der Patient eine Entscheidung treffen kann, die frei von Willensmängeln ist.29 Bei der Voraussetzung der Einwilligungsfähigkeit erfolgt der Schutz der Selbstbestimmung demgegenüber dadurch, dass von selbstbestimmter Entscheidung nur dann gesprochen werden kann, wenn der Patient insbesondere die Fähigkeiten hat, zu erkennen, worum es bei dem Eingriff geht, diese Erkenntnisse abzuwägen und sein Verhalten nach dem Ergebnis der Abwägung auszurichten.30 Dieser kategoriale Unterschied zwischen den Schutzwirkungen schließt auch eine Abhängigkeit der zu leistenden Aufklärungspflichten von dem konkreten Zustand des Patienten aus. Insoweit mitunter ein entsprechendes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Aufklärung und Einwilligungsfähigkeit dahingehend postuliert wird, dass in einer dringlichen Situation auch ein Patient mit beschränkter Aufnahmefähigkeit „nach einer gewissen Grundaufklärung sogar eine wirksame Einwilligung abgeben“ könne, 31 trifft diese Erwägung zwar zu. Der Grund hierfür liegt aber nicht darin – was diese Auffassung jedoch nahelegt –, dass der Patient ggf. (noch) „ein gewisses Maß an Aufnahmefähigkeit“ hat,32 sondern darin, dass in solchen Notfällen nach richtiger Auffassung bereits der Umfang der geforderten Aufklärung stark reduziert ist33 und (nur) als Konsequenz daraus eine reduzierte Aufnahmefähigkeit zur Bejahung der Einwilligungsfähigkeit ausreichen kann.34 Bei der mutmaßlichen Einwilligung kann es im Unterschied zu der hypothetischen Einwilligung demgegenüber allein schon deswegen nicht um die Ordnungsgemäßheit der Aufklärung gehen, weil der Rechtsgutsinhaber schließlich nicht einwilligungsfähig ist (er somit also weder aufgeklärt werden kann noch muss), was überhaupt erst den Legitimationsgrund für die zur Straflosigkeit führende Konstruktion der mutmaßlichen Einwilligung bildet. Es muss somit zumindest befürchtet werden, dass der BGH die Wiederholung der Standardformel der hypothetischen Einwilli-

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Vgl. Yamanaka, FS Maiwald, 2010, 864 (877). Siehe zur Einwilligungsfähigkeit und ihren Voraussetzungen instruktiv Amelung, ZStW 1992, 525 ff. 31 Knauer/Brose, in: Spickhoff (Hrsg.) Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 223 Rn. 88. 32 Ebd. 33 So Knauer/Brose (Fn. 31) a. a. O., dann im Folgenden selbst, jedoch nicht mehr mit direktem Bezug auf die frühere Aussage. 34 An dieser Stelle wird deutlich, dass die Einwilligungsfähigkeit kein starr-empirisches, sondern ein relatives bzw. relationales, insbesondere ein (teilweise) normatives Konzept ist, weil die Anforderungen an die Aufklärung in Abhängigkeit verschiedener Faktoren, wie der Bedeutung des Rechtsguts und der Dringlichkeit des Eingriffs, differieren (vgl. Stief, Die Einwilligungsfähigkeit im Strafrecht, 2012, 193). 30

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gung in diesem Fall recht unbedacht vorgenommen hat,35 denn um eine nicht „wahrheitsgemäße“ bzw. nicht „ordnungsgemäße Aufklärung“ ging es in dem Fall eben nicht; laut Landgericht war sogar nicht einmal auszuschließen, dass A den Patienten an sich ordnungsgemäß aufgeklärt hatte und der P diese korrekte Aufklärung nur nicht angemessen aufnehmen konnte. Vielmehr lag ein Fall fehlender Einwilligungsfähigkeit des Rechtsgutsinhabers vor.

III. „Sperrwirkung“ der mutmaßlichen Einwilligung Dies führt zu der zentralen Frage, ob trotz fehlender mutmaßlicher Einwilligung Raum für eine hypothetische Einwilligung ist – wie der BGH und mit ihm Teile des Schrifttums36 zu meinen scheinen –, oder ob eine hypothetische Einwilligung nicht dann von vornherein ausgeschlossen ist, wenn eine Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilligung (nur) an der fehlenden Dringlichkeit der tatbestandlichen Handlung scheitert.37 Anders gewendet: Kommt auf Grundlage der Annahme, dass die hypothetische Einwilligung an sich ein akzeptables Instrument der strafrechtlichen Haftungsbegrenzung ist, die Anwendung dieses Rechtsinstituts nur dann in Betracht, wenn eine Einwilligung des Patienten aufgrund mangelhafter (oder ggf. sogar fehlender38) Aufklärung unwirksam ist, oder ist für die hypothetische Einwilligung auch dann Raum, wenn wegen fehlender Einwilligungsfähigkeit keine oder jedenfalls keine wirksame Einwilligungserklärung erfolgte (wie etwa im Fall einer aufschiebbaren Operationserweiterung)? Die Klärung der Frage hängt von der Bestimmung des Verhältnisses von mutmaßlicher Einwilligung und hypothetischer Einwilligung ab, zumal ein unzureichendes Verständnis hiervon, wie gezeigt, den etwas irritierenden skizzierten Entscheidungen von Landgericht und BGH zugrunde gelegen zu haben scheint.

35 Verwechslungen bzw. Irritationen sind auf Seiten der Rechtsprechung in Bezug auf die beiden Rechtsinstitute auch in weiteren Fällen anzutreffen, vgl. LG Ravensburg, Urt. v. 18. 3. 2003 (Az. 1 Kls 11 Js 21460/00) (Vorinstanz zu dem „Bandscheibenfall“, BGH NStZ-RR, 16 [17]); siehe auch BGHSt 16, 309 ff., wo der BGH eine inhaltlich eher als hypothetische Einwilligung zu interpretierende Situation (vgl. Hengstenberg [Fn. 10], 193) als mutmaßliche Einwilligung fehlgedeutet hat. 36 Vgl. Kuhlen, JR 2004, 227 (229 f.); vgl. ebenso Jansen, ZJS 2011, 482 (492): „Dann bestünde die Gefahr, dass die mutmaßliche Einwilligung mit den strengeren Anforderungen verdrängt wird“; zumindest implizit auch Knauer/Brose (Fn. 31) a. a. O. 37 Verkürzend insoweit Beck, ZJS 2013, 47 (siehe bereits Fn. 27). 38 Siehe zu der innerhalb der Diskussion über die Anwendbarkeit und Wirksamkeitsvoraussetzungen der hypothetischen Einwilligung thematisierten Frage, ob überhaupt eine Aufklärung (im Sinne des gescheiterten Versuchs einer hinreichenden Aufklärung) erforderlich ist, etwa Garbe, Wille und Hypothese – Zur Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung im Zivil- und Strafrecht, 2011, 274 f.

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1. Unterschiede zwischen mutmaßlicher Einwilligung und hypothetischer Einwilligung Zunächst scheint beide Institute eine große Ähnlichkeit zu verbinden, da es jeweils um die Beurteilung der Frage geht, wie eine getroffene bzw. nicht getroffene Entscheidung unter anderen – hypothetischen – Umständen ausgefallen wäre bzw. wie sie überhaupt gefallen wäre.39 Diese Ähnlichkeit besteht jedoch nur auf den ersten Blick. Tatsächlich gibt es gewichtige Unterschiede zwischen den beiden Instituten.40 Der erste Unterschied betrifft die Perspektive: Die mutmaßliche Einwilligung wird auf der Grundlage einer ex-ante-Perspektive beurteilt. Voraussetzung für eine Rechtfertigung nach den Maßgaben der mutmaßlichen Einwilligung ist, dass der Rechtsgutsinhaber zum Zeitpunkt der Handlung mit dem Eingriff einverstanden gewesen wäre. Bei der hypothetischen Einwilligung ist es demgegenüber ein gewichtiges Indiz für das Vorliegen eines hypothetischen Willens, wenn der Rechtsgutsträger im Nachgang, nachdem ihm die Tatsachen vollständig bekannt geworden sind, äußert, er hätte dem Eingriff auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung zugestimmt. Dies ist gemeint, wenn davon die Rede ist, dass es bei der hypothetischen Einwilligung auf eine ex-post-Betrachtung ankommt.41 Bei der mutmaßlichen Einwilligung ist es demgegenüber unerheblich, wie sich der Rechtsgutsinhaber anschließend verhält. Insbesondere spielt es für die rechtliche Beurteilung der mutmaßlichen Einwilligung keine Rolle, ob der Patient den Eingriff später ablehnt bzw. äußert, er hätte ihn abgelehnt, wenn er einwilligungsfähig gewesen wäre;42 es kommt diesbezüglich allein auf den Zeitpunkt der Tathandlung an. Ein weiterer Unterschied besteht in der Rechtsfolge. Im Fall der hypothetischen Einwilligung bleibt, zumindest unter der Voraussetzung, dass man die hypothetische Einwilligung als Zurechnungsausschluss ansieht, bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen eine Strafbarkeit nach den Versuchsregeln möglich.43 Steht dem Täter demgegenüber der Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung zur Seite, ist er straflos, eine Versuchsstrafbarkeit kommt – in den hier interessierenden Fällen – nicht in Betracht. Der entscheidende Unterschied besteht indes in der Zielrichtung der Institute.44 Die hypothetische Einwilligung wurde (im Zivilrecht) entwickelt, um die durch 39

Vgl. Schwartz, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, 2009, 131. Affirmativ Rengier, Strafrecht AT, 13. Aufl. 2021, § 23 Rn. 62: „[Die] hypothetische Einwilligung darf auf keinen Fall mit der mutmaßlichen Einwilligung verwechselt werden“. 41 Vgl. dazu eingehend Hengstenberg (Fn. 10), 199 ff. 42 Vgl. bereits Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 34 VII.3; Sowada, NStZ 2012, 5. 43 Kuhlen, JR 2004, 229 f.; Mitsch, JZ 2005, 284 (wenngleich mit anderer dogmatischer Begründung); a. A. Böcker, JZ 2005, 925, 929. 44 Vgl. Hengstenberg (Fn. 10), 194 ff. 40

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die gewachsenen Anforderungen an die Aufklärung des Patienten durch den Behandler entstandenen Pflichten zu reduzieren.45 Ziel der hypothetischen Einwilligung ist somit eine Haftungsbegrenzung auf Täterseite, weshalb sich sagen lässt, dass sie – im Hinblick auf den Patienten – tendenziell „selbstbestimmungsfeindlich“46 ist. Ganz anders verhält es sich im Fall der mutmaßlichen Einwilligung: Diese ist zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts des Opfers bestimmt, indem sie dem in das Rechtsgut Eingreifenden aufgibt, so sorgfältig wie es in der Situation angemessen ist, zu prüfen, wie der Rechtsgutsinhaber in der Situation selbstbestimmt entscheiden würde, wenn er dazu in der Lage wäre. Während die mutmaßliche Einwilligung also insbesondere der Sicherung des Selbstbestimmungsrechts dient, ist ein entsprechender Schutz durch die hypothetische Einwilligung – davon abgesehen, dass dieser auch gar nicht beabsichtigt ist, weil es eben allein um Belange des Eingreifenden geht – gar nicht möglich, weil das Selbstbestimmungsrecht durch die mangelhafte (oder sogar fehlende) Aufklärung schließlich bereits verletzt wurde und diese Verletzung auch durch hypothetische Erwägungen nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist.47 2. Folgen aus der Unterscheidung Aus der strukturell unterschiedlichen Zielrichtung der beiden Rechtsinstitute wird auch deutlich, was die Frage der Abgrenzung von mutmaßlicher Einwilligung und hypothetischer Einwilligung so erheblich macht: Der Anwendungsbereich der mutmaßlichen Einwilligung ist – zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts des Rechtsgutsträgers – durch Kriterien streng limitiert: Zum einen ist ihre Anwendung insbesondere dann ausgeschlossen, wenn der Rechtsgutsinhaber eine Einwilligung ausdrücklich verweigert (hat),48 zum anderen hängt ihre Anwendbarkeit davon ab, dass eine wirksame tatsächliche Einwilligung nicht mehr rechtzeitig erlangt werden kann (Subsidiarität).49 Beide Einschränkungen kennt die hypothetische Einwilligung nicht,50 und sie sind hier vor dem Hintergrund ihrer ursprünglichen Schutzrichtung – Begrenzung der Haftung des Behandlers bei Aufklärungsmängeln – auch gar nicht erforderlich. Damit also das durch die strengen Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung geschützte Selbstbestimmungsrecht nicht durch den zunächst einmal großflächigen Anwendungsbereich der hypothetischen Einwilligung bedroht wird, ist es unumgänglich, der mutmaßlichen Einwilligung insoweit eine „Sperrwirkung“ gegenüber der hypothetischen Einwilligung zuzuschreiben.51 Würde man die hypo45 Siehe nur Knauer/Brose (Fn. 31), § 223 Rn. 88; S/S-Sternberg-Lieben, StGB, § 223 Rn. 40g, jeweils m. w. N. 46 Sowada, NStZ 2012, 7. 47 Ebd. 48 S/S-Sternberg-Lieben, StGB, § 223 Rn. 38e. 49 Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 9 Rn. 46 m. w. N. 50 Vgl. Saliger, FS Beulke, 2015, 265. 51 Prinzipiell im Sinn der hier vertretenen Auffassung wird im Rahmen des Streits um die dogmatische Einordnung der hypothetischen Einwilligung bisweilen vorgetragen, es könne

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thetische Einwilligung demgegenüber auch für die Fälle öffnen, für die bislang ausschließlich die Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung galten, müsste man insbesondere in Fällen, in denen der Rechtsgutsträger nicht mehr befragt werden kann, weil er z. B. verstorben ist, in aller Regel52 wenigstens in dubio pro reo annehmen, dass er mit dem Eingriff einverstanden gewesen wäre, wenn zum Zeitpunkt der Einwilligung alle ihre Wirksamkeitsvoraussetzungen wie etwa die Einwilligungsfähigkeit vorgelegen hätten. Damit wäre über das Institut der hypothetischen Einwilligung der Ausschluss zumindest der Vollendungsstrafbarkeit des Arztes fast immer möglich, ganz unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung (Nichteinholbarkeit der Einwilligung und mutmaßlicher Wille des Patienten zum Eingriffszeitpunkt).53 Und zumindest dann, wenn der Behandler annehmen darf, dass der Patient wenigstens im Nachhinein zustimmen würde, müsste sich der Behandler überhaupt nicht mehr bemühen, eine (wirksame) Einwilligung von dem Patienten zu erhalten, weil in diesem Fall – über die Regeln des Erlaubnistatbestandsirrtums – auch der Anknüpfungspunkt für eine etwaige Versuchsstrafbarkeit entfällt.54 Der daraus resultierenden Gefahr für die Patientenautonomie kann nur dadurch begegnet werden, dass jedenfalls in den Fällen der Einwilligungsunfähigkeit des Patienten der Rückgriff auf eine hypothetische Einwilligung ausgeschlossen bleibt.55

sich unter anderem deshalb nicht um einen Rechtfertigungsgrund handeln, weil andernfalls der Unterschied zu Einwilligung und mutmaßlicher Einwilligung entfiele und die hypothetische Einwilligung „nicht mehr nachrangig zu prüfen wäre“, wodurch die Gefahr entstehe, dass die Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung unterlaufen würden; siehe Jansen, ZJS 2011, 486; wohl ebenso Kuhlen, FS Roxin, 2001, 331 (334). Allerdings ist nicht ersichtlich, wieso sich diese Gefahr nun aus der Einordnung der hypothetischen Einwilligung als Rechtfertigungsgrund ergeben sollte. Wie sich am Verhältnis von (wirksamer) Einwilligung und mutmaßlicher Einwilligung zeigt, ist „Nachrangigkeit“ auch innerhalb einer Verbrechenskategorie problemlos möglich. Vielmehr hängen Fragen der „Sperrwirkung“ und der „Subsidiarität“ allein von der materiellen Ausgestaltung eines Rechtsinstituts ab, nicht von seiner Stellung in einem ohnehin nicht gesetzlich vorgegebenen Prüfungsaufbau. 52 Zumindest wenn der Eingriff als solcher kunstgerecht und erfolgreich durchgeführt wurde. 53 Vgl. Saliger, FS Beulke, 265. 54 Es ist allerdings umstritten, ob die hypothetische Einwilligung überhaupt die Möglichkeit einer Versuchsstrafbarkeit eröffnet; siehe dazu etwa Kuhlen, JR 2004, 230 (pro); Böcker, JZ 2005, 925 (929) (contra). 55 Hengstenberg (Fn. 10), 400 ff.; soweit Albrecht, Die „hypothetische Einwilligung“ im Strafrecht, 2010, 346 ff., die Aushöhlung der mutmaßlichen Einwilligung und damit der Patientenautonomie als prinzipielles Gegenargument gegen die hypothetische Einwilligung ins Feld führt, kann dem allerdings nicht zugestimmt werden. Denn die hypothetische Einwilligung hat keinen „eindeutigen Wortlaut“ und gilt nicht „prinzipiell“ uneingeschränkt (nach Einführung des § 630d Abs. 1 S. 4 BGB ohnehin nicht). Die hypothetische Einwilligung ist vielmehr durch Richterrecht entwickelt worden und muss – ihre prinzipielle Akzeptanz einmal vorausgesetzt – dort eingeschränkt werden, wo es etwa die Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht gebietet.

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Dieses Ergebnis steht übrigens im Einklang mit den Überlegungen Kuhlens, der die hypothetische Einwilligung im Strafrecht als erster einer eingehenden Untersuchung unterzog, wonach in dem vorliegenden Fall keine hypothetische Einwilligung in Betracht kommt: In seinem dogmatischen Konzept der hypothetischen Einwilligung als „Zurechnungsausschluss auf Rechtfertigungsebene“ können naturgemäß nur Einwilligungsmängel Relevanz entfalten, die Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung haben, wie es beispielsweise bei Verletzungen der Aufklärungspflicht und den aus ihr folgenden Willensmängeln beim Rechtsgutsträger der Fall ist: Nach Kuhlen beruht der Tatbestandserfolg hier nicht auf der unwirksamen Einwilligung, weil angenommen werden kann, dass er auch bei wirksamer, weil ordnungsgemäß aufgeklärter, Einwilligung eingetreten wäre. Infolge des fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhangs scheide die Zurechnung aus. Die fehlende Einwilligungsfähigkeit kann demgegenüber folgerichtig ausdrücklich nicht relevant für die Erfolgszurechnung sein. Konsequenterweise stellt sich die Frage, ob der „Einsichtsunfähige selbst seiner Rechtsgutsbeeinträchtigung zustimmen würde, wenn er einsichtsfähig wäre“, für Kuhlen auch „ausschließlich“ als „Problem der mutmaßlichen Einwilligung“ dar.56 3. „Natürliche Willensäußerung“ bei Einwilligungsunfähigkeit Es ist noch zurückzukommen auf die zusätzliche Besonderheit, dass sich der Patient hier trotz Einwilligungsunfähigkeit gleichwohl geäußert hat. Diese Äußerung im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit lässt sich als „natürliche Willensäußerung“ bezeichnen.57 Hieraus ergibt sich zwar kein anderes Ergebnis, da dieser Umstand nichts an der Einwilligungsunfähigkeit des Patienten ändert und für eine Rechtferti56

Kuhlen, FS Müller-Dietz, 2001, 431 (440 f.) – Wenn Kuhlen in einer späteren Veröffentlichung das Erfordernis der verbleibenden Versuchsstrafbarkeit bei der hypothetischen Einwilligung damit begründet, dass ansonsten die „Subsidiarität der mutmaßlichen Einwilligung fast völlig entwertet“ werden könnte (Kuhlen, JR 2004, 230), erscheint dies allerdings widersprüchlich; konsequenterweise müsste Kuhlen hier von einer Sperrwirkung der mutmaßlichen Einwilligung ausgehen, weil er die Einwilligungsfähigkeit ausdrücklich nicht als im Rahmen der hypothetischen Einwilligung einsetzbaren Zurechnungsfaktor ansieht. Eine „[w]eitgehende Gleichstellung“ (Kuhlen, a. a. O., 229) von mutmaßlicher und hypothetischer Einwilligung, der mit der verbleibenden Versuchsstrafbarkeit für die hypothetische Einwilligung zu begegnen wäre, sollte somit bereits nach Kuhlens eigenen Erwägungen eigentlich gar nicht möglich sein. 57 Diese Möglichkeit der Äußerung trotz Einwilligungsunfähigkeit wird oftmals übersehen. Dies hat unter anderem zur Folge, dass als Voraussetzung für die mutmaßliche Einwilligung formuliert wird, der Betroffene dürfe nicht gefragt werden können, siehe etwa Hengstenberg (Fn. 10), 196. Wie sich in dem „Gastroskopie-Fall“ zeigt, kommt eine Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilligung aber eben auch dann in Betracht, wenn sich der Rechtsgutsinhaber tatsächlich äußert, aber nicht einwilligungsfähig ist; vgl. insoweit Tachezy, Mutmaßliche Einwilligung und Notkompetenz in der präklinischen Notfallmedizin, 2009, 36; angedeutet auch bei Frisch, in: ders. (Hrsg.), Gegenwartsfragen des Medizinstrafrechts 2006, 56 und 57. – Siehe allgemein zur Berücksichtigung eines „natürlichen Willens“ im (Medizin-)Strafrecht: Joerden, MedR 2018 (Fn. 1), 766 ff. m. w. N.

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gung – da die hypothetische Einwilligung als Vollendungsstrafbarkeitsausschließungsgrund ausscheidet (siehe oben) – somit nach wie vor die Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung hätten vorliegen müssen: Wegen der fehlenden Dringlichkeit der Magenspiegelung und der daraus resultierenden Möglichkeit für den Arzt, die Wiedererlangung der Einwilligungsfähigkeit des Patienten abzuwarten, lagen deren Voraussetzungen nicht vor und der Arzt war somit nicht im Wege einer mutmaßlichen Einwilligung gerechtfertigt. Jedoch bietet der Fall Anlass zu Bemerkungen über die Konstellation der „natürlichen Willensäußerung“ bei feststehender Einwilligungsunfähigkeit. Denn darin, dass sich der Patient hier trotz Einwilligungsunfähigkeit nach den Feststellungen des Landgerichts (möglicherweise) äußerte, scheint der wahre Grund für die eigentümliche Verwirrung zu bestehen, die der „Gastroskopie-Fall“ insbesondere bei den entscheidenden Gerichten hervorgerufen hat. Es schien unausgesprochen die Annahme vorzuherrschen, dass eine mutmaßliche Einwilligung nur dann in Betracht kommt, wenn der Patient sich überhaupt nicht äußert, weil er nämlich gar nicht äußerungsfähig ist. Diese Annahme trifft indes nicht zu. Zur Veranschaulichung muss der „Gastroskopie-Fall“ nur so variiert werden, dass die Magenspiegelung wegen drohender Lebensgefahr des P dringlich und ein Abwarten deshalb nicht möglich war. Dann wäre A nach den Regeln der mutmaßlichen Einwilligung gerechtfertigt gewesen, wenn die Magenspiegelung dem mutmaßlichen Willen des P entsprach. Nimmt man nun hinzu, dass P sich trotz der seine Einwilligungsfähigkeit ausschließenden Narkotisierung gleichwohl (verbal) geäußert hat, kann er dies auf drei unterschiedliche Weise getan haben: Erstens kann P mit seiner Äußerung der Magenspiegelung zugestimmt haben (etwa durch ein gemurmeltes: „Machen Sie nur …“); dann kann diese Äußerung als (weiteres) Indiz für den subjektiven Willen des – gedacht – einwilligungsfähigen P gelten. Zweitens kann diese Äußerung ablehnend gewesen sein („Ich will nach Hause …“ oder „Nehmen Sie Ihre Finger da weg …“); dann kann diese Äußerung als Indiz gegen eine mutmaßliche Zustimmung angesehen werden, wobei dies wohlgemerkt nicht notwendig hieße, dass der Eingriff dann hätte unterbleiben müssen, denn es ist bei einer dringenden und relativ risikolosen Magenspiegelung gut vorstellbar, dass die Gesamtbetrachtung aus „frühere[n] mündliche[n] oder schriftliche[n] Äußerungen, ethischen oder religiösen Überzeugungen und sonstige[n] persönliche[n] Wertvorstellungen“ (siehe § 1901a Abs. 2 S. 3 BGB) den plausiblen Schluss zugelassen hätte, dass P in einem Zustand der Einwilligungsfähigkeit trotz seiner gegenteiligen „natürlichen“ Willensäußerung der Untersuchung zugestimmt hätte und somit die stärkeren Indizien für einen entsprechenden mutmaßlichen Willen gesprochen hätten. Drittens kann die Äußerung des P auch uneindeutig oder unverständlich gewesen sein, so dass es auf sie für die Beurteilung des mutmaßlichen Willens gar nicht angekommen wäre. Eine Rechtfertigung aufgrund mutmaßlicher Einwilligung des Rechtsgutsinhabers kommt weiterhin auch dann in Betracht, wenn der einwilligungsunfähige Rechtsgutsträger (s)einen „natürlichen Willen“ in Bezug auf den Eingriff bzw. die Untersuchung geäußert hat. Ob und wie dieser ggf. bei der Bestimmung des mutmaß-

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lichen Willens berücksichtigt werden muss, ist anschließend eine Frage des Einzelfalls.

IV. Fazit Der Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung kann dann zum Tragen kommen, wenn der Rechtsgutsinhaber sich in einem Zustand der Einwilligungsunfähigkeit befindet (und eine rechtzeitige Erlangung einer – rechtswirksamen – Einwilligung nicht möglich ist und er auch keinen gesetzlichen Vertreter hat). Im Rahmen der mutmaßlichen Einwilligung wird dann danach gefragt, wie der Rechtsgutsinhaber sich entscheiden würde, wenn er im Moment der Tathandlung entscheidungsfähig wäre, wobei es allein darauf ankommt, wie dieser konkrete Betroffene wohl entscheiden würde, indem seine Wünsche, früheren Äußerungen, seine persönlichen Wertvorstellungen etc. in Erfahrung gebracht werden (vgl. nunmehr § 1901a Abs. 2 S. 3 BGB). Es wird also versucht, dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen in Bezug auf seine Körperintegrität möglichst nahe zu kommen und ihm dadurch so gerecht wie möglich zu werden. Im Unterschied hierzu kann der Rechtsgutsinhaber bei der hypothetischen Einwilligung im Zeitpunkt der Tathandlung zumindest im Prinzip eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen, da er von seiner Konstitution her in der Lage wäre, Wesen, Tragweite und Bedeutung des Eingriffs zu erfassen und sein Handeln danach ausrichten. Die Einwilligung ist bei der hypothetischen Einwilligung somit nicht wegen der fehlenden Einwilligungsfähigkeit unwirksam, sondern wegen der mangelhaften (bzw. fehlenden) Aufklärung durch den Arzt. Diese hat zur Folge, dass der Betroffene – trotz grundsätzlich vorhandener Fähigkeit, eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen – (nur) aufgrund seines Informationsdefizits Wesen, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs nicht (voll) erfassen bzw. sein Verhalten danach ausrichten kann. Auf eine Kurzformel gebracht: Bei der Frage nach einer etwaigen Rechtfertigung eines Eingriffs durch das Institut der mutmaßlichen Einwilligung wird gefragt, ob der Betroffene eingewilligt hätte, wenn er zum Tatzeitpunkt die individuellen Fähigkeiten gehabt hätte, eine wirksame Einwilligungserklärung abzugeben. Bei der hypothetischen Einwilligung hat der Patient demgegenüber im Zustand der Einwilligungsfähigkeit eine Einwilligungserklärung abgegeben, die allein aufgrund der mangelhaften Aufklärung unwirksam war;58 für die Frage der Strafbarkeit wird dann im Nach58 Die hypothetische Einwilligung müsste im Übrigen besser als „hypothetische Aufklärung“ bezeichnet werden, denn eine Zustimmung des Rechtsgutsinhabers liegt in der klassischen Konstellation der hypothetischen Einwilligung immerhin vor, diese wird nur nicht als rechtswirksame Einwilligung anerkannt. Es werden in diesem Fall keine Hypothesen über eine Einwilligung angestellt, sondern allein darüber, ob die Einwilligung auch dann (so) erfolgt wäre, wenn die Aufklärung korrekt gewesen wäre. – Dies gilt jedoch nur für den Fall, dass tatsächlich eine Einwilligungsäußerung vorliegt. Wenn man in den Anwendungsbereich der hypothetischen Einwilligung auch diejenigen Fälle mit einbeziehen wollte, in denen überhaupt keine Erklärung abgegeben wurde, dann – und nur dann – erscheint der Begriff „hy-

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hinein gefragt, ob der Patient auch dann eingewilligt hätte, wenn man ihn, was auch möglich war, vor dem Eingriff ordnungsgemäß aufgeklärt hätte. Bei der hypothetischen Einwilligung liegt also eine Situation vor, in der – im Gegensatz zur mutmaßlichen Einwilligung – das Selbstbestimmungsrecht des Rechtsgutsträgers bereits tatsächlich verletzt wurde, und es (nur) darum geht, ob zugunsten des Arztes hier eine Art (Teil-)Heilung dieser Verletzung in Frage kommt.59 Auf diese Fallgruppe (Unwirksamkeit der Einwilligung wegen mangelhafter Aufklärung) muss die Anwendung der hypothetischen Einwilligung jedenfalls beschränkt bleiben.60 Soweit der BGH und andere in dem „Gastroskopie-Fall“ – wenn auch womöglich unbeabsichtigt und eventuell terminologischer Unschärfe geschuldet – auch im Fall der Einwilligungsunfähigkeit die Anwendbarkeit der hypothetischen Einwilligung in Betracht zu ziehen scheint, ist diesem Ansinnen eine deutliche Absage zu erteilen. Das Verhältnis von hypothetischer Einwilligung und mutmaßlicher Einwilligung kann schließlich aber nicht gleichsam im luftleeren Raum betrachtet werden, denn im Zentrum der Diskussion steht noch immer die Frage, ob die hypothetische Einwilligung im Strafrecht überhaupt einen Platz haben sollte. Es wird kaum noch in Abrede gestellt, dass die Ursache für die Entwicklung der hypothetischen Einwilligung im Zivilrecht und für ihre Übernahme in das Strafrecht in den überspannten Anforderungen an die ärztliche Aufklärungspflicht liegt. Solange diese Aussage allerdings pauschal bleibt, bringt sie wenig Erkenntnisgewinn. Erhellend wird sie erst durch einen Blick auf den Aspekt der Strafwürdigkeit ärztlichen Verhaltens im Fall von Aufklärungsmängeln. Ganz unabhängig von dogmatischen Fragen wie dem Verhältnis des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit zu dem (ggf. darauf bezogenen) Selbstbestimmungsrecht des Patienten in §§ 223 ff. StGB muss an zentraler Stelle der Analyse stehen, ob das Herbeiführen bloßer Aufklärungsmängel überhaupt als strafbares Unrecht angesehen werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Frage lässt sich wohl immerhin vertreten, dass dies für fahrlässige Aufklärungsmängel, die sich auf Eingriff, Diagnose, Erfolgsaussichten, Behandlungsmethode (Verlaufsaufklärung) und -alternativen beziehen, zutreffen mag, denn sie betreffen den Eingriff selbst und sind somit direkt bezogen auf das unstrittig in §§ 223 ff. StGB geschützte Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit sowie elementar auf das Selbstbestimmungsrecht und die Entscheidungsfreiheit des Rechtsgutsträgers.61 Auch hier mag zwar bereits pothetische Einwilligung“ stets passend, weil dann tatsächlich darüber spekuliert werden muss, ob bei hinreichender Aufklärung eine (wirksame) Einwilligungsäußerung in den Eingriff getätigt worden wäre. 59 Insoweit ist der Hinweis auf eine gewisse Nähe der hypothetischen Einwilligung zu der (dem Strafrecht an sich fremden) Genehmigung durchaus treffend; siehe etwa Sowada, NStZ 2012, 5 f. 60 Ebenso Hengstenberg (Fn. 10) 397 ff., speziell zum „Gastroskopie-Fall“: 398 ff.; Rönnau, JZ 2004, 801 (803). 61 Vgl. Gaede, Limitiert akzessorisches Medizinstrafrecht statt hypothetischer Einwilligung, 2014, 73.

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die zivilrechtliche Haftung des Behandlers für einen hinreichenden Gerechtigkeitsausgleich sorgen. Dies gilt aber jedenfalls dann nicht mehr, wenn es um die Aufklärung über jede Art von aus dem Eingriff folgenden, auch unwahrscheinlicheren oder entfernteren, Risiken geht. Hier zeigt sich besonders gut, dass die Übernahme der zivilrechtlichen Anforderungen an die hypothetische Einwilligung für das Strafrecht hochproblematisch war und ist.62 Die ärztliche Haftung für eine fahrlässig versäumte Aufklärung über entfernte Eingriffsrisiken mag im Zivilrecht zu rechtfertigen sein, insbesondere vor dem Hintergrund der dortigen austarierten Beweislastregelungen (siehe nunmehr § 630d Abs. 1 S. 4 BGB). Das Strafrecht konnte diese Regeln aufgrund des Grundsatzes „in dubio pro reo“ jedoch nicht mitübernehmen und muss seither mit der ungesunden Mixtur aus hohen Aufklärungsanforderungen einerseits und ausgeschlossener gerechter Beweislastverteilung andererseits umgehen. Spätestens in Fällen mangelhafter Aufklärung über Risiken, die über die spezifischen mit dem konkreten Eingriff verbundenen wahrscheinlichen oder besonders gravierenden Risiken hinausgehen,63 reicht zu ihrer rechtlichen Bewältigung das zivilrechtliche Haftungsregime völlig aus. Das Ausmaß des hier begangenen Unrechts ist zu gering, um den Einsatz des eingriffsintensiven Strafrechts rechtfertigen zu können. Die „Ursünde“ des BGH in Strafsachen bestand darin, dass er die zivilrechtlichen Aufklärungspflichten mehr oder weniger unverändert für das Strafrecht übernommen hat. Die entsprechenden Strafsenate hätten die Aufklärungspflichten von vornherein auf jene beschränken sollen, deren Verletzung strafwürdig erscheint. Das Strafrecht müsste danach allenfalls reserviert bleiben für Fälle gänzlich fehlender Aufklärung, für Fälle bewusster Täuschung oder für gravierende Fälle fahrlässiger Eingriffsaufklärungsmängel. Insgesamt erscheint die Reduzierung der – strafrechtlich relevanten – Aufklärungspflichten jedenfalls der überzeugendere Weg zu dem legitimen Ziel der strafrechtlichen Haftungsbegrenzung.64 Solange indes zumindest einige Senate des BGH dabei bleiben, das Institut der hypothetischen Einwilligung als ein die strafrechtliche Verantwortlichkeit potentiell ausschließendes oder wenigstens reduzierendes Instrument anzusehen, wird man sich auch weiter mit der konkreten Ausgestaltung und Anwendungs- wie Abgrenzungsfragen auseinanderzusetzen zu haben.

62 Es ist dabei indes zu beachten, dass die strafrechtliche Rechtsprechung zumindest in der Tendenz bei der Formulierung der Aufklärungspflichten etwas zurückhaltender war und ist als die zivilrechtliche; Frisch (Fn. 57), 33, 41 m. w. N. in Fn. 24. 63 Vgl. nur Frisch (Fn. 57), 44, insb. 47. 64 Ebenso etwa Rönnau, LK-StGB, Vor §§ 32 ff., Rn. 231g m. w. N.; Valerius, HRRS 2014, 22 f.; S/S-Sternberg-Lieben, StGB, § 223 Rn. 40h; Edlbauer, Die hypothetische Einwilligung als arztstrafrechtliches Haftungskorrektiv, 2009, 472 ff.; Eisele, FS Strätz 2009, 181; Sowada, NStZ 2012, 10; detailliert differenzierend Sternberg-Lieben (Fn. 6), Rn. 128 ff.; a. A. Beulke, medstra 2015, 71 f.

„Means Principle“, verweigerte Einwilligung und die Angemessenheitsklausel des rechtfertigenden Notstands (§ 34 Abs. 2 StGB) Lucila Tuñón

I. Einführung Recht und Medizin lassen sich in verschiedener Hinsicht zueinander in Beziehung setzen.1 Zum einen machen bahnbrechende medizinische Fortschritte eine Weiterentwicklung der rechtlichen Vorschriften erforderlich. Das Recht ist nämlich eines der wichtigsten Instrumente, um der Durchführung medizinischer Aktivitäten Grenzen zu setzen.2 Zum anderen stellt die Einordnung der herkömmlichen ärztlichen Tätigkeit in die Dogmatik der Verbrechenslehre ein zentrales strafrechtliches Problem dar, deren Kern die mögliche Strafbarkeit des Arztes wegen Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB oder gar wegen Totschlag nach § 212 StGB trotz des Heilungsziels ist. Im Rahmen des Arzt-Patienten-Rechtsverhältnisses ist der operative ärztliche Heileingriff einer der problematischsten Fälle für die Verbrechenslehre. Das Schrifttum weist darauf hin, dass keine Besonderheit vorliegt, wenn der Patient bereits vor der Operation in diese eingewilligt hat, da die Einwilligung die Beeinträchtigung bestimmter Handlungs- bzw. Angriffsobjekte legitimiert.3 Aber der Fall bringt Herausforderungen mit sich, wenn ein Patient z. B. einen lebensrettenden Operationseingriff verweigert, obwohl die Aussicht auf eine Heilung des Patienten bestünde. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit derartigen Fallkonstellationen. Zur Verdeutlichung des Themas wird folgender Fall gebildet: Zwangsbehandlung: Herr B leidet an starken Bauchschmerzen und Fieber. Wenige Tage später wird er als Notpatient ins Krankenhaus transportiert. Er kommt bei vollem Bewusstsein im Krankenhaus an. Notarzt A führt Tests durch und stellt 1 Joerden, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2021, 363 (363). 2 Joerden (Fn. 1), 364; Schroth, in: Hassemer/Neumann/Saliger (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl. 2016, 373 (374). 3 Hilgendorf, Einführung in das Medizinstrafrecht, 2. Aufl. 2019, § 2 Rn. 18; Otto, Jura 2004, 679 (679); Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, 4. Aufl. 2019, § 11 Rn. 1 f.

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fest, dass es sich um eine sehr weit fortgeschrittene, lebensgefährliche Infektion handelt und ein Bein entfernt werden muss. Der Patient wird vom Arzt A hinreichend aufgeklärt. Allerdings erteilt Herr B seine Einwilligung nicht und verweigert die lebensnotwendige Operation. Er erklärt dem Arzt, dass er Fußballspieler werden wolle und er daher lieber sterben würde. Schließlich führt Arzt A die Operation trotzdem durch, entfernt das Bein und rettet das Leben des Herrn B gegen dessen Willen. Die Operation ist erfolgreich. Hätte Arzt A die Operation nicht durchgeführt, wäre Herr B gestorben. Trotzdem bedauert dieser die Operation sehr. Fraglich ist insbesondere, ob sich Arzt A gem. § 223 Abs. 1 StGB wegen Körperverletzung strafbar gemacht hat. Der Einfachheit halber wird hier nur die Strafbarkeit nach dem Grundtatbestand des § 223 Abs. 1 StGB (Körperverletzung) untersucht.4 Nach der hier als richtig angenommenen h. M. sind grundsätzlich alle Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt,5 so dass der Arzt eine Bestrafung nur bei Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes vermeiden kann. Im Folgenden soll deshalb die These geprüft werden, ob § 34 StGB bei einer solchen lebensrettenden Operation angewendet werden kann. Insbesondere wird eine wesentliche Frage zur Lösung des Problems nicht angesprochen: die sogenannte Angemessenheitsklausel des § 34 StGB. In dieser Arbeit wird versucht, dieses Problem zu lösen, und zwar durch eine neuartige Analyse der genannten Klausel, ausgehend vom sogenannten „Means Principle“.

II. Vorfragen des rechtfertigenden Notstands gem. § 34 StGB 1. Anwendbarkeit Da im Fall Zwangsbehandlung keine Einwilligung des Patienten vorliegt, muss die Anwendbarkeit des § 34 StGB geprüft werden. Natürlich hat diese Vorschrift eigene Voraussetzungen: Zunächst muss die sogenannte Notstandslage gegeben sein.6 Man kann davon ausgehen, dass eine solche gegeben ist, da eine Gefahr für das Leben des Patienten besteht. Jedoch wird § 34 StGB normalerweise für den Fall herangezogen, dass der Notstandstäter zur Abwehr einer Gefahr von einem geschützten Interesse in die Interessen eines anderen Rechtsgutsinhabers eingreift. Der Täter verletzt dann das Interesse einer anderen Person zu Gunsten seines eigenen Interesses. Denkbar sind aber auch Fälle, in denen das Interesse einer Person geopfert wird, um ein anderes Interesse desselben Rechtsgutsträgers zu retten. Diese Konstellationen 4 Die Frage, ob zusätzlich eine Qualifikation, wie die des § 226 Abs. 1 StGB, in Betracht kommt, wird in dieser Arbeit nicht diskutiert. 5 Die sog. „Rechtsfertigungslösung“. Siehe dazu Grünewald, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB, 12. Aufl. 2019, § 223 Rn. 71; Hilgendorf, FS Kühl, 2006, 509 (511 f.); Kuhlen, FS Yamanaka, 2017, 275 (278); Puppe, GA 2003, 764. 6 Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK-StGB, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 22 ff.; Zieschang, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB, 13. Aufl. 2019, § 34 Rn. 48 ff.

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werden als „intrapersonale“ bzw. „interne“ Interessenkollision7 bezeichnet. Eine interne Interessenkollision liegt also dann vor, wenn zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr ausschließlich in die Interessen des Gefährdeten eingegriffen wird. Mit anderen Worten, ein Dritter opfert ein Rechtsgut des Betroffenen, um ein anderes derselben Person zu retten.8 Ob diese Fallkonstellationen in den Anwendungsbereich des rechtfertigenden Notstands fallen, ist Gegenstand einer intensiven Debatte. Kern dieser Debatte ist die Frage, was § 34 StGB eigentlich inhaltlich regelt. Im Folgenden werden die verschiedenen vertretenen Auffassungen erklärt. Einige Stimmen in der strafrechtlichen Lehre9 befürworten die Anwendbarkeit des § 34 StGB auf interne Kollisionen. Sie gehen von einem utilitaristischen Ausgangpunkt aus.10 Dafür konzentrieren sie sich auf den Wortlaut der Vorschrift, der auf den Schutz des überwiegenden Interesses abstellt. Daraus wird gefolgert, dass geringerwertige Güter zur Erhaltung höherwertiger Güter aus Sozialnützlichkeit aufgeopfert werden dürfen, um einen größeren Schaden zu vermeiden.11 Dies führt dazu, dass keine Personenverschiedenheit verlangt wird bzw. die „Interesseninhaber“ nicht unbedingt „personenverschieden“ sein müssen. Deshalb sei die Identität des Erhaltungsguts- und Eingriffsgutsinhaber bei der Anwendung des § 34 StGB nicht entscheidend. Allerdings gibt es auch plausible Einwände. Nach der Gegenansicht ist der rechtfertigende Notstand vom Prinzip der Solidarität, das das Telos der Norm bildet, geprägt.12 Demnach ergibt sich aus § 34 StGB nicht nur ein Eingriffsrecht, sondern auch eine Duldungspflicht desjenigen, von dem verlangt wird, seine Rechtsgüter aufzuopfern. Im Unterschied zur ersten Auffassung wird deshalb vertreten, dass die Notstandsgefahr und deren Auswirkungen unterschiedliche Personen betreffen sollen.13 7 Diese Terminologie findet sich bei Engländer, GA 2010, 15 (15), Kuhlen, FS Yamanaka, 282, und Schmitz, Rechtfertigender Notstand bei internen Interessenkollisionen, 2013, 16. Dörr spricht von „Binnenkollision“ (Dörr, Dogmatische Aspekte der Rechtfertigung bei Binnenkollision von Rechtsgütern, 2016, 22 f. m. w. N.). 8 Dörr (Fn. 7), 17; Schmitz (Fn. 7), 195. Klassisches Beispiel ist der „FeuerwehrmannFall“: siehe dazu Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 5. Aufl. 2020, § 16 Rn. 102. Siehe auch Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2021, § 19 Rn. 44; Zieschang, LK, § 34 Rn. 9. 9 Joerden, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Band II, 2019, § 39 Rn. 12; Otto, Grundkurs Strafrecht, 7. Aufl. 2004, § 8 Rn. 164; Rengier (Fn. 8), § 19 Rn. 44; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 34 Rn. 8a; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 51. Aufl. 2021, Rn. 487. 10 Joerden, GA 1991, 411 (411). 11 Hirsch, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), LK-StGB, 11. Aufl. 2003, § 34 Rn. 53; Roxin/Greco (Fn. 8), § 16 Rn. 10; Zieschang, LK-StGB, § 34 Rn. 7. 12 Engländer, JZ 2011, 513 (517); Murmann, Grundkurs Strafrecht, 2021, § 25 mit Fn. 61; Neumann, NK-StGB, § 34 Rn. 9c, 19; Pawlik, JRE 2014, 137 (157). Kritisch dazu Nestler, Jura 2020, 695 (696). 13 Engländer, GA 2010, 15; Erb, JuS 2010, 17 (20); Merkel, Früheuthanasie: rechtsethische und strafrechtliche Grundlagen ärztlicher Entscheidungen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin, 2001, 528; Neumann, NK-StGB, § 34 Rn. 32; Puppe (Fn. 3), § 11 Rn. 16.

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Hintergrund ist, dass niemand sich selbst „Mindestsolidarität“ schuldet.14 Bei § 34 StGB kollidieren so die Rechtsgüter von zwei verschiedenen Personen: Einem wird die Pflicht auferlegt, seine Rechtsgüter zugunsten des Notstandstäters aufzuopfern15 und so Eingriffe in seine Rechtssphäre zu dulden,16 um einen Schaden zu vermeiden, dessen Hinnahme für die Rechtsordnung im Vergleich mit den Folgen des Verstoßes schwerer zu ertragen wäre.17 Diese Ansicht lehnt bei einer internen Interessenkollision die Anwendbarkeit des § 34 StGB ab. Die Rechtfertigung richtet sich dann nur nach den Voraussetzungen der (mutmaßlichen) Einwilligung: hier steht das Autonomieprinzip im Vordergrund, weil es um die persönlichen Bedürfnisse, Ziele und Wünsche der Person als Sonderopfer geht.18 Ansonsten würde das Selbstbestimmungsrecht der Person geschwächt werden.19 Hinsichtlich unseres Falles müsste, wer Arzt A rechtfertigen will, die erste Auffassung vertreten, nämlich die, dass ein rechtfertigender Notstand auf dem Prinzip des überwiegenden Interesses beruht, dessen utilitaristische Begründung das Rechtsgut mit dem größeren Nutzen zu erhalten sucht. Natürlich kann die erste Meinung kritisiert werden und die Lösung der Problematik erfordert, dass die tiefen philosophischen Grundlagen des Telos des rechtfertigenden Notstandes diskutiert werden. In diesem Beitrag ist es nicht möglich, eine Lösung für diese Streitigkeit anzubieten. Es wird nur zum Zweck der weiteren Diskussion angenommen, dass § 34 StGB Anwendung findet, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil der Wortlaut dem nicht entgegensteht. Insofern steht die erste Position nicht von vornherein im Widerspruch zum geltenden Recht und wird tatsächlich von einem breiten Teil der Lehre vertreten. Zweitens, weil die utilitaristische Grundlage eine gewisse Plausibilität verdient und in unserer täglichen Argumentation präsent ist: die Auffassung, dass unsere Handlungen dazu führen sollten, den Nutzen zu maximieren (in Bezug auf Glück oder ein anderes Gut bzw. andere Güter).20

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Erb, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MK-StGB, 3. Aufl. 2017, § 34 Rn. 30. Engländer, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), StGB, 2. Aufl. 2020, § 34 Rn. 1 – 3; Kühl, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 8 Rn. 7; Renzikowski, Notstand und Notwehr, 1994, 15. 16 Erb, MK-StGB, § 34 Rn. 8; Renzikowski (Fn. 15), 65; siehe auch Engländer, JZ 2011, 517. 17 Erb, JuS 2010, 17. 18 Bottke, Suizid und Strafrecht, 1982, 90; Engländer, StGB, § 31 Rn. 24; Erb, MK-StGB, § 34 Rn. 35 f., 97; Joerden (Fn. 9), § 39 Fn. 108; Renzikowski (Fn. 15), 65. 19 Renzikowski (Fn. 15), 65. 20 Für eine angemessene Beschreibung der utilitaristischen Ethik und ihres Konsequentialismus Hilgendorf, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2021, 157 (159 ff.); Hörnle/Wohlers, GA 2018, 12 (30 f. Fn. 103). Zugunsten der Berücksichtigung von utilitaristischen oder konsequentialistischen Argumenten im Strafrecht jüngst Hoven, JZ 2020, 449 (452). 15

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2. Interessenabwägung Trotzdem bleibt das Problem ungelöst. Einige derjenigen, die die Anwendung des § 34 StGB bei Kollisionen von Gütern desselben Rechtsgutsträgers annehmen, gehen davon aus, dass eine vital indizierte operative Rettungsmaßnahme gegen den Willen der Person keineswegs ausgeführt werden solle und diese a fortiori nicht nach § 34 StGB gerechtfertigt sei.21 Denn die aus dem Selbstbestimmungsrecht ableitbare Einwilligung sei allein entscheidend.22 Dass § 34 StGB bei internen Kollisionen anwendbar sei, bedeute nicht, dass der Wille des Betroffenen durch Anwendung des § 34 StGB umgangen werden könne, da die Selbstbestimmung des Einzelnen Auswirkungen auf § 34 StGB habe. Daher scheidet die Rechtfertigung einer gegen einen Willen des Betroffenen durchgeführten Operation aus.23 Und auch einige derjenigen, die die Anwendbarkeit des § 34 StGB auf interne Interessenskollisionen bei demselben Rechtsgutsträger ablehnen, erklären, dass, selbst wenn diese Anwendbarkeit angenommen würde, die Notstandshandlung bzw. die Zwangsbehandlung trotzdem nicht gerechtfertigt werden könne.24 Es sei zwar denkbar, dass eine solche Verweigerung unverständlich ist oder sogar eine schwere Belastung für einen Arzt darstelle, aber sie könne nicht dazu führen, dass er eine Befugnis zu einer Zwangsbehandlung gegen den Willen des Patienten habe.25 Sonst würde das Risiko bestehen, über eine objektivierende Interessenabwägung die Selbstbestimmung des Rechtsgutsträger zu unterlaufen und so eine Zwangsbehandlung zu legitimieren.26 Übertragen auf den gebildeten Fall Zwangsbehandlung und nach dieser Ansicht, bedeutet der operative Eingriff gegen den Patientenwillen, dass Arzt A nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt werden kann und wegen rechtswidriger Körperverletzung strafbar ist. Folglich wird normalerweise in Lehrbüchern und Kommentaren verfochten, dass ein Zwangseingriff in einem solchen Sachverhalt nicht gerechtfertigt werden sollte. Allerdings macht die herrschende Lehre27 einen Unterschied zwischen dem aktiven Suizid und dem Fall der Ablehnung einer lebensnotwendigen Operation: im ersten Fall wäre es möglich, eine Behandlung sogar gegen den Willen des Patienten durchzuführen. Hintergrund dessen ist Roxin zufolge der strafrechtliche Paternalismus:28 21 Baltz, Lebenserhaltung als Haftungsgrund, 2010, 204; Bleiler, Strafbarkeitsrisiken des Arztes bei religiös motiviertem Behandlungsveto, 2010, 180 f.; Bottke (Fn. 18), 91; Hillenkamp, FS Küper, 2007, 123 (129); Roxin/Greco (Fn. 8), § 16 Rn. 47; Zieschang, LK, § 34 Rn. 31. 22 Otto, Gutachten 56. DJT D., 1986, 88 f.; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier, SSW-StGB, 4. Aufl. 2019, § 34 Rn. 15. 23 Zieschang, LK, § 34 Rn. 31, 111. 24 Engländer, StGB, § 34 Rn. 8 und 42; Erb, MK-StGB, § 34 Rn. 35; Neumann, NK-StGB, § 34 Rn. 35 f.; ders., FS Kühl, 2006, 578 f. 25 Neumann, NK-StGB, § 34 Rn. 35 a; Perron, StGB, § 34 Rn. 8a. 26 Engländer, GA 2010, 16. 27 Hillenkamp, FS Küper, 131; Perron, StGB, § 34 Rn. 8a; Roxin/Greco (Fn. 8), § 16 Rn. 102. 28 Roxin/Greco (Fn. 8), § 16 Rn. 102.

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Es wird davon ausgegangen, dass sich der Paternalismus gerade auf Fälle von Suizid auswirkt und dass deshalb eine Verhinderung bzw. ein Zwangseingriff gerechtfertigt wäre. Es wird daher vertreten, dass eine solche Einschränkung der Autonomie nur erfolgen könne, wenn die Person aktiv Hand an sich legt. Dies schließt Fälle aus, in denen der Patient sich sterben lässt, indem er die ärztliche Behandlung ablehnt. Angeblich darf der Paternalismus dort keine Rolle spielen. Diese Differenzierung wird von einem Großteil der Lehre anerkannt.29 Infolgedessen sei eine Gleichstellung des sich verweigernden Patienten mit dem Selbstmörder nicht möglich. Aber warum nicht? Der entscheidende Kernpunkt für die Unterscheidung scheint vor allem in der Definition des Suizids zu liegen, d. h. dem „Hand an sich legen durch aktives Tun“. Allerdings ist dies kein überzeugendes Argument, weil eine solche Differenzierung zwischen Suizid und dem Fall einer Verweigerung der lebensrettenden Behandlung rein faktisch ist. Es ist auch nicht klar, warum es normativ relevant wäre, da in beiden Fällen die Person schließlich freiwillig stirbt. Der Zweck des Paternalismus, also der Schutz des Einzelnen vor sich selbst,30 macht keinen normativen Unterschied zwischen Tun und Unterlassen. Daher sollten die gleichen Gründe, die der Paternalismus im Angesicht des Selbstmordes verfolgt, auch in unserem Fall gelten. So würde der Paternalismus auch die „Unabhängigkeit“ des Rechtguts Leben vom Willen des Rechtsgutsträgers bejahen, wie es beim Suizid der Fall ist. Dies führt dazu, dass das Leben ein wesentlich überwiegendes Interesse im Verhältnis zu der Selbstbestimmung oder körperliche Unversehrtheit darstellt. Der Unterschied zwischen dem Fall, in dem sich jemand aktiv das Leben nehmen will (Suizid), und dem Fall, in dem jemand aus demselben Grund eine lebensrettende Operation verweigert, darf nicht so groß sein, dass der Arzt im ersten Fall bestraft wird, weil er nicht hilft, und im zweiten Fall, weil er doch hilft.31 Man könnte davon ausgehen, dass diejenigen, die die Rechtfertigung einer Zwangsbehandlung ablehnen, der Ansicht sind, Leben und Autonomie (i. S. der verweigerten Einwilligung) stünden nicht in dem von § 34 StGB geforderten Verhältnis des wesentlich überwiegenden Interesses, aber sie könnten auch aus einem anderen Grund zu diesem Schluss kommen, der nichts mit der angeblichen Unterscheidung zwischen Selbstmord durch aktives Tun und durch Unterlassen zu tun hat. Indem sie keine zusätzlichen Gründe anbieten, lassen sie die Diskussion allerdings offen und diese Lösung bleibt erklärungsbedürftig. Außerdem weichen einige Befürworter einer Anwendung des § 34 StGB bei internen Kollisionen von dem Selbstbestimmungsvorrang ab und vertreten, dass bei lebensgefährlichen Situationen ein ärztlicher Zwangseingriff legitim und gerechtfertigt sein sollte. Mit anderen Worten, es ist dem Arzt erlaubt, sich über die ausdrücklich erklärte Verweigerung hinwegzusetzen.32 Einer dieser Befürworter ist Hardwig. 29

Erb, MK-StGB, § 34 Rn. 35; Hillenkamp, FS Küper, 131 f.; Kuhlen, FS Yamanaka, 283. Näher zum Begriff des Paternalismus siehe Roxin/Greco (Fn. 8), § 2 Rn. 33. 31 Hardwig, GA 1965, 161 (169). 32 Dörr (Fn. 7), 289, 338; Hardwig, GA 1965, 168.

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Hardwig geht, wie die übrigen Autoren, die eine Anwendbarkeit der Regeln über den rechtfertigenden Notstand auf diese Fälle prima facie vertreten, von der These aus, dass die Einwilligung nicht der einzige mögliche Ausweg aus diesem Problem ist, sondern eine Lösung der Frage auf der Grundlage anderer Kriterien möglich sei.33 Dabei erkennt er zwar an, dass die Selbstbestimmung ein relevantes und hohes Rechtsgut ist, kritisiert aber, dass ein Zwangseingriff als Nichtbeachtung der freien Selbstbestimmung und als Verletzung der Menschenwürde des Patienten bewertet wird.34 Vor allem wendet er ein, die Berufung auf die Selbstbestimmung, verbunden mit der Figur der (Menschen-)Würde, sei allgegenwärtig in der Lehre und man sei gegen Verletzungen dieses Wertes überempfindlich geworden, was zu einer Überbetonung führen könne.35 In Wirklichkeit sei die Selbstbestimmung kein so entscheidender Maßstab, wie es in der Literatur dargestellt werde. Im Übrigen argumentiert er, dass die Person durch einen Missbrauch der Selbstbestimmung ihre eigene Würde verletzt, wenn sie sich gegen eine Operation entscheidet. Ihm zufolge würde ein Patient, der erklärt, dass er nicht als Krüppel weiterleben wolle, gegen seine eigene Würde verstoßen, indem er die Wertakzente falsch setzt.36 Daher soll die Verweigerung für den Arzt unbeachtlich sein. Dies führt dazu, dass der Arzt den Patienten retten könnte, aber es bedeutet nicht, dass er verpflichtet ist, dies zu tun. Falls der Arzt die Operation durchführt, wird er demgegenüber nicht bestraft.37 Nach dieser Auffassung sind diese Kriterien grundsätzlich geeignet, nicht nur den Fall Zwangsbehandlung, sondern auch den bekannten Fall der Verweigerung einer Bluttransfusion zur Rettung eines Dritten zu lösen, der erstmals von Gallas38 vorgetragen wurde: Blutspende: Patient P ist ein Unfallopfer und benötigt dringend einen Liter Blut mit einer ganz bestimmten seltenen Charakterisierung der Blutgruppe. Zur gleichen Zeit ist Patient B zufällig im Krankenhaus, der die benötigte Blutgruppe hat. Dieser verweigert aber die lebensrettende Blutspende, obwohl er als Einziger die erforderliche Blutgruppe vorweisen kann. Patient B wird gewaltsam Blut abgenommen und der Arzt rettet Patient P mittels einer Bluttransfusion. Teile des Schrifttums nehmen an, dass im Rahmen der Interessenabwägung die in Betracht kommenden Interessen zum einen das Leben (des Empfängers des Blutes) und zum anderen die körperliche Unversehrtheit (hinsichtlich der Blutentnahme) sind.39 Der Sachverhalt des Falls Blutspende unterscheidet sich von dem Fall 33

Hardwig, GA 1965, 168. Hardwig, GA 1965, 168. 35 Hardwig, GA 1965, 168. Ähnlich aber in anderem Kontext siehe Hilgendorf, FS Puppe 2011, 1653 (1654 ff.); Hoven, JZ 2020, 458; Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, 2015, 14. 36 Hardwig, GA 1965, 169. 37 Näher dazu Ulsenheimer, FS Eser, 2005, 1225 (1235). 38 Gallas, FS Mezger 1954, 311 (325). 39 Joerden (Fn. 9), § 39 Fn. 57 m. w. N. 34

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Zwangsbehandlung, da Patient P und Patient B unterschiedliche Personen sind, während die in Betracht kommenden Interessen in der Tat dieselben sind wie im Fall Zwangsbehandlung. Daher sollte die Lösung grundsätzlich, zumindest in Rahmen der Abwägung, auch dieselbe sein. Diese Arbeit ist nicht der passende Ort, die Auffassung von Hardwig umfassend zu kritisieren oder das grundsätzliche Problem zu lösen, ob ein Rückgriff auf § 34 StGB in Fällen interner Interessenkollisionen gerechtfertigt ist, da dies eine detaillierte Auseinandersetzung der Grundlagen des rechtfertigenden Notstands erfordert, eine Frage, die historisch diskutiert wurde und einer viel ausführlicheren Behandlung bedarf. Die hier erfolgte kurze Darstellung hat jedoch gezeigt, dass für einige Autoren in diesen Fällen nicht nur § 34 StGB anwendbar ist, sondern auch das Rechtsgut Leben überwiegen würde. Deshalb wird angenommen, dass die Auffassungen, die davon ausgehen, dass das Leben von Patient P die eigene körperliche Unversehrtheit des Patienten B wesentlich überwiegt, richtig sind. Mit diesem Ergebnis wird die Prüfung des ersten Teils des § 34 Abs. 1 StGB beendet. Aber auch wenn man diesen Positionen zugesteht, dass ihre Begründung plausibel ist, wirft Jakobs ein zusätzliches Problem im Hinblick auf die Anwendung des § 34 StGB auf und warnt, ohne jedoch eine abschließende Antwort zu geben, dass eine solche Zwangsbehandlung einer Krankheit ein unangemessenes Mittel darstellen kann, obwohl das Rechtsgut Leben kein disponibles Gut darstellt.40 In den folgenden Abschnitte wird versucht, zur Aufklärung dieses wesentlichen Aspekts des rechtfertigenden Notstandes beizutragen.

III. Angemessenheitsvorbehalt (§ 34 Abs. 2 StGB) und „Means Principle“ 1. Angemessenheit und Unbestimmtheit In § 34 Abs. 2 StGB wird die Angemessenheit der Tat verlangt. Denn danach gilt die durch das wesentliche Überwiegen der geschützten Interessen begründete Rechtfertigung der Notstandshandlung nur, wenn die Tat ein angemessenes Mittel darstellt.41 Da es um einen unbestimmten, offenen und vagen Begriff geht,42 sind sein Inhalt und seine Funktion in der strafrechtlichen Lehre umstritten. In der Regel wird aber vor allem diskutiert, inwiefern die Angemessenheit Auswirkungen auf die Abwägung haben sollte, die nach § 34 Abs. 1 StGB vorgenommen wurde, d. h. welche Kriterien als Ergänzung zur Abwägung hier maßgeblich sein sollten.43 40

Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, § 13 Rn. 29. Joerden (Fn. 9), § 39 Fn. 35 ff., 95; Puppe (Fn. 3), § 11 Rn. 11; Roxin/Greco (Fn. 8), § 16 Rn. 91. 42 Zieschang, LK, § 34 Rn. 151 m. w. N. 43 Joerden, GA 1991, 411; SSW-Rosenau, StGB, § 34 Rn. 15. 41

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Teile des Schrifttums44 verneinen eine bedeutende Funktion der Angemessenheitsklausel: sie wird für überflüssig und leerlaufend gehalten, denn sie stelle lediglich eine bloße „Kontrollklausel“ dar, weil bereits eine umfassende Betrachtung der konkreten Situation vorgenommen wurde. Durch die Klausel soll zum Abschluss der Prüfung noch einmal rückversichert werden, dass das ermittelte Ergebnis richtig und gerecht ist. Demgegenüber will die h. M.45 zutreffend der Angemessenheitsklausel eine selbständige Bedeutung als eine zweite und unabhängige Wertungsstufe zumessen. Diese Frage könnte eventuell entscheidend werden, insbesondere wenn diese zusätzliche Ebene eine mögliche Einschränkung der Rechtfertigungsmöglichkeit im rechtfertigenden Notstand darstellt. Zwar ist zuzugeben, dass „angemessen“ einen unbestimmten und vagen Begriff darstellt, das hindert aber nicht eine Aufklärung des Problems mittels einer rationalen Diskussion. Tatsächlich bietet § 34 StGB auch keine klare Antwort darauf, was „Abwägung“ bedeutet und das Telos der gesetzlichen Vorschrift ist nicht ausreichend klar. Zur Lösung der Frage wird insbesondere die bereits erwähnte Diskussion darüber herangezogen, ob sich die Grundlage des rechtfertigenden Notstands auf utilitaristische Kriterien des überwiegenden Interesses oder vielmehr auf ein deontologisches Kriterium, das sich auf den Solidaritätsgedanken bezieht, stützen muss. Keines dieser Kriterien kann im Gesetzestext gefunden werden. Aber der Begriff der Abwägung ist nicht als „überflüssig“ anzusehen – insbesondere, weil er vom Gesetzgeber ausdrücklich festgelegt wurde. Das Gleiche gilt für den Begriff „angemessen“. Beides sind unbestimmte Begriffe; es ist dann aber Aufgabe von Literatur und Rechtsprechung, sie zu konkretisieren. Alles hängt davon ab, welche Bedeutung oder welchen Inhalt man ihnen bei der Auslegung und Rechtsanwendung gibt. Dabei soll eine präzise und plausible Bestimmung davon gefunden werden, was jeweils angemessen ist, um dadurch § 34 Abs. 2 StGB klarere Konturen zu verschaffen, als es durch die Behauptung einer bloßen Kontrollklausel mit unklarem Inhalt möglich ist. Darüber hinaus darf eine derartige Bestimmung nicht dem bloßen Rechtsgefühl überlassen bleiben, sondern erfordert fundierte und deutliche Gründe dafür, warum das eine Mittel angemessen, das andere Mittel aber nicht angemessen sein soll.46 Im Folgenden ist zu untersuchen, wie und mit welchen Argumenten die Konkretisierung dieses unbestimmten rechtlichen Begriffes in der strafrechtlichen Dogmatik durchgeführt wurde.

44 Engländer, GA 2010, 18 f.; Perron, StGB, § 34 Rn. 46; Roxin/Greco (Fn. 8), § 16 Rn. 92, 100; Zieschang, LK, § 34 Rn. 152, 164. 45 Duttge, in: Dölllig/Duttge/Rössner (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht. Handkommentar, 2. Aufl. 2011, § 34 Rn. 21; Erb, MK-StGB, § 34 Rn. 244; Frisch, Strafrecht, 2022, § 4/66; Joerden, GA 1991, 411; Neumann, NK-StGB, § 34 Rn. 21a; Rengier (Fn. 8), § 19 Rn. 49; SSW-Rosenau, StGB, § 34 Rn. 32; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 9), Rn. 468. Zur Rechtsprechung, die dies unterstützt, siehe Zieschang, LK, § 34 Rn. 151. 46 Joerden, GA 1991, 414; Satzger, Jura 2016, 154 (160).

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2. Regelutilitarismus und Menschenwürde Verschiedene Autoren haben versucht, der Angemessenheit einen Inhalt zu geben und zu interpretieren, was darunter zu verstehen sein soll. Der Jubilar hat beispielsweise eine konsequentialistische Auslegung vorgenommen. Ihm zufolge erfolgt bei der Angemessenheitsklausel eine Auslegung nach dem Regelutilitarismus. Die Frage soll lauten: „Was wäre wohl, wenn das jeder täte?“.47 Danach stellt man darauf ab, ob die hypothetische allgemeine Praxis einer solchen Handlung überwiegend negative Folgen für die Gesellschaft hervorrufen würde. Ist dies der Fall, ist die Handlung unzulässig und dann unangemessen. Ansonsten soll sie vorgenommen werden.48 Das Problem bei dieser Interpretation ist, dass man in einigen Fällen feststellen kann, dass eine verallgemeinerte Wiederholung der Notstandshandlung keine positiven Folgen hätte, was aber nicht für alle Fälle gilt. Ein Beispiel dafür ist dieser klassische Fall: Organentnahme:49 Die Patienten X und P sind Unfallopfer und benötigen dringend eine Nierentransplantation. Zur gleichen Zeit ist Patient B zufällig im Krankenhaus, der eine solche Niere abgeben könnte. Aber B verweigert die lebensrettende Organentnahme. Der Arzt operiert ihn zwangsweise trotzdem und rettet die Unfallopfer X und P. Wenn man wie Joerden den Gedanken des Utilitarismus als zentrale Grundlage des § 34 StGB unterstellt, scheint es eindeutig, dass bei der Abwägung das Leben ein wesentlich überwiegendes Interesse im Vergleich zur körperlichen Unversehrtheit ist. Aber die Verallgemeinerung dieser Verhaltensweisen, i. S. des Regelutilitarismus, kann zu inakzeptablen Ergebnissen führen. Es könnte z. B. zu negativen Auswirkungen auf die Bevölkerung und gewalttätigen Reaktionen kommen, die langfristig zu einer negativen Nutzenberechnung führen würden. Dies ist jedoch zufällig. Eine Regel, die es als zulässig erachten würde, diese Handlungen unter sehr restriktiven Umständen durchzuführen (z. B., dass ein unmittelbares Todesrisiko für eine Person unter zwanzig Jahren besteht und der „Spender“ alleinstehend ist, d. h. niemand von ihm abhängt), würde wahrscheinlich auf lange Sicht gute Konsequenzen nach sich ziehen, selbst wenn sie verallgemeinert würde, weil mehr Menschen leben könnten. Allerdings scheint es in Fällen wie der Organentnahme nicht möglich zu sein, das Handeln des Arztes zu rechtfertigen, unabhängig davon, ob der Nutzensaldo positiv ist. Ein Rückgriff auf einen Regelutilitarismus, dessen Ergebnisse durch ein verallgemeinertes, aber zufälliges Nutzenkalkül bedingt sind, bietet keine zufriedenstellenden Ergebnisse. 47

Joerden, GA 1991, 414. Joerden (Fn. 9), § 39 Rn. 63 ff. Joerden, GA 1991, 415. Hierbei spielt die Menschenwürde keine Rolle. 49 Siehe Foot, Virtues and Vices and Other Essays in Moral Philosophy, 2002, 24 ff.; Thomson, The Monist 1976, 204 (205 f.); ähnliche Beispiele in Sinnott-Armstrong, Stanford Encyclopedia of Philosophy: https://plato.stanford.edu/entries/consequentialism/ (zuletzt abgerufen am 27. 8. 2022). 48

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Eine andere plausible Kritik zielt auf die konsequentialistische Deutung der Angemessenheitsklausel ab. Indem § 34 Abs. 1 StGB die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit einer Handlung explizit von den Folgen abhängig macht, besteht die Gefahr, dass strafrechtliche Verbotsnormen damit tendenziell degradiert werden. Hintergrund dessen ist, dass sich das Strafrecht in seiner Verbotsmaterie grundsätzlich als ein deontologisches System erweist. Folglich begegnet Neumann einer solchen Gefahr zutreffend durch deontologische Elemente.50 An dieser Stelle erhält die Angemessenheitsklausel ihre (deontologische) Funktion. Wenn man dann den in § 34 Abs. 1 StGB bereits vorausgesetzten (Handlungs-)Utilitarismus – und dazu die bereits aufgezeigte Gefahr – auf irgendeine Weise einzuschränken versucht, kann dies ein Regelutilitarismus nicht bieten. Es scheint also, dass der Angemessenheitsklausel ein nicht-utilitaristischer Gedanke zugrunde liegen muss, damit sie eine selbständige Bedeutung hat, die als Grenze zum vorausgesetzten Utilitarismus des § 34 Abs. 1 StGB dient, wie Neumann vorschlägt. Angesichts dieser begrifflichen Ungenauigkeit und des Bedürfnisses kontraintuitive Folgen zu vermeiden, haben andere Autoren der Angemessenheit eine andere Bedeutung gegeben. So meint ein beachtlicher Teil der Lehre,51 dass das deontologische Kriterium, welches der Angemessenheit Bedeutung verleiht, die Menschenwürde ist. Sie stellt ein „Stopp-Signal“ gegen ihre Relativierung dar, an dem jede Abwägung ihre Grenze findet. Folglich geht es bei dem Kriterium darum, dass ein Verstoß gegen die Menschenwürde niemals ein angemessenes Mittel darstellt. Wie oben erläutert, scheint nach der Auslegung anhand einer reinen Interessenabwägung das Ergebnis stets rein utilitaristisch orientiert. Dies würde dazu führen, dass das Eingriffsopfer immer empfindliche Einbußen zum Schutz höherrangiger Rechtgüter grenzenlos hinzunehmen hat. Soll jemandem Blut abgenommen werden, um das Leben eines Unfallopfers zu retten (Blutspende-Fall) wird die Interessenabwägung, die sich am Konsequentialismus orientiert, selbstverständlich zugunsten des zu rettenden Lebens ausfallen, da das Rechtsgut Leben die körperliche Unversehrtheit des Eingriffsopfers wesentlich überwiegt.52 Allerdings geht die herrschende Lehre53 davon aus, dass ein solches Verhalten unvereinbar mit der Angemessenheitsklausel ist, weil eine zwangsweise Blutentnahme eine Instrumentalisierung des menschlichen Körpers bedeuten würde. Der Betroffene werde zur „menschlichen Blutbank“ umfunktioniert, was zu einer Verletzung der Menschenwürde führe. Hintergrund dessen ist, dass jede Instrumentalisierung des Menschen gegen die Men-

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Neumann, JRE 1994, 81 (86). Duttge, HK-GS, § 34 Rn. 21; Engländer, StGB, § 34 Rn. 34; Neumann, NK-StGB, § 34 Rn. 118a; Rengier (Fn. 8), § 19 Rn. 59; SSW-Rosenau, StGB, § 34 Rn. 34; Roxin/Greco (Fn. 8), § 16 Rn. 95 ff. 52 Joerden (Fn. 9), § 39 Rn. 63 m. w. N.; Nestler, Jura 2020, 699. 53 Neumann, NK-StGB, § 34 Rn. 118; Perron, StGB, § 34 Rn. 41e; Rengier (Fn. 8), § 19 Rn. 59; SSW-Rosenau, StGB, § 34 Rn. 34. 51

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schenwürde verstößt.54 Folglich müsste man das Unfallopfer sterben lassen und das Gleiche würde erst recht bei der Lösung des Falls Organentnahme gelten. Bislang scheint es ziemlich plausibel, dass die Grundlage der Angemessenheit i. S. des § 34 Abs. 2 StGB das Instrumentalisierungsverbot darstellt, dessen Hintergrund der Schutz der Menschenwürde ist, da eine Einschränkung des Utilitarismus zumindest nach einem Teil der Lehre geboten ist. Bei genauerem Hinsehen gerät allerdings auch diese Begründung in Erklärungsnot: Die Berufung auf den Begriff der „Menschenwürde“ oder gar die „Instrumentalisierung“ ist keine ausreichende Begründung, da sie ebenso unbestimmt wie „angemessen“ ist.55 Wenn keine zusätzlichen Überlegungen angestellt werden, würde man versuchen, ein Problem der Unbestimmtheit mit einem Begriff zu lösen, der ebenfalls unbestimmt ist, was nur zu mehr Unbestimmtheit führen kann. Eine solche allgemeine Verwendung könnte sogar dazu führen, dass man das Institut des rechtfertigenden Notstands in gewisser Weise für unvereinbar mit der Menschenwürde hält, weil es eine Instrumentalisierung des Eingriffsgutsinhabers mit sich bringen würde: Wenn die Aufopferung des wesentlich unterwertigen Rechtsgutes einen größeren Nutzen mit sich bringt, wird dies letztlich immer erfolgen, um diesen Zweck zu erreichen, und die Autonomie wird immer wieder beeinträchtigt.56 Letzteres wäre natürlich absolut nicht plausibel. Und in der Tat scheint es auch grundlegende Unterschiede zwischen den Fällen Blutspende und Organentnahme zu geben: die Rechtfertigung des erzwungenen Eingriffs des Arztes im ersten Fall erscheint problematisch, aber vielleicht vertretbar, während der zweite Fall eindeutig unzulässig ist. Der Rückgriff auf „Menschenwürde“ und „Instrumentalisierung“ würde allerdings eine gleichartige Betrachtung der beiden Fälle erfordern. Das Problem ist also die mangelnde Konkretisierung des Kriteriums der Menschenwürde / des Instrumentalisierungsverbots, vor allem, weil nicht detailliert erklärt wird, wann das Benutzen eines anderen als Instrument gegeben ist. Eine solche pauschale Begründung kann nicht richtig sein und eine detaillierte Auslegung der Grundlagen hinter dem Prinzip ist notwendig. Denn die Angemessenheitsklausel weist darauf hin, dass es Beschränkungen gibt, nicht aber, welche diese sind.57 Im nächsten Abschnitt wird ein neuartiges Konkretisierungskriterium der Angemessen54 Duttge, HK-GS, § 34 Rn. 23; Neumann, NK-StGB, § 34 Rn. 118; Rengier (Fn. 8), § 19 Rn. 60. Vgl. auch Hilgendorf, in: Hilgendorf/Kremnitzer (Hrsg.), Dignity and Criminal Law, 2018, 39 (41). Auch Joerden (Fn. 1), 365 f.) argumentiert aber im Rahmen eines Beitrages zur Rechtsphilosophie, dass die Instrumentalisierung die Menschenwürde verletze. 55 Die Gleichsetzung von Verstoß gegen Menschenwürde und Instrumentalisierung war Gegenstand starker Kritik. Siehe dazu Hilgendorf (Fn. 35), 1657 ff. Auch andere Autoren, wie Hardwig, GA 1965, 168, haben bereits ihre Unzufriedenheit mit der exzessiven Verwendung des Begriffs „Menschenwürde“ zum Ausdruck gebracht. Eine weitere hervorzuhebende Kritik ist die von Nestler, Jura 2020, 699, die deutlich betont, dass es den Versuchen der Menschenwürde als Definition von Angemessenheit an einer dogmatisch tragfähigen Begründung fehlt. 56 Engländer, StGB, § 34 Rn. 34. 57 Engländer, StGB, § 34 Rn. 31; ders., GA 2010, 20; Nestler, Jura 2020, 699.

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heitsklausel vorgeschlagen, das versucht, die Vorteile des deontologischen Kriteriums, das auf dem Verbot der Instrumentalisierung (als Ableitung der Menschenwürde) beruht, zu nutzen, dabei aber bestimmter und detailgenauer ist. Insbesondere wird eine Auslegung dieser Klausel auch als Instrumentalisierungsverbot vorgeschlagen, allerdings im Sinne eines „Means Principle“, wie es in der angelsächsischen Diskussion der Moralphilosophie verstanden und angewandt wird. 3. Angemessenheit und „Means Principle“ a) Instrumentalisierungsverbot aus der Perspektive des „Means Principle“ Wenn man annimmt, dass der Utilitarismus die Grundlage des rechtfertigenden Notstands darstellt, bedeutet dies notwendigerweise, dass man davon ausgeht, der Konsequentialismus, verstanden als die ethische Theorie, die sich bei der moralischen Bewertung einer fraglichen Handlung an deren Folgen orientiert,58 sei grundsätzlich nicht bedenklich. Diese Annahme ist, wie bereits in dieser Arbeit aufgezeigt, plausibel. Denn diese Theorie basiert auf der Vorstellung, dass das Beste oder das Gute das ist, was die besten Konsequenzen für die Welt bringt. Außerdem, wie selbst Kritiker des Utilitarismus wie John Rawls59 betonen, darf keine ethische Theorie die Konsequenzen einer Handlung völlig außer Acht lassen. Aber auch wenn man annimmt, dass die Suche nach guten Konsequenzen, wie sie z. B. der Utilitarismus vertritt, ein geeigneter Maßstab sein kann, um die Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung zu prüfen, ist es notwendig, nach deontologischen Einschränkungen für das kausale Mittel zu suchen, das zur Erreichung dieser guten Konsequenzen eingesetzt wird, um kontraintuitive Folgen zu vermeiden. Dabei spielen in der deutschen Diskussion die Menschenwürde und das Instrumentalisierungsverbot eine Rolle. Dasselbe geschieht in der normativen Ethik der angelsächsischen Tradition, die das sogenannte Means Principle („Mittelprinzip“) vorschlägt, dessen rein deontologischer Charakter eine deutliche Grenze bei der Suche nach den besten Konsequenzen bedeutet.60 Der Unterschied besteht darin, dass dieses Prinzip ausführlicher und präziser behandelt wird als das Begriffspaar Menschenwürde und Instrumentalisierungsverbot. Beim Means Principle zielt die Frage also vor allem darauf ab, wie (d. h. mit welchem Mittel) die positiven Konsequenzen, die sich aus der Annahme des Konsequentialismus bzw. des Utilitarismus ergeben, erreicht werden. Insbesondere ist es dem Täter durch das Mittelprinzip untersagt, positive Folgen zu erzielen, indem er aus58

Neumann, JRE 1994, 82; Sinnott-Armstrong (Fn. 49). Rawls, A Theory of Justice, 1979, 26. 60 Alexander, in: Ferzan/Morse (Hrsg.), Legal, Moral, and Metaphysical Truths: The Philosophy of Michael S. Moore, 2016, 251 (252). Dieses Prinzip wird als eine Äußerung des (auch deontologischen) Grundsatzes der Grenzen zwischen Personen anerkannt. Lazar, Sparing Civilians, 2015, 58. 59

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schließlich den Körper, die Arbeitskraft oder das Talent eines anderen als kausales Mittel benutzt.61 Es ist aber immer ein konsequentialistischer Hintergrund notwendig, da das Means Principle eine deontologische Einschränkung bei der Suche nach den besten Konsequenzen darstellt. Daher wird der kausale Prozess, der die guten Folgen hervorbringt, analysiert. Hierbei ist anerkannt, dass es viele Situationen gibt, in denen andere Menschen als Mittel benutzt werden müssen, aber dies könne auf unterschiedliche Weise geschehen. Alle Fälle haben gemeinsam, dass der Betroffene immer gezwungen ist, für einen größeren Nutzen ein Opfer in Kauf zu nehmen. Entscheidend ist aber, dass es verschiedene Stufen gibt: wie das Opfer instrumentalisiert wird sowie die Gründe dafür und die Schwere – und damit die entsprechende Unzulässigkeit – dieser „Instrumentalisierung“.62 Das Means Principle wird also nicht für eine pauschale Bewertung der Handlung herangezogen, sondern es beschränkt sich insbesondere auf das kausale Mittel, das zur Erreichung des vorteilhaften Ziels (bzw. der besseren Folgen) eingesetzt wird.63 Um dies zu erläutern, wird in der angelsächsischen Literatur meist auf die berühmten Trolley-Fälle64 (Weichenstellerfall) zurückgegriffen, die durch die Fälle Blutspende und Organentnahme ergänzt werden: Trolley: A steht neben einem Gleis und sieht, wie ein außer Kontrolle geratener Güterzug auf zehn an das Gleis gefesselte Personen zurast: Offenkundig haben die Bremsen versagt. Falls A nichts tut, werden die zehn Personen überfahren und getötet. Glücklicherweise steht A neben einer Signalweiche: Falls A diese Weiche umlegt, wird der außer Kontrolle geratene Güterzug auf ein Nebengleis gelenkt. Leider hat die Sache einen Haken: Auf dem Nebengleis entdeckt A einen an das Gleis gefesselten Gleisarbeiter: Ändert er die Richtung, führt das zwangsläufig dazu, dass dieser Gleisarbeiter getötet wird. Fat Man: A steht auf einer Fußgängerbrücke über den Gleisen. Er sieht die Straßenbahn das Gleis entlang rasen und, weiter vor ihr, fünf an die Schienen gebundene Personen. Außer ihm steht ein sehr dicker Mann dort auf der Brücke, der sich über das Geländer lehnt und die Straßenbahn beobachtet. Wenn A ihn von der Fußgängerbrücke schubsen würde, würde er herunterfallen und unten auf dem Gleis aufschlagen. Er ist so fettleibig, dass seine Masse die Straßenbahn ruckartig stoppen würde. Leider würde dieser Vorgang den dicken Mann töten. Die anderen fünf Personen würden dadurch jedoch gerettet. In der deutschen Literatur wird darauf hingewiesen, dass eine Umlenkung des Güterzuges aufgrund der sogenannten „Unabwägbarkeit des Lebens“ unzulässig sei. 61 Alexander (Fn. 60), 251; Alexander/Ferzan, Reflections on Crime and Culpability. Problems and Puzzles, 2018, 111; Tadros, The Ends of Harm. The Moral Foundations of Criminal Law, 2013, 114. 62 Lazar (Fn. 60), 59. 63 Alexander/Ferzan (Fn. 61), 108; Quong, The morality of defense force, 2020, 177. 64 Pars pro toto Tadros (Fn. 61), 115. Beispiele auch von Edmonds, Würden Sie den dicken Mann töten?, 2015, 20; Quong (Fn. 63), 176.

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Und selbst wenn man davon ausgeht, dass zehn Menschenleben in der Abwägung mehr Wert verdienen als eines, könnte man nach dem Instrumentalisierungsprinzip ohne weitere Überlegung und kraft seiner Unbestimmtheit argumentieren, dass derjenige, der den Güterzug umleitet, den Arbeiter dazu benutzt, die zehn Menschen zu retten. Dies widerspricht aber im Allgemeinen unserer humanistischen Intuition,65 dass derjenige, der in diesen Fällen die meisten Leben rettet, nicht unzulässig handelt. Anders scheint der Fall Fat Man zu sein, in dem ein dicker Mann so geschubst wird, dass er die Gleise blockiert und stirbt, aber zehn Menschen gerettet werden. Oder der Fall der Organentnahme, bei dem jemand zwangsweise operiert wird, um eine für einen anderen lebensrettende Niere zu entfernen. Eine deontologische Einschränkung sollte erklären, warum im Fall Trolley das Handeln zulässig ist, während es bei Fat Man oder Organentnahme unzulässig ist. In der angelsächsischen Diskussion wird gerade davon ausgegangen, dass nur in den beiden letztgenannten Fällen ein Gebrauch des anderen zur Verwirklichung oder Erreichung eines Zwecks in dem vom Means Pinciple verbotenen Sinne vorliegen würde.66 Die Frage ist dann, welche Gründe diese differenzierte Behandlung rechtfertigen. Um diesen Unterschied zwischen dem einen und den anderen Fällen zu begründen, obwohl gewissermaßen in beiden Fällen die Person, die stirbt, „benutzt“ wird, wurde eine Unterscheidung zwischen opportunistischem Mord und eliminatorischem Mord getroffen.67 Ersteres liegt vor, wenn der Täter einen Nutzen aus der Beeinträchtigung des Opfers zieht, dieser Nutzen aber nicht entstanden wäre, wenn das Opfer nicht existiert hätte. Dies liegt bei Fat Man vor, denn wenn der Mann nicht da wäre, könnte man nicht von dem „Überleben von“ zehn Personen profitieren. Er gibt einem die Möglichkeit, diesen Nutzen zu erlangen. Gleiches gilt für den Fall der Person, die operiert wird, und deren Niere verwendet wird, um das Leben eines anderen Menschen zu retten. Dies ist der Kern eines Instrumentalisierungsverbots: das Verbot, einen Vorteil ausschließlich von einem anderen zu erhalten. Demgegenüber bedeutet ein eliminatorischer Mord keinen Verstoß gegen das Means Principle: In diesem Fall will der Täter ein Ergebnis erreichen, das er auch in Abwesenheit des Opfers hätte erreichen können. Der Begünstigte erlangt durch das Opfer keinen unmittelbaren Vorteil. Im Gegenteil, das Opfer stellt nur ein Hindernis dar. Eine verbotene Instrumentalisierung im Sinne des Means Principle würde in dem Fall Trolley nicht vorliegen, da die zehn Opfer auch gerettet würden, wenn der Arbeiter nicht auf diesem Gleis wäre. Insofern würde der Körper des Arbeiters nicht ausschließlich als kausales Mittel zur Nutzenmaximierung benutzt werden, denn wenn sein Körper nicht da wäre, wäre genau die gleiche Entscheidung getroffen worden und somit würden die geretteten Menschen keinen Vorteil erhalten, d. h., sie sind nicht wegen des 65

Siehe nur Hilgendorf, in: ders. (Hrsg.), Rechtswidrigkeit in der Diskussion, 2018, 97 (109 f.). 66 Edmonds, Would You Kill The Fat Man? The Trolley Problem and What Your Answer Tells Us about Right and Wrong, 2015, 34; Lazar (Fn. 60), 57. 67 Lazar (Fn. 60), 59 f. Für weitere Beispiele, siehe Quong (Fn. 63), 176.

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Gebrauchs des Körpers des Arbeiters in einem besseren Zustand.68 Es ist darauf hinzuweisen, dass dieser Test zur Feststellung eines Verstoßes gegen das Means Principle nicht von der Absicht des Täters in Bezug auf das Opfer abhängt, sondern vielmehr davon, wie das Opfer benutzt wurde, um das Ziel zu erreichen, und ob der Nutzen ohne dieses Opfer gleich wäre.69 Bis zu diesem Punkt kann durch das Means Principle die Pflicht begründet werden, andere nicht als Mittel zu behandeln, um eine positive Folge zu erreichen.70 Es kann aber auch auf die persönliche Sicht des Opfers abgestellt werden, nach der alle Menschen einen Anspruch darauf haben, nicht als Mittel behandelt zu werden,71 da das Means Principle grundsätzlich die Freiheit der Person schützt. Der Einzelne kann deshalb fordern: „Mein Körper, meine Arbeit und mein Talent bestehen nicht, damit ein anderer gute Folgen erreicht.“ Dieser Anspruch, nicht als Mittel behandelt zu werden, gerade weil das Opfer sonst zum Objekt verkommen würde, hängt also damit zusammen, dass das Means Principle den kausalen Verlauf (das Mittel) prüft, durch den die gute Folge erreicht wird. Denn der Mensch ist kein bloßer Mechanismus für einen utilitaristischen Zweck.72 Und tatsächlich sind der Hintergrund des Means Principle die Rechte der Personen, weil sie festlegen, wie Menschen miteinander umgehen sollen.73 Vor allem schreiben sie dem Individuum einen moralischen Status zu, der von demjenigen nicht anerkannt wird, der ihn als Mittel zur Erreichung einer guten Folge gebraucht hat.74 Zur Lösung des am Anfang vorgestellten Falls Zwangsbehandlung ist hervorzuheben, dass das Means Principle in der Regel so verstanden wird, dass die Güter von X zu Gunsten der Güter von Y geopfert werden. Alexander75 warnt aber auch, dass eine Verletzung dieses Prinzips auch vorliegen kann, selbst wenn die als Mittel gebrauchte Person ohne ihre Einwilligung in eine bessere Position gebracht wurde. Bei Zwangsbehandlung verfolgt Arzt A das konsequentialistische Ziel, bessere Folgen für den Patienten zu erzeugen (die Person zu heilen und ihr die Möglichkeit zu geben, weiterzuleben), d. h. er erreicht keinen Nutzen für sich selbst. Allerdings schließt dies nicht die Prüfung aus, wie dieser Nutzen erreicht wurde. Auch wenn die guten Folgen nicht an den Absichten des Täters gemessen werden sollen, z. B. wenn der Arzt den Patienten zum Wohle des Opfers des Eingriffs benutzt, weil er den Patienten vor einer übereilten Entscheidung oder vor seinen religiösen Überzeu-

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Lazar (Fn. 60), 60. Quong (Fn. 63), 178. Zu den anderen Positionen, die die Absicht berücksichtigen, siehe Tadros (Fn. 61), 116. 70 Edmonds (Fn. 66), 34. 71 Quong (Fn. 63), 207; Tadros (Fn. 61), 124. 72 Alexander/Ferzan (Fn. 61), 115; Tadros (Fn. 61), 114. 73 Quong (Fn. 63), 207. 74 Tadros (Fn. 61), 125. 75 Alexander (Fn. 60), 260. 69

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gungen bewahren will, ändert dies nichts an der negativen Bewertung des Mittels.76 Sogar die Behauptung, dass das Leben einen höheren Wert hat, widerspricht dem Means Principle, weil es nicht nur eine deontologische Einschränkung zum Konsequentialismus, sondern auch zum Paternalismus darstellt.77 Auf diese Weise schützt das Means Principle auch diejenigen, die nicht geheilt werden wollen. So ist es auch ein Verstoß gegen das Means Principle, eine andere Person zu zwingen, ihren Körper zum Nutzen einer Person zu benutzen, selbst wenn dies gute Konsequenzen nach sich ziehen würde. Und nicht nur bei einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit, die für den Tatbestand der Körperverletzungen charakteristisch ist, sondern auch im Hinblick auf mögliche psychologische Manipulationen und Täuschungen würde eine Verletzung des Means Principle vorliegen.78 Darüber sieht Hardwig hinweg, weil er die Rechtfertigung eines Arztes annimmt, der bei einem Patienten eine Bluttransfusion vornimmt, um sein Leben zu retten, ihm aber sagt, dass er ihm rotes Salzwasser einspritzt, weil er weiß, dass der Patient sonst die Behandlung ablehnen würde.79 Die von Hardwig angenommene Rechtfertigung beeinträchtigt das Means Principle, weil der Körper einer Person ohne ihre Einwilligung gebraucht wird, da die Einwilligung fehlerhaft ist. Der Kerngedanke ist, dass wir ohne unsere Einwilligung als Mittel nicht benutzt werden dürfen, weder zum Nutzen anderer noch zu unserem eigenen. Dies führt zu dem Schluss, dass eine konsequentialistische Ethik angewendet werden soll, solange diese Grenzen nicht überschritten werden. b) Ausnahmen vom Means Principle Wie jedes vernünftige Prinzip ist das Means Principle kein absoluter Grundsatz, sondern macht mehrere Ausnahmen von der von ihm vorgeschlagenen Grenze. Wie oben erwähnt, lehnt das Means Principle vor allem die Benutzung des Körpers, der Arbeit oder des Talents einer Person ohne Einwilligung ab. Folglich stellt die erste Ausnahme gerade den Fall dar, in dem die Person eingewilligt hat, als Mittel gebraucht zu werden.80 Eine solche Ausnahme bringt grundsätzlich keine Probleme bei den vorliegenden Fallkonstellationen. 76

Siehe auch Quong (Fn. 63), 177 f.; Walen, Law and Philosophy 2014, 427 (429). Alexander (Fn. 60), 255. 78 Scanlon, Moral Dimensions. Permissibility, Meaning, Blame, 2008, 113 ff. 79 Hardwig, GA 1965, 169. 80 Alexander (Fn. 60), 253; Quong (Fn. 63), 182; Scanlon (Fn. 78), 91. Auch Joerden (Fn. 1), 367, kommt in die Nähe dieser Gedanken. Er weist darauf hin, dass eine Operation ohne Einwilligung der Person eine Instrumentalisierung des Patienten darstellt, da sie gegen den Willen der Person durchgeführt wird. Er erläutert sogar, dass die Formel der Instrumentalisierung leicht auf die Arzt-Patienten-Beziehung übertragbar ist, da sich der kranke Patient in einer Situation der Ungleichheit gegenüber dem gesunden Arzt befindet und diese Situation Anlass zu Missbräuchen geben kann und es dem Arzt erlaubt, auch für den Patienten günstige heilende Eingriffe vorzunehmen, was eine Instrumentalisierung des Patienten darstellt. 77

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Die zweite Ausnahme wird bei besonderen Rechtsverhältnissen gemacht, wie z. B. bei Eltern, Polizeibeamten oder Feuerwehrmännern, die eine besondere Pflichtenstellung übernommen haben. Anschaulich wird dies im folgenden Fall: Vater: Patient P ist ein Unfallopfer und benötigt dringend einen halben Liter Blut mit einer ganz bestimmten seltenen Charakterisierung der Blutgruppe. Sein Vater V, der die benötigte Blutgruppe hat, ist auch im Krankenhaus. Aber der Vater des Patienten verweigert die lebensrettende Blutspende, obwohl er als Einziger die erforderliche Blutgruppe hat. Trotzdem nimmt der Arzt bei V zwangsweise die Transfusion vor und rettet den P. In der Verweigerung eines Vaters, durch eine Blutspende das Leben seines Kindes zu retten, liegt ein Verstoß gegen seine Garantenstellung und damit ein strafbares Verhalten durch Unterlassen81 vor. Die Begründung für diese Beschränkung des Rechts, nicht als Mittel behandelt zu werden, ist dieselbe wie bei der Einschränkung des allgemeinen Freiheitsrechts, die mit der Auferlegung einer Garantenstellung in diesen Fällen erfolgt, und kann daher hier beiseitegelassen werden. Unabhängig davon scheint klar, dass der Vater verpflichtet ist, seinen Körper zur Rettung seines Kindes benutzen zu lassen.82 Folglich verstößt das Benutzen dieses Vaters zur Rettung seines Kindes nicht gegen das Means Principle. Eine dritte Ausnahme wäre der Fall, wobei (a) der Täter, der für sein Verhalten bereits strafbar ist, zusätzlich als Mittel zur Herbeiführung guter Folgen eingesetzt werden soll. Ein Beispiel wäre der Fall der Folterung eines Straftäters, der einige Personen eingesperrt hat, um das Versteck dieser Geiseln zu erfahren. Einige argumentieren, dass der Täter moralisch dafür verantwortlich ist, gefoltert zu werden, wenn er das einzige Mittel ist, um Information zu erhalten83; oder (b), wenn jemand einen anderen in Gefahr gebracht hat, kann er rechtmäßig gezwungen werden, diese Gefahr abzuwenden, ohne dass dies gegen das Means Principle verstößt. Das bedeutet nicht, dass Folter ethisch oder rechtlich zulässig ist. Es bedeutet lediglich, dass in solchen Fällen das Means Principle nicht verletzt wurde. Aber das Means Principle soll nicht die einzige deontologische Einschränkung zur Herbeiführung guter Folgen sein. Insoweit könnte die Unanwendbarkeit des rechtfertigenden Notstands in diesen Fällen auf einem spezifischen Verständnis der Menschenwürde beruhen, das sich vom Instrumentalisierungsverbot unterscheidet; oder auf einem anderen Grund, der nicht unbedingt deontologischer Natur ist, sondern von Vernunft geprägt ist: das Problem der Beweisbarkeit der Schuld der verdächtigten Person, das „slippery slope“-Argu-

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Bejahend Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 9), Rn. 485; Rengier (Fn. 8), § 19 Rn. 61. Lassen wir hier die Frage beiseite, welche Grenzen sich aus dieser Garantenstellung ergeben würden. Insbesondere, ob ein Vater sich selbst sterben lassen sollte, um seinen Sohn zu retten. Siehe nur Alexander/Ferzan (Fn. 61), 66 ff. 83 Edmonds (Fn. 66), 44 ff. Näheres zu den verschiedenen deontologischen Lösungen siehe, a. a. O., 49; Tadros (Fn. 61), 129. 82

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ment, das entstehen würde, wenn ein solches Verhalten erlaubt ist, oder sogar der Bruch eines Tabus.84 Die letzte Ausnahme schließlich, die für den Fall Blutspende durchaus relevant ist, ist diejenige, die in Betracht kommt, wenn eine bestimmte ethische Schwelle überschritten wird:85 Selbst, wenn die deontologische Ethik vernünftige Grenzen setzt, scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass bestimmte Extremfälle eine Lockerung dieser Kriterien erlauben. Andernfalls käme es zu unvernünftigen Ergebnissen, die niemand ernsthaft vertreten kann. Zum Beispiel, wenn das Opfern einer Person eine Milliarde Leben retten würde86 oder wenn die gebrauchte Person nur einen minimalen Eingriff dulden müsste, um ein Leben zu retten. Am deutlichsten zeigt sich dies in dem Fall der erzwungenen Blutspende zur Rettung eines Schwerverletzen (bzw. Fall Blutspende). Obwohl der Betroffene nicht eingewilligt hat, stellt ein solcher Eingriff eine ungefährliche und nicht schwerwiegende Möglichkeit dar. Folglich ist das Means Principle nicht verletzt. In diesem Fall wird die deontologische Einschränkung zu Gunsten der guten Folgen verdrängt und diese ethische Einschränkung ist ausnahmsweise nicht mehr gültig.87 Der Grund dafür bezieht sich auf das Recht des Opfers, nicht als Mittel benutzt zu werden. Wie bereits betont wurde, ist das Means Principle ein deontologisches Prinzip, dessen Kern auch die Freiheit des Einzelnen ist. Dieses Recht auf Freiheit ermöglicht uns die Unabhängigkeit von anderen, das heißt, dass jedes Individuum wertvoll ist und keines mehr Wert besitzt als ein anderes, wie es auch der deontologische Grundsatz der deontologischen Grenzen zwischen Personen verlangt; zudem gibt es dem Menschen auch die Möglichkeit, seine Lebensgestaltung zu entwickeln. Auf diese Weise erhält jede Person eine faire Verteilung der Ressourcen. Aber diese Gerechtigkeit verlangt natürlich auch, dass wir nach außen hin eine faire Verteilung vornehmen. Denn wir haben zwar einen Anspruch darauf, nicht als Mittel benutzt zu werden, und umgekehrt haben andere nicht den Anspruch, einen als Objekt zu benutzen, es gibt aber Fälle, in denen unsere positive Pflicht, anderen zu helfen,88 im Vordergrund steht, wenn wir jemanden zu geringen eigenen Kosten retten können. Unter solchen Umständen verliert

84 Zu den Argumenten, die ein absolutes Verbot von Folter rechtfertigen könnten, ausführlich Greco, GA 2007, 628 ff. Siehe auch Hilgendorf, JZ 2004, 331 ff. Jüngst Hoven, ZIS 2021, 115 (116 ff.). 85 Alexander (Fn. 60), 257; Edmonds (Fn. 66), 50; Moore, Placing Blame, 1997, 719 ff. Ausführlich Alexander/Moore, Stanford Encyclopedia of Philosophy: https://plato.stanford. edu/entries/ethics-deontological/ (zuletzt abgerufen am 27. 8. 2022). 86 Tadros (Fn. 61), 128. 87 Alexander (Fn. 60), 257, 262. Ein Teil der deutschen Literatur kommt zu demselben Schluss, allerdings ohne detaillierte Begründung. Siehe Roxin/Greco (Fn. 8), § 16 Rn. 48. Diese Lösung wird jedoch in der Literatur viel diskutiert. Engländer kommt z. B. zu dem Schluss, dass bei dem Fall Organentnahme niemals eine Rechtfertigung nach § 34 StGB herangezogen werden kann, im Fall Blutspende aber schon. Siehe Engländer, StGB, § 34 Rn. 34; Joerden (Fn. 9), § 39 Rn. 56; Rengier (Fn. 8), § 19 Rn. 60. 88 Quong (Fn. 63), 208; Tadros (Fn. 61), 129.

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man den Anspruch darauf, nicht als Mittel benutzt zu werden, weil dies für einen anderen einen viel größeren Schaden bedeuten würde.89

IV. Ergebnis und Fazit Durch die deontologische Regel des Means Principle und die jeweiligen Ausnahmen wird die Kollision bzw. das Zusammenspiel zwischen Konsequentialismus und deontologischer Ethik anschaulich gezeigt. Der Anspruch auf Nichtbenutzung ist nicht immer absolut, sondern muss mit anderen Umständen abgewogen werden, wie z. B. beim Fall Blutspende. Wäre dieser Anspruch absolut, würden die meisten Menschen an der Verwirklichung ihrer Lebensgestaltung gehindert werden, da einige Handlungen zufällig anderen Schaden zufügen. Die Tatsache, dass das Opfer (minimal) geschädigt wird, um das Leben des Unfallopfers zu retten, soll sämtliche positiven Folgen, die durch die Tat erreicht werden, nicht sperren.90 Folglich wäre der Arzt nach § 34 StGB gerechtfertigt. Aber stellen wir uns die Variante eines Zeugen Jehovas vor, der die Bluttransfusion verweigert hat:91 In diesem besonderen Fall müsste die Person sich selbst keine „Mindestsolidarität“ schulden. Diese Ausnahme des Means Principle gilt also nicht, da die Grundlage dieser Grenze die Pflicht ist, einem anderen zu helfen, nicht sich selbst. So minimal der Eingriff (bloße Bluttransfusion) auch sein mag, besteht hier keine Pflicht zur Solidarität gegenüber anderen. Und das Gleiche gilt für den Fall Zwangsbehandlung: Hier ist festzustellen, dass der Arzt nicht nur deshalb gegen das Means Principle verstößt, weil er den Körper von Herrn B ohne dessen Einwilligung benutzt, um den Zweck, sein Leben zu retten, zu erreichen, sondern vor allem deshalb, weil er den Nutzen ausschließlich durch diese erzwungene Operation erhalten kann. Daher ist daraus zu schließen, dass die Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt werden kann, und der Arzt macht sich strafbar. In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass eine andere Alternative zur Konkretisierung von der Angemessenheitsklausel möglich ist, die sich von dem viel kritisierten Rückgriff auf die Menschenwürde unterscheidet: das Means Principle. Sicherlich ist noch ein weiter Weg zu gehen, aber zumindest wurde versucht, einen ersten Schritt zum Umdenken in dieser Problematik zu machen.

89 Edmonds (Fn. 66), 34; Quong (Fn. 63), 185 f. Zum Problem der Auferlegung positiver Pflichten im Falle des sicheren Todes siehe nur Hilgendorf (Fn. 65), 108 f.; Pawlik, JZ 2004, 1045 (1049 ff.). Dieses äußerst umstrittene Problem muss hier beiseitegelassen werden. 90 Quong (Fn. 63), 184 f. 91 Siehe beispielweise OLG München, 31. 1. 2002 – 1 U 4705/98: Keine Ersatzansprüche einer Zeugin Jehovas wegen Gabe von Blutkonserven, NJW-RR 2002, 811.

Zum alternativen Vorsatz aus rechtlicher und logischer Perspektive Überlegungen anlässlich BGH NJW 2021, 795 Brian Valerius

I. Herzlicher Dank und Einleitung Jan C. Joerden habe ich im Mai 2005 als einen der Gastgeber der Tagung der deutschsprachigen Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrer in Frankfurt (Oder) kennengelernt. Es war die erste ordentliche Strafrechtslehrerinnen- und -lehrertagung, an der ich – damals noch als frisch gebackener Habilitand – teilnehmen durfte und die mir nicht nur aus diesem Grund in besonderer Erinnerung verblieben ist. Einige Jahre später – zum Wintersemester 2009/10 – durfte ich nach Frankfurt (Oder) zurückkehren, um den Lehrstuhl von Jan C. Joerden für zwei Semester zu vertreten. Hierbei handelte es sich um meine erste Lehrstuhlvertretung und somit um eine weitere Premiere, bei der mich sämtliche strafrechtlichen Kolleginnen und Kollegen vor Ort wärmstens aufgenommen und betreut haben, so dass ich seitdem mit ihnen und mit der Viadrina herzlich verbunden bin. Mit der langjährigen Wirkungsstätte von Jan C. Joerden und auch mit ihm selbst verbinde ich somit viele erste Male und nicht wenige schöne Erfahrungen in meinem wissenschaftlichen Leben, für die ich ihm äußerst dankbar bin. Deshalb fühle ich mich sehr geehrt, an seiner Festschrift mitwirken zu dürfen. Zu den zahlreichen Fragestellungen, mit denen sich Jan C. Joerden in seinen Forschungsprojekten und wissenschaftlichen Veröffentlichungen auseinandergesetzt hat, zählt die Behandlung des sog. alternativen Vorsatzes. Sich gerade diesem Thema im Folgenden zu widmen, gibt nicht nur eine jüngere Entscheidung des BGH1 Anlass, sondern auch dessen nicht rein rechtliche Betrachtung durch den Geehrten, der sich dem alternativen Vorsatz nicht zuletzt mit rechtslogischen Überlegungen zugewendet hat.2 Mit logischen Strukturen habe ich mich während meiner Vertretungszeit in Frankfurt (Oder) – wiederum erstmals – näher beschäftigt, als ich die zweistündige Lehrveranstaltung des Jubilars „Logik für Juristen“ halten durf1

BGH NJW 2021, 795. Siehe nur Joerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, 1986, 43 ff.; ders., Logik im Recht, 3. Aufl. 2018, 30 ff.; ders., ZStW 95 (1983), 565 ff. (insb. 589 ff.); ders., GA 1984, 249 (254 ff.); ders., JZ 1990, 298. 2

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te. Nach einem zunächst etwas beschwerlichen Zugang habe ich die Logik als eigene Disziplin schnell schätzen gelernt und seitdem immer als gewinnbringend empfunden. Auch insoweit haben mich die Begegnungen mit Jan C. Joerden folglich bis heute geprägt.

II. Meinungsstand zum alternativen Vorsatz 1. Abgrenzung von alternativem und kumulativem Vorsatz Mit dem alternativen Vorsatz (dolus alternativus) werden Sachverhalte umschrieben, bei denen jemand erkennt, mit einer Handlung die Voraussetzungen mehrerer Strafvorschriften erfüllen zu können, hierbei aber davon ausgeht, nicht alle denkbaren Straftatbestände zugleich zu verwirklichen.3 Als Beispiel sei auf einen Fall verwiesen, in dem ein Täter einen größeren Stein auf den Hund seiner Nachbarin wirft, weil dieser andauernd lauthals bellt. Da die Nachbarin aber gerade ihren Hund streichelt, ist dem Täter bewusst, mit dem Stein ebenso seine Nachbarin verletzen zu können. Dass sowohl Hund als auch Nachbarin zugleich getroffen und verletzt werden, schließt er aber aus.4 Charakteristisch für derartige Sachverhalte ist somit, dass die handelnde Person zwar bezüglich sämtlicher in Betracht kommenden Straftatbestände (bedingt) vorsätzlich (oder auch mit Absicht) agiert, hierbei aber annimmt, nur entweder den einen oder den anderen (oder auch überhaupt keinen) Straftatbestand, nicht aber alle Delikte zugleich zu vollenden. Durch diesen Umstand unterscheiden sich Sachverhalte des alternativen Vorsatzes von Fällen des kumulativen Vorsatzes. Auch hier erkennt die oder der Handelnde zwar, mehrere Delikte begehen zu können. Es wird aber zumindest billigend in Kauf genommen, auch sämtliche Straftatbestände zugleich zu verwirklichen.5 In Abwandlung des soeben geschilderten Beispiels wäre etwa daran zu denken, dass der Täter zwei Steine auf einmal auf seine Nachbarin und deren Hund wirft und dabei davon ausgeht, auch beide treffen und verletzen zu können.6 Bei einem solchen kumulativen Vorsatz ist nach einhelliger Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum wegen sämtlicher (vollendeten bzw. versuchten) Straftatbestände in Tateinheit zu verurteilen, umfasst der Vorsatz der tatbegehenden Person 3 Siehe nur Hilgendorf/Valerius, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2022, § 4 Rn. 99; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2022, Rn. 403; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 5 Rn. 27a. 4 Beispiel in Anlehnung an Hilgendorf/Valerius (Fn. 3), § 4 Rn. 103; ähnliche Beispielsfälle bei Joecks/Kulhanek, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2020, § 16 Rn. 18; Otto, Grundkurs Strafrecht. Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 7 Rn. 22. Zu den verschiedenen Fallgestaltungen, die insoweit in der Regel diskutiert werden, Schmitz, ZStW 112 (2000), 301 (302). 5 Hilgendorf/Valerius (Fn. 3), § 4 Rn. 96. 6 Vgl. Hilgendorf/Valerius (Fn. 3), § 4 Rn. 97.

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doch gerade auch die Variante, alle Delikte zugleich zu begehen.7 Würde der Täter in der Abwandlung des Beispiels mit den beiden zugleich geworfenen Steinen sowohl die Nachbarin als auch deren Hund verletzen, wäre er demzufolge strafbar wegen (vollendeter) gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 StGB in Tateinheit mit (vollendeter) Sachbeschädigung gemäß § 303 Abs. 1 StGB. Sollte ein Ziel bzw. sollten sogar beide Ziele verfehlt werden, änderte dies nichts an der tateinheitlichen Begehung der genannten Delikte, die dann aber zum Teil bzw. jeweils lediglich versucht werden würden. 2. Die jüngere Entscheidung des BGH zum alternativen Vorsatz Äußerst umstritten ist hingegen die Behandlung des alternativen Vorsatzes, mit dem sich auch der BGH in einer Entscheidung vom 14. Januar 20218 – nach seiner Ansicht: erstmals9 – auseinandersetzen musste, so dass die diesbezügliche Diskussion wieder belebt wurde.10 In dem zugrunde liegenden Sachverhalt schlug der Angeklagte mit einem Hammer in Richtung zweier Personen, die unmittelbar hintereinander standen. Hierbei nahm es der Angeklagte billigend in Kauf, (genau) eine der beiden Personen zu treffen und zu verletzen. Die beiden konnten den Schlag jedoch so weit ablenken, dass lediglich die hintere Person getroffen und leicht am Kopf verletzt wurde.11 Nach Ansicht des BGH war der Angeklagte – übereinstimmend mit dem Landgericht in erster Instanz – wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit vollendeter gefährlicher Körperverletzung zu verurteilen. Der BGH betonte, dass es zunächst der Annahme von zwei (bedingten) Körperverletzungsvorsätzen nicht entgegenstehe, einen Erfolgseintritt nur bei einem der beiden Tatopfer für möglich gehalten zu haben.12 Abzulehnen sei dies nur, wenn einer der lediglich alternativ 7 Statt aller Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 15 Rn. 91; Vogel/Bülte, in: Cirener et al. (Hrsg.), LK, 13. Aufl. 2020 ff., § 15 Rn. 134; Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 2022, § 14 Rn. 54. 8 BGH NJW 2021, 795. 9 BGH NJW 2021, 796. Häufig werden hingegen auch die Entscheidungen BGH JZ 1990, 297, BGHSt 38, 353 und BGH NStZ 2009, 210 als Beispielsfälle für einen alternativen Vorsatz angesehen; siehe etwa Li, ZIS 2022, 27 (28); zu den ersten beiden Entscheidungen auch Schmitz, ZStW 112 (2000), 317 f. In den Entscheidungen wird aber jeweils nicht ausdrücklich angesprochen, ob der Angeklagte auch die Verwirklichung aller in Betracht kommenden Erfolge zugleich in Kauf genommen hat oder insoweit von sich wechselseitig ausschließenden Erfolge ausgegangen ist; so zur Entscheidung BGH JZ 1990, 297, deren Ergebnis aber selbst dann auf dem Boden der h. M. nicht konsequent erscheint (siehe hierzu Joerden JZ 1990, 298), auch BGH NJW 2021, 796. 10 Siehe nur die Anmerkungen von Grünewald, JZ 2021, 635, Mitsch, NJW 2021, 798, Roxin, JR 2021, 334 und Schuster, NStZ 2021, 422 sowie die Besprechungen bzw. Beiträge von Li, ZIS 2022, 27 und Schefer/Kemper, HRRS 2021, 173. 11 BGH NJW 2021, 795. 12 BGH NJW 2021, 795 f.

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herbeizuführenden Erfolge nach Vorstellung des Täters sicher eintrete und somit den Vorsatz bezüglich des anderen Erfolges denklogisch ausschließe.13 Sodann sei tateinheitlich wegen der jeweils vorsätzlich begangenen Delikte zu verurteilen, um das zum Nachteil aller Geschädigten verwirklichte Tatunrecht im Schuldspruch sicherzustellen und dessen Klarstellungsfunktion vollständig Rechnung zu tragen.14 Zu berücksichtigen bleibe auch, dass der Angeklagte durch die als möglich erkannte Verletzung eines weiteren Rechtsguts größere Tatschuld auf sich geladen habe als jemand mit dem Vorsatz, ausschließlich eines der betroffenen Rechtsgüter zu verletzen, mögen im Ergebnis auch beide davon ausgehen, dass allenfalls ein tatbestandsmäßiger Erfolg eintrete.15 3. Im Schrifttum vertretene Meinungen Die Ausführungen des BGH stehen auf einer Linie mit der im Schrifttum vorherrschenden Ansicht.16 Auch hiernach wird zunächst von einem Vorsatz bezüglich sämtlicher Straftatbestände ausgegangen, deren Verwirklichung die Täterin oder der Täter billigend in Kauf nimmt. Schließlich sei die Entscheidung der handelnden Person gegen mehrere Rechtsgutsobjekte oder Rechtsgutsträger gerichtet17 und entziehe sich die einzige Unsicherheit, welchen Tatbestand sie verwirkliche, ihrem Machtbereich.18 Die verwirklichten Straftatbestände stünden sodann in Tateinheit.19 Da in diesem Fall nur auf eine Strafe erkannt werde, die sich aus dem Gesetz mit der schwersten Strafe ergibt (§ 52 Abs. 1, Abs. 2 StGB), könnte den Besonderheiten des lediglich alternativen Vorsatzes ausreichend Rechnung getragen werden,20 die sich ohnehin generell bei der Strafzumessung berücksichtigen ließen.21 Zudem kommen in der

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BGH NJW 2021, 796. BGH NJW 2021, 795. 15 BGH NJW 2021, 795 unter Verweis auf S/S-Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, § 15 Rn. 91; kritisch Schefer/Kemper, HRRS 2021, 176 f. 16 Siehe etwa Joecks/Kulhanek, MK-StGB, § 16 Rn. 20; Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 5. Aufl. 2017, § 15 Rn. 115; Stein, in: Wolter (Hrsg.), SK-StGB, 9. Aufl. 2017, § 16 Rn. 58; S/S-Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, § 15 Rn. 91; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, Abschn. 8 Rn. 33; Rengier (Fn. 7), § 14 Rn. 58 ff.; Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 5. Aufl. 2020, § 12 Rn. 94. Ausführlich zum Meinungsstand Schmitz, ZStW 112 (2000), 303 ff. 17 S/S-Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, § 15 Rn. 91; Rengier (Fn. 7), § 14 Rn. 61; Schuster, NStZ 2021, 422 unter Vergleich mit der Konstellation der aberratio ictus. 18 Krey/Esser (Fn. 3), Rn. 404. 19 Siehe nur Joecks/Kulhanek, MK-StGB, § 16 Rn. 20; Jakobs (Fn. 16), Abschn. 8 Rn. 33; näher Puppe, NK-StGB, § 15 Rn. 116; Stein, SK-StGB, § 16 Rn. 60. 20 Roxin/Greco (Fn. 16), § 12 Rn. 94; kritsich Li, ZIS 2022, 33. 21 Puppe, NK-StGB, § 15 Rn. 116; Stein, SK-StGB, § 16 Rn. 58; S/S-Sternberg-Lieben/ Schuster, StGB, § 15 Rn. 91; Rengier (Fn. 7), § 14 Rn. 61; kritisch Schmitz, ZStW 112 (2000), 307. 14

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Praxis nach § 154a StPO die Abtrennung des versuchten Delikts und die Beschränkung der Verfolgung auf den vollendeten Straftatbestand in Betracht.22 Diesen Überlegungen wird insbesondere entgegengehalten, den alternativen und den kumulativen Vorsatz im Ergebnis unterschiedslos zu behandeln, sofern nur einer oder auch überhaupt keiner der vom Vorsatz erfassten Straftatbestände vollendet werde. Im Schuldspruch komme in diesen Fällen nicht zum Ausdruck, ob die oder der Handelnde davon ausgeht, höchstens einen der in Betracht kommenden Delikte oder aber auch beide Straftatbestände zugleich zu verwirklichen.23 Eine Meinungsgruppe folgert hieraus, nur einen einzigen Vorsatz berücksichtigen bzw. der tatbegehenden Person zurechnen zu können,24 der sich nach überwiegender Auffassung auf das schwerste Delikt beziehen soll.25 In dem Sachverhalt des BGH würde der Angeklagte daher lediglich wegen vollendeter gefährlicher Körperverletzung verurteilt werden. Ähnlich geht eine beachtliche vermittelnde Auffassung zwar den ersten Schritt der h. M. noch mit und bejaht den Vorsatz der bzw. des Handelnden bezüglich sämtlicher in Betracht gezogenen Delikte. Der als störend empfundenen Gleichbehandlung von alternativem und kumulativem Vorsatz soll jedoch an anderer Stelle begegnet werden. Vornehmlich wird vorgeschlagen, Tatbegehende auf Konkurrenzebene grundsätzlich nur aus dem Delikt mit dem größeren Unrechtsgehalt zu bestrafen. Sofern ein Taterfolg verwirklicht werde, sei deshalb wegen Vollendung des schwereren Delikts zu verurteilen; sollte hingegen jeglicher Taterfolg ausbleiben, bleibe der Versuch des schwereren Delikts übrig. Nur falls das leichtere Delikt vollendet werde, liege – um die Kongruenz von objektivem und subjektivem Tatbestand zu wahren – Tateinheit mit dem Versuch des schwereren Delikts vor.26 Nach einem anderen Ansatz soll die Alternativität des Vorsatzes im Schuldspruch berücksichtigt werden. Beziehe sich der Vorsatz auf ungleichwertige Objekte, sei demzufolge „wegen einander ausschließender Begehung“ von versuchter und vollendeter Tat zu bestrafen.27 Sofern sich der Vorsatz auf gleichwertige Objekte erstrecke, komme hingegen grundsätzlich nur die Verurteilung wegen einer (vollendeten oder versuchten) Tat in Be22 Joecks/Kulhanek, MK-StGB, § 16 Rn. 20; Schuster, NStZ 2021, 423; kritisch Li, ZIS 2022, 31. 23 Siehe nur Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 51. Aufl. 2021, Rn. 350; Schmitz, ZStW 112 (2000), 306; Silva-Sanchez, ZStW 101 (1989), 352 (379). 24 Duttge, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 2, 2020, § 35 Rn. 39; Vogel/Bülte, LK, § 15 Rn. 136; Kühl (Fn. 3), § 5 Rn. 27b; Silva-Sanchez, ZStW 101 (1989), 379 f.; siehe auch Lampe, NJW 1958, 332 (332). 25 So Vogel/Bülte, LK, § 15 Rn. 136; Kühl (Fn. 3), § 5 Rn. 27b; Otto (Fn. 4), § 7 Rn. 23; kritisch Schmitz, ZStW 112 (2000), 309 f. Zu weiteren Ansätzen Vogel/Bülte, LK, § 15 Rn. 136; Joerden, Logik (Fn. 2), 33 f.; Schmitz, ZStW 112 (2000), 308 ff. 26 Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 23), Rn. 351 ff. mit der Annahme von Tateinheit auch für den Fall, dass höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Rechtsgutsträger betroffen sind; ebenso im Ergebnis Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2019, Rn. 294. 27 Schmitz, ZStW 112 (2000), 323 ff.

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tracht.28 Auch nach diesen beiden Ansichten wäre der Angeklagte in dem vom BGH kürzlich entschiedenen Fall allein wegen vollendeter gefährlicher Körperverletzung strafbar. Dieses Meinungsbild spiegelt sich im Wesentlichen auch in den Anmerkungen und Besprechungen zur jüngeren Entscheidung des BGH wider. So sind einerseits zustimmende Kommentare zu verzeichnen, die sich jedenfalls im Ergebnis ebenso für eine Tateinheit von vollendetem und versuchten Delikt aussprechen29 und die Gleichsetzung von alternativem und kumulativem Vorsatz auf der Rechtsfolgenseite vermeiden wollen.30 Andererseits sind gegen einen mehrfachen Vorsatz auch wegen der daraus resultierenden Gleichbehandlung von alternativem und kumulativem Vorsatz Bedenken zu vernehmen31 und wird stattdessen nur von einem einzigen Vorsatz ausgegangen.32 Denn der Vorsatz müsse immer die Vollendung der Tat erfassen, was bei einer mit lediglich alternativem Vorsatz handelnden Person nur in Bezug auf ein einziges Opfer zu bejahen bleibe.33 Zum Teil werden schließlich auch hier zwar mehrerer Vorsätze anerkannt, wird aber sodann eine Lösung auf Konkurrenzebene erwogen, sofern der Unrechts- und Schuldgehalt einer mit alternativem Vorsatz begangenen Handlung vollständig durch das schwerere Delikt abgebildet wird.34 Dies gelte etwa für den Fall eines Schusses mit Tötungsvorsatz in eine Menschenmenge, und zwar unabhängig davon, ob ein Mensch getroffen werde oder nicht. Dass höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Personen betroffen seien, führe nicht zu einer größeren Tatschuld der oder des Handelnden.35 Nur wenn das leichtere Delikt vollendet werde, sei eine tateinheitliche Verurteilung mit dem Versuch des schwereren Delikts erforderlich, um den Unrechtsgehalt eindeutig im Schuldspruch abzubilden.36 4. (Rechtliche wie logische) Überlegungen des Geehrten Auch und nicht zuletzt Jan C. Joerden hat sich mit dem alternativen Vorsatz wiederholt auseinandergesetzt.37 In dieser Konstellation mit der h. M. bezüglich sämtlicher Straftatbestände von einem vorsätzlichen Handeln auszugehen, sei abzulehnen, weil dann der dolus alternativus in der Sache und auch im Ergebnis wie der dolus

28

Schmitz, ZStW 112 (2000), 324 ff. Roxin, JR 2021, 334, der die Gegenmeinung sogar für „unvertretbar“ hält. 30 Grünewald, JZ 2021, 636; Schuster, NStZ 2021, 423. 31 Schefer/Kemper, HRRS 2021, 174 f. 32 Mitsch, NJW 2021, 799; Schefer/Kemper, HRRS 2021, 174 ff. 33 Mitsch, NJW 2021, 799; siehe schon Lampe, NJW 1958, 332 Fn. 11. 34 Li, ZIS 2022, 31 f. 35 Li, ZIS 2022, 33. 36 Li, ZIS 2022, 34. 37 Siehe bereits die Nachweise in Fn. 2. 29

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cumulativus behandelt werden würde.38 Sollte etwa ein Täter in eine Menschenmenge von 1.000 Personen einen Schuss abgeben, um eine beliebige Person aus der Menge zu töten, es aber zugleich ausschließen, mehr als eine Person zu töten, wären dem Täter ansonsten 1.000 Tötungsvorsätze zuzurechnen und wäre er – sofern er tatsächlich eine Person tötet – wegen eines vollendeten Totschlags in Idealkonkurrenz mit 999 Totschlagsversuchen zu verurteilen.39 Eine Gleichbehandlung von alternativem und kumulativem Vorsatz erst auf der Konkurrenzebene zu vermeiden, erteilt Joerden eine Absage, weil es sich bei den Fällen des dolus alternativus um ein Zurechnungsproblem handele und mit dem Ausweichen auf die Konkurrenzebene lediglich das Rechtsgefühl zufrieden gestellt werden solle.40 Er ist daher – in Einklang mit einer der dargelegten Auffassungen im Schrifttum – der Ansicht, dass bei einem dolus alternativus nur ein einziger Vorsatz zugerechnet werden könne.41 Vorzugswürdig sei hierbei, den Vorsatz bezüglich des schwereren Straftatbestandes anzunehmen, während bezüglich des leichteren Tatbestands allenfalls Fahrlässigkeit in Betracht komme.42 Zur Begründung beruft sich der Jubilar nicht zuletzt auf logische Vorüberlegungen, indem er in Anlehnung an Instrumentarien und Begrifflichkeiten der Aussagenlogik dyadische Fallsysteme heranzieht, um sämtliche verschiedenen Vorstellungen der oder des Handelnden in Bezug auf das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen der beiden denkbaren Sachverhalte übersichtlich in einer Tafel darzustellen.43 In Bezug auf die folglich vier möglichen Kombinationen (1) Vorliegen von Sachverhalt 1 und von Sachverhalt 2, (2) Vorliegen nur von Sachverhalt 1 bei Nichtvorliegen von Sachverhalt 2, (3) Vorliegen nur von Sachverhalt 2 bei Nichtvorliegen von Sachverhalt 1 sowie (4) Nichtvorliegen von Sachverhalt 1 und von Sachverhalt 2 bestehen hierbei jeweils die beiden Optionen, dass die tatbegehende Person sich diese als möglich (in der Tafel vermerkt durch ein „+“) oder als nicht möglich (gekennzeichnet durch ein „-“) vorstellt.44 Insgesamt existieren somit 24 = 16 verschiedene Konstellationen.45 Aus dieser Übersicht ergibt sich, dass die oder der Handelnde 38

Joerden, Logik (Fn. 2), 31. Joerden, Logik (Fn. 2), 32. 40 Joerden, Logik (Fn. 2), 31. 41 Joerden, Dyadische Fallsysteme (Fn. 2), 60 ff.; ders., Logik (Fn. 2), 33; ders., ZStW 95 (1983), 589 ff.; ders., JZ 1990, 298. 42 Joerden, Dyadische Fallsysteme (Fn. 2), 63 ff.; ders., Logik (Fn. 2), 33 ff.; ders., ZStW 95 (1983), 594 ff. 43 Joerden, Logik (Fn. 2), 24 ff.; ders., ZStW 95 (1983), 567 ff.; allgemein zum Strukturproblem der Verdoppelung Joerden, Logik (Fn. 2), 23 ff.; ders., GA 1984, 252 ff. 44 Joerden, Logik (Fn. 2), 24 f.; ders., ZStW 95 (1983), 567. 45 Siehe die Tafel bei Joerden, Logik (Fn. 2), 26; vgl. auch schon ders., ZStW 95 (1983), 570. 39

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in den Fällen des dolus cumulativus es jeweils als möglich ansieht, beide Sachverhalte zugleich zu verwirklichen. Bezüglich aller anderen denkbaren Tatabläufe, d. h. des Vorliegens nur eines der beiden Sachverhalte oder auch keines der beiden Sachverhalte, kann sich seine Vorstellung hingegen durchaus unterscheiden und kann die tatbegehende Person folglich den Eintritt dieser Kombinationen als sicher, als lediglich möglich oder auch als unmöglich ansehen.46 Der alternative Vorsatz zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass die oder der Handelnde es nicht als möglich befindet, er es vielmehr ausschließt, beide Sachverhalte zugleich zu verwirklichen, die er lediglich alternativ für realisierbar erachtet. Ob er es als möglich ansieht, dass auch keiner der Sachverhalte realisiert wird, oder er davon ausgeht, zumindest einen der beiden Sachverhalte zu verwirklichen, ist unerheblich.47 Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Vorsatzformen besteht somit ausweislich der Tafel darin, dass beim kumulativen Vorsatz bei der Kombination „Vorliegen von Sachverhalt 1 und von Sachverhalt 2“ ein „+“ steht, beim alternativen Vorsatz hingegen ein „-“. Bei den verbleibenden drei Kombinationen hingegen sind verschiedene Vorstellungsbilder der mit kumulativem bzw. alternativen Vorsatz handelnden Person denkbar, die insoweit durchaus auch übereinstimmen können.

Quelle: Joerden, Logik (Fn. 2), 26. Die Spalten 1 bis 8 geben Konstellationen des dolus cumulativus wieder, die Spalten 9 und 10 beschreiben Fälle des dolus alternativus.

III. Stellungnahme 1. Wesentliche Unterschiede zwischen alternativem und kumulativem Vorsatz und Erweiterung der Vergleichsgruppen Auch rechtslogische Überlegungen unterstreichen folglich, dass sich die Vorstellung der oder des Handelnden bei alternativem und bei kumulativem Vorsatz nicht 46 47

Joerden, Logik (Fn. 2), 26 ff., 30 f. Joerden, Logik (Fn. 2), 29, 31.

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unerheblich unterscheidet. Die übliche Gegenüberstellung dieser beiden Fallgruppen in der Diskussion verklärt indessen, dass – wie sich auch aus der Übersicht der verschiedenen Konstellationen in der abgebildeten Tafel ergibt – im Hinblick auf zwei Straftatbestände nicht nur mit (kumulativem oder alternativem) Vorsatz bezüglich sämtlicher Delikte gehandelt werden, sondern dass ebenso in Bezug auf das eine oder andere (oder auch in Bezug auf beide Delikte) der Vorsatz fehlen und allenfalls von Fahrlässigkeit ausgegangen werden kann. Der BGH hat dies in seiner bereits wiedergegebenen Begründung angerissen, indem seiner Ansicht nach eine größere Tatschuld auf sich lädt, wer nicht nur einen einfachen Tatvorsatz aufweist, sondern die Verwirklichung alternativer Tatbestände in Betracht zieht.48 Wegen der Konzentration auf den alternativen Vorsatz wird ebenso nur selten aufgegriffen, dass die Vorstellungen der die Tat begehenden Person nicht mit der Realität übereinstimmen müssen. Für eine umfassende Betrachtung der Problematik bietet es sich somit an, auch den Sachverhalt rechtlich zu beurteilen, in dem abweichend vom lediglich alternativen Vorsatz beide im Raum stehenden Straftatbestände vollendet werden. Dies liegt schon deswegen nahe, weil ein solches Geschehen der Vorstellung der oder des mit kumulativem Vorsatz Handelnden entspricht, der oder die stets als Vergleichsperson bemüht wird. Auch um den Einwand zu überprüfen, dass die h. M. alternativen und kumulativen Vorsatz jedenfalls im Ergebnis gleichbehandelt, darf der Blick nicht auf nur eine der möglichen Fallgestaltungen verengt werden. Die demzufolge zu erweiternde Perspektive hat auch schon Joerden selbst angelegt, indem er ausdrücklich den Fall erwähnte, dass wider Erwarten eines mit alternativem Vorsatz agierenden Täters mehrere Tatbestände vollendet werden.49 Freilich sah er in diesem Vergleich ein unterstützendes Argument für seine eigene Ansicht, sei doch in einer solchen Irrtumskonstellation nach der h. M. der mit alternativem Vorsatz handelnde Täter konsequenterweise wegen tateinheitlich verwirklichter vollendeter Delikte zu verurteilen.50 2. Vorsatz a) Doppelung des Vorsatzes bei alternativem Vorsatz? Um sich mit diesem Einwand und mit den sonst eher vernachlässigten Fallgruppen im Allgemeinen auseinanderzusetzen, gilt es zunächst zu klären, ob bei einem alternativen Vorsatz überhaupt von mehreren Vorsätzen ausgegangen werden kann. Zumindest bei separater Würdigung jedes einzelnen Straftatbestandes, dessen Verwirklichung die handelnde Person jeweils in Betracht zieht, lässt sich indessen, jedenfalls bei einem psychologischen Verständnis, schwerlich ein Vorsatz vernei48

Siehe die Nachweise in Fn. 15. Joerden, Dyadische Fallsysteme (Fn. 2), 56 ff.; ders., Logik (Fn. 2), 32; ders., ZStW 95 (1983), 583 ff. 50 Joerden, Dyadische Fallsysteme (Fn. 2), 56 f.; ders., Logik (Fn. 2), 32; ders., ZStW 95 (1983), 584 f.; ebenso Stein, SK-StGB, § 16 Rn. 58. 49

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nen.51 Verbleibende Unsicherheiten, ob der einzelne Straftatbestand tatsächlich vollendet wird, stehen mangels demzufolge sicherer Kenntnis lediglich dem dolus directus zweiten Grades entgegen, nicht hingegen der Annahme eines bedingten Vorsatzes (oder sogar auch von Absicht). Dass diese Ungewissheiten bei der Konstellation des alternativen Vorsatzes auf dem spezifischen Umstand beruhen, dass auch ein zweiter Straftatbestand im Raum steht, bei dessen Verwirklichung nach der Vorstellung der handelnden Person der erste Straftatbestand nicht vollendet werden kann, vermag den diesbezüglichen Vorsatz somit nicht auszuschließen. Selbst in dem von Joerden genannten Extrembeispiel eines einzigen Schusses eines Täters in eine Menschenmenge von 1.000 Personen erstreckt sich daher der Tötungsvorsatz durchaus auf jede einzelne Person. So lässt sich etwa schwerlich ablehnen, dass der Täter nicht um die mögliche Tötung gerade des tatsächlich tödlich getroffenen Menschen gewusst und dessen Tod nicht zumindest billigend in Kauf genommen habe. Fraglich kann daher allenfalls sein, ob bei der Tat insgesamt nur von einem einzigen Vorsatz ausgegangen werden kann, weil die bzw. der Handelnde in Bezug auf die in Betracht kommenden Straftatbestände von einem Entweder-oder-Verhältnis ausgeht und daher eine Strafbarkeit wegen vollendeter und zugleich versuchter Tat nicht angebracht erscheint. Einer solchen Wertung steht aber unter anderem entgegen, dass es für eine Versuchsstrafbarkeit gerade genügt, seinen „verbrecherischen Willen“ zu betätigen und dadurch – mangels Vollendung der Tat – das durch ein Verletzungsdelikt geschützte Rechtsgut zu gefährden.52 Auch aus Sicht der durch ein solches Verhalten mit alternativem Vorsatz gefährdeten Personen erscheint es nicht verständlich, dass ihnen gegenüber keine Straftat begangen worden sein soll, weil ein (anderes) Opfer tatsächlich verletzt wurde. Ohnehin stellte sich bei der Anerkennung nur eines einzigen zurechenbaren Vorsatzes die Frage, welchen (einzigen) Vorsatz der Täter dann aufweisen soll. Insoweit vermögen aber sämtliche denkbaren Bezugspunkte, seien es der vollendete, der schwerste oder auch der leichteste Straftatbestand, nicht zu überzeugen und erscheint jeder dieser Vorschläge letztlich als beliebig.53 Dass sich nach der Vorstellung der tatbegehenden Person nur eine der von ihm verursachten Gefährdungen zu realisieren vermag, steht folglich nur der Zurechnung eines zweifachen Verletzungserfolges und somit tateinheitlich begangener vollendeter Delikte entgegen, nicht hingegen einer tateinheitlichen Verwirklichung von Versuch und Vollendung.54

51

Hierzu etwa auch Li, ZIS 2022, 29 ff. Zur Diskussion um den Strafgrund des Versuchs etwa Hoffmann-Holland, MK-StGB, § 22 Rn. 3 ff.; Kudlich, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 3, 2021, § 57 Rn. 7 f.; Murmann, LK, Vor §§ 22 ff. Rn. 56 ff. 53 Zu den Kritikpunkten etwa Roxin/Greco (Fn. 16), § 12 Rn. 94; Grünewald, JZ 2021, 636; Roxin, JR 2021, 334. 54 Siehe auch Roxin, JR 2021, 334. 52

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b) Gleichbehandlung von kumulativem und alternativem Vorsatz? Jenseits der Schwierigkeiten, einen plausiblen Anknüpfungspunkt für den postulierten einzigen zurechenbaren Vorsatz zu finden, ist aber nicht zuletzt zu bemerken, dass der Haupteinwand gegen die h. M., kumulativen und alternativen Vorsatz gleich zu behandeln, jedenfalls in dieser Allgemeinheit nicht verfängt. Zwar wird bei einer tateinheitlichen Verurteilung wegen vollendeter und versuchter Tat der oder die mit alternativem Vorsatz Handelnde in der Tat ebenso bestraft wie jemand, der mit kumulativem Vorsatz agiert. Der Schuldspruch ist aber nur dann identisch, wenn nur einer der beiden Straftatbestände verwirklicht wird. In dieser Konstellation mit der Gegenansicht die mit alternativem Vorsatz agierende Person lediglich wegen vollendeter Tat zu bestrafen, hätte aber wiederum eine Gleichbehandlung mit deroder demjenigen zur Folge, die oder der von vornherein davon ausgeht, allein diesen Straftatbestand zu verwirklichen. Diese unterschiedslose Beurteilung erscheint aber mit dem BGH55 ebenso wenig gerechtfertigt, nimmt jemand, der mit alternativem Vorsatz bezüglich zweier Straftatbestände handelt, doch die Beeinträchtigung auch eines anderen Rechtsguts zumindest billigend in Kauf. Schon diese Erweiterung der Vergleichsgruppen offenbart, dass die in Bezug auf diese (einzige) Konstellation als ungerechtfertigt empfundene Gleichbehandlung als solche kein überzeugendes Argument ist, der mit (immerhin) alternativem Vorsatz agierenden Person nur einen einzigen Vorsatz zuzurechnen. Dass die Gleichbehandlung von kumulativem und alternativem Vorsatz in dem soeben beschriebenen Fall aber sogar durchaus berechtigt ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass sich hier der Sachverhalt genauso abspielt, wie sich dies der oder die mit alternativem Vorsatz Handelnde vorstellt. Hingegen bleibt die Vorstellung der mit kumulativem Vorsatz agierenden Person zu Teilen unrealisiert, weil sie eben nur einen statt zweier Straftatbestände verwirklicht. Diese übereinstimmende Beurteilung endet aber, sobald dieses Vorstellungsbild vollständig umgesetzt wird und beide Straftatbestände vollendet werden. Dann ist nur wegen zweier tateinheitlich vollendeter Taten zu verurteilen, wer mit kumulativem Vorsatz handelt, während die mit alternativem Vorsatz handelnde Person lediglich wegen einer vorsätzlich in Tateinheit mit einer fahrlässig vollendeten Tat strafbar ist. Von einem Vorsatz bezüglich beider Taten ist hier nicht auszugehen, weil die Verwirklichung beider Straftatbestände zugleich von der Vorstellung der bzw. des Handelnden abweicht und dieser Irrtum über den Kausalverlauf als wesentlich und folglich vorsatzausschließend anzusehen bleibt.56 Ansonsten würde – insoweit übereinstimmend mit Joerden – dem Täter mehr vorgeworfen, als er eigentlich gewollt hat.57 Zu entscheiden bleibt noch, in Bezug auf welchen Straftatbestand Vorsatz anzunehmen ist. Um die mit alternativem Vorsatz handelnde Person nicht gegenüber der- oder demjenigen zu privilegie55 56

32 f. 57

Siehe erneut die Nachweise in Fn. 15. Siehe etwa Jakobs (Fn. 16), Abschn. 8 Rn. 33 Fn. 73; kritisch Joerden, Logik (Fn. 2), Vgl. Joerden, Logik (Fn. 2), 32; siehe auch schon ders., ZStW 95 (1983), 584 f.

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ren, die oder der nur die Verwirklichung des schwereren Straftatbestandes in den Vorsatz aufgenommen hat und bezüglich des anderen von vornherein lediglich mit Fahrlässigkeit handelt, bietet es sich an, von einer vorsätzlichen Vollendung des schwereren Delikts auszugehen. 3. Konkurrenzen Im Hinblick auf den erweiterten Vergleich von alternativem und kumulativem Vorsatz und die somit aufgezeigte, gerade nicht durchweg identische Behandlung dürfte sich auch das Bedürfnis erübrigen, nach Lösungen auf der Konkurrenzebene zu suchen. Mit Joerden ist nochmals zu betonen, dass die insoweit vertretenen Ansätze in der Tat eher dem Rechtsgefühl Rechnung tragen sollen,58 was aber nach den vorstehenden Ausführungen als nicht mehr notwendig erscheint. Ohnehin spricht mit dem BGH die Klarstellungsfunktion der Tateinheit für eine tateinheitliche Verwirklichung sämtlicher (alternativ) vom Vorsatz erfassten vollendeten bzw. versuchten Delikte.59 Ansonsten käme im Schuldspruch – auch im Vergleich zu jemandem, dessen Vorsatz sich nur auf den tatsächlich eingetretenen Erfolg erstreckt – nicht zum Ausdruck, dass die oder der mit alternativem Vorsatz Handelnde auch mit der Verwirklichung des nicht vollendeten Straftatbestandes rechnete. Diese Überlegungen gelten jedenfalls für die Konstellation, in der jemand verschiedene Personen in ihrer körperlichen Unversehrtheit verletzen will. Dass die Mehrzahl der Opfer ein nicht unwesentlicher Aspekt sein könnte, hat der BGH in seiner jüngeren Entscheidung selbst angedeutet, indem er seine Ausführungen schon nach dem Leitsatz seines Urteils „auf die Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter verschiedener Rechtsgutsträger“ beschränkt hat.60 Fälle des alternativen Vorsatzes existieren aber etwa auch im Bereich der Vermögensdelikte. Dies gilt etwa für jemanden, der sich auf betrügerische Weise bereichern will, hierbei aber nicht weiß, ob ein Mensch oder ein Computer die durch Manipulation herbeigeführte Vermögensverfügung zu verantworten hat, so dass unklar bleibt, ob er die Voraussetzungen eines Betrugs gem. § 263 StGB oder eines Computerbetrugs gem. § 263a StGB erfüllt. So kann ein gefälschter Überweisungsträger durch eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter der Bank kontrolliert oder auch automatisch durch ein Belegerfassungssystem auf seine Echtheit überprüft werden.61 In diesem Fall wird einhellig davon ausgegangen, dass – sollte einer der beiden in Betracht kommenden Tatbestände tatsächlich verwirklicht werden – nur wegen dieser vollendeten Tat zu bestrafen ist und der Versuch des anderen Delikts subsidiär zurücktritt, weil das durch Betrug und 58

Siehe Fn. 40. Siehe Fn. 14. 60 BGH NJW 2021, 795. 61 Siehe etwa Valerius, LK, § 263a Rn. 120; siehe auch Puppe, NK-StGB, § 15 Rn. 115, mit dem Beispiel des Antragstellers in einem Mahnverfahren, der nicht weiß, ob sein unzutreffender Antrag elektronisch oder manuell bearbeitet wird. 59

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Computerbetrug verwirklichte Unrecht gleichwertig sei.62 Für dieses Ergebnis spricht zudem, dass sich der Vorsatz jeweils auf einen identischen Taterfolg in Gestalt eines Vermögensschadens bei ein und derselben verletzten Person erstreckt und sich lediglich im Hinblick auf die hierzu führenden Wege als alternativ erweist. Daher bedarf es keiner klarstellenden tateinheitlichen Verurteilung, um das durch eine solche Manipulation begangene Unrecht zu erfassen.

4. Eine abschließende kurze logische Betrachtung Abschließend bleibt noch zu überprüfen, ob das hier gefundene Ergebnis auch einer Betrachtung aus dem Blickwinkel der (Rechts-)Logik standhalten oder insoweit sogar unterstützt werden kann. Wie bereits dargelegt, zeigt die von Jan C. Joerden erstellte Tafel sämtliche verschiedenen Konstellationen auf und wird dadurch auch der Unterschied zwischen dem alternativen und dem kumulativen Vorsatz veranschaulicht. Er besteht darin, dass nur eine mit kumulativem Vorsatz handelnde Person davon ausgeht, von zwei im Raum stehenden Sachverhalten beide zugleich zu verwirklichen. Lediglich bezüglich der ersten Kombination „Vorliegen von Sachverhalt 1“ und „Vorliegen von Sachverhalt 2“ weichen somit zwingend die Vorstellungsbilder von alternativem und kumulativem Vorsatz ab, nicht notwendigerweise hingegen bezüglich der anderen denkbaren Kombinationen, namentlich „Vorliegen von Sachverhalt 1“ und „Nichtvorliegen von Sachverhalt 2“, „Nichtvorliegen von Sachverhalt 1“ und „Vorliegen von Sachverhalt 2“ und „Nichtvorliegen von Sachverhalt 1“ und „Nichtvorliegen von Sachverhalt 2“. Welche Konsequenzen aus diesem mit Mitteln der Logik verdeutlichten Umstand gezogen werden, bleibt sodann eine rechtliche Frage und bedarf einer eigenen Würdigung. Anhand der Tafel lässt sich somit nicht unmittelbar beantworten, ob infolge des Unterschieds zum kumulativen Vorsatz eine lediglich mit alternativem Vorsatz handelnde Person wegen der Vollendung bzw. des Versuchs nur eines oder auch beider Sachverhalte zu bestrafen ist und ob die Lösung bereits beim Vorsatz oder erst auf Konkurrenzebene anzusiedeln ist. Zudem ist zu berücksichtigen, dass sich alternativer und kumulativer Vorsatz zwingend nur bei der Kombination „Vorliegen von Sachverhalt 1“ und „Vorliegen von Sachverhalt 2“ unterscheiden. Dies könnte es – auch bei der notwendigen Gesamtbetrachtung sämtlicher Konstellationen des durch die Tafel abgebildeten Fallsystems – nahelegen bzw. dürfte es jedenfalls nicht ausschließen, nur dann zu einer abweichenden Beurteilung von mit alternativem bzw. kumulativem Vorsatz Handelnden zu gelangen, wenn tatsächlich beide Sachverhalte verwirklicht werden. Sofern hingegen lediglich einer oder auch überhaupt keiner der beiden Sachverhalte vorliegt, differieren diesbezüglich die Vorstellungsbilder von Personen mit alternativem bzw. kumulativem Vorsatz nicht zwingend und erscheint somit eine unterschiedliche rechtliche Behandlung ebenso wenig als notwendig. 62

Siehe nur Kindhäuser, NK-StGB, § 263a Rn. 38; Valerius, LK, § 263a Rn. 120.

III. Besonderer Teil des Strafrechts

Kriminalisierung des Missbrauchs von Intimbildern im Common Law Eine rechtsvergleichende Betrachtung Thomas Crofts1

I. Einleitung Das Strafrecht ist das schärfste Instrument der sozialen Kontrolle. Die Strafrechtswissenschaft hinterfragt die Grundlagen, nach denen entschieden wird, welche Verhaltensweisen kriminalisiert und wie angemessene Sanktionen festgelegt werden. Es waren derlei Fragen, die meine Neugier auf die gesellschaftsformende Rolle des Strafrechts weckten. Während meines Studiums in England und Deutschland wurde mir bewusst, dass vergleichbare gesellschaftliche Probleme in ähnlichen Rechtsordnungen oft unterschiedlich geregelt sind. Mein Interesse an der Strafrechtsvergleichung konnte ich zu Beginn meiner akademischen Laufbahn als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, unter Leitung von Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Joerden, nachgehen. Während meiner Promotion in Frankfurt (Oder) und darüber hinaus hat Herr Joerden meine vergleichenden Arbeiten über Fragen der Kriminalisierung und der strafrechtlichen Verantwortung immer wieder gefördert und unterstützt. Dafür möchte ich ihm mit diesem Beitrag meinen herzlichen Dank aussprechen und zugleich ein aktuelles Beispiel für ein Verhalten näher untersuchen, das in jüngster Zeit in vielen Rechtsordnungen unter Strafe gestellt wurde. Es handelt sich um den Missbrauch von Bildern intimen Inhalts oder, wie es in der englischsprachigen Welt nicht unproblematisch heißt, um „revenge pornography“2 (Rachepornografie).

1 Ich bedanke mich herzlich bei Frau Marianne Freiin von Blomberg und Herrn Professor Dr. Normann Witzleb für die Übersetzung dieses Beitrages. Diese Veröffentlichung wurde mit finanzieller Unterstützung aus dem Hong Kong General Research Fund, Project No. CityU 11606621, erstellt. 2 Der Begriff „Rachepornografie“ wurde als zu eng kritisiert, weil nicht alle Täter aus Rache handeln und nicht alle Inhalte als pornografisch anzusehen sind. Siehe dazu Gregory, Porn Studies 2015, 243; McGlynn/Rackley/Houghton, Feminist Legal Studies 2017, 25; Powell/Henry, Sexual Violence in a Digital Age, 2017, 119.

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Thomas Crofts

Der Begriff „Missbrauch von Intimbildern“ bezeichnet eine Reihe unterschiedlicher Verhaltensweisen. Der engere Begriff „Rachepornografie“ bezieht sich auf die nicht einvernehmliche Verbreitung von Intimbildern nach Ende einer romantischen Beziehung, die zumeist in gegenseitigem Einvernehmen aufgenommen wurden. Intimbilder können auch durch Nötigung während einer Beziehung aufgenommen werden und die Androhung der Verbreitung kann als Mittel eingesetzt werden, um sexuelles Verhalten zu erzwingen oder die Zwangskontrolle in einer missbräuchlichen Beziehung aufrechtzuerhalten.3 Intimbilder werden mitunter auch aus Spaß unter Freunden oder zum Flirten mit neuen Bekanntschaften ausgetauscht. Vielfach werden solche Bilder auf Dating-Webseiten und -Apps hochgeladen, wo sie dann als elektronische Dateien zur Verfügung stehen und mit Leichtigkeit anderen zur Verfügung gestellt werden können. Diese Weiterverbreitung kann, muss aber nicht, mit bösartigen Absichten verbunden sein. Die Beweggründe sind vielfältig und reichen von Gedankenlosigkeit, über das Prahlen oder Aufzeigen des „Typs“, an dem eine Person interessiert ist, bis hin zur Absicht, einen anderen zu verspotten, zu demütigen oder sich an ihm zu rächen. Der Hauptfall des „Missbrauchs von Intimbildern“ ist die Aufnahme und Verbreitung von Bildern ohne Zustimmung. Dazu gehören auch Fälle, in denen die Bilder unbefugt erlangt werden, z. B. durch Hacken privater Computer oder Handys. Zudem kann auch das sog. „Upskirting“ oder „Downblousing“ als Missbrauch angesehen werden, also das Aufnehmen von Bildern unter dem Rock oder der Bluse einer Frau ohne ihre Zustimmung, oftmals an öffentlichen Orten.4 Bilder von Sexualdelikten, etwa von einem sexuellen Übergriff oder einer Vergewaltigung, sind ein weiteres Beispiel. Dazu ist in neuerer Zeit die Manipulation eines existierenden Intimbildes hinzugekommen, bei der durch Bildbearbeitung der Kopf einer Person auf das Bild des Körpers einer anderen Person montiert wird. Einhergehend mit neuen Erkenntnissen über die Schäden, die durch den Missbrauch von Intimbildern entstehen können, und einer weiterhin rasanten technologischen Entwicklung, mit der die Gesetzgebung oft kaum Schritt hält, beginnen Rechtsordnungen, ihre Herangehensweisen zu vergleichen. Neue Strafgesetze werden eingeführt und bestehende Gesetze daraufhin geprüft, ob sie das Spektrum des Missbrauchs von Intimbildern angemessen abdecken. Innerhalb des Rechtsraums des Common Law findet sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesetzgebung ein recht reger Austausch über Reformvorhaben in diesem Bereich statt, wenn die verschiedenen Rechtsordnungen auch unterschiedlich schnell auf die sich ergebenden Herausforderungen reagiert haben. Während das nach wie vor zum Rechtsraum

3

Dragiewicz/Burgess/Matamoros-Fernandez et al., Feminist Media Studies 2018, 1609, 609; Hall/Hearn, Journal of Gender Studies 2017, 158 (162); allgemein über Zwangskontrolle: Stark, Coercive Control: How Men Entrap Women in Personal Life, 2009. 4 Voyeurismus (das unbefugte Beobachten privater Handlungen) gehört ebenfalls in diesen Bereich, doch werden davon Verhaltensweisen, die nicht Bildaufnahmen berühren, auch umfasst.

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des Common Law gehörende Hongkong beispielsweise erst im September 20215 neue Straftatbestände eingeführt hat, prüfen andere Länder wie England und Wales bereits, ob eine Überarbeitung existierender Spezialtatbestände zu Intimbildern erforderlich ist, um sicherzustellen, dass der strafrechtliche Schutz weiter kohärent, effektiv und angemessen ist.6 Die Covid-19-Pandemie hat der Nutzung neuer Technologien in der zwischenmenschlichen Kommunikation einen weiteren Schub verliehen und damit eine Reform oft noch dringlicher gemacht.7 Der vorliegende Beitrag trägt zur Diskussion über den Umgang mit dem Missbrauch von Intimbildern bei, indem er diesbezügliche strafrechtliche Entwicklungen in verschiedenen Rechtsordnungen des Common Law vergleichend untersucht. Er nimmt im folgenden Abschnitt (II.) kurz zur Notwendigkeit einer strafrechtlichen Reaktion auf den Missbrauch von Intimbildern Stellung. Dabei baut er auf der These auf, dass das Strafrecht nur bei schwerem Fehlverhalten und in Fällen, in denen keine andere Reaktion angemessen ist, eingreifen sollte. Anschließend erfolgt im dritten Abschnitt (III.) eine vergleichende Diskussion der Straftatbestände, die in ausgewählten Rechtsordnungen des Common Law entwickelt wurden. Diese Analyse zeigt, wie ein vergleichbares gesellschaftliches Problem in den Rechtsordnungen des Common Law auf unterschiedliche Weise angegangen wird und ermöglicht Erkenntnisse darüber, wie man opfer- und täterbezogene Interessen beim Missbrauch von Intimbildern zum Ausgleich bringen kann. Diese Bewertung wird im vierten Abschnitt (IV.) vorgenommen. Dabei wird für abgestufte Straftatbestände plädiert, da es erhebliche Unterschiede bezüglich des Unrechtsgehalts gibt, die sich in der Struktur der Straftatbestände widerspiegeln sollten. Ein solcher abgestufter Ansatz stellt sicher, dass Täter für ihr Fehlverhalten weder übermäßig bestraft werden, noch Strafbarkeitslücken entstehen. Der letzte Abschnitt (V.) enthält das Fazit.

II. Strafwürdigkeit des Missbrauchs von Intimbildern Man kann den Eindruck gewinnen, dass in der englischsprachigen Welt der Ruf nach strafrechtlichen Maßnahmen zu schnell erhoben wird. Wie Lacey feststellt, leben wir in einer Welt, in der „Regierungen die Schaffung neuer Strafgesetze als schnelle Lösung für soziale Missstände nutzen“.8 Das Strafrecht ist jedoch selbstverständlich nicht das einzige und erst recht nicht zwingend das beste Mittel zur Lösung sozialer Probleme. Auch wenn eine Reihe von Rechtsordnungen inzwischen Straftatbestände bezüglich des Missbrauchs von Intimbildern erlassen hat, muss nach 5 Crimes (Amendment) Ordinance 2021, die ss 159AA-159AO in die Crimes Ordinance, Cap. 200 (HK) eingefügt hat. 6 Law Commission, Intimate Image Abuse, Consultation Paper No. 253, 2021, [1.18]–[1.28]. 7 Law Commission (Fn. 6), [1.18]–[1.28]. 8 Lacey, University of Oxford, Legal Research Paper Series, Paper No. 50, July 2012, 1 (15).

