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German Pages 283 [284] Year 2002
Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln Festschrift fur Karl Stackmann zum 80. Geburtstag
Scrinium Friburgense Veröffentlichungen des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg Schweiz Herausgegeben von Christoph Flüeler Udo Kühne Peter Kurmann Pascal Ladner Eckart Conrad Lutz Aldo Menichetti Hans-Joachim Schmidt Jean-Michel Spieser Band 15
2002 Universitätsverlag Freiburg Schweiz
Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln Festschrift fìir Karl Stackmann zum 80. Geburtstag
Herausgegeben von
Jens Haustein und
Ralf-Henning Steinmetz
2002 Universitätsverlag Freiburg Schweiz
Veröffentlicht mit Unterstützung von Dr. Hans-Jörg Leuchte
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln: Festschrift fur Karl Stackmann zum 80. Geburtstag / hrsg. von Jens Haustein und Ralf-Henning Steinmetz. Freiburg / Schweiz : Univ.-Verl., 2002 (Scrinium Friburgense ; Bd. 15) ISBN 3-7278-1350-4
© 2002 by Universitätsverlag Freiburg Schweiz Satz: Ralf-Henning Steinmetz, Westerrönfeld Druck: Paulusdruckerei Freiburg Schweiz Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier ISBN 5-7278-1350-4 ISSN 1422-4445
Vorwort Zwar nicht Frau Aventiure, aber doch Meister Heinrich in zweierlei Gestalt klopft mit dieser Gabe an Stackmanns Türe. Und was Jacob Grimm fiir den achtzigjährigen Benecke annahm, daß dieser den «umrisz» der Gabe «selbst ausbündig entworfen» habe (Kleinere Schriften I, S. 83), trifft wohl auch hier zu. Für die Ausmalung allerdings, die Jacob Grimm selbst leistete, haben sich die Herausgeber Helfer beigeholt, denen sie sich zu Dank verpflichtet wissen: Altere und jüngere, in jedem Fall einschlägig ausgewiesene Kolleginnen und Kollegen haben sich spontan bereit erklärt, dieser Festschrift einen Beitrag über Heinrich Frauenlob oder Heinrich von Mügeln beizusteuern. Daß es mit Blick auf Karl Stackmanns Œuvre keiner Begründung für diesen thematischen Schwerpunkt bedarf, leuchtet wohl unmittelbar ein. - Das letzte Wort, ein weiteres aus Grimms Schrift, möge auch für Sie, verehrter Herr Stackmann, gelten: «Ihr alter, darf man wol sagen, ist , und von seiner ungeschwächt schaffenden kraft soll es uns noch oft frohes Zeugnis geben.» Jena und Kiel
J. H. u. R.-H. St.
Inhalt (Freiburg i. Ü . ) Latinum super cantica canticorum. Die lateinische Übertragung von Frauenlobs Marienieich
ι
(Leipzig) Das Canticum boemicale und Frauenlobs Cantica canticorum. Prüfung einer These
15
UDO KÜHNE
CHRISTOPH M Ä R Z
(Tübingen) gepartiret und geschrenket. Überlegungen zu Frauenlobs Bildsprache anhand des Minneleichs
CHRISTOPH H U B E R
(Zürich) Wer wem was vürbaz reichet - das ist hier die Frage. Zu einer Problemstelle in Frauenlobs Minneleich (GA III, 15,1
31
M A X SCHIENDORFER
ff.)
51
(Würzburg) Die Spruchtöne Frauenlobs. Bemerkungen zur Form und zur formgeschichtlichen Stellung
61
(Hamburg) Die Aufführung als Argument. Zur Funktionalisierung sängerischer Präsenz in Frauenlob GA XIII, 5 und einigen verwandten Sangsprüchen
81
H O R S T BRUNNER
M I C H A E L BALDZUHN
(Konstanz) Poetik der Unterscheidung: Zu Frauenlobs Liedern
103
(Jena) «Frauenlobs Sterbegebet) in Johanns von Neumarkt Privatgebetssammlung
125
(Würzburg) Sangspruchdichtung zwischen Frauenlob und Heinrich von Mügeln eine Skizze
145
MARGRETH EGIDI
CHRISTOPH FASBENDER
JOHANNES R E I T E L B A C H
Vili
Inhalt
M I C H A E L STOLZ ( B e r n )
Die Artes-Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Bezüge zwischen und dem Spruchwerk. Mit Texteditionen
175
ANNETTE VOLFING ( O x f o r d )
Die Metamorphosen des Spruchdichters. Zur künstlerischen Einheit des 10. Buches der Spruchdichtung Heinrichs von Mügeln
211
BEATE KELLNER ( D r e s d e n )
Mins lebens amm. Zur Minnekonzeption in einigen Liedern Heinrichs von Mügeln
231
K A R L BERTAU ( E r l a n g e n )
Arthur Hübner (1885-1937) und Johan Huizinga (1872-1945). Ungewollte Wegweisung ins burgundisch-französische Spätmittelalter ?
253
Stellenregister zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln
269
Namen- und Werkregister
271
Latinum super cantica canticorum. D i e lateinische Übertragung von Frauenlobs Marienieich
von Udo Kühne (Freiburg i. Ü.)
I. Bekanntlich werden die mittelalterlichen Literaturen in beträchtlichem Ausmaß von Übersetzungen geprägt, Texten, die (in einem jeweils näher zu bestimmenden Sinn) als Abbildungen vorgängiger Werke gelten dürfen, wobei sie eine Sprachgrenze überschreiten. Soweit es das Verhältnis von Deutsch und Latein betrifft, dominiert stets nachhaltig die Zielsprache Deutsch, doch blieben die «wenigen Geschenke der deutschen Literatur an die lateinische», jene «mehr als bescheidene Remuneration für die in so großer Zahl empfangenen Gaben» 1 , in der Forschung nicht gänzlich unbeachtet. Der mediävistische Übersetzungsbegriff ist dabei oftmals sehr weitgefaßt, unter ihn fallen ganz unterschiedliche Formen sprachenübergreifender Literaturbeziehungen, die etwa von Interlinearversionen bis zu freien Bearbeitungen reichen, auch Fälle, bei denen der spezifische Übersetzungscharakter von Texten fraglich und allemal unbestimmbar bleiben muß, weil sich die Vorlage, Vorlage einer angenommenen Übersetzung, nicht erhalten hat. 2 Doch bilden Übersetzungen nur e i n e Form vielfältiger lite1
HANNS FISCHER: Deutsche Literatur und lateinisches Mittelalter, in: Werk - Typ Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur (Fs. f . H u g o K u h n z u m 60. G e b . ) , h g . v . INGEBORG G L I E R , G E R H A R D H A H N , W A L T E R H A U G
u. BURGHART WACHINGER, Stuttgart 1969, S. 1 - 1 9 , hier S. 10. - V g l . auch NIKOLAUS
HENKEL U. NIGEL F. PALMER: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter. 1 1 0 0 1500. Zum Rahmenthema des Regensburger Colloquiums: Ein Forschungsbericht, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter, hg. v. dens., Tübingen 1992, S. 1—18, hier S. 14: «Einen bemerkenswerten Sonderfall des Übersetzens stellen die Werke dar, die gewissermaßen eine Umkehrung des Wegs vom Lateinischen in die Volkssprache bieten: Texte, die nach einer deutschsprachigen Vorlage ins Lateinische transferiert werden». 2
Dies gilt etwa im Falle des , wenn man dieses lateinische Epos als Übersetzung einer althochdeutschen Dichtung auffaßt; prägnant in diesem Sinne FRANZ BRUNHÖLZL: Was ist der Waltharius?, München 1988 (Abhandlungen der Marburger Gelehrten Gesellschaft 21).
U d o Kühne
2
rarischer Wiederholungsvorgänge, ist Übersetzen nur e i η «Akt der Wiederholung», einer, der freilich erst ausgangs des Mittelalters, jedenfalls soweit es die erzählende Literatur betrifft, unter anderen vergleichbaren Akten adaptierender Neugestaltung reflektiert eigengewichtig wahrgenommen und damit unterscheidbar wird.3 Unter den lateinischen Adaptationen deutschsprachiger Werke des Mittelalters4 finden wir nur wenige Übersetzungen im strengeren Sinne. Besonders selten begegnen derartige Übersetzungen im Bereich der Lyrik. Zwar fehlt es hier nicht generell an produktiven Übernahmen deutscher Stücke ins Lateinische, doch handelt es sich dabei zur Hauptsache um formale Nachbildungen (Kontrafakturen), wenn etwa Töne deutscher Sangspruchdichter mit neuem Text versehen als lateinische Cantiones auftreten, welche immerhin, ohne daß zugleich ein inhaltlicher Textbezug intendiert wäre, «ein breites lateinisches Interesse an deutscher Strophenkunst im 14. Jh.»5 dokumentieren.6 Ganz vereinzelt stößt man unter den Zeugnissen des spätmittelalterlichen Cantionesschaffens auf Stücke, die Anschluß gleichermaßen bei Melodie und Text einer deutschen Spruchstrophe suchen, die den vorgefundenen volkssprachigen Text also «übersetzen). Als Beispiel für diesen Sonderfall darf die lateinische Umdichtung eines Spruchs in Boppes Hofton gelten.7 Sie konserviert die priamelartige Struktur und Schlußpointe des Ausgangstexts (die aufgezählten vorzüglichen Eigenschaften und Fähigkeiten eines Mannes würden diesem nichts nützen, wäre er ohne Geld), variiert jedoch den Katalog der virtutes auf markante Weise. In der deutschen Strophe8 dominieren höfische Qualitäten, curialitates wie Jagen und Fech3
FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Wiedererzählen und Übersetzen, in: Mittelalter und frü-
he Neuzeit. Übergänge, U m b r ü c h e und Neuansätze, hg. v. WALTER HAUG, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 1 2 8 - 1 4 2 , hier S. 130 f. * Knappe Übersicht (für die Zeit bis um 1240) bei KONRAD KUNZE: Lateinische A d a p tation mittelhochdeutscher Literatur. M i t Edition der Jnfantia Jesu> nach Konrad von Fußesbrunnen, in: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters (Fs. f. Kurt Ruh zum 75. Geb.), hg. v. KONRAD KUNZE, JOHANNES G . MAYER u. BERNHARD SCHNELL, Tübingen 1989 ( T T G 31), S. 5 9 - 9 9 . 5
GISELA KORNRUMPF: Eine Melodie zu Marners Ton X I V in C l m 5539, in: Z f d A 1 0 7
(1978), S. 2 1 8 - 2 3 0 , hier S. 230. 6
Einem solchen Interesse scheint auch die lateinische Ungarnchronik Heinrichs von
Mügeln zu entsprechen, für die u. a. T ö n e deutscher Sangspruchdichter verwendet sind, vgl. KARL STACKMANN: Heinrich von Mügeln, in: 2 V L 3 (1981), Sp. 8 1 5 - 8 2 7 , hier S. 818 f. 7
HEIDRUN ALEX: Der Spruchdichter Boppe. Edition - Übersetzung -
Kommentar,
Tübingen 1998 (Hermaea N . F . 82), S. 88f. (dt. und lat. Text), 1 4 4 f . (Kommentar) und 1 9 2 f . (Abb. des lat. Texts aus den beiden ihn überliefernden Handschriften). » Ü b e r sie vgl. auch JOACHIM BUMKE: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 7 I994 (dtv 4442), S. 4 2 7 .
Latinum super cantica canticorum
3
ten, Ausdrucksformen höfischer Unterhaltungskunst, wobei freilich notwendiges Verfügen über der siben künste hört (1,30,16) nicht unerwähnt bleibt. D i e lateinische Version stellt demgegenüber ganz auf die Wissenschaften ab, erweitert die Reihe der Septem artes zu einem Wissensfundus aller Disziplinen und Fakultäten, wie er nur bei einem Universalgelehrten anzutreffen wäre. Vor dem hier skizzierten Hintergrund, wonach von einer kontinuierlich gepflegten mittelalterlichen Praxis des Übersetzens von deutschsprachiger Lyrik ins Lateinische auch nicht entfernt die Rede sein kann, mag uns die lateinische Fassung von Frauenlobs Marienieich, die Karl Stackmann in seine Göttinger Ausgabe aufgenommen hat, 9 wie ein erratischer Block erscheinen. Ließe sie sich als Spezialfall der Cantiones-Produktion zureichend verstehen? Gewiß nicht. Ernstlicher stellt sich die Frage, inwieweit es gelingen könnte, anhand eines derartigen Textes Erkenntnisse über die Funktion und den literarischen Status lateinischer Aneignung volkssprachlicher (gleichwohl religiöser) Lyrik zu gewinnen — Aneignung in Form von Übersetzungen. Sind solche Übersetzungen nur eine Art Umkehrung der reichlich tradierten Übertragungen lateinischer geistlicher Poesie ins Deutsche, die jüngst verstärkte Aufmerksamkeit gerade in ihrem Charakter als Übersetzungstexte gefunden haben? 10 Im Hintergrund steht die Frage: Ist Übersetzen von Poesie ins Lateinische ein vom Übersetzen ins Deutsche prinzipiell différentes Unternehmen? Oder lassen sich Merkmale der im breiten Strom von wahrnehmbaren Adaptationstypen im umgekehrten Falle der wiedererkennen? Mit derartigen Adaptationstypen, denen unterschiedliche Textabänderungsverfahren (Erweiterung, Kür-
' Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder [GA], hg. v. KARL STACKMANN U. KARL BERTAU, Göttingen 1981 (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Philol.-hist. Kl., 3. Folge, Nr. 119/120), Bd. 1, S. 284-290 (Edition) und Bd. 2, S. 660-664 (Kommentar). — Die Ausgabe dokumentiert (Bd. 1, S. IS9Í.) noch eine weitere lateinische Übersetzung eines (im Original unbekannten) Frauenlob-Gedichts, inc.: O iusticia, qualiter modo disparuisti in terris ... Diese Fassung repräsentiert einen andersartigen Spezialfall mittellateinischer Lyrikübersetzung, ist Gegenstand eines Briefes Johanns von Neumarkt an den Prager Erzbischof (vermutlich i. J. 1364), dessen Muttersprache nicht das Deutsche ist, wie Johann im Brief eigens vermerkt, so daß eine , die Distanz zu einer Fremdsprache ausgleichende, vermutlich wörtliche Übersetzung (oder doch nur eine Paraphrase?) vorliegt. Vgl. HERBERT THOMA: John of Neumarkt and Heinrich Frauenlob, in: Mediaeval German Studies (Fs. f. Frederick Norman), London 1965, S. 247—254; Briefe Johanns von Neumarkt, hg. v. PAUL PIUR, Berlin 1937 (Vom Mittelalter zur Reformation 8), S. 178-180 (Nr. 121). 10
Vgl. bes. ANDREAS KRASS: Stabat mater dolorosa. Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter, München 1998.
Udo Kühne
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zung, Umstellung, Paraphrase, Explikation u.a.) zugrundeliegen, 11 korrespondieren Formtypen, welche in einem zu bestimmenden Grad die poetische Gestalt des Originals nachbilden oder abwandeln, - nicht jedoch, wie es scheint, (Uberlieferungstypen), da kaum leichthin solchen Übersetzungen, die, in welchem Kontext auch immer, für sich, d.h. ohne das Original als den übersetzten Bezugstext, auftreten, andere Übersetzungen zu konfrontieren wären, die in einer Überlieferungsgemeinschaft; mit dem Original stehen. 12 Eine derartige Überlieferungsgemeinschaft von Urtext und Übersetzung fehlt beispielsweise in der gesamten reichen Texttradition der lateinischen Sequenz ), die sich am orientiert haben könnten; für das zweite hatte ich selbst dies einst behauptet, doch eher im Vorübergehen: CH. M., Frauenlobs Marienieich. Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Monodie, Erlangen 1987 (Erlanger Studien 69), S. 99f. Eine Übersetzung der beiden Stücke ins Deutsche gibt DMITRIJ TSCHIÍEWSKIJ: ¿echische mittelalterliche geistliche Lyrik, in: D. T., Kleinere Schriften, II.: Bohémica. Mit einem Anhang von DIETRICH GERHARDT, München 1972 (Forum Slavicum 13, II), S. 86, Kommentar von GERHARDT S. 335-338. - Nicht recht geklärt dann ist die Frage, ob der Dichter Závií (Magister Zavisius) sich mit seinem Liebeslied und Frauenlobs Cantica Canticorum 4,1 Jehozt' má dusë miluje, vidëli ste, zda kde tu je? Milost silná, zádosc pilná, k nëmuzt' má mysl nemylna. 5,1 Kdyz diech právé o puolnoci, stíét më jeden ζ jeho mod, tak neznámé vzezíev na më, vecet': Pienes më ν svém prâmë. 6,1 Tehdy j á nan vzezrëch ζ nice, domnëch së svého panice. Rëch: Kam koho? A on: Toho, jehoi ty hledás premnoho.
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Den meine Seele liebt, habt ihr gesehen, ob er irgendwo hier ist? Starke Liebe, dringendes Sehnen, zu ihm [hält] mein Gemüt unerschütterlich. Als ich ging, eben um Mitternacht, begegnete mir einer aus seinem Gefolge, so sonderbar schaute er auf mich, sagt: Bringe mich hinüber in deinem Floß. Da schaute ich zu ihm von unten, erkannte meinen Jüngling. Ich sagte: Wohin, wen? Und er: Den, den du so sehr suchst.
2,1 mnë tilgt Truhlär (Silbenzahl). 3,2 sobë tilgt Truhlär (Silbenzahl). $,2 strzet' Truhldf Vilikovsky, strzyet Hs. preves Truhlär, przenes Hs. 1,1 Fasciculus myrrhae dilectus meus mihi Ct 1,12. 2,1 Dilectus meus Candidus et rubicundus; Electus ex millibus Ct ¡,10. 2,2 Iam enim hiem transiit Ct 2,11. 3,1 f. Surgam, et circuibo civitatem; Per vicos et plateas Quaeram quem diligit anima mea Ct 3,2. 4,1 f. Num quem diligit anima mea vidistis? Ct 3,3. 5,1 f. [...] per noctes [...] Invenerunt me vigiles qui custodiunt civitatem Ct 3,1.3. 6,2 Paululum cum pertransissem eos, Inveni quem diligit anima mea Ct 3,4. D i e hier im A n h a n g wiedergegebene M e l o d i e w u r d e bereits, mit divergierenden A u f f a s s u n g e n über die mensúrale O r d n u n g namentlich in den Ligaturen, übertragen v o n Z D E N É K N E J E D L Í u n d JAROSLAV POHANKA, ohne Rücksicht auf die rhythmischen W e r t e v o n KAREL KONRÁD. 1 3 A u f die Details der zuverlässig geschulten Notationskunst des Schreibers gehe ich in diesem R a h m e n nicht ein; ZDENÉK NEJEDLÍ: Dëjiny predhusitského zpëvu Ν Ôechâch [Geschichte des vorhussitischen Gesangs in Böhmen], Prag 1904, unverändert wieder als: Dëjiny husitského zpëvu [Geschichte des hussitischen Gesangs], Bd. 1: Zpëv predhusitsk^, Prag 1954 (zit.), S. i97f.; JAROSLAV POHANKA: Dëjiny ceské hudby ν pííkladech [Geschichte der tschechischen Musik in Beispielen], Prag 1958, Nr. 18, S. 12, Anmerkungsteil S. 8; KAREL KONRÁD: Dëjiny posvátného zpëvu staroceského [Geschichte des heiligen alttschechischen Gesangs], Prag 1893, S. 3of. 13
20
Christoph März
meine Übertragung soll wesentlich einigen Beobachtungen zum Bau des Werks als Grundlage dienen.
II. Der Text gehört ganz einer Frauenrolle; eine zweite Stimme, die eines Mannes, wird von der Frauenstimme zitiert. Die ersten beiden Strophen sind mehrfach miteinander verknüpft: durch die Evokation des mój mily im jeweils ersten Vers, durch die mit pronzt' eingeleiteten Schlußverse. Ins Ohr fallen wohl auch die inhaltlich motivierten Assonanzen des dritten Verses beider Eingangsstrophen {jd jeho und div ζ diva). Die Frau spricht vom Status einer gegenseitigen Liebe, von der Schönheit des Geliebten, von ihrer Entschlossenheit, nur diesen einen zu lieben. Der Geliebte ist ihr der Tag. Die vier folgenden Strophen gehören hinwieder enger zusammen, sie skizzieren eine Erzählung, die in der Nacht spielt, in einer verhüllenden Nacht, in der Larven getragen werden, wie es den Anschein hat. Die anfängliche Klarheit, erleuchtet vom Geliebten, weicht einer Dunkelheit, in gewisser Weise auch einer des Sinnes. Von einer Suche geht diese Erzählung. Der Entschluß der Frau, den Geliebten zu finden (3,1), eröffnet die Strophenfolge, das Auffinden beschließt sie (6,2 und 5). Der Wunsch: «zeig mir dein Gesicht» (3,5) unterstellt die Schwärze der Nacht und das Verborgensein, blindes Umhertappen, allein das Herz hat festen Stand (vgl. den Parallelvers 4,5). Und bevor dann alles in eine Banalität bloßen Maskenballs abgleiten kann, wird ein enigmatisches Floß oder Schiff genannt, auf dem die Frau ihren Geliebten «hinüberbringen» soll. Dieses Gefährt ist ohne Anhalt im Bibeltext;14 mir will vorkommen, daß, wenigstens auf literaler Ebene, dieses Rätsel geschürzt bleiben soll, über das Ende der Dichtung hinaus; denn die Frage der Frau: «Wohin, wen?» (6,3) erhält nur die halbe Antwort - die sie ohnehin schon weiß. Das «Wohin?» der Fahrt in diesem Nachen bleibt ohne Antwort stehen. Man wird kaum fehlgehen, wenn man das traumhafte Floß — ein schlechthin Transitorisch-Mythisches - nicht als Kern einer theologisch-exegetischen Examensfrage betrachtet, sondern in einen sinn-offenen Horizont gestellt sieht. 14
Vgl. J A N LEHÄR: Staroceská píseñ Otep myrri·. smysl a struktura textu [Das alttschechische Lied O. m.\ Sinn und Struktur des Textes], in: Listy filologické / Folia philologica 117 (1994), S. 13—25. LEHÁR hob auf dieses Schiff in besonderer Weise ab. Seine Stellenlese in der Bibel (Sapientia 14,5 f.) und bei Hugo von St. Victor vermag aber das Rätsel nicht gründlich zu lösen. Den Hinweis auf diesen Aufsatz verdanke ich Gisela Kornrumpf. Meine eigene Suche in einschlägigen patristischen und mittelalterlichen Hoheliedkommentaren brachte kein Schiff zutage.