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wie vor die Notwendigkeit einer Kriminalisierung überprüft werden. Dies ist aus einer Reihe von Gründen nützlich: Es hilft zu klären, welche Verhaltensweisen das Strafrecht erfassen sollte und auf welcher Grundlage; es kann erklären, warum und wann eine strafrechtliche Antwort anderen möglichen Maßnahmen vorzuziehen ist; und es hilft bei der Entscheidung darüber, ob bestehende Straftatbestände weiter angemessen sind, um dem Missbrauch von Intimbildern entgegenzuwirken, oder ob weitere Reformen notwendig sind. Das Strafrecht bestimmt, welche Verhaltensweisen von der Rechtsordnung nicht toleriert werden und untermauert seine Verhaltensverbote mit der Androhung staatlicher Strafen für Zuwiderhandlungen.9 Eine Verurteilung im Strafrecht stellt eine öffentliche Missbilligung des Angeklagten dar.10 Die öffentliche Sanktionierung und der pönale Charakter unterscheiden das Strafrecht von anderen Rechtsgebieten.11 Aus diesem Grund sollte jeweils sorgfältig geprüft werden, ob der Einsatz des Strafrechts erforderlich ist, um gegen gesellschaftlich inakzeptable Verhaltensweisen vorzugehen. Wie Husak bemerkt, muss das Strafrecht „nach einem höheren Rechtfertigungsstandard bewertet werden, weil es Interessen belastet, die durch andere Formen der sozialen Kontrolle nicht berührt werden“.12 Zwar sollte angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung des Strafrechts und der Schwere seiner Auswirkungen die Schaffung von Straftatbeständen immer gut begründet werden, doch die Frage, wann genau das Strafrecht zum Einsatz kommen sollte, bleibt. In seinem bahnbrechenden Aufsatz „Ist das Strafrecht ein hoffnungsloser Fall?“ stellte der bedeutende englische Strafrechtswissenschaftler Andrew Ashworth fest, dass das Strafrecht „nicht das Ergebnis einer grundsätzlichen Untersuchung oder einer konsequenten Anwendung bestimmter Kriterien ist, sondern weitgehend von den Geschicken aufeinander folgender Regierungen, von Kampagnen in den Massenmedien, von den Aktivitäten verschiedener Interessengruppen usw. abhängt“.13 Dass das Strafrecht „historisch bedingt“14 ist, bedeutet jedoch nicht, dass Grundsätze für Entscheidungen über die Kriminalisierung von Verhaltensweisen nicht erkennbar wären. Darüber hinaus kann, wie Ashworth unter Berufung auf Nelken anmerkt, „das Beharren darauf, dass das Recht nur ein soziales Konstrukt ist, auch die objektive Kritik an seinen Ungerechtigkeiten untergraben und Versuche delegitimieren, es in eine vermeintlich fortschrittlichere Richtung zu gestalten“.15 Normativ betrachtet, so stellt Ashworth fest, sollte das Strafrecht nur dann eingesetzt 9

Simester/von Hirsch, Crimes and Wrongs: On the Principles of Criminalisation, 2011, 4 f. Tadros, Wrongs and Crimes, 2016, 12; von Hirsch, Journal of Criminal Law and Criminology 1983, 209 (211). 11 Ashworth, Law Quarterly Review 2000, 225 (233). 12 Husak, Oxford Journal of Legal Studies 2004, 207 (234). 13 Ashworth, Law Quarterly Review 2000, 226. 14 Ashworth, Law Quarterly Review 2000, 229. 15 Ashworth, Law Quarterly Review 2000, 229; Nelken, in: Nelken (Hrsg.), The Futures of Criminology, 1994, 7. 10

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werden, wenn ein schweres Unrecht (serious wrongdoing) begangen worden ist.16 Die Schwere eines Unrechts hat dabei zwei Dimensionen: Schaden und Verschulden. 1. Schaden Der aus einer Rechtsgutverletzung herrührende Schaden kann sich aus der Beeinträchtigung individueller oder kollektiver Interessen ergeben.17 Nach von Hirsch und Jareborg kann der Schaden für den Einzelnen danach beurteilt werden, wie stark sich das betreffende Täterverhalten auf die „Lebensqualität“18 des Opfers auswirkt. Der Lebensstandard bezieht sich „auf die Mittel und Fähigkeiten, die normalerweise ein gutes Leben ermöglichen“.19 Er umfasst die „Qualität der Existenz einer Person nicht nur im Sinne materieller Mittel und Annehmlichkeiten, sondern auch einschließlich nichtwirtschaftlicher Möglichkeiten, die die Lebensqualität einer Person beeinflussen“.20 Nach Marshall und Duff können Schäden, die ein Einzelner erleidet, auch als kollektiver Schaden betrachtet werden, da es sich um „Unrecht handelt, das von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft geteilt wird, mit der sich das Opfer identifiziert und durch das seine Identität teilweise konstituiert wird“.21 Der Missbrauch intimer Bilder kann, wie oben dargelegt, viele Formen annehmen und erhebliche negative Auswirkungen auf Betroffene haben. Er beeinträchtigt ihre Fähigkeit, ein gutes Leben zu führen, indem er das „sexuelle Selbst, die sexuelle Autonomie und die Handlungsfähigkeit“22 der Opfer verletzt. Entsprechende Handlungen können Gefühle der Scham, des seelischen Leids, der Demütigung, des Vertrauensbruchs und der Ohnmacht hervorrufen.23 Die psychische Gesundheit der Opfer kann unter „PTBS [einer posttraumatischen Belastungsstörung], Depressionen, Angstzuständen, Selbstvorwürfen, Drogenmissbrauch und Verleugnung/Vermeidung“ leiden, ähnlich wie bei Opfern sexueller Belästigung und Übergriffe.24 Diese Schäden können noch lange nach der ersten Aufnahme oder Verbreitung der Bilder anhalten und durch die fehlende Kontrolle darüber verstärkt werden, in16 Z. B. von Hirsch, Journal of Criminal Law and Criminology 1983, 214; Ashworth, Law Quarterly Review 2000, 241, 253; Husak, Oxford Journal of Legal Studies 2004, 234. 17 Ashworth, Law Quarterly Review 2000, 240. 18 von Hirsch/Jareborg, Oxford Journal of Legal Studies 1991, 1 (10). 19 von Hirsch/Jareborg, Oxford Journal of Legal Studies 1991, 33. Dieses Kriterium kann auch auf kollektive Interessen angewandt werden, wobei sich die Frage stellt, wie stark sich das Verhalten auf die Lebensqualität der Mitglieder einer sozialen Klasse von Menschen auswirkt. 20 von Hirsch/Jareborg, Oxford Journal of Legal Studies 1991, 33. 21 Marshall/Duff, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 1998, 7 (21). 22 McGlynn/Rackley/Houghton (Fn. 2), 39. 23 Siehe beispielsweise Bates, Feminist Criminology 2017, 22; Henry/Powell, Australian and New Zealand Journal of Criminology 2015, 104; McGlynn/Rackley/Houghton (Fn. 2); Citron/Franks, Wake Forest Law Review 2014, 345. 24 Bates (Fn. 23), 30.

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wieweit und wie lange ein Bild verbreitet und betrachtet wird.25 Schuldzuweisungen an das Opfer und Verharmlosungen der Opferrolle können Verletzungen verstärken und verfestigen.26 Dem Opfer wegen seines vermeintlich falschen Umgang mit Risiken eine Mitschuld zu geben „verschleiert geschlechtsspezifische Unterschiede und Ungleichheiten in zwischenmenschlichen Beziehungen“.27 Der Missbrauch von Intimbildern ist mehr als eine Verletzung der Privatheit, er stellt einen Angriff auf die Würde und die sexuelle Autonomie einer Person dar. Kelly argumentiert, dass „Missbrauch, Einschüchterung, Nötigung, Eingriffe, Bedrohung oder Gewalt“ ein Kontinuum der sexuellen Gewalt darstellen.28 Dem fügen McGlynn, Rackley und Houghton hinzu, dass es nicht nur ein Kontinuum bildbasierter missbräuchlicher Verhaltensweisen gebe, sondern dass dieses Kontinuum seinerseits als Teil „Kontinuums mit anderen Formen sexueller Gewalt“ verstanden werden sollte,29 weil es dieselben Merkmale von „geschlechtsspezifischen, sexualisierten Formen des Missbrauchs“ aufweise.30 Solche Verhaltensweisen schaden sowohl individuellen als auch kollektiven Interessen. McGlynn, Rackley und Houghton argumentieren: „Belästigung und Missbrauch, die typischerweise mit diesen Formen des Missbrauchs einhergehen, beruhen auf geschlechtsspezifischen Annahmen über die sexuelle Aktivität und Handlungsfähigkeit von Frauen“.31 Sie sind daher eingebettet in eine Kultur der männlichen Kontrolle und der Beschämung von Frauenkörpern, spiegeln diese wider und reproduzieren sie.32 Sie wirken sich daher auch auf den kollektiven Lebensstandard aus, insbesondere indem sie strukturelle Ungleichheiten replizieren und verstärken.

25 Siehe die Diskussion bei Salter/Crofts, in: Comella/Tarrant (Hrsg.), New Views on Pornography: Sexuality, Politics, and the Law, 2015, 233 (239). 26 Bates (Fn. 23), 25; Salter/Crofts (Fn. 25), 239. 27 Salter/Crofts (Fn. 25), 239. 28 Kelly, Surviving Sexual Violence, 1988, 76. 29 McGlynn/Rackley/Houghton (Fn. 2), 28. 30 McGlynn/Rackley/Houghton (Fn. 2), 29 beschreiben die gemeinsamen Charakteristiken dieser Verhaltensweisen wie folgt: „(i) die sexuelle Natur der Bilder; (ii) die geschlechtsspezifische Natur sowohl des Missbrauchs als auch des Überlebens des Missbrauchs (überwiegend Frauen als Überlebende des Missbrauchs und Männer als Täter); (iii) die sexualisierte Natur der Belästigung und des Missbrauchs; (iv) die Schäden als Verletzungen der Grundrechte auf Würde, sexuelle Autonomie und sexuellen Ausdruck; und schließlich (v) die Verharmlosung dieser Formen des Missbrauchs im öffentlichen Diskurs, in der Gesetzgebung und in der Politik“. 31 McGlynn/Rackley/Houghton (Fn. 2), 29. 32 Hall/Hearn, Journal of Gender Studies 2017, 158; für eine Untersuchung der Auswirkungen des Missbrauchs intimer Bilder auf Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LSBT) siehe: Powell/Henry, Journal of Interpersonal Violence 2016, 3637 (3657); Waldman, Law & Social Inquiry, 2019, 987.

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2. Verschulden Das zweite Element bei der Beurteilung der Schwere des Verhaltens bezieht sich auf die Geisteshaltung des Täters. Ashworth vertritt die Auffassung, dass eine Person nur dann strafrechtlich verurteilt werden sollte, wenn sie den Schaden schuldhaft verursacht hat.33 Seiner Ansicht nach stellt die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Verschuldensnachweis „eine Negierung der Achtung der individuellen Autonomie, die ein Grundprinzip des Strafrechts sein sollte“, dar. 34 Das Schuldprinzip ist seit Langem im englischen Recht verankert. Chief Justice Lord Russell stellte in Williamson v Norris fest: „The general rule of English law is, that no crime can be committed unless there is mens rea.“35 Das allgemeine Erfordernis der „mens rea“ wurde als „einer der grundlegendsten Schutzmechanismen des Strafrechts“ beschrieben.36 Denn „es ist im Allgemeinen weder gerecht noch sinnvoll, Menschen wegen unbeabsichtigter Handlungen oder unvorhergesehener Folgen dem Strafrecht zu unterwerfen, es sei denn, diese resultieren aus einem ungerechtfertigten Risiko (d. h. Leichtsinn)“.37 Wie Lacey feststellt, hängt die Forderung nach einem Verschulden zudem mit der Legitimität des Strafrechts zusammen: „Die Vorstellung, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit sowohl ein Verhalten als auch Verantwortung oder Verschulden einschließen muss, steht im Mittelpunkt des Selbstverständnisses des modernen Strafrechts nicht nur als ein System staatlicher Macht und Gewalt, sondern als legitimes – in gewissem Sinne sogar moralisches – System“.38 Das bedeutet, dass bei der Schaffung von Straftatbeständen ein Verschuldenselement enthalten sein sollte, das sicherstellt, dass nur schuldhafte Verhaltensweisen erfasst werden.39 3. Alternativen zum Strafrecht Selbst wenn ein Verhalten als schwerwiegend falsch anzusehen ist und von ihm abgeschreckt werden soll, kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Strafrecht notwendigerweise ein wirksames Mittel zur Prävention ist.40 Insbesondere reicht das Strafrecht allein nicht aus, um eine neue Ethik für den Umgang mit modernen Technologien zu entwickeln. Darüber hinaus kann es auch oftmals nicht unmittelbar, umfassend und rechtzeitig genug, den Rechtsschutz herbeiführen, den sich Personen 33

Ashworth, Law Quarterly Review 2000, 240 f. Ashworth, Law Quarterly Review 2000, 241. 35 [1899] 1 QB 7 at 14. 36 Attorney-General’s Department, A Guide to Framing Commonwealth Offences, Infringement Notices and Enforcement Powers, 2011, 22. 37 Attorney-General’s Department (Fn. 36), 22. 38 Lacey, Modern Law Review 2001, 350 (353). 39 Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass objektive Haftungsnormen eine Rolle spielen aber weitere Erörterungen dahingehend würde den Rahmen dieser kurzen Untersuchung des Verschuldens sprengen. 40 Ashworth, Law Quarterly Review 2000, 254. 34

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wünschen, deren Bild unerlaubt verbreitet oder dessen Verbreitung angedroht wurde. Betroffene Personen sind häufig in erster Linie daran interessiert, dass das Bild aus dem Verkehr gezogen wird. Die strafrechtlichen Sanktionen zielen jedoch in erster Linie darauf ab, den Täter zu bestrafen, anstatt dem Opfer unmittelbar Abhilfe zu verschaffen. Es sollten Alternativen zur Kriminalisierung des Verhaltens geprüft werden, um sicherzustellen, dass das Strafrecht nur als ultima ratio eingesetzt wird. Im Gegensatz zum Strafrecht ist das Zivilrecht nicht in erster Linie verurteilend und strafend, sondern zielt vor allem darauf ab, entstandenen Schaden wiedergutzumachen. So können zivilrechtliche Klagen (im angelsächsischen Recht aus delikts- oder billigkeitsrechtlichen Tatbeständen, etwa aufgrund eines Vertrauensbruchs, sowie auf Basis des Urheberrechts) dem Einzelnen geeignetere Rechtsmittel bieten. Zu diesen gehören vor allem Unterlassungsansprüche, die darauf abzielen, die Bilder zu entfernen, zu löschen und nicht weiter zu verbreiten, und auch im einstweiligen Rechtsschutz geltend gemacht werden können.41 Im zivilrechtlichen Verfahren kann auch eine Entschädigung für immateriellen Schaden oder, falls die schuldhafte Verbreitung eines Intimbildes Arbeitsunfähigkeit oder die Notwendigkeit psychologischer Behandlung zur Folge hat, Schadensersatz für Verdienstausfall und Heilungskosten geltend gemacht werden.42 Ein zivilrechtlicher Prozess gibt der klagenden Person die Kontrolle darüber, ob und wann sie Klage erhebt, welche Ansprüche sie geltend macht und ob sie einem Vergleich zustimmt.43 Nachteilig ist allerdings, dass zivilrechtliche Verfahren in der Regel kostspielig und oft langwierig sind. Dies schmälert den Nutzen dieser Rechtsbehelfe erheblich: Sie sind in der Regel nur für Personen zugänglich, die über die nötigen finanziellen und emotionalen Reserven verfügen.44 Um die Rechtsverfolgung des Opfers zu erleichtern, geben einige Rechtsordnungen des Common Law dem Strafgericht mittlerweile die Befugnis, den Angeklagten dazu zu verurteilen, angemessene Schritte zu unternehmen, um ein intimes Bild zu entfernen oder zu löschen.45 Eine weitere Reform besteht darin, verwaltungsrechtliche Mechanismen zu entwickeln, um Betroffenen schnellere Abhilfe zu verschaffen. In Australien beispielsweise können Beschwerden an den Beauftragten für e-Sicherheit (Office of the e-Safety Commissioner) gerichtet werden, der die Befugnis hat, von Nutzern sozialer Plattformen und von Plattformen selbst die Entfernung von Bildern zu verlangen.46 Andere nicht-strafrechtliche Mechanismen bestehen etwa darin, auf Anbieter sozialer Medien und mobiler Dienste größeren Druck auszuüben, damit sie 41 Für weitere Diskussion zivilrechtlicher Klagewege siehe Kirchengast/Crofts, Oxford University Commonwealth law Journal 2019, 1 (17 – 24); McGlynn/Rackley, Oxford Journal of Legal Studies 2017, 534 (24 – 27). 42 Siehe beispielsweise Wilson v Ferguson [2015] WASC 15. 43 Kirchengast/Crofts, Oxford University Commonwealth law Journal 2019, 9. 44 Dennoch können in Zivilverfahren einstweilige Verfügungen angeordnet werden. 45 Siehe beispielsweise Crimes Act 1900 (NSW), s 91S. 46 Australian Government, eSafetyCommissioner, Online Safety Act 2021 Fact sheet, 2022.

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ihre Nutzungsbedingungen schneller und sorgfältiger durchsetzen: Denn diese erlauben in der Regel vertragsrechtliche Sanktionen bis hin zur Beendigung des Nutzungsverhältnisses, wenn Dienste für illegales oder anstößiges Verhalten genutzt werden.47 Das Vereinigte Königreich plant außerdem im Online Safety Bill 2021 weitere Möglichkeiten gegen Plattformen, weil nach Ansicht der britischen Regierung freiwillige Maßnahmen in diesem Bereich nicht ausgereicht haben.48 Öffentliche Aufklärungskampagnen können ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Schaffung einer neuen Ethik bei der Nutzung von Kommunikationstechnologien leisten.49 Das Strafrecht kann in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle bei der Etablierung von Mindeststandards akzeptierter Verhaltensweisen spielen. Der Vorteil des Strafrechts gegenüber anderen Rechtsgebieten oder Mechanismen zur Verhaltensprävention liegt in seiner abschreckenden Wirkung. Die Strafandrohung hat „erzieherische, moralisierende und gewohnheitsbildende“ Funktionen.50 Sie stellt unmissverständlich klar, dass das Verhalten verboten ist und von der Gesellschaft entschieden missbilligt wird.51 Sie trägt somit dazu bei, den gesellschaftlichen Moralkodex zu formen: „Mit Angst oder moralischem Einfluss als Zwischenglied ist es möglich, unbewusste Hemmungen gegen Verbrechen zu schaffen und vielleicht einen Zustand gewohnheitsmäßiger Rechtmäßigkeit zu etablieren“.52 So kann die Kriminalisierung des Missbrauchs von Intimbildern das kollektive Bewusstsein für die Unrechtmäßigkeit eines solchen Verhaltens stärken. In diesem Sinne äußerte auch der australische Parlamentsausschuss für Rechts- und Verfassungsangelegenheiten die Ansicht, dass „die Straftatbestände des nicht einvernehmlichen Austauschs von Intimbildern zwar nur ein Mittel sind, um dessen Ablehnung durch die Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen, aber ein wichtiges“.53

III. Bestehende Straftaten des Missbrauchs von Intimbildern Der Missbrauch von Intimbildern stellt zumeist ein schwerwiegendes Fehlverhalten dar, bei dem vieles dafür spricht, es unter Strafe zu ahnden. Die vorangegangene Diskussion hat auch ergeben, dass bei der Schaffung von Straftatbeständen sowohl der (dem Opfer und der Gesellschaft) zugefügte Schaden als auch die Schuld des Täters im Auge behalten werden müssen. Die Straftatbestände sollten tatsächlich 47

Parliament of Victoria, Inquiry into Sexting, Parliamentary Paper No. 230, 2013, [7.3.1]. Department for Digital, Culture, Media and Sport & Home Office, Online Harms White Paper: Full Government Response to the Consultation, CP No. 354, 2020, Executive summary 42. 49 Crofts/Lee/McGovern/Milivojevic, Sexting and Young People, 2015, 12. 50 Hawkins, Wisconsin Law Review 1969, 550. 51 Andenaes, University of Pennsylvania Law Review 1966, 950. 52 Andenaes, University of Pennsylvania Law Review 1966, 951. 53 Commonwealth Parliament of Australia, Phenomenon Colloquially Referred to as „Revenge Porn“, 2016, 50. 48

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schweres Unrecht, nicht aber kaum schädliche oder kaum schuldhafte Verhaltensweisen erfassen. Daher müssen die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale sowie die defences54 mit großer Sorgfalt definiert werden. Im Folgenden werden die bestehenden Straftatbestände ausgewählter Rechtsordnungen des Common Law verglichen. Hierbei werden die Straftatbestände von England und Wales,55 den australischen Teilrechtsordnungen von New South Wales (NSW), Südaustralien (SA), Victoria und Westaustralien (WA)56 sowie die Tatbestände im Strafrecht von Hongkong und Singapur herangezogen. 1. Objektive Elemente Der Straftatbestand des Missbrauchs intimer Bilder bezieht sich auf den unbefugten Umgang mit Bildern (Fotografien und Filmaufnahmen), die einen intimen,57 invasiven58 oder privaten und sexuellen59 Charakter haben. Victoria beispielsweise definiert ein Intimbild als ein Bild, das eine Person bei einer sexuellen Handlung oder eine Person in einem sexuellen Kontext oder auf sexuelle Weise, oder das den Genital- oder Analbereich einer Person (ob nackt oder durch Unterwäsche bedeckt) oder die Brüste einer Frau zeigt.60 In mehreren Ländern fallen auch Bilder von Handlungen darunter, bei der die Person berechtigterweise annehmen durfte, Privatheit zu genießen, etwa bei der Benutzung der Toilette, beim Duschen oder Baden oder bei einer sexuellen Handlung in nicht-öffentlichen Räumen.61 Bemerkenswerterweise umfassen die Definitionen in Singapur, NSW, WA und Hongkong auch Bilder, die so verändert wurden, dass sie den Anschein erwecken, ein intimes Bild einer bestimmten Person zu zeigen (oft als „Deep-Fakes“ bezeichnet).62 In einigen australischen Teilrechtsordnungen ist es erforderlich, dass die Bilder objektiv betrachtet gegen gesellschaftliche Anstandsnormen verstoßen. In SA beispielsweise wird das Bild einer Person nicht als invasiv angesehen, wenn es „den von vernünftigen Er54

Defences umfassen sowohl Rechtfertigungsgründe als auch Entschuldigungsgründe. Zu den umfangreichen Debatten über die Relevanz und Bedeutung dieser Unterscheidung siehe Byrd, Wayne Law Review 1987, 1289. 55 England und Wales haben eine gemeinsame Rechtsordnung. 56 Australien ist ein Bundesstaat, in dem das Strafrecht überwiegend in die Gesetzgebungskompetenz der Bundesstaaten und der Territorien fällt. 57 Crimes Act 1900 (NSW), s 91N; Summary Offences Act 1966 (Vic), s 40; Criminal Code (WA), s 221BA. 58 Summary Offences Act 1953 (SA), ss 26A, 26C. 59 Criminal Justice and Courts Act 2015 (E&W), ss 33, 35. 60 Summary Offences Act 1966 (Vic), s 40; Criminal Justice and Courts Act 2015 (E&W), s 33. 61 Penal Code (Sing), ss 377C(3)(f), 377BE; Crimes Act 1900 (NSW), s 91N. Jedoch ist das Duschen und Baden von der Definition eines privaten Aktes in South Australia ausgenommen, Summary Offences Act 1953 (SA), s 26A(3); Criminal Code (WA), s 221BA. 62 Penal Code (Sing), s 377BE(5)(b); Crimes Act 1900 (NSW), s 91N; Criminal Code (WA), 221BA; Crimes Ordinance, Cap 200 (HK), s 159AA.

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wachsenen in der Gemeinschaft allgemein akzeptierten Normen der Moral, des Anstands und der Schicklichkeit entspricht“.63 Zumeist wird die Verbreitung64 (bzw. Weitergabe65 oder Veröffentlichung66) intimer Bilder unter Strafe gestellt. Dieser Straftatbestand wird in der Regel weit gefasst, so dass es genügt, Bilder Dritten zugänglich zu machen.67 Mehrere australische Teilrechtsordnungen sowie Hongkong und Singapur stellen auch die Androhung der Verbreitung eines Intimbildes unter Strafe.68 In NSW ist zudem auch die Aufnahme eines Intimbildes oder Androhung einer Aufnahme ohne Zustimmung der betroffenen Person eine Straftat.69 Zunehmend wird auch der Besitz von Intimbildern unter Strafe gestellt. So kann in Singapur in bestimmten Fällen auch der Besitz oder der Zugang zu einem Intimbild (oder ein voyeuristisches Bild70) einer anderen Person strafrechtlich verfolgt werden.71 Alle genannten Handlungen müssen ohne die Zustimmung der abgebildeten Person erfolgen. Die Straftatbestände der australischen Teilrechtsordnungen enthalten in der Regel detaillierte Definitionen des Begriffs „Einwilligung“. In NSW und WA ist erforderlich, dass die Einwilligung aus freien Stücken gegeben wird und auf Art und Weise sowie der Adressaten der Verbreitung Bezug nimmt.72 In NSW wird zudem gesetzlich klargestellt, dass die Zustimmung zur Aufnahme oder Verbreitung bei einer bestimmten Gelegenheit nicht als Zustimmung zur Verbreitung dieses oder eines anderen Bildes zu einer anderen Gelegenheit zu verstehen ist.73 Zudem ist ausdrücklich geregelt, dass die Zustimmung zur Verbreitung auf eine bestimmte Art und Weise oder an eine bestimmte Person nicht als Zustimmung zur Verbreitung auf eine andere Art und Weise oder an eine andere Person gilt.74 Weitere Faktoren bei der Prüfung der Wirksamkeit einer Einwilligung lehnen sich eng an jene an, die bei klassischen Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gelten oder entwickelt wurden.75 Dazu gehört unter anderem, dass die betroffene Person mindestens 16 Jahre alt war und über die kognitiven Fähigkeiten zur Einwilligung 63

Summary Offences Act 1953 (SA), s 26A(3). Penal Code (Sing), s 377BE; Crimes Act 1900 (NSW), s 91Q. 65 Criminal Justice and Courts Act 2015 (E&W), ss 33, 34. 66 Crimes Ordinance, Cap 200 (HK), ss 159AAD, 159AAE. 67 Crimes Act 1900 (NSW), s 91N; Summary Offences Act 1966 (Vic), s 40; Penal Code (Sing), s 377C. 68 Summary Offences Act 1966 (Vic), s 41DB(3); Crimes Act 1900 (NSW), s 91R(3). 69 Crimes Act 1900 (NSW), ss 91P, 91R(1). 70 Damit ist ein Bild gemeint, das unter Begehung der Straftat des Voyeurismus erlangt wurde, Penal Code (Sing) s 377BB. 71 Penal Code (Sing), s 377BD(1)(b). 72 Crimes Act 1900 (NSW), s 91O (3). Bezüglich der Aufnahme siehe Crimes Act 1900 (NSW), s 91O(2); Criminal Code (WA), s 221BB. 73 Crimes Act 1900 (NSW), s 91O(4). 74 Crimes Act 1900 (NSW), s 91O(5). 75 Crimes Act 1900 (NSW), s 61HE; diese Definition gilt für Sexualstraftaten. 64

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verfügt hat; weder bewusstlos war noch schlief; nicht aufgrund der Androhung von Gewalt oder Terrorisierung zustimmte; oder nur zustimmte, weil sie unrechtmäßig festgehalten wurde.76 Eine weiteres Tatbestandsmerkmal in Victoria ist, dass die Verbreitung oder die Androhung der Verbreitung eines Intimbildes in einer Art und Weise erfolgt, die gegen die gesellschaftlichen Normen über akzeptables Verhalten verstößt.77 Bei der Beurteilung dessen sind folgende Faktoren zu berücksichtigen: Art und Inhalt des Bildes; die Umstände, unter denen das Bild aufgenommen wurde; die Umstände, unter denen das Bild verbreitet wurde; das Alter, die intellektuellen Fähigkeiten, die Verletzlichkeit oder andere relevante Umstände einer auf dem Bild abgebildeten Person; und das Ausmaß, in dem die Verbreitung des Bildes die Privatsphäre einer auf dem Bild abgebildeten Person beeinträchtigt.78 In anderen Rechtsordnungen (NSW und WA) ist dieses Element nicht als Teil des Straftatbestands und daher nicht durch die Staatsanwaltschaft zu beweisen. Stattdessen hat ein Angeklagter eine defence, falls eine vernünftige Person das Verhalten des Angeklagten als akzeptabel ansehen würde.79 2. Subjektive Elemente Wie oben in II.2. erörtert, sollte neben dem erlittenen individuellen oder kollektiven Schaden auch das Verschulden des Täters ausschlaggebend dafür sein, ob ein Verhalten unter Strafe gestellt wird. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf den subjektiven Straftatbestand. In dieser Hinsicht bestehen beträchtliche Unterschiede zwischen den untersuchten Rechtsordnungen des Common Law. Die Straftatbestände zum Missbrauch intimer Bilder setzen zumeist voraus, dass die Verbreitung eines Intimbildes vorsätzlich (NSW und Victoria), vorsätzlich oder wissentlich (Singapur) oder vorsätzlich oder leichtfertig (Hongkong) erfolgt.80 Dies entspricht dem Leitgedanken, dass grundsätzlich nur vorsätzliches oder leichtfertiges Verhalten Strafbarkeit begründen soll.81 In England und Wales ist ein höherer Verschuldensgrad erforderlich als in den australischen Teilrechtsordnungen, denn das Bild muss in ersteren mit der Absicht verbreitet werden, das Opfer zu demütigen oder ihm Gefühlsschaden oder seelisches Leid zuzufügen.82 Die Tatsache, dass Gefühlsschaden oder seelisches Leid eine natürliche und wahrscheinliche Folge der Veröffentlichung ist, reicht alleine nicht als Beweis aus, dass eine Person diese seelische Beeinträchtigung beabsich76

Crimes Act 1900 (NSW), s 91O(7). Summary Offences Act 1966 (Vic), ss 41DA(1)(b), 41DB(1)(b). 78 Summary Offences Act 1966 (Vic), s 40. 79 Crimes Act 1900 (NSW), s 91T(1)(d), Criminal Code (WA), s 221BD(3)(d). 80 Crimes Act 1900 (NSW), s 91Q(1); Summary Offences Act 1966 (Vic), s 41DA(1); Penal Code (Sing), 377BE(1); Crimes Ordinance, Cap 200 (HK), s 159AAE. 81 Ashworth, Law Quarterly Review 2000, 241. 82 Criminal Justice and Courts Act 2015 (E&W), s 33(1). 77

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tigt hatte. Ein ähnlicher Ansatz wird in Hongkong und Singapur verfolgt: Neben dem Erfordernis, dass eine Person Bilder vorsätzlich oder leichtfertig (Hongkong) bzw. vorsätzlich oder wissentlich (Singapur) verbreitet oder mit der Verbreitung droht, muss der Täter auch wissen oder Grund zu der Annahme haben, dass die Verbreitung oder dessen Androhung bei der abgebildeten Person zu Demütigung, Beunruhigung oder seelischem Leid führen wird oder kann. Am anderen Ende des Spektrums liegen die SA und WA Bestimmungen, denn sie enthalten kein subjektives Tatbestandselement in Bezug auf die Verbreitung eines invasiven (SA) oder intimen Bildes (WA). In SA ist dies insofern abgemildert, als dass bei anderen Tatbestandsmerkmalen bei der fehlenden Einwilligung ein subjektives Element verlangt wird. Dies ist jedoch in Westaustralien nicht der Fall, denn der Straftatbestand ist dort vollkommen objektiv formuliert. Stattdessen schließen die dortigen Bestimmungen die Verantwortlichkeit bei Vorliegen bestimmter objektiver Umstände aus (auf die unten in III.3. eingegangen wird). In den Rechtsordnungen, in denen die Androhung der Verbreitung strafbar ist, wird in der Regel ein voluntatives Element in Bezug auf die Androhung verlangt. In NSW muss die Androhung mit dem Vorsatz erfolgen, dass die andere Person befürchtet, dass das angedrohte Ereignis eintritt.83 Ein entsprechendes objektives Element ist nicht erforderlich, d. h. die Person muss nicht tatsächlich in Angst versetzt werden.84 Ähnlich ist die Situation im Strafrecht von Victoria.85 In Singapur muss der Täter wissen oder Grund zu der Annahme haben, dass die andere Person durch die Drohung mindestens wahrscheinlich erniedrigt, beunruhigt oder seelisch leiden wird.86 Der singapurische Straftatbestand des Besitzes oder Zugangs zu Intimbildern verlangt, dass die Person weiß oder Grund zu der Annahme hat, dass es sich bei dem Bild um ein Intimbild handelt und dass der Besitz oder der Zugang zu dem Bild die auf dem Bild abgebildete Person wahrscheinlich erniedrigen, beunruhigen oder ihr seelisches Leid zufügen wird. Unterschiedliche Anforderungen bestehen hinsichtlich der Kenntnis des Täters von der fehlenden Einwilligung der abgebildeten Person. In NSW und Hongkong muss der Täter wissen, dass die Person nicht in die Verbreitung oder Aufzeichnung eingewilligt hat oder das Fehlen der Einwilligung in Kauf genommen haben.87 In SA muss der Täter wissen oder Grund zu der Annahme haben, dass die Person nicht in die Verbreitung eingewilligt hat.88 Die Tatbestände in England und Wales sowie in Singapur erwähnen kein subjektives Element für das Fehlen der Einwilligung. Vermutlich ist es nicht erforderlich, weil das Verhalten (in England und Wales) in der Absicht erfolgen muss, seelisches Leid herbeizuführen oder (in Singapur) im Wissen oder mit 83

Crimes Act 1900 (NSW), s 91R(2)(b). Crimes Act 1900 (NSW), s 91R(5). 85 Summary Offences Act 1966 (Vic), s 41DB(1). 86 Penal Code (Sing), s 377BE(2). 87 Crimes Act 1900 (NSW), s 91P und 19Q. 88 Summary Offences Act 1953 (SA), s 21C(1). 84

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Grund zu der Annahme, dass es wahrscheinlich zu einer Demütigung, Beunruhigung oder seelischem Leid führen wird. In Victoria und Westaustralien ist es nicht Teil des subjektiven Tatbestandes, dass der Täter wusste oder erkannte, dass keine Zustimmung vorlag. Das Fehlen entsprechenden Bewusstseins kann jedoch bei den im Folgenden betrachteten defences berücksichtigt werden. 3. Defences In mehreren australischen Teilrechtsordnungen ist eine Person nicht für die Verbreitung strafbar, wenn eine vernünftige Person das Verhalten des Täters für akzeptabel halten würde.89 In NSW und Westaustralien wird diese Frage unter Bezugnahme auf eine Reihe spezifischer Faktoren entschieden, unter anderem die Art und der Inhalt des Bildes; die Umstände, unter denen das Bild aufgenommen oder verbreitet wurde; das Alter, die geistigen Fähigkeiten, die Verletzlichkeit oder andere relevante Umstände der auf dem Bild abgebildeten Person; das Ausmaß, in dem die Handlungen des Beschuldigten die Privatsphäre der auf dem Bild abgebildeten Person beeinträchtigen; und die Beziehung zwischen dem Beschuldigten und der auf dem Bild abgebildeten Person.90 Diese Faktoren ähneln denen, die in Victoria bei der Beurteilung darüber, ob das Bild in einer Weise verbreitet wurde, die gegen den gemeinschaftlichen Standard für akzeptables Verhalten verstößt, herangezogen werden.91 Der Hauptunterschied zwischen beiden Ansätzen besteht darin, dass das Vorliegen dieser Umstände in Victoria ein Element des Straftatbestandes ist, während das Nichtvorliegen dieser Umstände in NSW und Westaustralien als defence gilt. Weitere Ausnahmen von der Strafbarkeit sind beispielsweise die Verbreitung eines Bildes zu medizinischen oder wissenschaftlichen Zwecken, durch Strafverfolgungsbeamte zu einem echten Strafverfolgungszweck oder aufgrund Anordnung eines Gerichts erfolgt oder sie für ein Gerichtsverfahren vernünftigerweise erforderlich ist. In England und Wales besteht auch dann eine defence, wenn die Weitergabe zu journalistischen Zwecken erfolgte und der Täter vernünftigerweise davon ausgehen konnte, dass die Veröffentlichung unter den gegebenen Umständen im öffentlichen Interesse läge.92 Ein weitere defence gilt in England und Wales, wenn der Täter vernünftigerweise davon ausging, dass das Bild gegen Entgelt veröffentlicht wurde und keinen Grund zu der Annahme hatte, dass die abgebildete Person einer Veröffentlichung gegen Entgelt nicht zustimmte.93

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Crimes Act 1900 (NSW), s 91T(1)(d), Criminal Code (WA), s 221BD(3)(d). Criminal Code (WA), s 221BD(3)(d). 91 Summary Offences Act 1966 (Vic), s 40. 92 Criminal Justice and Courts Act 2015 (E&W), s 33(4). 93 Criminal Justice and Courts Act 2015 (E&W), s 33(5).

90

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IV. Vergleichende Reflexionen Die vorangegangene Diskussion zeigt, dass viele Rechtsordnungen des Common Law in jüngerer und jüngster Zeit neue Spezialstrafbestände gegen den Missbrauch intimer Bilder eingeführt haben. Dabei wird deutlich, wie diese Rechtsordnungen, die in einer gemeinsamen Rechtstradition stehen, bewusst von den Erfahrungen und der Herangehensweise in Schwesterrechtsordnungen lernen. Das gilt nicht nur in Australien, wo die verschiedenen Teilrechtsordnungen der Bundesstaaten und Territorien miteinander in engem Austausch stehen, sondern auch über Länderund kontinentale Grenzen hinweg. Die Berichte von parlamentarischen und anderen öffentlichen Reformkommissionen enthalten fast durchweg eine eingehende Erörterung der Entwicklungen in anderen Common Law Ländern, einschließlich einer Überprüfung bestehender Delikte, der Rechtsprechung sowie der Reformvorschläge. Dieser vergleichende Ansatz zur Rechtsreform wird nicht nur durch die gemeinsame Sprache erleichtert, sondern auch dadurch, dass die Strafrechtsordnungen des Common Law konzeptionell eng verwandt sind. Die Reform des Missbrauchs intimer Bilder bildet keine Ausnahme von der grundsätzlichen Herangehensweise im Common Law, dass Reformprozesse zumeist als ein fortlaufender Prozess des VoneinanderLernens begriffen werden. Allerdings wird auch deutlich, dass neuere Reformprozesse sich jeweils kritisch mit den bereits bestehenden Gesetzen in anderen Rechtsordnungen auseinandersetzen, sodass letztendlich doch lokale Besonderheiten und Präferenzen darüber entscheiden, wie Straftatbestände ausgestaltet werden und inwieweit die Gesetze anderer als Modell angesehen werden. Durchweg wird das Bemühen erkennbar, den Opferschutz mit den berechtigten Interessen von Tätern, nicht für unbeabsichtigtes oder wenig schuldhaftes Verhalten belangt zu werden, in Einklang zu bringen. Eng definierte objektive Elemente in Verbindung mit strikten subjektiven Elementen könnten leicht zur Folge haben, dass schädliche Verhaltensweisen nicht unter Strafe gestellt werden oder strafrechtlich nur schwer verfolgbar wären. Andererseits besteht bei zu weit gefassten objektiven Tatbestandsmerkmalen und einer niedrigen Schwelle für subjektive Elemente die Gefahr einer Überkriminalisierung, die Verhaltensweisen erfasst, die nicht hinreichend schädlich oder schuldhaft sind. Dies unterstreicht die Wichtigkeit eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen objektiven und subjektiven Elementen. Die meisten Straftatbestände umfassen Bilder, die sexueller Natur sind oder eine Person bei einer privaten Handlung zeigen, bei der sie normalerweise Privatheit erwarten darf. Rechtsordnungen wie Hongkong und Singapur, die in jüngster Zeit entsprechende Straftatbestände eingeführt haben, haben die Definitionen auch auf manipulierte Intimbilder ausgeweitet, die die betroffene Person zu zeigen scheinen. Die Kriminalisierung des Missbrauchs der letztgenannten Bilder ist gerechtfertigt, da auch dann Schaden angerichtet werden kann, wenn das Bild nur scheinbar die betroffene Person zeigt. Schutz vor manipulierten Bildern wird in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen, da es angesichts fortschreitender technologischer Möglichkeiten zunehmend schwieriger wird, verfälschte und unverfälschte Bilder auseinanderzu-

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halten.94 In Hongkong wird der strafrechtliche Schutz auf veränderte Bilder erweitert, es sei denn, eine vernünftige Person würde nicht glauben, dass es einen intimen Körperteil oder eine intime Handlung der Person zeigt.95 Dieser objektive Test schützt die Opfer und bewahrt gleichzeitig vor einem möglichen Überschießen des Strafrechts. Die nicht einvernehmliche Verbreitung ist in allen untersuchten Rechtsordnungen strafbar, wobei die Rechtsordnungen, die erst kürzlich Straftatbestände eingeführt haben, auch die Androhung der Verbreitung einschließen. In den untersuchten Rechtsordnungen hat bisher nur Singapur den Besitz unter Strafe gestellt. Dies scheint angemessen, weil bereits das Wissen, dass eine andere Person ein Bild unbefugt besitzt und es missbrauchen könnte, dem Opfer seelisches Leid zufügen und in ihrer sexuellen Autonomie verletzen kann. Insbesondere wenn die Person dazu aufgefordert wurde, das Bild zurückzugeben oder zu vernichten, gibt es meist auch keine Rechtfertigung, weiter im Besitz eines Bildes zu bleiben. Etwas anderes mag dann gelten, wenn die Person auf unschuldige Weise in den Besitz eines Bildes gelangt (z. B. wenn die abgebildete Person ursprünglich in den Besitz eingewilligt hat oder ein Dritter das Bild weitergegeben hat) und das Bild behält, ohne sich bewusst zu sein, dass dies für die abgebildete Person eine Belastung darstellt. Diese Umstände können, wie in Singapur, im subjektiven Tatbestand berücksichtigt werden, der erfordert, dass die Person das Bild in der Absicht besitzt, Schaden anzurichten. In jedem Fall sollte das Verhalten strafbar sein, wenn es ohne die tatsächliche Einwilligung des Betroffenen erfolgt. Die gesetzliche Auflistung von Faktoren, die für das Vorhandensein oder Fehlen einer Einwilligung maßgeblich sind, wie in einigen australischen Teilrechtsordnungen enthalten, kann erzieherische Wirkung hinsichtlich der Frage entfalten, wann eine Einwilligung als wirksam gilt. Was die subjektiven Elemente betrifft, so stellen die Ansätze in England und Wales sowie Hongkong und Singapur einerseits und Westaustralien andererseits zwei entgegengesetzte Extreme dar, wobei die meisten anderen australischen Teilrechtsordnungen dazwischen liegen. Das Erfordernis, dass das Verhalten in der Absicht erfolgt, einer Person Schaden zuzufügen, erfasst nur besonders schuldhaftes Verhalten und daher nur die eklatantesten Fälle. Dieser Ansatz erschwert die Strafverfolgung erheblich, da der Absichtsnachweis oftmals schwierig sein kann. Außerdem kann einem Opfer auch dann Schaden zugefügt werden, wenn dies nicht beabsichtigt war. Andererseits wird durch den Verzicht auf ein subjektives Element, wie dies in Westaustralien der Fall ist, die Schwelle zur Strafbarkeit auf einen rein objektiven Standard gesenkt. Das ist insofern problematisch, als Intimbilder durch moderne Kommunikationstechnologie mit bloßem Fingerwisch in sehr kurzer Zeit weit verbreitet werden können, ohne dass die Möglichkeit eines Rückrufs besteht. Wenn dies auch nicht die erheblichen Schäden mindert, die aus der nicht einvernehmlichen Verbreitung eines Intimbildes resultieren können, so besteht doch ein geringeres Maß an Schuld, wenn die 94 95

Law Commission (Fn. 6), [3.15]. Crimes Ordinance, Cap 200 (HK), s 159AA(1).

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Verbreitung gedankenlos oder unvorsichtig erfolgt. Das macht die objektiven defences im westaustralischen Ansatz besonders wichtig.96 Beide Extreme – sowohl Vorsatz als Mindesterfordernis (wie in England, Hongkong und Singapur) als auch der Verzicht auf subjektive Tatbestandsmerkmale (wie in Westaustralien) – sind daher problematisch. Vorzugswürdig ist ein „Stufenansatz“ (ladder approach),97 der bei der Kriminalisierung des Missbrauchs von Intimbildern die Tatschwere berücksichtigt. Ein solcher „Stufenansatz“ schafft eine Hierarchie von Straftatbeständen, die „eine aufsteigende Reihenfolge der Schwere in klarer und gerechter Form“98 aufweisen. Die Grundsätze der Subjektivität und der Korrespondenz tragen dazu bei, die Stufen zu bestimmen. Der Subjektivitätsgrundsatz verlangt, dass sich „das Verschuldenselement (…) auf das Täterbewusstsein zum Zeitpunkt seiner Handlungen bezieht“.99 Das Korrespondenzprinzip erfordert, dass sich das „Verschuldenselement (…) auf den Schaden beziehen sollte, für den jemand haftbar gemacht wird“.100 Nach Auffassung der englischen Rechtskommission gilt: „[J]e schwerer die Straftat, desto wichtiger ist, und umso wahrscheinlicher ist, dass einer der beiden oder beide Grundsätze bei der Definition des Verschuldensmerkmals beachtet werden“.101 Ein Stufenansatz mit einer Hierarchie von Straftatbeständen würde das breite Spektrum von Verhaltensweisen, die einen Missbrauch von Intimbildern darstellen können, in Hinblick auf die unterschiedlichen Grade von Schaden und Schuld widerspiegeln. Diesem Ansatz zufolge steht ein Straftatbestand, der über den Nachweis anderer Elemente hinaus auch spezifischen Vorsatz voraussetzt, an der Spitze der Hierarchie und erfasst die eklatantesten Verhaltensweisen. Ihm würde ein Straftatbestand folgen, bei dem die subjektiven Elemente mit den objektiven Elementen übereinstimmen. Am unteren Ende der Hierarchie könnte ein milderer Straftatbestand stehen, der auf objektiver Haftung beruht. Zwar schließt auch dieses Modell die Bestrafung für den schwersten Tatbestand aus, wenn sich der Nachweis über den erforderlichen spezifischen Vorsatz nicht erbringen lässt. Das ist allerdings insofern weniger problematisch als weitere, weniger schwere Straftatbestände vorhanden sind, die den spezifischen Vorsatz nicht erfordern. Ähnlich verhält es sich mit den Delikten am unteren 96 Dieser Ansatz steht im Einklang mit dem grundlegenden Konzept der Haftung in den traditionellen australischen Strafrechtskodifikationen, wonach ein geistiger Zustand nicht nachgewiesen werden muss, es sei denn, eine Straftatbestimmung erwähnt ihn. Ein Angeklagter kann sich jedoch auf allgemeine Bestimmungen in Kapitel 5/V der Strafgesetze von Queensland und Western Australia berufen, neben jeglichen spezifischen oder allgemeinen defences. Siehe Crofts/Tarrant, in: Gledhill/Livings (Hrsg.), The Teaching of Criminal Law: The pedagogical imperatives, 2017, 99. 97 Siehe Crofts/Kirchengast, Criminal Law Journal 2019, 87 (102). 98 Law Commission, A New Homicide Act for England and Wales, CP No. 177, 2005, [2.103]. 99 Law Commission (Fn. 98), [2.101]. 100 Law Commission (Fn. 98), [2.101]. 101 Law Commission (Fn. 98), [2.103].

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Ende der Hierarchie, die kein subjektives Element enthalten und daher auch ein unbeabsichtigtes und weniger schuldhaftes Verhalten kriminalisieren. Dies ist im Hinblick auf die geringere Strafandrohung insbesondere dann akzeptabel, wenn die Strafbarkeit bei Vorliegen bestimmter objektiver Umstände ausgeschlossen ist. Insgesamt besteht der Sinn einer hierarchischen Struktur von Straftaten darin, dass sie dem angerichteten Schaden und der Schuld des Täters jeweils angemessen Rechnung tragen. Auch wenn ein solcher Stufenansatz nicht gewählt wird, sollte der Tatbestand auf die Übereinstimmung von objektiven und subjektiven Elementen abzielen. Das heißt, dass der Täter hinsichtlich der objektiven Elemente mit Vorsatz oder Leichtfertigkeit gehandelt haben muss. Außerdem sollten bestimmte Situationen von der Strafbarkeit ausgeschlossen werden. Das in NSW angewendete Modell scheint hier angemessen. Es lässt eine defence zu, wenn das Verhalten zu medizinischen oder wissenschaftlichen Zwecken, durch Strafverfolgungsbeamten zu einem echten Strafverfolgungszweck, oder aufgrund Anordnung eines Gerichts erfolgt oder es für ein Gerichtsverfahren vernünftigerweise erforderlich ist, oder wenn eine vernünftige Person das Verhalten unter Berücksichtigung der gesetzlich bestimmten Faktoren für akzeptabel halten würde. Die defences dienen dazu, ein Überschießen des Strafrechts zu verhindern, wenn für das Verhalten des Täters ein legitimer Grund vorliegt. Die Auflistung der zu berücksichtigenden Faktoren für die letztgenannte, allgemeine defence bei gesellschaftlich akzeptablem Verhalten soll die Gefahr verringern, dass Stereotype in die Beurteilung einfließen, die auf problematischen „geschlechtsspezifischen Annahmen über die sexuelle Aktivität und Handlungsfähigkeit von Frauen“ beruhen, einfließen.102

V. Fazit Dieser Beitrag ging der Frage nach, wie ausgewählte Strafrechtsordnungen des Common Law Verletzungen der sexuellen Würde und Autonomie einer Person durch Missbrauch intimer Bilder begegnen. In seinem normativen Teil begründete er, nach welchen Grundsätzen die Notwendigkeit einer Kriminalisierung bestimmt werden soll. Die Untersuchung der Strafwürdigkeit kommt zu dem Ergebnis, dass es für die Schaffung spezifischer Straftatbestände gute Gründe gibt. Der Missbrauch von Intimbildern verursacht erheblichen Schaden, sowohl für die Lebensqualität der Betroffenen als auch für die Interessen der Allgemeinheit. Wenn ein solcher Missbrauch schuldhaft erfolgt, stellt er ein erhebliches Unrecht dar, das eine Bestrafung verdient. Die untersuchten Rechtsordnungen des Common Law haben unterschiedliche Antworten auf die Frage gefunden, wie die Straftatbestände am besten formuliert werden können, um die unterschiedlichen Grade des Fehlverhaltens zu erfassen. 102

McGlynn/Rackley/Houghton (Fn. 2), 29.

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Trotz teilweise erheblicher Unterschiede zwischen den untersuchten Rechtsordnungen ist offenbar, dass die Reformen aufeinander Bezug genommen haben. Alle Rechtsordnungen zielen darauf ab, angemessenen Opferschutz zu erreichen und gleichzeitig sicherzustellen, dass unbeabsichtigtes Verhalten nicht erfasst wird. Die obige Überprüfung hat gezeigt, dass einige Rechtsordnungen dem Opferschutz höheren Wert beimessen und andere eher etwas restriktiv vorgehen. Die Stellschrauben sind dabei sowohl die subjektiven und objektiven Tatbestandsmerkmale als auch die defences. Alle untersuchten Rechtsordnungen kriminalisieren nicht-einvernehmliche Verhaltensweisen in Bezug auf die Verbreitung intimer Bilder, und zunehmend auch die Androhung nicht-einvernehmlicher Verbreitung. Bisher stellt nur Singapur den unbefugten Besitz intimer Bilder unter Strafe, sofern Schädigungsabsicht besteht. Eine noch größere Bandbreite unterschiedlicher Regelungen besteht im Hinblick auf die subjektiven Tatbestandsmerkmale, wobei England und Wales, Hongkong und Singapur in starkem Kontrast zu WA stehen. In ersteren ist die Strafverfolgung erschwert, weil nicht nur Vorsatz und Leichtfertigkeit in Bezug auf die Verbreitung oder deren Androhung verlangt wird, sondern auch in Bezug auf die Herbeiführung von Demütigung, Beunruhigung oder Beunruhigung. Andererseits bedeutet das Fehlen eines subjektiven Tatbestandsmerkmals, wie in WA, dass ungewolltes Verhalten strafbar werden kann, so dass die defences dort eine besondere Bedeutung erlangen. Dieser Beitrag macht den Vorschlag eines Stufenansatzes, um die vielfältigen Fallgestaltungen angemessen zu bewältigen. Eine Hierarchie von Straftatbeständen kann am ehesten sicherstellen, dass die Straftatbestände die jeweilige Schwere des Tatverhaltens angemessen berücksichtigen. Bei der hier untersuchten Problematik liegt der Vorteil einer rechtsvergleichenden Analyse besonders auf der Hand, weil sich die durch moderne Kommunikationstechnologien neu entstandenen Probleme in allen untersuchten Rechtsordnungen in ähnlicher Weise stellen. Daher ist es nur folgerichtig, dass die Suche nach optimalen strafrechtlichen Lösungen auch mit rechtsvergleichender Methodik erfolgt. Ich bin dankbar, dass ich für rechtsvergleichendes Arbeiten während meiner Zeit am Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, unter meinem Lehrer, Herrn Joerden, wichtige Impulse und vielfältige Förderung erhalten habe, die mir bis heute zugutekommen.

Die Bekämpfung von Geldwäsche auf dem polnischen Kunstmarkt Joanna Długosz-Józ´wiak Der Beitrag ist in großer Dankbarkeit und mit herzlichen Glückwünschen Professor Dr. Jan C. Joerden zu seinem 70. Geburtstag gewidmet. Mit der von ihm betreuten Dissertation zum Thema „Europäisierung des polnischen Strafrechts im Bereich der Geldwäsche unter vergleichender Berücksichtigung der deutschen Rechtslage“ begann an seinem Lehrstuhl an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) mein wissenschaftlicher Weg. Ich danke dem Jubilar für die konstruktive, wirkungsvolle und immer wohlwollende Unterstützung meiner wissenschaftlichen und organisatorischen Tätigkeit, für die wertvollen Hinweise und Anregungen sowie für die Freiräume, die er mir in jeder Hinsicht zugestanden hat. Insbesondere danke ich für das mir entgegengebrachte Vertrauen während unserer gesamten Zusammenarbeit.

I. Einleitung Die Gefahr der Geldwäsche liegt in ihren möglichen Folgen für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.1 Die Möglichkeit, riesige Gewinne in relativ kurzer Zeit zu erzielen, motiviert Viele zur Begehung dieser Straftat. Wegen des grenzüberschreitenden Charakters der Geldwäsche2 sind nicht nur national, sondern auch international abgestimmte Gegenmaßnahmen strafrechtlicher und nichtstrafrechtlicher Art erforderlich, die möglichst viele Länder umfassen sollten, um dieses Phänomen wirksam zu bekämpfen. Die Regelungen sollten darauf abzielen, die legale Wirtschaft vor Einschleusung von aus kriminellen Tätigkeiten herrührenden Vermögenswerten zu schützen und der Ausdehnung der Kriminalität vorzubeugen.3 Die Bekämpfung der Geldwäsche ist einer der wichtigsten Schwerpunkte der gegenwärtigen Kriminalpolitik in Polen. Die ersten Gesetzgebungsinitiativen, die die Harmonisierung des polnischen Rechts mit den europäischen Vorgaben im Bereich

1 Vgl. E. Pływaczewski/Filipkowski, in: Adamski (Hrsg.), Przeste˛ pczos´c´ gospodarcza z perspektywy Polski i Unii Europejskiej, 2003, 361. 2 Vgl. Jasin´ski, Standardy prawne zwalczania prania pienie˛ dzy, Przegla˛d Ustawodawstwa Gospodarczego 2000, Nr. 10, 18 f. 3 Vgl. Gentzik, Die Europäisierung des deutschen und englischen Geldwäschestrafrechts, 2002, 37.

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der Bekämpfung der Geldwäsche zum Ziel hatten, wurden schon Ende der 1980er Jahre ergriffen.4 Anders als im deutschen Recht erfolgten in Polen die ersten Versuche, das Phänomen der Geldwäsche zu erfassen, zunächst auf dem Gebiet des Bank-, Wertpapierund Devisenrechts; auf strafrechtliche Maßnahmen (vgl. insbesondere Art. 299 poln. StGB) wurde erst in zweiter Linie zurückgegriffen.5 Zu den umfangreichsten und komplexesten gesetzgeberischen Vorhaben auf diesem Gebiet gehört das seit dem Jahre 2000 geltende Gesetz zur Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung.6 Die heute geltende Fassung dieses grundlegenden Gesetzeswerks ist diejenige vom 1. 3. 2018.7 Sein vorrangiger Zweck ist, neben den im Titel des Gesetzes aufgeführten Zielen, die Bestimmung der Verpflichtungen der sich am Finanzverkehr beteiligenden Institutionen, für welche der Begriff der sog. Verpflichteten eingeführt wurde, und zwar insbesondere in Form der Feststellung und Überprüfung der Identität der Kunden sowie der Sammlung von Informationen und deren Übermittlung an den Generalinspekteur für Finanzinformationen im Falle eines begründeten Verdachts auf Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung. Darüber hinaus wurde mit diesem Gesetz schrittweise eine Reihe von EU-Geldwäscherichtlinien in das polnische Recht umgesetzt.8

II. Die neuen gesetzlichen Regelungen Am 30. 4. 2021 wurde das Gesetz vom 30. 3. 2021 zur Änderung des Gesetzes vom 1. 3. 2018 zur Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung und eini4 Siehe dazu etwa Zielin´ska, Polskie prawo karne a ochrona interesów ekonomicznych Wspólnot Europejskich, Pan´stwo i Prawo 2001, Heft 1, 41 f. 5 Vgl. Jasin´ski, Nowe rozwia˛zania prawne w zakresie przeciwdziałania praniu pienie˛ dzy, Przegla˛d Ustawodawstwa Gospodarczego 2002, Nr. 2, 2; dazu auch ausführlich Długosz, Europäisierung des polnischen Strafrechts im Bereich der Geldwäsche, 2007, 147 – 178. 6 Die erste Fassung des Gesetzes – damals unter der Bezeichnung „Gesetz über die Verhinderung der Einführung aus illegalen oder nicht ermittelbaren Quellen stammender Vermögenswerte in den Finanzverkehr und der Finanzierung des Terrorismus“ – wurde am 16. 11. 2000 angenommen (Dz.U. 2000, Nr. 116, Pos. 1216, mit späteren Änderungen). 7 Dz.U. 2020, Pos. 971 mit Änderungen (im Folgenden: Geldwäschegesetz, GwG). 8 Gemeint sind hier: die sog. erste EG-Geldwäscherichtlinie – Richtlinie 91/308/EWG des Rates vom 10. 6. 1991 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche (ABl. L 166 v. 28. 6. 1991, S. 77); die sog. zweite EG-Geldwäscherichtlinie – Richtlinie 2001/97/EG des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union vom 4. 12. 2001 zur Änderung der Richtlinie 91/308/EWG (ABl. L 344 v. 28. 12. 2001, S. 76); die sog. dritte EG-Geldwäscherichtlinie – Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 10. 2005 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung (ABl. L 309 v. 25. 11. 2005, S. 15) sowie die sog. vierte EU-Geldwäscherichtlinie – Richtlinie 2015/849 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. 5. 2015 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung (ABl. L 141 v. 5. 6. 2015, S. 73).

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ger anderer Gesetze im polnischen Gesetzblatt veröffentlicht.9 Seine Verabschiedung diente der Umsetzung weiterer Vorgaben der Europäischen Union, insbesondere der Implementierung der sog. fünften EU-Geldwäscherichtlinie.10 Die Änderungen des polnischen Geldwäschegesetzes11 waren umfassend und betrafen u. a. die Erweiterung des Katalogs der Verpflichteten, die Aktualisierung der wichtigsten gesetzlichen Definitionen, die Ausdehnung des Umfangs des internen Verfahrens eines Verpflichteten, die Präzisierung der Grundsätze für die Anwendung von Maßnahmen zur Gewährleistung der finanziellen Sicherheit durch die Verpflichteten, die Konkretisierung der Grundsätze für die Aufbewahrung von Dokumenten und Informationen, die infolge der Anwendung von Maßnahmen zur Gewährleistung der finanziellen Sicherheit durch die Verpflichteten erlangt wurden, sowie die Einführung von Mechanismen für die Überprüfung der im Zentralregister der wirtschaftlichen Eigentümer (ZRWE) enthaltenen Daten.12

9

Vgl. Dz.U. 2021, Pos. 815 (im Folgenden: Änderungsgesetz). Richtlinie 2018/843 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. 5. 2018 zur Änderung der Richtlinie 2015/849 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche oder der Terrorismusfinanzierung und zur Änderung der Richtlinien 2009/138/EG und 2013/36/EU (ABl. L 156 v. 19. 6. 2018, S. 43) (im Folgenden: Richtlinie 2018/843). Zu erwähnen ist, dass die Richtlinie nicht das einzige Instrument zur Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung im Bereich des Kulturerbes (einschließlich des Kunstmarktes) darstellt, das kürzlich in der EU angenommen wurde. Am 27. 6. 2019 trat die EU-Verordnung 2019/880 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. 4. 2019 über die Einfuhr von Kulturgütern in Kraft (ABl. L 151 v. 7. 6. 2019, S. 1; im Folgenden: Verordnung 2019/880). Die Verordnung verfolgt jedoch ein grundlegend anderes Ziel als die Richtlinie 2018/843, nämlich die Einrichtung eines Systems zum Schutz von Kulturgütern gegen ihre illegale Einfuhr in die EU und somit die Verhinderung von Terrorismusfinanzierung und Geldwäsche von Finanzmitteln, die aus dem Verkauf von geraubten Kulturgütern stammen oder außerhalb des Zollgebiets der EU entdeckt wurden. In diesem Zusammenhang verbietet die Verordnung das Verbringen und die Einfuhr von Kulturgütern in die EU, wenn sie aus dem Hoheitsgebiet eines Landes, in dem sie geschaffen oder entdeckt worden sind, unter Verstoß gegen dessen Rechts- und Verwaltungsvorschriften entfernt wurden (vgl. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2019/880). 11 Zu den legislativen Mängeln, die durch diese Änderung aufgetreten sind, vgl. u. a. Golonka, Zakres podmiotowy ustawy o przeciwdziałaniu praniu pienie˛ dzy w s´wietle znowelizowanych przepisów, Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 2020, Heft 3, 155 ff.; dies., Przeciwdziałanie praniu pienie˛ dzy w s´wietle znowelizowanych przepisów, Przegla˛d Ustawodawstwa Gospodarczego 2020, Nr. 4, 16 ff. 12 Es handelt sich um ein System, das Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer der in Art. 58 und Art. 61 Abs. 1 GwG aufgezählten Unternehmen und natürlichen Personen sammelt und verarbeitet. Als wirtschaftliche Eigentümer gelten natürliche Personen, die eine direkte oder indirekte Kontrolle über einen Kunden oder eine natürliche Person ausüben, in deren Namen eine Geschäftsbeziehung hergestellt oder eine gelegentliche Transaktion durchgeführt wird (vgl. Art. 2 Abs. 2 Pkt. 1 GwG). 10

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1. Die auf dem Kunstmarkt tätigen Unternehmer als Verpflichtete Eine umfassende Untersuchung der erwähnten Änderungen ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich.13 Der vorliegende Beitrag konzentriert sich daher auf die Ausdehnung des gesetzlichen Katalogs der Institutionen, die durch das genannte Gesetz verpflichtet wurden, bestimmte Anforderungen im Bereich der Bewertung der Risiken der Geldwäsche sowie der Anwendung von Maßnahmen zur Gewährleistung der finanziellen Sicherheit zu erfüllen (sog. Verpflichtete), auf eine in Polen für das System zur Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung völlig neue Gruppe von Rechtsträgern, nämlich Unternehmer, die auf dem Kunstmarkt tätig sind. Unter diesen Begriff fallen zum einen Unternehmer, die eine Geschäftstätigkeit im Bereich des Handels mit oder der Vermittlung von Kunstgegenständen, Sammlerstücken und Antiquitäten ausüben, wenn diese wirtschaftliche Tätigkeit in Kunstgalerien, Auktionshäusern oder unter Nutzung eines Freihafens ausgeübt wird. Dabei gilt als ein Freihafen eine Zone oder ein Raum, in dem Waren so behandelt werden, als befänden sie sich nicht im Zollgebiet der EU-Mitgliedstaaten oder der Drittländer, einschließlich der Nutzung einer Freizone.14 Zum anderen fällt unter den genannten Begriff auch die unternehmerische Geschäftstätigkeit in Form der Lagerhaltung von Kunstgegenständen, Sammlerstücken und Antiquitäten, wenn sie über Freihäfen, wie oben beschrieben, erfolgt. Zu beachten ist jedoch, dass in beiden Fällen der Wert der durchgeführten Transaktion mindestens einen Gegenwert von 10.000 Euro betragen muss, unabhängig davon, ob die Transaktion als ein einziger Vorgang oder als mehrere Vorgänge, die miteinander verbunden zu sein scheinen, durchgeführt wird (vgl. Art. 2 Abs. 1 Nr. 24a GwG).15 Wenn etwa ein Kunstwerk für einen Gegenwert von 12.000 Euro versteigert wird oder ein Käufer mehrere Kunstwerke mit einem Gesamtwert von mehr als 10.000 Euro in einem Zolllager 13

Dies betrifft auch den bereits im Rat der EU behandelten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems für Zwecke der Geldwäsche oder der Terrorismusfinanzierung (COM/2021/420; 2021/0239/ COD) sowie die Umsetzung der sog. sechsten EU-Geldwäscherichtlinie – Richtlinie 2018/ 1673 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. 10. 2018 über die strafrechtliche Bekämpfung der Geldwäsche (ABl. L 284 v. 12. 11. 2018, S. 22). Ausführlich hierzu Golonka, Polskie regulacje karne wobec „szóstej“ dyrektywy anti-money laundering, Ius Novum 2021, Heft 1, 29 ff. 14 Die Freihäfen befinden sich u. a. in der Schweiz, in Luxemburg und in Shanghai. 15 Es sei angemerkt, dass die Umsetzung von Art. 1 Abs. 1 lit. c (i, j) der Richtlinie 2018/ 843 nicht präzise erfolgte; vgl. Art. 2 Abs. 1 Nr. 24a GwG. In der genannten Bestimmung der Richtlinie 2018/843 wird erwähnt, dass der Katalog der Verpflichteten auch Personen umfasst, die mit Kunstwerken handeln, beim Handel mit Kunstwerken als Vermittler tätig werden oder die Kunstwerke lagern, „sofern sich der Wert einer Transaktion oder einer Reihe verbundener Transaktionen auf 10.000 EUR oder mehr beläuft“. Das geänderte GwG bezieht sich jedoch auf Transaktionen, die „miteinander verbunden zu sein scheinen“, was dazu führt, dass das Gesetz ein breiteres Spektrum an Transaktionen abdeckt als der in der Richtlinie 2018/843 festgelegte Mindeststandard. Auch wenn die strengere Umsetzung angesichts der Ziele der Richtlinie gerechtfertigt erscheint, erweckt sie Bedenken im Hinblick auf die Gesetzesbestimmtheit.

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aufbewahrt, dann gilt für beide Fälle der Schwellenwert als überschritten, so dass die gesetzlichen Verpflichtungen, einschließlich der Bewertung der Risiken einer Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung, erfüllt werden müssen. Der EU-Gesetzgeber verwendet in der Richtlinie 2018/843 den allgemeinen Begriff eines Kunstwerks, überlässt dessen Definition jedoch dem nationalen Gesetzgeber. Da das polnische Rechtssystem bisher keine allgemeingültige Begriffsbestimmung für diesen Begriff enthielt, hat sich der Gesetzgeber im Zuge der Implementierung der Richtlinie 2018/843 dagegen entschieden, sich auf den Mindeststandard zu beschränken und bloß die Formulierung „Kunstwerk“ in das GwG zu übernehmen. Vielmehr wurde der Gegenstand der Geschäftstätigkeit auf dem Kunstmarkt im GwG weit gefasst, indem sowohl Kunstgegenstände als auch Sammlerstücke und Antiquitäten miteinbezogen wurden. Zugleich wurde darauf hingewiesen, dass die Begriffe im Sinne des Art. 120 Abs. 1 Nr. 1 – 3 des poln. Mehrwertsteuergesetzes vom 11. 3. 2004 zu verstehen sind.16 2. Pflichten der auf dem Kunstmarkt tätigen Unternehmer Mit dem Inkrafttreten des polnischen Änderungsgesetzes17 erhielten also auch bestimmte auf dem Kunstmarkt tätige Unternehmer den Status eines Verpflichteten. Für die Praxis bedeutet dies die Pflicht, im Rahmen der Geschäftstätigkeit solcher Unternehmen die im GwG vorgesehenen internen Sicherungsmaßnahmen zu entwickeln und einzuführen, d. h. ein internes Verfahren im Bereich der Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung (vgl. Art. 50 GwG), ein internes Verfahren zur anonymen Meldung tatsächlicher oder möglicher Verstöße gegen die geldwäscherechtlichen Vorschriften (vgl. Art. 53 GwG), ein risikobasiertes Verfahren zur Feststellung, ob ein Kunde oder ein wirtschaftlicher Eigentümer als eine politisch exponierte Person anzusehen ist (vgl. Art. 46 Abs. 1 GwG) sowie ein gruppenweites Verfahren im Bereich der Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung (vgl. Art. 51 GwG). 16

Vgl. Dz.U. 2021, Pos. 685, 694 und 802. Dort findet sich eine umfangreiche Aufzählung welche Gegenstände als Kunstwerke zu betrachten sind, wie z. B. Gemälde, Collagen und ähnliche dekorative Tafeln, Zeichnungen und Pastelle, die vollständig vom Künstler angefertigt wurden, mit Ausnahme der Pläne und Zeichnungen für architektonische, ingenieurtechnische, industrielle, kommerzielle, topografische oder ähnliche Zwecke, der handverzierten Erzeugnisse des Kunsthandwerks, sowie der Stoffe, die für das Bühnenbild oder zur Dekoration von Künstlerateliers bzw. für ähnliche Zwecke bemalt wurden. Hingegen gelten als Sammlerstücke Postwertzeichen oder Steuerzeichen, Briefmarken, Ersttagsbriefe, gestempeltes Briefpapier und dergleichen, Sammlungen und Sammlerstücke von zoologischem, botanischem, mineralogischem, anatomischem, historischem, archäologischem, paläontologischem, ethnographischem oder numismatischem Wert sowie Münzen und Banknoten aus Gold, Silber oder anderen Metallen, die üblicherweise nicht als gesetzliches Zahlungsmittel verwendet werden oder einen numismatischen Wert haben. Antiquitäten sind dagegen andere als die oben genannten Gegenstände, wenn sie älter als 100 Jahre sind. 17 Im Hinblick auf die bereits erwähnte Erweiterung des Katalogs der Verpflichteten ab 31. 7. 2021.

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Ohne auf diese Verfahren im Detail einzugehen, lässt sich verallgemeinernd konstatieren, dass sie hauptsächlich auf die Feststellung und Überprüfung der Identität der Kunden und wirtschaftlichen Eigentümer, die individuelle Bewertung der Risiken sowie die laufende Überwachung der Geschäftsbeziehungen des Kunden hinauslaufen. Erfasst werden ferner die Zusammenarbeit mit dem Geldwäschebeauftragten18 als staatliche Verwaltungsbehörde, unter anderem im Hinblick auf die Erfassung und Übermittlung von Daten bei Verdacht auf Geldwäsche (Art. 299 poln. StGB) oder Terrorismusfinanzierung (Art. 165a poln. StGB), die Aussetzung von Transaktionen und Kontosperrung sowie die Umsetzung organisatorischer Maßnahmen (etwa die Archivierung von Dokumenten und Informationen, die Schulung des Personals).19 Die Nichteinhaltung dieser Verpflichtungen kann die Verhängung einer Verwaltungsstrafe (Art. 147 GwG)20 oder einer Geldstrafe bis zu 1 Million PLN (Art. 153 des GwG) gegen die Verpflichteten zur Folge haben.

III. Phänomen des illegalen Kunsthandels Der internationale Kunstmarkt ist einer der größten und wichtigsten Segmente des Marktes für alternative Anlagen21 und das Interesse, Kunst zu sammeln und darin zu investieren, steigt von Jahr zu Jahr. Zugleich ist dieser Markt aufgrund seines stark hermetischen und individualisierten Charakters ein Bereich, in dem sich kriminelle Handlungen dynamisch entwickeln.22 Der Handel mit Kunstwerken, Antiquitäten und Sammlerstücken sowie Investitionen in diesen Markt werden zu einer immer beliebteren Form der Tarnung, die von kriminellen Vereinigungen missbraucht wird, um die illegale Herkunft der in die legale Wirtschaft fließenden finanziellen Mittel zu verschleiern.23 18

In Art. 10 Abs. 1 Nr. 2 GwG als Generalinspekteur für Finanzinformationen bezeichnet. Näher z. B. Kapica (Hrsg.), Przeciwdziałanie praniu pienie˛ dzy oraz finansowaniu terroryzmu. Praktyczny przewodnik, 2019; Ke˛ dzierski, Obowia˛zki i odpowiedzialnos´c´ oficera AML (AMLO) w instytucji obowia˛zanej, Teil 1, Prokuratura i Prawo 2021, Heft 5, 66 ff.; Teil 2, Prokuratura i Prawo 2021, Heft 6, 45 ff. 20 Zum Katalog der Verwaltungssanktionen siehe Art. 150 Abs. 1 GwG. 21 Vgl. u. a. Borowski, in: Bombol (Hrsg.), Badania polskiej klasy wyz˙ szej. Problemy, diagnozy, dylematy, 2012, 207 ff.; Cichorska, Rozwój rynku sztuki jako przykład inwestycji alternatywnych, Annales Universitatis Mariae Curie-Skłodowska Lublin – Polonia, sectio H, 2015, vol. XLIX, 4, 69 ff. 22 Vgl. etwa Szafran´ski, in: Trzcin´ski/Jakubowski (Hrsg.), Przeste˛ pczos´c´ przeciwko dziedzictwu kulturowemu. Diagnoza, zapobieganie, zwalczanie, 2016, 45 ff.; ders., Aktualne problemy i zagroz˙ enia zwia˛zane z obrotem dobrami kultury na rynku sztuki w Polsce z perspektywy prawnej ochrony zabytków, Santander Art and Culture Law Review 2019, Nr. 1, 41 ff. 23 Es wird u. a. darauf hingewiesen, dass der Antiquitäten- und Auktionsmarkt eine häufige und wichtige Finanzierungsquelle für den „Islamischen Staat“ (IS) darstellt und die Abwicklung der Geschäfte häufig über weltweit operierende „Briefkastenfirmen“ erfolgt; vgl. www. prawo.pl/prawnicy-sady/nowela-ustawy-o-przeciwdzialaniu-finansowaniu-terroryzmu-han 19

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Es wird betont, dass der illegale Kunsthandel weltweit die dritthäufigste Form der internationalen Kriminalität darstellt,24 und zwar nach dem Drogen- und Waffenhandel. Es geht dabei um Transaktionen, die sowohl in dem Erwerb von Kunstwerken und wertvollen Gegenständen mit Mitteln aus dem Erlös von Straftaten als auch in deren Veräußerung bestehen. Zu dem typischen Verhalten der kriminellen Gruppen auf dem „schwarzen“ Kunstmarkt, das als Geldwäsche angesehen werden kann, zählt der Transfer von Finanzmitteln zum Zwecke der „Legitimierung“ der aus illegalen Quellen stammenden Gelder. Als Beispiel hierfür gilt der Kauf (oder das Ersteigern) eines wertvollen Gegenstandes mit illegalen Finanzmitteln und dessen Einführung in den legalen Wirtschaftsverkehr sowie das Inverkehrbringen von wertvollen Gegenständen, die aus einer Straftat herrühren, oder von Fälschungen, die häufig mit gefälschten, ihre (scheinbare) Echtheit bescheinigenden Zertifikaten versehen sind, um anschließend die aus ihrem Verkauf erzielten Finanzmittel in legale Wirtschaftsbereiche zu investieren. Darüber hinaus ist Korruption in Form von Überzahlungen für Kunstwerke mit offensichtlich geringerem Wert anzuführen.25 Dabei ist darauf hinzuweisen, dass an kriminellen Aktivitäten auf dem Kunstmarkt häufig nicht nur Personen beteiligt sind, die internationalen kriminellen Strukturen entstammen, sondern auch Personen bzw. Institutionen, die – auch auf dem Kunstmarkt – legale Geschäftstätigkeiten ausüben.

IV. Bewertung der neuen Regelungen Die zunehmende Bedeutung des Kunsthandels sowie die daraus resultierende Zunahme von Anzahl und Wert der Transaktionen ist für die Händler und Sammler von wertvollen Kunstgegenständen sicherlich erfreulich. Zugleich wird die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers auf diese Aktivitäten gelenkt, der in der zunehmenden Dynamik der Transaktionen auf dem Kunstmarkt auch ein Risiko illegaler Praktiken sieht, einschließlich der Verschleierung von illegal erworbenen Finanzmitteln.26 Fehlen hinreichende Maßnahmen zur wirksamen Verhinderung dieser Missstände, erscheint es vernünftig, auch in diesem Wirtschaftsbereich neue Rechtsinstrumente einzuführen, die zur Stärkung der Finanzkontrolle bestimmter Unternehmer beitragen können. Diese sollen zielgerichtet die Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke del,506274.html (zuletzt abgerufen am 22. 3. 2022). Die Information, dass „die Arbeit der Ar beitsgruppe der Europäischen Kommission zum IS ergeben hat, dass Antiquitäten und Artefakte archäologischer Art eine wichtige Finanzierungsquelle für den IS sind“, ist auch in der Begrün dung des polnischen Änderungsgesetzes vom 30. 3. 2021 enthalten. (Druk sejmowy Nr. 909 v. 19. 1. 2021, S. 5). 24 www.artcrimeresearch.org (zuletzt abgerufen am 22. 3. 2022). 25 Siehe die zahlreichen Beispiele bei W. Pływaczewski, in: Pranie pienie˛ dzy na rynku dzieł sztuki – skala zjawiska oraz moz˙ liwos´ci przeciwdziałania, Acta Universitatis Wratislaviensis. Przegla˛d Prawa i Administracji, LXXXVIII 2012, 82 ff. 26 Näher hierzu W. Pływaczewski, Acta Universitatis Wratislaviensis, 81 – 98; ders., in: E. Pływaczewski (Hrsg.), Proceder prania pienie˛ dzy i jego implikacje, 2013, 177 ff.

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der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung verhindern. Das Ausmaß der Änderungen, die in Bezug auf die auf dem Kunstmarkt tätigen Händler vorgenommen wurden – und zwar, zunächst in der Richtlinie 2018/843 und dann im GwG in der Fassung vom 30. 3. 2021 – ist jedoch Anlass für eine kritische Betrachtung. Erstens gibt es formelle Bedenken. Das Änderungsgesetz vom 30. 3. 2021 wurde am 30. 4. 2021 im polnischen Gesetzesblatt verkündet. Die dort normierten Änderungen sind bereits am 31. 7. 2021 in Kraft getreten. Da die Umsetzung geeigneter Verfahren zur Überprüfung und Bewertung der Risiken sowie zur Anwendung von Maßnahmen zur Gewährleistung der finanziellen Sicherheit und die Erfüllung anderer gesetzlicher Verpflichtungen – einschließlich derjenigen im Bereich der Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung – in der Praxis ein komplizierter und zeitaufwändiger Prozess ist, erscheint die den neuen Verpflichteten (einschließlich der Kunsthändler und Kunstvermittler) eingeräumte Frist als unangemessen knapp. Zweitens gibt es mit Blick auf das mit der Änderung der geltenden polnischen Vorschriften zur Geldwäscheverhinderung zu erreichende Ziel Bedenken bezüglich der Stichhaltigkeit der Beschränkung des Katalogs der Verpflichteten auf dem Kunstmarkt (vgl. Art. 2 Abs. 1 Nr. 24a GwG) auf Kunstgalerien, Auktionshäuser sowie Unternehmer, die ihre Geschäftstätigkeit im Bereich des Handels, der Vermittlung oder der Lagerhaltung von Kunstgegenständen, Sammlerstücken und Antiquitäten unter Nutzung eines Freihafens ausüben. Bei diesen Unternehmern entsteht bei jeder Transaktion mit einem Wert von mindestens 10.000 Euro die Verpflichtung, den gesetzlichen Anforderungen nachzukommen. Dies bedeutet, dass die Identität der Kunden dieser Institutionen jeweils festgestellt und überprüft werden muss, und zwar unabhängig davon, ob sie eine Zahlung in bar, eine Zahlung per Kreditkarte oder per Überweisung tätigen.27 Außerhalb des Anwendungsbereichs des Gesetzes bleiben nicht nur natürliche Personen, die zwar keine Unternehmer sind, aber mit Kunstwerken, Antiquitäten oder Sammlerstücken handeln, diese vermitteln oder lagern,28 sondern auch andere Unternehmer auf dem Kunstmarkt (etwa Inhaber von Antiquitätengeschäften bzw. Institutionen, die sich mit der Vermittlung oder Lagerung von Kunst beschäftigen) sowie Personen und Institutionen, deren Tätigkeit im Handel mit wertvollen Gegenständen besteht, sofern sie Transaktionen in bargeldloser Form durchführen, und zwar unabhängig von ihrem Wert.29 Aufgrund der vorherrschenden Präferenz der Teilnehmer am Kunstmarkt für Anonymität und Vertrau27 Bei einer Auktion von Kunstwerken müssen daher alle Teilnehmer identifiziert und überprüft werden, da es unmöglich ist, im Voraus zu wissen, wer ein bestimmtes Werk (für einen Gegenwert von 10.000 Euro oder mehr) kaufen wird. 28 In Hinblick auf die Ziele des Gesetzes ist der Ausschluss von Transaktionen zwischen Privatpersonen eindeutig gerechtfertigt. 29 Die gesetzlichen Verpflichtungen bleiben jedoch bestehen, soweit die Unternehmer Barzahlungen für Waren im Gegenwert von 10.000 Euro oder darüber annehmen oder leisten, unabhängig davon, ob es sich um einen einzigen Vorgang oder um mehrere Vorgänge handelt, die miteinander verbunden zu sein scheinen (vgl. Art. 2 Abs. 1 Pkt. 23 GwG).

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lichkeit scheint die bargeldlose Form der Transaktionen vorzuherrschen. Daher sollte die im Gesetz gewählte Lösung in dieser Hinsicht korrigiert werden. Drittens liegt nach den eingeführten Gesetzesänderungen die Verantwortung auf dem Kunstmarkt für Transaktionen mit einem Gegenwert von 10.000 Euro oder mehr im Wesentlichen bei den Inhabern von Kunstgalerien und Auktionshäusern. Ihnen wurde die Pflicht auferlegt, gesetzliche Anforderungen zu erfüllen, darunter auch die Feststellung und Überprüfung der Identität ihrer Kunden und der wirtschaftlichen Eigentümer, die Durchführung und Dokumentierung der internen Risikobewertung sowie die Abgabe einer Verdachtsmeldung beim Generalinspekteur für Finanzinformationen im Falle eines begründeten Verdachts auf Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung. In der Praxis wird dies zu erheblichen zusätzlichen organisatorischen und finanziellen Belastungen führen, die für kleinere Kunstgalerien oder Auktionshäuser das Risiko mit sich bringen, den Betrieb einstellen zu müssen, wodurch sich das Handelsgefüge auf dem Kunstmarkt verändern wird. Zu beachten ist überdies die Besonderheit des Kunstmarktes, dass Verkäufer und Käufer es häufig vorziehen, anonym zu bleiben und die Einzelheiten der Transaktion vertraulich zu behandeln. Mit dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes vom 30. 3. 2021 wurde dies bei Transaktionen, an denen ein Verpflichteter beteiligt ist, unmöglich, was zu einer Änderung des Einkaufverhaltens etwa der Kunstsammler führen kann. Zu beachten ist allerdings, dass sich nicht eindeutig vorhersagen lässt, inwieweit diese Bedenken berechtigt sind. Die meisten Kunstsammler dürften kein Problem damit haben, ihre Identität offenzulegen, zumal die Unternehmer, die mit Gegenständen von künstlerischem Wert bzw. mit Sammlerstücken handeln, sie vermitteln oder aufbewahren, die personenbezogenen Daten ihrer Kunden allein zum Zwecke der Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung verwerten dürfen. In diesem Zusammenhang wäre jedoch zu erwägen, ein vereinfachtes Verfahren zur Umsetzung der Sorgfaltspflicht für Fälle mit einem geringen Risiko der Geldwäsche oder der Terrorismusbekämpfung einzuführen. Viertens wirft der Schwellenwert für Transaktionen auf dem Kunstmarkt, der auf einen Gegenwert von mindestens 10.000 Euro festgesetzt wurde, Bedenken auf. Angesichts der wirtschaftlichen Gegebenheiten in diesem Marktsegment dürfte der Betrag, der das Interesse des Staates an einer solchen Transaktion rechtfertigt, zu niedrig angesetzt sein. Denn wenn ein Unternehmer mit dem Status eines Verpflichteten bei der Durchführung einer Transaktion zu dem Schluss kommt, dass die Umstände auf einen Verdacht auf Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung hinweisen bzw. er einen begründeten Verdacht hat, dass eine bestimmte Transaktion oder bestimmte Vermögenswerte mit mindestens einer dieser Straftaten in Verbindung stehen könnten, ist er verpflichtet, den Generalinspekteur für Finanzinformationen (Art. 74 Abs. 1, Art. 86 Abs. 1, Art. 90 Abs. 1 GwG) und in manchen Fällen direkt den Staatsanwalt zu benachrichtigen (Art. 89 Abs. 1 GwG). Eine solche Pflicht entsteht bei jeder verdächtigen Transaktion, soweit ihr Wert einen Gegenwert von mindestens 10.000 Euro erzielt. Dies betrifft nicht nur Einzahlungen und Abhebungen, sondern auch die Übertragung von Finanzmitteln – etwa zwischen einem Girokonto und

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einem Konto für Kapitalanlagen – bzw. die von der Bank durchgeführten Transaktionen. Zwar vermeidet es die Untergrenze für den Transaktionswert, Kleinunternehmer mit zahlreichen Verpflichtungen zu belasten. Andererseits ist die Grenze von 10.000 Euro in diesem sehr spezifischen Marktsegment als relativ niedrig anzusehen. Mit Blick auf die gesetzlichen Ziele, d. h. die Verringerung des Risikos, dass ein Verpflichteter dem Vorwurf der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung ausgesetzt wird, sowie die Verminderung derartiger krimineller Aktivitäten auf dem Kunstmarkt, ist es erwägenswert, den Schwellenwert in Bezug auf die Verpflichtung zur Abgabe einer Verdachtsmeldung beim Generalinspekteur für Finanzinformationen so zu modifizieren30, dass sie nur für tatsächlich kritische Fälle gelten soll, was aber präzise Kriterien für deren Abgrenzung erfordert. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die meisten Transaktionen auf dem Kunstmarkt in Zusammenhang mit Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung gebracht werden und so ein Generalverdacht gegenüber den Beteiligten entsteht. Schließlich wirft die im Gesetz festgelegte „starre“ Untergrenze für den Wert von Transaktionen auf dem Kunstmarkt weitere Bedenken auf. Der Grund dafür liegt in der Besonderheit bei der Bestimmung des Wertes von Kunstgegenständen, Sammlerstücken und Antiquitäten, die über die in Geld bezifferbaren Materialkosten und die zu ihrer Herstellung erforderliche Zeit hinausgeht. Die Bewertung eines solchen Gegenstandes basiert auf immateriellen, manchmal sogar nicht messbaren Kriterien (etwa die Echtheit, die Urheberschaft bzw. Herkunft, physische Merkmale) und berücksichtigt grundsätzlich den Auktionsmarkt. Nicht ohne Bedeutung ist hier auch der Grundsatz, dass ein Kunstgegenstand nur so viel wert ist, wieviel ein Käufer dafür zu zahlen bereit ist. Daher besteht bei einem „starren“ Schwellwert immer die Gefahr, dass der Wert der Transaktionen auf dem Kunstmarkt gezielt unter dem gesetzlich festgelegten Schwellenwert festgelegt wird.

V. Fazit Der Zweck der fünften Geldwäscherichtlinie und ihrer anschließenden Umsetzung in die polnische Rechtsordnung besteht darin, eine breitere Gruppe von Rechtsträgern, einschließlich bestimmter Kategorien auf dem Kunstmarkt tätiger Unternehmer, in das System zur Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung in der Europäischen Union einzubeziehen. Die mit der Richtlinie 2018/843 eingeführten Änderungen dienen daher dem Schutz des nationalen und des europäischen Finanzsystems, einschließlich der Finanzströme auf dem Kunstmarkt. Zugleich widerlegen sie die Überzeugung, dass die besondere Beschaffenheit des Kunstmarktes illegale Praktiken und Operationen auf diesem Markt erzwingt.

30 Dies würde jedoch eine vorherige Änderung der entsprechenden Bestimmung der Richtlinie 2018/843 und ihre anschließende Umsetzung in nationales Recht erfordern.

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Die Ausweitung der gesetzlichen Definition eines „Verpflichteten“ auf Kunstgalerien, Auktionshäuser und Unternehmer, die mit wertvollen Gegenständen (Kunstwerken, Antiquitäten oder Sammlerstücken) handeln, diese vermitteln oder unter Nutzung eines Freihafens lagern, macht es schwieriger, aus terroristischen bzw. illegalen Quellen stammende Finanzmittel auf dem Kunstmarkt zu verschleiern. Zugleich wird die Effektivität der Strafverfolgungsbehörden bei der Aufdeckung verdächtiger Finanztransaktionen in diesem Wirtschaftsbereich verbessert und die Verschleierung der aus terroristischen bzw. illegalen Quellen stammenden Finanzmittel erschwert. Ferner wird es für die Finanzmarktaufsichtsbehörden einfacher, Präventivmaßnahmen zu ergreifen. Trotz der oben genannten Vorbehalte kann daher mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Neufassung des polnischen Geldwäschegesetzes sich grundsätzlich positiv auf dieses Marksegment auswirken wird.

Zur Beziehung zwischen Raubmittel und Wegnahme Michael Heghmanns

I. Fragestellung Die Frage, in welchem Verhältnis beim Raub (§ 249 StGB) das jeweilige Raubmittel (Gewalt gegen eine Person oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib/ Leben) und die Wegnahme zueinander stehen, soll nach Auffassung der – wohl immer noch – herrschenden Meinung im Schrifttum1 und zumindest bis 2016 vor allem auch in der Rechtsprechung2 im Sinne einer sog. Finalbeziehung beantwortet werden. Danach muss das Raubmittel lediglich nach Vorstellung des Täters der Wegnahme dienen. Ob es auch tatsächlich so wirke, sei hingegen unerheblich. Diese Inkongruenz von objektivem und subjektivem Tatbestand mit einem Überhang des letzteren ist ungewöhnlich und erklärungsbedürftig. Es überrascht deshalb nicht, wenn sich eine Gegenposition damit nicht zufrieden gibt; sie fordert in Einklang mit der üblichen Tatbestandsstruktur zusätzlich eine objektive Beziehung der Merkmale, sei es als echte Kausalbeziehung, sei es in Gestalt einer Förderung oder Erleichterung der Wegnahme durch die Raubmittel.3 Der verehrte Jubilar hat sich zu dieser Frage in einem Besprechungsaufsatz zu dem recht bekannten Münsteraner Hotelportiersfall4 am Rande ebenfalls geäußert.5 Besagter Portier war von den Tätern gefesselt worden, damit sie die Hotelrechnung prellen konnten, bevor sie auf die Idee kamen, die günstige Gelegenheit zu nutzen und die Hotelkasse zu plündern. Da die Gewalt ursprünglich wohl nicht der Wegnahme dienen sollte und bei dieser lediglich 1

Sander, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MK-StGB, 3. Aufl. 2017, § 249 Rn. 24 ff.; Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 249 Rn. 7; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 249 Rn. 4; Vogt, Diebstahl und Raub, 18 f.; Rengier, Strafrecht Besonderer Teil I, 23. Aufl. 2021, § 7 Rn. 22; Eisele, Strafrecht Besonderer Teil II, 6. Aufl. 2021, Rn. 319, 327; und wohl auch Eser, NJW 1965, 377 (378, dort Fn. 9). 2 BGHSt 4, 210; 18, 329; BGH NStZ 1993, 79; NStZ-RR 1997, 298; NStZ 2003, 431; NStZ 2015, 698. 3 A. H. Albrecht, Die Struktur des Raubtatbestandes (§ 249 Abs. 1 StGB), 2011, 77 ff., 101; Brandts, Der Zusammenhang von Nötigungsmittel und Wegnahme beim Raub, 1990, 155 ff.; Streng, GA 2010, 671 (682 f.); Vogel, in Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2010, § 249 Rn. 36 ff.; Sinn, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum StGB, 9. Aufl. 2019, § 249 Rn. 29; Bock, Strafrecht Besonderer Teil 2, 2018, 591. 4 BGHSt 32, 88. 5 Joerden, „Mieterrücken“ im Hotel – BGHSt 32, 88, JuS 1985, 20.

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die Nötigungswirkungen der Gewalt noch fortdauerten, hatte der BGH einen Raub verneint.6 In den letzten Jahren ist nun etwas Bewegung in die Frage gekommen, und zwar vor allem im Gefolge einer Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH vom 20. 1. 2016.7 Mein Beitrag nimmt dies zum Anlass, zunächst die Entstehung des Dogmas einer (bloßen) Finalbeziehung nachzuzeichnen und sodann der Frage nachzugehen, inwiefern besagte Entscheidung als Einleitung einer Renaissance objektiver Elemente in Ergänzung zu einer Finalbeziehung innerhalb der Rechtsprechung verstanden werden darf.

II. Die Entstehung des Dogmas einer (bloßen) Finalbeziehung Zuzeiten der Entstehung des modernen Raubtatbestandes in § 230 des preußischen StGB von 1851, des nahezu wortgleichen § 249 des StGB d. norddeutschen Bundes sowie des damit wiederum identischen § 249 RStGB war das ursprüngliche Verständnis des Verhältnisses von Raubmittel und Wegnahme – auch und sogar vorrangig – ein objektiv-kausales; „durch das Mittel (…) muss der Täter (…) die Wegnahme der Sache möglich machen.“8 Allerdings lag der Schwerpunkt der Diskussion nicht an dieser Stelle, weshalb frühe Stellungnahmen keineswegs immer so strikt zu verstehen sein dürften, wie sie heute klingen mögen.9 Vielmehr waren die vornehmlichen Fragestellungen, ob der Raub ein durch Nötigung erschwerter Diebstahl oder eine Nötigung in Diebstahlsabsicht darstelle, ob er eher Zueignungs- oder Freiheitsdelikt oder aber ein Delikt sui generis sei10 und wann seine Vollendung eintrete.11 Durchgesetzt und gesetzlich niedergeschlagen hat sich bekanntlich die Auffassung, der Raub sei ein eigenständiges Gebilde, womit zugleich eine Verknüpfung zwischen Nötigung und Wegnahme zum charakteristischen Merkmal wurde: Die in diebischer Absicht vorgenommene Gewaltanwendung oder Drohung war eine wesentliche Voraussetzung, eine bloße Abfolge von Gewalt und Wegnahme sollte hingegen nicht ge6

BGHSt 32, 88 (92); insoweit zustimmend Joerden, JuS 1985, 26 f. BGHSt 61, 141 = NJW 2016, 2129 = StV 2016, 640 mit Anmerkungen Berster, JZ 2016, 1017; Habetha, NJW 2016, 2131; Besprechungen Kudlich, JA 2016, 632; Eisele, JuS 2016, 754; Heghmanns, ZJS 2016, 519; ferner Magnus, NStZ 2018, 67. 8 Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 8.–10. Aufl. 1912, § 249 Anm. IV; ebenso ders., Raub, in: Birkmeyer et al. (Hrsg.), Vergleichende Darstellung des Deutschen und ausländischen Strafrechts, 1907, 117 (129 ff.); Merkel, in: Holtzendorff (Hrsg.), Lehrbuch des deutschen Strafrechts, Bd. III, 1874, 718 f. 9 Vgl. Schwarz, StGB, 9. Aufl. 1940, § 249, Anm. 1) B.; Dalcke/Fuhrmann, Strafrecht und Strafprozeß, 21. Aufl. 1928, § 249 Fn. 93; Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 17. Aufl. 1895, 562; Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Besonderer Teil Bd. I, 2. Aufl. 1902 (Neudruck 1969). 10 Ausführlich dazu A. H. Albrecht (Fn. 3), 50 ff. m. w. N.; ferner Sauer, System des Strafrechts, Besonderer Teil, 1954, 50 f.; Vogt (Fn. 1), 20 f.; Merkel (Fn. 8), 716. 11 Vgl. Berner (Fn. 9), 561. 7

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nügen. Wer das Opfer zunächst aus anderen Gründen niederschlägt und erst sodann auf die Idee einer Wegnahme verfällt, sollte gerade nicht als Räuber bestraft werden.12 Dieser – auch in jüngerer Zeit forensisch ausgesprochen häufig auftretende13 – Fall rückte zwangsläufig die Finalbeziehung in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Die in derartigen Konstellationen zumeist ohnehin unproblematisch anzunehmende Wegnahmeermöglichung oder -erleichterung wurde demgegenüber höchst selten überhaupt nur angesprochen. Bezeichnenderweise geht selbst der E 1962 noch ganz klar – und ebenfalls ohne nähere Begründung – davon aus, die Raubmittel müssten die Wegnahme bewirken.14 Soweit schien die strafrechtsdogmatische Welt gewissermaßen noch in Ordnung zu sein, denn neben der objektiven Ursächlichkeit der Raubmittel für das Wegnahmegeschehen in seiner konkreten Form bedurfte es ihres subjektiven Spiegelbildes, nämlich des Tätervorsatzes hinsichtlich der Instrumentalisierung des Raubmittels zur Wegnahme, und zwar zum Zeitpunkt der (ersten) Tathandlung, nämlich der Gewaltausübung oder des Drohens. Die erste Entscheidung, welche eine objektive Auswirkung der Raubmittel auf die Wegnahme leugnete, war BGHSt 4, 210 aus dem Jahr 1953. Sie kam gewissermaßen aus heiterem Himmel, denn weder war sie in der früheren Rechtsprechung angelegt noch hatte es im Schrifttum entsprechende Forderungen gegeben. Im konkreten Fall hatten die Angeklagten ihr alkoholbedingt besinnungsloses Opfer weggeschleppt, sodann zusammengeschlagen und ihm anschließend Kleidung und andere Gegenstände weggenommen. Gegenüber den Zweifeln der Revision, ob die Gewalt angesichts des Zustandes des Geschädigten überhaupt nötig gewesen wäre, um die Wegnahme zu ermöglichen, führt der Senat aus, es genüge, wenn der Täter von einer Eignung zur Wegnahmeermöglichung ausgehe. Ob eine tatsächliche Ursachenbeziehung vorliege, sei demgegenüber ohne Belang.15 Interessanterweise ergeben die weiteren Entscheidungsgründe dennoch eine objektive Beziehung, die auch der Senat kaum als solche verkannt haben dürfte: So sei schon das Wegschleppen vom Bahnhofsvorplatz, wo das Opfer unter dem Schutz der Öffentlichkeit stand, „an einen finsteren und einsamen Ort“ als Gewalt anzusehen,16 die offenbar dann die Wegnahme objektiv mindestens förderte und in ihrer konkreten Gestalt sogar erst ermöglichte.17 Eine Begründung für die Belanglosigkeit dieser objektiven Beziehung liefert der Senat bis auf einen schlichten Verweis auf RGSt 69, 33018 nicht; be12

Sauer (Fn. 10), 54 f. Vgl. aus jüngerer Zeit BGH JurionRS 2018, 16108; BGH NStZ-RR 2017, 143; NStZ 2015, 698; JR 2016, 542; BGH JurionRS 2015, 20094; BGHR § 249 Abs. 1 Gewalt 11; BGH NStZ 2015, 698. 14 „[D]as Wegnehmen oder Abnötigen der Sache (…) muß dadurch bewirkt werden, daß der Täter Gewalt anwendet oder mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben droht“ (BTDrs. 4, 650, 415). 15 BGHSt 4, 210 (211). 16 BGHSt 4, 210 (212). 17 Hörnle, FS Puppe, 2011, 1143 (1146). 18 RGSt 69, 327. 13

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sagte Entscheidung gibt wiederum nicht das her, was der Senat durch sie belegt wissen will.19 Argumente sucht man übrigens auch in allen ein ausschließlich erforderliches Finalitätskriterium betonenden Folgeentscheidungen vergebens. Sie betrafen, soweit sie sich auf BGHSt 4, 210 beziehen, durchweg erneut die Konstellation einer anders motivierten Gewaltausübung und eines erst im Anschluss gefassten Wegnahmeentschlusses; dabei stand die Existenz einer objektiven Ursachenbeziehung abermals außer Frage.20 Überhaupt findet sich bis heute mit der einzigen, sogleich noch anzusprechenden Ausnahme von BGHSt 61, 141 keine einzige Entscheidung, in der die Raubmittel zwar final eingesetzt wurden, objektiv aber ohne Einfluss auf die folgende Wegnahme blieben.21 Auch die Stellungnahmen des Schrifttums, soweit es der Rechtsprechung nach BGHSt 4, 210 folgt und überhaupt eine Begründung für den Verzicht auf eine objektive Ursachenbeziehung liefert, die über ein „es käme nicht darauf an“22 hinausgeht, bleiben zwingende Begründungen schuldig. Soweit der Wortlaut („mit Gewalt“ statt „durch Gewalt“) herangezogen wird,23 stehen dem die §§ 240, 253 StGB entgegen, wo ebenfalls „mit Gewalt“ und „durch Drohung“ genötigt werden muss, hierunter aber einhellig eine Kausalbeziehung verstanden wird.24 Der Gesetzgeber hat ganz offensichtlich „mit“ und „durch“ synonym, ja geradezu beliebig verwendet, weshalb der Wortlaut bestenfalls mehrdeutig bleibt.25 Der Hinweis, schon im Einsatz der Nötigungsmittel zeige sich die besondere Gefährlichkeit des Täters,26 lässt die Gegenfrage offen, warum es dann noch der erfolgten Wegnahme bedarf und nicht gleich deren Absicht genügen sollte. Außerdem stünde einer derart versubjektivierenden Deutung die Konstruktion des § 252 StGB entgegen, dem der Gesetzgeber einen Normtext gegeben hat, der explizit eine lediglich finale Gewalt fordert, während § 249 StGB darauf allenfalls die schon angesprochenen, mehrdeutigen Hinweise enthält. Auch wird man sich kaum noch darauf berufen können, das bloße Finalerfordernis spiegele die deutschrechtliche Unterscheidung zwischen Raub als offenem und Diebstahl als heimlichem Delikt,27 nachdem heute der Diebstahl einhellig 19 In der Entscheidung des RG aus dem Jahr 1935 geht es um einen Versuchsbeginn durch Versperren einer Tür; das Raubopfer sollte unmittelbar danach bedroht oder niedergeschlagen werden. Ein Verzicht auf eine objektive Wirkung der Gewalt lässt sich aus der Entscheidung nicht herauslesen. 20 BGH NStZ 1982, 380; BGHR § 249 Abs. 1 Gewalt 3; BGH StV 1991, 516; BGH NStZ 1993, 79; BGH StV 1995, 416; BGH NStZ-RR 1997, 298. 21 Für die Zeit vor 2010 so schon LK-Vogel, § 249 Rn. 38. 22 Darauf beschränken sich etwa S/S13-Schröder, StGB, § 249 Rn. 6; Lackner/Kühl § 249 Rn. 4. 23 Biletzki, JA 1997, 385; S/S-Bosch, StGB, § 249 Rn. 7. 24 A. H. Albrecht (Fn. 3), 77 f.; Brandts (Fn. 3), 25 f. 25 So ausdrücklich Eser, NJW 1965, 378. 26 Vogt (Fn. 1), 18 f. 27 v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 14./15. Aufl. 1905, 442 f.; Vogt (Fn. 1), 18 f.; Merkel, in: Holtzendorff (Hrsg.), Lehrbuch des deutschen Strafrechts, Bd. III, 1874, 715; zweifelnd Müller-Engelmann, Der Raub, 1973, 54 f.

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nicht mehr als heimliche Tat charakterisiert wird. Bis in die Gegenwart hinein hat im Ergebnis weder ein Judikat noch eine Äußerung des Schrifttums eine überzeugende Antwort darauf liefern können, wieso der Raub nur eine Finalbeziehung benötigen und damit eine ganz und gar atypische Tatbestandsstruktur aufweisen sollte. Eine praktische Notwendigkeit, den objektiven Tatbestand auf diese Weise zu beschneiden, bestand in Ermangelung entsprechender Fallgestaltungen ganz offenkundig bis in die jüngste Vergangenheit hinein ebenfalls nicht.

III. BGHSt 61, 141 als Wendepunkt der Rechtsprechung? Das änderte sich mit dem dramatischen, zugleich streckenweise geradezu skurrilen Tatgeschehen, das der vielbeachteten Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH vom 20. 1. 201628 zu Grunde lag: Der wohnungslose Angeklagte hatte den späteren Geschädigten über eine Partnerbörse im Internet kennengelernt und bei ihm die Nacht verbracht. Morgens entschloss er sich, den Geschädigten mittels eines Fleischhammers und einer Flasche durch Schläge auf den Kopf auszuschalten, um die Wohnung ungestört nach Wertgegenständen durchsuchen zu können. Die in Ausführung dieses Plans verübten Schläge hatten zwar schwere Kopfverletzungen zur Folge, jedoch wehrte sich der Geschädigte weiterhin. Schließlich brach der Angeklagte aus letztlich unklaren Gründen seinen Angriff ab. Während der Geschädigte sich säuberte und sich danach ins Schlafzimmer begab, um sich anzuziehen, duschte der Angeklagte im Badezimmer und stahl dort aus einem Schrank eine Goldkette. Anschließend zog er sich in der Küche an und entwendete bei dieser Gelegenheit noch das Smartphone des Geschädigten.29 Getreu der bis dahin seit BGHSt 4, 210 ständigen Rechtsprechung des BGH, es genüge zwischen Raubmittel und Wegnahme ein Finalzusammenhang, hatte die Vorinstanz, das LG München II, den Angeklagten auch wegen schweren Raubes verurteilt. Denn dieser habe schon während der Schläge eine Entwendung gewollt, die Gewalt sollte also der Wegnahme dienen. Objektiv allerdings hatte sich die Gewalt letztlich gar nicht mehr auf die folgenden Entwendungen ausgewirkt. Der Geschädigte war zwar verletzt, aber längst nicht ausgeschaltet, und die Lage zwischen den beiden Kontrahenten hatte sich äußerlich offenbar einigermaßen beruhigt. Die folgenden Wegnahmen gelangen dem Angeklagten nicht etwa wegen des angeschlagenen Zustandes des Geschädigten; vielmehr hätte er Goldkette und Smartphone ebenso gut einstecken können, dächte man sich anstelle des brutalen morgendlichen Überfalls ein harmonisches Aufwachen und Aufstehen der beiden. Für den Senat wäre es nun ein Leichtes gewesen, die Revision des Angeklagten zu verwerfen. Die objektive Nutzlosigkeit der Gewalt hätte nach der bis dahin verfolg28

BGHSt 61, 141 = NJW 2016, 2129 = StV 2016, 640 mit Anmerkungen Berster, JZ 2016, 1017; Habetha, NJW 2016, 2131; Besprechungen Kudlich, JA 2016, 632; Eisele, JuS 2016, 754; Heghmanns, ZJS 2016, 519; ferner Magnus, NStZ 2018, 67. 29 BGHSt 61, 142 f.

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ten höchstrichterlichen Entscheidungspraxis im Hinblick auf den bestehenden Finalzusammenhang jedenfalls kein Hindernis für einen Schuldspruch wegen Raubes dargestellt. Erstaunlicherweise hat der Senat aber das erstinstanzliche Urteil dennoch insoweit aufgehoben und damit Bewegung in die festgefahrene Diskussion gebracht. Zwar hielt er am Erfordernis eines (bloßen) Finalzusammenhangs zwischen Raubmittel und Wegnahme ausdrücklich fest. Der Tatbestand des § 249 Abs. 1 StGB, so der Senat, „verlang[e] (…) nicht, dass der Einsatz des Nötigungsmittels objektiv erforderlich ist oder die Wegnahme zumindest kausal fördert“.30 Wenig später findet sich dann freilich nahezu eine Kehrtwende: Raubmittel und Wegnahme müssten „im Hinblick auf den spezifischen Unrechtsgehalt des Raubes auch in einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Verhältnis zueinanderstehen.“31 Diesen räumlich-zeitlichen Zusammenhang zwischen den beiden Elementen beschreibt der Senat sodann als „nötigungsbedingte[n] Einschränkung der Dispositionsfreiheit des Gewahrsamsinhabers über das Tatobjekt“.32 Über die Tragweite dieser Formulierungen herrscht weiterhin wenig Klarheit. Das erwähnte – vor allem zeitliche – Näheverhältnis entspricht immerhin dem bisherigen Stand der h. M.33 und der insoweit freilich spärlichen Rechtsprechung.34 Da der Raub regelmäßig35 eine Kombination von Nötigung und Diebstahl bildet, aber eine deutlich höhere Strafe androht als die schlichte Addition dieser beiden Vergehen erlaubt, wird nur im Falle einer mehr oder weniger unmittelbaren Abfolge beider Teilakte das spezifische, signifikant höhere Raubunrecht verwirklicht. Andernfalls wäre selbst dann noch Raub zu bejahen, wenn das Opfer infolge der Gewalt ins Krankenhaus kommt und der Täter sodann eine Woche später die Wohnung des Abwesenden plündert.36 Wo auch immer man derartige Grenzen räumlich oder zeitlich ziehen mag: Im Fall des 1. Senats könnte man sie jedenfalls kaum als überschritten ansehen. Der Senat formuliert freilich auch gar keine zeitlichen oder örtlichen Grenzwerte, sondern verlegt sich sogleich auf einen funktionalen Zusammenhang, den er als „raubspezifische Einheit“ benennt.37 „Eine solche raubspezifische Einheit von qualifizierter Nötigung und Wegnahme liegt regelmäßig lediglich dann vor, wenn es zu 30

BGHSt 61, 145. BGHSt 61, 147. 32 BGHSt 61, 144. 33 Sander, MK-StGB, § 249 Rn. 27; S/S-Bosch, StGB, § 249 Rn. 7; Fischer, Strafgesetzbuch, 68. Aufl. 2021, § 249 Rn. 6a; Sinn, SK-StGB, § 249 Rn. 30. 34 RGSt 53, 217 (218 f.); BGH bei Holtz MDR 1984, 276; BGH NStZ 2006, 38; immerhin hat BGH, JurionRS 1994, 12230, sogar einen Tag zwischen Drohung und Wegnahme noch nicht beanstandet; die in diesem Kontext gelegentlich zitierten Entscheidungen BGHSt 3, 297 (299); 4, 210; 20, 32; NStZ 2006, 36 und NJW 2009, 3041 sind tatsächlich nicht unmittelbar einschlägig. 35 Eine Ausnahme bildet u. a. der Raubmord, wo das Opfer nicht mehr genötigt werden kann, weil es als Toter zu keiner „Handlung, Duldung oder Unterlassung“ mehr imstande ist, vgl. RGSt 60, 51 (52); 67, 183 (186 f.); anders zuvor RGSt 56, 23 (24); 59, 273 (275 f.). 36 Brandts (Fn. 3), 158 ff. 37 BGHSt 61, 147. 31

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einer – in der Vorstellung des Täters nachvollzogenen – nötigungsbedingten Einschränkung der Dispositionsfreiheit des Gewahrsamsinhabers über das Tatobjekt gekommen ist“, wird sodann erläutert.38 Das ist nun einigermaßen überraschend, vor allem im Hinblick auf die oben wiedergegebene Aussage, das Nötigungsmittel brauche die Wegnahme gerade nicht zu fördern. Daraus ergeben sich zumindest drei mögliche Deutungen: Einerseits könnte man die Ausführungen zum (bloßen) Finalzusammenhang als (unbedachtes oder zur Vermeidung einer Divergenzvorlage vorgetragenes39) Lippenbekenntnis verstehen oder aber als versehentliches „copy and paste“ früherer Entscheidungsbausteine und so das anschließend beschriebene Erfordernis einer Einschränkung der Dispositionsfreiheit als bewusste Hinwendung zu einem (auch) objektiven Verständnis der Beziehung zwischen Raubmittel und Wegnahme.40 Andererseits ließe sich das Urteil auch als bloßer Versuch einordnen, ausschließlich den räumlich-zeitlichen Zusammenhang durch ein qualitatives Merkmal – eine nötigungsbedingte Einschränkung der Dispositionsfreiheit – näher auszugestalten, ohne deswegen den Verzicht auf eine objektive Beziehung zwischen Raubmittel und Wegnahme grundsätzlich in Frage zu stellen.41 Das freilich mutete arg widersprüchlich und logisch unschlüssig an, zumal eine Kausalität kaum etwas über zeitliche oder räumliche Nähe bekunden könnte, ohne dieses Merkmal gänzlich aufzugeben und ihm einen völlig anderen Sinn zu geben.42 So wären dann auch Tote oder Bewusstlose beraubt, wenn die Wegnahme der Gewalt Wochen später nachfolgt, solange diese nur für die Wehrlosigkeit weiterhin verantwortlich zeichnet. Das wird der Senat kaum gewollt haben. Da wie erwähnt vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung zum zeitlich-örtlichen Zusammenhang43 keinerlei Zweifel an dessen Vorliegen hätten bestehen dürfen, spricht manches dafür, dass der Senat tatsächlich eine bewusste Implementation eines Kausalerfordernisses vornehmen und durch dessen Einbettung in den zeitlich-örtlichen Kontext lediglich den Anschein eines radikalen Bruches mit der bisherigen Rechtsprechung kaschieren wollte. Für diese Deutung spricht eine auffällige Zitation. Der Senat beruft sich nämlich an dieser Stelle (ausschließlich) auf A. H. Albrecht,44 eine eindeutige Anhängerin einer objektiven Kausalbeziehung.

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BGHSt 61, 148. So Berster, JZ 2016, 1018. 40 So Heghmanns, ZJS 2016, 524; Berster, JZ 2016, 1018 f.; Habetha, NJW 2016, 2131. 41 So Magnus, NStZ 2018, 70 f. 42 Berster, JZ 2016, 1018; Habetha, NJW 2016, 2131. 43 Vor allem BGH JurionRS 1994, 12230 (ein Tag Differenz); BGH bei Holtz MDR 1984, 276; BGH NStZ 2006, 38. 44 A. H. Albrecht (Fn. 3). 39

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IV. Die weitere Entwicklung Die der Entscheidung des 1. Senats nachfolgenden Judikate bleiben ambivalent und tragen zur Klärung wenig bei. Der 5. Strafsenat hat sich dem 1. Senat nur ein knappes halbes Jahr später in einem Fall ausdrücklich angeschlossen, in welchem der Täter seine Mutter nach Schlägen ins Krankenhaus bringen ließ, um sodann ungestört in ihrer Wohnung zu stehlen.45 Die zwei Schlusssätze dieser Entscheidung46 deuten erneut darauf hin, dass die objektive Wegnahmeförderung kein Kriterium räumlich-zeitlicher Nähe darstellen, sondern neben dieser eine eigenständige Bedeutung für das Raubunrecht besitzen soll. Der 4. Senat bringt zwei Jahre später das Ganze auf die Formel: „Notwendige Voraussetzung für eine Strafbarkeit wegen Raubes ist eine finale Verknüpfung zwischen dem Einsatz der qualifizierten Nötigungsmittel und der Wegnahme sowie eines räumlich-zeitlichen Zusammenhangs dergestalt, dass es zu einer nötigungsbedingten Einschränkung der Dispositionsfreiheit des Gewahrsamsinhabers über das Tatobjekt gekommen ist“.47 Diese Äußerung erfolgte jedoch in nicht entscheidungserheblichem Zusammenhang, da die Gewalt im entschiedenen Fall (noch) nicht der Wegnahme dienen sollte, sondern anders motiviert gewesen war. Kurze Zeit später betont der 1. Senat selbst nochmals, es bedürfe keiner objektiven Kausalbeziehung; allein auf den Finalzusammenhang nach Tätervorstellung käme es an.48 Auf die von ihm zuvor beschriebene „raubspezifische Einheit“ geht er mit keinem Wort ein, allerdings wohl auch deshalb, weil es in dem fraglichen Fall schon an tatrichterlichen Feststellungen zum Finalzusammenhang mangelte und unklar blieb, wann sich der Täter zur Wegnahme entschlossen hatte (die sodann tatsächlich durch die Gewalt erleichtert worden war). Den vorläufigen Schlusspunkt markiert der 2. Senat im August 2019: „Die raubspezifische Einheit zwischen Nötigungshandlung und Wegnahme ist gegeben, wenn zwischen beiden Elementen sowohl eine subjektiv-finale Verknüpfung als auch ein zeitlicher und räumlicher Zusammenhang bestehen (…). Für den räumlich-zeitlichen Zusammenhang ist weder erforderlich, dass der Ort der Nötigungshandlung und der Ort des Gewahrsamsbruchs identisch sind, noch bestehen verbindliche Werte zu einem zeitlichen Höchstmaß zwischen Einsatz des Nötigungsmittels und Wegnahme (…). Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls, wobei es vor allem darauf ankommt, ob es zu einer – vom Täter erkannten – nötigungsbe45

BGHSt 61, 197. BGHSt 61, 197 (201): „Dabei betrug nach den zu den Zeitpunkten der Gewalthandlung und der Krankenhauseinlieferung sowie zur Dauer des Transports der Geschädigten von ihrer Wohnung zum Krankenhaus getroffenen Feststellungen (…) die zeitliche Differenz zwischen der Gewaltanwendung und den Wegnahmehandlungen jedenfalls nicht mehr als zwei Stunden. Deshalb bilden beide Tatbestandselemente noch die das typische Tatbild eines Raubes begründende Einheit.“ 47 BGH StV 2020, 236. 48 BGH StV 2020, 234 (235). 46

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dingten Schwächung des Gewahrsamsinhabers in seiner Verteidigungsfähigkeit oder -bereitschaft gekommen ist“.49 Mit anderen Worten: Es erscheint dem Senat gar nicht möglich, zeitliche und räumliche Kriterien zu formulieren, weshalb man sich gleich auf die kausale Verbindung von Gewalt und Wegnahme verlegt. Die „raubspezifische Einheit“ soll also offenbar nun primär durch eine Kausalbeziehung charakterisiert werden. Warum man dann überhaupt noch von einem „räumlichen und zeitlichen“ Zusammenhang spricht, den man als solchen gar nicht mehr subsumieren kann, bleibt im Dunkeln.

V. Befund: Wo Finalität draufsteht, ist Kausalität drin Es scheint sich also eine in der Sache relativ einheitliche Linie abzuzeichnen, die freilich weiterhin von einer gewissen inneren Widersprüchlichkeit gezeichnet bleibt, soweit es ihre Beschreibung in den jeweiligen Entscheidungen anbelangt. Einerseits steht das Finalerfordernis als ausschließliches Kriterium für die Beziehung zwischen Raubmittel und Wegnahme weiterhin nominell im Vordergrund, ergänzt jedoch durch das Kriterium der objektiven raubspezifischen Einheit, die zwar eigentlich eine räumliche und zeitliche Begrenzung ergeben sollte, aber funktional als Förderung der Wegnahme durch eine notwendige Schwächung der Verteidigungsbefähigung durch das eingesetzte Raubmittel verstanden wird. Da dieses Kriterium offenbar selbst dann herangezogen werden soll, wenn zeitliche und räumliche Nähe – wie in BGHSt 61, 141 – vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung unproblematisch hätten bejaht werden können, so scheint es in Wahrheit eine Eigenständigkeit zu gewinnen und nicht nur als Hilfserwägung in Konstellationen zu fungieren, wo man an räumlicher oder zeitlicher Geschehenseinheit zweifeln könnte. In der Sache ergibt sich somit eine weitgehende Übereinstimmung mit denjenigen Auffassungen des Schrifttums, die schon zuvor eine objektive Ursachenbeziehung zwischen Raubmittel und Wegnahme verlangt hatten, deren subjektive Entsprechung sodann die Finalbeziehung darstellt, und die sich dabei mit einer Förderung der Wegnahme begnügt hatten, ohne die Raubmittel als conditio sine qua non für das Tatgelingen zu verstehen.50 Man nennt das Kind in der Rechtsprechung nur nicht beim Namen, sondern versteckt es in der „raubspezifischen Einheit“. Aber vielleicht finden die Senate in Zukunft ja den Mut, sich auch offen zu dem zu bekennen, was sie faktisch längst tun, nämlich eine objektive Förderung der Wegnahme durch die Raubmittel zu verlangen und die Finalbeziehung dahin zu verweisen, wo sie hingehört, und zwar in den subjektiven Tatbestand. Im Übrigen sind selbst die verbleibenden Unterschiede zwischen einer solchen Förderungskausalität und einer weitergehenden Ursächlichkeit im Sinne „echter 49

BGH NStZ 2020, 355 (356). Sinn, SK-StGB, § 249 Rn. 28 f.; Hörnle, FS Puppe, 1154; Maurach/Schroeder/Maiwald/ Hoyer/Momsen, Strafrecht Besonderer Teil 2, 43. Aufl. 2020, Rn. 350 f. 50

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Kausalität“ bei Lichte betrachtet äußerst gering. Da es auch bei letzterer stets auf die konkrete Erfolgsgestaltung ankommt, werden schlichte Förderung und bewirkte Verursachung des Erfolgs in seiner konkreten Gestalt regelmäßig zusammen vorliegen. Gravierende Unterschiede – und damit Fälle, in welchen keine Raubvollendung, sondern nur ein Versuch anzunehmen wäre – werden vermutlich kaum einmal zutage treten51 (und wären dann angesichts der Versuchsstrafbarkeit zu verschmerzen). Dasselbe gilt auch für diejenigen – wie gesehen extrem seltenen – Fälle, in welchen wie in BGHSt 61, 141 nicht einmal eine objektive Förderung der Wegnahme festzustellen ist. Die Fallgestaltung, die dieser Entscheidung zu Grunde lag, ließ jedenfalls über den Strafrahmen der gefährlichen Körperverletzung eine schuldgerechte Strafe zu, zumal nüchtern betrachtet in den verursachten Verletzungen des Tatopfers und nicht im Abhandenkommen von Goldkettchen und Smartphone das eigentlich Tatunrecht lag. Es besteht also kein vernünftiger Grund, den systemwidrigen und in nichts als Widersprüchlichkeiten führenden Irrweg eines ausschließlichen Finalitätskriteriums weiterzuverfolgen.

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„An unpleasant sensory and emotional experience“ Schmerzen als tatbestandsmäßige Gesundheitsschädigung Gudrun Hochmayr

I. Einleitung Wer selbst einige Tage lang starken Schmerz erlitten hat, weiß, wie dieser das Leben beherrschen und die Lebensqualität erheblich mindern kann. In der westlichen Medizin war die in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte Entdeckung der narkotisierenden Wirkung von Äther ein erster entscheidender Schritt der Schmerzbekämpfung.1 Es sollte noch mehr als ein Jahrhundert dauern, bis die Schmerzbehandlung auch in Deutschland die nötige Aufmerksamkeit erfuhr und erste schmerztherapeutische Einrichtungen gegründet wurden.2 Heute ist die Schmerzbehandlung ein wichtiger Bestandteil der medizinischen Ausbildung.3 Es gehört inzwischen zu den ärztlichen Pflichten, Schmerzen frühzeitig zu lindern.4 Für die strafrechtliche Lehrbuch- und Kommentarliteratur steht diese Entwicklung noch aus; in ihr erfährt Schmerz nur geringe Aufmerksamkeit.5 Regelmäßig findet sich nur die Feststellung, dass eine Körperverletzung in Form einer körperlichen Misshandlung (§ 223 Abs. 1 Alt. 1 StGB) nicht das Empfinden von Schmerz voraussetze6 und Schmerz lediglich ein Indiz für das Vorliegen einer körperlichen Misshandlung sei.7 Entsprechend heißt es zur Alternative der Gesundheitsschädigung 1

Schmiedebach, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2002, 419 (420). 2 Vgl. www.schmerzgesellschaft.de/patienteninformationen/entwicklung-der-schmerzmedizin/ schmerzmedizin-in-deutschland (zuletzt abgerufen am 10. 5. 2022). 3 Seit 2012 ist die Schmerzmedizin ein Pflichtfach in der medizinischen Staatsprüfung; § 27 Abs. 1 Satz 5 Nr. 14 ÄApprO 2002 seit der Fassung BGBl. 2012 I, Nr. 34; vgl. BRDrs. 238/12 S. 8: „Mit der Aufnahme der Schmerzmedizin als separatem Querschnittsbereich soll die eigenständige Bedeutung der Schmerzmedizin (…) gestärkt werden.“ 4 Kutzer, FS Widmaier, 2008, 663 (664 f.); Suttorp et al., Harrisons Innere Medizin, 19. Aufl. 2016, 106. 5 Dies beklagt bereits Schroeder, FS Hirsch, 1999, 725 (729). 6 Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT, 3. Aufl. 2015, Rn. 23; Eisele, BT I, 6. Aufl. 2021, Rn. 293; Kindhäuser/Schramm, Strafrecht BT I, 10. Aufl. 2021, § 7 Rn. 6; Wolters, in: Deiters et al. (Hrsg.), SK-StGB, 9. Aufl. 2017, § 223 Rn. 5. 7 Wessels/Hettinger/Engländer, Strafrecht BT 1, 45. Aufl. 2021, Rn. 211.

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(§ 223 Abs. 1 Alt. 2 StGB), diese müsse nicht mit Schmerz verbunden sein,8 das Vorhandensein von Schmerz würde aber für das Vorliegen einer Gesundheitsschädigung sprechen.9 In einigen Kommentierungen wird darauf hingewiesen, dass die Zufügung von Schmerz selbst eine körperliche Misshandlung in Form der Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens sein könne.10 Andere Kommentatoren beziehen sich nur auf das pflichtwidrige Unterlassen, für eine Schmerzlinderung zu sorgen, und stufen dieses Verhalten unter der Überschrift „körperliche Misshandlung“ als tatbestandsmäßige Körperverletzung ein.11 Vor allem Teile des älteren Schrifttums haben, meist ohne Begründung, einen Schmerzzustand als Gesundheitsschädigung eingeordnet.12 Binding, der die Körperverletzung auf die Gesundheitsschädigung beschränken wollte, argumentierte, dass Schmerz ein „krankhafter Nervenreiz“ sei.13 8 Engländer, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), StGB, 2. Aufl. 2020, § 223 Rn. 7; Eschelbach, in: von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), BeckOK StGB, 52. Edition 2021, § 223 Rn. 24; Grünewald, in: Laufhütte et al. (Hrsg.), Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl. 2018, § 223 Rn. 30; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 223 Rn. 5; Momsen-Pflanz/Momsen, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), StGB, 5. Aufl. 2021, § 223 Rn. 9; Wolters, SK-StGB, § 223 Rn. 25; Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 22. Aufl. 2021, § 13 Rn. 16; Wessels/ Hettinger/Engländer (Fn. 7), Rn. 213. Siehe auch Frisch, JuS 1990, 362. 9 Eschelbach, BeckOK StGB, § 223 Rn. 27; Paeffgen/Böse, in: Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 5. Aufl. 2017, § 223 Rn. 14; Zöller/Petry, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB, 3. Aufl. 2020, § 223 Rn. 12. 10 Matt/Renzikowski-Engländer, StGB, § 223 Rn. 5; Eschelbach, Beck-OK StGB, § 223 Rn. 18; Hardtung, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2021, § 223 Rn. 38; Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 223 Rn. 6; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 223 Rn. 3; Zöller/Petry, AnwaltKommentar StGB, § 223 Rn. 10. Siehe auch Krauß, FS Bockelmann, 1979, 557 (560). 11 Grünewald, LK-StGB, § 223 Rn. 38; bereits Lilie, in: Jähnke et al. (Hrsg.), Leipziger Kommentar StGB, 11. Aufl. 2011, § 223 Rn. 17. Deutlicher Roxin, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht. Im Spannungsfeld von Medizin, Ethik und Strafrecht, 2000, 87 (89): „auch die Nichtbehebung oder Nichtverminderung von Schmerzen ist eine Misshandlung (§ 223 StGB)“. 12 Lilie, LK-StGB, § 223 Rn. 16 (Kopfschmerzen); Samson, NJW 1978, 1182 (1184); Uhlenbruck, MedR 1993, 296 (298); Ulsenheimer, in: Laufs/Kern/Rehborn (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 5. Aufl. 2019, § 149 Rn. 22. Siehe aber auch S/S-Sternberg-Lieben, StGB, § 223 Rn. 5; S/S/W-Momsen-Pflanz/Momsen, StGB, § 223 Rn. 21. 13 Binding, Lehrbuch des Gemeinen deutschen Strafrechts, BT, 2. Aufl. 1902, 42 f. Für das österreichische Strafrecht bejaht Schmoller eine Gesundheitsschädigung mit der Begründung, dass „Schmerzfreiheit ein wesentlicher Bestandteil der Gesundheit ist“; Schmoller, RdM 2014, 292, vgl. ders., in: Bernatzky/Sittl/Likar (Hrsg.), Schmerzbehandlung in der Palliativmedizin, 3. Aufl. 2011, 301 (304). Der OGH hat seine frühere Rechtsprechungslinie, wonach Schmerz keine Gesundheitsschädigung sei (OGH Urt. v. 28. 2. 1995, 14 Os 193/94), aufgegeben, und nimmt nunmehr eine Gesundheitsschädigung an, „wenn ein vom Opfer als Leiden empfundener Schmerzzustand von einiger Dauer vorliegt, welcher die Einwirkung auf seinen Körper überdauert und solcherart einer krankheitswertigen körperlichen (oder seelischen) Störung entspricht“; OGH Urt. v. 18. 10. 2012, 13 Os 96/12k; so bereits OGH EvBl 1983/23.

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Auch nach der Rspr. ist das Zufügen von Schmerz für eine körperliche Misshandlung nicht erforderlich, sondern nur ein Anzeichen für diese Variante der Körperverletzung.14 Desgleichen müsse eine Gesundheitsschädigung nicht mit Schmerz verbunden sein.15 Hiervon abweichend urteilte der 3. Strafsenat des BGH in einer neueren Entscheidung, die Bagatellgrenze sei bei einer körperlichen Misshandlung erst überschritten, wenn das Opfer zumindest kurzzeitig Schmerz empfunden habe.16 Die meisten Entscheidungen betreffen das Unterlassen eines Garanten, für die Beseitigung oder Linderung von Schmerz zu sorgen. Hier fällt auf, dass die Rspr. eine Einordnung als körperliche Misshandlung oder Gesundheitsschädigung vermeidet, indem sie ausschließlich von einer Strafbarkeit wegen „Körperverletzung“ spricht.17 Es bleibt damit unklar, welche der beiden Tatbestandsalternativen die Rspr. bei einem Schmerzzustand als gegeben ansieht. Der Grund für den Verzicht auf die gebotene Subsumtion könnte ein sprachliches Unbehagen sein, beim Nichtlindern von Schmerz von einer „körperlichen Misshandlung“ zu sprechen. Mit Blick auf den allgemeinen Sprachgebrauch bereitet es Schwierigkeiten, ein „Nicht-Behandeln“ als „Misshandeln“, wenngleich durch Unterlassen, zu bezeichnen. Die Schwierigkeiten nehmen zu, wenn man die gängige Definition der körperlichen Misshandlung als „üble, unangemessene Behandlung (…)“18 zugrunde legt. Noch dringlicher wäre die Frage der Einordnung als Gesundheitsschädigung, wenn der Grundtatbestand der Körperverletzung de lege ferenda stets eine Substanzverletzung oder eine Gesundheitsschädigung voraussetzen würde. Gegenwärtig erfasst der Tatbestand folgenlose Beeinträchtigungen des körperlichen Wohlbefindens, die einen deutlich niedrigeren Unrechtsgehalt als eine Verletzung der Körpersubstanz oder eine Gesundheitsschädigung aufweisen, wie eine heftige Ohrfeige ohne weitere körperliche Auswirkungen. Da die rechtliche Gleichbehandlung mit dem Schuldgrundsatz und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht vereinbar ist, sollte der Gesetzgeber folgenlose Tätlichkeiten aus dem Tatbestand der Körperverletzung herausnehmen und für sie – nach dem Vorbild anderer Rechtsordnungen – einen eigenen, mit niedrigerer Strafe bedrohten Straftatbestand vorsehen.19 In den Unterlassungsfällen wäre dann eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für einen Schmerzzustand (ohne Substanzverletzung) nur noch über die Gesundheitsschädigung möglich. 14 Vgl. BGH NJW 1995, 2643; NStZ-RR 2010, 374 (Nackenschmerzen als Indiz für eine nicht nur unerhebliche Einwirkung in Form einer körperlichen Misshandlung). 15 BGH NJW 1989, 781. 16 BGH NStZ-RR 2014, 11; in diese Richtung auch der 2. Strafsenat des BGH NStZ-RR 2015, 211 (ein leichter Schmerz genüge bei Ziehen am Penis für eine körperliche Misshandlung). 17 BGH NStZ 1995, 589; BayObLG NStZ-RR 2004, 45; OLG Dresden MedR 2014, 896; OLG Düsseldorf NStZ 1989, 269; 1991, 531; OLG Hamm NJW 1975, 604. 18 Dazu unten bei Fn. 60. 19 Näher Hochmayr, ZStW 2018, 55 (70 ff.).

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Aus diesen Gründen wird in diesem Beitrag unter Heranziehung des medizinischen Schmerzbegriffs untersucht, ob ein Schmerzzustand die strafrechtliche Definition der Gesundheitsschädigung oder hilfsweise jene der körperlichen Misshandlung erfüllt. Im letzten Schritt werden die Auswirkungen der Erkenntnisse auf die einzelnen Fallkonstellationen erörtert. Da auch die fahrlässige Körperverletzung gem. § 229 StGB eine körperliche Misshandlung oder Gesundheitsschädigung voraussetzt,20 sind die erzielten Ergebnisse gleichermaßen für die Frage einer Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung von Bedeutung.

II. Medizinische Grundlagen Für die Definition von Schmerz greift die medizinische Literatur auf eine von der International Association for the Study of Pain (IASP) 1979 entwickelte Definition zurück,21 die in der aktuellen Version wie folgt lautet:22 „Pain: An unpleasant sensory and emotional experience associated with, or resembling that associated with, actual or potential tissue damage. Notes: *

*

Pain is always a personal experience that is influenced to varying degrees by biological, psychological, and social factors. Pain and nociception are different phenomena. Pain cannot be inferred solely from activity in sensory neurons.

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Through their life experiences, individuals learn the concept of pain.

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A person’s report of an experience as pain should be respected.

*

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Although pain usually serves an adaptive role, it may have adverse effects on function and social and psychological well-being. Verbal description is only one of several behaviors to express pain; inability to communicate does not negate the possibility that a human or a nonhuman animal experiences pain.“

Vorausgesetzt wird also ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis,23 das mit einer tatsächlichen oder möglichen Gewebeschädigung verbunden ist oder das einem 20

Hardtung, MK-StGB, § 229 Rn. 2 m. w. N. Loeser/Melzack, The Lancet 1999, 1607; Georg Thieme Verlag, I care Krankheitslehre, 2. Aufl. 2020, 164; Meßlinger, in: Pape/Kurtz/Silbernagl (Hrsg.), Physiologie, 9. Aufl. 2019, 717. 22 www.iasp-pain.org/resources/terminology/#pain (zuletzt abgerufen am 10. 5. 2022). Zu den 2020 beschlossenen Änderungen der ursprünglichen Definition Raja et al., PAIN 2020, 1976 ff. 23 So die offizielle Übersetzung der Deutschen Schmerzgesellschaft, die allerdings ein „oder“ verwendet („unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis“); www.schmerzgesellschaft. de/patienteninformationen/herausforderung-schmerz/was-ist-schmerz (zuletzt abgerufen am 10. 5. 2022). 21

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mit einer solchen Schädigung verbundenen Erlebnis ähnelt. Mit anderen Worten: Die betroffene Person würde, sofern sie zu verbaler Kommunikation in der Lage ist, die mit negativen Gefühlen verbundene Erfahrung mit Worten beschreiben, die für eine Gewebeschädigung typisch sind, wie dumpf, drückend, pochend, klopfend, stechend oder ziehend.24 Diese weithin akzeptierte Definition ist Gegenstand zahlreicher philosophischer Abhandlungen.25 Demgegenüber soll sich der vorliegende Beitrag auf das medizinische Verständnis von Schmerz beschränken. Die medizinische Kategorisierung und Bezeichnung der verschiedenen Arten von Schmerz divergiert. Nach den Wirkmechanismen wird beispielsweise zwischen nozizeptivem Schmerz, der durch die Stimulation von im muskuloskelettalen System oder in inneren Organen angesiedelten Schmerzrezeptoren entsteht, neuropathischem Schmerz, der direkt über das periphere und/oder zentrale Nervensystem ausgelöst wird, und noziplastischem Schmerz infolge einer geänderten Reizverarbeitung unterschieden.26 Nach der Dauer lässt sich eine Einteilung in kurzzeitige, länger anhaltende und chronische Schmerzen vornehmen.27 Das bio-psychosoziale Schmerzmodell betont, dass für das Empfinden von Schmerz nicht allein körperliche Vorgänge entscheidend sind, sondern sich auch biologische, soziokulturelle und psychosoziale Faktoren auswirken können. Diese Faktoren gelten als eine Erklärung dafür, dass dieselbe Gewebeschädigung bei verschiedenen Personen ein ganz unterschiedliches Schmerzempfinden zur Folge haben kann.28 Auslöser für Schmerz kann neben einem körperlichen Reiz auch Suggestion sein.29 Zu diesem Phänomen zählen die sog. Phantomschmerzen bei einem amputierten Körperteil.30 Das medizinische Schrifttum hebt hervor, dass Schmerz eine positive biologische Funktion haben kann. Ein durch Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren) vermittelter Schmerz kann vor einer Schädigung des Gewebes, etwa durch zu hohe oder zu nied24 Vgl. Suttorp et al. (Fn. 4), 106. Der Bezug zur Gewebeschädigung soll den Schmerz von anderen aversiven Erfahrungen wie Übelkeit, Juckreiz oder Schwindelgefühl abgrenzen; Raja et al., PAIN 2020, 1981. 25 Einen Überblick bietet Aydede, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2019 Edition), https://plato.stanford.edu/archives/spr2019/entries/pain/ (zuletzt abgerufen am 10. 5. 2022). 26 Vgl. die Definitionen unter www.iasp-pain.org/resources/terminology/ (zuletzt abgerufen am 10. 5. 2022) sowie Erlenwein et al., Der Anaesthesist 2020, 95 (99, Tab. 1); Raja et al., PAIN 2020, 1981. Für die Einteilung in somatischen, viszeralen und neurogenen Schmerz siehe Georg Thieme Verlag (Fn. 21), 164 f. 27 www.rki.de/DE/Content/GesundAZ/S/Schmerzen/Schmerzen_inhalt.html (zuletzt abgerufen am 10. 5. 2022). 28 Fillingim, Current Rheumatology Reports, 2005, 342 (343 ff.); Schmiedebach, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2002, 422; Suttorp et al. (Fn. 4), 108; vgl. Kuntz et al., Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2017, 783. Siehe auch die erste Anmerkung zur Schmerzdefinition der IASP (Fn. 22). 29 Suttorp et al. (Fn. 4), 108. 30 Vgl. Georg Thieme Verlag (Fn. 21), 166.

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rige Temperaturen oder durch eine mechanische Einwirkung, schützen oder für eine Schonung der erkrankten Körperregion sorgen und auf diese Weise den Heilungsprozess unterstützen.31 Für chronischen Schmerz, der ab einer Schmerzdauer von drei Monaten diagnostiziert werden kann,32 gilt das nicht. Diese oft schwierig zu behandelnde Art von Schmerz wird typischerweise durch verschiedene biologische, psychologische sowie soziale Faktoren bewirkt33 und geht häufig mit einer übermäßigen Schmerzempfindlichkeit einher.34 In der Medizin wird chronischem Schmerz ein eigenständiger Krankheitswert zuerkannt.35 Das entscheidende Definitionsmerkmal ist die Wahrnehmung des Vorgangs durch die betroffene Person als unangenehm. Wird das Schmerzempfinden durch eine Narkose oder einen Nervenleitungsblock ausgeschaltet, kann kein Schmerz vorliegen.36 Ein wichtiges Mittel für die Bemessung des Schmerzes ist die Befragung des Patienten. Zur Ermittlung der Qualität und Intensität des Schmerzes werden Schmerzskalen, wie der sog. Deutsche Schmerzfragebogen der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V., herangezogen.37 Die objektive Schmerzdiagnostik achtet auf für Schmerz typische Reaktionen, wie eine Schonhaltung, die Mimik, Stöhnen oder verdächtiges Schweigen des Patienten.38 Zunehmend gewinnen bildgebende Untersuchungen des Gehirns an Bedeutung.39

III. Strafrechtliche Einordnung Die Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 oder § 229 StGB setzt als tatbestandsmäßigen Erfolg alternativ eine körperliche Misshandlung oder eine Gesundheitsschädigung voraus. Im Folgenden wird zunächst geprüft, ob Schmerz die Definition der Gesundheitsschädigung erfüllt. Da die körperliche Misshandlung in diesen Konstellationen einen eigenständigen Anwendungsbereich haben könnte, wird auch diese Tatbestandsalternative der Körperverletzung erörtert.

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Meßlinger (Fn. 21), 717. MG30 der International Classification of Deseases ICD-11 der WHO; vgl. Erlenwein et al., Der Anaesthesist 2020, 95 mit Verweis auf die IASP; Kuntz et al., Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2017, 785. 33 Vgl. MG30 der ICD-11 der WHO. 34 Meßlinger (Fn. 21), 733. 35 Schmiedebach, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2002, 422; Suttorp et al. (Fn. 4), 106. 36 Meßlinger (Fn. 21), 717. 37 www.schmerzgesellschaft.de/fileadmin/pdf/DSF_Handbuch_2020.pdf (zuletzt abgerufen am 10. 5. 2022). Vgl. Georg Thieme Verlag (Fn. 21), 167; Suttorp et al. (Fn. 4), 110. 38 Vgl. Meßlinger (Fn. 21), 733; Erlenwein et al., Der Anaesthesist 2020, 98. 39 Raja et al., PAIN 2020, 1981. 32

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1. Gesundheitsschädigung Als eine Gesundheitsschädigung gilt das „Hervorrufen oder Steigern eines vom Normalzustand der körperlichen Funktionen des Opfers nachteilig abweichenden Zustandes“, der mit den Worten „pathologischer, somatisch objektivierbarer Zustand“ beschrieben wird.40 Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung sei dahingestellt, ob es sinnvoll ist, an der insbesondere auf Descartes zurückgehenden strikten Trennung von Körper (als res extensa) und Geist (als res cogitans) im Strafrecht festzuhalten und nur die körperliche Gesundheit als geschützt anzusehen.41 Der Jubilar wird mit der philosophischen Leib-Seele-Diskussion selbst bestens vertraut sein. Legt man die angeführte Begriffsdefinition zugrunde, bedarf es erstens des Nachweises, dass Schmerz ein „somatisch objektivierbarer“ Zustand ist, zweitens, dass ihm ein Krankheitswert („pathologischer Zustand“) zukommt. Drittens sind, auch wenn dies von der Rspr. selten hervorgehoben wird, unerhebliche Gesundheitsschädigungen aus dem Tatbestand auszuscheiden.42 (1) Zunächst ist zu betonen, dass es für die strafrechtliche Bewertung keinen Unterschied machen kann, ob die Nozizeptoren auf der Haut, im Bereich der Muskeln, Gelenke, Knochen43 oder in inneren Organen angesiedelt sind oder ob die Fasern, Wurzeln oder Bahnen der Nerven direkt gereizt werden.44 Hält man an der Begrenzung auf den Schutz der körperlichen Gesundheit fest, ist entscheidend, dass die genannten Wirkmechanismen belegen, dass Schmerz nicht ein bloßes Gefühlserlebnis ist, sondern auch aus körperlichen Vorgängen besteht.45 Auch der Begriffsteil „unpleasant sensory experience“ der medizinischen Schmerzdefinition bezieht sich auf ein körperliches Phänomen. Wie andere Sinne – man denke nur an den Seh- oder Hörsinn – ist der Schmerzsinn eine Funktion des Körpers, die eine wichtige Schutzaufgabe erfüllt.46 Im Unterschied zum Seh- oder 40

BGH NStZ-RR 2013, 375 (376); Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 223 Rn. 5; Rengier (Fn. 8), § 13 Rn. 16. Ähnlich Matt/Renzikowski-Engländer, StGB, § 223 Rn. 7; Eschelbach, Beck-OK StGB, § 223 Rn. 24. Andere sprechen synonym von einem „krankhaften Zustand“: Paeffgen/Böse, NK-StGB, § 223 Rn. 14; S/S-Sternberg/Lieben, StGB, § 223 Rn. 5. 41 Zu beachtlichen Gegenargumenten, den Straftatbestand der Körperverletzung auf den Schutz der körperlichen Gesundheit zu beschränken, Hardtung, MK-StGB, § 223 Rn. 61 ff. 42 BGH NStZ 1999, 132; für die h. L. Hardtung, MK-StGB, § 223 Rn. 57. 43 Diese Form von Schmerz wird in der nicht einheitlichen Nomenklatur der Medizin teils ausdrücklich als „somatischer Schmerz“ bezeichnet; Georg Thieme Verlag (Fn. 21), 164 f. 44 Siehe zu diesen Unterscheidungen wieder Georg Thieme Verlag (Fn. 21), 165. 45 Mit dem Einzug des Dualismus von Descartes wurde Schmerz während einiger Jahrhunderte sogar als ein rein körperlicher Prozess begriffen; Toellner, Medizinhistorisches Journal 1971, 36 (41, 43 f.); Schmiedebach, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2002, 420. 46 Menschen, die aufgrund einer genetischen Störung keinen Schmerz empfinden können, haben eine kürzere Lebenserwartung; Drissi/Woods/Woods, British Medical Bulletin, 2020, 65 (66).

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Hörsinn hat die vom Schmerzsinn aktivierte Wahrnehmung – der Schmerz – nicht nur eine positive Funktion,47 indem vor Gefahr für den Körper, wie durch Hitze, Kälte oder durch eine Hautverletzung, gewarnt wird, sondern sie stellt zugleich eine negative Beeinträchtigung dar. Die Beeinträchtigung kann auch den Körper, wie den Bewegungsapparat, betreffen. Bei starken Schmerzen ist dies auch für einen medizinischen Laien erkennbar, etwa wenn der Betroffene körperliche Vermeide- und Schonhaltungen einnimmt oder unfähig ist, einfache Aufgaben des Alltags zu bewältigen. Schließlich lässt sich durch ärztliche Untersuchungen das Vorliegen von Schmerz feststellen, selbst wenn der Patient nicht in der Lage ist, sich zu äußern. Auch wenn der Fokus der medizinischen Schmerzdefinition auf der persönlichen Erfahrung und damit auf der Perspektive des Betroffenen liegt,48 ist – wiederum dem Seh- und Hörsinn vergleichbar – die im Strafrecht gebotene Objektivierung des Schmerzzustands möglich. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass Schmerz die Voraussetzung eines „somatisch objektivierbaren Zustands“ erfüllt. (2) Für die Beantwortung der Frage, ob Schmerz ein krankhafter („pathologischer“) Zustand ist, kommt es nicht auf die medizinische Einordnung als Krankheit an. Der BGH spricht von „Krankheit im weitesten Sinne“ und beurteilt etwa die Herbeiführung eines Rauschzustands als Gesundheitsschädigung.49 Auch die Kommentarliteratur setzt den Begriff der Krankheit nicht mit dem medizinischen Begriff gleich und stimmt beispielsweise der Einbeziehung eines Rauschzustandes zu.50 Diese Feststellung ist wichtig, weil aus medizinischer Sicht nur chronischer Schmerz als eigenständiges Krankheitsbild gilt.51 Es ist also nicht ausgeschlossen, auch Schmerz, der nicht chronischer Natur ist, als Gesundheitsschädigung einzuordnen. Jedenfalls sind alle (körperlichen)52 Krankheiten im medizinischen Sinn dem strafrechtlichen Begriff der Gesundheitsschädigung zu subsumieren. Vorgezeichnet ist damit die Lösung für chronischen Schmerz: Dieser begründet jedenfalls den tatbestandsmäßigen Erfolg einer Gesundheitsschädigung. Soweit er47 Bezüglich des Seh- oder Hörsinns liegt daher eine Gesundheitsschädigung nur dann vor, wenn die betreffende Funktion gestört ist. Die visuelle Wahrnehmung eines schrecklichen Ereignisses oder die akustische Wahrnehmung eines unangenehmen Geräusches ist keine Gesundheitsschädigung. 48 Vgl. die Anmerkung zur IASP-Definition („personal experience“) sowie Raja et al., PAIN 2020, 1979. 49 BGH NJW 1983, 462; NStZ 2021, 364 (jedenfalls bei Bewusstlosigkeit oder wenn sich der Berauschte übergeben muss). 50 Matt/Renzikowski-Engländer, StGB, § 223 Rn. 7 („Auch diffuse Funktionsstörungen können ausreichen.“). Eschelbach, Beck-OK, § 223 Rn. 27 hält lediglich eine Orientierung der Rechtspraxis „an medizinisch definierten Krankheitsbildern“ für nötig. Bei Paeffgen/Böse, NK-StGB, § 223 Rn. 17 heißt es zur Berauschung: „Die mit derartigen Zuständen einhergehenden Vergiftungen sind pathologisch genug“. 51 Nw. oben in Fn. 35. Siehe auch Kutzer, FS Widmaier, 665 f., der gleichwohl annimmt, dass generell das „pflichtwidrige Herbeiführen, Steigern oder Aufrechterhalten von Schmerzen den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt“ (677). 52 Vgl. oben bei Fn. 41.

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sichtlich, hatten der BGH und die Oberlandesgerichte noch keine strafrechtliche Beurteilung chronischer Schmerzen vorzunehmen. Gegenstand der veröffentlichten Entscheidungen waren akute Schmerzen, die sich im schlimmsten Fall53 über mehrere Tage erstreckten und meist eine Begleiterscheinung einer Körperschädigung außerhalb des Verantwortungsbereichs des Täters waren. Bei nicht-chronischem Schmerz konzentriert sich die Medizin auf die Behandlung der Grundkrankheit, die, wenn sie wirkt, regelmäßig auch den Schmerz beseitigt. Unbeschadet der Erkenntnis, wie wichtig die Schmerzbekämpfung für den Heilungserfolg ist, liegt das Augenmerk auf der Warnfunktion von Schmerz als Symptom der Grundkrankheit. Es gibt keine medizinische Notwendigkeit, den Schmerz isoliert zu betrachten und selbst als Krankheit einzuordnen. Im Strafrecht ist dagegen eine eigenständige Beurteilung des Schmerzzustands erforderlich, wenn dem Täter nur das Unterlassen, den Schmerz zu beseitigen oder zu lindern, vorgeworfen werden kann. Der strafrechtliche Begriff der Krankheit hat also eine weitergehende Funktion als der medizinische Krankheitsbegriff zu erfüllen. Löst man den Begriff der Krankheit von der medizinischen Beurteilung, ist zunächst festzuhalten, dass man dem Begriff auch alltagssprachlich nicht entnehmen kann, dass sich die zeitliche Dauer des Zustands in Tagen bemessen muss. Man kann auch nur einige Stunden lang krank sein. Krankheit ist der Gegenbegriff zu Gesundheit, die wiederum alltagssprachlich, medizinisch oder mit der WHO umfassend als „a state of complete physical, mental and social well-being“ verstanden werden kann.54 Rspr. und h. M., die den Begriff der Gesundheitsschädigung auf die körperliche Gesundheit reduzieren, sprechen synonym zu „krankhaft“ von einem „vom Normalzustand der körperlichen Funktionen des Opfers nachteilig abweichende[n] Zustand“.55 Auf dieser Grundlage kann auch nicht-chronischer Schmerz als Gesundheitsschädigung eingeordnet werden. Auch wenn diese Form von Schmerz zugleich eine positiv zu bewertende Warnfunktion erfüllen kann, handelt es sich doch um einen Zustand, der vom Normalzustand der körperlichen Funktionen – der Nichtaktivierung des Schmerzempfindens, mit anderen Worten: der Schmerzfreiheit – nachteilig abweicht, indem er als unangenehm bis hin zu unerträglich erfahren wird. (3) Die Tatbestandsmäßigkeit i. S. der §§ 223 Abs. 1, 229 StGB hängt schließlich davon ab, dass der Zustand „nicht nur unerheblich“ ist, also die Bagatellgrenze überschreitet.56 Abzuwägen sind die Intensität57 und Dauer der Schmerzen.58 Je intensiver 53 Vgl. OLG Düsseldorf NStZ 1989, 269 (starke Schmerzen infolge großflächiger Hautverletzungen am Rücken eines misshandelten Kindes). 54 Vgl. Hardtung, MK-StGB, § 223 Rn. 54. 55 Nw. oben in Fn. 40. 56 Nw. oben in Fn. 42. 57 Die Skala reicht auf dem Deutschen Schmerzfragebogen (Fn. 37) von 0 (kein Schmerz) bis 10 (stärkster vorstellbarer Schmerz). 58 Die Qualität des Schmerzes – im Deutschen Schmerzfragebogen (Fn. 37) als „dumpf, drückend, pochend, klopfend, stechend, ziehend, heiß, brennend, (…)“ beschrieben – dürfte

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der Schmerz ist, umso geringer sind die Anforderungen an die Dauer. Bei unerträglichem Schmerz kann eine Dauer von weniger als einer Stunde genügen, um eine tatbestandsmäßige Gesundheitsschädigung zu bejahen. Denn es braucht üblicherweise lange Zeit, um so intensive Schmerzen zu verarbeiten.59 Umgekehrt gilt, dass leichter auszuhaltender Schmerz über einen längeren Zeitraum vorliegen muss, um als erheblich zu gelten. Hat die betroffene Person nicht zeitnah einen Arzt aufgesucht, wird ihre Behauptung, durch die Tat erhebliche Schmerzen erlitten zu haben, im Nachhinein kaum erwiesen werden können und es ist nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ zu verfahren. 2. Körperliche Misshandlung Wird einem anderen durch aktives Tun nicht nur unerheblicher Schmerz zugefügt, kann auch die Tatbestandsalternative der körperlichen Misshandlung verwirklicht sein, die Rspr. und h. L. als eine „üble, unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt wird“, definieren.60 Wie die medizinische Definition als „an unpleasant sensory and emotional experience (…)“ und die diesen Zustand beschreibenden Adjektive, wie dumpf, drückend, pochend, klopfend, stechend oder ziehend, belegen, bedeutet dieses Sinneserlebnis eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens, die körperlicher Natur ist.61 Auch bei der körperlichen Misshandlung muss die Erheblichkeitsschwelle überschritten sein, um die Tatbestandsmäßigkeit zu begründen. Daran fehlt es, wenn es sich um leichten Schmerz handelt, der nur ein bis zwei Tage anhält, oder um intensiven, aber noch auszuhaltenden Schmerz in der Dauer von einigen Minuten. Sind zugleich die Voraussetzungen einer Gesundheitsschädigung erfüllt, ist insgesamt nur eine einzige Körperverletzung verwirklicht.62 Schwieriger ist die Begründung einer körperlichen Misshandlung in den praktisch bedeutsamen Fällen, in denen einer garantenpflichtigen Person vorgeworfen wird, nicht für die Beseitigung oder wenigstens Linderung von Schmerzen gesorgt zu haben. Zunächst kann für einen Schmerzzustand auch eine Person verantwortlich sein, die den Zustand pflichtwidrig nicht abwendet oder lindert, weil die Schwere hingegen keinen Einfluss auf die Erheblichkeit haben, weil insoweit keine Abstufung nach der Schwere möglich ist. 59 Siehe das Beispiel einer – mit den medizinischen Geräten der damaligen Zeit bestimmt überaus schmerzhaften – Nierensteinzertrümmerung ohne ausreichende Anästhesie bei Schroeder, FS Hirsch, 730. A. A. Ulsenheimer (Fn. 12), § 149 Rn. 22: „über einige Stunden fortdauernde Schmerzen“ würden nicht genügen. 60 Ständige Rspr., siehe nur BGH NStZ 2016, 27. Für viele weitere Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 223 Rn. 4; Rengier (Fn. 8), § 13 Rn. 9. 61 Vgl. oben bei Fn. 46. 62 In der Praxis werden häufig beide Alternativen festgestellt; Lilie, LK-StGB, § 223 Rn. 4. Für die Begründung der Tatbestandsmäßigkeit würde die Feststellung einer der Alternativen genügen; siehe nur Paeffgen/Böse, NK-StGB, § 223 Rn. 7.

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dieses Zustands mit ansteigender Dauer oder Intensität der Schmerzen zunimmt. Es handelt sich um eine fortdauernde oder intensivierte Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens in Form einer Dauerstraftat. Rechtliche Unsicherheit bereitet indessen der Definitionsteil „üble und unangemessene Behandlung“. Sieht man darin lediglich das Erfordernis der objektiven Zurechnung ausgedrückt,63 würde es sich um ein reines Erfolgsverursachungsdelikt handeln, für das die Entsprechungsklausel des § 13 StGB nach h. M.64 keine eigenständige Bedeutung hätte. Es wäre dann ohne weiteres möglich, das Nichtlindern von Schmerz als körperliche Misshandlung zu beurteilen. Verlangt man für den Definitionsteil aber mehr als die objektive Zurechnung, stellt sich für das insoweit verhaltensgebundene Delikt des § 223 Abs. 1 Alt. 1 StGB die Frage, ob der soziale Sinngehalt des Unterlassens, Schmerz abzuwenden, einer aktiven „üblen und unangemessenen Behandlung“ entspricht.65 3. Kausalität und objektive Zurechnung Es gibt Schmerz, der den Begriff der Gesundheitsschädigung und/oder der körperlichen Misshandlung erfüllt, aber dennoch strafrechtlich nicht zugerechnet werden kann. Ein Beispiel ist, dass aufgrund von besonderer Schmerzempfindlichkeit bereits ein geringfügiger körperlicher Reiz erheblichen Schmerz auslöst, wie wenn jemand einem anderen einen Klaps auf die Schulter gibt, ohne zu wissen, dass sich unter der Kleidung eine noch nicht ausgeheilte Brandwunde verbirgt. Für die Kausalität genügt nach der herrschenden Äquivalenztheorie, dass der Täter eine von mehreren Ursachen für den Erfolgseintritt gesetzt hat.66 Hatte der Täter von der erhöhten Schmerzempfindlichkeit des Betroffenen keine Kenntnis, ist indes die objektive Zurechnung zu verneinen, weil der Schmerz dann als eine Folge des in jener Person angelegten erhöhten individuellen Risikos und nicht als ein Werk der Handlung des Täters erscheint.67 Bei einem entsprechenden Sonderwissen des Täters ist dagegen – analog zum Beispiel der Tötung einer Person, von der man weiß, dass sie an der Bluterkrankheit leidet, durch einen Schlag auf die Nase – die objektive Zurechnung zu bejahen.68 Auch die Herbeiführung von Schmerz ohne Berührung des Körpers kann

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So eine im Vordringen befindliche Auffassung, die die körperliche Misshandlung auf die Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens oder der körperlichen Unversehrtheit reduziert; Murmann, Jura 2004, 102; Hardtung, MK-StGB, § 223 Rn. 48 ff.; Grünewald, LK StGB, § 223 Rn. 29; Hochmayr, ZStW 2018, 71 f. 64 Siehe nur Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 13 Rn. 16; S/S-Bosch, StGB, § 13 Rn. 4. 65 Vgl. zur sog. Modalitätenäquivalenz S/S-Bosch, StGB, § 13 Rn. 4. 66 Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Aufl. 2020, § 11 Rn. 6. 67 Vgl. zur objektiven Zurechnung Roxin/Greco (Fn. 66), § 11 Rn. 44 ff.; Werner, in: Weber (Hrsg.), Rechtswörterbuch, 27. Edition 2021, Objektive Zurechnung. 68 Vgl. Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2021, § 13 Rn. 74; Roxin/Greco (Fn. 66), § 11 Rn. 40, 56.

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objektiv zurechenbar sein. Man denke an das Verursachen von schlimmem Kopfschmerz durch Lärmfolter oder Schlafentzug. Besondere Probleme bereitet die objektive Zurechnung von chronischem Schmerz, weil für dessen Entstehung typischerweise mehrere Faktoren, darunter die individuelle genetische oder psychische Disposition des Betroffenen, ursächlich sind.69 Die objektive Zurechnung ist zu verneinen, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der chronische Schmerz eine Folge des erhöhten individuellen Risikos des Betroffenen ist. Verfügt der Täter über kein entsprechendes Sonderwissen dahin, dass die betroffene Person etwa aufgrund ihres Alters schmerzempfindlicher und besonders anfällig für chronischen Schmerz ist,70 kann nur der allenfalls verbleibende nicht-chronische Schmerz, der ebenfalls eine Gesundheitsschädigung sein kann,71 strafrechtlich zugerechnet werden. Darüber hinaus ist eine strafrechtliche Zurechnung in den Fällen möglich, in denen es eine handlungspflichtige Person unterlässt, chronischen Schmerz zu lindern oder zu beenden, sofern eine Besserung des Gesundheitszustands erreichbar wäre.

IV. Anwendung auf einzelne Fallkonstellationen Im Folgenden werden die Auswirkungen der Einordnung von Schmerz als Gesundheitsschädigung anhand von Fallkonstellationen demonstriert, die vorwiegend der Rechtsprechung entnommen sind. 1. Aktive Herbeiführung von Schmerz a) Schmerz als Begleiterscheinung Hat der Täter durch aktives Tun auch die dem Schmerz zugrundeliegende Verletzung der körperlichen Substanz oder Gesundheitsschädigung, wie einen Knochenbruch, herbeigeführt, ist bereits mit Blick auf diese Ausgangsverletzung der Tatbestand der Körperverletzung in Form einer Gesundheitsschädigung und einer körperlichen Misshandlung verwirklicht. Der mit der Ausgangsverletzung verbundene Schmerz ließe sich, je nach Intensität und Dauer, ebenfalls als Gesundheitsschädigung oder körperliche Misshandlung einordnen. Dies wirkt sich aber nicht auf die Strafbarkeit aus. Selbst wenn die (vorsätzliche) Körperschädigung zu chronischen Schmerzen führen würde, bliebe es bei der Verwirklichung des Grundtatbestands gem. § 223 Abs. 1 StGB, da diese Dauerfolge von der schweren Körperverletzung gem. § 226 StGB nicht erfasst wird. Langwierige Schmerzen können nur im Rahmen

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Fillingim, Current Rheumatology Reports 2005, 344. Vgl. Fillingim, Current Rheumatology Reports 2005, 344. 71 Oben III.1.(2). 70

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der Strafzumessung gem. § 46 Abs. 2 StGB als „verschuldete Auswirkungen der Tat“ berücksichtigt werden.72 Ist der Schmerz mit einer anderweitigen Störung des körperlichen Wohlbefindens verbunden, fungiert dieser Zustand als Indiz dafür, dass die Bagatellgrenze überschritten ist und eine tatbestandsmäßige körperliche Misshandlung vorliegt, wie bei einem Festhalten des Opfers im „Schwitzkasten“, das zu Nackenschmerzen führt,73 einer schmerzhaften Ohrfeige oder kurzfristigen Schmerzen infolge eines Tritts gegen das Schienbein.74 Wie erwähnt, sieht die neuere Rspr. des BGH Schmerz sogar als eine Voraussetzung für die Feststellung an, dass die Bagatellgrenze überschritten ist.75 Folgt man dieser Rspr., die die Weite der Definition der körperlichen Misshandlung sinnvoll einschränkt, muss sich der Vorsatz des Täters auch auf die Schmerzzufügung erstrecken. Wenn beispielsweise ein Täter, der einer anderen Person eine nicht schmerzhafte Ohrfeige verabreichen möchte, die Stärke des Schlages unterschätzt, kann nur eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung gem. § 229 StGB eingreifen. Schmerz, der die Erheblichkeit der körperlichen Misshandlung begründet, kann unterhalb der Erheblichkeitsschwelle einer Gesundheitsschädigung liegen. Erst wenn der Schmerz über die originäre Störung des körperlichen Wohlbefindens deutlich hinausgeht, kann zusätzlich eine – gegebenenfalls nur fahrlässige – Gesundheitsschädigung gegeben sein, etwa wenn heftige Schläge mit einem Polster gegen den Kopf einer Frau intensive Kopfschmerzen von einiger Dauer auslösen,76 eine heftige Ohrfeige für mehrere Tage Schmerzen im Bereich des Kiefers bewirkt77 oder – sofern objektiv zurechenbar – die Tätlichkeit chronischen Schmerz auslöst. Da die alternativen tatbestandsmäßigen Erfolge de lege lata als rechtlich gleichwertig gelten,78 entscheidet die strafrechtliche Bewertung von Schmerz in dieser Konstellation nicht über die Strafbarkeit, sondern kann sich nur auf die Strafzumessung auswirken.

72 Vgl. BGH NJW 2013, 3383 (3385) („quantitative oder qualitative Besonderheiten der Körperverletzung“); Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl. 2017, Rn. 691 (straferschwerende Wertung von Schmerzen bei der Körperverletzung [nur] bei „quantitativen oder qualitativen Besonderheiten“). 73 BGH NStZ-RR 2010, 374. 74 Die Störung des körperlichen Wohlbefindens liegt in diesen Fällen im unangenehmen Empfinden der Einwirkung auf den Körper, die sich von allfälligem Schmerz unterscheiden lässt. 75 Nw. oben in Fn. 16. 76 Vgl. OGH EvBl 1983/23. 77 Vgl. OGH 18. 10. 2012, 13 Os 96/12 k, der es allerdings genügen lässt, dass der Schmerz die Einwirkung auf den Körper überdauert (siehe oben Fn. 13). Die österreichische Rspr. relativiert damit das Erfordernis, dass gem. § 83 Abs. 2 öStGB die körperliche Misshandlung (wenigstens fahrlässig) zu einer Substanzverletzung oder Gesundheitsschädigung führen muss; zur Kritik an der gesetzlichen Konzeption Hochmayr, ZStW 2018, 72 f. 78 Paeffgen/Böse, NK-StGB, § 223 Rn. 7.

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b) Schmerz als alleinige Folge Konstellationen, in denen das aktive Tun als einzige Folge Schmerz auslöst, sind selten. Zu denken ist an psychische Einwirkungen, wie wenn bereits das Suggerieren eines Schmerzreizes ein tatsächliches Schmerzempfinden zur Folge hat.79 Auch der vom BGH entschiedene Fall, in dem das Opfer vor den Angreifern floh und die ausgelöste Angst Magenschmerzen bewirkte,80 ist hier einzuordnen. Wie dargelegt, ist es möglich, abhängig von der Intensität und Dauer des Schmerzes eine tatbestandsmäßige Gesundheitsschädigung zu bejahen.81 Dieses Ergebnis ist deshalb wichtig, weil das Vorliegen einer körperlichen Misshandlung zweifelhaft ist – im ersten Fall, weil lediglich auf die Psyche eingewirkt wurde, im zweiten Fall, weil der Körper des Opfers nicht erreicht wurde. Nur wenn man für die körperliche Misshandlung eine (nicht nur unerhebliche) Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens genügen ließe,82 könnte man diese Tatbestandsalternative bejahen. 2. Unterlassen, den Schmerz abzuwenden oder zu lindern Die größte Bedeutung hat die Einordnung von Schmerz, wenn dem Täter allein das Unterlassen, für die Beseitigung oder wenigstens Linderung des Schmerzes zu sorgen, vorgeworfen wird. Eine Strafbarkeit setzt voraus, dass der Täter Garant für die körperliche Integrität der betroffenen Person ist und die Möglichkeit hat, die Schmerzen zu beenden oder abzuschwächen. Beispiele aus der Rspr. sind der Bereitschaftsarzt, der es unterlässt, einer Frau zu helfen, die wegen eines noch nicht diagnostizierten Unterleibsleidens Schmerzen hat, die sie „kaum noch ertragen“ kann,83 die Mutter eines von ihrem Partner misshandelten Kindes, die nichts gegen die durch großflächige Hautverletzungen am Rücken des Kindes ausgelösten starken Schmerzen unternimmt,84 oder der Arzt, der während einer Operation die gebotene „Nachnarkotisierung“ unterlässt und auf diese Weise der Patientin vermeidbare Schmerzen zufügt.85 In diesen Fällen kann, wie gezeigt, eine Körperverletzung durch Unterlassen in der Alternative der Gesundheitsschädigung angenommen und der bedenkliche Rückgriff auf die Alternative der körperlichen Misshandlung vermieden werden.

79

108. 80

Zur Möglichkeit, Schmerz allein durch Suggestion hervorzurufen, Suttorp et al. (Fn. 4),

BGH, Urt. v. 15. 10. 1974, BeckRs 1974, 52. Im Urt. v. 15. 10. 1974 (Fn. 80) nahm der BGH eine tatbestandsmäßige Körperverletzung an. Der Umstand, dass damals der Versuch des Grundtatbestands der Körperverletzung straflos war, könnte die eher niedrig erscheinende Bagatellschwelle erklären. 82 Oben bei Fn. 63. 83 OLG Hamm NJW 1975, 604. 84 OLG Düsseldorf NStZ 1989, 269. 85 BayObLG NStZ-RR 2004, 45. 81

„An unpleasant sensory and emotional experience“

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V. Fazit Schmerz wird in der Medizin als ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder möglichen Gewebeschädigung verbunden ist oder einem mit einer solchen Schädigung verbundenen Erlebnis ähnelt, definiert. Dieser Zustand erfüllt die Anforderungen an eine Gesundheitsschädigung i. S. von § 223 Abs. 1 und § 229 StGB, selbst wenn man hierfür mit der Rspr. und h. M. einen „pathologischen, somatisch-objektivierbaren Zustand“ verlangt. Voraussetzung ist, dass der Schmerz nach Intensität und Dauer die Bagatellgrenze überschreitet. Damit kann in den Konstellationen, in denen die Annahme einer körperlichen Misshandlung problematisch ist, weil der Schmerz ohne körperliche Berührung ausgelöst wird oder eine handlungspflichtige Person es unterlässt, für die Beseitigung oder wenigstens Linderung von Schmerz zu sorgen, auf die verfassungsrechtlich einwandfreie Tatbestandsalternative der Gesundheitsschädigung zurückgegriffen werden. Die Verursachung von Schmerz ohne Substanzverletzung, der die Erheblichkeitsschwelle einer Gesundheitsschädigung nicht erreicht, kann über die körperliche Misshandlung erfasst werden, sofern der Schmerz mit einer anderweitigen Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens verbunden ist. Schränkt man mit der neueren Rspr. des BGH die Strafbarkeit einer bloßen Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens auf die Fälle ein, in denen zumindest kurzfristiger Schmerz ausgelöst wird, entscheidet der Vorsatz des Täters hinsichtlich der Verursachung von Schmerz über die Strafbarkeit wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Körperverletzung.

Die strafrechtliche Verantwortlichkeit kommunistischer Richter wegen Rechtsbeugung in Polen Witold Kulesza

I. Justizverbrechen als kommunistische Verbrechen Nach dem Wechsel des politischen Systems in Polen 1989/1990 wurde es notwendig, dass sich der nunmehr demokratische Rechtsstaat zu seiner Vergangenheit positionierte, in der Richter und Staatsanwälte, die den Anweisungen der Machtorgane unterworfen waren, gegenüber Bürgern, die auf die Einhaltung ihrer Menschenrechte pochten, Akte offenkundigen Unrechts begingen. Es wurden spezielle Rechtsgrundlagen geschaffen, um die Aufhebung rechtswidriger Verurteilungen wegen politischer Straftaten in der Zeit des Stalinismus (1944 – 1956) sowie nach Einführung des Kriegszustands in Polen (ab dem 13. 12. 1981) zu ermöglichen.1 Allerdings wurde bis heute kein einziger Staatsanwalt oder Richter wegen menschenrechtsverletzender Rechtsbeugung rechtskräftig verurteilt, selbst wenn diese Justizjuristen über einen unschuldigen Angeklagten die Todesstrafe verhängt hatten.2 Versuche, mit den Tätern des gerichtlichen Unrechts der Vergangenheit strafrechtlich abzurechnen, wurden nach dem Gesetz über das Institut für Nationales Gedenken – Kommission zur Verfolgung von Verbrechen gegen die polnische Nation vom 18. 12. 1998 unternommen, das den Begriff des kommunistischen Verbrechens eingeführt hat. Der Verfasser dieses Beitrags wirkte bei der Vorbereitung des Entwurfs dieses Gesetzes mit, das den Weg zur strafrechtlichen Verfolgung von Richtern und Staatsanwälten eröffnete, die im Dienste des kommunistischen Regimes an Justizverbrechen beteiligt waren, die vom Begriff des kommunistischen Verbrechens umfasst sind. Diese Verbrechen wurden im Auftrag der Partei ausgeführt, wobei die mitwirkenden Juristen ihren eigenen Beitrag zum Justizunrecht geleistet hatten. Die vom Gesetzgeber festgelegte Definition des kommunistischen Verbrechens lautet:

1 W. Kulesza, in: Unverhau (Hrsg.), Lustration, Aktenöffnung, demokratischer Umbruch in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Archiv zur DDR-Staatssicherheit. Bd. 3, 1999, 43 ff. 2 W. Kulesza, in: Szabó (Hrsg.), Sowjetische Schauprozesse im Mittel- und Osteuropa, 2015, 169 (172).

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Witold Kulesza

„Als kommunistische Verbrechen (…) sind die durch Funktionäre eines kommunistischen Staates (…) begangenen Taten zu verstehen, die in der Anwendung von Repressionen oder anderen Formen von Menschenrechtsverletzungen gegenüber einzelnen Personen oder Bevölkerungsgruppen oder im Zusammenhang mit der Anwendung solcher Maßnahmen begangen wurden und die als Straftaten im Sinne des polnischen Strafgesetzes gelten“.3

Vom Anwendungsbereich des Gesetzes wurden Richter und Staatsanwälte erfasst, die in den Zeiten des Stalinismus sowie des Kriegszustands, der eine Art Rückfall in die stalinistische Funktionsweise des Staatsapparats darstellte, tätig waren. Bei der Schaffung der Rechtsgrundlagen der Verantwortlichkeit für Verbrechen des Totalitarismus wurde auf die Erfahrungen der Justiz in der Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Aufarbeitung des DDR-Unrechts zurückgegriffen. Für die Bestimmung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist der Hinweis von Jan C. Joerden zur Verfolgungspraxis des kommunistischen Unrechts im wiedervereinigten Deutschland von grundlegender Bedeutung: „Für das Strafrecht gibt es bekanntlich eine zentrale Unterscheidung: die zwischen Strafwürdigkeit einerseits und Strafbarkeit andererseits. So mag es sein, daß ein Verhalten strafwürdig ist, d. h. ,Strafe verdient‘; damit ist aber noch längst nicht klar, daß es auch strafbar ist, d. h. vom Gesetz als Straftat eingestuft wird. Zumindest in kontinentaleuropäischen Rechtssystemen setzt die Strafbarkeit einer Tat voraus, daß diese Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde (…): Nulla poena sine lege (scripta)“.4

Im polnischen Strafrecht gibt es kein spezielles Delikt der Rechtsbeugung wie in § 339 dStGB. Gleichwohl wird die Beugung des Rechts durch einen Richter vom Delikt des Amtsmissbrauchs umfasst. Im Einklang mit dem Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege wurde für die Bewertung von Urteilen als mögliche kommunistische Justizverbrechen auf die Vorschriften über den strafbaren Missbrauch von Befugnissen von Amtsträgern in Art. 286 poln. StGB von 19325 (in Bezug auf stalinistische Richter) und Art. 246 poln. StGB von 19696 (in Bezug auf Richter des Kriegszustands) zurückgegriffen, die bereits zu der Zeit in Kraft waren, in der kommunistische Richter tatsächliche oder mutmaßliche politische Gegner verurteilt hatten. Zur strafrechtlichen Verfolgung von Richtern wegen Überschreitung ihrer Befugnisse war es notwendig, Fallgruppen herauszufiltern, in denen durch eine Verurteilung ein Justizverbrechen begangen wurde. In der polnischen Jurisprudenz existier3

Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes über das Institut für Nationales Gedenken – Kommission zur Verfolgung von Verbrechen gegen die polnische Nation (in der ursprünglichen Fassung). 4 Joerden, JRE 8 (2000), 565 (567). 5 Art. 286 § 1 poln. StGB (1932) lautete: „Ein Amtsträger, der seine Macht überschreitet oder seiner Pflicht nicht nachkommt und dadurch zum Nachteil des öffentlichen oder privaten Interesses handelt, wird mit Gefängnisstrafe bis zu 5 Jahren bestraft.“ 6 Art. 231 § 1 poln. StGB (1969) lautete: „Ein Amtsträger, der seine Befugnisse überschreitet oder seinen Pflichten nicht nachkommt und dadurch zum Nachteil des öffentlichen oder privaten Interesses handelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren bestraft.“

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ten zu dieser Frage keine näheren Maßstäbe. Die Bestimmung der eine strafwürdige und strafbare Überschreitung der richterlichen Bestrafungsmacht prägenden Merkmale, die eine richterliche Entscheidung zu einem Justizverbrechen machten, erforderte eine Untersuchung von Urteilen aus den Zeiträumen, in denen es zu besonders krasser Rechtsbeugung kam, worin sich wiederum die Loyalität der Richter gegenüber der politischen Macht manifestierte. Im Folgenden werden die Ergebnisse dieser Untersuchungen dargestellt und anhand von Urteilen aus der Zeit des Kriegszustandes in Polen veranschaulicht.7 Zuvor sei zum Vergleich auf ein in der Bundesrepublik Deutschland ergangenes Urteil hingewiesen, mit dem ein DDR-Richter wegen Rechtsbeugung verurteilt wurde (§ 336 dStGB a. F./§ 339 dStGB, § 244 StGB-DDR), und dieser Fall der Rechtsbeugung einem ähnlichen Urteil aus Polen aus der Zeit des Kriegszustandes gegenübergestellt: Am 2. 3. 1981 wurde in der DDR ein ehemaliger leitender Krankenhausarzt, der zwei gleichlautende Briefe an die Solidarnos´c´ verfasste, vom Bezirksgericht Dresden wegen staatsfeindlicher Hetze in Tateinheit mit ungesetzlicher Verbindungsaufnahme gem. §§ 106, 219 Abs. 2 StGB-DDR verurteilt. In den Briefen hatte der Arzt seine Sympathie und Verbundenheit mit der polnischen Gewerkschaft bekundet und eine finanzielle Unterstützung angekündigt. Darüber hinaus enthielten die Briefe eine zurückhaltende Kritik an den Beschränkungen der Pressefreiheit in der DDR. In seiner Entscheidung vom 15. 11. 1995 wertete der Bundesgerichtshof das oben genannte Urteil als einen Fall der Rechtsbeugung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung. Weder seien die Äußerungen in den Briefen als staatsfeindliche Hetze zu werten, noch sei die subjektiv vorausgesetzte staatsfeindliche Gesinnung bei ihrem Verfasser ersichtlich. Die Schlussfolgerung lautete: „Vielmehr bedeutet die Anwendung beider Strafvorschriften eine Überdehnung der Tatbestände, die angesichts der verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten wegen der Unerträglichkeit des Gerechtigkeitsverstoßes selbst dann nicht mehr hinnehmbar wäre, wenn sich die Rechtsanwendung auf eine herrschende Rechtsprechungspraxis hätte stützen können“.8 In Polen hatten nach Einführung des Kriegszustands die zwei später Angeklagten eine für andere Personen sichtbare Aufschrift „Tod der PZPR9 – Solidarnos´c´“ an der Fassade eines Gebäudes angebracht. Im Jahre 1982 wurden sie wegen Aufforderung zu Straftaten zu Freiheitsstrafen von 1 Jahr und 6 Monaten bzw. 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt.10 Art. 280 § 1 poln. StGB (1969), der der Verurteilung zugrunde lag, lau7

Siehe auch W. Kulesza, FS Schroeder, 2011, 91 ff. BGH DtZ 1996, 92. Horskotte, in: Drobnig (Hrsg.), Die Strafrechtsjustiz der DDR im Systemwechsel. Partei und Justiz. Mauerschützen und Rechtsbeugung, 1998, 63 (86). 9 PZPR – Polska Zjednoczona Patria Robotnicza (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei). 10 Sa˛d Warszawskiego Okre˛ gu Wojskowego (Gericht des Warschauer Militýrbezirks), Urt. v. 19. 4. 1982, Sow 256/82. Zitiert nach Strzembosz/Stanowska, Se˛ dziowie warszawscy w czasie pro´by 1981 – 1988, 2005, 106. 8

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tete: „Wer zur Begehung einer Straftat öffentlich auffordert oder sie billigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren bestraft“. Strafwürdig und strafbar war laut den Kommentierungen zu dieser Vorschrift die öffentliche Aufforderung zur Begehung einer konkreten, „in einem Strafgesetz genannten Straftat“. Die „Tötung einer politischen Partei“ war indes in keiner der Strafvorschriften als Delikt vorgesehen. Es ist also festzustellen, dass das Gericht den Tatbestand überdehnte und die Angeklagten für ein Verhalten verurteilt wurden, das keine Straftat darstellte. Die beiden Urteile zeigen, dass die Unterstützung von Solidarnos´c´ im Jahre 1980 durch ein Gericht im kommunistischen Ostdeutschland genauso bestraft wurde wie durch Gerichte in Polen nach der Einführung des Kriegszustandes ab Ende 1981, dessen Hauptziel die Auflösung der Gewerkschaft Solidarnos´c´ war.

II. Fallgruppen von Justizverbrechen Als Ergebnis einer systematischen Rechtsanalyse von Strafurteilen, die von stalinistischen Richtern sowie Richtern in der Zeit des Kriegszustandes gefällt wurden, ist zwischen sechs unterschiedlichen Fallgruppen richterlichen Unrechts zu differenzieren, die als Justizverbrechen qualifiziert werden können:11 Die erste Fallgruppe umfasst Urteile, die unter Verstoß gegen den Grundsatz lex retro non agit, also auf Grund eines zum Zeitpunkt der Tat rückwirkend geltenden Gesetzes gefällt wurden. Zu dieser Fallgruppe gehört die Anwendung des im Gesetzblatt vom 14. 12. 1981 veröffentlichten Dekrets über den Kriegszustand gegenüber den Veranstaltern eines Streiks, die einen Tag zuvor, als es sich noch nicht um eine gesetzlich verbotene Aktivität handelte, zu dieser Protestform aufgerufen hatten. Ein Beispiel hierfür ist die Verurteilung von zwei Aktivisten der Solidarnos´c´ zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten, weil sie am Vormittag des 13. 12. 1981 zum Generalstreik als Protest gegen die Einführung des Kriegszustands aufgerufen hatten. Der Strafprozess begann sechs Tage später (19. 12. 1981), obwohl weder dem Richter noch dem Staatsanwalt das Gesetzblatt mit dem dort veröffentlichten Dekret über den Kriegszustand vorlag, in dem die Organisation von Streiks und Protestaktionen verboten und mit Freiheitsstrafe bedroht wurde. Die durch den Generalstaatsanwalt beim Obersten Gericht (OG) eingelegte außerordentliche Revision führte zur Erhöhung der Freiheitsstrafe für die beiden Angeklagten auf 6 Jahre.12 In diesem Fall kam es zu einem Justizverbrechen in seiner offenkundigsten Gestalt, weil Strafvorschriften ungeachtet des in Art. 1 des damals geltenden Strafgesetzbuches von 1969 fixierten Grundsatzes nullum crimen, nulla poena sine lege – lex retro non agit rückwirkend angewendet wurden. Dieser Grundsatz wurde von den Richtern 11

W. Kulesza, Crimen laesae iustitiae. Odpowiedzialnos´c´ karna se˛ dziów i prokuratorów za zbrodnie sa˛dowe według prawa norymberskiego, niemieckiego, austriackiego i polskiego, 2013, 440 ff. 12 W. Kulesza (Fn. 11), 440 f.

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missachtet, indem sie die Angeklagten wegen Taten verurteilten, die zum Tatzeitpunkt nicht verboten waren. Infolgedessen wurden die Angeklagten rechtswidrig ihrer Freiheit beraubt. Die zweite Fallgruppe enthält Urteile, in denen Richter eine vage Strafvorschrift angewandt und dabei die Wortlautgrenze überschritten hatten. Als Beispiel sei die Verurteilung für das Anbringen von Aufschriften wie „Rosyjski sojusz nam niepotrzebny“ („Wir brauchen kein russisches Bündnis“) oder „Wrona orła nie pokona“ („Die Krähe besiegt den Adler nicht“) auf Hausmauern genannt. Einer der Angeklagten wurde vom Gericht zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt, andere zu Freiheitsstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Das Gericht stellte fest, dass mit „Krähe“ (wrona) der Militärrat der Nationalen Errettung (Wojskowa Rada Ocalenia Narodowego) mit der offiziellen Abkürzung „WRON“ gemeint war, der in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 den Kriegszustand eingeführt hatte. Dieses Organ war im polnischen Machtsystem nicht vorgesehen, womit es im rechtlichen Sinne einen „usurpatorischen“ Charakter hatte. Nach Ansicht des Gerichts war „WRON“ dennoch als ein „leitendes Staatsorgan“ im Sinne des Strafgesetzbuches anzusehen. Das Gericht stützte sich dabei auf Art. 270 § 1 poln. StGB (1969): „Wer die polnische Nation, die Volksrepublik Polen, ihr Staatssystem oder leitende Organe öffentlich beschimpft, verhöhnt oder erniedrigt, wird (…) bestraft.“13 Damit kreierte das Gericht in seinem nach dieser Vorschrift gefällten Urteil im Grunde eine „neue“ Straftat: „Das Beschimpfen des WRON“. Art. 271 § 1 poln. StGB (1969), eine andere vage Vorschrift, bedrohte denjenigen mit Freiheitsstrafe, der „falsche Informationen verbreitet, wenn dies geeignet ist, einen schwerwiegenden Schaden für die Interessen der Volksrepublik Polen herbeizuführen“. Auch der Anwendungsbereich dieser Strafnorm wurde von den Gerichten unter Missachtung der Wortlautgrenze überdehnt. Unter den Verurteilten wegen dieser neuen Deliktsform befand sich ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN), der für das Verfassen einer Kritik an der Einführung des Kriegszustandes mit 2 Jahren Freiheitsstrafe bestraft wurde.14 Als ein strafbares Verbreiten falscher Informationen sah das Gericht auch an, dass in einer Privatwohnung in Anwesenheit von einigen Personen ein Brief eines internierten Autors vorgelesen wurde, dessen gereimte Passage das Gericht als gegenüber der Staatsmacht feindselig einschätzte.15 Hinzu kommt eine weitere Fallgruppe der Überschreitung der Wortlautgrenze. Ein Beispiel dafür ist die Anwendung von Art. 279 poln. StGB (1969): „Wer eine Sitzung veranstaltet, die eine Straftat zum Ziel hat, oder eine solche Sitzung leitet, 13 Sa˛d Warszawskiego Okre˛ gu Wojskowego (Gericht des Warschauer Militýrbezirks), Urt. v. 19. 4. 1982, Sow 727/82. Zitiert nach: Strze˛ bosz/Stanowska (Fn. 10), 107. 14 Sa˛d Warszawskiego Okre˛ gu Wojskowego (Gericht des Warschauer Militýrbezirks), Urt. v. 24. 6. 1982, Sow 652/82. Zitiert nach: Strze˛ bosz/Stanowska (Fn. 10), 99. 15 OG, Urt. v. 17. 12. 1982, Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙ szego. Izba Karna 1983, Nr. 6, Pos. 48.

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wird mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 5 Jahren bestraft“. Nach dieser Vorschrift wurde eine Gerichtsreferendarin zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt, weil sie vom 15.–17. Dezember 1981 zwei Treffen organisiert hatte, in deren Rahmen sie die Teilnehmer „aufforderte“, „Schriften zu verfassen und außerhalb des offiziellen Umlaufs zu verbreiten“. Der Staatsanwalt und das Gericht stellten einstimmig fest, dass die erst zu verfassenden Schriften „falsche Informationen“ beinhaltet hätten. Mit dieser Begründung wurden zweimalige Treffen von Personen als „Sitzungen, die eine Straftat zum Ziel hatten,“ im Sinne des Art. 279 poln. StGB (1969) qualifiziert.16 Unter Verstoß gegen den Wortlaut von Art. 276 § 1 poln. StGB (1969) befand das Gericht in einem anderen Fall17, dass sechs Mitglieder des Streikkomitees von Solidarnos´c´ an einer „Vereinigung“ beteiligt waren, „die Straftaten zum Ziel hatte“, und verurteilte sie zu Freiheitsstrafen zwischen 2 Jahren und 3 Jahren und 6 Monaten. Die Veranstalter des Streiks wurden zu einer „kriminellen Vereinigung“ erklärt, womit im Wege eines richterlichen Präjudizes eine weitere „Kriminalisierung des Streikrechts“ stattfand. Diese Kriminalisierung erfolgte nämlich aufgrund der strafrechtlichen Auslegung nicht nur vorübergehend für die Zeit des Kriegszustandes, sondern auf Dauer, also zukunftsbezogen. Die vierte Fallgruppe bilden Verurteilungen wegen bloßer Vergehen, in denen drakonische Strafen verhängt wurden, die sämtlichen Grundsätzen der Strafzumessung und dem elementaren Gerechtigkeitsgefühl widersprachen. Als Beispiel sei ein Urteil eines Marinegerichts mit 10 bzw. 9 Jahren Freiheitstrafe für die Angeklagten genannt, die in der Zeit des Kriegszustands einen illegalen Streik in der Wyz˙sza Szkoła Morska (Hochschule für Seefahrt) organisiert und Flugblätter verfasst und verbreitet hatten.18 Zu der fünften Fallgruppe zählen Verurteilungen von Angeklagten, denen das Recht auf Verteidigung verwehrt wurde und die im Laufe des Strafverfahrens gefoltert wurden. Nach dem politischen Umbruch 1989/90 wurden Fälle der Anwendung psychischen und physischen Zwangs in Ermittlungsverfahren bestätigt. Psychischer Zwang bestand etwa in der Drohung mit der Todesstrafe gegenüber inhaftierten Beschuldigten, dem Halten einer Pistole an den Kopf oder der Drohung, den Beschuldigten aus dem Fenster des Vernehmungsraumes zu stürzen. Frauen wurde gedroht, ihnen das Sorgerecht für ihre Kinder zu entziehen und diese in staatlichen Kinderheimen unterzubringen. Physischer Zwang bestand im Schlagen von Verhafteten, in der Festsetzung gefesselter Personen im Winter in kalten Räumlichkeiten oder in stundenlangen, mehrfachen Verhören.

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Sa˛d Warszawskiego Okre˛ gu Wojskowego (Gericht des Warschauer Militýrbezirks), Urt. v. 24. 6. 1982, Sow 75/82. Zitiert nach: Strze˛ bosz/Stanowska (Fn. 10), 107. 17 Sa˛d Warszawskiego Okre˛ gu Wojskowego (Gericht des Warschauer Militýrbezirks), Urt. v. 24. 6. 1982, Sow 109/83. Zitiert nach: Strze˛ bosz/Stanowska (Fn. 10), 115. 18 Lityn´ski, Historia prawa Polski Ludowej, 2010, 138.

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Die sechste Fallgruppe richterlicher Justizverbrechen umfasst Urteile, die ohne Beweise oder aufgrund gefälschter, im Strafprozess präparierter und durch Richter nicht überprüfter Beweise gefällt wurden. Beispiele dafür sind Verurteilungen wegen Beteiligung an einer Personenansammlung von kriminellem Charakter (Landfriedensbruch gem. Art. 275 § 1 poln. StGB 1969). Wegen dieser Straftat wurden Personen verurteilt, die zufällig an Orten festgenommen worden waren, an denen Demonstrationen gegen den Kriegszustand oder Demonstrationen an nationalen Feiertagen19 stattgefunden haben. Die Aussagen von Funktionären der Miliz und des Sicherheitsdienstes waren für die Gerichte in der Regel ein ausreichender Beweis für die Begehung eines Delikts, das in „der Beteiligung an einer Personenansammlung von kriminellem Charakter“ bestand.20

III. Richterliche Immunität als Verfahrenshindernis 1. Grundlagen Im polnischen Rechtssystem ist die Zustimmung des Disziplinargerichts eine notwendige Voraussetzung für die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Richters im Verfahren vor einem ordentlichen Gericht.21 Dies gilt auch dann, wenn dem Richter eine gewöhnliche Straftat, die mit seiner richterlichen Tätigkeit in keinem Zusammenhang steht, zur Last gelegt wird. Das Verfahren gegen einen einer Straftat ver19 In der gesamten Nachkriegszeit war in Polen die Versammlungsfreiheit zwar durch die Verfassung garantiert, in der Praxis wurde jedoch jede nicht staatlich organisierte Versammlung als Bedrohung für die staatliche Macht behandelt, d. h. sie wurde als rechtswidrige öffentliche Ansammlung betrachtet. Von der demokratischen Opposition organisierte oder spontane Kundgebungen an nationalen Feiertagen wie am 3. Mai (Verfassungstag von 1791) oder am 11. November (Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918) wurden verboten. Verboten waren auch nicht offizielle Versammlungen am 1. Mai. Die polnische Miliz war befugt, jede, auch friedliche öffentliche Versammlung unter Anwendung von Zwang auseinanderzutreiben und die Teilnehmer festzunehmen bzw. zur weiteren strafrechtlichen Ahndung an die Justizorgane zu übergeben. Als Teilnehmer illegaler Versammlungen wurden auch Personen bestraft, die nach einer Heiligen Messe für das Vaterland das Kirchengebäude verließen. W. Kulesza, Demonstracja. Blokada. Strajk (Granice wolnos´ci zgromadzen´ i strajku w polskim prawie karnym na tle prawa niemieckiego), 1991, 233 ff. 20 OG, Urt. v. 9. 3. 1983, IV KR 13/83, Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙ szego. Izba Karna 1983, Nr. 6, Pos. 48. 21 Die richterliche Immunität wurde ursprünglich in der Verfassung der Republik Polen von 1921 eingeführt (Art. 79). In der heute geltenden Verfassung von 1997 wird die Immunitýt des Richters durch Art. 181 garantiert. Eine a¨hnliche Regelung gilt fu¨r Staatsanwa¨lte; siehe Art. 135 des Gesetzes u¨ber die Staatsanwaltschaft v. 28. 1. 2016 (Dz.U. 2016, Pos. 177, ein¨ ber die Erteilung der Zustimmung, einen Richter heitliche Fassung Dz.U. 2021, Pos. 66). U oder Staatsanwalt zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu ziehen, entscheidet die Disziplinarkammer des OG in Form eines Beschlusses, Art. 27 § 1 des Gesetzes u¨ber das Oberste Gericht v. 8. 12. 2017 (einheitliche Fassung Dz.U. 2021, Pos. 1904).

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dächtigen Richter setzt sich also aus zwei Schritten zusammen. Im ersten Schritt beantragt die Staatsanwaltschaft beim zuständigen Disziplinargericht die Erteilung der Zustimmung, den Richter zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu ziehen. Das Disziplinargericht erteilt die Zustimmung, wenn es zur Überzeugung gekommen ist, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit der Begehung der dem Richter zur Last gelegten Tat besteht. Im zweiten Schritt wird gegen den Richter beim ordentlichen Gericht Anklage erhoben. Das ordentliche Gericht untersucht den Fall in materieller Hinsicht und entscheidet über die Schuld und die Strafzumessung. Die Verweigerung einer Zustimmung durch das Disziplinargericht stellt damit ein formelles Hindernis dar, das der Strafverfolgung eines Richters entgegensteht. 2. Die bisherige Rechtsprechung des OG Die richterliche Immunität schützte in der Praxis auch nach 1990 stalinistische Richter sowie Richter des Kriegszustands vor einer Bestrafung für Verstöße gegen elementare Rechtsgrundsätze, auch wenn deren Folge eine zu Unrecht verhängte Freiheitsstrafe oder, wie in der Zeit des Stalinismus, sogar der Tod eines rechtswidrig zu Tode Verurteilten war. Die Staatsanwälte der Kommission zur Verfolgung von Verbrechen gegen die polnische Nation hatten seit 2000 beim OG als zuständigem Disziplinargericht die Zustimmung beantragt, die Richter des Kriegszustands für Justizverbrechen, die in rechtswidrigen Verurteilungen zu Freiheitsstrafen unter Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot bestanden, strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Die Anträge betrafen somit Richter, denen zur Last gelegt wurde, Urteile aus der ersten der oben genannten Fallgruppen als der offenkundigsten Form der Überschreitung richterlicher Befugnisse gefällt zu haben. Das OG stellte im Beschluss vom 20. 12. 200722 den Rechtsgrundsatz auf, dass „die Gerichte, die in Strafverfahren wegen der im Dekret über den Kriegszustand vom 12. Dezember 1981 (…) bezeichneten Straftaten urteilten, von der Pflicht zur Anwendung rückwirkender Strafvorschriften mit Gesetzesrang nicht befreit waren“. Dies bedeutet, dass die Richter nach Ansicht des OG ihre Befugnisse nicht überschritten, als sie wegen Taten verurteilten, die am 13. 12. 1981 begangen wurden, d. h. noch vor der am 14. 12. 1981 erfolgten Veröffentlichung des genannten Dekrets, die zu jenem Zeitpunkt noch nicht strafbar waren. Diese These des OG hatte zur Folge, dass von Disziplinargerichten in keinem einzigen Fall die Zustimmung erteilt wurde, einen Richter des Kriegszustandes strafrechtlich zur Verantwortlichkeit zu ziehen. Wenn schon ein offensichtlicher Verstoß gegen den fundamentalen Grundsatz lex retro non agit durch das OG nicht als Justizverbrechen eingestuft wurde, dann wurden leichtere Verletzungen des Grundsatzes nullum crimen und Verletzungen von Verfahrensrechten umso weniger verfolgt. Aus diesem Grund wurde 22

OG, Beschl. v. 20. 12. 2007, Az. I KZP 37/07. Ausführlich W. Kulesza (Fn. 11), 451 ff.

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kein Richter des Kriegszustandes vor einem ordentlichen Gericht wegen eines Justizverbrechens angeklagt. Dagegen war und ist die Verjährung kein Hindernis für die Strafverfolgung von kommunistischen Verbrechen. Nach Art. 44 der Verfassung der Republik Polen von 1997 ruht die Verjährung von Straftaten von Amtsträgern, wenn ihre Strafverfolgung aus politischen Gründen unterlassen wurde, solange diese Gründe andauern. Das Gesetz über das Institut für Nationales Gedenken – Kommission zur Verfolgung von Verbrechen gegen die polnische Nation bestimmt in Art. 4 Abs. 1 Pkt. 2, dass kommunistische Verbrechen der Verjährung nicht unterliegen; dies soll auch für Taten gelten, die eigentlich schon verjährt waren und deren Strafbarkeit mit diesem Gesetz wieder auflebte.23 Durch die entsprechende Änderung des Gesetzes vom 15. 7. 202024 wurden diesbezügliche Unsicherheiten in Schrifttum und Rechtsprechung beseitigt. 3. Die Wende in der Rechtsprechung des OG Ab dem Jahr 2019 wurde durch das OG in sieben Präzedenzbeschlüssen die Zustimmung erteilt, Richter und Staatsanwälte, die in der Zeit des Kriegszustands an Justizverbrechen beteiligt waren, strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.25 In der Begründung wurde auf den Begriff des Justizverbrechens und seine oben dargestellten sechs Formen Bezug genommen, womit sowohl der Begriff einer richterlichen Straftat als auch seine Systematik in die gerichtliche Praxis Einzug fanden. Im Folgenden werden die Fälle von drei Richtern dargestellt, deren formelle Immunität in den letzten Jahren durch das OG aufgehoben wurde und die in der Folge vor den ordentlichen Gerichten wegen Justizverbrechen, die eine rechtswidrige Freiheitsberaubung nach sich zogen und deshalb als kommunistische Verbrechen anzusehen sind, angeklagt werden könnten. a) Aufhebung der Immunität des Richters J. B. R. Der Richter J. B. R. verurteilte im Jahre 1982 einen Mitarbeiter eines staatlichen Unternehmens zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr, weil er an Fächern im Umkleideraum des Unternehmens folgende Aufschriften angebracht hatte: „Tod für die 23 Kulik, in: Hochmayr/Gropp (Hrsg.), Die Verjährung als Herausforderung für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen. Entwicklung eines Harmonisierungsvorschlags, 2021, 367 (374). 24 Dz.U. 2020, Pos. 1273. 25 OG, Beschl. v. 14. 5. 2019, I DO 30/19, LEX Nr. 2680285; v. 29. 8. 2019, I DO 29/19, LEX Nr. 3018607; v. 17. 9. 2019, I DO 41/19, LEX Nr. 2728608; v. 15. 12. 2020, II DO 90/20, LEX Nr. 3095021; v. 16. 12. 2020, I DO 51/20, LEX Nr. 3094999; v. 17. 12. 2020, I DO 52/20, LEX Nr. 3094993; v. 2. 7. 2021, I DI 3/21, LEX Nr. 3193582. Zu den Einzelheiten siehe J. Kulesza, Podstawy odpowiedzialnos´ci karnej se˛ dziów i prokuratorów stanu wojennego za zbrodnie˛ sa˛dowa˛ jako postac´ zbrodni komunistycznej. Siedem uchwał Sa˛du Najwyz˙ szego, Przegla˛d Sejmowy (im Druck).

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PZPR“, „Solidarnos´c´“, „Ab mit Junta“, „Ab mit dem Kommunismus“. Diese Taten beurteilte der Richter als strafbar gem. Art. 270 § 1 poln. StGB (1969), einer Strafvorschrift, die das Beschimpfen, Verhöhnen oder Erniedrigen der polnischen Nation, der Volksrepublik Polen, ihres Staatssystems oder leitender Staatsorgane erfasste. Im Revisionsverfahren im Jahre 1982 hielt das OG das Urteil aufrecht und fügte hinzu, dass „in der Zeit des Kriegszustands zweifellos jegliche gegen die staatliche Gewalt aufhetzenden Handlungen im übergeordneten Staatsinteresse hart bestraft werden sollen“. Es betonte weiter, dass „die Verhängung einer Freiheitsstrafe, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wird, für richtig zu halten ist“.26 Das OG änderte diese Sichtweise im Jahre 1994, hob das Urteil von 1982 zu Recht auf und merkte an, dass der Verurteilte durch Anbringen von Aufschriften „seine kritische Haltung zur Einführung des Kriegszustands in Polen manifestierte“. Keine der Aufschriften sei tatbestandsmäßig i. S. von Art. 270 § 1 poln. StGB (1969), weil dort weder eine politische Partei (PZPR) noch der Militärrat (WRON) als ein leitendes Staatsorgan genannt ist. Als Schlussfolgerung der Entscheidung über die Aufhebung des Urteils wurde betont: „Die Forderung eines Machtwechsels war nicht als Beschimpfen, Verhöhnen oder Erniedrigen der Staatsmacht zu deuten“.27 In einer Personalbewertung des Richters J. B. R. aus dem Kriegszustand war zu lesen, dass er als „aktives Parteimitglied“ „in Sachen von politischem Charakter mit vollem Engagement entschieden hatte“. In seinen Urteilen „bewies er eine politische Reife, (…) eine sozialistische Haltung sowie einen hoch entwickelten Patriotismus“. Die Zustimmung des OG von 2019, den Richter J. B. R. für sein Urteil zu den genannten Aufschriften im Jahre 1982 strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, bezog sich auch auf einen Richter des OG, der im Kriegszustand im Revisionsverfahren entschieden hatte, die Verurteilung des Urhebers der zitierten Aufschriften aufrechtzuerhalten. b) Aufhebung der Immunität des Richters J. R. Über die Aufhebung der Immunität des Richters J. R. entschied das OG im Beschluss vom 17. 09. 201928, der es erlaubte, ihn für die Verurteilung eines Grenzschutzsoldaten wegen einer Aktivität zur Schwächung der Wehrbereitschaft Polens und wegen Verbreitung falscher Informationen, die staatlichen Interessen einen schwerwiegenden Schaden zufügen konnten, zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu ziehen. Der Angeklagte hatte sich in einer Soldatenkammer gegenüber anderen Soldaten wie folgt geäußert: „Rote Spinnen und Parteigenossen werden gehängt!“ „Das Bündnis mit der Sowjetunion bringt uns nichts, denn Polen ist doch eine der sowjetischen Republiken.“ „Unsere Regierung, unser Staatssystem ist schlecht“. 26

OG, Beschl. v. 14. 5. 2019, I DO 30/19, LEX Nr. 2680285. OG, Beschl. v. 14. 5. 2019, I DO 30/19, LEX Nr. 2680285. 28 OG, Beschl. v. 17. 9. 2019, I DO 41/19, LEX Nr. 2728608.

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Diese Äußerungen wurden als Straftaten gem. Art. 48 Abs. 2 des Dekrets über den Kriegszustand29 sowie gem. Art. 270 § 1 poln. StGB (1969) als „Beschimpfung des Staates“ eingestuft. Der Richter J. R. verurteilte den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten sowie einer zusätzlichen Strafe des Entzugs öffentlicher Rechte für 2 Jahre. In der Urteilsbegründung war zu lesen: „Die Arbeiterpartei ist die führende politische Kraft der Gesellschaft beim Aufbau des Sozialismus“. Der Angeklagte hätte „auch das Staatssystem der Volksrepublik Polen erniedrigt“, indem er sich beleidigend über Mitglieder der Partei äußerte, die „ein unerlässliches Element der staatlichen Macht darstellt“. Des Weiteren führte das Gericht aus, „die in Äußerungen des Angeklagten enthaltenen Informationen über soziale und wirtschaftliche Beziehungen waren grundlegend falsch, wovon er sich selbst durch Berichte der Tagespresse sowie aus Nachrichten in Radio und Fernsehen hätte überzeugen können“. Vor allem aber befand das Gericht offensichtlich spöttisch, dass der Angeklagte doch „die Normierungen im Vertrag zwischen Polen und der Sowjetunion vom 21. 04. 1945 in der novellierten Fassung von 1965 über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand, wonach u. a. die Freundschaft und Zusammenarbeit ihrerseits auf Gleichberechtigung, Achtung der Souveränität und Nichteinmischung in interne Angelegenheiten beruhen“, hätte lesen können. Bei der Urteilsfindung wurde vom Militärgericht als strafschärfender Umstand „eine hohe Intensität der Böswilligkeit des Angeklagten in der Verbreitung von den öffentlichen Frieden gefährdenden radikalen Ansichten“ berücksichtigt.30 Dieses Urteil wurde im Revisionsverfahren im Jahre 1993 aufgehoben. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Tat nach Art. 270 § 1 poln. StGB (1969) öffentlich begangen werden muss und dass die Soldatenkammer, in der der verurteilte Soldat die Äußerungen gegenüber anderen Soldaten getätigt hatte, nicht allgemein zugänglich war. Die Äußerungen hätten sich nur an wenige, sich in dem Raum aufhaltende Personen gerichtet und deren Interesse nicht geweckt, sodass sie tatsächlich weder öffentliche Unruhe noch einen Aufruhr hervorrufen konnten. Daher wurde zu Recht betont, dass der Angeklagte keine Straftat gem. Art. 48 Abs. 2 des Dekrets über den Kriegszustand begangen hatte.31 Der Personalakte des Militärrichters, der den Soldaten verurteilt hatte, ist zu entnehmen, dass dieser „mit einem großen Engagement in politischen Sachen entschieden“ und „seine politische Reife zum Ausdruck gebracht hatte“. Bei der Entscheidung über die beantragte Aufhebung der Immunität von J. R. stimmte das OG im Beschluss vom 15. 12. 202032 darüber hinaus zu, den Militärstaatsanwalt zur Verantwortung zu ziehen, der die Anklage gegen den Soldaten er29

Art. 48 Abs. 2 des Dekrets über den Kriegszustand lautete: „Mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 5 Jahren wird bestraft, wer falsche Informationen verbreitet, wenn dies geeignet ist, öffentliche Unruhe oder einen Aufruhr hervorzurufen.“ 30 OG, Beschl. v. 17. 9. 2019, I DO 41/19, LEX Nr. 2728608. 31 OG, Beschl. v. 15. 12. 2020, II DO/20, LEX Nr. 3095021. 32 OG, Beschl. v. 15. 12. 2020, II DO/20, LEX Nr. 3095021.

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hoben hatte und eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren einforderte, wobei er behauptete, dass der Angeklagte „zur Schwächung der Wehrbereitschaft der Volksrepublik Polen“ handelte (Art. 48 Abs. 1 des Dekrets über den Kriegszustand) und „falsche Informationen verbreitete“ (Art 271 § 1 poln. StGB [1969]).33 Die Aufhebung der Immunität des Staatsanwalts ermöglicht es, ihn wegen Anstiftung des Gerichts zur rechtswidrigen Freiheitsberaubung von Personen anzuklagen, die er angeklagt und deren Bestrafung er beantragt hatte. c) Aufhebung der Immunität des Richters J. I. Das Militärgericht, in dessen Zusammensetzung der Richter J. I. als Beisitzer tätig war, verurteilte am 21. 12. 1982 ein Mitglied des Untergrundes (Solidarnos´c´) für das Verfassen und Verteilen von ca. 2.000 Flugblättern mit „falschen Inhalten“ in der Öffentlichkeit. Die Flugblätter wurden durch den Angeklagten mithilfe eines einfachen Geräts angefertigt. Dieses hatte er selbst aus einem Brett gebastelt, an das er eine Schablone mit den Aufschriften nagelte. Auf diese Weise vervielfältigte er mithilfe einer Malerrolle die Aufschriften auf Blättern aus Schulheften. Auf den Flugblättern waren folgende Aufschriften zu lesen: „Wir wollen Freiheit, Wahrheit, Menschenwürde, Achtung der Bürgerrechte sowie Durchführung von richtigen Reformen. Solidarnos´c´“. „Wohin geht und worum kämpft die kompromittierte PZPR wirklich?“ „Polen, es kommt der Tag des Generalstreiks und der Kundgebungen!“. Auf einem der Flugblätter waren die Umrisse von Polen, umzäunt mit Stacheldraht, dargestellt. Das Militärgericht bewertete die Aufschriften als „falsche Informationen, die geeignet waren, öffentliche Unruhe oder Aufruhr hervorzurufen“ (Art. 46 Abs. 1 des Dekrets über den Kriegszustand) sowie als Aufforderung zu Straftaten (Art. 280 § 1 poln. StGB von 196934). Zum Flugblatt mit den Umrissen von Polen, umzäunt mit Stacheldraht, urteilte das Gericht, dass diese Darstellung „die Volksrepublik Polen auf eine Art und Weise verhöhnt, die keine Zweifel aufkommen lässt“. Das Strafausmaß wurde mit dem hohen Grad an Gefährlichkeit der Tat für die Allgemeinheit, den hohen Grad der böswilligen Gesinnung des Angeklagten und seiner „negativen Einstellung zur aktuellen Realität in Volksrepublik Polen“ begründet.35 Dieses Urteil wurde durch das OG im Wege der außerordentlichen Revision im Jahre 1992 aufgehoben. Es argumentierte, dass eine Tätigkeit, die im Namen von Solidarnos´c´ vorgenommen wurde und auf die Verteidigung ihres Existenzrechts abzielte, der Sache nach eine oppositionelle politische Tätigkeit darstellte, die die Verteidigung der breit verstandenen bürgerlichen Freiheitsrechte und der Grundsätze der Demokratie bezweckte, die das damalige politisch-soziale System verletzte. Darüber 33

Art. 271 § 1 poln. StGB (1969) lautete: „Mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren wird bestraft, wer falsche Informationen verbreitet, wenn dies geeignet ist, einen schwerwiegenden Schaden für die Interessen der Volksrepublik Polen herbeizuführen.“ 34 Siehe oben I. a. E. 35 OG, Beschl. v. 21. 7. 2021, I DI 3/21, LEX Nr. 3193582.

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hinaus „ist das Auftreten im Namen und zur Verteidigung dieser Werte als hochmoralisch einzuschätzen und die Tätigkeit des Angeklagten war vom Blickwinkel des von der Gesellschaft akzeptierten Wertesystems sowie ihrer lebendigen Interessen vollkommen begründet und gesellschaftlich anerkannt“.36 In Bezug auf die strafrechtliche Qualifizierung der Tat wurde in der Begründung der Aufhebung der Immunität37 angeführt, dass die Teilnahme am Streik nach dem Recht des Kriegszustands nur eine Ordnungswidrigkeit darstellte. Das Militärgericht sah in der Aufforderung zur Teilnahme am Generalstreik einen Aufruf zur Begehung einer Straftat und damit eine Straftat gem. Art. 280 § 1 poln. StGB (1969), obwohl Aufforderungen zur Begehung einer Ordnungswidrigkeit in dieser Vorschrift nicht vorgesehen waren. Das Urteil verstieß damit gegen den Wortlaut der Norm und hatte die Bestrafung für eine Tat zur Folge, die durch das Gesetz nicht verboten war. Derselbe Beurteilungsmaßstab wurde in Bezug auf das Flugblatt mit dem mit Stacheldraht umzäunten Umriss von Polen angewandt, weil es „von symbolischem Ausdruck war, dabei den Bewusstseinszustand der Gesellschaft in dieser Zeit widerspiegelte und aus diesem Grund sein Inhalt nicht als öffentliches Verhöhnen der Volksrepublik Polen angesehen werden kann“. Es wurde betont, dass das Flugblatt Protest und Kritik an der in der Zeit des Kriegszustands herrschenden Unterdrückung zum Ausdruck brachte und auch deshalb das Tatbestandsmerkmal der „Verhöhnung“ nicht erfüllt war. d) Resümee Die dargestellten Urteile, die unter Mitwirkung von Richtern ergangen sind, deren Immunität in den letzten Jahren aufgehoben wurde, haben gemeinsam, dass es sich stets um Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe wegen eines Verhaltens, das weder strafwürdig noch strafbar war, handelte. Diese Urteile sind daher als von Richtern begangene, klare Menschenrechtsverletzungen zu werten. Es bleibt die Frage offen, ob nach der Erteilung der Zustimmung durch das OG die Richter tatsächlich strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden und es zu ihrer Verurteilung durch ordentliche Gerichte wegen der in der Zeit des Kriegszustands begangenen Justizverbrechen kommt. Bis dato wurde keiner der Fälle von Richtern oder Staatsanwälten, deren Immunität ab 2019 durch das OG aufgehoben wurde, durch ein ordentliches Gericht untersucht. Der Grund hierfür dürfte weniger darin liegen, dass die durch das OG in den hier dargestellten Beschlüssen zugrunde gelegte Verantwortlichkeit der Richter für kommunistische Verbrechen in Frage gestellt wird, als in einer sich übermäßig in die Länge ziehenden Verfahrensdauer.

36 37

OG, Beschl. v. 21. 7. 2021, I DI 3/21, LEX Nr. 3193582. OG, Beschl. v. 21. 7. 2021, I DI 3/21, LEX Nr. 3193582.

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IV. Zusammenfassung Der bahnbrechende Charakter der Beschlüsse des OG ab 2019 besteht in der Anerkennung des Begriffs des Justizverbrechens und der Anwendung der vorgeschlagenen Systematik eines strafwürdigen und strafbaren Verhaltens eines Richters unter Verletzung grundlegender Rechtsgrundsätze. Das Ziel der Erarbeitung des Modells mit sechs unterschiedlichen Konstellationen war es zu verdeutlichen, dass das richterliche Verhalten in jeder der dargestellten Situationen, gemessen am damals geltenden Recht, strafbar war. Alle systematisierten Fälle stellten gleichzeitig eine Verletzung von Menschenrechten dar. Die Quintessenz der Position des OG zum Unrecht des Kriegszustands, in der die These von der Verantwortlichkeit der Richter bestätigt wird, ist im Beschluss vom 2. 7. 2021 zu finden:38 „Von der Definition des kommunistischen Verbrechens sind Repressionen umfasst, die unterschiedliche Formen der Verfolgung für eine Aktivität darstellen, die mit der in der Volksrepublik Polen geltenden politischen Linie nicht übereinstimmte. (…) Die schärfste Verfolgungsform war die Anwendung von Strafrepressionen gegen solche Personen, wie eine grundlose Festnahme, Internierung oder Verurteilung zur Freiheitsstrafe. Die Definition eines kommunistischen Verbrechens umfasst (…) Justizverbrechen, soweit diese eine Verletzung der Menschenrechte darstellten“.

Im Rahmen weiterer Forschungen zum Justizverbrechen und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ihrer Täter sind die Thesen, die Joerden in Bezug auf das Unrecht in der DDR formuliert hat, zu berücksichtigen und auf die Situation in Polen zu übertragen: „Was die strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-Unrechts anbetrifft, kann das getrost als ein Kardinalfehler bezeichnet werden. Denn die im staatlichen Auftrag der DDR begangenen Taten waren gemessen am DDR-Recht gerade nicht strafbar.“39

Auf die Frage, wie das Ziel der strafrechtlichen Aufarbeitung von schweren Menschenrechtsverletzungen zu erreichen wäre, antwortet Joerden: „Wenn es um die Frage der Normierung der Strafbarkeit eines Verhaltens geht, ist indes die Legislative zuständig. (…) Aufgabe des Gesetzgebers wäre es in diesem Zusammenhang auch gewesen, Begriffe wie ,schwere Menschenrechtsverletzungen‘ zu konkretisieren.“40

Joerden hat die Aufarbeitung des SED-Unrechts als mit einem Geburtsfehler behaftet gesehen, sofern das inkriminierte Verhalten zur Tatzeit nicht strafbar gewesen

38

LEX Nr. 3193582. Siehe dazu J. Kulesza, Odpowiedzialnos´c´ karna se˛ dziów i prokuratorów stanu wojennego. Glosa do uchwały Sa˛du Najwyz˙ szego z dnia 2 lipca 2021 r., sygn. akt I DI 3/21, Roczniki Nauk Prawnych 2022, Nr. 1, 133 ff. 39 Joerden, JRE 8 (2000), 568. 40 Joerden, JRE 8 (2000), 569.

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wäre.41 Es scheint, dass dies für die auf der Grundlage des polnischen Rechts angenommene strafrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern und Staatsanwälten für Justizverbrechen nicht zutrifft. Die von Joerden formulierte Kritik motiviert jedenfalls dazu, den Begriff des Justizverbrechens weiter zu reflektieren.

41 In seiner Rezension des Werkes von Marxen/Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz, 1999, in dem ein Fazit deutscher Erfahrungen gezogen wurde, stellte Joerden die zentrale Frage: „War das Verhalten, das im Zuge der Prozesse, die die Autoren beschreiben, zur Aburteilung kam, überhaupt strafbar? Sofern diese Frage nýmlich – wie ich im Unterschied zu Marxen und Werle meine – mit ,nein‘ zu beantworten ist, leidet die gesamte strafrechtliche ,Aufarbeitung‘ der DDR-Vergangenheit an einem Geburtsfehler, der sich durch noch so viele Detailarbeit nicht mehr beseitigen lýßt.“ Joerden, JRE 8 (2000), 567.

Der österreichische Verfassungsgerichtshof zur Suizidhilfe und das österreichische Sterbeverfügungsgesetz Anmerkungen aus deutscher Perspektive* Henning Rosenau

I. Die neue Rechtslage in Österreich: ein Sterbeverfügungsgesetz Seit letztem Jahr schreitet Österreich Deutschland voran. Es hat mit Bundesgesetz vom 31. 12. 2021 mit Wirkung zum 1. Jänner 2022, wie es austriakisch in § 14 Sterbeverfügungsgesetz heißt, eine Regelung in Kraft gesetzt, die einen Rechtsrahmen für die Suizidbeihilfe normiert. In jenem Bundesgesetz, ein Artikelgesetz, wird zunächst in Art. 1 das Bundesgesetz über die Errichtung von Sterbeverfügungen (Sterbeverfügungsgesetz – StVfG) mit dem genannten Regelungsbereich errichtet.1 Parallel wird in Art. 3 das Strafgesetzbuch geändert.2 Die pauschale Kriminalisierung der Beihilfe zum Suizid in § 78 Halbs. 2 öStGB a. F. ist aufgehoben; das Verleiten zum Suizid bleibt im neuen § 78 Abs. 1 öStGB aber wie bisher strafbar. Die Hilfeleistung zur Selbsttötung ist indes nur noch eingeschränkt pönalisiert. § 78 öStGB hat damit die folgende Fassung erhalten: Mitwirkung an der Selbsttötung § 78. (1) Wer eine andere Person dazu verleitet, sich selbst zu töten, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen. (2) Ebenso ist zu bestrafen, wer 1. einer minderjährigen Person, 2. einer Person aus einem verwerflichen Beweggrund oder 3. einer Person, die nicht an einer Krankheit im Sinne des § 6 Abs. 3 des Sterbeverfügungsgesetzes (StVfG), BGBl. I Nr. 242/2021, leidet oder die nicht gemäß § 7 StVfG ärztlich aufgeklärt wurde, dazu physisch Hilfe leistet, sich selbst zu töten.

* Ich danke meiner Mitarbeiterin Felicia Steffen, M.mel., für ihre wertvolle Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags und Herrn Kollegen Erwin Bernat, Graz, für die Hilfe bei der Beschaffung der Literatur aus Österreich. 1 BGBl. I 242/2021. 2 BGBl. I 242/2021, 7.

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II. Irrungen und Wirrungen in der Entwicklung des Rechts der Sterbehilfe Mit seiner neuen Rechtslage bewegt sich Österreich auf die deutsche, liberalere Rechtslage zu. Denn mit der Nichtigkeitserklärung des § 217 StGB a. F. ist bei uns wieder die Rechtslage mit langer Tradition hergestellt: Wie der Suizid und der Suizidversuch bleibt auch jede Beihilfe zum Suizid straflos. Zwar nicht kirchenrechtlich, aber doch nach dem weltlichen Recht ist der Suizid in Deutschland über Jahrhunderte strafrechtlich toleriert worden. Selbst die sonst überaus harte Carolina,3 die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. aus dem Jahr 1532, behandelt den Suizid und die Suizidteilnahme nicht als Straftat.4 Das blieb über die Zeit der Aufklärung bestehen. Auch dem StGB ist eine Strafbarkeit des Suizids bzw. Suizidversuchs fremd. Der Reichsgesetzgeber entschied sich 1871 beim RStGB gegen eine Strafbarkeit. Selbst die Nationalsozialisten, die sonst nichts unversucht ließen, um freies Verhalten zu kriminalisieren, und die den Suizid als Pflichtverletzung gegen den Staat sahen, beließen es dabei.5 Alles in allem hat die Entwicklung zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen auch zum Lebensende wieder Fahrt aufgenommen. Diese Fahrt war jäh vom schwarzen Freitag für die Selbstbestimmung am Lebensende unterbrochen worden,6 als der Bundestag am 6. 11. 2015 erstmals nach über 150 Jahren in Deutschland eine Strafbarkeit der Suizidbeihilfe einführte. In § 217 StGB a. F. wurde die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe verboten. Zuvor waren es die Gerichte gewesen, die in Deutschland Schritt für Schritt den Weg nach vorne gewagt, ein Recht zum selbstbestimmten Sterben ausbuchstabiert und gegen starke Widerstände in Politik und Gesellschaft, insbesondere aus dem Kreis der Religionsgemeinschaften,7 durchgesetzt haben. Erster Meilenstein war dabei die Anerkennung der indirekten Sterbehilfe durch den BGH.8 Mit der Begründung, dass ein Tod in Würde und in Schmerzfreiheit ein höherwertiges Rechtsgut sei als die Aussicht, unter schwersten Schmerzen noch über eine knappe Zeitspanne länger leben zu müssen, hat er im Jahr 1996 dieser Form der Sterbehilfe zugestimmt. Es folgte im Zusammenspiel der Strafsenate des BGH mit dem XII. Zivilsenat die Anerkennung der Formen der damals sog. passiven Sterbehilfe, zunächst als Hilfe beim Sterben (wenn die eigentliche Sterbephase bereits eingesetzt hat), später dann auch als Hilfe zum Sterben (weit im Vorfeld der Sterbephase, etwa durch Einstellung künst3 Die allerdings früher weniger hart empfunden wurde, weil das Leben überhaupt härter war, Radbruch, in: Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, 1975, 5 (11). 4 Jakobs, Tötung auf Verlangen, 1998, 5; Heinrich, GS Tröndle, 2019, 539 (541). 5 Henking, JR 2015, 174. 6 Rosenau, NJW 2015, Heft 49, NJW-aktuell, Editiorial, I. 7 Deren Einfluss lässt sich deutlich am Erlass des verfassungswidrigen § 217 StGB a. F. nachzeichnen; Rosenau, in: von Schirach, Gott, 2020, 143 (152 f.); Kreß, MedR 2018, 790 (793). 8 BGHSt 42, 301.

Der österreichische VfGH zur Suizidhilfe und das österreichische StVfG

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licher Ernährung).9 Die Entwicklung nahm im strafrechtlichen Kontext ihren Abschluss, als der BGH 2010 in einer weitreichenden Entscheidung die immer schon missverständliche „passive“ Sterbehilfe auf ein neues Fundament stellte und deutlich machte, dass auch durch aktives Tun die ärztliche Behandlung enden kann.10 Die Juristen hatten zuvor eine Idee von Roxin11 aufgegriffen und über die gekünstelte Rechtsfigur des Unterlassens durch Tun aus der hintersten Ecke der dogmatischen Trickkiste das Abstellen des Beatmungsgeräts als ein Unterlassen eingeordnet.12 Damit stand nur noch eine Unterlassenstrafbarkeit in Rede, und es konnte mit einer fehlenden Garantenpflicht des Arztes dessen Straflosigkeit begründet werden. Völlig richtig ist diese Sterbehilfe qua Unterlassen – und deshalb passive Sterbehilfe – mit dem BGH ad acta gelegt worden.13 Die vom Willen des Patienten getragene Situation legitimiert nun einen Behandlungsabbruch, einen Behandlungsverzicht oder eine Behandlungsbegrenzung.14 Schließlich war es auch die Rechtsprechung, die ihre eigene, aber immer noch durch die Köpfe mancher Strafgerichte geisternde Wittig-Judikatur15 im Jahr 2019 beerdigt hat.16 Damit war von der Rechtsprechung versucht worden, die gesetzlich vorgesehene Straflosigkeit der Suizidbeihilfe zu umgehen. Mit Eintritt der Bewusstlosigkeit gehe die Tatherrschaft auf den Gehilfen über und dieser sei als Garant wegen eines Tötungsdelikts durch Unterlassen, als Nichtgarant nach § 323c StGB strafbar.17 Es bleiben noch Schritte zu gehen. So hat sich der BGH nicht dazu durchringen können, den freiverantwortlichen Suizid nicht länger als Unglücksfall zu qualifizieren.18 Überzeugend ist das nicht. Konstruktions- und wertungsmäßig wäre es in hohem Maß widersprüchlich, würde zwar die Beihilfe zum Suizid straflos sein, aber ein Unglücksfall bestehen und damit das echte Unterlassensdelikt des § 323c StGB Anwendung finden.19 Ein selbstbestimmter Suizid überdehnt den Begriff eines Unglücksfalles und gerät mit Art. 103 Abs. 2 GG in Kon9

Uhlig/Joerden, Ad legendum 2011, 369. BGHSt 55, 191. 11 Roxin, FS Engisch, 1969, 380 (396); Roxin, in: Schroth/Roxin (Hrsg.), Medizinstrafrecht, 4. Aufl. 2010, 75 (95). 12 BGHSt 6, 46 (59); Heinrich, Strafrecht AT, 5. Aufl. 2016, Rn. 872; Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, 1998, 176; Streng, ZStW 122 (2010), 1 (14). 13 Was den XII. Zivilsenat nicht davon abhält, weiter irrig von passiver Sterbehilfe zu sprechen; BGHZ 211, 67, (74 f., Rn. 20, 23). So findet man es auch weiterhin falsch auf Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Sterbehilfe (zuletzt abgerufen am 15. 2. 2022). Korrekturbemühungen hat der Verf. dort mittlerweile eingestellt. 14 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 51. Aufl. 2021, Rn. 1164. 15 BGHSt 32, 367. Aufgegriffen vom OLG Hamburg, medstra 2017, 45 (52 f.). 16 BGHSt 64, 121; 64, 135. Zustimmung von Grünewald, JR 2020, 167 ff.; Lorenz, HRRS 2019, 351 ff.; Neumann, StV 2020, 126 ff.; Sternberg-Lieben, medstra 2020, 3 ff.; Weißer, ZJS 2020, 85 ff. 17 BGHSt 2, 150 (156); BGHSt 6, 147 (153 f.). 18 BGHSt 64, 121 (133, Rn. 44); 64, 135 (145, Rn. 37). 19 Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT, 4. Aufl. 2021, § 3 Rn. 32. 10

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flikt.20 Darüber lässt sich auch nicht, wie es der BGH mit der Annahme eines objektiv-normativen „Unglücksfall(s) im Rechtssinne“ tut,21 hinwegmogeln. Es wird weiterer höchstrichterlicher Urteile bedürfen,22 um nun – mit dem Rückenwind der sogleich darzustellenden Menschenrechtslage – auch das letzte Relikt eines ethischmoralischen Unbehagens gegenüber dem freiverantwortlichen Suizid beiseitezuräumen. Geradezu bezeichnend ist, dass selbst im Jahr 2019 der 5. Strafsenat nicht die Kraft aufbringt, sich gegen ein überkommenes Diktum des eigenen Senats aus dem Jahr 2001 deutlich zu positionieren.23 Er sprach 2001 davon, dass der Suizid rechtswidrig sei und verwies auf eine alte Entscheidung des Großen Senats aus dem Jahr 1954.24 Letzter hatte den Suizid als selbstherrliche, gegen das Sittengesetz verstoßende Verfügung über das eigene Leben bezeichnet, die niemandem gestattet sei und jedermann zur Rettung aufrufe.25 Solche letzten Reserven der Rechtsprechung illustrieren, wie diese bei der Anerkennung der Freiheit im Sterben und der Rücknahme der Strafbarkeit vorgeht: zwar nicht wie die Echternacher Springprozession, aber doch sehr langsam und bedächtig. Das dürfte durchaus typisch für richterliche Rechtsfortbildung sein.

III. Ein Menschenrecht auf Selbstbestimmung zum Sterben 1. Das BVerfG zum Menschenrecht eines selbstbestimmen Sterbens Gleiches lässt sich vom BVerfG nicht sagen. Es hat mit seinem Urteil vom 26. 2. 2020, Aschermittwoch, die Freiheit am Lebensende weit nach vorne katapultiert. Bekanntlich hat das BVerfG § 217 StGB a. F. für verfassungswidrig und damit nichtig erklärt.26 Das Urteil hat eingeschlagen wie ein Blitz.27 Sei es nun ein Paukenschlag,28 20

Seebode, FS Kohlmann, 2003, 279 (286); Lorenz, HRRS 2019, 360. BGHSt 64, 121 (133). 22 Die herrschende Lehre ist schon deutlich weiter, Krey/Hellmann/Heinrich/Hellmann, Strafrecht BT 1, 17. Aufl. 2021, Rn. 131; Rengier, Strafrecht BT 2, 21. Aufl. 2020, § 8 Rn. 20; Ulsenheimer/Biermann, Arztstrafrecht in der Praxis, 6. Aufl. 2021, Rn. 811; Freund, in: Erb/ Schäfer (Hrsg.), MK-StGB, 3. Aufl. 2019, § 323c Rn. 61; Momsen, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier (Hrsg.), SSW-StGB, 5. Aufl. 2021, vor § 211 Rn. 22; Duttge, in: Dölling/Duttge/ König/Rössner (Hrsg.), HK-GS, 5. Aufl. 2022, vor § 211 Rn. 43; Engländer, JZ 2019, 1049 (1052); Kindhäuser/Hilgendorf, LPK, 8. Aufl. 2020, vor § 211 Rn. 33; Kusch/Hecker, Handbuch der Sterbehilfe, 2. Aufl. 2021, 288; Popp, in: Cirener et al. (Hrsg.), LK-StGB, 13. Aufl. 2022, § 323c Rn. 66; Saliger, in: ders./Tsambikakis (Hrsg.), Strafrecht der Medizin, 2022, § 4 Rn. 130; Schroth, GesR 2020, 477 (482); Sternberg-Lieben, GA 2021, 161 (172). 23 BGHSt 64, 121 (133 Rn. 45); krit. dazu Engländer, JZ 2019, 1051. 24 BGHSt 46, 279 (285). 25 BGHSt 6, 147 (153). 26 BVerfGE 153, 182. 27 Bernat, RdM 2021, 88. 28 Duttge, MedR 2021, 538; Leitmeier, NStZ 2020, 508. 21

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ein Schwerthieb29 oder mit weniger Pathos ein Meilenstein30 gewesen: Solche Zuschreibungen haben ihre Berechtigung. Zwar hat sich das BVerfG nur zu § 217 StGB a. F. geäußert, aber die im Urteil entfaltete Rechtsauffassung zur Sterbehilfe ist allgemein gefasst. Sie ist deshalb nicht an den unmittelbaren Prozessgegenstand gebunden und hat Geltung für die Sterbehilfe insgesamt. Sie ist als Grundsatzentscheidung zu verstehen.31 Das Urteil wird auch die Sicht auf die aktive Sterbehilfe in der Form der Tötung auf Verlangen gem. § 216 StGB verändern. War Joerden gegenüber einer teleologischen Reduktion des § 216 StGB unter Hinweis auf die Zuständigkeit des Gesetzgebers noch skeptisch,32 wird sich mit dem Urteil, dessen Rubrum Gesetzeskraft zukommt, die Frage nach einer Reformbedürftigkeit des § 216 StGB deutlich drängender als bislang stellen.33 Die unbeschränkte Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen ist nun noch schwerer begründbar als bislang schon.34 Dabei kommt dem Urteil besondere Autorität zu, weil es einstimmig mit acht zu null Richterstimmen ergangen ist. Abgesehen von randständigen Normen ist bislang noch keine Strafbestimmung aus dem Kernstrafrecht derart für verfassungswidrig erklärt worden.35 Das war gar nicht ohne weiteres ausgemacht. Denn zum einen war die Norm nach heftiger, rechtspolitischer Debatte im Bundestag mit relativ deutlicher Mehrheit beschlossen worden. Und zum anderen billigt das BVerfG dem Gesetzgeber in den heiklen, biopolitischen Fragen regelmäßig einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.36 Aber nun äußert sich das BVerfG glasklar. Hinter dieser eindeutigen Entscheidung kann niemand mehr, auch nicht der Deutsche Bundestag, zurückbleiben. Es gibt ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Die Eckpunkte dieses Rechts seien mit groben Strichen skizziert: Das Gericht verankert das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben im allgemeinen Persönlichkeitsrecht

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Hillenkamp JZ 2020, 618 (619). Kienzerle, Paternalismus im Strafrecht der Sterbehilfe, 2020, 67. Entsprechend zum österreichischen VfGH Khakzadeh, RdM 2021, 47; Burda, ÖJZ 2021, 220 (225). 31 Dorneck et al., Sterbehilfegesetz, Augsburg-Münchner-Hallescher-Entwurf (AMHESterbehilfeG), 2021, 31 und 55; Herzog/Sotiriadis, NK 2020 223 (224 f.); Hörnle, JZ 2020, 872 (873). 32 Joerden, FS Roxin, 2011, 593 (595 f.). 33 Dazu etwa Dorneck et al. (Fn. 31), 55; Hörnle, JZ 2020, 873 und 876; Lobinger, in: Uhle/Wolf (Hrsg.), Entgrenzte Autonomie?, 2021, 46 (49); Sternberg-Lieben, GA 2021, 170 f.; Weilert, MedR 2020, 814 (818); a. A. Henking, in: Tsambikakis/Rostalski (Hrsg.), Medizinstrafrecht, 2022, § 212 Rn. 85. 34 Lewisch, ÖJZ 2021, 978, (980); Öz, JR 2020, 428 (433); Schmoller, JBl 2021, 147 (151). 35 Herzog/Sotiriadis, NK 2020, 224. 36 Zuletzt etwa in der Triage-Entscheidung des BVerfG vom 16. 12. 2021 – 1 BvR 1541/20, Rn. 99. Zu dieser Konstante im Biorecht Rosenau, in: Saliger/Tsambikakis (Hrsg.), Strafrecht der Medizin, 2022, § 6 Rn. 6. 30

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aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.37 Damit wird dieses Recht an die Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG herangerückt38 und gewinnt an Gewicht etwa gegen die Stimmen, die das Recht zu sterben an Art. 2 Abs. 2 GG (das Recht auf Leben) knüpfen wollen.39 Die Verortung des BVerfG ist völlig zutreffend. Die Wahrnehmung dieses Rechts gibt der persönlichen Autonomie des Einzelnen Ausdruck.40 Das bedeutet, dass der Staat und die Gesellschaft den Sterbewillen, wenn er frei – und dementsprechend auch frei von Zwängen und psychischen Erkrankungen – erfolgt, zu akzeptieren und zu respektieren haben.41 Es gibt keine objektive Vernunfthoheit des Staates über diese Entscheidung. Unzulässig ist mithin eine Bewertung dieses Willens, indem er etwa nur dann akzeptiert wird, wenn eine unheilbare Krankheit Anlass zum Suizidwunsch ist. Es darf an ihn auch kein Makel geheftet werden.42 Das BVerfG wendet sich wie schon der Bundestag bei der Entscheidung zur Patientenverfügung 200943 gegen eine irgendwie geartete Reichweitenbeschränkung44 dieses Rechts. Das Recht wirkt in jeder Phase menschlicher Existenz. Dabei darf es sich nicht faktisch als leere Hülse erweisen, sondern muss effektiv für den Einzelnen auch umsetzbar bleiben.45 Andererseits hat der Staat Autonomie und Würde des Einzelnen zu schützen. Erkennt der Gesetzgeber Gefahren für die Freiheit der selbstbestimmten Entscheidung, kann er regulierend eingreifen,46 ohne dabei das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf selbstbestimmtes Sterben außer Kraft zu setzen.47

37 BVerfGE 153, 182 (261 f., Rn. 209); Hecker GA 2016, 455 (463); Schroth, GesR 2020, 478 f.; Brunhöber, NStZ 2020, 538 (539); Kienzerle (Fn. 30), 63 ff.; Sachs, GS Tröndle, 2019, 641 (645); Saliger, Selbstbestimmung bis zuletzt, 2015, 63 f. 38 BVerfGE 153, 182 (266 und 283, Rn. 218 und 266); Kaiser/Reiling, in: Uhle/Wolf (Hrsg.), Entgrenzte Autonomie?, 2021, 120 (154); Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Fn. 19), § 3 Rn. 2. 39 Lang, NJW 2020, 1562 (1563); vgl. zur Debatte um die richtige Verortung Rosenau/ Sorge NK 2013, 108 (110 m. w. N.). 40 BVerfGE 153, 182 (261 f., Rn. 209); Cording/Saß, NJW 2020, 2695 (2696); Herzog/ Sotiriadis, NK 2020, 227 f.; Duttge, in: Uhle/Wolf (Hrsg.), Entgrenzte Autonomie?, 2021, 87 (101). 41 BVerfGE 153, 182 (263, Rn. 210). 42 BVerfGE 153, 182 (271, Rn. 234). 43 PatVG v. 29. 7. 2009, BGBl. I 2286 f.; §§ 1901a ff. BGB. 44 Rosenau, FS Rissing-van Saan, 2011, 547 (551); Kienzerle (Fn. 30), 291; Verrel, in: Bormann (Hrsg.), Lebensbeendende Handlungen, 2017, 617 (624 f.). 45 BVerfGE 153, 182 (288, Rn. 278). 46 BVerfGE 153, 182 (285 f., Rn. 272). 47 BVerfGE 153, 182 (287, Rn. 277).

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2. Der österreichische VfGH zum Menschenrecht eines selbstbestimmen Sterbens Wenige Monate nach dem BVerfG hat der Verfassungsgerichtshof Österreichs in seinem (sic)48 Erkenntnis vom 11. 12. 2020 ganz entsprechend geurteilt:49 Die in Österreich bestehende Strafbarkeit der Beihilfe zum Suizid im dortigen § 78 Halbs. 2 öStGB50 wurde für verfassungswidrig erklärt, weil diese Regelung gegen das Selbstbestimmungsrecht verstoße.51 Noch im Jahr 2016 hat er unter Hinweis auf den rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers anders geurteilt.52 Diese frühere Position möchte er nunmehr „nicht aufrechterhalten“,53 es bestünde „gerade kein weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers“.54 Den Antrag auf Aufhebung des § 77 öStGB (Tötung auf Verlangen) wies der VfGH dagegen zurück.55 Auch das von § 78 Halbs. 1 öStGB erfasste Verleiten zum Suizid hielt der VfGH für verfassungsgemäß. Der österreichische Verfassungsgerichtshof fährt weitgehend im Fahrwasser des BVerfG. Es sind zum Urteil des BVerfG vergleichbare Begründungslinien erkennbar.56 Jedoch wird dessen Urteil mit keinem Wort erwähnt.57 Der österreichische VfGH sieht in § 78 Halbs. 2 öStGB eine Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Selbstbestimmungsfreiheit, die im Erkenntnis erstmals als eigenständig verfassungsrechtlich gewährleistetes Recht hergeleitet wird.58 Da die österreichische Verfassung anders als die deutsche weder die Menschenwürde noch ein allge48

Damit weder Setzer noch Leser am Personalpronomen hängenbleiben: Es heißt das Erkenntnis, ein specificum austriacum, was im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit und der höchsten Verwaltungsgerichtsbarkeit dem Urteil in der deutschen Rechtsprache entspricht. Den Hinweis verdanke ich Bernat. 49 Österreichischer VfGH, Erkenntnis v. 11. 12. 2020, G 139/2019 – 71, MedR 2021, 538, Rn. 82. 50 Es wird statt von Halbs. 2 auch vom zweiten Tatbestand oder vom zweiten Fall gesprochen. 51 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 104). 52 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 22). 53 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538; dazu näher Gamper, JBl 2021, 137 (138 f.), die die Begründung der Meinungsänderung für unzureichend hält. Auch Bernat, MedR 2021, 529 (532) verweist auf die fehlende Begründung; näher zur Selbstbindung des VfGH an seine eigene Judikatur Brade/Friedrich, RdM 2021, 225 (225 f.). 54 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 83). 55 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Spruchpunkt II, Rn. 115, 120); zur Zulässigkeit der Anfechtung des § 77 öStGB Brade/Friedrich, RdM 2021, 226. 56 Khakzadeh, RdM 2021, 53 f. 57 Duttge, MedR 2021, 538; Gamper JBl 2021, 138; Schmoller, JBl 2021, 148. Rechtsvergleichend umfassend Fremuth, ZöR 2021, 841 f.; Kneihs, NLMR 2020, 425 f. 58 Pöschl, EuGRZ 2021, 12 (13); Burda, ÖJZ 2021, 221 f.; Khakzadeh, RdM 2021, 52, nicht die Garantie des Rechts selbst, aber dessen Herleitung sei neu.

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meines Persönlichkeitsrecht explizit nennt,59 knüpft der österreichische VfGH dieses Recht aus mehreren Rechtsquellen: Der Staat habe die Pflicht, den Schutz von Freiheit und Gleichheit zu gewähren (Art. 63 Abs. 1 Staatsvertrag St. Germain). Konkretisiert wird dies „durch das Recht auf Privatleben gemäß Art. 8 EMRK und das Recht auf Leben gemäß Art. 2 EMRK sowie den Gleichheitsgrundsatz gemäß Art. 2 StGG und Art. 7 B-VG“.60 Auch für die weitere Prüfung der Verfassungskonformität orientiert sich der VfGH nicht an einem speziellen Grundrecht, sondern nimmt eine, nach Gamper „eher diffuse“61 Gesamtbeurteilung anhand verschiedener verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkte vor. Das daraus sich ergebende verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf freie Selbstbestimmung gewähre „sowohl das Recht auf die Gestaltung des Lebens als auch das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben“.62 Damit der Einzelne sein Recht auf freie Selbstbestimmung auch ausüben und ein „Sterben in der vom Suizidwilligen gewollten Würde“63 geschehen könne, müsse das Recht auf freie Selbstbestimmung auch das Recht auf Inanspruchnahme der Hilfe eines (dazu bereiten) Dritten erfassen. Denn regelmäßig sei der Suizidwillige auf die Hilfe Dritter zur Durchführung der Selbsttötung angewiesen.64 Andernfalls könnte der Suizidwillige veranlasst werden, sich einer „menschenunwürdigen Form der Selbsttötung“65 zu bedienen. Gestattet der Gesetzgeber hingegen assistierten Suizid, dann könne der Suizidwillige „Lebenszeit gewinnen, weil er die Selbsttötung auch erst zu einem späteren Zeitpunkt mit Hilfe eines Dritten vornehmen kann“.66 Verbietet § 78 Halbs. 2 öStGB „ausnahmslos“67 und „pauschal und ohne Differenzierung alle[n] denkbaren Hilfestellungen zur Selbsttötung“,68 verstößt dies gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Der VfGH sieht in dem Verbot der Suizidhilfe auch einen Widerspruch zu anderen Regelungen, in denen der Gesetzgeber das Recht auf freie Selbstbestimmung anerkennt und Verhaltensweisen erlaubt, obwohl sie nachteilig, sogar tödlich wirken können. Es könne aus grundrechtlicher Sicht keinen Unterschied machen, ob der Patient einerseits eine Heilbehandlung verweigert, selbst wenn dies zum Tod führt (§ 110 öStGB), mit Patientenverfügung auf lebensverlängernde oder lebenserhaltende me59

Burda, ÖJZ 2021, 222; Pöschl, EuGRZ 2021, 13. Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 65). 61 Gamper, JBl 2021, 140; ähnlich Khakzadeh, RdM 2021, 51. 62 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 65). Nach Pöschl, EuGRZ 2021, 13 ergibt sich das Recht bereits aus Art. 8 EMRK; krit. Khakzadeh, RdM 2021, 54; Lewisch, ÖJZ 2021, 980. 63 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 104). 64 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 74). 65 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 80). 66 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 81); zustimmend Bernat, MedR 2021, 531. 67 Österreichischer VfGH MedR 2021 538 (Rn. 104). 68 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 105). 60

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dizinische Maßnahmen verzichtet (§ 1 Abs. 2 öPatVG), ein Arzt dem Sterbenden schmerzlindernde Medikamente verabreicht, die als Nebenwirkung den Tod beschleunigen (§ 49a Abs. 2 öÄrzteG),69 oder andererseits der Suizidwillige unter Inanspruchnahme eines Dritten in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes sein Leben beenden will.70 Entscheidend sei, dass eine dauerhafte und selbstbestimmte – d. h. aufgeklärte und informierte – Entscheidung vorliegt.71 Die Schwierigkeiten einer solchen Feststellung dürften nicht zu einem ausnahmslosen Verbot führen.72 Vielmehr müsse der Gesetzgeber entsprechende Sicherungsinstrumente zur Verhinderung von Missbrauch schaffen.73 3. Zur Kritik an beiden verfassungsgerichtlichen Urteilen Die Kritik an beiden Urteilen blieb nicht aus. Solche Rechtstexte müssten nachdenklicher geschrieben sein,74 ist eine der milderen Bewertungen. Sie wird gerade dem BVerfG nicht gerecht, welches sich deutlich anspruchsvoller und tiefgründiger mit der Materie auseinandergesetzt hat als der österreichische VfGH. Oft war die Kritik heftig bis maßlos.75 Die Verbindung zu den „furchtbaren Juristen“ aus der NS-Zeit wurde gezogen.76 VfGH wie BVerfG hätten ein Supergrundrecht kreiert.77 Die Auslegung sei vom Ergebnis her gesteuert.78 Das Wertefundament der Gesellschaft sei verlassen.79 Das Erkenntnis sei ein „begründungsmäßiges Mäuslein“.80 Diese Kritik blendet den Stand der verfassungsrechtlichen Debatte zur Sterbehilfe weitgehend aus. Wer den Suizid als rechtswidrig oder vom Recht missbilligt ein-

69 Der österreichische VfGH nennt dies wie der XII. Zivilsenat des BGH nicht mehr ganz zeitgemäß „passive Sterbehilfe“ (Rn. 95); vgl. Marek/Tipold, Gmundner Kommentar zum Gesundheitsrecht, 2016, §§ 80, 88 StGB Rn. 40, die von passiver Euthanasie sprechen; siehe oben Fn. 13. 70 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 105, Rn. 86 – 98). Krit. Bernat, MedR 2021, 531; Khakzadek, RdM 2021, 52; Schmoller, JBl 2021, 150; Gamper, JBl 2021, 142 f.; Pöschl, EuGRZ 2021, 15: „fragwürdige Vergleiche“. 71 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 85). Zur Dauerhaftigkeit Lewisch, ÖJZ 2021, 983. 72 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 103). 73 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 70, 99). 74 Bätzing, Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, zit. nach SZ vom 14. 2. 2022, 5. 75 Die Reaktionen sind dokumentiert bei Kusch/Hecker (Fn. 22), 106 ff. Schöch hält sie zu Recht in Teilen für absurd, GA 2021, 690, 693. 76 Thierse, FAZ v. 29. 2. 2020, 20. 77 Gamper, JBl 2021, 140; Geyer, FAZ vom 5. 3. 2020, 11. 78 Lewisch, ÖJZ 2021, 980. 79 Deckers, FAZ v. 27. 2. 2020, 1; Lewisch, ÖJZ 2021, 979. 80 Lewisch, ÖJZ 2021, 979.

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stuft,81 statuiert eine Rechtspflicht zum Leben, die es nicht geben kann.82 Es wäre eine Verkürzung und nicht eine Verstärkung der Freiheitsgewährleistung des GG.83 Gleiches gilt für die abgeschwächte Annahme, die freiwillige Lebensbeendigung sei zwar nicht rechtswidrig, stelle aber ein sozial missbilligtes Verhalten dar.84 Damit wäre eine Strafbarkeit von Suizid und Suizidversuch unverhältnismäßig. Beizeiten hatte die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft, unter ihnen Joerden, darauf hingewiesen, dass ebenso eine Strafbarkeit der Suizidhilfe gegen das „ultima ratio“-Prinzip im Strafrecht verstößt.85 Zutreffend sind beide Regelungen in Deutschland und in Österreich als verfassungswidrige Strafnorm eingestuft worden.86 Die Kritik verkennt auch, dass sich beide Verfassungsgerichte auf gesichertem Terrain der Menschenrechte bewegen.87 Es besteht eine inzwischen gefestigte Rechtsprechung des EGMR. Dieser hat in der Entscheidung Pretty88 aus Art. 8 EMRK ein entsprechendes Recht formuliert und dann in nachfolgenden Judikaten bestätigt und entwickelt.89 Jeder hat das Recht, soweit er seinen Willen frei bilden und danach handeln kann, selbst zu entscheiden, „wie und zu welchem Zeitpunkt“ sein Leben beendet werden soll.90

81 So noch BGHSt 46, 279 (285). Ebenso Stellamor/Steiner, Handbuch Arztrecht I, 2. Aufl. 1999, 209. 82 Dreier, JZ 2007, 317 (319 m. w. N.); Kubiciel, NJW 2019, 3033 (3034); Kuhli, ZStW 129 (2017), 691 (697); zutreffend österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 84). 83 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, 82. 84 So Lobinger (Fn. 33), 46 (70 f.); in Teilen Schmoller, JBl 2021, 147. 85 In einer Resolution haben 151 Strafrechtslehrer/innen die Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB artikuliert; FAZ vom 15. 4. 2015, 1; die Resolution ist abgedruckt in medstra 2015, 129 ff. 86 Bernat, MedR 2021, 531; Rosenau, in: Cirener et al. (Hrsg.), LK-StGB, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 91; ebenso Brunhöber, NStZ 2020, 539; Hecker, GA 2016, 471; Kampmann, Die Pönalisierung der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, 2017, 141; Kienzerle (Fn. 30), 253; Og˘ lakcıog˘ lu, in: Beck-OK-StGB, § 217 StGB Rn. 12.1; Taupitz, medstra 2016, 323 (330); Rosenau/Sorge, NK 2013, 115; Hillenkamp, KriPoz 2016, 1 (7); Hoven, MedR 2018, 741 (744 f.); Hufen, NJW 2018, 1524 (1527); Sternberg-Lieben, medstra 2020, 6; mit anderer Begründung Roxin, NStZ 2016, 185 (188); a. A. Rissing-van Saan, LK-StGB, 12. Aufl. 2019, § 217 Rn. 5 ff.; Nakamichi, ZIS 2017, 324 (328); Augsberg/Szczerbak, in: Bormann (Hrsg.), Lebensbeendende Handlungen, 2017, 725 (739). 87 Burda, ÖJZ 2021, 222. 88 EGMR, Pretty/Vereinigtes Königreich, NJW 2002, 2851 (Rn. 65). 89 EGMR, Haas/Schweiz, NJW 2011, 3773 (Rn. 51); Koch/Deutschland, NJW 2013, 2953 (Rn. 51 f.); Lambert/Frankreich, NJW 2015, 2715 (Rn. 142). 90 EGMR, Haas/Schweiz, NJW 2011, 3773 (Rn. 51); vgl. Sperlich, Suizidbeihilfe in der Rechtsprechung des EGMR, 2019, 140.

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IV. Anforderungen an eine verfassungskonforme Regulierung der Suizidbeihilfe 1. Handlungsauftrag an den Gesetzgeber Zunächst ist zu klären, ob aus den genannten Urteilen eine Pflicht des Gesetzgebers erwächst, regulierend einzugreifen. Das wird z. T. kontrovers gesehen, ist aber für Deutschland genau genommen zu verneinen. Es könnte bei der Gesetzeslage, die keine Strafbarkeit der Suizidhilfe seit über 150 Jahren vorsieht, bleiben. Das BVerfG hat sich nur im Rahmen eines obiter dictum zu möglichen Regulierungsoptionen geäußert. Eine zwingende Handlungsanweisung ist dem Urteil nicht zu entnehmen.91 Andererseits ist der Gesetzgeber auch nicht gehindert, ein legislatives Schutzkonzept zu entwickeln. Das BVerfG nennt legislative Möglichkeiten zur Begrenzung von Gefahren für Autonomie und Lebensschutz und zur Schaffung einer konsistenten Regelung unter Einbeziehung des ärztlichen Berufsrechts und des Betäubungsmittelrechts.92 Das findet seinen Rückhalt bereits beim EGMR. Dieser hat im Urteil Haas/Schweiz ausgeführt: „Wenn ein Land eine liberale Lösung wählt, müssen geeignete Maßnahmen zur Durchführung einer solchen Gesetzgebung insbesondere zur Verhinderung von Missbrauch getroffen werden.“93 Der österreichische VfGH sekundiert, dass der Gesetzgeber Sicherungsinstrumente zur Verhinderung von Missbrauch schaffen müsse.94 Darin ist ein deutlich klarerer Gesetzesauftrag als beim deutschen Verfassungsgericht zu sehen, auch wenn die gesetzgeberische Eile, die Wien mit überaus kurzen Beratungsfristen an den Tag gelegt hat, dadurch nicht veranlasst war.95 Auch Österreich hätte ohne eine Anschlussnorm gleich nach dem Auslaufen des § 78 Halbs. 2 öStGB zum 31. 12. 2021 – wie Deutschland derzeit auch – leben können, ohne Schaden zu nehmen. Aber auch das BVerfG lässt sich dahin verstehen, dass mehr oder weniger eine konsistente Regelung der Materie empfohlen wird,96 welche eine effektive Ausübung des Selbstbestimmungsrechts am Lebensende ermöglicht und zugleich möglichen Gefahren für die Selbstbestimmung vorbeugt, weil sich nicht in jedem Einzelfall Missbrauch ausschließen lässt. Dabei bleibt dem Gesetzgeber eine gewisse Einschätzungsprärogative und ein Gestaltungsspielraum.97 Unter den Regelungsgegenständen sollte stets die Suizidprävention eine wichtige Rolle spielen.98 Wir wissen zuverlässig aus der Suizidforschung, dass ein Großteil der Suizide nicht freiverantwortlich erfolgt. Der Gesetzgeber wird zudem Vorkeh91 Dorneck et al. (Fn. 31), 30; a. A. Kaiser/Reiling (Fn. 38), 134 m. w. N.; Pfeifer, KriPoZ 2021, 172 (173). 92 BVerfGE 153, 182 (308, Rn. 338 ff.). 93 EGMR, Haas/Schweiz, NJW 2011, 3773 (Rn. 58). 94 Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 70, 99). 95 Gamper, JBl 2021, 145. 96 Dorneck et al. (Fn. 31), 29. 97 EGMR, Haas/Schweiz, NJW 2011, 3773 (Rn. 55). 98 BVerfGE 153, 182 (286, Rn. 276).

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rungen treffen müssen, dass der Sterbehilfe eine autonome, selbstbestimmte Entscheidung zu Grunde liegt. Dazu werden Aufklärungs-, Beratungs- und Kontrollkonzepte notwendig sein. Das BVerfG regt insoweit prozedurale Sicherungsmechanismen an.99 Gerade mit Blick auf Aufklärung und Beratung erscheint es notwendig, auch die Ärzteschaft mitzunehmen. Ihr ist die Mitwirkung am Suizid zu ermöglichen. Bei Ärzten kann von der nötigen Empathie ausgegangen werden, die sie in die Lage versetzt, auf die Suizidwilligen mit deren Ängsten und Nöten einzugehen. Das Vertrauen darauf, dass ein Dritter dem Betroffenen zur Seite steht, um zu einem selbst gewählten Zeitpunkt aus dem Leben zu scheiden, kann suizidpräventive Wirkung entfalten. Beide Verfassungsgerichte weisen auf diesen Umstand hin.100 Schließlich sind flankierende Regeln nötig, die dafür Sorge tragen, dass ein Selbstbestimmungsrecht am Lebensende nicht leerläuft. Eine Regulierung muss eine Verschreibung eines Präparats ermöglichen und effektiv sicherstellen. Das ist lege artis NatriumPentobarbital, welches evidenzbasiert zu einem raschen, völlig schmerzfreien und zuverlässigen Tod führt; andere Mittel sind weniger gut erforscht.101 In Deutschland ist das Betäubungsmittelrecht anzupassen.102 In Teilen werden die Forderungen durch das StVfG eingelöst. Danach kann eine sterbewillige Person eine Sterbeverfügung errichten und darin ihren dauerhaften, freien und selbstbestimmten Entschluss festhalten, ihr Leben zu beenden (§ 3 Nr. 1 StVfG). Der freie und selbstbestimmte Entschluss setzt eine Aufklärung durch zwei ärztliche Personen über Konsequenzen und Alternativen voraus (§ 7 StVfG) und verlangt die Dokumentation durch eine dritte Person (§ 9 StVfG). Die Dauerhaftigkeit des Entschlusses soll dadurch gewährleistet werden, dass die Sterbeverfügung erst zwölf Wochen nach dem Aufklärungsgespräch errichtet werden darf (§ 8 Abs. 1 StVfG).103 Sodann kann die sterbewillige Person unter Vorlage der Sterbeverfügung das Sterbepräparat bei einer Apotheke abholen (§ 11 StVfG). Die konkrete Ausführung der lebensbeendenden Maßnahme soll im privaten Bereich ohne Beaufsichtigung durch geschultes Personal stattfinden.104 Im Folgenden kann 99

BVerfGE 153, 182 (309, Rn. 339). Österreichischer VfGH MedR 2021, 538 (Rn. 81); BVerfGE 153, 182 (290, Rn. 283). 101 Sperlich (Fn. 90), 185. 102 Herzog/Sotiriadis, NK 2020, 226. Keine Quisquilie ist die Änderung der Leichenschauregeln. Bislang wird der Suizid als unnatürlicher Tod eingestuft, was nach § 159 StPO ein Todesfeststellungsverfahren durch Polizei und Staatsanwaltschaft nach sich zieht; mit allen damit verbundenen praktischen Konsequenzen für die Bereitschaft der Ärzte zur Assistenz am Suizid. 103 Eine Wartefrist von zwölf Wochen ist deutlich zu lang und unangemessen, Bernat, Stellungnahme zum Ministerialentwurf, 115/SN-150/ME (27. GP), abrufbar unter https:// www.parlament.gv.at/PtWeb/api/s3serv/file/1d80b36d-b27b-41aa-ab81-48e81d824c63 (zuletzt abgerufen am 14. 2. 2022), 3; vgl. auch Gamper, JBl 2021, 145. 104 150/ME XXVII. GP – Ministerialentwurf – Erläuterungen, abrufbar unter https://www. parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVII/ME/ME_00150/ (zuletzt abgerufen am 14. 2. 2022), 5; zutreffend krit. Bernat, der schon in MedR 2021, 533 für einen Arztvorbehalt bei der Durchführung der Suizidbeihilfe plädiert. Auch Burda, Stellungnahme zum Ministerialent100

Der österreichische VfGH zur Suizidhilfe und das österreichische StVfG

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im Rahmen eines kurzen Festschriftenbeitrags nur auf die spezifischen Strafbestimmungen näher eingegangen werden. 2. Strafnorm der Suizidbeihilfe Österreich hat keine generelle Strafbarkeit der Suizidbeihilfe eingeführt. In Deutschland kursieren Vorschläge aus Politik und Wissenschaft, die dagegen zunächst die Suizidhilfe unter Strafe stellen und einen Erlaubnisvorbehalt einführen, also von der Strafbarkeit nur unter bestimmten Voraussetzungen absehen wollen.105 Solche Konzepte sind nicht verfassungskonform.106 Das folgt straf- wie verfassungstheoretischen Überlegungen. Eine derartige Regelungstechnik verkennt, dass die Erfüllung eines strafrechtlichen Tatbestandes – anders als im Zivilrecht – das kriminelle Unrecht nicht lediglich indiziert, sondern es bereits begründet.107 Mit der Entscheidung beider Verfassungsgerichte kann die Suizidhilfe aber kein Unrecht mehr begründen; denn sie entspringt dem verfassungsrechtlich dem Einzelnen zugewiesenen geschützten Bereich. Das Leben als Individualrechtsgut des freiverantwortlich handelnden Suizidenten kann nicht geschütztes Rechtsgut sein; der Suizident selbst hat über sein Rechtsgut, in diesem Fall sein Leben, disponiert.108 Es fehlt damit an einem schützenswerten fremden Rechtsgut,109 dessen Verletzung zur Begründung strafbaren Unrechts unabdingbar ist. Ergänzt sei noch, dass wegen der Akzessorietät der Teilnahme mangels Haupttat schon aus dogmatischen Gründen eine Strafbarkeit der Suizidbeihilfe nicht in Betracht kommt.110 Dass die österreichische Regelung diesen Fehler nicht macht, ist positiv zu vermerken.

wurf, 23/SN-150/ME (27. GP), abrufbar unter https://www.parlament.gv.at/PtWeb/api/s3serv/ file/e62eedc9-f23c-44e8-888e-59bb26ea5fd8 (zuletzt abgerufen am 14. 2. 2022), 3 verweist auf das damit einhergehende Risiko der Falschdosierung. 105 Versteckt sowie im dritten Absatz wenig strafrechtssystematisch in § 217 Abs. 3 StGBE bei Borasio et al., Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge zum Leben, 2. Aufl. 2020, 32 und 117; ebenso Berghäuser et al., MedR 2020, 207 (210); Huber/Ruf, medstra 2021, 135 (141). Beispielhaft aus der politischen Debatte in Deutschland der Diskussionsentwurf aus dem Hause des Bundesgesundheitsministeriums, der in Art. 1 die Hilfe zur Selbsttötung grundsätzlich wieder unter Strafe gestellt sehen will (§ 217 Abs. 1 StGB-E), abrufbar unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_ Verordnungen/GuV/S/Diskussionsentwurf_Suizidhilfe_Gesetz.pdf (zuletzt abgerufen am 14. 2. 2022). 106 Dorneck et al. (Fn. 31), 51. Das übersieht Lewisch, ÖJZ 2021, 985. 107 Eser/Burkhardt, Strafrecht I, 4. Aufl. 1992, 45; Rosenau, SSW-StGB, vor § 32 Rn. 3. 108 Puppe, NStZ 2012, 409 (410). 109 Henking, JR 2015, 175; Roxin, NStZ 2016, 186. 110 Duttge, HK-GS, vor § 211 Rn. 34; ders., MedR 2020, 570 (572); Eidam, medstra 2016, 17 (19); Pfeifer, KriPoZ 2021, 175; Rudlof, Das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, 2018, 253.

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V. Österreichische Teilregelungen als Vorbild? 1. Strafbarkeit des Verleitens zum Suizid, § 78 Abs. 1 öStGB Es bleibt in Österreich bei der Strafbarkeit des Verleitens zum Suizid. „Zum Selbstmord wird man schwerlich verführt,“111 heißt es dagegen bei Garve. Bei dieser Beobachtung schwingt die strafrechtsdogmatische Erkenntnis mit, dass ein Suizid nur ein solcher ist, der in freier Verantwortung und in freier Selbstbestimmung vorgenommen wird. Damit ist schon fraglich, ob es ein Verleiten zum Suizid überhaupt konstruktiv geben kann, oder ob in Konstellationen des Verleitens nicht ein täterschaftliches Töten im Raum steht.112 Das deutsche StGB kennt überhaupt nur drei Handlungsformen, in denen das Verleiten unter Strafe gestellt wird – ohne dass die Anknüpfungstat selbst, zu der verleitet wird, bestraft werden kann. Zum einen trifft das den Fall, wenn eine mittelbare Täterschaft nicht möglich ist, wie beim eigenhändigen Delikt. Beim Totschlag lässt sich indes § 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB ohne weiteres anwenden. Das Verleiten wird zweitens dann genutzt, wenn der Gesetzgeber meint, die Teilnahme sei in einem speziellen Bereich über die Strafbarkeit der regulären Anstiftung hinaus zu verschärfen – wie beim Verleiten eines Untergebenen zu einer Straftat: § 357 StGB. Diese Überlegung passt für die Suizidsituation ebenfalls nicht, weil mit der Strafbarkeit nach §§ 212, 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB bei einem Verleiten zum Suizid schon die Höchststrafe von 15 Jahren verhängt werden könnte, eine Verschärfung also gerade nicht nötig ist. Schließlich wird das Verleiten eingesetzt, wenn die Teilnahmehandlung zum selbständigen Tatbestand erhoben wird, weil die Haupttat aus kriminalpolitischen Gründen straflos bleibt. Das Beispiel gibt das Verleiten zur Selbstbefreiung von Gefangenen (§ 120 Abs. 1 StGB), die straflos ist. Allerdings ist unstreitig, dass bei der Gefangenenbefreiung ein schützenswertes Rechtsgut besteht, nämlich die legitime Verwahrungsgewalt des Staates, auch wenn wir den Gefangenen selbst nicht bestrafen.113 Das ist bei der freiverantwortlichen Selbsttötung gerade nicht der Fall. Hier fehlt es am Rechtsgut, sodass die Parallele zu § 120 StGB nicht trägt.114 Die Strafnorm des Verleitens zum Suizid erweist sich als undogmatisches wie unsystematisches Konstrukt. Deutschland sollte die österreichische Regelung nicht übernehmen.

111

Christian Garve (1775), zit. nach Safranski, Goethe, Kunstwerk des Lebens, 2013, 162. In diesem Sinne Khakzadeh, RdM 2021, 53; Bernat, MedR 2021, 532. 113 Entsprechendes gilt für § 323b StGB (Rechtsgut ist die Rechtspflege im weiteren Sinne) bzw. § 328 Abs. 2 Nr. 4 StGB (Rechtsgut ist der Schutz von Leben, Gesundheit etc. vor nuklearen Gefahren). 114 Saliger (Fn. 37), 142. 112

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2. Strafbarkeit bei Bilanzsuiziden (§ 6 Abs. 3 StVfG), § 78 Abs. 2 Z. 3, Halbs. 1 öStGB Der österreichische Gesetzgeber verweigert Bilanzsuiziden seine Anerkennung. Eine Sterbeverfügung, die wiederum die Suizidhilfe möglich macht, ist nur Todgeweihten oder schwer Erkrankten möglich, die von einem nicht anders abwendbaren Leiden betroffen sind, so lesen wir in § 6 Abs. 3 StVfG. Damit führt Österreich für die Suizidhilfe eine Reichweitenbegrenzung ein. Nur zum Lebensende und in Leidenssituationen soll diese straflos möglich sein.115 Mit einem Menschenrecht auf selbstbestimmtes Sterben ist eine solche Begrenzung nicht zu vereinbaren.116 Dieses Recht kommt jedem Menschen zu. In Österreich muss man dagegen erst schwer erkranken, bevor man sein Menschenrecht wahrnehmen kann. Das überzeugt nicht. Zwar hatte das BVerwG in einer Entscheidung einen ähnlich engen Kreis gezogen. Um Suizidwilligen noch unter alter Rechtslage den Zugang zu Natrium-Pentobarbital überhaupt zu ermöglichen, begründete es eine teleologische Reduktion des BtMG. Mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht und unter Hinweis auf den EGMR hatte es in extremen Einzelfällen den Zugang zu einem Betäubungsmittel bei schwerer, unheilbarer Krankheit erlaubt, so dass eine würdevolle und schmerzfreie Selbsttötung möglich wurde.117 Die enge Begrenzung auf schwere oder unheilbare Krankheiten war aber der verfassungskonformen Einschränkung eines geltenden Gesetzes geschuldet. Mit der deutschen Verfassungslage ist eine derartige Begrenzung der Suizidanlässe nicht vereinbar. Freiverantwortliche Bilanzsuizide sind existent,118 sie werden auf 5 % der Suizide geschätzt119 und sind auch gerichtsfest festgestellt worden. Abzuverlangen, dass die Betroffenen krank werden oder die Todesnähe abwarten, tangiert deren Autonomie und letztlich deren Menschenwürde. Eine Regelung wie § 78 Abs. 2 Z. 3, Halbs. 1 öStGB wäre in Deutschland eindeutig verfassungswidrig. 3. Strafbarkeit bei fehlerhafter ärztlicher Aufklärung (§ 7 StVfG), § 78 Abs. 2 Z. 3, Halbs. 2 öStGB Existiert ein freier, selbstbestimmter Suizidwille, sind aber die in § 7 StVfG vorgesehenen formalen Verfahrensschritte zur ärztlichen Aufklärung nicht eingehalten, macht sich der Suizidhelfer strafbar. Bernat bildet hierzu das Fallbeispiel, dass ein Onkologe mit terminalem Bauchspeicheldrüsenkrebs seinen Bruder, selbst Palliativ115

223. 116

Befürwortend Bernat, MedR 2021, 533; Pöschl, EuGRZ 2021, 16; Burda, ÖJZ 2021,

Lambauer, in: Urban (Hrsg.), Wissenschaft – Praxis – Studium, 2021, 15 (17). BVerwGE 158, 142; bestätigt durch BVerwG NJW 2019, 2789 (2790, Rn. 18); siehe Rothfuß, jM 2017, 290 f. 118 Cording/Saß, NJW 2020, 2696; Herzog/Sotiriadis, NK 2020, 227 f.; Duttge, (Fn. 40), 101; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Fn. 19), § 3 Rn. 26. 119 Duttge, ZfL 2012, 51 (52). 117

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mediziner, um Suizidhilfe bittet; beide überblicken die Situation zweifellos. Der Bruder machte sich nun in Österreich strafbar, weil ein zweiter, unabhängiger Arzt nicht hinzugezogen wird.120 Das ist nicht nachvollziehbar. Bei materieller Richtigkeit kann ein Verstoß gegen bloße prozedurale Sicherungen aus dem materiell erlaubten Handeln kein strafbares Unrecht machen.121 Denn eine Rechtsgutsverletzung ist nicht erkennbar. Bislang stellte sich diese Frage in Deutschland nur im Rahmen des Behandlungsabbruchs. Für die Suizidbeihilfe gilt nichts Anderes. Bloße Verstöße gegen Formvorschriften allein können keine Strafbarkeit begründen. Werden autonomiesichernde Verfahrensbestimmungen verletzt, bleibt angesichts des ultima ratio-Grundsatzes allenfalls ein Bußgeld als Sanktion. Eine Strafbarkeit wegen eines Kapitaldeliktes kann auf bloße Verfahrensverstöße nicht gegründet werden.122 Entscheidend ist allein, ob der Wille des Suizidenten auf den Suizid gerichtet ist und sein Recht auf selbstbestimmtes Sterben so aktiviert wird. Vereinzelten gegenteiligen Äußerungen in der Rechtsprechung123 ist zu widersprechen.

VI. Fazit Österreich ist vorangeschritten: ein Vorbild ist es dennoch nicht. Die Regelungen atmen noch den antiquierten Geist und sehen den Suizid nicht als Ausdruck von Selbstbestimmung und Würde. Wie bisher gehen die Gerichte, hier beide Verfassungsgerichte, mit deutlich klarerem Blick dem Gesetzgeber voran.

120 Bernat, Stellungnahme zum Ministerialentwurf, 115/SN-150/ME (27. GP), 6, abrufbar unter https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVII/SNME/SNME_110700/index.shtml (zuletzt abgerufen am 14. 2. 2022). 121 Kritisch auch Lewisch, ÖJZ 2021, 985. 122 Schneider, MK-StGB, vor § 211 Rn. 129; Henking (Fn. 33), § 212 Rn. 70; undeutlich G. Merkel, Behandlungsabbruch und Lebensschutz, 2020, 223. Entsprechend sehen Dorneck et al. (Fn. 31), 79 f., lediglich einen Bußgeldtatbestand in § 16 AMHE-SterbehilfeG vor. 123 BGH NJW 2011, 161, Rn. 12.

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I. Einleitung Im letzten Abschnitt seines moralphilosophischen Hauptwerkes führt Adam Smith aus, dass allein die moralischen Regeln der Gerechtigkeit, also jene, die das Unterlassen bestimmter Handlungen (Verbote) regeln, fest und bestimmt sind, während jene, die die Mehrung des Guten, also die Wohltätigkeit im weitesten Sinne betreffen (Gebote), lax, vage und unbestimmt seien.1 Er hält die Verrechtlichung der moralischen Verbote für legitim, denn es sei notwendig, mit Zwang durchzusetzen, was die Moral gebietet, um private Rache zu vermeiden und die Gesellschaft zu befrieden.2 Smith sieht also die Funktion gerade des Strafrechts darin, im Interesse des öffentlichen Friedens moralische Verbote mit staatlichem Zwang durchzusetzen. Das Strafrecht spiegelt nach dieser Betrachtungsweise jenen Teil der herrschenden Moral (mehr oder weniger) wider, der in strikten moralischen Verboten besteht.3 Was die Wohltaten angeht, so lösen diese Smith zufolge nur positive moralische Sanktionen aus, nämlich Dankbarkeit und Lob im Falle ihrer Erbringung, aber keine negativen Sanktionen (Vergeltung) im Falle ihrer Unterlassung.4 Deshalb könne es auch nicht Aufgabe des Strafrechts sein, Wohltaten durch die Androhung negativer Sanktionen zu erzwingen. An wenigstens einer Stelle seines Werkes kehrt Smith das Verhältnis zwischen Moral und (Straf-)Recht allerdings um. Da die Sorge um die eigenen Kinder für diese eine Wohltat ist und Wohltaten moralisch nicht geboten sind, gibt es nach seiner Auffassung keine moralische Pflicht, sich um die eigenen Kinder zu kümmern. Indessen betrachtet es Smith als wünschenswert, wenn der Staat durch positives Recht Eltern die Sorge um ihre Kinder zur Pflicht macht und mit staatlichen Zwangsmitteln durchsetzt. Denn die Obrigkeit habe nicht nur die Aufgabe, durch Eindämmung des Unrechts den öffentlichen Frieden aufrechtzuerhalten, sondern auch das Gedeihen 1

Smith, Theorie der ethischen Gefühle [6. Aufl. 1790], 2010, 537. Smith (Fn. 1), 560. 3 Smith war bekanntlich kein Anhänger des Naturrechts. Er betrachtete vielmehr die Affekte, die beim unbeteiligten Zuschauer durch fremdes Verhalten ausgelöst werden, als Quelle der Moral; Smith (Fn. 1), 33. Was andere als Naturrecht betrachteten, war für ihn einfach die Judifizierung jenes Teils der Moral, der in eindeutigen Verboten besteht; Smith (Fn. 1), 541 f. 4 Smith (Fn. 1), 126. 2

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des Gemeinwesens zu fördern.5 Das Gedeihen des Gemeinwesens hänge aber entscheidend davon ab, dass sich die Bürger umeinander kümmern. Mit anderen Worten: Nach Adam Smith kann es nicht nur Aufgabe des Strafrechts sein, die Verbote der Moral mit staatlichem Zwang durchzusetzen, sondern auch positiv-rechtliche und strafbewehrte Gebote anzuordnen, wo die Moral eine Lücke lässt. Es gibt nach Smith also zwei alternative Beziehungen zwischen Moral und Strafrecht: Entweder bestätigt und verstärkt das Strafrecht eine bestehende Moral oder es kompensiert das Fehlen moralischer Vorgaben. Heutiger Ansicht nach geht es im Strafrecht nicht so sehr um die Durchsetzung bestimmter moralischer Vorstellungen als vielmehr um die Unterdrückung von Sozialschädlichkeit bzw. um Rechtsgüterschutz.6 Indessen geht es auch in einer aufgeklärten Sozialmoral, wie sie heute herrschend ist, um nichts anderes als um die Unterdrückung von Sozialschädlichkeit und damit um den Schutz bestimmter Güter und nicht etwa um die Durchsetzung traditioneller Lebensformen als Selbstzweck. Deshalb lässt sich trotz der herrschenden Rechtsgüterlehre noch immer behaupten, dass es die von Smith beschriebene Beziehung von Moral und Strafrecht gibt, zumal die Kriminalisierung eines Verhaltens im Unterschied zu bloßen Ordnungswidrigkeiten mit einer eindeutigen moralischen Abwertung verbunden ist.7 Zudem gibt es im StGB Straftatbestände, bei denen das Anliegen einer Stärkung der Moral offensichtlich ist, während es eines deutlich erhöhten argumentativen Aufwandes bedarf, um ihre Vereinbarkeit mit der Rechtsgüterlehre aufzuweisen. Das gilt vor allem für den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB).8 Dies erlaubt die im Folgenden untersuchte Frage, welche der von Smith beschriebenen alternativen Funktionen des Strafrechts im Falle der unterlassenen Hilfeleistung einschlägig ist. Bestätigt dieser Straftatbestand eine geltende Moral und ist damit durch diese legitimiert oder kompensiert er den Mangel einer entsprechenden moralischen Vorgabe aus ordnungspolitischen Gründen? Der Jubilar hat sich eher gelegentlich mit der unterlassenen Hilfeleistung befasst.9 Besonders interessant aus der Perspektive der hier verfolgten Fragestellung ist der Umstand, dass Joerden die allgemeine rechtliche Nothilfepflicht aus dem Sozialstaatsprinzip legitimiert.10 Damit verfolgt er einen institutionentheoretischen Ansatz und unterscheidet sich insoweit wohltuend von der üblichen Auffassung in der strafrechtsdogmatischen und rechtsphilosophischen Literatur, wonach die rechtliche Nothilfepflicht aus einem unmittelbaren moralischen Imperativ legitimiert werden 5 6

279. 7

Smith (Fn. 1), 129. Vgl. Amelung, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, 269 –

Noak, ZJS 2012, 175. Seelmann, JuS 1995, 281 (283 f.). 9 Joerden, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, 49; ders., in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet. Das neue polnische Strafgesetzbuch, 2002, 33 – 68. 10 Joerden (Fn. 9). 8

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kann, den viele Autoren mit dem Begriff der Solidarität umschreiben. Danach geht es bei § 323c StGB also um die Verrechtlichung eines moralischen Gebotes.11 Unter Solidarität wird dabei eine Pflicht zur positiven Zuwendung gegenüber anderen verstanden, die entweder unabhängig ist von einem vorausgehenden Akt der Selbstverpflichtung12 oder aber auf einer Konstruktion von Selbstverpflichtung beruht, der faktisch niemand entgehen kann.13 Ich werde in diesem Beitrag dafür argumentieren, dass sich außerhalb einer durch vorausgegangenes Tun begründeten Garantenstellung eine allgemeine Nothilfepflicht ethisch nicht rechtfertigen lässt. Voraussetzungslose Nothilfe ist immer supererogatorisch.14

II. Moral, Recht und Ethik Einleitend sei zunächst in der gebotenen Kürze etwas genauer bestimmt, was in diesem Beitrag unter Moral verstanden werden soll, worin sie sich vom Recht unterscheidet und worin die Funktion der Ethik besteht. Kant hat bekanntlich zwischen Rechtspflichten und Tugendpflichten unterschieden.15 Rechtspflichten sind Nötigungen des Willens, die auf äußeren Sanktionen beruhen, also etwa auf Strafen, die von einem staatlichen Gericht verhängt werden. Tugendpflichten beruhen dagegen auf Sanktionen, die durch das eigene Gewissen verhängt werden. Das Kompositum aus Tugend und Pflicht ist allerdings verwirrend, da Tugenden etwas anderes sind als Pflichten. Ich bevorzuge daher den Ausdruck Gewissenspflichten. Unter Zugrundelegung eines rechtspositivistischen Ansatzes ist die Kantische Unterscheidung von Rechtspflichten einerseits und Gewissenspflichten andererseits allerdings nicht hinreichend. Denn Pflichten, deren Verletzung äußerlich sanktioniert wird, müssen nicht zwingend Rechtspflichten sein. Vielmehr han11 BT-Drs. I/3713 v. 29. 9. 1952; von Danwitz, Die justizielle Verarbeitung von Verstößen gegen § 323c StGB, 2002, 4; Haubrich, Die unterlassene Hilfeleistung. Zur Verfassungsmäßigkeit des § 323c StGB und zur Notwendigkeit seiner verfassungskonformen Restriktion, 2001, 136 ff., 422; Gieseler, Unterlassene Hilfeleistung – § 323c StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870, 1999, 159; a. A. Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MK-StGB, 1. Aufl. 2006, § 323c Rn 4. 12 Seelmann, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, 35. 13 von der Pfordten, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, 103. 14 Auch insofern gibt es Berührungspunkte mit Joerdens Forschungen. Er hat sich nämlich in mehreren Veröffentlichungen auch mit der Logik der Supererogation befasst, vgl. u. a. Hruschka/Joerden, ARSP 73 (1987), 93 – 123; Joerden, JRE 6 (1998), 145 – 159; Joerden, JRE 11 (2003), 513 – 532. 15 Kant, Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 1797, zit. nach Kant’s Gesammelte Schriften, hrsg. v. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Band VI, 1914, 375 (383).

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delt es sich bei den Rechtspflichten nur um jene Gruppe äußerlich sanktionierter Pflichten, die von dazu ermächtigten Autoritäten durch Rechtssetzungsakt geschaffen worden sind und deren Sanktionierung im Rahmen rechtsförmiger Verfahren stattfindet. Daneben gibt es aber auch eine Gruppe von äußerlich sanktionierten Pflichten, die nicht von einem staatlichen Gesetzgeber geschaffen worden sind und auch nicht im Rahmen juridischer Verfahren sanktioniert werden. Diese Pflichten sollen hier moralische Pflichten genannt werden. Moralische Pflichten werden wie die Rechtspflichten äußerlich sanktioniert, aber nicht durch den Staat und seine Institutionen im Rahmen formalisierter Verfahren, sondern durch die Gesellschaft auf eher informelle Weise. Die Normen der Moral entstehen durch formlose gesellschaftliche Anerkennung. Ihre Sanktionierung erfolgt durch öffentlich gezeigte Empörung, Kritik, Verachtung, Beschimpfung oder persönlichen Kontaktabbruch. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, dass die Verletzung moralischer Pflichten von jedermann sanktioniert werden darf, während die Verletzung rechtlicher Pflichten nur von den dazu rechtlich vorgesehenen Institutionen nach einem rechtlich vorgegebenen Verfahren sanktioniert werden kann. Ethik ist für die Moral das, was die Rechtsdogmatik für das Recht ist. Ihre Aufgabe ist es, den Bestand der in einer definierten Gesellschaft vorfindlichen moralischen Normen nach wissenschaftlicher Methode auf Konsistenz und Kohärenz zu überprüfen und Vorschläge zu einer Modifikation der Moral zu machen, sofern dadurch das Maß der Konsistenz und Kohärenz erhöht werden kann.16 Die im Folgenden erörterte Frage, ob es eine allgemeine moralische Pflicht zur Nothilfe gibt, ist nicht im Sinne der empirischen Sozialwissenschaften zu verstehen, nämlich als Frage danach, ob es in einer gegebenen Gesellschaft tatsächlich solche Moralvorstellungen gibt. Sie ist vielmehr als ethische Frage zu verstehen, also als Frage danach, ob sich eine solche Pflicht widerspruchsfrei und anschlussfähig im Gesamtkontext der in unserer Gesellschaft vorhandenen Moral behaupten lässt oder ob es ethisch geraten ist, eine solche Pflicht nicht anzuerkennen, weil sie sich nicht konsistent und kohärent in das Gesamtsystem der Moral integrieren lässt.17

III. § 323c StGB Der Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung, wie er heute in § 323c StGB kodifiziert ist, wurde 1935 (damals § 330c) in das Strafgesetzbuch eingeführt. Der nationalsozialistische Gesetzgeber deklarierte die Norm als Ausdruck originär natio16 Düwell/Hübenthal/Werner, in: dies. (Hrsg), Handbuch Ethik, 2006, 2; zur Rechtsdogmatik vgl. Gröschner, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, 61, 66. 17 Die vorgestellte Begrifflichkeit hätte es eigentlich geboten, das Wort Ethik im Titel dieses Aufsatzes durch den Ausdruck Moral zu ersetzen. Der insoweit nicht ganz korrekte Titel soll eine Reminiszenz an das „Jahrbuch für Recht und Ethik“ hervorrufen, das der Jubilar seit 1993 mit herausgibt.

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nalsozialistischen Denkens.18 Dies mag angesichts der Tatsache, dass es zuvor schon ähnliche Gesetze in anderen kontinentaleuropäischen Staaten gegeben hat, eine Selbstüberschätzung der Nazis gewesen sein.19 Dennoch war es zu kurz gedacht, als man in den 1950er Jahren nur hinsichtlich des „gesunden Volksempfindens“ Anstoß an dieser Norm genommen und die Pflicht zur Nothilfe stattdessen an die Kriterien der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit gebunden hat.20 Problematischer scheint mir die maßlose Weite des Tatbestandes zu sein.21 Nimmt man diesen ernst, dann macht sich eine Person A strafbar, wenn eine Person B irgendwo in Afrika aus Mangel an der erforderlichen medizinischen Versorgung zu sterben droht und A (irgendwo in Deutschland) es unterlässt, einer internationalen Hilfsorganisation einen Geldbetrag zur Verfügung zu stellen, mittels dessen die medizinische Versorgung für B sichergestellt werden könnte, obwohl dem A die Umstände (z. B. über die Medien) bekannt sind und die erforderliche Geldspende angesichts der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des A keine erwähnenswerte Beeinträchtigung seiner Lebensführung zur Folge hätte.22 In der Praxis wird dieser sehr weite und in wesentlicher Hinsicht unbestimmte Tatbestand des § 323c StGB allerdings über eine äußerst restriktive Interpretation des Begriffs der Zumutbarkeit stark eingeschränkt.23 Zur Hilfeleistung verpflichtet ist danach nur eine Person, die, wenn es sich nicht gerade um einen professionellen Helfer (Arzt etc.) handelt, mit einem Unglücksfall oder mit einem Zustand gemeiner Not durch Anwesenheit zur selben Zeit am selben Ort unmittelbar verbunden ist und damit die Position eines unmittelbaren Zeugen einnimmt.24 Zum anderen verlangt die Praxis eine nur sehr geringfügige Rettungsaktivität. Zur Bestrafung kommt es in der Regel nur, wenn die mögliche Benachrichtigung professioneller Rettungsorgane unterlassen wird.25 Dank dieser Einhegung des § 323c StGB in der strafrechtlichen Praxis halten sich die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift in Grenzen.26

18 Amtliche Begründung, in: Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz Nr. 10, 1935, 42; dazu Huschens, Die unterlassene Hilfeleistung im nationalsozialistischen Strafrecht, 1938, 1. 19 Seelmann, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, 295; vgl. auch Gieseler (Fn. 11), 70 ff. Für einen Überblick siehe Blidauer, Die folgenschwere unterlassene Hilfeleistung (§ 330c StGB), 1961, 12 ff.; Feldbrugge, American Journal of Comparative Law 14 (1966), 630 – 657; Ashworth, in: von Hirsch/Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, 125. 20 Gallas, JZ 1952, 396. 21 Gieseler (Fn 11), 86 ff. 22 Eine Hilfspflicht in diesem Fall bejaht von der Pfordten (Fn. 13), 110. 23 Haubrich (Fn 11), 32 ff. 24 von Danwitz (Fn. 11), 75; Haubrich (Fn. 11), 287 ff.; Gieseler (Fn. 11), 134; für die gegenteilige Ansicht siehe Haubrich (Fn. 11), 160; BGHSt 6, 147, 152 ff. 25 von Danwitz (Fn. 11), 70. 26 Gieseler (Fn. 11), 157.

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Nach h. M. dient der Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung dem Zweck, die öffentliche Moral zu stärken. Dabei wird unterstellt, dass bei Unglücksfällen und gemeiner Not und Gefahr jeder mit der Lage unmittelbar konfrontierte Mensch eine moralische (Solidar-)Pflicht zur Hilfeleistung gegenüber jedem von der Not betroffenen Menschen hat, und dass es nur darauf ankommt, den Gehorsam gegenüber dieser moralischen Pflicht dadurch zu verstärken, dass ihre Verletzung nicht nur moralisch, sondern auch strafrechtlich sanktioniert wird.27

IV. Moralische Pflicht zur Nothilfe? Die h. M. in der philosophischen Ethik teilt diese Auffassung. Im Fokus der dortigen Diskussionen steht die Frage, ob das, was in einer unmittelbaren Nothilfesituation fraglos gilt, auch auf die Situation globaler Hilfsbedürfnisse übertragbar ist. Es geht um die Frage, ob und inwieweit die Gesellschaften des globalen Nordens und ihre relativ wohlhabenden Mitglieder moralisch verpflichtet sind, jenem Teil der Menschheit wirksame Nothilfe zu leisten, die in Armut und Elend leben.28 Berühmt geworden ist insoweit ein Aufsatz von Peter Singer aus dem Jahre 1972, in dem er die These verteidigt, dass gegenüber jedem Menschen in Not für jeden Menschen, der objektiv in der Lage ist, Hilfe zu leisten, eine Pflicht zur Hilfeleistung besteht.29 Singer argumentiert mit einem Schluss aus dem Gleichbehandlungsprinzip: Wenn es geboten ist, in einer unmittelbaren Notsituation (wie sie nach der herrschenden Praxis von § 323c StGB erfasst wird) Hilfe zu leisten, dann verlangt der Gleichbehandlungsgrundsatz, dass allen Menschen in einer vergleichbaren Lage ebenfalls geholfen werden muss, auch wenn diese weit entfernt oder dem in Frage stehenden Helfer persönlich völlig unbekannt sind. Als anschaulichen Ausgangspunkt der Argumentation wählt Singer den so genannten Teichfall: „Wenn ich an einem seichten Teich vorbeikomme und ein Kind darin ertrinken sehe, so sollte ich hineinwaten und das Kind herausziehen. Das bringt zwar mit sich, dass meine Kleider schmutzig und nass werden, aber das ist bedeutungslos, wohingegen der Tod des Kindes vermutlich etwas sehr Schlechtes wäre.“30

27 Siehe Fn. 11; ferner: Gallas, JZ 1952, 396; Morgenstern, Unterlassene Hilfeleistung, Solidarität und Recht, 1997, 33 m. w. N.; Renzikowski, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, 13. 28 Exemplarisch: Nussbaum, Kosmopolitismus, 2020; dazu kritisch Tiedemann, ARSP 109 (2023), Online First, https://doi.org/10.25162/arsp-2022-0017 (zuletzt abgerufen am 28. 11. 2022). 29 Singer, Philosophy & Public Affairs 1/3 (1972), 229 – 243; vgl. auch Unger, Living High and Letting Die: Our Illusion of Innocence, 1996. 30 Singer (Fn. 29), 231 – hier zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Bleisch/Schaber (Hrsg.), Weltarmut und Ethik 2007, 37 (39).

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Corinna Mieth hat sich in ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahre 2012 eingehend mit der ethischen These einer globalen Hilfspflicht auseinandergesetzt.31 Sie qualifiziert die globale Hilfspflicht als bloß „schwache“ moralische Pflicht, die Hilfspflicht in unmittelbaren Notsituationen dagegen als „starke“ moralische Pflicht. Nur im Falle einer Verletzung „starker“ moralischer Pflichten sind moralische Sanktionen angezeigt, nicht aber im Falle der Verletzung „schwacher“ Pflichten.32 Zudem korrespondieren nur den „starken“ Pflichten entsprechende Rechte.33 Mieth übernimmt den Begriff der schwachen Pflicht von Kant, der auch von unvollkommenen Pflichten spricht.34 Kant setzte sich allerdings mit seiner Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten in Widerspruch zu seiner eigenen Definition der Pflicht. Denn zu Beginn der Tugendlehre definiert er die Pflicht als Nötigung des Willens.35 Die Nötigung des Willens ist genau das, was wir als Sanktion bezeichnen. Wenn aber die Sanktion das entscheidende Definiens der Pflicht ist, dann ist eine Pflicht ohne Sanktion ein Widerspruch in sich. Was Mieth mit dem Begriff der schwachen Pflichten einfangen will, sollte nicht als Pflicht, sondern mit dem alten ethischen Begriff der Tugend bezeichnet werden. Tugend ist eine grundsätzliche Haltung, die an bestimmten Werten und Idealen orientiert ist. Eine solche Orientierung ist auch da möglich, wo Nötigungen des Willens, also Pflichten, keinen Sinn machen. Von Pflichten sollte man nur sprechen, wo die Nötigung des Willens, also die Sanktionsbewehrtheit, mitgedacht ist. Sinnvoll ist also nur die Unterscheidung zwischen Tugenden und Pflichten, nicht aber die zwischen „schwachen“ und „starken“ Pflichten. Mieth kommt in ihrer Analyse zu dem Ergebnis, dass es eine („starke“) globale Hilfspflicht aus zwei Gründen nicht geben kann. Zum einen ist eine solche Pflicht unmöglich. Sie scheitert an der Diskrepanz zwischen der Größe der existenziellen Not in der Welt und der Beschränktheit unserer Handlungsfähigkeit. Eine Pflicht, allen Menschen in Not zu helfen, ist unerfüllbar.36 Zum anderen scheitert die Annahme einer solchen Pflicht daran, dass sie notwendig mit dem Opfer der eigenen Autonomie des Handelnden verbunden und damit unzumutbar wäre.37 Denn Autonomie ist der Sinn einer jeden (deontologisch verstandenen) Moral.38 Mieth begnügt sich in ihrer Untersuchung aber nicht mit der Zurückweisung einer („starken“) Pflicht zur globalen Hilfeleistung. Sie geht vielmehr auch der Frage nach, 31 Mieth, Positive Pflichten. Über das Verhältnis von Hilfe und Gerechtigkeit in Bezug auf das Weltarmutsproblem, 2012. 32 Mieth (Fn. 31), 4, 70. 33 Mieth (Fn. 31), 137. 34 Kant (Fn. 15), 390. 35 Kant (Fn. 15), 379, 394. 36 Mieth (Fn. 31), 167. 37 Mieth (Fn. 31), 24. 38 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1786], in: Kant’s Gesammelte Schriften, hrsg. v. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Band IV, 1911, 385 (440).

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ob sich denn jedenfalls für Situationen wie der von Singers Teichfall eine moralische Hilfspflicht begründen lässt. Sie bejaht dies, indem sie dafür argumentiert, dass in einer solchen Situation die hilfefähige Person, die zufällig unmittelbar mit der Notsituation konfrontiert wird, für geeignete Hilfsmaßnahmen zuständig ist, dass ihr die Hilfe zumutbar ist und dass es in diesem Fall auch Hilfsmaßnahmen gibt, die erfolgversprechend sind. Die Zuständigkeit wird nach Mieth durch die Nähebeziehung begründet, die sich daraus ergibt, dass der Akteur unmittelbar in die Situation des Helfen-Könnens hineingerät. Bei der Begründung dieser These bleibt Mieth allerdings unklar. Sie verweist auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.39 Doch die Pointe dieses Gleichnisses ist nicht, dass jeder dem Notleidenden zum Nächsten wird, der unmittelbar mit dessen Situation konfrontiert ist, sondern nur derjenige, der tatsächlich hilft bzw. zur Hilfe bereit ist. Mieth leitet im Anschluss an Ralf Stoecker denn auch aus der faktischen Hilfsbereitschaft des Akteurs die Nähebeziehung und damit die Hilfspflicht ab.40 Dieser Gedanke ist indessen unplausibel, denn wenn der Akteur schon zur Hilfe bereit ist, sich also freiwillig entschieden hat zu helfen – wie kann er dann noch in seinem Willen genötigt werden? Eine Nötigung, die auf das gerichtet ist, was jemand ohnehin tun will, geht offenbar ins Leere. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bietet das Musterbeispiel einer supererogatorischen Handlung und demonstriert gerade nicht eine moralische Hilfspflicht. Zur Begründung einer sozialmoralischen Pflicht zur Hilfeleistung bedarf es indessen keiner normativ aufgeladenen Konstruktion zwischenmenschlicher Näheverhältnisse. Es genügt der empirische Hinweis, dass in unserer Gesellschaft signifikant viele Menschen, die andere Menschen in Not unmittelbar erleben, sich davon betroffen fühlen und den Impuls verspüren, die Situation des Notleidenden zu verbessern. Dieser persönliche Affekt wird verallgemeinert und führt zu der allgemein verbreiteten Moralvorstellung, dass sich jeder Akteur in vergleichbarer Situation ebenso betreffen lassen sollte. Der Beobachter einer solchen Szene wird dazu neigen, das Verhalten des Akteurs zu missbilligen, wenn dieser sich augenscheinlich nicht betreffen lässt und keinerlei Anstalten macht, Hilfe zu leisten. Warum das so ist, kann dahingestellt bleiben. Entscheidend ist, dass diese moralischen Gefühle in unserer Gesellschaft signifikant sind, so dass man von einer entsprechenden moralischen Überzeugung ausgehen kann. Damit ist freilich noch nicht gesagt, dass diese moralische Überzeugung einer ethischen Kritik standhalten kann. Mieth hält eine Hilfspflicht in der Situation des Teichfalls auch für zumutbar. Denn eine Gefährdung der Autonomie des Akteurs stehe hier nicht zu befürchten. Die eigenen Lebenspläne würden nur in geringem Umfang beeinträchtigt. Man könnte ergänzen, dass hinsichtlich der verunreinigten oder beschädigten Kleidung ein sowohl moralischer als auch rechtlicher Entschädigungsanspruch gegenüber dem geretteten Kind oder seinen Eltern besteht, was die Beeinträchtigungen noch weiter mi39 40

Evangelium nach Lukas 10, 25 ff. Mieth (Fn. 31), 53.

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nimiert. Jedenfalls leuchtet ohne Weiteres ein, dass die Hilfe in der Situation des Teichfalls zumutbar ist. Als weitere wichtige Bedingung einer moralischen Hilfspflicht verlangt Mieth die Aussicht auf Erfolg, also dass die Pflicht erfüllbar ist. Das sei – im Unterschied zu globalen Hilfspflichten – im Teichfall gegeben. Es gebe eine eindeutige Handlungsoption. Denn es müsse nur einem einzigen Kind geholfen werden, nicht einer Vielzahl. Es sei also nicht erforderlich, eine Entscheidung im Rahmen eines Auswahlermessens zu treffen.41 Infolgedessen spreche auch nichts dagegen, dem Kind gegenüber dem Akteur ein Recht auf Rettung zuzusprechen und das Unterlassen der Hilfe moralisch zu sanktionieren.42 Wenn Mieths Argumentation überzeugend ist, dann scheint in der Tat die Annahme berechtigt zu sein, dass es in unmittelbar erlebten Notsituationen eine moralische Pflicht zur Nothilfe gibt. Diese Pflicht folgt aus einem moralischen Gebot, welches in unseren moralischen Intuitionen verankert ist, nicht im Widerspruch zum Gesamtkomplex der moralischen Normen steht und zum Rest der Moral anschlussfähig ist. Angesichts der Existenz einer solchen moralischen Pflicht erscheint es ausgeschlossen, dass die Funktion des § 323c StGB darin bestehen könnte, ein moralisches Defizit zu kompensieren. Es spricht vielmehr alles dafür, in § 323c StGB eine strafrechtliche Norm zu sehen, deren Funktion in der Verstärkung und Durchsetzung der gegebenen Moral besteht.

V. Keine moralische Pflicht zur Nothilfe Ich werde im Folgenden Argumente zur Diskussion stellen, die dieses Ergebnis in Frage stellen. Die ethischen Argumente für eine moralische Hilfspflicht scheinen mir zu kurz zu greifen. Sie berücksichtigen nicht, dass die Moral, sofern sie in strikten Verboten und Geboten besteht und nicht nur in Werten und Tugenden (Haltungen), in besonderer Weise auf Einfachheit und Klarheit angewiesen ist. Es muss für den unbeteiligten Zuschauer, also für jedermann ohne weiteres möglich sein, ein zutreffendes Urteil darüber zu fällen, ob in einem konkreten Fall ein moralisches Verbot oder Gebot verletzt ist und das moralwidrige Verhalten des Akteurs deshalb zu Recht von jedermann sanktioniert werden darf. Es ist bezeichnend, dass Singer den Teichfall, der als paradigmatischer Fall einer moralischen Hilfspflicht angeführt wird, aus der Ich-Perspektive beschreibt. Diese Beschreibung ist aber nur dann adäquat, wenn es um die Frage einer Gewissenspflicht geht, also einer Pflicht gegen sich selbst. Es erscheint möglich, dass der Akteur vor seinem eigenen Gewissen keine guten Gründe findet, von der Rettung abzusehen, weil für ihn nichts weiter auf dem Spiel steht als nasse Hosen. Damit lässt sich aber nicht eine sozialmoralische Pflicht verteidigen. Denn dabei handelt es sich um 41 42

Mieth (Fn. 31), 129. Mieth (Fn. 31), 137.

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Pflichten, die nicht (nur) vom eigenen Gewissen sanktioniert werden dürfen, sondern von jedem Mitglied der moralischen Gemeinschaft. Die Pflicht ist nicht notwendig Bestandteil einer verinnerlichten Moral, an der die persönliche Identität der handelnden Person hängt. Es handelt sich vielmehr um gesellschaftliche Standards, die für den einzelnen auch dann Anspruch auf Geltung erheben, wenn er sie vor seinem Gewissen nicht teilt. Deshalb darf die Frage nach der Geltung einer solchen Pflicht nicht aus der Ich-Perspektive gestellt werden. Sie lässt sich vielmehr nur aus der Beobachterperspektive beurteilen. Eine Beurteilung aus der Beobachterperspektive setzt voraus, dass die in einer konkreten Situation zur Anwendung kommende moralische Norm ausschließlich Tatbestandsmerkmale beschreibt, die sich durch den unbeteiligten Zuschauer beobachten lassen. Nun lässt sich aus der Beobachterperspektive zwar immer eindeutig feststellen, ob eine Unterlassungspflicht verletzt worden ist. Man muss nur eine Schädigungshandlung feststellen. Wer damit konfrontiert wird, dass ein Akteur einen anderen Menschen auf offener Straße erschießt, zusammenschlägt oder vergewaltigt, muss zur moralischen Beurteilung dieses Verhaltens nicht aufklären, ob dem Täter die Unterlassung der Tötung, Körperverletzung oder Vergewaltigung zumutbar wäre. Unterlassungspflichten bestehen darin, dass man etwas nicht tut. Nichtstun geht immer und ist keine Frage der Zumutbarkeit. Denn Nichtstun gefährdet die eigene Autonomie nicht. Im Falle von Handlungspflichten ist die Beurteilung schwieriger. Es lässt sich aus der Beobachterperspektive in der Regel nicht feststellen, ob für den Akteur eventuell gute Gründe vorliegen, nicht zu handeln. Im Teichfall ist es unter anderem möglich, dass der Akteur nicht weiß, dass der Teich seicht ist, und dass der Beobachter nicht weiß, dass der Akteur das nicht weiß. Der Beobachter weiß auch nicht, ob der Akteur ein ausgebildeter Rettungsschwimmer ist, dem es auch zugemutet werden könnte, das Kind aus einem (vermeintlich) tiefen Teich zu retten. Der Beobachter weiß nicht, ob der Passant vielleicht hohes Fieber hat und auf dem Weg zum Arzt ist, so dass das kalte Wasser unabhängig von der Tiefe des Teichs für ihn eine Lebensgefahr darstellt. Vielleicht handelt es sich bei dem Akteur um jemanden, der, wenn er rettet, nicht mehr rechtzeitig zur letzten eingeräumten Möglichkeit einer Prüfung erscheinen kann und dann auf Lebenszeit nicht mehr seine beruflichen Pläne verwirklichen kann. Alle diese Umstände und noch zahllose andere, die man sich denken könnte, sind für die moralische Beurteilung relevant. Sie werden mit dem abstrakten Begriff der Zumutbarkeit nicht abgedeckt. Dieser Begriff markiert vielmehr eine Leerstelle, die erst im konkreten Fall und nach sorgfältiger Prüfung angemessen gefüllt werden kann. Deshalb ist es dem Beobachter, der einfach nur sieht, was am und im Teich passiert, unmöglich, den Fall fair zu beurteilen. Andererseits ist er, wie jeder Zuschauer zur Sanktionierung moralischen Fehlverhaltens berechtigt, ohne dass er die Möglichkeit hätte, die relevanten Umstände des Falls aufzuklären. Das birgt die Gefahr einer nicht legitimen moralischen Sanktionierung und damit das konkrete Risiko, dass der sanktionierende Jedermann mit dem Akt der Sanktionierung selbst moralisches Unrecht begeht. Unter Berücksichtigung des ethischen Prinzips, wonach

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es allemal besser ist Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun,43 muss der Beobachter der Unterlassung einer Hilfeleistung daher prinzipiell von moralischen Sanktionen absehen. Damit wird die Hilfspflicht in der Regel zu einer Pflicht, deren Verletzung nicht sanktioniert werden darf. Der Begriff einer Pflicht, die nicht sanktioniert werden darf, ist aber in sich widersprüchlich. Daraus folgt: eine moralische Pflicht zur Hilfeleistung ist ethisch unmöglich. Sie kann ethisch nicht legitimiert werden. Moralische Regeln müssen einfach, klar und eindeutig sein, so dass jederzeit von jedem festgestellt werden kann, ob sie verletzt werden oder nicht. Diese Bedingung ist im Falle der allgemeinen Hilfspflicht in der Regel nicht erfüllt. Gleichwohl mag es unter bestimmten Umständen sehr spezielle Fälle geben, in denen die Sachlage so eindeutig ist, dass jeder Beobachter ohne weiteres entscheiden kann, ob moralisch oder unmoralisch gehandelt wird. Solche sehr speziellen Fälle erlauben aber nicht die Normierung einer generellen moralischen Pflicht zur Nothilfe. Deshalb ist es sinnvoller, davon auszugehen, dass Hilfeleistungen moralisch gesehen stets im Ermessen des Akteurs stehen und daher nicht moralisch geboten sind. Für die erwähnten sehr speziellen Fälle lässt sich auf eine Denkfigur aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht zurückgreifen, nämlich auf die Idee der Reduktion des Ermessensspielraums auf null.44 Diese Betrachtungsweise erlaubt es, eine generelle moralische Nothilfepflicht zu verneinen, es sei denn, es kann ausnahmsweise von jedermann zweifelsfrei festgestellt werden, dass dem moralischen Akteur tatsächlich kein guter Grund zur Verfügung steht, von der Hilfe abzusehen. Nur für solche eng begrenzten Fälle kommt eine moralische Sanktionsbefugnis in Betracht. Eine allgemeine Pflicht zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen und gemeiner Gefahr und Not ist jedenfalls nicht gerechtfertigt. Die Ethik muss deshalb dazu raten, eine allgemeine Nothilfepflicht aus dem Kanon der moralischen Pflichten zu streichen. Gibt es aber keine solche moralische Pflicht, dann fällt die Möglichkeit weg, dem § 323c StGB die Funktion der Stärkung und Durchsetzung der Moral zuzuweisen. Somit bleibt nur die Möglichkeit, die Funktion dieser Rechtsnorm darin zu sehen, eine Lücke zu füllen, die das ethisch aufgeklärte System der Moral offenlässt.

VI. Schluss Das allgemeine juridische Nothilfegebot erlaubt es, die Umstände des Einzelfalls in einem fairen und professional organisierten Verfahren zu ermitteln und eine strafrechtliche Sanktionierung erst im Anschluss an ein solches rationales Ermittlungsverfahren durchzuführen. § 323c StGB kompensiert damit eine systemische Lücke, die eine ethisch reflektierte Moral notwendig offenlässt. Die Norm spiegelt zwar die axiologische Seite der Moral, nicht aber die deontische. Denn es gibt keine 43 44

Platon, Gorgias 469c. Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), VwVfG, 2. Aufl. 2016, § 40 Rn. 72.

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moralische Pflicht, die durch § 323c StGB juridisch kodifiziert werden könnte. Die Norm bringt aber ein moralisches Ideal (Wert) zum Ausdruck, das in der Moral unserer Gesellschaft verankert ist und dessen Förderung und Stärkung wünschenswert erscheint. Dennoch macht es stutzig, dass sich viele Rechtsstaaten, insbesondere aus dem Rechtsraum des Common Law, bisher nicht dazu entschließen konnten, eine vergleichbare Strafrechtsnorm einzuführen.45 In Deutschland, wo sie eingeführt ist, führt sie nur selten zu einer Verurteilung und wenn, dann nur zu eher geringen Strafen.46 Das dürfte seinen Grund darin haben, dass der Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung zum rechtsstaatlichen Standard des nullum crimen sine lege in kaum zu überwindendem Spannungsverhältnis steht, wie nicht zuletzt der Jubilar angemerkt hat.47 Denn die Frage der Zumutbarkeit kann nur schwerlich im Nachhinein aus einer Ex-ante-Perspektive beantwortet werden.48 Rechtsdogmatik und Rechtsprechung mögen das fordern.49 Aber die empirische Rechtspsychologie hat uns mit der Entdeckung des hindsight bias (Rückschaufehler) längt darüber belehrt, dass eine solche Betrachtungsweise nahezu unmöglich ist.50 Deshalb erscheint es äußerst fraglich, ob sich der Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbaren lässt. Betrachtet man die Fälle, die in der Vergangenheit tatsächlich zu einer Verurteilung geführt haben, dann erscheint es empfehlenswert, den § 323c StGB durch eine Strafnorm des unterlassenen Notrufs zu ersetzen.51 Danach würde bestraft, wer es als Zeuge eines Unglücksfalls oder einer gemeinen Gefahr unterlässt, den Notruf 110 zu tätigen.

45

Rosenbaum, The Myth of Moral Justice, 2004, 247 f. von Danwitz (Fn. 11), 11 ff., 48. 47 Joerden (Fn. 9), 52; Haubrich (Fn.11), 208 m. w. N. 48 Seelmann (Fn. 12), 47. 49 Gaede, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 5. Aufl. 2017, § 323c Rn. 7, 10; Freund, MK-StGB, § 323c Rn. 29 ff.; BGH NStZ 1985, 409, 410; RGSt 75, 68, 71/ 72. 50 Zamir/Teichman, Behavioral Law and Economics, 2018, 336 ff., 359 f.; Kuhlen, in: Jung/ Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, 341. 51 von Danwitz (Fn. 11), 82 ff. 46

Die Garantenpflicht beim Sozialleistungsbetrug im Bereich des SGB II Bettina Weinreich

I. Einleitung Im Bereich der sozialen Sicherung für Arbeitsuchende werden jährlich mehrere Millionen Euro ausgegeben. Im Jahr 2019 (dem Jahr vor der Coronapandemie) wurden für Leistungen nach dem SGB II insgesamt 43,4 Mrd. Euro, davon 14,2 Mrd. für das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld nach § 19 Abs. 1 SGB I sowie 13,7 Mrd. Euro für die Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II, erbracht.1 In den zwölf Monaten von September 2020 bis August 2021 wurden nur für das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld bereits 21.756 Mrd. Euro ausgegeben, wobei dieser Anstieg zum Teil pandemiebedingt ist.2 Auch wenn die Anzahl der im SGB II zu Versorgenden leicht rückläufig ist, bleibt das Erschleichen derartiger Leistungen durchaus ein Thema. Dabei wird das Erschleichen von öffentlichen Leistungen im Gegensatz zum Erschleichen von Leistungen nach § 265a StGB als Sozialleistungsbetrug3 bezeichnet, wobei dieser wiederum vom Straftatbestand des § 266a StGB insofern abzugrenzen ist, als dort lediglich das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt unter Strafe gestellt ist. Schaut man in die Kriminalstatistik der vergangenen Jahre, so zeigt sich, dass der Sozialleistungsbetrug keine Rolle zu spielen scheint. Im Kalenderjahr 20204 gab es im Rahmen des Sozialleistungsbetruges 11.713 erfasste Fälle, was einen Anteil von 0,2 % aller erfassten Fälle darstellt. Davon konnten 11.546 (= 98,6 %) aufgeklärt

1 Vgl. Diagramm unter https://www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Poli tikfelder/Arbeits-markt/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIV75.pdf. (Die Links wurden jeweils zuletzt am 26. 11. 2021 abgerufen). 2 Siehe BIAJ, Kurzmitteilung vom 13. 9. 2021, abrufbar unter http://www.biaj.de/archivkurzmitteilungen/1570-arbeitslosengeld-2012-bis-august-2021-seit-juni-2021-wieder-sinkendeausgaben-sgb-iii.html. 3 Zum Teil wird auch etwas unklar von Sozialbetrug oder von Sozialhilfebetrug gesprochen. 4 PKS Bundeskriminalamt, Berichtsjahr 2020, Polizeiliche Kriminalstatistik, Grundtabelle, V1.0, abrufbar unter https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/ PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2020/PKSTabellen/BundFalltabellen/bundfalltabellen. html?nn=145506.