Dai Canticum boemicale und Frauenlobs Cantica Canticorum Die Verwendung der Anleihen aus dem Hohen Lied scheint dabei sehr planvoll ins Werk gesetzt, von einem wachen Formwillen. Denn die Zitate, in konzentrierter Diktion dem Vulgatatext nachübersetzt, finden sich nicht hie und da, irgendwie eingestreut, sondern sie sind strophenmotivisch verwendet und stehen als solche Kennmale im jeweils die Strophe einleitenden Vers. Jede Strophe erweist sich so als Frucht eines streng kalkulierenden Gestaltens. Noch einmal ist hier die Sonderung der Strophen 1/2 von der Strophengruppe 3-6 zu beobachten; das grammatische Subjekt in den ersten Strophen ist der Geliebte, das ebenfalls aus der Bibel geliehene Subjekt der vier anderen Strophen jenes weibliche Ich. Auch die Dialogizität des biblischen Gesangs will im übrigen vom Dichter eingefangen werden. Bei alledem scheint, so weit ich solches beurteilen kann, der Melodie und deren Struktur bedeutende Mitwirkung zugedacht zu sein. Die musikalischen Formulierungen lassen wohl recht gut einen Aufbau erkennen, wie wir ihn aus dem Text erfahren haben. Auch hier nämlich heben sich die ersten beiden Strophen deutlich vom Rest ab, und zwar durch den melodischen Aufstieg zu Beginn wie auch durch die verspieltere Melismatik im ersten Vers. Rhythmisch sind demgegenüber die Strophen 3-6 in gleichartigem Muster komponiert, welches so ihren engeren Zusammenhang verbürgt; die Paare 3/4 und 5/6 unterscheiden sich vor allem in der Tonräumlichkeit voneinander. Melodische Binnenwiederholungen in den einzelnen Strophen formen erkennbar die Reimstruktur nach. In Hinblick auf die Analyse der Textstruktur möchte man der melodischen bescheinigen: sensus patet - und das wäre für die musikologische Interpretation mittelalterlicher Musik eher die Ausnahme.
III. Die Überschrift von lautet Canticum Boemicale. Dies war einst für KAREL KONRAD der strenge Hinweis darauf gewesen, daß es sich um ein geistliches, nicht ein weltliches Werk handele; die letzten trügen die Bezeichnung cantío oder carmen,15 Kaum eine der wissenschaftlichen Darstellungen enthielt sich in der Folge der Pflicht, sich bei der Beschäftigung mit in der Alternative «geistlich oder weltlich» auf eine Seite zu stellen; ein Referat der Debatte erspare ich. In der Tat ist nach Ausweis des für Böhmen einschlägigen mittellateinischen Wörterbuchs das Wort canticum allein in der geistlichen Sphäre zu Hause,16 und die Hohenfurther Handschrift macht mit etlichen canti15
14
KONRXD [Anm. 13], S . 29-39 ZU , hier S. 34. Latinitatis medii aevi lexicon Bohemorum, Bd. 1, Prag 1987, S. 524.
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Christoph Märe
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cwTw-Rubriken hiervon keine Ausnahme. Es liegt indes der Alternative «geistlich / weltlich» wohl eine ein wenig mittelalterfremde Auffassung zugrunde; die Sphären geraten, werden sie gleichsam von der Aufklärung her gedacht, in schiefes Licht. Gerade bei Frauenlob gehört es ja zur irritierenden Primärerfahrung des Lesers, daß und wie die beiden Bereiche miteinander verschlungen sind, daß sie aufeinander hin durchsichtig und ihre Ränder unscharf sind. Der Blick auf einen der Bereiche erfordert den Blick auf den anderen; der weise Interpret prägt den Begriff der «Weltdichtung». 17 Es wird auch wohl oftmals bei dieser Alternative «geistlich / weltlich» zu wenig streng getrennt zwischen poetischem Gehalt und - wie immer gedachter - Verwendung, «Performanz», worüber wir, wie üblich, keine Aussage treffen können, wenn diese überhaupt dem ästhetischen Urteil zur Seite gestellt werden sollte. 18 Daß in die sprechende Frauenrolle die menschliche Seele, der Geliebte Christus versinnbildliche, mag man sich - in Kenntnis der Tradition der Hoheliedauslegung dazudenken, 19 es trägt dem poetisch Gestalteten nichts ab, aber auch nichts hinzu. Das Werk, so meine ich, kann in seiner Eindimensionalität nur als ganzes auf verschiedenen Ebenen gedacht werden, ein Oszillieren findet nicht statt. Aus der Weise, wie das Hohe Lied seine poetische Aneignung hier erfährt, erhellt klar, daß dessen Dichter nicht in Frauenlobs Schule gegangen ist (freilich deshalb nicht schon in eine minderen Ranges). Jene Gratwanderung zwischen Eros und Spiritualität, die in gewisser Weise alle christlich-gelehrte Hoheliedaus-
17
Der Marienieich Frauenlobs «siedelt seine Sprecherin auf der Grenze zwischen den
beiden Reichen an [...] Diese eigentümliche Stellung der Gottesmutter macht die Verschränkung von Irdischem und Göttlichem möglich, die diesem Gedicht seinen besonderen Reiz gibt. Weltdichtungen also sind die Leichs», so KARL STACKMANN: Frauenlob, Verführer zu ersüzen), um so das erforderliche Satzsubjekt zu gewinnen - , ließ ein erster Alternatiworschlag nicht lange auf sich warten. «Burghart Wachinger schlägt brieflich vor, wip als Subjekt zu behandeln. [...] Folgt man der von Wachinger vorgeschlagenen Gliederung des Satzes, so ist transitives reichen anzunehmen.»3 W A C H I N G E R S Deutung wurde in der Folge zunächst von 1
KARL STACKMANN: Frauenlob (Heinrich von Meissen) — eine Bilanz, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 244 (1992), S. 96-143. 2 Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder, hg. v. KARL STACKMANN u. KARL BERTAU, Göttingen 1981 (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Philol.hist. Kl., 3. Folge, Nr. 119/120), im folgenden abgekürzt mit GA 1/2. 3 G A 2 [Anm. 2], S. 695; vgl. Wörterbuch zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe, unter Mitarb. v. JENS HAUSTEIN redigiert v. KARL STACKMANN, Göttingen 1990 (Abh. d. Akad.
d. Wiss. in Göttingen, Philol.-hist. KL., 3. Folge, Nr. 186), S. 287.
Max Schiendorfer
CHRISTOPH MÄRZ aufgegriffen, der dies aus formalen und stilistischen Bedenken gegenüber der Lesart der GA begründete, ohne freilich seine eigene Textauffassung der Stelle präziser bekanntzugeben.4 Dies versuchte dann THOMAS BEIN in seiner Minneleich-Monographie nachzuholen: Zum einen, so die Argumentation, sei die ganze Partie von 14,4 bis 19,2 an die Männer bzw. pars pro toto an einen Mann gerichtet, weshalb eine hier punktuell eingeschobene Adresse an das wip einen störenden Fremdkörper abgäbe.5 Zum andern hielt BEIN die Konjektur der GA (ir süze > ersüzert) für verzichtbar. Den auf Handschrift F basierenden Wortlaut, Sit wip der süze ir süze vürbaz reichet, erläuterte er dabei wie folgt: «der süze fasse ich als Genitiv der Relation auf und verstehe den Vers etwa so: 15,1 Da die Frau in Bezug auf (die) Süßigkeit ihre Süßigkeit weiter ausdehnt.. .»6 Diese A u f f a s s u n g BEINS hat daraufhin KARL STACKMANN ihrerseits seiner w i e
immer messerscharfen Analyse unterzogen: «Der Genitiv der Relation bezeichnet den Bereich, innerhalb dessen ... eine verbale Aussage gilt) (Mhd. Gr. § 221). Da der Genitiv von dem Objekt abhängt und das Objekt diesen Bereich mit dem gleichen Wort (süze) angibt, entsteht eine Tautologie. Davon abgesehen ist zu beachten, daß das transitive Verbum reichen , , bedeutet, nicht aber .»7 BEINS Einwand betreffend den punktuellen Perspektivenwechsel versuchte er mit der Auffassung zu entkräften, daß «in der Periode 15,1-19,2 beide angeredet [seien], wip und man: das wip in dem begründenden Nebensatz, der man in dem darauf folgenden Hauptsatz. Das ist auffällig, aber doch wohl nicht unmöglich. Der Sprecher redet beide Geschlechter an. Als Ankündigung dafür darf man vielleicht die Strophe 14 verstehen. Sie wendet sich, freilich in zwei getrennten Sätzen (14,2 f. und 14,4) an das wip und an die Männer.»8 Noch nachzutragen wäre hierzu, daß BEIN — anders als STACKMANN — die «Anaphernreihe von 15,5—19,2»9 nicht etwa als fortgesetzte Nebensatzkaskade, sondern als überlangen Hauptsatz mit anakoluthischem Anschluß an 15,1—4 ver-
4 C H R I S T O P H M Ä R Z : Frauenlobs Marienleich. Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Monodie, Erlangen 1987 (Erlanger Studien 69), S. 281.
T H O M A S B E I N : SUS hup sich ganzer liebe vrevel. Studien zu Frauenlobs Minneleich, Frankfurt [u. a.] 1988 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 1062), S. 216, Anm. 27. 5
6
B E I N [ A n m . 5], S . 2 1 6 .
S T A C K M A N N [Anm. I], S.116. Zurecht moniert S T A C K M A N N weiter, daß in B E I N S nächster Paraphrase des ominösen Verses - «Da die Süßigkeit der Frau weiter reicht» ( B E I N [Anm. 5], S. 217) - das zunächst postulierte Transitivum unvermerkt zum Intransitivum mutiert hat. 7
8
STACKMANN [ A n m . 1], S. 1 1 7 .
' B E I N [ A n m . 5], S . 2 1 6 .
Wer wem was vürbaz reichet-zu
Frauenlobs Minneleich 15,1 ff.
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standen hatte. Soweit die Vorgeschichte, die ich im folgenden also um ein bescheidenes Kapitelchen weiterschreiben möchte. Am besten sollte ich, verehrter Jubilar, wohl gleich das Geständnis vorausschikken, daß zum einen auch ich den beanstandeten Perspektivenwechsel - bzw. die ja auch Ihnen selbst «auffällig» erscheinende Doppelperspektive - lieber vermieden sähe und daher mit W A C H I N G E R , M Ä R Z und B E I N hinter dem wip von 15,1 das Satzsubjekt vermute. Zum zweiten liegt, wie Sie wohl wissen, auch mir sehr viel am editorischen Prinzip, auf Eingriffe in den handschriftlichen Wortlaut wo immer nur möglich zu verzichten. Und ich meine tatsächlich, daß man in dieser neuralgischen Zeile mit dem von F tradierten Wortlaut wohl doch auskommen kann. Es bleibt zu hoffen, daß mir angesichts Ihres unbestechlich urteilenden Scharfblicks ein möglichst überzeugendes Plädoyer gelingen möge. Vorweggenommen sei, daß ich (ebenso wie die GA) die Periode der Versikel 15,5-18 als rhetorische Häufung komparativer Nebensätze - als Panoptikum all dessen, was die Welt an sonstiger süze aufzubieten hat - verstehe, denen erst mit Versikel 19 endlich der kaum noch erwartete, erlösende Hauptsatz folgt: 10 Die im direkten Anschluß an den ausgedehnten «Süßigkeitsreigen»11 erfolgende Adresse an den Mann korrespondiert in weitgespanntem Bogen mit einer ebensolchen, die dieser anaphorischen Revue unmittelbar voraufgeht und mit dem programmatischen Aufruf zum vrouwen pris einen neuen thematischen Schwerpunkt ankündigt: 111,14,4: ei, man, uf vrouwen pris traget lobes gomen! Damit ist meiner Meinung nach aber nicht nur das folgende Generalthema, sondern zugleich auch dessen Adressat, die , bis auf Widerruf fix vorgegeben. Die daraus resultierenden editorischen Konsequenzen führen auf folgende, gegenüber der GA geringfügig modifizierte Textpräsentation, die es im weiteren zu verteidigen gilt: 111,15
Sit wip der süze ir süze vürbaz reichet, ouch (alsam der alrunen glänz berendigen vrouwen schranz)
10 Vom formalen Bau einer schier endlos wirkenden Nebensatz-Anapher her könnte man fast glauben, einen fernen Vorläufer von Oswalds von Wolkenstein Lied Kl. 31 vor sich zu haben: Auch Oswald setzt die gewagte Konstruktion übrigens zur suggestiven Veranschaulichung einer einzigartigen und an sich unaussprechlichen Wesenheit ein: derjenigen Gottes. Auf der anderen Seite zielen bei Frauenlob all die herangezogenen Vergleiche ja ebenfalls auf die einzige Kernaussage ab, wonach die weibliche süze letztlich jeden Vergleich übersteigt. 11
Mit «Frauenlobs Süßigkeitsreigen» übertitelt THOMAS BEIN das entsprechende Kapitel seiner Studie [Anm. 5], S. 216.
Max Schiendorfer
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pinliche bürde weichet, Noch säzer dan der forme ir understende, noch siizer dan der dürre ein regen, noch süzer dan der vorchte ein segen, ouch dan der ger ir ende...
[...]
111,19
Noch süzer ist der formelicher vröuden tag, der dir uz wibes bilde bliczet durch din ougen in dins herzen eigen.
Von der erwähnten Restitution des handschriftlich Tradierten (ersüzen > süze) abgesehen, fällt im strittigen ersten Halbversikel 15 die gegenüber der GA veränderte Interpunktion ins Auge, namentlich die Parenthese in 15,2 f. Mit ihrer Hilfe versuche ich die Vermutung zu signalisieren, daß das wip nicht nur das agierende Subjekt von Zeile 1, sondern in syntaktischer Parallelführung dazu auch dasjenige von Zeile 4 repräsentiert: Sit wip [...] ouch [...] pinliche bürde weichet. Doch werfen wir fürs erste nochmals einen Blick auf den Stellenkommentar THOMAS BEINS, der die Textpartie zunächst mit den folgenden Worten paraphrasiert: Da die Süßigkeit der Frau weiter reicht, da sie wie der Glanz der Alraune den schranz der gebärenden Frauen, die schmerzhafte Last, weich macht...
Den Fokus auf den von ihm besonders problematisierten Begriff schranz legend, kommentiert B E I N diesen Abschnitt wie folgt: «Der Kontext legt es nahe, an Schmerzen bei der Geburt, etwa an die Wehen zu denken. Die pinliche bürde müßten wir als die Leibesfrucht interpretieren, die während des Geburtsvorgangs Schmerzen bereitet.»12 Wenn ich diese Erläuterungen korrekt verstanden habe, agieren demnach die beiden Subjekte von Zeile ζ - einerseits (nämlich die Süßigkeit der Frau), andererseits die Alraune (bzw. ihr giani) - völlig kongruent, indem beide sowohl den schranz wie auch die pinliche bürde gebärender Frauen zu weichen vermögen: «Einerseits wird der Geburtsweg weich gemacht) (entkrampft), andererseits auch die Leibesfrucht im Hinblick auf den Geburtsvorgang gemacht.»13 Wäre somit die «Süßigkeit der Frau> als quasi endogen produzierte und im Indikationsfall einer anstehenden Geburt selbstverabreichte Arznei aufzufassen? Nun, vielleicht könnte man bei einem bildschöpferisch kühnen Autor wie Frauenlob eine solche Vorstellung (samt der dabei einzuräumenden lavierenden W>rtsemantik bei weichen) inhaltlich allenfalls noch hinnehmen. Keineswegs akzep12 13
BEIN [Anm. 5], S. 217. BEIN [ANM. 5], S. 220.
Wer wem was viirbaz reichet - zu Frauenlobs Minneleich 15,1 ff.
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tabel scheint mir jedoch der dabei zu entrichtende sprachlogische Tribut, nämlich die bereits angesprochene unvermerkte Verschiebung des primären Satzsubjektes: Falls man dieses, wie von B E I N zunächst postuliert, im wip erblicken will, dann darf reichen im Anschluß daran keinesfalls intransitiv aufgefaßt werden; sieht man das Subjekt hingegen durch die verkörpert (wie in B E I N S paraphierender Übertragung), so wird andererseits ebenso zwingend eine Textemendation - ζ. B. die in der GA vorgeschlagene - notwendig. In meiner eigenen, durch die Parenthese angedeuteten Textauffassung besteht zwar zwischen wip und Alraune ebenfalls ein (durchaus erhellendes) Analogieverhältnis, dies allerdings mit der Nuance, daß nunmehr den beiden Satzsubjekten je spezifische und zu differenzierende Heilkräfte zugewiesen erscheinen: Die Frau kann - ganz allgemein, wie es zunächst den Eindruck macht - pinliche bürde weichen, und aufgrund dieser Fähigkeit wird sie für Frauenlob mit der Alraune und deren nicht näher präzisierter, jedenfalls aber doch sehr spezieller narkotischer (?) Einwirkung auf den schranz gebärender vrouwen vergleichbar. Verfolgt man diese Auffassung der Textpassage weiter, ergibt sich als nächste Konsequenz, daß die pinliche bürde mit dem nur zwecks illustrativem Vergleich herangezogenen Geburtsvorgang semantisch Uberhaupt nicht näher zusammenhängen muß: Frauenlob korreliert zwar die heilsamen Kräfte von wip und alrune, nicht hingegen, wie ich meine, die spezifischen Beschaffenheiten der hier wie dort zu lindernden Beschwerden. Wenn aber das wip als heilsame Arznei (nur) gegen pinliche bürde angepriesen wird, dann blieben als nächstes die Fragen zu klären, was erstens unter dieser konkret verstanden werden soll und wer zweitens jener Beklagenswerte sein mag, der unter besagter Bürde zu leiden hat. Wie leicht ersichtlich, muß die von mir propagierte Lesart Sit wip ouch pinliche bürde weichet eine elliptische Satzstruktur einkalkulieren, in der das eigentlich zu erwartende personale Dativobjekt ausgespart bleibt. Falls man diese hypothetische Annahme zu akzeptieren bereit ist - und das rhetorische Stilmittel wäre bei Frauenlob ja gewiß nicht unerhört - , wer käme als impliziter Adressat der weiblichen Heilkraft dann wohl eher in Betracht als der, wie oben postuliert, seit v. 14,4 vom Autor durchgehend avisierte Adressat seines , der sich in 19,2 überdies als primärer Profiteur der weiblichen süze namhaft machen läßt? Die Dame - bzw. pars pro toto etwa ihr rôtez mündeltn - als Ärztin und leitvertrip des sehnsuchtskranken Mannes ist ja ein in der Minnedichtung nun wirklich hinlänglich bekannter Topos, den sich im übrigen auch Frauenlob andernorts nicht entgehen lassen hat. Als Belegstellen aus dem Minneleich vergleiche man insbesondere 32,4: Wa lit hoffenunge sender herzen, die irret pine?1* sowie 14
Vgl. dazu
BEIN
[Anm. 5], S. 318 und dort Anm. 188, wo pine als Akkusativ, die als
Max Schiendorfer
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ferner 30,7: Wa lit salvei senfter sere?15 Weiter erwähnenswert wären etwa XIV,25, 9f.: senden smerzen / kan die liebe mir aleine und nieman baz vertriben, oder auch die ausführliche Kontrafaktur des Motivs in IX,*i,i-6: Hier ist es das himmlische wip Maria, die - in der Funktion einer erzenie, balsamie und apoteca - die senden siechen dieser Welt zu heilen vermag. 16 In dieser topischen Vorstellung der Frau als Ärztin des senden siechen Mannes vermute ich also auch die Wurzel der bildhaften Rede unseres strittigen Halbversikels 15,1-4. N u r kurz sei noch darauf hingewiesen, daß das Frauenlob-Wörterbuch für das Verbum weichen im Sinne von weich machen, verringern, mildern> lediglich diese einzige Belegstelle III,15,4 registriert.17 Es wäre also die Möglichkeit zumindest nicht rundum auszuschließen, daß stattdessen ein von Frauenlob vielleicht ad hoc gebildetes Faktitivum zu wichen - «zum Verschwinden bringen> anzusetzen sein könnte. 18 Aber wie dem auch sein mag, läßt es sich natürlich
Relativum zu hoffenurtge und das Verb irren im Sinne von «frei von etwas machen> aufgefaßt sind. Pine kann, neben häufigerem pin, aber wohl doch auch als akzeptable Nebenform des Nom. Sg. gelten, als welche es anscheinend auch STACKMANN [Anm. 3], S. 277, verstanden hat; vgl. dazu auch LEXER II, Sp. 270f. Ergänzend festzustellen ist, daß das Demonstrativ- bzw. Relativpronomen im Neutrum Nom./Akk. PI. bei Frauenlob die lautet; vgl. etwa I, 13,31F.: ich kan uz siben hörnen schenken, I die man such ufdem lamme lenken, oder IX, *2i,5: gedenke an die wort, die got uf erden [] gesprochen hat. Die an sich ja naheliegendste Übersetzung, welche pine als Subjekt des zweiten Teilsatzes auffaßt, scheint mir daher grammatisch durchaus gangbar: rangiert es bei H E R M A N N PAUL: Mittelhochdeutsche Grammatik, 24. Aufl., Überarb. v. PETER W I E H L u. SIEGFRIED GROSSE, Tübingen 1998, S. 351 f., § 382, Anm. ι. 20 Anders zu beurteilen sind hingegen wohl Fälle wie z.B. Heinrich von Morungen MF 145,9: Minne, diu der vereide ir vröude mèret, wo vermutlich ebenso eine normale dativische Ergänzung vorliegt wie bei Wenzel von Böhmen KLD III,1,13: ich furhte daz der
5»
Max Schiendorfer
Daß das feminine Demonstrativum der in den vorgestellten Stellen tatsächlich als Dativ und nicht als Genitiv gedeutet werden muß, ließe sich natürlich am bequemsten anhand entsprechender Bildungen mit maskulinen Bezugswörtern nachweisen. Leider sind mir bislang keine schlagenden Beispiele dieser Art bekannt geworden, falls man sich nicht auf etwas entferntere Analogien berufen möchte, in denen der Dativ rein pronominal realisiert erscheint; vgl. etwa Singenbergs Totenklage auf Walther von der Vogelweide SMS 20.V.7: sit dem sîn11 fröide [sc. die von Walther erlebte bzw. vermittelte Freude] st ze wege, oder Konrad von Landeck SMS 22.IV.4: Wem sîn herze ein liep so meinet, hier im indefinit verallgemeinernden Sinn von wessen Herz>. Man kann von daher nicht ausschließen, daß die beschriebene Konstruktion des adnominalen possessiven Dativs zu Frauenlobs Zeiten nur fïir Feminina zulässig gewesen sein könnte. Dies allerdings wäre eine für unseren aktuellen Kasus ja durchaus hinreichende Grundvoraussetzung.22 Nach alledem schlage ich vor zu übersetzen: Es bleibt somit noch ein letzter potenzieller Stolperstein aus dem Weg zu räumen, der die Präposition vürbaz betrifft. Da ich reichen als Transitivum jemandem etwas bringen, überreichen, darreichen) verstehe23, scheint es mir am unverfänglichsten, bei vürbaz temporale Bedeutung anzunehmen, und zwar im Sinne der Fortführung eines bereits andauernden Zustandes: Ψ*)·
Die Spruchtöne Frauenlobs
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Was die schiere Zahl der verwendeten Versarten angeht, bleibt Frauenlob somit im Mittelfeld. Auffällig ist bei einigen seiner Töne der unruhige Wechsel in den Versarten, in erster Linie beim Langen und beim Zarten Ton, während bei anderen — beim Grünen Ton, beim Würgendrüssel, beim Neuen Ton und beim Goldenen Ton - ein eher ruhiges Bild angestrebt wird. Der Blick auf die Zeilenund Reimstruktur der Stollen läßt im übrigen so gut wie keine Parallelen bei anderen Spruchdichtern zutage treten.15 Die durch die Anreime hervorgerufene Klanglichkeit des Neuen und des Goldenen Tons ist allenfalls mit den Reimkunststücken vergleichbar, die Konrad von Würzburg in seinen Tönen XIX und XXIII zu Gehör bringt; ansonsten steht sie ftir sich. c. Je länger die Spruchtöne im 13. Jahrhundert wurden, desto mehr setzte es sich durch, die Abgesänge mit Hilfe der vollständigen metrisch-musikalischen Wiederholung eines Stollens übersichtlich und leicht faßlich zu gestalten. Bereits andernorts habe ich darauf hingewiesen, daß der älteste datierbare Spruchton mit 3. Stollen der um 1239 entstandene Ton II des (Klingsor, Schwarzer Ton) ist. 16 Der Meißner, Konrad von Würzburg, Rumelant von Sachsen, Hermann Damen und Kleinautoren wie Gervelin, Kelin, der Litschauer, Robin, Reinolt von der Lippe, Höllenfeuer, der Unverzagte und Wizlav bedienten sich überwiegend oder ausschließlich des 3. Stollens, den sie an einen einfachen oder einen repetierten Steg zu Beginn des Abgesangs hängten. Dagegen weisen die beiden wichtigsten Spruchtöne des Marners (XIV = Kurzer Ton, X V = Langer Ton), Friedrichs von Sonnenburg Ton I und die Töne IV, VIII, XIII, XVII, weniger deutlich Ton IX des Meißners am Abgesangsende nicht vollständige, sondern verkürzte 3. Stollen auf. Wichtigstes formales Merkmal der Spruchtöne Frauenlobs ist zweifellos die konsequente Vermeidung des von seinen Zeitgenossen - besonders auch ihm nahestehenden wie Konrad von Würzburg und Hermann Damen - überwiegend gebrauchten 3. Stollens. Zwar greifen auch Frauenlobs Abgesänge durchweg Melodiematerial aus den Stollen auf, der platten Wiederholung ganzer Stollen ging er jedoch planvoll aus dem Weg. Dem Anspruch Frauenlobs genügte die schlichte Repetition der gesamten Stollenmelodie offenbar nicht.17
15
Die einzige deutliche Parallele besteht, soweit ich sehe, zwischen der Stollenstruktur des Vergessenen Tons und der Neuen Ehrenweise Reinmars von Zweter: Frauenlob:
16 17
5' a c
5' 4 31 a x b c d b
Reinmar:
4'
4' a c
a c
2' x x
6 b b
Vgl. BRUNNER, Die Töne Friedrichs von Sonnenburg [Anm. 3], S. 65-67. Für Hinweise bin ich Johannes Rettelbach dankbar verbunden.
Die Auffuhrung als Argument Zur Funktionalisierung sängerischer Präsenz in Frauenlob GAXIII,5 und einigen verwandten Sangsprüchen von Michael Baldzuhrt (Hamburg)
Der folgende Beitrag zielt auf die Vortragssituation, näherhin auf das Funktionieren von Sangsprüchen im mündlichen Gesangsvortrag. Angesichts des kaum zum Konsens abgeklärter Grundpositionen vorgedrungenen Forschungsstands 1 erfordert das vorab einige klärende Grenzziehungen. Wer es unternimmt, Fragen und Probleme der Performanz von Sangsprüchen und Meisterliedern aufzugreifen, tut grundsätzlich ja immer noch gut daran, sich zuerst Rechenschaft über seine intrikate — und im übrigen den Bedingungen der benachbarten lyrischen Gattung, dem Minnesang, grundsätzlich vergleichbare - hermeneutische Ausgangssituation abzulegen. Z u ihr sollte an erster Stelle die Einsicht gehören, daß jeder Versuch, auf der Ebene der empirischen Realien prinzipiell Klärendes beizutragen zu können, von vornherein wenig Erfolg beschieden ist. Es kennzeichnet die Quellenlage für Minnesang wie Sangspruch gleichermaßen, daß Sekundärquellen, die vom tatsächlichen Ablauf eines einzelnen Liedvortrags vor seinem Publikum berichteten, weniger als dünn gesät sind. Über den Ablauf einzelner Liedvorträge lassen sich weithin keine detaillierten Aussagen machen — allenfalls über ihre sehr allgemeinen Rahmenbedingungen, wobei es dann besonders der Rahmen des höfischen Festes ist, der die Aufmerksamkeit auf sich ziehen muß. 2 Noch zuwenig im allgemeinen Bewußtsein verankert ist indes, daß diese Verhältnisse in Bewegung sind — was sich freilich erst sehen läßt, wenn man seinen Blick über den hochmittelalterlichen Sangspruch und Frauenlob
1
Einen Überblick über das Spektrum der unterschiedlichen Ausgangspositionen und
der verschiedenen methodischen Herangehensweisen an die AufRihrungskünste des M i t telalters vermittelt der von JAN-DIRK MÜLLER herausgegebene Sammelband zu «Aufführung» und «Schrift» in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart u. W e i m a r 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände X V I I ) . 2
Allgemein für die höfische Literatur JOACHIM BUMKE: Höfische Kultur. Literatur und
Gesellschaft im hohen Mittelalter, M ü n c h e n 1986, S. 301-313; speziell für die S a n g spruchdichtung HELMUT TERVOOREN: Sangspruchdichtung, Stuttgart 1995 (Sammlung Metzler 293), S. 1 0 1 - 1 0 7 , besonders S. 101.
Michael Baldzuhn
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hinaus ins spätere 14., ins 15. oder gar 16. Jahrhundert richtet. Im ausgehenden 15. Jahrhundert beginnt sich mit der gesellschaftsmäßigen Organisation des Meistergesangs, mit seinen Veranstaltungsankündigungen, Tabulaturen und Gemerkprotokollen die Quellenlage für die Vortragsseite von Auffiihrungskünsten innerhalb der Sangspruchtradition nachhaltig zu ändern: M a n trifft jetzt auf neue Formen von Aufführungsschriftlichkeit, die regelmäßiger den Status des Dauerhaften erreichen. 3 Natürlich ist einem damit für die ältere Gattungsgeschichte zunächst wenig geholfen - immerhin aber doch vielleicht insofern, als deren Verhältnis zur Schriftlichkeit aus dem Gegenbild heraus deutlicher als ein eigenes hervortritt. Die ältere Forschung ist nicht selten der Versuchung erlegen, von späteren Zeiten auf die insgesamt «schlechter» dokumentierten früheren 3
Die einschlägigen Zeugnisse sind ungenügend erschlossen. Wer einen Überblick über den Bestand an aufführungsrelevanten Schriftquellen gewinnen will, sieht sich vielfach noch auf positivistische Spezialaufsätze des vorletzten Jahrhunderts verwiesen. Die kleineren Einfuhrungsbändchen in den Meistergesang von BERT NAGEL (Meistersang. Stuttgart J i97i [Sammlung Metzler 12]) und REINHARD HAHN (Meistergesang. Leipzig 1985) können dieses Defizit nicht auffangen, sind aber nützlich, um überhaupt einen Eindruck von den Quellentypen zu bekommen - das gilt besonders von dem reich illustrierten Beitrag HAHNS. NAGELS hoffnungslos veraltete Einführung besitzt einen gewissen Gebrauchswert nur noch in den Ausführungen zum Quellenbestand. - Durch die Forschungen TAYLORS sind die Tabulaturen noch vergleichsweise am besten erschlossen: vgl. BRIAN TAYLOR: Der Beitrag des Hans Sachs und seiner Nürnberger Vorgänger zu der Entwicklung der Meistersinger-Tabulatur, in: Hans Sachs in Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichsstädtischer Literatur. Hans Sachs zum 400. Todestag am 19. Januar 1976, hg. v. HORST BRUNNER [u.a.], Nürnberg 1976 (Nürnberger Forschungen 19), S. 245-274; Die verschollene Straßburger Meistersinger-Tabulatur von 1494 und eine bisher übersehene Kolmarer Tabulatur von 1546 im cgm 4997, in: Z f d A 105 (1976), S. 304-310; Prolegomena to a history of the Tabulatur of the German Meistersinger from its 15th century metapoetic antecedents to its treatment in Richard Wagner's opera, in: Journal of the Australasian Universities Language and Literature Association 54 (1980), S. 201-219. Ahnliches gilt für die Gemerkprotokolle, von denen zuletzt das Augsburger vorbildlich ediert wurde: Die Schulordnung und das Gemerkbuch der Augsburger Meistersinger, hg. v. HORST BRUNNER [u.a.], Tübingen 1991 (Studia Augustana 1). - Z u allen weiteren Materialien fuhrt der Weg zunächst über die in der Einleitung zum «Repertorium» genannten Arbeiten: Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, hg. v. HORST BRUNNER U. BURGHART WACHINGER unter Mitarbeit v. EVA KLESATSCHKE u.a., Bd. i f f . Tübingen I986ff. (zit. als RSM), hier Bd. 1 (1994), S. 1 - 1 4 und besonders S. 4—6. — Leitendes Anliegen einer spezifisch literaturwissenschaftlich ausgerichteten Quellensichtung müßte der Entwurf eines Beschreibungsmodells sein, das die Annäherung des Schriftgebrauchs an den Situations- und Handlungszusammenhang des Gesangsvortrags im Kontext eines generellen Vordringens von Schriftlichkeit im Spätmittelalter erfaßt.
Die A u f f ü h r u n g als Argument
83
Verhältnisse zurückzuschließen - etwa im Hinblick auf den Organisationsgrad von Vortragszusammenkünften. Eine reflektierte Quellenhermeneutik, die die Relation von Auffuhrungsgeschehen und Auffiihrungsschriftlichkeit als dynamische Prozeßgröße statt als statische Größe begreift, wird dieser Versuchung kaum mehr erliegen. Derartige Rekonstruktionsversuche müssen ihr schon deshalb als prinzipiell problematisch erscheinen, da sie genau das historische Faktum des Quellenmangels unberücksichtigt lassen, das eben jene ältere, schlechter dokumentierte Stufe als ihre genuine und immer mitzureflektierende Überlieferungsgegebenheit gerade kennzeichnet. (Ebenso nivellieren Rückprojektionen natürlich auch den späteren Vorgang der Annäherung der Aufführungssituation an Schriftlichkeit.) Konkret bleibt damit für die textpragmatisch ausgerichtete Analyse der Quellen das Fazit: Die zentralen Auffiihrungszeugnisse bleiben über eine sehr weite Strecke auch der Sangspruchtradition hinweg, trotz im späteren Meistergesang zunehmender Auffiihrungsschriftlichkeit, die Texte selbst. Das ist nun bekanntlich - zweite Vorbemerkung - um so mißlicher, als die Aufführung nach Konsens der Forschung die vornehmliche Existenzform des Sangspruchs ist und entsprechend die Basis, von der ausgehend er interpretiert werden sollte.4 Nun liegt aber eine zweite hermeneutische Hürde jedes textpragmatisch ambitionierten Herangehens an die Texte — wiederum für Minnesang wie Sangspruch zunächst gleichermaßen - darin, daß die im Gesangsvortrag vor Publikum mündlich realisierten Gebilde uns nur noch schriftlich vorliegen. In dieser Form gewähren sie keinen direkten Einblick in ihren Kommunikationsraum, sondern nur einen immer schon durch die Bedingungen der Schriftkultur veränderten, an der sie und an deren Entfaltung sie schon durch die Tatsache ihre Überlieferung als solcher Anteil haben. 5 In die Strecke zwischen Vortragsprodukt und schriftlich überliefertem Text sind daher immer auch Brechungen einzukalkulieren. 6 W i r verfügen also nicht nur nicht über Vortrags-«Protokolle», sondern wir dürfen auch den Anteilen der Vortragskommunikation, die dann doch noch in die Schriftlichkeit gefunden haben, nur sehr bedingt vertrauen. Unter dem Aspekt beispielsweise der Wortlaut-Urheberschaft steht der direkten 4
Vgl. etwa TERVOOREN [Anm. 2] S. 1 0 4 - 1 0 7 .
5
V g l . HANS FROMM: Volkssprache und Schriftkultur, in: T h e role o f the book in me-
dieval culture. Proceedings of the O x f o r d International Symposium 26 September - 1 O c tober 1982, hg. v. PETER GANZ, Turnhout 1986 (Bibliologia 3), S. 99-108. 6
In wünschenswerter Klarheit reflektiert diesen Tatbestand und bedenkt ihn in seinen
methodologischen Konsequenzen WULF OESTERREICHER: T e x t Zentrierung und Rekontextualisierung. Z w e i Grundprobleme der diachronischen Sprach- und Textforschung, in: V e r s c h a f f u n g und Verschriftlichung. Aspekte des Medienwechsels in verschiedenen Kulturen und Epochen, hg. v. CHRISTINE EHLER u. URSULA SCHAEFER, T ü b i n g e n 1998 (ScriptOralia 94), S. 1 0 - 3 9 .
Michael Baldzuhn
84
Rekontextualisierung der erhaltenen Sprüche und Lieder bereits das bekannte F a k t u m entgegen, daß die Weitergabe von Texten der Kontrolle ihres Autors / Sängers im Mittelalter noch weithin entzogen ist. Im Bereich der Sangspruchtradition rücken Textproduzent und erhaltener schriftlicher T e x t erst seit dem fünfzehnten Jahrhundert im Quellentyp des Autographen und der - v o m Textproduzenten mehr oder minder mitgestalteten - Autorsammlung häufiger etwas näher z u s a m m e n , so daß erst hier der überlieferte T e x t eindeutiger unter die Verfügungsgewalt seines Urhebers gerät. Allerdings ist auch hier noch zu beachten: Selbst die Autographen und Autorsammlungen eines Heinrich von Mügeln, Muskatblut, Michel Beheim, H a n s Folz oder H a n s Sachs bieten ihre Texte nicht nach Maßgabe des Vortrags, sondern immer schon zur Schriftlichkeit hin gesteigert - etwa in einer systematischen Anlage nach Büchern und T ö n e n , jedenfalls nicht nach Vortragsfolgen. 7 U n d sie bieten sie in ganz eigenen, tendenziell wohl eher repräsentativen Funktionen - jedenfalls nicht als Vortragsvorlage oder als Vortragsmitschrift. D e n realen Produktions- und V e r t r a g s b e d i n g u n g e n von Texten bleiben die Formen einer dauerhaften Schriftlichkeit noch für geraume Zeit verschlossen. 8 Eine Art von Vortrags-«Mitschriftlichkeit» produzieren gar erst die Meistersinger des 16. Jahrhunderts mit ihren Tabulaturzetteln. A u f der empirischen Ebene sind dem Forschungskonzept «Aufführung» unter diesen medialen Bedingungen enge Erkenntnisgrenzen gezogen. Dieser Sachverhalt macht das Konzept nun keineswegs überflüssig; er hat in der aktuellen Forschungsdiskussion im Gegenteil wichtige Präzisierungen im Hinblick a u f die Leistungsfähigkeit des Konzepts angestoßen. 9 «Aufführung» wird inzwischen als eine primär textuelle Kategorie begriffen, die einen kommunikationshistorisch ausgerichteten Zugriff auf Strophen u n d Lieder sehr wohl sinnvoll ausrichten kann. Auch wenn die Performanz realhistorisch kaum je zu greifen ist: Es bleibt doch eine Eigenart der Texte, primär ihre Aufführung vor Anwesenden anzuvisieren und konzeptionell mehr oder minder entschieden als entsprechende F o r m 7
Vgl. FRIEDER SCHANZE: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und
H a n s S a c h s , M ü n c h e n 1 9 8 3 - 8 4 ( M T U 82/83), B d . 1, S . 1 5 2 - 1 5 6 ( M u s k a t b l u t ) , S . 1 9 1 - 2 0 5
(Beheim), S. 300-312 (Folz), S. 351 ff. (Sachs), ferner für Heinrich von Mügeln demnächst MICHAEL BALDZUHN: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift, München 2001 (MTU 120), Kap. VI. 8 Einen frühen, freilich noch ganz unscheinbaren Beleg für einen Konzepttext finde ich im Umkreis der Meisterlieddichter erst bei Hans Folz - es ist freilich das Konzept für ein S p r u c h g e d i c h t : v g l . JOHANNES JANOTA: F o l z , H a n s , i n :
Sp.
2
V L 2 (1980), S p . 7 6 9 - 7 9 3 , h i e r
789.
9 Gebündelt formuliert jetzt bei JAN-DIRK MÜLLER: Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar, in: PBB 121 (1999), S. 379-405, hier S. 379-387.