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werden. Im Kalenderjahr 20195 gab es 13.232 Fälle von Sozialleistungsbetrug, wovon 13.128 (= 99,2 %) aufgeklärt wurden. Trotzdem sorgen hin und wieder aufsehenerregende Gerichtsprozesse dafür, dass der Sozialleistungsbetrug in den Fokus rückt und gelegentlich auch politische Konsequenzen6 nach sich zieht. So wurde etwa in einem Prozess vor dem Landgericht Bremen ein Sozialleistungsbetrug verhandelt7, der laut Staatsanwaltschaft dem Jobcenter einen Schaden von rund sechs Millionen Euro verursachte und zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung führte. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der 59-jährige Angeklagte, der sich als Mitarbeiter des örtlichen Jobcenters ausgab, als Vorsitzender zweier Vereine in Bremerhaven in den Jahren 2013 bis 2016 Zuwanderern, die keinen Anspruch auf Sozialleistungen hatten, Sozialleistungen verschaffte, indem er sie als Angestellte mit geringfügiger Beschäftigung oder als Scheinselbständige ausgab. In einem anderen Fall, über den das Landgericht Osnabrück zu entscheiden hatte, hatte ein Ehepaar über mehrere Jahre hinweg Arbeitslosengeld II bezogen, obwohl es Vermögen in einem Depot in der Schweiz hatte.8 Das Landgericht Osnabrück verurteilte die Eheleute wegen Sozialleistungsbetrugs jeweils zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 10 Monaten und ordnete die Einziehung des Wertes des Erlangten im Umfang von 84.304,57 Euro an. Nun führt nicht jeder unrechtmäßige Bezug von Sozialleistungen zu einem Verdacht auf Sozialleistungsbetrug, da zu Unrecht bezogene Leistungen systemimmanent sind. Leistungen der Grundsicherungen werden gemäß § 42 Abs. 1 SGB II monatlich im Voraus erbracht, sodass Änderungen in den Verhältnissen erst im Nachgang berücksichtigt werden können, selbst wenn die leistungsberechtigte Person diese Änderungen unverzüglich mitteilt. Daher spielen Aufhebungs- und Erstattungsverfahren in der Praxis der Jobcenter eine große Rolle. Der Verdacht auf betrügerische Handlungen entsteht im Wesentlichen durch den automatisierten Datenabgleich nach § 52 SGB II, durch Anzeigen Dritter oder durch Betriebsprüfungen der Rentenversicherungsträger bei Arbeitgebern9. Im Rahmen des automatisierten Da5 PKS Bundeskriminalamt, Berichtsjahr 2019, Polizeiliche Kriminalstatistik, Grundtabelle, V1.0, abrufbar unter https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/ PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2019/PKSTabellen/BundFalltabellen/bundfalltabellen. html?nn=131006. 6 Die Bürgerschaft (Landtag) hat mit Beschluss vom 17. 8. 2016 einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit dem Auftrag eingesetzt, im Rahmen der verfassungsmäßigen Zuständigkeit des Landes, die Gründe und den Ablauf des massenhaften Sozialleistungsbetruges in Bremerhaven im Zeitraum mindestens von Anfang 2013 bis April 2016 zu untersuchen; vgl. Bremische Bürgerschaft, Drs. 19/695, abrufbar unter https://www.bremische-buer gerschaft.de/uploads/media/PUA-Bericht_2018-01-31_01.pdf. Seit 2005 gibt es z. B. in Offenbach die Arbeitsgruppe Leistungsmissbrauch, in der sich verschiedene städtische Ämter, Finanzamt, Polizei und Zollfahndung unter Federführung des Ordnungsamtes untereinander austauschen und gemeinsame Strategien entwickeln. 7 LG Bremen, Urt. v. 3. 3. 2021, Az. 5 KLs 770 Js 68235/15. 8 LG Osnabrück, Urt. v. 27. 11. 2020, Az. 7 Ns 144/17. 9 Klose, info also 4/2016, 158.

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tenabgleichs werden u. a. Zinseinkünfte mitgeteilt, die den Rückschluss auf Vermögen zulassen. Nicht selten erfolgen auch anonyme Anzeigen10 von Personen aus der familiären11 oder sozialen Umgebung der leistungsbeziehenden Personen, die diese der Schwarzarbeit oder des Verschweigens von Einkommen und Vermögen bezichtigen. Aufgabe dieses Aufsatzes soll es sein, die Voraussetzungen eines Sozialleistungsbetruges zu beleuchten und aufzuzeigen, welche Möglichkeiten es gibt, diesem präventiv entgegenzuwirken.

II. Dogmatische Einordnung in den Betrugstatbestand des StGB Betrug nach § 263 StGB ist die durch Täuschung verursachte Vermögensschädigung eines anderen mit der Absicht der Bereicherung. Geschütztes Rechtsgut ist im Rahmen dieses Straftatbestandes das Vermögen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um privates oder das Vermögen der öffentlichen Hand handelt.12 Die Leistungsgewährung im SGB II ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, sodass ein Vermögensschaden der öffentlichen Hand vorliegt, wenn diese Leistung erbracht wird, ohne dass die Anspruchsvoraussetzungen für diese Sozialleistung erfüllt sind.13 Maßgeblich für die Prüfung des Tatbestandsmerkmals des Vermögensschadens ist der Vergleich des Vermögenswerts unmittelbar vor und nach den pflichtwidrigen Verhaltensweisen zu Lasten des Sozialleistungsträgers.14 Für das Vorliegen des Betrugstatbestandes ist darüber hinaus erforderlich, dass die leistungsempfangende Person die Behörde über das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen getäuscht und damit einen Irrtum über anspruchserhebliche Tatsachen erregt hat, was in subjektiver Hinsicht Vorsatz sowie Bereicherungsabsicht, d. h., zielgerichtetes Handeln hinsichtlich des unberechtigten Empfangs von Leistungen, voraussetzt.15 Hiervon wird in der Praxis ausgegangen, wenn Leistungen über den Zeitraum mehrerer Monate in erheblichem Umfang entgegengenommen und insbesondere zur Steigerung des Lebensstandards verbraucht werden.16 Der Grundfall des Sozialleistungsbetruges besteht in der Praxis darin, dass eine antragstellende Person gegenüber der leistungssachbearbeitenden Person unrichtige 10

LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 11. 4. 2014, Az. L 9 AS 1435/13 B ER. Vgl. OLG Hamm, Urt. v. 6. 2. 2001, Az. 3 Ss 123/00. 12 Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 263 Rn. 1/2. 13 S/S-Perron, StGB, § 263 Rn. 104a. 14 BGH, Beschl. v. 8. 3. 2017, Az. 1 StR 466/16. 15 S/S-Perron, StGB, § 263 Rn. 165. 16 Arbeitshilfe zur Ahndung von Ordnungswidrigkeiten bzw. Abgabe an Strafverfolgungsbehörden des Landkreises Südwestpfalz, S. 1, abrufbar unter https://www.lksuedwest pfalz.de/pdf/abteilungen/jobcenter/arbeitshilfe-zur-ahndung-von-ordnungswidrigkeiten-bzw.-ab gabe-von-sachverhalten-an-strafverfolgungsbehoerden.pdf?cid=jh. 11

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oder unvollständige Angaben über die Anspruchsvoraussetzungen macht, um sich eine ihr in Wahrheit nicht zustehende Sozialleistung zu verschaffen, und sich das Jobcenter daraufhin falsche Vorstellungen über diese Umstände macht, es deshalb die Gewährung der Leistung veranlasst und dadurch dem Vermögen des Sozialleistungsträgers ein entsprechender Schaden entsteht. Wenn es nicht zu der von der antragstellenden Person erstrebten Leistungsgewährung kommt, beispielsweise, weil die sachbearbeitende Person den falschen Angaben keinen Glauben schenkt oder trotz Auszahlung kein Vermögensschaden entsteht, weil der antragstellenden Person entgegen ihrer Vorstellungen auch bei richtigen Angaben ein Anspruch in gleicher Höhe zugestanden hätte, ist der Betrug nicht vollendet, aber bereits im Versuch strafbar (§ 263 Abs. 2 StGB).17 Soweit die leistungsempfangende Person den erstrebten Vermögensvorteil irrtümlich für rechtmäßig hält, liegt ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB vor, was in der Praxis keine Rolle spielt, weil die Leistungsempfänger über die Voraussetzungen des Leistungsbezuges sehr genau aufgeklärt werden.18 Nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 – 4 SGB II ist Voraussetzung für einen Leistungsbezug im SGB II, dass der Leistungsberechtigte objektiv und subjektiv erwerbsfähig ist, seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in der Bundesrepublik Deutschland hat (vgl. §§ 30 Abs. 3 SGB I, § 36 Abs. 1 SGB II) und hilfebedürftig im Sinne des § 9 SGB II ist.19 Während sich die Prüfung der Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 SGB II im Wege des Amtsermittlungsgrundsatzes nach § 20 SGB X weniger schwierig gestaltet und damit nur wenige Fälle des Sozialleistungsbetruges in Betracht kommen,20 sind die Fälle des § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II relevanter, da sich bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit, die der Anspruchsgrund ist und zugleich die Anspruchshöhe bestimmt, das Risiko der unberechtigten Leistungsgewährung realisiert. 17

Sozialministerium Baden-Württemberg, Leitfaden zur Vermeidung und Bekämpfung von Sozialhilfebetrug, S. 5, abrufbar unter https://d-nb.info/991186001/34. 18 BGH, Beschl. v. 9. 7. 2003, Az. 5 StR 65/02. 19 Hingegen ist die Richtigkeit des Namens nicht Voraussetzung für den Leistungsbezug, weil gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 1 SGB I lediglich die Tatsachen anzugeben sind, die für die Leistung erheblich sind. Hierzu zählen insbesondere die wirtschaftlichen Verhältnisse, nicht jedoch der Name des Anspruchstellers, vgl. OLG Köln, Beschl. v. 30. 3. 2007, Az. 81 Ss 38/07. 20 Den gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II hat unter Bezugnahme des § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I i. V. m. § 37 SGB I jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Maßgebend für die Beurteilung eines gewöhnlichen Aufenthaltes sind ein zeitliches Element („nicht nur vorübergehend“), der Wille der Person als subjektives Element und die objektiven Gegebenheiten („unter Umständen“) mit einer vorausschauenden Betrachtung künftiger Entwicklungen, die eine gewisse Stetigkeit und Regelmäßigkeit des Aufenthaltes erfordern, nicht jedoch eine Lückenlosigkeit, vgl. BSG, Urt. v. 23. 5. 2012, Az. B 14 AS 133/11 R; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 7. 3. 2016, Az. L 1 AS 296/15. Wer daher einen Aufenthaltsort vortäuscht, um die Leistungen nach § 22 Abs. 1 SGB II zu beziehen, macht sich eines Sozialleistungsbetruges schuldig, vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 24. 5. 2016, Az. L 13 AS 226/15.

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Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende richten sich zunächst an erwerbsfähige Personen und deren Haushaltsmitglieder, die im sozialrechtlichen Sinne hilfebedürftig sind, d. h. nach § 9 Abs. 1 SGB II ihren Lebensunterhalt nicht oder nicht ganz aus eigenem Einkommen oder Vermögen bestreiten können. Nach § 8 SGB II ist im Sinne der Grundsicherung erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Bei Zweifeln an der Erwerbsfähigkeit ist deshalb eine Prüfung der Erwerbsfähigkeit von Amts wegen zu veranlassen. Diese Prüfung nimmt der Ärztliche Dienst der Jobcenter vor. Für das Verfahren zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit einer Person nach § 44a Abs. 1 – 3 SGB II gelten die allgemeinen Regelungen zur Amtsermittlung (§§ 20 ff. SGB X) und den Mitwirkungspflichten (§§ 60 ff. SGB I) gleichermaßen für alle Beteiligten.21 Soweit demnach die antragstellende Person unrichtige oder unvollständige Angaben zum gesundheitlichen Zustand macht, um Leistungen nach dem SGB II zu beziehen, setzt sie sich dem Verdacht eines (versuchten) Betruges aus. Allerdings dürfte dies in der Praxis deswegen eine geringe Rolle spielen, weil der „Vorteil“ des Leistungsbezuges die Pflichten, die sich insbesondere im arbeitsmarktspezifischen Bereich ergeben, nicht aufwiegen.22 Anders könnte es sich allenfalls beim Bezug von Rentenleistungen verhalten. Diese Leistungen sind nicht mit der Verpflichtung zur Eingliederung in den Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt verbunden. Daher werden sich die Fälle eines Sozialleistungsbetruges im Bereich des SGB II überwiegend auf die Fälle beschränken, in denen die antragstellende Person im Rahmen des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II in Bezug auf das Einkommen oder das Vermögen unrichtige, fehlerhafte oder unvollständige Angaben macht. Zwar unterliegen die Sozialleistungsträger nach § 20 SGB X dem Amtsermittlungsgrundsatz, weil die verwaltungsrechtliche Entscheidung eine vollständige und richtige Aufklärung des Sachverhalts voraussetzt, allerdings endet dieser dort, wo eine Ermittlung von Amts wegen rechtlich und/oder tatsächlich (nicht) mehr möglich ist. Daher korrespondiert die Amtsermittlungspflicht mit der im Sozialrecht bedeutsamen Mitwirkungspflicht des § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I. Danach hat derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, nach Nr. 1 alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind. Auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers hat die antragstellende Person der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen sowie nach Nr. 2 Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich mitzuteilen.

21

BSG, Urt. v. 26. 11. 2020, Az. B 14 AS 13/19. Soweit nicht die Erwerbsfähigkeit als Anspruchsvoraussetzung fraglich ist, sondern das Restleistungsvermögen, kommt ein Sozialleistungsbetrug hinsichtlich der monatlichen Grundsicherungsleistungen nicht in Betracht. 22

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Soweit die antragstellende Person ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse bereits nicht hinreichend offenlegt, fehlt es am Nachweis der Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II. Sind weitere Ermittlungen diesbezüglich nicht mehr möglich oder unzumutbar und ist auch im Rahmen der Beweiswürdigung keine Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen möglich, trägt grundsätzlich derjenige, der ein Recht in Anspruch nimmt bzw. eine Sozialleistung begehrt, die Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen.23 Diese Nichterweislichkeit geht nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten der antragstellenden Person, sodass eine Gewährung von SGB II-Leistungen abgelehnt werden muss,24 da trotz Amtsermittlungsgrundsatzes nur eine eingeschränkte Verpflichtung besteht, weiter zu ermitteln.25 In diesem Fall kommt die Prüfung eines Straftatbestandes nicht in Betracht, da aufgrund des Ablehnungsbescheides schon kein Vermögensschaden zu Lasten des Jobcenters entsteht.

III. Betrug durch positives Tun Der Straftatbestand des § 263 StGB durch positives Tun setzt voraus, dass eine täuschende Erklärung über Tatsachen abgegeben wird.26 Tatsachen sind in diesem Sinne alle gegenwärtigen oder vergangenen Ereignisse oder Zustände, die dem Beweis zugänglich sind.27 Daher wird der Tatbestand vor allem durch unrichtige Angaben verwirklicht, wobei auch unvollständige Angaben den Straftatbestand erfüllen können. Allerdings ist im letzterem Fall die besondere Fürsorgepflicht des Sozialleistungsträgers zu beachten. Nach § 9 S. 2 SGB X ist das Verwaltungsverfahren zügig, einfach und zweckmäßig zu gestalten, wobei nach § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I der Leistungsträger verpflichtet ist, darauf hinzuwirken, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhält. Dabei ist es nach § 16 Abs. 3 SGB I die Pflicht des Leistungsträgers, dafür Sorge zu tragen, dass unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt und unvollständige Angaben ergänzt werden. Der Inhalt dieser Amtspflicht ergibt sich aus der im Sozialrecht geltenden Fürsorgepflicht,28 die die leistungsberechtigte Person in die Lage versetzen soll, unverzüglich das Erforderliche zu tun, um Leistungen zu erhalten.29 Hinzu kommt die dem SGB II-Leistungsträger obliegende Spontanberatungspflicht, die greift, wenn anlässlich einer konkreten Sachbearbeitung in einem Sozi23

Jansen, in: Haufe (Hrsg.), SGB X-OK, § 20 Rn. 6. LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 24. 9. 2019, Az. L 11 AS 885/17; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 10. 12. 2015, Az. L 11 AS 1500/15 B ER. 25 LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 25. 2. 2020, Az. L 11 AS 1075/16. 26 Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 263 Rn. 6. 27 Vgl. BGH, Urt. v. 22. 10. 1986, Az. 3 StR 226/86. 28 Ähnlich bereits BSG, Urt. v. 15. 5. 1984, Az. 12 RK 48/82. 29 Vgl. Gutzler, in: Lilge/Gutzler (Hrsg.), Kommentar zum SGB I, 5. Aufl. 2019, § 16 Rn. 70. 24

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alrechtsverhältnis dem jeweiligen Mitarbeiter eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit ersichtlich ist, die ein verständiger Leistungsberechtigter wahrnehmen würde, wenn sie ihm bekannt wäre.30 Eine solche Spontanberatungspflicht knüpft an das allgemeine Rechtsprinzip an, wonach im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Beziehung die Aufklärungspflichten in dem Maß steigen, wie die möglichen Folgen wachsende Bedeutung für den Antragsteller haben.31 Das bedeutet aber nicht, dass auf alle rechtlich nicht verbotenen Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen ist, denn die Spontanberatungspflicht soll nur dazu dienen, die Leistungsberechtigten zu den nach der gesetzgeberischen Intention vorgesehenen Sozialleistungen zu führen.32 Die Beratungspflicht soll den Leistungsberechtigten in die Lage versetzen zu erkennen, was der Sozialleistungsträger von ihm an Informationen („Angabe von Tatsachen“ i. S. von § 60 SGB I) verlangt, sodass er sich über die Modalitäten im Verwaltungsverfahren im Klaren ist.

IV. Betrug durch Unterlassen einer gebotenen Handlung (§§ 263 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB) In der Praxis ist jedoch der Fall häufiger, dass die antragstellende Person leistungsrelevante Angaben verschweigt, um die Hilfebedürftigkeit herbeizuführen, zu verlängern oder zu erhöhen, so z. B. wenn ein legales Arbeitsverhältnis besteht, das dem Jobcenter aber nicht angezeigt oder das Entgelt nicht mitgeteilt wird33, wenn Vermögenswerte sowie Geld- und Sachgeschenke nicht angegeben werden,34 wenn die Wohnung nicht bewohnt wird, für die das Jobcenter die Kosten trägt,35 wenn eine eheähnliche Lebenspartnerschaft verschwiegen und/oder eine Alleinerziehung vorgetäuscht wird36 oder wenn der Tod der sozialleistungsberechtigten Person nicht angezeigt wird37. Ein Unterlassen nach § 13 Abs. 1 StGB ist jedoch nur dann strafbar, wenn der Täter rechtlich dafür einzustehen hat, dass der tatbestandliche Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes

30 BSG, Urt. v. 8. 2. 2007, Az. B 7a AL 22/06 R; BSG, Urt. v. 5. 8. 1999, Az. B 7 AL 38/98 R; BSG, Urt. v. 31. 10. 2007, Az. B 14/11b AS 63/06 R; SG Karlsruhe, Gerichtsbescheid v. 21. 12. 2011, Az. S 13 AS 3059/11; LSG Hamburg, Urt. v. 8. 6. 2011, Az. L 5 AS 29/09. 31 SG Lüneburg, Urt. v. 9. 11. 2006, Az. S 25 AS 163/06; ausführlich dazu WippermannKempf, Die Bedeutung des Leistungsantrags im Sozialrecht, 2003, 58 f. 32 Vgl. LSG Bayern, Urt. v. 30. 11. 2012, Az. L 15 VK 9/09. 33 Hanseatisches OLG, Beschl. v. 11. 11. 2003, Az. II-104/03; AG Braunschweig, Urt. v. 4. 5. 2017, Az. 2 Ds 205 Js 54310/16; SG Stuttgart, Urt. v. 2. 2. 2012, Az. S 5 AL 1673/08. 34 LG Osnabrück, Urt. v. 27. 11. 2020 (Fn. 8). 35 LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 24. 5. 2016 (Fn. 20). 36 LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 11. 4. 2014 (Fn. 10). 37 OLG Braunschweig, Urt. v. 7. 1. 2015, Az. 1 Ss 64/14.

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durch ein Tun entspricht.38 Grundsätzlich ist das bloße Ausnutzen eines Irrtums oder Versehens nicht als Täuschung im Sinne des § 263 StGB zu werten, selbst wenn der Empfänger Kenntnis von der Nichtberechtigung hat.39 Betrugsrelevant ist die Entgegennahme der zu Unrecht geleisteten Zahlungen erst dann, wenn den Empfänger eine Pflicht zur Offenbarung als sog. Garant i. S. von § 13 StGB trifft.40 Das Unterlassen der gebotenen Aufklärung muss dabei einem Tun gleichstehen (Modalitätenäquivalenz).41 Die strafbarkeitsbegründende Pflicht zur Aufklärung eines Dritten über vermögensrelevante Umstände kann aus verschiedenen Gründen herrühren.42 Dabei ist die Pflicht stets darauf gerichtet, unrichtigen oder unvollständigen Vorstellungen des Getäuschten über Tatsachen, die zu einer Vermögensschädigung führen können, durch aktive Aufklärung entgegenzuwirken.43 Eine Verpflichtung zur Aufklärung kann nur in denjenigen Fällen in Betracht kommen, in denen die leistungsberechtigte Person ihrer Mitteilungspflicht (noch) nicht nachgekommen ist, denn es besteht keine Verpflichtung, den Leistungsträger allgemein auf fehlerhaftes oder unterlassenes Verwaltungshandeln hinzuweisen.44 1. Garantenstellung aufgrund Gesetzes Die erforderliche Garantenstellung und die darauf beruhende Mitteilungspflicht ergibt sich nach allgemein herrschender Ansicht im Rahmen des Sozialrechtsverhältnisses kraft Gesetzes aus § 60 Abs. 1 SGB I. Diese Vorschrift umschreibt die allgemeinen sozialrechtlichen Mitwirkungspflichten und ist geeignet, eine Garantenstellung zugunsten der Vermögensinteressen von Sozialleistungsträgern zu begründen.45 Die Mitwirkungspflichten nach § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB I beginnen mit der Antragstellung, z. B. nach § 37 Abs. 1 S. 1 SGB II, und enden zunächst mit dem bindend gewordenen Abschluss des Verwaltungsverfahrens. Soweit es sich insbesondere um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung46 handelt, schließen sich aufgrund des be38

Fischer, StGB, § 263 Rn. 38. Hanseatisches OLG Hamburg, Beschl. v. 11. 11. 2003 (Fn. 33). 40 BGH, Beschl. v. 8. 3. 2017 (Fn. 14), unter Verweis auf BGH, Urt. v. 25. 9. 2014, Az. 4 StR 586/13; BGH, Urt. v. 25. 7. 2000, Az. 1 StR 162/00; BGH, Urt. v. 16. 11. 1993, Az. 4 StR 648/93. 41 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 1. 3. 2012, Az. III 3 RVs 31/12. 42 Fischer, StGB, § 263 Rn. 40 ff. 43 S/S-Perron, StGB, § 263 Rn. 19. 44 OLG Hamm, Beschl. v. 2. 2. 2006, Az. 3 Ss 478/05, mit Hinweis auf OLG Karlsruhe, Beschl. v. 28. 11. 2003, Az. 3 Ss 215/03. 45 Vgl. z. B. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 1. 3. 2012 (Fn. 41); a. A. Bringewat, NStZ 2011, 131 ff. Die Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I sind nicht gegeben, wenn die Leistungen ursprünglich einem Dritten zugestanden haben, denn die Mitwirkungspflicht des § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I bezieht sich allein auf die nach § 13 SGB I beteiligte Person im Sozialrechtsverhältnis, vgl. Floeth, NZS 2013, 189. 46 Dauerwirkung liegt dann vor, wenn sich der Verwaltungsakt nicht in einem einmaligen Gebot oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein 39

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stehenden Sozialrechtsverhältnisses die Mitwirkungspflichten nach § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB I an. Die leistungsberechtigte Person ist dabei verpflichtet, alle Tatsachen anzugeben, die konkret für die Prüfung des Leistungsanspruches, z. B. dem nach § 7 Abs. 1 i. V. m. §§ 9, 11, 12 SGB II, erforderlich sind, was sowohl die leistungsbegründenden und -erhöhenden, aber auch die leistungsausschließenden und -mindernden Tatsachen betrifft.47 Damit werden die Leistungsträger in die Lage versetzt, auf Änderungen in den Verhältnissen mit leistungsrechtlicher Relevanz durch korrigierende Entscheidungen zu reagieren, sodass Nachzahlungen erbracht oder zu erstattende Leistungsüberzahlungen zeitnah errechnet werden können.48 Die Mitwirkungsobliegenheiten gelten auch, soweit in den speziellen Büchern des Sozialgesetzbuches gesonderte Mitwirkungspflichten vorgesehen sind.49 Das Verhältnis der allgemeinen Mitwirkungspflichten des SGB I zu den besonderen Mitwirkungspflichten in den übrigen Büchern bestimmt sich nach § 37 S. 1 SGB I. Aufgrund der Vielschichtigkeit der anzugebenden Tatsachen bedienen sich die Jobcenter nach § 60 Abs. 2 SGB I verschiedener Vordrucke, die der Zweckmäßigkeit des Verwaltungsverfahrens nach § 9 S. 2 SGB X und dem Datenschutz nach § 35 ff. SGB I dienen. Damit kann aber auch die antragstellende Person erkennen, welche Tatsachen i. S. von § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB I zur Prüfung des Leistungsanspruches erforderlich sind. Allerdings kann sich eine Garantenpflicht nur dann ergeben, wenn es sich tatsächlich um eine gesetzliche Mitwirkungspflicht nach § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB I handelt. Erhebliche Zweifel an der Garantenpflicht ergeben sich dann, wenn die Behörde der leistungsberechtigten Person „Mitwirkungspflichten“ auferlegt, obwohl diese die in § 20 SGB X normierte Verfahrensherrschaft selbst auszuüben verpflichtet ist. Die zur Mitwirkung „verpflichtete“ Person übernimmt im sozialrechtlichen Leistungsverfahren bei der Ermittlung und Feststellung der leistungserheblichen Tatsachen nicht die „Prozessrolle“, sondern soll in dem Fall, dass der Amtsermittlungsgrundsatz aus tatsächlichen und/oder rechtlichen Gründen an Grenzen stößt, lediglich mitwirken.50 Das verkennt die Praxis z. B., wenn sie unter Verstoß gegen § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB I zur Vorlage einer Meldebescheinigung auffordert oder eine „Negativbescheinigung“ des SGB III-Trägers verlangt, was zudem im Hinblick auf die verfahrensrechtlichen Rechtsfolgen des § 66 SGB I nicht unbedenklich ist. Umstritten ist allerdings, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen § 60 Abs. 1 S. 2 SGB I eine Garantenpflicht begründen kann. Nach dieser Vorschrift ist mitwirkungspflichtig, wer Leistungen zu erstatten hat. Die eine Mitteilungspflicht auslösende Verpflichtung zur Rückerstattung rechtsgrundlos erlangter Leistungen findet auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand von ihm abhängiges Rechtsverhältnis begründet oder inhaltlich verändert, siehe BT-Drs. 8/2034 S. 34. Dies ist im SGB II insbesondere der Bewilligungsbescheid, der nach § 41 Abs. 3 S. 1 SGB II grundsätzlich für die Dauer eines Jahres gilt und gemäß § 39 Abs. 2 SGB X seine Wirksamkeit durch Zeitablauf verliert. 47 Vgl. Gutzler, Kommentar zum SGB I, § 60 Rn. 18. 48 Klose, in: Haufe (Hrsg.), SGB I-OK, § 60 Rn. 2. 49 BSG, Urt. v. 19. 2. 2009, Az. B 4 AS 10/08 R. 50 Vgl. Bringewat, NStZ 2011, 134.

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ihre Grundlage in dem Erstattungsanspruch nach § 50 SGB X.51 Dies gilt allgemein mit der Einleitung eines Verwaltungsverfahrens zur Rückgewähr der Leistungen bis hin zum materiell-rechtlichen Erstattungsanspruch.52 Inwieweit eine garantenpflichtauslösende Mitwirkungspflicht schon vor dem von Amts wegen eingeleiteten Erstattungsverfahren greift und allein auf das fortbestehende Sozialrechtsverhältnis zu stützen ist, ist umstritten.53 Satz 1, der nach dem Wortlaut der Vorschrift entsprechend anzuwenden ist, setzt einen Antrag auf Sozialleistungen oder deren Empfang voraus und stellt damit diejenige Person, die Leistungen zu erstatten hat, in Bezug auf die Mitwirkungspflicht derjenigen nach Abs. 1 S. 1 gleich. Während § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB I i. V. m. § 37 Abs. 1 S. 1 SGB II ein Antragsverfahren voraussetzt, gilt dies für § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB I gerade nicht, weil unter den von § 60 Abs. 1 Nr. 2 SGB I genannten „Verhältnissen“, deren Änderung die leistungsberechtigte Person anzuzeigen verpflichtet ist, alle tatsächlichen Umstände zu verstehen sind, die für das – außerhalb eines laufenden Antragsverfahrens – bestehenden Sozialleistungsverhältnis Rechtsfolgen zeitigen können.54 Die Mitwirkungspflichten von Leistungsempfängern dienen vor allem im Bereich der Grundsicherung Gemeinwohlbelangen von erheblicher Bedeutung.55 Die Normierung von gesetzlichen Mitwirkungspflichten weist der leistungsberechtigten Person damit auch eine besondere vermögensschutzbezogene Beschützergarantenrolle zu Gunsten des Sozialleistungsträgers zu.56 Bei Leistungen aus Steuermitteln, die ohne Gegenleistung der leistungsberechtigten Person erbracht werden, enden die Mitwirkungspflichten daher nicht automatisch durch Erlass eines bestandskräftigen Bescheides und damit mit Beendigung eines Verwaltungsverfahrens. Zwar trifft die Behörde nach § 20 SGB X eine Amtsermittlungspflicht und im Rahmen von Anträgen auf Weiterbewilligung eine Art „Überwachungsaufgabe“, ob die im Ausgangsverfahren gemachten Angaben noch richtig und vollständig sind, aber trotzdem ist § 60 Abs. 1 S. 2 SGB I dazu bestimmt, durch eine Mitwirkungspflicht beim Leistungsträger diesen in die Lage zu versetzen, die Einleitung eines Erstattungsverfahrens von Amts wegen (vgl. § 18 SGB X) zu prüfen.57 Daraus ist zu schlussfolgern, dass Satz 2 nicht die Einleitung

51 Der Anwendungsbereich ist nicht eröffnet ist, soweit bei rechtmäßig erbrachten, allerdings „subsidiären“ Sozialleistungen andere kostenersatzpflichtige Leistungsträger bestehen (vgl. § 102 SGB XII). 52 Gutzler, Kommentar zum SGBI, § 60 Rn. 43; OLG Hamburg, Beschl. v. 11. 11. 2003, 1 Ss 150/03. Es ist abzulehnen, den Wortlaut der Vorschrift so restriktiv auszulegen, dass ein Verwaltungsakt im Sinne des § 50 Abs. 3 SGB X vorausgesetzt wird, vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 1. 3. 2012 (Fn. 41). 53 Vgl. OLG Braunschweig, Urt. v. 7. 1. 2015 (Fn. 37), mit Verweis auf KG Berlin, Beschl. v. 27. 7. 2012, Az. 3 Ws 381/12 – 141 AR 303/12; OLG Hamburg, Beschl. v. 11. 11. 2003 (Fn. 52). 54 OLG Köln, Urt. v. 11. 8. 2009, Az. 83 Ss 54/09. 55 Klose, SGB I-OK § 60 Rn. 3. 56 A. A. Bringewat, NStZ 2011, 135. 57 A. A. Hanseatisches OLG, Beschl. v. 11. 11. 2003 (Fn. 33).

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eines Verfahrens verlangt.58 Die Mitwirkungspflicht des § 60 SGB I knüpft damit an ein auf den Leistungsbezug gerichtetes Verwaltungsverfahren an und dauert während aller Phasen des Sozialleistungsverhältnisses und auch über den Ablauf des Leistungsbezuges hinaus an.59 Die Mitteilungspflichten sind gerade dazu da, dem Jobcenter die Aufklärung zu erleichtern bzw. zu ermöglichen, ohne selbst umfängliche Nachforschungen betreiben zu müssen.60 Das gilt aus dem Gesetzeskontext nur dann nicht, wenn der Erstattungspflichtige selbst die Sozialleistungen weder beantragt noch erhalten hat, denn dies ist durch den Verweis in § 60 Abs. 1 S. 2 SGB I Voraussetzung für eine Garantenpflicht auslösende Mitwirkungspflicht.61 Insofern gehen Mitwirkungspflicht und Garantenpflicht auseinander.62 Auch das bloße Ausnutzen eines Irrtums oder Versehens ist nicht als Täuschung zu werten, selbst wenn die leistungsempfangende Person erkennt, dass die Leistungsgewährung nicht berechtigt ist, denn die Abhebung einer Sozialleistung stellt keine konkludente Vortäuschung darüber dar, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen noch vorliegen bzw. bei Zahlung vorgelegen haben.63 Die Überweisung des aufgrund eines Verwaltungsaktes festgestellten Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB II stellt verwaltungsrechtlich lediglich einen Realakt dar.64 Die Entgegennahme zu Unrecht geleisteter Zahlungen ist vielmehr erst dann betrugsrelevant, wenn den Empfänger eine Pflicht zur Offenbarung trifft, die für ihn eine Garantenstellung i. S. von § 13 StGB begründet.65 Die Mitwirkungspflichten des § 60 Abs. 1 SGB I treffen nach dessen Satz 1 nur denjenigen, der „Sozialleistungen beantragt oder erhält“ und dazu entweder die Angabe erforderlicher Tatsachen verschweigt oder Änderungen in den tatsächlichen Verhältnissen nicht anzeigt. Daran fehlt es, wenn der Sozialleistungsträger aufgrund eines internen Fehlers Leistungen erbringt, auf die die leistungsempfangende Person keinen oder nur einen geringen Anspruch hat, weil die Zahlung selbst nicht auf der Verletzung einer gesetzlichen Mitwirkungspflicht beruht. Eine Garantenstellung über die Regelung des § 60 SGB I hinaus ist insoweit nicht erkennbar. Da nur vorsätzliches Handeln unter Strafe steht und diese das Wissen des Täters um die Mitteilungspflicht voraussetzt, ist es für den Tatnachweis wichtig, dass der Betreffende auf die Mitteilungspflicht hingewiesen und dieser Hinweis dokumentiert wurde. Die Jobcenter sind daher angehalten, die im Rahmen der Beratungspflicht nach § 14 SGB I gemachten Hinweise zu protokollieren. 58 Pfälzisches OLG Zweibrücken, Urt. v. 14. 8. 2017, Az. 1 OLG 2 Ss 37/17; Hase, in: BeckOK SozR, SGB I § 60 Rn. 11. 59 Ähnlich KG Berlin, Beschl. v. 27. 7. 2012 (Fn. 53). 60 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 1. 3. 2012, Az. III-3 RVs 31/12. 61 KG Berlin, Beschl. v. 27. 7. 2012 (Fn. 53). 62 A. A. Floeth, NZS 2013, 189. 63 OLG Hamm, Beschl. v. 2. 2. 2006 (Fn. 44). 64 Hanseatisches OLG, Beschl. v. 11. 11. 2003 (Fn. 33); BGH, Urt. v. 16. 11. 1993 (Fn. 40). 65 OLG Naumburg, Beschl. v. 13. 5. 2016, Az. 2 Rv 31/16.

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2. Garantenstellung aufgrund eines besonderen Vertrauensverhältnisses Weiterhin kann sich eine Aufklärungspflicht aus Vertrag ergeben, wenn sich aus einem besonderen Vertrauensverhältnis die Pflicht einer Vertragspartei ergibt, auch ohne Nachfragen der anderen Seite, solche Umstände zu offenbaren, die für deren Entscheidung erheblich sind und daher eine besonders begründeten Einstandspflicht für das Vermögen des anderen besteht.66 Die mit den Leistungsberechtigten abzuschließende Eingliederungsvereinbarung nach § 2 Abs. 1 SGB II ist zwar als öffentlich-rechtlicher Vertrag nach § 53 SGB X anerkannt,67 allerdings kann sich daraus keine besondere vertragliche Aufklärungspflicht ergeben. Nach § 15 Abs. 2 SGB II soll die Agentur für Arbeit zwar mit jeder erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person die für ihre Eingliederung erforderlichen Leistungen in einer Eingliederungsvereinbarung vereinbaren, in der bestimmt werden soll, welche Leistungen zur Eingliederung in Ausbildung oder Arbeit nach diesem Abschnitt die leistungsberechtigte Person erhält und welche Bemühungen erwerbsfähige Leistungsberechtigte in welcher Häufigkeit zur Eingliederung in Arbeit mindestens unternehmen sollen und in welcher Form diese Bemühungen nachzuweisen sind. Gemäß § 1 Abs. 3 SGB II umfasst die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Nr. 1 Leistungen zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Eingliederung in Arbeit (sog. aktive Leistungen) und nach Nr. 2 die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (sog. passive Leistungen). § 15 Abs. 1 S. 1 SGB II bezieht sich ausschließlich auf die aktiven Leistungen. Nach der Gesetzesbegründung68 enthält die Eingliederungsvereinbarung daher lediglich verbindliche Aussagen zum Fördern und Fordern der erwerbsfähigen Person, insbesondere zu den abgesprochenen Leistungen zur Eingliederung in Arbeit und Mindestanforderungen an die eigenen Bemühungen um berufliche Eingliederung nach Art und Umfang und ist damit der inhaltlichen Verbindung zu den passiven Leistungen verschlossen.69 Leistungen zur monatlichen Grundsicherung sind bei Vorliegen der gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen als gesetzlich gebundene Leistung verpflichtend zu erbringen. Es besteht diesbezüglich keine Disponibilität, was bedeutet, dass kein synallagmatisches Verhältnis zwischen passiven und aktiven Leistungen besteht. Ansonsten würden die passiven Leistungen von vornherein und vollständig unter die aufschiebende Bedingung eines gewünschten Verhaltens gestellt. Dafür findet sich im SGB II keine gesetzliche Grundlage.70 Das Verhältnis zwischen dem Jobcenter und der leistungsbeziehenden Person ist weder von besonderem gegenseitigem Vertrauen getragen, noch 66

Vgl. z. B. LG München, Beschl. v. 11. 4. 2017, Az. 5 KLs 403 Js 177245/14. Die Diskussion, inwieweit es sich um einen hinkenden Austauschvertrag oder eine andere Form des öffentlichrechtlichen Vertrages handelt, kann hier dahin gestellt bleiben, da die Einordnung als Vertrag nach § 53 SGB X unstrittig ist, soweit die EGV nicht nach § 15 Abs. 3 S. 2 SGB II per Verwaltungsakt erlassen wird, vgl. Diskussion BSG, Urt. v. 2. 4. 2014, Az. B 4 AS 26/13 R. 68 BT-Drs. 15/1516, S. 54. 69 Vgl. BSG, Urt. v. 2. 4. 2014 (Fn. 67). 70 Vgl. BSG, Urt. v. 2. 4. 2014 (Fn. 67). 67

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erfordert es ein gegenseitiges Vertrauen. Die beiderseitigen Rechte und Pflichten ergeben sich schlicht aus dem Gesetz.71 Die Rechtsprechung nimmt eine Aufklärungspflicht bezüglich vermögensrelevanter Tatsachen auch bei der Anbahnung besonderer, auf gegenseitigem Vertrauen beruhender Verbindungen an, bei denen Treu und Glauben und die Verkehrssitte die Offenbarung der für die Entschließung des anderen Teils wichtiger Umstände gebieten, was insbesondere auf die Begründung gesellschaftsrechtlicher Rechtsverhältnisse und bei Verträgen über Vermögensangelegenheiten zutrifft.72 Gefordert werden von der Rechtsprechung „besondere Umstände im zwischenmenschlichen Bereich“73. Die Eingliederungsvereinbarung als einzige Möglichkeit vertraglicher Verbindung im öffentlich-rechtlichen Verhältnis statuiert aber keine Aufklärungspflicht, da dabei nicht der Schutz der Solidargemeinschaft vor unberechtigten Zahlungen, sondern die Eingliederung in den Arbeitsmarkt Vertragsinhalt ist. Das Sozialrechtsverhältnis begründet als solches keine „besonderen Umstände im zwischenmenschlichen Bereich“, da dieses durch die rechtlichen Vorschriften des Sozialgesetzbuches ausschließlich geregelt werden.74

V. Vermögensschaden Die Tatvollendung verlangt eine eingetretene Minderung des geschützten Vermögens derart, dass sich bei einem Vergleich des Vermögenswertes vor und nach der tatbestandsmäßigen Handlung ein negativer Saldo ergeben muss.75 Dies erfordert in Fällen des Sozialleistungsbetruges die Darlegung einer Berechnung des Anspruchs, der nach den für die Leistungsbewilligung geltenden Sozialvorschriften bestanden hat, und dessen Gegenüberstellung zu den tatsächlich erhaltenen Sozialleistungen, was sowieso im Zuge eines Aufhebungs- und Erstattungsverfahren aufgrund der Regelung des § 33 Abs. 1 SGB X notwendig ist.76 Um den Eintritt eines Schadens zu belegen, muss daher aus den Feststellungen in nachvollziehbarer Weise hervorgehen, dass und inwieweit nach den tatsächlichen Gegebenheiten auf die sozialrechtliche Leistung kein oder ein verminderter Anspruch bestand.77 Erst dann genügt ein 71

OLG Köln, Urt. v. 11. 8. 2009 (Fn. 54). So etwa BGH, Urt. v. 16. 11. 1993 (Fn. 40); BGH, Urt. v. 4. 8. 2016, Az. 4 StR 523/15; BGH, Beschl. v. 8. 3. 2017 (Fn. 14). mit Verweis auf RG, Urt. v. 30. 1. 1931, Az. I 1387/30 und BGH, Urt. v. 4. 8. 2016, Az. 4 StR 523/15. 73 OLG Köln, Urt. v. 5. 2. 1980, Az. 1 Ss 1134/79. 74 Vgl. OLG Naumburg, Beschl. v. 13. 5. 2016 (Fn. 65); Pfälzisches OLG Zweibrücken, Urt. v. 14. 8. 2017 (Fn. 58). 75 Vgl. BGH, Beschl. v. 22. 11. 2012, Az. 1 StR 537/12. 76 OLG Dresden, Urt. v. 25. 4. 2014, Az. 2 OLG 24 Ss 778/13; OLG Koblenz, Beschl. v. 1. 12. 2014, Az. 1Ss 21/13. 77 BGH, Urt. v. 22. 3. 2016, Az. 3 StR 517/15 unter Bezugnahme auf OLG Hamm, Beschl. v. 17. 8. 2015, Az. 5 RVs 65/15. 72

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Urteil den aus Art. 103 Abs. 2 GG resultierenden verfassungsrechtlichen Vorgaben, den Vermögensnachteil der Höhe nach zu beziffern und dessen Ermittlung in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise darzulegen.78 Das bedeutet, dass sich das Gericht in einem Urteil nicht mit einem allgemeinen Verweis auf die behördliche Schadensaufstellung begnügen darf.79

VI. Sonstige Sanktionsvorschriften Außerhalb eines Straftatbestandes kommt nach § 63 Abs. 1 Nr. 6 und/oder Nr. 7 SGB II eine Ordnungswidrigkeit in Betracht. Ordnungswidrig handelt danach, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB I eine Angabe nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig macht oder entgegen § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB I eine Änderung in den Verhältnissen, die für einen Anspruch auf eine laufende Leistung erheblich ist, nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig mitteilt. Die Ordnungswidrigkeit kann in diesen Fällen nach Absatz 2 mit einer Geldbuße bis zu 5.000 Euro geahndet werden. § 63 Abs. 1 Nr. 6 SGB II knüpft an die Mitwirkungspflichten bei der Antragstellung an, wobei für die Tatbestandsmerkmale „nicht vollständig“ und „nicht rechtzeitig“ in der Praxis in Hinblick auf die Amtspflichten der §§ 16 Abs. 2, 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I kaum ein Anwendungsbereich verbleibt. Die Ordnungswidrigkeit ist ein reines Handlungsdelikt und kann daher – anders als § 263 StGB – nicht als Unterlassungsdelikt begangen werden.80 Die Mitwirkungspflicht bezieht sich dabei auf alle leistungserheblichen81 Tatsachen, auch wenn darauf – entgegen der Regelung des § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 SGB II – nicht explizit hingewiesen wird. Aber dies ergibt sich aus dem ausdrücklichen Verweis auf § 60 Abs. 1 SGB I. Keine Ordnungswidrigkeit liegt dann vor, wenn die mitwirkungspflichtige Person zwar fehlerhafte Angaben macht, diese sich aber weder auf den Anspruch noch auf die Höhe der Leistung auswirken.82 Zu den Mitwirkungspflichten nach § 60 Abs. 1 SGB I gehören demnach Auskünfte bzw. Angaben, gegebenenfalls auch einen Dritten betreffend, soweit dies für die Gewährung der beantragten Leistung von Bedeutung ist.83 Demgemäß ist bei einem Antrag auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen insbesondere das Ein78

BGH, Beschl. v. 8. 3. 2017 (Fn. 14), unter Verweis auf BVerfG, Beschl. v. 23. 6. 2010, Az. 2 BvR 2559/08. 79 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6. 11. 2000, Az. 2a Ss 271/00 – 62/00 II. 80 Wieser, Ordnungswidrigkeiten bei der Grundsicherung von Arbeitsuchenden (SGB II), 2021, 114. 81 Ob und inwieweit Tatsachen leistungserheblich sind, ist im Einzelfall zu beurteilen, da sich dies nach den Anspruchsvoraussetzungen, der Höhe und dem Fortbestand der Leistung bestimmt, vgl. Gutzler, Kommentar zum SGB I, § 60 Rn. 20; die Leistungserheblichkeit darf deshalb vom Jobcenter nicht unterstellt werden, vgl. Wieser (Fn. 80), 116. 82 Wieser (Fn. 80), 116. 83 Vgl. z. B. BSG, Beschl. v. 25. 2. 2013, Az. B 14 AS 133/12 B.

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kommen bzw. Vermögen einer Person, die mit der antragstellenden Person in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, leistungserheblich.84 Allerdings geht diese Pflicht nicht soweit, als dass die antragstellende Person verpflichtet wäre, Beweismittel von Dritten zu beschaffen und vorzulegen, insbesondere, wenn diese dazu nicht bereit sind.85 In solchen Fällen kann nur verlangt werden, ungefähre Angaben über die Höhe etwaigen Einkommens oder Vermögens des Partners zu machen, soweit die antragstellende Person über eine entsprechende Tatsachenkenntnis verfügt.86 Die Ordnungswidrigkeiten des § 63 Abs. 1 SGB II setzen im Bereich des subjektiven Tatbestandes Vorsatz oder Fahrlässigkeit voraus. Obwohl § 63 SGB II keine Definition der beiden Begriffe enthält, kann man bei der Begriffsbestimmung auf die allgemeinen Grundsätze zurückgreifen. Vorsatz bedeutet daher Wissen und Wollen hinsichtlich der Tatbestandsverwirklichung.87 Fahrlässig handelt unter Rückgriff auf § 276 Abs. 2 BGB, wer die im Rechtsverkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, weil nahe liegende Überlegungen nicht angestellt und daher nicht beachtet werden.88 Die Reduzierung der Fahrlässigkeit auf lediglich grob fahrlässiges Handeln kennt das Sozialrecht zwar auch,89 aber nicht im Ordnungswidrigkeitenrecht. Die Prüfung des subjektiven Tatbestandes spielt in der Praxis eine große Rolle, da die Jobcenter die Beweislast dafür tragen. Allein fehlerhafte Angaben oder der Verbrauch zu Unrecht gewährter Leistungen kann daher nicht zur Erfüllung der Ordnungswidrigkeit führen. Das Bestehen eines vorsätzlichen Handelns wird sich in der Praxis selten beweisen lassen, es sei denn, es werden im Rahmen der Anhörung dahingehend Eingeständnisse gemacht. So obliegt es der Verwaltungsbehörde nachzuweisen, dass die betroffene Person Mitteilungspflichten, die sie kannte oder kennen musste, nicht nachgekommen ist, obwohl sie in der laienhaften Bewertung der Umstände erkannt hatte oder hätte erkennen müssen, dass dies für die Leistungsgewährung erheblich ist.90 Insofern geben insbesondere die auszufüllenden Formulare91 der antragstellenden Person wichtige Informationen, welche Angaben die Behörde zur Ermittlung eines Leistungsanspruches benötigt. Ergänzende Hinweise geben die Ausfüllhinweise und die Merkblätter im SGB II, die umfangreich und zum Teil auch in verschiedenen Sprachen erhältlich sind, wobei sprachliche Schwierig-

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LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 7. 3. 2012, Az. L 10 AS 97/09. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 22. 9. 2016, Az. L 7 AS 3613/15; LSG NiedersachsenBremen, Beschl. v. 14. 1. 2008, Az. L 7 AS 772/07 ER. 86 LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 26. 4. 2012, Az. L 18 AS 2167/11. 87 Kindhäuser/Hilgendorf, StGB, Lehr- und Praxiskommentar, 9. Aufl. 2022, § 15 Rn. 12. 88 Vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 13. 5. 2019, Az. 12 ZB 17.2067. 89 Vgl. § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X. 90 Sog. „Parallelwertung in der Laiensphäre“, z. B. vgl. BSG, Urt. v. 18. 2. 2010, Az. B 14 AS 76/08 R. 91 Vgl. § 60 Abs. 2 SGB I, wobei eine Pflicht zum Ausfüllen bereit gestellter Formulare entgegen der oftmals in der Praxis gemachten Äußerungen nicht besteht. 85

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keiten grundsätzlich die Sorgfaltspflichten nicht mindern.92 Der Umstand, dass sich eine antragstellende Person keine Gedanken zu den abgefragten Informationen in den Antragsformularen macht und dementsprechend bei einer Vorsprache beim Jobcenter zur Antragstellung weder nachgefragt noch zu erkennen gibt, dass sie den Inhalt der Formulare nicht erfasst hat, begründet fahrlässiges Handeln, wenn sie sich nicht ausreichend darum bemüht, die an sie gerichteten Fragen vollständig zu erfassen und zu beantworten.93 Im Hinblick auf § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB I i. V. m. § 63 Abs. 1 Nr. 7 SGB II sind daher insbesondere alle Veränderungen bezüglich der im Antragsverfahren gemachten Angaben unverzüglich mitzuteilen, denn den Adressaten eines Bewilligungsbescheids trifft die Obliegenheit, diesen zu lesen, zur Kenntnis zu nehmen und offensichtliche Unterschiede zwischen den gemachten und „verarbeiteten Angaben“ anzuzeigen.94 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Tatbestand des Betruges nach § 263 StGB sowohl durch positives Tun als auch durch Unterlassen begangen werden kann, wobei auf subjektiver Seite Vorsatz und Bereicherungsabsicht gegeben sein müssen. Dagegen stellt die Ordnungswidrigkeit nach § 63 SGB II ein reines Handlungsdelikt dar, das auf subjektiver Seite mindestens Fahrlässigkeit verlangt. Die Praxis steht vor der Herausforderung, zum Schutz der Solidargemeinschaft vermögensschädigendes Verhalten durch Beratung und Aufklärung zu verhindern bzw. bei Eintritt konsequent zu verfolgen und zeitnah abzuschließen oder an die Staatsanwaltschaft abzugeben, auch wenn die Anzahl der Straftaten im Verhältnis zu der Anzahl der Leistungsbewilligungen eher gering ist.

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LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 9. 3. 2017, Az. L 4 AS 61/14; vgl. zu den Sorgfaltspflichten ausländischer antragstellenden Personen auch LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 6. 12. 2000, Az. L 5 AL 4372/00; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13. 5. 2009, Az. L 3 AL 3823/06. 93 LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 9. 3. 2017 (Fn. 92). 94 BSG, Urt. v. 1. 7. 2010, Az. B 13 R 77/09 R.

Sterbehilfe in der Endphase des menschlichen Lebens in Japan Eine Betrachtung anlässlich des Urteils des deutschen BVerfG vom 26. 2. 2020 Keiichi Yamanaka

I. Problemstellung Dieser Beitrag bezweckt, die Grundidee der Sterbehilfe im Lichte des Urteils des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das § 217 dStGB als verfassungswidrig beurteilte,1 aus der Sicht des japanischen Strafrechts zu betrachten. Dazu wird eine neuere Ansicht zur Sterbehilfe2 in Japan geprüft, wonach der Wille des Patienten, eine medizinische Therapie nicht einzuleiten oder abzubrechen, wie im Urteil des BGH zum Fall „Putz“3 eine entscheidende Rolle spiele. Dabei ist ein grundlegender Unterschied in der Rechtslage der beiden Länder zu berücksichtigen: Während in Deutschland die Beihilfe zum Suizid straffrei ist, sind in Japan verschiedene Formen der Beteiligung am Suizid unter Strafe gestellt.4 Der Jubilar hat im Zusammenhang mit der Identifizierung von Tun und Unterlassen beim Behandlungsabbruch auf die Gefahren hingewiesen, die mit einer Argumentation „vom Ergebnis her“ verbunden sind.5 In meiner folgenden Betrachtung werde ich mir dies als Warnung dienen lassen.

II. § 217 dStGB und das Urteil des BVerfG In Deutschland wurde mit dem am 3. 12. 2015 beschlossenen „Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ die ausnahmslose Straflosigkeit der Suizidteilnahme im deutschen Strafrecht beendet. Die neue Strafvor1

BVerfGE 153, 182. Soweit vorliegend der Begriff der „Sterbehilfe“ verwendet wird, erfasst dieser teilweise, besonders bei Erwähnung des japanischen Strafrechts, auch die Anstiftung zur Selbsttötung, die Tötung auf Verlangen und die Tötung mit Einwilligung des Opfers. 3 BGHSt 55, 191. 4 Ausführlich zu diesem Thema in Japanisch Yamanaka, Medizinstrafrecht, Band II, 2021, besonders Kap. 4, 619 ff., 815 ff. 5 Joerden, FS Roxin, Band 1, 2011, 593 (606). 2

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schrift des § 217 dStGB wurde auf widersprüchliche Grundgedanken gestützt: Einerseits sollte das Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht in Frage gestellt werden, andererseits sollte zum Schutz der Selbstbestimmung die Entstehung einer Suizidkultur verhindert werden.6 Dieser Widerspruch bewirkte viele Inkonsequenzen hinsichtlich der Frage des geschützten Rechtsguts, der systematischen Einordnung und der Auslegung des Tatbestandes. Es verwundert daher nicht, dass § 217 dStGB heftiger Kritik ausgesetzt war. Am 26. 2. 2020 erklärte das Bundesverfassungsgericht den Straftatbestand für verfassungswidrig. Der verfassungswidrige Zustand ist damit beendet, und zwar in der rigorosesten der denkbaren Formen, mit einem das Gesetz und den Gesetzgeber treffenden „Schwerthieb“.7 Dem Urteil zufolge ist das Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung eine Verletzung des existenziell bedeutsamen Rechts auf selbstbestimmtes Sterben, das Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist. Das Verbot diente zwar legitimen Zielen des Gemeinwohls, die Freiheitseinschränkung war jedoch nicht verhältnismäßig.8 Nach dem Urteil ist das Recht auf selbstbestimmtes Sterben folgendermaßen zu verstehen: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. (…) Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. (…) Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. (…) Dieses Recht besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“9

Alle lebensmüden Menschen sollten danach das Recht haben, eine Hilfe zur Selbsttötung durch einen Dritten oder einen einschlägigen Verein zu erhalten, wenn sie von diesem Recht Gebrauch machen wollen, egal ob sie alt, arm, an unerwiderter Liebe leidend oder einsam sind.

III. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben in Japan Die Anerkennung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ist in Deutschland der Ausgangspunkt der straffreien Beihilfe zur Selbsttötung. Menschen haben das Recht, jederzeit und aus jedem Grund das eigene Leben zu beenden. Aber meines Erachtens ist dieses Recht – trotz seiner ein6

BT-Drucksache 18/5737, 2. Hillenkamp, JZ 2020, 618 f. 8 BVerfGE 153, 182. 9 BVerfGE 153, 182 (263). 7

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drucksvollen Anerkennung durch das Gericht – entgegen der Entscheidung nicht immer willkürlich und ohne rationalen Grund auszuüben. Wenn einem die Freiheit zum Suizid zuerkannt wird, handelt man doch rational und utilitaristisch angesichts seines Zweckes. Der Mensch handelt nach dem Prinzip, Lust oder Freude zu suchen und Unlust oder Schmerz zu vermeiden. Wenn das Leben für ihn wenigstens relativ zufriedenstellend ist, wählt er nicht den tödlichen Schmerz. Der Mensch, der die Selbsttötung erwählt, will irgendeinen anderen Schmerz für ihn oder für andere vermeiden. Daraus folgt, dass die beste Methode, Selbsttötungen zu verhindern, die Beseitigung der Ursachen des Schmerzes ist. Im Jahr 2020 wurden in Japan 10.195 von 21.081 Selbsttötungen wegen gesundheitlicher Probleme vorgenommen.10 Die Beseitigung der Ursache, also die Heilung einer schweren Krankheit, kann in diesen Fällen schwierig sein. Die zweitbeste Methode ist es, die Auswirkungen der unheilbaren Krankheit auf die Psyche durch Angebote, die Freude schaffen und wenigstens das Gefühl der Beeinträchtigung des Lebens des Patienten durch die Krankheit verringern, zu verbessern. Wenn die allgemeine Bejahung des Rechts auf Selbsttötung als die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts eine solche Behauptung wäre, wie sie für die jederzeitige, willkürliche Entscheidung für die Selbsttötung gilt, wäre sie eine leere Prinzipienreiterei. Der Suizid bedeutet für die Sterbewilligen eine letzte Fluchtmöglichkeit, um einer anderen ungünstigen, unvermeidbaren Notlage zu entgehen. Die Selbsttötung ist in einem Sinne eine utilitaristische und rationelle Entscheidung, um die als unerträglich erscheinende Notlage zu vermeiden, obwohl dies auch den Verzicht auf die unentbehrliche Grundlage der Freiheit und Persönlichkeit, das Leben, bedeutet. Wenn man so denkt, ist die Selbsttötung kein Problem der unbeschränkten Selbstbestimmung,11 sondern das Problem des Auswahlrechts als utilitaristische Entscheidung auf Basis der Interessenabwägung. Man wählt in der Regel die Selbsttötung nicht ohne Grund, also nicht, wenn das Leben ein erfreuliches oder wenigstens nicht sehr elendes bzw. schmerzhaftes ist. Man begeht nur dann eine Selbsttötung, wenn das Sterben als einziger und letzter Weg zur Flucht vor größeren Schmerzen angesehen wird. Es wäre ausreichend, nur dafür ausnahmsweise ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ anzuerkennen. Deswegen sollte der Staat eine Politik entwickeln, die den Patienten während des hoffnungslosen Kampfs gegen die Krankheit ein Leben mit weniger Leid ermöglicht. Würde der Gesetzgeber trotz der allgemeinen Anerkennung eines Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in der Verfassung ein Gesetz gegen Selbsttötung einführen, würde ein Widerspruch innerhalb einer verfassungsrechtlichen Rechtsordnung entstehen, selbst wenn eine Beschränkung auf ein verwaltungsrechtliches Verbot erfol10 Statistik des Ministeriums für Gesundheit und Arbeit usw., „Gründe oder Motivation für den Suizid unter den aufgeklärten Fällen“ auf Basis der Untersuchung vom 16. 3. 2021. 11 Nicht rechtswissenschaftlich, sondern philosophisch lässt sich zwar für das Selbstbestimmungsrecht zur Selbsttötung argumentieren, aber verfassungsrechtlich kann es nur in der relativen Betrachtung zu anderen Rechten, und zwar dem Recht auf Leben, begründet werden.

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gen würde,12 traditionelle moralische Sozialnormen betont würden oder die Regelung aufgrund einer Religion getroffen würde. In der deutschen modernen Gesellschaft würde ein gesetzliches Verbot der freiverantwortlichen Selbsttötung als unerlaubt und antiliberalistisch gelten. Es ist nicht ohne Zweifel, ob man das Recht auf selbstbestimmtes Sterben so wie das Recht auf Leben als ein absolutes menschliches Recht ansehen muss. Nach meinem Dafürhalten genügt es, dieses Recht an eine rationale Begründung zu knüpfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in Deutschland zu einer Liberalisierung und Befreiung von der Religion oder moralischen Sitte. Die christliche Lehre, auf der das Suizidverbot beruht, fungierte als eine althergebrachte, aber immer noch teilweise geltende Sozialnorm. Sie spielt eine Rolle bei der Verhinderung der Durchsetzung des Suizidrechts. Wenn ein Land keine solche Sitte hätte, wäre es erforderlich, eine neue Norm für das Verbot der Selbsttötung zu schaffen.

IV. Geschichtlicher Hintergrund der Selbsttötung und Strafbarkeit der Beteiligung am Suizid Zuerst sei ein Fall, der sich 2019 in Japan ereignete, dargestellt. Der Fall zeigt den Gegensatz und Konflikt zwischen dem psychischen Zustand des den Tod wünschenden, noch nicht in der Endphase des menschlichen Lebens befindlichen Patienten und der Wichtigkeit der Gewähr des Lebensrechts von solchen Patienten durch den Staat und die Gesellschaft: Eine Patientin aus Kyoto, die an ALS erkrankt war, suchte über ein SNS (Social Networking Service) nach einem Arzt, der sie töten würde. Zwei Ärzte, der eine in Tokyo und der andere in Sendai wohnend, die sich schon seit der Zeit ihres Studium kannten,13 erklärten sich zur Tötung bereit. Sie besuchten die Patientin, die ihnen dafür etwa 10.000 E an Honorar überwiesen hatte, zu Hause und töteten sie entsprechend ihrem Willen mit einem Sedativ aus Barbitursäure. Die Handlungen der Ärzte lassen sich in Japan keineswegs als erlaubte Sterbehilfe rechtfertigen. In den Medien überwog die Meinung, das Vorsorgesystem für Patienten mit einer unheilbaren Krankheit, die im Alltagsleben auf Hilfe angewiesen sind, müsse ausgebaut werden. Auf die Diskussion über erlaubte Sterbehilfe wurde kaum eingegangen.14 12 Der Vorschlag von Roxin sieht vor, dass das öffentliche Angebot der Förderung von Selbsttötung als Ordnungswidrigkeit strafbar sein soll; Roxin, NStZ 2016, 185 (190). 13 Zuletzt wurden die beiden Ärzte und die Mutter eines der Ärzte wegen Tötung des erkrankten Vaters angeklagt, die bereits vor etwa 10 Jahren stattgefunden hatte. Der Verdacht ergab sich aus Anlass der Durchsuchung des Computers. 14 Es gibt in Japan eine Einrichtung für die Pflege von Schwerbehinderten, auch durch Hausbesuche. Das Gesetz zur gesamten Unterstützung für behinderte Menschen, das als „Gesetz zur Selbständigkeitsförderung“ am 3. 12. 2010 eingeführt wurde, wurde am 1. 4. 2013 reformiert. Es regelt das Angebot der gesamten Pflege für dauernde Unterstützung benötigende Personen mit körperlicher oder geistiger Behinderung durch einen sie besuchenden Pfleger. Der Gegenstand der Pflege wurde am 1. 4. 2014 erneut erweitert.

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Wie der aktuelle Fall zeigt, wird in Japan die Meinung, nach der es wichtig ist, dass der Staat auf die Gesellschaft baut und Sterbewillige eher weiterleben sollen, immer noch stark vertreten. Vom Staat wird nicht die Gewährleistung des „Rechts auf selbstbestimmtes Sterben“, sondern des „Rechts auf Leben“ verlangt. Auch in der wissenschaftlichen Lehre ist die Meinung, die für ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ eintritt, selten zu finden. Zu erklären ist dies mit der japanischen Geschichte und vergangenen, aber in anderer Gestalt verbliebenen Gebräuchen hinsichtlich des Suizids. Bekannt ist die Selbsttötung durch Harakiri (Leib-Aufschlitzen) der Samurai (Ritter). Harakiri (auch Seppuku genannt) war eine Ehrenstrafe für die Klasse der Samurai. Der Samurai wurde zur Übernahme seiner Verantwortung durch Harakiri gezwungen. Sitte war auch der Opfertod eines Samurai nach der Selbsttötung seines Herrn, um seine Loyalität zu zeigen.15 Die Selbsttötung hatte darüber hinaus den Sinn des Protests gegen falsche Verhaltensweisen machthabender Personen oder ungerechte Machtausübung.16 Die Selbsttötung hatte also zwei Seiten: Sie war einerseits eine erzwungene Pflicht und andererseits eine freie, adlige Verhaltensweise. Das frühere japanische StGB von 188017, das erste Strafgesetzbuch mit europäischem Einfluss, regelte die „Straftaten betreffend Selbsttötung“ in Buch 3, Kapitel 1, Abschnitt 5. Nach § 320 a. F. jap. StGB waren die Anstiftung zur Selbsttötung, die Tötung auf Verlangen und die Beihilfe zur Selbsttötung strafbar. Hinzu kam ein erschwerender Tatbestand für die Anstiftung zur Selbsttötung in gewinnsüchtiger Absicht. Die Vorschriften bezweckten die Überwindung der aus Sicht der europäischen Mächte als „barbarisch“ angesehenen Sitte der Selbsttötung.18 In der Gesetzesbegründung wurde klargestellt, dass man kein Recht hat, sich zu töten. Die Bestrafung der Selbsttötung wurde folgendermaßen erklärt: Da die Selbsttötung die Gesellschaft nicht unmittelbar verletze, sei nur der Beteiligte an der Selbsttötung zu bestrafen. Heutzutage beeinflusst diese schlechte traditionelle Sitte die Verhaltensweise der Leute nicht mehr sonderlich. Aber unter den immer noch unter dem starken Druck der Umgebung lebenden Kranken und Alten dürfte es eine nicht geringe Zahl an Menschen geben, die denken, dass ihr Dasein eine Belastung für andere oder die Gesellschaft ist. Sie wählen die Selbsttötung als eine letzte Lösung für diese Situation. Auch wenn sie sich augenscheinlich frei und selbstverantwortlich dazu entschließen, 15 Bekannt ist der Opfertod von Marschall Maresuke Nogi, der nach dem Tod des MeijiTennos 1912 Suizid begangen hat. 16 Die am 7. 3. 2018 erfolgte Selbsttötung des bei einem lokalen Finanzamt angestellten Beamten Toshio Akagi, der von einem Vorgesetzten im Finanzministerium angewiesen wurde, Urkunden zur Verbergung eines Skandals im Kabinett Shinzo Abe zu fälschen, hatte die Bedeutung eines Protests. 17 Dazu vgl. Yamanaka, Einführung in das japanische Strafrecht, 2018, 48 ff. 18 Gustave Emile Boissonade, der als Franzose das alte jap. StGB entworfen hat, betonte, dass die altmodischen Sitten des Harakiris zerstört werden müssten. Die Beteiligung an einem Suizid verletze das „Gemeingut“ des Lebens des Anderen.

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haben sie sich in Wahrheit widerwillig nur wegen des schweigenden Drucks der Gesellschaft dazu entschieden.

V. „Freitod“ unter der formell demokratischen Verfassung Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewährte die neue japanische Verfassung das Recht auf Achtung aller Bürger als Einzelperson (§ 13 Verf.). In diesem Artikel heißt es weiter: „Ihr Recht auf Leben, Freiheit und ihr Streben nach Glück ist, soweit es nicht dem öffentlichen Wohl entgegensteht, bei der Gesetzgebung und in anderen Regierungsangelegenheiten, in höchstem Maße zu erwägen.“ Trotz der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Rechts auf Leben ist dieses in der Realität der japanischen Gesellschaft wenig verwurzelt. Das Oberste Gericht (OG) hat in der Nachkriegszeit in einem bekannten Urteil festgestellt: „Das Leben ist würdig und hochwertig. Das Leben der Einzelperson wiegt schwerer als die ganze Erde. Die Todesstrafe ist die unerbittlichste Strafe unter allen Strafen und in Wahrheit eine allerletzte Strafe, die gerade deshalb notwendig und nicht ersetzbar ist, weil sie das Leben an sich, das das Fundament des würdigen menschlichen Daseins ist, auf ewig raubt.“19 Damit erklärte das OG die Todesstrafe als verfassungskonform. Die Todesstrafe besteht in Japan bis heute und wird von etwa 80 % der Bürger unterstützt.20 Die praktische Geringschätzung des Lebens durch das OG dürfte mit dazu beigetragen haben, dass sich viele schwächere Menschen unter dem Druck der Gesellschaft selbst töten. In dieser Sozialstruktur bringt die laute Betonung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben viele unerwünschte Selbsttötungen unter dem Deckmantel der „freien“ Entscheidung des Suizidenten mit sich. Ein Überblick über die Statistik zu Selbsttötungen in Japan: Die Anzahl der Suizidenten hängt von der wirtschaftlichen Lage in Japan ab. In der Zeit der Hochkonjunktur war sie gering (etwa 20.000 bis 25.000 Selbsttötungen pro Jahr von 1978 bis 1997). Mit der Verschlechterung der Konjunktur stieg sie rasch an (32.863 Personen im Jahr 1998; 34.427 Personen im Jahr 2003). Seit 2009 nimmt die Anzahl wieder ab. 2020 waren es 21.081 Personen. Ursachen der Selbsttötung waren im Jahr 2020 vornehmlich Finanz- oder Lebensprobleme (über 30 %) und an zweiter Stelle familiäre Probleme (weniger als 30 %). Gesundheitsprobleme als Ursache betrafen etwa 10 % (10.195 Personen) der Suizidenten. Würde die Strafvorschrift für die Beteiligung am Suizid trotz dieser Situation und Sozialstruktur gestrichen, fühlten sich Alte oder Schwerkranke gegenüber Familie oder Gesellschaft umso mehr zur Selbsttötung verpflichtet, und es würden Vereine für die Hilfe zur Selbsttötung, sogar Organisationen für die Durchführungen von Tötung auf Verlangen entstehen.

19 20

Urteil des OG vom 12. 3. 1948, Keishu Band 2, H. 3, 191. Vgl. Yamanaka, FS Yoshino, 2019, 359 (380 f.).

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VI. Sterbehilfefälle in der Rechtsprechung § 202 jap. StGB sieht für die Tötung auf Verlangen, die Tötung mit Einwilligung des Opfers sowie die Anstiftung und Beihilfe zum Suizid einen niedrigeren Strafrahmen als für die Tötung nach § 199 jap. StGB vor. Die Beteiligung am Suizid ist jedenfalls strafbar. Die Selbsttötung ist selbstverständlich straflos, aber es ist umstritten, ob sie eine rechtswidrige Handlung darstellt.21 In manchen Entscheidungen wurde diskutiert, ob die Sterbehilfe straflos bleiben sollte, aber in der bisherigen Rechtsprechung wurde noch kein Arzt, der Sterbehilfe begangen hat, freigesprochen. 1. Tokai-Uniklinik-Fall22 Der Sohn eines in der Endphase des menschlichen Lebens befindlichen Patienten verlangte vom behandelnden Arzt den Abbruch der Heilbehandlung. Der Arzt unterbrach daraufhin die Zufuhr einer Injektion. Als der Sohn sah, wie sein Vater qualvoll schwer atmete, verlangte er vom Arzt die sofortige Tötung. Daraufhin spritzte der Arzt dem Patienten ein Medikament (Verapamil), das die Atmung kontrollierte, sowie Kaliumchlorid, das zum sofortigen Tod führt. Dadurch starb der Patient wegen Herzstillstandes. Das LG Yokohama hat Folgendes festgestellt: Der Abbruch der Heilbehandlung ist unter den unten genannten Voraussetzungen erlaubt: einerseits auf Grund der Lehre vom Selbstbestimmungsrecht, wonach die Entscheidung des Patienten für einen natürlichen Tod und für den Abbruch der Heilbehandlung respektiert werden muss. Und anderseits auf Grund der Lehre von der Grenze der ärztlichen Pflicht, wonach der Arzt zu einer solchen aussichtslosen Heilbehandlung nicht mehr verpflichtet sein sollte. Die Voraussetzungen für einen zulässigen Abbruch der Heilbehandlung sind: 1. Der Patient leidet an einer unheilbaren Krankheit und sein unvermeidbarer Tod steht unmittelbar bevor. 2. Zum Zeitpunkt des Abbruchs liegt die Einwilligung des Patienten in den Behandlungsabbruch vor. 3. Der Abbruch bezieht sich auf die Heilbehandlung, also alle Behandlungsmaßnahmen zur Heilung, die den Umständen entsprechenden behelfsmäßigen Maßnahmen und die Heilbehandlung zur Lebenserhaltung, wie z. B. Medikation, Chemotherapie, Dialyse, Bluttransfusion, künstliche Ernährung usw. Die Voraussetzungen der straflosen Sterbehilfe sind: 1. Vorliegen von physischen Qualen, die für den Patienten nicht ertragbar und heftig sind. 2. Unvermeidbarkeit des Todes, der kurz bevorsteht. 3. Vorliegen der Willenserklärung des Patienten für die Maßnahme. Erlaubte Methoden der Sterbehilfe sind: Die passive Sterbehilfe (Unterlassungsform), wozu auch der Abbruch der Behandlung gehört. Die indirekte Sterbehilfe unter der Voraussetzung, dass die Behandlung medizinisch indiziert ist 21 22

Dazu ausführlich vgl. Yamanaka, FS Neumann, 2017, 1253 (1258 ff.). Urteil des LG Yokohama vom 28. 3. 1995, Hanrei Jiho Nr. 1530, 28.

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und in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, die Beseitigung der Schmerzen trotz der damit verbundenen Verkürzung des Lebens zu wählen, durchgeführt wird. Dabei ist eine mutmaßliche Einwilligung des Patienten ausreichend. Die aktive Sterbehilfe, wenn der Tod nahe bevorsteht und es keine alternative medizinische Methode zur Schmerzbeseitigung oder -verminderung gibt. In diesem Fall ist die Sterbehilfe auf Grund der Notstandslehre und des Selbstbestimmungsrechts anerkannt. Wichtig ist dabei, dass eine ausdrückliche Willenserklärung des Patienten erforderlich ist und eine bloße mutmaßliche Einwilligung nicht genügt. Im vorliegenden Fall urteilte das LG wie folgt: Der Abbruch der Behandlung erfüllte keines der rechtlichen Erfordernisse. Die Unterbrechung der Injektion usw. erfolgte im Nahesein des Todes und bei einem unheilbaren Krankheitszustand. Aber der Patient gab keine ausdrückliche Willenserklärung ab. Was die Willenserklärung der Familie betrifft, so lässt sich nicht feststellen, dass sie mit genauer Kenntnis des Zustands des Patienten ihren Willen erklärt hatte. Die Voraussetzungen der erlaubten aktiven Sterbehilfe sind auch hinsichtlich der weiteren Vorgänge nicht erfüllt: Hinsichtlich des Spritzens von Verapamil lassen sich weder körperliche Schmerzen des Patienten, die beseitigt oder vermindert werden sollten, noch eine mutmaßliche Einwilligung des Patienten feststellen. Auch bei der Verabreichung von Kaliumchlorid lag kein untragbarer körperlicher Schmerz vor. Es lässt sich nicht feststellen, dass keine alternative Methode in Betracht kam und es fehlt an der Einwilligung des Patienten in die aktive Sterbehilfe. Zusammenfassend hat das LG hinsichtlich der aktiven Sterbehilfe (Spritze mit Kaliumchlorid) die Tat als Unrecht beurteilt. Auch der Abbruch der Behandlung und das Verabreichen von Verapamil wurden als strafwürdiges Unrecht angesehen. Dieses Urteil ist deswegen bedeutsam, weil es zwei Ansätze zum Problem der Sterbehilfe, nämlich die Lehre vom Selbstbestimmungsrecht und von der Grenze der ärztlichen Behandlungspflicht, begründet hat. 2. Kawasaki-Kyodo Klinikfall23 Der 58-jährige X lag wegen einer Gehirnverletzung infolge eines status asthmaticus bewusstlos im Krankenhaus. Die Angeklagte, seine Ärztin, entschied sich, zuerst den Beatmungsschlauch aus der Trachea des komatösen Patienten zu ziehen und ihn schließlich dadurch zu ersticken. Dazu musste sie seine Atmungsmuskulatur mit einem Muskelrelaxans entspannen. Sie befahl einer Pflegekraft, die den Vorgang nicht verstand, dem Patienten über einen peripheren Venenkatheter das Muskelrelaxans zu injizieren. Der Patient starb infolge der Entfernung des Beatmungsschlauchs (Extubation) und der Auflockerung der Atmungsmuskulatur. 23 Urteil des OG vom 7. 12. 2009, Keishu Band 63, H. 11, 1899 (in diesem Beitrag erwähne ich das Urteil des OG). Vgl. dazu Yamanaka, FS Neumann, 1258 ff. Vgl. Urteil des LG Yokohama vom 25. 7. 2005, Hanrei Jiho Nr. 1909, 130; Urteil des OLG Tokyo vom 28. 2. 2007, Hanrei Times Nr. 1237, 153.

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Das OG urteilte wie folgt: Was die Extubation anbelangt, so konnte die Ärztin die Heilbarkeit und Lebenserwartung nicht ausreichend beurteilen, da kein Elektroenzephalogramm erstellt worden war. Der Patient wurde aufgrund des Verlangens seiner Familie extubiert. Die Familie war allerdings davor nicht über den genauen und zutreffenden Zustand der Krankheit informiert worden. Auch eine mutmaßliche Einwilligung des X in die Extubation war nicht feststellbar. Daher fiel die Extubation nicht unter den gesetzlich erlaubten Behandlungsabbruch. Das OG hat daneben die Injektion des Muskelrelaxans als aktive Sterbehilfe bewertet und eine Strafbarkeit wegen Tötung (§ 199 jap. StGB) bejaht. Bei der aktiven Sterbehilfe wurde die Berufung auf das „Selbstbestimmungsrecht“, die der Verteidiger geltend machte, abgelehnt. Es wurde auch klargestellt, dass die Lehre von der Pflichtgrenze bei der Extubation und Injektion des Muskelrelaxans keine Rolle spielt. Damit stellte das OG in beiden Fällen fest, dass die Voraussetzungen für einen erlaubten Behandlungsabbruch und die Sterbehilfe nicht erfüllt waren.

VII. Kritische Betrachtungen der jüngsten Theorien zur Sterbehilfe in Japan 1. Einverständlicher Behandlungsabbruch Neuerdings findet sich im Gefolge des Urteils des BGH vom 25. 6. 2010 im Fall „Putz“24 in der japanischen Literatur die Ansicht, wonach für die Bewertung der Strafbarkeit oder Straflosigkeit lediglich nach dem „Ob“ der Einwilligung des Patienten zu unterscheiden ist. Diese Meinung sieht von der Lehre des Notstandes ab und verwendet öfter Redewendungen wie „Zwang zum Leben“ oder „bedeutungsloses Leben“, wenn dem Patienten durch die lebensverlängernde medizinische Maßnahme das Weiterleben ermöglicht wird. Sie versteht ein solches, von lebensverlängernden medizinischen Maßnahmen abhängiges Leben als ein Leben, das ohnehin bald zu Ende gehen wird und daher nicht mehr schützenswert ist.25

24

BGHSt 55, 191. Dazu ausführlich Yamanaka (Fn. 4), 763 ff. Vgl. Tatsui, Die strafrechtliche Bewertung der Nichteinleitung und des Abbruchs der Behandlung, Hogaku-Kenkyu (Meijigakuin Universität), Nr. 86 (2009), 68 f. Die Autorin bejaht zwar die Tatbestandsmäßigkeit, nimmt aber eine Rechtfertigung an. Ida verneint dagegen bereits die Tatbestandsmäßigkeit, wenn es keine Möglichkeit gibt, das Leben zu retten, – und zwar unabhängig davon, ob der Abbruch der Behandlung ein Tun oder Unterlassen ist. Vgl. Ida, Die Grenzen der Lebenserhaltungsbehandlung und Strafrecht, Hoso-Jiho, Band 51, H. 2 (1999), 375 ff. 25

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2. Die Lehre von der Gleichbehandlung der Nichteinleitung und des Abbruchs der ärztlichen Behandlung Umstritten ist in Japan, ob der Abbruch einer medizinischen Behandlung als Tun oder Unterlassen einzuordnen ist. Nach überwiegender Meinung begründet der Abbruch, unabhängig davon, ob der Arzt zur Behandlung verpflichtet ist, eine Strafbarkeit wegen eines Tötungsdelikts.26 Aber auch die von Claus Roxin27 begründete Lehre von den „Unterlassungsdelikten durch Tun“ findet Zustimmung28. Nach dieser Lehre ist die Unterbrechung der Behandlung oder Lebenserhaltungsmaßnahme als Unterlassen anzusehen und eine Garantenstellung lässt sich wegen des Patientenwillens verneinen. Zu demselben Ergebnis führt eine neue Lehre, der zufolge es unzutreffend ist, den Abbruch der Behandlung, einschließlich der Nahrungszufuhr, als Unterlassen anzusehen. Die Unterscheidung zwischen dem Abbruch und der Nichteinleitung der Behandlung sei nicht rational, in beiden Fällen müsse die Strafbarkeit nach demselben Kriterium beurteilt werden.29 Nach dieser Ansicht lässt sich das Unrecht betreffend das Handeln des Arztes verneinen, ohne den Abbruch der Behandlung als Unterlassen anzusehen.30 Die Ansicht basiert auf der Methodenlehre, nach der das Problem aus der Perspektive des Patientenwillens zur Beendigung der Behandlung betrachtet werden muss. Unten ist zu prüfen, ob sich diese Theorie mit dem japanischen Rechtssystem vereinbaren lässt. 3. Die Begründung der Rechtfertigung der Sterbehilfe aufgrund der Selbstbestimmung Nach einer weiteren Lehre schließt sowohl der Abbruch als auch die Nichteinleitung der Behandlung dann das Unrecht aus, wenn der Patient damit einverstanden ist. Zur Begründung heißt es, dass sich die Pflicht zur Lebenserhaltung und das Recht des Patienten, eine Behandlung zu verweigern, gegenüberstehen, aber das Recht, die Behandlung zu verweigern, Vorrang habe und der Arzt den Patientenwillen respektieren müsse.31 Diese Meinung dürfte in Japan eigentlich nicht vertreten werden, weil die Suizidbeteiligung strafbar ist. Auch die Tötung mit Einwilligung des Betroffenen ist ein eigener Straftatbestand (§ 202 jap. StGB). Nach der dargestellten Lehre ist der Vorrang des Rechts auf Behandlungsverweigerung nicht auf die Endphase des 26 Zur überwiegenden Meinung Kamiyama, FS Hiraba, Band 1, 1977, 124; zuletzt auch Shiroshita, Keijiho-Journal Nr. 35 (2013), 109. 27 Vgl. Roxin, FS Engisch, 1969, 380 (380 ff., 395 ff.); ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 99 ff., insbesondere Rn. 115 ff. 28 Bereits Saito, Der Schutz des Lebens im Strafrecht, 3. Aufl. 1992, 316 (327 ff.); Naito, Vorlesung zum Strafrecht AT, Band 2, 1986, 574; Ida (Fn. 25), 372 ff. 29 Saeki, Eine Betrachtung zur Nicht-Eröffnung und Unterbrechung der Behandlung, Hoso Jiho, Band 72, H. 6 (2020), 1088 ff. 30 Saeki (Fn. 28), 1094. 31 Saeki (Fn. 28), 1095.

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menschlichen Lebens begrenzt. Es wird somit eine erweiterte Auslegung vorgenommen.32 Aber es gibt keinen Grund, in einem Rechtssystem, das die Suizidbeteiligung mit Einwilligung des Sterbewilligen als strafbar ansieht, zu behaupten, dass die Beteiligung nur bei Vorliegen einer Einwilligung gerechtfertigt werden kann. Diese Lehre muss wenigstens argumentieren, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten als Rechtsgut schutzwürdiger als das noch nicht in Todesnähe befindliche Leben ist. 4. Die Lehre von der defensiven Selbstbestimmung Eine ähnliche Meinung vertritt die Sichtweise der rechtlichen Gleichbehandlung der Nichteinleitung und Unterbrechung der medizinischen Behandlung. Der Ausgangspunkt dieser Lehre liegt darin, dass auch bei einem Behandlungsabbruch die Begrenzung der Selbstbestimmung durch § 202 jap. StGB insoweit nicht funktioniert, als es sich um eine „defensive“ Selbstbestimmung handelt.33 Nach dieser Lehre geht es insoweit nicht um die Selbstbestimmung bezüglich des aktiven Verzichts auf das Leben, sondern um die Selbstbestimmung hinsichtlich keines weiteren erzwungenen Leben, also der defensiven Selbstbestimmung, welche die Selbstbestimmung hinsichtlich des Behandlungsabbruchs ist. Es gab schon früher eine ähnliche Meinung, die mit Blick auf das Recht, eine Behandlung zu verweigern, eine Rechtfertigung bejahte.34 Trotz der unterschiedlichen Bezeichnung ist diesen Auffassungen gemeinsam, dass sie die Nichteinleitung und den Abbruch der Behandlung, also Unterlassen und Tun, identifizieren und aufgrund des Patientenwillens rechtfertigen wollen. Nach der Lehre von der „defensiven“, also „nicht aktiven“ Selbstbestimmung richtet sich die Beurteilung danach, ob der Abbruch der Behandlung „aktiv“ ist oder nicht. Dabei soll es nicht auf ein äußeres Tun oder Unterlassen ankommen, sondern darauf, ob der subjektive Zweck die aktive Absicht zu sterben ist oder ob die Verweigerung der Behandlung der Hauptzweck und der Tod nur der Nebenzweck, also ein begleitend in Kauf genommener Zweck, ist. Aber dieses Begrenzungskriterium ist unklar, undeutlich und unsicher. Es behandelt Tun und Unterlassen, die eigentlich unterschiedlich sind, gleich. Die künstliche Ernährung oder die Ausrüstung des Beatmungsgeräts, die die Grundlage des Lebens sichern sollen, sind keine medizinische Behandlung. Der Abbruch der Maßnahmen ist keine medizinische Behandlung. Das eventuell erzwungene Leben zu beenden, ist keine Heilung, sondern vorsätzliche Tötung auf Verlangen (§ 202 jap. StGB). 32 Saeki (Fn. 28), 1087 ff. Diese Meinung begründet ihre Richtigkeit mit dem folgenden Fall: Wenn die Behandlung einmal eröffnet ist, ist der Abbruch der Behandlung ein „Tun“, sodass ein Begehungsdelikt verwirklicht ist. Deswegen muss der Patient sich früher entscheiden. Vgl. Tatsui (Fn. 25), 64 ff. Aber es ist wohl möglich, diese Tat über die Notstandslehre zu rechtfertigen. 33 Ida, Zur Unterbrechung der Behandlung. Ist die gesetzgeberische Lösung möglich?, in: Hanrei Jiho Nr. 2374 (2018), 110 ff. 34 Tatsui (Fn. 25), 60 ff.

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VIII. Fazit Es gibt keinen Raum mehr dafür, meine eigene Meinung über die Sterbehilfe näher zu begründen. Der Kernpunkt meiner Meinung liegt darin, beim Behandlungsabbruch die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen beizubehalten. Die Einwilligung des Patienten befreit in der Regel von der ärztlichen Behandlungspflicht. Die Abbrüche der Behandlung im engeren Sinne, also die Nichteinleitung der Behandlung und die indirekte Sterbehilfe, lassen sich mit der Notstandslehre rechtfertigen. Die aktive Sterbehilfe oder der Abbruch der künstlichen Ernährung in der Endphase des menschlichen Lebens, in welcher das Sterben unvermeidbar ist, könnten mit der Notstandslehre entschuldigt werden.35 Das „Recht auf Leben“ ist in der japanischen Verfassung unverzichtbar. Das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ hat nur bei Vorhandensein überlegener Interessen, z. B. in Fällen der indirekten Sterbehilfe, wenn das Leben kurz vor seinem Ende steht, einen konkreten Sinn. Beim Abbruch der für die Lebenserhaltung notwendigen Nahrungszufuhr oder bei der sonstigen aktiven Sterbehilfe könnte die Tat nur mit dem Notstand entschuldigt werden, obwohl die Entwicklung der Palliativmedizin die aktive Sterbehilfe in der Regel überflüssig gemacht hat. Es ist unmöglich und sogar absurd, trotz der Vorschrift, die die Suizidbeteiligung unter Strafe stellt, einerseits die Suizidbeteiligung für strafbar zu erklären und andererseits Suizid als ein verfassungsrechtliches Recht zu fördern und die Sterbehilfe mit der bloßen Einwilligung des Patienten zu rechtfertigen. Die Voraussetzungen und Rechtsfolge (Strafbefreiung) der indirekten Sterbehilfe müssten in einem Sondergesetz geregelt werden.36 Die Rechtspolitik, Gesetzgebung und auch Rechtsdogmatik hängen vom Staatssystem und von der Sozialstruktur der jeweiligen Gesellschaft ab. Zwar wurde die japanische Gesellschaft nach der Meiji-Restauration modernisiert, aber in der Tat auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht wesentlich demokratisiert und liberalisiert. Der Staat muss die schwachen Bürger, die zum Suizid faktisch gedrängt werden, vorsorglich schützen37, ehe er ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, das als frei entschieden vorgetäuscht werden kann, anerkennt.

35 Zu meiner Meinung siehe in japanischer Sprache Yamanaka (Fn. 4), 861 (890 ff.). In deutscher Sprache ders. (Fn. 17), 308 ff. Beim entschuldigenden Notstand gibt es in Japan keine Begrenzung des gefährdeten Personenkreises wie in § 35 des deutschen StGB („um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden“). 36 Zu einem Gesetzesentwurf von mir siehe Yamanaka (Fn. 4), 907 ff. 37 Vgl. Yamanaka, in: Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, Band 1, 2010, 323 ff.

IV. Recht und Ethik der Medizin

(Straf-)Rechtliche Herausforderungen durch den Einsatz von KI in der Medizin Susanne Beck*

I. Einleitung1 Das Medizinrecht, die Ethik und ihr Verhältnis bestimmen das Werk von Jan C. Joerden schon lange. Davon zeugen, neben zahlreichen Publikationen zu diesem Themenbereich, nicht nur sein Engagement als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Interdisziplinären Zentrums „Medizin – Ethik – Recht“ der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, sondern auch seine langjährige Tätigkeit als Mitglied des Vorstands der Akademie für Ethik in der Medizin. Sein theoretischer und praktischer Einsatz in diesen wichtigen Fragen war bedeutsam für Debatten im Kontext der Sterbehilfe2, Forschung am Menschen3, Einwilligung4 oder Gentechnologie5. Doch auch die jüngere Debatte zur (straf-)rechtlichen Einhegung von Robotik und Künstlicher Intelligenz hat das Interesse von Jan C. Joerden geweckt.6 Mit philosophisch fundiertem Blick näherte er sich diesen neuen Fragen. * Mein herzlicher Dank für Unterstützung und intensive Diskussionen gilt Dipl. jur. Michelle Fiekens. 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen weiblich, männlich und divers (w/m/d) verzichtet und die Sprachform des generischen Maskulinums angewandt. Sämtliche Personenbezeichnung gelten gleichermaßen für alle Geschlechter. 2 Vgl. Joerden, MedR 2018, 764 (764 ff.); Joerden, in: Heinrich et al. (Hrsg.), Strafrecht als scientia universalis, 2011, 593 (593 ff.); Joerden/Uhlig, Ad Legendum 2011, 369 (369 ff.). 3 Vgl. Joerden et al. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013; Joerden (Hrsg.), Der Mensch und seine Behandlung in der Medizin, 1999; allgemein Joerden, in: Hilgendorf/ Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, 327 (327 ff.); Joerden, JuS 2003, 1051 (1051 ff.); Joerden, in: Darbrock et al. (Hrsg.), Gattung Mensch, 2010, 363 (363 ff.). Zum Menschenleben Joerden (Hrsg.), Menschenleben, 2003. Zur Stammzellenforschung Joerden, in: Sharon et al. (Hrsg.), JRE 10 (2002), 122 (122 ff.). 4 Vgl. Joerden, in: Hilgendorf (Hrsg.), Rechtswidrigkeit in der Diskussion, 2018, 161 (161 ff.); Joerden, GesR 2016, 263 (263 ff.); Długosz/Joerden, FS Szwarc, 2009, 467 (467 ff.); Joerden, RT 1991, 165 (165 ff.). 5 Vgl. Joerden/Winter, JRE 15 (2007), 105 (105 ff.); Joerden, in: Joerden (Hrsg.), Diskriminierung – Antidiskriminierung, 1996, 353 (353 ff.). 6 Vgl. Joerden, in: Beck et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Automatisierung, KI und Recht, 2020, 285 (285 ff.); Joerden, in: Hilgendorf (Hrsg.), Autonome Systeme und neue Mobilität,

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Tatsächlich stellen die Entwicklungen im Bereich von künstlich intelligenten Systemen7 das (Straf-)Recht vor neue, dieser Diskussion bedürfende Herausforderungen. Das gilt auch für den Einsatz von KI in der Medizin – und hier verbinden sich auch zwei zentrale Schwerpunkte der Forschung von Jan C. Joerden. KI hat das Potential, das bisherige Niveau medizinischer Heilbehandlungen zu verbessern. Gleichzeitig birgt der Einsatz in diesem Bereich, in welchem vulnerable Personen betroffen sind, erhebliche Risiken.8 Einige KI-Systeme haben bereits Einzug in den medizinischen Alltag gefunden. Sie werden in der Diagnostik und Chirurgie eingesetzt, um CT-Bilder zu rekonstruieren9 oder den Arzt bei minimalinvasiven Eingriffen zu unterstützen.10 Im Bereich der Pflege ermöglichen intelligente Betten eine Frühmobilisierung der Patienten bei geringerem Personalaufwand.11 Zukünftig könnte der Einsatz von KI aber noch viel mehr leisten. Neben Verwaltungsaufgaben, der Überwachung von Vitalfunktionen sowie der Untersuchung von Gewebeproben, könnten ganze Operationen oder Diagnosen von einem KI-System autonom durchgeführt bzw. gestellt werden.12 Das bereits seit langem überbelastete medizinische Personal würde durch derartige KI-Systeme in vielen Arbeitsschritten entlastet.13 Dies könnte zu einem höheren Niveau und einer größeren Intensität des Arzt-Patientenverhältnis führen. Zeitgleich würden die verfügbaren Kapazitäten des Gesundheitssystems insgesamt steigen. Neben diesen Vorteilen birgt der Einsatz der Systeme aber auch das Risiko einer Schädigung der Beteiligten – insbesondere der Patienten.14 Medizinische Institutio2017, 73 (73 ff.); Joerden, in: Hilgendorf/Günther (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung, 2013, 195 (195 ff.). 7 Nachfolgend wird der Begriff mit „KI“ abgekürzt. 8 Vgl. Rammos et al., in: Ebers et al. (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, § 28 Rn. 1 f. und 12 f.; siehe auch Beck, in: Mainzer (Hrsg.), Philosophisches Handbuch Künstliche Intelligenz, 2020, 1 (15 ff.); Katzenmeier, MedR 2019, 259 (261); Beck, MedR 2018, 772 (774). 9 Vgl. Lohmann/Schömig, in: Beck et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Automatisierung, KI und Recht, 2020, 345 (362 f.); Molnár-Gabor, DSRITB 2019, 277 (277 ff.); Rammos et al. (Fn. 8), § 28 Rn. 3 ff.; Wennker, Künstliche Intelligenz in der Praxis, 2020, 63 ff. 10 Vgl. Lohmann/Schömig (Fn. 8), 360 ff.; siehe auch Kowalewski et al., MedR 2019, 925 (925 ff.). 11 Vgl. Beck, MedR 2018, 773; Überblick zur Robotik in der Pflege von Sahm, MedR 2019, 927 (928); siehe auch Steinrötter, in: Ebers et al. (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, § 26 Rn. 3 f. 12 Vgl. Lohmann/Schömig (Fn. 9), 360 ff.; Rammos et al. (Fn. 8), § 28 Rn. 7 f.; Sahm, MedR 2019, 928. 13 Zu dem bereits bestehenden Entlastungspotenzial der Digitalisierung in der Pflegepraxis sowie den Problemen, Herausforderungen, Lösungsansätzen und weiteren zukünftigen Entlastungsmöglichkeiten Hermann/Schumann, RDG 2021, 134 (136 ff.); siehe auch Sahm, MedR 2019, 928; v. Stösser, ARCHIV für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 2011, 99 (100); vgl. Münch, Autonome Systeme im Krankenhaus, 2017, 45 ff. 14 Vgl. Beck, MedR 2018, 773; Lohmann/Schömig (Fn. 9), 352 f.

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nen, die derartige Systeme verwenden, könnten zukünftig vermehrt Cyber- bzw. Hackerangriffen ausgesetzt sein, sodass der Betrieb ganzer Krankenhäuser für eine gewisse Zeit stillgelegt wird.15 Auch das Risiko eines Cyberangriffs auf Datenbanken steigt. Diese könnten durch externen Zugriff gelöscht oder verändert werden. So würden Software- oder Hardwareprodukte der Systeme manipuliert, welche sich der Informationen der Datenbanken bedienen. Denkbar ist auch, dass die Systeme bewusst falsch hergestellt werden oder der Einsatz des KI-Systems gegenüber dem Patienten bewusst fehlerhaft erfolgt. Aus diesem Grund liegt bei der Nutzung von KI im medizinischen Bereich ein rechtlicher Fokus auch im Strafrecht. Das Strafrecht geht grundsätzlich von dem frei verantwortlich entscheidenden Menschen aus.16 Die kollektiven Entscheidungen, die mit der Nutzung von KI-Systemen einhergehen, erschweren die Anwendbarkeit der klassischen Zurechnungsstrukturen des Strafrechts.17 Durch die Interaktion mit einem KI-System kann nicht länger davon ausgegangen werden, dass der handelnde menschliche Akteur stets freiverantwortlich entschieden hat. Hinzu kommt, dass durch die Vernetzung der Systeme untereinander und der generellen Funktionsweise der Systeme, die generierten Ergebnisse nicht mehr ohne Weiteres nachvollziehbar und vorhersehbar sind.18 Anders als herkömmliche Technologien, die mit einer „Wenn-dann-Logik“ arbeiten und ex post vollständig nachvollzogen werden können, beruhen KI-Systeme zum Teil auf der Technik des maschinellen Lernens.19 Durch Programmierung bestimmter und weiterlernender Algorithmen lernen die Systeme selbstständig Verhaltensweisen, um Muster zu erkennen, ohne dafür ausdrücklich programmiert zu sein.20 Die fehlende Nachvollziehbarkeit derartiger Entscheidungen firmiert unter dem Schlagwort der „Black-Box“.21

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Ein aktuelles Beispiel ist der Hackerangriff 2020 in einem Düsseldorfer Klinikum, in welchem es sogar deshalb einen Todesfall gab. Vgl. www.handelsblatt.com/technik/sicherheitim-netz/cyberkriminalitaet-todesfall-nach-hackerangriff-auf-uni-klinik-duesseldorf/26198688. html?ticket=ST-9762412-jhwU0YRVrYhkStdXubwM-cas01.example.org (zuletzt abgerufen am 20. 12. 2021). 16 Vgl. BGHSt 2, 194 (200 f.); siehe auch Beck, in: Ebers et al. (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, § 7 Rn. 2; Simmler/Markwalder, ZStW 2017, 20 (27 ff.). 17 Siehe auch Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 2 ff.; ähnlich Simmler/Markwalder, AJP/PJA 2017, 171 (173). 18 Vgl. Niederée/Nejdl, in: Ebers et al. (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, § 2 Rn. 24 f., 123 f. 19 D. h. sie erlernen durch Programmierung bestimmter und weiterlernender Algorithmen selbständig Verhaltensweisen und Muster. Vgl. Trask, Neuronale Netze und Deep Learning, 2020, 26 f.; Waltl, in: Mainzer (Hrsg.), Philosophisches Handbuch Künstliche Intelligenz, 2020, 1 (4 f.); allgemein Gausling, ZD 2019, 335 (335 ff.). 20 Vgl. Essen/Felzmann, Bedrohungsmodell in KI-Systemen, 1991, 22 f.; 4; Krohn et al., Deep Learning illustriert, 2020, 63; Sudmann, in: Klimczak et al. (Hrsg.), Maschinen der Kommunikation, 2019, 189 (189 f.). 21 Vgl. Dettling, PharmR 2019, 633 (635); Helle, MedR 2020, 993 (995); Krohn et al. (Fn. 20), 63; Wennker (Fn. 9), 18 ff.; Lohmann/Schömig (Fn. 9), 349.

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Eine Kernfrage des strafrechtlichen Diskurses in diesem Lebensbereich ist, wem die Entscheidungen der Systeme zuzurechnen sind. Sprich: Wer letztlich für die Entscheidung der Maschine (strafrechtlich) verantwortlich ist. Diese Frage lässt sich mittels der klassischen strafrechtlichen Zurechnungsstrukturen nur noch unzureichend beantworten. Das System selbst kommt, wie wir im Folgenden sehen werden, als verantwortliche Entität nicht in Betracht. Die aus Praktikabilitätsgründen naheliegende Wahl, das Verhalten eines KI-Systems dem letztentscheidenden Menschen zuzurechnen (sog. human in the loop), überzeugt zumindest nicht pauschal. So kann der Fehler auch Resultat der Handlungen mehrerer Akteure und damit nicht auf einen Einzelnen rückführbar sein. Aufgrund der Verantwortungskette zwischen Trainer, Programmierer, Hersteller und Anwender kann oft nicht mit Sicherheit festgestellt werden, wer für einen bestimmten Systemausfall und den daraus resultierenden Schaden, einen strafrechtlichen relevanten Beitrag geleistet hat. Eine solche „shared agency“ bereitet dem Strafrecht erhebliche Schwierigkeiten. Gleichzeitig ist klar: Es bedarf zumindest gelegentlich einer Verantwortungszuweisung, um das Vertrauen der Bevölkerung in dem Bestand von Normen nicht zu massiv zu erschüttern. Andernfalls droht auch bei einer fehlenden Regulierung eine innovationshemmende Wirkung, vergleichbar wie bei einer – aus demselben Grund abzulehnenden – Überregulierung dieser Technik.22 Zur Einhegung von Verantwortungsdiffusionen muss sich das Strafrecht frühzeitig mit den technologischen Besonderheiten von KI-Systemen befassen, um gesamtgesellschaftliche Akzeptanz der Technologie zu ermöglichen. Im Folgenden werden hierfür zunächst medizinische Anwendungsfelder aufgezeigt und anschließend strafrechtliche Zurechnungsfragen erörtert. 1. Der Einsatz von KI im medizinischen Alltag KI-Systeme haben bereits in vielerlei Hinsicht Einzug in den medizinischen Alltag gefunden: Bildgestützte Diagnosegeräte können den Arzt etwa beim Erkennen von Hautkrebs oder anderen radiologischen Befunden unterstützen.23 In naher Zukunft könnten durch sog. Health-Apps oder Symptomchecker-Apps Patienten eine erste Einschätzung ihres Gesundheitszustandes erlangen.24 Bisher oft lange Wartezeiten könnten sich dadurch erheblich verringern und das Personal entlastet werden. Zugleich kann durch solche Apps ein weltweiter Zugang zu medizinischem Fachwissen durch jedes internetfähige Endgerät vermittelt werden und so auch Orte errei22 Vgl. Steinrötter (Fn. 11), § 26 Rn. 2; Helle, MedR 2020, 996; Gless/Wohlers, ZStrR 2019, 366 (390). 23 Vgl. Beck, MedR 2018, 773; Lohmann/Schömig (Fn. 9), 362 f.; Sonntag, HNO 2019, 343 (344). 24 Vgl. Heimhalt/Rehmann, MPR 2014, 197 (197 ff.); Katzenmeier, MedR 2019, 264; Münkler, NZS 2021, 41 (41 ff.); Zezschwitz, MedR 2020, 196 (196 ff.).

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chen, die ansonsten nur einen eingeschränkten oder gar keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben.25 Bereits jetzt können Apps genetische Störungen durch Identifizierung von Gesichtsphänotypen erkennen,26 die Nervenkrankheit Morbus Parkinson kann durch das Halten des Smartphones, dem Telefonieren und Fotografieren sowie depressive Erkrankungen anhand von Sprachmustern oder hochgeladener Fotos auf Instagram diagnostiziert werden.27 Welche Systeme sich zukünftig als medizinischer Standard etablieren werden und den behandelnden Arzt potentiell sogar ersetzten, bleibt abzuwarten. Der Einsatz solcher Systeme in der Medizin wird zukünftig noch stark ansteigen. Gerade deswegen sollte mit einer Regulierung oder zumindest einer intensiven rechtlichen Debatte der Herausforderungen von KI-Systemen in der medizinischen Anwendung nicht länger gewartet werden. 2. Ethische Gesichtspunkte – ein Überblick Neben rechtlichen Herausforderungen führt der Einsatz von KI in einem sensiblen Bereich wie der Medizin auch zu einer ethischen Diskussion.28 Dabei werden ethische Überlegungen von Menschenwürde über Patientenautonomie und damit verbunden hinreichender Aufklärung sowie dem Umgang mit aktuellen Technologien im medizinischen Kontext und der Forschung am Menschen auf diese neue Entwicklung übertragen. Die Befassung mit ethischen Prinzipien ist für die Rechtswissenschaft von Relevanz, können doch nur so normativ überzeugende und akzeptable juristische Konzepte entwickelt werden.29 Die (ethischen) Debatten zu KI im Bereich der Medizin sind, wie angedeutet, vielfältig. Sie reichen von der Diskussion um die allgemein punktuelle moralische Verantwortlichkeit derartiger Systeme sowie der Verantwortlichkeit des Menschen beim Einsatz, bis hin zu einer eigenen Maschinenethik bzw. spezifischen Roboterethik.30 Die Vorteile der Technologie sind, wie ebenfalls bereits aufgezeigt, offenkundig. Ein pauschales Verbot vermag deshalb nicht zu überzeugen.31 In welchen Bereichen die Vorteile derartiger Systeme gegenüber den Nachteilen überwiegen und welchen gesamtgesellschaftlichen Nutzen sie bringen, ist Gegenstand ethischer und gesellschaftlicher Debatten.32 Die Überlegungen dienen unter an25

Vgl. Münkler, NZS 2021, 42; Rammos et al. (Fn. 8), § 28 Rn. 6 ff. Vgl. Gurovich et al., Nature Medicine 2019, 60 (60 ff.). 27 Vgl. www.onlinemarketing.de/news/algorithmus-erkennt-depressive-instagram-fotos (zuletzt abgerufen am 18. 6. 2021); Reece/Danforth, EPJ Data Science 2017, 1 (1 ff.). 28 Siehe auch Steinrötter (Fn. 11), § 26 Rn. 12 f.; ausführlich zu den ethischen Problemen Sahm, MedR 2019, 927. 29 Siehe auch Steinrötter (Fn. 11), § 26 Rn. 12 f. 30 Steinrötter spricht von einer spezifischen Roboterethik. Vgl. Steinrötter (Fn. 11), § 26 Rn. 12 f. 31 Siehe auch Beck, MedR 2018, 774; Beck (Fn. 8), 15 ff.; Münch (Fn. 13), 31 ff.; Sahm, MedR 2019, 929. 32 Vgl. Beck, MedR 2018, 774; Sahm, MedR 2019, 929. 26

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derem der Vorbeugung einer gesellschaftlichen Ablehnung der Systeme.33 Ethische Standards und Vorgaben können Ängste abbauen, etwa vor einer Machtübernahme durch KI, einer Enthumanisierung des Alltags oder im speziellen einem verminderten menschlichen Umgang im Pflegebereich.34

II. Strafrechtliche Fragestellungen 1. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der handelnden Akteure In Zukunft wird es sich nicht umfassend vermeiden lassen, dass KI-Systeme Verletzungen verursachen. Dies kann in Form von physischen Schäden in Folge des Einsatzes bei der Behandlung oder durch falsche Diagnosen oder Therapiewahlen auftreten. Ursachen liegen potentiell im Verkauf eines fehlerhaften Produktes, in der Verletzung des Arztgeheimnisses oder der Fehlleistung des Systems.35 Regelmäßig stellt sich dann die Frage nach dem strafrechtlich Verantwortlichen. Bereits die Beteiligung einer Vielzahl an Personen erschwert die Zurechnung und erschwert die Übertragung traditioneller Zurechnungsstrukturen des Strafrechts, wie bspw. die Kausalität und die objektive Zurechnung auf die Verwendung von KI-Systemen.36 Im Folgenden werden die strafrechtlichen Probleme eruiert, die mit dem Einsatz von KI-Systemen einhergehen, um Anstöße für eine angemessene Anwendung des Strafrechts, ggf. auch eine sinnvolle Regelung de lege ferenda gewinnen zu können. Hierfür werden die handelnden Akteure im Bereich der Medizin dargestellt und jeweils deren potenzielle strafrechtliche Verantwortlichkeit untersucht. Anschließend wird in Kürze die mögliche strafrechtliche Verantwortlichkeit des Systems selbst diskutiert. 2. Strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes Für den Arzt kommt eine Strafbarkeit nach §§ 223 ff. StGB sowie nach § 229 StGB in Betracht. Dafür müsste der Patient im Rahmen der Behandlung vorsätzlich oder fahrlässig verletzt worden sein oder sich sein Zustand durch das Eingreifen des Arztes verschlechtert haben. Sofern der Patient infolge der Fehlbehandlung sogar verstirbt, macht sich der Arzt potenziell nach §§ 211, 212 StGB oder nach § 222 StGB strafbar; je nachdem, ob er vorsätzlich oder fahrlässig handelt. Denkbar ist 33 Vgl. Beck (Fn. 8), 5 ff.; Budde et al., KI in der Medizin und Pflege aus der Perspektive Betroffener, 2020, 17 (29 ff.); Steinrötter (Fn. 11), § 26 Rn. 14 ff. 34 Vgl. Beck (Fn. 8), 18 ff.; Rammos et al. (Fn. 8), § 28 Rn. 12 ff. 35 Vgl. Hilgendorf, in: Rotsch (Hrsg.), Criminal Compliance vor den Aufgaben der Zukunft, 2013, 19 (26 ff.); allgemein Gless/Janal, JR 2016, 561 (561 ff.); Simmler/Markwalder, AJP/PJA 2017, 171 ff. 36 Vgl. Beck (Fn. 8), 10 f.

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auch eine Strafbarkeit durch Unterlassen, wenn der Erfolg etwa dadurch eintritt, dass der Arzt eine bestimmte Behandlung unterlässt. Zu diskutieren wird zunächst der vom Arzt bei der medizinischen Behandlung vorgenommene Rechtsgütereingriff. Insofern stehen im Folgenden Fragen der Aufklärung im Mittelpunkt. Im Anschluss wird über die rechtlichen Probleme der Verschlechterung des Zustands des Patienten bei einer ärztlichen Behandlung diskutiert, wenn der Arzt ein KI-System verwendet. Eine Zurechnung dieser Verschlechterung ist umso problematischer, je autonomer die KI-Systeme agieren. Zudem bestehen Schwierigkeiten bzgl. des Fahrlässigkeitsvorwurfes.37 a) Aufklärung und Einwilligung Die medizinische Behandlung umfasst das Erstgespräch, die Diagnose, die Behandlung im engeren Sinn sowie die Nachbehandlung.38 Der Arzt betreut den Patienten häufig über einen längeren Zeitraum. Gerade deshalb sind für eine erfolgreiche Behandlung ein vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis, Interaktion auf Augenhöhe und umfassende Berücksichtigung der Patientenautonomie essenziell. Zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts der Patienten bedarf jeder ärztliche Heileingriff seiner Einwilligung.39 Diese muss vor dem Heileingriff des Arztes vorliegen,40 um eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu vermeiden.41 Eine wirksame Einwilligung ist nur möglich, wenn der Arzt den Patienten in verständlicher Weise über die Behandlungsformen und -risiken informiert hat und sich dieser im Anschluss daran, die Vor- und Nachteile abwägend,42 entscheiden kann. Dem Patienten müssen sämtliche Umstände wie Art, Umfang, Durchführung, Folgen und Risiken, die Notwendigkeit der Behandlung sowie alternative Behandlungsmethoden und deren Erfolgsaussichten erläutert werden,43 zudem die Folgen einer unterlassenen Behandlung.44 Grundsätzlich sind sowohl konventionelle als auch tech37

Zum Vorsatz Haagen/Lohmann, in: Hartmann (Hrsg.), KI & Recht kompakt, 2020, 257 (271 ff.); zur Fahrlässigkeit Simmler/Markwalder, AJP/PJA 2017, 175. 38 Vgl. Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp (Hrsg.), ArztR, 8. Aufl. 2021, Kap. III Rn. 34 ff. 39 Vgl. BGH NJW 2011, 1088 Rn. 10; Knauer/Brose, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2018, StGB, § 223 Rn. 26; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 223 Rn. 37; siehe auch Eschelbach, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), BeckOKStGB, 50. Ed., Stand: 01. 05. 2021, § 228 Rn. 1 f.; Paeffgen/Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 5. Aufl. 2017, § 228 Rn. 56 ff. 40 Vgl. Lohmann/Schömig (Fn. 9), 358; Mansel, in: Jauernig, BGB, 18. Aufl. 2021, § 630d Rn. 1; Spickhoff, MedizinR-BGB, § 630d Rn. 2. 41 Vgl. Blechschmitt, Die straf- und zivilrechtliche Haftung des Arztes, 2017, 154 f. 42 Vgl. Brand, MedR 2019, 943 (946); Eberbach, MedR 2019, 1 (5). 43 Vgl. Jorzig/Sarangi, Digitalisierung im Gesundheitswesen, 2020, 20 f.; Lohmann/Schömig (Fn. 9), 358 f. 44 Vgl. Blechschmitt (Fn. 41), 158; Jorzig/Sarangi (Fn. 43), 20 f.; Lohmann/Schömig (Fn. 9), 358 f.

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nisch neuere Behandlungsmethoden in die Aufklärung einzubeziehen.45 Aufzuklären ist über typische Gefahren der Behandlung, wie sie nach dem Stand von Wissenschaft und Technik bekannt sind.46 Allgemein gilt im Rahmen der Einwilligung das Verhältnismäßigkeitsprinzip von Risikowahrscheinlichkeit, Eingriffsintensität sowie Aufnahmefähigkeit und Gesundheitszustand des Patienten.47 Wenn im Rahmen der Behandlung KI-Systeme eingesetzt werden, ergeben sich hier besondere Herausforderungen: Zum einen muss der Patient darüber aufgeklärt werden, dass überhaupt ein solches System im Rahmen der Behandlung eingesetzt wird.48 Zum anderen muss der Arzt darüber aufklären, mit welchen Risiken der Einsatz eines KI-Systems behaftet ist, möglicherweise im Vergleich zu einer Behandlung ohne ein solches System. Das gilt unzweifelhaft für bereits bekannte Risiken von KI-Systemen.49 Diesen neuen Behandlungsmethoden wohnen jedoch schon aufgrund der Natur der Systeme auch unvorhersehbare Risiken inne, weshalb der Arzt zusätzlich bei sich noch in der Erprobungsphase befindlichen Behandlungsmethoden mittels KI-Systemen auch über die Unbekanntheit der Risiken aufzuklären hat.50 Gehört ein KI-System (künftig) hingegen bereits zum medizinischen Standard, sollten ausreichend Erfahrungswerte vorliegen, sodass der Arzt nicht mehr in vergleichbarer Weise über die Unbekanntheit von Risiken aufzuklären hat. Dennoch sind den Systemen Unvorhersehbarkeiten inhärent, weshalb der Patient weiterhin über diese „Restunsicherheit“ zu informieren ist.51 Sofern keine ausdrückliche Einwilligung vorliegt, könnte die Rechtmäßigkeit der Behandlung aus einer mutmaßlichen Einwilligung folgen.52 Hier wird der Wille des Patienten vermutet.53 Gerade weil sich die Technik mit KI-Systemen noch nicht als medizinischer Standard etabliert hat, ist jedenfalls nicht ohne Weiteres zu bejahen, dass der fiktive Wille des Patienten den Einsatz eines solchen Systems befürwortet. Selbst dann, wenn diese Technik einen besseren Genesungsverlauf zu versprechen scheint, wäre bei dem vermuteten Willen auf den derzeit herrschenden Stand der Technik zurückzugreifen.54 Etwas anderes gilt auch hier erst dann, wenn die Behandlung mit einem KI-System zum medizinischen Standard gehört. 45

Vgl. Blechschmitt (Fn. 41), 78 ff.; Lohmann/Schömig (Fn. 9), 358. Vgl. Blechschmitt (Fn. 41), 158 f.; allgemein Lohmann/Schömig (Fn. 9), 358 f. 47 Vgl. Sommer/Tsambikakis, in: Clausen/Schroeder-Printzen (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, 3. Aufl. 2020, § 3 Rn. 32 f.; Lohmann/Schömig (Fn. 9), 358. 48 Allgemein Lohmann/Schömig (Fn. 9), 361 f. 49 Vgl. Lohmann/Schömig (Fn. 9), 361 f.; allgemein Knauer/Brose, MedizinR-StGB, § 223 Rn. 30 ff. 50 Vgl. Knauer/Brose, MedizinR-StGB, § 223 Rn. 43; Lohmann/Schömig (Fn. 9), 361 f. 51 Vgl. Lohmann/Schömig (Fn. 9), 361 f. 52 Vgl. Beck (Fn. 8), 18 f.; Blechschmitt (Fn. 41), 155. 53 Vgl. Hardtung, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2021, § 223 Rn. 108 ff.; Knauer/Brose, MedizinR-StGB, § 223 Rn. 9 ff.; Lohmann/Schömig (Fn. 9), 359. 54 Vgl. Lohmann/Schömig (Fn. 9), 361 ff. 46

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Zusammenfassend kann hier festgestellt werden, dass eine Wahrung des verfassungsrechtlich verankerten Selbstbestimmungsrechts nur durch wirksame Einwilligung und die hierfür notwendige Aufklärung des Arztes erreicht werden kann. Die Komplexität der KI sowie die Unvorhersehbarkeit ihrer Entscheidungen erschwert eine umfassende Aufklärung, sodass neue Standards für Aufklärung und Einwilligung festgelegt werden sollten, die die technischen Besonderheiten von KI-Systemen hinreichend berücksichtigen. Die Ausgestaltung dieser Standards gilt es in einem interdisziplinären Diskurs zu eruieren. b) Strafbarkeit ärztlichen Verhaltens bei Verschlechterung des Zustands Eine Strafbarkeit des Arztes kommt weiterhin in Betracht, wenn es im Rahmen eines Einsatzes von KI zu einer Gesundheitsschädigung oder gar zum Tode des Patienten kommt. aa) Vorsätzliche Schädigung Eine vorsätzliche Schädigung wird nur selten vorliegen. Denkbar ist eine bewusst fehlerhafte Bedienung des Systems oder der bewusst falsche Einsatz. Diese Fälle unterscheiden sich aus strafrechtlicher Sicht allerdings nicht von bisherigen Situationen, in denen eine absichtliche bzw. bewusste Begehung unzweifelhaft eine vorsätzliche Straftat des Arztes begründet.55 In Fällen von shared agency ist die Ermittlung des Vorsatzes nicht derart einfach.56 Zur Erinnerung: Beim Einsatz von KI-Systemen sind eine Vielzahl an Personen beteiligt. Die Geräte werden produziert, programmiert, trainiert und anschließend und von mehreren Ärzten (gleichzeitig) aktiv eingesetzt. Unklar ist, welche Kenntnis der Arzt von den Beiträgen anderer Beteiligten haben muss. Auch ob und in welchem Umfang der Arzt die Vorgänge des Systems verstehen muss, ist noch nicht hinreichend geklärt. Die Notwendigkeit eines vollständigen Verständnisses der (technischen) Funktionsweisen der Systeme würde dazu führen, dass ein vorsätzliches Handeln des Arztes nur in den seltensten Fällen noch zu bejahen wäre. Denn ein solches Verständnis ist mit Blick auf die Komplexität der Systeme lebensfremd. Zugleich dürfte das abstrakte Für-Möglich-Halten einer Schädigung nicht ausreichen, auch wenn den Systemen Gefährlichkeit inhärent ist und sie grundsätzlich jederzeit Patienten schädigen könnten.57 Denn sonst würde aufgrund der unkalkulierbaren Entscheidungen der Systeme immer dann ein vorsätzliches Verhalten in Betracht kommen, wenn den Ärzten auch nur das Risiko einer Rechtsgutsverletzung

55 Siehe auch Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 22 ff.; ausführlich zum Vorsatz Haagen/Lohmann (Fn. 37), 270 ff. 56 Siehe auch Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 22 ff. 57 Ähnlich Sander/Hollering, NStZ 2017, 193 (196).

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bewusst war. Diese Möglichkeit kann nie mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Dem Arzt würde das Wissenselement uneingeschränkt unterstellt.58 bb) Fahrlässigkeit Besonders relevant im Kontext von KI-Systemen – auch im Bereich der Medizin – ist die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit des Arztes.59 Für die Bejahung einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit müsste der Arzt in kausaler und zurechenbarer sowie subjektiv vorwerfbarer und vorhersehbarer Weise eine Sorgfaltspflicht verletzt haben.60 Hier ergeben sich Fragen hinsichtlich der Vorhersehbarkeit des Erfolges, des Sorgfaltsmaßstabes sowie des Vertrauensgrundsatzes. (1) Kausalität und objektive Zurechnung Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes setzt zunächst den Nachweis einer für den Erfolg kausalen Handlung voraus.61 Schon an dieser Stelle führt die fehlende Vorherseh- und Nachvollziehbarkeit von KI-Systemen zu Beweisproblemen. Zwar könnte man zur Begründung der Ursächlichkeit auf die Entscheidung, das System überhaupt einzusetzen, abstellen. Dies vermag jedoch wiederum auf Ebene der Zurechnung nicht in jedem Fall zu überzeugen, soweit es sich um ein ordnungsgemäß zugelassenes System handelt, denn dann wird gerade kein rechtlich relevantes Risiko begründet. Vielmehr würde im Gegenteil eine Entscheidung pönalisiert, die durch die Zulassung nebst medizinischer Standards gerade legitimiert wurde.62 Hier zeigt sich bereits, dass ein zentrales Problem bei der Verwendung von KISystemen die objektive Zurechenbarkeit des Erfolges zu einer spezifischen Handlung ist.63 Auch insofern wird zunächst der Nachweis darüber, dass die von einem Arzt geschaffene Gefahr sich im tatbestandlichen Erfolg konkret realisiert hat, aufgrund der vielen involvierten Akteure erschwert. Das relevantere Problem ist jedoch, dass neben den anderen Personen hier nun ein System involviert ist, das in den Entscheidungsprozess eingreift, diesen möglicherweise in seiner Entscheidung beein-

58 Zur Lösung des Problems könnte auf die konkrete Kenntnis des Arztes hinsichtlich der Beiträge Dritter abgestellt werden. Doch auch dies vermag mit Blick auf die Black-BoxProblematik nicht vollends zu überzeugen. 59 Beck, ZIS 2020, 41 (46); Gless/Weigend, ZStW 2014, 561 (580); Simmler/Markwalder, AJP/PJA 2017, 175. 60 Allgemein Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 38 ff.; Gless/Weigend, ZStW 2014, 580. 61 Ott, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 261 Rn. 63. 62 Siehe auch Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 14 ff.; allgemein Haagen/Lohmann (Fn. 37), 268 ff.; Seher, in: Gless/Seelmann (Hrsg.), Intelligente Agenten und das Recht, 2016, 45 (51 ff.). 63 Siehe auch Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 16 ff.; Beck, ZIS 2020, 45; Hilgendorf, in: Beck (Hrsg.), Jenseits von Mensch und Maschine, 2012, 119 (119 ff.); allgemein Seher (Fn. 62), 51 ff.

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flusst oder sogar lenkt.64 Dem menschlichen Letztentscheider (hier dem Arzt) als sog. human in the loop dennoch den Erfolg vollständig zuzurechnen, lässt ihn zumindest in den meisten Fällen zum symbolischen Haftungsknecht werden.65 Anders gewendet: In den seltensten Fällen sollte der Erfolg noch als alleiniges Werk des Arztes angesehen werden.66 Denn dieser weiß zum einen typischerweise nur wenig über die konkrete Funktionsweise des Systems, zum anderen ist ihm selten bekannt, auf welcher Informationsbasis das vorgeschlagene Ergebnis generiert wird. Unter Umständen konnte sich der Arzt den Einsatz noch nicht einmal aussuchen, weil die Behandlung mit einem KI-System zum medizinischen Standard geworden ist oder Klinik bzw. Arbeitgeber den Einsatz vorgegeben haben. Erst recht überzeugt die Zurechnung nicht, wenn man bedenkt, dass den Systemen bereits jetzt in vielen Bereichen eine im Vergleich zum Menschen geringere Fehleranfälligkeit67 unterstellt wird. Eine (Letzt-)Entscheidung des Arztes, die nicht dem Vorschlag des Systems entspricht, könnte für ihn deshalb ebenfalls ein mögliches Strafbarkeitsrisiko begründen.68 Eine Zurechnung der gemeinsamen Entscheidung von Arzt und KI-System bedarf vielmehr einer meaningful human control des Systems durch den Arzt, also einer bedeutsamen Kontrolle über die Maschine. Nur wenn man im konkreten Fall noch von einer meaningful human control ausgehen kann, kann das aus der Interaktion mit dem System resultierende Ergebnis als Werk des Arztes angesehen werden und eine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen.69 Diese hängt zusammen mit dem Verständnis für die Funktionsweise des Systems, aber auch eine Begründung der Entscheidungsvorschläge, Auskunft über die genutzten Daten etc. könnten eine solche Kontrolle herstellen. Was im Detail sowohl für die Handelnden als auch normativ eine derartige Kontrolle begründet, ist in interdisziplinären Forschungsprojekten zu erarbeiten.70 Hierfür sollten sich gerade auch Rechtswissenschaftler engagieren, um die technologische Entwicklung den rechtlichen Vorgaben entsprechen kann. De lege ferenda gilt es ebenfalls Lösungsmöglichkeiten zu erörtern, die auf technischer und normativer Seite eine Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine derart einhegen, dass noch von bedeutsamer Kontrolle des Arztes in Interaktion mit 64

Gerade dies macht die objektive Zurechnung problematisch. Vgl. Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 16 ff. 65 Vgl. Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 18 ff.; allgemein Sharkey, in: Bhuta et al. (Hrsg.), Autonomous weapon systems, 2016, 23 (23 ff.). 66 Siehe auch Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 18 ff.; Beck, in: Fischer/Hoven (Hrsg.), Schuld, 2017, 289 (293 f.); Sharkey (Fn. 65), 34 ff. 67 Vgl. Dettling, PharmR 2019, 636; Frost, MPR 2019, 117 (118); Wennker (Fn. 9), 64 ff. 68 Vgl. Beck, ZIS 2020, 46; ähnlich Eberbach, MedR 2019, 3. 69 Mit dieser Fragestellung beschäftigt sich auch das Projekt vALID (01GP1903 A). Vgl. www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/valid-klinische-entscheidungsfindung-durch-kunstli che-intelligenz-ethische-rechtliche-und-10430.php (zuletzt abgerufen am 30. 12. 2021). 70 Wie etwa in dem Projekt vALID. Vgl. Fn. 69.

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KI-Systemen gesprochen werden kann. Die Ausarbeitung dieser Einhegung bedarf eines interdisziplinären Diskurses.71 (2) Sorgfaltsmaßstäbe Der im Rahmen der Fahrlässigkeit relevante Sorgfaltsmaßstab bestimmt sich danach, welches Verhalten in einer Situation von einer vernünftigen Person aus einem bestimmten sozialen Kreis erwartet werden kann.72 KI-Systeme sind komplex und bergen noch viele bisher unbekannte Risiken. Die Eingliederung in bekannte Sorgfaltsmaßstäbe ist aus diesem Grund nicht ohne Weiteres möglich; vielmehr bedarf es zunächst gesamtgesellschaftliche Überlegungen, die auch private Standards wie DIN- oder ISO-Normen miteinschließen sollten.73 Gerade im besonders sensiblen Bereich der Medizin stellt die Ermittlung des sozialadäquaten Risikos eine besondere Herausforderung dar. Hierfür müssen die Vor- und Nachteile der Technologie im konkreten medizinischen Bereich sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Für die Ermittlung des sozialadäquaten Verhaltens werden künftig neben der Bewertung der Technologie als solches auch Aspekte wie vorgesehene (ggf. verbindliche) Technikeinweisungen, Einhaltung vorgegebener Standards und hinreichende Risikoermittlungen relevant sein.74 (3) Vorhersehbarkeit Beim Einsatz von KI-Systemen wird es zudem Schwierigkeiten geben, die für eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit notwendige Vorhersehbarkeit festzustellen.75 Die Strafbarkeit basiert auf der Prämisse, dass vorhersehbare Verletzungen Dritter zu vermeiden sind.76 Den Systemen ist aufgrund der Black-Box-Problematik eine abstrakte Vorhersehbarkeit für potenzielle Schäden inhärent,77 sodass Vorhersehbarkeit eigentlich immer bejaht werden könnte. Eine derart weite Auffassung würde allerdings erneut dazu führen, dass bereits die Entscheidung für den Einsatz von KI an sich eine fahrlässige Strafbarkeit begründen würde. Erneut würde ein Verhalten pönalisiert, welches zuvor durch Zulassungen oder medizinische Standards legitimiert wurde. Sinnvoller erscheint es deshalb, eine konkretisierte Vorhersehbarkeit zu fordern. 71

Wie eine sinnvolle menschliche Kontrolle technisch umgesetzt werden kann, wird etwa in dem Projekt vALID (Fn. 69) analysiert, das wir hier als Beispiel für mögliche Wege zur Schaffung von MHC nehmen wollen. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt, an dem die Autorin als Partner beteiligt ist, untersucht normativ, rechtlich und technisch, wie KI-gesteuerte klinische Entscheidungsunterstützungssysteme mit der Arzt- und Patientensouveränität in Einklang gebracht werden können. 72 Siehe auch Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 41 ff.; Simmler/Markwalder, AJP/PJA 2017, 177. 73 Siehe auch Steinrötter (Fn. 11), § 5 Rn. 13 und 18 f. 74 Siehe auch Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 50 ff. 75 Vgl. Beck, ZIS 2020, 46; Simmler/Markwalder, AJP/PJA 2017, 177. 76 Vgl. Gless/Weigend, ZStW 2014, 580 ff.; Sander/Hollering, NStZ 2017, 196. 77 Ähnlich Gless/Wohlers, ZStR 2019, 374.

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Wie genau diese Vorhersehbarkeit auszugestalten ist, bedarf weitergehender Diskussion.78 (4) Vertrauensgrundsatz Besondere Relevanz bei der Nutzung von KI-Systemen im medizinischen Kontext kommt dem Vertrauensgrundsatz zu. Nach diesem darf grundsätzlich jeder Beteiligte auf das sorgfaltsgemäße Verhalten anderer, etwa kooperierender Ärzte, vertrauen.79 Die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes wird durch die Nutzung von KI-Systemen im medizinischen Bereich erschwert. Durch die schwere Vorhersehbarkeit und Nachvollziehbarkeit der „Entscheidungen“ agiert ein System möglicherweise anders als ein menschlicher Kollege. Die technische vorhersehbare Unvorhersehbarkeit kann nicht ohne Weiteres mit der (fehlenden) Kalkulierbarkeit des Verhaltens eines menschlichen Gegenübers verglichen werden.80 Die KI-Systeme unterbrechen vielmehr Verantwortungssphären: Klassischerweise ist Adressat der Delegation der Verantwortung eine menschliche Person. Interagiert jedoch ein System in dieser Sphäre, kann zumindest nicht mehr ohne Weiteres auf einen Menschen als Verantwortlichen verwiesen werden. Dem Grunde nach soll durch den Vertrauensgrundsatz eigentlich auf eine vorhandene Verantwortungssphäre (das Kooperierenden) verwiesen werden. Eine solche Sphäre fehlt aber eben, wenn mit einem System interagiert wird.81 Insoweit gäbe es dann keinen strafrechtlich Verantwortlichen, was mit Blick auf die gesellschaftliche Akzeptanz problematisch erscheint. 3. Strafrechtliche Verantwortlichkeit des Herstellers Neben der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Arztes (Anwenders) kommt eine Strafbarkeit der Hersteller des Systems in Betracht.82 Eine verschuldensunabhängige Haftung – wie sie im Zivilrecht existiert – kommt aufgrund des Grundsatzes nulla poena sine culpa im Strafrecht nicht in Betracht.83 Zudem ist zu beachten, dass eine Strafbarkeit derzeit nur natürliche Personen und nicht das Unternehmen treffen kann. Der Strafbarkeitsvorwurf betrifft somit ggf. den Inhaber des Unternehmens

78 Ähnlich Beck, ZIS 2020, 46; gegen die Pflicht zur Schaffung völliger Risikofreiheit schon RGSt 33, 346 (347). 79 Siehe auch Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 45 ff.; Duttge, in: Erb/Schäfer (Hrsg.), MK-StGB, 4. Aufl. 2020, § 15 Rn. 141; Sander/Hollering, NStZ 2017, 198. 80 Siehe auch Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 46 f.; Gasser, in: Maurer et al. (Hrsg.), Autonomes Fahren, 2015, 543 (560 ff.). 81 Siehe auch für die Einparkhilfe AG München NZV 2008, 35; Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 45 ff. 82 Ähnlich Schuster, DAR 2019, 6 (7). 83 Siehe auch Schlutz, DStR 1994, 1811 (1814); Schuster, DAR 2019, 7.

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oder einzelne Mitarbeiter, die an der Herstellung beteiligt waren.84 Der strafrechtliche Bezug wäre die strafrechtliche Produzentenhaftung.85 Insoweit könnte der Hersteller wegen vorsätzlicher und fahrlässiger Körperverletzung sowie wegen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung des Patienten durch das Produkt strafbar sein. Für die Kausalität gilt im Rahmen der strafrechtlichen Produkthaftung Folgendes: Im Holzschutzmittel-Fall86 hat der BGH den Nachweis der Kausalität bejaht, obwohl ein Kausalzusammenhang nicht mit absoluter Gewissheit festgestellt werden konnte.87 Die Grundsätze aus dem Holzschutzmittel-Fall können allerdings nicht vollständig auf KI-Systeme übertragen werden. Denn durch die unvorhersehbaren und nicht nachvollziehbaren Entscheidungen der Systeme, wird die Nachweisbarkeit der Kausalität insgesamt und nicht nur bezüglich bestimmter, konkreter Beiträge erschwert. Insgesamt wird es aufgrund der „Black-Box“-Problematik der Systeme zukünftig nicht ohne Weiteres möglich sein, andere Ursachen als die jeweils zu untersuchende Handlung des Herstellers für den Schaden auszuschließen. Diese auch für den Arzt erarbeitete Problematik kann bereits erheblich zu der problematischen Verantwortungsdiffusion beitragen; zugleich ist eine zu weite Ausdehnung der Kausalität ebenfalls kritisch zu betrachten. Hier sind in Zukunft noch weitere Diskussionen erforderlich. Mit Bezug auf eine vorsätzliche strafrechtliche Verantwortlichkeit des Herstellers ergeben sich die bereits oben zum Vorsatz aufgeführten Probleme. Inwieweit ein vorsätzliches Verhalten des Herstellers begründet werden kann, wenn am Produkt weitere Akteure wie Trainer und Programmierer arbeiten, d. h. Konstellationen von shared agency vorliegen, gilt es zu diskutieren. Wie oben beim Arzt diskutiert sollte das abstrakte „Für-Möglich-Halten“ jedoch nicht ausreichen, um das für den Vorsatz notwendige Wissenselement anzunehmen. Auch hier ist für eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit die Verletzung einer Sorgfaltspflicht erforderlich.88 Dabei gilt auch für den Hersteller, dass die Anforderungen an ihre Sorgfalt parallel zum Rang der bedrohten Rechtsgüter des potenziell Geschädigten und dem Risiko für diese Güter ansteigen.89 Das Verhalten eines Herstellers ist also mit Blick auf die Risiken, Kosten und der Nutzen des Produktes zu beurteilen.90

84 Nach § 30 OWiG kommen Geldbußen in Betracht. Siehe auch Molitoris, in: Heussen/ Hamm (Hrsg.), Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, 11. Aufl. 2016, § 27 Rn. 181 f.; Schlutz, DStR 1994, 1814. 85 Siehe auch Gless, recht 2013, 54 (63); Schuster, DAR 2019, 7. 86 BGH NJW 1995, 2930 (2930 f.). 87 Vgl. Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 14 f.; Molitoris (Fn. 84), § 27 Rn. 187 f. 88 Siehe auch Duttge, MK-StGB, § 15 Rn. 105; Schuster, DAR 2019, 8. 89 Vgl. Sander/Hollering, NStZ 2017, 197. 90 Siehe auch Schuster, DAR 2019, 8.

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Eine Sorgfaltspflichtverletzung kommt bei Konstruktions-, Fabrikations-, Instruktions- und Produktbeobachtungspflichtverletzungen in Betracht.91 Zugleich ist der Maßstab an die Sorgfaltspflicht im Strafrecht naturgemäß aufgrund der verschärften Folgen und der Unmöglichkeit, diese Folgen (etwa durch entspreche Versicherungen) vorab abzusichern, höher.92 Auch für den Hersteller wird sorgfältiges Handeln durch die unvorhersehbaren und schwer nachvollziehbaren „Entscheidungen“ der KI-Systeme erschwert. Auch haben sich bisher noch keine einheitlichen Standards mit Blick auf KI-Systeme entwickelt. Aus diesem Grund wären etwa weitergehende, konkretisierte DIN- oder ISO-Normen oder andere Regelwerke (staatlicher oder nicht-staatlicher Natur) gerade für den Hersteller unerlässlich.93 Besonders hohe Anforderungen ergeben sich unabhängig von solchen Standards jedenfalls aus der Produktbeobachtungspflicht des Herstellers, deren Folgen bei bekannt gewordenen Fehlern des Produkts von konkreten Warnungen bis hin zu einem Rückruf reichen können.94 In seiner Lederspray-Entscheidung95 hat der BGH bereits vor langer Zeit konstatiert, dass derjenige, der die Gefahr des Eintritts gesundheitlicher Schäden begründet, auch zu dessen Abwendung verpflichtet ist.96 Auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit mit Blick auf die KI-Systeme des Herstellers übertragen bedeutet dies, dass immer dann eine Unterlassungsstrafbarkeit in Betracht kommt, wenn der Hersteller durch nachträgliche Erfahrungswerte neue Erkenntnisse erlangt, die eine Abwandlung der bisherigen Benutzung des Systems oder aufgrund hoher Risiken den Rückruf des Systems erforderten – und er nicht entsprechend handelt. Nicht ausreichen dürfte auch hier wieder die reine Kenntnis über die unkalkulierbaren Entscheidungen der Systeme, da der Hersteller sonst pauschal bei jeder Verwirklichung eines der Risiken der KI-Systeme wegen eines Unterlassens strafbar wäre. Dies überzeugt jedoch schon mit Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Nutzen dieser Systeme nicht. Somit hat sich an dieser Stelle auch bezüglich des Herstellers gezeigt, dass spezifische Kriterien zu entwickeln sind, um im Umgang mit KI-Systemen zu interessensgerechten Ergebnissen zu gelangen. Dabei ist zu beachten, dass die Hersteller nicht über Gebühr von Strafe bedroht sein sollten, da sonst das Recht eine unangemessen technikfeindliche Wirkung entfalten könnte. Gleichzeitig müssen die Anforderungen an Hersteller dessen besondere Stellung und Einwirkungsmöglichkeiten 91 Siehe auch Sander/Hollering, NStZ 2017, 198; Schuster, DAR 2019, 8; allgemein Kühl, JuS 2007, 497 (499). 92 Siehe auch Duttge, MK-StGB, § 15 Rn. 136; Schlutz, DStR 1994, 1814; Schuster, DAR 2019, 8. 93 Allgemein Duttge, MK-StGB, § 15 Rn. 137; Sander/Hollering, NStZ 2017, 198. 94 So BGH NJW 1990, 2560 (2560 ff.); Berz/Dedy/Granich, DAR 2000, 545 (545 ff.); Sander/Hollering, NStZ 2017, 198. 95 Vgl. BGH NJW 1990, 2560. 96 Vgl. Molitoris (Fn. 84), § 27 Rn. 184 f.

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bei KI-Systemen berücksichtigen, nicht zuletzt, um zur gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz der Technologie beizutragen. 4. Strafrechtliche Verantwortlichkeit des Trainers und Programmierers Von strafrechtlicher Relevanz könnte der Einsatz von KI-Systemen auch für Programmierer und Trainer sein. Zu berücksichtigen sind dabei unter anderem deren besondere Fachkenntnisse97 sowie deren Handlungsspielraum im konkreten Einzelfall. Typischerweise arbeiten Trainer in einem Team. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit greift der Vertrauensgrundsatz. Die Mitarbeiter können somit grundsätzlich auf das sorgfältige Handeln des anderen Mitarbeiters vertrauen, wenn keine Anhaltspunkte für das Gegenteil vorliegen.98 Auch hier müssen Maßstäbe entwickelt werden, an die sich Trainer und Programmierer orientieren können. Dabei sollte die jeweilige Rolle von Trainier und Programmierer im Entwicklungsprozess des konkreten Systems und die jeweilige Einwirkungsmöglichkeit im Rahmen Berücksichtigung finden. 5. Strafrechtliche Verantwortlichkeit des Zulassungsverantwortlichen Möglicherweise rückt in Zukunft vermehrt die Strafbarkeit des Zulassungsverantwortlichen in den Fokus.99 Im Bereich der Medizin handelt es sich bei den verwendeten KI-Systemen oft um Medizinprodukte, die ein Zulassungsverfahren durchlaufen und von Angestellten der Zulassungsstelle geprüft und zertifiziert werden.100 Die zuständige Stelle könnte in Einzelfällen die Zulassung des KI-Systems erteilen, obwohl bei sorgfaltsgemäßer Betrachtung und Abwägung aller Informationen und Kenntnisse eine solche nicht hätte erteilt werden dürfen. Verletzt das System anschließend einen Patienten oder führt die Verwendung des Systems sogar zum Tod des Patienten, so kommt für den Angestellten der Behörde eine Strafbarkeit aus §§ 223 ff. sowie § 229 StGB und §§ 211, 212 sowie § 222 StGB in Betracht. Auch hier greifen die obigen Überlegungen zur Fahrlässigkeitsstrafbarkeit und deren notwendige Anpassung.

97 Allgemein Sander/Hollering, NStZ 2017, 198; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/ Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 15 Rn. 138. 98 Vgl. Sander/Hollering, NStZ 2017, 198. 99 Allgemein Sander/Hollering, NStZ 2017, 199. 100 Vgl. Helle, MedR 2020, 994 ff.; siehe auch Dettling, PharmR 2019, 636 ff.

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6. Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Systeme selbst Eine eigenständige Strafbarkeit der Systeme wird in der Literatur diskutiert.101 So wird etwa die Löschung des Systems mit anschließender Neuprogrammierung, die Schaffung von Fonds für Restitutionsfälle oder die vollständige Zerstörung des Systems vorgeschlagen. Derzeit ist aber eine Bestrafung von nicht natürlichen Entitäten nicht anerkannt. Juristische Personen sind jedoch in anderen Ländern grundsätzlich strafrechtsfähige Rechtssubjekte.102 Doch kann durchaus mit guten Gründen zumindest derzeit gegen eine Strafbarkeit und gegen eine Bestrafung von KI-Systemen argumentiert werden. So sprechen die begrenzt kognitiven Fähigkeiten derartiger Systeme und die damit einhergehende fehlende Fähigkeit zur Willensbildung gegen eine Sanktionierung des Systems.103 Auch fehlt den Systemen bisher jegliches Schuldbewusstsein. Insbesondere aber spricht die Menschenwürde gegen eine solche Strafbarkeit.104 Aus einer Praxisperspektive lässt sich gegen eine Strafbarkeit des Systems schließlich anführen, dass dies die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Menschen zu verdrängen droht.105

III. Zusammenfassung Der Überblick über die strafrechtlichen Herausforderungen des Einsatzes von KI in der Medizin hat zum einen zeigt, dass weiterhin diverse Konstellationen denkbar sind, in welchen sich die handelnden Akteure strafbar machen können. Zugleich hat der disruptive Charakter dieser Technologie Auswirkungen auf die traditionellen Strukturen des Strafrechts, etwa die objektive Zuordnung bei Kooperation mit einem KI-System. Deshalb erscheint in diesem Kontext eine Neujustierung der dem Strafrecht zugrundeliegenden Konzepte erforderlich. Denn auch der bloße Verzicht auf Strafrecht hilft nicht weiter: Wenn der Einsatz von KI dazu führt, dass sich in einem Bereich wie der Medizin oft kein strafrechtlich verantwortlich handelnder Akteur mehr ermitteln lässt, könnte das die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz derartiger Technologien verringern und so letztlich technikfeindliche Wirkung entfalten. Eine gesamtgesellschaftliche Diskussion sollte daher die aufgezeigten strafrechtlichen Problemfelder in den Blick nehmen und unter Berücksichtigung des Allgemeinwohls und den Interessen und Rechtsgütern aller Beteiligter das Strafrecht an die neuen Gegebenheiten der Technologie anpassen. Es gilt, die Gesellschaft durch 101 Allgemein Beck (Fn. 8), 10 f.; Gaede, Künstliche Intelligenz, 2019, 57 ff.; Joerden (Fn. 6), 203 ff.; Schuster, in: Beck et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Automatisierung, KI und Recht, 2020, 387 (392 ff.); Seher (Fn. 62), 48 ff.; Simmler/Markwalder, ZStW 2017, 34. 102 Siehe auch Hirsch, ZStW 1995, 285 (298); Rogall, in: Mitsch (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 5. Aufl. 2018, § 130 Rn. 12 ff. 103 Vgl. Gless/Weigend, ZStW 2014, 567; Riehm, RDi 2020, 42 (45). 104 Siehe auch Beck (Fn. 16), § 7 Rn. 78 ff.; a. A. Quarck, ZIS 2020, 65 (67); diff. Gaede (Fn. 101), 62 ff.; allgemein Seher (Fn. 62), 56 ff. 105 Vgl. Schuster (Fn. 101), 394 f.

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angemessene Rechtssetzung vor einer möglichen Verantwortungsdiffusion zu schützen, aber auch die Individuen, die mit KI-Systemen interagieren, vor einer unzulässigen Inanspruchnahme zu bewahren. So sollte insbesondere darauf geachtet werden, die strafrechtlichen Risiken für Ärzte nicht unangemessen auszuweiten. Vielmehr sollte jedenfalls auch die potenzielle Verantwortung von Hersteller, Trainer oder Programmierer in den Blick genommen werden. Vor allem aber – das gilt auch für die Letztgenannten – sollte die faktische Einwirkungsmöglichkeit des Handelnden auf die Entscheidung und damit die Ursache für den schädigenden Erfolg als Kriterium für die strafrechtliche Verantwortung gesehen werden. Diese Einwirkungsmöglichkeit wird im Kontext von KI häufig als meaningful human control bezeichnet. Wie diese beim Einsatz von KI-Systemen erhalten bleiben kann, ist in direkter Kooperation mit u. a. technischen, psychologischen und ethischen Disziplinen zu untersuchen und die Systeme dann entsprechend zu gestalten.106

106

Wie etwa in dem Projekt vALID. Vgl. Fn. 69.

Selbstverschulden statt Erfolgsaussicht? Der Impfstatus als Triagekriterium Stefan Huster

I. Einführung Die Coronapandemie hat einigen bekannten, aber lange Zeit nicht für besonders relevant erachteten Themen und Streitfragen der normativen Orientierung eine ungeahnte Aktualität verschafft. Dazu gehört auch die Frage, wie in einer Notsituation die knappen Ressourcen medizinischer Behandlung zu verteilen sind. Traditionellerweise spricht man insoweit von der „Triage“1 – eine Bezeichnung, die hier übernommen werden soll, wenn auch nicht ganz klar ist, ob die Verteilungsfragen, die während der Pandemie in den Krankenhäusern auftreten, den klassischen Kriegs- und Katastrophenszenarien der Triage in jeder Hinsicht gleichgestellt werden können. Immerhin traf uns jedenfalls in Deutschland die Knappheit der Intensivbehandlungsmöglichkeiten während der Pandemie nicht so überraschend wie ein Flugzeugabsturz oder ein Bombeneinschlag: Dass es so weit kommen kann, hatten zuvor schon andere Länder und Regionen („Bergamo“) auf leidvolle Weise demonstriert. Und so dynamisch die Pandemie auch war und ist, einige Wochen und Monate der Reflexion, wie verfahren werden soll, gab es schon noch; sie reichten immerhin, um eine Flut an Stellungnahmen und Literatur zu produzieren.2 Dieser „Zeitverzug“ mag durchaus auch normativ von Bedeutung sein.3 Dabei bezog sich diese Diskussion zunächst allgemein auf die Frage, welche Kriterien in einer Pandemie-Triage moralisch und/oder rechtlich zulässig sind und wer diese Frage letztlich beantworten soll. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dazu hat leider wenig geklärt (II.). Mit der Entwicklung eines Corona-Impfstoffs hat die Diskussion dann eine Wendung genommen, die hier im Mittelpunkt stehen soll: Kann der Impfstatus ein Triagekriterium darstellen? Damit ist ein weiterer „Klassiker“ der Medizinethik und des Medizinrechts im Spiel: die Frage nach der Bedeutung der Eigenverantwortung oder des Selbstverschuldens für den Zugang 1

Vgl. dazu etwa Sass, Medizinische Ethik bei Notstand, Krieg und Terror, 5. Aufl. 2007; aus juristischer Sicht Brech, Triage und Recht, 2008. 2 Vgl. etwa die Beiträge bei Hörnle/Huster/Poscher (Hrsg.), Triage bei einer Pandemie, 2021. 3 Vgl. dazu sogleich bei Fn. 12.

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zur medizinischen Versorgung (III.). Ein Fazit zum Verhältnis der beiden Diskussionen beschließt den Beitrag (IV.). Die hier diskutierten Fragen liegen im Schnittfeld von Medizinethik, Rechtsphilosophie, Strafrecht und Verfassungsrecht. Sie berühren damit Themenfelder, die der Jubilar in seinem umfangreichen Werk häufig und tiefgründig bearbeitet hat und über die der Autor dieses Beitrags sich mit ihm gelegentlich auch – etwa in der Kommission „Wissenschaftsethik“ der Leopoldina4 – austauschen durfte. Er hat daher die Hoffnung, dass den Jubilar auch die hiesige Themenstellung interessiert.

II. Die Triagediskussion in der Pandemie Nachdem die ersten Befürchtungen aufgekommen waren, auch in Deutschland könne in der weiteren Entwicklung der Pandemie eine Knappheit der intensivmedizinischen Behandlungsressourcen auftreten und daher eine Triage im Sinne der Entscheidung, welcher von mehreren Patienten eine potentiell überlebensnotwendige Behandlung erhält, erforderlich werden, wurde aus juristischer Perspektive zunächst deutlich, dass für diese Situation keine spezielle rechtliche Regelung vorhanden ist. Man musste daher auf das allgemeine Strafrecht zurückgreifen, was dazu führte, dass die Diskussion zunächst sehr stark von strafrechtlichen Kategorien und Problemen – etwa der Einordnung der sog. Ex-post-Triage – bestimmt war.5 Angesichts des Fehlens spezifischer Regelungen und der damit verbundenen Orientierungsunsicherheit entwickelten die medizinischen Fachgesellschaften eine Leitlinie zum Umgang mit der Knappheitssituation.6 Diese Leitlinie, die nicht mehr als Empfehlungscharakter haben konnte und sich selbst auch als „klinisch-ethische Empfehlung“ bezeichnete, stellte vorrangig auf die klinische Erfolgsaussicht als Verteilungskriterium ab. Eine weitergehende Effizienzorientierung des Verteilungsmodus – etwa orientiert an Lebensalter, Lebensqualität, sozialem Wert o. ä. – wurde ausdrücklich abgelehnt. Dabei ist aber nicht zu übersehen, dass auch bereits das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht zu einer differenzierten Zuteilung der Ressourcen führt, die an den Gesundheitszustand der Patienten und die davon abhängigen Chancen der intensivmedizinischen Behandlung anknüpft. Im Ergebnis kann sich daraus eine Schlechterstellung von Menschen mit einschlägigen Vorerkrankungen oder Behinderungen ergeben. Die Leitlinie sah dementsprechend auch vor, dass 4 Vgl. https://www.leopoldina.org/politikberatung/wissenschaftliche-kommissionen/wissen schaftsethik/ (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). 5 Eine Sammlung der Fragen und Beiträge findet sich jetzt bei Hilgendorf/Hoven/Rostalski (Hrsg.), Triage in der (Strafrechts-)Wissenschaft, 2021. Zu den folgenden Überlegungen vgl. auch bereits Huster, MedR 2022, 221 ff. 6 Erste Fassung einsehbar unter https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/publika tionen/covid-19-dokumente/200325-covid-19-ethik-empfehlung-v1.pdf (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). Zu den medizinethischen Hintergrundannahmen der Empfehlung vgl. Marckmann/ Neitzke/Schildmann, DIVI Bd. 11 (2020), 4, 172 ff.

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nicht nur der klinische Zustand des Patienten sowie die einschlägigen Laborparameter und Scores erhoben werden, sondern auch die Komorbiditäten und der Allgemeinzustand inkl. Gebrechlichkeiten.7 Dieser Rechtszustand weckte aus zwei Gründen Bedenken. Zum einen wurde beklagt, dass in einer derartig (grundrechts-)wesentlichen Frage der Gesetzgeber nicht schweigen dürfe, sondern die Grundsätze, nach denen die Ärzte im Triage-Fall vorgehen sollen, selbst festlegen müsse.8 Zum anderen befürchteten Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen, dass sie durch das Triagekriterium der Erfolgsaussicht benachteiligt werden könnten.9 Sie verlangten daher vom Gesetzgeber, dass er die Auswahlkriterien selbst und in einer Art und Weise regele, die eine Behindertendiskriminierung ausschließe. Beide Aspekte werfen ersichtlich sehr grundsätzliche normative Fragen auf. Die Regelungsverpflichtung des Gesetzgebers kollidiert mit einer gewissen Unwilligkeit, vielleicht sogar Überforderung des politischen Systems, sich in ethisch heiklen und komplexen Verteilungsfragen eindeutig zu positionieren; das ist aus der Organtransplantation, aber zuletzt auch aus der Impfpriorisierung bekannt.10 Der Ethikrat hatte insoweit sogar grundsätzliche Vorbehalte angemeldet: Muss nicht jede positive gesetzliche Regelung von Verteilungskriterien bei der Triage zu einer unzulässigen Bewertung von Menschenleben führen?11 Und der Verdacht der Unfairness gegen die Erfolgsaussicht als Allokationskriterium verweist auf die philosophischen Tiefenbohrungen zum Verhältnis von Gleichheits- und Effizienzorientierungen in Verteilungsfragen, auch und gerade im Gesundheitswesen.12 Denn anders als bei der klas7 S. 6 f. unter 3.2. „Kriterien für Priorisierungs-Entscheidungen“ der in Fn. 6 genannten Leitlinie. 8 Vgl. Bockholdt, in: Schlegel/Meßling/Bockholdt, COVID-19 – Corona-Gesetzgebung – Gesundheit und Soziales, 2020, § 9 Rn. 138; Engländer/Zimmermann, NJW 2020, 1398 (1402); Gärditz, ZfL 2020, 381 (384 ff.); Gelinsky, Brauchen wir ein Triage-Gesetz?, 2020; Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2020, 83; Lindner/Schlögl-Flierl, Triage bei COVID-19, 2020, 10 f. Ähnlich bereits Kloepfer/Deye, DVBl. 2009, 1208 (1218 f.); Taupitz, in: Kloepfer (Hrsg.), Pandemien als Herausforderung für die Rechtsordnung, 2011, 103 ff. (124); jetzt auch Taupitz, MedR 2020, 440 (441 ff.). Zur Wesentlichkeitstheorie in der Verfassungsrechtsprechung vgl. nur Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 20 Rn. 172 ff. 9 In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird daher nicht selten allein ein Zufallsverfahren für verfassungsmäßig gehalten; vgl. etwa Engländer, in: Hörnle/Huster/Poscher (Hrsg.), Triage bei einer Pandemie, 2021, 111 (139 ff.); Walter, Die Zeit v. 2. 12. 2021, 15. 10 Vgl. Huster, Bedarf es für die Festlegung der Impfreihenfolge einer gesetzlichen Grundlage?, FES Forum Politik und Gesellschaft (http://library.fes.de/pdf-files/dialog/17616. pdf, zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022), 2021. Zu den Folgeproblemen vgl. dann Huster/Kohlenbach/Stephan, SGb 2021, 197 ff. 11 Vgl. Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, 2020, 4; Merkel/Augsberg, JZ 2020, 704 (714). Kritisch dazu Huster, in: Hörnle/Huster/Poscher (Hrsg.), Triage bei einer Pandemie, 2021, 83 (90 ff.). 12 Erwähnt seien dazu nur zwei neuere deutschsprachige Publikationen: Dufner, Welche Leben soll man retten?, 2021; Lübbe, Nonaggregationismus, 2015.

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sischen Triage verteilen sich die Umstände, die zu differenzierten Erfolgsaussichten führen, hier nicht ganz zufällig: Wer wie schwer betroffen ist, wenn der ICE entgleist oder das Flugzeug abstürzt, kann man vorher nicht wissen – wer aber voraussichtlich aufgrund einer Behinderung oder Vorerkrankung bei der Corona-Triage die schlechten Karten hat, ist heute schon recht klar. Das macht eine kontraktualistische Rechtfertigung der Orientierung an der Erfolgsaussicht hier schwierig, und auf eine rein utilitaristische Begründung wird man ungerne ausweichen wollen. Genau diese beiden Aspekte lagen der Verfassungsbeschwerde von neun Bürgern mit Behinderungen oder Vorerkrankungen gegen die derzeitige Rechtslage zugrunde.13 Man durfte daher auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gespannt sein: Würde das Gericht, den Gesetzgeber tatsächlich zu einer Festlegung der Triagekriterien verpflichten? Und würde es die klinische Erfolgsaussicht als Kriterium verwerfen oder zumindest deutlich einschränken? Leider wurden die Erwartungen enttäuscht, denn die Entscheidung des Gerichts ließ beide Fragen offen. Nachdem – nachvollziehbarerweise – der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Juli 2020 abgelehnt worden war,14 brachte das Gericht das Hauptsacheverfahren dann schon dadurch auf ein falsches Gleis, dass es im September 2020 einen Katalog mit Fragen zur Einschätzung der tatsächlichen und rechtlichen Situation an eine Reihe von Institutionen und Verbänden übersandte, die sich insbesondere mit der Situation von Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Von diesem Adressatenkreis war nun von vornherein keine Klärung der verfassungsrechtlichen Grundsatzfragen zu erwarten. Und tatsächlich schaffte es das Gericht dann auch in seiner Entscheidung im Dezember 2021, zu beiden Fragen schlichtweg nichts zu sagen:15 Der Gesetzesvorbehalt wird gar nicht angesprochen, und das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht wird kurzerhand und ohne jede Begründung für „verfassungsrechtlich unbedenklich“ erklärt.16 Stattdessen ergeht sich das Gericht in Vermutungen, dass die von den medizinischen Fachgesellschaften und ärztlichen Standesvertretungen empfohlenen Kriterien nicht in jeder Hinsicht präzise und gegen Missverständnisse, die zu Nachteilen für behinderte Menschen führen können, immun seien. Das ist nun nicht nur ein problematischer Misstrauensnachweis gegenüber den Intensivmedizinern, sondern auch in der Sache nicht zielführend. Denn heraus kommt nun lediglich eine vage Verpflichtung des Gesetzgebers, verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu treffen, die diese Unzuträglichkeiten verhindern: Einführung des Mehraugen-Prinzips, Vorgaben für die Dokumentation, spezifische Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung des intensivmedizinischen Personals – Dinge, die auch die medizinischen Fachgesellschaften schon empfohlen und getan haben. Das soll der Ertrag der ganzen 13 Die Antragsschrift ist zugänglich unter https://www.menschenundrechte.de/uploads/me dia/Verfassungsbeschwerde_COVID_19_Triage_Az_1_BvR_1541_20_HP.pdf (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). 14 Vgl. BVerfG NVwZ 2020, 1353. 15 BVerfG NJW 2022, 380. 16 Vgl. dazu schon Huster, https://verfassungsblog.de/much-ado-about-nothing/ (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022).

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verfassungsrechtlichen Triage-Diskussion sein? Im Grunde lässt sich mit diesem Ergebnis nicht einmal eine Regelungspflicht des Gesetzgebers begründen; es hätte dann völlig ausgereicht, ihn zunächst beobachten zu lassen, ob die Intensivmediziner das Entscheidungsverfahren in der Triage vernünftig organisieren.17 Einige für das Selbstverständnis des Gemeinwesens zentrale Kernfragen – Was müssen wir politisch und rechtlich entscheiden und was dürfen wir zivilgesellschaftlichen Einrichtungen überlassen? Was bedeutet Gleichheit beim Zugang zu knappen medizinischen Ressourcen, wann werden Menschen mit schlechteren Gesundheitschancen insoweit diskriminiert? – werden hier zu Anwendungsproblemen im klinischen Alltag („Vorurteile und mangelnde Sensibilität gegenüber Menschen mit Behinderungen lauern überall“) verharmlost und verkitscht.

III. Der Impfstatus als Kriterium? In der Diskussion vor und um die Triage-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurden ausschließlich die „medizinnahen“ Kriterien der Dringlichkeit und Erfolgsaussicht betrachtet: Wer braucht eine intensivmedizinische Behandlung besonders dringend und bei wem bewirkt sie etwas? Mit dem weiteren Fortschreiten der Pandemie und dem stockenden Fortgang der Impfkampagne geriet dann mit dem Impfstatus auch ein „ordnungspolitisches“ Kriterium in den Blick. Seine Attraktivität ergibt sich aus dem folgenden Szenario. Mit der Zugänglichkeit einer Impfung für alle besitzen die Bürger nun weithin die Möglichkeit des Selbstschutzes vor einer (schweren) Erkrankung an Covid-19. Da einer freiheitlichen Ordnung ein aufgedrängter Selbstschutz fremd ist, kann der Gesundheitsschutz als solcher keine Rechtfertigung mehr für die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie darstellen. Vielmehr kann derweil nur noch darauf abgestellt werden, dass eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert werden soll, die einträte, wenn zu viele Menschen gleichzeitig an Covid-19 erkrankten und ein gewisser Anteil dann auf eine intensivmedizinische Versorgung angewiesen wäre. Eine derartige Überlastung der Intensivstationen hätte für die an Covid-19-Erkrankten, die anderen Patienten, aber auch für das medizinische und pflegerische Personal erhebliche negative Auswirkungen. Aus einer normativen Perspektive spielt dabei auch eine zentrale Rolle, dass eine Triage im Sinne der Auswahl konkreter Menschen für die Einleitung oder das Vorenthalten einer Intensivbehandlung möglichst vermieden werden sollte, weil sie normative Kollateralschäden für das gesamte Gemeinwesen mit sich zu bringen droht: Urteile über das individuelle Leben oder Sterben sollten niemandem zugemutet werden; eine derartige Bestimmungsmacht stellt in einer Rechtsgemeinschaft der Freien und Glei-

17 Zur verfassungsrechtlichen Beobachtungspflicht vgl. Huster, Zeitschrift für Rechtssoziologie 24 (2003), 1 ff.

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chen einen schwer akzeptablen Fremdkörper dar.18 Wenn es sehr starke Gründe gibt, Überlastungs- und Triage-Konstellationen im Gesundheitssystem durch eine Überzahl an Coronapatienten zu vermeiden, wir aber gleichzeitig nicht die ganze Gesellschaft dauerhaft in einen Lockdown schicken können und wollen, drängt sich zunächst die Konsequenz auf, eine Impfpflicht einzuführen. Dafür sprechen auch gute Gründe; gleichzeitig betritt der Staat hier aber ein vermintes Gelände, weil Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit als besonders problematisch gelten und man eine Impfpflicht jedenfalls nur sehr ungern mit körperlichem Zwang durchsetzen wollte. Daher könnte man gegenüber den Impfverweigerern, die maßgeblich zur Überlastung der Intensivstationen beitragen, auch argumentieren, dass sie sich nicht impfen lassen müssen, dann aber auch nicht erwarten können, zu Lasten anderer, die durch eine Impfung zu ihrem Schutz beigetragen haben, eine intensivmedizinische Behandlung zu erhalten. Sie müssten sich im Bedarfsfall also „hinten anstellen“: Versorgt würden zunächst die geimpften Covid-19- und die anderen Patienten mit schweren Erkrankungen; die Ungeimpften würden nur versorgt, wenn kein Mangel an Ressourcen der Intensivmedizin besteht. Besteht dieser Mangel aber, wäre der Impfstatus in diesem Sinne ein Triagekriterium. Es sollte auf der Hand liegen, dass die Entscheidung, ob ein derartiges Triagekriterium verwendet werden soll, nicht an die behandelnden Ärzte delegiert werden kann; für den Einsatz derartiger „ordnungspolitischer“ Kriterien wäre der Gesetzgeber zuständig. Zudem ist zu betonen, dass mit diesem Kriterium nicht einfach ein (weiterer) Ansatz zur Vornahme der Impfung gesetzt werden soll. Wenn die Verwendung des Kriteriums zu einer Erhöhung der Impfquote führt, wird man sich nicht beschweren wollen, aber die Rechtfertigung liegt in einem Gerechtigkeitsgedanken: Nur wer beim Selbstschutz mitmacht, kann dann auch gleiche Ansprüche beim Zugang zu den Versorgungsressourcen haben, wenn er doch schwer erkrankt. Den Selbstschutz verweigern und gleichzeitig gleichen Zugang verlangen, ist Trittbrettfahrerei; gleichzeitig Kontaktbeschränkungen zu verlangen, würde dagegen tatsächlich auf eine „Tyrannei der Ungeimpften“19 hinauslaufen. Der nur sehr gelegentlich vorgebrachte Vorschlag, nach dem Impfstatus zu triagieren,20 hat trotz seiner jedenfalls auf den ersten Blick kaum zu bestreitenden Plau18

Vgl. auch dazu bereits Huster (Fn. 11), 97 m. w. N. Zum Begriff vgl. https://www.aerztezeitung.de/Politik/Tyrannei-der-Ungeimpften-DerZorn-der-Vernuenftigen-424260.html (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). 20 Zuerst wohl bei Hofmann, Warum eigentlich nicht triagieren?, FAZ, 27. 09. 2021, Nr. 224, S. 15. Zuvor hatte sich bereits der Ökonom Armin Falk in einem Interview für die Berücksichtigung des Impfstatus ausgesprochen, vgl. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ mehr-wirtschaft/impfpflicht-von-leopoldina-forscher-armin-falk-gefordert-17460074.html (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). In die Richtung dann auch das Mitglied des Deutschen Ethikrats, Wolfram Henn, vgl. https://www.zeit.de/2021/02/wolfram-henn-uwe-janssens-coronaimpfung-medizinethiker-intensivmediziner (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). Dann Volkmann, https://verfassungsblog.de/lockdown-fur-alle/ (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022).; Hörnle, https://verfassungsblog.de/warum-der-impfstatus-bei-der-corona-triage-doch-eine-rolle-spie len-darf/ (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). 19

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sibilität und ordnungspolitischen Logik kaum Zustimmung, sogar zum Teil empörte Ablehnung erfahren.21 Insbesondere auch die bereits erwähnten intensivmedizinischen Fachgesellschaften haben sich gegen den Impfstatus als Triagekriterium ausgesprochen.22 Das ist deshalb interessant, weil sich die Vorbehalte gegen dieses Kriterium zentral aus der Vorstellung speisen, dass Ärzte und das ganze Gesundheitsversorgungssystem Menschen ganz unabhängig davon helfen sollten, ob sie zu ihrer Hilfsbedürftigkeit durch ihre eigenen Entscheidungen und ihr Verhalten beigetragen haben; diese Vorstellung scheint auch in der ärztlichen Professionsethik eine starke Verankerung zu haben. Tatsächlich ist im deutschen System der Gesundheitsversorgung – und wohl auch in den meisten anderen Versorgungssystemen – der Gedanke der Eigenverantwortung im Sinne der Berücksichtigung des eigenen Verschuldens an der Entstehung eines behandlungsbedürftigen Krankheitszustands nur schwach ausgeprägt, so dass seine Einführung im Rahmen der Corona-Triage einen grundlegenden „Systembruch“23 darstellen könnte. Zwar erwähnen bereits §§ 1 und 2 Abs. 1 SGB V die Eigenverantwortung; das hat aber zunächst nur einen appellativ-rhetorischen Charakter.24 Rechtsfolgen entfaltet das Selbstverschulden nur in Randbereichen: Kostenbeteiligungen bei absichtlich, im Rahmen eines Verbrechens oder durch kosmetische Eingriffe herbeigeführten Gesundheitsproblemen (§ 52 SGB V); Erhöhung der Belastungsgrenze für Zuzahlungen bei der Nichtinanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen (§ 62 Abs. 1 S. 3 SGB V); die Möglichkeit der Kassen, Boni für gesundheitsbewusstes Verhalten vorzusehen (§ 65a SGB V). Im Übrigen wird es mit guten Gründen für sinnvoll gehalten, dass Versorgungsansprüche dem Grunde und dem Umfang nach nicht von dem gesundheitsbezogenen Vorverhalten abhängen.25 Muss das im Rahmen der Corona-Triage ebenso gesehen werden, weil die Heranziehung des Impfstatus als Triagekriterium zu dem befürchteten „Systembruch“ 21 Kontroversen zu dem Thema gibt es nicht nur in Deutschland. Zur Diskussion in den USA vgl. Wikler, https://www.washingtonpost.com/outlook/2021/08/23/refuse-covid-treatmentunvaccinated-triage/ (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022); Marcus, https://www.washingtonpost. com/opinions/2021/09/03/doctors-should-be-allowed-give-priority-vaccinated-patients-when-re sources-are-scarce/ (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). Zur Schweiz vgl. https://www.tagesspie gel.de/politik/sehr-viele-covid-19-intensivpatienten-schweiz-debattiert-ueber-triage-bei-unge impften/27582684.html (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). 22 Vgl. https://www.divi.de/presse/pressemeldungen/pm-intensiv-und-notfallmediziner-ak tualisieren-klinisch-ethische-empfehlungen-zur-priorisierung-und-triage-bei-covid-19 (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). 23 So die Formulierung des zentralen Einwands bei Lübbe, https://verfassungsblog.de/soll ten-impfunwillige-im-triage-fall-nachrangig-behandelt-werden-teil-iii/ (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). 24 Zur Kritik der Begriffsverwendung in § 2 Abs. 1 SGB V vgl. Huster, ZEFQ 106 (2012), 195 ff.; Wolf, Das moralische Risiko der GKV im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Eigenverantwortung, 2010. 25 Aus der juristischen Diskussion vgl. etwa Huster, Ethik in der Medizin 2010, 289 ff.; Süß, Die Eigenverantwortung gesetzlich Krankenversicherter unter besonderer Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin, 2014.

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im gesamten Versorgungsgeschehen führen würde? Das lässt sich aufgrund der Unterschiede von Triage in der Pandemie und Normalversorgung durchaus bestreiten.26 Zunächst: Das Argument, es sei dem ärztlichen Personal – auch aufgrund seiner berufsethischen Prägung – nicht zuzumuten, medizinfremde Gründe zu berücksichtigen oder aus diesen Gründen eine Behandlung zu unterlassen, trägt hier nicht, weil in der Triage-Situation so oder so eine Auswahl erforderlich ist und nicht alle Bedürftigen versorgt werden können. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Situation in der Pandemie ferner grundlegend von Normallagen der Versorgung: Die Behandlung des Lungenkrebses bei einem Raucher oder der Leberzirrhose bei einem Alkoholiker hat üblicherweise nicht zur Konsequenz, dass andere Patienten nicht oder nur verzögert versorgt werden können. Diskutiert wird hier allenfalls die finanzielle Belastung des Versorgungssystems, aber das ist ein anderer und schwieriger Punkt, weil gesundheitsschädliches Verhalten mit einem Risiko des frühen Versterbens die Sozialsysteme am Ende sogar entlasten könnte. Wer weiß, ob der eine oder andere ältere Covid-19-Erkrankte, der dann verstirbt, nicht letztlich dem Gemeinwesen sogar Kosten spart. Will man sich auf derartige skurrile Aufrechnungen nicht einlassen, sollten finanzielle Überlegungen hier keine Rolle spielen; höchstens als Anreize zur Wahrnehmung der Schutzimpfung sind Kostenbeteiligungen im Erkrankungsfall o. ä. diskutabel.27 In der Triage geht es allein um das Konkurrenzverhältnis zu anderen Patienten, nicht um die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung. Bereits deshalb ist es unwahrscheinlich, dass eine Berücksichtigung des Impfstatus in der Pandemietriage auf die Normalversorgung in dem Sinne „überspringt“, dass nun auch dort das Selbstverschulden ein Leistungskriterium wird. Des Weiteren ist das Selbstverschulden in beiden Konstellationen unterschiedlicher Art. Gegen die Heranziehung der Eigenverantwortung als ein versorgungsanspruchsausschließender oder -begrenzender Faktor spricht im Rahmen der Normalversorgung regelmäßig, dass es um gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen geht, die sich nicht ohne Weiteres der individuellen Autonomie zuschreiben lassen. Ob man raucht, Alkohol trinkt, wie man sich ernährt und bewegt – das sind Verhaltensweisen, die oft Suchtcharakter und eine komplexe Genese haben und nicht selten schon in den familiären Verhältnissen angelegt sind.28 Die Entscheidung, sich impfen zu lassen oder nicht, ist dagegen ein punktuelles Ereignis, das – wie etwa der Entschluss, eine Risikosportart zu betreiben – sehr viel eher der individuellen Eigenverantwortung zugeschrieben werden kann. Müssten sich dann aber nicht alle Aufenthalte auf der Intensivstation, bei denen sich ein frei gewähltes Risiko realisiert, die gleiche Posteriorisierung wie die nicht26 Ebenfalls für diese Unterscheidung: Hörnle, https://verfassungsblog.de/warum-der-impf status-bei-der-corona-triage-doch-eine-rolle-spielen-darf/ (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). 27 So sind wohl auch die Vorschläge zur Kostenbeteiligung Nicht-Geimpfter zu verstehen, vgl. dazu etwa https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/130402/Debatte-um-Malus-bei-Impf pflichtverstoessen (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). 28 Vgl. dazu näher Huster, Soziale Gesundheitsgerechtigkeit, 2011, 62 ff.

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geimpften Coronapatienten gefallen lassen, wenn die Intensivbetten knapp sind?29 Tatsächlich ist dieser Zusammenhang nicht ganz abwegig: Immerhin wurden in den beiden letzten Jahren z. B. die privaten Silvesterfeuerwerke weithin untersagt, um die Krankenhäuser von der Versorgung der Brandverletzungen zu entlasten; dies zeigt, dass in der Pandemie auch andere „unnötige“ Inanspruchnahmen der Intensivmedizin zu vermeiden sind. Viele Verhaltensweisen, die über kurz oder lang auf die Intensivstation führen können, werden hier aber schon deshalb aus der Betrachtung herausfallen müssen, weil sie lange begonnen hatten, bevor die Pandemie überhaupt nur zu ahnen war; wer sich durch sein Ernährungs- und Bewegungsverhalten eine Adipositas zugezogen hat, die bei einer Covid-19-Erkrankung das Risiko auf einen schweren Verlauf erhöht, hat das – von allen Problemen mit der Eigenverantwortung einmal ganz angesehen – ganz unabhängig von der Pandemie getan und wird es auch mit Blick auf die Pandemie nicht kurzfristig ändern können. Aber das gilt z. B. nicht für das Betreiben einer verletzungsanfälligen Sportart; niemand „muss“ sein Risiko, auf der Intensivstation zu landen, durch Segelfliegen o. ä. in einer Pandemie erhöhen Nun wäre es aber etwas eigenwillig, dem Risikosportler bei der Einlieferung ins Krankenhaus plötzlich vorzuhalten, sein Sport sei ja an sich gut und schön, aber in einer Pandemie mit ihren überlasteten Intensivstationen ganz unangemessen: Der Risikosportler wird dagegen wohl einwenden, man hätte ihm besser vorher mitgeteilt, dass er nach einem Unfall zur Zeit nur nachrangig behandelt werden könne; so komme das zu überraschend. Und könnte der Impfverweigerer nicht ähnlich argumentieren? Könnte er nicht – mit Weyma Lübbe – beklagen, dass man erst zu feige gewesen sei, eine Impfpflicht festzusetzen, und das Problem nur bei der Triageauswahl „auf kaltem Wege“ lösen wolle?30 Setzt eine Berücksichtigung der Impfverweigerung bei der Triage daher das Bestehen einer Impfpflicht voraus? Dies wäre sicherlich der Fall, wenn es um die Sanktionierung eines rechtswidrigen Verhaltens ginge. Aber das ist hier nicht der Fall: Die Berücksichtigung des Impfstatus im Rahmen der Triageentscheidung spielt sich lediglich im Rahmen eines nicht zu vermeidenden Verteilungsdilemmas ab. Trotzdem wird man der Erfüllung von zwei Bedingungen festhalten müssen, wenn der Impfstatus bei der Triage berücksichtigt werden soll. Zum einen muss – im Anschluss an das soeben Ausgeführte – diese Berücksichtigung fairerweise vorhersehbar sein, da das gesundheitsbezogene Verhalten im deutschen Gesundheitssystem im Übrigen praktisch keine Rolle für Versorgungsentscheidungen spielt. Ob der einzelne Arzt an die strafrechtlichen Grenzen stößt, wenn er bei seiner Triage-Ent29 Auf diesen Punkt weist wiederholt Lübbe, https://verfassungsblog.de/sollten-impfunwilli ge-im-triage-fall-nachrangig-behandelt-werden-teil-iii/ (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022). 30 Vgl. auch dazu Lübbe, https://verfassungsblog.de/sollten-impfunwillige-im-triage-fallnachrangig-behandelt-werden-teil-iii/ (zuletzt abgerufen am 3. 3. 2022): „Der Staat kann doch nicht die Impfunwilligen monatelang in dem Glauben lassen, beim Thema Impfen dürften sie wie beim Rauchen und anderen riskanten Verhaltensweisen letztlich ihrer persönlichen Einschätzung und Motivlage folgen, und anschließend das Triage-Problem auf ihrem Rücken lösen, weil man sich nicht rechtzeitig getraut hat, die Regeln zu ändern.“

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scheidung bereits jetzt an den Impfstatus anknüpft, ist damit nicht gesagt. Als generelles Verteilungskriterium bedarf der Impfstatus zwar nicht einer Impfpflicht, aber einer hinreichend frühen gesetzlichen Festlegung seiner Konsequenzen für die Triage. Zum anderen lässt sich die Berücksichtigung des Impfstatus aus Gründen der Gerechtigkeit nur plausibel vertreten, wenn die Nichtgeimpften tatsächlich ein signifikant höheres Risiko aufweisen, intensivpflichtig zu werden. Es sind leicht Viren denkbar – etwa das Ebolavirus -, die bei jedem (ungeschützt) Infizierten zu einem erheblichen Risiko eines sehr schweren Verlaufs führen. Für das Coronavirus scheint das bisher nicht zu gelten; junge Menschen ohne Vorerkrankung haben nur extrem selten schwere Krankheitsverläufe. Man müsste daher eine Altersgrenze festlegen, ab der eine unterlassene Impfung als derartig massive Nachlässigkeit gilt, dass sie bei der Triage berücksichtigt werden darf. Verzichten könnte man auf eine solche Altersgrenze wohl nur dann, wenn die Ansteckungsdynamik des Virus derartig ansteigt, dass sich selbst in den jüngeren Alterskohorten die – an sich extrem seltenen – schweren Verläufe zu absoluten Zahlen summieren, die einen substantiellen Beitrag zur Überlastung der Intensivstationen leisten.

IV. Fazit Die Befürwortung der Berücksichtigung des Impfstatus mag auf den ersten Blick wie eine sehr kühle – oder wie man heute gerne sagt: neoliberale – Strategie der Verlagerung von Problemen in die individuelle Verantwortung aussehen. Blickt man aber noch einmal auf das Schicksal derjenigen, die von vornherein zu den vulnerablen Gruppen gehören und diese Situation auch durch Maßnahmen des Selbstschutzes nur begrenzt verändern können (weil sie z. B. aufgrund einer Behinderung auf engere körperliche Kontakte in ihrer Lebensführung angewiesen sind), so geht es im Kern um die Solidarität derjenigen, die sich schützen können, mit dieser Gruppe, die bei Anwendung der klassischen Triageregeln benachteiligt wäre. Es ist daher nicht so klar, wer hier mit einem Solidaritätsdefizit zu kämpfen hat.

Ethik in der Medizin: Herausforderungen im 21. Jahrhundert Ulrich H. J. Körtner

I. Einführung Medizin und Medizinethik stehen am Beginn des 21. Jahrhunderts vor neuen Herausforderungen. Sie vollständig zu erfassen, überschreitet die Möglichkeiten eines Festschriftbeitrags. Man kann sich auf die wissenschaftlichen Durchbrüche konzentrieren, zu denen das Genome Editing mit Hilfe sogenannter Genscheren oder die Digitalisierung der Medizin, Künstliche Intelligenz und Big Data gehören. Zu den Herausforderungen gehören im globalen Maßstab aber auch die demographische Entwicklung der Gattung Homo sapiens auf unserem Planeten und die dabei bestehenden regionalen Unterschiede, die Folgen der weltweit steigenden Lebenserwartung, Fragen der globalen Gerechtigkeit beim Zugang zu medizinischen Ressourcen und zur gerechten Verteilung von Nutzen und Risiken in der medizinischen Forschung. Last but not least sind auch die Folgen des Klimawandels auf die menschliche Gesundheit und für die Gerechtigkeitsfragen im Gesundheitswesen im globalen Maßstab zu bedenken. Derartige Fragen der Medizin- und Bioethik sind auch eine völkerrechtliche Materie. Beispielhaft sei auf die Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte verwiesen, die im Oktober 2005 von der 33. Generalkonferenz der UNESCO angenommen wurde.1 Mein Beitrag beschränkt sich auf einen Ausschnitt von Problemkreisen, die aber in einem inneren Zusammenhang stehen: Digitalisierung der Medizin, Genome Editing, personalisierte Medizin sowie ethische Probleme und Dilemmata der Allokation im Gesundheitswesen.

II. Digitalisierung der Medizin Das digitale Zeitalter führt in allen Lebensbereichen zu einem Paradigmenwechsel. Der Wechsel von der analogen zur digitalen Kommunikation bleibt auch in der Medizin nicht ohne Folgen. Die Kombination von moderner Genetik und digitaler 1 Text online unter www.unesco.de/sites/default/files/2018-03/2005_Allgemeine%20Erkl% C3%A4rung%20%C3%BCber%20Bioethik%20und%20Menschenrechte.pdf sowie www.unes co.org/new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/SHS/pdf/Bioethik-Erklaerung-2006.pdf (zuletzt abgerufen am 24. 10. 2021). Vgl. dazu Körtner, FS Kopetzki, 2019, 281.

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Informationsverarbeitung verspricht große Fortschritte auf dem Gebiet der Diagnostik und Therapie von Krankheiten. Sie führt vor allem zu einem grundlegend veränderten Verständnis von Krankheiten und ihren Ursachen. Die Digitalisierung wirkt sich aber auch tiefgreifend auf die Kommunikation zwischen Arzt und Patient wie auf die Kommunikation und Organisation des Gesundheitswesens insgesamt aus. Dazu zählt auch der fortschreitende Einsatz von Big Data und Robotik in Medizin und Pflege. Eine neue Stufe der Debatte wird erreicht, wo Medizin und Pharmazie nicht mehr allein zur Therapie von Krankheiten, sondern zur Verbesserung der natürlichen Ausstattung des Menschen eingesetzt werden sollen. Enhancement und Transhumanismus sind die Schlagworte. Und Converging Technologies, also die Kombination von Neuro-, Bio-, Informations- und Kognitionswissenschaften (NBIC), durchbrechen die herkömmlichen Grenzen zwischen belebter und unbelebter Materie. Mit der Digitalisierung der Medizin und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) verbinden sich große Hoffnungen. So soll der Einsatz von KI den Ansatz einer evidenzbasierten Medizin verbessern und die Kosten im Gesundheitswesen senken, zum Beispiel durch Zeitersparnis in der Diagnostik. Allerdings stellt sich die Frage, wie die eingesparte Zeit sinnvoll genutzt werden kann. Hat der Arzt künftig mehr Zeit als jetzt für Patientengespräche („sprechende Medizin“), oder führt der Einsatz von KI nur zu weiterer Arbeitsverdichtung und Personalabbau im Gesundheitsbereich (bzw. zur Umschichtung vom Patienten weg in die Labore)? Die Generierung und Sammlung von Daten stellt die Medizin nicht nur vor technische, sondern auch vor ethische Probleme. Schätzungen gehen davon aus, dass heute alle zwei Tage dieselbe Datenmenge an Informationen erzeugt wird, wie vom ersten Auftreten des Homo sapiens vor 120.000 Jahren bis zum Jahr 2003. Die systematische Erfassung personenbezogener Daten zur Lebensweise und zur Umwelt von Menschen erzeugt eine Spannung zwischen den Interessen von Public Health und dem Schutz der Privatsphäre. Die Vision einer global vernetzten BigData-Medizin sieht sich allerdings mit ernsten Schwierigkeiten konfrontiert. So sind medizinische Daten weltweit großteils miteinander inkompatibel, teils handgeschrieben, teils unvollständig. Auch darf das Sprachenproblem nicht unterschätzt werden. Neben weit verbreiteten Sprachen gibt es solche wie Kisuaheli oder Urdu. Die Aufzeichnung medizinischer Daten wird teilweise von Kulturen und Religionen beeinflusst. So tritt auch in der Medizin das Problem der Hermeneutik auf. Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen. Verstehen und Interpretieren lassen sich aber nicht durch digitale Algorithmen ersetzen, auch wenn es heute bereits beeindruckende digitale Übersetzungsprogramme wie „DeepL“ gibt. Die fehlende Verknüpfung von gesprochenen und geschriebenen Texten mit medizinischen Fotos, MRT u. a. führt dazu, dass ca. 80 % aller Gesundheitsdaten für Computer unsichtbar sind.

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Eine weitere Frage lautet, ob sich etwa auch die Ethik digitalisieren lässt.2 Man denke an selbstfahrende Autos oder militärische Drohnen, die ohne menschliche Einwirkung autonome Entscheidungen treffen. Wie soll etwa ein Auto für Situationen programmiert sein, in denen zwischen Menschenleben abzuwägen ist? Lässt sich einem Auto Moral einprogrammieren? Und wenn ja, welche? Eine kantische oder eine utilitaristische Ethik? Lässt sich über diese Frage in einer pluralistischen Gesellschaft ein Konsens erzielen, der dann zu entsprechender Gesetzgebung führt? Man beachte, dass es immer noch Menschen sind, die die „Moralsoftware“ programmieren! Die moralische Letztverantwortung des Menschen lässt sich folglich nicht an Maschinen delegieren, auch nicht in der Medizin. Eine besondere technische, aber auch ethische Herausforderung auf dem Gebiet der KI stellt das Deep Learning dar. Darunter versteht man, dass sich die Software von KI selbst fortschreibt. Künstliche tiefe neuronale Netzwerke funktionieren wie eine „black box“, deren Lernverhalten für Menschen teilweise undurchschaubar ist. Ist es ethisch verantwortbar, die Gesundheit von Patienten einer intransparenten Computerintelligenz anzuvertrauen? Blindes Vertrauen in KI kann jedenfalls gefährlich sein. Moral und Ethik lassen sich auf der Metaebene nicht digitalisieren, selbst wenn man einem System ein Moralprogramm einprogrammieren würde. Der Mensch als moralisch verantwortliches Subjekt lässt sich nicht ausschalten, es sei denn, man propagiert ein reduktionistisches Menschenbild. Wurde die Medizin klassisch als eine Kunst verstanden, so ist sie zunehmend zu einer Technik geworden. Technik bestimmt das Wesen der modernen Naturwissenschaften und somit auch einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin. Es mag sein, dass die Revolutionierung der Medizin durch die Kombination von Genetik bzw. Genomik und Digitalisierung ganz neue Heilungschancen eröffnet. Ältere Krankheitsmodelle gelten zum Teil als überholt. Manche Forscher sprechen vielleicht sogar von Mythen und sehen im gegenwärtigen wissenschaftlichen Fortschritt eine Form der Entmythologisierung, gewissermaßen eine medizinische Aufklärung 2.0. Aber zu einer aufgeklärten – d. h. von den Impulsen von Aufklärung und Humanismus getragenen – Medizin gehören die stete Bereitschaft zur Selbstkritik und das kritische Bewusstsein für die dialektischen Folgen der Aufklärung und des medizinischen Fortschritts. Kritik als entscheidendes Motiv jeder Aufklärung schließt die Skepsis gegenüber vorschnellen Heilsversprechungen ein. Es ist ja nicht auszuschließen, dass auch die digitalisierte Medizin neue Mythen produziert. Für multifaktorielle Erkrankungen wird auch die Gentechnik keine Wundermittel parat haben, und selbst wenn sich 2 Zur Diskussion vgl. Deutscher Ethikrat, Big Data und Gesundheit – Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung, 2017; Nida-Rümelin/Weidenfeld, Digitaler Humanismus. Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz, München, 2018; Misselhorn, Roboterethik (Analysen & Argumente 340), 2019, www.kas.de/documents/252038/4521287/ AA340_Roboterethik.pdf/34379c53-23dc-bfb0-239f-4b0fcc6a8947?version=1.0&t= 1549957355653, (zuletzt abgerufen am 24. 10. 2021).

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die Chancen der somatischen Gentherapie durch Verfahren des Genome Editing deutlich erhöhen sollten, besteht Grund zur Nüchternheit. Im Zuge dieser Diskussionen sei daran erinnert, dass in der Antike die Ethik als die Lebenswissenschaft schlechthin gegolten hat. Anders als die heutigen Life Sciences aber lässt sich die Ethik nicht digitalisieren. Und ebenso wenig lässt sich der ethisch verantwortungsvolle Arzt durch das digitale Kalkül von Algorithmen ersetzen, welche über den Einsatz therapeutischer Maßnahmen entscheiden. Diese Art von Technikgläubigkeit ist vielmehr selbst ein Mythos, welcher der Aufklärung bedarf, wenn Humanität weiter ein Grundprinzip der Medizin bleiben soll.

III. Genome Editing Die Genchirurgie (Genome Editing) mit Hilfe der Genschere CRISPR ist dabei, die Biowissenschaften und die Medizin zu revolutionieren. Der Hype um die sich abzeichnenden gentechnischen und gentherapeutischen Möglichkeiten ist so groß, dass die ethische Reflexion über Nutzen und Nachteil, kurzfristige Chancen und langfristige Folgen und Risiken kaum noch Schritt halten kann. Es ist gerade einmal gut zehn Jahre her, dass eine Arbeitsgruppe um Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna die erste Arbeit zur Entwicklung und zum Einsatz der CRISPR/Cas-Methode veröffentlichte. 2015 kürte die Fachzeitschrift „Science“ das neue Verfahren zum „Breakthrough“ des Jahres. Nur drei Jahre später schreckte der chinesische Biotechnologe Jiankiu He die Weltöffentlichkeit mit der Meldung auf, in China seien zwei gesunde Mädchen zur Welt gekommen, nachdem er im Rahmen von künstlicher Befruchtung mit Hilfe der Genschere CHRISPR/Cas 9 das Erbgut der Mädchen so verändert habe, dass sie ihr ganzes Leben immun gegen Aids bleiben. Zwar wurde He wegen krasser Missachtung forschungsethischer Standards international kritisiert. Auch zweifeln Forscher ein Jahr nach der Geburt der beiden Mädchen am Erfolg des gentherapeutischen Experiments. Der Geist einer unkontrollierten Entwicklung, die durch wissenschaftlichen Ehrgeiz, aber auch durch ökonomische Interessen angetrieben wird, ist jedoch aus der Flasche, mögen internationale Forschungsorganisationen auch noch so sehr auf ethische Standards, Mechanismen der Selbstkontrolle oder Moratorien setzen. Ob man die von He vorgenommene Genmanipulation überhaupt als therapeutischen Eingriff rechtfertigen kann, ist strittig. Schließlich soll es sich um gesunde Embryonen gehandelt haben. Ob die Mädchen je an Aids erkranken würden, weiß niemand. Ob die genetische Veränderung ursächlich vor Aids schützt, ist medizinisch nicht gesichert, und außerdem gäbe es auch andere Vorsorgemaßnahmen, zum Beispiel Impfungen. Einen an sich gesunden Menschen oder einen gesunden Embryo ohne konkreten Anlass zu therapieren, ist grundsätzlich unethisch, zumal dann, wenn die Gefahr besteht, allererst in Folge des Eingriffs später einmal andere gesundheitliche Probleme

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zu bekommen. Um aber schwere Erbkrankheiten auszuschließen, gibt es die Methode der Präimplantationsdiagnostik, die inzwischen auch in Österreich in engen Grenzen erlaubt ist. Kritiker des Genome Editing befürchten nicht zu Unrecht, die neue Methode sei ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Designer-Menschen. Außerdem werden die genetischen Veränderungen auf die Nachkommen übertragen. Es geht also nicht nur um das individuelle Kindeswohl, sondern auch um mögliche Gesundheitsrisiken für künftige Generationen. Weiters wird mit der Gesundheit werdender Mütter experimentiert. Die chinesischen Forscher berichten von Fehlversuchen, halten sich aber mit genauen Angaben zurück. Selbst wenn sich Frauen für derartige Experimente mit dem Risiko von Fehlgeburten und anderen Schwangerschaftsrisiken freiwillig zur Verfügung stellen sollten, wäre dies ein Verstoß gegen die Menschenwürde und gegen elementare Menschenrechte. Falls die Berichte aus China stimmen, haben die verantwortlichen Forscher gegen elementare Regeln guter Wissenschaft verstoßen. Dazu gehört die Einhaltung von forschungsethischen Prinzipien, wie sie in der Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes, aber auch in weiteren internationalen Vereinbarungen zum Schutz der Menschenrechte auf dem Gebiet der modernen Biomedizin niedergelegt sind, darunter die Menschenrechtskonvention des Europarates zur Biomedizin (MRB) aus dem Jahr 1997, auch Oviedo-Konvention genannt. Experimente am Menschen bedürfen der Genehmigung durch eine Ethikkommission, ohne die wiederum keine Forschungsergebnisse in seriösen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht werden können. Offenbar genügen aber ethische Selbstverpflichtungen wissenschaftlicher Fachgesellschaften nicht in jedem Fall, damit ethische Regeln auch wirklich eingehalten werden. Die staatliche Gesetzgebung stößt an Grenzen, weil Forschung heute global vernetzt betrieben wird. Unterschiedliche Standards führen dazu, dass ethisch fragwürdige Forschung in Ländern mit geringerem Schutzniveau betrieben wird. Im internationalen Wettlauf versucht sich China an die Spitze zu setzen. Zwar erhielt der Biotechnologe He Berufsverbot und wurde von seiner Universität entlassen, doch bestehen, wenn es um Gentechnik und Embryonenforschung geht, in China allgemein geringere Bedenken als in anderen Ländern. So waren es wieder chinesische Ärzte, die über die angeblich erfolgreiche Anwendung des Genome Editing bei einem ALL-Patienten berichteten, der mit HIV infiziert ist. Ähnlich wie bei den beiden „Gentech-Babys“ hat man versucht, die Infektion mittels Transplantation von gentechnisch veränderten Knochenmarksstammzellen zu bekämpfen. Als Vorbild diente der Fall des „Berlin-Patienten“ Timothy Ray Brown. Ob seine Heilung aber ursächlich auf die Stammzelltransplantation zurückzuführen ist, ist wissenschaftlich nicht einwandfrei gesichert. Im vorliegenden Fall des in China behandelten Patienten konnte keine Heilung erzielt werden. Die For-

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scher rechtfertigten ihr Experiment aber damit, dass es sich um einen Grundlagenversuch („proof of concept“) handele und dass die angewendete Methode auch nach zwei Jahren keine Nebenwirkungen zeige. Fachlich und ethisch ist der Versuch umstritten. Während auf der einen Seite argumentiert wird, das Sicherheitsprofil sei akzeptabel und das Nicht-Schadens-Prinzip ausreichend gewahrt worden, halten Kritiker das Experiment für überstürzt, weil nicht ausgeschlossen sei, dass es aufgrund des Genome Editing längerfristig zu unerwünschten genetischen Veränderungen beim Patienten kommen könne. Viele der jetzt diskutierten Fragen und Probleme der Technikfolgenabschätzung sind nicht neu. Wir kennen sie aus der Gentechnikdebatte der 1980er und 1990er Jahre. Die nun mögliche Eingriffstiefe in das Erbgut verleiht der Diskussion aber eine neue Dimension. Menschen mit Hilfe von Genscheren wie CRISPR oder TALENS maßzuschneidern, gilt international zu Recht als Tabu. Bedenken bestehen nicht nur im Fall der Keimbahntherapie, solange sich die langfristigen Auswirkungen genchirurgischer Eingriffe beim Menschen nicht abschätzen lassen. Die Genscheren schneiden zum Beispiel nicht immer so präzise wie erhofft. Auch hat man nach derartigen Eingriffen Umstellungen im Genom beobachtet, die zu einem erhöhten Krebsrisiko führen. Zwar gibt es inzwischen neuere Versionen der Genschere CRISPR, die allerdings noch nicht bei dem chinesischen Patienten zu Einsatz gekommen sind. Wie sicher und präzise sie funktionieren, weiß man allerdings derzeit noch nicht. Wiederholt geforderte Moratorien mögen nur begrenzt etwas gegen übertriebenen wissenschaftlichen Ehrgeiz und mangelndes Verantwortungsbewusstsein ausrichten. Eine gewisse Entschleunigung der gentherapeutischen Forschung ist aber nicht nur im Interesse der Probanden und Patienten, sondern dient letztlich auch dem Fortschritt einer Wissenschaft, die sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung – auch des Wohles künftiger Generationen – bewusst ist. Für die Gentherapie auf der Überholspur braucht es darum zumindest streckenweise ein Tempolimit. Auch in der Tier- und Pflanzenzucht sind Veränderungen des Erbguts mit Hilfe von Genscheren nicht unproblematisch. Negative Auswirkungen auf das Ökosystem und die Artenvielfalt sind durchaus denkbar. Ende Juli 2018 hat der Europäische Gerichtshof in einem aufsehenerregenden Urteil festgestellt, dass etwa mit der Genschere CRIPSR/Cas 9 manipulierte Pflanzensorten als gentechnisch veränderte Organismen einzustufen sind, für die strenge Sicherheitsauflagen gelten. Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft insgesamt in die komplexe biopolitische und bioethische Debatte eingebunden werden kann. Die gesellschaftlichen und kulturellen Folgen, wenn das Leben immer mehr als technisches Produkt statt als Gabe verstanden wird, sind gravierend. Auf dem Spiel steht nicht nur unser Verständnis der Menschenwürde. Es stellen sich auch Fragen zum Tierschutz und zur Tierethik.

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Die entscheidende Frage lautet, was es künftig heißt, ein Mensch zu sein, und wer wir sein wollen. Wer gibt Menschen das Recht, über andere Menschen und über das Schicksal von Ungeborenen zu verfügen? Die Achtung vor dem Menschen und seiner Würde bedeutet, ihn zu verschonen. Je mehr das biomedizinische Wissen wächst, desto größer wird das Nichtwissen, und desto mehr braucht es in Forschung und Weltgestaltung eine Haltung der Demut.

IV. Personalisierte Medizin Die Entwicklung von der Genetik über die Genomik zu Pharmacogenomik führt zum Entstehen einer personalisierten Medizin. Gesucht wird das passende Medikament oder die passende Therapie für das passende Individuum. Man spricht auch von der „P 4-Medizin“. Sie ist (1) prädiktiv, (2) präventiv, (3) personalisiert und (4) partizipatorisch.3 Letzteres zeigt sich zum Beispiel daran, dass Patienten aktiv das Internet nutzen, um sich mit ihrer Erkrankung oder einem gesundheitlichen Risiko auseinanderzusetzen und sich mit anderen Betroffenen zu vernetzen. Selbsthilfegruppen treten auch als Akteure in der Forschung auf, indem sie zum Beispiel durch CrowdFunding die Erforschung neuer Medikamente voranzutreiben versuchen. Einige der ethischen Fragen, die sich im Zusammenhang mit der personalisierten Medizin stellen, seien kurz genannt; sie können aus Platzgründen allerdings nicht an dieser Stelle weiter diskutiert werden: 1. Information über das eigene Genom wird Bestandteil individueller Gesundheitsvorsorge. 2. In der Folge wächst die individuelle Verantwortung für den Zusammenhang von Genom und Lebensstil. Eine mögliche sozialethische Folge kann darin bestehen, dass Gesundheitsrisiken immer mehr zum Problem des Einzelnen erklärt und aus dem Versicherungsschutz, den bislang die Gemeinschaft der Pflichtversicherten garantiert, ausgeklammert werden. 3. Eine Fülle von ethischen und rechtlichen Fragen werfen Biobanken auf, ohne die heute gerade auf dem Gebiet der Onkologie medizinische Forschung nicht mehr denkbar ist. Sie betreffen den Personenschutz, Zugangs- und Nutzungsrechte und die Frage, wer im Einzelfall den Benefit hat. Eine weitere Frage lautet, inwieweit und wann ein gesellschaftlicher Anspruch auf die Erhebung genetischer Daten von Individuen besteht und wie sich die Balance zwischen Persönlichkeitsrechten (Datenschutz/Recht nicht zu wissen) und der Verpflichtung zur Solidarität gegenüber Angehörigen und der Gemeinschaft der Versicherten halten lässt.

3 Vgl. Hood, Newsweek (Internationale Ausgabe), 13. 7. 2009, 50; Deutscher Ethikrat (Hrsg.), Personalisierte Medizin – der Patient als Nutznießer oder Opfer? Vorträge der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2012, 2013.

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V. Ethische Probleme und Dilemmata der Allokation im Gesundheitswesen Zu den Grundproblemen jedes Gesundheitssystems gehört die gerechte Verteilung vorhandener Ressourcen und der gerechte Zugang zu ihnen. Die Corona-Pandemie hat diesen Umstand auf bedrängende Weise neu zu Bewusstsein gebracht.4 Allokationsfragen, die sich auf der Makroebene, der Mesoebene und der Mikroebene des Gesundheitswesens stellen,5 werden noch immer tabuisiert oder nicht mit der nötigen Transparenz politisch diskutiert. Weicht man der Entscheidung über Allokationskriterien auf der Meso- und der Makroebene aus, werden die Probleme der Ressourcenverteilung letztendlich auf dem Rücken der Patienten und der einzelnen Ärzte ausgetragen. Der medizinische Fortschritt verschärft das Problem, wie sich Gerechtigkeit im Gesundheitswesen herstellen lässt: Ist auch bei neuen kostenträchtigen Diagnoseund Therapieverfahren ohne Einschränkung der gleiche Zugang für alle garantiert? Die Kostenfrage muss offen debattiert werden, ebenso die möglichen Auswirkungen auf das Versicherungssystem und die Verteilung der Ressourcen im Gesundheitswesen. Allokation setzt immer eine Knappheit von Ressourcen voraus. Diese Knappheit entsteht aber nicht nur durch Unterversorgung, sondern auch durch Überversorgung. Eines der Kernprobleme der Allokation im Gesundheitswesen besteht in der ungerechten Verteilung von Überversorgung. Deren Abbau darf nicht mit Unterversorgung verwechselt werden. Das System der Fallpauschalen und Zielvereinbarungen, verbunden mit einer verschärften Konkurrenz zwischen Spitälern führt z. B. zu einem Anstieg an Operationen, der aus rein medizinischer Sicht nicht gerechtfertigt erscheint. Allokationsprobleme entstehen nicht nur durch die Entwicklung neuer kostenintensiver Therapien und Medikamente, sondern auch durch die Ausweitung des medizinischen Handlungsfeldes. Neben Kriterien der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen sind darum auch unsere Begriffe von Krankheit und Gesundheit, d. h. die legitimatorischen und teleologischen Kategorien der Medizin (einschließlich der Kategorie der „non diseases“) zu diskutieren. Was aber das Gerechtigkeitskriterium betrifft, so gibt es unterschiedliche Gerechtigkeitsbegriffe. Wie in der Ethik allgemein, ist auch in der Medizinethik zwischen Verteilungsgerechtigkeit, Tauschgerechtigkeit, Gemeinwohlgerechtigkeit, Fairness (John Rawls), Teilhabegerechtigkeit und Befähigungsgerechtigkeit zu unterscheiden. 4 Vgl. Lintner, in: Kröll/Platzer/Ruckenbauer/Schaupp (Hrsg.), Die Corona-Pandemie. Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise, 2020, 87; Kröll, in: Kröll/Platzer/Ruckenbauer/Schaupp (Hrsg.), Die Corona-Pandemie. Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise, 2020, 103. 5 Vgl. Körtner, in: Dorner (Hrsg.), Public Health, 2016, 123 (127).

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Eine Form der Allokation ist die Triage, d. h. die Entscheidung über den Ressourceneinsatz in der Notfallmedizin anhand des Kriteriums der Überlebenschancen. Zu kritisieren sind beobachtbare Tendenzen, dieses Paradigma der Nutzenmaximierung in den medizinischen Alltag zu übertragen. Bisherige Vorstellungen von Gerechtigkeit im Gesundheitswesen bleiben dabei auf der Strecke. Zwar ist der Ressourceneinsatz im Kontext der Solidargemeinschaft im Einzelfall begründungsbedürftig. Aber das Kriterium darf keinesfalls der vermeintliche Nutzen des Patienten für die Allgemeinheit sein. „Das (…) mitunter entstehende Problem, dass nicht alle Menschen in gleicher Weise den Gesamtnutzen maximieren können und daher hintangestellt werden müssten, zeigt (…), dass die ,Veralltäglichung der Triage‘ im Widerspruch zu bisherigen Gerechtigkeitsvorstellungen in der Health Care steht.“6 Effektivität und Effizienz dürfen nicht einseitig nach ökonomischen Kriterien der Gewinnmaximierung oder der Defizitminimierung, sondern müssen patientenzentriert bestimmt werden. Das gilt insbesondere für die Behandlung von Patienten mit sog. „orphan rare diseases“ (weniger als 5 Fälle je 10.000 Einwohner). Neben dem Problem von „orphan drugs“ (vgl. in den USA Orphan Drug Act [ODA] vom Januar 1983), deren Entwicklung und Herstellung unter normalen Bedingungen extrem teuer und unprofitabel sind, stellen sich medizinökonomische Fragen auch bei der Nutzung von Arzneimitteln für andere als die bei ihrer Zulassung definierten Indikationen. Die einseitige Orientierung am Ressourcen-Input ist ethisch jedenfalls nicht akzeptabel. Allerdings muss mit Geld und medizinischen Ressourcen im Rahmen der Solidargemeinschaft verantwortungsvoll umgegangen werden. Dazu gehört die Anwendung der Prinzipien von „evidence based medicine“. Medizinische oder andere Leistungen sind als ineffizient zu bewerten, wenn sie generell oder indikationenspezifisch keine nachgewiesene Wirksamkeit besitzen, eine geringere Wirksamkeit als alternative Maßnahmen aufweisen, die gleich hohe Kosten verursachen, oder eine kostengünstigere Alternative nicht an Wirksamkeit übertreffen. Das Problem medizinischer Rationalisierungsmaßnahmen besteht aber in Folgendem: „Da auch der kleinste positive Grenzertrag einer medizinischen Maßnahme noch die Gesundheit fördert, sind Forderungen von Medizinern und der weiteren Öffentlichkeit nicht selten, die auch den Einsatz von im Vergleich weniger effizienten Therapieformen fordern.“7 Ethische Bedenken erheben sich auch gegen die Vergabe teurer Medikamente durch ein Losverfahren. Anfang Februar hat Novartis damit begonnen, das 2 Millionen Euro teure Medikament Zolgensma für die Behandlung von 100 Säuglingen und Kindern im Alter bis zu zwei Jahren, die an spinaler Muskelatrophie (SMA) leiden, zu verlosen. Das 2019 in den USA zugelassene Medikament erhielt im Mai 2020 eine 6 7

Wallner, Health Care zwischen Ethik und Recht, 2007, 316. von der Schulenburg/Greiner, Gesundheitsökonomik, 2000, 241.

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Ulrich H. J. Körtner

bedingte Zulassung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA). Die Behandlung mit Zolgensma gilt als Gentherapie. Laut Hersteller soll die einmalige Verabreichung des Medikaments zur vollständigen Heilung führen, was aber noch nicht mit letzter Sicherheit nachgewiesen ist. Kritiker werfen dem Pharmakonzern vor, nicht mehr Dosen zur Verfügung zu stellen. Sie sprechen von einer „Überlebenslotterie“, die als reine Marketingaktion zu verurteilen sei. Novartis verteidigt sich, man könne derzeit nicht mehr liefern und habe das Losverfahren durch eine Ethikkommission überprüfen lassen. Kritik wird aber auch an dem hohen Einführungspreis des neuen Medikaments geäußert. Novartis argumentiert, über einen Zeitraum von zehn Jahren gerechnet sei Zolgensma nur halb so teuer wie das Medikament Spinraza, das den Patienten alle vier Monate gespritzt werden muss. Der deutsche Medizinethiker Dieter Birnbacher hat sich für die Auswahl der Patienten nach einem Algorithmus ausgesprochen, wie wir ihn auch aus der Transplantationsmedizin kennen.8 Nicht alle Kinder würden die neue Therapiemöglichkeit vertragen. Birnbacher weist allerdings zu Recht auf ein ethisches Dilemma hin. Einerseits gewährt das Lotterieverfahren Chancengleichheit bei extrem knappen Ressourcen. Andererseits bleibt es reine Glückssache, ob ein Kind das neue Medikament erhält oder nicht. Auch wenn rein medizinische Vergabekriterien angelegt werden, ist damit zu rechnen, dass einige Kinder, die bestimmte Merkmale nicht zeigen, benachteiligt werden, weil sie weiterhin mit den herkömmlichen Therapieformen behandelt werden. Auch wenn man die Entscheidung Ethikkommissionen überträgt, lässt sich keine umfassende Gerechtigkeit herstellen. Ähnliche Probleme zeigen sich auch bei anderen Medikamenten, welche die Medizin revolutionieren – insbesondere auf dem Gebiet der Onkologie –, aber extrem teuer sind. Hohe Einführungspreise werden mit hohen Entwicklungskosten gerechtfertigt. Längerfristig können sich die neuen Medikamente verbilligen. Für den einzelnen Patienten besteht Hoffnung, wenn schon nicht geheilt zu werden, so doch deutlich länger bei verbesserter Lebensqualität zu überleben. Krebs wird dank neuer Therapieansätze in vielen Fällen zu einer chronifizierten Erkrankung. Dass Überleben hat freilich seinen Preis, der bei Dauermedikation monatlich pro Patient zwischen 12.000 und 30.000 Euro liegen kann. Bedenkt man, dass die durchschnittliche Lebenserwartung global steigt, erhöht sich rein statistisch auch die Zahl derer, die im Laufe ihres Lebens an Krebs erkranken. Mögen also die Kosten für neuartige Therapieformen im Lauf der Jahre sinken, steigt im Gegenzug die Zahl der behandelbaren Patienten. Das medizinische Handeln gerät immer wieder in ethische Dilemmata. Mehr noch: Der medizinische Fortschritt schafft nicht nur neue und bessere Lösungen 8 Interview im Deutschlandfunk, 3. 2. 2020: Ist dieser Zwei-Millionen-Dollar-Gewinn ethisch vertretbar? Dieter Birnbacher im Gespräch mit Axel Rahmlow; Text unter: www. deutschlandfunkkultur.de/novartis-verlost-medikament-gegen-sma-ist-dieser-zwei.1008.de. html?dram:article_id=469440 (zuletzt abgerufen am 24. 10. 2021).

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für medizinische Probleme, sondern wirft neue ethische Fragen auf, die es zuvor nicht gab. Intensivmedizin, Reproduktionsmedizin und medizinische Genetik haben den Spielraum ärztlichen Handelns enorm erweitert, produzieren aber zugleich neue Dilemmata, mit denen die Betroffenen moralisch und psychisch fertig werden müssen. Man denke an das Problem der Organknappheit in der Transplantationsmedizin, das ja nicht etwa die Ursache, sondern die Folge des Fortschritts ist. In dem Augenblick, in dem die Organtransplantation zur Routine wird, steigt der Bedarf an Spenderorganen, und je mehr Patienten, die früher aufgrund bestehender hoher Risiken von der Transplantation ausgeschlossen wurden, heute als potentielle Organempfänger in Frage kommen, desto mehr steigt der Bedarf an Spenderorganen weiter an. Medizinethik hat die Aufgabe, derartige Dilemmata zu benennen und Verfahren der ethischen Entscheidungsfindung zu entwickeln, die uns helfen, mit solchen Dilemmata halbwegs zurechtzukommen. Die Ethik kann derartige Dilemmata nicht aus der Welt schaffen oder grundsätzlich verhindern. Sie hilft uns im besten Fall, mit ihnen zu leben.

Einwilligung in Odysseusvereinbarungen Peter Schaber In seinem Aufsatz „Bedingungen der Akzeptanz medizinischer Versuche am Menschen“ diskutiert Jan Joerden das sog. Odysseusproblem. Der Ausdruck leitet sich aus der Geschichte der Odyssee ab, in der Odysseus seine Mitfahrer damit beauftragt, seine Ohren zu verstopfen, damit er die Sirenenklänge hören konnte. Gleichzeitig wies er sie an, ihn nicht loszubinden, auch wenn er einen starken Wunsch äußern würde, dass sie das tun. Odysseus willigt darin ein, dass ihn nicht losbinden, auch wenn er zu einem späteren Zeitpunkt losgebunden werden möchte. In solchen Situationen liegt eine Einwilligung vor, die zu einem späteren Zeitpunkt wirksam werden soll, zu einem Zeitpunkt, in dem der Einwilligende, das, was er ursprünglich wollte, nicht mehr will und zusätzlich nicht mehr oder nur beschränkt einwilligungsfähig zu sein scheint. In der Diskussion werden solche Einwilligungen als Odysseusverfügungen bezeichnet. In der Regel werden dabei zwei Typen von Odysseusverfügungen unterschieden1: a) Verfügungen, die einen zukünftigen Zeitpunkt betreffen, zu dem die einwilligende Person irreversibel ihre Einwilligungsfähigkeit verloren hat; und b) Verfügungen, die einen zukünftigen Zeitpunkt betreffen, zu dem die Einwilligungsfähigkeit – wenn überhaupt – so nur vorübergehend beeinträchtigt ist. Ich werde mich nachfolgend bloß mit dem Verfügungstyp b) beschäftigen, bei der eine Person – wie das Odysseus getan hat – in eine Verfügung einwilligt, gegen deren Durchsetzung sie sich dann zu einem späteren Zeitpunkt wehrt, die sie allerdings nach Beendigung der episodischen Störung begrüßen wird. Betrachten wir folgenden Fall2: Medikamente ermöglichen es der an Schizophrenie leidenden Lucy, einer Arbeit nachzugehen und soziale Kontakte zu pflegen. Sie hat allerdings die Tendenz, die Medikamente nach einer bestimmten Zeit abzusetzen, was zu Rückfällen, Paranoia und dem Hören innerer Stimmen führt. Beim letzten Mal wurde sie von der Polizei auf der Straße aufgegriffen und in die Notfallaufnahme eines Krankenhauses eingewiesen. Lucy möchte nicht, dass sich die Geschichte wiederholt und willigt in eine Odysseusverfügung ein, die eine Zwangsabgabe der erforderlichen Medikamente vorsieht, würde sie diese wieder absetzen wollen. Sie weiß, dass sie das zum späteren Zeitpunkt t2 nicht wollen wird, aber genau deshalb willigt sie in die Zwangsmaßnahmen ein. Sie willigt zu einem Zeitpunkt t1 ein, dass sie zu einem zukünftigen Zeitpunkt t2 gegen ihren Willen behandelt wird. Die Frage, die ich diskutieren möch1 2

Dazu Schöne-Seifert et al., ZEMO 2019 (2/2), 315 – 329. Standing/Lawlor, Journal of Medical Ethics 2019, 693 (693).

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te, lautet: Ist Lucys Einwilligung, die sie zum Zeitpunkt t1 gegeben hat, zum Zeitpunkt t2 noch gültig und eine Zwangsbehandlung deshalb erlaubt? Jan Joerden meint, dass die Einwilligung wirksam ist, sofern sie einer einwilligungsfähigen Person gegeben worden ist.3 Doch ist eine Einwilligung, die sich auf einen zukünftigen Zeitpunkt bezieht, zu dem sie von der Person nicht mehr unterstützt wird, wirklich wirksam? Was ist es – wenn überhaupt etwas – das die Wirksamkeit der früheren Einwilligung sichert? Ich verstehe dabei unter einer wirksamen Einwilligung eine, welche die normative Situation zwischen der Person, die einwilligt, und der, welche die Einwilligung erhält, verändert, in der Regel so, dass letztere eine Erlaubnis erhält. Ist die Zwangsabgabe von Medikamenten an Lucy zum Zeitpunkt t2 also erlaubt? Man könnte meinen, dass das schlicht deshalb der Fall ist, weil Lucy zum Zeitpunkt t2 nicht einwilligungsfähig ist und ihre Einwilligung deshalb nicht zurückziehen kann. Es ist aber nicht klar, ob Lucy zum Zeitpunkt t2 nicht doch zumindest beschränkt einwilligungsfähig ist und insofern ihre Einwilligung zurückzuziehen in der Lage ist. Aus diesem Grund ist es nicht klar, ob Lucys Einwilligung zum Zeitpunkt t2 noch wirksam ist und die Zwangsmaßnahmen entsprechend erlaubt. Um die Frage, ob solche Einwilligungen zum späteren Zeitpunkt noch wirksam sind, soll es nachfolgend gehen. In einem ersten Teil werde ich verschiedene Vorschläge, wieso Odysseuseinwilligungen verbindlich sind, diskutieren und zeigen, wieso sie nicht zu überzeugen vermögen. Im zweiten Teil werde ich einen eigenen Vorschlag vorstellen, wonach Odysseuseinwilligungen wirksam sind, weil die einwilligende Person zum relevanten späteren Zeitpunkt t2 weiterhin den normativen Willen hat, andere aus ihrer Pflicht zu entlassen. Sie ist vorübergehend nicht mehr in der Lage ihn zum Ausdruck zu bringen und nach ihm zu handeln. Die kritische Situation sollte als ein Fall von Willensschwäche gesehen werden.

I. Vorschläge Betrachten wir zuerst verschiedene Vorschläge, wieso wir „Odysseuseinwilligungen“ als verbindlich ansehen sollten. Ich werde zuerst den Vorschlag von Schöne-Seifert et al. diskutieren, wonach es zum Autonomierecht von Personen gehört, wirksame Einwilligungen zu geben, die sich auf zukünftige Zeitpunkte der einwilligenden Person beziehen. In einem zweiten Schritt werde ich auf John Davis’ Vorschlag eingehen, dass die fraglichen Einwilligungen wirksam sind, weil sie insgesamt den Wünschen der einwilligenden Person über die Zeit am besten dienen. Danach werde ich auf den Vorschlag von Standing und Lawlors eingehen, wonach solche 3

Joerden argumentiert, dass das nicht der Fall sein muss, wenn jemand einwilligt darin, nicht behandelt zu werden. Ich möchte mich auf den Fall einer Einwilligung in eine Behandlung gegen den Willen beschränken. Deshalb werde ich auf Joerdens Überlegungen zu Einwilligungen darin, zu einem zukünftigen Zeitpunkt nicht behandelt zu werden, nicht eingehen; vgl. Joerden, in: ders. (Hrsg.), Der Mensch und seine Behandlung, 1999, 229 (237).

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Einwilligungen wirksam sind, weil sie Dinge schützen, die für die einwilligende Person wichtig sind. Schließlich soll der Vorschlag Hallichs thematisiert werden, der besagt, dass die Ex-post-Einwilligung der betroffenen Person dafür sorgt, dass die frühere Einwilligung wirksam ist. 1. Ein Autonomierecht? Beginnen wir mit dem Vorschlag von Bettina Schöne-Seifert et al., dass es hier um ein Autonomierecht von Personen gehe. Es gehört nach Ansicht der Autorinnen zu einem Autonomierecht einer Person, für die eigene Zukunft vorsorgen zu dürfen: „So wie in allen anderen Kontexten der Medizin, hat der Patient das moralische Recht, für seine eigene Zukunft vorzusorgen“4. Es sind drei Dinge, die ein solches Vorsorgerecht in Form einer Odysseusverfügung nach Auffassung der Autorinnen rechtfertigen: a) Die einwilligende Person hat die Konfliktsituation, die zum Zeitpunkt t2 vorliegt, vorweggenommen und im Wissen um sie eingewilligt; b) bei den Zwangsmaßnahmen handelt es sich zudem „lediglich um Episoden“5 und schließlich c) ist der Wunsch, der zum Zeitpunkt t2 zum Ausdruck gebracht wird, ein Wunsch, der nach Ansicht der Autorinnen nicht das gleiche „Kompetenzniveau“6 hat wie der Wunsch, der der Einwilligung zum Zeitpunkt t1 zugrunde liegt. Ist die Einwilligung also zum Zeitpunkt t2 gültig, weil sie das Resultat der Ausübung eines Autonomierechts ist, welche die genannten drei Bedingungen erfüllt? Menschen haben ohne Zweifel ein moralisches Recht, für ihre Zukunft vorzusorgen. Einwilligungen, die sich auf zukünftige Zeitpunkte beziehen, können wirksam sein. Sie sind wirksam, wenn sie von einem normativen Willen der betroffenen Person getragen werden, die andere aus bestimmten Pflichten entlassen wollen. Personen haben aber auch das Recht, ihre Einwilligungen zurückzuziehen. Und es ist nicht klar, ob Lucys Wille, sich Zwangsmaßnahmen zum Zeitpunkt t2 nicht zu unterziehen, nicht genau das tut. Lucy hat zum Zeitpunkt t1 in die Zwangsmaßnahmen eingewilligt und tut das zum Zeitpunkt t2 nicht mehr. Es mag sein, dass ihr Rückzug der Einwilligung nicht mehr dasselbe Kompetenzniveau besitzt wie ihre zum Zeitpunkt t1 gegebene Einwilligung. Ihre Einwilligungsfähigkeit könnte aber immer noch so weit vorhanden sein, dass ihr Wille, sich den Zwangsmaßnahmen nicht zu unterziehen, die frühere Einwilligung ungültig macht. Die Frage: Ist die frühere Einwilligung weiterhin wirksam? lässt sich nicht im Verweise auf ein fraglos bestehendes Autonomierecht, für die eigene Zukunft vorzusorgen, beantworten. Das Autonomierecht schließt kein unbegrenztes Verfügungsrecht über die eigene Zukunft ein. Menschen können ihre sich auf ihre Zukunft beziehenden Einwilligungen zurückzuziehen. Und die Frage stellt sich, ob nicht genau das in Fällen wie Lucy geschieht.

4

Schöne-Seifert et al. (Fn. 1), 326. Schöne-Seifert et al. (Fn. 1), 326. 6 Schöne-Seifert et al. (Fn. 1), 326. 5

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2. Wünsche über die Zeit Betrachten wir einen anderen Vorschlag. John Davis argumentiert, dass man Odysseuseinwilligungen als verbindlich ansehen sollte, weil sie den Wünschen der betroffenen Person am besten dienen.7 Lucy wollte nicht auf der Straße enden und hat deshalb in die Zwangsmaßnahmen eingewilligt. Zudem würde Lucy auch in der Zukunft nicht mit den Folgen ihres Fehlverhaltens leben wollen. Auch diese zukünftigen Wünsche liefern ihr Gründe, in die Zwangsmaßnahmen zum Zeitpunkt t1 einzuwilligen. Die Einwilligung als wirksam anzusehen und die Zwangsmaßnahmen gegen den Willen von Lucy zum Zeitpunkt t2 durchzusetzen, dient den Wünschen vor der Krise und den Wünschen nach der zu erwartenden Krise. Ihre Wünsche werden, so Davis, also insgesamt besser bedient, wenn man die Zwangsmaßnahmen durchsetzt. Deshalb sollte die Einwilligung als zum Zeitpunkt t2 wirksam angesehen werden. Davis schreibt: „If enforcing a parity Ulysses contract is morally justified, it is justified because, by holding Ulysses against his will, one achieves the greatest overall consistency between his wishes and his circumstances over time“8. Sollten wir diesen Vorschlag akzeptieren? Es ist klar, dass Lucy die Folgen eines möglichen Fehlverhaltens vermeiden und in der Zukunft aller Voraussicht nach froh darüber sein wird, wenn sie vermieden worden sind, was voraussetzt, dass sie gegen ihren Willen zum Zeitpunkt t2 gezwungen wird. Davis meint, dass die Einwilligung aus diesem Grund zum Zeitpunkt t2 wirksam ist. Der Vorschlag ist allerdings mit folgender Schwierigkeit konfrontiert. Ob eine Einwilligung zu einem beliebigen Zeitpunkt wirksam ist oder nicht, hängt nicht davon ab, ob mit der Handlung, in die die Person zu einem früheren Zeitpunkt eingewilligt hat, die Wünsche der Person, die sie über die Zeit hat, am besten bedient werden. Betrachten wir dazu folgendes Beispiel, um das deutlich zu machen. Anna willigt in eine sexuelle Handlung mit Gerda ein. Nehmen wir an, die Einwilligung sei gültig, weil sie die Standardbedingungen für gültige Einwilligungen9 erfüllt: Anna ist informiert darüber, was sie dabei tut, sie willigt freiwillig ein und sie ist zudem einwilligungsfähig. Nun könnte es gut sein, dass die sexuelle Handlung, in die sie einwilligt, ihren Wünschen über die Zeit in keiner Weise am besten dient. Sie könnte die Einwilligung später bereuen („ich hätte damals nicht einwilligen sollen“). Es könnte sein, dass sie dafür auch gute Gründe hat. Sie hätte in der Tat auch von einem objektiven Standpunkt aus betrachtet in diese sexuelle Handlung nicht einwilligen sollen. Wichtig ist: Das würde nichts daran ändern, dass ihre Einwilligung wirksam war und Gerda die Erlaubnis erteilt hat, mit ihr Sex zu haben. Einwilligungen sind nicht wirksam, weil sie die Wünsche, die eine Person über die Zeit hat, gut bedienen. Ein7

Davis, Kennedy Institute of Ethics Journal 2008, 87 – 106. Davis, Kennedy Institute of Ethics Journal 2008, 99. 9 Bullock, in: Müller/Schaber (Hrsg.), The Routledge Handbook of the Ethics of Consent 2018, 85 – 94. 8

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willigungen sind vielmehr wirksam, weil oder sofern sie auf dem normativen Willen der einwilligenden Person beruhen, die andere Person aus einer Pflicht zu entlassen, im Falle von Anna aus der Pflicht, mit ihr keinen Sex ohne ihre Einwilligung zu haben. Und so gilt für Lucy: Aus dem Umstand, dass Zwangsmaßnahmen ihren Wünschen am besten dienen, folgt nicht, dass ihre Einwilligung zum Zeitpunkt t2 immer noch wirksam ist. Wirksam wäre sie nur, wenn sie immer noch denselben normativen Willen hätte, das medizinische Personal aus deren Pflicht, sie nicht ohne ihre Einwilligung zu zwingen, die Medikamente zu nehmen. 3. Was wichtig ist im Leben Wenden wir uns der Überlegung von Harriet Standing und Rob Lawlor zu. Nach Ansicht der beiden Autorinnen sollten Odysseuseinwilligungen als verbindlich angesehen werden, weil ihre Durchsetzung das schützt, was für die betroffenen Personen wichtig ist. So ist es Lucy wichtig, ein Leben ohne gravierende psychische Krisen führen zu können. Genau deshalb willigt sie ja auch in die zukünftigen Zwangsmaßnahmen ein. Darum sollte es bei der Durchsetzung von Odysseuseinwilligungen nach Ansicht der Autorinnen gehen: um den Schutz dessen, was für Menschen in ihrem Leben wichtig ist. So schreiben sie: „(An) Ulysseus contract is not a contract that binds the agent permanently (…). Rather, the aim is to protect the individual, and to give more weight to carefully made decisions (…) which reflect the agent’s most important values, and to give less weight to decisions which are likely to be due to the influence of the bullying forces of spiralling rather than the result of a genuine change of mind.“10

Ich denke, dass man dieser Analyse zustimmen sollte. Es ist davon auszugehen, dass die Einhaltung von Odysseusverträgen Interessen und Werte schützt, die für in sie einwilligende Personen wichtig sind. Allerdings ist das – und das ist wichtig – kein Grund, die frühere Einwilligung für wirksam und entsprechend die Zwangsmaßnahmen für erlaubt zu halten. Die Frage lautet: Willigt die betroffene Person zum Zeitpunkt t2 immer noch in die Zwangsmaßnahmen ein? Der Umstand, dass die Zwangsmaßnahmen das schützen, was der Person wichtig ist, lässt diesen Schluss nicht zu. Betrachten wir noch einmal das obige Beispiel. Nehmen wir an, dass Anna mit ihrer Einwilligung darin, mit Gerda Sex zu haben, mit dem, was ihr wichtig ist, sich überhaupt nicht verträgt, z. B. dem, einer anderen Partnerin treu zu sein. Aus der Sicht dessen, was für sie wichtig ist, wäre es besser, ihre Einwilligung als unwirksam zu betrachten. Ihre Einwilligung ist allerdings gültig und entlässt Gerda aus ihrer Pflicht, mit Anna ohne ihre Einwilligung keinen Sex zu haben. Sie ist gültig, weil sie die Gültigkeitsbedingungen erfüllt. Und vor allem wichtig für unseren Kontext: Sie ist gültig, unabhängig davon, ob die Handlung, in die sie einwilligt, das schützt, was 10

Standing/Lawlor (Fn. 2), 698.

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in ihrem Leben wichtig ist. Und im Blick auf die Odysseuseinwilligungen bedeutet das: Das Faktum, dass mit der Durchsetzung der Zwangsmaßnahmen etwas geschützt wird, das für die einwilligende Person wichtig ist, stellt keinen Grund dar, die frühere Einwilligung für immer noch wirksam zu halten. Und wenn es so wäre, dass die Einwilligung nicht mehr wirksam wäre, wären die Zwangsmaßnahmen auch dann nicht erlaubt, wenn sie Dinge schützen würden, die für die betroffene Person wichtig sind. Sie wären nicht erlaubt, weil sie ohne die Einwilligung der betroffenen Person durchgeführt würden. 4. Ex-post-Einwilligungen Hier ein vierter Vorschlag: Nach Ansicht von Oliver Hallich sind Odysseusvereinbarungen einzuhalten, weil davon ausgegangen werden kann, dass die betroffene Person rückblickend in die vereinbarten Maßnahmen einwilligen wird.11 Er schreibt: „Demnach wäre das Handeln der Gefährten des Odysseus als richtig einzustufen, weil Odysseus rückblickend der vorhergehenden Nichtbeachtung seines Wunsches, vom Mastbaum gelöst zu werden, zustimmt. Ebenso wäre auch das Handeln des Arztes, der dem Zeugen Jehovas gegen dessen vorher geäusserten Wunsch eine Bluttransfusion verabreicht (…) dann als richtig einzustufen, wenn der Patient diesem Handeln im später wiedererlangten Zustand der Kompetenz zustimmt. Bleibt hingegen eine solche Zustimmung aus, ist das Handeln gegen den aktuellen Patientenwillen in Odysseus-Szenarien als falsch einzustufen“.12

So könnte man sagen, dass Zwangsmaßnahmen im Fall von Lucy erlaubt sind, wenn man davon ausgehen kann, dass sie rückblickend diesen Maßnahmen zustimmen wird. Es ist nach Hallich also nicht die frühere Einwilligung, welche die normative Arbeit leistet, sondern die Einwilligung ex post, die gegeben wird nach der Wiedererlangung der vollen Einwilligungsfähigkeit. Die behandelnde Ärztin kann ihre Zwangsmaßnahmen für erlaubt halten, sofern sie davon ausgehen kann, dass Lucy ihr rückblickend die Einwilligung dazu erteilen wird. Sind es also Ex-post-Einwilligungen, welche Odysseusvereinbarungen verbindlich machen? Wir sollten diesen Vorschlag nicht akzeptieren, weil Einwilligungen nicht rückblickend gegeben werden können. Betrachten wir dazu folgendes Beispiel: Paul willigt nicht ein, mit Iris Sex zu haben. Nehmen wir an, dass sie ihn trotzdem intim berührt. Wir würden sagen, dass das, was sie tut, moralisch falsch ist. Nehmen wir nun aber zusätzlich an, dass Paul zwei Tage später in die das, was sie getan hat, einwilligt. Er sagt: „Für mich ist das, was sie vorgestern getan hat, nun okay.“ Würde das die intimen Handlungen erlaubt machen? Das wäre nicht der Fall. Jemanden intim zu berühren, ist nämlich dann und genau dann moralisch erlaubt, wenn die betroffene Person darin eingewilligt hat. Wenn die Einwilligung dazu nicht vorliegt, ist so zu handeln moralisch falsch. Das Opfer mag der Handlung rückblickend zustim11 12

Hallich, ZEMO 2019, 305 – 314. Hallich (Fn. 11), 310 f.

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men. Das ändert nichts daran, dass die Handlung zum Zeitpunkt ihrer Ausführung falsch war; und sie war falsch, weil zu dem Zeitpunkt keine Einwilligung vorlag. Die rückblickende Zustimmung kann die Handlung deshalb nicht in eine richtige verwandeln. Sie bleibt falsch, weil die Eigenschaft, die sie falsch macht (ohne Einwilligung ausgeführt worden zu sein), durch die rückblickende Zustimmung nicht eliminiert. Nach wie vor gilt: Iris hat Paul ohne seine Einwilligung intim berührt. Eine Ex-post-Einwilligung kann die Handlung, auf welche sie sich bezieht, nicht zu einer erlaubten machen. Das bedeutet im Blick auf das Beispiel von Lucy: Erlaubt sind die Zwangsmaßnahmen zum Zeitpunkt t2 dann und bloß dann, wenn Lucy zu dem Zeitpunkt eine gültige Einwilligung erteilt. Die Ausführungen setzen voraus, dass die vereinbarten Maßnahmen nur dann erlaubt sind, wenn zum Zeitpunkt t2 eine wirksame Einwilligung vorliegt. Das könnte man bezweifeln und der Meinung sein, dass die Maßnahmen auch ohne wirksame Einwilligung erlaubt sein könnten, z. B. dann, wenn sie im besten Interesse der betroffenen Person sind. Das ist möglicherweise auch das, was Standing und Lawlor meinen, wenn sie die vereinbarten Maßnahmen für gerechtfertigt halten, weil sie das schützen, was für die Person wichtig ist in ihrem Leben. Nun mag man eine wirksame Einwilligung in solchen Situationen nicht für erforderlich halten und die Meinung vertreten, dass andere Dinge, die Durchsetzung der vereinbarten Maßnahmen rechtfertigen. Es ist dann allerdings so, dass die Odysseusvereinbarungen sinnlos wären. Wer einwilligt darin, dass andere zu einem späteren Zeitpunkt etwas auch gegen seinen Willen durchsetzen, geht davon aus, dass es diese Einwilligung ist, die den anderen die Erlaubnis einzugreifen erteilt. Wenn es aber andere Dinge sind, die ihnen die Erlaubnis erteilt, einzugreifen, kann auf eine Einwilligung zum Zeitpunkt t1 verzichtet werden. Man müsste der einwilligenden Person sagen: „Auf deine Einwilligung kommt es nicht an. Wir werden die Maßnahmen durchsetzen, wenn wir sie weiterhin für in deinem besten Interesse halten.“ Odysseuseinwilligungen würden so schlicht ihren Witz verlieren. Sie setzen voraus, dass die vereinbarten Maßnahmen erlaubt nur sein können, wenn zum Zeitpunkt des Eingriffs von einer wirksamen Einwilligung ausgegangen werden kann.

II. Einwilligung und normativer Wille Tom Walker argumentiert, dass in den fraglichen Situationen eine wirksame Einwilligung jeweils vorliegen würde.13 Das würde deutlich, wenn man sich klarmachen würde, was der Gegenstand von Odysseuseinwilligungen ist; worin also Menschen bei Odysseusvereinbarungen genau einwilligen. Lucy willigt darin ein, dass zum Zeitpunkt t2 Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden, auch wenn sie sich dagegen wehren würde. Er schreibt: „(T)he patient (…) is consenting to ,treatment in the fu-

13

Walker, Law and Philosophy 2012, 77–l98.

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ture even if he refuses treatment at that time‘.“14 Die einwilligende Person antizipiert ihre Verweigerung und erteilt ihre Einwilligung für den Fall, dass sie sich weigert. Das wäre anders, wenn sie bloß in die Zwangsmaßnahmen einwilligen würde („ihr dürft mich zum Zeitpunkt t2 zur Einnahme der Medikamente zwingen“), ohne ihre Weigerung zu antizipieren. Bei Odysseusvereinbarungen willigen Patienten aber nicht bloß in die Zwangsmaßnahmen ein, sondern zusätzlich in die Zwangsmaßnahmen, gegen die sie sich dann wehren werden. Ist das die einfache Lösung der Schwierigkeit, mit welchen sich Odysseusvereinbarungen konfrontiert sehen? Ich denke nicht. Es ist unklar, ob der Wille eines Patienten, sich zum Zeitpunkt t2 nicht mehr den Zwangsmaßnahmen zu unterziehen, die zum Zeitpunkt t1 gegebene Einwilligung nicht unwirksam macht. Das bleibt unklar, auch wenn man sich vor Augen führt, worin Patienten bei Odysseusvereinbarungen einwilligen. Lucy willigt zwar darin ein, auch gegen ihren Willen zum Zeitpunkt t2 behandelt zu werden, doch auch diese Einwilligung kann von ihr zurückgezogen werden. Sie könnte sagen: „Ich ziehe meine Einwilligung zum Zeitpunkt t2 gegen meinen Willen zu werden hiermit zurück.“ Es ist nicht klar, ob die Patientin genau das tut, wenn sie zum Zeitpunkt t2 sich gegen die Verabreichung der Medikamente wehrt. Deshalb hilft uns auch der Vorschlag von Tom Walker nicht weiter. Hier ist ein alternativer Vorschlag, den ich für bedeutend vielversprechender halte: Zunächst sollten wir uns klarmachen, was wir tun, wenn wir einwilligen. Wenn A darin einwilligt, dass B x tut, bringt A ihren Willen zum Ausdruck, B aus der Pflicht zu entlassen, x nicht ohne ihre Einwilligung zu tun.15 Mit ihrer Einwilligung entlässt A B aus dieser Pflicht, gesetzt es handelt sich dabei um eine einwilligungspflichtige Handlung. Der Wille, den A in der Einwilligung zum Ausdruck bringt, ist ein normativer Wille: der Wille, jemanden aus einer Pflicht zu entlassen. Dieser normative Wille ist vom nicht-normativen Willen zu unterscheiden, B möge x auch tun. Man kann einwilligen, ohne eine solchen normativen Willen zu haben. A könnte darin einwilligen, dass B x tut und gleichzeitig darauf hoffen, dass B x nicht tut.16 Wer einwilligt, hat einen normativen Willen. Das bedeutet: A willigt zum Zeitpunkt t1 in die Handlung x von B ein, wenn sie B aus der fraglichen Pflicht entlassen möchte. Wenn A zu einem späteren Zeitpunkt diesen normativen Willen nicht mehr hat, willigt sie auch nicht mehr ein. Diese Überlegung führt uns zum alternativen Vorschlag: Die Einwilligung darin, dass andere zu einem späteren Zeitpunkt t2 etwas gegen meinen Willen mit mir tun, ist solange wirksam als die einwilligende Person den normativen Willen hat, die andere Person aus ihrer Pflicht zu entlassen. Die Zwangsmaßnahmen gegen Lucy sind also erlaubt, wenn Lucy zum Zeitpunkt t2 immer noch den normativen Willen hat, die

14

Walker (Fn. 13), 88. Dazu Schaber, Ratio 2020, 118 – 124. 16 Schaber, in: Müller/Schaber (Hrsg.), The Routledge Handbook of the Ethics of Consent 2018, 55 – 64. 15

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behandelnden Ärztinnen aus ihren Pflichten, die sie gegenüber Lucy haben, zu entlassen. Meiner Ansicht nach verhält sich das so nicht nur im Fall von Lucy, sondern auch in den anderen Fällen, in denen die Weigerung nur eine Episode ist. Menschen, die in eine Odysseusvereinbarung einwilligen, leiden an einer vorübergehenden Beeinträchtigung ihres Willens. Ihr Wille wird nicht irreversibel verändert wie bei Menschen, die ihren ursprünglichen Willen nicht mehr wiedergewinnen. Lucy wehrt sich zum Zeitpunkt gegen die Zwangsmaßnahmen. Sie hat aber immer noch den normativen Willen, die anderen aus ihrer Pflicht, sie nicht zu zwingen, entlassen. Sie ist nicht in der Lage gemäß diesem Willen zu handeln, er wird von einem anderen Willen momentan verdrängt. Ihrem normativen Willen fehlt vorübergehend die Stärke sich durchsetzen, etwas, was nach der Krise wieder der Fall sein wird. Menschen, die in Odysseusvereinbarungen einwilligen, leiden – anders gesagt – an Willensschwäche. Genau darin besteht auch die Beeinträchtigung ihrer Einwilligungsfähigkeit. Die betroffenen Personen sind nicht in der Lage, ihren normativen Willen zum Ausdruck zu bringen. Das kann so aussehen, als hätten sie diesen normativen Willen aufgegeben. Das ist aber nicht der Fall. Der normative Wille ist immer noch ihr Wille. Woran zeigt sich das? Es zeigt sich daran, dass die Beeinträchtigung nur eine Episode darstellt und die einwilligende Person ihren normativen Willen später wieder zum Ausdruck bringen kann. Wenn man davon ausgehen kann, dass das der Fall ist, darf man die episodische Störung zum Zeitpunkt t2 als Willensschwäche sehen und der betroffenen Person den normativen Willen, andere aus der Pflicht auch zum Zeitpunkt t2 zu entlassen, zusprechen. Das kann man bei irreversiblen Veränderung nicht sagen, deshalb müssen diese Fälle auch gesondert diskutiert werden. Da die Menschen, die – eine vorübergehende Beeinträchtigung ihres Willens antizipierend – in Odysseusvereinbarungen einwilligen, zum Zeitpunkt t2 immer noch den normativen Willen haben, andere aus der Pflicht zu entlassen, nicht ihre Maßnahmen durchzusetzen, ist ihre ursprüngliche Einwilligung zum Zeitpunkt t1 immer noch wirksam und die vereinbarten Maßnahmen erlaubt. Die Verbindlichkeit von Odysseusvereinbarungen beruht also auf dem nach wie vor vorliegenden normativen Willen der einwilligenden Person. Ihre Weigerung zum Zeitpunkt t2, sich den vereinbarten Maßnahmen zu unterziehen, ist eine Form der Willensschwäche und deshalb nichts, was die Wirksamkeit der Einwilligung untergraben könnte. Odysseusvereinbarungen sind verbindlich, weil die betroffene Person zum Zeitpunkt t2 immer noch das will, was sie zum früheren Zeitpunkt t1 wollte, nämlich den Adressaten der Einwilligung eine Erlaubnis zu erteilen.

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III. Schluss Odysseuseinwilligungen werden aus verschiedenen Gründen für verbindlich gehalten: a) weil sie einem früheren autonomen Willen der einwilligenden Person entsprechen, b) weil sie deren Wünsche über die Zeit am besten bedienen, c) weil sie etwas schützen, das für sie wichtig ist im Leben, oder d) weil sie ex post in die Maßnahmen einwilligen wird. Keiner dieser Vorschläge, so wurde hier argumentiert, vermag zu überzeugen. Odysseusvereinbarungen sind verbindlich, weil die einwilligende Person nach wie vor den normativen Willen hat, andere aus der Pflicht, die vereinbarten Maßnahmen nicht gegen ihren Willen durchzusetzen, zu entlassen. Während der vorübergehenden Krise, welche die einwilligende Person zum Zeitpunkt t2 erlebt und sie dazu bringt, die Maßnahmen zu verweigern, leidet sie an Willensschwäche. Sie ist vorübergehend nicht in der Lage ihren normativen Willen zu Ausdruck zu bringen und nach ihm zu handeln. Da sie aber weiterhin den normativen Willen hat, andere aus der besagten Pflicht zu entlassen, ist ihre frühere Einwilligung nach wie vor wirksam und die Durchsetzung der Maßnahmen gegen ihren Willen erlaubt.

V. Strafrechtsgeschichte, Strafrechtskultur und Kriminologie

Das Endphaseverbrechen im Zuchthaus Sonnenburg (Słon´sk) Freistellung von NS-Tätern durch Rechtsdogmatik Arnd Koch

I. Einführung Am 30./31. Januar 1945 fand in dem nahe Küstrin (Kostrzyn nad Odra˛) gelegenen Zuchthaus Sonnenburg (Słon´sk) eine der größten Mordaktionen an Justizgefangenen während des „Dritten Reiches“ statt.1 Ein von der Gestapostelle Frankfurt (Oder) entsandtes SS-Kommando erschoss über mehrere Stunden hinweg mehr als 800 Gefangene, um deren Befreiung durch die herannahende Rote Armee zu verhindern. Das Massaker von Sonnenburg zählt zu den bekannteren der erst in jüngerer Zeit in den historiographischen Blick gerückten „Endphaseverbrechen“.2 In den letzten Kriegsmonaten fielen zehntausende Menschen „Torschlussmorden“3 zum Opfer, durch standgerichtliche Todesurteile, Lynchmorde, „Werwolf“-Aktionen, Todesmärsche oder Gefangenentötungen. Die Morde von Sonnenburg sind fester Bestandteil der polnischen Erinnerungskultur und Gegenstand von wissenschaftlichen Veranstaltungen der Viadrina.4 Der folgende Beitrag ist dem Jubilar vom Autor in dankbarer Erinnerung an seine Zeit als Professurvertreter in Frankfurt (Oder) gewidmet. Im Zentrum der Überlegungen steht die gescheiterte strafrechtliche Aufarbeitung des Geschehens durch westdeutsche Gerichte. Ein 1970 angestrengtes Strafverfahren gegen den seinerzeitigen Leiter der Frankfurter Gestapostelle sowie den Führer des SS-Exe-

1 Monographisch Hohengarten, Das Massaker im Zuchthaus Sonnenburg am 30./31. Januar 1945, 1979; vgl. auch Queiser, in: Coppi/Majchrzak (Hrsg.), Das Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg, 2015, 49 ff.; Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, 2004, 372 ff.; auf Polnisch erschien Mnichowski, Obóz koncentracyjny i wie˛ zienie w Sonnenburgo (Słon´sku) 1933 – 1945, 1982. 2 Nunmehr Keller, Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45, 2013; Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45, 2011; Sander, Mörderisches Finale. NS-Verbrechen bei Kriegsende 1945, 2. Aufl. 2020. 3 Paul, in: ders./Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo im zweiten Weltkrieg, 2000, 543. 4 Zum 75. Jahrestages der Ereignisse veranstaltete die Kulturwissenschaftliche Fakultät in Kooperation mit der Gedenkstätte in Słon´sk einen internationalen Workshop, https://idw-on line.de/de/news729901 (zuletzt abgerufen am 30. 12. 2021).

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kutionskommandos endete im Folgejahr vor dem LG Kiel mit Freisprüchen.5 Zunächst sollen die Ereignisse von Sonnenburg dargestellt werden (II.), sodann wird das Urteil des LG Kiel einer kritischen Analyse unterzogen (III.). Ausgehend vom Beispiel Sonnenburg schließen Anmerkungen zu interessengeleiteter Rechtsanwendung den Beitrag (IV.).

II. Die Gefangenenmorde im Zuchthaus Sonnenburg 1. Sonnenburg – Zuchthaus und Konzentrationslager Das Zuchthaus Sonnenburg war in den Gebäuden einer 1832/33 gegründeten Königlich-Preußischen Strafanstalt untergebracht.6 Nachdem die Anstalt 1931 wegen ihres maroden Zustands und einer Ruhrepidemie geschlossen worden war, erfolgte nach der „Reichstagsbrandverordnung“ und der von ihr ausgelösten Verhaftungswelle die Nutzung als Konzentrationslager.7 Zahlreiche prominente Gegner des NS-Regimes wurden nach Sonnenburg verlegt, darunter Hans Litten (1903 – 1938), Erich Mühsam (1878 – 1934) und Carl v. Ossietzky (1889 – 1938). Das Wachpersonal rekrutierte sich aus berüchtigten SA-Wachmannschaften, schnell verbreitete sich die Rede von der „Folterhölle Sonnenburg“. Erschütterndes Zeugnis schrankenloser, primitiver Brutalität geben zum einen die Misshandlungen der drei genannten Intellektuellen,8 zum anderen die Urteilsgründe des LG Schwerin, das 1948 einen ehemaligen Wachmann wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (KRG 10) zum Tode verurteilte.9 Im Frühjahr 1934 folgte die Umwidmung der Anstalt in ein reguläres Zuchthaus. Zu den Insassen zählten neben Straftätern und Zwangsarbeitern insbesondere Angehörige westeuropäischer Staaten, die nach 1942 aufgrund des berüch-

5 LG Kiel, Urt. v. 2. 8. 1971, in: Rüter (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Bd. 36, 2006, Lfd. Nr. 758, 5 ff. 6 Zum Folgenden insbes. Hohengarten (Fn. 1), 13 ff.; Nürnberg, in: Benz (Hrsg.), Herrschaft und Gewalt, Bd. 2, 2002, 83 ff.; Toczewsli und Böhne/Gollasch, in: Coppi/Majchrzak (Fn. 1), 21 ff., 38 ff. 7 Die am Tag nach dem Reichstagsbrand erlassene „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. 2. 1933 (RGBl. 1 1933, 83) setzte wesentliche Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft, so etwa die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Vereins- und Versammlungsfreiheit. Gegen von Polizei- oder SA-Kräften angeordnete „Schutzhaft“ bestand kein Rechtsschutz. Zur Bedeutung der „Reichstagsbrandverordnung“ für die Durchsetzung nationalsozialistischer Herrschaft Raithel/Strenge, VfZ 48 (2000), 41 ff. 8 Hierzu Wachsmann, KL. Die Geschichte nationalsozialistischer Konzentrationslager, 2018, 54 ff. 9 LG Schwerin, Urt. v. 29. 9. 1948, in: Rüter (Hrsg.), DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Bd. 10, 2007, Lfd. Nr. 1548a, 171 ff.

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tigten „Nacht-und-Nebel-Erlasses“ inhaftiert und von der Außenwelt isoliert worden waren.10 2. Gefangenenmorde in der Endphase „Sonnenburg“ war kein singuläres Verbrechen, es reiht sich ein in die Gefangenenmorde der letzten Kriegsmonate.11 Die Weichen für diesen (rechts-)historisch nicht systematisch aufgearbeiteten Verbrechenskomplex stellte eine im September 1942 zwischen Reichsjustizminister Thierack und Himmler getroffene Vereinbarung, wonach „asoziale Elemente“ aus dem regulären Strafvollzug dem „Reichsführer SS“ zur „Vernichtung durch Arbeit“ auszuliefern waren.12 Die angelegten Kriterien folgten der nationalsozialistischen Rassenlehre. Zu den Auszuliefernden zählten neben Sicherungsverwahrten insbesondere Juden, „Zigeuner“ und Angehörige osteuropäischer Staaten.13 In der Folge übergaben die Justizbehörden über 20.000 Gefängnisinsassen an Himmler, die mehrheitlich in den Konzentrationslagern den Tod fanden.14 Mit Zurückweichen der Ostfront etablierte sich der mörderische Grundsatz, wonach bestimmte Personengruppen die Gefängnisse nicht lebend verlassen durften, sondern bei Feindannäherung zu töten waren.15 Tausende Menschen verloren ihr Leben, in den Gefängnissen von Borisov (Baryssau), Bobruisk (Babrujsk), Białystok oder in Lublin, wo die Gestapo 3.400 Inhaftierte mit Maschinenpistolen in den Zellen erschoss.16 Nach dem Vordringen der Alliierten in das Reichsgebiet verschärfte sich die Lage für die hier einsitzenden Gefangenen. Das Reichsjustizministerium ließ ge-

10 Der sog. „NN-Erlasss“ vom Dezember 1941 („Geheime Richtlinien für die Verfolgung von Straftaten gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten“) ordnete aus Abschreckungsgründen das „Verschwindenlassen“ solcher westeuropäischer (Widerstands-)Täter an, für welche eine Todesstrafe nicht in Betracht kam; näher Gruchmann, VjZ 29 (1981), 343 ff.; vgl. zum Schicksal der Nacht-und-Nebel Häftlinge in Sonnenburg zahlreiche Beiträge in Coppi/Majchrzak (Fn. 1). 11 Prägnanter Überblick bei Keller (Fn. 2), 247 ff.; aus der Rechtsprechung beispielhaft LG Dortmund, Urt. v. 4. 4. 1952, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 9, 1972, Lfd. Nr. 312, 389 ff. (Massenexekutionen von Gefangenen im März/April 1945). Mit vollstreckten Todesurteilen endete 1946 ein österreichisches Verfahren wegen Gefangenenmorden, hierzu Jagschitz/Neugebauer (Hrsg.), Stein, 6. April 1945. Das Urteil des Volksgerichts Wien gegen die Verantwortlichen des Massakers im Zuchthaus Stein, 1995. 12 Grundlegend Wachsmann (Fn. 1), 310 ff.; auch Wiedemann, in: Lölke/Staats (Hrsg.), richten – strafen – erinnern. Nationalsozialistische Justizverbrechen und ihre Nachwirkungen in der Bundesrepublik, 2021, 189 ff. 13 Näher Wachsmann (Fn. 1), 311 ff. 14 Wachsmann (Fn. 1), 326. 15 Keller (Fn. 2), 248. 16 Keller (Fn. 2), 248 f.

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heime Pläne zur Räumung feindbedrohter Anstalten ausarbeiten.17 Ein undatiertes, namentlich nicht gezeichnetes Papier sprach von „Fingerzeigen“ und überließ das nähere Vorgehen den örtlichen Verwaltungs- und Parteidienststellen sowie den Generalstaatsanwälten.18 Während Himmler für Konzentrationslager die Devise ausgegeben hatte, dass kein Insasse in Feindeshand fallen dürfe,19 erfolgte für Gefängnisse eine Differenzierung nach „staatspolitischen“ und rassenideologischen Gesichtspunkten. Die Freimachung der Anstalten konnte durch Rückführung, Abgabe an andere Stellen oder Entlassung erfolgen. Unter keinen Umständen zu entlassen waren aufgrund des sog. „Nacht-und-Nebel-Erlasses“ inhaftierte ausländische Gefangene, Juden, „Judenmischlinge 1. Grades“ und „Zigeuner“. Ließ sich eine Freimachung der Gefängnisse zeitlich nicht mehr durchführen, gaben die Richtlinien die Ermächtigung zum Massenmord. In diesem Fall „sind die nicht ausgesprochen asozialen und staatsfeindlichen Gefangenen noch so rechtzeitig zu entlassen, dass sie nicht in Feindeshand fallen, die vorgenannten Elemente sind dagegen der Polizei zur Beseitigung zu überstellen oder, wenn auch dies nicht möglich, durch Erschießen unschädlich zu machen. Die Spuren der Beseitigung sind sorgfältig zu beseitigen (…).“20 3. Die Nacht vom 30./31. Januar 1945 – Ablauf des Massakers Es liegt nahe, dass die genannten Richtlinien auch die Grundlage für das Massaker in Sonnenburg bildeten. Das LG Kiel musste die Frage nach den Hintergründen des Mordbefehls indes offenlassen, auch gelang es dem Gericht nicht, die eigentlichen Befehlsgeber der Aktion zu ermitteln.21 Nach einer aufwendigen Beweisaufnahme und 50 Verhandlungstagen legte das LG Kiel seinem Urteil folgenden Sachverhalt zugrunde:22 Der Leiter der Gestapo-Stelle in Frankfurt (Oder), Heinz Richter (1903 – 1974), gab seinem Untergebenen, dem SS-Obersturmführer Wilhelm Nickel (1914 – unbekannt) Ende Januar 1945 den Befehl, in Sonnenburg einsitzende Gefangene vor der Freimachung des Zuchthauses zu töten. Nach Überzeugung des Gerichts war Nickel während der gesamten Aktion allein verantwortlicher Kommandeur.23 Am späten Nachmittag des 30. 1. 1945 erreichte Nickel mit einem ca. 20 Mann starken SS-Kommando sein Ziel. Anhand von Karteikarten erfolgte unter Beteiligung des Gefängnis17

Wachsmann (Fn.1), 363. Vollständig zitiert in LG Kiel (Fn. 5), 18 ff.; Kopie in Hohengarten (Fn. 1), 175 ff. 18 „Richtlinien für die Räumung von Justizvollzugsanstalten im Rahmen der Freimachung bedrohter Reichsgebiete“, LG Kiel (Fn. 5), 19. 19 Paul (Fn. 3), 550 f. 20 „Richtlinien für die Räumung von Justizvollzugsanstalten im Rahmen der Freimachung bedrohter Reichsgebiete“, LG Kiel (Fn. 5), 21. 21 LG Kiel (Fn. 5), 41. 22 Vgl. hierzu Hohengarten (Fn. 1), 55; Keller (Fn. 2), 254; Queiser (Fn. 1), 49 ff. 23 LG Kiel (Fn. 5), 57.

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direktors die Selektion der zu tötenden bzw. zu evakuierenden Gefangenen.24 Der genaue Ablauf, die Auswahlkriterien sowie die an der Selektion beteiligten Personen ließen sich in der Beweisaufnahme nicht rekonstruieren. Sodann erfolgte die räumliche Trennung der beiden weiterhin ahnungslosen Häftlingsgruppen. Die ausgewählte Hinrichtungsstätte befand sich am äußersten Ende des Zuchthausgeländes, zwischen einem langgezogenen Gebäude und der Außenmauer.25 Nachdem das SS-Kommando im Büro des stellvertretenden Anstaltsleiters gegessen und Alkohol konsumiert hatte, begann in den späten Abendstunden das Morden. Das Gefängnispersonal trieb Gruppen von jeweils zehn Gefangenen im Laufschritt vom Hauptgebäude zum außer Sicht- und Hörweite gelegenen Hinrichtungsort. Hier übernahmen die SS-Leute.26 Die Gefangenen wurden entweder niederkniend per Genickschuss getötet oder an der Wand stehend exekutiert. Abkommandierte Gefangene warfen die Getöteten in eine Grube. Als die Grube voller Leichen war, ließ man die Getöteten an Ort und Stelle liegen.27 Das Morden dauerte bis in die frühen Morgenstunden des 31. 1. 1945. Zwischen 600 und 819 Gefangene starben,28 vier Gefangene überlebten mit Schussverletzungen.29 Am Morgen des 31. 1. 1945 verließ der Evakuierungsmarsch mit rund 120 Gefangenen das Zuchthaus Richtung Westen, am 2. Februar 1945 erreichte die Rote Armee Sonnenburg.30

III. Das Urteil des LG Kiel 1. Freispruch Gut 25 Jahre nach dem Massaker sprach das LG Kiel die beiden Angeklagten vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord frei.31 Die Anklage hatte den ehemaligen SS-Männern zur Last gelegt, „Himmler und anderen Mittätern bei der heimtückisch begangenen Tötung von mindestens 600 Menschen durch die Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben, indem sie (…) auf höheren Befehl an der Erschießung von mindestens 600 Strafgefangenen des Zuchthauses Sonnenburg mitgewirkt (haben)“32. Die Mitglieder des Erschießungskommandos konnten ebenso wenig ermittelt werden wie die „höheren Befehlsgeber“.33 Das LG Kiel wich insofern vom Urteil des Nürnberger Juris24

LG Kiel (Fn. 5), 56 f. LG Kiel (Fn. 5), 59. 26 LG Kiel (Fn. 5), 58 f. 27 LG Kiel (Fn. 5), 59. 28 Das LG Kiel ging von 600 Opfern aus; kritisch hierzu Hohengarten (Fn. 1), 90 f. 29 LG Kiel (Fn. 5), 60; Queiser (Fn. 1), 59. 30 Queiser (Fn. 1), 59. Russische Fotografen dokumentierten das Verbrechen; Bildmaterial bei Hohengarten (Fn. 1), 196 – 207. 31 LG Kiel (Fn. 5), 3 ff. 32 LG Kiel (Fn. 5), 3. 33 LG Kiel (Fn. 5), 15, 29, 44. 25

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tenprozesses ab, das den Staatssekretär im Reichsjustizministerium, Herbert Klemm (1903 – nach 1961), u. a. aufgrund des Massakers von Sonnenburg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt hatte.34 Lediglich als Zeuge erschien der seinerzeitige Zuchthausdirektor Knops, der in der Nachkriegszeit ungeachtet seiner Vergangenheit die Leitung einer Vollzugsanstalt in Aachen übernommen hatte.35 Sein damaliger Stellvertreter war unmittelbar nach dem Krieg gemeinsam mit einem weiteren Angehörigen der Zuchthausleitung von einem Sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und erschossen worden.36 2. Verjährung – Verurteilungsmöglichkeiten a) Verjährung von Totschlag Zum Zeitpunkt des Kieler Verfahrens waren die Möglichkeiten einer Verurteilung von NS-Tätern bereits stark eingeschränkt. Die strafrechtliche Verfolgung wegen Totschlags (§ 212 StGB) und seiner Teilnahmeformen (Anstiftung, Beihilfe, §§ 26, 27 StGB) unterlag wegen der am 8. Mai 1960 eingetretenen Verjährung einem absoluten Verfahrenshindernis und blieb somit ausgeschlossen.37 Der Verjährungseintritt für sämtliche Delikte mit Ausnahme des Mordes (§ 211 StGB) war seinerzeit ohne öffentliche Debatte erfolgt. Parlamentarische Gegenvorstöße, insbesondere aus Reihen der SPD-Fraktion, vermochten sich angesichts verfassungsrechtlicher Einwände (Rückwirkungsverbot) nicht durchzusetzen.38 Nachdem die Anzahl der NS-Verfahren zu Beginn der 1950er Jahre regelrecht eingebrochen war, erwachte in den späten 1950er Jahren das Interesse an einer systematischen Verfolgung von NS-Unrecht.39 Als Auslöser der „justizpolitischen Wende“40 gelten der vielbeachtete „Ulmer Einsatzgruppenprozess“ von 195841 sowie die Gründung der bis heute bestehenden Ludwigsburger „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklä34 Urteilsbegründung in: Peschel-Gutzeit (Hrsg.), Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947, 160 ff.; dagegen LG Kiel (Fn. 5), 41: „Mit dem vorliegenden Beweismaterial konnte eine sichere Beteiligung Klemms nicht festgestellt werden“. 35 Majchrzak, in: Coppi/Majchrzak (Fn. 1), 206. 36 Majchrzak, in: Coppi/Majchrzak (Fn. 1), 203, dort auch zu polnischen Ermittlungen. 37 Gem. § 67 Abs. 1 StGB a. F. betrug die Verjährungsfrist für Totschlag 15 Jahre; für die Zeit bis zur Kapitulation hatte die Rechtsprechung bei NS-Taten wegen faktischer Nichtverfolgbarkeit ein Ruhen der Verjährung angenommen. 38 Hierzu v. Miquel, Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, 2004, 194 ff.; auch Asholt, Verjährung im Strafrecht, 2016, 51 ff. 39 Anschaulich Eichmüller, VfZ 56 (2008), 621 ff. 40 Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, 2012, 188. 41 LG Ulm, Urt. v. 29. 8. 1958, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 15, 1976, Lfd. Nr. 465a, 65 ff. Hierzu Eichmüller (Fn. 40), 188 ff.; Walter, in: Löhnig/Preisner/Schlemmer (Hrsg.), Krieg und Recht. 2014, 123 ff.

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rung nationalsozialistischer Verbrechen“.42 Es zählt zu den bitteren Pointen westdeutscher Justizgeschichte, dass zu einem Zeitpunkt, in dem mit dem Jerusalemer Eichmann-Prozess (1961) und dem Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 – 1965) sowohl das „Schweigekartell“43 innerhalb der Strafrechtswissenschaft an Wirkmacht verlor als auch das öffentliche Interesse an der Verfolgung von NS-Unrecht erwachte, das Gros der in Betracht kommenden Delikte bereits verjährt war. b) „Kalte Verjährung“ eines Großteils der Mordbeihilfe Eine weitere Einschränkung strafrechtlicher Verfolgung geht auf die vielbeschriebene „kalte Verjährung“ der Mordbeihilfe von 1969 zurück.44 Auslöser der sog. „kalten Amnestie“ für NS-Gehilfen war bekanntlich das unscheinbare „Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 24. Mai 1968“. Unter Vorwegnahme der bevorstehenden Strafrechtsreform wurde das StGB um eine dem heutigen § 28 Abs. 1 StGB entsprechende Norm ergänzt (§ 50 Abs. 2 StGB d. F.).45 Die Strafe des Teilnehmers war fortan obligatorisch zu mindern, sofern er selbst ohne täterbezogene Mordmerkmale (wie etwa Rassenhass) handelte. Aufgrund der Auflockerung der vormals strengen Akzessorietät blieb das bloße Wissen um die beim Haupttäter vorliegenden niedrigen Beweggründe fortan irrelevant. Aus der nunmehr46 obligatorischen Strafmilderung der Beihilfe folgte nach h. M. zwingend die Reduzierung der vormaligen Verjährungsfrist der Mordbeihilfe von 20 auf 15 Jahre.47 Konsequenz dieser „schwerwiegenden und unbegreiflichen Fehlleistung des Gesetzgebers“48 42 v. Miquel (Fn. 38), 162 ff.; Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Eine Geschichte der Zentralen Stelle in Ludwigsburg 1958 – 2008, 2008. 43 So rückblickend Roxin, in: Horstmann/Litzinger (Hrsg.), An den Grenzen des Rechts, 2006, 203 (210). Zur mit Blick auf die justitielle Aufarbeitung von NS-Unrecht unrühmlichen Rolle der Strafrechtswissenschaft in den 1950er Jahren Koch, in: Steinberg/Koch/Popp (Hrsg.), Strafrecht in der alten Bundesrepublik 1949 – 1990, 2020, 413 ff. 44 Hierzu Asholt (Fn. 38), 53 ff.; Gerhold, Die Akzessorietät der Teilnahme an Mord und Totschlag, 2014, 131 ff.; Görtemaker/Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, 2016, 399 ff.; Greve, KJ 2000, 412 ff.; auch Küper, FS Eisenberg, 2009, 337 ff. 45 BGBl. I 1968, 503 ff. Der aus dem E 1962 nicht übernommene § 127 Abs. 3 StGB (heute § 78 Abs. 4 StGB) hätte den Eintritt der Gehilfenverjährung verhindert. Hiernach bemisst sich die Berechnung der Verjährungsfrist ausschließlich nach der Strafandrohung des verwirklichten Straftatbestands, ohne Rücksicht auf etwaige im Allgemeinen Teil enthaltene Strafmilderungen oder Strafschärfungen. 46 Während das RStGB eine obligatorische Strafmilderung der Beihilfe kannte (§ 49 Abs. 2 RStGB), etablierte der nationalsozialistische Gesetzgeber die lediglich fakultative Milderung (§ 4 der „Gewaltverbrecherverordnung“ von 1939, Anpassung des § 49 Abs. 2 RStGB durch die „Strafrechtsangleichungsverordnung“ von 1943). Nach dem Krieg blieb die fakultative Milderung zunächst bestehen, bis das 2. StrRG 1975 zur obligatorischen Milderung zurückkehrte; näher Koch (Fn. 43), 421 ff. 47 So umgehend BGHSt 22, 375 (382); hierzu Küper, JZ 2017, 229 ff. 48 Werle, NJW 1992, 2529 (2532). Eine Schlüsselrolle für den Eintritt der „kalten Amnestie“ weisen nicht allein Görtemaker/Safferling (Fn. 44), 417, dem Ministerialdirigenten,

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war es, dass das Gros der Mordbeihilfe mit einem Schlag verjährte und somit unverfolgbar wurde. Strafrechtlich relevant sind seither neben dem täterschaftlich verübten Mord allein solche Konstellationen, in denen Teilnehmer selbst (neben dem Täter) täterbezogene Mordmerkmale aufweisen oder aber um die Verwirklichung tatbezogener Mordmerkmale (insbesondere die grausame oder heimtückische Tatbegehung) durch den Täter wissen. Der BGH räumte die Ungereimtheit des Ergebnisses ein (Beihilfe zu einer als heimtückisch erkannten Tötung: keine Verjährung; Beihilfe zu einer aus erkannt rassistischen Motiven begangenen Ausrottung einer ganzen Volksgruppe: Verjährung), glaubte jedoch, dies angesichts der eindeutigen lex lata hinnehmen zu müssen.49 3. Ablehnung von Täterschaft a) Die Angeklagten als bloße Gehilfen Eine Verurteilung der Angeklagten wegen täterschaftlichen Mordes wäre nach Eintritt der „kalten (Gehilfen-)Verjährung“ möglich geblieben. Aufgrund des planmäßigen Vertuschens der Mordaktion gegenüber den todgeweihten Gefangenen ließe sich das Mordmerkmal der Heimtücke zwanglos begründen. Dem LG Kiel gelang es indes unter Anwendung der „(extrem) subjektiven Teilnahmelehre“ mühelos, die Tatbeiträge der Angeklagten als bloße Beihilfe zu qualifizieren. Beide seien lediglich auf Befehl, in Erfüllung einer vermeintlichen Pflicht und letztlich nur widerstrebend tätig geworden.50 Für ein Widerstreben sprachen von den Angeklagten behauptete Verzögerungshandlungen und Gegenvorstellungen, die sich weder beweisen noch widerlegen ließen.51 Unter zeittypisch verkürzter Wiedergabe einer Schlüsselsentenz des Staschinskij-Urteils führte das LG Kiel aus, dass der Sachverhalt nicht den Schluss zulasse, „dass die Angeklagten politischer Mordhetze willig nachgegeben, ihr Gewissen völlig zum Schweigen gebracht und fremde verbrecherische Ziele zur Grundlage eigener Überzeugung und eigenen Handelns gemacht haben“52. Nicht mitzitiert wurde die Passage, wonach regelmäßig nicht bloßer Tatgehilfe sei, „wer in seinem Dienst oder Einflussbereich dafür sorgt, dass solche Befehle rückhaltlos vollzogen werden“53. Die „(extrem) subjektive Teilnahmelehre“ war dem Angeklagten Richter bereits zwei Jahre zuvor zugutegekommen. Das LG Kiel hatte Richter als ehemaligen Leiter der berüchtigten Einsatzgruppe 8 lediglich als Gehilfen des tau-

Strafrechtskommentator und vormaligen Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck, Eduard Dreher, zu; kritisch Koch, ZStW 130 (2018), 533 (543). 49 BGHSt 22, 375 (381). 50 LG Kiel (Fn. 5), 64. 51 LG Kiel (Fn. 5), 64. 52 LG Kiel (Fn. 5), 64. 53 BGHSt 18, 94.

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sendfachen Judenmordes verurteilt – Täter seien allein „Hitler, Himmler, Heydrich und andere“.54 b) Exkurs: Die Bedeutung der „Gehilfenrechtsprechung“ für die Verfolgung von NS-Unrecht Die Bedeutung der sog. „Gehilfenrechtsprechung“ für die milde Bestrafung bzw. die Straflosstellung von NS-Tätern ist seit den 1980er Jahren wiederholt dargestellt und kritisiert worden.55 Die Zahlen sprechen für sich: Die westdeutsche Justiz kam wegen NS-Verbrechen auf die rechtskräftige Verurteilung von rund 6.500 Menschen, wobei in über 6.200 Fällen auf „Beihilfe“ erkannt wurde.56 „Sonnenburg“ veranschaulicht, dass die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme eine entscheidende Weichenstellung für die Strafverfolgung von NS-Unrecht bedeutete. In besonderem Maße galt dies für die große Zahl der Befehlsempfänger auf unterer und mittlerer Ebene. Waren eigenhändig verübte Tötungen in Vernichtungslagern, bei Massenerschießungen, im Zuge der sog. „Euthanasie-Aktion“ oder während „Todesmärschen“ als täterschaftlich verübter Mord bzw. Totschlag zu bewerten? Oder ließ sich selbst der eigenhändig Tötende als bloßer Gehilfe qualifizieren? Während auf Mord zwingend die lebenslange Zuchthausstrafe stand, reduzierte die obligatorische (seit 1975) bzw. die fakultative Strafmilderung (1940 – 1974) den Strafrahmen für Gehilfen zwingend bzw. nach Ermessen des Richters auf drei bis 15 Jahre Freiheitsstrafe. In Fällen, in welchen der unmittelbar Handelnde in eigener Person ein Mordmerkmal verwirklichte, eröffnete überhaupt erst der Weg über die Beihilfe-Konstruktion Raum für individuelle Strafzumessungserwägungen. Vieles spricht dafür, dass die „extrem-subjektive Theorie“ ohne die obligatorische Androhung der Höchststrafe in § 211 StGB keine Wiedergeburt erfahren hätte.57 Die beschriebene „kalte Verjährung“ der Mordbeihilfe verlieh der Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe zusätzliche Brisanz. War die dogmatische Unterscheidung zwischen Beihilfe und täterschaftlich verübtem Mord bis dahin „lediglich“ für den Strafrahmen relevant gewesen, so entschied sie nunmehr vielfach darüber, ob der eigenhändig Tötende überhaupt strafrechtlich verfolgt werden konnte. Die „Gehilfenrechtsprechung“ wurde in NS-Sachen bis zur Jahrtausendwende angewandt.58 Für den Bereich der allgemeinen Kriminalität rekurrierte der BGH 1974 letztmals auf die „extrem-subjektive Teilnahmelehre“.59 Noch 1987 hielt das Gericht 54

LG Kiel, Urt. v. 11. 4. 1969, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 32, 2004, Lfd. Nr. 702, 63. Z. B. Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, 2002, 143 ff.; Greve, Der justitielle Umgang mit NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, 2004, 145 ff.; I. Müller, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, 1987, 250 ff. 56 Eichmüller, VjZ 56 (2008), 621 ff. 57 Schon Baumann, in: Henkys (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, 1964, 267 (317); Rüping, JZ 1979, 617. 58 Nachweise bei Koch (Fn. 43), 437 Fn. 113. 59 BGH GA 1974, 370. 55

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ein „Schlupfloch“ offen, um „in extremen Ausnahmefällen“ trotz eigenhändiger Tatbestandsverwirklichung weiterhin auf Beihilfe erkennen zu können.60 Die folgenreiche Lehre geht bekanntlich auf den berühmten „Badewannen-Fall“ zurück, den das Reichsgericht im Jahr 1940 zu entscheiden hatte.61 Das Reichsgericht kreierte die „extrem-subjektive Teilnahmelehre“, um eine junge Frau, die das neugeborene Kind der Schwester auf deren Drängen, in deren Interesse und nach längerer Diskussion (d. h. „mit Überlegung“ i. S. von § 211 RStGB a. F.) ertränkt hatte, nicht wegen Mordes zum Tode verurteilen zu müssen.62 Entscheidend sei, „ob der Beschuldigte die Ausführungshandlung mit Täterwillen unternommen, d. h. die Tat als eigene gewollt hat, oder ob er damit lediglich eine fremde Tat als fremde hat unterstützen wollen. Nur im ersten Fall ist er Täter, im zweiten bloßer Gehilfe“63. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war umstritten, ob an diesen Sätzen, die schon in zeitgenössischen Urteilsbesprechungen auf nahezu einhelligen Widerspruch gestoßen waren,64 festgehalten werden sollte. Einige Gerichte lehnten ein Anknüpfen an das reichsgerichtliche Urteil entschieden ab: „Wer selbst tötet, (ist) Mörder, gleichgültig, ob er für sich oder für einen anderen, im eigenen oder im fremden Interesse tätig wird“ – so das OLG Frankfurt in seinem Urteil gegen einen Euthanasie-Arzt, der 30 Kinder eigenhändig zu Tode gespritzt hatte.65 Unzutreffend ist die gelegentlich geäußerte Behauptung, wonach die Judikatur mit der „Staschinskij-Entscheidung“ (1962) zur „extrem-subjektiven Theorie“ des Reichsgerichts zurückgekehrt sei.66 Den Nachruhm der Entscheidung begründete neben dem spektakulären Tathergang67 der banale Grund ihrer Sichtbarkeit. Im Gegensatz zu früheren Judikaten zur „extrem-subjektiven Theorie“ wurde „Staschinskij“ in die Amtliche Sammlung aufgenommen. Schon in den Jahren zuvor hatten sich Landgerichte in NS-Sachen flächendeckend, wenngleich unveröffentlicht und von der Rechtslehre unbeachtet, der „extrem-subjektiven Teilnahmelehre“ bedient. Als bloßer Gehilfe galt beispielsweise, wer eigenhändig Zyklon B in Gaskammern leitete,68 an der Spitze eines Konzentrationslagers stand,69 notgelandete Feindflieger erschoss,70 gefangene Russen per Genickschuss niederstreckte,71 während einer 60

BGH NStZ 1987, 224 f. RGSt 74, 84. 62 Zu den Hintergründen Hartung, JZ 1954, 430 f. 63 RGSt 74, 84 (85). 64 zu Dohna, Deutsches Strafrecht 1940, 120 ff.; Kohlrausch/Lange, Strafgesetzbuch, 38. Aufl. 1944, vor § 47, Abschn. III, III. A. (167 f.). 65 OLG Frankfurt, SJZ 1947, Sp. 630; auch OLG Bremen, NJW 1947/48, 312 ff. 66 So Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 1963, 105 Fn. 52; auch Freudiger (Fn. 55), 63. 67 Ein KGB-(Doppel-)Agent ermordete in München zwei ukrainische Exilpolitiker mittels einer Giftpistole. 68 LG Bochum, Urt. v. 16. 12. 1955 und 4. 6. 1957, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 14, 1976, Lfd. Nr. 446b, 181 ff.; Nr. 446a, 151 ff. 69 LG Bochum (Fn. 68), 181 ff.; 151 ff. 70 LG Mainz, Urt. v. 18. 3. 1955, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 13, 1975, Lfd. Nr. 413a, 69 ff. 61

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nächtlichen Menschenjagd politische Gegner an Straßenbäumen erhängte72 oder – wie im „Ulmer Einsatzgruppenprozess“ – tausende von Menschen in die Grube schoss.73 Gelangte eine Revision zum BGH, so wurden die erstinstanzlichen Ausführungen zur Teilnahmefrage in aller Regel gehalten.74 „Staschinkij“ bedeutete somit nicht den „Sündenfall“ der deutschen Nachkriegsjudikatur.75 In den folgenden Jahren gelangten kaum Mordhandlungen zur Aburteilung, bei welchen unmittelbar Handelnde nach Dafürhalten des Gerichts aus festgestellter innerer Überzeugung oder im Einklang mit der NS-Ideologie töteten. Vielmehr galten Empfänger rechtswidriger Befehle – in Umkehrung des Leitsatzes der „Staschinskij-Entscheidung“ – in aller Regel als Gehilfen.76 Mit Billigung des BGH wurde nach „Staschinskij“ beispielsweise als „Gehilfe“ qualifiziert, wer bei einem „Todesmarsch“ gehunfähige Häftlinge aussonderte und mit der Maschinenpistole tötete,77 wer als SS-General im direkten Auftrag Himmlers den Abtransport von 300.000 Juden aus dem Warschauer Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka organisierte,78 wer in einem mehrstündigen Blutbad die Erschießung hunderter jüdischer Männer, Frauen und Kinder leitete und sich hieran eigenhändig beteiligte79 oder wer – wie im Düsseldorfer Majdanek-Urteil (1981) – die Position eines stellvertretenden KZ-Leiters innehatte.80 4. Ablehnung von Beihilfe zum Mord a) Heimtücke – Grausamkeit – niedrige Beweggründe Qualifiziert man die wegen des Massakers in Sonnenburg Angeklagten als Gehilfen, so bliebe eine Bestrafung nach dem oben Gesagten nur dann möglich, wenn die Befehlsgeber/Täter heimtückisch, grausam oder mit niedrigen Beweggründen han71

LG Weiden, Urt. v. 3. 7. 1957, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 14, 1976, Lfd. Nr. 448a, 282 f. LG München, Urt. v. 13. 2. 1956, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 15, 1976, Lfd. Nr. 427a, 557 ff. Zur sog. „Penzberger Mordnacht“ Koch/Siebenhüter, Rechtskultur 3 (2014), 58 ff. 73 LG Ulm (Fn. 41), 65 ff. 74 Übersicht bei Heynckes, Täterschaft und Teilnahme bei NS-Tötungsverbrechen – Analyse und Kritik der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, 2005, 58 ff., 104 ff. Hinweise auch bei Baun, Beihilfe zu NS-Gewaltverbrechen, 2019, 44 ff. 75 So aber C. Nestler, in: Fischer/Hoven (Hrsg.), Schuld, 2017, 357. 76 Dies galt freilich nicht für einen DDR-Grenzsoldaten, der auf direkten Befehl seines Vorgesetzten einen Fliehenden erschoss (Fall Hanke). Das LG Stuttgart JZ 1964, 101 ff. sah in dem Schützen den „Prototyp des gedankenlosen willigen Befehlsempfängers“ (S. 103) und verurteilte ihn als Täter. 77 BGH, Urt. v. 2. 11. 1966, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 22, 1981, Lfd. Nr. 598b, 275. 78 BGH, Urt. v. 26. 10. 1965, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 20, 1979, Lfd. Nr. 580, 530. Das Urteil zum „Fall Wolff“ ist auszugsweise veröffentlicht in BGH DRiZ 1966, 59. 79 BGH, Urt. v. 5. 7. 1977, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 41, 2009, Lfd. Nr. 832b, 54. 80 LG Düsseldorf, Urt. v. 30. 6. 1981, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 44, 2011, Lfd. Nr. 869, 566 ff.; hierzu Ostendorf, FS Puppe, 2011, 344 ff. 72

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delten. Richter und Nickel müssten in Kenntnis der Erfüllung eines der tatbezogenen Mordmerkmale durch die Haupttäter (hier: Heimtücke, Grausamkeit) gehandelt oder wie diese in eigener Person ein täterbezogenes Mordmerkmal (hier: niedrige Beweggründe) erfüllt haben. Um eine Strafbarkeit von Befehlsempfängern zu vermeiden, interpretierte die Rechtsprechung die Mordmerkmale „Heimtücke“ und „Grausamkeit“ eng.81 Eine einschlägige Dissertation gelangte überdies zu dem als „erstaunlich“ bezeichneten Befund, dass „nur in zwei Verfahren bei Untergebenen, die auf Befehl gehandelt haben, das Vorliegen niedriger Beweggründe bejaht (wurde)“82. Betrachtet man im Folgenden die Urteilsgründe des LG Kiel, so lässt sich der im Schrifttum erhobene Vorwurf eines „regelrechten Missbrauchs“ des § 50 Abs. 2 StGB a. F. bzw. § 28 StGB n. F. schwerlich von der Hand weisen.83 b) Ablehnung von „Grausamkeit“ Mit seiner Ablehnung des Mordmerkmals der Grausamkeit bewegte sich das LG Kiel ganz auf Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Das Töten per Genickschuss erfüllt hiernach schon nicht die objektive Seite der Begriffsdefinition. Den Opfern wurden keine „über den Tötungszweck hinausgehende Schmerzen zugefügt“.84 Seelische Qualen schieden aus, weil die Gefangenen – anders als die Opfer der Einsatzgruppenmorde85 – aufgrund ihrer Ahnungslosigkeit nicht unter dem Eindruck der sie erwartenden Tötung standen.86 Dass der Tod bei den Exekutionen bisweilen nicht sofort eintrat, dass „Nachschüsse“ gesetzt werden mussten, führte zu keinem anderen Ergebnis. „Grausamkeit“ schied hier aufgrund der in ihrer Berechtigung seinerzeit nahezu unbestrittenen subjektiven Komponente der Begriffsdefinition aus.87 So attestierte das LG Kiel den Handelnden das Fehlen einer „gefühllosen, unbarmherzigen Gesinnung“, wofür das Gericht ausgerechnet die Praxis der „Nachschüsse“ als Beleg anführte – dienten diese doch der Abkürzung der Qualen, „manche Opfer wurden hierdurch sicherlich vor einem quälenden Dahinsiechen zu

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Jasch/Kaiser, Der Holocaust vor deutschen Gerichten, 2007, 165. Ducklau, Die Befehlsproblematik bei NS-Tötungsverbrechen, 1976, 67. Bezeichnend BGH, Urt. v. 13. 3. 1959, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 16, 1976, Lfd. Nr. 486, 217 (232): „Das erwähnte Unwerturteil (niedrige Beweggründe, A.K.) ist unangebracht gegenüber Angeklagten, denen die Befolgung eines Befehls in Dienstsachen in Kriegszeiten zum Vorwurf gemacht wird.“ (In dem Verfahren ging es um eine Massenexekution von Fremdarbeitern im März 1945). 83 Greve (Fn. 55), 399; ders., KJ 2000, 412 (423). 84 LG Kiel (Fn. 5), 55. Umfassend zur „Grausamkeit“ Witt, Das Mordmerkmal „grausam“, 1996. 85 LG Kiel (Fn. 54), 63 f.; schon LG Ulm (Fn. 41), 60, 65, 235, 256. 86 LG Kiel (Fn. 5), 65. 87 BGHSt, 3, 180 (181); BGHSt 3, 264 (265). Kritisch gegenüber der subjektiven Begriffskomponente schon Rüping, JZ 1979, 620; auch Grünwald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010, 170 f. 82

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späterer Zeit bewahrt“88. Nicht nur bei der Beurteilung des Massakers von Sonnenburg führte das Rekurrieren auf das Gesinnungselement der „Grausamkeit“ zu einer Straflosstellung von NS-Tätern.89 c) Ablehnung von „Heimtücke“ Bewegten sich die Ausführungen zur Grausamkeit ungeachtet ihrer zynisch anmutenden Diktion auf der Linie der h. L., so war das LG Kiel zu einer kreativen Anwendung des Zweifelssatzes gezwungen, um die Strafbarkeit der Angeklagten wegen Beihilfe zum Heimtückemord auszuschließen. Das Gericht kam nicht umhin festzustellen, dass das SS-Kommando die Gefangenen unter bewusster Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit tötete.90 Anders als vereinzelte Judikate der 1950er Jahre widerstanden die Kieler Richter der Versuchung, einen Tatbestandsausschluss über ein der „Heimtücke“ unterlegtes Gesinnungsmerkmal zu konstruieren. So hatte etwa das LG Arnsberg im Zusammenhang mit einer Ende März 1945 durchgeführten Massenexekution von Zwangsarbeitern ausgeführt, dass es trotz Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit nicht angehe, „in Handlungen des Täters, die nach seiner Vorstellung gerade zur Schonung der Opfer das Mordmerkmal der Grausamkeit ausräumen sollen, das Merkmal der Heimtücke als erfüllt anzusehen“91. Mit dem Begriffsverständnis des BGH blieben diese Ausführungen indes unvereinbar.92 Nach Auffassung der Kieler Richter fehlte es vielmehr am notwendigen Vorsatz der Täter/Befehlsgeber bezüglich heimtückisch verübter Tötungen.93 Die eigentlichen Befehlsgeber sowie der konkrete Tötungsbefehl waren im Verfahren, wie erwähnt, nicht ermittelt worden. Ein Heimtückevorsatz für jede als Täter in Betracht kommende Person ließ sich jedoch nicht nachweisen.94 Ohne vorsätzliche Haupttat entfiel gem. § 27 StGB die Möglichkeit der Beihilfe. Das LG Kiel unterstellte dem unbekannten Befehlsheber/Täter des Massakers fehlenden Vorsatz bezüglich einer heimtückischen Tatbegehung, da nicht bewiesen sei, dass dieser sich überhaupt Gedanken über den Exekutionsvorgang gemacht habe.95 Dieser Schluss vermag nicht zu über88

LG Kiel (Fn. 5), 65. So noch BGH NJW 2004, 2016 (2019) („Fall Engel“); LG Hamburg DRiZ 1967, 19 (25): Ertrinkenlassen eines Gefangenen bei Selbstversenkung eines Schiffes. 90 LG Kiel (Fn. 5), 65. Dass die Arglosigkeit mit der Übergabe an das SS-Kommando endete, wurde angesichts der sich unmittelbar anschließenden Tötung zu Recht als unerheblich angesehen. 91 LG Arnsberg, Urt. v. 12. 1. 1958, in: Rüter (Fn. 5), Bd. 14, 1976, Lfd. Nr. 458, 561 (605); zu dem vielkritisierten Arnsberger Verfahren Eichmüller (Fn. 40), 175 ff. 92 Die Revision der Staatsanwaltschaft war insofern erfolgreich, als der BGH feststellte, dass es für Heimtücke keiner besonderen „Tücke“ bedürfe und dass das Merkmal nicht dadurch ausgeschlossen sei, dass der Täter dem Opfer Todesängste ersparen wolle; BGH (Fn. 82), 228. 93 LG Kiel (Fn. 5), 66. 94 LG Kiel (Fn. 5), 66. 95 LG Kiel (Fn. 5), 67. 89

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zeugen. Sehr viel naheliegender wäre die Annahme, dass demjenigen, der eine Massenexekution anordnet und damit das mehrstündige Töten hunderter Menschen, die Einzelheiten der Befehlsumsetzung gleichgültig bleiben. Jede Art der Tatausführung (grausam oder heimtückisch) wird bei einem befohlenen Massaker billigend in Kauf genommen.96 Richtigerweise hätte das LG Kiel bedingten Vorsatz und damit eine teilnahmefähige Haupttat annehmen müssen, zumal heimtückische Tötungen dem Interesse des Befehlsgebers/Täters an rascher, „reibungsloser“ Umsetzung seiner Anordnung entsprachen. Die Angeklagten hätten somit wegen Beihilfe zum Mord (§§ 211, 27 StGB) zur Rechenschaft gezogen werden können. d) Ablehnung von niedrigen Beweggründen Den Zweifelssatz bemühte das LG Kiel schließlich auch, um eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord aus niedrigen Beweggründen auszuschließen. Dem üblichen Weg der Nachkriegsjudikatur hätte es entsprochen, eine Strafbarkeit aus §§ 211, 27 StGB deshalb auszuschließen, weil sich die Angeklagten die niedrigen Beweggründe der Täter/Befehlsgeber nicht zu eigen machten.97 Offenbar war es dem LG jedoch ein Anliegen festzustellen, dass bereits den Tätern/Befehlsgebern eine verwerfliche, verächtliche Motivation nicht nachzuweisen sei. Die Argumentation des Gerichts wirkt auf heutige Leser befremdlich. Die Kieler Richter betonten, dass aus der Anordnung des Massakers nicht per se auf niedrige Beweggründe des Befehlsgebers/Täters geschlossen werden dürfe: „Der Umstand, dass hier in wenigen Stunden eine unverhältnismäßig (sic!) große Anzahl Gefangener ohne vorliegende Todesurteile getötet wurde, obwohl für den späteren Betrachter ein Anlass hierfür nicht vorlag, reicht für die Charakterisierung der Tatmotive als besonders verwerflich und niedrig im Sinne von § 211 StGB nicht aus“98. Zu Gunsten der unbekannten Befehlsgeber/Täter wurde unterstellt, dass die Massenexekution „zum Schutz der Bevölkerung vor in Sonnenburg einsitzenden Schwerverbrechern und Ausländern, die bei ihrer Entlassung ein Sicherheitsrisiko bilden (konnten)“99, angeordnet worden sei. Kurzum: „(…) Erwägungen, die der Sicherheit der Bevölkerung und der Streitkräfte dienten, könnten die Täter zur Tötung der Gefangenen bewegt haben und müssen zu Gunsten der Angeklagten unterstellt werden, weil sie nahe liegen und nicht ausgeschlossen werden können“.100 Fehlte es hiernach schon an einem täterschaftlich 96

Vgl. hierzu auch die Rechtsprechung zur Anstiftung zum (Auftrags-)Mord; BGH NStZ 2006, 288. BGH NJW 2005, 996 (997). Hier wird dolus eventualis bezüglich einer heimtückischen Tatbegehung angenommen, sofern der Anstifter aus Gleichgültigkeit mit jeder Tötungsmöglichkeit einverstanden war. Bei den Tätern/Befehlsgebern der Einsatzgruppenmorde unterstellten die Gerichte ohne weiteres (bedingten) Vorsatz bezüglich grausamer Tötungen. LG Kiel (Fn. 54), 64; LG Ulm (Fn. 41), 235. 97 Ducklau (Fn. 82), 67. 98 LG Kiel (Fn. 5), 67 f. 99 LG Kiel (Fn. 5), 68. 100 LG Kiel (Fn. 5), 68.

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verübten Mord aus niedrigen Beweggründen, so musste für die Angeklagten auch insofern eine Strafbarkeit aus §§ 211, 27 StGB ausscheiden.

IV. Fazit Ein Verdienst ist dem LG Kiel nicht abzusprechen. Das Massaker von Sonnenburg wurde, soweit dies zu Beginn der 1970er Jahre möglich war, umfassend dokumentiert (§ 244 Abs. 2 StPO).101 Das Urteil offenbart zugleich Gründe für das Versagen der Nachkriegsjustiz im Umgang mit NS-Unrecht. Im Kieler Verfahren waren es beschuldigtenfreundliche Beweiswürdigungen unter Strapazierung des Zweifelssatzes sowie der Rückgriff auf die subjektive Teilnahmelehre, die für eine Freistellung der Angeklagten sorgten. Als traurige Pointe bleibt festzustellen, dass auf Basis der Urteilsgründe – anders als bei Einsatzgruppenprozessen – selbst die Befehlsgeber im Hintergrund straflos geblieben wären. In anderen Tatkomplexen bewirkten westdeutsche Gerichte Freisprüche, indem sie etwa auf „fehlendes Unrechtsbewusstsein“, „Befehlsnotstand“ oder einen „übergesetzlichen entschuldigenden Notstand“ abhoben. Für die Straflosstellung von Geiselerschießungen kreierte die Justiz fragwürdige völkerrechtliche Rechtfertigungen, für die Exkulpation von NS-Juristen fand der BGH eine Auslegung des Rechtsbeugungstatbestands, die eine Verurteilung von Richtern, selbst solchen am vormaligen Volksgerichtshof, dauerhaft vereitelte.102 Die Erinnerung an das Endphaseverbrechen von Sonnenburg, die an der Viadrina gepflegt wird, führt zugleich vor Augen, dass die Täter – hier wie auch in zahllosen anderen Verfahren – aufgrund interessengeleiteter Rechtsanwendung ihrer Strafe entgingen.

101

Zu diesem Verdienst der Nachkriegsrechtsprechung Jasch/Kaiser (Fn. 81), 5. Rechtshilfegesuche an polnische Behörden waren freilich nicht gestellt worden; hierzu Majchrzak, in: Coppi/Majchrzak (Fn. 1), 213. 102 Koch, ZIS 2011, 470 ff.

Deutsche und polnische Strafrechtskultur Maciej Małolepszy

I. Einführung Jeder Ort hat besondere Eigenschaften, die für die Vornahme bestimmter Aktivitäten fördernd sein können. Die Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) liegt an der deutsch-polnischen Grenze und bietet somit hervorragende Bedingungen für die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft. Der verehrte Jubilar hat dies seit Anfang seiner Tätigkeit an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) erkannt und sich sehr aktiv für die Förderung der deutsch-polnischen Beziehungen auf den unterschiedlichen Gebieten engagiert. Diese Aktivitäten konzentrierten sich vor allem auf die Organisation zahlreicher Tagungen, Betreuung von rechtsvergleichenden Dissertationen zum deutschen und polnischen Strafrecht, Organisation der Stipendienprogramme für junge polnische Wissenschaftler sowie auf die Mitwirkung an der Entwicklung und Verbesserung des deutsch-polnischen Jurastudiums. Es wäre unangemessen, dieses Werk nur auf der wissenschaftlichen und organisatorischen Ebene zu bewerten. Angesichts der schwierigen Geschichte, die beide Länder verbindet, muss der Beitrag des Jubilars als ein riesiger Baustein für die Stärkung der deutsch-polnischen Beziehungen im Allgemeinen betrachtet werden. Es kann nicht bezweifelt werden, dass die Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen von der Aktivität solcher Personen wie die des verehrten Jubilars abhängen, die langjährig und konsequent trotz unterschiedlicher Schwierigkeiten die Grundlagen für die deutsch-polnische Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten schaffen. Die europäischen Strukturen sichern in gewisser Hinsicht die deutsch-polnische Zukunft ab, aber ohne solche Personen, die sich auf den beiden Seiten der Grenze für die Weiterentwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen engagieren, bleiben sie leer und können den nationalen Strömungen in beiden Ländern nicht widerstehen. Es kann nicht ernsthaft infrage gestellt werden, dass der verehrte Jubilar einen riesigen Beitrag zu der Stärkung der deutsch-polnischen Beziehungen geleistet hat. Durch den vorliegenden Beitrag möchte ich meinem verehrten Dissertations- und Habilitationsvater dafür herzlich danken, was er für meine wissenschaftliche und geistige Entwicklung getan hat. Ich würde viele Seiten brauchen, um alles darzustellen, was ich dem verehrten Jubilar verdanke. Besonders möchte ich hervorheben, dass er für mich nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Mensch ein Vorbild

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war. Da er sich immer für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem deutschen und dem polnischen Strafrecht interessiert hat, möchte ich im folgenden Beitrag ausgewählte (strukturelle) Unterschiede zwischen der deutschen und der polnischen Strafrechtskultur zeigen, ohne auf die Einzelheiten einzugehen. Eine solche allgemeine Perspektive ist für rechtsvergleichende Untersuchungen eher untypisch, da sie sich gewöhnlich auf bestimmte Aspekte konzentrieren. Ich hoffe jedoch, dass diese Ausführungen auf das Interesse des verehrten Jubilars stoßen.

II. Ausbildung Schon auf der Ebene der Ausbildung der Juristen lassen sich erhebliche Unterschiede zwischen dem deutschen und dem polnischen Rechtssystem feststellen, die das Fungieren der Strafrechtssysteme beeinflussen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die Ausbildung der Juristen die Denkweise der späteren Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte prägt. Auf dem Gebiet der Juristenausbildung verfolgen beide Systeme grundsätzlich einen unterschiedlichen Ansatz. Während das deutsche Jurastudium praktisch orientiert ist und sich auf die Übung der Falllösung konzentriert, stellt das polnische Ausbildungssystem theoretische Aspekte in den Vordergrund. Die Grundlagenfächer und die Gesetze bilden den Mittelpunkt der juristischen Ausbildung in Polen; die praktischen Kompetenzen werden dagegen im Rahmen des Referendariats beigebracht. Für den polnischen Jurastudenten könnte es überraschend sein, wenn schon im Rahmen der ersten Vorlesung ein Fall gelöst wird, was im deutschen Jurastudium nicht selten passiert. Die polnischen Vorlesungen zum Strafrecht konzentrieren sich dagegen grundsätzlich auf die Erläuterung und Analyse der Gesetze. Mit diesem Lernkonzept stimmen die Prüfungen überein. In Deutschland wird geprüft, ob der Student einen Fall lösen kann, in Polen dagegen, ob er das Gesetz beherrscht. Von diesem Hintergrund erscheint die These plausibel, dass das juristische Ausbildungssystem in Deutschland andere Ziele als sein polnisches Gegenstück verfolgt. In Deutschland sollte der Jurastudent vor allem lernen, wie man zu einer überzeugenden Lösung des Falles kommen kann. Das Gesetz selbst ist nur ein Mittel dazu, aber die Auslegungsmethodik, die Rechtsprechung, verfassungsrechtliche Grundsätze und die Falllösungsmethodik müssen allesamt berücksichtigt werden, um zu einem überzeugenden Ergebnis zu kommen. Wie oben bemerkt wurde, liegt der Schwerpunkt der polnischen Ausbildung nicht nur auf dem Gesetzesinhalt, sondern man misst solchen Grundlagenfächer wie der Rechtsgeschichte, der Logik, der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie eine große Bedeutung bei. Man erwartet nicht von dem Absolventen des polnischen Jurastudiums, dass er einen konkreten Fall lösen kann, sondern dass er die Gesetze beherrscht und ihre geschichtlichen, logischen, rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Bezüge erkennen kann. Im Rahmen der Vorbereitung einer Magisterarbeit1, die die univer1

Die Magisterarbeiten sind grundsätzlich auch theoretisch orientiert.

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sitäre Juristenausbildung in Polen abschließt, wird der Absolvent auf die wissenschaftliche Arbeit vorbereitet. Ebenso ist anzumerken, dass in Deutschland das Strafrecht in einem engen Zusammenhang mit dem Grundgesetz gelehrt wird. Es reicht aus, einen Blick in die Lehrbücher, insbesondere zum Strafverfahrensrecht zu werfen, um zu sehen, wie sich die beiden Ausbildungssysteme in dieser Hinsicht voneinander unterscheiden. Während in den deutschen Lehrbüchern sehr viele Bezüge zu dem Grundgesetz und zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorhanden sind, lassen sich solche Bezüge in den polnischen Lehrbüchern vergleichsweise selten finden. Zusammenfassend kann man die These formulieren, dass das polnische Ausbildungssystem im Bereich der Rechtswissenschaft in einem größeren Umfang den positivistischen Ansatz verfolgt, indem der Schwerpunkt auf das Gesetz gelegt wird. Dies kann nicht ohne Einfluss auf die Gerichtspraxis bleiben, was im folgenden Punkt näher erörtert wird.

III. Juristische Denkstile Als ich das Thema für meine Habilitation gesucht habe, hat mich der verehrte Jubilar darauf aufmerksam gemacht, dass sich in beiden Ländern unterschiedliche Denkstile bei den Juristen feststellen lassen. Dieser Gedanke war für mich neu und gab mir den Anstoß für meine Habilitationsschrift, die der Problematik der Auslegung und Argumentation in der strafrechtlichen Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofes und des polnischen Obersten Gerichts gewidmet wurde.2 In der Tat hat sich die These von Herrn Joerden als überzeugend erwiesen. Die Analyse von 200 Entscheidungen des Bundesgerichtshofes (im Folgenden BGH) und des Obersten Gerichts (im Folgenden OG) hat gezeigt, dass das OG wesentlich öfter als der BGH sprachbezogene Auslegungsargumente verwendet. Nicht selten greift das OG zu Wörterbüchern und sprachlichen Lexika, um die Bedeutung eines strittigen Begriffes zu ermitteln. Außerdem betont das OG mehrfach den Vorrang der grammatikalischen Auslegungsmethode in seinen Entscheidungen, was der BGH in keiner von den zur Analyse herangezogenen Entscheidungen getan hat. Diese Praxis kann wohl nicht verwundern, wenn man berücksichtigt, dass in der juristischen Ausbildung in Polen der Gesetzestext im Vordergrund steht, was im Punkt II. dieses Beitrags gezeigt wurde. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass der BGH in seinen Entscheidungen wesentlich öfter auf die bisherige Rechtsprechung Bezug nimmt, die neben dem Gesetz die Grundlage für die betreffende Entscheidung bildet. Die Untersuchung hat auch gezeigt, dass der BGH in seinen Entscheidungen wesentlich öfter verfassungsrechtliche Argumente berücksichtigt. Diese Eigenschaft korrespon2 Małolepszy, Deutsche und polnische Auslegungs- und Argumentationskultur im Strafrecht. Eine vergleichende Analyse der Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Oberstem Gericht, 2015.

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diert auch mit dem juristischen Ausbildungsstil in Deutschland, da in der Lehre des Strafrechts, insbesondere des Strafverfahrensrechts, das Grundgesetz und die verfassungsrechtliche Rechtsprechung berücksichtigt werden. Weitere Unterschiede sind auf dem Gebiet der teleologischen Auslegung zu finden – diese Auslegungsmethode spielt in der strafrechtlichen Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Rechtsprechung des Obersten Gerichts eine größere Rolle. Erhebliche Diskrepanzen wurden auch auf dem Gebiet der Rechtsfortbildung festgestellt. Während in der polnischen Rechtstheorie gemäß dem positivistischen Ansatz die Rechtsfortbildung nicht zulässig ist,3 macht der BGH in seiner Rechtsprechung von dieser Möglichkeit Gebrauch.4 Die Entscheidungen des BGH,5 in denen er die Urteilsabsprachen legalisierte und die Grundsätze ihres Abschlusses festsetzte, sind aus der Perspektive des polnischen Obersten Gerichts und der polnischen Lehre unvorstellbar. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Oberste Gericht niemals neues Recht schöpft. Das Oberste Gericht bildet das neue Recht fort, aber nicht in einem solchen Umfang wie der BGH, und gleichzeitig hält das polnische Gericht offiziell daran fest, die Rechtsfortbildung sei nicht zulässig. An der Bedeutung der obergerichtlichen Rechtsprechung der beiden Länder kann nicht ernsthaft gezweifelt werden. Sie beschäftigt sich nicht nur mit der Lösung der hard cases, sondern prägt neben dem universitäreren Ausbildungssystem den Denkstil der Juristen. Die Analyse der obergerichtlichen Rechtsprechung hat gezeigt, dass der BGH im Vergleich zum OG wesentlich weniger positivistisch orientiert ist und verfolgt in einem deutlich größeren Umfang den substanziellen Ansatz.

IV. Strafzumessungspraxis Erhebliche Unterschiede lassen sich auch auf dem Gebiet der Strafzumessungspraxis feststellen. Es steht außer Frage, dass die polnische Strafzumessungspraxis im Vergleich zu der deutschen Praxis deutlich repressiver ist, was insbesondere an der Anzahl der Gefangenen erkennbar ist.6 Die Gefangenenrate ist in Polen im Vergleich zu Deutschland deutlich höher, obwohl die registrierte Kriminalität in Polen niedri3 Verfassungsgericht, Beschl. v. 26. 3. 1996, OTK ZU 2/1996, Pos. 16; Oberstes Gericht, Beschl. v. 11. 1. 1999, OSNKW 1 – 2/1999, Pos. 1; Morawski, Zasady wykładni prawa, 3. Aufl. 2014, 21; Królikowski, Edukacja Prawnicza 12/2007, 3 (5); Majcher, Pan´stwo i Prawo 2/2004, 69 (69). 4 Allein innerhalb der untersuchten Stichprobe sind zu nennen: BGHSt 49, 68; BGHSt 49, 84; BGHSt 49, 189; BGHSt 50, 40; BGHSt 50, 180; BGHSt 50, 217; BGHSt 50, 284; BGHSt 51, 88; BGHSt 51, 180. 5 Grundlegend BGHSt 50, 40; siehe auch BGHSt 49, 84. Außerhalb der untersuchten Stichprobe ist im Kontext der Urteilsabsprachen zudem das vorangehende Grundsatzurteil BGHSt 43, 195 zu erwähnen. 6 Näher dazu siehe Małolepszy, Geldstrafe und bedingte Freiheitsstrafe nach deutschem und polnischem Recht. Rechtshistorische Entwicklung und gegenwärtige Rechtslage im Vergleich, 2007.

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ger ist. Während in Deutschland im Jahre 2020 5.310.621 Straftaten verzeichnet wurden,7 zeigt die polizeiliche Statistik in Polen für denselben Zeitraum nur 765.408 Straftaten.8 Es muss verwundern, dass die Zahl der registrierten Straftaten in Deutschland nahezu siebenfach höher, die absolute Gefangenenzahl jedoch wesentlich niedriger als in Polen ist. Sie betrug in Deutschland im Jahre 2020 nur 46.054 Gefangene;9 in demselben Jahr betrug die Gefangengenzahl in Polen 65.012 Personen.10 Bei der Interpretation dieser Zahlen soll beachtet werden, dass die Bevölkerungszahl in Deutschland im Vergleich zu Polen zwei Mal höher ist. Die Diskrepanz in der Gefangenenanzahl der beiden Länder dürfte jedoch nicht mehr überraschen, wenn man die Strafzumessungspraxis der deutschen und der polnischen Gerichte näher analysiert. Während in Deutschland seit Jahrzehnten die Geldstrafe die mit Abstand wichtigste Art der Strafe darstellt, dominiert in der polnischen Strafpolitik weiterhin die Freiheitsstrafe. Die Geldstrafe stellt in Deutschland fast 85 %, die Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung 10,5 % und die Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung 4,5 % der Verurteilungen dar.11 In Polen sieht die Strafzumessungspraxis dagegen anders aus. Die Geldstrafe wurde im Jahre 2018 nur in 33 % der Fälle verhängt, die Freiheitsbeschränkungsstrafe12 in 28 % der Fälle, die Freiheitstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung in 20 % der Fälle, und schließlich wurde die Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung in 18 % der Fälle verhängt.13 Es fällt auf, dass der Anteil der Verurteilungen zur Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung an der Gesamtheit aller Verurteilungen in Polen im Vergleich zu Deutschland vier Mal höher ist (18 % in Polen und 4,5 % in Deutschland). In absoluten Zahlen haben die deutschen Gerichte insgesamt 93.178 und die polnischen 103.814 Freiheitsstrafen verhängt. Deutlich höher ist in absoluten Zahlen die Zahl der Freiheitsstrafen ohne Strafaussetzung zur Bewährung. Sie betrug in Polen im Jahre 2018 49.512, in Deutschland im Jahre 2019 28.904, d. h., die polnischen Gerichte haben im vergleichbaren Zeitraum über 20.000 mehr Freiheitsstrafen ohne Strafaussetzung zur Bewährung verhängt als die deutschen Gerich7

Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Polizeiliche Kriminalstatistik 2020: Ausgewählte Zahlen im Überblick, 10. 8 Portal polskiej Policji, Statystyka, Przeste˛ pstwa ogółem, https://statystyka.policja.pl/st/ przestepstwa-ogolem/121940,Przestepstwa-ogolem.html (zuletzt abgerufen am 8. 4. 2022). 9 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege. Strafvollzug – Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.3. Fachserie 10 Reihe 4.1, 2020, 10. 10 Stichtag 31. 3. 2020 – Ministerstwo Sprawiedliwos´ci. Centralny Zarza˛d Słuz˙ by Wie˛ ziennej, Miesie˛ czna informacja statystyczna, marzec 2020, https://www.sw.gov.pl/strona/stat ystyka (zuletzt abgerufen am 8. 4. 2022), S. 1. 11 Eigene Berechnungen auf der Grundlage von: Statistisches Bundesamt, Rechtspflege. Strafverfolgung, Fachserie 10 Reihe 3, 2020, 96 – 97. 12 Im Rahmen der Freiheitsbeschränkungsstrafe ist der Verurteilte grundsätzlich zur gemeinnützigen Arbeit verpflichtet. 13 Eigene Berechnungen auf der Grundlage von: Informator StatystycznyWymiaru Sprawiedliwos´ci, Opracowania wieloletnie, Skazania prawomocne z oskarz˙ enia publicznego i warunkowe umorzenia 2002 – 2018, https://isws.ms.gov.pl/pl/baza-statystyczna/opracowaniawieloletnie (zuletzt abgerufen am 8. 4. 2022).

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te. Dies hatte natürlich Einfluss auf die Anzahl der Gefangenen. Die Gefangenenzahl ist selbstverständlich auch von anderen Faktoren als der Anzahl der Freiheitsstrafen ohne Bewährung abhängig, wie z. B. von der Länge der verhängten Freiheitsstrafen, der Widerrufspraxis bei der Strafaussetzung und der vorzeitigen Entlassung etc., aber die Anzahl der verhängten Freiheitsstrafen ohne Strafaussetzung zur Bewährung kann als einer der entscheidenden Faktoren betrachtet werden. Die Gründe für die Neigung der polnischen Gerichte zu Verurteilungen zu der Freiheitsstrafe (sei es mit oder ohne Strafaussetzung zur Bewährung) sind mannigfaltig. Zunächst ist zu betonen, dass Polen bis 1989 ein sozialistischer Staat war, in dem eine sehr repressive Politik geführt wurde, die für fast alle ehemaligen sozialistischen Länder charakteristisch war. Die Freiheit der Bürger gehörte in diesen Staaten nicht zu den besonders hoch geschätzten Rechtsgütern. Außerdem ist zu bemerken, dass in Polen nach dem Umbruch weiterhin die Richter und Staatsanwälte tätig waren, die für den sozialistischen Staat gearbeitet hatten und ihre Vorstellungen über eine „angemessene“ Strafe den jungen Generationen von Juristen übermittelten. Weiterhin ist zu beachten, dass die populistischen Parteien nach 1989 sehr schnell erkannt haben, dass die Bekämpfung der Kriminalität instrumentell ausgenutzt werden kann. Auch gegenwärtig wird diese Karte in der Politik gerne gespielt. Laut vielen Politikern seien harte (Freiheits-)Strafen die einzig richtige Antwort auf die Kriminalität, auch wenn die Anzahl der in Polen registrierten Straftaten seit vielen Jahren kontinuierlich sinkt. Diese Stimmungen werden auch von den Medien angeheizt, da sie erkannt haben, dass brutale Straftaten das Interesse der Zuschauer anziehen, was sich kommerziell ausnutzen lässt. Von den Ängsten, die die Medien schüren, profitieren auch die Politiker. Auch das polnische Ausbildungssystem leistet einen ungenügenden Beitrag, diesen Tendenzen entgegenzuwirken. Die Schüler und Studierenden setzen sich im Rahmen Ihrer Ausbildung relativ selten mit den gesellschaftlichen Problemen auseinander, was dazu führt, dass die Absolventen für den Arbeitsmarkt sehr gut vorbereitet sind, aber ihnen das Gespür für die Komplexität der gesellschaftlichen Herausforderungen fehlt. Diese Lücke wird von den populistischen Parteien ausgenutzt und zeichnet sich auf dem Gebiet des Strafrechts durch die Förderung der Freiheitsstrafe aus. Die polnische Strafrechtswissenschaft versucht seit vielen Jahren diesen Tendenzen entgegenwirken und plädiert für eine rationale Strafzumessungspraxis, die die Grenzen der Effektivität des Strafrechts berücksichtigt.14 Ihr Einfluss auf die Strafrechtspraxis scheint sich jedoch in den letzten Jahren zu verringern. Dies legt die Prognose nahe, dass der Entwicklungskurs des polnischen Strafrechts in Richtung steigender Repression noch lange andauern kann.

14 Eine gelungene Reform wurde im Jahre 2015 durchgeführt, in deren Folge der Anteil der Geldstrafe an der Gesamtheit aller Verurteilungen gestiegen ist: Gesetz vom 20. 2. 2015 zur Änderung des Strafgesetzbuchs und einiger anderer Gesetze (Gesetzblatt 2015, Pos. 396).