Die Aufführung als Argument
85
von Rede ausgerichtet zu sein. Eben dies kann der moderne Leser dieser Texte — zumindest modellhaft - im verstehenden Nachvollzug seiner eigenen ReInszenierung des Textes durchaus mitbedenken. D i e dahingehend abgeklärte Diskussion ist für den Minnesang in den letzten Jahren weit vorangeschritten, insbesondere was das Verhältnis der Ich-Aussagen des Textes zum Sänger-Ich des Textes betrifft und das eigentümliche Fiktionalitätsverständnis, das dabei aus unterschiedlichen Relationierungen und Referentialisierungen aufgebaut werden konnte. 10 Demgegenüber erfährt die Sangspruchdichtung - um von ihrer späteren Fortsetzung im 14. und 15. Jahrhundert zu schweigen, die die Aufmerksamkeit der Forschung von jeher weniger auf sich gezogen hat 1 1 - allenfalls in en/>ÄMtfwi-Bemerkungen, in apodiktischen Abbreviaturen und in Fußnoten eine insgesamt nur sehr verkürzende Beachtung. 1 2 D a ß hier eine eigene Schwerpunktbildung dringend notwendig ist, zeigt sich beispielhaft an der jüngsten größeren Arbeit zur Gattung, an
HAUSTEINS
Marner-Studien, in denen gegen
eine biographistische Lesart des vermeintlich «pragmatischer» als das Minnelied angelegten Sangspruchs argumentiert und die Literarizität auch dieser Texte herausgestellt wird. 1 3 So zutreffend und wichtig einerseits
HAUSTEINS
Aufweis
der traditionellen Aussagemuster ist, in denen sich auch das Text-Ich des Sangspruchdichters zur Darstellung bringt, und so berechtigt das Drängen auf eine Gewichtsverlagerung der Untersuchungen erscheint, die den selbstreferentiellen 10 Ich hebe hervor: JAN-DIRK MÜLLER: Ir suit sprechen willekomen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachlicher Lyrik, in: IASL 19 (1994), S. 1-21; PETER STROHSCHNEIDER: inu sehent, wie der singet!> Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang, in: MÜLLER [Anm. 1] S. 7-30; MÜLLER [Anm. 9]. Einen entscheidenden Anstoß hat gegeben: RAINER WARNING: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn z. Ged., hg. v. CHRISTOPH CORMEAU, Stuttgart 1979, S. 120-159. 11
HORST BRUNNER: Zur Geschichte der Meistergesangsforschung, in: Deutsches Handwerk in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Sozialgeschichte - Volkskunde - Literaturgeschichte, hg. v. RAINER S. ELKAR, Göttingen 1983 (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 9), S. 223-243; ders.: Stand und Aufgaben der Meistergesangsforschung, in: Quaestiones in musica (Fs. f. Franz Krautwurst z. 65. Geb.), hg. v. F R I E D H E L M B R U S N I A K U. H O R S T
L E U C H T M A N N , T u t z i n g 1989,
S. 3 3 - 4 7 ;
REINHARD
HAHN: Der Meistergesang in der Geschichte der Germanistik, in: Z f G 4 (1983), S. 4 5 0 - 4 6 2 ;
HORST
B R U N N E R U. H E L M U T T E R V O O R E N : Einleitung: Z u r Situation der
Sangspruch- und Meistergesangsforschung, in: ZfdPh 119 (2000), Sonderheft «Neue Forschungen zur mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung», S. 1-9. 12
Es ist kennzeichnend, daß die Gattung in dem Band zu «Aufführung» und «Schrift» [Anm. 1] - obschon durchaus ungeplant - mit keinem einzigen Schwerpunktbeitrag vertreten ist. 13
JENS HAUSTEIN: Marner-Studien, Tübingen 1995 (MTU 109).
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Michael Baldzuhn
Charakter der Gattung stärker zu beachten und funktionsgeschichtliche Bezüge differenzierter als bisher herzustellen hätte: 14 Es wird doch andererseits kein eigener Ansatz mehr entwickelt, der nun die Brücke zwischen Literarizität und Pragmatik schlüge, der es also erlaubte, den Ausweis literarischer Meisterschaft in der Neuformulierung allseits gewußter Lebenslehre - darauf setzen die Marner-Studien den Akzent - mit der pragmatisch-lebensweltlichen Orientierungsfunktion der Gattung zu vermitteln. Ein solcher Deutungsansatz läßt sich nur unter Einbezug der mithin noch nicht entschieden genug in die Textanalysen integrierten Performanzsituation gewinnen: U m diese Grundannahme des Beitrag sind im folgenden einige Fallstudien an einzelnen Texten versammelt, die aus der Annahme heraus zusammengestellt sind, daß über das Funktionieren von Sangsprüchen in ihrer Aufführungssituation - oder vorausgreifend formuliert: die Funktionalisierung der Auffuhrung fur die Textaussage - am ehesten dort etwas in Erfahrung zu bringen sein muß, wo das «Ich» der Texte als eine Figur mit Irritationspotential auftritt. Das meint: Wenn es zutrifft, daß der Sangspruchdichter - sehr verkürzt und idealtypisch gesprochen — nicht aus der Mitte der adeligen Gesellschaft heraus als ihr Mitglied aus ihr hervortrat und zu ihr sprach, sondern sie im Regelfall von einer exterioren Position der Nicht-Zugehörigkeit heraus anzusprechen hatte, und wenn er nicht zuletzt deshalb seine Legitimation aus der Aufgabe bezog, Sprachrohr des allgemein immer schon Gewußten zu sein, dazu sich des Grundkonsenses seiner Zuhörerschaft aber immer auch erst versichern mußte 15 — dann bergen vor allem Sprüche, die ihn zumindest bei oberflächlicher inhaltlicher Lesart eher disparieren - Publikumsschelten vor allem - und Sprüche, die sich der Aufgabe des Erinnerns an Wissens vorderhand verweigern - Lügenstrophen vor allem — genau dieses Irritationspotential.
14
Vgl. HAUSTEIN [Anm. 13] S. 1-6, S. 238 fr. und passim; zustimmend BRUNNER, TER-
VOOREN [ A n m . 1 1 ] S . 8. 15
Vgl. schon KARL STACKMANN: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität, Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung 3), S. ioof.; KLAUS GRUBMÜLLER: Die Regel als Kommentar. Zu einem Strukturmuster in der frühen Spruchdichtung, in: Wolfram-Studien 3 (1979), S. 22-40, hier S. 38-40; zuletzt KARIN BREM: / Spervogel. Die ältere Spruchdichtung im Spannungsfeld von Konsenszwang und Profilierung, Konformität und Autorität, in: ZfdPh 119 (2000), Sonderheft «Neue Forschungen zur mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung», S. 10-37 (mit weiterer Forschungsliteratur S. iof. Anm. 2).
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I.
Als erstes Textbeispiel wähle ich - ihres unter pragmatischen Aspekten betrachtet offensichtlichen Irritationspotentials wegen - eine Scheltstrophe. Diese, so noch einmal HAUSTEIN, könne «man sich ja wohl kaum in der Gegenwart desjenigen rezitiert vorstellen [...], gegen den sie sich richten.»16 Pragmatische Grundgegebenheiten der Rede des Sängers vor einem anwesenden Publikum, das ihm seine materielle Existenzgrundlage zu sichern hatte und das er deshalb kaum offensiv angegangen sein dürfte, sollten sich gerade an diesem Subtyp aufhellen lassen. Die plane Referenz der Textaussagen auf Vortragswirklichkeit verbietet sich zumal dann, wenn man, wie das Text-Ich eines Scheltspruchs im Kurzen Ton Frauenlobs, seine Zuhörer gleich im ersten Vers ohne Unterschied als die herren anredet, ihnen eine List vorwirft und so das Sprecher-Ich sogleich unmißverständlich als Kontrahenten der herren positioniert:
5
Die herren han ein list erdacht, damit sie wenen sich erwern. Swaz künste nu wirtfiir sie bracht, siejehen alle: ob ouch wol die spräche ist min, so treit er doch daz kriegen hin. (Frauenlob, Kurzer Ton: GA XIII,5) 17
Wenn das Publikum des Sangspruchs vornehmlich ein höfisches gewesen sein sollte, und zumal bei Frauenlob muß man sogar mit hochadeligen Kreisen rechnen,18 dann konnte ein Spruch, der so beginnt wie dieser hier, eigentlich vor gar 16
HAUSTEIN [ A n m . 1 3 ] S . 3 f .
17
Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, SangsprUche, Lieder, hg. v. KARL STACKMANN u. KARL BERTAU, 2 Bde., Göttingen 1981 (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Philol.-hist. Kl., 3. Folge, Nr. 119/120). Für den Spruch ist aus inhaltlichen Gründen zu erwägen, ob er nicht mit GA XIII,6 und 7 zu einem mehrstrophigen Gedicht zusammengeschlossen werden müßte, jedoch «ohne daß sich für eine vom Autor gewollte Zusammengehörigkeit zwingende Beweise beibringen ließen» (Bd. 1, S. 183f.). Diese Erörterung - die zudem auf die Zusammenstellung der Strophen im einzigen Textzeugen, der Weimarer Frauenlob-Handschrift F näher einzugehen hätte - sei zugunsten der hier verfolgten Argumentation zurückgestellt. Berechtigt scheint dieses Vorgehen insofern, als GA XIII,5, in der Strophenreihe betrachtet, die Kopfstrophe wäre, also den Zuhörern als textuell voraussetzungsloser Neueinsatz zu Gehör kam. " KARL STACKMANN: Frauenlob, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 865-877.
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keinem Publikum zu Gehör gebracht werden. Wer ließe sich gerne Geiz vorwerfen - und dazu eine fadenscheinige, weil gänzlich ohne Kunstverstand geführte Argumentation gegen die Alimentierungsansprüche des hier in der Sangspruchdichter-Existenz auftretenden Text-Ich? Verständlicher wird der Text, wenn man sich genauer die Positionen anschaut, die hier gegeneinander ausgespielt werden. Das entworfene Publikum der herren wird dargestellt als eines, das offensichtlich über literarisches Vorwissen verfügt, es aber zur Abwehr von Lohnansprüchen mißbraucht. Es verweist auf einen ihm schon bekannten mint, um die Leistung des Text-Ich zu schmälern. Nun ist vunt zwar ein literaturkritischer Begriff, der seine anspruchsvolle Vorgeschichte hat.19 Er wird hier aber dennoch kaum im Rahmen einer literaturtheoretischen Spezialdiskussion benutzt, weil diese dann ja notwendig mit einem entsprechend hochspezialisierten Publikum geführt werden müßte. Im Munde des gescholtenen Publikums zielt das Wort vielmehr auf etwas, an das man sich - sehr real - von älteren Liedvorträgen abstrahierend erinnern und das man dann selbst wiederum diskursiv besprechen und wiedergeben konnte: auf den Stoff, das Thema, den Gegenstand eines Textes. Dem Verweis auf den vunt werden nämlich gerade die künste nu entgegengehalten: das, was im Sangspruch, als Zeitkunst betrachtet, hier und jetzt und ganz gegenwärtig in der Performanz geschieht. Dabei wird im besonderen seine spräche erfaßt: In der Opposition zum publikumsseitig unspezifisch erinnerten Abstraktum des vunt ist damit zweifellos eher auf die besondere sprachliche und rhetorische Durchformung eines Stoffs gezielt. Die Semantik von spräche impliziert hier weniger einen Systemgedanken, sehr viel ausgeprägter demgegenüber den Vorgang ihrer Anwendung, das Sprechen, den Vortrag eines Textes.20 Da es unter den Bedingungen des derart entworfenen Disputs zwischen «Ich» und Publikum nun aber wenig verschlagen kann, billigen Scheineinwänden mit differenzierter rhetorischer Theorie zu begegnen, kann es — pragmatisch gedacht — nicht eigentlich die künstlerische Autorität eines hinter dem Text-Ich stehenden Sangspruchdichters " WALTER JOHANNES SCHRÖDER: Vindiere wilder maere. Z u m Literaturstreit zwischen Gottfried und W o l f r a m , in: P B B (Tüb.) 80 (1958), S. 2 6 9 - 2 8 7 ; BURGHART WACHINGER: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts, M ü n c h e n 1 9 7 3 ( M T U 42), S. 1 2 3 - 1 2 5 u.ö. (vgl. Reg.); JOHANNES KIBELKA: der ware meister. Denkstile und Bauformen in der Dichtung Heinrichs von Mügeln, Berlin 1963 (Philologische Studien u. Quellen 13), S. 219 ff. 20
V g l . MATTHIAS LEXER: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. N a c h d r . d. A u s g .
Leipzig 1 8 7 2 - 7 8 m . einer Einl. v. K U R T GÄRTNER, Stuttgart 1 9 9 2 , Bd. 2, Sp. n o 9 f . ; W ö r terbuch zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe, unter Mitarb. v. JENS HAUSTEIN redigiert v. KARL STACKMANN, Göttingen 1990 (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Philol.-hist. Kl., 3. Folge, N r . 186), S. 339.
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Frauenlob sein, die dem Text-Ich hier erlaubte, die herren mit dem Verweis auf die Durchformung der inventio ernsthaft eines besseren zu belehren und sie zur Umkehr bewegen zu wollen. Die Pointe der Strophe liegt vielmehr darin, daß als Bestandteil der besonderen Gestaltung und als eigentlich lohnenswert behaupteten Leistung eben auch der Vortrag mitgedacht ist - und entscheidender noch: daß dies im Vortrag des Textes zugleich vorgeführt wird. Dazu muß man freilich sehen, daß der Spruch im formal anspruchslosesten T o n verfaßt ist, den Frauenlob überhaupt im Repertoire hatte, in seinem Kurzen Ton. 2 1 Er ist deshalb nicht zufällig der einzige Spruchton des geschätzten Vorbilds, der den späteren Meistersingern unbekannt blieb. 22 Es geht also nicht nur das Text-Ich leer aus, sondern mit dieser Tonwahl die herren ebenso: Ihnen werden künste mit dem Kurzen T o n gerade nicht geboten, ja sogar demonstrativ/performativ entzogen. Der einzige, der in diesem ins negative gewendeten Austauschverhältnis von guot umbe ere gewinnt, ist die mit einer feinen Namensetymologie belegte, fiktive Figur Meister Erwins, des êre-win, der beides, das vom Sangspruchdichter doch eigentlich zu verbreitende Ansehen der herren, die ere, ebenso wie den Gewinn, die ihm dafür zustehende Entlohnung, davonträgt. (Dabei liegt ein zusätzlicher Witz der Stelle im Reim des Langvokals auf den Kurzvokal [sin : u>iii\, der nicht nur künstlich mißlungen ist, sondern darüber hinaus win als die dem Meister Erwin angemessene Entlohnung zu assozieren erlaubt.) In der Aufführung des Spruchs durch den Sänger liegt das eigentliche Argument gegen die geizigen Herren. Das, was das Text-Ich andeutend sagt, wird vom Sänger-Ich zugleich performativ umgesetzt. Die Schelte gewinnt damit noch einmal erheblich an Schärfe - auf den ersten Blick. Denn dem gescholteten textinternen Publikum dürfte dieser performative Kunstgriff ja weniger einsehbar sein als im Gegenteil einem überaus kunstverständigen, dem eigentlichen, freilich nicht direkt angesprochenen externen Publikum des Spruchs, v o r d e m ü b e r jene anderen, in Kunstfragen minder21
V g l . das in der G A , Bd. 2, S. 996, wiedergegebene Tonschema (lediglich acht Verse
ohne Variation in Länge und Auftaktgestaltung, im Aufgesang Kreuzreim abab, im A b g e sang umarmender Reim cddc). 22
GISELA KORNRUMPF: Konturen der Frauenlob-Überlieferung, in: Cambridger -Kolloquium 1986, hg. v. WERNER SCHRÖDER, Berlin 1988 (Wolfram-Studien 10), S. 2 6 - 5 0 , hier S. 37. D i e im R S M zu 'Frau/io/i—502 aufgeführte Textüberlieferung hat ihren Schwerpunkt in den korpusorientierten Sammlungen der Großen Heidelberger Liederhandschrift C und in der Weimarer Frauenlobhandschrift F. Daneben ist nur Streuüberlieferung zu verzeichnen, die überdies für die Rezeption Frauenlobs als meister untypisch ist («Liebhard Eghenvelders Liederbuch», , , in:
2
V L 5 (1985), S p . 2 7 - 3 9 ; GISELA K O R N R U M P F : K o l m a r e r L i e d e r h a n d s c h r i f t , i n : L i t e r a -
turlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hg. v. WALTHER KILLY, Bd. 6, Gütersloh u. München 1990, S. 461-463; LORENZ WELKER: Kolmarer Liederhandschrift, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2., neubearb. Aufl. hg. v. LUDWIG FINSCHER, Sachteil, Bd. 5, Kassel [u. a.] 1996, Sp. 450-455. 32
Argumente für alte Selbstständigkeit lassen sich aus der unfesten Überlieferungsum-
gebung der Strophe (s. R S M 'Stol/504a-d) beibringen: BALDZUHN [Anm. 7], Kap. V . 23. Daß die Strophe auch inhaltlich für sich stehen und als abgeschlossene Einzelstrophe betrachtet werden kann, sollte aus den nachstehenden Beobachtungen hervorgehen. 33
Meisterlieder der Kolmarer Handschrift, hg. v. KARL BARTSCH, Nachdr. Hildesheim
[u. a.] 1998. 34
enbeiz läßt sich ebenso auf den Infinitiv enbizen (LEXER [Anm. 20], Bd. 1, Sp. 545:
«gemessen», «gespeist haben») wie auf bizen mit Negationspartikel zurückführen. Dann
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Geizkragen zu singen?» Die Funktion des langen Lügenvorspanns liegt einzig in der Erwartungssteigerung an das «Ich», nun endlich Orientierungswissen und Lebenslehre zu vermitteln: Eine Erwartung, die das Text-Ich in v. 13 dann ausdrücklich aufnimmt. Die «Wahrheit» jedoch, an die es dann erinnert, präsentiert es statt in Aussageform in Form einer rhetorischen Frage, die überdies keinen Wissenshintergrund des Publikums, sondern ein spezifisch spruchmeisterliches Erfahrungswissen aufruft: Sie richtet sich damit mehr an das Text-Ich selbst als an sein Publikum. Der im zugrundeliegenden konditionalen Strukturmuster erinnerte Regelzusammenhang — die Ausgangsform ist: «Jeder, der schon einmal richtig entlohnt wurde, der wird sich nicht mehr genötigt fühlen ...» - betrifft freilich auch dieses. Die Applizierbarkeit der formulierten Regel auf die aktuelle Aufführung ist sprachlich bereits durch die Entzugsstruktur der Frageform und der Selbst-Adressierung signalisiert: Das «Ich» wird, da es ein Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung erwartet, seinem Publikum keine Lehre erteilen. Das freilich wird vom Sänger den vermeintlichen Knausern durchaus gesagt. W e n n der signalisierte Entzug wirklich hätte glaubhaft gemacht werden sollen, dann hätte der Sänger gar nicht zu singen anheben dürfen: Performativ kommt er nicht umhin, zu belehren - in diesem Fall wiederum über den Bedingungszusammenhang, in dem Leistung des Vortrags und Entlohnung des Sängers stehen. Diese Unhintergehbarkeit der Performanz bringt dann das entscheidende Vexierspiel hervor: Der Absicht des Text-Ich, nicht zu belehren, wird durch die Präsenz des Sängers, auf die die Textaussage des «Ich» konzeptionell berechnet ist, widersprochen: Die Aussagen des Text-Ich geraten in Hinsicht auf ihre M o tivation — die zutreffende Einschätzung der Zuhörerschaft — unter den Verdacht, nur fingiert zu sein. Das sind sie natürlich auch, nur darf man den Spruch deshalb nicht ins literarische Spiel abschieben, sondern bleibt als Interpret aufgefordert, die historische Möglichkeit des vorausgesetzten Inszenierungsmuster näher zu qualifizieren: So bleibt dann sichtbar, daß der Sänger mit diesem Spruch vor unverständigem Publikum ein Risiko eingehen konnte, von einem Publikum von Kennern statt Knausern hingegen das Jonglieren mit den Ich-Instanzen realisiert und angemessen entlohnt werden konnte. Der Spruch hat also durchaus nichts «Spielmännisches» an sich, sondern setzt im Gegenteil - er ist darin den vorangehenden, prominenteren Beispielen durchaus vergleichbar - schon einen sehr differenzierten gemeinsamen Verständigungsrahmen voraus. In ihm konnte die Grundleistung der Gattung — Erinnerung und Stabilisierung des allgemein Gewußten und Situationsdeutung in bezug auf dieses Wissen - bereits darin bestehen, auch ein sehr spezielles Wissen aufzurufen, das sich bereits reflexiv nur-
wäre «Wer nie anderes als Sauerkraut aß...» zu übersetzen, damit aber nur die Begründung für das Schweigen des «Ich» vor Knausern eine andere.
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mehr allein auf die adäquate Wahrnehmung von kunst bezog. Dementsprechend bleibt auf der anderen Seite die pragmatische Orientierungsleistung dieses Lügenspruchs eher unspezifisch: Er dient primär der Selbsterfahrung des Gemeinschaftspublikums als kunst-Kenner. Darin weist er aber zumindest für den engeren Ausschnitt des späten Sangspruchs auf ein von unmittelbaren gesellschaftlichen Funktionsansprüchen partiell bereits entlastetes, eigenes System «Litera-
IV. Die Verfasser der bisher besprochenen Sangsprüche haben die Präsenz des Sängers in ihre Text- und Handlungsentwürfe für den Vortrag einbezogen und dabei von vornherein mit gewissen Freiräumen für ein reflexives, primär auf kunst bezogenes Sprechen gerechnet. Die empirischen Konstitutionsbedingungen dieser Freiräume liegen im Dunkeln: Mußten sie spontan ergriffen werden? Konnten sie durch vorbereitendes Handeln, durch Gesten oder Symbole etwa, geöffnet werden? Mußten sie dann durch permanent textbegleitendes Handeln offengehalten werden? Prinzipiell erwartbarer für alle an der Aufführung Beteiligten werden solche Freiräume jedenfalls, sobald ihnen nicht länger mit jedem Vortrag neu entgegengearbeitet werden mußte, sondern die Texte selbst diskursive Elemente ins Spiel bringen, die sich unabhängig von Einzelvorträgen argumentativ, etwa in vor- oder nachbereitenden Gesprächen des Publikums über kunst, nutzen ließen. In diese Richtung weist ein letztes Beispiel der Instrumentalisierung der Aufführung für die Vortragsaussage, ein wiederum erst aus dem 15. Jahrhundert überlieferter, aber wiederum sicher älterer36 Spruch in Tannhäusers Hauptton. Sein pragmatisches Irritationspotential könnte größer nicht sein, scheint mit ihm doch nicht weniger als eine Absage an die gesamte Gattung vollzogen:
Geluckes wer mir not, wo ich der land hin ker. 35
V g l . zum weiterreichenden Diskussionshintergrund SEBASTIAN NEUMEISTER:
Die
(Literarisierung) der höfischen Liebe in der sizilianischen Dichterschule des 13. Jahrhunderts, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. D F G - S y m p o s i o n 1991, hg. v. JOACHIM HEINZLE, Stuttgart u. Weimar 1991 (Germanistische Symposien; Berichtsbände 14), S. 3 8 5 - 4 0 0 ; JENS HAUSTEIN: Autopoetische Freiheit im Herrscherlob. Z u r deutschen Lyrik des 13. Jahrhunderts, in: Poetica 29 (1997), S . 9 4 - 1 1 3 , bes. S. i i 2 f . 36
Z u Argumenten aus der handschriftlichen Überlieferung von T e x t ( R S M 'Tanh/6/ia
und b) und T o n wiederum BALDZUHN [Anm. 7], Kap. V . i o .