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V. Wertordnung Das Strafgesetzbuch des jeweiligen Landes spiegelt sehr deutlich die Werte wider, die in der dortigen Gesellschaft hoch geschätzt werden. Es steht nämlich fest, dass die Allgemeinheit durch das Strafrecht die wichtigsten Rechtsgüter schützt. Beim Vergleich der Strafgesetzbücher beider Länder lässt sich feststellen, dass sowohl das deutsche als auch das polnische Strafgesetzbuch15 (weiter als plStGB) an die gleichen Werte anknüpfen. Leben, Gesundheit, Freiheit, Vermögen und weitere Rechtsgüter sind in beiden Strafgesetzbüchern geschützt. Beim näheren Blick lasst sich jedoch die These aufstellen, dass das deutsche Strafrecht im Vergleich zu dem polnischen Strafrecht nicht nur auf der Ebene der Strafzumessungspraxis, sondern auch auf der Ebene der Strafbarkeit deutlich liberaler ist. Um diese These näher zu begründen, möchte ich zwei Beispiele anführen, die den Schwangerschaftsabbruch (1.) und die Ausübung der Prostitution (2.) betreffen. 1. Schwangerschaftsabbruch Die polnischen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch gehören zu den strengsten in Europa. Gemäß Art. 152 plStGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft, wer mit Einwilligung der Schwangeren, jedoch unter Verletzung der gesetzlichen Vorschriften, ihre Schwangerschaft abbricht. In der aktuellen Fassung des Gesetzes über die Familienplanung, den Schutz der menschlichen Leibesfrucht sowie die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs vom 7. 1. 199316 kommt ein zulässiger Schwangerschaftsabbruch nur in drei Fällen in Betracht: – Die Schwangerschaft stellt eine Gefahr für das Leben der Schwangeren dar; – Die Schwangerschaft stellt eine Gefahr für die Gesundheit der Schwangeren dar (beide Fälle werden als sog. „medizinische Indikation“ zusammengefasst); – Es besteht ein hinreichender Verdacht, dass die Schwangerschaft infolge eines Verbrechens entstanden ist (sog. „kriminologische Indikation“). Am 22. 10. 2020 hat das polnische Verfassungsgericht die sog. „eugenische Indikation“ für verfassungswidrig erklärt.17 Nach dieser Prämisse war der Schwangerschaftsabbruch zulässig, wenn Pränatal-Untersuchungen bzw. andere medizinischen Erkenntnisse eine hohe Wahrscheinlichkeit einer schweren und dauerhaften Beschädigung der Leibesfrucht bzw. dessen Lebensgefahr begründeten. Dieses Urteil löste eine Protest-Lawine in den polnischen Städten aus.18 In dieser Zeit kam es sogar zu 15

Strafgesetzbuch vom 6. 6. 1997 (Neufassung Gesetzblatt 2021, Pos. 2345). Gesetzblatt 1993 Nr. 17, Pos. 78. 17 Urteil vom 22. 10. 2020, OTK ZU A 2021, Pos. 4. 18 Siehe hierzu Gliszczyn´ska-Grabias/Sadurski, European Constitutional Law Review 1/ 2021, 130 (130 – 153); Rakowska-Trela, Przegla˛d Sa˛dowy 6/2021, 106 (106 – 118); Adamus, Palestra 11/2021, 94 (94 – 107) und sämtliche Beiträge im Heft 8/2021 der Zeitschrift Pan´stwo i Prawo. 16

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Beschädigungen der Kirchen und Störungen der Messen, also zu solchen Vorkommnissen, die in der polnischen Geschichte einmalig waren. Dabei ist zu beachten, dass die Abschaffung der eugenischen Indikation nicht zwingend bedeuten muss, dass der Schwangerschaftsabbruch in diesen Fällen auch strafbar wird, denn er könnte aufgrund der medizinischen Indikation zulässig sein, wenn die Schwangerschaft eine Gefahr für die Gesundheit der Frau darstellt. Der Begriff der „Gesundheit“ kann nicht nur auf die physische Gesundheit beschränkt werden und erfasst auch die psychische Gesundheit. Diese Thematik bedarf einer näheren Untersuchung, die jedoch in diesem Beitrag nicht weiterverfolgt werden kann. Auch in Deutschland ist der Schwangerschaftsabbruch nach § 218 StGB prinzipiell verboten. Im Vergleich mit der polnischen Rechtslage erweist sich jedoch die deutsche Rechtsordnung als deutlich liberaler, da sie neben der medizinischen Indikation19 und der kriminologischen Indikation auch den Schwangerschaftsabbruch auf Verlangen der Frau zulässt. Dazu müssen jedoch nach § 218a Abs. 1 StGB drei Voraussetzungen erfüllt werden. – Der Abbruch muss innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis durchgeführt werden. – Die Schwangere muss mindestens drei Tage vor dem Abbruch eine sog. Schwangerschaftskonfliktberatung wahrnehmen. – Der Abbruch muss von einem Arzt oder einer Ärztin vorgenommen werden. Aus den obigen Regelungen geht eindeutig hervor, dass die deutsche Rechtsordnung der Frau einen Spielraum für die endgültige Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch einräumt. Es wird ihr die Beratung und Unterstützung angeboten, aber wenn sie trotzdem den Schwangerschaftsabbruch durchführen will, respektiert die Rechtsordnung diese Entscheidung. 2. Ausübung der Prostitution Einen völlig unterschiedlichen Ansatz verfolgen beide Rechtsordnungen auf dem Gebiet der Regulierung der Prostitution. In Polen ist die Ausübung der Prostitution weder auf der verwaltungs- noch auf der steuerrechtlichen Ebene geregelt. Die Ausübung der Prostitution ist nicht strafbar, was jedoch nicht bedeutet, dass das polnische Strafgesetzbuch alle Taten im Zusammenhang mit der Prostitution zulässt. Zwei Vorschriften sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung, und zwar Art. 203 plStGB und Art. 204 plStGB.

19 Diese Prämisse ist auch dann erfüllt, wenn eine Ärztin oder ein Arzt zu der Einschätzung kommt, dass die körperliche oder seelische Gesundheit der Frau durch das Austragen der Schwangerschaft ernsthaft gefährdet wäre, wenn eine pränatal diagnostische Untersuchung ergibt, dass mit einer erheblichen gesundheitlichen Schädigung des Kindes zu rechnen ist.

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Art. 203: „Wer eine andere Person mit Gewalt, durch rechtswidrige Drohung, List oder unter Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses oder einer kritischen Lage zur Ausübung der Prostitution bringt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.“ Art. 204: „§ 1. Wer, mit dem Ziel, einen Vermögensvorteil zu erlangen, eine andere Person zur Ausübung der Prostitution ermuntert oder ihr dies erleichtert, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. § 2. Der in § 1 genannten Strafe unterliegt, wer aus der Ausübung der Prostitution durch eine andere Person Vermögensvorteile erzielt. § 3. Ist die in § 1 oder § 2 genannte Person minderjährig, so wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.“

Der deutsche Gesetzgeber hat bei der Regulierung der Prostitution wiederum einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Die Prostitution wurde nämlich legalisiert und detailliert geregelt. Die Meilensteine wurden gelegt im Jahre 2001 mit dem Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten20 und im Jahre 2016 mit dem Gesetz zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen21. Insbesondere das Gesetz von 2016 regelt die Ausübung der Prostitution sehr umfangreich auf der verwaltungsrechtlichen Ebene. Dieses Gesetz hat die Anmeldepflicht für die Prostituierten und die Erlaubnis zum Betrieb eines Prostitutionsgewerbes eingeführt. Es regelt auch die Pflichten des Betreibers und die Überwachung des Prostitutionsgewerbes. Alle diese Maßnahmen sollen die Prostituierten vor der Zwangsprostitution schützen und den Ausstieg aus der Prostitution fördern. Im Strafgesetzbuch hat der Gesetzgeber nur bestimmte Taten unter Strafe gestellt, die die sexuelle Selbstbestimmung schützen sollten. In diesem Zusammenhang sind die Ausbeutung von Prostituierten (§ 180a StGB), Zuhälterei (§ 181a StGB), Ausübung der verbotenen Prostitution (§ 184f StGB) und jugendgefährdende Prostitution (§ 184g StGB) zu erwähnen. Diese liberale Rechtslage eröffnete einen breiten Weg für den Aufbau einer riesigen Prostitutionsindustrie in Deutschland. Eine vergleichbare Entwicklung ist in Polen ohne Änderung der Rechtslage nicht vorstellbar. Die obigen Beispiele zeigen, dass die deutsche und die polnische Rechtsordnung im Hinblick auf den Schwangerschaftsabbruch und die Prostitutionsausübung einen unterschiedlichen Ansatz verfolgen. Es kann kein Zufall sein, dass sowohl der Schwangerschaftsabbruch als auch die Prostitution in Polen repressiver geregelt wurden. Dies erhärtet die These, dass das polnische Strafrecht im Vergleich zu dem deutschen Strafrecht in einem wesentlich größeren Umfang von der Doktrin der Katholischen Kirche beeinflusst ist.

20 21

Prostitutionsgesetz vom 20. 12. 2001, BGBl. I S. 3983. Prostituiertenschutzgesetz vom 21. 10. 2016, BGBl. I S. 2372.

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VI. Ermessen des Gerichts Die Untersuchung des deutschen und des polnischen Strafgesetzbuches zeigt auch, dass das polnische Strafgesetzbuch Regelungen vorsieht, die dem Gericht bei einer konkreten Entscheidung kein Ermessen einräumen. Der deutsche Gesetzgeber tendiert dagegen dazu, derartige Regelungen zu vermeiden, insbesondere wenn das Gericht über Freiheitsentziehung entscheiden soll. Auch in dieser Hinsicht scheint das polnische Strafgesetzbuch im Vergleich zu dem deutschen Strafgesetzbuch repressiver zu sein. Um diese These zu erhärten, möchte ich zwei Beispiele anführen: Den Widerruf der Probation (1.) und die Regelungen zur Bekämpfung der Trunkenheitsfahrt (2.). 1. Widerruf der Probation Das polnische Strafgesetzbuch sieht drei Probations-Mittel vor: die vorläufige Einstellung des Strafverfahrens, die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung und die Aussetzung des Strafrestes bei Freiheitsstrafe. Bei der Ausgestaltung aller drei Probations-Mittel hat der Gesetzgeber Regelungen vorgesehen, die dem Gericht in bestimmten Fällen (nicht allen) bei dem Widerruf der Probation keinen Spielraum einräumen. So muss das Gericht nach Art. 68 § 1 plStGB das vorläufig eingestellte Strafverfahren wiederaufnehmen, wenn der Täter in der Bewährungszeit eine vorsätzliche Straftat begangen hat, für die er rechtskräftig verurteilt wurde. Betreffend die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung muss das Gericht gem. Art. 75 § 1 plStGB die Vollstreckung der Freiheitsstrafe anordnen, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine ähnliche vorsätzliche Straftat begangen hat, für die er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden ist. Auch im Rahmen der Aussetzung des Strafrestes bei Freiheitsstrafe muss das Gericht gem. Art. 160 § 1 des polnischen Strafvollstreckungsgesetzbuchs22 die vorzeitige Entlassung widerrufen, wenn der Entlassene in der Bewährungszeit eine vorsätzliche Straftat begangen hat, für die er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden ist.23 In allen drei Fällen muss das Gericht eine vom Gesetz vorgeschriebene Entscheidung treffen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Dem Gericht wird kein Ermessen eingeräumt, obwohl die Folgen der Entscheidung bei dem Widerruf der Strafaussetzung und dem Widerruf der Aussetzung des Strafrestes bei Freiheitsstrafe sehr gravierend sind – es wird nämlich über die Entziehung der Freiheit der betreffenden Person entschieden.

22

Strafvollstreckungsgesetzbuch vom 6. 6. 1997, Neufassung Gesetzblatt 2021, Pos. 53. Die drei genannten Beispiele des obligatorischen Widerrufs der Probationsmittel sind nicht erschöpfend. 23

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Im Vergleich mit den polnischen Vorschriften sind die deutschen Regelungen betreffend die Strafaussetzung zur Bewährung und die Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe deutlich elastischer. Dies veranschaulicht die Regelung in § 56f StGB. Eine isolierte Lektüre des § 56f Abs. 1 StGB würde den Schluss nahelegen, dass in den dort genannten Fällen der Widerruf der Strafaussetzung stets zwingend wäre. Die obligatorische Natur des § 56f Abs. 1 StGB wird jedoch durch § 56f Abs. 2 StGB abgeschwächt. Nach dieser Vorschrift sieht das Gericht vom Widerruf ab, wenn es ausreicht, weitere in dieser Vorschrift genannte Maßnahmen anzuordnen. Das Gericht muss somit unterschiedliche Aspekte berücksichtigen und nach der Würdigung der Tatsachen eine echte Entscheidung treffen. Von einer „automatischen“ Entscheidung, die vom Gesetz völlig determiniert ist, kann keine Rede sein. Eine ähnliche Konstruktion hat der Gesetzgeber im Rahmen des Widerrufs der Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe vorgesehen (§ 57 Abs. 3 StGB verweist auf § 55f StGB). 2. Regelungen zur Bekämpfung der Trunkenheitsfahrt Ermessenslose Vorschriften sind auch bei den Regelungen zur Bekämpfung der Trunkenheitsfahrten zu finden. Im Vergleich zu der deutschen Rechtsordnung scheint der polnische Gesetzgeber auch auf diesem Gebiet strenger zu sein. Nach Art. 178a § 1 plStGB macht sich jeder Fahrer strafbar, der im Trunkenheitszustand oder unter Einfluss eines Rauschmittels ein Kraftfahrzeug im Straßen-, Schiffs- oder Luftverkehr führt. Der „Trunkenheitszustand“ ist in Art. 115 § 16 plStGB definiert. Danach liegt er vor, wenn – die Alkoholkonzentration im Blut den Wert von 0,5 Promille überschreitet oder zu einer diesen Wert überschreitenden Konzentration führt, oder – die Alkoholkonzentration in 1 dm3 ausgeatmeter Luft den Wert von 0,25 mg überschreitet oder zu einer diesen Wert überschreitenden Konzentration führt. Bei der Prüfung des Trunkenheitszustands darf das Gericht nicht beurteilen, ob der Täter noch in der Lage war, das Kraftfahrzeug sicher zu führen – was im Kontrast zu der deutschen Prüfung der „Fahruntüchtigkeit“ gem. § 316 StGB steht. Auch solche Begriffe wie „relative“ und „absolute“ Fahruntüchtigkeit sind der polnischen Rechtsordnung unbekannt. Das Gericht in Polen untersucht lediglich das Erreichen der Alkoholwerte, die in Art. 115 § 16 plStGB erwähnt sind, und falls sie überschritten wurden, muss das Gericht den Täter auf der Grundlage des Art. 178a plStGB verurteilen. Einen ähnlichen Automatismus hat der Gesetzgeber bei der Anordnung des Fahrverbotes vorgesehen, einer Strafmaßnahme, der angesichts der Anzahl der Trunkenheitsfahrten in Polen eine erhebliche praktische Rolle zukommt. Nach Art. 42 § 2 plStGB verbietet das Gericht das Führen sämtlicher Fahrzeuge oder von Fahrzeugen bestimmter Art für mindestens drei Jahre, wenn der Täter bei der Begehung einer Tat nach § 1 (d. h. einer Straftat gegen die Verkehrssicherheit) sich im Trunkenheitszustand oder unter Einfluss eines Rauschmittels befand oder wenn er von dem in

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Art. 173, 174 oder 177 plStGB bezeichneten Unfallort24 geflüchtet ist. Das heißt, dass die Verurteilung auf der Grundlage des Art. 178a § 1 plStGB automatisch zur Anordnung des Fahrverbotes nach Art. 42 § 2 plStGB führt. Außerdem muss das Gericht neben der Hauptstrafe und dem Fahrverbot noch eine Geldbuße in Höhe von mindestens 5000 Zloty auf der Grundlage von Art. 43a § 2 plStGB verhängen. Um die Repression noch zu erhöhen, erwägt der Gesetzgeber die Einführung des Verfalls des Fahrzeugs, das der Täter geführt hat.25 Im Vergleich mit den polnischen Regelungen scheinen die deutschen Regelungen deutlich elastischer zu sein.26 Eine Verurteilung auf der Grundlage des § 316 StGB verlangt vom Gericht die Feststellung, dass der Täter infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der Lage war, das Fahrzeug sicher zu führen. Der Gesetzgeber hat keine Alkoholwerte im StGB vorgegeben und die Auslegung der Begriffe „in der Lage war, das Fahrzeug sicher zu führen“ der Rechtsprechung überlassen, was einen gewissen Spielraum eröffnet. Auch bei der Anordnung des Fahrverbotes verzichtete der deutsche Gesetzgeber auf eine zwingende Regelung. Maßgebend ist in diesem Zusammenhang § 69 Abs. 1 StGB, der lautet: „(1) Wird jemand wegen einer rechtswidrigen Tat, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so entzieht ihm das Gericht die Fahrerlaubnis, wenn sich aus der Tat ergibt, daß er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. (…).“

Die Regelvermutung in § 69 Abs. 2 StGB, besagt, dass, wenn die rechtswidrige Tat in den Fällen des Absatzes 1 ein Vergehen der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) ist, so ist der Täter in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen. Die Verwendung des Begriffes „in der Regel“ bringt zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber diejenigen Straftäter, die sich nach § 316 StGB strafbar gemacht haben für ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen hält, lässt aber Ausnahmen zu, die in der Rechtsprechung konkretisiert werden. Dieser Ansatz unterscheidet sich deutlich von der Ausgestaltung der polnischen Regelungen zum Fahrverbot.

24 Gemeint sind die Fälle einer Katastrophe im Land-, Wasser- oder Luftverkehr (Art. 173 plStGB), einer konkreten Katastrophengefahr (Art. 174 plStGB) und eines Unfalls mit Personenschaden, bei dem eine Störung der Organfunktion oder der Gesundheit länger als 7 Tage andauert (Art. 177 plStGB). 25 Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs und einiger anderer Gesetze, Sejm-Drucksache Nr. 2024 vom 22. 2. 2022. 26 Eine Ausnahme bildet § 24a StVG, der eine ähnliche Konstruktion wie Art. 178a plStGB hat.

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VII. Schlussfolgerungen Aus den obigen Ausführungen geht hervor, dass zwischen der deutschen und der polnischen Strafrechtskultur erhebliche Unterschiede vorliegen, wobei im Rahmen dieses Beitrags nur ausgewählte Differenzen skizziert werden konnten. Diese und weitere Unterschiede zwischen den Strafrechtskulturen bestehen, obwohl beide Staaten Nachbarn sind und die Strafrechtswissenschaftler aus Deutschland und Polen seit vielen Jahren zusammenarbeiten, wozu der verehrte Jubilar erheblich beigetragen hat. Die Diskrepanzen sollen jedoch nicht den Anschein erwecken, dass eine Annäherung beider Strafrechtssysteme nicht möglich wäre. Es gibt auch viele Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen und dem polnischen Strafrecht, die in dem vorliegenden Beitrag nicht näher analysiert wurden, aber sie lassen die Hoffnung auf eine Annäherung beider Strafrechtssysteme in der Zukunft zu. Beide Strafgesetzbücher gehen von einem ähnlichen Aufbau des vorsätzlichen Begehungsdelikts aus: objektiver Tatbestand, subjektiver Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld tauchen in beiden Rechtsordnungen auf.27 Beide Rechtsordnungen sehen solche Rechtsinstitute wie das fahrlässige Begehungsdelikt, das Unterlassungsdelikt, der strafbare Versuch sowie die Täterschaft und Teilnahme vor, wobei in dieser Hinsicht auch nicht unbedeutsame Unterschiede zwischen den beiden Rechtsordnungen bestehen. Das Sanktionensystem ist in beiden Ländern zweispurig. Auf diesen Gemeinsamkeiten aufbauend und unter Beachtung der Unterschiede kann eine Annäherung beider Systeme künftig angestrebt werden. Sie ist nicht nur zwischen Deutschland und Polen wünschenswert, sondern sollte, soweit möglich, alle EU-Mitgliedstaaten umfassen. Die gesamte Europäische Union soll nach dem Krieg in der Ukraine der Frage der weitergehenden Integration ernsthaft nachgehen, auch auf solchen Gebieten wie dem materiellen Strafrecht, die bisher von den Harmonisierungsbestrebungen weitgehend verschont blieben. Es scheint, dass nur ein starkes Europa den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts standhalten kann. Diese Stärke kann auch durch eine weiterschreitende Integration gewonnen werden. Selbstverständlich ist bei der Annäherung der Strafrechtssysteme der EU-Mitgliedstaaten Vorsicht walten zu lassen und es ist zu beachten, dass ein solches Vorhaben ohne rechtsvergleichende Untersuchungen nicht vorgenommen werden kann. Derartige Untersuchungen sind wünschenswert wie noch nie zuvor, weil sie die Grundlage für die weitere Integration schaffen. Die Unterschiede sollen von der Annäherung der Strafrechtsysteme nicht entmutigen, müssen aber bei den weiteren Arbeiten an der Harmonisierung der Strafrechtssysteme berücksichtigt werden. Selbstverständlich wäre der Erlass eines europäischen Strafgesetzbuchs gegenwärtig unmöglich, aber die Arbeiten in Richtung einer gemeinsamen Kodifizierung werden die Europäische Union stärken. Der verehrte Jubilar hat durch sein Interesse an der Strafrechtsvergleichung zu diesem Prozess erheblich beigetragen.

27 Das polnische Strafgesetzbuch verlangt noch, dass die Sozialschädlichkeit der Tat nicht gering ist (Art. 1 § 2 plStGB).

Kriminalität im Grenzgebiet Arndt Sinn

I. Einleitung Mit „Kriminalität im Grenzgebiet“ ist ein Forschungskomplex umschrieben, der in Kooperation zwischen den strafrechtlichen Lehrstühlen an der Adam-MickiewiczUniversität Poznan´ und der Europa Universität Viadrina Frankfurt (Oder) ab 1996 bearbeitet wurde. Anlässlich der Eröffnung der 2. Tagung im November 1997 beschäftigte sich Jan C. Joerden mit den Forschungsaufgaben im Zusammenhang mit „Kriminalität im Grenzgebiet“1 und er sollte damit das wissenschaftliche Programm dieses langjährigen Forschungsprojektes nachhaltig prägen. Ich greife die von Jan C. Joerden vor 25 Jahren gestellten Forschungsfragen auf, weil sie immer noch aktuell sind und längst nicht alle Antworten gefunden wurden. Ihm ist dieser Beitrag in freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet.

II. Typologie der Probleme Jan C. Joerden versucht zunächst den komplexen und unübersichtlichen Forschungsgegenstand mit einer „Typologie der Probleme“2 begreifbar, bearbeitbar und letztendlich erst erforschbar werden zu lassen. Er unterscheidet Probleme des materiellen Rechts (II.1.), des Prozessrechts (II.2.), des Vollstreckungsrechts und Probleme der Kriminologie, wobei er sich auf die drei erstgenannten Problemkomplexe konzentriert. Ich befasse mich hier mit materiell-rechtlichen (II.1.) und prozessualen Problemen (II.2.) im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität (OK), die paradigmatisch für „Kriminalität im Grenzgebiet“ stehen. 1. Materiell-rechtliche Probleme Es muss nicht verwundern, dass Joerden die Thematik der organisierten Kriminalität anspricht und bereits bei der Begriffsbestimmung „intrikate Probleme“3 ver1

Joerden, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, Bd. 2, 1999, 1 ff. Joerden (Fn. 1), 4. 3 Joerden (Fn. 1), 6. 2

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mutet sowie Chancen bei der Bewältigung dieses Kriminalitätsphänomens in der Harmonisierung einschlägiger Strafrechtsnormen sieht.4 Im Jahr 1997 war die von der „Arbeitsgruppe Justiz/Polizei“ in nur wenigen Sitzungen5 erarbeitete Definition6 zur organisierten Kriminalität gerade einmal sieben Jahre alt und das Gesetz zur Bekämpfung des Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG)7 erst fünf Jahre in Kraft. Die für organisatorische, funktionale, operable und statistische Zwecke geschaffene Definition, die bis heute unverändert gilt, fand im OrgKG keine Entsprechung. Ganz im Gegenteil: Mangels hinreichender Kenntnisse über das OK-Phänomen hatte sich der Gesetzgeber bewusst dazu entschieden, keinen OK-Straftatbestand zu schaffen.8 Man versuchte OK mit den traditionellen strafrechtlichen Mitteln der banden- oder gewerbsmäßigen Begehung zu begegnen, weshalb diese Begehungsformen im OrgKG auch auf die gewerbsmäßige Hehlerei, die Bandenhehlerei sowie den Bandendiebstahl ausgeweitet wurde.9 Die Folge war, dass in den polizeilichen Lagebildern10 zwar Daten zu OKSachverhalten erfasst wurden, diese sich aber in der Justizpraxis und deren Statistiken nicht abbilden ließen. Wie viel OK sich in einer bandenmäßigen Begehungsweise verbirgt, muss im Hauptverfahren nicht geklärt werden. Das für OK typische Zusammenwirken mehrerer Personen wird über das Bandendelikt erfasst. Da das Merkmal der Bandenmitgliedschaft aber kein strafbegründendes, sondern ein strafschärfendes Merkmal ist, kann die Erfassung der OK über diesen Weg auch nur gelingen, wenn ein entsprechender Straftatbestand existiert oder man über die mittäterschaftliche Begehungsweise Mehrpersonenverhältnisse erfassen kann. Die Bestrafung von Personen, die der OK aufgrund der OK-Definition aus dem Jahr 1990 zuzurechnen waren, wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) war zwar ein rechtlich möglicher Weg. Allerdings war dieser wegen der engen Auslegung in der Rechtsprechung zum Vereinigungsbegriff bis zum Jahr 2017 jedenfalls praktisch kaum gangbar. Die Gründe hierfür liegen in den politischen Wurzeln zur Strafbarkeit der Mitgliedschaft in „Verbindungen“ – dem Vorläuferbegriff der Vereini-

4

Joerden (Fn. 1), 6. Vgl. den Zwischenbericht der gemeinsamen Arbeitsgruppe Justiz/Polizei „Strafverfolgung bei Organisierter Kriminalität“ als Anlage 1 eines Schreibens des Justizministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 11. 5. 1990, AZ: 4201 – III A. 9. 6 Abgedruckt als Anlage E Nr. 2.4 zu den RiStBV in Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Aufl. 2021. 7 Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15. 7. 1992, BGBl. I 1992, 1302 ff.; vgl. zum OrgKG ausführlich Sinn, in: Sinn/Hauck/Nagel/Wörner (Hrsg.), Populismus und alternative Fakten – (Straf-)Rechtswissenschaft in der Krise?, 2020, 259. 8 Vgl. BT-Drs. 12/989, S. 24. 9 Zu den strafprozessualen Maßnahmen im OrgKG vgl. II.2. 10 Seit 1991 wird jährlich ein Bundeslagebild zur organisierten Kriminalität vom BKA erstellt. 5

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gung – in einem preußischen ad hoc-Gesetz aus dem Jahr 179811, der Beibehaltung der politischen Stoßrichtung im preußStGB von 185112 sowie im RStGB13 aus dem Jahr 1871, in der fehlenden Wahrnehmung der Entpolitisierung des § 129 StGB im Jahr 195114 und der erstarrten Rechtsprechung des BGH zum Vereinigungsbegriff, die in der „Kameradschaft Sturm 34“-Entscheidung des 3. Strafsenats15 ihren Höhepunkt erreichte.16 Das änderte sich erst, als in Deutschland, um einem Vertragsverletzungsverfahren zu entgehen17, endlich im Jahr 2017 eine Legaldefinition nach völkerrecht- und unionsrechtlichen Vorgaben als § 129 Abs. 2 StGB eingefügt wurde.18 Zwar war Deutschland bereits durch die Palermo-Konvention (UNTOC)19 sowie durch den Rahmenbeschluss der EU zur OK20 im Wege der völkerrechts- bzw. unionsrechtskonformen Auslegung zur Harmonisierung verpflichtet, aber in der Rechtsprechung kam die UNTOC nie an. Die unionsrechtskonforme Auslegung scheiterte letztendlich in der „Kameradschaft Sturm 34“-Entscheidung daran, dass der 3. Strafsenat das überkommene voluntative Element im Vereinigungsbegriff nicht aufgeben wollte und die Chancen des organisatorischen Elements als Grenzelement21 im Vereinigungsbegriff nicht gesehen hat. Deshalb musste er einer unionsrechtskonformen Auslegung eine Absage erteilen, weil nach Ansicht des 3. Strafsenats andernfalls eine Abgrenzung zur Bande nicht mehr möglich gewesen wäre und der Bandenbegriff seine begrenzende Funktion bei der Strafbarkeit in Mehrpersonenverhältnissen

11 Abgedruckt bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 3. Aufl. 1978, 63 f. 12 Vgl. dort § 99. 13 Vgl. dort § 129. 14 Vgl. das Strafrechtsänderungsgesetz v. 30. 8. 1951, BGBl. I 1951, 739; näher dazu Sinn/ Iden/Pörtner, ZIS 2021, 435 (436 f.). 15 BGHSt 54, 216. 16 Vgl. ausführlich dazu Sinn/Iden/Pörtner, ZIS 2021, 435 ff. 17 BT-Drs. 18/11275 v. 22. 2. 2017, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI des Rates v. 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, S. 8. Der Streit wurde im Pilotverfahren beigelegt. 18 Vgl. Vierundfünfzigstes Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI des Rates v. 24. 10. 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität v. 17. 7. 2017, BGBl. I 2017, 2440. 19 Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität v. 15. 11. 2000, UN-Dok. A/RES/55/25. Deutschland hat die UNTOC im Jahr 2000 unterzeichnet und 2005 wurde der Vertrag ratifiziert; vgl. Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 15. November 2000 gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität sowie den Zusatzprotokollen gegen den Menschenhandel und gegen die Schleusung von Migranten, BGBl. II 2005, 954. 20 Rahmenbeschluss des Rates v. 24. 10. 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (2008/841/JI), ABl. EU Nr. L 300 v. 11. 11. 2008, S. 42 ff., Umsetzungsfrist: 10. 5. 2010. 21 Vgl. dazu Sinn/Iden/Pörtner, ZIS 2021, 444 f.

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verloren hätte.22 Natürlich stellt sich das Abgrenzungsproblem auch nach Einfügung der Legaldefinition. Bis Mitte des Jahres 2021 hatte der 3. Strafsenat mehrfach die Gelegenheit, sich zur Auslegung des neuen § 129 Abs. 2 StGB zu äußern und konsequent wird nun am übergeordneten Gesamtwillen nicht mehr festgehalten.23 In einer Leitsatzentscheidung nahm der Senat dann auch zur Abgrenzung zur Bande Stellung. Beim Merkmal des „gemeinsamen übergeordneten Interesses“ (§ 129 Abs. 2 StGB), das bei einer kriminellen Vereinigung, nicht aber bei einer Bande vorliegen muss, sieht der Senat nun eine hinreichende Abgrenzungsmöglichkeit.24 Mit der Gesetzesänderung und der Neuausrichtung der Rechtsprechung muss nun die OK-Verfolgung auf der Grundlage von § 129 StGB wieder stärker in den Fokus rücken. Das ist deshalb von besonderer Bedeutung, damit Strukturermittlungen möglich sind, die in den Kern der OK zielen. Auch ist nun die grenzüberschreitende Zusammenarbeit Deutschlands mit anderen EU-Staaten für den OK-Bereich einfacher geworden. Umwege über den Europäischen Haftbefehl und den Beweistransfer beispielsweise im Zusammenhang mit Italien25 sind nun überflüssig. Genau diese Strukturermittlungen fordert auch die EU-Kommission, wenn sie die Maßnahmen zur „Zerschlagung der Strukturen der organisierten Kriminalität“ in der neuen EU-Strategie zur Bekämpfung der OK 2021 – 202526 vorschlägt. Aus der Praxis wird immer wieder berichtet, dass Verfahren wegen § 129 StGB einzustellen seien (§§ 154, 154a StPO), um das Verfahren „zu verschlanken“ und das Verfahren zu „effektivieren“, denn die zu erwartende Strafe falle im Vergleich zu den konkret ermittelten OK-Delikten nicht ins Gewicht. An dieser Stelle zeigt sich, dass Polizei und Justiz bei OK-Komplexen noch nicht dieselbe Sprache sprechen. Abgesehen davon, dass Personen, die sich in einer kriminellen Vereinigung betätigen, auch aus generalpräventiven Erwägungen genau dafür bestraft werden sollten, kann die OK-Struktur nur dann ermittelt und letztendlich zerstört werden, wenn nicht nur das konkrete OK-Delikt, sondern die Vereinigung als solche mit ihren Mitgliedern, Kommunikationsstrukturen, Mittelsmännern, Verbündeten, Lieferwegen, Zwischen22

Vgl. BGHSt 54, 216 Rn. 44. BGH Beschl. v. 7. 5. 2019 – AK 13 – 14, 16 – 19/19 = BeckRS 2019, 10865 Rn. 14; ebenso BGH, Beschl. v. 5. 9. 2019 – AK 49/19 = BeckRS 2019, 23746 Rn. 11; BGH, Beschl. v. 9. 2. 2021 – AK 3 und 4/21 = NStZ-RR 2021, 136 (137). In diesen Entscheidungen war eine Abgrenzung zwischen der Bande und der kriminellen Vereinigung nicht entscheidungserheblich, weshalb sich dazu auch keine Ausführungen finden. Das OLG Köln NStZ-RR 2021, 74 ff. hat jedoch in einer aufwendig begründeten Haftsache versucht, die alte „Kameradschaft Sturm 34“-Entscheidung mit all ihren Konsequenzen am Leben zu erhalten; vgl. dazu ausführlich Sinn, ZJS 2021, 673 (673 ff.). 24 Vgl. dazu auch Sinn, ZJS 2021, 673 ff. 25 Vgl. https://www.n-tv.de/panorama/Deutschland-liefert-mutmassliche-Mafiosi-aus-arti cle20223830.html (zuletzt abgerufen am 14. 2. 2022). 26 Vgl. die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über eine EUStrategie zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität 2021 – 2025 vom 14. 4. 2021 COM (2021) 170 final, S. 13. 23

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händlern, nationalen und internationalen Verflechtungen, Lieferketten etc. ausermittelt wird. Wenn aber justizseitig die Verfahren dann eingestellt werden, werden auch Polizei und ggf. Staatsanwaltschaft keine Strukturermittlungen mehr führen. Es ist doch gerade der Zusammenschluss mehrerer Personen, die gemeinsam und organisiert Straftaten begehen wollen, der als Gefahr wahrgenommen wird, weshalb es darum gehen müsste, diese Zusammenschlüsse zu verfolgen, deren Strukturen aufzuklären und deren Gefahrenpotential zu neutralisieren. Von Seiten engagierter NGOs27 wird wiederholt beklagt, dass die deutsche Erfassung der OK über § 129 Abs. 2 StGB im Vergleich zur Rechtslage in Italien immer noch mangelhaft sei, weil die Mitgliedschaft in einer Mafiaorganisation nicht explizit unter Strafe gestellt werde. Dem ist entgegenzuhalten, dass mit § 129 Abs. 2 StGB auch Mitglieder von Mafiaorganisationen erfasst werden können und es deshalb keiner expliziten Benennung bedarf. Richtig ist demgegenüber, dass die italienische Erfassung von OK weiter reicht, als das im deutschen Strafrecht der Fall ist, was aber keinen Mangel bedeutet. Im italienischen Strafgesetzbuch wird zwischen der „kriminellen Vereinigung“ in Art. 416 c.p. und der „mafiaähnlichen Vereinigung“ in Art. 416bis c.p. bereits aus historischen Gründen unterschieden. In Art. 416 c.p. ist schon mit Strafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht, wenn sich drei oder mehr Personen zur Begehung mehrerer Straftaten zusammenschließen und die Person sich an der Vereinigung beteiligt. In qualifizierten Beteiligungsfällen (fördern, bilden, organisieren) ist eine höhere Strafe vorgesehen (drei bis sieben Jahre Freiheitsstrafe). Damit geht das italienische Recht weit über den international gesteckten Rahmen hinaus, denn weder wird ein organisatorisches noch ein temporäres Element verlangt. Der Anwendungsbereich des Art. 416 c.p. ist sogar noch breiter als der des deutschen Bandenbegriffs, wonach sich mindestens drei Personen zusammengeschlossen haben müssen, „die sich mit dem Willen verbunden haben, künftig für eine gewisse Dauer mehrere selbständige, im Einzelnen noch ungewisse Straftaten des im Gesetz genannten Deliktstyps zu begehen“28. Außerdem wirkt die bandenmäßige Begehung in Deutschland nicht strafbegründend, sondern strafschärfend. Weder völkerrechtlich noch unionsrechtlich ist eine solch weit verstandene Interpretation und Strafbarkeit der Mitglieder krimineller Vereinigungen geboten und sie wäre auch nicht mit den deutschen Grundprinzipien zur Strafbarkeit in Mehrpersonenverhältnissen zu vereinbaren. Gegenüber Art. 416 c.p. ist die Strafbarkeit von Personen in mafiaähnlichen Vereinigungen in Art. 416bis c.p. wesentlich enger konturiert. Das liegt daran, dass der italienische Gesetzgeber Merkmale der Mafiaorganisation29 angibt, welche die Straf27 Vgl. beispielsweise mafianeindanke e.V.: https://mafiafilm.correctiv.org/zusammen-ge gen-die-mafia/; vgl. auch https://www.rundschau-online.de/news/aus-aller-welt/kommentar-esist-zeit-fuer-ein-anti-mafia-gesetz-in-deutschland-29460134?cb=1628067435274 und https:// www.tagesschau.de/inland/mafia-italien-101.html (alles zuletzt abgerufen am 14. 2. 2022). 28 BGHSt GSSt 46, 321. 29 Erfasst werden aber auch Camorra, ‘Ndrangheta und andere Vereinigungen, vgl. Art. 416bis c.p. a. E.

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barkeit beschränken, bei deren Vorliegen der Strafrahmen aber drastisch erweitert wird: „Eine Vereinigung gilt als mafiös, wenn ihre Mitglieder die Einschüchterungsmacht der Vereinigung und den Zustand der Unterwerfung sowie den sich daraus ergebenden Schweigekodex ausnutzen, um Straftaten zu begehen, um sich unmittelbar oder mittelbar die Leitung oder jedenfalls die Kontrolle von wirtschaftlichen Tätigkeiten, Konzessionen, Genehmigungen, Verträgen und öffentlichen Dienstleistungen anzueignen oder um ungerechtfertigte Gewinne oder Vorteile für sich oder andere zu erlangen oder um die freie Ausübung des Wahlrechts zu verhindern oder zu behindern oder um sich oder anderen bei Wahlkonsultationen Stimmen zu verschaffen.“

Der Strafrahmen reicht von Freiheitsstrafe von 10 – 15 Jahren in Fällen bloßer Beteiligung bis hin zu 12 – 18 Jahren in den Fällen qualifizierter Beteiligung (fördern, leiten, organisieren). Im Vergleich zu § 129 Abs. 2 StGB i. V. m. Abs. 1 ist offensichtlich, dass Mafiaorganisationen, welche die vier Elemente (personal, temporär, organisatorisch, voluntativ) aufweisen, in Deutschland strafrechtlich mit weniger Begründungsaufwand erfasst werden können, als dies in Italien der Fall ist. Gemeinsamkeiten hat diese Begriffsbestimmung mit der OK-Definition der AG Justiz Polizei aus dem Jahr 199030, wenn beispielsweise auf Einschüchterung, Abschottung oder Einflussnahme auf Politik und Wirtschaft Bezug genommen wird. Im voluntativen Element ist das italienische Konzept im Vergleich zu § 129 StGB wesentlich enger, weil eine doppelte Zweckbestimmung gefordert wird. Zum einen muss die Begehung der Straftaten mit bestimmten Mitteln beabsichtigt sein („Einschüchterungsmacht der Vereinigung“, „Zustand der Unterwerfung“, Ausnutzung des „Schweigekodex“), zum anderen mu¨ ssen die beabsichtigten Straftaten dem weiteren Zweck dienen, „sich unmittelbar oder mittelbar die Leitung oder jedenfalls die Kontrolle von wirtschaftlichen Tätigkeiten (…) zu verschaffen.“ Die Forderung nach einem Mafia-Straftatbestand nach italienischem Vorbild würde also überhaupt nicht zu mehr Ermittlungserfolgen bei mafiösen Organisationen führen. 2. Prozessuale Probleme Im Bereich des Prozessrechts sind Joerden im Jahr 1997 vor allem rechtspraktische Probleme im Grenzgebiet aufgefallen.31 25 Jahre später haben sich durch Maßnahmen der EU bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit32 durchaus Verbes30

Vgl. Fn. 6. Joerden (Fn. 1), 7. 32 Vgl. beispielsweise Rahmenbeschluss 2006/960/JI vom 18. Dezember 2006 über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl. EU L 386 v. 29. 12. 2006, 89 ff.; Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, ABl. L 130, 1 ff. v. 1. 5. 2014 ber. ABl. L 143, 16 v. 9. 6. 2015; Neapel II-Übereinkommen: Übereinkommen aufgrund von 31

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serungen ergeben. Aber an ganz entscheidenden Punkten hat man im nationalen Recht nicht nachgesteuert, wie das Beispiel der Geldwäscheverfolgung des Zolls im Grenzgebiet zeigt (2.a)). Neue Probleme ergeben sich durch die immer komplexer werdenden strafprozessualen Infiltrationsmethoden zur Ermittlung von OK-Komplexen, insbesondere bei grenzüberschreitenden Sachverhalten (2.b)). a) Inkongruenzen bei der Aufgaben- und Befugniszuweisung beim Zoll im Zusammenhang mit der Geldwäsche Der Zoll nimmt bei der Verhütung, Entdeckung und Verfolgung von grenzüberschreitender Kriminalität eine wichtige Rolle in unserer Sicherheitsarchitektur wahr. Seine Aufgaben und Befugnisse sind aber im Bereich der Geldwäscheverfolgung gegenwärtig noch nicht optimiert. Das Zollverwaltungsgesetz (ZollVG) unterscheidet zwischen den präventiven Kontroll- und Überwachungsaufgaben in § 1 Abs. 4 ZollVG und den strafrechtlichen Verfolgungsaufgaben in § 1 Abs. 5 ZollVG. Organisatorisch sind die Kontrollaufgaben nach Absatz 4 den Kontrolleinheiten der Hauptzollämter übertragen, während die Ermittlungsaufgaben nach Absatz 5 dem Zollfahndungsdienst obliegen. Die Kontrollbefugnis bei der Überwachung des grenzüberschreitenden Verkehrs mit Barmitteln und gleichgestellten Zahlungsmitteln ist in § 12a Abs. 4 i. V. m. § 10 ZollVG geregelt. Danach können die Bediensteten der Zollverwaltung zur Durchführung der in § 1 ZollVG genannten Aufgaben im grenznahen Raum (§ 14 Abs. 1 ZollVG) Personen und Beförderungsmittel anhalten. Unter anderem können Gepäck, Beförderungsmittel und die Ladung zur Feststellung der Einhaltung der Zollvorschriften an Ort und Stelle oder einem anderen geeigneten Ort geprüft werden. Die von der Prüfung Betroffenen haben auf Verlangen die Herkunft der Waren anzugeben, die Entnahme von unentgeltlichen Proben zu dulden und die nach den Umständen erforderliche Hilfe zu leisten (§ 10 Abs. 1 ZollVG). Diese Kontrollbefugnisse in Bezug auf Geldwäsche stehen also nach der Aufgabenzuteilung in § 1 ZollVG den Beamten des Kontroll- und Streifendienstes der Hauptzollämter zu. Demgegenüber richten sich die Befugnisse des Zollfahndungsdienstes bei der Verfolgung der internationalen organisierten Geldwäsche nach § 12b ZollVG. Danach haben die Behörden des Zollfahndungsdienstes und ihre Beamten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 1 Abs. 5 ZollVG dieselben Rechte und Pflichten wie die Behörden und Beamten des Polizeidienstes nach den Vorschriften der Strafprozessordnung; ihre Beamten sind Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft. Für die Strafverfolgungsaufgaben im Zusammenhang mit internationaler organisierter Geldwäsche ist also der Zollfahndungsdienst mit dem Instrumentarium der StPO ausgestattet, nicht aber der Streifendienst beim Hauptzollamt. Das ergibt sich daraus, dass in § 12b ZollVG nur der Zollfahndungsdienst, nicht aber andere Organisationseinheiten des Zolls genannt werden. Bei dem Verdacht der Geldwäsche nach § 261 StGB besteht für das Hauptzollamt auch keine Zuständigkeit nach der AbgabenordArtikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über gegenseitige Amtshilfe und Zusammenarbeit der Zollverwaltungen, ABl. C 024 v. 23. 1. 1998, 2 ff.

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nung (AO), weil Geldwäsche nicht dem Kreis der Steuerstraftaten nach § 369 AO zuzuordnen ist. Die §§ 386 Abs. 2 AO, 399 Abs. 1 und 402 Abs. 1 AO begründen zwar eine Zuständigkeit der Hauptzollämter bei Steuerstraftaten und solchen Straftaten, die zugleich eine Steuerstraftat sind, sodass die Durchführung von strafprozessualen Maßnahmen durch die Hauptzollämter in diesen Fällen möglich ist. Allerdings trifft das auf die Geldwäsche eben nicht zu. Wenn also der Streifendienst des Hauptzollamtes im Rahmen seiner Kontrollaufgaben und -befugnisse im grenznahen Raum nicht angemeldete Bargeldmengen auffindet und der Verdacht der Geldwäsche besteht, so können die Beamten im Rahmen des ZollVG keine sichernden Maßnahmen nach der StPO treffen. In der Dienstvorschrift „Überwachung des Drittlandverkehrs und des innergemeinschaftlichen Verkehrs mit Barmitteln/gleichgestellten Zahlungsmitteln – DV Barmittel“ wird dazu in Absatz 77 ausgeführt: „Die Kontrollpersonen sind im Rahmen von Barmittelkontrollen nicht befugt ein Strafverfahren einzuleiten. Sofern die Annahmegründe nach Einschätzung der Kontrollperson im Einzelfall unmittelbar ohne Clearing-Verfahren die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen erfordern, ist in jedem Fall der ZFD (Zollfahndungsdienst) hinzuzuziehen, um die erforderlichen Maßnahmen zu veranlassen.“

Das erfordert dann – obwohl bereits vollzugspolizeiliche Beamte des Hauptzollamtes vor Ort sind – die weitere und vor allem zusätzliche Hinzuziehung bzw. Inanspruchnahme des Zollfahndungsdienstes bereits bei Maßnahmen des ersten Zugriffs (z. B. durch Sicherstellung von Beweismitteln, Vernehmung, vorläufige Festnahme etc.). Gegenwärtig behilft man sich mit einer Art zollinternen „Amtshilfe“ gemäß § 69 ZFdG (Unterstützung durch andere Behörden). Dort ist geregelt, dass die Hauptzollämter als andere Behörden im Einzelfall auf Anforderung oder mit Zustimmung der zuständigen Behörde des Zollfahndungsdienstes Amtshandlungen im Zuständigkeitsbereich des Zollfahndungsdienstes vornehmen können. Im Hinblick auf diese sehr unbefriedigende Rechtslage treten allerdings auch organisatorische Probleme auf. Nach Erhebung der Personalien und der Aushändigung etwaiger erklärter oder gefundener Barmittel an die Kontrollbeamten des Zolls können diese zunächst keine weiteren Maßnahmen mehr treffen, weil die Befugnisse im Verwaltungsverfahren erschöpft sind. Darüber hinaus sieht die Allgemeine Aufbauorganisation (AAO) der Zollverwaltung keine tauglichen Melde- und Befehlswege vor, die es den Beamten des Zollfahndungsdienstes konkret erlauben, den Beamten des Kontroll- und Streifendienstes bei den Kontrolleinheiten Weisungen zu erteilen, sodass der § 69 ZFdG insofern schnell ins Leere läuft, weil er zwar eine Ermächtigung für die Beamten des Hauptzollamtes schafft, mit Zustimmung oder auf Anforderung des Zollfahndungsdienstes in dessen Zuständigkeit tätig zu werden. Er ermächtigt aber nicht den zuständigen Zollfahndungsdienst, Anordnungen zu treffen, die von den Beamten des Hauptzollamtes ausgeführt werden müssen.

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b) Neue Herausforderungen bei grenzüberschreitender Infiltration von OK-Gruppierungen Die Ermittlungstaktik, um gegen organisierte Kriminalität vorzugehen, heißt „Infiltration“. Diese Taktik ist mehr oder weniger ausgeprägt und rechtsstaatlich abgesichert in vielen Ländern zu beobachten und keine Erfindung rund um „EncroChat“ oder „ANoM“. Die Besonderheit dieser Taktik in der Gegenwart besteht in zweierlei Hinsicht. Erstens hinsichtlich der Schaffung von speziellen Ermächtigungsgrundlagen [aa)], die eine Infiltration in einem Rechtsstaat erst ermöglichen und zweitens in der Verfeinerung der Infiltrationstechniken [bb)]. aa) Die Schaffung spezieller Ermächtigungsgrundlagen Mit dem OrgKG aus dem Jahr 199233 wurde in Deutschland ein neues Kapitel der rechtsstaatlichen Verfolgung von organisierter Kriminalität aufgeschlagen. Für Hassemer war es ein dunkles Kapitel, weil er in dem OrgKG die „Prinzipien, wie Verhältnismäßigkeit, Subsidiarität des Strafrechts, Justizförmigkeit des Verfahrens“34 verblasst sah. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass erst das OrgKG mit der Kodifizierung der Besonderen Ermittlungsmaßnahmen (Einsatz verdeckter Ermittler, akustische und optische Überwachung, Rasterfahndung, polizeiliche Beobachtung)35 strafprozessuale Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung begrenzt hat. Auch vor der Schaffung dieser Ermächtigungsgrundlagen wurden diese Ermittlungsmaßnahmen auf der Grundlage der Ermittlungsgeneralklausel §§ 161, 163 StPO durchgeführt. Aber beim Vergleich der Ermittlungsgeneralklausel mit den viel ausdifferenzierteren Voraussetzungen in den neuen Ermächtigungsgrundlagen wird schnell klar, dass die polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Ermittlungsarbeit nun stärker reglementiert, transparenter und letztendlich justiziabler ausgestaltet wurde. Es mussten aber erst fast 10 Jahre vergehen, bis der Gesetzgeber die Reichweite des Volkszählungsurteils36 auch im Strafprozessrecht umsetzte und damit der Geltung des strafprozessualen Bestimmtheitsgrundsatzes Wirkkraft verlieh. Mit dem OrgKG wurde der Geltung des grundrechtsakzessorischen Gebots der Normenbestimmtheit und Normenklarheit bei Ermächtigungen zum Zweck der Überwachung37 zum Durchbruch verholfen. Mehr noch, es begann sich ein Schutzkonzept in den Ermächtigungsgrundlagen durchzusetzen, das schon in der Vorschrift zur Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) enthalten war und nun als Vorbild für weitere Ermächtigungsgrundlagen dient. Heute besteht dieses 33

Vgl. oben Fn. 7. Hassemer, KJ 1992, 64 (64). 35 Vgl. dazu ausführlich Gropp (Hrsg.), Besondere Ermittlungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, 1993. 36 BVerfGE 65, 1. 37 Vgl. auch BVerfGE 110, 33 (52 ff.); BVerfGE 113, 348 (375 ff.); vgl. dazu auch Sinn (Fn. 7), 263. 34

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Schutzkonzept aus verschiedenen Elementen, wobei Richtervorbehalt, Straftatenkatalog, Subsidiarität, qualifizierte Tatsachengrundlage, Einzelfallprüfung und der Kernbereichsschutz zu den tragenden Säulen dieses Konzepts gehören. Diese Säulen existieren nicht nur aufgrund nationaler Eigenheiten, vielmehr sind sie Ausdruck eines bestimmten Menschenbildes. Die überwachte Person ist nicht bloßes Objekt, sondern sie ist Bürger in einem Rechtsstaat, der auch bei schweren Straftaten diesen Status respektiert, keinen Feindstatus zulässt und sich zur Bewahrung des Bürgerstatus auch eigene Grenzen bei den Ermittlungen setzt. Genau diese Selbstbindung und damit einhergehende Machtbändigung ist es, was den Rechtsstaat ausmacht. Natürlich übersehe ich dabei nicht, dass besonders skrupellose kriminelle Akteure, insbesondere solche, die der OK angehören oder terroristische Absichten verfolgen, immer versuchen werden, genau aus dieser Machtbändigung Vorteile zu ziehen und jeden Erfolg als Schwäche des Rechtsstaats verlachen werden. Der Rechtsstaat hat aber Antworten darauf. Auf das Schutzkonzept wird noch unter bb) zurückzukommen sein. Bis in die Gegenwart scheiterten alle Versuche in der Praxis, das strafprozessuale Bestimmtheitsprinzip durch eine „Baukastenmethode“ oder „erweiternde Auslegung“ zu durchbrechen. Paradigmatisch dafür steht der Versuch, aus den Ermächtigungsgrundlagen der Telekommunikationsüberwachung (§ 100a StPO) und der Wohnraumdurchsuchung (§ 102 StPO) eine Online-Durchsuchung zu „basteln“38, das Aufspielen einer Überwachungssoftware auf ein IT-Endgerät zum Zweck der Ausleitung unverschlüsselter Kommunikation (Quellen-Telekommunikationsüberwachung) als einen notwendigen Begleiteingriff39 herunterzuspielen oder die retrograde und künftige Postauskunft als das kleinere Übel zur Postbeschlagnahme40 zu interpretieren. Die Folge dieser fehlgeschlagenen Versuche war ein Tätigwerden des Gesetzgebers: Im Jahr 2017 wurde in § 100a StPO die Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Q-TKÜ) als neuer Satz 2 in Absatz 1 eingefügt. Die OnlineDurchsuchung wurde in § 100b StPO erstmals in die StPO aufgenommen und die Vorschrift zur Postbeschlagnahme wurde um das Auskunftsverlangen in § 99 Abs. 2 StPO41 erweitert. Die Neuregelungen zur Q-TKÜ und zur Online-Durchsuchung stehen für das alte Konzept der Infiltration. Neu daran ist, dass es nicht mehr um eine Infiltration durch einen Menschen zur Informationsgewinnung geht, wie dies beim Einsatz verdeckter Ermittler typisch ist, sondern um die Nutzung modernster Software. Der Mensch wird durch Technik ersetzt und damit entstehen neue Unsicherheiten. Es entsteht ein neues Spannungsverhältnis, in dem sich diese neuen Ermittlungsmaßnahmen bewegen. Damit soll hier nicht die grundrechtliche Perspek38 Zu Recht wurde eine Kombination von Eingriffsmaßnahmen letztendlich auch vom 3. Strafsenat abgelehnt. Vgl. BGH MMR 2007, 237 (239). 39 So LG Hamburg, wistra 2011, 154 (154 ff.). 40 Vgl. noch die früheren Entscheidungen des BGH, beispielsweise BGH BeckRS 2014, 5922. Zu Recht hat der BGH später dieser Sichtweise eine Absage erteilt; vgl. BGH NStZ-RR 2019, 280 (280 f.) m. w. N. 41 Vgl. BGBl. 2021 I, 2099.

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tive angesprochen werden.42 Vielmehr geht es darum, welches Gewicht die IT-Sicherheit im Verhältnis zu den Interessen der Strafverfolgung an der Aufklärung von Straftaten hat. Mehr noch: Auch in den Polizeigesetzen der Länder oder im BKAG finden sich derartige Ermächtigungsgrundlagen. Man muss also die Frage beantworten, wie viel IT-Unsicherheit man zur Gewährleistung von Sicherheit bereit ist in Kauf zu nehmen. Jede Überwachungssoftware nutzt Sicherheitslücken43 in einem IT-System aus, um sich unbemerkt Zugang zu den Informationen zu verschaffen oder den Zugang zu ermöglichen. Kennt der Hersteller diese Schwachstellen nicht (sog. Zero-Day-Schwachstellen), so kann er sie auch nicht schließen. Die Infiltration setzt also Unsicherheit voraus. Wenn die Strafverfolgungsbehörden diese Unsicherheit aufrechterhalten, um für Sicherheit zu sorgen, ist das ein Oxymoron. Auch jede andere Person mit kriminellen Absichten kann diese Schwachstelle nutzen. Eine Möglichkeit zur Lösung dieses Spannungsverhältnisses wäre es, dass die Strafverfolgungsorgane die Sicherheitslücken nur für einen begrenzten Zeitraum nicht an die Softwareentwickler oder an das BSI melden müssen, um in diesem Zeitraum die Ermittlungen vornehmen zu können. Das BVerfG hat sich im Jahr 2021 anlässlich einer Verfassungsbeschwerde gegen § 54 Abs. 2 PolG BW (Q-TKÜ) mit dem Spannungsverhältnis zwischen IT-Sicherheit und dem Strafverfolgungsinteresse beschäftigt. Die Beschwerdeführer rügten, dass diese Befugnis die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme gefährde, „weil die Behörden kein Interesse daran hätten, die ihnen bekannten Schwachstellen an die Hersteller zu melden, da sie diese Sicherheitslücken für eine Infiltration informationstechnischer Systeme zur durch § 54 Abs. 2 PolG BW gestatteten Quellen-Telekommunikationsüberwachung nutzen könnten.“44 In der Begründung der Entscheidung hat der 1. Senat einige Wegweisungen gegeben. Zum einen macht er klar, dass der Staat zum Schutz der Grundrechte auch eine Verantwortung für die Sicherheit informationstechnischer Systeme trägt. „In der hier zu beurteilenden Konstellation, in der die Behörden von einer Sicherheitslücke wissen, die der Hersteller nicht kennt, trifft den Staat eine konkrete grundrechtliche Schutzpflicht. Er ist verpflichtet, die Nutzerinnen und Nutzer informationstechnischer Systeme vor Angriffen Dritter auf diese Systeme zu schützen.“45 Aus dieser Schutzpflicht folge aber kein Anspruch darauf, die Quellen-Telekommunikationsüberwachung durch Nutzung unerkannter Sicherheitslücken vollständig zu untersagen und sie begründe auch keinen Anspruch auf die Verpflichtung der Behörde, jede unerkannte Sicherheitslücke sofort und unbedingt dem Hersteller zu melden.46 Zum anderen sieht der Senat auch den Zielkonflikt und mahnt eine Art 42 Vgl. dazu meine Stellungnahme im Rechtsausschuss des Bundestages vom 30. 5. 2017, https://www.bundestag.de/resource/blob/509050/6f72dd42df72be6f2da6a024475b3f8a/sinn-da ta.pdf (zuletzt abgerufen am 14. 2. 2022). 43 Vgl. auch die Definition einer Sicherheitslücke in § 2 Abs. 6 des Gesetzes über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSIG). 44 BVerfG BeckRS 2021, 19234 Rn. 8. 45 BVerfG BeckRS 2021, 19234 Rn. 26. 46 BVerfG BeckRS 2021, 19234 Rn. 43.

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Case-Management an: Die grundrechtliche Schutzpflicht verlange „eine Regelung darüber, wie die Behörde bei der Entscheidung über ein Offenhalten unerkannter Sicherheitslücken den Zielkonflikt zwischen dem notwendigen Schutz vor Infiltration durch Dritte einerseits und der Ermöglichung von Quellen-Telekommunikationsüberwachungen andererseits aufzulösen hat.“47 Dabei müsse der Behörde eine Abwägung der gegenläufigen Belange für den Fall aufgegeben werden, dass ihr eine Zero-Day-Schutzlücke bekannt wird. Es sei „sicherzustellen, dass die Behörde bei jeder Entscheidung über ein Offenhalten einer unerkannten Sicherheitslücke einerseits die Gefahr einer weiteren Verbreitung der Kenntnis von dieser Sicherheitslücke ermittelt und andererseits den Nutzen möglicher behördlicher Infiltrationen mittels dieser Lücke quantitativ und qualitativ bestimmt, beides zueinander ins Verhältnis setzt und die Sicherheitslücke an den Hersteller meldet, wenn nicht das Interesse an der Offenhaltung der Lücke überwiegt.“48 Mangels u. a. hinreichender Darlegung49 durch die Beschwerdeführer, dass das bisherige Schutzkonzept den Zielkonflikt nicht löse, war die Verfassungsbeschwerde unzulässig und wurde zurückgewiesen. bb) Die Verfeinerung von Infiltrationstechniken Infiltration ist also das Mittel der Wahl, wenn es um die Informationsgewinnung insbesondere im Kontext von organisierter Kriminalität geht. Rechtlich befinden wir uns in Deutschland derzeit auf der Stufe „Infiltration 2.0“: Neben verdeckten Ermittlern, V-Personen und nicht offen ermittelnden Beamten (NOEPS), die in persona Informationen sammeln („Infiltration 1.0“), kann wie gesehen die Infiltration auch technisch durch Q-TKÜ und Online-Durchsuchung sichergestellt werden. In anderen Ländern ist man inzwischen schon auf dem Level 3.0 angekommen: Neben den beiden erstgenannten Infiltrationstechniken werden ganze Darknet-Plattformen übernommen und zum Schein weiterbetrieben (3.0).50 Auf dem nächsten Level 4.0 wird in den USA das gesamte Infiltrationsequipment selbst entwickelt und verdeckt an die Personen vertrieben, von denen man annimmt, dass sie der organisierten Kriminalität angehören. Mit einer scheinbar abhörsicheren Krypto-App „ANoM“, einem verdeckt durch die Polizeibehörden betriebenen Online-Firmenauftritt und einem Informanten gelang es dem FBI in Zusammenarbeit mit weiteren Behörden mehr als 9.000 Nutzer dieser App zu infiltrieren. Im Jahr 2021 folgte dann die Ope47

BVerfG BeckRS 2021, 19234 Rn. 44. BVerfG BeckRS 2021, 19234 Rn. 44. 49 BVerfG BeckRS 2021, 19234 Rn. 48 ff. 50 Vgl. dazu die Ermittlungen zum Online-Marktplatz „Hansa-Market“ in den Niederlanden oder zu „Childsplay“ in Australien; Greenberg, Operation Bayonet: Inside the Sting That Hijacked an Entire Dark Web Drug Market, WIRED v. 3. 8. 2018, abrufbar unter https://www. wired.com/story/hansa-dutch-police-sting-operation/ (zuletzt abgerufen am 14. 2. 2022); Knaus, Australian police sting brings down paedophile forum on dark web, The Guardian v. 7. 10. 2017, abrufbar unter https://www.theguardian.com/society/2017/oct/07/australian-policesting-brings-down-paedophile-forum-on-dark-web (zuletzt abgerufen am 14. 2. 2022). 48

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ration „Trojan Shield“, eine gemeinsame Polizeiaktion, an der mindestens 16 Länder beteiligt waren und weltweit 800 Tatverdächtige festgenommen wurden.51 Die rechtlichen Probleme, die sich bei grenzüberschreitenden Ermittlungen aus den unterschiedlichen Levels der Infiltration ergeben, sind enorm, wenn es um die Frage der Verwertbarkeit der erlangten Informationen in einem deutschen Strafverfahren geht. Aber auch wenn man sich auf dem gleichen Level bewegt, so sind die Probleme damit nicht ausgeräumt, weil die Eingriffsvoraussetzungen für die Infiltration in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich sind. Paradigmatisch dafür steht der EncroChat-Komplex52 auf Stufe 2: „Die deutschen Strafverfolgungsbeho¨ rden – so schließlich auch die Staatsanwaltschaft K. – gelangten in den Besitz der zur Ermittlung des Angeklagten als Tatverda¨ chtigem fu¨ hrenden Daten, nachdem es der Staatsanwaltschaft Lille in Frankreich im Rahmen einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe mit den Niederlanden, die gegen die EncroChat-Betreiber u. a. wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung zur Begehung von Straftaten oder Verbrechen ermittelte, unter Beteiligung von Eurojust und Europol im Fru¨ hjahr 2020 gelungen war, mittels einer Datenabfanganlage auf den Server einzudringen und die Kommunikation zu entschlu¨ sseln. Hierdurch wurde auf u¨ ber 32.000 Nutzer-Accounts unter deren Nutzernamen – so auch des Angeklagten – in 121 La¨ ndern zugegriffen. Die technische Vorgehensweise des Zugriffs auf den Server unterliegt in Frankreich der milita¨ rischen Geheimhaltung. Den Ermittlungsmaßnahmen – auch soweit sie sich auf das deutsche Hoheitsgebiet erstreckten – lagen ermittlungsrichterliche Anordnungen franzo¨ sischer Strafverfolgungsbeho¨ rden zugrunde.“53

Die von den französischen Behörden erlangten Informationen, die deutsche Interessen betreffen, wurden im Wege des polizeilichen Informationsaustauschs an das BKA weitergeleitet und durch eine Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) zur Grundlage der Einleitung von Strafverfahren in Deutschland gegen zahlreiche Tatverdächtige gemacht.54 Einen Anfangsverdacht55 gegen diese Personen hat es in Frankreich nie gegeben und in Deutschland wurde dieser erst durch die Durchsicht der übermittelten Daten aus beispielsweise den Chatprotokollen und Kurznachrichten gewonnen. In Frankreich wurden die Maßnahmen im Rahmen von Voruntersuchungen im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität angeordnet. Dort ist es 51 Vgl. Strunz/Flade, Polizei trickste Kriminelle mit App aus, Tagesschau v. 9. 6. 2021, https://www.tagesschau.de/investigativ/organisierte-kriminalitaet-anom-101.html (zuletzt abgerufen am 14. 2. 2022). 52 Vgl. zum EncroChat-Komplex Derin/Singelnstein, NStZ 2021, 449 (449 ff.); Wahl, ZIS 2021, 452 (452 ff.). 53 OLG Schleswig BeckRS 2021, 10202 Rn. 3. 54 Zu den Einzelheiten vgl. den Verfahrensgang bei OLG Schleswig BeckRS 2021, 10202. 55 In der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung müht man sich, einen Anfangsverdacht aus der Nutzung der Telefone nebst Verschlüsselung und den „Begleitumständen“ des Erwerbs, des Vertriebs und der Kostengestaltung für die Nutzung abzuleiten, was nicht überzeugt. Vgl. beispielsweise OLG Brandenburg BeckRS 2021, 23525 Rn. 11 sowie BeckRS 2021, 42283 Rn. 12; OLG Celle BeckRS 2021, 24319 Rn. 48; KG Berlin BeckRS 2021, 24213 Rn. 48; OLG Karlsruhe BeckRS 2021, 33716 Rn. 26.

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in diesen Fällen möglich, ohne einen konkretisierten Anfangsverdacht gegen eine bestimmte Person die Infiltrationsmaßnahmen anzuordnen.56 Deutsche Gerichte müssen sich derzeit bundesweit mit der Verwertbarkeitsfrage beschäftigen und es gibt dazu unterschiedliche Rechtsauffassungen. Während das LG Berlin die Verwertung ablehnt,57 wollen u. a. das OLG Bremen, die OLGs Hamburg und Rostock sowie das OLG Schleswig und zuletzt auch der 4., 5. und 6. Strafsenat des BGH58 die in Frankreich erlangten Informationen als Beweise verwerten.59 Die Oberlandesgerichte übersehen dabei das Schutzkonzept (oben 2.a)), das in den Ermächtigungsgrundlagen zu den Infiltrationsmaßnahmen enthalten ist. Wie gesehen ist dieses Schutzkonzept Ausdruck eines bestimmten Menschenbildes und Selbstverständnisses. In den Entscheidungen des OLG Hamburg sowie des OLG Schleswig wird dieses Schutzkonzept auf dem Altar apokrypher Gerechtigkeitserwägungen geopfert. Wie schon das OLG Hamburg bejaht auch das OLG Schleswig eine (direkte) Anwendung des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO, um die Verwertbarkeit der in Frankreich erhobenen Daten in einem deutschen Strafverfahren zu begründen.60 Nach dieser Vorschrift dürfen die durch Maßnahmen nach den §§ 100b und 100c StPO erlangten und verwertbaren Daten aus anderen Strafverfahren zur Aufklärung einer Straftat, auf Grund derer Maßnahmen nach § 100b oder § 100c StPO angeordnet werden könnten, verwendet werden. Die Vorschrift lässt die Verwertbarkeit von sog. Zufallsfunden zu, wenn die Voraussetzungen des sog. hypothetischen Ersatzeingriffes vorliegen. Gegenüber §§ 161 Abs. 3 und 479 Abs. 2 StPO ist § 100e Abs. 6 StPO für die besonders eingriffsintensiven Maßnahmen der Online-Durchsuchung und der akustischen Wohnraumüberwachung lex specialis. Das OLG Hamburg hat sich in seiner Entscheidung nicht viel Mühe gegeben, die Anwendbarkeit von § 100e Abs. 1 Nr. 6 StPO auch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zu begründen.61 Es will allein aus dem Umstand, dass sich Fragen der Verwendung und Verwertung von Beweisen nach dem Recht des ersuchenden Staates richten, darauf schließen, dass die nationalen Vorschriften – hier in Gestalt des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO – auch darauf ausge-

56

Vgl. dazu ausführlich Wahl, ZIS 2021, 455. Vgl. LG Berlin BeckRS 2021, 17261 aufgehoben durch KG Berlin, Beschl. v. 2. 9. 2021 – 2 Ws 79/21, 2 Ws 93/21. 58 BGH BeckRS 2022, 2981; BeckRS 2022, 5306; BeckRS 2022, 22161. 59 OLG Bremen NStZ-RR 2021, 158 (158 ff.); OLG Hamburg BeckRS 2021, 2226; OLG Rostock BeckRS 2021, 6824; BeckRS 2021, 11981; OLG Schleswig BeckRS 2021, 10202; vgl. auch die weiteren ergangenen Entscheidungen OLG Schleswig Beschl. v. 23. 7. 2021 – 2 Ws 97/21; OLG Köln BeckRS 2021, 18722; OLG Brandenburg BeckRS 2021, 23525 sowie BeckRS 2021, 42283; OLG Düsseldorf Beschl. v. 21. 7. 2021 – 2 Ws 96/21; OLG Celle BeckRS 2021, 24319; KG Berlin BeckRS 2021, 24213; OLG Frankfurt Beschl. v. 7. 10. 2021 und 26. 10. 2021 – 2 HEs 351/21 und 2 HEs 382/21; OLG Karlsruhe BeckRS 2021, 33716; OLG Nürnberg BeckRS 2021, 37142; LG Magdeburg BeckRS 2021, 26132. 60 Ebenso OLG Brandenburg BeckRS 2021, 42283 Rn. 12; LG Magdeburg BeckRS 2021, 26132 Rn. 30. 61 Vgl. OLG Hamburg BeckRS 2021, 2226 Rn. 58. 57

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richtet seien, grenzu¨ berschreitende Sachverhalte zu erfassen.62 Außerdem gäbe es keine Anhaltspunkte dafu¨ r, dass dies im Hinblick auf § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO nicht der Fall sein sollte.63 Demzufolge sei die Norm dahingehend auszulegen, dass sie auch Daten erfassen soll, „die in ausla¨ ndischen Strafverfahren durch Maßnahmen erhoben wurden, die Maßnahmen nach § 100b StPO entsprechen“.64 Die Auslegung des OLG Hamburg und ihm folgend des OLG Schleswig dürfte schon nicht den strafprozessualen Bestimmtheitsanforderungen genügen, weil „die durch Maßnahmen nach den §§ 100b und 100c erlangten und verwertbaren personenbezogenen Daten“ (vgl. § 100e Abs. 6 1. HS StPO) eben nicht solche sind, wie sie in Deutschland angeordnet werden dürfen. Vielmehr wurden wohl Maßnahmen nach Art. 706-95 CPP zum Abhören, Aufzeichnen und Transkribieren der Kommunikation und Art. 706-102-1 CPP für das Installieren einer „technischen Vorrichtung“ in Frankreich angeordnet.65 Das sind aber schon dem Wortlaut des § 100e Abs. 6 1. HS StPO nach nicht Maßnahmen „nach den §§ 100b und 100c“, sondern solche nach den oben genannten Artikeln des CPP. Hinzu kommt, dass es auch überhaupt keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Gesetzgeber mit § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO eine transnationale Verwertbarkeitsfrage geklärt haben wollte. Die Gesetzesmaterialien geben nur Hinweise darauf, dass die Frage der Binnenverwertbarkeit geregelt werden soll. Hinweise auf einen transnationalen Kontext fehlen völlig.66 Durch die Auslegung u. a. der OLGs Hamburg und Schleswig wird das Kompetenzgefüge und das Prinzip der Gewaltenteilung verletzt, denn die OLGs setzen an die Stelle der gesetzgeberischen Entscheidung ihre eigene Wertentscheidung über transnationale Verwertbarkeitsfragen. § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO ist konzeptionell nur auf Inlandssachverhalte zugeschnitten, weil der Gesetzgeber von Maßnahmen nach den §§ 100b und 100c StPO in „anderen Strafverfahren“ ausgeht (vgl. § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO), welche als Regelungen bzw. Ermächtigungsgrundlagen eines deutschen Bundesgesetzes nur deutsche Hoheitsträger berechtigen und verpflichten können. Aber davon abgesehen funktioniert der am Schutzkonzept der besonderen Ermittlungsmaßnahmen teilhabende § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO nur, wenn es um einen Zufallsfund geht und dessen nationale Verwertbarkeit in Frage steht. Sobald aber aufgrund unterschiedlicher nationaler Regelungen in verschiedenen Staaten unterschiedliche Maßstäbe für die Eingriffsvoraussetzungen gelten, kann dieses Schutzprinzip nicht mehr funktionieren. § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO geht eindeutig von der Äquivalenz der „durch Maßnahmen nach den §§ 100b und 100c erlangten und verwertbaren personenbezogenen Daten“ (§ 100e Abs. 6 1. Hs. StPO) mit denen, die durch „Maßnahmen nach § 100b oder § 100c angeordnet werden könnten“ (§ 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO) aus. Das darin liegende Schutzkonzept der Eingriffsäquivalenz bei der Ver62

Vgl. OLG Hamburg BeckRS 2021, 2226 Rn. 58. Vgl. OLG Hamburg BeckRS 2021, 2226 Rn. 58. 64 OLG Hamburg BeckRS 2021, 2226 Rn. 58. 65 So Wahl, ZIS 2021, 455. 66 Vgl. BT-Drs. 18/12785, S. 1 ff. 63

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wertbarkeitsfrage würde außer Kraft gesetzt, wenn sich im transnationalen Kontext zwei nicht äquivalente Eingriffsgrundlagen mit unterschiedlichen Eingriffsvoraussetzungen gegenüberstehen und die Verwertbarkeit bejaht würde. Die Antwort auf die Frage der Verwertbarkeit bei fehlender Äquivalenz lässt sich also § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO gerade nicht entnehmen. Diese Frage durch Auslegung positiv zu beantworten liegt aber außerhalb der Auslegungskompetenz des Gerichts, weil das nach der Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG ein Parlamentsgesetz beantworten muss. Außerdem geht § 100e Abs. 6 S. 1 StPO von „verwertbaren personenbezogenen Daten“ aus. Wollte man nun dafür auch die in einem anderen Land als verwertbar gewonnenen Daten ausreichen lassen, so bedeutete dies, ausnahmslos den Verwertungsmaßstab des Erhebungslandes zum Maßstab der Verwertbarkeit im Verwertungsstaat werden zu lassen. Damit werden auch die „Notbremsen“ (ordre public, Menschenrechtsverletzungen) beim transnationalen Beweistransfer außer Kraft gesetzt, weshalb auch die unionsrechtskonforme Auslegung im Zusammenhang mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nicht Schlüssel zur Lösung sein kann. Die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung setzt diese Notbremsen auch außer Kraft, weil durch die erzwungene Anwendung des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO und die Auflösung der Eingriffsäquivalenz die Frage des fehlenden Anfangsverdachts bei den Ermittlungen in Frankreich keine Rolle mehr spielt. Denn die erhobenen Daten in Frankreich sind für das OLG Schleswig „verwertbare personenbezogene Daten“. Das hat Auswirkungen auf die Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem der Anfangsverdacht vorliegen muss. Nach dem OLG Schleswig67 ist das der Zeitpunkt, an dem die Erkenntnisse aus den Zufallsfunden gewonnen wurden. Das führt letztendlich dazu, dass der Umstand, dass in Frankreich Verfahren ohne Anfangsverdacht und unter Einsatz von Online-Durchsuchungen geführt werden können, in Deutschland keine Rolle mehr spielt. Damit ist eindeutig belegt, dass die OLGs Hamburg und Schleswig durch ihre Auslegung das gesamte Schutzkonzept im Zusammenhang mit dem Einsatz besonderer Ermittlungsmaßnahmen außer Kraft gesetzt haben.

III. Schlussbemerkungen In den vergangenen 30 Jahren wurden die Rechtsinstrumente zur Verfolgung von transnationaler Kriminalität insbesondere hinsichtlich organisierter Kriminalität in Deutschland immer weiter ausgebaut. Dabei hatte und hat man immer noch mehr die Tätigkeitsbereiche von OK im Blick als deren Struktur. Damit wird man dem Phänomen „OK“ aber nicht gerecht, denn die Gefährlichkeit von OK-Gruppierungen speist sich aus der Indienststellung individueller Machtpotentiale in einem Zusammenschluss aus mehreren Personen zur Begehung von Straftaten. Es ist gerade die 67

OLG Schleswig BeckRS 2021, 10202 Rn. 35.

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neue Qualität von Macht, die in kriminellen Vereinigungen entsteht, weshalb Straftaten erwartbar werden.68 Diese Erwartbarkeit kann nur dann durchbrochen werden, wenn man die OK-Strukturen ermittelt und auflöst. Die rechtlichen Instrumente dafür wurden in materieller und prozessualer Hinsicht geschaffen. Nicht zu übersehen ist aber, dass man sich bei der Schaffung neuer Ermächtigungsgrundlagen wie QTKÜ und Online-Durchsuchung sowie bei der internationalen Zusammenarbeit und dem Beweistransfer im Grenzbereich des rechtsstaatlich noch möglichen befindet. Entscheidend ist, dass die verfassungsrechtlichen Grenzen nicht überschritten werden und man auch bei der Verfolgung schwerer Kriminalitätsformen das selbst gesetzte Menschenbild bewahrt. Die Aufgabe für die Zukunft wird sein, dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, das dem Informationsaustausch und dem Beweistransfer auf EU-Ebene zugrunde liegt, nicht mehr Macht einzuräumen als den nationalen Schutzkonzepten im Zusammenhang mit den besonderen Ermittlungsmaßnahmen.

68

Vgl. Sinn/Iden/Pörtner, ZIS 2021, 445 f.

Prostitution in Polen Ausgewählte kriminologische Aspekte aus historischer Perspektive in der ersten Phase der Wendezeit Emil W. Pływaczewski und Ewa M. Guzik-Makaruk Die Autoren widmen den Beitrag dem verdienten Jubilar, mit dem sie seit vielen Jahren durch hervorragende wissenschaftliche und freundschaftliche Beziehungen verbunden sind. Die Kooperation zwischen der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und der Universität Białystok hat eine lange Tradition in Form von zahlreichen deutsch-polnischen Seminaren und Konferenzen, die in unseren Hochschulen stattfanden. Wir hoffen, dass der vorliegende Beitrag für den Jubilar eine interessante Lektüre sein wird.

I. Allgemeine Bemerkungen Als Folge des vor mehr als 30 Jahren erfolgten politischen und gesellschaftlichen Umbruchs in Mittel- und Osteuropa ließ sich dort eine schlagartige Expansion der Kriminalität insgesamt und insbesondere auch der Organisierten Kriminalität beobachten. Die Liberalisierung des politischen Lebens, die Entscheidungsfreiheit im wirtschaftlichen Sektor, die Liberalisierung des Rechts sowie die Öffnung der Grenzen ermöglichten den Menschen uneingeschränkte Bewegungsfreiheit und den freien Austausch von Waren und schufen eine zuvor unbekannte Realität.1 Den im Jahre 1989 begonnenen, mit der Öffnung der Grenzen verbundenen Änderungen im politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Leben folgte der Einzug verschiedener Formen des sogenannten Sexgeschäfts in Polen. Schnell entstanden, unter seriös klingenden Bezeichnungen wie „Gesellschaftsagenturen“, Bordelle sowie Salons für erotische Massage, Pornokinos und Sexshops. Die Zahl der Frauen in Polen, die der Prostitution nachgingen, betrug schätzungsweise 10.000. 1997 waren es bereits 13.500 Prostituierte, darunter 2.500 mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Die größte Gruppe der Ausländerinnen bildeten mit etwa 1.100 Personen Frauen aus Bulgarien. Andere Prostituierte stammten aus Russland, der Ukraine, Belarus, Rumänien, eine kleine Zahl auch aus Moldawien. Mit den Prostituierten aus dem Ausland, insbesondere aus den GUS-Staaten und Bulgarien, kamen 1

Pływaczewski, Kriminalistik 1992, 763.

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auch deren Zuhälter, die den Gewinn aus dem Sexgeschäft in Polen durch rücksichtsloses, oft gewaltsames Handeln abschöpften.2 Dank polizeilicher Aktivitäten und konjunktureller Veränderungen sank in den Folgejahren die Zahl der Prostituierten. Laut Angaben der Polizei gingen im Jahre 2001 etwa 7.400 Frauen der Prostitution nach, darunter knapp über 1.000 Ausländerinnen. Die größte Gruppe unter diesen Frauen bildeten Ukrainerinnen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kam es jedoch zu einem erneuten Zuwachs der in Polen tätigen Prostituierten auf fast 10.000. Die meisten dieser Frauen waren weiterhin Polinnen. Der Anteil der Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit wurde auf 40 – 50 % geschätzt, wobei die größte Gruppe aus der Ukraine, Bulgarien und Belarus stammte.3 Besonders beunruhigend ist die Prostitution von Minderjährigen, seien es Mädchen oder Jungen.4 Schon in der ersten Hälfte der 1990er Jahre berichteten viele Polizeieinheiten über – oft ökonomisch motivierte – gewerbsmäßige Unzucht 12 – 14jähriger Mädchen, die Schwarzarbeit von Lyzeums-Schülerinnen in Bordellen und über gelegentlich geleistete Sexdienstleistungen von Schülerinnen unterschiedlicher Schultypen. Im Jahre 1997 wurden etwa 360 minderjährige Prostituierte registriert. Darunter befanden sich 30 Mädchen im Alter von bis zu 15 Jahren und 69 Jungen im Alter von 15 – 17 Jahren.5 Im Jahre 2001 wurden etwa 172 minderjährige Prostituierte verzeichnet, die meisten in Niederschlesien (46) und in Warschau (29). Die häufigste Ursache der Prostitution unter den Minderjährigen war, dass sie für den Unterhalt ihrer Herkunftsfamilie sorgen mussten oder eine eigene Einnahmequelle benötigten. Prostitution wird am häufigsten von Mädchen betrieben. Es wurden 154 Fälle der Prostitution von Mädchen und 18 Fälle der Prostitution von Jungen aufgedeckt. Aus der zeitlichen Perspektive ist festzustellen, dass sich dieses Phänomen in den folgenden Jahren verstärkt hat. Das betrifft insbesondere die Prostitution von minderjährigen Mädchen (sog. „Galerianki“, d. h. Prostituierte in Shopping-Centern) und Jungen in großen Einkaufszentren.6 Obwohl die Prostitution in Polen nicht strafbar ist,7 verzeichnet die Polizei eine ganze Reihe von damit verbundenen Straftaten. Es sind vor allem Profite im Zusam2 Insbesondere betrifft dies den Frauenhandel und die Prostitution an Schnell- und Transitstraßen. Siehe Podgórski, Magazyn Kryminalny 997 1997, 21; Pływaczewski, in: Piotrowski (Hrsg.), Understanding Problems of Social Pathology, 2006, 49. Auch heute ist eine solche Beschäftigung ein Grund für die Einreise nach Polen. 3 Pływaczewski (Fn. 2), 50. 4 Zum Thema Kinderprostitution siehe Imielin´ski, Manowce seksu. Prostytucja, 1990, 128 ff. 5 Sztylkowska, in: Pływaczewski/S´wierczewski (Hrsg.), Policja polska wobec przeste˛ pczos´ci zorganizowanej, 1996, 206 ff. 6 Konarska/Leman, Przegla˛d 2003, Nr. 18, 8; Bogoryja-Zakrzewski/Bogoryja-Zakrzewska, Polityka 2006, Nr. 30, 78 ff.; Podgórska/Michałowska, Polityka 2009, Nr. 39, 28 f. 7 Zu den rechtlichen Regelungen bezüglich Prostitution siehe Kowalewska-Łukuc´, Prostytucja i czerpanie z niej korzys´ci maja˛tkowych – analiza prawnoporównawcza, 2017, 82. Siehe

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menhang mit der Ausübung von Prostitution. Die Frauen müssen dafür bezahlen, an gewissen Orten der Prostitution nachgehen zu können, wie z. B. in einem Hotel, an einer Straße oder einem Schnellverkehrsweg. „Entgelte“ fallen auch für die Bereithaltung einer Räumlichkeit in Bordellen an. Die von den Einheiten der Kriminalpolizei im Rahmen operativer Tätigkeiten gewonnenen Erkenntnisse über die mit der Prostitution verbundenen Erscheinungen und die Formen der Ausbeutung von Prostituierten zeigen auf, dass diese ständigen Umwandlungen unterworfen sind und sich sehr flexibel der politischen Situation, den geltenden Gesellschaftsnormen, den Rechtsvorschriften und vor allem der Nachfrage auf dem Gebiet des breit verstandenen „Sexgeschäfts“ anpassen. Man kann also von einer weiteren Stabilisierung der Sexbranche sprechen. Nur selten kommen Streitigkeiten vor, die sich aus Konkurrenzkämpfen zwischen Zuhältern und Betreibern von Freudenhäusern ergeben. Festgestellte Formen der Prostitution betreffen: 1. Frauen, die als Prostituierte in Hotels und Nachtklubs arbeiten und nur dem Personal dieser Lokale bekannt sind; 2. „Callgirls“, die als junge, gut ausgebildete Frauen mit Fremdsprachenkenntnissen den Kontakt per Telefon knüpfen; 3. Frauen, die als Prostituierte auf Straßen und Plätzen arbeiten, oft alkohol- oder drogensüchtig sind und wegen öffentlicher Ordnungsvorschriften in Konflikt mit dem Gesetz geraten; 4. Frauen, die nur gelegentlich der Prostitution nachgehen. Zu den in den letzten Jahren entstandenen und immer noch existierenden Märkten gehören für die Prostitution genutzte Schnellverkehrswege, Nachtklubs, unter der Bezeichnung „Gesellschaftsagentur“ geführte Bordelle, Massagesalons oder der individuelle „Kauf“ der sexuellen Dienste einer Frau durch reiche Kunden. Noch unerforscht sind die Prostitution, die über telefonische Anbahnungen, Zeitungsannoncen oder das Internet funktioniert, sowie touristischer bezahlter Sex, der ohne Vermittler und Zuhälter, vor allem im Ausland während der Urlaubszeit, praktiziert wird. Die wachsende Zahl der Frauen, die der Prostitution nachgehen, wird u. a. von folgenden Faktoren begünstigt: 1. steigende Arbeitslosigkeit und schlechte materielle Familiensituation; 2. Auflockerung moralischer Prinzipien; 3. Öffnung der Grenzen und Erleichterungen im internationalen Tourismus; 4. Phänomen getarnter Bordelle, die unter der Bezeichnung „Gesellschaftsagenturen“ firmieren. auch Cebulak/Pływaczewski, Prostitution in the United States and Poland, 2007, 152; Antoniszyn/Marek, Prostytucja w s´wietle badan´ kryminologicznych, 1985, 18 ff.

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Es soll jedoch betont werden, dass die häufig verbreitete Wahrnehmung der Prostitution als ein nur psychosoziales Problem der Deviation der Frauen die Wirklichkeit vereinfacht und verfälscht. Ohne eine Analyse von Angebot und Nachfrage, ohne Anhaltspunkte, wie stark bei Männern gewisser Gesellschaftskreise innerhalb eines bestimmten Zeitraums Kontakte mit Prostituierten verbreitet sind, ohne die Frage, wer die Kunden sind, wie viele unter diesen Jugendliche sind und wie viele Männer Familie haben usw., lässt sich eine treffsichere Diagnose in Bezug auf die wirksamen Vorbeugungsmaßnahmen nicht stellen.

II. Neue Entwicklungsformen im Bereich der Prostitution Die Entwicklung der Bordelle („Gesellschaftsagenturen“) und Massagesalons, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben und registriert sind, verläuft seit 1992 dynamisch. Sexuelle Dienstleistungen werden nicht als ihr Geschäftsfeld angegeben, obwohl ihr tatsächliches Angebot allgemein bekannt ist. Diese Häuser sind bei den Prostituierten sehr beliebt, weil sie ihnen größere Anonymität und intime Hygiene gewährleisten und das Risiko von Geschlechtskrankheiten verringern. Auch Kunden besuchen solche Häuser gern, weil ihnen dort ein höherer Dienstleistungsstandard, größere Sicherheit und eine intime Atmosphäre versprochen werden. Sie können bei dieser Gelegenheit auch die mit reichlich Alkohol oder sogar mit Drogen ausgestattete Bar nutzen.8 Die Betreiber solcher Häuser sichern sich gegen eine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen des finanziellen Ausnutzens der Prostitution Dritter ab, indem sie in eine „Hausordnung“ oder in den Arbeitsvertrag ein Verbot jeglicher sexuellen Kontakte mit Kunden unter Androhung der fristlosen Kündigung aufnehmen. Von den Veränderungen bei den Formen der Prostitution waren auch Bordelle (sog. Gesellschaftsagenturen) und Massagesalons betroffen. Im Jahre 1996 wurden 850 solcher Häuser und Salons betrieben, im Jahre 1997 über 1.000, und im Jahre 2006 circa 800, in denen etwa 4.300 Prostituierte arbeiteten. Die meisten Bordelle befanden sich in Großstädten, wie in Warschau. In der Hauptstadt Polens existierten nach Angaben der Polizei im Jahre 2003 etwa 900 Gesellschaftsagenturen mit Lizenz und circa 3.000 inoffizielle „Agenturen“ mit 14.000 dort arbeitenden Prostituierten, einschließlich „Callgirls“.9 Die Betreiber der „Gesellschaftsagenturen“ schließen sich zusammen und bilden spezielle Fonds, die es ihnen ermöglichen, während eines Überfalls durch die Konkurrenz entstandene Verluste und dabei verursachte Beschädigungen zu kompensieren oder im Falle eines Gerichtsverfahrens einen Rechtsanwalt zu bezahlen. Bereits länger existierende „Gesellschaftsagenturen“ vollziehen eine Wandlung hin zu elitären Klubs, die durch Überwachungsanlagen und Schutzpersonal gesichert werden. 8 9

Tomtała, in: Polnische Polizei angesichts der Organisierten Kriminalität, 1998, 272 ff. Smith, PolandMonthly 2003, Nr. 18, 15.

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Diese Bedingungen schaffen die Voraussetzung für einen ungestörten Genuss sexueller Dienstleistungen, auch wenn das Geschäftsmodell nicht immer mit dem geltenden Recht übereinstimmt. In solchen Etablissements werden meistens Polinnen angestellt, in vielen Einrichtungen aber auch Ausländerinnen. Zu den Begleiterscheinungen der „Gesellschaftsagenturen“ gehören Straftaten aus dem Bereich der Vermögensdelikte oder Verstöße gegen Wirtschaftsgesetze. Nach bisheriger Erkenntnis werden diese Lokale nicht nur von individuell gemieteten Security-Dienstleistern, sondern auch von kriminellen Gruppen „geschützt“, die daraus Nutzen ziehen. Es ist außerdem zu beobachten, dass Bordelle und Massagesalons von kriminellen Gruppen aufgekauft werden, die den Prostitutionsmarkt kontrollieren. Das Ziel solcher Transaktionen ist der kommerzielle Nutzen, aber auch die Gewinnung von Erkenntnissen über Kunden aus der Businesswelt, die die Dienstleistungen der Lokale in Anspruch nehmen. In den „Gesellschaftsagenturen“ werden oft Drogen sowie unversteuerter Alkohol ohne entsprechende Schanklizenz angeboten. Nicht selten sind diese Lokale auch ein Zufluchtsort für Personen, nach denen die Strafverfolgungsorgane fahnden, oder für Minderjährige, die von zu Hause oder aus Erziehungsanstalten geflohen sind. Es kommt auch vor, dass Prostituierte mit Gewalt zum dauernden Aufenthalt in dem Lokal und zur Prostitution gezwungen werden. Diese Orte eignen sich auch gut für die Anwerbung von Frauen, die anschließend an andere Etablissements im Inland oder Ausland verkauft werden.10

III. Diskussion über die Legalisierung der Prostitution Seit längerer Zeit wird in Polen die Frage diskutiert, ob die Prostitution legalisiert werden sollte. Es geht u. a. um die Frage, ob die Prostituierten Steuern bezahlen und hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten genauso wie andere Steuerzahler behandelt werden sollten. Ein Teil der Diskutanten beruft sich auf die Lösungen in den Niederlanden oder in Deutschland11, wo die Prostitution als Beruf anerkannt wird. Frauen, die diesen Beruf ausüben, bezahlen dort Steuern und erhalten vom Staat denselben Schutz und dieselben Leistungsansprüche wie alle anderen Arbeitnehmer. Es haben sich Organisationen und Gewerkschaften der in der Erotikbranche beschäftigten Personen gebildet, und der Beruf selbst ist nicht mehr mit einem so starken gesellschaftlichen Odium belastet. Die Mehrheit der westlichen Staaten sieht allerdings gemäß dem Trend zur „Abolition“ weder eine Legalisierung noch eine Bestrafung von Prostitution vor. Das gilt für die meisten europäischen Länder sowie u. a. für Argentinien, Mexiko, Chile, Uruguay und Indien. 10

Wydział Kryminalny Biura Słuz˙ by Kryminalnej Komendy Głównej Policji, Informacja na temat zjawiska handlu kobietami w Polsce za lata 2000 – 2002, raport niepublikowany. 11 Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz – ProstG) vom 20. 12. 2001.

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Nach Ansicht des ehemaligen Arbeitsministers Michał Boni würde die Legalisierung der Prostitution keine Änderungen im polnischen Arbeitsgesetzbuch erfordern. Sollte die Prostitution aber tatsächlich als Beruf anerkannt werden, hätten Prostituierte ein Anrecht auf Mitgliedschaft in der Sozialversicherung und könnten mit der Zeit Anwartschaften in der Rentenversicherung erwerben. Genauso könnten sie im Fall des Verlusts ihrer Arbeitsstelle Arbeitslosengeld beanspruchen. Das würde mit Sicherheit den Widerspruch eines Großteils der Gesellschaft hervorrufen. Genauso schwer vorstellbar ist eine Situation, in der die Arbeitsämter jungen, wenig qualifizierten Frauen die Anstellung in Bordellen anbieten. Der Staat würde in einem solchem Fall die Funktion eines legalen Zuhälters übernehmen. Man kann sich allerdings bereits gegenwärtig die Frage stellen, ob der Staat in gewissem Sinne so ein Zuhälter ist, wenn er von den als „Gesellschaftsagenturen“ getarnten Bordellen Steuern einfordert. Viele sind der Ansicht, dass dies eine Form der Doppelmoral ist. Die Diskussionen der Öffentlichkeit über die Legalisierung der Bordelle, die sich unter dem Namen „Gesellschaftsagenturen“ verstecken, waren im Jahre 2001 besonders heftig. Proteste der Einwohner, die sich über die lästige Nachbarschaft dieser Lokale beklagten, veranlassten den Ombudsmann für Bürgerrechte, Andrzej Zoll, an den Justizminister heranzutreten. Zoll meinte, die Legalisierung der Bordelle würde es den in der Nachbarschaft wohnenden Menschen erleichtern, ihre Rechte zu verteidigen. Heute würden diese „Gesellschaftsagenturen“ nämlich in Wohnsiedlungen, Wohnblöcken sowie in der Nähe von Schulen und Kirchen eröffnet und es bestünden keine rechtlichen Möglichkeiten, dieser Erscheinung entgegenzuwirken.12 Der Ombudsmann für Bürgerrechte betonte, dass unter dem „fiktiven Kampf“ gegen die Prostitution die Einwohner der Stadtzentren am meisten zu leiden hätten. Auch der damalige Justizminister Lech Kaczyn´ski war ein Befürworter der Legalisierung von Prostitution. Gleichzeitig sprach er sich dafür aus, kriminelle Erscheinungen zu bekämpfen, die mit der Tätigkeit der „Gesellschaftsagenturen“ einhergehen.13 Erwähnenswert ist auch, dass die Experten der Hauptkommandantur der Polizei14 die Legalisierung der Prostitution als eine ernstzunehmende Option ansehen. Denn nach der geltenden Rechtslage hat die Polizei nur wenige Möglichkeiten, gegen die Begleitkriminalität der Prostitution (schwerwiegende Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit, Freiheit sowie Eigentum und Vermögen) vorzugehen. Sie kann allenfalls die Störung der öffentlichen Ordnung, die Beeinträchtigung des Straßenverkehrs oder die Erregung öffentlichen Ärgernisses ahnden. Die niederländische oder deutsche Lösung ist in Polen nicht einfach zu realisieren. Das erste Problem betrifft die in Polen geltende Rechtslage. Beispielsweise erlaubt das niederländische Recht, Gewinne aus der Prostitution zu erzielen. Bordelle 12

276. 13 14

Siehe Sanders/O‘Neill/Pitcher, Prostitution. Sex Work, Policy & Politik, SAGE, 2018, Daniec/Podemski, Polityka 2001, Nr. 3, 24. Oberste zentrale Polizeibehörde in Polen.

Prostitution in Polen

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sind dort registriert mit der Folge, dass Steuern bezahlt werden und die Angestellten Rechte, wie Urlaub und Leistungen der Krankenversicherung, in Anspruch nehmen können. Es ist der Meinung beizupflichten, die in Bezug auf die Prostitution in Polen mit Blick auf die tatsächliche und rechtliche Lage von Heuchelei spricht. Das Betreiben von Bordellen ist illegal; zugleich darf man problemlos sog. „Gesellschaftsagenturen“ oder Massagesalons eröffnen. Diese im Untergrund betriebenen Bordelle ziehen kriminelle Organisationen an, die das Geschäft kontrollieren und daraus die größten Gewinne ziehen. Die Legalisierung der Bordelle würde zunächst eine Änderung des Strafgesetzbuches erfordern. In Art. 204 des polnischen StGB sollte die Vorschrift gestrichen werden, die das Erzielen von Vermögensvorteilen aus der Prostitution anderer und die Erleichterung ihrer Ausübung pönalisiert. Diese gesetzliche Änderung wird jedoch durch die UN-Konvention zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer15 erschwert, die von Polen im Jahre 1952 ratifiziert wurde. Durch den Beitritt zu dieser Konvention hat sich Polen verpflichtet, die Ausnutzung der Prostitution anderer Personen und das Unterhalten oder Leiten eines Bordells unter Strafe zu stellen. Gegner der Legalisierung der Prostitution weisen darauf hin, dass die Kündigung dieses völkerrechtlichen Vertrags die Glaubwürdigkeit Polens bei den Partnerländern untergraben könnte. Darüber hinaus müsste der rechtliche Status der Prostituierten geregelt werden. Es müssten Anpassungen im Arbeitsrecht erfolgen, die den Prostituierten Arbeitnehmerrechte, wie Urlaub, Altersversorgung etc., gewährleisten. Hiervon würde der Staatshaushalt stärker als von der gegenwärtigen Situation profitieren. Winiecki ist hingegen der Ansicht, dass eine eventuelle Legalisierung der Bordelle weniger einen finanziellen als einen gesellschaftlichen Vorteil mit sich bringen würde.16 Jedoch sind bislang keine seriösen ökonomischen Schätzungen bekannt, die die potenziellen wirtschaftlichen Folgen einer solchen Änderung aufzeigen. Wir bewegen uns also im Bereich von Mutmaßungen. Zutreffend erscheint, dass die Änderung, auch wenn man keine Wunder für die polnische Wirtschaft erwarten darf, ein Signal an die Gesellschaft wäre, dass die Prostitution eine zu akzeptierende Erscheinung ist.17 Am wichtigsten aber wäre es, den mit der Prostitution einhergehenden kriminellen Erscheinungen eine Schranke aufzuzeigen. Die Legalisierung dieses Lebens- und Wirtschaftsbereichs würde seine Attraktivität für Kriminelle bedeutend schmälern. Man denke nur an die Effekte, die die Aufhebung der Prohibition, also die Legalisierung des Alkoholverkaufs in den Vereinigten Staaten, mit sich brachte. Umgekehrt hat das Drogenverbot zur Entstehung eines mächtigen Drogenbusiness in den USA und in der ganzen Welt geführt. 15

UN-Konvention zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer vom 2. 12. 1949 (Konwencja w sprawie zwalczania handlu ludz´mi i eksploatacji prostytucji), Dz. U. 1952, Nr. 41, Pos. 278. 16 Gontarz/Szubert, Businessman Magazine 2003, Nr. 8, 38 ff. 17 Pływaczewski (Fn. 2), 54.

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Nicht zuletzt wäre ein Vorteil der Legalisierung der Prostitution, dass infolge der größeren Übereinstimmung zwischen Recht und gesellschaftlicher Wirklichkeit der Respekt für das geltende Recht zunehmen könnte. Auch wenn die Legalisierung der Prostitution viele Probleme lösen würde, ist unverkennbar, dass sie zugleich zur Entstehung neuer Probleme führen könnte. Seitens des Staates müsste ein Kontrollsystem erarbeitet werden, mit dem sich überprüfen lässt, dass in den Bordellen keine Zwangsprostitution stattfindet, sich nicht Kranke oder Kinder prostituieren oder Minderjährige die sexuellen Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Im Gegenzug zu den sozialen Rechten, die Prostituierte gewinnen würden, würde das Problem der Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen Leistungen auftreten. Der Staat würde zwar eine gewisse Kontrolle über diese gesellschaftlich schwierige Gruppe gewinnen, müsste dafür aber einen Teil der Verantwortung für die Frauen und ihre Kunden übernehmen. Das ist ein wichtiges Problem, auch wenn gerade gesundheitliche Aspekte häufig von den Befürwortern der Legalisierung als Argumente benannt werden. Es würde voraussichtlich auch zur deutlichen Aufspaltung der Prostitution kommen. Auf der einen Seite gäbe es konzessionierte Bordelle mit legalen Sex-Arbeiterinnen, auf der anderen Seite Frauen ohne entsprechende Dokumente, vor allem sich in Polen illegal aufhaltende Ausländerinnen, aber auch Frauen, die aus verschiedenen Gründen, wie Alter oder Gesundheitszustand, keine legale Anstellung finden würden. Ihre Situation würde sich im Vergleich zu der gegenwärtigen noch verschlechtern. So müssten sie vermutlich niedrigere Preise anbieten, um gegenüber den legalen Bordellen konkurrenzfähig zu bleiben. Illegale Prostitution würde wahrscheinlich noch stärker mit schwerwiegender Organisierter Kriminalität verbunden sein.

IV. Resümee Wie aus den obigen Überlegungen hervorgeht, ist die rechtliche Regelung des Prostitutionsproblems – dem Anschein zuwider – keine einfache Aufgabe. Es handelt sich nämlich um eine äußerst komplexe Erscheinung, die mit verschiedenen Gebieten des Gesellschaftslebens zusammenhängt. Resümierend sei jedoch angemerkt, dass die Tendenz zur Toleranz und sogar Akzeptanz der Prostitution zunimmt. Dies geschieht nicht nur deswegen, weil es nie gelungen ist, das Phänomen zu eliminieren oder wenigstens wesentlich einzuschränken. Eine größere Rolle spielen hier gewiss die Wandlungen im Wertesystem. In manchen Gesellschaftskreisen wird diese Erscheinung nämlich nicht mehr als ein „notwendiges Übel“ betrachtet, sondern mehr als ein „Lebenskonzept“ oder sogar als ein Beruf. Diese Tendenz ist auch in Kreisen der Gegner einer Legalisierung erkennbar, die zwar die Prostitution als solche nicht moralisch gutheißen, sie aber zugleich – abgesehen von ihren krimi-

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nellen Begleiterscheinungen – als einen Teil des gesellschaftlichen Zusammenlebens sehen.18 Zusammenfassend sollte die heutige Diskussion auf das Problem ausgerichtet werden, wie die Prostitution auf jene Personen beschränkt werden kann, die diesen Beruf nicht aus Not oder Zwang, sondern aus freier Wahl ausüben, was gleichzeitig einen Verzicht auf die illusorische Idee der vollständigen Beseitigung von Prostitution bedeuten würde. Es soll nicht vergessen werden, dass das Problem der Prostitution eine ganze Reihe von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, psychologisch-medizinischen und moralischen Fragen umfasst und dass alle diese Fragen beide Geschlechter betreffen. Zugleich sollten alle Verhaltensweisen, die der Ausbeutung der Prostituierten eigen sind (Förderung der Prostitution Minderjähriger, Zuhälterei und Menschenhandel) einer scharfen Kriminalisierung unterzogen werden, umso mehr, wenn sie im Bereich der Organisierten Kriminalität auftreten. Aus diesem Blickwinkel kann man sich auch nicht der Tatsache verschließen, dass die Prostitution vom sexuellen Missbrauch Minderjähriger beeinflusst wird und dass diesem Einfluss entschieden und effektiv entgegengewirkt werden muss. Die Argumente für die Legalisierung der Prostitution scheinen dagegen begründet zu sein, denn nur eine solche Regelung könnte das Problem für die Polizei sowie die Gesundheitsund Finanzbehörden fassbar machen. Für einen Kriminologen ist dabei ganz klar, dass das Phänomen immer in einem gewissen Grade außerhalb der Öffentlichkeit und staatlicher Kontrolle im Bereich der sozialen Missstände und vor allem im Interessenkreis Organisierter Kriminalität verbleiben wird. Sein Ausmaß wäre jedoch viel geringer als nach der heutigen Rechtslage. Auch wenn die Legalisierung der Prostitution keine ideale Lösung ist, bedeutet sie die Wahl des „kleineren Übels“.19 Der polnische Forensiker Kołecki äußert die Hoffnung, dass wie in anderen Ländern Europas auch in Polen der Zeitpunkt zur Legalisierung der Prostitution gekommen ist. Tatsächlich könnte eine Legalisierung bei der Kontrolle dieser Erscheinung hilfreich sein, insbesondere im Zusammenhang mit bestimmten Formen der Organisierten Kriminalität.20

18 Nach den Pentor-Untersuchungen im Auftrag der Wochenschrift „Wprost“ meinten 50,2 % der Polen, dass die Bordelle legalisiert werden sollten, 39,5 % waren dagegen. 19 Pływaczewski (Fn. 2), 56. 20 Kołecki, Problemy Współczesnej Kryminalistyki, 2008, Bd. 12, 194.

Grundsatz der Unversetzbarkeit von Richtern und Staatsanwälten im türkischen Recht Yener Ünver

I. Einführung Bei der türkischen Diskussion über die Unabhängigkeit der Justiz wird oft über den Begriff der Unversetzbarkeit gesprochen. Dieser besagt, dass ein Richter oder Staatsanwalt nicht ohne sein Einvernehmen an einen anderen Ort versetzt werden kann.1 Art. 55 der türkischen Verfassung von 1924 regelte, dass Richter nur in den gesetzlich festgelegten Verfahren entlassen werden konnten. In Art. 79 des Richtergesetzes von 19342 wurde ausgeführt, dass neben ihrem Beamtenstatus auch ihr Dienstort nicht ohne ihre Zustimmung geändert werden kann. Dies galt selbst dann, wenn die Änderung aufgrund einer Beförderung erfolgen würde. Mit diesem Gesetz wurde allerdings nur den Richtern eine örtliche Garantie gewährt, nicht jedoch den Staatsanwälten. Die türkische Verfassung von 1961 besagte in ihrem Art. 134, dass die vorübergehende oder dauerhafte Versetzung der Dienststelle und auch die Rechte und Pflichten von Richtern gesetzlich geregelt werden können. Mit einer Gesetzesänderung im Jahr 1972 wurde ein Verfahren zur Versetzung von Richtern und Staatsanwälten in bestimmte Regionen des Landes für zulässig erklärt und damit der Grundsatz der Unversetzbarkeit wieder aufgegeben. In der wissenschaftlichen Literatur wird zum Teil festgestellt, dass diese Regelung lediglich positive Aspekte hat. Als einer der Hauptgründe dafür wird der Mangel an Richtern und die Unattraktivität des Richterberufs an sich genannt.3 Diese Meinung ist allerdings zweifelhaft. Wenn es an Richtern und Staatsanwälten mangelt, können in der Türkei, die über eine große Anzahl von juristischen Fakultäten und Absolventen verfügt, auf Wunsch genügend Richter und Staatsanwälte ernannt und diese Lücken geschlossen werden. Entgegen der Meinung einiger Autoren, ist der Richterberuf in der Türkei nach wie vor ein sehr attraktiver und anspruchsvoller Beruf. Darüber hinaus muss klar sein, dass der Grundsatz der Unversetzbarkeit nicht nur für den 1 Özen, Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı ˙Ilkesi Kapsamında Hakimler ve Savcılar Kurulu (Bartın Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü – Yüksek Lisans Tezi), 2017, 60. 2 Mit der Nummer 2556. 3 Vgl. Yenisey/Nuhog˘ lu, Ceza Muhakamesi Hukuku, 9. Aufl. 2021, 249.

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Richter, sondern auch für den Staatsanwalt gelten soll. Für beide Berufe gibt es inzwischen keine derartigen Garantien mehr. Bis 1972 wurde mit dem Richtergesetz der Grundsatz der Unversetzbarkeit für den Richter an ein bestimmtes Dienstalter geknüpft. Nach der Novellierung von 1972 wurde diese Garantie vollständig abgeschafft.4 Heute erfolgen Ernennungen nach der Richtlinie über Berufung und Versetzung nahezu willkürlich. Diese Situation wird in der türkischen Rechtswissenschaft allerdings kaum kritisiert.5

II. Gesetzliche Regelungen Der Grundsatz der Unversetzbarkeit besagt im türkischen Recht grundsätzlich, dass Richter oder Staatsanwälte nicht gegen ihren Willen von ihrem Dienstort an einen anderen Ort versetzt werden können. In der Realität ist das Gegenteil der Fall. Die Praxis zeigt das Fehlen einer derartigen örtlichen Garantie und daraus folgend auch das Fehlen von Unparteilichkeit und Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten. Der Grundsatz der Unversetzbarkeit ist jedoch sehr wichtig, damit Richter bereitwillig, friedlich, fern von subjektiven Gefühlen und fair entscheiden können.6 Eine kurze Information über die Bestimmungen, die in direktem Zusammenhang mit dem Thema stehen und derzeit in Kraft sind, trägt zur Bewertung des Themas dieses Beitrags bei. Gemäß Art. 140 Abs. 2 der türkischen Verfassung üben die Richter ihre Aufgaben in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der richterlichen Unabhängigkeit aus. Wie aber schon angedeutet, gelten diese Regeln nicht für Staatsanwälte. Der Grundsatz der Unversetzbarkeit in Absatz 2 wird durch die folgenden gesetzlichen Bestimmungen und auch der Bestimmung von Art. 159 der türkischen Verfassung wieder vollständig aufgehoben. In Art. 159 wird die Zusammensetzung des Rates der Richter und Staatsanwälte und ihre Befugnisse gegenüber Richtern und Staatsanwälten geregelt. Insbesondere wird diese Institution, die sehr wichtige Entscheidungen über Richter und Staatsanwälte trifft, von der Exekutive abhängig gemacht. Vorsitzender des Ausschusses ist der Justizminister selbst. Der Staatssekretär des Justizministeriums ist ein natürliches Mitglied dieses Rates. Das Exekutivorgan dominiert unmittelbar die Wahl der Mitglieder.

Für Einzelheiten siehe Berkin, ˙IÜHFM 1973, 343 ff. Vgl. Özdemir, Adil Yargılanma Hakkı C¸erçevesinde Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı Hakimler ve Savcılar Hukukuna Yenilik Getiren Hükümler: Noterlik Mevzuatında Ve Hukuki Yargılama Usulünde Deg˘ is¸iklik Yapılan Yeni Kanunlar (Maltepe Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü Yüksek Lisans Tezi), 2020, 105. 6 Erol, TBB Dergisi 2009, 224 ff.; Yolcu, I˙ngiltere’de Kuvvetler Ayrılıg˘ ı ve Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı Alanındaki Gelis¸meler, 2011, 132. 4

5

Unversetzbarkeit von Richtern und Staatsanwälten im türkischen Recht

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Gemäß Art. 140 Abs. 3 der türkischen Verfassung können die Qualifikationen, Ernennungen, Rechte und Pflichten, Gehälter und Zulagen, Beförderungen, vorübergehende oder dauerhafte Änderung der Aufgaben und des Aufgabenortes von Richtern und Staatsanwälten, Disziplinarverfahren gegen sie und die Verhängung von Disziplinarstrafen im Zusammenhang mit ihren Aufgaben oder während ihrer Aufgaben begangener Straftaten oder Fehler, die die Entlassung aus dem Beruf erfordern, Weiterbildung und andere Personalangelegenheiten gemäß den Grundsätzen der richterlichen Unabhängigkeit gesetzlich geregelt werden. Dieser Rat wechselt häufig die Dienstregionen und -städte sowie die Zweigstellen und Büros von Richtern und Staatsanwälten. Gemäß Art. 77 des Gesetzes über Richter und Staatsanwälte können Richter und Staatsanwälte vom Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte vorübergehend vom Dienst suspendiert oder bis zum Abschluss der Ermittlungen vorläufig versetzt werden, wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Fortsetzung der Pflichten des Richters und Staatsanwalts, gegen den ermittelt wird, die Sicherheit der Ermittlungen oder den Einfluss und das Ansehen der Justiz beeinträchtigen würde. Diese Maßnahmen können auch in jedem Stadium der Ermittlungen und der Strafverfolgung ergriffen werden. Wenn man sich diese Regelung aber genau ansieht, stellt man fest, dass insbesondere Absatz 2 sowohl dem Recht auf den gesetzlichen Richter, dem Prinzip des freien Beweises als auch dem Grundsatz der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der Richter widerspricht. Die Prüfungs-, Ernennungs- und Versetzungsverordnung des Justizministeriums vom 10. 7. 2003 mit der Nummer 25164 sieht weitreichende Befugnisse für die Einstellung und Versetzung von Justiz- und Verwaltungsrichtern, Staatsanwälten sowie Richter- und Staatsanwaltsanwärtern vor. Kritisiert wurde, dass der Grundsatz der Unversetzbarkeit für Richter und Staatsanwälte nicht durch Verfassung und Gesetze garantiert ist.7 Denn wie man in der Praxis sieht, erfolgt oftmals eine willkürliche Versetzung. Diese Situation bedeutet ein unfaires Eingreifen in die Justiz. Der Grundsatz der Unversetzbarkeit sollte durch bestimmte Regeln verdeutlicht werden.

III. Lehre und Praxis Die türkische Verfassung hat den Grundsatz der Unversetzbarkeit gesetzlichen Regelungen überlassen, statt ihn selbst zu sichern (Art. 140 Abs. 3). Durch Art. 35 des Gesetzes über Richter und Staatsanwälte wird das ganze Land nach geografischen, wirtschaftlichen, gesundheitlichen, sozialen und kulturellen Aspekten in fünf Regionen eingeteilt. Obwohl beabsichtigt ist, dass Richter und Staatsanwälte nach ihrem Praktikum für bestimmte Zeiträume auch an ihren Ausbildungsorten tätig werden, kann ihr Dienstort vor Ablauf ihrer Amtszeit jederzeit geändert werden. 7

Özen, ABD 2010, 47.

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Die persönlichen und familiären Bedürfnisse des Betroffenen werden bei einer Versetzung nicht berücksichtigt und es wird auch nicht erwartet, dass Ermittlungen und Gerichtsverfahren, die von diesem Richter oder Staatsanwalt bearbeitet werden, noch vor der Versetzung abgeschlossen werden. Es ist anzumerken, dass diese Versetzungen häufig politische Hintergründe haben.8 In der Türkei hat nicht jede Region oder Stadt den gleichen Entwicklungs- und Sicherheitsstand, zudem gibt es zwischen den Regionen und Städten große Unterschiede hinsichtlich Lebensstandard, Wohnkomfort, staatlichen Leistungsmöglichkeiten und familiären Lebensbedingungen. Einige Regionen haben enorme Nachteile. Es ist naheliegend, dass die Möglichkeit einer nahezu willkürlichen Versetzung eine der größten Bedrohungen für die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten darstellt. Dem Richter oder Staatsanwalt droht während seines Dienstes stets die Versetzung in eine andere Region. Im Alltag zeigt sich deutlich, dass Richter und Staatsanwälte aufgrund konkreter Fälle, Disziplinarstrafen oder aus willkürlichen Gründen häufig versetzt und unter Druck gesetzt werden. Es bleibt festzuhalten, dass die Möglichkeit einer Versetzung also auch als eine Drohung genutzt werden kann.9 Es sollte klar sein, dass ein Dienstortwechsel von Richtern und Staatsanwälten alle zwei Jahre nicht vorteilhaft ist. Zudem führt die exzessive Inanspruchnahme dieser Versetzungsmöglichkeit durch das Justizministerium zur Aufhebung des Grundsatzes der Unversetzbarkeit. Die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten sollte vom Rat der Richter und Staatsanwälte vorgenommen werden. Stattdessen schlägt das Justizministerium Ernennungen vor. Diese Praxis sollte aufgegeben werden.10 Wenn der Entwurf vom Justizministerium vorbereitet wird, gibt es keine Objektivität bei den Ernennungen, es wird Druck auf Richter und Staatsanwälte ausgeübt und sie werden daran gehindert, ihre Pflichten unparteiisch und unabhängig zu erfüllen.11 Zudem ist zu beachten, dass die Befugnis des Justizministeriums zur vorübergehenden Ermächtigung von Richtern und Staatsanwälten (Art. 159 Abs. 12 der türkischen Verfassung) den Grundsatz der Unversetzbarkeit von Richtern und Staatsanwälten verletzt und ihre Unparteilichkeit und Unabhängigkeit beeinträchtigt.12 Die 8 Koçaklı, Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı Anlamında Türk Yargı Sisteminde Hesap Verilebilirlik (Kocaeli Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2021, 82. 9 Koçaklı (Fn. 8), 80; Darüber hinaus stellt auch die Entlassung von Richtern vor Ablauf ihrer Amtszeit und ohne rechtskräftiges Urteil im Anschluss an ein Disziplinarverfahren einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens dar. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht dies auch als Anforderung von Art. 6 EMRK, um die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz nicht zu beeinträchtigen; Tezcan, AÜHFD 2016, 3694. 10 Üskül, AÜI˙˙IBFD 1988, 435. 11 Okusal, Tam Bag˘ ımsız Yargı ve Tek Celsede Adalet, 2021, 10; Özbek/Dog˘ an/Bacaksız, Ceza Muhakemesi Hukuku Temel Bilgiler, 11. Aufl. 2020, 386. 12 Emınag˘ aog˘ lu, TBB 2008, 443. Für die entgegengesetzte Ansicht vgl. S¸ims¸ek, 1982 Anayasası’nda Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı ve Yargı Tarafsızlıg˘ ı (Ankara Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2012, 110.

Unversetzbarkeit von Richtern und Staatsanwälten im türkischen Recht

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Kritik, dass die Änderung der Pflichten von Richtern und Staatsanwälten nicht von objektiven Kriterien abhängig ist, ist nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen, da der Kammer- und Händlerrat nicht unabhängig und das Justizministerium ein politisches Organ ist.13 Wenn ein Richter oder Staatsanwalt nur wegen einer Untersuchung an einen anderen Ort umziehen muss, oft willkürlich, wird er die materielle Wahrheit nicht untersuchen.14 Dieses Ergebnis widerspricht dem Zweck der örtlichen Garantie und der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit, die dem Staatsanwalt und dem Richter zugesprochen werden sollte. Es ist problematisch und aus rechtsstaatlicher Sicht möglicherweise sogar falsch, die Ansicht zu vertreten,15 dass es gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen würde, wenn in einer bestimmten Region immer derselbe Richter tätig wäre, weil sich nicht alle Regionen der Türkei auf dem gleichen Entwicklungsstand befinden. Gleiche Bedingungen für Richter und Staatsanwälte zu schaffen, ist die eine Sache. Häufige und willkürliche Amtswechsel sind eine andere Sache. Personal sollte an dem Ort rekrutiert werden, an dem es auch arbeiten soll. Neu eingestellte Richter und Staatsanwälte haben das Recht zu wissen, an welchem Ort und für wie lange sie eingesetzt werden. Die Tatsache, dass der Staat nicht in der Lage ist, einer Gruppe von Richtern oder Staatsanwälten angemessene Lebensbedingungen zu garantieren, rechtfertigt es nicht, einen Richter oder Staatsanwalt zu versetzen, damit dann wenigstens alle Richter und Staatsanwälte mindestens einmal in ihrer Laufbahn denselben schlechten Bedingungen ausgesetzt sind. Die genannte Ansicht versucht, das Problem zu legitimieren, anstatt es zu lösen. Anstatt vorzuschlagen, die wirtschaftlichen und sonstigen Lebensbedingungen im Land zu verbessern, sind einige Autoren der Ansicht, dass es eine Lösung des Problems darstellt, wenn die Versetzung von bestimmten objektiven Kriterien abhängig gemacht wird, die aber wiederum für alle Richter und Staatsanwälte gelten. Dass dieselben Autoren England und Frankreich als Beispiele dafür anführen, dass sie gegen ihren Willen nicht zeitlich unabhängig an einen anderen Ort versetzt werden können, widerspricht ihrem eigenen Lösungsvorschlag.16 Einige Autoren sind außerdem der Ansicht, dass der Richter, der ständig in derselben Stadt oder Region tätig ist, die gesellschaftliche Achtung vor der Justiz verringert. Laut diesen Autoren werden diejenigen, die in einem Verfahren unterliegen, nämlich glauben, dass die Richter und Staatsanwälte unfair gehandelt haben, weil beide Beteiligte schon lange am selben Ort arbeiten und sich daher kennen. Diese 13

Kakilli, Hukuk Devletinde Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı ve 1982 Anayasası (Erciyes Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2010, 65. 14 Kaya, Cumhuriyet Savcısının Etkin Sorus¸turma Yapma Görevi, 2020, 92. 15 Yıldız, Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı I˙lkesi Is¸ıg˘ ında Hâkimin Disiplin Rejimi (Selcuk Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2017, 29. Außerdem vgl. Özcan, Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı ve Hakimlik Teminatları C¸erçevesinde Hakimler ve Savcılar Yüksek Kurulunun Kurulus¸u ve C¸alıs¸ma Esasları (C ¸ ankaya Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2013, 47. 16 Vgl. Özsarıog˘ lu, Türkiye’de Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı ve Hakimlik Teminatı (Karadeniz Teknik Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2011, 52 f.

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Ansicht ist kaum vertretbar. Wichtig ist, dass die Justizorgane ihre Aufgaben in Übereinstimmung mit dem Gesetz erfüllen und korrekte, faire und rechtmäßige Entscheidungen treffen. Natürlich kann jeder, der seinen Fall verliert, auf die Justiz wütend sein. Es können jedoch auch Richter und Staatsanwälte, die ständig ihre Positionen wechseln, die falsche Entscheidung treffen und das Vertrauen der Menschen in der Region oder Stadt in die Justiz erschüttern. Darüber hinaus sind die Erwartungen der unterlegenen Partei an Richter und Staatsanwalt nicht immer gerechtfertigt, sodass dadurch auch ein ständiger Wechsel der Dienstorte von Richtern und Staatsanwälten nicht gerechtfertigt werden kann.17 Auf ähnliche Weise merken einige Autoren an, dass Richter und Staatsanwälte, wenn sie die ganze Zeit in derselben Region arbeiten, Bekanntschaften und Freundschaftsverhältnisse in der örtlichen Gemeinschaft entwickeln. Daraus soll die Gefahr resultieren, dass die Feindseligkeiten gegen Richter und Staatsanwälte aufgrund ihrer Entscheidungen zunehmen und das Ansehen der Justiz abnehmen werde, da dann an der Unparteilichkeit der Richter und Staatsanwälte gezweifelt werde. Da nicht jede Region den gleichen Lebensstandard hat, wird argumentiert, dass die Umsiedlungen zum friedlichen Leben der Richter und Staatsanwälte beitragen werde.18 Aber auch diese Argumentation ist zweifelhaft. Auch Richter und Staatsanwälte sind Menschen und haben ein Familien- und Privatleben. Sie können nicht isoliert von der Gesellschaft leben. Solange Richter und Staatsanwälte korrekte und rechtmäßige Entscheidungen treffen und ihre Pflichten unparteiisch und unabhängig erfüllen, ist es kaum denkbar, dass die erwähnten Probleme auftreten. Selbst wenn sie auftreten, sind sie unbedeutend. Die Meinung, dass das Problem der ungleichen Lebensbedingungen fortbestehen soll und jeder Richter und Staatsanwalt diese Lebensbedingungen wenigstens einmal erleben müsse, um das Prinzip der Gleichbehandlung zu gewährleisten, ist nicht nachvollziehbar. Stattdessen sollten die Lebensbedingungen im Land verbessert und gleiche sozialstaatliche Chancen für alle gewährleistet werden. Darüber hinaus sollten Richter und Staatsanwälte das Recht haben, freiwillig umzuziehen. Familie, Gesundheit, besondere Lebensumstände oder eine Bedrohungslage an dem aktuellen Aufenthaltsort können dies erfordern. Wichtig ist, dass der Dienstort des Richters und des Staatsanwalts nicht gegen seinen Willen verändert werden kann. Auch hier werden sowohl Richter als auch Staatsanwälte geradezu bestraft und die Grundsätze des fairen Verfahrens, der Unparteilichkeit und der Unabhängigkeit missachtet. Dies zeigen auch die konkreten Fälle, die in letzter Zeit im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses standen. Die Vertreter dieser Ansicht ignorieren die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Regionen und ignorieren das 17

Vgl. Kakilli (Fn. 13), 65. S¸ahbaz, Yargı Bag˘ ımsızılıg˘ ı ve Yargıç Güvencesi Açısından Mesleki Sorunlar (Gazi Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2010, 78; Für die gleiche irrtümliche Ansicht siehe Kırmaz, Avrupa Birlig˘ i Sürecinde Türk Anayasasında Hâkimlerin Denetimi ve Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı (Selçuk Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2008, 122; Sever, Hakim Bag˘ ımsızlıg˘ ı ve Savcılık Teminatı (I˙stanbul Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2007, 108. 18

Unversetzbarkeit von Richtern und Staatsanwälten im türkischen Recht

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Hauptproblem, dass die häufig vorgenommenen willkürlichen Versetzungen als eine Bestrafung oder Beeinflussung laufender Verfahren fungieren. Den Verfassern dieser Stellungnahme19 geht es nicht um den rechtmäßigen Ablauf von Ermittlungs- und Gerichtsverfahren und um die Wahrung der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte, sondern um die Ungleichheit zwischen den Richtern und Staatsanwälten, die in Großstädten mit gutem Lebensstandard arbeiten, und den Richtern und Staatsanwälten, die in Orten mit niedrigerem Lebensstandard arbeiten.

IV. Fazit Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass Richter und Staatsanwälte grundsätzlich bis zu ihrer Pensionierung unbefristet ernannt werden sollten. Die Einführung einer Probezeit untergräbt die Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten. Ein Amtswechsel, der die Unabhängigkeit des Amtsinhabers verletzt, sollte unzulässig sein. Lediglich in Ausnahmefällen, wie z. B. aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung, sollte ein Amtswechsel ohne eigenen Antrag des Richters oder Staatsanwalts vorgenommen werden.20 Nur aus triftigen Gründen, wie beispielsweise einer schweren Krankheit oder einem Interessenkonflikt, sollte ein Gerichtsverfahren von dem einen Richter auf einen anderen übertragen werden. Der Entzug eines Verfahrens sollte gesetzlich geregelt sein. Die Behörde, die darüber entscheidet, sollte richterliche Unabhängigkeit haben, der gerichtlichen Überprüfung unterliegen und nicht von den Interessen der Regierung oder Verwaltung beeinflusst werden.21 Wie dargelegt wurde, gilt der Grundsatz der Unversetzbarkeit für Richter und Staatsanwälte in der Türkei nicht. Sowohl Art. 35 des Gesetzes über die Richter und Staatsanwälte als auch Art. 47 der Ernennungs- und Versetzungsverordnung erlauben die unbefristete oder vorübergehende Versetzung von Richtern und Staatsanwälten an eine andere Gerichtsbarkeit als ihren Dienstort. Von dieser Möglichkeit wird häufig Gebrauch gemacht.22 Der Justizminister ist befugt, vorübergehende Einsätze ohne Einholung der Stellungnahme des Rates der Richter und Staatsanwälte aufzuheben.23 Im Einklang mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, der Unparteilichkeit und der Unabhängigkeit sollte der Dienstort nicht ohne die Zustimmung 19

C¸avdar (C ¸ apar), Hukuk Devletinde Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı (Cumhuriyet Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2005, 70. 20 Avrupa Hukuk Yoluyla Demokrasi Komisyonu (Venedig-Kommission), Rapor: Yargı Sisteminin Bag˘ ımsızlıg˘ ı, Strazburg 16. 03. 2010-CDL-D(2010)004, 9, www.venice.coe.int (zuletzt abgerufen am 9. 2. 2022). 21 Avrupa Konseyi Bakanlar Konseyi. Avrupa Bakanlar Komitesi, Hakimlerin Bag˘ ımısızlıg˘ ı, Etkinlig˘ i ve Rolü Hakkında Üye Devletlere Yönelik, R (94) 12 Sayılı Kararı (Takviye Kararının ˙Içerig˘ i, No: 2/f). 22 Ünver, ˙IÜHFM 1988 – 1990, 155, 172. 23 Bayram, Avrupa I˙nsan Hakları Mahkemesi Kararları C¸erçevesinde Türkiye’de Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı ve Tarafsızlıg˘ ının Deg˘ erlendirilmesi (Akdeniz Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2019, 42.

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des Betroffenen geändert werden können, auch wenn er zum Richter oder Staatsanwalt befördert wird. Selbst wenn der Wunsch zur Versetzung besteht, sollte diesem nur stattgegeben werden, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen.24 Es verletzt das Prinzip der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit, wenn Richter und Staatsanwälte unabhängig von ihren Wünschen auf der Grundlage eines sehr weiten Ermessensspielraums anderweitig eingesetzt werden können.25 Der aufgezwungene Wechsel des Dienstortes eines amtierenden Richters und Staatsanwalts verletzt darüber hinaus auch den Grundsatz des fairen Verfahrens. Die Versetzung eines Richters oder Staatsanwalts im Zusammenhang mit anhängigen Fällen oder Ermittlungen ist die Quelle vieler Probleme. Tatsächlich führen häufige Arbeitsplatzwechsel in der Praxis zu der öffentlichen Meinung, dass Richter und Staatsanwälte wegen des von ihnen behandelten Falls oder der von ihnen durchgeführten Ermittlungen bestraft werden.26 Ein Richter oder Staatsanwalt sollte sich nicht ständig Gedanken darüber machen müssen, ob er seinen Dienstort jederzeit wechseln muss.27 Eine wichtige Grundlage und ein Beitrag zur örtlichen Garantie für Richter und Staatsanwälte ist das Recht auf den gesetzlichen Richter. Der Dienstort von Richtern sollte in einem laufenden Verfahren nicht willkürlich geändert werden können. Verbietet man Richtern, die von ihnen behandelten Fälle weiter anzuhören, stellt dies einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen (natürlichen) Richter dar. Dies ist sowohl ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unversetzbarkeit in Bezug auf die Versetzung des mit der Sache befassten Richters an einen anderen Ort oder eine andere Aufgabe als auch gegen das Recht des Angeklagten, vor einem gesetzlichen Richter angehört zu werden.28 Darüber hinaus sollte die örtliche Garantie nicht nur für Richter, sondern auch für Staatsanwälte durch Gesetz und Verfassung garantiert werden. Unparteilichkeit und Unabhängigkeit müssen nicht nur für Richter, sondern auch für Staatsanwälte gewährleistet sein. Für diese sollten sowohl der Rat der Richter als auch der Staatsanwälte aus dem Exekutivorgan entfernt werden und es dem Justizministerium nicht gestattet sein, in die Garantien der Richter und Staatsanwälte von ihrer Ernennung bis zu ihrem Amtswechsel einzugreifen.29

24 Arslan, Hâkimler ve Savcılar Yüksek Kurulu’nun Bag˘ ımsızlıg˘ ı ve Tarafsızlıg˘ ı Bakımından Türk Hukukundaki Yeri (I˙stanbul Kültür Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2015, 122. 25 S¸ims¸ek (Fn. 12), 75. 26 Arslan (Fn. 24), 122. 27 Baykotan, 1982 Anayasası’nda Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı (Dumlupınar Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü), 2015, 42. 28 Aldemir, Hakimlik ve Savcılık Mesleg˘ inin Temel Esasları, 2013, 190 f. 29 Ünver/Hakeri, Ceza Muhakemesi Hukuku, 18. Aufl. 2021, 195 ff. und 216 ff.

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Der Wechsel der Dienstorte von Richtern verstößt häufig auch gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Ein Richter oder Staatsanwalt, der ständig befürchten muss, einer anderen Region oder Stadt oder einem anderen Amt zugewiesen zu werden, wird nicht in der Lage sein, alle Argumente und Beweise sorgfältig abzuwägen. Er wird nicht die Möglichkeit haben, sich frei von Zwängen eine Meinung zu bilden, und er wird nicht in der Lage sein, effizient zu arbeiten. Angst, Ungewissheit und Unsicherheit werden sein Urteilsvermögen und seinen Arbeitsalltag bestimmen.30 Der häufige Wechsel von Richtern und Staatsanwälten während eines laufenden Verfahrens führt selbstredend zu weiteren Problemen. Im besten Fall erfolgt der Wechsel des Staatsanwalts in der Phase zwischen Ermittlung und Klageverfahren. Oftmals müssen aber gerade Richter in Verfahren urteilen, die sie nicht von Anfang an begleitet haben. Ebenso ziehen die Staatsanwälte Schlussfolgerungen aus den Ermittlungsverfahren, die von einem anderen Staatsanwalt durchgeführt wurden, und Richter schreiben die Begründung für die Entscheidung eines anderen. Die Praxis der Ersatzrichter und -staatsanwälte wird nicht ausgeübt. Bei jedem Richter- und Staatsanwaltswechsel werden die neu berufenen Verfahren dort fortgesetzt, wo sie aufgehört haben, der Prozess wird von einem anderen Richter geschrieben und begründet. Nach Einreichung der Klage nehmen Staatsanwälte am Ende des Prozesses Stellung, obwohl sie aufgrund eines Dienstwechsels nie am Prozess teilgenommen haben. All dies stellt einen Verstoß gegen die Grundsätze des direkten Beweises, der freien Beweiswürdigung, der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten sowie eines fairen Verfahrens dar. Darüber hinaus widerspricht der häufige Wechsel der Dienstorte von Richtern und Staatsanwälten dem Grundsatz der Verfahrensökonomie und dem Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Frist.31 Nicht nur Richter und Staatsanwälte, sondern auch deren Familien leben in ständiger Angst und Unsicherheit, ihren Dienstort zu wechseln, ihre Bildung und ihr soziales Leben werden beeinträchtigt. Oft müssen die Betroffenen mehr als einmal ihren Dienst- und Wohnort wechseln. Dies führt dazu, dass Urteile und Entscheidungen beeinflusst werden, weil befürchtet wird, dass das gegenwärtige Leben des entscheidenden Richters ansonsten durch einen Wechsel des Dienstortes beeinträchtigt wird. Die Entscheidungen des Rates der Richter und Staatsanwälte waren lange Zeit der gerichtlichen Überprüfung entzogen. Gemäß Art. 159 Abs. 10 der türkischen Verfassung kann gegen die Entscheidungen des Ausschusses kein Rechtsmittel bei den Justizbehörden eingelegt werden, es sei denn, es geht um die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis. Obwohl es theoretisch möglich ist, eine Anfechtungsklage gegen die Kündigungsentscheidung vor der Justiz zu erheben, hat diese Anfechtungsklage 30 31

Tas¸, YÜHFD 2021, 1763 (1788). Tas¸, YÜHFD 2021, 1787.

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in der Realität keine Bedeutung, da die Justiz wie oben erwähnt nicht unabhängig und unparteiisch ist und dieses Gremium oder das Justizministerium in die Mitglieder der Justiz eingreift. Wenn Justiz und Exekutive so tun, als wären sie ein und dieselbe Instanz, haben Richter und Staatsanwalt keine Chance, gegen dieses Gremium oder Ministerium erfolgreich zu sein. Die ständige Rotation von Richtern und Staatsanwälten in andere Regionen vom Amtsantritt bis zur Pensionierung beeinträchtigt ihre persönliche und soziale Entwicklung, ihr Familien- und Privatleben sowie ihre Produktivität im Beruf.32 Dabei wird nicht nur die Spezialisierung verhindert, sondern es führt auch dazu, dass besonders die jungen und unerfahrenen Richter ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aufgeben, um nicht in die Gefahr einer Versetzung zu kommen. Der psychische Druck ist dabei enorm. Der Mangel an örtlichen Garantien für Richter und Staatsanwälte führt zu einer Verschlechterung der Qualität der Justiz und zur Entlassung erfahrener Richter und Staatsanwälte, die ihre Pflichten eigentlich gut erfüllen. Auch politischer Druck spielt dabei eine große Rolle.33 Auf lange Sicht würden qualifizierte Richter und Staatsanwälte, die über viel Wissen und Erfahrung verfügen, weiterhin in ihrem Beruf bleiben, wenn der Grundsatz der Unversetzbarkeit beachtet werden würde.34 Es ist nachvollziehbar, dass ein Richter oder Staatsanwalt vorübergehend vom Dienst suspendiert werden soll, wenn eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet wird. Dadurch kann verhindert werden, dass die Untersuchung gegen ihn beeinträchtigt wird. Die Abordnung dieses Richters oder Staatsanwalts in eine andere Region oder Stadt aus demselben Grund verstößt jedoch gegen den Grundsatz der Unversetzbarkeit. Entgegen der Auffassung des Verfassungsgerichtshofes35 verstößt die Anknüpfung örtlicher Garantien an ein Dienstalter gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz, der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Richtern und Staatsanwälten. Diese Garantie sollte allen Richtern und Staatsanwälten zur Verfügung stehen, unabhängig von Karriere oder Alter. Der Grundsatz der Unversetzbarkeit sollte hingegen nur eingeschränkt werden, wenn gesetzliche Gründe vorliegen. Diese sind z. B. die Errichtung neuer Gerichte oder Gerichtszweige aufgrund von Änderungen in der Organisationsstruktur sowie strukturelle Änderungen in Gerichtsorganisationen und rechtskräftige Urteile. In einigen Fällen kann ein Amtswechsel ohne Darlegung von Optionen auch rechtswidrig sein. Über das Vorliegen dieser berechtigten Gründe sollte ein unabhängiges und unparteiisches Justizorgan oder der Oberste Rat der Richter und Staatsanwälte entschei32 Somuncu, Türkiye’de Hukuk Devleti ve Yargı Bag˘ ımsızlıg˘ ı, (Uludag˘ Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü) 2019, 95. 33 Özen (Fn. 1), 61. 34 Arslan (Fn. 24), 123. 35 Vgl. t-VerfG 3. 11. 1966, RG: 13. 4. 1967, Sy: 12572.

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den, dessen Entscheidungen unparteiisch und unabhängig zu treffen sind und welche der gerichtlichen Überprüfung unterliegen. Mit der Verfassungsänderung von 1971 wurden die Befugnisse politischer Organe und der Regierung im Rat der Richter und Staatsanwälte ausgeweitet36 und damit dieses Rechtsstaatverständnis verfestigt. Das Belassen aller Justizmechanismen unter der absoluten Kontrolle des Exekutivorgans durch dieses Gremium und die häufige Einmischung in die Wahl und Entscheidungen dieses Gremiums hat die Unabhängigkeit der Justiz im Land abgeschafft. Bemerkenswert ist, dass sich die türkische Rechtswissenschaft kaum für diese Situation interessiert. Der örtlichen Garantie für Richter und Staatsanwälte wird selbst in den seriösesten Veröffentlichungen keine Bedeutung beigemessen.37 Es ist kaum nachvollziehbar, warum Richter und Staatsanwälte diese Situation nicht ablehnen, obwohl ein großer Teil der strafprozessualen Literatur auf diesen Missstand hinweist.38 Betrachtet man die jüngsten wissenschaftlichen Veröffentlichungen, so ist festzustellen, dass diese Tendenz zu einem Verständnis geworden ist, das sich in der Lehre immer weiter verbreitet. Nur wenige Autoren sind der Meinung, dass das in der Türkei geltende rechtswidrige System immer noch positiv ist. Dennoch begnügen sie sich mit dem Hinweis, dass nur der gelegentliche Gebrauch der vorübergehenden Genehmigungsbefugnis des Justizministers schädliche Folgen haben kann.39 Andere Autoren wiederholen lediglich, ohne dies zu hinterfragen, das Gesetz und die Verfassung und bezeichnen die bisherige Rechtskultur als normal und angemessen.40 Zweifellos ist auch ein Wandel in der türkischen Rechtskultur nötig, um für das richtige Verständnis und die Berücksichtigung dieser zwar theoretisch akzeptierten, aber nicht umgesetzten Garantien zu sorgen. Wenn eine Gesellschaft weit von der in der westlichen Welt vorhandenen Rechtskultur entfernt ist, die Justiz von Korruption betroffen ist, dem Verdienst keine Beachtung geschenkt wird und die Gesellschaft die Regierung nicht auf andere Weise kontrollieren kann, überrascht es nicht, dass diese rechtsstaatlichen Konzepte degenerieren, ausgehöhlt und sogar vergessen werden.41 Die Tatsache, dass die Richter und Staatsanwälte während der laufenden Ermittlungen oder des Prozesses häufig gewechselt werden, die Praxis des Ergänzungsrichters und der Ergänzungsstaatsanwaltschaft fast nie umgesetzt wird und das Verfahren 36

Özkul, ABD 2016, 230. Als Beispiel siehe Ünal-Özkorkut, AÜHFD 2008, 225 ff.; Topuz/Konan, AÜHFD 2017, 763 ff.; Saçar, Hakimlik Teminatı Kurumunun Ortaya C¸ıkıs¸ı, 2017, 534 ff., https://cdn.istan bul.edu.tr/FileHandler2.ashx?f=hakimlik-teminati-kurumunun-ortaya-cikisi_ali-sacar.pdf (zuletzt abgerufen am 12. 12. 2022); ˙Is¸ten, JSS 2014, 285 ff. 38 Gökçen/Balci/Alas¸ahin/C ¸ akir, Ceza Muhakemesi Hukuku, 5. Aufl. 2021, 164 ff.; S¸ahin/ Göktürk, Ceza Muhakemesi Hukuku I, 12. Aufl. 2021, 216 ff.; Öztürk (Hrsg.), Ana Hatlarıyla Ceza Muhakemesi Hukuku, 7. Aufl. 2020, 132 ff.; Eryılmaz, Ceza Muhakemesi Hukuku Dersleri, 2012. 39 Özbek/Dog˘ an/Bacaksız (Fn. 11), 386. 40 Bıçak, Ceza Muhakemesi Hukuku, 4. Aufl. 2018, 207 ff. 41 Für den gleichen Ansatz siehe ˙Is¸ten, JSS 2014, 285 ff. 37

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nach der Ernennung eines neuen Richters und Staatsanwalts und des vorherigen Richters nicht wiederholt wird oder der Staatsanwalt dort weitermacht, wo der vorherige aufgehört hat, kann nur zu Rechtswidrigkeit des Verfahrens führen. Es ist kaum vertretbar, dass türkische Rechtsgelehrte, Presseorgane, Abgeordnete, politische Parteien, Exekutivorgane und Bürokraten diese Situation durch ihr Schweigen hinnehmen. Hier sollte unverzüglich ein Wandel stattfinden.

Der Rechtshimmel über Berlin Das Strafverfahren gegen Hans Detlef Tiede und Ingrid Ruske vor dem United States Court for Berlin Sascha Ziemann Jan C. Joerden setzt sich seit langer Zeit mit Fragen des Verhältnisses von Recht und Politik auseinander. Der Verfasser darf daher hoffen, mit der nachfolgenden Studie zu einem Berliner Kriminalfall aus der Zeit des Kalten Krieges, die dem Jubilar herzlich zugeignet ist, auf Interesse zu stoßen und eine alte Frage in neuer Gestalt zu behandeln. Ad multos annos!

I. Willkommen im freien West-Berlin Begeben wir uns auf eine Reise in die Vergangenheit. Wir befinden uns im Jahr 1978, es ist der 30. August. Steigen wir in ein in den Flug 165 der polnischen Fluggesellschaft LOT auf ihrem Flug von Gdan´sk (Danzig) nach Ost-Berlin. Die Linienmaschine vom Typ Tupolew 134 ist auf den Landeanflug auf den Ostberliner Flughafen Schönefeld, als – so der Spiegel – der Flugzeugentführer Hans Detlef Tiede, ein 34-jähriger Kellner aus Ost-Berlin, „im Vorderteil der Maschine eine Stewardeß vom Sitz zerrt. Er setzt ihr eine (…) 80 Jahre alte (…) Gas- und Schreckschußpistole, Typ Mondial, an den Kopf. Dann fordert Tiede in polnischer Sprache Kursänderung und Landung auf dem West-Berliner Militärflughafen Tempelhof.“1 Die Landung gelingt. Der Entführer verlässt das Flugzeug mit erhobenen Händen und wird von bewaffneten Militärpolizisten in Empfang genommen; einer von ihnen begrüßt ihn mit den Worten „Willkommen im freien West-Berlin!“.2 Hans Detlef Tiede3 lässt sich widerstandlos festnehmen: er ist in Freiheit – ebenso wie seine Begleitung, Ingrid Ruske4, eine langjährige Bekannte, und deren 12-jährige Tochter Sabine. Und mit ihnen weitere Passagiere, DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die jetzt ent1

Nach Der Spiegel 21/1979 v. 20. 5. 1979. Der Spiegel (Fn. 1). 3 Hans Detlef Alexander Tiede hatte schon mehrere Male vergebens bei den DDR-Behörden einen Ausreiseantrag gestellt. Zu Tiede siehe Stern, Ein Richter für Berlin, 1985, 12 ff. Tiedes eigene Erinnerungen dokumentiert Hüttl, Ein Flugzeugentführer als Held. Vergessene Gesichter (8/8): Alexander Tiede. Deutschlandfunk Kultur, 17. 1. 2010. 4 Zu Ingrid Ruske und ihrer Tochter Sabine siehe Stern (Fn. 3), 16 ff. 2

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scheiden müssen, ob sie die unverhoffte Chance zur Flucht nutzen oder in ihre Heimat zurückkehren wollen.5 Die gewitzten Berliner haben schnell einen Namen für diese Flugzeugentführungen von polnischen LOT-Maschinen gefunden. „Landet ooch in Tempelhof“.6 Die Flugzeugentführung war eine Spontantat, nachdem sich Pläne einer Flucht über die Fähre von Danzig nach Travemünde zerschlagen hatten. Einen wesentlichen Beitrag zur Flucht sollte dabei Ruskes westdeutscher Lebenspartner Horst Fischer leisten, der als Bauleiter in der DDR tätig war. Dieser sollte falsche Ausreisepapiere besorgen und Ruske und ihren langjährigen Bekannten Tiede in Danzig treffen, um gemeinsam die Fähre nach Travemünde zu besteigen. Nachdem Tiede, Ruske und Tochter Sabine vier Tage vergebens gewartet hatten, änderten sie ihren Fluchtplan und erstanden auf einem Flohmarkt in Danzig eine alte Mondial-Starterpistole und bestiegen die Tupolew in Richtung Berlin-Schönefeld. Was sie nicht wussten: Das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) hatte sie schon seit 1976 überwacht7 und hatte Fischer an der polnischen Grenze verhaftet. In einem Gerichtsverfahren vor einem Gericht in Ost-Berlin wurde er einen Tag nach der Entlassung Tiedes als „Komplize skrupelloser Luftpiraten“ wegen Fluchthilfe und Menschenhandel zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.8

5

Außer Tiede, Ruske und Sabine bleiben weitere sechs DDR-Bürger im Westen. Die übrigen Passagiere kehrten zurück in ihre Heimat und musste sich dort den Fragen der Stasi stellen (hierzu Laske, der Freitag v. 8. 8. 2008). In der DDR versuchte man die Details der Flucht unter der Decke zu halten. „Neues Deutschland“ meldete, dass das DDR-Außenministerium beim Senat in Berlin gegen „die schikanöse Behandlung der mit dieser Maschine reisenden DDR-Bürger und ihr widerrechtliches Festhalten in Westberlin“ (Neues Deutschland v. 31. 8. 1979, zit. nach Forch, ZaöRV 40 [1980], 760 [672 Fn. 5]). Zugleich wurden seitens der DDR große Anstrengungen unternommen, um die im Westen verbliebenen Landeskinder zur Rückkehr zu bewegen. Im Rahmen des Maßnahmenplans „Rückkehr“ entsandte man u. a. den Vater einer im Westen verbliebenden DDR-Bürgerin nach Berlin. Ein interessanter Bericht mit Erinnerungen von Insassinnen der Tupolew, darunter von Ruske und eine Rückkehrerin in die DDR, findet sich bei Scheuermann, Der Spiegel 20/2010 v. 16. 5. 2010, S. 39. 6 Eine erfolgreiche Flugzeugentführung einer polnischen LOT-Maschine nach Berlin hatte es zehn Jahre zuvor gegeben, als im Jahre 1969 zwei Ostberliner die LOT-Maschine zur Landung auf dem Flughafen Tegel im französischen Sektor gebracht hatten. Die Entführer wurden durch ein französisches Militärgericht zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt (dazu von Mangoldt, ZaöRV 30 [1970], 528; Hsueh, Luftpiraterie. § 316c StGB, 1993, 1 f.). Es gab wiederholt Flugzeugentführungen in den Westen, u. a. von der Tschechoslowakei nach Nürnberg (zu zwei Fällen von 1970 und 1972 siehe Hsueh, a. a. O., 2 f.). 7 Operativ-Vorgang „Fähre“, siehe Hildebrandt, in: Glajar et al. (Hrsg.), Cold War Spy Stories from Eastern Europe, 2019, 229 (231). 8 Vgl. Der Tagesspiegel v. 30. 5. 1979. Horst Fischer wurde 1980 von der Bundesrepublik freigekauft. Kurz darauf heirateten er und Ruske. Zum Häftlingsfreikauf aus der DDR siehe nur Wölbern, Der Häftlingsfreikauf aus der DDR, 1962/63 – 1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, 2014.

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II. Ein amerikanisches Gericht für Berlin Die Entführung der LOT-Maschine durch Hans Detlef Tiede konnte nicht ohne Folgen bleiben. Zwar handelte es sich um eine weitere geglückte Flucht von DDR-Bürgern in den Westen, denen die Bundesrepublik das Recht zugestand, Bundesbürger zu werden, doch war eine polnische Linienmaschine entführt und die Besatzung bedroht worden. Hinzu kam, dass die Gemeinschaft der Staaten (unter Einschluss beider politischen Blöcke) einige Jahre zuvor mehrere völkerrechtliche Abkommen zur stärkeren Bekämpfung der Luftpiraterie beschlossen hatte.9 Die Situation war also schwierig für die Bundesrepublik, zumal der systemische Rivale aus dem Osten vor dem Hintergrund des Prinzips der Gegenseitigkeit die Umsetzung des Abkommens mit Argusaugen verfolgte.10 Hinzu kam, dass sowohl die DDR als auch Polen die Auslieferung der Täter beantragt hatten. Um politische Verwicklungen im deutsch-deutschen Verhältnis zu vermeiden, trat die Bonner Bundesregierung an die USA mit dem Wunsch heran, das Verfahren vor einem amerikanischen Gericht durchzuführen.11 Die USA willigten ein und entzogen den deutschen Gerich-

9 Übereinkommen zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen v. 16. 12. 1970, sog. Haager Übereinkommen, dazu Hsueh (Fn. 6), 19 ff.; umgesetzt durch Gesetz zu dem Übereinkommen vom 16. Dezember 1970 zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen v. 6. 11. 1972, BGBl. II 1972, S. 1505; Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt v. 23. 9. 1971, sog. Montrealer Übereinkommen, dazu Hsueh, a. a. O., 21 f.; umgesetzt durch Gesetz zu dem Übereinkommen vom 23. September 1971 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt v. 8. 12. 1977, BGBl. II 1977, S. 1229. Die Übereinkommen verpflichteten die Vertragsstaaten zu umfangreichen Maßnahmen zur Bekämpfung von Flugzeugentführungen. Hierzu gehörten u. a. die Schaffung eines gesonderten Straftatbestands für den Angriff auf den Luftverkehr (§ 316c StGB, eingeführt durch das 11. StÄG v. 16. 12. 1971 – zur Entstehungsgeschichte siehe Wieck/Noodt, in: Joecks/Miebach [Hrsg.], MK-StGB, 4. Aufl. 2022, § 316c Rn. 4 ff.) und die Gewährleistung einer weltweiten, tatortunabhängigen Verfolgung über das Weltrechtsprinzip (§ 6 Nr. 3 StGB). Hintergrund des Übereinkommens waren gehäufte Flugzeugentführungen und die damit verbundene Gefährdung der Sicherheit des Flugverkehrs und der Insassen. So waren allein im Jahre 1969 85 Flugzeuge entführt worden (Vowinckel, in: Romijn et al. [Hrsg.], Divided Dreamworlds? The Cultural Cold War in East and West, 2012, 181 [192]). Aus bundesdeutscher Sicht hat sich vor allem die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ durch palästinensische Terroristen im Jahr 1977 in das kollektive Gedächtnis gebrannt. Zur Geschichte der internationalen Bemühungen zur Bekämpfung von Flugzeugentführungen siehe Hsueh, a. a. O., 15 ff.; siehe auch Jescheck, GA 1981, 49 (65 f.). 10 Der Rivale aus dem Osten schickte eigene Prozessbeobachter und ließ vor den Toren des Flughafens sowjetische Soldaten patrouillieren. Eine heikle Situation ergab sich insb. bei der Vernehmung der polnischen Besatzung, die unter den wachsamen Augen des im Gerichtssaal sitzenden Warschauer Generalstaatsanwalts erfolgte. Die Besatzung hatte insb. zu befürchten, dass ihre mögliche Sympathie mit dem Flugzeugentführer bekannt würde. Hierzu Stern (Fn. 3), 318 ff. 11 Stern (Fn. 3), 40.

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ten daraufhin das Verfahren12 – im Gegenzug übernahm die Bundesrepublik alle Verfahrenskosten.13 Die rechtliche Grundlage des sodann gegen Tiede und seine Begleiterin Ruske eingeleiteten Strafverfahrens14 war ein Relikt des amerikanischen Besatzungsrechts für Berlin.15 Nach Gesetz Nr. 7 von 1950 konnte der amerikanische Stadtkommandant in besonderen Fällen das Verfahren von deutschen Gerichten an sich ziehen und einem amerikanischen Gericht zur Verhandlung überweisen.16 Als Spruchkörper diente der erstmals einberufene United States Court for Berlin, ein amerikanisches Gericht auf deutschem Boden, das 1955 nach Abschaffung der Besatzungsgerichte

12 Andrew M. Surena (US-Bundesstaatsanwalt für Berlin), Schreiben an den West-Berliner Justizsenator Meyer v. 1. 11. 1978, US v. Tiede. Bd. III (Court Papers, Vol. III), S. 257 (engl.), S. 258 (dt.). 13 Allein die Errichtung des provisorischen Gerichtssaals in den Räumlichkeiten des Tempelhofer Militärflughafens verschlang 100.000 DM. Richter Stern wurde zu jedem Verhandlungstermin mit einem Erste-Klasse-Flug aus den USA eingeflogen, und alle Verfahrensbeteiligten logierten in West-Berliner Luxushotels. 14 US vs. Tiede: criminal case no. 78 – 001 and criminal case no. 78 – 001 A. Das Verfahren wurde unter zwei Aktenzeichen geführt: 78 – 001 (gegen Tiede) und 78 – 001 A (gegen Ruske). Eine Kopie der Gerichtsakte befindet sich im Bestand der Bibliothek des Fachbereichs Rechtswissenschaft der FU Berlin. Der Aktenbestand besteht aus insgesamt 12 gebundenen Bänden, davon 3 Bände Gerichtsakten (Court Papers, Bd. I–III) und 9 Bände Verhandlungsprotokolle (Transcript of Proceedings, Bd. IV–XII). Sie entstammen ausweislich des auf dem Deckblatt enthaltenen Besitzstempels ursprünglich dem Bestand des Instituts für internationales und ausländisches Recht der FU Berlin, dem seinerzeit Ulrich Weber (1934 – 2013) angehörte, der im Verfahren als juristischer Sachverständiger („expert witness“, „expert consultant“) mitgewirkt hatte. Weitere Bestände gibt es im Stasi-Unterlagen-Archiv, Bundesarchiv; siehe hierzu Hildebrandt (Fn. 7), 229. Zum Tiede-Verfahren siehe vor allem Stern, Judgment in Berlin, 1984 (dt. Fassung: Ein Richter für Berlin, 1985); ein Neudruck des amerikanischen Originals mit einem Vorwort des Verfassers erschien jüngst 2021 (ders., Judgment in Berlin: The True Story of a Plane Hijacking, a Cold War Trial, and the American Judge Who Fought for Justice, 2021); Weber, FG von Lübtow 80, 1980, 751; Fletcher, The Grammar of Criminal Law, Bd. 2, 2019, 274 ff.; ders., Advanced Introduction to Landmark Criminal Cases, 2021, 56 ff. (Fall 4); ders., My Life in Seven Languages. A Linguistic Memoir, 2011, 40 ff.; Forch (Fn. 5); Hildebrandt (Fn. 7); Gordon, International Lawyer, 297 (316 ff.); Schoner, Air and Space Law 6 (1981), 43; Katz, Bad Acts and Guilty Minds: Conundrums of the Criminal Law, 1987, 36 ff.; Pyle, Extradition, Politics, and Human Rights, 2001, 184 ff. (Kap. 14); Cover, Yale L.J. 95 (1985 – 1986), 1601 (1619 ff.); für eine kurze Übersicht siehe auch Rath, Legal Tribune Online v. 2. 9. 2018, www.lto.de/persistent/a_id/30689/ (zuletzt abgerufen am 16. 3. 2022). 15 Gesetz Nr. 7 der Alliierten Kommandantur vom 17. März 1950 betr. die Gerichtsbarkeit auf den vorbehaltenen Gebieten, ABl. AKB Nr. 2 (1950), S. 11; Verordnungsblatt für GroßBerlin 1950 I, S. 89. Dazu Weber (Fn. 14), 756 ff. 16 Voraussetzung war gem. Art. 7 Abs. 1 Gesetz Nr. 7, dass die Sache „eine der Personen oder Angelegenheiten, die in den Geltungsbereich von Absatz 2 der Grundsatzerklärung über die Beziehungen zwischen der Alliierten Kommandantur und Groß-Berlin fallen, unmittelbar berührt.“ (im Orig. Engl., Übers. d. Verf.).

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im Rest der Bundesrepublik in West-Berlin erhalten geblieben war.17 Es war zuständig „für alle Straftaten, die unter im amerikanischen Sektor von Berlin geltende Rechtsvorschriften“ fielen.18 Verhandlungsort war der Flughafen Tempelhof, in dessen Räumlichkeiten in Windeseile und auf Kosten der Bundesrepublik ein Gerichtssaal und Büros für die Angestellten errichtet worden waren.

III. Ein deutsch-amerikanisches Gerichtsdrama Das Gericht agierte auf Grundlage des amerikanischen Prozessrechts und orientierte sich im Kern an den Federal Rules of Criminal Procedure.19 Der Vorsitzende Richter berief sogar – gegen alle Widerstände des amerikanischen Außenministeriums – ein Geschworenengericht („jury“) nach amerikanischem Vorbild ein, bestehend aus zwölf West-Berliner Geschworenen.20 Grundlage aus Sicht des materiellen Strafrechts bildete hingegen das bundesdeutsche Strafrecht, da der Tatort im westdeutschen Luftraum lag (§ 3 in Verbindung mit § 9 StGB).21 Die Anklageschrift („information“) der amerikanischen Staatsanwaltschaft gegen Tiede enthielt fünf Anklagepunkte („counts“), darunter einen Angriff auf den Luftverkehr (§ 316c StGB), Geiselnahme (§ 239b StGB), Freiheitsberaubung (§ 239 StGB), Körperverletzung (§ 223 StGB) und einen Verstoß gegen das Waffengesetz.22 Die Anklage gegen Ruske wegen Mittäterschaft wurde später fallengelassen, da es keine hinreichenden Belege für ihre Beteiligung an der Entführung gab und Ruskes Aussagen außerdem unter Missachtung von zwingenden Belehrungspflichten zustande gekommen waren.23 17 Grundlage bildete das Gesetz Nr. 46 des Hohen Kommissars der Vereinigten Staaten vom 28. April 1955, ABl. AKB Nr. 71 (1955), S. 1056. 18 Art. 3 Abs. 1 Gesetz Nr. 46 (Fn. 17). 19 „Rules for Criminal Procedure for the United States Court for Berlin“, US v. Tiede. Bd. I (Court Papers, Vol. I), S. 2 ff. (in Geltung gesetzt durch Richter Bonsal, vgl. a. a. O., S. 1). Dazu Weber (Fn. 14), 758 ff. 20 Die Jury, bestehend aus sieben Frauen und fünf Männern, war in einem aufwendigen Verfahren aus 2000 Bürgerinnen und Bürgern der sechs Stadtbezirke des amerikanischen Sektors ausgewählt worden. 21 Vgl. Weber (Fn. 14), 754 f. mit weiteren Hinweisen auf die Anwendung des Weltrechtsprinzips gemäß § 6 Nrn. 3, 9 StGB. 22 Anklageschrift („information“) gegen Tiede v. 15. 1. 1979 (US v. Tiede. Bd. I [Court Papers, Vol. 1] S. 80 ff.). Der Vorwurf eines Verstoßes gegen das Waffengesetz wurde später fallengelassen. Nicht nur, weil die von Tiede geführte Mondial-Starterpistole keine Projektile abfeuern konnte, sondern auch, weil Richter Stern sein Befremden über die andauernde Verbindlichkeit des Waffengesetzes in der Fassung von 1938, eines „Nazigesetzes“, geäußert hatte. Hierzu Stern (Fn. 3), 390 ff.; siehe auch Verhandlung v. 22. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. XI (Transcr. of Proc.), Vol. 13, S. 2533 ff. 23 „Judgment and order of dismissal with prejudice“ (dt.: Urteil und Anordnung der rechtskräftigen Entlassung) gegen Ruske v. 11. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. III (Court Papers, Vol. III), S. 98.

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Da es einerseits um amerikanisches Strafprozessrecht und andererseits um deutsches Strafrecht ging, waren auf Anklage- und Verteidigungsseite amerikanische und deutsche Juristinnen und Juristen beteiligt.24 Der Richter, der Gerichtsschreiber und die Staatsanwälte wurden durch den US-Botschafter in der BRD ernannt, dem die Aufgaben des ehemaligen Hohen Kommissars übertragen worden waren. Alle weiteren Mitarbeiter, etwa das Gerichtspersonal, z. B. Dolmetscher für die Simultanübersetzung, die Protokollanten des Wortprotokolls, wurden durch das Gericht ernannt. Die Anklage vertraten Andre M. Surena25 als US-Bundesstaatsanwalt für Berlin („United States Attorney for Berlin“) und Roger M. Adelman26 als stellvertretender US-Bundesstaatsanwalt für Berlin („Special Assistant United States Attorney for Berlin“). Ihnen assistierten von deutscher Seite – als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft („Assistant Prosecuting Officers“) – die Berliner Oberstaatsanwältin Gisela Wolf und Regierungsdirektorin Marianne Fischer aus dem Berliner Justizsenat. Die Verteidigung von Tiede hatten die US-amerikanischen Spitzenanwälte27 Judah Best28 und Kenneth L. Adams29 und der Berliner Rechtsanwalt Dietrich Herrmann30 übernommen. Das Verteidigungsteam von Ruske bestand aus den Amerikanern Bernard Hellring31 und Richard D. Shapiro32 sowie dem Berliner Anwalt Ulrich E. Biel33.

24 Die Washington Post spricht von einem „all-star cast“ (Auerbach, Washington Post v. 27. 1. 1979). 25 Andre M. Surena (1946 – 2017), damals Rechtsberater der US-Botschaft in West-Berlin. Zu ihm Stern (Fn. 3), 61 f. 26 Roger M. Adelman (1941 – 2015), damals stellvertretender US-Bundesstaatsanwalt (Assistant U.S. Attorney) für den District of Columbia (Washington D.C.). Zu ihm Stern (Fn. 3), 63. 27 Über die Verteidiger heißt es in der Washington Post: „crack defense attorneys that few Americans or Germans could afford“ (Auerbach, Washington Post v. 27. 1. 1979). 28 Judah Best (geb. 1932), Rechtsanwalt aus Washington D.C. Best hatte u. a. in einem spektakulären Fall den Vizepräsidenten der USA und früheren Gouverneur von Maryland, Spiro Agnew, in einen Korruptionsverfahren verteidigt. Zu ihm Stern (Fn. 3), 84. 29 Kenneth L. Adams, damals (und noch heute) Rechtsanwalt aus Washington D.C. 30 Dietrich Herrmann († 2009), damals Rechtsanwalt aus Berlin. 31 Bernard Hellring (1916 – 1991), damals Rechtsanwalt aus New Jersey und Sohn österreichischer Einwanderer; er hatte einst in einem von Stern geleiteten Verfahren den Bürgermeister von Newark gegen den Vorwurf der Korruption verteidigt. Zu ihm Stern (Fn. 3), 84 f.; Sterling, The Famous, the Familiar and the Forgotten: 350 Notable Newarkers, 2014, 66. 32 Richard D. Shapiro († 2011), damals Rechtsanwalt aus New Jersey und Partner im Büro von Hellring, zuvor für die Bundesstaatsanwaltschaft tätig. Zu ihm Stern (Fn. 3), 85. 33 Ulrich E. Biel (1907 – 1996), eigentlich: Ulrich Bielschowsky. B. war damals Rechtsanwalt und Vorsitzender des Rechtsausschusses des Westberliner Abgeordnetenhauses. Zu ihm siehe Otto, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2011, 2011, 285.

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Auch das Gericht um den jungen Vorsitzenden Richter Herbert Jay Stern34, einem Bundesrichter aus New Jersey, hatte sich die Unterstützung eines deutschen Mitarbeiters aus den Reihen des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht gesichert (Thomas Weigend35). Als Gerichtsassistent („Clerk“) fungierte Bruno A. Ristau36 aus dem US-Justizministerium, die Sicherung der öffentlichen Ordnung vor Ort oblag Gerichtsmarshall Stephen N. Rabourn („Clerk Marshal“), seines Zeichens stellvertretender Sicherheitsberater der amerikanischen Besatzungsmacht in West-Berlin.

IV. Richter Stern stellt sich quer Entgegen der Absicht des US-Außenministeriums war das Verfahren kein Selbstläufer. Richard D. Shapiro, Verteidiger von Ruske, erinnert sich: „Es sollte eine einfache Lösung geben, die so aussehen sollte: Die Beschuldigten werden verurteilt, gehen ins Gefängnis und die Alliierten können sagen: ,Wir haben gemacht, was die Welt von uns erwartet.‘“37 Einer der Gründe dafür, dass die Strategie des US-Außenministeriums nicht aufging, war Richter Stern, der sich entgegen der Erwartung offizieller Stellen nicht von oben sagen lassen wollte, wie er zu entscheiden hat. Folge hiervon war eine durchgängige Auseinandersetzung zwischen Gericht und Anklagevertretung.

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Herbert Jay Stern (geb. 1936), Bundesrichter (federal judge) am U.S. District Court von New Jersey. In der Anfangsphase des Verfahrens hatten zuvor Dudley B. Bonsal und Leo M. Goodman kurzzeitig den Vorsitz geführt, sich jedoch nach kurzer Zeit wieder zurückgezogen. Die Wahl Sterns erfolgte, wie wir aus dessen Erinnerungen erfahren, auf Vorschlag von Bruno A. Ristau aus dem US-Justizministerium (dazu Stern [Fn. 3], 67 ff.). Vor seiner Bundesrichterlaufbahn hatte sich Stern einen großen Namen als engagierter Staatsanwalt im Kampf gegen die Mafia in New Jersey gemacht. Eine Biografie von 1973 über ihn trägt den Titel „Tiger in the Court“ (Hoffman, Tiger in the Court. Herbert J. Stern: the U.S. Attorney who Prosecuted 8 Mayors, 2 Secretaries of State, 2 State Treasurers, 2 Powerful Political Bosses, 1 U.S. Congressman … and 64 Other Public Officials, 1973). Stern quittierte später den Richterdienst und wurde Rechtsanwalt. 35 Thomas Weigend (geb. 1949), damals Referent für US-Strafrecht am Freiburger MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, später Lehrstuhlinhaber an der Universität zu Köln. Weigend wurde empfohlen durch den Prof. Gerhard Casper von der Universität Chicago (s. Stern [Fn. 3], 254). 36 Bruno A. Ristau (1929 – 2017), Leiter der Abteilung für Auswärtige Rechtsfälle (Office of Foreign Litigation) im US-Justizministerium. Ristau, der Stern aus einem gemeinsamen Verfahren in New Jersey kannte, hatte diesen als Vorsitzenden Richter vorgeschlagen. Über Ristau siehe Stern (Fn. 3), 66 f. 37 Weinhold, www.mdr.de/geschichte/ddr/kalter-krieg/flugzeugentfuehrung-danzig-berlinflucht-ddr-100.html (zuletzt abgerufen am 16. 3. 2022).

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1. Ein Gericht der Eroberer? Ein erster Schlagabtausch ergab sich im Zusammenhang mit den Entscheidungsbefugnissen des Gerichts. Die Staatsanwaltschaft vertrat die Ansicht, dass die Jurisdiktion vor dem United States Court for Berlin Teil des Besatzungsrechts war und damit die Sache weniger eine juristische als vielmehr eine politische Frage darstellte. In einem Memorandum der Staatsanwaltschaft, das zugleich die vorgegebene Linie des US-Außenministeriums zum Ausdruck brachte, heißt es dazu: „Wie in diesem Memorandum bereits erwähnt wurde, ist Berlin eine besetzte Stadt. Sie ist kein Territorium der Vereinigten Staaten. Die Anwesenheit der Vereinigten Staaten dort ist das Ergebnis einer Eroberung, nicht der Zustimmung der Regierten.“38 Dies sollte die Folge haben, dass das Gericht, dem Richter Stern vorsaß, keine unabhängige Einrichtung, sondern ein „Werkzeug“ der Besatzungspolitik der USA39 sein sollte. Ein Affront gegenüber dem Bundesrichter aus New Jersey40, der in den USA auf Lebenszeit ernannt war und umfassende richterliche Unabhängigkeit genoss. Die Auseinandersetzung brachte Richter Stern eins ums andere Mal zur Weißglut. Anschaulich bringt dies folgender Wortwechsel im Gerichtssaal zwischen Richter Stern und Staatsanwalt Surena zum Ausdruck: Stern: „Mit anderen Worten, der Gerichtshof muss die Weisungen des Staatssekretärs befolgen? (…)“ Surena: „Das Gericht kann nicht über die Beschränkungen hinausgehen, die das Außenministerium dem Gericht auferlegt. Das soll nicht heißen, dass das Außenministerium dem Gericht ausdrücklich Weisungen erteilt.“ Stern: „Woran erkenne ich, dass Sie sich einerseits mit mir streiten und andererseits mir etwas erzählen? (…)“ Surena: „(…) Im Lichte unseres Memorandums (…) und (…) unserer anderen Eingaben in dieser Angelegenheit scheint es mir, dass die Vereinigten Staaten die rechtlichen und politischen Erwägungen, die in diesem Verfahren gelten, deutlich gemacht haben.“ Stern: „Wenn ich Ihren Standpunkt richtig verstehe, habe ich also nichts zu entscheiden. Ich habe nur zu gehorchen?“41

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Memorandum (der Staatsanwaltschaft) in Opposition to Defendants’ Motion Regarding the Application of the Constitution of the United States to these Proceedings (dt. Memorandum gegen den Antrag der Verteidigung auf Anwendung der US-Verfassung im vorliegenden Verfahren) v. 6. 3. 1979, US v. Tiede. Bd. II (Court Papers Vol. II), S. 223 (250), im Orig. Engl., Übers. d. Verf. Zu diesem Memorandum siehe Stern (Fn. 3), 129 ff. 39 Memorandum der Staatsanwaltschaft v. 6. 3. 1979 (Fn. 38), S. 232 („significant instrument of its [des US-Governments, Erg. d. Verf.] occupation of Germany“). 40 Die Unabhängigkeit des auf Lebenszeit ernannten Bundesrichters (federal judge) wurde durch Art. III der US-Verfassung garantiert. 41 Verhandlung v. 13. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. V (Transcr. of Proc.), Vol. 1, S. 66, im Orig. Engl., Übers. d. Verf.

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Richter Stern fühlte sich sogar an die Situation der NS-Richter erinnert.42 Er erinnert sich: „Als Jurist und Richter hatte er nie begriffen, (…) wie insbesondere die Richter des Dritten Reiches sich selbst so erniedrigen konnten, daß sie an Gerichten mitwirkten, die Urteile auf höheren Befehl fällten. (…) Jetzt begriff er. Die ,anderen‘ Richter und Juristen hatten geglaubt, ,sich zur Verfügung stellen‘ zu müssen (…).“43 2. Das Recht auf ein Jury-Verfahren Ein prozessualer Kulminationspunkt des Streits zwischen Vorsitzendem und Anklagevertretung im Vorverfahren bildete die Anwendbarkeit des Rechts auf ein JuryVerfahren, das nach amerikanischer Tradition ein Kernelement des Strafverfahrens war und zudem durch die US-Verfassung garantiert wurde.44 Anklagevertretung und US-Außenministerium traten einem verfassungsrechtlichen Recht auf ein Jury-Verfahren entgegen. Für sie folgte aus dem politischen Charakter des Gerichts, dass die Garantie von Beschuldigtenrechten allein im Ermessen des US-Außenministeriums stand: „Einem Angeklagten, der vor dem Gericht der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin angeklagt ist, werden bestimmte Rechte gewährt, die in der Verfassung verankert sind, aber er erhält diese Rechte nicht kraft der Verfassung selbst, (…) sondern weil der Außenminister die Entscheidung getroffen hat, dass diese bestimmten Rechte gewährt werden sollten.“45

Richter Stern hielt dagegen. Er vertrat die Ansicht, dass die Beschuldigten vor seinem Gericht ein verfassungsmäßig verbrieftes Recht auf ein Jury-Verfahren hatten. In einem spektakulären historisch und rechtlich ausführlich begründeten Beschluss46 bejahte er, wie angedeutet gegen alle Widerstände, die Anwendbarkeit der US-Verfassung und das Bestehen eines Rechts auf ein Jury-Verfahren.47 42 Ein besonderer Umstand war in diesem Zusammenhang die jüdische Herkunft von Richter Stern. Diese hatte ihn auch zunächst zweifeln lassen, nach Deutschland zu reisen und den Gerichtsvorsitz zu übernehmen (Stern, [Fn. 3], 71 ff.). 43 Stern (Fn. 3), 126. 44 Grundlage bildeten Art. III § 2 cl. 3 und Zusatzartikel 6 der US-Verfassung (allgemein Beaucamp, Einführung in das Verfassungsrecht der USA, 2021, Rn. 135 ff.). Speziell zum USverfassungsrechtlichen Recht auf Jury-Verfahren im vorliegenden Fall siehe McCauliff, Notre Dame Law Review 55 (1980), 682 (695 ff.). 45 Memorandum der Staatsanwaltschaft v. 6. 3. 1979, a. a. O., US v. Tiede. Bd. II (Court Papers Vol. II), S. 224, im Orig. Engl., Übers. d. Verf. 46 Entscheidung Richter Stern v. 14. 3. 1979: US v. Tiede 86 F.R.D. 227 (U.S. Court for Berlin 1979); auch abgedruckt in: International Legal Materials 19 (Jan. 1980), S. 179 – 207. 47 Die Frage der extraterritorialen Anwendbarkeit der US-Verfassung hat die amerikanische Rechtsprechung verschiedentlich beschäftigt. Große Bedeutung hatte insb. die restriktive Rspr. des U.S. Supreme Court zu den US-amerikanischen Überseegebieten (z. B. Puerto Rico) in den sog. Insular cases. Folge ist z. B. bis heute für Puerto Rico, dass dessen Bewohner, obwohl sie amerikanische Staatsbürger sind, nicht den Präsidenten wählen dürfen, solange sie nicht im Hauptstaatsgebiet leben. Zum Ganzen siehe McCauliff (Fn. 44), 682 ff.; Sparrow, The Insular Cases and the Emergence of American Empire, 2006.

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„Daher ist dieser Gerichtshof der Ansicht, dass diesen Angeklagten die gleichen verfassungsmäßigen Rechte gewährt werden sollten, die die Vereinigten Staaten ihren eigenen Staatsangehörigen gewähren müssten, wenn sie vor diesen Gerichtshof gebracht würden.“48 [Die Gegenansicht hätte, so Richter Stern weiter,] „dramatische Folgen nicht nur für die beiden Angeklagten, die die Vereinigten Staaten vor dem Gericht anklagen wollen, sondern für jede Person innerhalb der territorialen Grenzen des US-Sektors von Berlin.“49 „Wenn sich die Besatzungsbehörden vor diesem Gericht nicht an die Verfassung halten, halten sie sich überhaupt nicht an die Verfassung. Und wenn die Besatzungsbehörden frei von allen verfassungsmäßigen Beschränkungen handeln können, hat niemand im amerikanischen Sektor von Berlin irgendeinen Schutz vor ihrem ungehinderten Ermessen.“50

3. Ein Präzedenzfall aus „Alice im Wunderland“ Auch die Verteidigung nutzte die Bühne, die sich ihr bot, um ihren Standpunkt gegenüber der Staatsanwaltschaft deutlich zu machen. Besonders eindrucksvoll geriet die Stellungnahme von Bernard Hellring, die in Sterns Erinnerungen präzise beschrieben ist und auch Eingang in die Hollywood-Verfilmung des Stoffs gefunden hat (mit dem großartigen Sam Wannamaker als Hellring). Bernard Hellring, ein 63-jähriger Anwalt aus New Jersey, wurde seinem Ruf, einen Hang zur Theatralik51 zu haben, eindrucksvoll gerecht. Stern beschreibt seinen Auftritt wie folgt: „Dann wandte Hellring sich plötzlich um und lächelte den Richter freundlich an. ,Ich habe nur ein einziges Präzedens für diese Position ausfindig machen können. Es handelt sich um eine ausländische Autorität und um einen ausländischen Präzedenzfall. Der in Rede stehende ausländische Gerichtsbezirk ist als ,Alice im Wunderland‘ bekannt. Darin kam ein Rechtsfall ,Katze gegen Maus‘ zur Verhandlung.‘ Die Zuhörer fingen an zu kichern. Selbst der Richter wandte sich ab, um ein Lächeln zu verbergen. Um die Rechts-,Position‘ des State Department ins Lächerliche zu ziehen, folgte Hellring der Tradition des anglo-amerikanischen Rechts, Präzedenzfalle zu zitieren. Er zog eine kleine Karteikarte aus der Tasche und trug in singendem Tonfall sein Präzedens vor: ,Die Katze Wut traf die Maus auf der Treppe im Haus und sprach ,Setz dich hin, ich mach dir den Prozeß. Komm, ziere dich nicht, ich will halten Gericht, und zwar schnell, weil ich es sonst wieder vergeß.‘ Sprach die Maus: ,Gut und schön, doch Ihr werdet schon sehn, ohne Richter und Jury kommt dabei nichts heraus.‘ ,Ich zeuge, ich richt‘, sprach der listige Wicht, ,erst mach ich das Urteil und dann dir den Garaus.‘ 48 Entscheidung Richter Stern v. 14. 3. 1979 (Fn. 46), S. 204 (Abschn. IV.F.), im Orig. Engl., Übers. d. Verf. 49 Entscheidung Richter Stern v. 14. 3. 1979 (Fn. 46), S. 188 (Abschn. III), im Orig. Engl., Übers. d. Verf. 50 Entscheidung Richter Stern v. 14. 3. 1979, a. a. O. 51 Zum Einsatz theatralischer Mittel im amerikanischen Jury-Verfahren siehe aus Praxissicht Wright, How to Use Courtroom Drama to Win Cases, 1987.

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,Das‘, erklärte Hellring, indem er von seiner Karte aufblickte, zum Gerichtssaal in Berlin gewandt, ,ist der einzige Präzedenzfall für den Staat, der Zustand, der nach Darstellung dieser Anklagevertreter in diesem Gericht und im amerikanischen Sektor von West-Berlin herrscht.‘ Die Zuhörer brachen in lautes Gelächter aus. Sogar die gefrorenen Gesichter der polnischen und ostdeutschen Beobachter heiterten sich auf.“52

V. Der Kampf um die Gunst der Geschworenen Im Hauptverfahren, das am 15. März 1979 mit den Eröffnungsvorträgen (Opening Statements) begann, standen sich, wie amerikanischen Strafverfahren üblich, Anklage und Verteidigung gegenüber.53 Da es eine Jury bestehend aus zwölf Westberliner Geschworenen gab, die nach Abschluss der Beweisaufnahme über Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu entscheiden hatte54, kam den beiden Parteien im Prozess die Aufgabe zu, die Geschworenen von ihrer Einschätzung der Ergebnisse der Beweisaufnahme zu überzeugen.55 Der Abschluss dieser Bemühungen erfolgte durch die Schlussplädoyers (summation) von Anklage und Verteidigung am 23. Mai 1979. Dem Richter kam im Jury-Verfahren dem gegenüber allein die Aufgabe zu, die Einhaltung der prozessualen Regeln durch die beiden Parteien zu überwachen (etwa die Zulässigkeit der von den Parteien vorgebrachten Beweismittel) und nach der Jury-Entscheidung über die Rechtsfolgen zu entscheiden.56 Da sich die Jury aus juristischen Laien zusammensetzte, war der Richter zusätzlich dazu berufen, die Geschworenen über die anzuwendenden Rechtsvorschriften und die Grundsätze der durchzuführenden Beweiswürdigung zu informieren.57 Die Geschworenen waren

52 Stern (Fn. 3), 132 (die Schreibweise von „Po-si-tion“ entstammt dem Original und gibt Hinweis auf Hellrings Wortbetonung); Hellring zitiert Carroll, Alice im Wunderland, Übers. d. Christian Enzensberger, 1973 (Orig. 1865). Siehe auch Verhandlung v. 13. 3. 1979, US v. Tiede. Bd. V (Transcr. of Proc.), Vol. 1, S. 31 f. 53 Über den Ablauf des Verfahrens informiert das Verhandlungsprotokoll (Transcript of Proceedings“). Siehe US v. Tiede. Bd. IV–XII (Transcr. of Proc.). Zum amerikanischen Strafverfahren siehe die Darstellung bei Herrmann, in: Jung (Hrsg.), Der Strafprozeß im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen. Frankreich, Österreich, Schweiz, UdSSR, USA, 1990, 133. 54 Zur Funktion der Jury im amerikanischen Strafverfahren siehe Herrmann (Fn. 53), 137 f. Die Zuständigkeit der Jury für die Schuldfeststellung war ungewohnt für deutsche Ohren, nachdem in Deutschland die Geschworenengerichte durch die EmmingerVO im Jahre 1924 abgeschafft worden waren (zur Laienbeteiligung im Strafverfahren siehe nur Eser, in: Kroeschell [Hrsg.], Vom nationalen zum transnationalen Recht. Symposion der rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Städtischen Universität Osaka, 1995, 161). 55 Herrmann (Fn. 53), 152 ff. 56 Herrmann (Fn. 53), 154 f. 57 Herrmann (Fn. 53), 138.

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allerdings an diese Rechtsbelehrung nicht gebunden; sie konnten abweichen und die Schuldfrage anhand eigener Wertmaßstäbe entscheiden.58 Eines der Felder, auf denen Anklage und Verteidigung sich eine erbitterte Auseinandersetzung lieferten, war die materiell-strafrechtliche Bewertung des Geschehens und hier vor allem die Frage, ob und inwieweit die guten Motive des Angeklagten – die Flucht aus der DDR – genügenden Grund für einen ausnahmsweisen Ausschluss der Strafbarkeit auf Rechtswidrigkeits- oder Schuldebene nach den Grundsätzen des rechtfertigenden oder entschuldigen Notstands (§§ 34, 35 StGB) bieten könnten. Zur Unterstützung ihrer Position bedienten sich die Parteien dabei u. a. juristischer Sachverständiger: von der Verteidigung wurde beispielsweise Prof. George P. Fletcher59 von der University of California in Los Angeles benannt, ein ausgewiesener Kenner des deutschen Strafrechts und Autor eines der meistzitierten Bücher über das US-amerikanische Strafrecht60, die Staatsanwaltschaft benannte Prof. Ulrich Weber61 von der Freien Universität Berlin. Beide Herren erstatteten dem Gericht gewissenhaft Bericht und mussten sich die eine oder andere hartnäckige Nachfrage des Vorsitzenden gefallen lassen.62 Auch haben beide später ihre Erinnerungen an den Prozess zu Papier gebracht.63 Als weiterer Sachverständiger wurde zudem Prof. Herwig Roggemann64 vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin gehört, der das Gericht über die Strafbarkeit des ungesetzlichen Grenzübertritts nach dem DDRStrafrecht (§ 213 DDR-StGB) informierte.

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Herrmann (Fn. 53), 138. Siehe Verhandlung v. 17. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. X (Transcr. of Proc.), Vol. 11, S. 2094 ff.; George P. Fletcher (geb. 1939), zuletzt Professor an der Columbia Law School, gehört seit den 1970er Jahren zu den profiliertesten Experten für internationales und ausländisches Strafrecht in den USA und ist ein großer Kenner des deutschen Strafrechts. 60 Fletcher, Rethinking Criminal Law, 1978. Zu diesem Werk siehe nur die Beiträge im Jubiläumsband der Zeitschrift Tulsa Law Review 39 (2003), No. 4. 61 Siehe Verhandlung v. 17. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. X (Transcr. of Proc.), Vol. 11, S. 2120 ff. Über Ulrich Weber (1934 – 2013) siehe Hilgendorf, JZ 2014, 135. 62 Dies gilt im Besonderen für Prof. Weber, als dieser große Zweifel an der generellen Kompetenz von Laienrichtern zur Vornahme von Interessenabwägungen im Rahmen von § 34 und § 35 StGB äußerte und damit auf großen Unmut von Richter Stern stieß. Der Disput findet sich bei: Verhandlung v. 17. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. X (Transcr. of Proc.), Vol. 11, S. 2145 ff.; beide haben ihre Positionen später wiederholt (vgl. Stern, [Fn. 3], 362 ff.; Weber [Fn. 14], 764 f.). 63 Siehe die Nw. in Fn. 14. 64 Siehe Verhandlung v. 17. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. XI (Transc. of Proc.), Vol. 12, S. 2203 ff. Herwig Roggemann (geb. 1935) hat sich in einem Zeitungsartikel über das Verfahren geäußert (vgl. Roggemann, Der Tagesspiegel v. 31. 5. 1979). 59

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1. Die Anklage Wie im amerikanischen Strafverfahren üblich begann zunächst die Staatsanwaltschaft mit ihrem Schlussplädoyer.65 Sie forderte eine Verurteilung in allen Punkten und vier Jahre Haft.66 Den Anfang machte Marianne Fischer aus dem Berliner Justizsenat. Sie hatte die Gesetze des Schlussplädoyers eines Jury-Verfahrens verinnerlicht und wandte sich persönlich und auf Deutsch an die Westberliner Jury: „Meine Damen und Herren Geschworenen, ich (…) bin ebenfalls Berlinerin (…). Wie Sie erkenne ich auch die Bedeutung, die ein gerechtes Urteil in diesem Fall für Berlin, für das Gemeinwesen haben wird, das Sie hier vertreten. (…) Ich hoffe, Ihnen beweisen zu können, daß der Fall ein gerechtes Urteil erfordert, und das bedeutet, daß der Angeklagte, Detlef Tiede, schuldig befunden werden muß (…).“67 [Im Mittelpunkt stand die Frage:] „Wer hat Herrn Tiede das Recht gegeben, das Leben und die Gesundheit eines einzigen Passagiers in diesem Flugzeug zu gefährden? Nichts gibt ihm dieses Recht. Nichts entschuldigt ihn.“68

2. Die Verteidigung Auch die Verteidigung suchte die persönliche Ansprache. Der Berliner Verteidiger Herrmann etwa appellierte an die deutsch-deutsche Solidarität: „Sie befinden sich hier in Deutschland, in Berlin. Der Angeklagte ist Deutscher. Ich bin Deutscher. Wir müssen versuchen, zu einem nicht nur für die Amerikaner, sondern auch für Deutsche erträglichen Resultat zu gelangen.“69 Die amerikanischen Anwälte und Best bemühten sich, den Fall in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Es ging, wie Bernard Hellring ausführte, um einen „Freiheitsfall“. „Freiheit ist der Rechtfertigungsgrund, Freiheitsverweigerung ist der Schuldausschließungsgrund.“70 Und Judah Best fragte: „Was ist recht? Was durfte man vernünftigerweise von einem Manne erwarten, dem Verhaftung und Freiheitsentzug aufgrund eines Gesetzes drohten, das eine unerträgliche Schande ist und von einem Land erlassen wurde, in dem nur der sich seines Lebens freuen darf, der 65 Schlussplädoyer („summation“) der Anklage v. 23. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. XI (Transcr. of Proc.), Vol. 14, S. 2673 ff.; dazu Stern (Fn. 3), 394 ff. 66 Das von der Staatsanwaltschaft vorgelegte Angebot einer kurzen Freiheitsstrafe mit Aussicht auf vorzeitige Entlassung im Gegenzug zu einem Schuldeingeständnis („guilty plea“) hatte der Angeklagte abgelehnt. 67 Schlussplädoyer („summation“) Fischer (für die Anklage) v. 23. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. XI (Transcr. of Proc.), Vol. 14, S. 2673, im Orig. Englisch, Übers. nach Stern (Fn. 3), S. 394. 68 Schlussplädoyer Fischer (für die Anklage) am 23. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. XI (Transcr. of Proc.), Vol. 14, S. 2673 (2678), im Orig. Engl., Übers. d. Verf. 69 Schlussplädoyer Herrmann (für die Verteidigung) v. 23. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. XI (Transcr. of Proc.), Vol. 14, S. 2702 (2703), im Orig. Engl., Übers. d. Verf.; dazu Stern (Fn. 3), 397 f. 70 Schlussplädoyer Hellring (für die Verteidigung) v. 23. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. XI (Transcr. of Proc.), Vol. 14, S. 2718 (2718), im Orig. Engl., Übers. nach Stern (Fn. 3), 398.

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sich der Partei unterordnet? Und schließlich – es ist dies die gleiche Frage, nur anders formuliert: Was hätten Sie in dieser Situation gemacht und hätten Sie sich anders verhalten als Herr Tiede?“71

Best schloss mit den Worten: „Heißen Sie ihn wahrhaft willkommen im freien West-Berlin, indem sie ihn nicht schuldig befinden!“72 3. Das Gericht Den Abschluss des Hauptverfahrens bildete am 25. Mai 1979 die Rechtsbelehrung gegenüber den Geschworenen durch das Gericht.73 Nach einer einführenden Erinnerung der Geschworenen an ihre Aufgabe, die Tatsachen „ohne Rücksicht auf Vorurteil, Mitleid, Angst oder Sympathie“ festzustellen74 und sodann „über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu entscheiden“75, erläuterte Richter Stern den Geschworenen in zweistündigen Ausführungen die vorzunehmende strafrechtliche Würdigung des Geschehens am Maßstab des dreistufigen Verbrechensaufbaus. Besondere Beachtung fanden die Voraussetzungen des rechtfertigenden (§ 34 StGB) und entschuldigenden Notstands (§ 35 StGB) und der vorzunehmenden Abwägung.76 Sie müssen, sagte Stern, „die widerstreitenden Interessen gegeneinander abwägen“, sie „müssen das Interesse des Angeklagten an der Vermeidung einer Freiheitsentziehung auf der einen Seite gegen das Interesse der Passagiere und Besatzung an einem sicheren Flug auf der anderen Seite gegeneinander abwägen.“77 Dabei gebe es allerdings keine „verbindlichen Maßstäbe“. „Die Interessen, die Sie zu bewerten haben, sind nicht in Kilogramm und nicht in Milimetern zu messen. Wenn unterschiedliche Interessen in Widerstreit geraten, und wenn es notwendig wird, sie gegeneinander abzuwägen und miteinander in Übereinstimmung zu bringen, dann können die richtigen Maßstäbe nirgendwo anders gefunden werden als im Urteil der örtlichen Gemeinschaft, die Sie als zufällig ausgewählte Repräsentanten vertreten. Das bedeutet nicht, dass alle Mitglieder dieser Gemeinschaft übereinstimmen müssen, oder dass man eine allgemeine Meinungsumfrage durchführen müsste, um zum richtigen Ergebnis zu gelangen. 71

Schlussplädoyer Best (für die Verteidigung) v. 23. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. XI (Transcr. of Proc.), Vol. 14, S. 2757 (2769), im Orig. Engl., Übers. nach Stern (Fn. 3), S. 404. 72 Schlussplädoyer Best (Fn. 71), S. 2770, im Orig. Engl., Übers. nach Stern (Fn. 3), S. 404 (Orig.: „Make your verdict of not guilty the true welcome to Detlef Tiede to this free city of Berlin.“). 73 Rechtsbelehrung für die Jury durch Richter Stern v. 25. 5. 1979 (nicht veröffentlicht, aber Teil der Akten [US v. Tiede. Bd. XII [Transcr. of Proc.], Vol. 18, nach S. 3091]). Der Text besteht aus zwei Teilen mit unterschiedlicher Paginierung: eine römisch paginierte Vorbemerkung (S. I–XX) und die eigentliche Rechtsbelehrung, die arabisch paginiert ist (S. 1 – 28). Die im Original ausgeschriebenen deutschen Umlaute und Sonderzeichen wurden zur besseren Verständlichkeit aufgelöst. 74 Rechtsbelehrung (Fn. 73), S. II. 75 Rechtsbelehrung (Fn. 73), S. I. 76 Rechtsbelehrung (Fn. 73), S. 12 ff. (zu § 34 StGB), S. 21 ff. (zu § 35 StGB). 77 Rechtsbelehrung (Fn. 73), S. 16 f.

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Sie müssen nicht so abstimmen, wie Sie glauben, dass andere denken. Was von jedem von Ihnen verlangt ist, ist das bestmögliche Urteil (…).“78

4. Die Jury Nach zweitägiger Beratung hinter verschlossenen Türen wurde die Entscheidung der Jury („verdict“) verkündet: „nicht schuldig“ („not guilty“) hinsichtlich des Angriffs auf den Luftverkehr (§ 316c StGB), Körperverletzung (§ 223 StGB) und Freiheitsberaubung (§ 239 StGB), „schuldig“ („guilty“) hingegen hinsichtlich der Geiselnahme an der Flugbegleiterin (§ 239b StGB).79 Da die Beratungen der Geschworenen nicht öffentlich erfolgten und der Schuldspruch – der amerikanischen Verfahrensordnung folgend – nicht begründet worden war, bleiben die entscheidungsleitenden Überlegungen der Geschworenen im Dunkeln. Der Schuldspruch ist jedoch offensichtlich ein Kompromiss, da es nicht ohne Weiteres einleuchtet, die für den Freispruch von drei Anklagepunkten (§§ 316c, 223, 239 StGB) leitenden Gründe nicht auch für den vierten Anklagepunkt (§ 239b StGB) zur Anwendung zu bringen. Zugleich war es, wie es in einer Stellungnahme aus den USA heißt, das „Vorrecht einer Jury, inkonsistent zu sein“.80

VI. Freiheitsverweigerung als Rechtfertigungsoder Entschuldigungsgrund? Wie ist die Jury-Entscheidung strafrechtlich einzuordnen? Lässt sich das Verhalten als Rechtfertigung oder Entschuldigung deuten? In der Literatur ist diese Frage meist am Rande bearbeitet worden. Die einzige ausführlichere strafrechtsdogmatische Würdigung des Falls stammt aus der Feder von Ulrich Weber, der als juristischer Sachverständiger am Verfahren teilgenommen hat.81 Er spricht sich sowohl gegen eine Rechtfertigung nach § 34 StGB als auch gegen eine Entschuldigung nach § 35 StGB aus82 und macht auch keinen Hehl aus seiner (schon im Verfahren klar geäußerten) Skepsis gegenüber der rechtlichen Beurteilung durch Laienrichter83.

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Rechtsbelehrung (Fn. 73), S. 27. Das schmucklose, vom Obmann der Jury angekreuzte Spruchblatt („Verdict Sheet“) der Jury findet sich in den Akten: US v. Tiede. Bd. III (Court Papers Vol. 3), S. 169. 80 So treffend Katz (Fn. 14), 38: „The verdict was obviously the product of compromise. But it’s the jury’s prerogative to be inconsistent“. 81 Siehe Weber (Fn. 14). 82 Weber (Fn. 14), 766 ff. (gegen § 34 StGB), 770 ff. (gegen § 35 StGB). 83 Weber (Fn. 14), 764 f. („Ohne Überheblichkeit muß gesagt werden, daß Laienrichter jedenfalls dann überfordert sind, wenn sie über schwierige Notstandsfragen nach §§ 34 und 35 StGB zu befinden haben“, S. 764). 79

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1. Rechtfertigung nach § 34 StGB Eine Rechtfertigung wegen rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB wird mit Recht mehrheitlich abgelehnt84. Zwar lässt sich die Verweigerung einer Ausreiseerlaubnis durch die DDR-Behörden als „gegenwärtige Gefahr“ für die Freiheit von Tiede und damit als eine Notstandslage ansehen.85 Auch war die Gefahr für Tiede „nicht anders abwendbar“ nach § 34 S. 1 StGB, nachdem die geplante Flucht auf dem Seeweg aufgeflogen war und eine Festnahme durch die Polizei drohte. Allerdings ist bei der im Rahmen der Notstandshandlung vorzunehmenden Interessenabwägung genauer zu untersuchen, ob die gegenüber Tiede drohenden Freiheitsbeschränkungen eine derartige Schwere haben, dass sie die Rechte von Passagieren und Besatzung auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit wesentlich überwiegen. Mit Blick auf die Höchstpersönlichkeit der beeinträchtigten und gefährdeten Rechtsgüter von Passagieren und Besatzung wird man eine derartige Schwere wohl erst dann annehmen können, wenn diese über die allgemeine, (fast) alle DDR-Bürgerinnen und -Bürger gleichermaßen betreffende Unfreiheit in der DDR hinausgehen86, indem zum Beispiel massive Freiheitsentziehungen oder Gewaltanwendungen zu erwarten sind.87 Auch wenn eine solche Situation in unserem Fall durchaus anzunehmen sein könnte, da Tiede aufgrund des misslungenen Fluchtversuchs über den Seeweg eine Bestrafung wegen ungesetzlichen Grenzübertritts nach § 213 DDR-StGB erwartet hatte88, könnte einer Rechtfertigung gleichwohl am Ende die fehlende Angemessenheit nach § 34 S. 2 StGB entgegenstehen. Die vereinzelt als überflüssig89 angesehene Klausel erlangt ihre „eigenständige Bedeutung“ dadurch, dass sie trotz eines etwaigen wesentlichen Überwiegens des vom Täter verfolgten Interesses

84 Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB für möglich haltend: König, in: G. Cirener et al. (Hrsg.), LK-StGB, 13. Aufl. 2021, § 316c Rn. 45; ähnlich Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 316c Rn. 13. Ablehnend gegenüber einer Rechtfertigung in Fällen der Flucht aus einem Unrechtsregime: Weber (Fn. 14), 766 ff. (solange keine konkrete Freiheitsgefährdung); Wille, Die Verfolgung strafbarer Handlungen an Bord von Schiffen und Luftfahrzeugen, 1974, 234 f.; Wieck-Noodt, MK-StGB, § 316c Rn. 40; Renzikowski, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), StGB, 2. Aufl. 2020, § 316c Rn. 17; Esser, in: AnwKomm, 3. Aufl. 2020, § 316c Rn. 25. 85 Richtig Weber (Fn. 14), 766. 86 Zum Ausschluss des Rückgriffs auf § 34 StGB „zum Zwecke der Reduzierung des allgemeinen Lebensrisikos“, der auch unter dem Stichwort „Sozialnot“ diskutiert wird, siehe Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 40. 87 Ähnlich Weber (Fn. 14), 766 f.; siehe auch König, LK-StGB, § 316c Rn. 45: möglich, wenn „einzige Möglichkeit (…), schwerwiegenden Willkürmaßnahmen eines totalitären Unrechtsregimes zu entkommen“; ggf. minder schwerer Fall bei notstandsähnlicher Lage, Rn. 46. Anders mag dies beispielsweise für die Begehung von Urkundendelikten, etwa das Herstellen von falschen Papieren, zu beurteilen sein (ebenso Weber, a. a. O., 767). 88 Weber (Fn. 14), 767, 753. 89 Etwa Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 34 Rn. 46.

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„aus Gründen der Gesamtrechtsordnung“90 anordnet, eine in dieser Weise unangemessene Notstandshandlung nicht durchzuführen. Ein solcher Unangemessenheitsgrund könnte hier zum Beispiel die von der Anklage und in der Literatur auch von Weber ins Feld geführte „Signalwirkung“ einer etwaigen Rechtfertigung sein. Es wäre nämlich, so Weber, für die Sicherheit des Flugverkehrs ein „unter generalpräventiven Gesichtspunkten (…) unerträgliches Ergebnis, wenn künftig von der Rechtmäßigkeit von Flugzeugentführungen im Stile Tiede ausgegangen werden könnte.“91 2. Entschuldigung nach § 35 StGB Anders könnte die Lage im Hinblick auf eine Entschuldigung wegen entschuldigenden Notstands nach § 35 StGB zu beurteilen sein, die in der Literatur gelegentlich für möglich gehalten wird.92 Da sich, wie dargestellt, die Flugzeugentführung als einziges ernstzunehmendes Mittel zur eigenen Rettung darstellt (siehe oben) und nach § 35 Abs. 1 S. 1 StGB gerade kein wesentliches Überwiegen des zu schützenden Interesses gegenüber dem beeinträchtigten Interesse vorausgesetzt wird, kommt es entscheidend darauf an, ob eine Entschuldigung eventuell gem. § 35 Abs. 1 S. 2 StGB ausgeschlossen ist, da dem Notstandstäter in der konkreten Situation zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen. Für den vorliegenden Fall könnte als Gefahrtragungspflicht zunächst der im Gesetz explizit angeführte Aspekt der Selbstverursachung der Gefahr93 in Betracht kommen. Dieser dürfte allerdings nicht durchdringen, wenn man mit der h. M. fordert, dass nicht schon jede Verursachung ausreichend ist, sondern eine qualifizierte, etwa pflichtwidrige Verursachung der Gefahr zu verlangen ist.94 Letzteres dürfte für den zuvor missglückten Fluchtversuch schwer zu

90 So z. B. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl. 1996, 363 Fn. 43; für eine eigenständige Bedeutung votiert auch Neumann, NK-StGB, § 34 Rn. 117; Joerden, GA 1991, 411. Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers des wenige Jahre zuvor in Kraft getretenen § 34 StGB, durch die Angemessenheitsklausel das Verhalten des Notstandstäters auch an „den anerkannten Wertvorstellungen der Allgemeinheit“ zu messen, um „eine sachgemäße und dem Recht entsprechende Lösung der Konfliktslage“ zu finden. Vgl. Begr. des E 1962, BT-Drucks. IV/650, S. 63 (159) (zu § 39 E 1962, dem späteren § 34 StGB). 91 Weber (Fn. 14), 769. 92 Eine Entschuldigung nach § 35 StGB halten für möglich: M/R-Renzikowski, StGB, § 316c Rn. 17; Wille (Fn. 84), 235; ablehnend Weber (Fn. 14), 770 ff.; Wieck-Noodt, MKStGB, § 316c Rn. 40 (aber ggf. minder schwerer Fall nach § 316c Abs. 2 StGB); Esser, AnwKomm, § 316c Rn. 25 (nur ggf. minder schwerer Fall). In der Rspr. lehnte einmal das LG Hamburg eine Entschuldigung somalischer Piraten nach § 35 StGB ab – trotz der gerichtlichen Feststellung „verheerende(r) Lebensumstände[n] in Somalia mit der damit verbundenen Dauergefahr, irgendwann Opfer von Gewalt, Hunger oder Krankheit“ zu werden: LG Hamburg, BeckRS 2013, 7408 (V.4.e). 93 Hierzu Weber (Fn. 14), 770. 94 Neumann, NK-StGB, § 35 Rn. 34.

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begründen sein, zumal dieser nach damaliger bundesdeutscher Rechtsauffassung rechtmäßig war.95 Ein weiterer Umstand, der es dem Notstandstäter zumutbar machen könnte, die Gefahr hinzunehmen, also etwa eine Freiheitsentziehung zu tragen und von der Flugzeugentführung abzusehen, könnte sich aus einem gravierenden Missverhältnis der kollidierenden Interessen des Täters auf der einen Seite und von Besatzung und Passagieren auf der anderen Seite ergeben.96 Da es im vorliegenden Fall nicht um die Erhaltung der eigenen Existenz ging, die keinem Menschen aus Rechtsgründen abgesprochen werden darf97, dürfte viel dafür sprechen, Tiede eine Gefahrtragungspflicht aufzuerlegen, womit eine Entschuldigung ausgeschlossen wäre.98 Die Berücksichtigung der verzweifelten Lage wäre allerdings im Rahmen von § 35 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StGB möglich, der eine Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB eröffnet.

VII. „Gentlemen, ich werde Ihnen diesen Angeklagten nicht überlassen“ Wie im amerikanischen Verfahren üblich lag die Bestimmung der Rechtsfolgen in der Verantwortung des Gerichts. Richter Stern erkannte in seiner Rechtsfolgenentscheidung99 auf eine milde Strafe – 9 Monate – und brachte dabei eine Strafmilderung nach § 35 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 i. V. m. § 49 Abs. 1 Nr. 3 StGB100 zur Anwendung. Ins Gefängnis musste Tiede damit nicht, da Richter Stern die Strafe durch die erlittene Untersuchungshaft als verbüßt ansah. Stern: „Ich verurteile diesen Angeklagten zu einer verbüßten Zeit. Sie sind ab sofort ein freier Mann.“101 Anders als beim Schuldspruch der Jury ist eine Begründung von Richter Stern überliefert, die dieser münd95

Ebenso in casu Weber (Fn. 14), 770. Eine strafrechtsdogmatische Folge des nach westlicher Auffassung sowohl grundgesetzlich (Art. 2 Abs. 2 GG) als auch völkerrechtlich (Art. 12 Abs. 2 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte) garantierten Rechts der DDR-Bürgerinnen und -Bürger auf Ausreisefreiheit war u. a. die Anerkennung von dessen Notwehrfähigkeit. Hierzu Schroeder, JZ 1974, 113. 96 Hierzu auch Weber (Fn. 14), 771. 97 Momsen/Savic, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), BeckOK-StGB, 55. Ed., Stand: 1. 11. 2022, § 35 Rn. 15. 98 Ebenso in casu Weber (Fn. 14), 771. 99 Rechtsfolgenentscheidung von Richter Stern v. 28. 5. 1979, US v. Tiede. Bd. 3 (Court Papers, Vol. 3), S. 189; Mündliche Begründung der Rechtsfolgenentscheidung durch Richter Stern v. 28. 5. 1979: US v. Tiede. Bd. XII (Transcr. of Proc.), Vol. 17, S. 3064 ff.; dazu Stern (Fn. 3), S. 441 ff. 100 Die genaue Grundlage musste Richter Stern offen lassen, da unklar war, ob die Jury im Rahmen des Schuldspruchs wegen Geiselnahme eine Gefahrtragungspflicht nach § 35 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 StGB mit der Folge einer fakultativen Strafmilderung nach S. 2 Hs. 2 bejaht hatte. Siehe Mündliche Begründung der Rechtsfolgenentscheidung (Fn. 99), S. 3087 ff.; Stern (Fn. 3), 432. 101 Mündliche Begründung der Rechtsfolgenentscheidung (Fn. 99), S. 3089, im Orig. Engl., Übers. d. Verf.

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lich im Gerichtssaal abgab. Dort heißt es an die Adresse der Anklagevertretung gerichtet: „Gentlemen, ich werde Ihnen diesen Angeklagten nicht überlassen. Durch keine meiner Handlungen werde ich Ihnen das Sorgerecht für diesen Angeklagten mehr geben. (…) Sie haben mich überzeugt. Ich glaube jetzt, dass Sie keine Beschränkungen des ordentlichen Verfahrens anerkennen. Habe ich die Befugnis, das zu tun? Ich habe die Befugnis, es zu tun. Nun hat dieser Angeklagte neun Monate gesessen, und er saß neun Monate lang in der Obhut dieser Staatsanwaltschaft, während ein unzulässiger, rechtswidriger und meines Erachtens verfassungswidriger Versuch [,improper, unlawful and in my view unconstitutional attempt was made to deprive him of his rights‘, Anm. d. Verf.] unternommen wurde, ihn seiner Rechte zu berauben. Man muss kein großer Prophet sein, um zu verstehen, dass das Gericht der Vereinigten Staaten von Amerika für Berlin hier wahrscheinlich keine große Zukunft hat.“102

Sterns Entscheidung stellte niemanden zufrieden: weder die USA noch die Regierungen des Ostblocks. Gegenüber der New York Times äußerte Stern einmal rückblickend: „Diese Entscheidung verärgerte Washington, Moskau, Warschau und die DDR (…), aber die Aufgabe eines Richters ist es, Recht zu sprechen, nicht Regierungen zu gefallen.“103 Und in der Tat hatte der United States Court for Berlin, wie Stern richtig voraussah, keine Zukunft. Als Berliner Bürger die Chance witterten, das Gericht in einer anderen Sache anzurufen, den Stopp der Bebauung des Düppeler Feldes im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf durch die US-Armee104, griff das USAußenministerium ein. Bevor Richter Stern über den Antrag auf Baustopp entscheiden konnte, wurde er durch US-Botschafter Walter John Stoessel, der einer Weisung des US-Außenministeriums folgt, am 28. Mai 1979 abberufen105 und das Gericht aufgelöst.

VIII. Die Unabhängigkeit der Gerichte und die freie Gesellschaft Stern schrieb vier Jahre nach Abschluss des Verfahrens ein Buch106 über den Prozess, angereichert mit vielen Zitaten aus den Verhandlungsprotokollen und mit offener Kritik am amerikanischen Außen- und Justizministerium. Wir erinnern uns: Stern hatte sich durch deren Rechtsansichten nicht nur an den NS-Staat erinnert gefühlt (siehe oben), sondern er hatte auch deren Legitimität in Zweifel gezogen, für das amerikanische Volk zu sprechen: 102

Mündliche Begründung der Rechtsfolgenentscheidung (Fn. 99), S. 3087 f., im Orig. Engl., Übers. d. Verf. 103 McDowell, The New York Times v. 9. 2. 1984, im Orig. Engl., Übers. d. Verf. 104 Der Berliner Senat hatte auf Weisung des Amerikanischen Stadtkommandanten den Bau von Wohnungen für amerikanische Armeeangehörige auf den Weg gebracht. Zur Kontroverse um das Düppeler Feld siehe Wetzlaugk, Die Alliierten in Berlin, 1988, 239 ff. 105 US-Botschafter Walter John Stoessel, Schreiben v. 29. 5. 1979 an Richter Stern, US v. Tiede. Bd. III (Court Papers Vol. III), S. 198. 106 Stern (Fn. 3). Für Rezensionen des Buches siehe z. B. Lowenfeld, Mich. L. Rev. 83 (1985), 1000; Pirsig, William Mitchell Law Review 11 (1985), 915.

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„Und dieses Gericht (…) sagt nun, dass jeder, der eine solche Doktrin vor diesem Gericht verkündet und vorgibt, für die Vereinigten Staaten von Amerika zu sprechen, besser seine Autorität überprüfen sollte: denn wenn die Öffentlichkeit, das Volk, die Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika jemals wirklich herausfinden, dass ihre Vertreter sagen, dass – in Berlin oder irgendwo – (…) menschliche Wesen keinerlei Rechte genießen – wenn das amerikanische Volk das jemals herausfindet, werden diese Vertreter feststellen, dass sie nichts als sich selbst vertreten.“107

Die amerikanische Öffentlichkeit über die Geschehnisse in Kenntnis zu setzen, war der Hauptantrieb des Buchautors Sterns. Stern kümmerte sich selbst um den Verlag108 und konnte mit William J. Brennan Jr. sogar einen Richter des Obersten Gerichtshofs für einen Klappentext gewinnen. Und auch dieser, ein Liberaler, hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg und lobte das Buch in höchsten Tönen: „Die richterliche Unabhängigkeit ist der Kitt, der den amerikanischen Traum von einer wahrhaft freien Gesellschaft Wirklichkeit werden lässt (…). Aber das Außen- und das Justizministerium wollten nichts von der richterlichen Unabhängigkeit wissen, als (…) Richter Stern der Vorsitz am Gericht der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin übertragen wurde. Judgment in Berlin [Dt. Titel: Ein Richter für Berlin, Erg. d. Verf.] ist Richter Sterns lebendiger und fesselnder Bericht über seinen Kampf um die Aufrechterhaltung seiner richterlichen Unabhängigkeit gegen diese Haltung. Es ist eine Pflichtlektüre.“109

Das Buch wurde ein großer Erfolg und wurde sogar ein paar Jahre später von Hollywood unter der Regie von Leo Penn und mit prominenter Besetzung verfilmt.110 Eine deutsche Übersetzung folgte ein Jahr später. 2021 erhielt das Buch eine Neuauflage111, da nach Ansicht von Verlag und Autor die amerikanische Öffentlichkeit die Erinnerung an die Ereignisse verloren hatte und die aktuelle gesellschaftliche Situation in den USA es erforderlich machte, daran zu erinnern: „Die Amerikaner“, heißt es in der Einführung zur Neuauflage, „sollten sich darüber im Klaren sein, was damals in ihrem Namen getan wurde“ und sollten gleichermaßen „die Bemühungen von Ideologen sowohl von der linken als auch auf der rechten Seite beobachten, die darauf zielen, Einfluss auf unsere Gerichte hier bei uns zu nehmen.“112

107 Mündliche Begründung der Rechtsfolgenentscheidung (Fn. 99), S. 3068 f., im Orig. Engl., Übers. d. Verf. 108 Mintz, The Washington Post v. 30. 5. 1984. 109 Stern (Fn. 3), Klappentext, im Orig. Engl., Übers. d. Verf. 110 Judgment in Berlin (dt. Ein Richter für Berlin), BRD/USA 1988 (https://www.imdb.com/ title/tt0095415/), Regie Leo Penn, u. a. mit Martin Sheen als Richter und Heinz Hoenig als Flugzeugentführer. Auch das deutsche (Privat-)Fernsehen hat den Stoff verfilmt: Westflug – Entführung aus Liebe, BRD 2010, Regie Thomas Jauch, RTL (https://www.imdb.com/title/ tt1676229/) (zuletzt abgerufen am 16. 3. 2022). Der Tiede-Fall wurde auch literarisch verarbeitet; z. B. Strubel, Tupolew 134. Roman, 2004, hierzu Hildebrandt (Fn. 7), 244 ff. 111 Stern, Judgment in Berlin: The True Story of a Plane Hijacking, a Cold War Trial, and the American Judge Who Fought for Justice, New York 2021. 112 Stern (Fn. 111), Introduction, im Orig. Engl., Übers. d. Verf.

VI. Verschiedenes

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I. Preliminaries: Personal Words I wish to open with some personal words. I have known Jan for a quarter of a century. We met three times at conferences and have been in touch on various other occasions, collaborating on writing projects, exchanging views and supporting one another in various ways. We first met in 1995 at an International Symposium called “Biotechnological Challenges for Law & Ethics” that Jan had organized together with Joachim Hruschka and Sharon Byrd at Bellagio, Italy, one of the most beautiful places in the world. It was a small gathering of scholars, with only plenary sessions and a lot of time to meet and mingle. The people at The Rockefeller Center are known for their kind hospitality. The days were long but we had five breaks each day to enjoy the Italian cuisine. Jan and I met and talked a few times during the workshop but our most meaningful conversation took place at the concluding banquet as we were standing in line, waiting to get our meals. The atmosphere was festive. The evening was warm and the discussion became personal. We talked the entire evening and got to know each other. The more I knew about Jan, the more I wanted to know. This tall, overpowering man has a capacity to listen. Among the issues we discussed was the Holocaust, and how it influenced my life. Such a conversation between a German and an Israeli is not easy. Jan was sensitive and thoughtful. He opened me up to express inner thoughts that I do not share with many people. I grew to like Jan and told him I would very much like to keep in touch. The second time we met was in Jerusalem. I reciprocated by inviting Jan to an international conference that I organized: “Medical Ethics at the Close of the 20th Century”, at The Van Leer Jerusalem Institute in 1998. It was a very busy conference with dozens of guests and hundreds of participants, and I was the single person at the conference who connected all the dots. It was absolutely crazy. I did not sleep properly for four days, as my adrenalin was pumping. Within this craziness, I found the time to sit with Jan and have a long talk. Jan was grateful for the invitation and expressed his appreciation for taking part in this international gathering and for the opportunity to visit Jerusalem, a majestically beautiful city. Jerusalem is also a unique

1 This is partly based on an article that was originally published in American Journal of Education 2008, 215 – 241. All websites were accessed during June 2021.

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city. As a careful academic, I uniquely use the word “unique” as there are very few places in the world that are truly unique. Jerusalem is one of those places. The third time was in Poland. Jan invited me to deliver the Opening Lecture at a small conference he organized titled “Ethical Liberalism in Contemporary Society” at the Collegium Polonicum, Słubice, Poland in 2007. Every morning during the conference, Jan crossed the bridge that connects Słubice with Frankfurt-Oder, and returned in the evening. I walked with him part of the way and we had time to engage in long talks, talking about academia, families, politics, history, law, life. As ever, I was left with a taste for more. We continued to converse by email as we followed each other’s careers. And now Jan is 70-year-old. This is a milestone to celebrate. When I received the invitation to take part in this Festschrift I did not hesitate for one moment. I am genuinely honored to be part of it. I decided to write about three of the topics Jan and I have continuously conversed about for the past 26 years: The Holocaust, education and law.

II. Introduction Hate speech is defined as bias-motivated, hostile, malicious speech aimed at a person or a group of people because of some of their actual or perceived innate characteristics. It expresses discriminatory, intimidating, disapproving, antagonistic and/or prejudicial attitudes toward those characteristics, which may include sex, race, religion, ethnicity, color, national origin, disability, or sexual orientation.2 Hate speech is intended to injure, dehumanize, harass, debase, degrade, and/or victimize the targeted groups, and to foment insensitivity and brutality towards them. Hate speech presents itself in many different forms including direct talk, symbols carried at parades, cross burnings and, more recently, internet web sites. It is speech that conveys a message of inferiority, is usually directed against members of historically oppressed groups, and is persecutory, hateful, and degrading. Hate speech in its various forms should be taken seriously because it is harmful. It could potentially silence the members of target groups, might cause them to withdraw from community life, and interferes with their right to equal respect and treatment. Hateful remarks are potentially so hurtful and intimidating that they might reduce the target group members to speechlessness or shock them into silence. The notions of silencing and inequality suggest great injury, emotional upset, fear and insecurity that target group members might experience. Hate might undermine the individual’s selfesteem and standing in the community.3 2

Cohen-Almagor, Policy and Internet, 2011, 1. See Moon, The Constitutional Protection of Freedom of Expression, 2000, 127; Moon, in: Cohen-Almagor (ed.), Liberal Democracy and the Limits of Tolerance, 2000, 182 – 199; Cohen-Almagor, in: Cohen-Almagor (ed.), Speech, Media, and Ethics, 2005, 3 – 23. 3

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This article starts by explaining a specific type of hate speech: Holocaust denial. I will show that Holocaust denial is a form of hate speech. The article is concerned with the expression of this idea by educators. I make some constructive distinctions that will help in crystallizing our treatment of teachers who are Holocaust deniers. Should we allow Holocaust deniers to teach in schools? I will attempt to answer this question through a close look at the Canadian experience in dealing with such educators. In this context, the article probes the leading case of James Keegstra. I will argue that hate mongers cannot assume the role of educators. Educating and preaching hate come one at the expense of the other. You can either educate or preach hate. You cannot do both.

III. Holocaust Denial What do we mean by “Holocaust denial”? Why does this form of speech constitute hate? If you ask a person on the street what she knows about the Holocaust, and she answers that she has never heard of it, that is not Holocaust denial. Denying reality is not a form of hate. And even if she seems to know, that is (still) not necessarily a form of hate. The component of hate depends on the content of the speech and the intentions of the speaker. Disputing specific historical details is also not a form of hate, and I doubt whether it can be considered as Holocaust denial. If one argues that five million, not six million, were murdered during 1938 – 1945, based on a study of sorts done on Jewish demography in Europe, this is an issue that can and should be discussed in the open in order to discover a possible new facet of the truth.4 If one brings evidence showing that an alleged massacre did not happen, or happened on a different date, or that more people were killed in it than we thought, or that an alleged war criminal was not in the alleged place at the time, these are all issues that should be probed and discussed. All this does not constitute Holocaust denial, nor are they forms of hate. Moreover, generally speaking, people are entitled to hold and express vilifying and outrageous views, to voice their dislike of other people, to use derogatory words and discriminatory adjectives against others. We do not enjoy it; we feel it is wrong, and we feel outraged confronting such statements. Still liberals believe that such speech is protected under the Free Speech Principle and is sheltered in the shade of tolerance. The way to fight against such discriminating and damaging opinions is by more speech, not by silencing and censoring speech. This, indeed, is the essence of tolerance.

4 For discussion of J. S. Mill’s Truth Principle and its importance in generating a tolerant atmosphere for unconventional expressions, see Mill, Utilitarianism, Liberty, and Representative Government 1948; Cohen-Almagor, Philosophia 1997, 131 – 152, and CohenAlmagor, Philosophy 2017, 565 – 596.

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Having said that, Holocaust denial constitutes a special category of speech that does not necessarily merit protection in all places, certainly not in the classroom. It is far from being innocent. Holocaust denial is a form of hate speech because it willfully promotes enmity toward an identifiable group based on ethnicity and religion. It is designed to underestimate and justify murder, genocide, xenophobia and evil. Holocaust denial gives a form of legitimacy to racism in its most evil manifestation to date, under the guise of pursuit of “truth”. It speaks of an international Jewish conspiracy to blackmail Germany and other nations, to exploit others and to create the State of Israel. It depicts a picture by which Jews conspired to create a hoax, the greatest fabrication of all times. Adolf Hitler did not plan a genocide for the Jews but wished instead to move them out of Europe. No gas chambers ever existed. The Holocaust is an invention of the Jews to dramatize the mere “fact” that in every war there are casualties; WWII was no different. People from many countries were killed. Many of them were Germans. And yes, Jews were killed. And also people from other religions. According to the deniers, the Holocaust is the product of partisan Jewish interests, serving Jewish greed and hunger for power. Some Jews disguised themselves as survivors, carved numbers on their arms and spread atrocious false stories about gas chambers and extermination machinery. It was not Germany that acted in a criminal way. Instead, the greatest criminals were the Jews. The Jews were so evil that they invented this horrific story to gain support around the world and to extort money from Germany. For their extortion and fabrication, for creating the greatest conspiracy of all times, they deserve punishment, possibly even death. Jews are demonic and crooked people who deserve to die for making up this unbelievable tragedy. In effect, the ultimate purpose of Holocaust denial is to legitimize violent anti-Semitism. Thus, those who deny the Holocaust are anti-Jewish. It is demeaning to deny the Holocaust for it is to deny history, reality, and suffering. Holocaust denial might create a climate of xenophobia that is detrimental to democracy. It generates hate through the rewriting of history in a vicious way that portrays Jews as the anti-Christ, as destructive forces that work against civilization. Hateful messages desensitize members of the public on very important issues. They build a sense of possible acceptability for hate and resentment of the other which might be costlier than the cost of curtailing speech. Hate speech, in its various forms, is harmful not only because it offends but because it potentially silences members of target groups and interferes with their right to equal respect and treatment. Hateful remarks are so hurtful that they might reduce the target group member to speechlessness or shock them into silence. The notion of silencing and inequality suggests great injury, emotional upset, fear and insecurity that target group members might experience. Hate undermines the individual’s self-esteem and standing in the community.5 5 Moon (Fn. 3); Cohen-Almagor, Amsterdam Law Forum 2009, 33 – 42; Newman, Amsterdam Law Forum 2010, 119 – 123; Cohen-Almagor, Amsterdam Law Forum 2010, 125 – 132.

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The historical and cultural context is obviously of great significance. Propagating Holocaust denial in Canada is quite different from propagating this idea in Germany. We hope that Germans will hardly be persuaded by such propaganda. Germany prohibits Holocaust denial due to its sensitivity to the horrors of the Nazi era. Section 130 of the German Criminal Code prohibits denial or playing down the genocide committed under the National Socialist regime (§ 130.3), including through dissemination of publications (§ 130.4). This includes public denial or gross trivialization of international crimes, especially genocide/the Holocaust. Holocaust denial was outlawed as an “insult” to personal honor (i. e. an “insult” to every Jew in Germany) and a penalty was set under the 1985 law of up to one year in prison or a fine.6 In 1994, Germany passed a statute, making Holocaust revisionism, in and of itself, a criminal offence. The German Constitutional Court ruled that freedom of speech was not a defense available to groups propagating the “Auschwitz lie”.7 The 1994 law increased the penalty to up to five years imprisonment. It also extended the ban on Nazi symbols and anything that might resemble Nazi slogans. In 1995, a Berlin state court convicted a leader of Germany’s neo-Nazi movement of spreading racial hatred and denigrating the state by telling people visiting the Auschwitz concentration camp that the Holocaust was a fiction.8 In 2019, Foreign Minister Heiko Maas said: “Our culture of remembrance is crumbling (…). Right-wing populist provocateurs diminish the Holocaust, knowing that such a breach of taboo will garner maximum attention.”9 Maas said that in the face of the growing popularity of the Alternative for Germany (AfD), whose leaders diminish the importance of the Nazi era with the aim of rejuvenating national pride. Alexander Gauland referred to the Nazi era as a “speck of bird poop” in Germany’s otherwise admirable history, while Björn Höcke called Berlin’s Holocaust memorial a “monument of shame” and defended Holocaust deniers. AfD members, while visiting Sachsenhausen’s gas chambers, questioned whether people were actually killed in this notorious place.10 They seem to believe that the industrial slaughter of millions of people by the Nazis is a fabrication, a conspiracy to smear Germany. Some other European countries adopted legislation criminalizing the Nazi message, including denial of the Holocaust. These countries include Austria (article 3h of the Verbotsgesetz, “Prohibition Statute”, 1947), Belgium (Belgian Negationism Law), the Czech Republic, France, Liechtenstein, Lithuania, the Netherlands, Po6

Bazyler, Holocaust Denial Laws and Other legislation Criminalizing Promotion of Nazism, 2021, https://www.yadvashem.org/holocaust/holocaust-antisemitism/holocaust-deniallaws.html. 7 BVerfGE 90, 241, translated in Kommers, Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany, 1997, 382 – 387. 8 Tsesis, Destructive Messages, 2002, 188. 9 Schultheis, The Atlantic 2019, https://www.theatlantic.com/international/archive/2019/04/ germany-far-right-holocaust-education-survivors/586357/. 10 Schultheis, The Atlantic 2019, https://www.theatlantic.com/international/archive/2019/ 04/germany-far-right-holocaust-education-survivors/586357/.

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land, Romania, Slovakia, Spain and Switzerland (article 261bis of the Criminal Code). Many of these countries also have broader laws against libel and inciting racial hatred. France, another country that is highly sensitive to WWII, passed the Gayssot law (named after French MP J. C. Gayssot) in 1990. The law punishes with heavy fines or imprisonment any “public expression of denial of the Genocide perpetrated on the Jews by the Nazis during WWII.” This law was used to imprison the infamous Holocaust denial academic, Robert Faurisson,11 as well as some of his followers, notably the philosopher Roger Garaudy, in 1999.12 Article R645 – 1 of the French Criminal Code prohibits the public display of Nazi uniforms, insignias and emblems.13 At the same time, Great Britain does not criminalize Holocaust denial or the public display of Nazi symbols. In February 2006, British historian David Irving was found guilty in Vienna of denying the Holocaust of European Jewry and sentenced to three years in prison in accordance with the Austrian Federal Law on the prohibition of National Socialist activities. Irving denied the existence of gas chambers in National Socialist concentration camps in several lectures held in Austria in 1989. Under the State Treaty of 1955 for the Re-establishment of an Independent and Democratic Austria, which Austria concluded with France, the United Kingdom, the USA and the USSR, Austria undertakes to prevent all Nazi propaganda. The Prohibition Statute forms part of the Austrian Constitution.14 Canada has a long history of hate speech and Holocaust denial. This is partly due to the tireless activities of one of the most prolific Holocaust deniers in the world, Ernst Zündel, who from 1977 until 2003 resided in Canada and made Toronto his international headquarters.15 His website was arguably the most valuable resource for Holocaust deniers on the Internet.16 In 2000, Zündel moved to the United States, where he ran a website and lived with his third wife, Ingrid Rimland. In 2003, he was arrested for overstaying his visa. He was sent back to Canada, where Zündel was detained as a threat to national security, and after a lengthy trial was deported to Germany in 2005. A state court in Mannheim convicted him in 2007 on 14 counts

11

Goldberg, in: Cohen-Almagor (ed.), Liberal Democracy and the Limits of Tolerance, 2000, 257 – 260. 12 Text of the law may be found in French in www.jura.uni-sb.de/france/Law-France/I90615.htm; https://www.phdn.org/negation/gayssot/. For a useful discussion on French historical revisionism, see Vidal-Naquet, A Paper Eichmann (1980) – Anatomy of a Lie, 1992, available at https://www.anti-rev.org/textes/VidalNaquet92a. 13 Bazyler (Fn. 6). 14 Holocaust denier Irving is jailed, BBC News, February 20, 2006, https://news.bbc.co.uk/ 2/hi/europe/4733820.stm. 15 Zundel, https://www.splcenter.org/fighting-hate/extremist-files/individual/ernst-zundel. 16 https://www.zundelsite.org.

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of inciting hatred and one count of violating the memory of the dead. Zündel was sentenced to five years in prison but he was released in 2010. Zündel died in 2017.17 So it happened that some of the most notorious Holocaust deniers in Canada were also teachers. Do Holocaust deniers have a right of free expression as teachers and educators? Should a liberal democracy allow its teachers to uphold and promote any conception of the good? Are teaching and hate commensurate and compatible?

IV. Academic Freedom at Schools Analysis of this intricate subject involves the following considerations: Context: It is appropriate to distinguish between teachers of history and teachers of anything but history. History teachers may be required by the curricula to discuss the Holocaust. On the other hand, Mathematics teachers are not expected to discuss this issue at all. If and when they do, they deviate from the subjects they are qualified to teach even though there is a reasonable expectation that they will restrict themselves to the matters they are qualified to teach. History teachers may present different interpretations of history and, thus, there might be room to argue that they may introduce revisionist argument in class and thereby evoke debate about history, interpretations, narrative, racism, anti-Semitism, and bias. In any event, when they introduce Holocaust denial into class, they are expected also to present the mainstream history that forcefully argues, supported by verified data, for the existence of the Holocaust. I assume that solely presenting Holocaust denial when discussing the horrors of WWII is not in line with established curricula in Canadian public schools. Type of school: The emphasis of the last sentence was on public schools where teachers are paid by the government, where voting taxpayers have the leverage of funding. The government may prescribe certain guidelines and ask teachers to adhere to fundamental values. Private schools may generate their own funding, hence could modify their curricula and create their own agendas. Those agendas should be explained to parents and students. In private schools, after such clarification, Holocaust denial might be the only interpretation of history presented in class. Again, I would expect the school management to highlight that before parents enroll their children in such a school so as to allow them decide whether that is the education they seek for their offspring. Of course, as parents’ influence is greater in private schools than in public schools, they could insist on not having a Holocaust denier in class, and the school management would need to pay close consideration to their demands. Student identity: Holocaust denial involves not only a challenge to all we know about history and truth. It not only questions well-known facts and historical data. It also involves hate, harm, and offence. We can assume that Jewish students would be 17 Zündel, Holocaust Denier Tried for Spreading His Message, Dies at 78, NY Times, August 7, 2017, https://www.nytimes.com/2017/08/07/world/europe/ernst-zundel-canada-ger many-holocaust-denial.html.

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highly uncomfortable in a class where Jews are presented as liars, thieves and conspirators who exist to exploit the world. Therefore, a relevant consideration is the presence of Jewish students in the school concerned. This is not to say that Christian students are not offended by such hateful speech. This is only to say that Jewish students are more likely to suffer offence when subjected to such teachings. Student age: Students’ age is relevant. The younger they are, the more vulnerable they are. They are more susceptible to manipulation. Their ability to resist their teachers is relatively limited, and the influence the teacher enjoys over them is markedly higher. High school students may try to dispute Holocaust denial, not accepting it as a given. This is unlikely to happen in primary schools. Student-teacher relations: a relevant consideration is the teacher’s reaction when confronted with students who challenge his views or do not accept them at face value. Does the teacher allow argumentation in class, counter-arguments, and different interpretations of history, or does he insist that students parrot the Holocaust denial mantras, and punish those who resist the denier’s “truth”? Given that Holocaust deniers present themselves as the prime champions of free expression, the marketplace of ideas, and the search of truth that enable their activities, we can prima facie assume wide latitude for discussion. But if this is not the case, and students are intimidated from voicing counter-truths, and are even punished for insisting on holding conventional truths, then there is room for intervention to stop the one-sided, hateful interpretation of history. Locus: Another relevant distinction is between teachers who discuss their ideas about the existence of the Holocaust at school, and teachers who don’t discuss their ideas at school. There might be teachers who are Holocaust deniers only in their private lives, who do not make their views on the subject publicly known. If that is the case, they should be allowed to teach as long as no grounds are found of them discriminating against students of Jewish belief, and/or students whose views on the Holocaust are different from theirs. Extracurricular activity: A further distinction is between teachers who do not discuss their ideas, but are known for having such ideas, who are notorious for their activities in this sphere, and Holocaust deniers who remain silent in their beliefs. There might be teachers who are Holocaust denial activists, yet for various reasons mentioned above (they teach sciences, understand that they should follow the curricula, are sensitive to education sponsored by the public purse), they refrain from bringing their views into class. Yet Jews and possibly students of other religious beliefs might feel intimidated by the sheer presence of those teachers at school. One can assume that a Jewish student will not feel welcome in a place where prominent a Holocaust denier teaches. Teachers, in most cases, enjoy far more power and influence than students. Their ability to manipulate, to play power games, to influence, is by definition superior to the ability of students.

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V. James Keegstra Does freedom of expression mean you can say anything to anyone? If not, what can you say and to whom? Do free speech and academic freedom provide leeway to deviate from the prescribed curricula in order to preach hate and to teach racism and discrimination? James Keegstra would push his freedom of expression to the limit and eventually forced the Supreme Court of Canada to answer these difficult questions. Keegstra initially taught automotives and industrial arts, which were his areas of specialization. As with other staff members at the school in Eckville, Alberta, he was asked to expand the scope of his subjects taught and to teach a wide range of subjects, including social studies, law, mathematics, and science to both junior and senior high school classes.18 He taught classes from 1968 to the early 1980s. In 1980 he won the mayorality of Eckville. In 1982, he was fired from his fourteen-year position at the school on the grounds of failing to follow the education department’s social studies curriculum. His main deviation was that he taught the curriculum of the Institute for Historical Review, an institute that was founded initially with the purpose of “reviewing” one historical truth, i. e. the Holocaust.19 Keegstra made many statements denigrating and smearing Catholics but his main focus was on Jews. For almost ten years, he taught his students that there was an all-encompassing Jewish conspiracy to undermine Christianity and control the world. His version of the world was one in which the major centers of power were controlled by Jews: the banks, the media, the universities, Hollywood, most publishers and, of course, politics. Keegstra’s students were expected to recite these teachings in class and on exams. If they did not, they were marked down.20 The power of indoctrination which teachers have over their students was clearly apparent in this case. Students that were interviewed about their views and beliefs saw the international Jewish conspiracy as a historical fact. This idea was not only legitimate; it was an accurate depiction of reality.21 Robert Mason Lee, who researched Keegstra’s influence at his school, described Keegstra as a person who enjoyed the respect of his students and their parents. Only few chose to contradict the teacher-mayor with plain and skilled speech, who backed his statements with “facts” and quotations from Christian teachings. He was so eloquent and persuasive that he seemed credible to his students, who accepted his interpretations of historical events. These events were put into a new, different light when explained by Keegstra.22 One of his students, the winner of the school’s highest grad-

18

Bercuson/Wertheimer, A Trust Betrayed: The Keegstra Affair, 1985, 17. http://www.ihr.org. 20 Matas, Bloody Words, 2000, 50. 21 Reyes, Dalhouse J. of Legal Studies 1995, 44. 22 Mason-Lee, Saturday Night 1985, 38 – 46. 19

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uating award commented: “I’m trying so hard to be open-minded and they’re close minded”.23 Keegstra was so sure of himself that he submitted an essay titled “Judaism and Its Role in Society from 1776 – 1918”, written by one of his students, to his superintendent, R. K. David. The student wrote that the Jews were complicit in a number of nefarious organizations; that they wished to control the world through welfare states and bloody revolutions; that they wanted to establish their own “world order”; that they wished to group all governments together into one world dictatorship. They are, therefore, “truly a formidable sect”, working through deception and false tales to achieve their ends. “They are powerful and must be put in their place”.24 This piece was a testament not only to Keegstra’s teachings, but also to his sense of trust in the system in which he worked. He thought his superiors condoned and approved his teachings. In his first warning letter to Keegstra, Superintendent David wrote that he did not intend to restrict Keegstra’s academic freedom, nor to impugn his intellectual integrity. Controversial interpretations were not to be suppressed but all positions were to be presented in as unbiased a way as possible.25 It is a contested question whether tolerance should protect vicious anti-Semitism that speaks of a world Jewish conspiracy to control the world and that denies the Holocaust. The ability of thinking students in class to express other points of views was extremely limited in Keegstra’s class, even more so when they knew that there would be academic consequences for their stubbornness in rejecting his ideas. In December 1982, after numerous warnings, the School Board decided to dismiss Keegstra. The reasons for the dismissal were Keegstra’s failure to comply with Alberta Education’s prescribed curriculum, and his failure to modify his teaching and/ or approach to reflect the desires of members of the local community and the Board of Education.26 In May 1983, the National Film Board Holocaust documentary “Memorandum” was shown in Keegstra’s school. Donald Brittain, the film director and writer, came to answer questions about the film and its troubling episodes, showing concentration camp cruelty. No questions were asked. One of the 250 students who were present at the showing estimated that some 80 percent of his fellow grade eleven students denied that the Holocaust occurred and believed in a world Jewish conspiracy. Keegstra commented that the film “was a documentation of hate. I would challenge its authenticity”.27 23

Hare, Canadian J. of Education 1990, 377. Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), Appendix, Document 11, 213 – 223. 25 Letter from R. K. David to Keegstra (December 18, 1981) in Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), Appendix, Document 1, 197 – 198. 26 Reyes, Freedom of Expression and Public School Teachers, 43; Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 207 – 208. 27 Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 167. 24

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Further evidence showed that a generation of students accepted Keegstra’s views about the international Jewish conspiracy in almost all its details. Keegstra’s students came to believe that Judaism and Christianity were mortal enemies; that the Talmud is a perverted and evil book, and that Jews have been seeking to take over the world.28 For his students, Keegstra was the major, if not only, source of information about Jews. Very few of the students had ever seen a Jew. There were no Jews in Eckville, and very few in rural Alberta. Almost all of Alberta’s Jews, some 10,000 people, lived in Edmonton and Calgary, far away from the Eckville area.29 When Keegstra appealed against his dismissal to the Board of Reference, the School Board’s legal representative, Richard McNally, made important observations on the impact of Keegstra’s bigotry on his students, saying that the audience was captive, comprised of young and impressionable minds (classes 9 to 12), adding that “even grade twelve students are not as mature as might be thought, when dealing with such value laden material”.30 McNally rightly noted that the possibility of harm to grade nine students exposed to such teachings is even more manifest: “The minds of students and their personalities are society’s raw materials with which the future is fashioned. To have a doctrine of hate taught to students is not only a betrayal of the trust and respect accorded teachers, but is a betrayal of the hopes of society for a better future”.31 In October 1983, Keegstra was defeated in the Eckville mayoral contest by a 278 to 123 vote margin.32 In January 1984, Keegstra was charged with unlawfully promoting hatred against an identifiable group as defined under s. 319(2) of the Criminal Code. Keegstra argued that this charge violated his freedom of expression under s. 2b of the Charter in that he was prevented from speaking his mind.33 Outside the classroom Keegstra was by far more supportive of free expression than inside the classroom. In February 1984, a three-person Teaching Profession Appeal Board upheld the Alberta Teachers’ Association decision to terminate Keegstra’s ATA membership, and to recommend the suspension of his license. In April, his license was revoked, making it impossible for Keegstra to teach in an accredited school in Alberta.34

28

Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 63. Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 63. 30 Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 114. 31 Board of Reference, March 1983, 2, 301, quoted in Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 114 – 115. 32 Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 177. 33 Section 2 of the Charter holds: “Everyone has the following fundamental freedoms: a) freedom of conscience and religion; b) freedom of thought, belief, opinion and expression, including freedom of the press and other media of communication; c) freedom of peaceful assembly; and d) freedom of association.” https://laws.justice.gc.ca/en/charter. 34 Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 177. 29

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Keegstra saw the Jews as being responsible for every historical atrocity that had ever taken place: wars, revolutions, depressions. They all were the result of relentless Jewish attempts to achieve world power. He suggested to his students that Jews formed a worldwide conspiracy to promote their own cause. Keegstra had described Jews as “revolutionists,” “treacherous,” “impostors,” “communists,” “secret,” “sneaky,” “manipulative,” “deceptive”, “subversive”, “barbaric,” “sadistic”, “materialistic,” “money-loving”, “power-hungry”, and “child killers”. Jews purportedly “created the Holocaust to gain sympathy”. The Jews had assassinated Abraham Lincoln and Franklin D. Roosevelt. The Jews were behind the Russian and French Revolutions as well as the Industrial Revolution, and the 1930s depression. They had started both World Wars. Keegstra also taught that hundreds of years ago, a Jewish group held a “Feast of Reason” during which young girls were murdered and their blood poured over the bodies of prostitutes.35 The Jews created Marxism and modern capitalist economics. The Jews had perpetrated the Holocaust hoax to blackmail support for the establishment of the State of Israel. Further, the IRA had been a communist organization and the troubles in Ireland had been fomented by German Jews.36 Keegstra advised the students that they were to accept his views as true unless they were able to contradict them. Encyclopedias were viewed as “false” or “tainted”. Students who echoed his views generally received better grades than those who didn’t. Keegstra made statements in public, in his capacity as a teacher. He made them to attack Jewish people and not in any effort to generate discussion for public benefit. Now, in his subjective mindset, his advice and ideas might well be “discussion for the public benefit”. I argue that objectively this is not for the public benefit, whatever Keegstra may think. Section 319(2) of the Canadian Criminal Code states: Wilful promotion of hatred – Every one who, by communicating statements, other than in private conversation, wilfully promotes hatred against any identifiable group is guilty of a) an indictable offence and is liable to imprisonment for a term not exceeding two years; or b) an offence punishable on summary conviction.

Keegstra was convicted by a jury in a trial before McKenzie J. of the Alberta Court of Queen’s Bench. Prior to his trial, Keegstra applied to the Court of Queen’s Bench in Alberta for an order quashing the charge on a number of grounds, the primary one being that his right to free expression was infringed. The application was dismissed by Quigley J., and thereafter Keegstra was tried and convicted. He then appealed his conviction to the Alberta Court of Appeal, raising the same Charter issues. The Court of Appeal unanimously accepted his argument, and it is from that judgment that the Crown appealed to the Supreme Court.

35 36

Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 114, 180. Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 60 – 74.

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R. v. Keegstra37 and R. v. Andrews and Smith38 were decided concurrently by the Canada Supreme Court in 1990. The Court upheld by a four to three margin the constitutional validity of the crime of wilfully promoting hatred. It also upheld the anti-hate provisions of the Canadian Human Rights Act in the Taylor case,39 which had been joined with Keegstra and Andrews for hearing. In Keegstra, the majority of the Supreme Court agreed that a crime that prevents communication (even communication that promotes hatred) is an infringement of freedom of expression as defined in s. 2b of the Charter. However, the majority stated that freedom of expression could be limited under s. 1 of the Charter where the expression involves the promotion of hatred against an identifiable group.40 The Supreme Court limited Keegstra’s freedom of expression because of the harm that can flow from hate propaganda. The Supreme Court stated that the objective of criminalizing the promotion of hatred is an attempt to reduce racial, ethnic, and religious tensions (and possibly violence) in society. The majority of the Supreme Court, therefore, concluded that, “few concerns can be as central to the concept of a free and democratic society as the reduction of racism, and the especially strong value which Canadian society attaches to this goal must never be forgotten in assessing the effects of an impugned legislative measure”.41 It is relevant to note that Section 7 of the Canadian Charter holds: “Everyone has the right to life, liberty and security of the person and the right not to be deprived thereof except in accordance with the principles of fundamental justice,” while section 15(1) dictates: “Every individual is equal before and under the law and has the right to the equal protection and equal benefit of the law without discrimination and, in particular, without discrimination based on race, national or ethnic origin, color, religion, sex, age or mental or physical disability.”42

In turn, section 27 holds: “This Charter shall be interpreted in a manner consistent with the preservation and enhancement of the multicultural heritage of Canadians”.43

Chief Justice Dickson, who delivered the opinion of the Court, said that hate propaganda seriously threatened both the enthusiasm with which the value of equal37

R. v. Keegstra [1990] 3 S.C.R. 697. R. v. Andrews and Smith [1990] 3 S.C.R. 870. 39 Canada (Human Rights Commission) v. Taylor [1990] 3 S.C.R. 892. See Cotler, in: Cohen-Almagor (ed.), Liberal Democracy and the Limits of Tolerance, 2000, 151 – 181. 40 Section 1 of the Charter holds: “The Canadian Charter of Rights and Freedoms guarantees the rights and freedoms set out in it subject only to such reasonable limits prescribed by law as can be demonstrably justified in a free and democratic society.” Justice.gc.ca/eng/csjsjc/rfc-dlc/ccrf-ccdl/#:~:text=The%20Canadian%20Charter%20of%20Rights%20and%20Free doms%20protects%20a%20number,of%20our%20country’s%20greatest%20accomplishments. 41 R. v. Keegstra [1990] 3 S.C.R., at 787. 42 The Canadian Charter of Rights and Freedoms. 43 The Canadian Charter of Rights and Freedoms. 38

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ity is accepted and acted upon by society and the connection of target group members to their community. The Court said that “hate propaganda contributes little to the aspirations of Canadians or Canada in either the quest for truth, the promotion of individual self-development, or the protection and fostering of a vibrant democracy where the participation of all individuals is accepted and encouraged.”44 It depicted Keegstra as inflicting injury on his target group, the Jews, and as striving to undermine worthy communal aspirations. The language used by the Court to describe Keegstra was far from neutral or objective. Chief Justice Dickson explicitly stated that there could be no real disagreement about the subject matter of the messages and teachings communicated by the respondent, Keegstra: it was deeply offensive, hurtful, and damaging to target group members, misleading to his listeners, and antithetical to the furtherance of tolerance and understanding in society. Those who promoted hate speech were described as “hate mongers” who advocated their views with “inordinate vitriol.” Their aim was to “subvert” and “repudiate” and “undermine” democracy, which they did with “unparalleled vigor.” Since their ideas were “anathemic” and “inimical” to democracy, the Court viewed them with “severe reprobation.” Dickson CJ asserted that expression can work to undermine Canadians’ commitment to democracy where it is employed to propagate ideas anathemic to democratic values. Hate propaganda worked in just such a way, arguing as it did for a society in which the democratic process was subverted and individuals were denied respect and dignity simply because of racial or religious characteristics. This brand of expressive activity was thus wholly inimical to the democratic aspirations of the free expression guarantee. In this manner, the Court characterized Keegstra as an enemy of democracy who did not deserve the right to use free speech to undermine the fundamental rights of others.45 In her dissent, Justice McLachlin expressed concern that a ban on hate speech might mean that scientists would think twice before researching and publishing results suggesting differences between ethnic or racial groups. She wrote: “Scientists may well think twice before researching and publishing results of research suggesting difference between ethnic or racial groups. Given the serious consequences of criminal prosecution, it is not entirely speculative to suppose that even political debate on crucial issues such as immigration, educational language rights, foreign ownership and trade may be tempered. These matters go to the heart of the traditional justifications for protecting freedom of expression.”46

Well, scientists need to be careful of what they are saying. It is not enough to simply air bogus claims. Claims should be based on some evidence. If they are patently 44

R. v. Keegstra [1990] 3 S.C.R. R. v. Keegstra [1990] S.C.J. No. 131, at 763 – 769. See also Dyzenhaus/Ripstein (ed.), Law and Morality, 1998; Moon (Fn. 3), 182 – 199; Kallen/Lam, Canadian Ethnic Studies 1993, 9 – 24. For critique of the Keegstra decision, see Heinrichs, Alberta Law Review 1998, 835 – 904; Braun, Democracy off Balance, 2004, 26 – 29; Newman, Ahenakew’s views are wrong, but so is silencing him, The Globe and Mail online edition (opinion page essay), July 13, 2005. 46 R. v. Keegstra [1990] S.C.J. No. 131. 45

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false, the result of biases and prejudices, they have very little room in research and in the classroom. But that is not the issue here, as Keegstra cannot be called a “scientist”, and his students were not mature people who could critically evaluate his views and provide counter-arguments. Keegstra abused his authority. His students had to follow their teacher or be penalized. There was no marketplace of ideas in Keegstra’s classes. They were systematically biased to inculcate the Jewish conspiracy theory. Keegstra did not welcome openmindedness, critical thinking and debate. None of the viable “trustworthy” sources to which Keegstra directed his students proposed a different viewpoint than his. When students ventured to draw on sources other than those of which Keegstra approved, their work was either not assessed at all or assessed adversely.47 There was no point doing independent research because the “other” books, those that were not authorized by Keegstra, were said to be censored by conspirators.48 What Keegstra wanted to achieve was more adherents to his views. He did not want rational critics. He wanted parrots. Indeed, Keegstra undermined the critical approach to education. He was not an educator but an indoctrinator. The parent responsible for initiating the complaint that eventually led to the decisive action against Keegstra closed her letter to the superintendent by saying: “As our children are being sent to school for education, not indoctrination, I appeal to you to dismiss Mr. Keegstra from teaching those classes in which our children will be enrolled”.49 Justice McLachlin compared Keegstra’s sayings to Rushdie’s “Satanic Verses”. She argued against the criminal restriction of hate promotion not by focusing on its value but rather by pointing out how difficult it is to draw a line separating hate promotion from other forms of expression. She was concerned that the line might be drawn in the wrong place, and that there was a potential for “chilling effect[s]” on legitimate speech. People might be reluctant to publish material, even valuable material, that should not, and probably would not, be restricted because they are unwilling to take the risk that it might fall within a criminal prohibition that does not have a clear and uncontested scope.50 With respect, I do not think these are the most important issues. The question is not merely one of free expression. At issue is not only Keegstra’s right to vilify the Jews. The forum is important. It is not merely a question of introducing “another truth” into the marketplace of ideas. It is also a question of education, of whether this is the kind of education we want our children to receive. It is also a question of offence. The students were a captive audience in Keegstra’s hands, and were punished if they failed to accept his views. They were not free to criticize or to question his opinions. If there was a chilling effect, it was on the 47

Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 61 – 62, 66. Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 98. 49 Letter from Susan Maddox to R. K. David (October 11, 1982) in Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), Appendix, Document 6, 203 – 206. 50 R. v. Keegstra [1990] S.C.J. No. 131; 3 S.C.R. 697. See also Moon (Fn. 3), 136 – 137. 48

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students’ ability to develop and express independent thinking, critical of Keegstra’s bigotry. Another relevant question is the effects that revisionist teaching has on the teachings of fellow teachers. In effect, Keegstra was saying: Forget everything you were told before. Ignore all that is taught by other teachers. All they say is patently false. I bring you the truth. Should history and social studies teachers be allowed to teach falsehoods and dress major events in modern history with twisted interpretations that betray historical fact, falsifying their origins and outcomes? Isn’t this misuse of public money? Can this be called “education”? Keegstra was a social studies teacher at a public school and was paid with public money. He was required to adhere to a certain curriculum but abandoned it altogether because it was “biased”, the result of Jewish manipulation. Public school teachers assume a position of influence and trust in respect of their students and must be seen to be impartial and tolerant. They are inextricably linked to the integrity of the school system, and exert considerable influence over their students. For some students, they serve as role models. Keegstra’s students, classes 9 to 12, were clearly influenced by his persona and impressed by his anti-establishment teachings. I mentioned that there were no Jews in Eckville. After Keegstra’s dismissal, it was claimed that Keegstra would not have been tolerated for such a long time if there had been Jewish students in his classes, exposed to his bigotry, and prepared to complain to their parents.51 Keegstra was very open and clear in his blatant anti-Semitism and in describing the Holocaust as a hoax. Keegstra’s replacement, Dick Hoeksema, said many students and some fellow teachers defended Keegstra’s views: “I would say World War II started because Hitler invaded Poland and they’d (students) say, ‘No, Hitler liberated Poland,’” Hoeksema told Robert Mason Lee. “I was starting to think that I was crazy. That I was the only person who thought this way.”52 Keegstra was widely hailed as a good and “forceful teacher”. His classroom management skills had earned near-universal praise. This suggests the dispiriting conclusion that this appraisal has lost its essential meaning. The judgment was based on the fact that Keegstra maintained discipline; it was not related to any consideration of the knowledge, skills and attitudes being learned by his students.53

VI. Conclusions Teachers occupy a unique position of trust in democratic societies, and they must handle such trust and the instruction of young people with great care.54 Teachers work 51

Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 69. Burke, Searching for truth in confusing times, Whistler Question (October 5, 2005). 53 Hare, Canadian J. of Education 1990, 386; Bercuson/Wertheimer (Fn. 18), 100. 54 Sterzing v. Fort Bend Independent School District, 376 F. Supp. 657 (S.D. Tex. 1972), at 661. 52

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in sensitive areas in which they shape the minds of young people toward the society in which they live, toward history and politics. Teachers are situated at a crucial crossroads, spending many hours with students and have the potential of becoming their role models. They play an important role in inculcating values and ideas. Teachers may present in classes controversial issues and they are not invariably required to remain neutral regarding them. They may display strong enthusiasm for the subject at hand. They may have an agenda. Indeed, I do not believe it is possible not to have an agenda in teaching. By the very making of a curriculum, by the process of selection of readings, by the way teachers present the issues, they create an agenda. They promote certain ideals, they undermine others, they direct and lead the way for students to follow. The search for truth is certainly desirable. It is achieved by presenting different, often conflicting, conceptions and beliefs. The concern for truth does not mean promoting one truth, but a clashing of different truths in the marketplace of ideas, and allowing students scope to seek and adopt the truth which appeals to them the most. Education does not mean indoctrination, nor is it free from responsibility. The responsible teacher is required to contest his/her own beliefs and allow students to do exactly the same thing. When teaching about nature and the planet in which we live, teachers may mention the Flat Earth Society.55 But teachers should inform their superiors, and their superiors, in turn, should inform the students’ parents, if they intend to concentrate all or most of their teaching around this Society’s world view. Then, parents can decide whether this is what they want their children to know about the world in which we live, or rather send their children to another school, where time is devoted to science in a more conventional way, in accordance with coherent methodology. In any event, such teaching should, at the very least, be monitored closely and remain open to scrutiny and counter arguments. Teaching malice and falsehood, hatred and dubious conspiracy theories is a different matter altogether. It is not only that tax money should be spent in a more prudent way, as the above example illustrates. Such teachings are, simply put, not educational. They do not espouse any values that democracies should promote, and the search for truth is red herring to plant seeds of disrespect, disharmony, discrimination and discredit against the target group in question. Holocaust deniers thus pose a special pedagogic problem. They have chosen hate and lies over reason and facts. Their tone is evasive, sometimes threatening. Protected by ideas of free expression, academic freedom and liberal tolerance, combined with bureaucratic ineptitude and moral myopia, Keegstra was allowed to teach students hatred for nearly ten years. He shaped a generation of young, impressionable minds with lies, malice and hatred. To be sure, Keegstra and his like did not pose a tangible threat to the Jewish community or to the stability of the nation. However, parents do not send their young to school to learn unfounded theories, and to subject their minds to racial bigotry and hateful propaganda. Students need to feel comfortable in schools, where they spend a 55

https://www.alaska.net/~clund/e_djublonskopf/Flatearthsociety.htm.

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good portion of each day. They should not feel intimidated because of their origins, or because they fail to parrot the “right” views. Every individual has the right to a school system free from bias, prejudice and intolerance.56 In Ross v. New Brunswick School Dist. No. 15 (1996) Justice La Forest said: “A school is a communication center for a whole range of values and aspirations of a society. In large part, it defines the values that transcend society through the educational medium. The school is an arena for the exchange of ideas and must, therefore, be premised upon principles of tolerance and impartiality so that all persons within the school environment feel equally free to participate. As the Board of Inquiry stated, a school board has a duty to maintain a positive school environment for all persons served by it.”57

Let me end by referring to another pertinent court case, Trinity Western University, which was about discrimination against non-Christians and gays. The plea was to disallow the educational program of this private university, associated with the Evangelical Free Church of Canada, as long as its teachers espoused discriminatory views.58 The Supreme Court ruled (eight to one) that the Christian beliefs of the teachers-in-training were irrelevant; only discriminatory conduct toward homosexuals would disqualify them from holding jobs in British Columbia public schools. The British Columbia College of Teachers (BCCT), a regulatory body, had ruled that the TWU’s “community standards,” which teachers-in-training were obligated to affirm, was discriminatory and for that reason it had denied TWU accreditation. The Supreme Court distinguished between the beliefs of TWU teachers and their conduct, ruling that the BCCT had denied TWU accreditation on the basis of irrelevant considerations. The Court explained that the freedom to hold beliefs is broader than the freedom to act on them. Students attending TWU were free to adopt personal rules of conduct based on their religious beliefs provided they did not interfere with the rights of others. Any restriction on freedom of religion had to be justified by evidence that the exercise of that freedom would have a detrimental impact on the public school system. Absent concrete evidence that training teachers at TWU fostered discrimination in the public schools, the freedom of individuals to adhere to certain religious beliefs while at TWU should be respected. TWU’s Community Standards were not sufficient to support the conclusion that the BCCT should anticipate intolerant behavior in the public schools by graduates of TWU’s teacher education program. The Court concluded that if a teacher in the public-school system engaged in discriminatory conduct by acting on beliefs that were homophobic, that teacher could be subject to disciplinary proceedings before the BCCT.

56

Peel Board of Education and O.S.S.T.F. (Fromm) Re Peel Board of Education and Ontario Secondary School, 105 L.A.C. (4th) 15 Ontario (March 8, 2002): 57. 57 Ross v. New Brunswick School Dist. No. 15 (1996): 856. 58 Trinity Western University v. College of Teachers [2001] 1 S.C.R. 722, 2001 SCC 31; 2001 C.R.R. LEXIS 3.

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The language of hatred is destructive. It does not have a place in any setting, particularly not in an education setting that should encourage a plurality of opinions, free debate and civility based on the maxims of respect for others, and not harming others. People should know history and learn from it in order to ascertain that appropriate lessons are learnt, and that the phenomenon of genocide is learnt as a past historical fact that has no currency at present. Empathy, kindness, harmony and understanding are in much need in our troubled world.

„Rasse“ als Verfassungsbegriff Zur Diskussion um die Ersetzung des Begriffs der „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG Hans-Georg Dederer

I. Einleitung Am 25. 5. 2020 wurde George P. Floyd bei einem Polizeieinsatz in Minneapolis (Minnesota, USA) getötet, ein US-amerikanischer Bürger schwarzer Hautfarbe durch körperliche Gewalt eines US-amerikanischen Polizisten weißer Hautfarbe.1 Die massenmediale Berichterstattung über das erschütternde Ereignis und die anschließenden Protestkundgebungen entfachten eine erneute Debatte um weißen Rassismus in der allgemeinen Öffentlichkeit, die umgehend auch Europa und zumal Deutschland erreichte. Auf der Ebene der Politik mündete diese Entwicklung in neuerliche Diskussionen um eine Änderung namentlich des Grundgesetzes: Der Begriff der „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG solle gestrichen und der Wortlaut so geändert werden, dass die Norm „rassistische“ Diskriminierung verbiete.2 Auch die neuen Koalitionsparteien haben sich in ihrem Koalitionsvertrag vom 24. 11. 2021 darauf geeinigt, „den Begriff ,Rasse‘ im Grundgesetz [zu] ersetzen“.3 Mit dem Thema der Diskriminierung ist damit eine Rechtsmaterie angesprochen, mit welcher sich auch der Jubilar im Rahmen seines überaus reichen und thematisch vielfältigen Oeuvres befasst hat. Hingewiesen sei auf den von Jan C. Joerden heraus1 Siehe hierzu die Berichterstattung z. B. auf www.tagesschau.de/thema/george_floyd/ (zuletzt abgerufen am 13. 1. 2022). 2 Siehe hierzu die Entwürfe für ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes in BT-Drs. 19/ 20628 v. 1. 7. 2020, BR-Drs. 641/20 v. 28. 10. 2020, BT-Drs. 19/24434 v. 18. 11. 2020; BMJVDiskussionsentwurf v. 3. 2. 2021, www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumen te/DiskE_Ersetzung_Begriff_Rasse.pdf;jsessionid=9E8F9299C1C2F5728D85C6286C3F2AB 8.2_cid289?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am 13. 1. 2022). 3 Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, S. 121, www.bundesregierung. de/resource/blob/974430/1990812/04221173eef9a6720059cc353d759a2b/2021-12-10koav2021-data.pdf?download=1 (zuletzt abgerufen am 13. 1. 2022). Eingehende Darstellung zur jüngsten Diskussion um den Begriff der „Rasse“ im Grundgesetz bei Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassisums, 2021, 449 ff.

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gegebenen Tagungsband „Diskriminierung – Antidiskriminierung“4 und sein darin verfasstes Kapitel zu „Gentechnologie und Diskriminierung“.5

II. Bestandsaufnahme 1. „Rasse“ als Rechtsbegriff a) Deutsches Recht Tatsächlich ist „Rasse“ ein Begriff des geltenden, positiven Rechts. Namentlich hat der Begriff der „Rasse“ Eingang in Diskriminierungsverbote gefunden. Ein Beispiel bildet der bereits mehrfach erwähnte Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz: „Niemand darf wegen (…) seiner Rasse (…) benachteiligt oder bevorzugt werden“. Zusätzlich findet sich der Begriff in adjektivischer Form im Wiedergutmachungsgebot des Art. 116 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz: „Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus (…) rassischen (…) Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern“. Diese letztere Norm wird in der Diskussion um den Begriff der „Rasse“ im Grundgesetz und dessen Streichung oder Ersetzung im Wege der Verfassungsänderung mitunter übersehen6 oder für unbedenklich erachtet.7 Der Begriff der „Rasse“ hat nach 1949 auch in das einfache Gesetzesrecht Eingang gefunden, freilich typischerweise in Form von Diskriminierungsverboten oder darauf implizit beruhenden Sanktionsnormen. So legt der Straftatbestand der Volksverhetzung in § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB den Begriff der „Rasse“ (in Gestalt des Tatbestandsmerkmals „rassische […] Gruppe“) zugrunde. Prägnantestes Beispiel für einfachgesetzliche Verbote rassischer Diskriminierung dürfte das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006 sein, das in den §§ 1, 19 Abs. 1 und §§ 2, 33 Abs. 2 Satz 1 AGG gleich mehrfach von „Benachteiligung[en] aus Gründen der Rasse“ spricht. Überhaupt hat erst das Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung vom 14. 8. 20068 eine Reihe weiterer Benachteiligungsverbote jeweils explizit „aus Gründen der Rasse“ bzw. „aus Gründen ihrer Rasse“ in das deutsche Recht eingeführt.9 4

Joerden (Hrsg.), Diskriminierung – Antidiskriminierung, 1996. Joerden, Gentechnologie und Diskriminierung, in: ders. (Fn. 4), 353. 6 So in BT-Drs. 19/20628. 7 So in BT-Drs. 19/24434, S. 2; BR-Drs. 641/20, S. 2; BMJV-Diskussionsentwurf (Fn. 2), S. 7. 8 BGBl. I S. 1897. 9 § 1 Abs. 1 SoldGG, § 75 Abs. 1 BetrVG, § 67 Abs. 1 Satz 1 BPersVG, § 27 Abs. 1 SprAuG, § 33c Abs. 1 SGB I, § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB III, § 19a Satz 1 SGB IV. Schon zuvor war der Begriff der „Rasse“ ausdrücklich in § 8 Abs. 1 Satz 1 BBG, § 3 Abs. 1 SoldG enthalten. 5

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b) Unionsrecht Hieran wird deutlich, dass gerade das Unionsrecht Vorschriften über Diskriminierungen ausdrücklich aus Gründen der „Rasse“ enthält.10 Das beginnt auf der Ebene des primären Unionsrechts mit der an die Unionsorgane adressierten, insofern ausschließlich objektiv-rechtlichen Querschnittsklausel11 des Art. 10 AEUV und der Ermächtigungsgrundlage für Antidiskriminierungsgesetzgebung in Art. 19 Abs. 1 AEUV. Hinzu kommt das grundrechtliche Diskriminierungsverbot wegen der „Rasse“ aus Art. 21 Abs. 1 GRC.12 Auf der Grundlage des Art. 13 EGV (jetzt: Art. 19 AEUV) erging die „Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft“13, welche den Begriff der „Rasse“ auf sekundärrechtlicher Ebene etabliert. c) Völkerrecht Beachtlich an Zahl sind auch die Verbote der Diskriminierung aus Gründen der „Rasse“ im Völkerrecht.14 Das beginnt mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR)15 von 1948 und den beiden sog. UN-Pakten (ICCPR16, ICESCR17) von 1966, welche den Menschenrechten der AEMR erst verbindliche Rechtsgeltung verschafft haben.18 Kurz zuvor war im Jahr 1965 die UN-Konvention über rassische Diskriminierung (ICERD)19 angenommen worden. Zu den weiteren im vorliegenden Zusammenhang relevanten und von Deutschland auch ratifizierten UN-Menschenrechtsverträgen gehören die Frauendiskriminierungskonvention

10

Nähere Darstellung etwa bei Barskanmaz, Recht und Rassismus, 1. Aufl. 2019, 153 ff. Zu dieser Charakterisierung etwa Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 10 AEUV Rn. 1. Vgl. hierzu auch Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EUV. 12 Zum Rang der GRC als Primärrecht siehe Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Halbs. 2 EUV. 13 ABl. L 180 vom 19. 7. 2000, S. 22. 14 Ausführliche Darstellung etwa bei Barskanmaz (Fn. 10), 145 ff. 15 Universal Declaration of Human Rights (GA/Res. 217 A [III]). 16 International Covenant on Civil and Political Rights (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966; BGBl. 1973 II S. 1534). 17 International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 9. Dezember 1966; BGBl. 1973 II S. 1570). 18 Die AEMR ist als Generalversammlungsresolution für sich genommen nicht rechtlich bindend. 19 International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. März 1966; BGBl. 1969 II S. 961). 11

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(CEDAW)20 von 1979, die Kinderrechtekonvention (CRC)21 von 1989, die Behindertenrechtekonvention (CRPD)22 und die Konvention gegen das Verschwindenlassen (ICPED)23, beide von 2006. Sie alle24 normieren Diskriminierungsverbote, welche unter anderem an das Merkmal „race“ anknüpfen,25 welches wiederum in der amtlichen deutschen Übersetzung des Bundesgesetzblatts mit „Rasse“ übersetzt wird. Außerdem kann noch auf die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)26 von 1951 hingewiesen werden, die ihrerseits hinsichtlich Diskriminierungs- bzw. Verfolgungsgründen an „Rasse“ anknüpft.27 Zu ergänzen wären schließlich die Völkermordkonvention28 von 1948 sowie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)29 von 1950, die ihrerseits den Begriff der „Rasse“ als Tatbestands- bzw. Diskriminierungsmerkmal verwenden.30 2. Wissenschaftsblindheit des Rechts? Die fortgesetzte Verwendung des Terminus „Rasse“ auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene seit dem zweiten Weltkrieg (schon in der UN-Charta31)32 20

Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979; BGBl. 1985 II S. 648). 21 Convention on the Rights of the Child (Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989; BGBl. 1992 II S. 121). 22 Convention on the Rights of Persons with Disabilities (Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006; BGBl. 2008 II S. 1420). 23 International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance (Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen vom 20. Dezember 2006; BGBl. 2009 II S. 933). 24 Bis auf die Behindertenrechtekonvention, welche aber immerhin in Präambel lit. p auf das Problem der „mehrfachen oder verschärften“ Formen der Diskriminierung gerade von Menschen mit Behinderung unter anderem auch wegen ihrer „Rasse“ Bezug nimmt. 25 Art. 2 Abs. 1, 16 Abs. 1 Satz 1 AEMR; Art. 2 Abs. 1, 4 Abs. 1, 24 Abs. 1 und 26 Satz 2 ICCPR; Art. 2 Abs. 2 ICESCR; Präambel Abs. 1, 2, 7 und 10, Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 vor lit. a, 4 lit. a, 5 vor lit. a ICERD (freilich enthält ICERD daneben in noch größerer Zahl den Terminus „Rassendiskriminierung“, ferner die Termini „Rassengruppen“ und „Rassenhass“); Präambel Abs. 3 und Art. 2 Abs. 1 CRC; Art. 13 Abs. 7 ICPED. 26 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 560). 27 Siehe dort Art. 1 A Abs. 2 UAbs. 1, 3, 33 Abs. 1 GFK. 28 Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. Dezember 1948 (BGBl. 1954 II S. 730). 29 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 2002 II S. 1054). 30 Art. II vor lit. a Völkermordkonvention; Art. 14 EMRK; siehe auch Art. 1 Abs. 1 12. ZPEMRK. 31 Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 (BGBl. 1973 II S. 431). 32 Art. 1 Abs. 3, 13 Abs. 1 lit. b, 55 lit. c, 76 lit. c UN-Charta.

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wirft freilich die Frage auf, ob die jeweiligen Normgeber wissenschaftsblind waren, indem sie die Erkenntnisse der biologischen Wissenschaft, dass sich innerhalb der Spezies homo sapiens keine menschlichen „Rassen“ im Sinne von Unterarten nachweisen lassen,33 ausblenden. Hier dürfte zunächst allerdings schon hinsichtlich des jeweiligen historischen Standes der Wissenschaft zu differenzieren sein. Im Jahr 1950 unterschied eine von der UNESCO eingesetzte Expertengruppe zwischen „Rassen“ im wissenschaftlichen und „Rassen“ im umgangssprachlichen Sinne. „Rassen“ im wissenschaftlichen Sinne seien Gruppen oder Populationen innerhalb der Spezies homo sapiens, welche durch einige Anhäufungen von Genen oder körperliche Wesensmerkmale charakterisiert seien.34 Nach herrschender, anthropologischer Meinung ließen sich dabei drei „Abteilungen“ unterscheiden, die „mongoloide“, die „negroide“ und die „caucasoide“.35 Demgegenüber würden in der Bevölkerung vielfach Volks-, religiöse, geografische, sprachliche oder kulturelle Gruppen als „Rassen“ bezeichnet, die aber besser „ethnische Gruppen“ genannt werden sollten.36 Zu unterscheiden sei letztlich die biologische Tatsache der „Rasse“ und der Mythos der „Rasse“. Es sei letzterer, welcher gewaltigen menschlichen und gesellschaftlichen Schaden angerichtet habe.37 In einer weiteren von der UNESCO publizierten, wiederum von Wissenschaftlern ausgearbeiteten Erklärung aus dem Jahr 195138 wird ebenso davon ausgegangen, dass sich wissenschaftlich drei „Hauptrassen“ der einen menschlichen Spezies (homo sapiens) unterscheiden ließen.39 Zugleich wird betont, dass die körperlichen Merkmale, welche diese Hauptgruppen unterschieden, gängige Vorstellungen von „Superiorität“ oder „Inferiorität“, wie sie bisweilen bei Bezugnahmen auf diese Gruppen mitgedacht würden, nicht trügen.40 Insgesamt zeigen diese und weitere umfangreiche wissenschaftliche Stellungnahmen,41 dass die ganz h. M., insbesondere unter Anthropologen, das „Rasse“-Konzept als wissenschaftlich begriff, eine daraus ableitbare, normative Differenzierung, insbesondere jede rassenideologische Vereinnahmung des „Rasse“-Begriffs aber ver-

33 So und näher hierzu etwa Richter/Göpel, Biologie in unserer Zeit 51 (2021), 179 ff.; gleichsinnig z. B. bereits Seidler, Die biologi(sti)schen Grundlagen des Rassismus, in: Stagl/ Reinhard (Hrsg.), Grenzen des Menschseins. Probleme einer Definition des Menschlichen, 2005, 705, 721 ff. 34 UNESCO, The Race Question, 1950, S. 5, abrufbar unter www.unesdoc.unesco.org/ark:/ 48223/pf0000128291 (zuletzt abgerufen am 13. 1. 2022). 35 UNESCO (Fn. 34), S. 6. 36 UNESCO (Fn. 34), S. 6. 37 UNESCO (Fn. 34), S. 8. 38 „Statement on the Nature of Race and Racial Differences“. 39 UNESCO, The Race Concept, 1952, S. 12, abrufbar unter https://unesdoc.unesco.org/ ark:/48223/pf0000073351 (zuletzt abgerufen am 13. 1. 2022). 40 UNESCO (Fn. 39), S. 12. 41 UNESCO (Fn. 39), S. 17 ff., 36 ff., 71 ff.

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warf.42 Dass dieses differenzierende Verständnis, das nach einem wissenschaftlichen „Rasse“-Begriff einerseits und einem rassenideologisch vereinnahmten bzw. überlagerten „Rasse“-Begriff andererseits zu unterscheiden suchte, auch der Vorstellungswelt der Väter und Mütter des Grundgesetzes in den Jahren 1948/49 entsprochen haben dürfte,43 lässt sich anhand der entstehungsgeschichtlichen Dokumente zu den Debatten im Parlamentarischen Rat belegen.44 Der Stand der Wissenschaft hat sich indes fortentwickelt. Im Jahr 2019 formulierte die Jenaer Erklärung eine Erkenntnis, die sich wohl schon viele Jahre zuvor durchgesetzt hatte: „Erst durch die wissenschaftliche Erforschung der genetischen Vielfalt der Menschen wurden die Rassenkonzepte endgültig als typologische Konstrukte entlarvt.“45 Tatsächlich haben der EU-Gesetzgeber und der deutsche Gesetzgeber den jeweiligen Stand der Wissenschaft in jüngerer Zeit ausdrücklich zur Kenntnis genommen. So heißt es in den Erwägungsgründen zur Richtlinie der EU „zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft“46 aus dem Jahr 2000: „Die Europäische Union weist Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, zurück. Die Verwendung des Begriffs ,Rasse‘ in dieser Richtlinie impliziert nicht die Akzeptanz solcher Theorien.“47 Hintergrund für diese Klarstellung ist, dass der Begriff der „Rasse“ offenbar „bereits bei der Erarbeitung der Antirassismus42 Erst später hat sich die UNESCO klar und unmissverständlich gegen „theories“ (im Sinne wissenschaftlicher Theorien) gewandt, „which attempt to determine the existence of socalled distinct human races“; so z. B. Nr. 6 des Outcome Document of the Durban Review Conference von 2009, abgedruckt in: UNESCO, Strengthening the Fight Against Racism and Discrimination, 2009, S. 72, abrufbar unter www.unesdoc.unesco.org/ark:/48223/ pf0000184861 (zuletzt abgerufen am 13. 1. 2022); so bereits die Durban Declaration von 2001, abgedruckt in: Report of the World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance, UN-Dok. A/CONF.189/12, S. 8, 10. Dagegen verharrten die Verhandlungen von ICERD wohl immer noch in der Vorstellung, nicht „Rasse“ als Konzept sei das Problem, sondern daraus abgeleitete Überlegenheitsansprüche. Hierzu Angst, in: Angst/Lantschner (Hrsg.), ICERD, 2020, Einführung 1.1, Rn. 1; Gragl, in: Angst/Lantschner (Hrsg.), ICERD, 2020, Artikel 1 Rn. 4. 43 Davon geht Kingreen, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar, 2020, Art. 3 Rn. 517 aus; in der Sache ebenso Liebscher et al., KJ 2012, 204 (208). Tatsächlich zeigen Äußerungen einzelner Mitglieder des Parlamentarischen Rates, dass die Existenz von „Rassen“ als selbstverständlich angenommen wurde, siehe z. B. in Deutscher Bundestag/ Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 5/I, 1993, S. 741, 743. Ansonsten scheint der Begriff der „Rasse“ nicht diskutiert worden zu sein (siehe die Diskussion des Gleichheitssatzes a. a. O., S. 738 – 754). 44 Hierzu etwa Liebscher, AöR 146 (2021), 87 (115 ff.). 45 Jenaer Erklärung: Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung, S. 2, www.uni-jena.de/unijenamedia/universit%C3%A4t/abteilung+ hochschulkommunikation/presse/jenaer+erkl%C3%A4rung/jenaer_erklaerung.pdf (zuletzt abgerufen am 13. 1. 2022); in diesem Sinne etwa schon Seidler (Fn. 33), 721 ff. 46 Oben in und bei Fn. 13. 47 EG 6 Richtlinie 2000/43/EG. Ebenso zum „Rasse“-Begriff im ICESCR der ICESCRAusschuss, General Comment No. 20, UN-Dok. E/C.12/GC/20, 2. Juli 2009, Rn. 19.

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richtlinie 2000/43/EG intensiv diskutiert worden [ist]“, „[d]ie Mitgliedstaaten und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften (…) letztlich hieran [aber] fest gehalten [haben]“.48 Der deutsche Gesetzgeber hat sich bei der Umsetzung jener Richtlinie in das deutsche Recht im Jahr 2006 der Einschätzung des Gemeinschaftsgesetzgebers in seiner Begründung zum AGG vorbehaltlos angeschlossen.49 Weiter hat er ausgeführt, „dass nicht das Gesetz das Vorhandensein verschiedener menschlicher ,Rassen‘ voraussetzt, sondern dass derjenige, der sich rassistisch verhält, eben dies annimmt“, weshalb zur Verdeutlichung „die Formulierung ,aus Gründen der Rasse‘ und nicht die in Artikel 3 Abs. 3 GG verwandte Wendung ,wegen seiner Rasse‘ gewählt“ worden sei.50 Diese Aussage51 lässt sich losgelöst vom konkreten Zeitpunkt der Normgebung auf alle Verbote der Unterscheidung nach dem Merkmal der „Rasse“ erstrecken. Denn sie erhellt, dass es für das Recht letztlich nicht darauf ankommt, ob es „Rassen“ innerhalb der Spezies homo sapiens tatsächlich, d. h. nach Maßstäben naturwissenschaftlicher Evidenz gibt.52 Die Funktion des Rechts ist nämlich nicht, in der Zeit sich wandelnde naturwissenschaftliche Erkenntnis aufzunehmen und als objektive Wahrheit rechtsförmlich zu verlautbaren. Andernfalls droht der Normsetzer dem biologistischen Fehlschluss zu verfallen.53 Aus dem biologischen Sein folgt eben noch kein normatives Sollen. Vielmehr besteht die Funktion des Rechts konkret auf dem Gebiet des Grund- und Menschenrechtsschutzes darin, historische Unrechtserfahrung aufzunehmen und solches Unrecht um der Idee der Gerechtigkeit willen für die Zukunft auszuschließen.

III. Definitionsproblem Die Übernahme des Begriffs der „Rasse“ in das Recht führt freilich zur unangenehmen Frage, wie dieser damit zum Rechtsbegriff gewordene Terminus zu definieren sei.

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BT-Drs. 16/1780, S. 30 f. BT-Drs. 16/1780, S. 31. 50 BT-Drs. 16/1780, S. 31. 51 Dass „nicht das Gesetz das Vorhandensein verschiedener menschlicher ,Rassen‘ voraussetzt, sondern dass derjenige, der sich rassistisch verhält, eben dies annimmt“. 52 In diesem Sinne auch Eckertz-Höfer, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 3 Abs. 2, 3 Rn. 115; Kischel, AöR 145 (2020), 246, 248, 261. 53 Siehe zur Problematik des biologistischen Fehlschlusses auch Joerden (Fn. 5), 353 f. 49

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1. Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht hat bislang nicht zur Erhellung des „Rasse“-Begriffs im Grundgesetz beitragen.54 Immerhin hat das Gericht aber das tatbestandliche Abstellen der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. 11. 194155 darauf, dass die von der Rechtsfolge der Ausbürgerung betroffene Person „Jude“ ist, als Anknüpfung „an ein ,rassisches‘ Merkmal“ qualifiziert56 und in einen, allerdings recht losen, Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 3 GG gestellt.57 Bemerkenswert daran ist, dass das Bundesverfassungsgericht selbst den Begriff „rassisch“ in Anführungszeichen gesetzt hat. Bestenfalls andeutungsweise könnte einem späteren Kammerbeschluss entnommen werden, dass eine Benachteiligung wegen Zugehörigkeit zu den Sinti die Merkmale „Abstammung“ oder „Rasse“ betreffen könnte.58 Außerdem hat das Gericht in einer jüngeren Entscheidung, ohne das näher zu begründen, bestätigt, „dass (…), wenn eine Person nicht als Mensch, sondern als Affe adressiert wird, (…) das in Art. 3 III 1 GG ausdrücklich normierte Recht auf Anerkennung als Gleiche unabhängig von der ,Rasse‘ verletzt wird.“59 2. Staatsrechtliches Schrifttum In der deutschen Staatsrechtslehre wird der grundgesetzliche Rechtsbegriff „Rasse“ (zwecks Abgrenzung von den anderen nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG strikt verbotenen Diskriminierungsmerkmalen) überwiegend eng gedeutet als „Gruppe (…) mit bestimmten wirklich oder vermeintlich biologisch vererbbaren Merkmalen (…), wobei es meist um vermeintliche Rassemerkmale geht“.60 Diese biologisch-genetische Deutung des „Rasse“-Begriffs dürfte gegenwärtig noch vorherrschend sein.61 Sie ist zugleich insofern schillernd, als die jeweilige Kommentierung vielfach 54 Zur gleichfalls wenig ergiebigen Rechtsprechung des EuGH und des EGMR Barskanmaz (Fn. 10), 166 ff., 260 ff.; Kingreen, Bonner Kommentar GG, Art. 3 Rn. 520 ff., 526 ff.; Liebscher, AöR 146 (2021), 101, 104 ff. 55 RGBl. I S. 722. 56 BVerfGE 23, 98 (105). 57 BVerfGE 23, 98 (106 f.). 58 BVerfG, NJW 1993, 3316 (3317). 59 BVerfG, NZA 2020, 1704 (1706). 60 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 140. 61 Eckertz-Höfer, AK-GG, Art. 3 Rn. 115; Englisch, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 3 Rn. 79; Gröpl, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, Grundgesetz. Studienkommentar, 4. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 90; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 129; Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 49. Ed. 12. 11. 2021, Art. 3 Rn. 223; Kischel, AöR 145 (2020), 230, 246 ff., 261; Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 3 Abs. 3, Rn. 45 (2015); Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 295; Sachs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. VIII, 2010, § 182 Rn. 44; Sodan, in: Sodan (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 28; Uerpmann-

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offen lässt, ob der auf diese Weise biologisch-genetisch gedeutete Rechtsbegriff der „Rasse“ des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG jedenfalls auch ein biologisch-wissenschaftlich abgesichertes Phänomen meint. Immerhin finden sich auch im Schrifttum Erläuterungen, die explizit festhalten, dass „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG „keinen irgendwie wissenschaftlich fundierten Begriff [meint]“.62 Denn „Rasse“ sollte von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als „Differenzierungsgrund unabhängig davon verboten sein (…), ob die Differenzierung sich auf einen wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Rassenbegriff stützt“.63 Noch deutlicher soll sich nach anderer Auffassung das Merkmal der „Rasse“ gegen „Rassismus“ wenden, „der Menschen allein aufgrund bestimmter äußerlicher Merkmale oder Gruppenzugehörigkeiten diskriminiert“.64 Diese Auffassung verzichtet bewusst auf eine „Rassen“-Definition und beschreibt die von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG inkriminierten Situationen „rassistischer“ Diskriminierung.65 Im Ergebnis herrscht freilich prinzipiell Einigkeit. Das Verbot der Diskriminierung wegen der „Rasse“ des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG greift ohne weiteres zunächst dann, wenn eine Menschengruppe rassenideologisch als „Rasse“ etikettiert und deshalb benachteiligt wird.66 Es genügt aber auch jede unmittelbar oder mittelbar benachteiligende Anknüpfung an bestimmte körperliche Merkmale wie „Pigmentierung der Haut“,67 „Haarstruktur“ oder „Physiognomie“.68 Solche Merkmale werden zwar üblicherweise im Zuge „rassistische[r] Kategorisierung von Menschen herangezogen“.69 Auf eine spezifisch rassistische Motivation kommt es aber im Kontext von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht an, d. h. die Anknüpfung an die vorgenannten körperlichen Merkmale muss nicht notwendig rassenideologisch angeleitet sein.70 Fer-

Wittzack, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. V, 2013, § 128 Rn. 54; teilweise auch Wolff, in: Hömig/Wolff (Hrg.), Grundgesetz, 11. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 21. 62 Heun, GG-Kommentar, Art. 3 Rn. 129; im Anschluss daran ebenso Langenfeld, GGKommentar, Art. 3 Rn. 45; der Sache nach gleichfalls Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Grundgesetz, 15. Aufl. 2022, Art. 3 Rn. 82. 63 Heun, GG-Kommentar, Art. 3 Rn. 129. 64 Kingreen, Bonner Kommentar GG, Art. 3 Rn. 517. 65 So auch der Ansatz von Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl., Bd. 1, 2018, Art. 3 Rn. 469 f. 66 So im Ergebnis wohl Baer/Markard, GG, Art. 3 Rn. 470; Kischel, BeckOK GG, Art. 3 Rn. 223; Krieger, GG, Art. 3 Rn. 82; Sachs, Grundgesetz, Art. 3 Rn. 44. In diesem Sinne könnte sich auch BVerfGE 23, 98 (106 f.) deuten lassen (hierzu oben bei Fn. 55–57). 67 Hierzu der Fall des durch die Laute „Ugah, Ugah“ als Affe adressierten und dadurch in seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verletzten Betriebsratsmitglieds, das so von einem anderen Betriebsratsmitglied spezifisch wegen seiner dunklen Hautfarbe angesprochen wurde, was zugleich einen Verstoß gegen das Rassendiskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG implizierte (BVerfG, NZA 2020, 1704 [1706]). 68 Baer/Markard, GG, Art. 3 Rn. 470; ebenso Krieger, GG, Art. 3 Rn. 82. 69 Baer/Markard, GG, Art. 3 Rn. 470. 70 Ebenso Payandeh, NVwZ 2021, 1830 (1832).

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ner fallen „Farbige, Mischlinge, Juden, Sinti und Roma“71 unter den vom Merkmal „Rasse“ ausgelösten Schutz vor Diskriminierung durch Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.72 Erfasst sind allgemeiner Gruppenbildungen anhand von „Ethnizität“.73 3. Versuch einer Annäherung a) Wortlaut Wendet man die kanonisierten juristischen Auslegungsmethoden an, so führt der gewöhnliche Gebrauch des Wortes „Rasse“, folgt man dem Duden, zurück zu einem biologischen Begriffsverständnis: „Rasse“ bezeichne „Menschen bzw. Bevölkerungsgruppen mit bestimmten biologischen Merkmalen“.74 Allerdings dürfte ein alltagssprachliches Verständnis des Wortes „Rasse“ darüber hinausgehen und gerade auch Gruppen erfassen, wie sie anhand von Merkmalen der „Ethnizität“ (wie Volkszugehörigkeit, Religion, Geografie, Sprache, Kultur oder Tradition) gebildet werden75 und sich unter Umständen auch selbst definieren.76 Ein wissenschaftliches Begriffsverständnis vermag schon deshalb kaum weitere Aufklärung zu bieten, weil jedenfalls eine Wissenschaftsdisziplin, die moderne Biologie (oder zumindest bestimmte ihrer Teildisziplinen), das von ihr selbst (mit-)entwickelte Konzept der „Rasse“ offenbar schon längst wieder verworfen hat.77 Zu bedenken ist freilich, dass andere wissenschaftliche Disziplinen „Rasse“ gerade zu ihrem ureigenen Gegenstand gemacht haben, z. B. die „Critical Race Theory“ mit ihrem Ursprung in der US-amerikanischen Rechtswissenschaft. Solche Disziplinen können den Begriff

71 Zur Problematik des „Mischling“-Begriffs, in welchem in der Tat ein rassenideologischer Unterton fortgesetzt mitschwingt, Baer/Markard, GG, Art. 3 Rn. 470; Liebscher/Naguib/Plümecke/Remus, KJ 2012, 208. 72 Jarass, GG, Art. 3 Rn. 140; ebenso Eckertz-Höfer, AK-GG, Art. 3 Rn. 115; im Ergebnis gleichfalls Baer/Markard, GG, Art. 3 Rn. 470; Englisch, GG-Kommentar, Art. 3 Rn. 79; Heun, GG-Kommentar, Art. 3 Rn. 129. 73 Baer/Markard, GG, Art. 3 Rn. 470; vgl. auch Eckertz-Höfer, AK-GG, Art. 3 Rn. 115 („ethnische Minderheiten“). Auf den direkten Zusammenhang von „Ethnizität“ und „Rasse“ hebt namentlich auch der EGMR ab: EGMR, Sejdic´ and Finci v. Bosnia and Herzegovina, Beschw.-Nr. 27996/06 und 34836/06, Rn. 43; Timishev v. Russia, Beschw.-Nr. 55762/00 und 55974/00, Rn. 55 f. 74 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 9. Aufl. 2019, 1443. 75 Siehe hierzu nochmals die UNESCO-Expertengruppe von 1950 (oben in und bei Fn. 34–39). 76 Siehe Wolff, GG, Art. 3 Rn. 21, der „Rasse“ (unter anderem) so definiert, dass der Begriff „bestimmte Merkmale [vereinigt], die sich eine Gruppe durch Volkszugehörigkeit identitätsbegründend als Schicksalsgemeinschaft zuschreibt“. 77 Paradigmatisch Jenaer Erklärung (Fn. 45). Ebenso die Einschätzung von Hilgendorf, JZ 2021, 853 (858).

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der „Rasse“ zumal als analytische Kategorie gar nicht entbehren.78 Immerhin aber dürften sich moderne Biologie und z. B. „Critical Race Theory“ in der Auffassung treffen, dass „Rassen“ in einem biologischen Sinne nicht existieren, wohl aber als soziales Konstrukt.79 b) Entstehungsgeschichte Die Entstehungsgeschichte vermag den Begriff der „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG gleichfalls nicht aufzuhellen. Das Merkmal spielte in den Diskussionen des Parlamentarischen Rates praktisch keine Rolle. Deutlich wird aber immerhin, dass die Diskriminierungsverbote (in ihrer Gesamtheit) auf die „Erfahrungen der Hitlerzeit“ bzw. „der Vergangenheit“ antworten sollten.80 Betrachtet man die Stellungnahmen der von der UNESCO in den Jahren 1950 – 1952 beigezogenen Experten,81 spricht viel dafür, dass zu jener Zeit „Rasse“ jedenfalls auch als wissenschaftsbasiertes Konzept verstanden wurde.82 c) Systematik Die systematische Stellung innerhalb von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG erlaubt gleichfalls keine klaren Rückschlüsse auf die Bedeutung des Begriffs der „Rasse“. Die dort genannten weiteren verbotenen Diskriminierungsgründe83 benennen angeborene Merkmale (Geschlecht, Abstammung84) ebenso wie anerzogene Merkmale (Sprache, Glaube, religiöse und politische Anschauungen) und selbst gewählte Merkmale (Sprache85, Glaube, religiöse und politische Anschauungen), biologische Merkmale (Geschlecht, Abstammung), geografische Merkmale (Heimat86), kulturelle Merkmale (Sprache, Glaube, religiöse Anschauungen), soziale Merkmale (Sprache, Herkunft87), Merkmale der objektiven, naturwissenschaftlich erfassbaren Wirklichkeit 78 Hierzu Barskanmaz, Critical Race Theory in Deutschland, VerfBlog v. 24. 07. 2020, abrufbar unter www.verfassungsblog.de/critical-race-theory-in-deutschland/ (zuletzt abgerufen am 13. 1. 2022); siehe auch Hilgendorf, JZ 2021, 858. 79 Vgl. hierzu die Jenaer Erklärung (Fn. 45) und Barskanmaz (Fn. 78). Zur „antirassistischen Aneignung des Begriffs Rasse“ Liebscher, AöR 146 (2021), 103. 80 Liebscher, AöR 146 (2021), 116. 81 Oben in und bei Fn. 34–39. 82 Siehe auch Liebscher, AöR 146 (2021), 98 f. 83 Die sich vielfach keineswegs trennscharf voneinander unterscheiden lassen. So exemplarisch zu „Abstammung“, „Heimat“ und „Herkunft“ BVerfGE 9, 124 (128). 84 Sofern jene verstanden wird als „vornehmlich die natürliche biologische Beziehung eines Menschen zu seinen Vorfahren“ (BVerfGE 9, 124 [128]). 85 Z. B. Wahl der (muttersprachlichen) Hochsprache anstatt des im Elternhaus vermittelten (muttersprachlichen) Dialekts. Zum Merkmal „Sprache“ etwa Nußberger, GG, Art. 3 Rn. 300. 86 Siehe BVerfGE 102, 41 (53). 87 Verstanden als „ständisch-soziale Abstammung und Verwurzelung“ (BVerfGE 5, 17 [22]).

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(Geschlecht, Abstammung) oder Merkmale der allein sprachlich konstruierten Wirklichkeit (Glaube, religiöse Anschauungen). Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht postulieren, Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG greife mit dem Begriff der „Rasse“ spezifisch ein ganz bestimmtes, (schein-)wissenschaftlich fundiertes Konzept auf. Mit dem Merkmal „Rasse“ kann eben auch nur das soziale Konstrukt gemeint sein: die sprachlich erzeugte und vermittelte, mit Überlegenheitsansprüchen aufgeladene Vorstellung von Menschengruppen, die nach eben diesen Vorstellungen durch je gemeinsame, sinnlich wahrnehmbare oder nur postulierte, körperliche oder nicht-körperliche Merkmale des Andersseins gebildet werden.88 Wesentlich für das Verständnis des an „Rasse“ anknüpfenden Diskriminierungsverbots dürfte die Nähe des (gesamten) Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zur Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG sein. „[D]ie Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG [stellen] sich (…) als Konkretisierung der Menschenwürde dar (…)“.89 Die freie Selbstbestimmung des Einzelnen gründet in der Garantie der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG.90 Diese individuelle Selbstbestimmung wird aber durch die Zuordnung des Einzelnen zu einer bestimmten Gruppe beeinträchtigt, soweit sich diese Gruppenzuordnung mit rechtlichen oder tatsächlichen Nachteilen für den Einzelnen verbindet. Die Einordnung in eine nach bestimmten objektiv wahrnehmbaren bzw. überprüfbaren oder auch nur frei erfundenen Merkmalen gebildete Gruppe entäußert den Einzelnen seiner individuellen freien Selbstbestimmung, sofern ihm wegen seines Seins als Teil dieser Gruppe Nachteile in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht widerfahren. In solchen Situationen wird der Einzelne zugleich seiner Individualität beraubt, weil er nicht mehr als individuelle Person, sondern nur noch als Teil eines Kollektivs wahrgenommen und behandelt wird.91 Darin liegt eine Unterordnung der betreffenden Person unter das Kollektiv, welche die Subjektqualität des Einzelnen in Frage stellt oder zumindest in Frage zu stellen droht.92 Darüber hinaus zeigt sich die Infragestellung der Subjektqualität des Einzelnen auch darin, dass Ungleichbehandlungen wegen der „Rasse“ oder anderer Merkmale des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG „an die Eigenschaft eines Menschen (…) knüpfen, die nicht der

88 So gesehen würde die These von Kingreen, Bonner Kommentar GG, Art. 3 Rn. 517, nicht zutreffen, wonach „das Merkmal ,Rasse‘ im Kreis der anderen Merkmale des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG einen Sonderstatus [hat], denn es knüpft ein Verbot an einen Tatbestand, den es gar nicht gibt“. Als soziales Konstrukt ist „Rasse“ existent und sehr real. 89 BVerfGE 144, 20 (208). Siehe hierzu auch BVerfG, NZA 2020, 1704 (1706). 90 Vgl. nur BVerfGE 144, 20 (207): Der „Garantie der Menschenwürde (…) liegt eine Vorstellung vom Menschen zugrunde, die diesen als Person begreift, die in Freiheit über sich selbst bestimmen und ihr Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann“. 91 Hierbei ist daran zu erinnern, dass die Menschenrechte entstehungsgeschichtlich nicht nur zum Zweck des Schutzes des Einzelnen vor der rechtlich ungebundenen Zwangsgewalt des absolutistischen Souveräns entwickelt worden sind, sondern zugleich den Einzelnen aus den sozialen Vermachtungen einer korporatistisch-ständisch organisierten Feudal- und Zunftgesellschaft freisetzen sollten. 92 Vgl. nur BVerfGE 144, 20 (207).

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Steuerbarkeit durch ihn selbst unterliegen“, was „deshalb von vornherein ungerecht und unmoralisch [ist]“.93 d) Sinn und Zweck Daraus erhellt nun der eigentliche Sinn des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG und namentlich des darin enthaltenen Verbots der „Rassen“-Diskriminierung. Es geht Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG um die Freisetzung des Menschen aus Gruppen, mögen jene nach wissenschaftlich belegbaren Kriterien gebildet oder bloß sozial konstruiert sein, weil und soweit die Gruppenzugehörigkeit zur rechtlichen oder tatsächlichen Schlechterstellung missbraucht wird. Es geht also Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darum, den Einzelnen im Interesse seiner freien Selbstbestimmung davor zu schützen, dass er wegen seiner Zugehörigkeit oder Zuweisung zu einer Gruppe Nachteile in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht erleiden muss. Dabei rekurriert Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG spezifisch auf solche Gruppenmerkmale, mit welchen sich historische Erfahrungen schwersten Unrechts, oftmals Massenunrechts (wie Pogrome, Vertreibung, Sklaverei, Entrechtung oder Völkermord) verbinden. 4. „Rasse“ als Speicher historischer Unrechtserfahrung Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist daher samt aller seiner Merkmale (nicht anders freilich als alle anderen Grund- und Menschenrechte auch) ein Speicher historischer Unrechtserfahrung.94 Zu dieser Erfahrung (extremsten) historischen Unrechts gehört die Diskriminierung aus Gründen der „Rasse“.95 Für die daraus abgeleitete Verbotsnorm des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist unerheblich, ob es „Menschenrassen“ in einem biologischen Sinne wahrhaft gibt oder ob die verschiedensten (schwerstes) Unrecht darstellenden 93

Joerden (Fn. 5), 354. Das ist genau der Grund, warum sich auf der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus von 2001 in Durban (Südafrika) zahlreiche Staaten Afrikas und der Karibik vehement gegen den Antrag europäischer Staaten stellten, den Begriff der „Rasse“ aus den Abschlussdokumenten zu verbannen. Aus ihrer Sicht markiert spezifisch der Begriff der „Rasse“ das von den (europäischen) Kolonialmächten verübte Massenunrecht, namentlich das der Sklaverei. Hierzu Angst, ICERD, 2020, Einführung 1.1, Rn. 9; Eidgenössisches Departement des Innern (Hrsg.), Weltkonferenz gegen Rassismus 2001, 2002, S. 5. Der Charakter des Begriffs der „Rasse“ als Speicher historischer Unrechtserfahrung wird z. B. in der südafrikanischen Verfassung besonders deutlich. Hierzu de Vos, „Race“ and the Constitution: A South African perspective, VerfBlog v. 26. 06. 2020, www.verfassungsblog.de/race-and-theconstitution-a-south-africanperspective/ (zuletzt abgerufen am 13. 1. 2022). Zu Recht kritisch zu einer Ersetzung des Begriffs „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, weil dadurch „die besondere deutsche Verantwortung und historische Rolle (…) verwisch[t]“ zu werden droht, deshalb auch Krieger, GG, Art. 3 Rn. 83; wohl gleichsinnig Boysen, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 179. 95 Ähnlich Krieger, GG, Art. 3 Rn. 83. 94

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Formen der „Rassen“-Diskriminierung jemals zu irgendeiner Zeit wissenschaftlich fundiert waren. Wesentlich ist, dass unter anderem genau dieses Merkmal („Rasse“) ausdrücklich verwendet wurde, um bestimmte nach diesem Merkmal gruppierte Menschen ihres Status der Gleichheit zu berauben, ihnen insbesondere Freiheiten und Rechte abzuerkennen, unter Umständen bis hin zur absoluten Rechtlosstellung (Sklaverei). So ist also (auch) der Begriff der „Rasse“ in allen bereits eingangs erwähnten Diskriminierungsverboten ein Speicher historischer Unrechtserfahrung: Er nimmt all diejenigen Merkmale in sich auf, auf welche jemals als „Rassen“-Diskriminierung erfasste Ungleichbehandlungen abstellten. Als Speicher historischer Unrechtserfahrung kann Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG aber auch nur wirken und funktionieren, wenn das Merkmal, an welches schwerste benachteiligende Ungleichbehandlungen anknüpften, explizit genannt wird: die „Rasse“. In diesem Sinne begreift ICERD als „,Rassendiskriminierung‘ jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung“ (Art. 1 Abs. 1 ICERD). Das Verbot der „Rassen“-Diskriminierung wird damit über den geächteten Diskriminierungsgrund der „Rasse“ hinaus auf weitere zur Gruppenbildung herangezogene, körperliche wie nicht-körperliche Merkmale von Menschen erstreckt. Es verweist so auf die (seinerzeit) historisch überlieferte Breite der Anknüpfungen für als (schlimmstes) Unrecht erkannte Ungleichbehandlungen wegen eines zugeschriebenen gruppenzugehörigen Andersseins. 5. Definitionsversuch Vor diesem gesamten Hintergrund muss eine Definition des Rechtsbegriffs der „Rasse“ stets misslingen, die nur auf Biologie oder Genetik zurückgreift. Denn es geht darum, den Begriff der „Rasse“ als Speicher historischer Unrechtserfahrung zu erfassen und daraus den Begriffsinhalt zu abstrahieren. „Rassen“ – speziell und nur im Rechtssinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG (und anderer Diskriminierungsverbote) – sind dann sprachlich erzeugte und vermittelte, soziale Konstruktionen von Gruppen, in die Menschen durch je gemeinsame, sinnlich wahrnehmbare oder zumindest objektiv überprüfbare oder auch nur willkürlich behauptete und zugeschriebene, körperliche96 oder nicht-körperliche97 Merkmale des Anderssein eingeordnet werden.98 96

Bsp.: Hautfarbe, Haarstruktur, Körperbau. Bsp.: Volkszugehörigkeit, Religion, Geografie, Sprache, Kultur, Traditionen. 98 Dass dieser Definitionsversuch keine ganz exakten Grenzlinien zu anderen Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG (z. B. Abstammung, Heimat oder Herkunft) zu ziehen vermag, dürfte am Ende zutreffen, ist aber nicht wirklich das Problem. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist darauf von vornherein nicht angelegt (siehe bereits BVerfGE 9, 124 [128]), sondern bildet eine Sammlung von Differenzierungsmerkmalen, mit welchen sich die historische Erfahrung schweren oder schwersten Unrechts verbindet. Die Abgrenzungsschwierigkeiten sind dementsprechend dem historischen Vermächtnis menschheitsgeschichtlicher Diskriminierungs97

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IV. Aktuelle Diskussion 1. Vorschlag einer Verfassungsänderung Die nach der Tötung George P. Floyds auch in Deutschland wieder aufgeflammte Rassismusdebatte hat, wie bereits eingangs bemerkt, die Ersetzung des Begriffs der „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG wieder auf die politische Agenda gesetzt.99 Der Terminus „Rasse“ soll durch „rassistisch“ ersetzt werden.100 Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG könnte danach z. B. wie folgt lauten:101 „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder aus rassistischen Gründen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Für diese Änderung lässt sich anführen, dass die eigentliche Zielrichtung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG die Ächtung und Bekämpfung „rassistischer“ Diskriminierung ist.102 2. Gegenargumente Nicht zu überzeugen vermag dagegen das Argument, dass „schon durch die Verwendung des Begriffs [sc. der ,Rasse‘] die damit assoziierten, obgleich vom Grundgesetz abgelehnten, Ideologien präsent bleiben könnten“.103 Warum das bei Verwendung des Wortes „rassistisch“ anders sein soll, erschließt sich nicht. Rassenideologien sind gerade rassistische Ideologien. Eine weitere Begründung für die vorgeschlagene Wortlautänderung ist, dass die bisherige Begrifflichkeit „Anlass zu dem Fehlschluss bieten [könnte], das Grundgesetz erkenne die Existenz menschlicher Rassen im Sinne kategorialer Unterschiede

praktiken geschuldet, die sich unter verschiedenen terminologischen Vorzeichen immer wieder am „Fremden“ und „Anderen“ störten bzw. stören wollten. 99 Zur langjährigen Debatte um eine Änderung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG etwa Liebscher, AöR 146 (2021), 90 f. 100 Durchgesetzt zu haben scheint sich die Auffassung, dass „Rasse“ nicht durch „Ethnie“ oder „ethnische Herkunft“ ersetzt werden sollte. Hierzu BMJV-Diskussionsentwurf (Fn. 2), S. 4; Cremer, Das Verbot rassistischer Diskriminierung, 2020, 26; Baer/Markard, GG, Art. 3 Rn. 471; Kutting/Amin, DÖV 2020, 615; Liebscher, AöR 146 (2021), 94; Liebscher/Naguib/ Plümecke/Remus, KJ 2012, 214. 101 BMJV-Diskussionsentwurf (Fn. 2). 102 BVerfG, NZA 2020, 1704 (1705); zustimmend Payandeh, NVwZ 2021, 1832; in diesem Sinne etwa auch schon Kingreen, Bonner Kommentar GG, Art. 3 Rn. 517; ferner Cremer (Fn. 100), 18; Kutting/Amin, DÖV 2020, 616; Liebscher et al., KJ 2012, 207. Gegen die Begrifflichkeit „rassistische Diskriminierung“ (und für die Terminologie „rassische Diskriminierung“) Barskanmaz (Fn. 10), 25. 103 BMJV-Diskussionsentwurf (Fn. 2), S. 1, 4, 6.

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zwischen Menschen an“.104 Im Anschluss an die AGG-Begründung105 stellt sich freilich die Frage, inwiefern der Begriff der „Rasse“ bei Ersetzung durch „rassistisch“ überhaupt aus dem Bewusstsein der Menschen zu verschwinden vermag.106 Denn augenscheinlich steht Rassismus mit „Rasse“ in direkter terminologischer Verbindung und kann ohne Rückgriff auf den Begriff der „Rasse“ auch nicht erläutert werden.107 Mit der Ersetzung von „Rasse“ durch „rassistisch“ schert der Änderungsvorschlag ferner aus der Regelungskonzeption des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, aber auch der entsprechenden unions- und völkerrechtlichen Diskriminierungsverbote aus. Benannt werden darin stets Merkmale, die eine differenzierte Behandlung prinzipiell nicht tragen dürfen, nicht dagegen die an solche Merkmale anknüpfenden Ideologien, Gesinnungen oder Praktiken. Verboten wird beispielsweise eine Diskriminierung aus Gründen des „Geschlechts“, nicht aber „aus sexistischen Gründen“,108 eine Diskriminierung aus Gründen der „sexuellen Ausrichtung“, nicht aber „aus homophoben Gründen“, oder eine Diskriminierung aus Gründen der „Heimat“, nicht aber „aus fremdenfeindlichen Gründen“. Nicht völlig von der Hand weisen lässt sich deshalb das Argument, der Tatbestand der „rassistischen Gründe“ könnte in Zukunft so verstanden werden,109 dass die Diskriminierung ideologisch oder irgendwie aggressiv oder mindestens feindselig motiviert sein müsse.110 Das wäre auch aus der unions- und völkerrechtlichen Perspektive eine nicht hinnehmbare Verengung des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der „Rasse“. Erfasst werden sollen ja gerade auch solche Fälle,111 in welchen die 104 BMJV-Diskussionsentwurf (Fn. 2), S. 6. In diesem Sinne z. B. auch Baer/Markard, GG, Art. 3 Rn. 471; Cremer (Fn. 100), 15; Kutting/Amin, DÖV 2020, 613 f.; zurückhaltender Boysen, GG-Kommentar, Art. 3 Rn. 179. 105 BT-Drs. 16/1789, S. 31: „,Rasse‘ [bildet] den sprachlichen Anknüpfungspunkt zu dem Begriff des ,Rassismus‘“. 106 Zu Recht kritisch auch Hilgendorf, JZ 2021, 859: Es „sollte klar sein, dass mit der Streichung des Begriffs aus Art. 3 GG und seiner Ersetzung durch Formulierungen wie ,aus rassistischen Gründen‘ rassistisches Denken kaum ,von selbst‘ verschwinden dürfte.“ 107 Siehe BT-Drs. 16/1780, S. 31. Siehe ferner die Begriffsbestimmung von „Rassismus“ bei Hilgendorf, JZ 2021, 859, die er an „imaginäre ,Rassenzugehörigkeit‘“ anknüpft. Siehe allerdings die Definition rassistischer Diskriminierung bei Liebscher (Fn. 3), 482 f., die ohne Rekurs auf den „Rasse“-Begriff auskommt, indem jene Definition u. a. auf die sozial konstruierte Gruppenzuordnung abstellt. 108 Siehe dementsprechend den Vorschlag von Liebscher et al., KJ 2012, 213 f., auch den Begriff „Geschlecht“ zu ersetzen und an dessen Stelle „Sexismus“ bzw. „Heterosexismus“ zu setzen (weitere Umformulierungen a. a. O., S. 218). 109 Kritisch deshalb Cremer (Fn. 100), 24, der daher den Wortlaut „Niemand darf rassistisch (…) benachteiligt oder bevorzugt werden“, vorzieht (a. a. O., S. 12); gleichfalls kritisch Kutting/Amin, DÖV 2020, 616 f., welche die Formulierung „Niemand darf aufgrund rassistischer Kriterien (…) benachteiligt oder bevorzugt werden“ vorschlagen. 110 Siehe UNESCO (Fn. 34), S. 3: „As an ideology and feeling, racism is by its nature aggressive“. 111 Häufig Fälle der grundrechtlichen mittelbaren Drittwirkung bzw. Ausstrahlungswirkung.

„Rasse“ als Verfassungsbegriff

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betreffende, diskriminierend handelnde Person selbst keine irgendwie rassenideologisch angeleitete Hassgesinnung hat.112 Überdies ist daran zu erinnern, dass der ICERD-Ausschuss auf der wortgetreuen Umsetzung des Begriffs „race“ in das nationale Recht besteht.113 Letztlich verlangt der ICERD-Ausschuss die wörtliche Übernahme auch des in Art. 1 Abs. 1 ICERD enthaltenen Begriffs „race“ in das deutsche Gesetzesrecht, was nur mit dem Terminus der „Rasse“ möglich ist. Hintergrund für die Ermahnung Deutschlands ist, dass der ICERD-Ausschuss fürchtet, ohne eine vollständig mit Art. 1 Abs. 1 ICERD übereinstimmende einfachgesetzliche Legaldefinition könnte sich das Verbot der Rassendiskriminierung womöglich nicht auf alle gemäß ICERD schutzbedürftigen Gruppen erstrecken.114 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das oben115 aufgeführte Unions- und Völkerrecht durch Ratifikation der jeweiligen Verträge116 für Deutschland nicht nur auf der unions- bzw. völkerrechtlichen Ebene verbindlich geworden ist (vgl. Art. 11 WVK117), sondern auch über das jeweilige Vertragsgesetz innerstaatliche Geltung erlangt hat.118 Der damit gleichsam aus dem Unions- und Völkerrecht „importierte“ Rechtsbegriff der „Rasse“ ist solange gewissermaßen unauslöschlich im deutschen Recht existent, wie der betreffende Vertrag bzw. Rechtsakt wirksam, Deutschland daran gebunden und das Vertragsgesetz gültig ist. Das hat zur Folge, dass eine Grundgesetzänderung, welche den Begriff der „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG (und ggf. in Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG) tilgen und durch einen gegen „rassistische“ Diskriminierung gerichteten Wortlaut ersetzen soll, den Begriff der „Rasse“ als Rechtsbegriff in der deutschen Rechtsordnung nicht zu eliminieren vermag.119

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Bsp.: Der Eigentümer vermietet eine gerade leerstehende Wohnung in seinem Mehrfamilienhaus nicht an Personen dunkler Hautfarbe, um den „Hausfrieden“ zu wahren, nachdem ihm bekannt ist, dass der eine oder andere Bewohner sich in der Vergangenheit bereits abfällig über „Ausländer“ oder „Flüchtlinge“ geäußert hat. 113 Hierzu etwa Thornberry, The International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, 2016, S. 118 f. 114 Rn. 7 der Concluding observations on the combined nineteenth to twenty-second periodic reports of Germany, CERD/C/DEU/CO/19 – 22, 30. 6. 2015. 115 Unter II.1.b) und c). 116 Zur Rechtsnatur auch von EUV und AEUV als völkerrechtlicher Verträge BVerfGE 140, 317 (338). 117 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (BGBl. 1985 II S. 927). 118 Für das Unionsrecht BVerfGE 123, 267 (400), für völkerrechtliche Verträge BVerfGE 111, 307 (316 f.); jeweils ständige Rspr. 119 Ähnliche Stoßrichtung bei Boysen, GG-Kommentar, Art. 3 Rn. 179 ff.

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V. Fazit 1. „Rasse“ ist ein Begriff des geltenden Rechts, namentlich in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Wegen der innerstaatlichen Geltung unions- und völkerrechtlicher Diskriminierungsverbote aus Gründen der „Rasse“ („race“) lässt sich der Begriff durch keine Verfassungs- oder Gesetzesänderung, auch nicht im Wege des „treaty override“,120 aus dem innerstaatlichen Rechtsraum beseitigen oder überschreiben. 2. Für das Recht kommt es nicht darauf an, ob es „Rassen“ innerhalb der Spezies homo sapiens tatsächlich, d. h. nach Maßstäben naturwissenschaftlicher Evidenz gibt. Vielmehr handelt es sich bei dem Begriff der „Rasse“ um einen Speicher historischer Unrechtserfahrung, der all diejenigen Merkmale in sich aufnimmt, an welche früher und heute als „Rassen“-Diskriminierung erfasste Ungleichbehandlungen anknüpfen. 3. „Rasse“ lässt sich danach als Rechtsbegriff im Rahmen von Diskriminierungsverboten wie namentlich Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG definieren als sprachlich erzeugte und vermittelte, soziale Konstruktionen von Gruppen, in die Menschen durch je gemeinsame, sinnlich wahrnehmbare oder zumindest objektiv überprüfbare oder auch nur willkürlich behauptete und zugeschriebene, körperliche121 oder nichtkörperliche122 Merkmale des Fremd- bzw. Anderssein eingeordnet werden. 4. Überzeugende Gründe sprechen dagegen, „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG durch „rassistisch“ zu ersetzen. Wenn überhaupt, dann sollte eine Verfassungsänderung bislang nicht erfasste historische Unrechtserfahrungen in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG neu aufnehmen. Vorbild hierfür kann z. B. Art. 21 Abs. 1 GRC sein. 5. Mit „Rasse“ und Rassismus verhält es sich wie mit einem Virus:123 Er ist, wann, wo und wie auch immer, in die Welt gekommen, hat immer wieder neue Mutanten hervorgebracht, und wir werden ihn nicht mehr los. Hier hilft nur fortwährende Immunisierung durch Einimpfung: Diskriminierung aus Gründen der „Rasse“ darf nicht sein. Wenn sich eine Gesellschaft aber diesbezüglich unbelehrbar zeigt, helfen noch so wohl gemeinte Verfassungssätze nichts.

120 Zur „Abkommensüberschreibung“, die verfassungsrechtlich zulässig sein soll, BVerfGE 141, 1 (20 ff.), allerdings mit dem hier relevanten Hinweis (a. a. O., S. 32), dass anderes für „zwingende (…), der Disposition des Verfassungsgebers entzogene (…) Regelungen, insbesondere [die] unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte (…) (Art. 1 Abs. 2 GG)“ gelten könnte. Zum damit offenbar in Bezug genommenen zwingenden Völkerrecht (ius cogens) zählt das Verbot der „rassischen“ Diskriminierung (Herdegen, Völkerrecht, 20. Aufl. 2021, § 17 Rn. 14). 121 Bsp.: Hautfarbe, Haarstruktur, Körperbau. 122 Bsp.: Volkszugehörigkeit, Religion, Geografie, Sprache, Kultur, Traditionen. 123 Dieser Vergleich ist in diesen Zeiten fast unumgänglich.

Die Verdienste von Jan C. Joerden auf dem Gebiet der Zusammenarbeit mit der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen Andrzej J. Szwarc Die Widmung der Festschrift an Jan C. Joerden ist eine symbolische, wohlverdiente Form der Würdigung der Verdienste, Leistungen und Erfolge des Jubilars. Es ist auch eine Gelegenheit, seine Verdienste auf dem Gebiet der Zusammenarbeit mit der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen hervorzuheben und ihm dafür aufrichtigen Dank auszusprechen. Dazu fühle ich mich aus vielen Gründen prädestiniert, vor allem aber aus dem Grunde, dass ich an der viele Jahre andauernden Zusammenarbeit von Jan C. Joerden mit der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen meinen Anteil hatte. Es sind bereits 30 Jahre vergangen, seit ich meine – vorrangig an meiner Alma Mater, der AdamMickiewicz-Universität in Posen, – ausgeübte Tätigkeit, mit der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) verbunden habe. Schon kurz nach Eröffnung dieser Universität veranstaltete ich vom 18.–20. 6. 1992 zusammen mit Ernst-Joachim Lampe von der Universität Bielefeld, damals noch ohne Beteiligung von Jan C. Joerden, eine der Bagatellkriminalität gewidmete deutsch-polnische Tagung. Damit war die Idee verbunden, in der neuen Wirklichkeit nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten eine deutsch-polnische wissenschaftliche Zusammenarbeit in die Wege zu leiten. Damals war mir noch nicht bewusst, dass bald nach dieser Konferenz die Zeit meiner fast 30-jährigen intensiven Zusammenarbeit mit der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt (Oder) beginnen würde. Der Umstand, der das bewirkte, war die kurz darauffolgende Gründung des Collegium Polonicum als eine gemeinsame Organisationseinheit unserer beiden Universitäten und die Eröffnung der deutsch-polnischen Juristenausbildung, die bis heute von der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und der Fakultät für Recht und Verwaltung der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen betrieben wird. Im Studienprogramm der deutsch-polnischen Juristenausbildung wurden mir die Vorlesungen im Fach „Polnisches Strafrecht“ anvertraut, sowie – zusammen mit Jan C. Joerden, Uwe Scheffler und Gerhard Wolf von der EuropaUniversität Viadrina – die Leitung des deutsch-polnischen Magisterseminars in diesem Fach. So begann nicht nur meine Zusammenarbeit mit der Europa-Universität

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Viadrina, sondern vor allem auch eine umfangreiche und erfolgreiche Zusammenarbeit der beiden Universitäten. In der ersten Phase manifestierte sich diese Zusammenarbeit vor allem in der sukzessiven Einführung von verschiedenen Aktivitäten am Collegium Polonicum in Słubice sowie im weiteren Betrieb der deutsch-polnischen Juristenausbildung. In beiden Projekten hatte Jan C. Joerden beachtlichen Anteil. Er gehörte zu den Initiatoren und aktiven Teilnehmern dieser Projekte, vor allem als Prorektor und später als stellvertretender Präsident der Europa-Universität Viadrina sowie als Präsident des Senats dieser Universität, aber auch als Mitglied zahlreicher Gremien, in denen die zugrunde liegenden Ideen entwickelt wurden. Er beteiligte sich an der Tätigkeit der sog. „Gemischten Kommission“, die die Grundlage für die künftige Zusammenarbeit erarbeitete. Er war Mitautor eines Abkommens des Landes Brandenburg mit der Regierung der Republik Polen über das Collegium Polonicum in Słubice. Danach hatte er auch Anteil an der Gründung und Tätigkeit des Deutsch-Polnischen Forschungsinstitutes. Mit intensiver Beteiligung der Europa-Universität Viadrina wurde an der Fakultät für Recht und Verwaltung der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen die Schule des Deutschen Rechts gegründet, die bis heute tätig ist und den polnischen Studierenden unterschiedliche Rechtsgebiete sowie die deutsche juristische Terminologie näherbringt. Diese Initiative ist Teil der wünschenswerten Verbreitung von Wissen über die Rechtssysteme anderer Länder und ist gleichzeitig eine gute Vorbereitung für polnische Studierende, die ihr Studium im Rahmen des Sokrates-Erasmus-Programms in verschiedenen Ländern, darunter auch in Deutschland, absolvieren. Allmählich entwickelte sich die Zusammenarbeit der beiden kooperierenden Universitäten auch in der wissenschaftlichen Forschungstätigkeit. Sie war besonders intensiv in der Kooperation der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina mit der Fakultät für Recht und Verwaltung der Adam-Mickiewicz-Universität. Die ersten Erscheinungsformen dieser Partnerschaft waren gegenseitige Besuche und Gastvorlesungen von Professoren beider Fakultäten, die das Kennenlernen und die Anbahnung der weiteren Zusammenarbeit begünstigten. Es wurde mit der Durchführung gemeinsamer Forschungsprojekte begonnen, an denen Jan C. Joerden sehr oft maßgeblich beteiligt war. Das erste derartige Vorhaben war das gemeinsame deutsch-polnische Forschungsprojekt „Kriminalität im Grenzgebiet“, das unter anderem deshalb bedeutsam war, weil mit Blick auf die damalige EU-Außen-Grenze, die die Möglichkeit des Grenzübertritts einschränkte, die Kriminalität ein sehr großes Problem darstellte. Im Zuge dieses Forschungsprojektes wurden unter Mitwirkung der Professoren der EuropaUniversität Viadrina und der Adam-Mickiewicz-Universität in den Jahren 1996 – 2002 sieben internationale Tagungen in Frankfurt (Oder), Słubice und in Posen veranstaltet. An diesen Tagungen haben viele Wissenschaftler und Praktiker – insbeson-

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dere polnische und deutsche – teilgenommen. Die Tagungsmaterialien wurden in acht Sammelbänden1 veröffentlicht. Ein wichtiges Zeichen der Wertschätzung der Zusammenarbeit zwischen den juristischen Fakultäten der beiden Universitäten war die Präsentation dieser Kooperation auf der traditionellen Strafrechtslehrertagung, die 2005 in Frankfurt (Oder) stattfand. Ich durfte die Kollegen an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) bei der Veranstaltung dieser Tagung unterstützen und im Namen der Adam-Mickiewicz-Universität – der Partneruniversität – eine Begrüßungsrede halten, in der ich auf diese Zusammenarbeit einging. Als symbolischer Ausdruck der Kooperation fanden während dieser Tagung ein Ausflug der Tagungsteilnehmer nach Posen und ein Konzert des Posener Universitätschors zum Abschluss der Konferenz statt. Unter den vielen weiteren Projekten, die im Rahmen der deutsch-polnischen Zusammenarbeit realisiert wurden, hatten die sieben polnisch-japanisch-deutschen Tagungen zur Strafrechtsvergleichung der Stipendiaten der Alexander von HumboldtStiftung einen besonderen Stellenwert. An den vier letzten dieser Tagungen war auch Jan C. Joerden beteiligt. Diese Tagungen, an denen zuletzt auch türkische HumboldtStipendiaten teilnahmen, fanden in den Jahren 1997 – 2005 in Polen (Posen, Zoppot, Słubice, Rzeszów, Krakau), in Deutschland (Frankfurt/Oder), in Japan (Osaka) und in der Türkei (Istanbul) statt. Die Konferenzbeiträge wurden in sieben Buchpublikationen2 präsentiert. 1 Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet. Band 1. Erfahrungen aus der Praxis. Expertenhearing vom 24. bis 27. Oktober 1996 in Frankfurt/Oder. Referate und Diskussionsbeiträge, 1998; Szwarc/Wolf (Hrsg.), Przeste˛ pczos´c´ przygraniczna. Tom 1: Relacje praktyków, 2002; Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet. 2. Wissenschaftliche Analysen. Symposium vom 28. bis 30. November 1997 in Frankfurt/Oder. Referate und Diskussionen, 1998; Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet. Band 3. Ausländer vor deutschen Gerichten. Symposium vom 23. bis 25. Oktober 1998 in Frankfurt/Oder. Referate und Diskussion, 1998; Szwarc (Hrsg.), Przeste˛ pczos´c´ przygraniczna. Poste˛ powanie karne przeciwko cudzoziemcom w Polsce. Konferencja w Poznaniu w dniach 25 – 27. 06. 1999, 2000; Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet. Band 4. Strafverfahren gegen Ausländer in der Republik Polen, 2002; Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet. Band 5/6. Das neue polnische Strafgesetzbuch (Kodeks karny), 2002; Wolf (Hrsg.), Przeste˛ pczos´c´ przygraniczna. Tom 2: Nowy polski kodeks karny. Problemy cze˛ s´ci ogólnej prawa karnego, 2003; Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet. Band 7. Das Strafverfahrensgesetzbuch der Republik Polen (Kodeks poste˛ powania karnego), 2003. 2 Szwarc/Wa˛sek (Hrsg.), Das erste deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, 1998; Eser/Yamanaka (Hrsg.), Einflüsse des deutschen Strafrechts in Polen und Japan. Zweites Deutsch-Polnisch-Japanisches Strafrechtskolloquium 1999 in Osaka, 2001; Szwarc (Hrsg.), Das dritte deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, 1998; Joerden/Szwarc (Hrsg.), Das vierte deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung. Ausgewählte Bereiche des deutschen, japanischen und polnischen Straf- und Strafprozessrechts im Vergleich, 2001; Joerden/ Szwarc/Yamanaka/Ünver (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie – ein fruchtbares Spannungsverhältnis, 2014; Ünver/Joerden/Szwarc/Yamanaka, (Hrsg.), Probleme des Allgemeinen Teils des Strafrechts aus rechtsvergleichender Perspektive. Materialien eines deutsch-japanisch-polnisch-türkischen Kolloquiums im Jahre 2014 an der Özyeg˘ in-Universi-

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Ein weiteres Projekt, das im Rahmen dieser Zusammenarbeit unter tatkräftiger Mitwirkung von Jan C. Joerden, realisiert wurde, betraf die verfassungsrechtlichen Grundlagen der sogenannten Europäisierung des deutschen und polnischen Strafrechts. Diesem Thema war eine deutsch-polnische wissenschaftliche Tagung gewidmet, die 2006 in Posen stattfand und zu der 2007 die Tagungsbeiträge3 veröffentlicht wurden. Unter den vielen wissenschaftlichen Forschungsinitiativen, die an der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt (Oder) realisiert wurden, sollen die Gründung eines Forschungsteams unter dem Namen „Interdisziplinärer Arbeitskreis für Ethik und Wissenschaftstheorie der Medizin in Ostmitteleuropa“ und die Durchführung einer Reihe von wissenschaftlichen Konferenzen, die verschiedenen Problemen im Bereich der Ethik und Medizin gewidmet wurden, durch Jan C. Joerden hervorgehoben werden. Die deutsch-polnische Zusammenarbeit wurde auch hier verwirklicht, da an diesen Konferenzen oft polnische Wissenschaftler teilnahmen. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Universitäten setzte sich in der Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern fort, woran Jan C. Joerden einen großen Anteil hatte. Studierende und Absolventen der gemeinsam durchgeführten deutsch-polnischen Juristenausbildung waren oft an seinem Lehrstuhl angestellt. Er war Doktorvater etlicher polnischer Absolventen dieser Studien (darunter Maciej Małolepszy4 und Joanna Długosz5). Er betreute darüber hinaus die an der EuropaUniversität Viadrina erstellte Habilitationsschrift6 von Maciej Małolepszy, der heute an dieser Universität als Professor für Polnisches Strafrecht tätig ist. Die skizzierte, notwendigerweise in aller Kürze verfasste Darstellung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Universitäten, vor allem der beiden juristischen Fakultäten, unter Beteiligung von Jan C. Joerden ist nicht vollständig. Jan C. Joerden wirkte des Weiteren an der Kooperation mit anderen Fakultäten der beiden Universitäten mit und hat auch mit anderen polnischen Universitäten, insbesondere in Warschau, Krakau, Danzig, Lodz und Breslau, zusammengearbeitet. Für seine Verdienste in diesem Bereich wurde Jan C. Joerden bereits im Jahre 2004 anlässlich des Jubiläums zum 85-jährigen Bestehen dieser Universität und deren Fakultät für Recht und Verwaltung mit der Verdienstmedaille der Adam-Micktät, 2015; Joerden/Szwarc (Hrsg.), Strafrechtlicher Reformbedarf. Materialien einer deutschjapanisch-polnisch-türkischen Tagung im Jahre 2015 in Rzeszów und Kraków (Polen), 2016. 3 Joerden/Szwarc (Hrsg.), Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen, 2007; Joerden/Szwarc (Hrsg.), Europeizacja prawa karnego w Polsce i w Niemczech – podstawy konstytucyjno-prawne, 2007. 4 Małolepszy, Geldstrafe und bedingte Freiheitsstrafe nach deutschem und polnischem Recht. Rechtshistorische Entwicklung und gegenwärtige Rechtslage im Vergleich, 2007. 5 Długosz, Europäisierung des polnischen Strafrechts im Bereich der Geldwäsche, unter vergleichender Berücksichtigung der deutschen Rechtslage, 2007. 6 Małolepszy, Deutsche und polnische Auslegungs- und Argumentationskultur im Strafrecht. Eine vergleichende Analyse der Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Oberstem Gericht, 2015.

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iewicz-Universität in Posen ausgezeichnet. Darüber hinaus wurde ihm am 20. 2. 2015 die Ehrendoktorwürde der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen7 verliehen in Hervorhebung seiner unbestreitbaren Verdienste auf dem Gebiet der deutsch-polnischen wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Jan C. Joerden wurde als einer der Pioniere und Architekten dieser Zusammenarbeit gewürdigt. Während des damals fast 100jährigen Bestehens der Universität war er der 18. Wissenschaftler, der auf Antrag der Fakultät für Recht und Verwaltung der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen die Ehrendoktorwürde erhalten hat. Er wurde nach solchen namhaften deutschen Professoren ausgezeichnet, wie Friedrich Karl Beier aus München (im Jahre 1988), Hans-Joachim Hirsch aus Köln (im Jahre 1990) und Manfred A. Dauses aus Bamberg (im Jahre 2002). Im Rahmen der Feierlichkeiten der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Jan C. Joerden hat der damalige Rektor der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen, Bronisław Marciniak, unter anderem Folgendes gesagt: „Die Vorzüge des Herzens und des Geistes, sein großes Engagement und organisatorisches Leistungsvermögen waren der Grund dafür, dass Professor Jan C. Joerden als eine herausragende, bekannte und in der internationalen Gemeinschaft der Wissenschaftler profilierte Persönlichkeit gilt. In Professor Jan C. Joerden hat die Hochschulgemeinschaft der Adam-Mickiewicz-Universität einen hervorragenden Juristen geehrt – Praktiker und Theoretiker des Strafrechts, Philosophen und Logiker, Professor vieler deutscher Universitäten und Gastprofessor von Universitäten in der Südafrikanischen Republik, in der Türkei und Japan sowie Autor von hunderten Veröffentlichungen von einem unbestrittenen Rang, die als Monographien, Quellensammlungen, Verlagsreihen, Aufsätze und Studien in renommierten juristischen Zeitschriften erschienen sind. Eine besondere Beachtung verdient die Interdisziplinarität des wissenschaftlichen Werkes des Ehrendoktors, in dem rechtliche Fragestellungen mit philosophischen, psychologischen, soziologischen, sozialen und geisteswissenschaftlichen verzahnt sind. Professor Jan C. Joerden greift in seiner Forschung die meist fundamentalen Probleme auf, die den Menschen der Gegenwart bewegen. In der Person des neuen Ehrendoktors möchte unsere Hochschulgemeinschaft jedoch gleichzeitig ihrer Anerkennung für seine Verdienste um die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen Ausdruck verleihen, insbesondere um die Entwicklung der multilateralen wissenschaftlichen didaktischen und organisatorischen Kooperation zwischen der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und der Adam-MickiewiczUniversität in Posen, in erster Linie über das Collegium Polonicum in Słubice (…). Die Anstrengungen für die deutsch-polnische wissenschaftliche Zusammenarbeit hat unser neuer Ehrendoktor in der tiefen Überzeugung unternommen, dass sie dem Gemeinwohl dient und die Nationen einander nahebringt.“

Zu den namhaften Gutachtern in diesem Verfahren gehörten Marek Bojarski, der damalige Rektor der Universität in Breslau, Henryk Olszewski von der Adam-Mick7 Ein Bericht über diese Feierlichkeiten, aus dem im Folgenden in diesem Beitrag zitiert wird, wurde als Nummer 59 in der Schriftenreihe „Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu. Seria Doktorzy honoris causa“ veröffentlicht: Ioannes C. Joerden. Doctor honoris causa Universitatis Studiorum Mickiewiczanae Posnanniensis (20. 2. 2015).

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iewicz-Universität in Posen und Keiichi Yamanaka von der japanischen Universität Kansai in Osaka. Mit größter Anerkennung wurde bei dieser Gelegenheit betont, dass Jan C. Joerden seine Tätigkeit auf diesem Gebiet in der tiefen Überzeugung ausführt, dass sie nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Annäherung von Völkern, insbesondere des polnischen und deutschen Volkes, dient. Jan C. Joerden ist mit Recht für seine Haltung bekannt geworden, dass Mauern durch Brücken ersetzt werden müssen, was er selbst in engagierter Aktivität statt in bloßen Schlagworten umgesetzt hat. Sein Wirken ist ein nachahmenswertes Beispiel, ganz im Sinne des lateinischen Sprichworts: „verba docent, exempla trahunt“. Diese noble Haltung dokumentiert auch seine Rede während der Feierlichkeiten zur Verleihung der Ehrendoktorwürde, die von den Zuhörern mit größtem Respekt aufgenommen wurde. Angesichts der überragenden Verdienste des Jubilars möchte ich ihm für die langjährige konstruktive Zusammenarbeit sowie für die mir entgegengebrachte Freundschaft herzlich danken. Ich wünsche dem Jubilar anhaltende Schaffenskraft und alles erdenklich Gute.

Von der seltenen Kunst, Grenzen zu überschreiten Hans N. Weiler Im poetischen Werk der polnischen Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska (1923 – 2012) findet sich ein mit „Psalm“ überschriebenes Gedicht1, das sich in der dieser Dichterin eigenen Weise (und in der meisterlichen Übertragung von Karl Dedecius) mit der Fragwürdigkeit von Grenzen beschäftigt: „Wie undicht sind doch die Grenzen menschlicher Staaten! Wie viele Wolken treiben straflos darüber hinweg, wieviel vom Sand der Wüsten rieselt von Land zu Land, wie viele Bergsteine purzeln auf fremde Ländereien in frechem Gehüpf!“

Man könnte das Lebenswerk von Jan C. Joerden nicht nur als ein opus magnum von glänzenden fachwissenschaftlichen Leistungen, sondern auch als einen fortwährenden Versuch verstehen, mit diesem ebenso fragwürdigen wie herausfordernden Topos der „Grenze“ umzugehen und ihn zu einem Angelpunkt unterschiedlicher Wissensdiskurse zu machen. Dieses intellektuelle Grenzgängertum wird deutlich etwa in der zentralen Rolle, die Joerden über viele Jahre im Einlösen des grenzübergreifenden Anspruchs der Europa-Universität Viadrina an der deutsch-polnischen Grenze gespielt hat; es wird ebenso deutlich, wenn auch auf ganz andere Weise, wenn man die vielfältigen, disziplinäre Grenzen übergreifenden Verknüpfungen seiner Interessen im Strafrecht mit zentralen Themen in der Bioethik, Medizinethik und Genethik, in zentralen philosophischen Diskursen oder in kritischen politikwissenschaftlichen Themen wie Migration, Unrechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Diskriminierung, Minderheitenschutz oder Hochschulreform betrachtet. Dieser Beitrag will sich von einem solchen Verständnis von Joerdens Werk inspirieren lassen und damit zeigen, wie schwierig und zugleich wie fruchtbar ein solches wissenschaftliches Grenzgängertum sein kann. Dabei werden nicht nur die von Wisława Szymborska beschworenen „Grenzen menschlicher Staaten“ eine Rolle spielen, sondern auch die Grenzen, die sich in der Landschaft des Wissens aufgetan haben und die in Joerdens Werk wie in seiner Praxis von Wissenschaft ein besonders kreatives Überschreiten erfahren. Dieses Überschreiten von Grenzen ist für die Wissenschaft wie für das gesellschaftliche Handeln eine faszinierende, aber auch nicht ungefährliche Herausforderung. Es erfordert ein besonderes Maß an Verständnis für die Beschaffenheit, den Ursprung und die Gefahren der jeweiligen Grenze und für die 1

Szymborska, Hundert Freuden – Gedichte (übersetzt von Karl Dedecius), 1996, 49 – 50.

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Kosten wie den Nutzen aller Versuche, sie in Frage zu stellen. Ein erfolgreiches Überschreiten solcher Grenzen aber kann – wie hier zu zeigen sein wird – sehr wohl zu neuen Perspektiven in unserem Verständnis von Welt und Wissen führen.

I. Die „Grenzen menschlicher Staaten“ Die Poesie lässt Wisława Szymborska die Freiheit, dem „undichten“ Charakter der „Grenzen menschlicher Staaten“ kreativ nachzuspüren; in den strengeren Traditionen der theoretischen Beschäftigung mit den Eigenschaften des modernen Staates gelten jedoch die Territorialität staatlicher Gebilde und damit die Solidität staatlicher Grenzen als ein konstitutives Merkmal des modernen Staates. Kronzeuge in der theoretischen Literatur hierzu ist Max Weber und seine klassische Definition: „Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes – dies: ,das Gebiet‘, gehört zum Merkmal – das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“2. An drei Themenkomplexen soll im Folgenden skizziert werden, welche Herausforderungen sich für die Wissenschaft wie für die Politik aus Bemühungen ergeben, die territoriale Begrenzung moderner Staaten zu hinterfragen. 1. Die Grenzen grenzübergreifender Organisationen Grenzübergreifende Konstruktionen wie Völkerbund, Vereinte Nationen oder Europäische Union offenbaren in der jungen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts sowohl die Möglichkeiten wie die Beschränkungen von Versuchen, auf der Basis internationaler Vereinbarungen staatliche Grenzen zu überwinden und zu relativieren. Ihren Erfolgen etwa in der Entschärfung zwischenstaatlicher Konflikte oder in der Minderung von eklatanten Differenzen in den Lebensbedingungen verschiedener Länder stehen eine insgesamt enttäuschende Bilanz in der Überwindung von Grenzziehungen zwischen nationalen Einheiten gegenüber. Immer wieder treten selbst in relativ erfolgreichen Exempeln wie der Europäischen Union die Interessen und Prioritäten der nationalen Mitglieder in den Vordergrund. Als ein besonders instruktives, aber auch besonders problematisches Beispiel der Jetztzeit können die bislang immer noch nicht gelösten Probleme der Europäischen Währungsunion gelten.3 Sowohl die Erscheinungsformen als auch die Gründe für Erfolge wie Misserfolge überstaatlicher Vereinigungen bleiben für eine auf das Verständnis von Grenzen fokussierte Wissenschaft ein weites und fruchtbares Feld.

2

Weber, Politik als Beruf, München und Leipzig, 1919, 4. Scharpf, The Costs of Non-Disintegration: The Case of the European Monetary Union, in: Chalmers/Jachtenfuchs/Joerges (Hrsg.), The End of the Eurocrats’ Dream: Adjusting to European Diversity, 2016, 29 – 49. 3

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2. Grenzfälle: Oder und Atlantik In zwei Fällen eigener Art offenbaren sich Grenzziehungen und ihre Überwindung als besonders aufschlussreiche Beispiele für die dynamische Rolle, die Grenzen in den Beziehungen der Völker untereinander spielen können. Die Rede ist hier auf der einen Seite von der kontroversen Rolle, die die deutsch-polnische Grenze in den Beziehungen der beiden Länder zueinander gespielt hat und noch heute spielt, und auf der anderen Seite von der trennenden wie der vereinenden Funktion, die der Atlantik im Verlauf des 20. Jahrhunderts für die Beziehungen zwischen Nordamerika und Europa eingenommen hat. In beiden Fällen und in historischer Perspektive lässt sich – wenn auch mit erheblichen Unterschieden – feststellen, dass Grenzen sich von einem Instrument der Trennung und Absonderung zu einem Konstrukt der Annäherung und Verständigung wandeln können. Man kann sich kaum eine Grenzziehung vorstellen, die das Verhältnis von zwei Ländern zueinander so nachhaltig und konfliktträchtig beeinflusst hat wie die deutsch-polnische Grenze. Im Gefolge der territorialen Verwerfungen in Mitteleuropa über Jahrhunderte, vor allem aber im 20. Jahrhundert, wurde die Grenzziehung zwischen Polen und Deutschland zu einer der schwierigsten Hypotheken, die einer friedlichen Aufarbeitung der Folgelasten des zweiten Weltkriegs in Mitteleuropa im Wege standen. Es bedurfte der einschneidenden Neuordnung der Kräfteverhältnisse in Mitteleuropa nach 1989, um hier mit der Grenzziehung entlang der OderNeiße-Linie eine allseits akzeptierte völkerrechtliche Lösung zu finden. Das Bemerkenswerte an dieser Lösung war aber nicht nur, dass sie zustande kam, sondern dass sie gleichzeitig zum Ausgangspunkt einer überaus lebendigen und reichhaltigen Sequenz von gemeinsamen Initiativen kultureller, kommunaler, wissenschaftlicher und politischer Art zwischen Polen und Deutschland wurde. Die Europa-Universität Viadrina kann hier, in der die Oder übergreifenden Zusammenarbeit mit der Posener Adam-Mickiewicz-Universität in der Form des Collegium Polonicum, als ein besonders sinnfälliges Beispiel dafür dienen, dass Grenzkonflikte auch ein Potenzial historischer Verständigung und Zusammenarbeit bilden können. Bei den atlantischen Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika ist, wenn auch im Wechselspiel unterschiedlicher politischer Konjunkturen, eine insgesamt ähnlich fruchtbare kooperative Wirkung ehemals konfliktgeladener Grenzziehungen festzuhalten. Die von Deutschland, Italien und Japan ausgehenden imperialen Triebkräfte des zweiten Weltkriegs machten in gewisser Weise, und vor allem mit dem Eintritt der USA in den Krieg, den Atlantik zu einer weltweiten Grenze zwischen fundamental unterschiedlichen Herrschaftssystemen. Auch hier wurde jedoch im Gefolge der Beendigung des zweiten Weltkriegs eine bemerkenswerte Wende möglich, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine überaus erfolgreiche Bühne transatlantischer Kooperationen zwischen Europa und den USA schuf, nicht zuletzt im beiderseitigen Interesse an einer wirksamen Alternative zu den Ambitionen des sowjetischen Imperiums. Diese Ambitionen schienen mit der weltpolitischen Wende von 1989 ihr Drohpotenzial zunächst verloren zu haben; zu-

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sammen mit dem Aufstieg einer neuen internationalen Großmacht in China und der Ernüchterung über die „America First“-Konjunktur in den USA ist dann aber auch der Wert der transatlantischen Kooperation zwielichtiger geworden. Für die Zukunft der internationalen Ordnung dürften jedenfalls nicht nur die internen politischen Konstellationen in den USA, China, Russland und Europa wichtig sein, sondern auch, ob dem Atlantik die Funktion einer eher trennenden oder eher verbindenden Grenze zukommen wird. 3. An die Grenzen von Grenzen stoßen: Das Weltproblem der Migration Wenn es ein Phänomen der Gegenwart gibt, das die traditionelle Begrifflichkeit von territorialen Grenzen ganz grundsätzlich in Frage stellt, dann ist es der sich unaufhörlich erweiternde Strom einer weltweiten Migration, die inzwischen Dimensionen von Millionen Migranten erreicht hat und an den Küsten des Mittelmeers, an der südlichen Grenze der Vereinigten Staaten von Amerika, an den Grenzen zwischen Myanmar und Bangladesch, zwischen Syrien und der Türkei, zwischen Belarus und Polen und zwischen Venezuela und Kolumbien ihre problematischsten Brennpunkte gefunden hat. Die Bedingungen, die diesen Strom nähren, sind so unterschiedlich wie die Regionen, in denen und aus denen Migranten zu entfliehen versuchen; sie reichen von der Verfolgung von ethnischen, religiösen und politischen Minderheiten bis zum Verlust ausreichender Lebensbedingungen. Migration aus diesen und ähnlichen Gründen sind ein Bestandteil der Menschheitsgeschichte, aber Umfang und Auslösung der meisten und gewaltigsten Migrantenströme unserer Tage ist die Folge einer qualitativ neuen und fundamentalen Krise, die der weltweite und inzwischen unumkehrbare Klimawandel und sein Vertreibungspotenzial bewirkt hat. Die bislang unmittelbarste Folgewirkung liegt in der afrikanischen Sahel-Region, in der inzwischen eine auch nur annähernd ausreichende Bewirtschaftung des Landes unmöglich geworden ist, wird aber zunehmend auch ein Problem in anderen Regionen Asiens und Afrikas. Zusammen mit den ebenfalls zunehmenden Migrantenströmen aus Gründen ethnischer und politischer Verfolgung wächst damit der Druck auf die Grenzen der wohlhabenden Länder exponentiell und dauerhaft und stellt die humanitäre Sicherung der Durchlässigkeit dieser Grenzen vor völlig neue Herausforderungen.

II. Die Grenzen des Wissens Die bisherigen Überlegungen dieses Beitrags haben sich mit dem Hinterfragen von „Grenzen menschlicher Staaten“ beschäftigt. Grenzen zu überschreiten hat aber nicht nur eine territoriale Dimension. Es stellt sich als eine weitere Herausforderung auch denjenigen, die die in der Landschaft des Wissens gezogenen Grenzen in Frage zu stellen suchen. Auch diese Herausforderung stellt sich in unterschiedlichen

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Zusammenhängen; die hier folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit den Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen und Fächer, mit den Unterschieden und Abgrenzungen unterschiedlicher Formen oder Diskursen von Wissen und mit der vermeintlich notwendigen, in Wirklichkeit jedoch irreführenden Abgrenzung von Wissen und Politik. 1. Die Grenzen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen und Traditionen Nur wenige Themen in den begrifflichen und strukturellen Debatten über die Organisation von Wissenschaft haben so viel Aufmerksamkeit und Konfliktpotenzial gefunden wie das Thema „Interdisziplinarität“. Die Kontroversen, in denen sich der Wert der etablierten wissenschaftlichen Disziplinen und Fächer und die Vorzüge disziplin- und fächerübergreifender Forschung und Lehre – oft genug unversöhnlich – gegenüberstehen, sind Legion und haben auf beiden Seiten des Arguments Erfolge zu verzeichnen. Auch hier erweisen sich Grenzen als ambivalent, auch hier haben sich im Hinterfragen solcher Grenzen herausragende Wissenschaftler wie Jan Joerden einen Namen gemacht. In diesem Beitrag sollen, seinem diskursiven Charakter entsprechend, nur einige wenige Aspekte dieser komplexen Debatten zur Sprache kommen; dabei geht es vor allem – in der Form von drei Thesen – um einige der Chancen und Risiken, denen sich das Überschreiten der Grenzen etablierter Disziplinen gegenübersieht. Die Erfahrungen des Verfassers mit der Konzeption einer besonders auf Interdisziplinarität ausgerichteten Hochschule – der bereits genannten Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) – spielen dabei eine nicht unwichtige Rolle.4 These 1: Die Erörterung von Interdisziplinarität hat einen erheblichen heuristischen Wert. Das Überschreiten von Fachgrenzen in interdisziplinärer Zusammenarbeit hat ohne Zweifel wertvolle Ergebnisse in Forschung und Lehre gezeitigt; Fortschritte etwa in der Biogenetik, in der Klimaforschung, in der politischen Ökonomie, in der Kernforschung bieten reichliches Anschauungsmaterial, auch wenn hier und auf vielen anderen Gebieten noch neue Wege offenstehen. Darüber hinaus aber bleibt ein weiterer Aspekt interdisziplinärer Wissenschaftlichkeit oft un- oder unterberücksichtigt: Der heuristische Wert interdisziplinärer Diskurse. Damit ist gemeint der Ertrag an wissenschaftlichen Einsichten, der bereits im Vorfeld möglicher interdisziplinärer Zusammenarbeit erbracht wird; hier sind Diskussionen wie z. B. die in den letz-

4 Weiler, Conceptions of Knowledge and Institutional Realities: Reflections on the Creation of a New University in Eastern Germany, Oxford Review of Education 20, 4 (1994), 429 – 440.

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ten Jahrzehnten zur Zukunft der Geisteswissenschaften geführten von besonderem Wert.5 These 2: Herausragende interdisziplinäre wissenschaftliche Leistungen führen nicht selten zu Reputationsverlusten und zu Marginalisierungen innerhalb von Disziplinen. Sich auf interdisziplinäre Wege zu begeben ist nicht ohne Risiko, vor allem für junge Wissenschaftler, die sich in ihrer Disziplin einen Namen machen müssen, um in einem immer kompetitiver werdenden Umfeld zu bestehen. These 3: Eines der wichtigsten Hindernisse für eine interdisziplinäre Wissenschaft liegt in der institutionalisierten Macht der Fachorganisationen. Die national und international etablierten Fachorganisationen für wissenschaftliche Fächer und Disziplinen haben für die Entwicklung dieser Fächer, für ihre öffentliche Anerkennung und für die Förderung ihres wissenschaftlichen Nachwuchses eine entscheidend wichtige Rolle gespielt. Sie haben jedoch auch dazu beigetragen, den Brückenschlag zu benachbarten Disziplinen zu erschweren und, in extremen Fällen, zu verhindern. Ihre für die Förderung der jeweiligen Disziplin wichtigen Instrumente – Forschungsmittel, Fachzeitschriften, Fachkonferenzen – sind gleichzeitig nicht selten Instrumente der Abgrenzung von anderen Fächern und Hindernisse auf dem Weg zu interdisziplinärer Zusammenarbeit. 2. Unterschiedliche Diskurse von Wissen und ihre Grenzen Unter den Grenzen, die sich in unserer Beschäftigung mit Wissen besonders hartnäckig behauptet haben, findet sich an herausragender Stelle die Feststellung, dass Wissen, um Legitimität beanspruchen zu können, kognitives Wissen zu sein hat. Diese Feststellung impliziert, dass andere Formen von Wissen – wie etwa normatives oder ästhetisches Wissen – an einem Legitimationsdefizit leiden. Diese Eingrenzung dessen, was legitimer Weise als Wissen gelten kann, verdanken wir dem Einfluss der Naturwissenschaften und ihrer Prämissen, dass Wissen dem Test von Reproduzierbarkeit, Verallgemeinerung und Verifizierung standzuhalten hat. In der Kürze dieses Beitrags können wichtige abweichende Diskurse über den Wert normativen und ästhetischen Wissens nicht weiter erörtert werden, aber die Grenzen bestehen nach wie vor und hindern uns daran, der Erörterung medizin-ethischer Normen oder einem Gedicht wie dem von Wisława Szymborska einen andersartigen, aber gleichberechtigten Erkenntniswert zuzubilligen wie einer in eine Formel gefassten chemischen Reaktion. Diese summarische Feststellung gilt es jedoch auch zu differenzieren. Es ist ein fundamentales Verdienst gerade der Jurisprudenz, zumindest eine dieser Grenzen zwischen unterschiedlichen Diskursen von Wissen hinterfragt und überschritten zu haben: die Grenze zwischen kognitivem und normativem Wissen. Selten wird 5 Drei wichtige Bände zu dieser Diskussion sind Gegenstand einer Sammelbesprechung von Rentsch, Geschichte und Zukunft der Geisteswissenschaften. Philosophische Rundschau, 166 – 191.

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dies deutlicher als im Werk von Jan Joerden, in dem sich immer wieder Brücken zwischen kognitiv gefassten Forschungsergebnissen und den rechtlich relevanten Ergebnissen normativer Erörterungen in der Medizin- und Genethik oder in Fragen von Unrechtsstaatlichkeit, Diskriminierung, Minderheitenschutz oder Hochschulpolitik6 finden. Dabei wird deutlich, wie tief solche normativen Orientierungen in kulturellen Überlieferungen und Werttraditionen wurzeln – ein gewichtiges Argument für den Wert rechts- und normenvergleichender Analysen, dem gerade auch Joerdens international ausgerichtete Professionalität Rechnung trägt. 3. Die heikle Grenze zwischen Wissen und Politik Um eine besonders delikate und problematische Grenze handelt es sich bei der zwischen Wissen und Politik. Hier treffen, in unterschiedlichen Zusammenhängen, politische und an Macht orientierte Interessen und die Wertschätzung eines unabhängigen Konzepts von Wissen aufeinander und scheinen immer wieder das Postulat eines politisch neutralen und unabhängigen Umgangs mit Wissen und Wissenschaft zu bekräftigen. Ein solches Postulat entstammt jedoch einem allzu naiven Verständnis der Grenzen zwischen Wissen und Politik, die jedoch im beiderseitigen Interesse auf Durchlässigkeit und kommunikatives Verständnis – also auf ein Grenzgängertum eigener Art – angewiesen sind. Dieser offenere Umgang mit den Grenzen zwischen Wissen und Politik lässt sich in den folgenden Feststellungen begründen. Man kann dem Prozess der Herstellung und des Gebrauchs von Wissen nur gerecht werden, wenn man ihn als einen politischen Vorgang versteht, der sich in der engen Verbindung von Wissen und Macht begründet. Diese Verbindung ist eine wechselseitige in dem Sinn, dass die Produktion von Wissen und die Ausübung von Herrschaft aufeinander angewiesen sind. Herrschaft bedarf der Legitimation, und Wissen und Wissenschaft gehören zu den wichtigsten Quellen der für die Glaubwürdigkeit politischer Entscheidungen unablässigen Legitimation; regulative und allokative Entscheidungen in der Politik beziehen sich immer wieder auf das Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen – ob es sich nun um Entscheidungen der Wirtschafts-, Haushalts-, Bildungs- oder Gesundheitspolitik handelt. Genauso, wie das Ausüben politischer Herrschaft immer wieder der Legitimation durch Wissen bedarf, sind andererseits das Entstehen und der Gebrauch von Wissen an politisch hergestellte Bedingungen ihres Erfolges geknüpft. Diese Bedingungen haben mit der angemessenen Bereitstellung von Ressourcen, mit der rechtlichen und organisatorischen Sicherung der mit dem Entstehen von Wissen befassten Einrichtungen, mit der Akkreditierung von dem in der Herstellung von Wissen tätigen Personal und mit dem rechtlichen Schutz von Eigentum an Wissen zu tun.7

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Joerden/Schwarz/Wagener (Hrsg.), Universitäten im 21. Jahrhundert, 2000. Siehe zum letzteren Weiler, FS Brünneck, 2011, 379 – 393.

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Vor dem Hintergrund dieser Abhängigkeiten zwischen Wissen und Politik könnte man geradezu von einem Verhältnis wechselseitiger Legitimation sprechen. Darüber hinaus aber lassen sich auch politikwissenschaftliche Analysen auf das Entstehen von Wissen anwenden – etwa auf hierarchische Strukturen in der Wissenschaft, auf die transnationale Arbeitsteilung in der Wissensproduktion zwischen dem globalen Norden und Süden oder auch auf die politische Dynamik, die sich aus der Kommerzialisierung von Wissen ergibt.8 Schließlich gehört in diesen Zusammenhang von Wissen und Politik auch die Fülle der Erfahrungen, die viele Länder inzwischen mit dem komplexen Verhältnis von virologischer und epidemiologischer Wissenschaft und dem politischen Management der Covid-19-Pandemie gemacht haben, und die bei sorgfältiger Analyse wichtige Einblicke in das Verhältnis von Wissen und politischen Entscheidungsstrategien eröffnen dürften.

III. Epilog Das Überschreiten der hier betrachteten – und so mancher anderen – Grenzen gehört zu den besonderen Herausforderungen einer Wissenschaft, die sich immer wieder um neue Perspektiven bemüht und sie oft jenseits hergebrachter Grenzziehungen findet. Die Kunst, derer es dabei bedarf, besteht zum einen aus dem intellektuellen Mut, sich auf das nicht unerhebliche Wagnis eines solchen Grenzgängertums einzulassen, und zum anderen aus der Fähigkeit, die besonderen Gegebenheiten jenseits der Grenze zu verstehen und in ihrer Eigenart zu würdigen. Der wissenschaftliche Werdegang eines Juristen oder auch eines Politikwissenschaftlers ist nicht unbedingt dazu angelegt, sich etwa zum Verständnis gesellschaftlicher Konflikte den Erkenntniswert literarischer Texte – wie der von Wisława Szymborska – oder die künstlerische Ausdrucksfähigkeit eines Anselm Kiefer oder eines Neo Rauch zunutze zu machen, aber die dabei zu gewinnenden Einsichten dürften der Mühe wert sein. Es gehört zur Bedeutung des wissenschaftlichen Lebenswerks von Jan Joerden, das Überschreiten von Grenzen der unterschiedlichsten Art zu einer meisterhaften Kunst zu machen.

8 Siehe dazu auch in einer ausführlicheren Darstellung Weiler, Knowledge and Power: The New Politics of Higher Education, Journal of Educational Planning and Administration, Vol. XXV, No. 3 (July 2011), 205 – 221.

Ein deutsch-polnisches Webervogelnest Krzysztof Wojciechowski Professor Jan C. Joerden war in den Jahren 1998 – 2002 als Prorektor sowie ab 1999 darüber hinaus als Vizepräsident der Europa-Universität Viadrina auch für das Collegium Polonicum zuständig. Auch nach Beendigung dieser Funktionen engagierte er sich in zahlreichen Projekten und Initiativen rund um diese Einrichtung. Die Mitarbeiter1 des Collegium Polonicum und auch ich werden ihn als einen klugen Ratgeber, geduldigen Mitstreiter und offenen, toleranten Menschen in Erinnerung behalten, dem wir sehr viel verdanken. Nun neigt sich auch meine Zeit als Verwaltungsdirektor des Collegium Polonicum langsam dem Ende zu. Angesichts des bevorstehenden Eintritts in den Ruhestand nach 30 Jahren Dienst an der Viadrina und dem Collegium Polonicum frage ich mich, was sich von meinem Einsatz und dem meiner Wegbegleiter als dauerhaft erweisen wird. Die Bewertung des Geleisteten schwankt leider zwischen dem Stolz, etwas ganz Besonderes geleistet zu haben, und der Enttäuschung, doch nur etwas im Grunde genommen Selbstverständliches getan zu haben, das europaweit hundertfach und weltweit tausendfach getan wird. Wo liegt also das richtige Maß für die Bewertung der durch mich verwalteten und durch Professor Joerden zeitweise betreuten Institution? Das Collegium Polonicum ist ein gemeinsames Vorhaben der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder (EUV) und der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan´ (AMU). Die Rechtsgrundlage für den Betrieb des Collegium Polonicum bildet das Abkommen zwischen dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg und dem Minister für Nationale Bildung und Sport der Republik Polen vom 2. 10. 2002, an dessen Erarbeitung Professor Joerden maßgeblich beteiligt war. In diesem Abkommen wird das Collegium Polonicum als „Einrichtung beider Universitäten“, in anderen Dokumenten auch als „gemeinsame Einrichtung“ bezeichnet. Nach dem Verständnis des brandenburgischen Hochschulgesetzes ist das Collegium Polonicum eine zentrale Einrichtung der EUV, nach dem des polnischen Hochschulgesetzes handelt es sich um eine Filiale der AMU, die eine gemeinsame Einrichtung beinhaltet. Das Abkommen regelt die Verpflichtungen beider Seiten nur in groben Zügen. Es besagt, dass die deutsche Seite dem Collegium Polonicum fünf Professuren und sie1 Es sind stets alle Geschlechter gemeint; auf die explizite Nennung wird nur aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet.

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ben Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter finanziert und die polnische Seite als Eigentümerin die Verantwortung für die Finanzierung des Gebäudes und die Betriebskosten trägt.2 Auf den ersten Blick ist das eine Asymmetrie, denn jeder, der dieses Bauwerk kennt, weiß, dass dieser schöne, moderne und etwas extravagante Riese, malerisch dicht an der Oder in unmittelbarer Nähe der Stadtbrücke gelegen, ein teures Objekt gewesen sein muss. Und in der Tat beliefen sich die Baukosten in den 1990er Jahren umgerechnet auf 40 Millionen Euro (das entspricht einer Kaufkraft im heutigen Deutschland von ca. 100 Millionen Euro); damit handelte es sich in jenem Jahrzehnt um die zweitgrößte Investition im Hochschulwesen des gesamten polnischen Staates. Ein aufmerksamer Leser könnte fragen: „Warum in den 1990er Jahren? Die Rechtsgrundlage wurde doch 2002 geschaffen!“ Und das stimmt auch: Mit den Bauarbeiten wurde 1995 begonnen, die besagten Millionen wurden in einer rechtlichen Grauzone ausgegeben, in der als Garant nur der politische Wille, das Vertrauen zum Partner und das Fairplay-Prinzip galten. Als das Abkommen (nach sieben Jahren Verhandlungen!) unterzeichnet wurde, stand das Gebäude bereits und das Haus war voller Studierender. Auch was in den folgenden 20 Jahren passierte, war überraschend. Der Beitrag der Viadrina hat sich – finanziell betrachtet – verdoppelt und die Finanzierung der Betriebs- und Verwaltungskosten, angedacht als Leistungspflicht des polnischen Staates, erbte die AMU: Die späteren Regierungen in Polen behaupteten stets, ihre vertraglichen Verpflichtungen wären mit der pauschalen Finanzierung der AMU abgegolten. Man könnte weitere Paradoxien, Merkwürdigkeiten und Besonderheiten der Entstehung sowie Funktionsweise des Collegium Polonicum nennen, man könnte die Realität mit dem Ideal vergleichen, und je nach Perspektive würde das Urteil unterschiedlich ausfallen. Nichtsdestotrotz ist es eine Tatsache, dass das Collegium Polonicum seit 30 Jahren existiert, fast 4.000 Absolventen hat und seine Aktivitäten immer vielfältiger werden. Im Folgenden soll der Fokus auf die Besonderheit der akademischen Zusammenarbeit zweier Universitäten aus zwei Staaten gelegt werden und diese einer Analyse und Bewertung unterzogen werden. Der internationale akademische Austausch ist seit Jahrhunderten ein unbestrittener Bestandteil des kulturellen Lebens in Europa. Während ich diesen Text schreibe, befinde ich mich in Słubice, einem ehemaligen Stadtteil von Frankfurt (Oder), wo es bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts Studierende aus Deutschland, Polen, Böhmen und anderen Ländern gab. Selbst der Eiserne Vorhang, die am schwierigsten überwindbare Barriere in der europäischen Geschichte, konnte den Austausch nicht aufhalten. Bereits 1965 ermöglichten DAAD-Stipendien den ersten polnischen Studierenden einen Studienaufenthalt in Deutschland. Der akademische Austausch folgt jedoch seit jeher demselben Muster: Geht ein Studierender oder Professor XY von einer Universität im Land A an eine Universität 2 Die Baukosten wurden zu 60 % von der polnischen Regierung getragen, zu 25 % von der Europäischen Union (EWG) und zu 15 % von der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.

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im Land B, ist er dort Gast. Er hat das Recht, bestimmte Kurse zu besuchen bzw. zu leiten, er hat das Recht, seine Meinung zu äußern, aber er kann als Gaststudierender bzw. Gastprofessor nicht erwarten, dass die Universität in Land B ihm den gleichen Status verleiht wie die Universität in Land A. Es mag sein, dass sein Aufenthalt in B viel komfortabler ist als in A, das Stipendium bzw. Honorar viel höher als sein Einkommen zu Hause, die Unterkunft luxuriöser, aber XY wird keine Ansprüche gegenüber B geltend machen, indem er sich auf Umstände beruft, die er von A kennt, selbst wenn er glaubt, diese Umstände wären legitim und allgemeingültig. Er wird sich auch nicht emotional einmischen. Wenn er sieht, wie ein Polizist einen Studierenden aus dem Hörsaal zerrt, wird er sich zwar denken, dass dies seltsame Sitten sind, aber er wird sich nicht für den Studierenden einsetzen, wie er es in seinem eigenen Land – überzeugt von der unantastbaren Autonomie der Universitäten – getan hätte. Der Schlüssel dazu liegt im Begriff der Identifizierung. XY identifiziert sich nicht mit der Universität in B. Er nimmt die Einrichtung von B nicht als seine eigene wahr. Sie ist nicht Teil der kollektiven Identität von XY, er betrachtet ihre Tradition nicht als eigene Tradition, ihre Struktur nicht als die ihm vertraute Struktur und das Gebiet von B nicht als das Gebiet seines eigenen Landes. Es gibt jedoch akademische Einrichtungen, bei denen das, was dem klassischen internationalen akademischen Austausch nicht eigen ist, zum Alltag gehört. Dies ist bei den Einrichtungen der „grenznahen universitären Zusammenarbeit“ (GUZ) der Fall. In diesen Einrichtungen kommt es aufgrund der räumlichen Nähe, des bikulturellen Umfelds und der Vertrautheit mit dem Nachbarn zu folgenden Situationen: 1. GUZ-Partner A erwartet, dass die in Land A geltenden Regeln und Normen im Hoheitsgebiet von B eingehalten werden. Dies bringt Land B in eine schwierige Lage, da rechtlich gesehen die Normen und Regeln von A im Hoheitsgebiet von B nicht gelten können. 2. GUZ-Partner B befindet sich in einem Zustand der Schizophrenie bzw. der IchSpaltung: Einerseits möchte er, dass A sich als Mit-Gastgeber fühlt, d. h. er möchte die Last und Verantwortung teilen, eine gemeinsame Einrichtung zu leiten. Gleichzeitig aber wird er das tief verwurzelte Gefühl nicht los, dass es sich um sein Land handelt und er daher das Recht hat, über alles zu entscheiden, sodass A nur als Gast behandelt werden kann. 3. Partner A muss einen dreifachen Gedankengang vollziehen: Er muss die Einrichtung in B als seine eigene betrachten, obwohl sie sich jenseits der Grenze befindet, gefühlsmäßig von „den anderen“ stärker als von ihm selbst kontrolliert wird und die ihr zugewiesenen Mittel – zumindest von einem Teil seiner akademischen Gemeinschaft – als Mittel betrachtet werden, die ihnen entzogen und „jemand anderem“ gegeben werden. 4. Beide Partner (wenn auch in unterschiedlichem Grade – Partner A stärker, da er außerhalb des eigenen Landes agiert, Partner B schwächer, da er das eigene Land hinter sich weiß) müssen mit Geduld die Andersartigkeit der nationalen, universitären und lokalen Verfahrensweisen sowie – was noch viel schmerzhafter ist – der Kul-

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turstandards ertragen, was ein schwieriger Prozess ist. Und dieser Prozess wird nur zum Teil durch die Tugend der Toleranz abgemildert, da wir Toleranz normalerweise gegenüber völlig „Fremden“ üben oder gegenüber denjenigen, mit denen wir auf der Basis von Gemeinsamkeiten (Land, wirtschaftliche Realität, Rechtssystem, politisches System) zusammenleben. Und eine GUZ ist gerade als ein Zwischenraum zwischen diesen beiden Polen zu betrachten. 5. Beide Seiten müssen die tief verwurzelten Mechanismen der Herausbildung ihres Selbstwertgefühls überarbeiten (Gefühl der Würde, Respekt für die eigene Kultur, Ausdrucksformen des Respekts für eine fremde Kultur, Kommunikationsformen, Zeitverständnis, Verständnis für „gute“ und „schlechte“ Arbeit usw.). Es ist ein aufwändiger, mühsamer und leider unvermeidlicher Prozess, vergleichbar mit der Notwendigkeit, dass ein Kind, das den Kindergarten besucht, die meisten Kinderkrankheiten durchläuft. Dabei werden die meisten Mechanismen und Abläufe (z. B. das Spannungsfeld „eigenes“ – „fremdes“ Land) unter normalen Bedingungen nie bewusst erfahren, thematisiert, geschweige denn operationalisiert. Hinzukommende Asymmetrien – die Größe der Mutterinstitutionen, das finanzielle Potenzial beider Seiten, die Höhe der Gehälter, das weltweite wissenschaftliche Prestige von A und B, der Einfluss der Kulturen und Sprachen von A und B, die politische Atmosphäre in A und B, die gegenseitigen und historischen Beziehungen von A und B usw. – machen die Situation noch komplizierter. Hierzu einige Beispiele: 1. Ein Professor der Universität in A, dessen Lehrstuhl sich in der (gemeinsamen) Einrichtung in Land B befindet, sieht, wie ein Student versehentlich Kaffee auf dem Flur in der Nähe seines Lehrstuhls verschüttet und verschwindet. Wäre der Professor ein Angestellter der Universität B, würde er prompt in der Pförtnerloge anrufen und verlangen, die Verunreinigung sofort zu beseitigen. Da er aber nicht von B kommt, gehen ihm ganz unterschiedliche Gedanken durch den Kopf, wie: „Der Student ist ein Dreckskerl! Wäre er ein Student von A, hätte er sofort Papiertücher von der Toilette geholt und den Fleck weggewischt. Wenn ich jetzt in der Pförtnerloge anrufe und die Reinigung verlange, würde sich der Pförtner denken: ,Typisch A: Überheblich, arrogant und herrisch. Sie belehren uns gerne und weisen auf unsere Fehler hin.‘ Dann warte ich lieber ab, bis jemand von B vorbeiläuft und die Verunreinigung beim Pförtner meldet. Oder ich rufe lieber jetzt meinen Assistenten von B an und sage, er soll den Pförtner anrufen. Wer weiß, wie lange ich sonst warten muss, während der Fleck breitgetreten wird. Oder ich wische den Fleck doch lieber selber weg. Dann ist die Sache in fünf Minuten erledigt. Oder lieber doch nicht. Jemand von B könnte das sehen und denken, dass ich das demonstrativ mache, um Missstände in B anzuprangern.“ 2. Bei einem traditionellen akademischen Austausch bezieht ein Gastprofessor an der Gastuniversität ein ähnliches Gehalt wie ein einheimischer Professor. Bei einer engen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit kann es vorkommen, dass einer der Professoren mit vergleichbaren akademischen Leistungen wie jene, die Tür an

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Tür im selben Gebäude sitzen und mit ihm gemeinsam in der Kantine essen, das Vierfache verdient wie die anderen. Kultivierte Menschen sprechen nicht über ihr Gehalt, aber nur ein halbes Jahr lang oder bestenfalls ein Jahr lang. Wenn die Zusammenarbeit gut läuft, dann taucht bei dem schlechter Verdienenden automatisch die Frage auf: „Was habe ich von dem gemeinsamen Erfolg?“ Die üblichen Antworten, wie: „Du hast einen Job und bist nicht arbeitslos.“, „Du bist im öffentlichen Dienst angestellt und das ist ein stabiles Beschäftigungsverhältnis.“, „Das Prestige deiner Arbeitsstätte ist höher als das Prestige einer beliebigen Arbeitsstätte im Umkreis von 50 Kilometern.“, bewirken nur Schulterzucken. Das lokale Bewertungssystem der Beschäftigungsverhältnisse in A oder B verliert bei einer grenznahen, gemeinsamen Einrichtung seine Plausibilität. Um Unzufriedenheit, Personalfluktuationen oder Konflikten vorzubeugen, müssen aufwändige Angleichungsstrategien entwickelt werden, wie Lohnzuschüsse für B, Stellensplitting für A, Sonderprivilegien für B, Beschränkung der Rechte für A usw. Dies alles ist nur in einer juristischen Grauzone möglich und verleiht dem Vorhaben den zweifelhaften Charme eines Pulverfasses. 3. Im zweiten Jahr der Corona-Pandemie gehen die Strategien der Regierungen von A und B im Hinblick auf die Bekämpfung der Seuche auseinander. Die Regierung von A setzt auf Impfung und Kontrolle des Impfstatus (3G-Regel, 2G+-Regel usw.), die Regierung von B auf Maskenpflicht, Abstand, Desinfektion und Teillockdown. Damit wird der im ersten Pandemiejahr fast identisch ablaufende Betrieb der Partneruniversitäten A und B nunmehr unterschiedlich gehandhabt. Laut den Vorgaben in A dürfen Universitätsgebäude nur mit einem Impfnachweis bzw. negativem Testergebnis betreten werden, laut denjenigen in B genügen Maske und Abstand. Der Impfstatus und die Durchführung von Tests dürfen in B wegen des Datenschutzes nicht einmal abgefragt werden. Wenn A im Gebäude von B im Rahmen der GUZ ein neues Institut gründet, wie werden dann die Eindämmungsmaßnahmen gehandhabt? Reicht beim Betreten dieses Institutes nur die Maske aus (Staatsgebiet B, Gebäude und Hausrecht der Universität B) oder muss man sich vielmehr mit dem Impfpass ausweisen (alle Mitarbeiter des Instituts sind Angehörige der Universität A, Institut funktioniert nach dem Rechtssystem von A)? 4. Es kommt zu Kompetenzüberschreitungen und -unklarheiten. Wenn die Seite A einen Referenten für Personalfragen einstellt, dann bearbeitet diese Person sowohl Vorgänge von A als auch von B. Streng genommen (da er kein Mitarbeiter der Universität B ist) gleicht das einer Situation, in der man am Standort der Partneruniversität B, also in einer entfernten Stadt, einen Schreibtisch auf die Straße vor dem Hauptgebäude der Uni stellt, an ihn eine fremde, rechtlich nicht ermächtigte Person setzt und ihr aus dem Hauptgebäude die Personalakten zur Bearbeitung bringt. Es wäre eine gravierende Missachtung von Datenschutz, Haftungspflicht, Kohärenz der Verwaltungsabläufe und Verletzung der Compliance-Regeln. Dennoch wäre es absolut rational: Urlaubszeiten, Krankschreibungen, Beschäftigungsfristen und die entsprechende Dokumentation müssen in einer Hand liegen, um den Überblick über die Funktionsweise der Institution zu gewährleisten. Außerdem wären bei

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nur 80 Beschäftigten zwei getrennte Stellen für derartige Aufgaben überdimensioniert. Sollte jemand gegen diese Zustände rechtlich vorgehen wollen, wäre es fraglich, ob sie durch das Regierungsabkommen zwischen A und B gedeckt sind. Dieses Abkommen verleiht der Zusammenarbeit nur einen groben Rahmen. Die Verwaltung der gemeinsamen Einrichtung, geschweige denn ihre Arbeitsweise, werden darin überhaupt nicht erwähnt. 5. Selbst wenn sich die Staaten bzw. Regierungen bemühen würden, einen klaren Rechtsrahmen für diese Einrichtung zu schaffen, wären ihre Mühen vergeblich. Das zeigt sich am Beispiel der Besteuerung. Wo sollen die Mitarbeiter der gemeinsamen Einrichtung ihre Steuern entrichten? Die einen kommen von A, die anderen von B, es gibt auch Mitarbeiter aus den Staaten C, D und F. Die Einrichtung befindet sich auf dem Staatsgebiet von B, also sollten die Steuern theoretisch an den Staat B gezahlt werden. Es wäre aber absurd, wenn man einen Professor, der an der Universität A beschäftigt ist, im tiefen Hinterland von A wohnt und nur einmal in der Woche die Grenze überschreitet, um für zwei Stunden in das Gebäude von B zu kommen, in B zur Kasse zu bitten. Und außerdem würde die Steuerbehörde von A argumentieren, dass er ein beinahe modellhafter Steuerzahler von A ist. Um der Mobilität zwischen A und B entgegenzukommen, wurde ein Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen. Dieses Abkommen besagt, dass man in A unbeschränkt steuerpflichtig ist, wenn man von der Seite A bezahlt wird und sich weniger als 183 Tage im Jahr (d. h. weniger als die Hälfte von 365 Tagen) auf dem Staatsgebiet von B aufhält. Anscheinend braucht man nur die Tage zu zählen. Als ein Aufenthaltstag in B gilt jeder angefangene Tag, d. h. selbst ein Aufenthalt von einer halben Stunde. Moment mal: Ein Verwaltungsmitarbeiter oder ein fleißiger Dozent, der auf dem Staatsgebiet von Awohnt und jeden Tag in sein Büro auf dem Staatsgebiet von B pendelt, hält sich dort bis zu 220 Arbeitstage auf, und wenn er dort noch am Wochenende einkauft oder Freunde besucht, kann er im Extremfall 365 Tage in B verzeichnen. Aber er kommt doch nach Hause zurück, d. h. er ist auch jeden Tag auf dem Staatsgebiet von A steuerlich gesehen anwesend. Im Extremfall kann also ein Jahr eines Grenzgängers (und zu der Kategorie gehören fast alle Angestellten in der grenznahen gemeinsamen Einrichtung) 730 Tage zählen. Dieses Kriterium des Doppelbesteuerungsabkommens versagt also. Es gibt aber noch ein zweites. Unbeschränkt steuerpflichtig ist man dort, wo man seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. In diesem Falle tun sich ebenfalls Welten auf. Ein Professor aus A heiratet eine Frau aus B. Beide kaufen in B ein großes Grundstück und bauen ein feudales Haus, welches sie sich in A nie hätten leisten können. Aber sie behalten in A aus praktischen sozialen Gründen (bessere medizinische Betreuung, Schule für die Kinder, Rentenversicherung usw.) eine Einzimmerwohnung, die sie bei den Behörden als den Hauptwohnsitz und den Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes deklarieren. Auch hier greift das Doppelbesteuerungsgesetz nicht präzise, weil die Auslegung der Begriffe „Wohnsitz“ und „gewöhnlicher Aufenthalt“ große Interpretationsräume zulässt. Man könnte denken, diese juristische Grauzone störte den Arbeitsalltag der gemeinsamen Einrichtung von A und B nur wenig. Nichts könnte falscher sein.

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6. Die Überlappung der Kulturen, Strukturen, Finanz- und Rechtssysteme schafft den latenten Zustand einer Grauzone. Zwar funktionieren im Alltag die Abläufe entweder nach dem einen, nach dem anderen oder nach einem neuentwickelten Schema, aber es genügt eine Krisensituation oder ein besonders sensibilisiertes Individuum, um die Kruste des Alltags zu durchbrechen. Und so kann es passieren, dass ein neuer Mitarbeiter, der mit ehrgeizigen Plänen die Leitung eines Studienganges übernimmt, in der Einarbeitungsphase, in der sich seine Gedanken und Handlungen noch nicht in das existierende Geflecht von Aktivitäten eingefügt haben, entdeckt, dass seine steuerliche Situation absolut unklar ist, dass die bisher abgeschlossenen Vereinbarungen und Verträge über die gemeinsame Einrichtung genau besehen lückenhaft und unpräzise sind, dass sein täglicher Spaziergang von A ins Büro in B im versicherungstechnischen Sinne eine Auslandsdienstreise darstellt, dass viele Studierende „seines“ Studienganges, die nicht aus der EU kommen, das Visum nur für A bzw. nur für B und nicht für beide Staaten haben, dass er bei einem Beinbruch in das örtliche Krankenhaus gebracht wird, wo – laut seiner Assistentin aus B – ab und zu das falsche Bein amputiert wird und dass man bei regelmäßigen Grenzübertritten bei der Videoüberwachung der Brücke womöglich negativ auffällt. Es kann passieren, dass dieser Mitarbeiter in Panik gerät, sämtliche Unterlagen des Studienganges in die Kisten packt, mit Hilfe der studentischen Hilfskräfte zurück nach A verfrachtet und dort um neue Büro- und Lehrräume bittet. Jeder, der diese Zeilen gelesen hat, hat wahrscheinlich gemerkt, dass es sich nicht um abstrakte Beispiele, sondern um reale Erfahrungen am Collegium Polonicum handelt. In seiner 30-jährigen Geschichte gab es mehr als genug Fälle, die den oben angeführten ähnelten, und es gibt heute noch Grauzonen, auf die aus hochschulpolitischen Gründen kein Licht geworfen werden kann. Bedeutet dies, dass diese Zeit vergeudet wurde? Oder bedeutet dies, dass das Projekt derart komplex ist, dass dieses mit Leben pulsierende Konstrukt, in dem 150 Personen berechtigt sind, Zimmerschlüssel in der Pförtnerloge abzuholen, in dem zwei Universitäten, ein Lyzeum und fünf NGOs untergebracht sind und in dem jährlich an die 50 Konferenzen, Symposien, Seminare, Ausstellungen und Konzerte neben dem gewöhnlichen Universitätsbetrieb stattfinden, dennoch als großer Erfolg menschlicher Leistungsfähigkeit, wie etwa – toutes proportions gardées – Hannibals Alpenüberquerung mit Elefanten, eingestuft werden kann? Die Wahrheit liegt natürlich zwischen den beiden Extremen. Es ist unvergleichbar schwieriger, eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu betreiben als einen üblichen internationalen akademischen Austausch oder eine Kooperation. Die Frage nach dem angemessenen Grad der juristischen Regulierung dieses Vorhabens lässt sich mit der aristotelischen Bemerkung beantworten: „Von jeder Sache kann man nur so viel Klarheit erwarten, wie in ihrem Wesen liegt.“ Eine Schnittstelle zwischen den Systemen bleibt selbst im Rahmen der allgemeinen vertraglichen Regelungen per se unklar. Innerhalb dieser Unklarheit gibt es Spielräume für Bewertungsmaßstäbe, zum Beispiel zwischen den Aspekten Sein und Sollen. Wenn es es-

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senzielle Regulierungsdefizite gibt: Sollten diese nicht behoben oder ihre Behebung zumindest angestrebt werden? Die Frage negativ zu beantworten, würde auf Unverständnis stoßen. Die Ideale der westlichen Zivilisation veranlassen uns zu hoffen, dass klare Handlungsanweisungen wohltuend und zukunftsweisend wären. Kann denn ein Gebilde, durchlöchert von Grauzonen und inkompatiblen Regeln, irgendwie theoretisch legitimiert werden? Kann das Sollen gelenkt werden? Und wenn ja, wohin? Die meisten von uns wissen, was Webervögel sind. Einige von uns kennen auch eine (oder mehrere) von vielen Varianten ihrer Nester. Solch ein Nest ist eine bewundernswerte Konstruktion. Es ähnelt einem festen Sack, der das Gewicht von dem Muttertier und mehreren Küken tragen kann und über einen so konstruierten Seiteneingang verfügt, dass selbst ein geschicktes Raubtier nicht eindringen kann. Dieses Nest hat eine Aufhängung, die sowohl auf einem Baumzweig als auch an einem Leitungsdraht fixiert werden kann. Als Baustoff dienen trockene Gräser, Halme und verschiedene pflanzliche Fasern. Eine perfekte, komplexe, funktionale, nachhaltige Konstruktion. Wenn man aber den Webervogel bei der Arbeit beobachtet, kann man gar keine Regeln erkennen. Das, was sich vor den Augen des homo rationalis abspielt, ist eine Reihe von chaotischen Bewegungen, blitzschnellem Reinstechen, Ziehen, Aufheben und Fallenlassen, Hüpfen, Herumschauen, Kaputtmachen dessen, was gerade irgendwie zusammenhielt, und Neuanfangen. Die Handlungen werden offensichtlich instinktiv vollzogen. Es wäre aber falsch zu behaupten, dass die Regeln einfach auf einer anderen, nämlich der genetischen Ebene verankert sind. Seit ein paar Jahrzehnten wissen wir, dass die Wirkung der Gene nur im Dialog mit der morphologischen Ebene möglich ist, d. h., dass die Tiefe ständig im Dialog mit der Oberfläche bleibt. Wenn also das Collegium Polonicum ein Webervogelnest ist, wo ist dann die tiefe Essenz? Die löchrige Morphe ist natürlich der Alltag des Collegium Polonicum. Und die tiefe Ebene? Diese ist vielschichtig. Im Collegium Polonicum werden von der Zusammenarbeit der Universitäten alle möglichen Strukturebenen einer Institution umfasst: Forschung und Lehre (gemeinsame Projekte und Vorhaben, gemeinsame Studiengänge), organisatorische Abläufe, Finanzen, Technik, Organisations- und Kommunikationskulturen, Sozialisierungsmuster und noch tiefer liegende Bereiche. Auf keiner von diesen Ebenen wird das Paritätsprinzip eingehalten. Auf manchen Ebenen (Technik, Innenarchitektur, Ästhetik) ist der Einfluss der polnischen Seite absolut dominant, auf anderen (Forschung) verzeichnet die deutsche Seite weitgehend mehr Aktivitäten. Es ist auch bemerkenswert, dass sich die Dynamik der Leistung auf diesen Ebenen trotz 30-jähriger Praxis nicht endgültig eingepegelt hat. Am Anfang haben beide Seiten das Adjektiv „paritätisch“ ständig in den Mund genommen (die deutsche Seite in der Annahme, die polnische Seite würde ihren Beitrag in monetärer Hinsicht nicht wirklich leisten können bzw. wollen, und die polnische Seite in der Annahme, sie leiste viel mehr und die deutsche Seite nutze das Stichwort der bilateralen Zusammenarbeit, um verschiedene Töpfe anzuzapfen und die Gelder

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in das eigene Budget umzuleiten). Mit der Zeit aber wurde es selbstverständlich, dass im jeweiligen Zeitabschnitt jede Seite das leistet, was sie in der Lage zu leisten ist. Generell entwickelte sich das Motto der Haltung der Partner lateinisch ausgedrückt vom quantum ad me do über do ut des zum quantum possum do. Merkwürdigerweise spiegelte die Leistungsbereitschaft beider Seiten sowohl das finanzielle Potenzial der großen Organismen, in die beide Universitäten eingebettet waren, und das eigene finanzielle Potenzial als auch den temporären Erfolgsdruck wider, erzeugt durch eine Mischung aus politischer Großwetterlage, kulturellen Trends, wissenschaftlichen Ambitionen und partikulären Interessen. In diesem Zusammenhang kann natürlich die Vielschichtigkeit der Zusammenarbeit beliebig erweitert werden. Was ist aber die tiefste Ebene, die von der Zusammenarbeit tangiert wird? Meine 30-jährige Erfahrung erlaubt die Feststellung, dass es das Selbstwertgefühl der Akteure ist. Das Selbstwertgefühl – eine Subjektinstanz, die bisher in Forschung und in Politik wenig thematisiert wurde und neuerdings bedingt durch Populismus eine dunkle Renaissance erlebt – wird eher mit Kultur, Sittlichkeit und Moral assoziiert und nicht mit Verwaltung, Projektmanagement oder Interaktionen zwischen Wissenschaftlern. Einen bescheidenen Vorstoß in der Aufwertung dieser Instanz leisteten Autoren von Management-Ratgebern, die schon in den 1980er Jahren empfahlen, dem Kooperationspartner „auf Augenhöhe“ zu begegnen. Solche Ratschläge waren auch mir bekannt und ich stufte sie in den Bereich „Knigge“ ein, bis ich mit den Herausforderungen der GUZ konfrontiert wurde. In diesem Bereich nämlich (insbesondere, wenn sich benachbarte Länder sehr stark in Bezug auf das wirtschaftliche, kulturelle, zivilisatorische und politische Potenzial unterscheiden) ist das Erlangen eines ausbalancierten Pegels des Selbstwertgefühls der Partner oder individuellen Akteure – salopp gesagt – erst die „halbe Miete“. In den ersten 10 Jahren meiner Arbeit als Verwaltungsdirektor des Collegium Polonicum hatte ich 60 – 70 % meiner Energie (Zeit, Tinte und Papier, Gedanken und Magensäfte) Vermittlungsbemühungen, der Entwicklung von Erklärungsmustern, der Aufrechterhaltung eines guten Klimas, widerspruchslosem Ertragen überzogener Anschuldigungen und stillem Konterkarieren arroganter Alleingänge beider Seiten zu widmen. Zuerst dachte ich, ich hätte Pech und wäre auf spezifische Persönlichkeiten getroffen; mit der Zeit aber stellte sich heraus, dass es die Struktur des GUZ ist, die das Selbstwertgefühl beeinflusst. Die meisten der Akteure gehen durch das berufliche Leben, ohne jemals mit der Frage konfrontiert zu werden: „Befinde ich mich auf eigenem Staatsgebiet oder auf fremdem?“ Diese Frage wird automatisch durch routinemäßige Abläufe beantwortet. Die Situation, dass ich ein Land betrete, das qua Regierungsabkommen auch „mein“ Land ist, aber gleichzeitig ein fremdes, da ein Anderer einen anders abgeleiteten Titel hat, kommt im normalen Leben selten vor. (Ein solcher Fall wäre: Man erwischt im eigenen Haus den Liebhaber der Ehefrau im eigenen Bademantel.) Es müssen atavistische Impulse sein, die in solchen Situationen starke Schwankungen des Selbstwertgefühls hervorrufen (entweder das Gefühl, überlegen, im Recht, der Platzhirsch

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zu sein, oder das Gefühl, durch das Eindringen des anderen gedemütigt, beleidigt, seines Status beraubt zu sein). Aber ein vernünftiger Mensch hat nur eins im Sinn: „Was kann ich tun, um diese Situation zu beruhigen, um zu erreichen, dass das Selbstwertgefühl der Akteure einigermaßen ausgeglichen ist?“ Einige Antworten kennt man instinktiv, einige Tricks setzt man aus Erfahrung ein, aber das meiste muss man sich hart, mit einem gewaltigen Energieaufwand erarbeiten. Der Verlust des Selbstwertgefühls der Akteure signalisiert das unterbewusste Gefühl des Verlustes des eigenen Potenzials. Das Potenzial bedeutet Energie und der Energieverlust muss – letztendlich – mit Energieaufwand ausgeglichen werden. Und es war mein Energieaufwand. Aber dort, wo eine der Seiten das Gefühl hatte, benachteiligt, gedemütigt oder brüskiert worden zu sein, gab es immer zwei Möglichkeiten. Eine theoretische – dass sich die andere Seite entschuldigt oder zumindest den Partner lobt oder aufwertet, und eine praktische – dass jemand einspringt, der die Schuld auf seine Kappe nimmt. Es ist nämlich dem Benachteiligten oder Gedemütigten egal, wer sein Selbstwertgefühl wiederherstellt. Hauptsache, es wird ein Kanal geöffnet, durch den das „Spiel um die eigene Würde“ beginnt: Entschuldigt sich jemand, der am anderen Ende des Kanals steht, steigt der Würdepegel des Betroffenen und er beruhigt sich. Das Gleiche gilt, wenn er von seinem Gegenüber gelobt oder aufgewertet wird. Dadurch fühlt der Betroffene sich veranlasst, auch ihn ein bisschen aufzuwerten bzw. seine eigene mangelnde Vollkommenheit zu betonen. Mit der Zeit kam ich zu der Überzeugung, dass es beinahe eiserne Regeln in diesem Spiel gibt. Und ich nannte sie für mich selbst die „Hydrodynamik des Selbstwertgefühls“. Das Selbstwertgefühl der Akteure verhält sich nämlich wie die Flüssigkeit in den kommunizierenden Röhren: Steigt der Pegel an einem Ende, dann sinkt er am anderen automatisch ab. Verblüffend einfach. Dieses Phänomen hat vermutlich mit dem Energieerhaltungssatz zu tun oder ist gar seine direkte Erscheinungsform bei Lebewesen, die in sozialen, hierarchisch organisierten Strukturen leben. Die Einfachheit der Hydrodynamik schließt aber die Kompliziertheit der „Hydrodynamik des Selbstwertgefühls“ nicht aus, d. h. einer praktischen Lehre, wie, wo und wann man die Regeln der axiologisch fundierten Kommunikation anwendet. Seitdem ich zu dieser Erkenntnis gekommen bin, fällt es mir viel leichter, die tägliche Arbeit der gemeinsamen Einrichtung zu gestalten. Glücklicherweise haben die Partner mit der Zeit gelernt, mit dem Selbstwertgefühl des Gegenübers umzugehen. Natürlich legt ein kultivierter Mensch dieses Wissen in einem bestimmten Spektrum von Situationen an den Tag. Aber das Spektrum von Situationen verbreiterte sich und es passierte immer wieder, dass die „Dazugekommenen“ (neuangestellte, neugewählte oder zur direkten Zusammenarbeit delegierte Personen) die Phase des Ins-Fettnäpfchen-Tretens oder – symmetrisch – des Beleidigt- bzw. Empörtseins durchmachen mussten. Zum Glück wurden solche Phasen immer seltener und immer kürzer.

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Offensichtlich schuf die tägliche Praxis der Kooperation mit, ohne und außerhalb der Regeln einen Mikrokosmos, ein improvisiertes Webervogelnest, das durch seine Existenz seine Sinnhaftigkeit bestätigte und gleichzeitig durch den Dialog zwischen Oberfläche und Selbstwertgefühl dem ganzen Vorhaben einen besonderen Wert verlieh. Die spontan zustande gekommene Selbstaufwertung des Vorhabens war ein signifikanter Teil des Prozesses der Integration des gesamten deutsch-polnischen Grenzgebietes. Auch diese Integration vollzog sich unabhängig von Regeln. Es war eine spontane Begegnung von Tausenden von Personen, die sich aus schlichten Motiven (Einkauf, Arbeitssuche, billiges Vergnügen) auf die andere Seite der Grenze begaben und dabei festgefahrene Wahrnehmungen des Landes, des Fremden und des Besseren oder Schlechteren aufgelockert oder revidiert haben. Die GUZ entfaltete hier eine weit größere Rolle als ein klassischer akademischer Austausch. Die „heilende“ Rolle der grenznahen universitären Zusammenarbeit hat natürlich ihre Grenzen. Man muss nicht lange raten. Da sie auf lokale Strukturen zugeschnitten ist, ist auch ihre Wirkung lokal. Sie ist wohltuend, aber aus internationaler Perspektive betrachtet provinziell. Der Standort an sich ist provinziell. Eine genauere Betrachtung der Struktur der Zusammenarbeit – außer der Frage „erfolgreich oder nicht?“ – kommt in der Frage zum Vorschein: „Wird denn der eventuelle Erfolg von der Außenwelt wahrgenommen?“ Hier fällt uns ein wenig tröstliches Phänomen auf: das Phänomen einer hoch komplexen Realität, die das Collegium Polonicum, die lokale GUZ und selbst die beiden Universitäten auf einer relativ niedrigen Stufe in der Pyramide der globalen Bedeutungsfrequenzen situiert. Diese verschachtelte Struktur bewirkt, dass die Sinnhaftigkeit und der Wert der zu erfüllenden Aufgaben genauso (oder unter Umständen weniger) von den Kompetenzen der Akteure der einzelnen Stufen abhängen wie von den Tendenzen und Abläufen auf höheren Ebenen bzw. Stufen der Struktur. Als ich kurz nach der Wende im Gründungsbüro der Viadrina arbeitete, erschien bei mir ein Mann, der sich nach Einstellungsmöglichkeiten erkundigte. Ich fragte ihn nach seiner Ausbildung. Nach einem kurzen Gespräch begriff ich etwas Dramatisches: Der Mann studierte einen Studiengang, der nicht mehr in dieser Form angeboten wurde, an einer Hochschule, die abgewickelt worden war, in einer Stadt, deren Namen geändert wurde, in einem Bezirk, der sich im neuen Bundesland aufgelöst hatte, in einem Staat, der nicht mehr existent war. Die mehrstufige Annihilation seiner formellen Kompetenzen machte ihn für den freien Arbeitsmarkt untauglich. Er war ein gebrochener Mensch. Mehr oder weniger alle Ostdeutschen waren auf diese Weise gebrochen und ich hatte plötzlich das Gefühl, mich in einem „erdbebengefährdeten“ Gebiet zu befinden. „Die Beben der Geschichte kommen hier öfters vor als woanders und sind auf der historischen Richterskala besonders heftig“, dachte ich. Und derartige Krisen der Rahmenbedingungen, durch die selbst ein fleißiges und tugendhaftes Arbeiten auf der lokalen Ebene entwertet wird, habe ich im Collegium Polonicum mehrmals erfahren. Es waren zum Beispiel die Schwankungen des Bevölkerungszuwachses, die dem Collegium Polonicum zu schaffen machten. Die geburtenschwachen Jahrgänge, die

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an großen Universitäten nicht viel geändert haben, wirkten sich bei uns dramatisch aus. Der sinkende Bildungsdrang der deutschen und polnischen Gesellschaft, der sich in den 2010er Jahren auf dem Höhepunkt befand, kostete weitere Studierende. Der Drang zu den Metropolen war selbst durch luxuriöse Studien- und Unterkunftsbedingungen nicht wettzumachen. Die Studierenden wollten nicht am Uni-Standort wohnen, sondern begannen zwischen den Metropolen und den Vorlesungssälen zu pendeln. Und dann traf unsere Einrichtung noch die Globalisierung selbst: Die absolute Dominanz der englischen Sprache drängte andere Sprachen beiseite. Deutsch, in Mittelosteuropa jahrhundertelang die meistgesprochene Fremdsprache, wurde in der jüngeren Generation fast aufgegeben. In den 1990er Jahren wählten noch 20 % der jungen Polen Deutsch als Abiturfach, 2019 waren es nur noch 3 %. Studiengänge, die bisher der Stolz des Collegium Polonicum waren (deutsch-polnisches Recht oder interkulturelle Germanistik), hängen jetzt wegen mangelnder Sprachkompetenzen der Kandidaten am seidenen Faden. Und gleichzeitig ist Polen das Land, in dem die meisten Menschen außerhalb Deutschlands die deutsche Sprache lernen. Der Kampf gegen die Trends, die von übergeordneten Strukturen diktiert werden, war und ist ein ständiger Begleiter der Arbeit einer kleinen Universitätseinrichtung. Die größeren sind damit natürlich auch konfrontiert, aber kleine Strukturen sind fragiler und die GUZ ist empfindlicher als eine rein national organisierte universitäre Konstruktion. Kaum stabilisiert sich ein Bereich, wird schon eine neue Front eröffnet. Die Kämpfe um das Selbstwertgefühl der Akteure pegelten sich ein. Die Behelfsregeln in den ungeregelten Bereichen wurden tragfähig. Das Finanzierungsprinzip wurde nicht mehr in Frage gestellt. Das Abdanken des Deutschen wurde durch die Inthronisation des Englischen in der Lehre und die Ergänzung der Sprachkompetenzen des Personals abgemildert. Aber die Impulse der höheren Schichten, der unruhigen Außenwelt eröffnen neue Problembereiche: Die Forderung nach Angleichung der ungleichen Löhne, die Abwanderung von Wissenschaftlern, die einen guten Ruf aufgebaut haben und nunmehr prestigeträchtigere Arbeitsstätten suchen, der Zweifel am europäischen Gedanken, ständige Hochschulreformen in Polen, schließlich wiederholte Corona-Wellen … Worauf soll man sich in dieser instabilen Welt verlassen? Worauf kann man zählen? Es wurde bereits erwähnt, dass es einen ontischen Dialog zwischen der Oberfläche der Organismen und den Genen, zwischen der Morphe und der Essenz gibt. Im Falle einer wissenschaftlichen Einrichtung wären das der Energiewechsel, der Dialog und die vertikale Kommunikation zwischen der akademischen Kultur und dem Individuum. Ja, die Wissenschaftler, Gelehrten, Verwalter und prägnanten Persönlichkeiten im Strom der Menschen, die die Institution durchlaufen, sind die Träger des Erbgutes und die Schrittmacher der Arbeit der Uni-Struktur. In dieser Hinsicht hatte das Collegium Polonicum meistens Glück. Und manchmal sehr großes Glück. Professor Joerden war ein Mensch, der dem Collegium Polonicum in seiner Amtszeit wichtige Impulse gegeben hat. Manche von ihnen initiierten Neues, manche neu-

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tralisierten Spannungen. Neben seinem Fachwissen legte er menschliche Weisheit an den Tag. Allein schon sein Erscheinen – eine imposante Statur, ein gütiges Lächeln im Gesicht, eine nette Bemerkung zum Auftakt des Gesprächs, eine zwischen klare Schlussfolgerungen gestreute witzige Bemerkung – wirkte auf seine Umgebung beruhigend und mobilisierend zugleich. Er entwickelte Visionen für die Einrichtung, arbeitete mit großem Aufwand mit einem polnischen Kollegen zusammen an den Rechtsgrundlagen eines neuen Instituts und kümmerte sich um kleine Dinge. Eines Tages fragte er mich, wie ich entlohnt werde. Als ich es ihm sagte, fand er das sehr ungerecht. Er verfasste einen Protestbrief an die Präsidentin und ich wurde daraufhin wesentlich höher eingestuft. Ein Mensch, der in einem komplexen Organismus ein Gen der Klugheit, der Solidität und der Gerechtigkeit und dazu ein Fels in der Brandung ist. Wenn der äußerste Rahmen des Lebens auf Erden, das Klima, stabil ist, werden die Webervogelnester immer perfekter und resilienter. Sie trotzen den Winden, dem Regen und der Sonne. Aber wenn sich das Klima ändert, werden selbst die perfektesten Nester aufgegeben. Man kann nur hoffen, dass dies nicht zu unseren Lebzeiten passiert. Und wenn es doch passiert, dann bleiben irgendwo die Gene der Klugheit, der Solidität und der Gerechtigkeit hängen, die einem neuen Organismus, einer neuen Struktur, einer neuen GUZ das Leben schenken werden.

Verzeichnis der Schriften von Jan C. Joerden (Stand: 15. Dezember 2022)

I. Monographien 1. Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, Berlin, 1986. 2. Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, Berlin, 1988. 3. Menschenleben. Ethische Grund- und Grenzfragen des Medizinrechts, Stuttgart, 2003 (Aufsatzsammlung). 4. Logik im Recht. Grundlagen und Anwendungsbeispiele a) 1. Auflage, Berlin/Heidelberg, 2005. b) 2. Auflage, Berlin/Heidelberg, 2010. c) 3. Auflage, Berlin/Heidelberg, 2018. 5. Staatswesen und rechtsstaatlicher Anspruch. Ethische Fragestellungen zwischen Recht und Politik, Berlin, 2008 (Aufsatzsammlung).

II. Herausgegebene Einzelbände 1. Recht und Politik, Beiheft 93 zum Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Stuttgart, 2004 (zusammen mit R. Wittmann). 2. Sterben und Tod bei Heinrich von Kleist und in seinem historischen Kontext, Beiträge zur Kleistforschung 18 (2004), Würzburg, 2006 (zusammen mit D. von Engelhardt und L. Jordan). 3. Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen, Berlin, 2007. – Polnisch-sprachige Ausgabe: Europeizacja Prawa Karnego w Polsce i w Niemczech – Podstawy Konstytucyjnoprawne, Poznan´, 2007 (zusammen mit A. J. Szwarc).

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4. Vergleichende Strafrechtswissenschaft, Frankfurter Festschrift für Andrzej J. Szwarc zum 70. Geburtstag, Berlin, 2009 (zusammen mit U. Scheffler, A. Sinn und G. Wolf). 5. Menschenwürde und moderne Medizintechnik, Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, Band 50, Baden-Baden, 2011 (zusammen mit E. Hilgendorf, N. Petrillo und F. Thiele). 6. Das vierte deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung. Ausgewählte Bereiche des deutschen, japanischen und polnischen Straf- und Strafprozessrechts im Vergleich, Poznan´, 2011 (zusammen mit A. J. Szwarc und K. Yamanaka). 7. Menschenwürde in der Medizin: Quo vadis? Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, Band 52, Baden-Baden, 2012 (zusammen mit E. Hilgendorf, N. Petrillo und F. Thiele). 8. Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, 2013 (zusammen mit E. Hilgendorf und F. Thiele). 9. Strafrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie – ein fruchtbares Spannungsverhältnis. Materialien eines deutsch-japanisch-polnisch-türkischen Kolloquiums im Jahre 2013 in Frankfurt an der Oder und Słubice (Polen), Poznan´, 2014 (zusammen mit A. J. Szwarc, K. Yamanaka und Y. Ünver). 10. Probleme des Allgemeinen Teils des Strafrechts aus rechtsvergleichender Perspektive. Materialien eines deutsch-japanisch-polnisch-türkischen Kolloquiums im Jahre 2014 in Istanbul (Türkei), Ankara, 2015 (zusammen mit Y. Ünver, K. Yamanaka und A. J. Szwarc). 11. Strafrechtlicher Reformbedarf. Materialien einer deutsch-japanisch-polnischtürkischen Tagung im Jahre 2015 in Rzeszów und Kraków (Polen), Poznan´, ´ wia˛kalski, J. Długosz, W. Wróbel, A. J. Szwarc, K. 2016 (zusammen mit Z. C Yamanaka und Y. Ünver). 12. Rechtsstaatliches Strafen, Festschrift für Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Keiichi Yamanaka zum 70. Geburtstag am 16. März 2017, Berlin, 2017 (zusammen mit K. Schmoller). 13. Handbuch Rechtsphilosophie (zusammen mit E. Hilgendorf) a) 1. Auflage, Stuttgart, 2017. b) 2. Auflage, Berlin, 2021.

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III. Herausgegebene Schriftenreihen 1. Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics (Bände 1 – 21 zusammen mit B. Sharon Byrd und J. Hruschka; Band 13 mit B. Sharon Byrd; Bände 22 – 25 mit J. Hruschka; ab Band 27 mit Jan C. Schuhr) Band 1 (1993): Vorpositives Recht und politischer Umbruch – Prepositive Law and Political Upheaval, Berlin. Band 2 (1994): Zurechnung von Verhalten – Imputation of Conduct, Berlin. Band 3 (1995): Rechtsstaat und Menschenrechte – Human Rights and the Rule of Law, Berlin. Band 4 (1996): Bioethik und Medizinrecht – Bioethics and the Law, Berlin. Band 5 (1997): 200 Jahre Kants Metaphysik der Sitten – 200th Anniversary of Kant’s Metaphysics of Morals, Berlin. Band 6 (1998): Altruismus und Supererogation – Altruism and Supererogation, Berlin. Band 7 (1999): Der analysierte Mensch – The Human Analyzed, Berlin. Band 8 (2000): Die Entstehung und Entwicklung der Moralwissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert – The Origin and Development of the Moral Sciences in the 17th and 18th Century, Berlin. Band 9 (2001): Schwierige Fälle der Gen-Ethik – Hard Cases in Genethics, Berlin. Band 10 (2002): Richtlinien für die Genetik – Guidelines for Genetics, Berlin. Band 11 (2003): Strafrecht und Rechtsphilosophie – Criminal Law and Jurisprudence, Berlin. Band 12 (2004): Zur Entwicklungsgeschichte moralischer Grund-Sätze in der Philosophie der Aufklärung – The Development of Moral First Principles in the Philosophy of the Enlightenment, Berlin. Band 13 (2005): Philosophia Practica Universalis, Festschrift für Joachim Hruschka zum 70. Geburtstag, Berlin. Band 14 (2006): Recht und Sittlichkeit bei Kant – Law and Morals for Immanuel Kant, Berlin. Band 15 (2007): Medizinethik und -recht – Medical ethics and law, Berlin. Band 16 (2008): Kants Metaphysik der Sitten im Kontext der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts – Kant’s Doctrine of Right in the Context of Eighteenth Cen tury Natural Law, Berlin. Band 17 (2009): I. Kants Friedensschrift – Kant’s Peace Project; II. Kompensation – Compensation, Berlin (zusammen mit I. M. Jarvad und M. Lane).

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Band 18 (2010): Wirtschaftsethik – Business Ethics, Berlin. Band 19 (2011): Politische Ethik – Political Ethics, Berlin. Band 20 (2012): Recht und Ethik im Werk von Jean-Jacques Rousseau – Law and Ethics in Jean-Jacques Rousseau’s Works, Berlin. Band 21 (2013): Das Rechtsstaatsprinzip – The Rule of Law Principle, Berlin. Band 22 (2014): Grund und Grenzen der Solidarität in Recht und Ethik – Foundation and Limitation of Solidarity in Law and Ethics, Berlin. Band 23 (2015): Recht und Ethik im Internet – Law and Ethics on the Internet, Berlin. Band 24 (2016): Neue Entwicklungen in Medizinrecht und -ethik – New Developments in Medical Law and Ethics, Berlin. Band 25 (2017): Recht und Ethik der Migration – Law and Ethics of Migration, Berlin. Band 26 (2018): Recht und Ethik des Kopierens – Law and Ethics of Copying, Berlin (zusammen mit R. Schmücker und E. Ortland). Band 27 (2019): Strafrecht und Rechtsphilosophie. Zugleich Gedächtnisschrift für Joachim Hruschka, Berlin. Band 28 (2020): A. Zur Manipulierbarkeit des Embryos – On Manipulation of the Human Embryo (zusammen mit M. Rothhaar); B. Zu Rechtsphilosophie und Strafrecht – On Legal Philosophy and Criminal Law, Berlin. Band 29 (2021): Zu Umweltethik und Umweltrecht – On Environmental Ethics and Law, Berlin. Band 30 (2022): Theologische Ethik bzw. Moralphilosophie zwischen positivem Recht und säkularer Ethik – Theological Ethics/Moral Philosophy Between Positive Law and Secular Ethics, Berlin. 2. Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für Ethik an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Berlin/Heidelberg: Diskriminierung – Antidiskriminierung, Berlin/Heidelberg, 1996; japanische Übersetzung, Tokyo, 1999. Der Mensch und seine Behandlung in der Medizin: Bloß ein Mittel zum Zweck?, Berlin/Heidelberg, 1999. Tiere ohne Rechte?, Berlin/Heidelberg, 1999 (zusammen mit B. Busch). Universitäten im 21. Jahrhundert, Berlin/Heidelberg, 2000 (zusammen mit A. Schwarz und H.-J. Wagener). 3. Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa, Frankfurt/Main: Band 1: Medizinethik 1, Frankfurt/Main, 2000 (zusammen mit J. N. Neumann).

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Band 2: Medizinethik 2, Frankfurt/Main, 2001 (zusammen mit J. N. Neumann). Band 3: Medizinethik 3, Ethics and Scientific Theory of Medicine, Frankfurt/ Main, 2002 (zusammen mit J. N. Neumann). Band 4: Über Tugend und Werte. Beiträge von Andrzej Szczypiorski, Boz˙ ena Chołuj und Heinrich Olschowsky, Frankfurt/Main, 2002. Band 5: Markt ohne Moral? Transformationsökonomien aus ethischer Perspektive, Frankfurt/Main, 2002 (zusammen mit M. S. Aßländer). Band 7: Medizinethik 4, Frankfurt/Main, 2003 (zusammen mit J. N. Neumann). Band 8: Medizinethik 5, Frankfurt/Main, 2005, (zusammen mit J. N. Neumann). Band 11: Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion. Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis, Frankfurt/Main, 2007 (zusammen mit B. Chołuj); polnische Übersetzung, Warschau, 2013. Band 12: Ethical Liberalism in Contemporary Societies, Frankfurt/Main, 2009 (zusammen mit K. Wojciechowski). Band 13: Stammzellforschung in Europa – Religiöse, ethische und rechtliche Probleme, Frankfurt/Main, 2009 (zusammen mit T. Moos und C. Wewetzer). Band 15: 1926 – Die Geburt der Bioethik in Halle (Saale) durch den protestantischen Theologen Fritz Jahr (1895 – 1953), Frankfurt/Main, 2014 (zusammen mit F. Steger und M. Schochow). Band 16: Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie, Frankfurt/Main, 2015 (zusammen mit F. Steger und A. M. Kaniowski). Band 17: Ethik in der Pränatalen Medizin, Frankfurt/Main, 2016 (zusammen mit F. Steger und A. M. Kaniowski). Band 18: Ethics and the Law in Medicine – in Research and Healthcare, Frankfurt/Main, 2020 (zusammen mit J. Długosz, E. Paszyn´ska und F. Steger). 4. Discussion-Papers des Frankfurter Instituts für Transformationsstudien, Frankfurt (Oder) 1995 ff. (zusammen mit H. Schultz und H.-J. Wagener). 5. Im Spiegel der Philosophie/Treffpunkt Philosophie, Freiburg/München, 2001; Frankfurt/Main 2003 ff. (zusammen mit M. Kaufmann, D. Birnbacher, W. Kersting, G. Lohmann, G. Mohr, J. Renzikowski, W. Vossenkuhl).

IV. Aufsätze 1. Beiträge in Büchern und Fachzeitschriften 1. Ist Rechtsethik ohne Metaphysik begründbar? Zu einem Beitrag von Norbert Hoerster in JZ 1982, 265, JZ 1982, 670 – 674.

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2. Der auf die Verwirklichung von zwei Tatbeständen gerichtete Vorsatz. Zugleich eine Grundlegung zum Problem des dolus alternativus, ZStW 95 (1983) 565 – 605. 3. Erzwungenes „Sich-Entfernen“ vom Unfallort – BayObLG, NJW 1982, 1059, JR 1984, 51 – 53. 4. Die „Verdoppelung“ – ein zentrales Strukturproblem des Strafrechts, GA 131 (1984) 249 – 263. 5. „Mieterrücken“ im Hotel – BGHSt 32, 88, JuS 1985, 20 – 27. 6. Gewaltsame Wiederbeschaffung des Hehlgutes für den Eigentümer – BGH NJW 1985, 1564, Jura 1986, 80 – 85. 7. Supererogation: Vom deontologischen Sechseck zum deontologischen Zehneck. Zugleich ein Beitrag zur strafrechtlichen Grundlagenforschung, Abschnitte V–VII (Abschnitte I@IV und VIII dieses Aufsatzes von Joachim Hruschka), ARSP 73 (1987) 104 – 120. 8. OGH JBl 1987, 191 – ein Fall alternativer Kausalität?, JBl 1988, 432 – 435. 9. Drei Ebenen des Denkens über Gerechtigkeit. Dargestellt am Beispiel einiger rechtsethischer Regeln und Prinzipien, ARSP 74 (1988) 307 – 330. 10. Postpendenz- und Präpendenzfeststellungen im Strafverfahren. Zugleich eine Besprechung der Entscheidung des BGH vom 11. Nov. 1987 @ 2 StR 506/87 (= BGHSt 35, 86), JZ 1988, 847 – 853. 11. Grenzen der Auslegung des § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG, wistra 1990, 1 – 4. 12. Zur Reichweite der Anzeigepflicht aus § 138 Abs. 1 StGB und zur Beweisverwertung bei heimlicher Videobandaufnahme @ BGHSt 36, 167, Jura 1990, 633 – 645. 13. § 34 Satz 2 StGB und das Prinzip der Verallgemeinerung, GA 1991, 411 – 427. 14. Einwilligung und ihre Wirksamkeit bei doppeltem Zweckbezug. Zugleich ein Beitrag zum Problem der Strafbarkeit heimlicher HIV-Tests, Rechtstheorie 22 (1991) 165 – 197. 15. Zwei Formeln in Kants Zurechnungslehre, ARSP 77 (1991) 525 – 538. 16. Der Streit um die Gänsebrust: Selbsthilfe im Strafrecht – BayObLG NStZ 1991, 133 f., JuS 1992, 23 – 28.

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17. Was leisten Kants Beispiele bei der Anwendung des Kategorischen Imperativs? Zugleich eine Besprechung von: Christian Schnoor, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium der Richtigkeit des Handelns, Tübingen, 1989, ARSP 79 (1993) 247 – 258. 18. Interessenabwägung im rechtfertigenden Notstand bei mehr als einem Eingriffsopfer, GA 1993, 245 – 261. 19. Strafrechtsschutz an den Grenzen des Lebens als Funktion des rechtsethischen Personbegriffs, in: Erlanger Studien zur Ethik in der Medizin, Band 1, A. Frewer/C. Rödel (Hrsg.), Person und Ethik. Historische und systematische Aspekte zwischen medizinischer Anthropologie und Ethik, Erlangen/Jena, 1993, 111 – 127. 20. Tod schon bei „alsbaldigem“ Eintritt des Hirntodes? Anmerkungen zu einer These von Dencker in NStZ 1992, 311 ff., NStZ 1993, 268 – 271. 21. Gerechtigkeit im „Fall Stolpe“? Die Denkfigur des „Gefangenendilemmas“ als Beitrag zur Versachlichung einer bisher vorwiegend politisch geführten Debatte, Rechtsphilosophische Hefte II, Gerechtigkeit (1993) 87 – 94. 22. Verbotene Vernehmungsmethoden – Grundfragen des § 136a StPO, JuS 1993, 927 – 931. 23. Muß dieses Buch gelesen werden? Zum Erscheinen der deutschen Ausgabe von Helga Kuhse/Peter Singer: Should the Baby Live?, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 2 (1994) 529 – 537. 24. In welchen Fällen muß ein Politiker zurücktreten? Thesen zur Beurteilung, Zurechnung und Feststellung politischer Verantwortlichkeit, in: H. N. Weiler (Hrsg.), Antrittsvorlesungen der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) 2 (1995) 147 – 166. Gekürzte Fassung in: NJ 1995, 347 – 352. Auch in: Schattenblick, elektronische Zeitschrift 1997. Polnische Übersetzung: Ustapienie polityka @ normalny proces w demokracji [Der Politikerrücktritt @ ein normaler Vorgang in der Demokratie], Ruch Prawniczy, Economiczny i Sociologiczny, Poznan´, 1998, 443 – 458. 25. Der praktische Fall – Strafrecht: Abenteuer eines Antiquitätenhändlers, JuS 1996, 622 – 625. 26. Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes durch aufgedrängte Tonbandaufnahme?, JR 1996, 265 – 268. 27. Wird politische Machtausübung durch das heutige Strafrecht strukturell bevorzugt? Zugleich eine Besprechung von Wolfgang Naucke, Die strafjuristische

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Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, GA 1997, 201 – 213. Vorabdruck in: Discussion-Papers des Frankfurter Instituts für Transformationsstudien, Frankfurt (Oder) (8) 1996, 1 – 15. 28. Zur Verwendung von Rechtsfiguren in der politischen Diskussion um den Minderheitenschutz, Humanitäres Völkerrecht 4 (1998) 245 – 249. 29. On the Logic of Supererogation, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 6 (1998) 145 – 159. 30. Strafvereitelung durch vorab zugesagte Bestätigung eines falschen Alibis: Straffreiheit durch das Versprechen, sich strafbar zu machen? – BGH, NJW 1998, 1327, JuS 1999, 1063 – 1067. 31. Poje˛ cie i istota odpowiedzialnos´ci karnej (Begriff und Wesen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit), Annales Universitatis Mariae Curie-Sklodowska, Sectio G. Ius, 47 (2000) 41 – 50. 32. Der Bandendiebstahl und seine Mitwirkenden – BGH, NJW 2001, 2266, JuS 2002, 329 – 332. 33. Der Fahrzeugführer hinter dem Fahrzeugführer – eine akzeptable Rechtsfigur? Zugleich eine Besprechung von AG Cottbus 73 Ds 1621 Js 16426/01 (765/01), BA 40 (2003) 104 – 108. 34. Wer macht Kompromisse beim Lebensrechtsschutz?, JuS 2003, 1051 – 1054. 35. Gibt es „Supererogationslöcher“? Eine Auseinandersetzung mit: Ulla Wessels, Die gute Samariterin. Zur Struktur der Supererogation, Berlin 2002, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 11 (2003) 513 – 532. 36. Mögliche Funktionen von Ethikkomitees, EWE 16 (2005) 38 – 41. 37. Argumente für ein (strafrechtliches) Verbot des Klonens – und wie weit sie tragen. Zugleich ein Beitrag zur Trennung von (Straf-)Recht und Moral, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 14 (2006) 407 – 424. 38. Ethik auch ohne eigenes Interesse, EWE 17 (2006) 476 – 479. 39. Thesen zur Chimären- und Hybridbildung aus der Perspektive von Recht und Ethik, Jahrbuch für Recht und Ethik, Annual Review of Law und Ethics 15 (2007) 105 – 149 (zusammen mit C. Winter). 40. Beginn und Ende des Lebensrechtsschutzes. Stellungnahme zu Silva Sánchez, ZStW 118 (2006) 547 ff., ZStW 120 (2008), 11 – 21.

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41. Zwischen Autonomie und Heteronomie in paradoxen medizinrechtlichen Situationen, in: W. Brugger/U. Neumann/S. Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt (Main), 2008, 397 – 417. 42. Parallelen des Supererogationsbegriffs im Islamischen Recht, Rechtstheorie 39 (2008) 83 – 104. 43. Bielefelder Memorandum zur Bedeutung der Menschenwürde in der Medizin der ZiF-Forschungsgruppe „Herausforderungen für Menschenbild und Menschenwürde durch neuere Entwicklungen der Medizintechnik“, ZiF-Mitteilungen 3 (2011) 4 – 10 (zusammen mit E. Hilgendorf und F. Thiele). Auch in: Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü 1 (2012) 167 – 176. – Türkische Übersetzung 177 – 185. 44. WikiLeaks, Kants „Princip der Publicität“, Whistleblowing und „illegale Geheimnisse“, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 19 (2011) 227 – 239. 45. Die Systematik der Sterbehilfearten im Lichte des BGH-Urteils vom 25. Juni 2010 („Fall Putz“), AL 2011, 369 – 376 (zusammen mit C. Uhlig). 46. Deontological Square, Hexagon and Decagon: A Deontic Framework for Supererogation, Logica Universalis 6 (2012) 201 – 216. 47. Strafrechtliche Rahmenbedingungen der Sterbekultur. Begrifflich-systematische Fragen des Rechtsschutzes am Lebensende, in: D. Schäfer/C. MüllerBusch/A. Frewer (Hrsg.), Perspektiven zum Sterben. Auf dem Weg zu einer Ars moriendi nova?, Stuttgart, 2012, 121 – 132. 48. Der Notstand als Grenze des Strafrechts. Mit rechtsvergleichenden Überlegungen zum türkischen Strafrecht, Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü 2 (2012) 111 – 125. – Türkische Übersetzung 126 – 140. 49. Maschinen mit Würde? Thesen zu einem Turing-Test für Würde, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 20 (2012) 311 – 318. 50. Zur Logik überpflichtmäßigen (supererogatorischen) Verhaltens, Kanazawa Law Review, 56 (2013) 77 – 97. 51. Die Differenz zwischen Mord und Totschlag im deutschen Strafrecht als Orientierungshilfe bei der Identifizierung von inakzeptablen Methoden der Kriegsführung, insbesondere im Hinblick auf den Einsatz von sog. Drohnen, in: E. W. Plywaczewski (Hrsg.), Current Problems of the Penal Law and Criminology, Warschau, 2014, 65 – 81.

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52. Ärztliche Aufklärungsfehler und strafrechtliche Haftung bei ungewöhnlichen Behandlungsmethoden am Beispiel insbesondere des „Zitronensaft-Falles“ des BGH, Hogaka Ronshu 64 (2015) 250 – 264. 53. Zwischen Recht, Moral und Strafbarkeit, in: M. Borowski/S. L. Paulson/ J. Sieckmann (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Grundrechtstheorie – Robert Alexys System, Tübingen, 2017, 105 – 119. 54. Logic in Criminal Law, in: D. Krimphove/G. M. Lentner (Hrsg.), Law and Logic. Contemporary Issues, Berlin, 2017, 143 – 162. 55. Big Data und Kriminalität, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Big Data – Regulative Herausforderungen, Baden-Baden, 2018, 173 – 178. 56. Zwischen Mensch und Tier: Zur Forschung an Hybriden und Chimären. Zugleich eine Besprechung von: Markus Lackermair, Hybride und Chimären. Die Forschung an Mensch-Tier-Mischwesen aus verfassungsrechtlicher Sicht, Tübingen, 2017, Zeitschrift für Lebensrecht 2019, 205 – 218. 57. Notlüge und Würdeverletzungen in Kants Antwort auf Constants Fallbeispiel, in: M. Armgardt/H. Busche (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken von Leibniz vor dem Hintergrund der Säkularisierung, Berlin, 2021, 171 – 182. 58. Ein neuer Fall des BGH zum Alternativvorsatz – Urteil vom 14. 1. 2021 (4 StR 95/20), Zeitschrift für Lebensrecht 2021, 31 – 39.

2. Beiträge in Gedächtnis- und Festschriften 1. Ein Glücksfall für die Viadrina @ Hans N. Weiler zum 65. Geburtstag, in: J. C. Joerden/A. Schwarz/H.-J. Wagener (Hrsg.), Universitäten im 21. Jahrhundert, Berlin/Heidelberg, 2000, 221 – 226. 2. Fremd- und Eigenreferenz bei den Anschlussdelikten Begünstigung, Strafvereitelung, Hehlerei und Geldwäsche, in: D. Dölling (Hrsg.), Jus humanum, Grundlagen des Rechts und Strafrecht, Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag, Berlin, 2003, 771 – 790. 3. Zur Versuchsstrafbarkeit beim Betrug und seinen Derivaten im Wirtschaftsstrafrecht, in: R. Krause/W. Veelken/K. Vieweg (Hrsg.), Recht der Wirtschaft und der Arbeit in Europa, Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer, Berlin, 2004, 373 – 386. 4. Über ein vermeintes Recht (des Staates) aus Menschenliebe zu foltern, in: Philosophia Practica Universalis, Festschrift für Joachim Hruschka zum 70. Geburts-

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tag, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 13 (2005) 495 – 525. 5. Erlaubniskollisionen, insbesondere im Strafrecht, in: G. Dannecker/W. Langer/ O. Ranft/R. Schmitz/J. Brammsen (Hrsg.), Festschrift für Harro Otto zum 70. Geburtstag, Köln, 2007, 331 – 354. 6. Spuren der duplex-effectus-Lehre im aktuellen Strafrechtsdenken, in: M. Pawlik/ R. Zaczyk (Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag, Köln, 2007, 235 – 257. 7. Zur mutmaßlichen Einwilligung bei medizinischen Eingriffen. Zugleich eine Besprechung des Urteils des polnischen Obersten Gerichts in Strafsachen vom 27. November 2007, in: J. C. Joerden/U. Scheffler/A. Sinn/G. Wolf (Hrsg.), Vergleichende Strafrechtswissenschaft, Frankfurter Festschrift für Andrzej J. Szwarc zum 70. Geburtstag, Berlin, 2009, 467 – 484 (zusammen mit J. Długosz). 8. Vier Arten von Ursache und vier Arten der Beteiligung an einem Verbrechen, in: H. Schröder/U. Bock (Hrsg.), Semiotische Weltmodelle. Medienkurse in den Kulturwissenschaften, Festschrift für Eckhardt Höfner zum 65. Geburtstag, Münster, 2009, 281 – 293. 9. Grundzüge einer Ethik der Mediation, in: V. Konarskiej-Wrzosek/J. Lachowski/ J. W|jcikiewicza (Hrsg.), We˛ złowe Problemy Prawa Karnego, Kryminologii i Polityki Kryminalnej, Festschrift für Andrzej Marek, Warschau, 2010, 605 – 618. 10. Anstiftung als Aufforderung zu freiverantwortlichem deliktischem Verhalten, in: H. Paeffgen/M. Böse/U. Kindhäuser/S. Stübinger/T. Verrel/R. Zaczyk (Hrsg.), Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion, Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, Berlin, 2011, 563 – 580. 11. Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Sterbehilfe und der Knobe-Effekt, in: M. Heinrich/C. Jäger/H. Achenbach/K. Amelung/W. Bottke/B. Haffke/B. Schünemann/J. Walter (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, Berlin, 2011, 593 – 607. 12. Róz˙ nica mie˛ dzy wyła˛czeniem bezprawnos´ci a wyła˛czeniem winy w dziełach Heinricha von Kleista (Die Differenz zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung im Werk Heinrich von Kleists), in: Z. Władek (Hrsg.), Ksie˛ ga z˙ ycia i twórczos´ci, tom V, Prawo, Ksie˛ ga pamia˛kowa dedykowana Profesorowi Romanowi A. Tokarczykowi (Festschrift für Roman A. Tokarczyk), Lublin, 2013, 106 – 118. 13. Lob und Tadel: Relevante Regelarten und ihr Zusammenwirken, in: S. Arnold/ S. Lorenz (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Hannes Unberath, 2015, 221 – 240.

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14. Menschenwürdeschutz und Sinnstiftung, in: A. Brockmöller/S. Kirste/U. Neumann (Hrsg.), Wert und Wahrheit in der Rechtswissenschaft. Im Gedenken an Gerhard Sprenger, Stuttgart, 2015, 75 – 84. 15. Zur Rolle des Satzes ultra posse nemo obligatur bei lobender und tadelnder (insb. strafender) Zurechnung, in: J. C. Joerden/K. Schmoller (Hrsg.), Rechtsstaatliches Strafen, Festschrift für Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Keiichi Yamanaka zum 70. Geburtstag am 16. März 2017, Berlin, 2017, 425 – 442. – Japanische Übersetzung, in: M. Ida (Hrsg.), Festgabe für Keiichi Yamanaka zum 70. Geburtstag, Osaka, 2017, 1, 45 – 65. 16. Zwei rechtsphilosophische Aspekte der Verfassungskrise in Polen, in: S. Barton/ M. Hettinger/E. Kempf/C. Krehl/F. Salditt (Hrsg.), Festschrift für Thomas Fischer, München, 2018, 1065 – 1074. 17. Anmerkungen zu einem „Recht auf Vergessen(werden)“, in: M. Böse/K. H. Schumann/F. Toepel (Hrsg.), Festschrift für Urs Kindhäuser zum 70. Geburtstag, Baden-Baden, 2019, 989 – 1004. 18. Lässt sich Mord (§ 211 StGB) aus der Perspektive der Rechtsprechung eigentlich rechtfertigen?, in: R. Beckmann/G. Duttge/K. F. Gärditz/C. Hillgruber/ T. Windhöfel (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Herbert Tröndle, Berlin, 2019, 949 – 965. 19. Das logische Sechseck als Hilfsmittel bei der Kant-Interpretation, in: Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics (Gedächtnisschrift für Joachim Hruschka), 27 (2019) 167 – 181. 20. Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat – Skizze eines Vergleichs. in: J. C. Bublitz/J. Bung/A. Grünewald/D. Magnus/H. Putzke/J. Scheinfeld (Hrsg.), Recht – Philosophie – Literatur. Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag, Teilband I, Berlin, 2020, 153 – 166. 21. Placebo, Nocebo and Kant’s Prohibition against Lying, in: Faculté de droit de Bordeaux. Institut des Sciences Criminelles et de la Justice de l‘Université de Bordeaux (Hrsg.), Mélanges en l’honneur du Professeur Jean-Marc Trigeaud. Les personnes et les choses du Droit Civil à la Philosophie du Droit et de l’État. Sous la direction d’Alexandre Zabalza et Carole Grard, Bordeaux, 2020, 155 – 164. 22. Zur Aufklärungspflicht des behandelnden Arztes im Hinblick auf den Einsatz von Außenseitermethoden bei einer eventuellen Reoperation. Eine Nachlese zum „Zitronensaftfall“ des BGH, in: A. Krause/D. Simmermacher (Hrsg.), Denken und Handeln. Perspektiven der praktischen Philosophie und der Sprachphi-

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losophie. Festschrift für Matthias Kaufmann zum 65. Geburtstag, Berlin, 2020, 223 – 240. 23. Zur Bestrafung der Holocaust-Leugnung (§ 130 Abs. 3 dStGB), in: A. Liszewska/J. Kulezsa (Hrsg.), Pro dignitate legis et maiestate iustitiae, Ksie˛ ga Jubileuszowa z Okazji 70. Rocznicy Urodzin Profesora Witolda Kuleszy (Festschrift zum 70. Geburtstag von Professor Witold Kulesza), łódz˙ , 2020, 143 – 156. 24. Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei der Integration von (intelligenten) Robotern in einen Geschehensablauf, in: S. Beck/C. Kusche/B. Valerius (Hrsg.), Digitalisierung, Automatisierung, KI und Recht, Festgabe zum 10-jährigen Bestehen der Forschungsstelle RobotRecht, Baden-Baden, 2020, 287 – 304. 25. Versari in re illicita. Zu Fernwirkungen einer alten Rechtsfigur im Strafrecht, in: R. Kipke/N. Röttger/J. Wagner/A. Kristine v. Wedelstaedt (Hrsg.), ZusammenDenken, Festschrift für Ralf Stoecker, Wiesbaden, 2021, 337 – 352. 26. Actio libera in se und actio libera in (sua) causa im Strafrecht und bei supererogatorischem Verhalten, in: M. Gensler/A. Gralin´ska-Toborek/W. KazimierskaJerzyk/K. Ke˛ dziora/J. Miksa (Hrsg.), Studies Offered to Andrzej M. Kaniowski, Łódz´, 2022, 349 – 374.

3. Beiträge in Tagungsbänden 1. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Bedingung der Möglichkeit eines freiheitlichen Staatswesens, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 1 (1993) 207 – 220. 2. Wesentliche und unwesentliche Abweichungen zurechnungsrelevanter Urteile des Täters von denen des Richters, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 2 (1994) 307 – 325. 3. Überlegungen zum Begriff des Unrechtsstaats. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 3 (1995) 253 – 265. 4. From Anarchy to Republic. Kant’s History of State Constitutions, in: H. Robinson (Hrsg.), Proceedings of the Eighth International Kant Congress, Vol. I. 1., Memphis 1995, Milwaukee, 1995, 139 – 156. Wieder abgedruckt in: B. Sharon Byrd, J. Hruschka (Hrsg.), Kant and Law, 2006, 165 – 182.

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5. Gentechnologie und Diskriminierung, in: J. C. Joerden (Hrsg.), Diskriminierung @ Antidiskriminierung, Berlin/Heidelberg, 1996, 353 – 366. – Japanische Übersetzung Tokyo, 1999, 430 – 445. 6. Should We Take Part in Medical Research? A Commentary on David Heyd’s „Experimentation on Trial“, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 4 (1996) 205 – 212. 7. Der Widerstreit zweier Gründe der Verbindlichkeit. Konsequenzen einer These Kants für die strafrechtliche Lehre von der „Pflichtenkollision“, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 5 (1997) 43 – 52. 8. Bedingungen der Akzeptanz medizinischer Versuche am Menschen, in: J. C. Joerden (Hrsg.), Der Mensch und seine Behandlung in der Medizin: Bloß ein Mittel zum Zweck?, Berlin/Heidelberg, 1999, 229 – 238. 9. Wessen Rechte werden durch das Klonen möglicherweise beeinträchtigt?, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 7 (1999) 79 – 90. 10. Die geplante Transplantation @ ein ethisch akzeptabler Fall des Klonens?, in: J. C. Joerden/J. N. Neumann (Hrsg.), Medizinethik 1, 2000, 101 – 111. – Englische Übersetzung, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 9 (2001) 181 – 189. 11. Peter Singer’s Theories and Their Reception in Germany, in: R. Cohen-Almagor (Hrsg.), Medical Ethics at the Dawn of the 21st Century, The Van Leer Jerusalem Institute, Annals of the New York Academy of Sciences, 913 (2000) 150 – 156. 12. Neue Herausforderungen für den Schutz von Minderheiten, in: M. Kaufmann (Hrsg.), Integration oder Toleranz?, Reihe: Im Spiegel der Philosophie, Freiburg/München, 2001, 306 – 320. 13. Das System der Rechte und Pflichten in Notsituationen und seine Umsetzung im polnischen und im deutschen Recht, in: G. Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 5/6, Das neue polnische Strafgesetzbuch (Kodeks Karny), Berlin/ Heidelberg, 2002, 33 – 66. 14. Das System der strafrechtlichen Konkurrenzen und seine Umsetzung im polnischen und deutschen Strafrecht, in: G. Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 5/6, Das neue polnische Strafgesetzbuch (Kodeks Karny), Berlin/Heidelberg, 2002, 163 – 173. 15. Problemfelder der Wirtschaftsethik, in: M. S. Aßländer/J. C. Joerden (Hrsg.), Markt ohne Moral? Tranformationsökonomien aus ethischer Perspektive, Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa, Band 5 (2002), 11 – 18.

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16. Perspektiven der Stammzellenforschung und Grundlagen ihrer rechtlichen Regulierung, Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 10 (2002) 113 – 124. 17. Drei Tabus der Medizinethik, in: M. Rothe/H. Schröder (Hrsg.), Ritualisierte Tabuverletzung, Lachkultur und das Karnevaleske, Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa, Band 6 (2002) 441 – 456. 18. Verschreiben statt Verbieten? Zur Ethik der staatlichen Anti-Drogen-Politik, in: M. Kaufmann (Hrsg.), Recht auf Rausch und Selbstverlust durch Sucht, Frankfurt/Main, 2003, 135 – 145. 19. Vom Sirius zum Katzenkönig. Vom rechtlichen Umgang mit anderen Realitäten, in: M. Kaufmann (Hrsg.), Wahn und Wirklichkeit, Multiple Realitäten, Frankfurt/Main, 2003, 255 – 268. 20. Placebo and Criminal Law, in: A. Górski/R. E. Spier (Hrsg.), Placebos: Ethics and Health Care Research, A Special Issue of Science and Engineering Ethics, 10 (2004) 65 – 72. – Deutsche Übersetzung, Placebo-Verabreichung aus der Perspektive des Strafrechts, in: J. C. Joerden/J. N. Neumann (Hrsg.), Medizinethik 5, Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa, Band 8 (2005), 135 – 145. 21. Probleme der Zurechnung bei Gruppen und Kollektiven, in: M. Kaufmann/ J. Renzikowski (Hrsg.), Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, Frankfurt/Main, 2004, 135 – 145. 22. Der Begriff „Menschheit“ in Kants Zweckformel des kategorischen Imperativs und Implikationen für die Begriffe „Menschenwürde“ und „Gattungswürde“, in: M. Kaufmann/L. Sosoe (Hrsg.), Gattungsethik – Schutz für das Menschengeschlecht?, Frankfurt/Main, 2005, 177 – 192. 23. Kleist und das Brett des Karneades, in: D. von Engelhardt/J. C. Joerden/L. Jordan (Hrsg.), Sterben und Tod bei Heinrich von Kleist und in seinem historischen Kontext, Würzburg, 2006, 161 – 179. 24. Europäisierung des Strafrechts – ein Beispiel: Der Kronzeuge, in: T. Beichelt/ B. Choluj/G. Rowe/H. Wagener (Hrsg.), Europa-Studien. Eine Einführung, Wiesbaden, 2006, 329 – 345. Überarbeitete und ergänzte Version: Der Trend zum Kronzeugen in Europa, in: J. C. Joerden/A. J. Szwarc (Hrsg.), Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen, Berlin, 2007, 279 – 295 – Polnische Übersetzung, Moda na swiadka koronnego w Europie, in: A. J. Szwarc/J. C. Joerden (Hrsg.), Europeizacja Prawa Karnego w Polsce i w Niemczech – Podstawy Konstytucyinoprawna, Poznan´, 2007, 287 – 303.

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25. Zur Entstehung und Entwicklung einer rechtswissenschaftlichen Tatsache, in: B. Chołuj/J. C. Joerden (Hrsg.), Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion. Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis, 2007, 325 – 342. – Polnische Übersetzung, O powstaniu i rozwoju faktu prawnego, in: B. Chołuj/J. C. Joerden (Red.), Od faktu naukowego do produkcji wiedzy. Ludwik Fleck i jego znaczenie dla nauki in praktyki badawczej, Warschau, 2013, 233 – 249. 26. Rechtliche und ethische Aspekte des Todesbegriffs, in: D. Groß/A. Esser/ H. Knoblauch/B. Tag (Hrsg.), Tod und toter Körper. Der Umgang mit dem Tod und der menschlichen Leiche am Beispiel der klinischen Obduktion, Kassel, 2007, 127 – 134. 27. Legal regulation in different countries. Theses concerning chimerisation and hybridisation from an ethical and legal perspective (zusammen mit C. Winter); Case 1 – 10 according to German Law (zusammen mit M. Weschka), in: J. Taupitz und M. Weschka (Hrsg.), CHIMBRIDS – Chimeras and Hybrids in Comparative European and International Research, Scientific, Ethical, Philosophical and Legal Aspects, Berlin/Heidelberg, 2009, 271 – 285; 603 – 644; 829 – 845. 28. Kants Lehre von der „Rechtspflicht gegen sich selbst“ und ihre möglichen Konsequenzen für das Strafrecht, in: H. F. Klemme (Hrsg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin, 2009, 448 – 468. 29. Stammzellgesetzgebung und Doppelmoral, in: J. C. Joerden/T. Moos/C. Wewetzer (Hrsg.), Stammzellforschung in Europa. Religiöse, ethische und rechtliche Probleme, Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa, Band 13 (2009), 199 – 209. 30. Grund und Grenzen des Menschenwürdearguments im Kontext von Medizinethik und -recht, in: P. Dabrock/R. Denkhaus/S. Schaede (Hrsg.), Gattung Mensch, Interdisziplinäre Perspektiven, Tübingen, 2010, 363 – 383. 31. Sterben am Beginn des Lebens – juristische Schwierigkeiten, in: M. Rosentreter/D. Groß/S. Kaiser (Hrsg.), Sterbeprozesse – Annäherungen an den Tod, Kassel, 2010, 217 – 229. 32. Human Dignity and New Developments in Medical Technology – an Exploration of Problematic Issues, in: J. C. Joerden/E. Hilgendorf/N. Petrillo/F. Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und moderne Medizintechnik, Baden-Baden, 2011, 11 – 41 (zusammen mit E. Hilgendorf und F. Thiele). 33. Medizinstrafrecht – Einführung, Das vierte deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloqium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung (hrsg. zusammen mit A. J. Szwarc und K. Yamanaka), Poznan´ (2011) 145 – 151. Auch

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in: Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü 1 (2012) 187 – 192. – Türkische Übersetzung 193 – 198. 34. Granice dysponowania własna˛ osoba˛ (Grenzen der Selbstverfügung), in: Godnos´c´ ludzka i autnonomia, przegla˛d filozoficzno-literacki, nr 1 – 2 (33), 2012, 35 – 48. 35. Einführung in Kants Lehre von der Freiheit, in: A. M. Kaniowski/E. Wyre˛ bska/ T. Michałowski (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit – Kant, Łódz´, 2012, 31 – 54. 36. Solidaritätspflichten und Strafrecht, in: A. von Hirsch/U. Neumann/K. Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht. Zur Funktion und Legitimation strafrechtlicher Solidaritätspflichten, Baden-Baden, 2013, 49 – 60. 37. Die Zumutbarkeit bei Hilfspflichten im deutschen Strafrecht, Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü 3 (2013) 91 – 104. – Türkische Übersetzung 105 – 118. 38. Zwei juristische Denkstile und das Gesetzlichkeitsprinzip. Deutscher Kommentar zu den Vorträgen von Prof. Xingliang Chen und Prof. Claus Roxin, in: E. Hilgendorf (Hrsg.), Das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht. Ein deutsch-chinesischer Vergleich, Tübingen, 2013, 163 – 182. – Chinesiche Übersetzung, in: G. Liang, E. Hilgendorf (Hrsg.), Ein Dialog zwischen chinesischer und deutscher Strafrechtslehre, Peking, 2013, 67 – 81. 39. Menschenwürde bei Margalit und Kant, in: E. Hilgendorf (Hrsg.), Menschenwürde und Demütigung. Die Menschenwürdekonzeption Avishai Margalits, Baden-Baden, 2013, 37 – 52. 40. Kooperationsregeln und der kategorische Imperativ, in: S. Bacin/A. Ferrarin/ C. La Rocca/M. Ruffing (Hrsg.), Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht, Berlin, 2013, 293 – 305. 41. Strafrechtliche Perspektiven der Robotik, in: E. Hilgendorf/J. Günther (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung, Baden-Baden, 2013, 195 – 209. 42. Spowodowanie uszczerbku na zdrowiu ze skutkiem s´miertelnym w sprawie „Sok z cytryny“ przed Trybunałem Federalnym? (Körperverletzung mit Todesfolge im „Zitronensaft-Fall“ des BGH?), in: E. Hryniewicz/M. Małolepszy (Hrsg.), Karne aspekty spowodowania uszczerbku na zdrowiu w prawie polskim, niemieckim i austriackim, Poznan´, 2013, 31 – 41. 43. Zum Schutz natürlicher Freiheit durch Recht und Ethik, in: F. Steger/J. C. Joerden/M. Schochow (Hrsg.), 1926 – die Geburt der Bioethik in Halle (Saale) durch den protestantischen Theologen Fritz Jahr (1895 – 1953), Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa, Band 15 (2014), 137 – 148.

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44. The promise of human dignity and some of its juridical consequences, especially for medical criminal law, in: B. van Beers/L. Corrias/W. Werner (Hrsg.), Humanity Across International Law and Biolaw, Cambridge, 2014, 197 – 219. Deutschsprachige Fassung vorabgedruckt unter dem Titel: Das Versprechen der Menschenwürde – Konsequenzen für das Medizinrecht, Mitteilungen des ZiF 3 (2010), 10 – 23. 45. Vorgeburtliches Leben – rechtliche Überlegungen zur genetischen Pränataldiagnostik (zusammen mit C. Uhlig), in: F. Steger/S. Ehm/M. Tchirikov (Hrsg.), Pränatale Diagnostik und Therapie in der Ethik, Medizin und Recht, Berlin/Heidelberg, 2014, 94 – 110. 46. Kritik an einer Person wegen ihres Verhaltens. Deutscher Kommentar zum Vortrag von Prof. Genlin Liang, in: E. Hilgendorf (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen des chinesischen und deutschen Strafrechts. Beiträge der zweiten Tagung des Chinesisch-Deutschen Strafrechtslehrerverbands in Peking vom 3. bis 4. September 2013, Tübingen, 2015, 73 – 80. In chinesischer Sprache in: G. Liang/E. Hilgendorf (Hrsg.), Ein Dialog zwischen chinesischer und deutscher Strafrechtslehre, Band 2, Peking, 2015, 59 – 65. 47. Zur Differenz zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit, in: Y. Ünver/J. C. Joerden/ A. J. Szwarc/K. Yamanaka (Hrsg.), Probleme des Allgemeinen Teils des Strafrechts aus rechtsvergleichender Perspektive. Materialien eines deutsch-japanisch-polnisch-türkischen Kolloquiums im Jahre 2014 an der Özyegin-Universität Istanbul, Ankara, 2015, 43 – 51. 48. Aufarbeitung von staatlichem Unrecht durch Strafgerichte oder Wahrheitskommissionen?, in: K. Schoor/S. Schüler-Springorum (Hrsg.), Gedächtnis und Gewalt, Nationale und transnationale Erinnerungsräume im östlichen Europa, Göttingen, 2016, 53 – 66. 49. Baumgartens Position zur Transitivität der Kausalrelation im Kontext allgemeiner Zurechnungsfragen in Recht und Ethik, in: A. Allerkamp/D. Mirbach (Hrsg.), Schönes Denken. A. G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik. Sonderheft 15 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg, 2016, 271 – 281. 50. Ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ – eine Illusion?, in: M. Kaufmann/J. Renzikowski (Hrsg.), Freiheit als Rechtsbegriff, Berlin, 2016, 31 – 42. 51. Strafrechtsreform durch Änderung des Zivilrechts?, in: J. C. Joerden/A. J. Szwarc (Hrsg.), Strafrechtlicher Reformbedarf. Materialien einer deutsch-japa-

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nisch-polnisch-türkischen Tagung im Jahre 2015 in Rzeszów und Kraków (Polen), Poznan´, 2016, 77 – 96. 52. Zum Einsatz von Algorithmen in Notstandslagen. Das Notstandsdilemma bei selbstfahrenden Kraftfahrzeugen als strafrechtliches Grundlagenproblem, in: E. Hilgendorf (Hrsg.), Autonome Systeme und neue Mobilität, Ausgewählte Beiträge zur 3. und 4. Würzburger Tagung zum Technikrecht, Baden-Baden, 2017, 73 – 97. 53. Zum Kausalitätsargument bei Töten und Sterbenlassen, in: F.-J. Bormann (Hrsg.), Lebensbeendende Handlungen. Ethik, Medizin und Recht zur Grenze von „Töten“ und „Sterbenlassen“, Berlin/Boston, 2017, 275 – 296. 54. Menschenwürdeschutz als prägendes Element einer Rechtskultur, in: F. Saliger u. a. (Hrsg.), Rechtsstaatliches Strafrecht, Festschrift für Ulfrid Neumann zum 70. Geburtstag, Heidelberg, 2017, 159 – 170. 55. On the problem of dolus alternativus, in: E. W. Pływaczewski/E. M. Guzik-Makaruk (Hrsg.), Current Problems of the Penal Law and Criminology, Warschau, 2017, 87 – 97. 56. Dehumanization: The Ethical Perspective, in: W. Heintschel von Heinegg/ R. Frau/T. Singer (Hrsg.), Dehumanization of Warefare. Legal Implications of New Weapon Technologies, 2018, 55 – 73. 57. Zur Einwilligung, insbesondere im Medizinstrafecht, in: E. Hilgendorf (Hrsg.), Rechtswidrigkeit in der Diskussion. Beiträge der dritten Tagung des ChinesischDeutschen Strafrechtslehrerverbands in Würzburg, Tübingen, 2018, 161 – 180. 58. Zeitabhängige Paradoxien in Recht und Ethik, in: F. Dietrich/J. Müller-Salo/ R. Schmücker (Hrsg.), Zeit – eine normative Ressource?, Frankfurt/Main, 2018, 247 – 262. 59. Patientenautonomie am Lebensende, MedR 2018, 764 – 772. 60. Schuldfähigkeit und actio libera in causa, in: E. Hilgendorf (Hrsg.), Das Schuldprinzip im deutsch-chinesischen Vergleich. Beiträge der vierten Tagung des Chinesisch-Deutschen Strafrechtslehrerverbands in Hangzhou vom 8. bis 12. September 2017, Tübingen, 2019, 207 – 224. 61. Zur Analogie zwischen dem Schönen und dem Sittlichen bei Kant, in: E. W. Pływaczewski/E. M. Guzik-Makaruk (Hrsg.), Current Problems of the Penal Law and Criminology. Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, Warschau, 2019, 179 – 187.

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62. On Taking into Account the „Natural Will“ when Dealing with Consent to Medical Treatment, in: J. Długosz/J. C. Joerden/E. Paszyn´ska/F. Steger (Hrsg.), Ethics and the Law in Medicine – in Research and Healthcare, Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa, Band 18 (2020), 77 – 84. 63. Pflichtenkollision bei Achenwall/Pütter, Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts, Themenheft: Göttinger Naturrecht – 300 Jahre Gottfried Achenwall, Jahrgang 6 (2020) 399 – 408. 64. Verhaltensnorm und „Überdetermination“ von Kausalverläufen. Thesen zur alternativen Kausalität, in: A. Aichele/J. Renzikowski/F. Rostalski (Hrsg.), Normentheorie. Grundlage einer universalen Strafrechtsdogmatik – Buttenheimer Gespräche, Berlin, 2022, 159 – 164.

V. Entscheidungsanmerkungen 1. Anmerkung zum Beschluss des BGH vom 10. 10. 1984 @ 2 StR 470/84 (BGHSt 33, 50 – Zum Problem der Mittäterschaft beim Bandendiebstahl), StV 1985, 329 – 330. 2. Anmerkung zum Beschluss des OLG Köln vom 16. 1. 1987 @ Ss 754/86 (JZ 1988, 101 – Zur Abgrenzung zwischen der [straflosen] Ausnutzung eines Irrtums und dem [strafbaren] Unterhalten eines Irrtums beim Betrug), JZ 1988, 103 – 105. 3. Anmerkung zum Urteil des BayObLG vom 22. 7. 1988 @ 2 St 56/88 (JZ 1989, 542 – Zur Formulierung und zum Inhalt der hoheitlichen Aufforderung im Sinne von § 125 Absatz 2 StGB [Landfriedensbruch]), JZ 1989, 544 – 549. 4. Anmerkung zum Beschluß des BGH vom 24. 07. 1989 @ 4 StR 356/89 (JZ 1990, 297 – zum Vorsatz beim Hineinfahren in eine Fußgängergruppe), JZ 1990, 298. 5. Anmerkung zum Beschluß des OLG Frankfurt vom 20. 2. 1991 – 3 Ws 576/90 (JR 1992, 255 – zur homologen Insemination in der U-Haft [§ 119 III StPO]), JR 1992, 256 – 258. 6. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 16. 11. 1993 @ 4 StR 648/93 (JZ 1994, 419 – zur Aufklärungspflicht eines Kontoinhabers gegenüber der versehentlich zu viel überweisenden Bank), JZ 1994, 422 – 424. 7. Anmerkung zum Beschluß des BGH vom 3. 12. 1992 @ StB 6/92 (NJW 1993, 1481 ff. – zur Frage der Wiederaufnahme des Verfahrens im Fall Carl von Ossietzky [§§ 359 StPO, 79 BVerfGG]), JZ 1994, 582 – 584.

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8. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 25. 10. 1994 @ 4 StR 173/94 (NJW 1995, 142 – zur Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs bei nur vermeintlicher Mittäterschaft), JZ 1995, 735 – 736. 9. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 20. 12. 1994 @ 1 StR 688/94 (NJW 1995, 1038 – zur Strafschärfung und Strafmilderung durch denselben Umstand), JR 1995, 907 – 908. 10. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 28. 8. 1996 – 3 StR 180/96 (NJW 1997, 265 – zur „Gegenwärtigkeit“ der angedrohten Gefahr bei der räuberischen Erpressung), JR 1999, 120 – 122. 11. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 10. 5. 2000 @ 3 StR 101/00 (JZ 2001, 309 – zur Strafbarkeit des „faktischen Geschäftsführers“ wegen Gründungsund Kapitalerhöhungstäuschung gem. § 82 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 GmbHG), JZ 2001, 310 – 312. 12. Anmerkung zum Beschluß des BGH vom 8. 11. 2000 @ 5 StR 433/00 (JZ 2001, 611 – zur Strafbarkeit von Verfügungen eines Kontoinhabers über Guthaben, die aus bankinternen Fehlbuchungen entstanden sind), JZ 2001, 614 – 616. 13. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 14. 12. 2000 @ 4 StR 327/00. Direkter Tötungsvorsatz und „wissentliche“ schwere Körperverletzung, JZ 2002, 414 – 416. 14. Anmerkung zum Beschluss des OLG Dresden vom 19. 12. 2005 – 3Ss 588/05 – 1 Ds 160 Js 25791/04 (AG Weißwasser) (zum Begriff des „Führens“ in § 316 Abs. 1 StGB), BA 43 (2006) 316 – 318.

VI. Beiträge in Handbüchern, Lexika und Wörterbüchern 1. „Supererogation“ [in englischer Sprache], in: H. Burkhardt/B. Smith (Hrsg.), Handbook of Metaphysics and Ontology, München, Band 2, 1991, 875 – 877. 2. „Supererogation“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, 1999, Sp. 631 – 633. 3. „Unterlassung, Unterlassen“ und „Verbot“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 11, 2001, Sp. 304 – 308; Sp. 585 – 588. 4. „Kindstötung (Rechtswissenschaft)“ und „Mord (Rechtswissenschaft)“, in: H. Wittwer/D. Schäfer/A. Frewer (Hrsg.), Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar, 2010, 315 – 317 und 332 – 336.

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5. „Zurechnung“, in: M. Anderheiden/M. Auer/T. Gutmann/S. Kirste/F. Saliger/ L. Schulz (Hrsg.), Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie. Online-Lexikon, im Auftrag der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechtsund Sozialphilosophie, www.enzyklopaedie-rechtsphilosophie.net, 8. 4. 2011. 6. „Strafe“ und „Folter“, in: R. Stoecker/C. Neuhäuser/M.-L. Raters (Hrsg.), Handbuch Angewandte Ethik, Stuttgart/Weimar, 2011, 283 – 290 und 381 – 387. 7. „Menschenwürde als juridischer Begriff“ und „Menschenwürde und Chimärenund Hybridbildung“, in: J. C. Joerden/E. Hilgendorf/F. Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, 2013, 217 – 240, 1033 – 1044. 8. „Direktorium“ (I, 430 – 431), „Geständnis, gestehen“ (I, 840), „Gewalt ausführende, exekutive, vollziehende“ (I, 844), „Gewalt, gesetzgebende“ (I, 845), „Gewalt, rechtsprechende“ (I, 845 – 846), „Gewalten im Staate, die drei“ (I, 846 – 848), „Herrschaft“ (II, 1019), „Jurist“ (II, 1206 – 1207), „Rebellion“ (II, 1898 – 1899), „Richter“ (II, 1983 – 1984), „Sentenz“ (III, 2090), „Staatsbürger“ (III, 2166 – 2167), „Staatsformen“ (III, 2167), „Staatsgewalt“ (III, 2168 – 2170), „Unschuld“ (III, 2407 – 2408), „Widerstand“ (III, 2644 – 2646), in: M. Willaschek/ J. Stolzenberg/G. Mohr/S. Bacin (Hrsg.), Kant-Lexikon (3 Bände), Berlin/Boston, 2015. 9. „Strafgerechtigkeit“, in: A. Goppel/C. Mieth/C. Neuhäuser (Hrsg.), Handbuch Gerechtigkeit, Stuttgart, 2016, 124 – 130. 10. „Logik und Recht“, „Deontische Logik“, „Medizin und Recht“, „Todesstrafe“, in: E. Hilgendorf/J. C. Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, Stuttgart, 2017, 231 – 234, 242 – 245, 327 – 335, 470 – 475. 11. Rechtfertigender Notstand (§ 39), in: E. Hilgendorf/H. Kudlich/B. Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Heidelberg, 2020, 525 – 569. 12. „Rechtswissenschaft“, „Kindstötung (Rechtswissenschaft)“ und „Mord (Rechtswissenschaft)“, in: H. Wittwer/D. Schäfer/A. Frewer (Hrsg.), Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, 2020, 31 – 39, 391 – 393, 417 – 421. 13. „Logik und Recht“, „Deontische Logik“, „Medizin und Recht“, „Todesstrafe“, in: E. Hilgendorf/J. C. Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, Berlin, 2021, 240 – 243; 253 – 257; 363 – 370; 473 – 479.

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VII. Kurzbeiträge, Zeitungsbeiträge 1. Gewaltdarstellungen sollten besteuert werden, ZRP 1995, 325 – 326. 2. Wahlfachklausur @ Rechtsphilosophie: Das Notrecht, JuS 1997, 725 – 728. 3. Nochmals: Gewaltdarstellungen sollten besteuert werden, ZRP 1997, 463 – 464. 4. Änderung des Hochschulgesetzes pro und contra, Sonderbeilage der Märkischen Oderzeitung vom 15. 10. 1997, S. 5. 5. Glosse: Von der Alma mater zur Mätresse Alma, JZ 1998, 134@135. 6. Ein Notrufsender für jede(n), ZRP 1998, 254 – 255. 7. Gibt es ein Leben nach dem Hirntod?, Märkische Oderzeitung vom 9. 9. 1998, S. 24. 8. Kriminalität im Grenzgebiet als Forschungsgegenstand, in: G. Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 2, Wissenschaftliche Analysen, Berlin/Heidelberg, 1999, 1 – 8. 9. Die Einrichtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs durch das Statut von Rom, Perspektive 21, 7 (1999) 85 – 94 (zusammen mit B. Weinreich). 10. Zum Entwurf eines neuen Hochschulgesetzes für das Land Brandenburg, Märkische Oderzeitung vom 26. 3. 1999, S. 6. 11. Warum haben Tamagotchi-Küken eigentlich keine Rechte?, in: B. Busch/J. C. Joerden (Hrsg.), Tiere ohne Rechte?, Berlin/Heidelberg, 1999, XI – XIV. 12. Der Rechtsstaat ist nicht gefällig, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. 2. 2000, S. 10. 13. Zur Strafzumessung bei Taten von Ausländern, in: G. Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 3, Ausländer vor deutschen Gerichten, Berlin/Heidelberg, 2000, 1 – 22 (zusammen mit B. Weinreich). 14. Symposion Universitäten im 21. Jahrhundert. Begrüßungsansprache, in: J. C. Joerden/A. Schwarz/H. Wagener (Hrsg.), Universitäten im 21. Jahrhundert, Berlin/Heidelberg, 2000, IX – XIII. 15. Haben die Tiere Rechte?, Neues Deutschland vom 22. 12. 2000, S. 16 – Nachdruck in: Natürlich Vegetarisch 52 (2001) 15 – 17.

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16. Interdisziplinäre Ethik – Konsequenzen für die Medizinethik, in: J. C. Joerden/ J. N. Neumann (Hrsg.), Medizinethik 4, Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa, Band 7 (2003), 131 – 139. 17. Aktuelle Probleme des Rechtsstaats – Grußwort, in: B. Banaszak (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Rechtsstaats, Wissenschaftliche Reihe des Collegium Polonicum, Band 4 (2003) 7 – 9. 18. Glückwunsch: Joachim Hruschka zum 70. Geburtstag, JZ 2005, 1150 – 1151. 19. Opening Remarks, in: G. Werle (Hrsg.), Justice in Transition – Prosecution and Amnesty in Germany and South Africa, Berlin, 2006, 13 – 14. 20. Die Rechte des sich widersprüchlich verhaltenden Patienten, in: H. Lilie (Hrsg.), Patientenrechte contra Ökonomisierung in der Medizin, Schriftenreihe Medizin-Ethik-Recht des Interdisziplinären Zentrums MER der Martin-Luther-Universität, Halle/Wittenberg, 2007, 54 – 59. 21. Moderne Medizintechniken und die Menschenwürde, Märkische Oderzeitung vom 16. 6. 2010. 22. Der Wille des Patienten hat Vorrang, Märkische Oderzeitung vom 1. 7. 2010. 23. Einführung in Teil B, in: J. C. Joerden/E. Hilgendorf/F. Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, 2013, 485 – 488. 24. Vorwort, in: J. C. Joerden/A. J. Szwarc/K. Yamanaka/Y. Ünver (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie – ein fruchtbares Spannungsverhältnis. Materialien eines deutsch-japanisch-polnisch-türkischen Kolloquiums im Jahre 2013 in Frankfurt an der Oder und Słubice (Polen), 2014, 9 – 16 (zusammen mit A. J. Szwarc). 25. Zum Delikt des Menschenhandels im Deutschen Strafrecht – ein Überblick (zusammen mit S. Wrobel), Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü 7 (2014) 69 – 90.– Türkische Übersetzung 91 – 110. 26. Doctoris honoris causa lectio, in: Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu (Hrsg.), Doctor honoris causa universitatis studiorum Mickiewiczianae Posnaniensis, Poznan´ (2015) 71 – 77. – Polnische Übersetzung 27 – 33. 27. Zusammenfassung der dritten Diskussion, in: M. Małolepszy (Hrsg.), Reforma Systemu Sankcji w Niemczech, Austrii i Polsce. Die Reform des Sanktionenrechts in Deutschland, Österreich und Polen, Warschau, 2015, 93 – 96; 284 – 287.

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28. Zu Lebenslauf und wissenschaftlichem Wirken von Prof. Dr. habil. Dr. h. c. Andrzej J. Szwarc, in: A. Chylewska-Tölle/A. Tölle (Hrsg.), Auf beiden Seiten der Oder. Europäische, nationale und regionale Aspekte der deutsch-polnischen Nachbarschaft. Festschrift für Prof. Dr. habil. Dr. h. c. Andrzej Jan Szwarc, Berlin, 2016, 15 – 18. – Polnische Übersetzung 19 – 22. 29. Zur Straflosigkeit des betrunkenen Fahrlehrers, BA 53 (2016), Sup II, 30 – 33. 30. Keiichi Yamanaka zum 70. Geburtstag, in: In Honor of Professor Keiichi Yamanaka (Essaysammlung zu Ehren von Professor Keiichi Yamanaka), The Law Society of Kansai University (Hrsg.), The Bulletin of Law Society, Osaka (Japan), 62, 2017, 1 – 3. 31. Drohnen und Heimtücke, in: P. A. Gwozdz/J. C. Heller/T. Sparenberg (Hrsg.), Maschinen des Lebens/Leben der Maschinen. Zur historischen Epistemologie und Metaphorologie von Maschine und Leben, Berlin, 2018, 35 – 43. 32. Interview über Bioethik, Rechtsbrücke/Hukuk Köprüsü, 8 (2018) 9 – 13. – Türkische Übersetzung 15 – 19. 33. Nachruf: Joachim Hruschka (1935 – 2017), JZ 2018, 201 – 202 – Nachdruck in JRE 2019, GS für J. Hruschka, S. 1 – 3. – Spanische Übersetzung, in: CrimintRevista En Letra Derecho Penal, Buenos Aires, 2018, S. 4 – 6 und in: Revista de Derecho Penal, Instituto de Ciencias Penales, Buenos Aires, 2018, S. 11 – 15.

VIII. Mitwirkung an Publikationen 1. Mitwirkung (in einem Autorenkollektiv) an der Stellungnahme „Individualisierte Medizin – Voraussetzungen und Konsequenzen“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.), Halle (Saale) 2014, insbesondere im Hinblick auf Kapitel 7: Ethische Grundlagen und rechtliche Rahmenbedingungen (zusammen mit C. F. Gethmann und unter Mitarbeit von C. Uhlig) 63 – 74. 2. Mitwirkung (in einem Autorenkollektiv) an der Stellungnahme: „Tiefe Hirnstimulation in der Psychiatrie. Zur Weiterentwicklung einer neuen Therapie“. Diskussion Nr. 8 (zusammen mit R. Merkel, B. Schöne-Seifert, W. Singer, H. Steinicke, S. Westermann), hrsg. von J. Hacker, Präsident der deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, Halle (Saale) 2016.

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3. Mitwirkung (in einem Autorenkollektiv) an der Stellungnahme „Privatheit in Zeiten der Digitalisierung“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.), Halle (Saale) 2018. 4. Mitwirkung (zusammen mit J. Brammsen) an: K. Yamanaka (Hrsg.), Das japanische StGB. Zweisprachige Gesetzestexte (Japanisch, Deutsch) in synoptischer Darstellung, Baden-Baden, 2021.

IX. Rezensionen 1. Rezension von: Kevin Mulligan (Hrsg.), Speech Act and Sachverhalt. Reinach and the Foundations of Realist Phenomenology, 1987, in: Philosophischer Literaturanzeiger 42 (1989), 391 – 393. 2. Rezension von: Wilfried Küper, Probleme der Hehlerei bei ungewisser Vortatbeteiligung. Wahlfeststellung – in dubio pro reo – Tatsachenalternativität – Postpendenz – Tatbestandsreduktion, 1989, in: JZ 1990, 288 – 289. 3. Rezension von: Norbert Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat. Argumente gegen den § 218, 1991, in: JZ 1992, 456 – 458. 4. Rezension von: Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechtsund demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, 1992, in: Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 1 (1993), 407 – 411. 5. Rezension von: Johann S. Ach/Andreas Gaidt (Hrsg.), Herausforderung der Bioethik, 1993, in: Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 3 (1995), 527 – 531. 6. Rezension von: Gerhard Werle/Thomas Wandres, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz. Mit einer Dokumentation des Auschwitz-Urteils, 1995, in: Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 4 (1996), 639 – 641. 7. Rezension von: Klaus Marxen/Gerhard Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz, 1999, in: Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 8 (2000), 565 – 569. 8. Rezension von: Lukas Gschwend, Nietzsche und die Kriminalwissenschaften. Eine rechtshistorische Untersuchung der strafrechtsphilosophischen und kriminologischen Aspekte in Nietzsches Werk unter besonderer Berücksichtigung

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der Nietzsche-Rezeption in der deutschen Rechtswissenschaft, 1999, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 3 (2001/2002), 277 – 284. 9. Rezension von: Jochen Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, in: Ethik in der Medizin, Heidelberg, 2008, 76 – 79. 10. Rezension von: Frank Dietrich, Sezession und Demokratie. Eine philosophische Untersuchung, 2010, in: Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 19 (2011), 512 – 514. 11. Rezension von: Lisa-Maria Bleiler, Strafbarkeitsrisiken des Arztes bei religiös motiviertem Behandlungs-Veto, 2010, in: GesundheitsRecht 2012, 127 – 128. 12. Rezension von: Scarlett Jansen, Forschung an Einwilligungsunfähigen. Insbesondere strafrechtliche und verfassungsrechtliche Aspekte der fremdnützigen Forschung, 2015, in: GesundheitsRecht 2016, 263. 13. Rezension von: Manfred Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde. Die Debatte seit 1949, 2016, in: Zeitschrift für Menschenrechte 11 (2017) 200 – 203. 14. Rezension von: Corinna Odine Bobsien, Die Zulässigkeit von Herstellung, Nutzung, Import und Implantation nukleozytoplasmatischer Mensch-Tier-Hybride aus rechtlicher und rechtspolitischer Sicht, 2016, in: ZfL 2021, 419 – 422.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Susanne Beck, Leibniz Universität Hannover Prof. Dr. Christian Becker, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Prof. Dr. Jochen Bung, Universität Hamburg Prof. Dr. Norbert Campagna, Universität Luxemburg Prof. DPhil. Raphael Cohen-Almagor, University of Hull Prof. Dr. Thomas Crofts, City University of Hong Kong, University of Sydney Prof. Dr. Hans-Georg Dederer, Universität Passau Leandro Dias, LL.M., Julius-Maximilians-Universität Würzburg Prof. Dr. Frank Dietrich, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Prof. Dr. Joanna Długosz-Józ´wiak, Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´ Prof. Dr. Gunnar Duttge, Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Ewa Guzik-Makaruk, Universität Białystok Prof. Dr. Volker Haas, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. Dr. Michael Heghmanns, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Dr. Dr. Altan Heper, Universität Özyegin, Istanbul Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf, Julius-Maximilians-Universität Würzburg Prof. Dr. Gudrun Hochmayr, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Prof. Dr. Thomas Sören Hoffmann, FernUniversität in Hagen Prof. Dr. Stefan Huster, Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Dres. h.c. Makoto Ida, Chuo-Universität, Tokyo Prof. Dr. Matthias Kaufmann, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Urs Kindhäuser, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Stephan Kirste, Paris-Lodron-Universität Salzburg Prof. Dr. Arnd Koch, Universität Augsburg Prof. Dr. DDr. h.c. Ulrich Körtner, Universität Wien Prof. Dr. Dr. h.c. Lothar Kuhlen, Universität Mannheim Prof. Dr. Witold Kulesza, Universität Łódz´ Prof. Dr. Bernd Ludwig, Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Maciej Małolepszy, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Wolfgang Mitsch, Universität Potsdam Prof. Dr. Thomas J. Nenon, University of Memphis Prof. Dr. Dres. h.c. Ulfrid Neumann, Goethe-Universität Frankfurt am Main Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Pawlik, LL.M., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. em. Dr. Dr. h.c. Emil Pływaczewski, Universität Białystok Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Prof. Dr. Henning Rosenau, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Prof. Dr. Markus Rothhaar, Philosophisch-Theologische Hochschule Heiligenkreuz, FernUniversität in Hagen Prof. Dr. Pablo Sánchez-Ostiz, Universität von Navarra Prof. Dr. Peter Schaber, Universität Zürich Prof. Dr. Roland Schmitz, Universität Osnabrück Prof. Dr. Kurt Schmoller, Paris-Lodron-Universität Salzburg Prof. Dr. Jan C. Schuhr, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. Dr. Frank Peter Schuster, Julius-Maximilians-Universität Würzburg Dr. Stefan Seiterle, Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jesús-María Silva Sánchez, Pompeu Fabra Universität, Barcelona Prof. Dr. Prof. h.c. Arndt Sinn, Universität Osnabrück Prof. Dr. Dr. h.c. Andrzej J. Szwarc, Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´ Prof. Dr. Dr. Paul Tiedemann, Justus-Liebig-Universität Gießen Lucila Tuñón, LL.M., Julius-Maximilians-Universität Würzburg Prof. Dr. Dr. h.c. Yener Ünver, Universität Özyeg˘ in, Istanbul Prof. Dr. Brian Valerius, Universität Passau Prof. em. Dr. Dr. h.c. Hans N. Weiler, Stanford University, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Prof. Dr. Bettina Weinreich, Hochschule der Bundesagentur für Arbeit, Campus Schwerin Dr. Krzysztof Wojciechowski, em. Verwaltungsdirektor des Collegium Polonicum, Słubice Prof. Dr. Gerhard Wolf, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Keiichi Yamanaka, Kansai-University, Osaka Prof. Dr. Benno Zabel, Goethe-Universität Frankfurt am Main Prof. Dr. Sascha Ziemann, Leibniz Universität Hannover