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5
mit manger masseny ist mir wol worden kunt, daz ich mich han in sundín ticff verleytet. mit bicht macht mich mangpriester mat, daz ich hin gar verirret. (Tannhäuser, Hauptton: "Tanh/6/ΐΊ,ι- SIEBERT
S.
aio f.)37
Der Eingangsstollen exponiert ein «Ich» als in aller Welt ziellos umherirrendes, sündenverhaftetes, das selbst die Geistlichkeit nicht auf den rechten Lebenspfad zu bringen vermochte, ja sogar weiter von ihm abgebracht hat. Das «Ich» ist in der Welt herumgekommen: Damit ist ein erster Hinweis auf seine Lebensform als Sangspruchdichter gegeben;3® ein weiterer liegt in der Verortung seines Agieren in der Hofgesellschaft (masseny)*9, was - andeutungsweise - die Zuhörerschaft in das Problem seiner verfehlten Lebensform einbezieht. Der Gegenstollen baut die Inszenierung des Text-Ich in der Rolle des verzweifelt-orientierungslos umherirrenden Spruchdichters weiter aus: Wer gyt mir wisen rat, dar zu die clugen 1er, io daz ich der hell werd fri, dez endelosen grünt? het ich mich t f fdie rehten fart hereytet, gein dem ez mir vneben gat, dem man mich hat enpfirret! rat und cluge 1er geben sind althergebrachte Aufgaben des Spruchdichters.40 Nun ist das mit den Merkmalen der Spruchdichter-Existenz ausgestattete Text-Ich als eines fingiert, das selbst rat sucht. Vor dieses Dilemma ist es gestellt, weil die durch geistliche Institutionen von alters her verbreitete Kritik am höfischen Unterhaltungskünstler von Anfang an als im Prinzip zutreffend akzeptiert ist.41 Das mag im Vortrag aus dem Munde eines Spruchdichters zunächst überraschend gewirkt haben, erlaubt aber, eine vom Gegenbild des ubi stabilitas, ibi religio getragene, ethisch-religiöse Kritik an der Standortlosigkeit des Fahrenden 3 7 JOHANNES SIEBERT: Der Dichter Tannhäuser. Leben, Gedichte, Sage, Halle/Saale 1934, Nachdr. Tübingen 1979. Zu vergleichen ist die Synopse der k- und w-Überlieferungen bei MARGARETE LANG: Tannhäuser, Leipzig 1936 (Von deutscher Poeterey 17), S. 171-179. Zu weiteren Ausgaben s. im RSM zu 'Tanh/6/ia. 38 Vgl. TERVOOREN [Anm. 2], S. 23-36. 39 Zur Semantik von massenîe O T R I D EHRISMANN: Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter, München 1995, S. 49 f. 40 Vgl. die oben in Anm. 15 angegebene Literatur. 41 Vgl. TERVOOREN [Anm. 2], S. 27-32.
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gezielt aufzugreifen und diesem dann in einem neuen Koordinatensystem einen Platz eigenen Rechts zuzuweisen. In diese Richtung weist bereits, daß das verzweifelte Spruchdichter-Ich immerhin in der Lage ist, s i c h s e l b s t auf den rechten Weg zu bringen, indem es s i c h s e l b s t an einen gemeinhin bekannten Sachverhalt erinnert und dieses auf seine eigene Situation bezieht: 15 Zwar des hat mich der zwyfel starck bezwungen, daz ich bin usz dem rechten weg gesprungen, ez wart kein missetat so grosz, gedenck ich mir; enpfeht der sunder ruw, 10 annemlich ist er dir. Keine Mensch kann so große Schuld auf sich laden, daß sie Gott ihm nicht wieder abnehmen könnte, bereut er sie nur. 42 So konventionell diese Einsicht, so auffällig, daß mit ihr nun erstmals die Rederichtung des «Ich» genauer fixiert wird. Was zuvor ohne festgelegten Adressaten wie Selbstansprache klang, bekommt nun ein benennbares Gegenüber und eine deutliche Richtung: Das dem modernen Leser reichlich unvermittelt im Text auftauchende dir kann nämlich nur als direkte Ansprache zu Gott aufgefaßt werden. Aus der Selbsterinnerung folgt also in einem zweiten Schritt die Hinwendung zu Gott; in einem dritten Schritt weitet sich der Gesichtskreis des aus der eigenen Einsicht Freude beziehenden «Ich» dann wieder, das nun die Zuversicht und die Hoffnung formuliert, seine eigene Erfahrung werde auch anderen - zu denken ist an die masseny des Stropheneingangs und damit die Zuhörerschaft des Sängers - offenstehen: desfreuich mich, wie ich bin ab gedrungen, noch lept manggeist, der hoffen hat, dem wirser ist gelungen. Die Leistung der Gattung, zu Erinnern und das Erinnerte auf eine besondere Situation zu beziehen, ist damit exemplarisch vorgeführt. Als Problemrest bleibt die Wiederholbarkeit einer solchen Inszenierung, und daß ihr weitere Lieder in einem aktuellen Vortrag eigentlich nicht folgen durften: Pragmatisch gesehen kann das «Ich» so verzweifelt nicht sein, wie es immer wieder von neuem tut. 42
Das Denkmuster ist verbreitet, wird programmatisch schon in Hartmanns von Aue (V.44-50) benutzt (Hartmann von Aue: Gregorius, hg. v. HERMANN PAUL, neu bearb. v. BURGHART WACHINGER, 14., durchges. Aufl., Tübingen 1992 [ATB 2]) und läßt sich in der Sangspruchtradition bis hin zu Michel Beheim nachweisen: Die Gedichte des Michel Beheim. Nach der Heidelberger Hs. cpg 334 unter Heranziehung der Heidelberger Hs. cpg 312 und der Münchener Hs. cgm 291 sowie sämtlicher Teilhandschriften h g . v . H A N S G I L L E u . INGEBORG SPRIEWALD, B e r l i n 1 9 6 8 - 7 2 ( D T M 6 0 , 6 4 , 6 5 ) , N r . 4 1 5 .
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ΙΟΟ
Die Antwort auf den Verdacht der Inszeniertheit ist freilich schon strukturbildend in den Text selbst eingegangen, der sie mit Hilfe einer wohlkomponierten Raumsemantik ansteuert. In ihr kennzeichnen die von Beginn an gesetzten, immer auch ethisch-religiös konnotierten Wegmarken den Fahrenden (im Gegensatz zur Vorstellung, daß nur wo stabilita* auch religio sei) als eine ganz im Horizont dieser Welt befangene, ziel- und ruhelos umherschweifende Figur, der sich keine über diesen innerweltlichen Horizont hinausführende Perspektive bietet.43 Die einzige Vertikale, die sich in diesem Bild auftut, überschreitet nicht, sondern unterschreitet den Horizont in Richtung Höllengrund. Erst mit der Ansprache Gottes wird dieses Koordinatensystem um eine der helle entgegengesetzte Vertikale erweitert. - Im Zusammenspiel mit vielleicht verbreiteteren Projektionen auf den Namen «Tannhäuser» kann sich das in den Augen der Zuhörer durchaus zum Bild eines Kreuzes verdichtet haben. Exponierte Ortlosigkeit des «Ich» war sicher ein Element des Inszenierungsmusters, das sich publikumsseitig an den Namen des Tannhäuser und an entsprechende Texte und Töne band. Die «Vorstellung von dem rastlosen Weltenwanderer Tannhäuser» konnte sich insbesondere an den geographischen Katalogen in einschlägigen Texten schon der Manesse-Handschrift bilden, und sie hält sich auch durch spätere Belege durch.44 Für die anschauliche Ausformung des angedeuteten Koordinatensystems zum Kreuz ist an die Autorminiatur vor dem Tannhäuser-Korpus in der Großen Heidelberger Liederhandschrift C (Bl. 2641·) zu erinnern. Sie imaginiert den Urheber der Texte und Töne im weißen Mantel der Deutschordensritter mit aufgesetztem Kreuz. WACHINGER vermutet, die Miniatur sei aus dem Kreuzzugslied XIII herausgesponnen.45 Mit 'Tanh/6/ia,i läßt sich dagegen ebenso annehmen, daß die Voraussetzung der Miniatur in konkreten AufFührungs- und Inszenierungsmustern einzelner Texte liegen konnte. Vgl. dazu auch das Folgende.46 Einen solchen gezielten Aufruf einer Bildvorstellung wird man vielleicht auch deshalb annehmen dürfen, weil die zwischen Text-«Ich» und transzendentem dir 43
Vgl.: wo ich der land hin ker, in sunden tieff, verirret, die hell als endeloser grünt, das Ziel der rehten fahrt, die Qualifizierung des Weges als ν neben, vom rechten Weg abgebracht worden sein, usz dem rechten weg gesprungen. 44
V g l . BURGHART WACHINGER: V o m T a n n h ä u s e r z u r T a n n h ä u s e r - B a l l a d e , in: Z f d A
125 (1996), S. 125-141, hier S. 138 (dort auch das Zitat), dazu die Texte bei SIEBERT [Anm. 37], S. 99-104 (Nr. V), S. 117-119 (Nr. XII) u.ö. sowie für die jüngere Überlieferung etwa S. 212-215 UND S. 227-231. 45
44
WACHINGER [ A n m . 4 4 ] , S . 128.
Trotz dieser Bezüge müssen natürlich weder Text noch Ton von Tannhäuser selbst stammen (vgl. WACHINGER [Anm. 44], S. 135F.). Deutlich baut die Strophe aber an den Voraussetzungen mit, die im 15. Jahrhundert schließlich in die diskursiv ausformulierte Tannhäusersage münden.
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errichtete Gesprächsachse ja jeden anderen Teilnehmer ausblendet: Unmittelbar in der Vortragssituation werden alle Zuhörer des «Ich» genau an dieser Stelle auf die Rolle von Zuschauern einer zwar exemplarischen, aber ebenso exklusiven Zwiesprache mit Gott reduziert. Daher ist es auch hochbedeutend, wenn der Text im Fadenkreuz dieser Stelle ohne Reim bleibt. Auf die ruw, die das «Ich» zu Gott führt, reimt sich nichts: v. 19 mündet in eine Waise. Das ist ein deutlicher Fingerzeig darauf, daß unvermittelt praktizierte Reue des höfischen Sängers ihn mitsamt seiner kunst nur zum Schweigen bringen würde. In der Auftrittsrolle des Spruchdichters realisiert, läßt sich dieses Statement nun aber zugleich als eines über die gesamte Gattung lesen: Die traditionelle geistliche Kritik an der unfesten Lebensform des Fahrenden wird von Beginn des Textes an so scheinbar kritiklos unvermittelt aufgenommen, weil von Beginn an ihre Transformation intendiert ist. Die weltliche kunst des «Ich» vermag nicht unmittelbar wie Gebete oder andere geistliche Handlungen Heil zu stiften — sie will das aber auch gar nicht. Sie beschränkt sich darauf, an die Notwendigkeit und Möglichkeit des Heils zu erinnern und sein Publikum lediglich im Modus der Hoffnung an Heil heranzuführen. Diesem wäre mit einem bekehrten, fortan schweigenden Spruchdichter wenig gedient. Freude (vgl. v. 21) kann er ihm nur stiften, wenn er sich nicht wirklich unter das Kreuz zurückzieht, sondern das Kreuz lediglich als Zeichen voranträgt. Die durchschaubare Inszeniertheit der fingierten Abkehr von der kunst ist daher auch kein Defizit, sondern bemerkenswertes Dokument für das Selbstbewußtein eines Sangspruchdichters, der die Legitimität seiner kunst unter dem Druck geistlicher Kritik im Verweis auf die wichtigen Vermittlungsaufgaben wahrt, die seine kunst vor dezidiert höfischem Publikum übernehmen konnte.
V. Sangsprüche mit pragmatischem Irritationspotential verlieren dieses Potential, sobald man sie entschiedener von der Aufführung her zu verstehen versucht. Vermeintliche Scheltstrophen erscheinen nur noch als Didaxe, freilich in sehr besonderem Gewand. Vermeintlich anspruchslose Lügenstrophen avancieren zu einem hochanspruchsvollen Subtyp, der sich an literarische Kenner wendet, die auch aus dem inszenierten Lehrentzug noch Gewinn zu ziehen vermochten. Die Absage des Sangspruchdichters an seine kunst wandelt sich ins Gegenteil einer selbstbewußten Positionsbestimmung der Gattung. - Der die Beispiele übergreifende Ertrag ihrer kommunikationshistorisch sensibilisierten Textanalyse liegt einmal darin, daß die Texte wieder in kommunikativen Freiräumen und statt als immer schon durch literarische Tradition gedeckte Produkte - zuerst
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einmal als durchaus riskante Experimente erscheinen. Zur konkreten Ausgestaltung dieser Freiräume im Einzelfall kann der moderne Interpret zwar nicht mehr viel sagen, doch bleibt er zu ihrer näheren Qualifizierung - und sei es nur durch Hypothesen, allen voran zum Wissenshorizont des Publikums - immer aufgefordert. (Gesichertere Erkenntnisse über die spezifische Beschaffenheit der Vortrags-Räume des Sangspruchs dürften am ehesten in autorenübergreifenden Querschnittanalysen entlang längerer Zeitachsen zu gewinnen sein.) Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang schon jetzt - dies der zweite Ertrag der Fallstudien - die Reflektiertheit, mit der die Präsenz des Vortragenden und die Tatsache des Vortrags in die Konzeption selbst auf den ersten Blick unscheinbarer (in anspruchslosen Tönen oder «spielmännischen» Formen verfaßter oder erst aus Meisterliederhandschriften bekannter) Texte eingerechnet ist. Die Integration der Aufführung in die Vortragsaussage hat diese durchweg um einiges komplexer ausfallen lassen. Entsprechend war für ihre lebensweltlich-pragmatische Orientierungsfunktion zu vermuten, daß Sprüche wie die analysierten diese nurmehr sehr vermittelt erfüllen. Im Grunde war aus den Texten selbst nur abzuleiten, daß sie der von ihnen implizierten professionellen Zuhörerschaft als Medien der Verständigung über literarische Kommunikation dienen konnten, und nur aus den Scheltstrophen etwas konkreter die — freilich immer vorstellbare - Nebenfunktion, daß solche Verständigung immer auch der Identitätsbildung durch Abgrenzung gegen Nicht-Kenner dienen kann. Der Ansatz solcher Kennerschaft widerspricht dem Verständnis der Sprüche als riskante, in ungesicherte Freiräume hinein produzierte Experimente durchaus nicht. Es sind damit lediglich die beiden äußersten Pole einer allgemeinen, zwischen Diaspora und Literatenliteratur changierenden Kommunikationssituation der Volkssprache bezeichnet, die sich in jedem einzelnen ihrer Texte in einer spezifischen Relation von Situationsbezug und literarischer Formung niederschlägt.
Poetik der Unterscheidung: Z u Frauenlobs Liedern von Margreth Egidi (Konstanz)
Den Anspruch, eine umfassende Antwort auf die Frage nach dem literaturgeschichtlichen Ort von Frauenlobs Liedern zu geben, hat der vorliegende Beitrag nicht. Er versucht lediglich, einen weiteren Kontext anzudeuten, der fiir ihr Verständnis nicht irrelevant ist, und vor allem — insbesondere am Beispiel von Lied 3 - ihre spezifische Textur herauszuarbeiten. Als Forschungskonsens darf gelten, daß die GattungsdifFerenz zwischen Minnesang und Sangspruch, in späthöfischer Lyrik vielfach experimentierend umspielt, bei Frauenlob noch einmal eine sehr deutliche Kontur erhält.1 Seine Lieder scheinen, bei aller Eigenart, einen klaren Anschluß an Darstellungstraditionen des hochhöfischen Minnesangs aufzuweisen, jedoch nicht in dem Sinne, daß gegen Innovation auszuspielen sei:2 Vielmehr kann diese, und das gilt auch für Frauenlob, grundsätzlich nur im Kontext einer Traditionsbindung wirklich plausibel gemacht werden.3 Daß für Frauenlobs Minne- und Frauenpreisspriiche die Verankerung in der Gattungstradition ebenfalls maßgeblich ist, habe ich an anderer Stelle zu zeigen 1 Vgl. ζ. B. BURGHART WACHINGER: Hohe Minne um 1300. Zu den Liedern Frauenlobs und König Wenzels von Böhmen, in: Cambridger -Kolloquium 1986, hg. v. WERNER SCHRÖDER, Berlin 1988 (Wolfram-Studien io), S. 135-150, hier 148. 2
So scheint etwa RALF-HENNING STEINMETZ ZU argumentieren: Liebe als universales Prinzip bei Frauenlob. Ein volkssprachlicher Weltentwurf in der europäischen Dichtung um 1300, Tübingen 1994 (MTU 106), S. 2. 3 Vgl. SUSANNE KÖBELE: Der Liedautor Frauenlob. Poetologische und überlieferungsgeschichtliche Überlegungen, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Koll. Meißen 1995, hg. v. ELIZABETH ANDERSEN [u.a.], Tübingen 1998, S. 177-298, hier S. 277f. Sie spricht allerdings von der «paradoxe[n] Gleichzeitigkeit von engem Traditionsbezug und scharfem Traditionsbruch» (S. 278). Sicher liegt bei Frauenlob ein besonders produktiver Umgang mit konventionalisierten Darstellungsmustern vor, doch halte ich es nicht für sinnvoll, hierin etwas kategorial anderes zu sehen als die dialektische Relation von Traditionsbindung und Innovation, die literarischen Texten - zumal mittelalterlichen - generell eignet; als kann sie, meine ich, auch im Fall Frauenlobs nicht bezeichnet werden. Im Sinne dieser Dialektik, die hier eine besonders interessante Ausprägung erhalten mag, verstehe ich auch WACHINGERS Bemerkung, Frauenlob übersteige «die Gattungstradition [...] durch Konzentration und Konsequenz» (WACHINGER [Anm.i], S. 149).
Margreth Egidi
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versucht,4 während sie sonst, wie die Großdichtung «Minne und Welt> und der Minneleich, eher auf der Folie lateinisch-gelehrter Traditionen gesehen worden sind. 5 Ich konnte mich dabei auf Äußerungen KARL STACKMANNS stützen, der zur Sangspruchdichtung ausführt: «Wir können nicht von Frauenlobs individueller Leistung reden, ohne mitzubedenken, daß diese Leistung a u c h als Rekapitulation und Weiterführung von Möglichkeiten der Gattung zu verstehen ist.»6 Mit der , die er als Beispiel heranzieht, ist, da solche Formen des begrifflichen Denkens in der Geschichte der Gattung durchaus bereits vorher erprobt werden und hier eine neue Dimension erhalten, eine gattungstypische und zugleich eine Frauenlob-spezifische Verfahrensweise benannt. 7 Dessen Werk zeige exemplarisch, «was potentiell in der Gattung als ganzer angelegt ist».8 So läßt sich auch an den Minnespruchstrophen plausibel machen, daß ihre Isolierung von der mittelhochdeutschen Sangspruchtradition in autorzentrierter Perspektive das Bild insofern verfälscht, als ihr innovatives Potential sich gerade in der Art ihres Traditionsbezugs zu erkennen gibt. Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet in Ergänzung dazu das Bemühen, die Lieder Frauenlobs aus der Isolation innerhalb seines Œuvres zu lösen (daß dieses letztlich ein Forschungskonstrukt darstellt, sollte nicht davon abhalten, mit ihm zu arbeiten), indem sie mit seinen Minnesprüchen in Beziehung gesetzt werden, damit aber auch mit den Darstellungstraditionen, auf die letztere reagieren. Dies jedoch nicht, um nach der der Texte, nach oder dergleichen zu fragen - ohne Zweifel setzen sie sich primär mit der Tradition des Minnesangs auseinander - , sondern um die Lieder einem verfremdenden Blick auszusetzen. Daß Frauenlob die Gattungsdifferenz scharf
4
MARGRETH EGIDI: Höfische Liebe: Entwürfe der Sangspruchdichtung. Literarische
Verfahrensweisen von Reinmar von Zweter bis Frauenlob, Heidelberg 2 0 0 1
(GRM-
Beihefte) [im Druck]. 5
CHRISTOPH HUBER: Die A u f n a h m e und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mit-
telhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklage, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, München 1988 ( M T U 89), S . 136—199; STEINMETZ [Anm. 2]. 6
KARL STACKMANN: Über die wechselseitige Abhängigkeit von Editor und Literarhi-
storiker. Anmerkungen nach dem Erscheinen der Göttinger Ausgabe, in: Z f d A 112 (1983), S. 3 7 - 5 4 , hier 4 7 ; vgl. auch S. 49. STACKMANN fordert allerdings die Erfassung sowohl der Frauenlob vorausgehenden Phase als auch der Folgezeit «bis in die Spätzeit des Meistergesangs» (S. 4 7 f . ; zit. 48), was indes im Rahmen meiner Arbeit und erst recht der vorliegenden Studie nicht zu leisten war. 7
Ebd., S. 4 2 - 4 7 .
8
Ebd., S. 49.
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konturiert, bedeutet ja gerade nicht, daß man seine Minnelieder und -Sprüche nicht hinsichtlich ihrer literarischen Strategien und Liebesentwürfe relationieren und strukturelle Analogien zwischen ihnen herausarbeiten kann, die wiederum die gattungsspezifischen Unterschiede in der Arbeit mit grundsätzlich vergleichbaren Strukturen genauer erkennen lassen müßten. Z u diesem Zweck werde ich als erstes eine Systematik der Minnesprüche sowie den Beitrag Frauenlobs kurz skizzieren und seine Minnelieder auf Strukturanalogien zu den hier sichtbar werdenden Darstellungstraditionen hin befragen. Zweitens sei vor diesem Hintergrund Lied 3 auf seine konstitutiven Verfahrensweisen hin analysiert.
I. Sucht man die Minnespruchstrophen seit Walther von der Vogelweide und Reinmar von Zweter bis hin zu Frauenlob zu systematisieren, so schälen sich drei Gruppen deutlicher heraus, die zwar nicht alle überlieferten Strophen dieses Zeitraums abdecken, aber doch bereits den größten Teil: 1. ermahnende Minnesprüche, 2. Frauenpreisstrophen und 3. Strophen mit dem Preis der Minne und/oder der Beschreibung des Minneprozesses. 9 Adhortative Minnesprüche zielen auf das Problem der Wertverwirklichung im Kontext höfischer Liebe, wobei die LeitdifFerenz (bzw. ) gerade nicht die beiden Seiten ihrer Unterscheidung inhaltlich festlegt - dies leistet erst der einzelne Text. Kennzeichnend ist der Appellcharakter sowie, mit der Gegenüberstellung propagierter und verworfener Verhaltensmuster, die Orientierung an Wertoppositionen. Frauenpreisstrophen, die sich vielfach mit den anderen beiden Gruppen überschneiden (mit dem Preis der Minne sowie, im ermahnenden Lob, mit der Adhortado), zeichnen sich vor allem durch die Selbstreferentialität des Preises und durch die sich aus ihr ergebende Möglichkeit der expliziten Selbstreflexion in einem Meta-Diskurs über das Loben aus. Die dritte Gruppe von Minnespruchstrophen entwirft die Minne als Agens und den Minneprozeß; das eingeforderte oder getadelte Verhalten der Liebenden thematisiert sie nicht, kreist also in der Beschreibung der Minne als einer überpersonalen, den Menschen manipulierenden Instanz bzw. als Entstehungsprozeß oder dessen Produkt, als Erfahrung der Liebenden, nicht um Wertoppositionen wie und klammert den appellierenden Gestus sowie grundsätzlicher noch die sozialethische Dimension höfischer Liebe aus. 10 9 10
Hierzu und zum folgenden vgl. EGIDI [Anm. 4]. Einschränkend hinzuzufügen ist, daß mit dieser Eingrenzung der dritten Strophen-
gruppe solche Minnesprüche ausgeklammert werden, die den Preis ( R S M "ReiZw/i/ji;
io 6
Margreth Egidi
Insbesondere an diesen drei Gruppen von Minnesprüchen wird deutlich, daß die Realisierung des höfischen Liebesdiskurses in der Sangspruchdichtung sich in erster Linie s t r u k t u r e l l von derjenigen des Minnesangs unterscheidet, nicht primär inhaltlich-konzeptionell. Die höfische Rede über Liebe wird in den lyrischen Gattungen in verschiedenen Ausschnitten realisiert, die gar nicht oder in unterschiedlichem Grad gegeneinander ausdifferenziert sind. Im hochhöfischen Minnesang sind dies etwa die poetologische Thematik, die Ich-Reflexion, der Preis der Dame, die Modellierung erotischer Liebe und die Diskussion höfischethischer Werte. Das einzelne Lied verknüpft stets mehrere dieser Ausschnitte miteinander bzw. blendet sie ineinander; im Rahmen der gattungshaften Möglichkeiten des Minnesangs besteht eine gewisse Spannbreite des Ausdifferenzierungsgrades. Die Sangspruchdichtung mit Minnethematik und Frauenpreis läßt dagegen grundsätzlich - neben einer Selektion - eine sehr viel stärkere (wenn auch nicht vollständige) Ablösung dieser Ausschnitte voneinander erkennen: Man darf von einer deutlicheren S e g m e n t i e r u n g sprechen. Dies meint, daß die Ausschnitte des höfischen Liebesdiskurses t e x t i n t e r n nicht (oder weniger fest) miteinander verknüpft werden. Doch stehen sie auch im Sangspruch nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bleiben über den Gattungszusammenhang wie über den Kontext des Liebesdiskurses - nur eben nicht auf der Ebene der Texte selbst — aufeinander bezogen. Die Einordnung von Spruchstrophen mit Begriffen der oder gegenüber der Komplexität des Liedes wird mit der These einer stärkeren Ablösung der Segmente voneinander hinfällig: A u f die Frage, unter welchen Bedingungen Liebe mit sozialethischen Werten vereinbar ist, wie auch auf die Differenz konzentrieren sich die ermahnenden Minnestrophen, während beides etwa aus der Thematisierung der Minne als Agens und des Minneprozesses - die oben erwähnte dritte Gruppe — ganz ausgeklammert wird. Das hat zur Folge, daß unterschiedliche Perspektiven auf die Geschlechterliebe und verschiedene Wertungen von Sexualität unvermittelt nebeneinander stehen können. Minne- und Frauenpreissprüche, das wird damit ganz deutlich, lassen sich nicht hinsichtlich eines bestimmten generell vom Minnesang unterscheiden, sondern vielmehr strukturell: in ihrer Realisierung des Liebesdiskurses." 'ReiZw/i/32; 'ReiZwI2/14), die Verteidigung OReiZw/3/2; 'WaltV/iV^) oder die Kritik der personifizierten Minne unter sozial-ethischen Aspekten ('Buch/i; 'ReiZw/i/49) formulieren und somit etwa zwischen der ersten und der dritten Gruppe stehen. — Die Zählung der Strophen folgt dem Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 1 8 . J a h r h u n d e r t s , h g . v . HORST BRUNNER u . BURGHART WACHINGER, B d . 3 - 5 : K a t a l o g
der Texte. Älterer Teil, Tübingen 1986-91. Selbstverständlich konnten im Vortrag Strophen verschiedener Diskursausschnitte zusammengestellt und als solche rezipiert werden. Bei solchen Kombinationen entstehen
Poetik der Unterscheidung: Z u Frauenlobs Liedern
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Es ist mehrfach betont worden, daß die Lieder Frauenlobs (ich spreche über die in die aufgenommenen Texte) fast durchgängig zwei der Positionen weitgehend eliminieren oder wenigstens an den Rand drängen, die zur Grundkonstellation des hochhöfischen Minnesangs, zur fiktiven Lied-Welt, gehören: die Instanz der Dame — sie wird zur Vision, zum Imaginationsprodukt des Ich - und die der höfischen Gesellschaft (sowie ihrer Vertreter: der und der des Liebenden). 12 Damit fällt auch die Diskussion höfischethischer Werte fort, die um und Liebe kreist - mehr noch: Auch für die poetologische Thematik gilt dies, der sich Frauenlob andernorts ja ausführlich widmet (etwa in Fürstenpreisstrophen); und es hat den Anschein, als werde selbst die Diskussion von Liebes-Modellen in den Hintergrund gedrängt: Was bleibt, ist (neben dem kontrastiv eingesetzten Preis der Dame) die nahezu ausschließliche Konzentration auf die Kreisbewegung der Ich-Reflexion. V o r dem Hintergrund des oben Angemerkten drängt sich als erste, vorläufige Beobachtung der Eindruck auf, daß Frauenlobs Lieder das Produkt einer mit den Minnesprüchen seit Walther von der Vogelweide strukturell vergleichbaren, nur noch radikaleren Selektion und Segmentierung der Liebesdiskurs-Ausschnitte sind; die genannten Merkmale sind also für die Lieder ebensowenig wie für die Spruchstrophen auf ein bestimmtes rückführbar, sondern eher auf eine bestimmte Perspektivierung, die mit der Wahl des jeweiligen zusammenhängt. (Freilich muß offen bleiben, inwieweit dies Frauenlob-spezifisch oder kennzeichnend für einen Trend des späthöfischen Minnesangs ist.) Die Segmentierung — falls man bei Frauenlobs Liedern davon sprechen darf löst genau die Dimension der höfischen Rede über die Liebe heraus, sie von möglichen anderen Dimensionen isolierend, die bekanntlich in den Minnesprüchen in der Regel fortfällt: die Introspexion und Reflexion des liebenden Ich. Das ist insofern besonders interessant, als Frauenlob, bei dem sich die drei oben
potentiell Unbestimmtheitsstellen, was die Relationierung der erwähnten, textintern nicht verknüpften Segmente betrifft. Diese Relationierung ist dann von Vortrag zu V o r trag je neu von den Teilnehmern zu leisten, von Sänger wie Publikum gleichermaßen. 12
Z . B . SUSANNE KÖBELE: Abstraktion? Spekulative Tendenzen in Frauenlobs
Lied ι, in: Z f d A 123 (1994), S. 3 7 7 - 4 0 8 , hier 388 u. 399. Grundlegend für das Verständnis von Frauenlobs Liedern ferner die Aufsätze von WACHINGER
[Anm. 1] und KÖBELE
[Anm. 3]; die Frage nach der geistesgeschichtlichen Einbindung und nach Beziehungen zur zeitgenössischen Philosophie, die KÖBELE (insbesondere in der früheren Studie) interessiert, stelle ich jedoch nicht, sondern konzentriere mich auf textuelle Strategien und Mikrostrukturen. — Außerdem sind meine Beobachtungen zu den Liedern in vielem angeregt durch JOCHEN CONZELMANN (dem ich für die freundliche Überlassung des M a n u skripts herzlich danke): Der Minnediskurs in den Liedern Frauenlobs, Magisterarbeit (masch.) Berlin 1998, Kap. V .
Margreth Egidi
ιο8
charakterisierten Minnespruchgruppen ebenfalls finden und der auch hier auf tradierte Darstellungsmuster zurückgreift, zugleich Ansätze erkennen läßt, die verschiedenen Segmente wieder aufeinander zu beziehen. 13 Es wären also in Frauenlobs Liedern und Minnesprüchen gegenläufige Tendenzen im Verhältnis zur jeweiligen Gattungstradition erkennbar: in jenen die Segmentierung des Liebesdiskurses, in diesen ansatzweise die Wiederverknüpfung von LiebesdiskursAusschnitten. Doch ist die These von einer (selbstverständlich begrenzten) strukturellen Analogie zwischen Minnespruch-Tradition und den Liedern Frauenlobs zu präzisieren. Z u diesem Zweck lohnt es sich, die dritte Gruppe von Minnesprüchen genauer in den Blick zu nehmen: die Beschreibung der Minne als Agens und der Entstehung der Liebe, mit der ihre erotische Dimension fokussiert wird. 1 4 Innerhalb dieser Gruppe kristallisieren sich als Subtypen zwei modellhaft voneinander abzugrenzende deutlicher heraus, in denen sich topisches Material zu stringenten Darstellungsmustern verdichtet. Sie sind nicht als normative Formen aufzufassen, sondern als die zwei entgegengesetzten Pole einer Skala, deren verschiedene Darstellungsmöglichkeiten die Texte erproben. Primär lassen sie sich in ihren dominanten literarischen Verfahrensweisen voneinander abgrenzen - dem Zusammenfassen und Unifizieren einerseits, dem Differenzieren, Auffächern und Zergliedern andererseits. Es wird im Folgenden nur um den zweiten Beschreibungstyp gehen, doch skizziere ich zu dessen schärferer Profilierung einleitend auch den ersten. Das unifizierende Verfahren führt zu einem Modell der Liebe als nichtunterschiedener Einheit und Gleichheit: 15 Die Liebenden werden als Einheit und oh13
Dies betrifft vor allem die Minneermahnung auf der einen und die Thematisierung
der Minne als Agens wie des Minneprozesses auf der anderen Seite (die erste und die dritte Gruppe): Durch die Unterscheidung zwischen (Öffentlichkeit) und avanciert in einer Untergruppe von Frauenlobs ermahnenden Minnesprüchen die erotische Liebe (Liebe als Intimität) zum zentralen Sujet der Adhortatio: Zwei verschiedene Segmente der höfischen Rede über Liebe, die sonst im Kontext der Minnesprüche eher voneinander abgelöst sind — die Thematisierung des Liebesverhaltens und des erotischen Geschehens - , werden auf diese Weise miteinander in Beziehung gesetzt. Vgl. EGIDI [Anm. 4], Kap. 2.2.3. 14
Vgl. zum Folgenden ebd., Kap. 3; MARGRETH EGIDI: Textuelle Verfahrensweisen in
Minnespruchstrophen von Reinmar von Zweter bis Frauenlob, in: G R M N . F . 48 (1998), s. 405-433· 15
Beispiele: R S M ' R e i Z w / i ^ o (ROETHE 50); 'ReiZw/2/i3 (ROETHE 273); "JungMei/i/j
(PEPERKORN A . I . J ) . Frauenlobs Strophe 'Frau/4/NO.3 ( G A V I I , 3 9 ) , in der Gestaltungselemente beider Beschreibungstypen zur Anwendung kommen, läßt sich keinem der beiden Modelle zuordnen, arbeitet aber mit Kriterien, die bereits für die früheren Strophen
Poetik der Unterscheidung: Zu Frauenlobs Liedern
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ne Differenzierung der Geschlechterrollen dargestellt; das Agieren der ansatzweise personifizierten Minne als überpersonaler Wirkinstanz ist kongruent mit dem Willen der Liebenden, wird also nicht als Femdbestimmung und somit auch nicht als Leiderfahrung entworfen; ferner entsteht keine Unterscheidung zwischen Innen und Außen und schließlich auch keine zeitliche Differenzierung: Liebe wird nicht als Prozeß entworfen. Typische Sprachmittel sind Formeln, die die Einheit der Liebenden betonen (wie liep mit liebe, der zweier herze, oder auch: ein lîp, zwô sêle, zwe herze in ein),16 sowie Metaphern des Verbindens; eine Raummetaphorik, mit der das Innere der Liebenden in den Blick käme, fehlt. Das differenzierende und zergliedernde Verfahren hat einen Entwurf der Liebe als Unterschiedenheit und Ungleichheit zur Konsequenz. 17 In einer Konstellation der Gegnerschaft angeordnet, werden die Beteiligten in Funktion und Position scharf unterschieden: der Mann ist das Objekt, die Frau das Medium des Wirkens der Minne, diese die allein agierende Instanz, die den Liebenden durch den Anblick weiblicher Schönheit besiegt bzw. die Blickpfeile der Frau durch seine Augen sendet, um sein Inneres zu verwunden. Es entsteht eine Spaltung zwischen der von außen gewaltsam einwirkenden Minne und dem Objekt, zuzentral sind. - In Klammern die Zählung der Ausgaben: Die Gedichte Reinmars von Zweter, hg. v. GUSTAV ROETHE, Leipzig 1887, Neudr. Amsterdam 1967; Der Junge Meißner: Sangsprüche, Minnelieder, Meisterlieder, hg. v. GÜNTHER PEPERKORN, München 1982 ( M T U 79); Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder, a u f G r u n d d e r V o r a r b e i t e n v . H E L M U T H THOMAS h g . v . K A R L STACKMANN U. K A R L B E R -
TAU, Göttingen 1981 (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Philol.-hist. Kl., 3. Folge, Nr. 119/120); Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, aus allen bekannten Handschriften und früheren Drucken gesammelt u n d berichtigt [ . . . ] v. FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN, 4 T e i l e in 3
Bden., Leipzig 1838; Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg, hg. v. EDWARD SCHRÖDER, mit einem Nachwort v. LUDWIG WOLFF, Bd. 3: Die Klage der Kunst. Leiche Lieder und Sprüche, Dublin u. Zürich 4 I970; GEORG OBJARTEL: Der Meißner der Jenaer Liederhandschrift. Untersuchungen, Ausgabe, Kommentar, Berlin 1977 (PhStQu 85) (Diss. Bonn 1974). 16
R S M " R e i Z w / i ^ o (ROETHE 50), v. 1; 4; 6; vgl. v. 7; ' M e i ^ / i (OBJARTEL III, 1), v. 8;
vgl. ' J u n g M e i / i / j (PEPERKORN A , I, 5), v. 9. 17
Beispiele vor Frauenlob: R S M 'ReiZw/2/8 (ROETHE 268); 'Lit/i/5 (HMS 2, S. 387ab, 5); 'KonrW/7/8 (SCHRÖDER 32, 106). Die Strophe Konrads kontaminiert die beiden Typen, indem sie mit der für den ersten Beschreibungstyp konstitutiven Konstellation einsetzt und sie in mehrfachem Ansatz in das Modell des zweiten Typs überführt. - Den Begriff der Differenz verwende ich rein formal; in welcher Denkfigur die beiden Seiten der Unterscheidung jeweils konkret relationiert sind (in der der Analogie, des Gegensatzes, der Paradoxie, der kategorialen Ablösung), ist dann erst in einem zweiten Schritt zu fragen.
no
Margreth Egidi
gleich Schauplatz, ihres ohnmächtig erlittenen (und ali Leiderfahrung beschriebenen) Wirkens, dem Herzen des Liebenden. Der deutlichen Trennung von Innen und Außen, auf die auch die Fenstermetapher für die Augen verweist, entspricht die Ausgestaltung des , und schließlich wird das Minnegeschehen als Prozeß der Liebesentstehung in seiner Dynamik aufgefächert. Typische Sprachmittel sind Metaphern des Kampfes und der Beraubung sowie die ausgeprägte Raummetaphorik. Beide Beschreibungstypen lassen die Orientierung Frauenlobs an bereits konventionalisierten Darstellungsmustern besonders klar erkennen, auf die er mit eigenen Lösungen reagiert. Ich kann mich hier auf den zweiten Typus sowie auf eine Strophe im Zarten Ton konzentrieren, mit der Frauenlob sich sehr deutlich an ihn anschließt (RSM 'Frau/5/5; GA VIII,15). 18 Vorgeprägte Darstellungswege - die Konstellation der Gegnerschaft, die Trennung von Innen und Außen, die Entfaltung eines Prozesses — nutzt er in konsequenter und systematischer Weiterfiihrung bis hin zum vollständigen Zerfall des Handlungspersonals und des Geschehens, um Liebe als Widerspruch und unaufgelöste Ambivalenz zu entwerfen. Die Akteure der Handlung erfahren weitere Aufspaltungen {blic, herze, liebe, gelust, minne, Amor), und die Zersplitterung der Einzelinstanzen ermöglicht wiederum die Vervielfältigung antagonistischer Konstellationen: Feindlich zueinander verhalten sich auch am Liebenden wie an der Liebe unterschiedene Aspekte, die indes nur funktional differenziert, nicht kategorial voneinander abgelöst werden und so die Widerspruchsstruktur der Liebe (Harmonie wie Konflikt, Klärungsversuch wie -Verhinderung etc.) in Szene setzen. Zwar ist der Ort der Handlung nicht anders als im Inneren des Liebenden vorstellbar, doch verhindert der Abstraktionsgrad der Darstellung zusammen mit der Selbständigkeit und Heterogenität der Einzelszenen, daß eine konsistente Innenraumvorstellung entsteht - Bildfragmente erinnern an die Darstellungskonvention, nur um sie aufzulösen, und in der dezentrierenden Perspektive gerät die Person des Liebenden als Ganzheit aus dem Blick. Der Minneprozeß zerfällt in Einzelszenen; seine Schilderung inszeniert durch abrupten Perspektivenwechsel und Brechung die Ambivalenz der Liebeserfahrung sowie ihre fundamentale Unverständlichkeit. Einige von Frauenlobs Liedern weisen strukturelle Ähnlichkeiten, die über die Verwendung gängiger Minneprozeßmotivik hinausgeht, sowohl mit dem zweiten Beschreibungstyp in seinen Grundkomponenten wie auch mit deren spezifischer Weiterverarbeitung in Spruchstrophe GA VIII, 15 auf," wobei in den Liedern als (bei Frauenlob eindeutiges) gattungsdifferenzierendes Merkmal die 18
Zu G A VIII,15 vgl. auch CHRISTOPH HUBER; Frauenlob zum Minneprozeß, in:
SCHRÖDER [Anm. 1], S. 151-158, hier 156F.; EGIDI [Anm. 4], KAP. 3.2.2. 19
Vgl. CONZELMANN [Anm. 12], Kap. V.4.3.
Poetik der Unterscheidung: Zu Frauenlobs Liedern
III
Ebene der Ich-Reflexion hinzukommt. Es bedarf keiner Erwähnung, daß die folgenden Beobachtungen nicht im mindesten eine umfassende Analyse der Lieder zu bieten beanspruchen - dann wäre ja überdies der Anschluß an Minnesangtraditionen genauer zu untersuchen. 20 Vielmehr geht es um einen strukturorientierten Zugang, der nach einer (dann auch Unterschiede wieder sichtbar machenden) Vergleichsbasis mit den Minnesprüchen sucht, somit systematischselektiv, notwendigerweise auch verkürzend vorgeht und gewiß vieles, das für die Einzelanalyse von Wichtigkeit wäre, außer acht läßt. Insofern es mir primär um die Logik von Textstrukturen, um literarische Strategien zu tun ist, bleibt ferner die Frage nach — die ich gleichsam als Produkt jener auffasse - sekundär. Vergleichskriterien sind die Konstellationen der Gegnerschaft, die Differenz zwischen Innen und Außen und die Entfaltung des prozeßhaften Geschehens, wobei als Vergleichsobjekt jeweils zuerst die Grundkomponente des Minnespruchtyps bei Autoren vor Frauenlob zur Sprache kommt und dann ihre Weiterfuhrung in Frauenlobs Spruch VIII,15. ι. Von antagonistischen Konstellationen sind insbesondere die Lieder 1, 4, 6 u n d 7 geprägt (GA XIV, 1-5; 16-20; 26-30; 31-35). D a ß das männliche liebende
Ich - analog zum männlichen Part in den erwähnten Minnespruchstrophen die Position des Erleidenden einnimmt, wird im genre subjectif kaum überraschen. Doch ist auch im Rahmen gattungsspezifischer Darstellungskonventionen die Häufung der topischen Kampfmetaphorik, der militia amoris, samt den ihr angelagerten Bereichen der Metaphorik von Herrschaft (Lied 1 und 7), Gefangenschaft (Lied 6) und Tötung (Lied 4) sehr auffällig; das Gewaltsame des Vorgangs wird bei Frauenlob mehr als sonst im Minnesang betont, wird eindrücklicher ins Bild gesetzt, was wiederum an den zweiten Beschreibungstyp der Minnesprüche erinnert. Doch sind die Konstellationen leicht verschoben: Fast stets ist es (dies wieder Minnesang-topisch) die Dame, nicht die Instanz der Minne, die durch ihre sichtbare Schönheit den Leidenden bekämpft, verwundet, besiegt und beherrscht. So macht ein intertextueller Bezug zwischen Lied 7 und der Spruchstrophe VIII.I5 augenfällig, daß die Dame in den Liedern die Systemstelle einnimmt, welche in den Minnesprüchen auf Minne und die Frau aufgeteilt ist, daß sie somit manipulierende Instanz und Medium zugleich ist. In der Eingangsstrophe von Lied 7 klärt Minne den Liebenden über das Erlebte auf: [...] Wan sie ist so creftig ingezoget, / sie hatgehuset und wilsin ein erbevoget [...] (sc. die Dame in der Brust des Ich; XIV,3i,7f.). Ähnlich endet die Spruchstrophe: [...] Amor, der voget, i komt ingezoget (VIII, 15,18f.). Beide Male deutet sich das Bild einer Eroberung an, verbindet sich das Moment des Gewaltsamen mit dem des Rechtmäßigen (der [erbe\voget als legitimer Herrscher). Amor, das ist in der 20
Hierau KÖBELE [Anm. 12], S. 395-399.
112
Margreth Egidi
Spruchstrophe diejenige Instanz, deren W i r k e n die Handlungen aller anderen an der Liebe unterschiedenen und einander b e k ä m p f e n d e n Teilinstanzen
{liebe,
minne, gelusr, hinzu k o m m e n blic und herze des Liebenden) als widersprüchliche Einheit umgreift; dieser Verschmelzung entspricht, daß A m o r als letztgültige Instanz den als Rechtsstreit inszenierten Klärungsversuch der Teilinstanzen verhindert. V o n den Minnesprüchen her gesehen, stellt auch die D a m e in Frauenlobs Liedern das Produkt einer allerdings andersgearteten (Verschmelzung) dar — agierende Instanz und Projektionsfläche in einem - , deren W i r k e n sich das Ich u m so weniger entziehen kann. D i e M i n n e dagegen deckt in den Liedern, obgleich gelegentlich auch als im Hintergrund Regie führende M a c h t angedeutet (vgl. XIV,31,9: nach minem mute), hauptsächlich denjenigen funktionalen Aspekt v o n Liebe ab, der sich in der Ich-Reflexion realisiert, nicht in der erotischen Begegnung, nicht in der visionären Schau: M i n n e ist also anders als in den Sprüc h e n nicht primär die dem Liebenden Schaden zufügende G e g n e r i n , sondern tritt (zumindest scheinbar) distanziert-überparteilich a u f (daß sie dies letztendlich nicht ist, versteht sich, da das Ich sich nicht aus seiner Verstrickung lösen kann); sie kommentiert und erläutert, was geschehen ist, zumal dort, w o sie v o m Ich in ein Gespräch verwickelt wird (in Lied 5 und besonders in Lied 7). Konstellationen der Gegnerschaft werden indes - in Entsprechung zu Frauenlobs Verarbeitung der tradierten Muster in V I I I , 15 - in den Liedern z . T . noch weitergeführt: D i e weitergehende Aufspaltung der Akteure und der K o n f l i k t der so entstehenden Teilinstanzen untereinander findet sich, vergleichbar mit der Spruchstrophe, auch in Lied 1 und 7, trifft aber hier, anders als dort, 2 1 nur den Liebenden. 2 2 In Lied 7 helfen mut und herze der D a m e gegen das liebende Ich (XIV,32,4-6), in Lied 1 findet eine Verschiebung des Antagonismus statt: N a c h der Beschreibung von Besiegung und Herrschaft durch die D a m e (Str. 1 und 2) verlagert sich dies z u m im Streitgespräch vorgeführten K o n f l i k t zwischen mut (und sinnen) und d e m Ich (Str. 3-5); damit geht der W e c h s e l von der K a m p f metaphorik zur M e t a p h e r der Beraubung einher (XIV,5,7 und 14), was ein M o m e n t des Betrügerischen und U n r e c h t m ä ß i g e n impliziert. Gerade an diesem T e x t lassen sich a u f der Basis v o n Strukturparallelen gattungstypische Differenzen zwischen Lied und Spruch präziser bestimmen, w o f ü r ich a u f die Ergebnisse SUSANNE KÖBELES zurückgreifen kann: 23 D i e Unterscheidung v o n Teilinstanzen, In VIII,15 sind sowohl die am Liebenden wie die an der Liebe unterschiedenen Teilinstanzen in Konflikte involviert. Daß in den Liedern nur erstere {mut, herze, sinne etc. vs. ) betroffen sind, paßt wiederum zu der andersgelagerten Verteilung der Funktionen von Minne und Dame (s.o.). 21
Etwas anders die Differenzierung der Ich-Aspekte in Lied 6 (XIV,28,1 f.), die sich nicht begrifflich niederschlägt (ich - mich I min - da heime), s. weiter unten. 22
23
KÖBELE [ A n m . 12], bes. S. 391-393 u. 406 f.
Poetik der Unterscheidung: Zu Frauenlobs Liedern
113
im Lied a u f das Ich bezogen, wird ins Extrem weitergeführt bis zur Darstellung der vollständigen Desintegration der Person und des Ich-Verlustes, der über den Streitgesprächsrahmen Schritt für Schritt entfaltet wird. Z u g l e i c h formuliert ein Ich, dessen einzelne T e i l e nicht mehr miteinander vermittelt sind, Anspruch auf Selbstbestimmtheit. D a s Verfahren der Zerteilung und Zersplitterung erreicht hier also auch die Ebene der Ich-Reflexion und erhält dadurch eine zusätzliche Dimension. 2. A u c h die Innen-Außen-Differenz ist für die Lieder 1, 4, 6 und 7 zentral. In d e n meisten Beispielen artikuliert sie sich in der B e w e g u n g , mit welcher das Eindringen der Geliebten bzw. des Glanzes, der von ihrer Schönheit ausgeht, durch die A u g e n a u f der geradewegs ins H e r z f ü h r e n d e n Straße geschildert wird; 24 hinzu k o m m t die in Lied 7 phantasierte U m k e h r u n g (kom ich der lieben in ir herzen closen·, nnotzúorie.n zunächst an den Rand gedrängt: durch die Vorstellung der Schau der Schönheit aus der Distanz heraus. Andererseits wird das Gartenmotiv jedoch mit dem Motiv des Blickwechsels kontaminiert, mit dem Moment der B l i c k b e w e g u n g der Dame (wohingegen in Strophe 2 nur vom Blick des Liebenden die Rede war). Dieses Erlebnis, der Gegenblick als Produkt der Imagination, sei es aus der Erinnerung oder aus dem Wunsch ent40
Bei Frauenlob als formelhaftes Preismotiv noch öfter: Minneleich, G A III,8,1; R S M
' F r a u ^ / i o ( G A VIII,16), v. 15; eine ausführlichere Parallele zu Lied 3 (insbesondere zu X I V , 1 3 , 7 - 9 ) ¡ s t R S M ' F r a u / î / î é ( G A V.ioi), v. 1 - 5 (allerdings in unvollständiger Überlieferung).
ιι8
Margreth Egidi
standen, ist abgeschlossen und als solches nicht mehr wiederholbar: ach, müste ich den garten schouwen aber als e, klagt das Ich (v. 10), während das immer me von Vers 3 im Modus des {sani) verbleibt. Dies ganz im Gegensatz zur Liebesqual, die als Produkt von Verinnerlichung Kontinuität besitzt und nicht abschließbar ist (s.o.). Wie in Strophe 2 geht der Hervorhebung des Leidens (v. 6 in Parallele zu v. 8 in Str. 2) das Blumenmotiv voraus, das bei differierender Einbindung durch deutliche Responsion parallelisiert ist (XIV,12,5 und 13,5: der blumen zarten", bluten uz so zartem erze). Mit dem Blumentopos und mit weiteren Einzelelementen wird die Bildlichkeit aus der vorausgehenden Strophe in einer etwas anderen Richtung weiter ausgebaut. Dabei bleibt die mit der Allegorese der Blume eröffnete und in späteren Minneallegorien breit entfaltete Möglichkeit einer zusätzlichen Sinndimension im Hintergrund auch hier präsent (etwa mit dem angedeuteten Motiv der Uneinnehmbarkeit der belagerten Burg fur die Unnahbarkeit der Dame), ohne daß die für Allegorien charakteristische Homogenität erreicht wird: Vielmehr ist die Brüchigkeit gegenüber Strophe 2 noch gesteigert, und damit auch der Eindruck der Artifizialität: Die einzelnen Bild-Bruchstücke des Gartens, der hoch darüber leuchtenden beiden Sonnen, der Lilien und Rosen, der erzenen Festung, aus der sie hervorwachsen, zumal das Oxymoron des , lassen kein konsistentes Gesamtgemälde entstehen. Sicher kann man aus ihnen die Versatzstücke eines topischen Schönheitspreises herauslesen, doch ist das Bild-Ensemble gerade a u f g r u n d seiner Fragmentarizität suggestiv genug, daß es andererseits auch das sichtbare Äußere der Dame, wie es mit den gängigen Topoi des Schönheitspreises komponiert werden könnte (leuchtende Augen, Lilien- und Rosenfarbe, keuscher Leib ...) nicht wirklich entstehen läßt. Das Verfahren erinnert an die von K A R L S T A C K M A N N beschriebene Struktur einer Spruchstrophe Frauenlobs (RSM 2Frau/5/2 = GA VIII,26; der auf Konrad von Würzburg), in der drei ebenfalls nur angedeutete, auf einige reduzierte und miteinander verzahnte und ; ebd.). Schließlich: Aus der selbstverständlich zutreffenden Beobachtung, daß in Frauenlobs Liedern kein Analogieverhältnis zwischen Innen und Außen entworfen wird (S. 289; in seinen ermahnenden Minnesprüchen aber im übrigen durchaus!), läßt sich keineswegs ableiten, daß dies auch für die ganz andere Ebene der Relationierung religiöser und weltlicher Liebessprache zuträfe. 46 Die Terminologie ist — unschwer zu erkennen - systemtheoretischer Provenienz; zum re-entry. N I K L A S LUHMANN: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie,
121
Poetik der Unterscheidung: Zu Frauenlobs Liedern
enlob die in der Introspexion des Liebenden entstehende, sich ausdifferenzierende Welt in anderen Liedern durch das Verfahren der Zersplitterung in verschiedene Teilinstanzen des Inneren und ein darstellt, das in der Rexflexion auf sich selbst vergebens immer noch die eine übergeordnete, bestimmende Instanz zu sein behauptet, gestaltet sie sich hier durch die Verdoppelung der Unterscheidung, die das Innere, solchermaßen nurmehr die einzige in den Blick kommende Dimension, selbst betrifft. 47 Dies geschieht, indem Frauenlob das Bild des Gartens mit seiner Option der Seelenraumdarstellung wählt und zugleich die Innenraummetaphorik eine Leerstelle bleibt, ferner aber auch durch konkrete Innen-Außen-Implikationen der Bildverwendung: der Garten als G e genüber), die Liebesbegegnung i m Garten, die ins Innere
hineingeholte
.48 Der Komplizierung der Innen-Außen-Relation entspricht im übrigen die Logik, nach welcher das dem Garten angetane Leid das eigene ist (XIV,12,10 und 8), der aktive Raub der Blume sich in die Gabe an das Ich, in passives Empfangen, verwandelt (XIV,12,5 und XIV,13,6 f.) und die Freude, die dem Ich widerfuhr, zugleich als daz kummer tragende we erlitten wird (Parallelisierung von X I V , 1 2 , 1 und X I V , 13,6f.: mir wart [...]; schach mir
do wart mir gegeben [...];
daz ge-
[...]).49
D i e beiden abschließenden Strophen von Lied 3 bestätigen den Deutungsansatz ex negativo. Sie beenden den Akt der Imagination erträumten oder erinnerten Geschehens und heben zugleich damit die zweite Differenz zwischen Innen und Außen wieder auf. In Strophe 4 (XIV,14) spricht zwar weiterhin ein liebendes Ich, aber nicht im Zustand der Selbstversunkenheit, vielmehr wendet es sich Frankfurt a. M. 7I9 in Johanns von Neumarkt Privatgebetssammlung von Christoph Fasbender (Jena)
I. Die sowohl
in d e r A u s g a b e L U D W I G E T T M Ü L L E R S
als a u c h
der KARL
STACK-
1
MANNS und KARL BERTAUS den Langen T o n Frauenlobs eröffnende Spruchstrophe -
sein sog. 2 - beschließt eine ihrem literaturgeschichtlichen
Gewicht nach unterschiedlich beurteilte Rubrik. JOSEPH KLAPPER machte sie zuerst publik 3 ; die Göttinger Ausgabe ( G A ) verzeichnete sie im Apparat (zu V , i ) . Ich rufe ihren Text noch einmal in Erinnerung: Amen Das leczst gebet czu vnsers herren lichnam · hatt gemachet Meister heinrich
frowen-
lob an sinem leczsten end Jn der stunden Als im der Erczbiscboff czu menez Gottes lichnam mitt sinen henden gab vnd hatt es gesprochen jn angesicht des · helgen lichnamen vnd habent an der selben stat der egenant Erczbischoff czû menez vnd mitt im Sechs vnd czwenczig Bischoff jetlicher xl tag · Apios geben Einem jetlichen der das selb gebet
Andechtiklich
sprichet (GA II, S. 72of.). D i e Herausgeber legten dem Abdruck dieser Subskription die St. Galler H a n d schrift 985 (G, S. 38o b ) zugrunde und gaben dazu die Varianten der Handschrift U B Basel Α . X . 138 (o). 4 G , auf S. 85 auf 1 4 6 7 datiert, entstammt einem Besitz1
Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder, hg. v. KARL STACK-
MANN u. KARL BERTAU, 2 Bde., Göttingen 1981 (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Philol.-hist. KL., 3. Folge, Nr. 119/120). 2
So zuerst JOSEPH KLAPPER: Frauenlobfragmente, in: Fs. f. Theodor Siebs, hg. v.
WALTHER STELLER, Breslau 1933 (Germanische Abhandlungen 67), S. 69-88, hier S. 87; wieder in J. K.: Schriften Johanns von Neumarkt. IV: Gebete des Hofkanzlers und des Prager Kulturkreises, Berlin 1935 (Vom Mittelalter zur Reformation VI/4), S. X I V . 3
KLAPPER [Anm. 2], S. 88; erneuter Abdruck in J . K.: Johann von Neumarkt. Bischof
und Hofkanzler. Religiöse Frührenaissance in Böhmen zur Zeit Kaiser Karls IV., Leipzig 1964 (Erfurter Theologische Studien 17), S. 166. ETTMÜLLER kannte die Subskription noch nicht (vgl. S. 32 und S. 292). 4
Ich stelle die Abweichungen noch einmal zusammen: leczst G ] leezste o; czu] ist zu;
hatt] vnd hat; gemachet] gemacht; stunden] stunde; im] in; lichnamen] lichnams; czwenczig] zweinezig; Bischofi] byschoff; jetlicher] ieldicher; xl] vierezig; geben] gegeben; An-
126
Christoph Fasbender
eintrag (S.7) zufolge dem Freiburger Klarissenkloster; o, dessen zweiter Teil 1436 entstand5, gehörte vielleicht dem örtlichen Dominikanerkloster6, doch scheint mit Blick auf den weiteren Inhalt Herkunft aus einem Frauenkloster näher zu liegen. Beide Handschriften entstanden also im 15. Jahrhundert im Südwesten, und beide überliefern aus dem Œuvre Frauenlobs lediglich das sog. (Sterbegebet). Allein die Frauenlob-Strophe, nicht aber die Subskription bieten auch die zwischen 1425 und 1428 von Nikolaus von Oberglogau angelegte Handschrift I O 9 der Biblioteka Uniwersytecka Wroclaw (f. 109*) aus der Zisterze Räuden 7 (Sigle Β der G A ) sowie die ältere, 1380 von Jodocus de Werona (d. i. Beroun westlich von Prag) in Nürnberg angefertigte Kopie (London, B M Add. Msc. 15690; vgl. G A , S. 65). Im folgenden werde ich einen Vorschlag zur Klärung der Textgeschichte der Notiz machen vor dem Hintergrund einer bisher unbekannten Überlieferung — nicht des , sondern allein seiner Subskription. Allerdings verdient die Versicherung, daß das Aufsagen einer Spruchstrophe dem Rezitierenden Ablaß beschere, eine besondere Überprüfung. Mit der Erhellung ihrer Herkunft
dechtiklich] andechtiklichen. Die Schreibsprache beider Handschriften wurden in der G A zurecht als «alemannisch» beurteilt (vgl. S. 50 und 8o), doch erweist sich G zumal in der Deklination als konservativer. 5 KARL STACKMANN in seiner Kurzbeschreibung der Baseler Handschrift: «Der zweite Teil [...] ist durch eine Subskription [...] auf das Jahr 1436 datiert. Die beiden andern Teile dürften der gleichen Zeit entstammen, zumindest steht einer solchen Annahme keine mir zugängliche Tatsache im Wege» (GA I, S. 80). 6 So vermutete GUSTAV BINZ: Die deutschen Handschriften der OefFentlichen Bibliothek der Universität Basel, Bd. i, Basel 1907, S. 264-266 («Predigerkloster?»); die Einschätzung wurde in die G A übernommen (S. 80). Vgl. PHILIPP SCHMIDT: Die Bibliothek des Dominikanerklosters in Basel, in: Basler Zs. für Geschichte 18 (1919), S. 173. KLAPPER [Anm. 2] erwog, daß die Handschrift «auf eine Kartause» - nämlich die Kleinbasler - zurückgehe (S. 42), was sich indes nicht belegen läßt. 7
Vgl. KLAPPER [Anm. 2], S. 45. Zum verwickelten Stand der Forschungen zu Schreiber und Handschrift jetzt DIETER VELDTRUP: Probleme um Nikolaus von Oberglogau, in: Die Anfange des Schrifttums in Oberschlesien bis zum Frühhumanismus. Im Auftrag der Stiftung Haus Oberschlesien hg. v. GERHARD KOSELLEK, Frankfurt a. M. [u. a.] 1997 (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien 7), S. 85—116, zur Hs. bes. S. 90f. VELDTRUP betachtet die Handschriften des Nikolaus m. E. zu Recht als Auftragsarbeiten (so bes. S. 104 und 116). Allerdings müßte Β (I O 9) fur ein Frauenkloster oder, besser noch, für den individuellen Gebrauch einer Schwester angefertigt worden sein. Darauf deuten Format (15,5 X 10,5 cm), Ausstattung und die Tatsache, daß die übrigen auf Nikolaus zurückgehenden Codices ausschließlich lateinische Texte enthalten.
geht zunächst von der Heidelberger Handschrift H (Cpg 14) aus, da sie mit ihrer Bebilderung das aussagekräftigste Überlieferungszeugnis darstellt. Die übrigen Handschriften bleiben jedoch mit ihren jeweiligen Besonderheiten (Koppelung von (Der meide kranz> an Mügelns Spruchwerk im Überlieferungskontext von G; Kürzungsmaßnahmen und Tilgung autorspezifischer Bezüge in WL) stets mit im Blick. Der Text wird nach JAHRS Edition [Anm. 1] zitiert.
posterioris latina ι), 2., durchges. Aufl. mit Ergänzungen und Berichtigungen zur 1. Aufl., Göttingen 1969, Nr. 7263, S. 365 u. S. 1255, Nr. 7273, S. 366; Proverbia sententiaeque latinitatis medii aevi. Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters in alphabetischer Anordnung, gesammelt u. hg. v. HANS WALTHER, 5 Bde. u. Reg.-Bd., Göttingen 1963-69 (Carmina medii aevi posterioris latina 2, 1-6), Bd. 2, Nr. 10354, S. 2 4 2 (danach Zitat); ERNST ROBERT CURTIUS: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, 10. Aufl., Bern u. München 1984, S. 47; PALÉMON GLORIEUX: La Faculté des arts et ses maîtres au XIII e siècle, Paris 1971 (Études de philosophie médiévale 59), S. 15. " Gegen die Annahme in JAHRS Edition [Anm. 1], S. 85, § 327, mit S. 97f., § 356 u.
S 357. 3· 20
Vgl. unten S. 194.
Die Artes-Dichtungen Heinrichs von Mügeln
183
D a ß Alans um 1182/83 entstandenes Hexameterepos ein wichtiges Modell für darstellt, ist eine in der MügelnForschung bekannte Tatsache. 21 Die für Mügeln charakteristischen Abwandlungen des Erzählmusters zeigen sich beispielsweise darin, daß das von Alanus übernommene Wagenbau-Motiv hier nicht den Artes liberales, sondern den personifizierten Tugenden zugeteilt wird. Diese stellen das Fahrzeug her und reisen damit zum Palast der Natura (, w . 1087-1183). W a s die freien Künste angeht, so treten diese zusammen mit fünf weiteren Fächern - der Philosophie, Medizin, Alchemie, Metaphysik und Theologie — im Artes-Wettstreit von Buch I auf. Das allegorische Erscheinungsbild der freien Künste ist ebenfalls der Alanus-Tradition verpflichtet, doch wirkt hier neben dem die Summarien-Literatur mit Texten wie dem (Compendium Anticlaudiani) (Niederösterreich, 2. Hälfte des 13. Jhs.) 2 2 nach. Für die Disqualifizierung der Artes gegenüber der Theologie steht vielleicht der Alanus zugeschriebene Modell, der die Unzulänglichkeit der sieben freien Künste gegenüber dem Inkarnationsgeschehen zum T h e m a hat und dessen Nachwirkung in der böhmischen Hymnentradition des 14. Jahrhunderts belegt ist.23 21 Alain de Lille: Anticlaudianus, hg. v. ROBERT BOSSUAT, Paris 1955 (Textes philosophiques du Moyen Age ι). - Vgl. HELM [Anm. 12]; HUBER, Die Aufnahme [Anm. 1], bes. S. 304-313; ULRICH KREWITT: Natura, artes, virtutes und Inkarnation. Zum cAnticlaudianus> Alans von Lille in mittelhochdeutschen Texten, in: Dialog (Fs. f. Siegfried Grosse), hg. v. GERT RICKHEIT u. SIGURD WICHTER, Tübingen 1990, S. 25-42, hier S. 35-40; VoLFiNG [Anm. 1], S. 8 u. passim. 22
Ausgabe nach fünf ausgewählten Handschriften von PETER OCHSENBEIN: Das Compendium Anticlaudiani. Eine neu entdeckte Vorlage Heinrichs von Neustadt, in: Z f d A 98 (1969), S. 81-109; Ergänzungen von HARALD FUCHS in: Z f d A 99 (1970), S. 259-264. Vgl. ferner PETER OCHSENBEIN: Compendium Anticlaudiani, in: 2 V L 2 (1980), Sp. 2-4; HUBER, Die Aufnahme [Anm. 1], bes. S. 203-213. 23
Ausgaben: MIGNE PL 210, Sp. 577-580; Lieder und Motetten des Mittelalters, Bd. 1: Cantiones Natalitiae, Partheniae, hg. v. GUIDO MARIA DREVES, Leipzig 1895 (Analecta Hymnica 20), Nr. 9, S. 42; MARIE-THÉRÈSE D'ALVERNY: Alain de Lille et la , in: L'Homme devant Dieu. Mélanges offerts au Père Henri de Lubac, Paris 1964, Bd. 2 (Théologie 57), S. 111-128, hier S. 126-128. Vgl. dazu: Initia carminum [Anm. 18], Nr. 6042, S. 304 u. S. 1246; HENRI DE LUBAC: Exégèse médiévale. Les quatre sens de l'écriture, Bd. 2,1, Paris 1961 (Théologie 42), S. 91-95; Alain de Lille, Textes inédits. Avec une introduction sur sa vie et ses œuvres, hg. v. MARIE-THÉRÈSE D'ALVERNY, Paris 1965 (Études de philosophie médiévale 52), S. 37-39; JOSEPH SZÔVÉRFFY: Die Annalen der lateinischen Hymnendichtung. Ein Handbuch, Bd. 2: Die lateinischen Hymnen vom Ende des II. Jahrhunderts bis zum Ausgang des Mittelalters, Berlin 1965 (Die lyrische Dichtung des Mittelalters), S. 153-155, 282f.; JAN ZIOLKOWSKI: Alan of Lille's Grammar of Sex. The
Michael Stolz
I84
Ich gebe im folgenden einen Überblick zur Darstellung der sieben freien Künste in . Ergänzend werden die zugehörigen Miniaturen der Heidelberger Handschrift und der Quellenhintergrund (; K o m pendium Anticlaudiani>) berücksichtigt: 24 Grammatica nährt Kinder an ihrer Brust (, w . 1 7 1 - 1 7 4 ) . • Entsprechend die Miniatur in C p g 14, Bl. 5V. • Vgl. II, w . 392-398; (Compendium Anticlaudiani>, Z. 160-164. Logica, bleich und mager, hält Schlange und T a u b e in Händen w . 221-224).
(,
• Attribute entsprechend in C p g 14, Bl. 7Γ. • Vgl. III, w . 12-16; (Compendium Antidaudiani>, Z . 1 6 6 168 (nur hier die Attribute von Schlange und Taube nach M t 10,16). • [Das strähnig herabfallende Haar in C p g 14, Bl. 7r, wohl nach III, v. i7f.; «Compendium Anticlaudiani>, Z . 167.] Rhetorica trägt ein lasurblaues, mit goldenen Blumen besticktes Kleid (, w . 271-276). • Blaues, ornamentloses Kleid; Redegeste in C p g 14, Bl. 8v. • Vgl. III, w . 1 6 6 - 1 6 9 (buntes Kleid); «Compendium Anticlaudiani>, Z . I74f. (rhetorischer Glanz). Meaning of Grammar to a Twelfth-Century Intellectual, Cambridge (Mass.) 1985 (Speculum Anniversary Monographs 10), S. 135-137. Zur Rezeption im böhmischen Raum JOSEPH SZÔVÉRFFY: Alain de Lille et la tradition tchèque. Notes d'hymnologie médiévale, in: Études d'histoire littéraire et doctrinale 17 (196z), S. 239-258, Nachdruck in: ders., Religious Lyrics of the Middle Ages. Hymnological Studies and Collected Essays (Medieval Classics. Texts and Studies 15), Berlin 1983, S. 76-95. Im Zusammenhang mit HUBER, Die Aufnahme [Anm. ι], S. 260, 392; MICHAEL STOLZ: Maria und die Artes liberales. Aspekte einer mittelalterlichen Zuordnung, in: Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte. 10.-18. Jahrhundert, hg. v. CLAUDIA OPITZ, HEDWIG RÖCKELEIN, GABRIELA SIGNORI U. GUY P. MARCHAL, Z ü r i c h 1993 (Clio Lucernensis
2), S. 95-120, hier S. ioof.; VOLFING [Anm. 1], S. 36. 24 Vgl. dazu auch die Hinweise bei FRÜHMORGEN-Voss [Anm. 5]; JUTTA TEZMENSIEGEL: Die Darstellungen der Septem artes liberales in der Bildenden Kunst als Rezeption der Lehrplangeschichte, München 1985 (tuduv-Studien. Reihe Kunstgeschichte 14), S. i}6f.; VOLFING [Anm. 1] in den entsprechenden Kommentar-Abschnitten, dort auch Abbildungen der Miniaturen aus der Heidelberger Handschrift.
Die Artes-Dichtungen Heinrichs von Mügeln
185
• [Die Redegeste in Cpg 14, Bl. ηχ, vielleicht nach , Z. 183 (dort jeweils mit der Bezeichnung cithara). Arithmetica bleibt ohne besondere Attribute (, v. 319F.). • Rechenbrett in Cpg 14, Bl. iiv. • Vgl. III, v. 288 {mensa Pyctagore)·, kein Attribut im «Compendium Anticlaudiani». Geometria trägt einen Maßstab aus Gold (, v.
37if.).
• Zwei gelb-braune Stäbe unterschiedlicher Größe in Cpg 14, Bl. i3r. • Vgl. III, v. 477 {virgam uirgogerif, keine Materialangabe); «Compendium Anticlaudiani», Z. 188 (calamus aureus similis virgè). Astronomia tritt in einem sternenbesetzten Kleid auf («MK», v. 469-472). • Roter, ornamentloser Umhang, dunkelgrünes Kleid; Attribut: Quadrant mit Senkblei in Cpg 14, Bl. 14V. • Vgl. zum Sternenkleid IV, v. i5f.; das verkürzte -Zitat auch in «Compendium Anticlaudiani», Z. 193. • [Der Quadrant in Cpg 14, Bl. 14V, vielleicht nach Martianus Capellas «De nuptiis Philologiae et Mercurii», VIII, 811 (cub italis mensura).25] Bemerkenswert ist, daß in den Heidelberger Miniaturen mit Ausnahme der Grammatik alle Personifikationen eine Krone tragen. Dieser Darstellungsweise folgen auch die übrigen, außerhalb der «Anticlaudian»-Tradition stehenden Wissenschaften: Philosophia, die ein Gebäude (eine aula mundiì) trägt (Bl. 4O;26 Physica, die zwischen einem jungen Mann und einem in Tücher gewickelten Leichnam steht (Bl. i6r);27 Alchimia mit Farbpaletten (?) in Händen (Bl. 17V);28 25
Vgl. Martianus Capeila, hg. v. JAMES W I L L I S , Leipzig 1983 (Bibliotheca Teubneriana), S. 307: gestabat in manu cubitalemfitlgentemquemensuram. 26 Vgl. zum Bildmotiv, das mit Mügelns Text (, v. 161: bus) korreliert, V O L F I N G [Anm. 1], S. 55 f. 27 Nach , v. 520 f. (das leben truk ir rechte hant, I die linke hant die truk den tot); v g l . V O L F I N G [ A n m . 1], S . 1 4 6 . 28
Vgl. etwa , v. 591 (die färben 1er ich dich von erst).
Michael Stolz
ι86
Metaphysica mit dem Bild einer Halbfigur, in deren Gesicht sie facie ad faciem blickt (Bl. i9r); 29 Theologia mit einem Lamm im Schoß (Bl. 20V). 3 0 Die Künste und Wissenschaften treten bildlich als Herrscherinnen in Erscheinung, während das Privileg der Krönung in Mügelns Text allein der Theologie zukommt (vgl. , w . 7 4 5 - 7 4 8 ; 1349—1353). Dem monarchischen Habitus der ArtesMiniaturen korrespondiert die einleitende Bildszene, die Karl IV. in Herrscherpose zeigt (Bl. 2v): Der Kaiser sitzt auf einem Thron, trägt Krone, Mantel, Szepter, Reichsapfel und wird von den noch ungekrönten Künsten umringt, die sich in Dreiergruppen um ihn scharen. Bereits die in den Text-Bild-Bezügen der Heidelberger Handschrift effektvoll zum Ausdruck gebrachte Szenerie läßt erkennen, daß zentrale Stoffe des Mügeln'schen Spruchwerks in eine Rahmenhandlung einbindet. In der Tat beinhaltet das Reimpaargedicht Themen, die sich teilweise mit wörtlichen Anklängen auch im Spruchwerk finden, so namentlich aus den Bereichen Frömmigkeit und Tugendlehre, Herrscherpreis und Fürstenparänese, Naturphilosophie und Naturwissenschaft bis hin zum Aufweis eines astrologischen Determinismus im Wirken der Tierkreiszeichen. 31 Ebenso wie in handelt Mügeln die Artes liberales mit einer für das Spätmittelalter typischen Facherweiterung32 auch in einschlägigen Spruchzyklen ab. Die Verflechtung zwischen und dem Spruchwerk wäre in ihrer Eigenart näher zu bestimmen. Es fragt sich, ob hier ein synchrones Nebeneinander oder ein diachrones Nacheinander vorliegt, ob sich gegebenenfalls eine relative Chronologie zwischen dem Spruchwerk und der allegorischen Reimpaardichtung erstellen läßt. Daß solche Überlegungen durchaus berechtigt sind, zeigt ein Blick auf die Eröffnung von Buch I in . Hier wird die Bezugnahme auf ein 29
Vielleicht eine Reminiszenz an den nach I Cor 13,12 gestalteten Darstellungstyp der
Philosophie bzw. Theologie, der in Handschriften aus der Mitte des 15. Jahrhunderts begegnet. Vgl. etwa die Handschrift London, Wellcome Institute for the History of Medicine, Ms. 49, Bl. 69V, oder das Adligat Salzburg, Universitätsbibliothek, Ms. M III 36, Bl. 243r. Z u blaß bleibt der Kommentar bei VOLFING [Anm. 1], S. 168, Anm. 12. 30
Das Lamm mit sieben Hörnern nach Ape 5,6 wird auch im zugehörigen Theologie-
Abschnitt (, v. 67of.) erwähnt; vgl. die Hinweise bei TEZMEN-SIEGEL [Anm. 24], S. 137; VOLFING [Anm. 1], S. 175. 31
Nachweise im Kommentar von VOLFING [Anm. 1].
32
Vgl. dazu z. B . HEINRICH ROOS: Le Trivium
à l'université au XlIIe siècle, in: Arts li-
béraux et philosophie au Moyen Âge. Actes du quatrième congrès international de philosophie médiévale. Université de Montréal, Montréal, Canada, 27 août - 2 septembre 1967, Montréal u. Paris 1 9 6 9 , S. 193-197; PEARL KIBRE: T h e Quadrivium teenth Century Universities (with special reference to Paris), ebd., S. 1 7 5 - 1 9 1 .
in the Thir-
Die Artes-Dichtungen Heinrichs von Mügeln
187
vorausliegendes Œuvre ja immerhin deutlich: In Berufung auf die meister spricht sich der Dichter dagegen aus, stets nach alder ban zu verfahren (v. 78), und betont, er wolle uf den Spruch ein nüwes ticht (v. 81) vortragen. Der Ausdruck Spruch könnte auf das eben angeführte Dictum der meister verweisen. 33 Doch wäre uf den Spruch auch verstehbar als: , des Alexander von VillaDei, ist ediert in: Rara Mathematica, hg. v. JAMES ORCHARD HALLIWELL, London 1841, Nachdr. Hildesheim u. New York 1977, S. 73-83; der «Algorismus vulgaris» des Johannes de Sacrobosco ebd., S. 1-26 (unter dem Titel (Tractatus de Arte Numerando), sowie in: Petri Philomeni de Dacia in Algorismum vulgarem Johannis de Sacrobosco Commentarius, hg. v. MAXIMILIAN CURTZE, Kopenhagen 1897, S. 1-19. - Auf Prosa- und Versformen der arithmetischen Handbücher verweist auch IV, 2, wenn es heißt, die Rechenkunst würde ihre Themen in prosa atque metrice behandeln (v. 2).
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Michael Stolz
praktische Anwendbarkeit der Arithmetik in den Blick: Unentbehrlich sei die Rechenkunst beim Handelsverkehr mit den Kaufleuten, die poetisch als der Straßen marner umschrieben werden (v. 8). Doch bahne sie auch den Weg zu wissenschaftlichen Nachbardisziplinen wie der Astronomie: die Straßen sie zu mancher künste rumet, / wer sie in herzen grufi nicht treit / der ist astronomien gar versumet (w. 12-14). Wie bei der für alle Sprachen gültigen Rhetorik wird ein universaler Geltungsanspruch laut, wenn es heißt: ein ieglich kunst die treit ir cleit (v. 11). Ihre Bedeutung gewinnt die Arithmetik aus der zahlbezogenen Ordnung des Kosmos (nach Sap 11, 21); dafür stehen am Strophenschluß Gelehrte wie der später genannte Stammvater Pythagoras ein: ein ieglich ding ist undertan der zal, sagen die wisen (v. 15).58 Mügelns «Der meide kranz> fügt die auf den Zahlen beruhende Wichtigkeit der Arithmetik in die Situation des allegorischen Wettstreits ein. Dabei finden sich einige mit 4 nahezu wörtlich übereinstimmende Verse, so etwa am Beginn der Rede mit den Worten: ein iglich kunst die treit min cleit (v. 321, vgl. 4, v. 11), oder später mit dem zum Paarreim erweiterten Lehrsatz von der Monade: eins ist kein zal, wißt ane wank / doch ist es zal ein anefank (v. 337^, vgl. , v. 4). Hierauf folgt eine umfängliche Zahlenlehre zur series numerorum,59 die in ihrer zentralen Plazierung, ihrem Umfang und paradigmatischen Stellenwert der Musterrede von Rhetorica gleichkommt ( w . 339-353). Am Ende dieses Abschnitts werden die vier Grundrechenarten der Multiplikation, Division, Addition und Subtraktion aufgeführt: tneren [...] / ich teil, ich zu und abe tu (v. 352f.). Die übrigen Sektionen der Selbstdarstellung sind dem arithmetischen Geltungsanspruch in den Bereichen der Wissenschaft, der Natur, des Handels und selbst der Theologie gewidmet. Wie 4 am Beispiel der Astronomie, so zeigt der entsprechende Abschnitt in die Bedeutung der Zahl für ihre Schwesterdisziplinen auf (w. 323-330): So beruhe die Grammatik auf Buchstaben, die Logik auf (wohl den Beweisverfahren und syllogistischen Schlüssen), die Rhetorik auf , die Musik auf Noten, die Geometrie auf Punkten, die Astrologie (!) auf Ziffern. 60 Die Erwähnung der Sternkunde leitet über zur Lehre von der zahlenmäßigen Ordnung des Kosmos (w. 331-334: des himmels stern und meres griß ...), 6 1 der sich die Ausführungen zur Monade " Ähnlich Isidor von Sevilla, Etymologiae [Anm. 40], III, 4, 4: Tolle numerum in rebus omnibus, et omnia pereunP, dazu auch VOLFING [Anm. 1], S. 107. " Vgl. die ausfuhrliche Kommentierung bei VOLFING [Anm. 1], S. 109-111.
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Vgl. z.B. Isidor von Sevilla, Etymologiae [Anm. 40], III,1,2: Musica autem et Geometria et Astronomia, quae sequuntur, ut sint atque subsistant istius egent auxilium (nach Boethius, hier S. 324; vgl. auch KÖBELE, Umbesetzungen [Anm. 2], S . 213. 5 STACKMANN [Anm. 4], S. 324-339. Eine Übersicht über die Minnesprüche und Minnelieder findet sich ebd., S. 325. 6 Zitiert wird nach: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Erste Abteilung: Die Spruchsammlung des Göttinger Cod. Philos. 21, 3 Teilbde., hg. v. KARL STACKMANN, Berlin 1959 ( D T M 50-52). Strophen- und Verszählungen richten sich im folgenden nach dem kritischen Text dieser Ausgabe. Die Zählung der Lieder folgt der Übersicht bei STACKMANN [ A n m . 4], S . 325. 7 Anders Frauenlob, der Spruch und Lied deutlicher profiliert. Vgl. WACHINGER [Anm. 2], S. 148. Zum grundsätzlichen Problem der Abgrenzung von Lied und Spruch vgl.
Mim Itbens amm - Zur Minnekonzeption in Liedern Heinrichs von Mügeln
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nelehre der Sprüche in Frauenpreis und Klage als konstitutive Elemente des Liedes übergehen (z.B. Str. 215-217), und andererseits münden die Lieder mitunter in Didaxe, indem sie etwa vor swacher tninne warnen (ζ. B. Str. 386,14-16) oder sie zeigen über Metaphern aus der geistlichen Naturallegorese jenen gelehrten Ornat (ζ. B. Str. 393—395), der tendenziell eher Sangsprüchen eignet.8 Es handelt sich daher um Übergangsformen, die nur eine heuristische Differenzierung in Minnelieder und Minnesprüche erlauben.9 Ich möchte sie - nach diesen Vorüberlegungen - im Anschluß an K A R L beibehalten und mich im folgenden auf jene acht dreistrophigen Lieder beziehen, die in der Göttinger Mügeln-Handschrift als 16. Buch erscheinen und mit folgender Prosaüberschrift versehen sind: Hie wil der meister leren, wie alle vorrede gegen dem Meyen, gegen dem Somer, gegen dem wintter setzen vnd blumen sal, wer von der mynne ticktet. Hiernach handelt es sich um Mustertexte des Meisters Heinrich für denjenigen, der von Minne dichten will: Wer sich darin versucht, soll belehrt werden, wie Natureingänge zu verfassen sind. Unter der Voraussetzung, daß Dichtung als lehr- und lernbar gedacht ist, scheint sich der Anspruch des Lehrens weniger auf den Inhalt der Lieder, als vielmehr auf den Vorgang des Dichtens selbst, die Modalitäten der Rede, zu beziehen. Mit dem Begriff des blumen ist dabei bereits jenes für Mügeln zentrale poetologische Verfahren angesprochen, das man als geblümte Rede oder geblümten Stil zu fassen versucht hat. 10 Dichtungstheoretisch von besonderem Interesse ist hier der STACKMANN
H E L M U T TERVOOREN: Sangspruchdichtung, Stuttgart u. Weimar 1995 (Sammlung Metzler 293), S. 81-89, n 1 ' 1 zahlreichen Hinweisen auf die ältere Forschung. * Auch die Metrik erlaubt letztlich keine strikte Abgrenzung. Dazu STACKMANN [Anm. 4], S . 331. ' Dies spiegeln auch die Klassifizierungen der Forschung: ζ. B. werden Str. 215-217 und Str. 257-259 von STACKMANN [Anm. 4], S . 325, als Spruch, im Repertorium als Lied eingestuft. Vgl. Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, hg. v. H O R S T BRUNNER U. BURGHART W A C H I N G E R , Bd. 4: Katalog der Texte. Älterer Teil G-P, bearbeitet v. FRIEDER SCHANZE U. BURGHART W A C H I N G E R , Tübingen 1988, S . 69 f., S. 75· 10 Vgl. dazu u. a.: K A R L STACKMANN: