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German Pages 482 [483] Year 2004
Politik, Moral und Religion Gegensätze und Ergänzungen
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 132
Politik, Moral und Religion Gegensätze und Ergänzungen Festschrift zum 65. Geburtstag von Karl Graf Ballestrem
Herausgegeben von Lothar R. Waas
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-11092-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
9
I. Religion und Politik
Die tertia via und Murphy's Law Von Nikolaus Lobkowicz
15
Anselms ontologischer Gottesbeweis Von Henning Ottmann
27
Theologisches Sprechen über Demokratie Von Rudolf Uertz
33
Welchen Nutzen hat es, über Gott zu reden? Über die zivile Funktion der Religion Von Sergio Belardinelli
47
II. Religion, Politik und (Ideen-)Geschichte
„Religionen in den Staat verwebt". Zur historischen Entwicklung von Kirche und Staat in Deutschland Von Hans Maier
61
Kirche und Krieg. Anmerkungen zu einem vielschichtigen Phänomen Von Heinz Hürten
67
„Protestation" auf der Grundlage bürgerlicher Werte: Die Rechtfertigungsschriften der Göttinger Sieben Von Wilhelm Bleek
77
Anmerkungen zur Kontroverse über die politisch-religiöse „Sendung" Rußlands Von Leonid Luks
109
Ein „Kampf der Kulturen"? - Protestantischer Fundamentalismus und politischer Liberalismus in den USA Von Manfred Brocker
129
6
Inhaltsverzeichnis I I I . Moral und Politik
Sollen die Philosophen Könige werden? - Piaton und Hobbes im Gespräch Von Lothar R. Waas
155
Selbstbestimmung und Mitbestimmung. Zur Grundlegung einer Theorie der Politik Von Volker Gerhardt
169
Das Recht, die Freiheit, das Gute und die Tugend. Grundriß des Liberalismus Von Wolfgang Kersting
187
Theorien sozialer Gerechtigkeit zwischen liberaler und personaler Sozialphilosophie Von Bernhard Sutor
205
On the Way to a World Republic? Kant on Race and Development Von Thomas McCarthy
223
IV. Moral, Politik und (Ideen-)Geschichte
Elemente politischer Philosophie im Denken Arnold Bergstraessers Von Joachim Detj en
245
Von der bleibenden Faszination der Vertragstheorie Von Birgit Enzmann
283
Gehorsam und „zugleich ein Geist der Freiheit". Zur Aktualität der Kantischen Lehre vom ursprünglichen Vertrag als einer bloßen „Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat" Von Norbert Herold
303
Moral und Politik. Ein Kommentar zu Leo Trotzkijs „Ihre Moral und unsere" Von AbdussalamA. Gussejnow
323
David Hume on Comparison. From Philosophy to Political Theory and History Von Melvin Richter
343
Gesellschaftstheorie und politische Philosophie. Versuch einer vergleichenden Analyse zweier Schwesterdisziplinen Von Peter Koller
359
V. Aktuelle Probleme zum Verhältnis von Politik, Moral und Religion
Unglücks-Zwangsversicherung? Eine Kritik staatlicher Katastrophenhilfe Von Thomas Cornides
379
Inhaltsverzeichnis Bomben auf Bali. Zur Ethik des Zusammenlebens pluraler Gesellschaften Von Franz Magnis-Suseno SJ
399
War der Irak-Krieg ein bellum iustuml Von Manfred Spieker
417
Die Weltrepublik - doch keine Chimäre? Von Hanns W. Maull
437
Einheit Europas - Visionen und Realitäten eines politischen Projekts Von Klaus Schubert
455
Anhang
The Tertia Via - Ein Nachtrag zum Beitrag von N. Lobkowicz Von Walter Redmond
471
Schriftenverzeichnis von Karl Graf Ballestrem
477
Autorenverzeichnis
481
Einleitung Festschriften sind nicht unbedingt jedermanns Sache. Wie ein Blick in die Autobiographie des englischen Philosophen Robin G. Collingwood zeigt, kann eine Festschrift von vorneherein sogar regelrecht auf Ablehnung stoßen. Am Ende des zehnten Kapitels dieses Buches, das entgegen seinem Titel mehr eine Rückschau auf die Geschichte des eigenen Denkens als des eigenen Lebens ist, steht in aller Deutlichkeit geschrieben: „Ich bin jetzt fast fünfzig Jahre alt und kann höchstens noch auf ein paar Jahre hoffen, in denen ich voll leistungsfähig bin. Deshalb ergreife ich die Gelegenheit, mitzuteilen, daß ich über das, was ich hier schreibe, in keine Diskussion verwickelt werden möchte. Einige Leser haben vielleicht den Wunsch, mich davon zu überzeugen, daß das alles Unsinn ist. Wie sie das machen würden, weiß ich und kann mir ihre kritischen Einwände selber ausdenken. Andere werden mir vielleicht zeigen wollen, daß ich in diesem oder jenem Punkt Unrecht habe. Vielleicht habe ich auch Unrecht. Aber wenn sie in der Lage sind, es zu beweisen, sollen sie nicht über mich, sondern über das Thema schreiben und zeigen, daß sie besser darüber schreiben können als ich, der es dann mit Vergnügen lesen wird. Wenn aber einige meine Arbeit für gut halten, dann mögen sie ihre Zustimmung durch verstärkte Konzentration auf ihre eigene Arbeit zu erkennen geben. So bleibt mir vielleicht nicht erst durch den Tod die letzte Erniedrigung des alternden Gelehrten erspart, daß seine Schüler ihm eine heimlich gedruckte Festschrift überreichen, als Zeichen dafür, daß sie ihn nun endgültig für senil halten." Natürlich könnte man diese Zeilen als Ausdruck purer Eitelkeit und maßloser intellektueller Arroganz verstehen. Sehr viel wahrscheinlicher dürfte jedoch sein, daß hier jemand spricht, der sich auf paradoxalen Witz und schwarzen Humor (und Collingwood hatte allen Grund dazu) mindestens ebensogut versteht wie auf Diskretion und Understatement. Da Zurückhaltung und Bescheidenheit dasjenige sind, das einem Menschen im Zweifelsfall sozusagen immer noch am besten zu Gesicht steht, kann es gleichsam nicht schaden, einem möglichen „Zuviel an Ehre" vorsorglich dadurch zuvorzukommen, daß man durch Übertreibung untertreibt - der Sache ihre Spitze nimmt, indem man ihren Sinn ins geradezu Groteske verkehrt und damit zu verstehen gibt, daß man sich selbst nicht allzu wichtig nimmt. Muß man aber unbedingt ein geborener Engländer sein oder gar ein Sonderfall vom Rang eines Robin G. Collingwood, um das Bedürfnis zu haben, mit seiner Person nicht im Mittelpunkt zu stehen - die Person vielmehr ganz und gar hinter die Dinge, um die es eigentlich geht, zurücktreten zu lassen, damit ihnen um so mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden kann? - Zweifellos kann die „feine
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Einleitung
englische Art" zu Stil und Selbstverständnis eines Menschen selbst dann gehören, wenn er von Geburt nicht aus dem „guten alten England" stammt - vor allem dann, wenn er ohnedies mit Vorliebe Umgang mit Denkern pflegt, die zu den Klassikern dieses Landes oder seiner kulturellen Tradition zu zählen sind. Ob John Locke oder Edmund Burke, David Hume oder Adam Smith, John Stuart Mill oder John Rawls - welcher von den großen Namen der englisch-schottischen Aufklärungszeit, des klassischen oder des modernen politischen Liberalismus wäre jetzt nicht zu nennen, ohne zugleich über die Schwerpunkte des geistigen Interesses und des wissenschaftlichen Werdegangs dessen zu sprechen, dem die vorliegende Festschrift gewidmet ist und der den Reiz, der in der Hintergründigkeit des Collingwood-Zitates steckt, sicher zu goutieren weiß. Selbstverständlich ist dies nicht alles, was jetzt zu sagen wäre, um dem hier zu Ehrenden als Hochschullehrer wie als Mensch gerecht zu werden. Allein die Tatsache, daß die Themenbereiche, zu denen die Beiträge dieser Festschrift gebündelt sind, ein Spektrum umfassen, das von der Frage nach dem Verhältnis zwischen Religion und Politik im allgemeinen wie im historisch besonderen über diejenige nach dem Verhältnis zwischen Moral und Politik bis hin zu Problemen reicht, die beide Fragen noch einmal aus aktuellen Zusammenhängen heraus beleuchten, zeigt an, daß die Autoren dieser Beiträge gute Gründe hatten, den Bogen inhaltlich so weit zu spannen. Gegensätze können eben nicht nur der Sache nach, sondern auch in ein- und derselben Person Ergänzungen sein - und was wäre unter liberalen Vorzeichen prima facie gegensätzlicher als Politik, Moral und Religion? Daß im übrigen selbst da noch im besten Sinne des Wortes von „englischer" Art in Stil und Gedankenführung, sprachlicher Diktion und argumentativem Duktus zu reden wäre, wo es in Forschung und Lehre, Denken und Wirken von Karl G. Ballestrem nicht um englische Denker und angelsächsisches Gedankengut geht, sondern um Themen wie die Bedeutung Hegels für die sowjetische Erkenntnismetaphysik, die Geschichte des politischen Denkens des Marxismus, Kirche und demokratische Kultur oder Probleme einer Theorie internationaler Gerechtigkeit, sei als eine Besonderheit hier nur deshalb am Rande vermerkt, weil sie in der deutschen akademischen Zunft nicht gerade häufig anzutreffen ist. Als Herausgeber der Festschrift möchte ich Karl Graf Ballestrem jedenfalls nicht nur meinen ganz persönlichen Dank dafür sagen, durch seine „Schule" gegangen zu sein, sondern freue mich auch, sagen zu können, daß viele seiner Freunde und Weggefährten, Kollegen und Mitarbeiter aus Münchner wie Eichstätter Zeit, aus dem Kreis der Universitäten dieser beiden Städte wie aus dem Kreis der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens und ihres Jahrbuches, dessen Mitherausgeber er ist, ganz spontan von der Idee einer Festschrift angetan waren und es als eine Selbstverständlichkeit empfanden, der Einladung zu einem Beitrag nachzukommen. Sie alle wissen seinen Sachverstand und seinen Scharfsinn, seine Urteilskraft und seine Integrität zu schätzen und wünschen sich, davon selbst dann noch profitieren zu können, wenn er sich aus seinem beruflichen Leben zurückgezogen hat und als Emeritus vielleicht nicht
Einleitung
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weniger von seinen geistigen Neigungen und Interessen, von entsprechenden Aufgaben und Projekten in Beschlag genommen werden sollte als je zuvor. Zuletzt auch noch ein Wort des Dankes an den Verlag, der die Veröffentlichung der Festschrift gerne und umstandslos übernommen hat, vor allem aber an Frau Barbara Matzner, die Karl Graf Ballestrem am Lehrstuhl für Politikwissenschaft I I der Katholischen Universität Eichstätt nicht nur in gut zwanzig Jahren eine stets zuverlässige Sekretärin war, sondern freundlicherweise auch die Erstellung des druckfertigen Textes dieser Schrift mit großer Sorgfalt und Professionalität übernommen hat. München, im Januar 2004
Lothar R. Waas
Ι . Religion und Politik
Die tertia via und Murphy's Law Von Nikolaus Lobkowicz Heute ist uns jeder Denker verdächtig, der „etwas beweisen will". Nietzsche 1 Der Jubilar hat ebenso wie der Autor dieses Beitrages an der Universität Fribourg in der Schweiz studiert, deren theologische und philosophische Fakultäten Mitte des vergangenen Jahrhunderts als die Hochburg des „orthodoxen" Thomismus galten. Mit einer Ausnahme (Pastoral) waren damals alle Professoren der Theologie und der Philosophie Mitglieder des Dominikanerordens. Unser wichtigster Lehrer warfreilich ein Dominikaner, dem moderne formale Logik ungleich mehr als Einzelheiten der Lehre des Aquinaten, zumal in deren Gestalt als „Thomismus", behagte: Józef bzw. dem Ordensnamen nach Innozenz Maria Bochedski, bei dem wir beide promoviert haben, Ballestrem über die Bedeutung Hegels für die sowjetische Erkenntnismetaphysik, ich über Heideggers Begriff „Dasein". So hoffe ich, dass der Jubilar schmunzelnd die nachfolgenden Überlegungen lesen wird; sie entstanden in Anschluss an ein Symposium anlässlich Bocheriskis 100. Geburtstages, das im Oktober 2002 in Fribourg stattfand. Zwar sprach ich bei dieser Veranstaltung, an der der Jubilar leider nicht teilnehmen konnte, über „Werte" (und sah mich veranlasst anzudeuten, dass die Vorstellungen unseres Meisters, der in dieser Hinsicht weitgehend Max Scheler vertraute, heute kaum mehr zu verteidigen sind), aber das Ereignis war für mich bald darauf ein Anlass, mich nach vielen Jahren wieder in Thomas-Texte zu vertiefen - und sie mit den kritischen Augen zu lesen, für die wir unseren unvergesslichen Lehrer bewundert haben. Da sie auf den ersten Blick keine spezifisch mittelalterlichen Vorstellungen voraussetzt, betrachtet man die tertia via nicht selten als den heute überzeugendsten der fünf Gottesbeweise, die Thomas in der Summa theologiae vorträgt 2. Die vier anderen Gottesbeweise scheinen, so wie Thomas sie formuliert, heute aus jeweils verschiedenen Gründen überholt zu sein: der erste, den Thomas als den zwingendsten (manifestior) ansah, setzt voraus, dass Bewegung nicht ein Wesenszug von Körpern oder ihrer Konstellation sein kann, weshalb sie stets einer Erklärung bedarf, genauer: einen Beweger voraussetzt (was nach Newton3 und
1
Jenseits von Gut und Böse 188, Werke, ed. Schlechta II, 646. Um nur ein Beispiel zu geben: E. Coreth, Metaphysik, Innsbruck 1961, 590 ff. Für eine klassisch thomistische Analyse vgl. R. Garrigou-Lagrange, Dieu. Son Existence et sa Nature, Paris 1933, 269-376. 3 Viele Thomisten des 19. und 20. Jahrhunderts haben nahe gelegt (auch Garrigou-Lagrange, op. cit. 242 ff), die prima via verstehe unter motus jede Art von Veränderung; die Worte puta sol (so auch in der S.c.G.) und die Tatsache, dass der Beweis jenen des achten Buches der aristotelischen Physik 2
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Nikolaus Lobkowicz
ebenso Angesichts der Atomphysik nicht mehr durchgehend zu gelten scheint); der zweite spricht von Wirkursachen, die nur wirken, w e i l etwas sie zum Wirken veranlasst (wofür es nach der heutigen Kosmologie keine einleuchtenden und für einen Gottesbeweis brauchbaren Beispiele gibt 4 ); der vierte geht v o n der heute wenig überzeugend klingenden Voraussetzung aus, dass wenn eine Vollkommenheit Stufen zulässt, es auch eine höchste Vollkommenheit, gleichsam deren „Personifizierung" geben muss 5 ; und der fünfte stellt auf eine Finalität von bzw. in Wirklichkeiten ohne Bewusstsein ab, von der heute w o h l die meisten Botaniker und Biologen meinen, sie könnte auch wirkursächlich erklärt werden 6 . Alleine die
zusammenfasst, spricht jedoch dafür, dass Thomas nur an Ortsbewegung, und zwar der Gestirne, dachte. Nach Newtons Physik bedarf nicht die Bewegung eines Körpers als solche, sondern nur einerseits deren Abweichung von der geraden Linie und andererseits Beschleunigung einer Erklärung. Es wäre interessant, der Frage nachzugehen, ob der Beweis ex motu entsprechend umformuliert werden könnte; sicher genügt es nicht, wie Garrigou-Lagrange, op.cit. 254, die axiome der Newton'sehen Mechanik als unefiction commode pour représenter certaines relations mathématique zu interpretieren. Zu den Schwächen der Beweise des Grundsatzes Quidquid movetur, ab alio movetur vgl. meine Analyse in The New Scholasticism XLII (1968), 401-421. 4 Thomas denkt offenbar an die Reihenfolge Gott, (Engel, und zwar in der Reihenfolge ihrer Würde, vgl. De Ver. IX, 2), Himmelssphären und -körper (vgl. Quodl.VI, 4), sublunare Substanzen, vgl. z.B. S.c.G. III, 82: Quod inferiora corpora reguntur a Deo per corpora caelestia. Im letzte Absatz heißt es: Est ergo corpus caeleste causa omnis alterationis in his quae alterantur. Auch De Ver. V, 9: ponimus corpora caelestia ... esse media in opere gubernationis, non autem in creationis, oder In Post.Anal. II, 12, 522 ed. Spiazzi: motus caeli circulons causa est generationis ... inferioribus. Gleichzeitig verneint Thomas aber - wie fast alle mittelalterlichen Denker - einen unmittelbaren, sich nicht auf dem Umweg über den Körper vollziehenden Einfluss der Himmelskörper auf das Denken und Wollen der Menschen, S.c.G. ΠΙ, 84 (Corpora caelestia non imprimant in intellectus nostros), De Ver. V, 10 (Ex corporibus caelestibus non inducitur aliqua neces actibus humants ), In Phys. VIII, 4 1003 ed. Maggiòlo (non agunt directe in animas nostros ); zum S des Aristoteles, der Mensch sei von einem Menschen und „ebenso von der Sonne" erzeugt, 194 b 13, bemerkt Thomas, dies gelte nur für den Körper, In Phys. II, 3,175 ed. Maggiòlo. Überdies vermutete man im Mittelalter, der Einfluss der Gestirne auf Weltgeschehen geschehe nicht lückenlos, sondern ut in pluribus, bei Thomas etwa De Ver. V, 9, ad 1 : virtutes caelestes non semper indueunt effectus in inferioribus. Vgl. zur Frage u.a. P. Duhem, Le système du Monde, VIII (Paris 1958), 347 ff; T. Litt, Les corps célestes dans l'univers de St.Thomas d'Aquin, Louvain 1953; J. de Tonquédec , Questions de cosmologie et de physique chez Aristote et St.Thomas, Paris 1950 ; auch T. Linsenmann, Die Magie bei Thomas von Aquin, Berlin 2000. - Garrigou-Langrange versucht die secunda via mit dem Hinweis zu retten auf toutes les influences cosmiques subordonées nécessaires à la production conservation d'un simple moucheron, op.cit. 267. 5 Einen Versuch, diese via aus neuzeitlicher Sicht zu rechtfertigen, findet man im Beitrag von P.H. Paissac in: Initiation théologique, Paris 1952, dtsch. Die katholische Glaubenswelt, Freiburg 1959,1,341. (> Aufgrund der Entscheidung des Ersten Vatikanum ist der Katholik verpflichtet zu glauben, dass es nicht des Glaubens bedarf, um Gottes Existenz und seine wesentlichen Eigenschaften per ea quae facta sunt mit Gewissheit erkennen zu können (certo cognosciposse), vgl. Denzinger-Schönmetzer ed XXXVI (1973), 3004, 3026 (das Dogma beruft sich auf Röm 1,20). Ob dies bedeutet, dass er auch verpflichtet ist zu glauben, es gebe zwingende Gottesbeweise, erscheint mir nicht klar. Der Antimodernisten-Eid Pius X. aus dem Jahre 1910, den bis kurz vor dem Konzil jeder Priester vor einer Volksmission wiederholen musste, sowie die Enzyklika Humani generis Pius XII. aus dem Jahre 1950 legten es nahe, vgl. ibid. 3538,3890. Das Zweite Vatikanum hat zwar die Erklärung des Ersten zitiert (Dei Verbum 6), sich jedoch ebenfalls nicht über Gottesbeweise geäußert. - Die Forderung, man habe
Die tertia via und Murphy's Law
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tertia via scheint von allen Voraussetzungen abzusehen, die dem antiken oder mittelalterlichen Weltbild verpflichtet sind: sie sieht wie ein Beweis aus, der nur voraussetzt, was auch heute problemlos zuzutreffen scheint. Man könnte ihn, so scheint es, mit den Worten zusammenfassen: Kontingentes7 setzt voraus, dass es Notwendiges gibt, und zwar am Ende ein ens per se necessarium non Habens causam necessitatis aliunde 8. So - indem er nämlich Kontingentes kausal auf Notwendiges zurückführt argumentiert in der Tat ein Abschnitt in der Summa contra gentiles , der freilich nicht die Existenz Gottes, sondern dessen Ewigkeit beweisen will 9 : Alles, was sein und nicht sein kann, so schreibt Thomas, ist verursacht; die Reihe der Ursachen kann nicht unendlich sein, weshalb es etwas geben muss, das nicht nicht sein kann und insofern notwendig ist; dessen Notwendigkeit ist entweder verursacht oder nicht verursacht; die Reihe der verursachten Notwendigkeiten kann nicht unendlich sein, weshalb es ein per se necessarium geben muss. Dies ist Gott, und was per se necessarium ist, ist ewig. Die tertia via der Summa scheint dagegen die Existenz von etwas Notwendigem anders begründen zu wollen: Was auch nicht sein kann, so liest man, ist quandoque, irgendwann, nicht; wenn es nur Wirklichkeiten gäbe, die auch nicht sein können, hätte es deshalb aliquando, einmal, nichts gegeben; wäre dies der Fall, gäbe es auch heute nichts; da es etwas gibt, ist es deshalb unmöglich, dass es nur Wirklichkeiten gibt, die auch nicht sein könnten, sondern muss es ein Notwendiges geben, usf.
- was Gnade voraussetzt - zu glauben, dass man für bestimmte Erkenntnisse den Glauben (und deshalb auch Gnade) nicht benötige, mag zwar paradox klingen, scheint mir jedoch logisch unproblematisch. Sie dürfte allerdings so, wie das Erste Vatikanum sie formuliert hat, ein charakteristisches Produkt des 19. Jahrhunderts und damit der späten Neuzeit sein; die früheste Andeutung findet man in der Verurteilung der 101 Irrtümer in den Réflexions morales (1692) des Jansenisten Pasquier Quesnel durch die Bulle Unigenitus Dei fllius Klemens VI. aus dem Jahre 1713, vgl. DenzingerSchönmetzer 2441. Zum heutigen Stand der Diskussion vgl. z.B. L. Schejfczyk, A. Ziegenaus, Katholische Dogmatik, Aachen 1996, II, 29 ff. 7 Bei Thomas sind die Worte contingens und contingenter nicht immer (wie fast immer bei Aristoteles 'ενδεχ-όμ ενον) Fachausdrücke; er hört wohl noch die ursprüngliche Bedeutung von contingit, „es ereignet sich", mit. Für eine Definition des Begriffes vgl. S.Th. I, 86, 3: contingens est quod potest esse et non esse. Zur Geschichte des Begriffes vgl. Historisches Wörterbuch der Ph losophie IV, 1027 ff. Zu den verschiedenen Arten des contingens vgl. für Thomas In peri hermeneias XIII, 9, ed. Spiazzi 172. 8 £ Th. I, 2,3 c. 9 S.c.G. I, 15, Amplius. Auch Kants „vorkritischer" kosmologischer Gottesbeweis argumentiert in dieser Weise, vgl. Vorlesungen über die Metaphysik, Erfurt 1821, Reprint Darmstadt 1964, 283 ff.; anstelle von „kontingent" spricht Kant von „zufällig". Er lehnt allerdings das von Thomas in der tertia via herangezogene Axiom 2b, dem er die Gestalt gibt: „Alles, was zufälliger Weise da ist, ist irgendwann nicht gewesen", als „erschlichen" ab. Dass etwas zufällig ist, erkenne man daran, dass es einmal nicht gewesen ist, nicht umgekehrt, vgl. De mundi sensibilis etc § 29, Werke, ed. W. Weischedel, III, 100 ff. In der Kr.d.r.V. wird das Zufällige u.a. als „Kategorie der Modalität" gefasst und als das umschrieben, „dessen Nichtsein sich denken lässt", ebda. 264 (Ak. Ausg. Β 299). 2 FS Ballestrem
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Nikolaus Lobkowicz
Während der zweite Teil der tertia via, der Beweis, dass die Reihe des verursacht notwendigen Seienden nicht unendlich sein kann, weiter unproblematisch ist 1 0 , geht der erste Teil einerseits von einer Prämisse aus, die nicht ohne weiteres einleuchtend zu sein scheint, und enthält andererseits eine Schlussfolgerung, die so, wie sie dasteht, fehlerhaft sein dürfte. U m dem Jubilar bzw. Leser die Lektüre meiner Überlegungen zu erleichtern, zitiere ich den entsprechenden lateinischen Text und nummeriere die einzelnen Sätze 11 : 1. (a) Inveniuntur enim in rebus quaedam quae sunt possibilia esse et non esse: (b) cum quaedam inveniantur generari et corrumpi, et per consequens esse et non esse. 2. (a) Impossibile est autem omnia quae sunt talia, semper essen\ (b) quia possibile est non esse, quandoque non est.
quod
3. Si enim omnia sunt possibilia non esse, aliquando nihil fuit in rebus. 4. Sed si hoc est verum, etiam nunc nihil esset; quia quod non est, non incipit esse nisi per aliquid quod est; si igitur nihil fuit ens, impossibile luit quod aliquid inciperet esse, et sic modo nihil esset: quod patet esse falsum. 5. N o n ergo omnia entia sunt possibilia; sed opportet aliquid esse necessarium in rebus 13 .
10
Vgl. J. Salamucha , Dowod ex motu na istnienie Boga, in: Collectanea Theologica (Krakau) XV (1934), 53-92, engl, in: New Scholasticism ΧΧΧΙΙ (1958) 334-372, auch A. Kenny (Hrsg.), Aquinas, London 1969, 175-213. Vgl. auch IM. Bocheriski, Die fünf Wege, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie XXXVI (1989), 235-265. "Auf die Interpunktion, die ich - wie den ganzen Text - der Ausgabe in der „Bibliotheca de autores cristianos", Madrid 1978, entnehme, kann man sich nicht verlassen. 12 Das Wort omnia ist schwierig einzuordnen. Obwohl es sprachlich nicht ganz einsichtig ist, sollte man angesichts von 2b wohl übersetzen „Es ist für alle Dinge dieser Art unmöglich, immer zu sein", nicht „Es ist unmöglich, dass alle Dinge dieser Art immer sind" (als ob es einige doch sein könnten). Freilich ist nicht völlig auszuschließen, dass Thomas - ohne dass ihm dies voll bewusst gewesen wäre - an zwei verschiedene Bedeutungen von omnia dachte: Jedes Einzelne dieser Art" und „alle zusammen dieser Art". Dann müsste man etwa so übersetzen: „..., dass jedes Ding und alle Dinge dieser Art ...". Eine weitere Möglichkeit wäre freilich, dass der Satz einfach die gesamte Beweisführung 2b-5 (d h. außer der letzten Folgerung) vorab zusammenfassen will, das Ergebnis also vorwegnimmt: Dinge dieser Art können nicht immer sein, (deshalb muss es Notwendiges geben). 13 Zur Geschichte des Argumentes vgl. u.a. die Textsammlung in R. Arnou, De quinque viis Sancti Thomae ad demonstrandum Dei existentiam, Rom 1949. Die früheste Vorform dürfte in Piatons Phaidon 72 c-e zu finden sein, die von Plotin Enn. IV, 7, 12, ed. Harder 1961,1, 56 ff. und V, 9, 4, ed. Harder 108 ff. aufgegriffen wird; in beiden Fällen geht es nicht um einen Beweis der Existenz Gottes, sondern eines Unsterblichen (der „Weltseele"). Ein ähnliches Argument findet man im Buch Λ der Metaphysik des Aristoteles (1071 a 3-22: eine unbewegte Substanz muss ewig sein). Thomas dürfte zur Formulierung der tertia via jedoch teils durch die kürzere Fassung der Metaphysik (Nadjât) des Avicenna, vgl. die Übersetzung von Carame, Rom 1926,91 ff., vor allem aber wohl durch den Führer der Umherirrenden (Moreh Nebûchîm) II, 1 des Moses Maimonides angeregt worden sein, vgl. The Guide for the perplexed, übers. M. Friedländer, 2. Aufl. Dover 1956,152. Inwiefern Maimonides den logischen Fehler begeht, den ich Thomas unterstelle, fällt mir schwer zu entscheiden; er sagt zwar ebenso wie Thomas, dass ohne ein Notwendiges „überhaupt nichts wäre" (nihil esset omnino, nothing whatever would exist), denkt aber, so scheint mir, nicht wie Thomas an die Vergangenheit, sondern an eine Unterbrechung, nach der nichts mehr beginnen könnte.
Die tertia via und Murphy's Law
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Um die Stichhaltigkeit dieses Argumentes richtig zu beurteilen, sollte man zunächst beachten, dass Thomas es fur unmöglich hält, philosophisch zu beweisen, dass es die Welt nicht immer gegeben hat 14 . Der zeitliche Anfang der Welt, genauer: dass Zeit sich nicht ohne Ende in die Vergangenheit erstreckt, ist für ihn - nicht anders als die Trinitätslehre 15 - ein Glaubenssatz16; die zu beweisende Behauptung, Gott existiere, setzt dagegen den Glauben nicht voraus: sie ist eine in der cognitio naturalis gründende praeambulaßdei ]1. Obwohl Thomas nur den Beweis ex motu ausdrücklich unter der Annahme fuhrt (und zwar nur in der contra gentiles ), die Welt hätte nie zu existieren begonnen, muss man deshalb wohl ständig vor Augen haben, dass er die quinque viae ohne die Voraussetzung eines zeitlichen Weltanfangs fuhren will. Des weiteren ist zu beachten, an welche necessaria Thomas denkt, zu denen der erste Teil seiner tertia via fuhrt. Es sind Wirklichkeiten, die zwar von Gott erschaffen sind und im Sein erhalten werden (und in genau diesem Sinne auch nicht sein könnten), die jedoch von ihrem Wesen her keine substantielle Veränderung erfahren können, sei es, weil ihre Form ohne Materie subsistiert (die Engel und die Seele des Menschen), sei es, weil ihre Materie keine andere Form als jene, die sie bestimmt, zulässt (die Himmelssphären und -körper 18 ). Die abhängigen necessaria sind also nicht Wirklichkeiten, die deshalb immer währen, weil sie kraft ihres Wesens existieren; sie sind nur in dem Sinne notwendig, dass sie nicht „entstehen und vergehen" können19. Insofern ist die eingangs erwähnte Annahme, die tertia via
14 Vgl. die ausführliche Analyse von für und wider in S.c.G. II, 31-38, auch S.Th. I, 46, 1-3\ De Pot. III, 17; Quodl. III, 14,2; De aeternitate mundi contra murmurantes (Opusculaphilosophica, Spazzi, 105-108). 15 Vgl. S.Th. I, 46, 2c: sola fide tenetur et demonstrative probari non potest, sicut et sup mysterio Trinitatis dictum est. 16 Da Zeit fllr Aristoteles wie für Thomas eine Eigenschaft des motus ist, vgl. 217 b 29 ff., In Phys. IV, 15 ff., ed. Maggiòlo, 558 ff., beginnt für Thomas Zeit mit der Schöpfung der mobilia, worunter aber allein die corruptibilia zu verstehen sind. Die Himmelskörper kennen nur eine transmutatio adiuncta und insofern kein „früher und später". Vgl. die höchst subtile (und nicht einfach verständliche) Analyse S.Th. I, 10, 5. Auch I, 47, 1 ad 2: simul cum tempore caelum et terra creata sunt. Dass Thomas nicht der Gedanke kam, Gott hätte auch eine „ewige Zeit" schaffen können (die deshalb noch lange nicht mit Gott coaeterna sein müsste, vgl. die Verurteilung der errores von Meister Eckhart aus dem Jahre 1329, es würde ja nur um zeitliche Ewigkeit gehen), rührt, so scheint mir, weniger vom Schöpfungsbegriff als solchem her als davon, dass er den Schöpfungsbericht der Genesis wörtlich versteht: von uns aus betrachtet ist einmal etwas geschehen, mit dem auch Zeit begann. 17 ST//. I, 2, 2 ad 1; vgl. S.c.G. I, 12. 18 Thomas scheint die Frage, ob die Eigenart der Himmelskörper durch ein eigenes Element, die quinta essentia , vgl. In Meteor. I, 2, Leonina I, 328: principium ... ex quo omnia huiusmodi (s sphaerae et stellae) formantur, verursacht ist, offen lassen zu wollen, Quodl VI, 11 ad 1. Aristoteles nahm ein solches fünftes (unveränderliches) Element deshalb an, weil er jedem Element eine charakteristische „natürliche Bewegung" zuordnete und keines der vier Elemente der Kreisbewegung der Gestirne zuzuordnen war, vgl. F. Solmsen, Aristotle's System of the Physical World, New York 1960, 253 ff. Iv Vgl. S.c.G. II, 30: Illae igitur res in qui bus non est materia, ve l, si est, non est possibi aliam formam, non habent potentiam ad non esse. Eas igitur absolute et simpliciter necesse
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Nikolaus Lobkowicz
habe keine spezifisch mittelalterlich kosmologischen Voraussetzungen, schon allein aus diesem Grunde falsch 2 0 . Dies entkräftet freilich als solches noch nicht den Beweis, da Thomas nicht weiter ausführt, welcherart necessaria er vor Augen hat. Jedenfalls denkt Thomas bei den possibilia esse et non esse der tertia via an Substanzen der sublunaren Welt, an Wirklichkeiten, quae inveniantur generari et corrumpi. Was bei ersten Lesen wie ein Beispiel klingt, ist in Wirklichkeit eine Definition der Seienden, die auch nicht sein könnten 2 1 . Die Absicht der tertia via ist mithin nachzuweisen, dass a) die Existenz von Wirklichkeiten, die entstehen und vergehen, die Existenz von anderen Wirklichkeiten voraussetzt, die - obwohl auch sie nicht sein könnten (nicht wären, wenn Gott sie nicht erschaffen hätte bzw. nicht i m Sein erhalten würde) - kraft ihres Wesens nicht entstehen 22 und nicht vergehen können, und b) die letzteren Wirklichkeiten nicht alle durch eine „verliehene" Notwendigkeit gekennzeichnet sein können. Der Beweis von a), wie er in der Summa theologica vorgetragen wird, ist freilich, so scheint mir, nicht schlüssig. Denn wenn man eine unendliche Dauer voraussetzt, ist nicht einzusehen, warum einmal nichts gewesen sein soll, bloß weil alle sublunaren Substanzen entstehen und vergehen 23 . Eine unendliche Reihe
Später im selben Abschnitt heißt es: nihil ... prohibet res quasdam divina voluntate productas necessarias esse. 20 Eine gute Analyse dieses Punktes findet man bei P. Brown, St.Thomas' doctrine of necessary being, in: The Philosophical Review LXXm, 76-90. Der Aufsatz betont zurecht, dass man die nécessitas , von der die tertia via spricht, nicht als „logische Notwendigkeit" verstehen darf - schon allein deshalb, weil die Existenz von logisch Notwendigem zwar vielleicht einen Aufweis, aber keinen Beweis erfordert. Mit logischer Notwendigkeit operiert der ontologische Gottesbeweis, den Thomas unter der Überschrift Utrum Deum esse sit per se notum ablehnt. Es ist wichtig dies zu sehen, weil man sonst meinen könnte, die tertia via baue auf einer rein logischen Analyse auf, etwa der Art: Kontingenz impliziert schon rein logisch Notwendigkeit, es gibt Kontingentes, also auch Notwendiges. 21 Vgl. S.c.G. Π, 30, Si autem. Thomas beschränkt den Bereich des possibilia non esse ausdrücklich auf jene Wirklichkeiten, in quibus est possibilitas ad non esse. Die aeva bzw. aeviterna können zwar zu sein beginnen und enden, aber allein kraft des Handeln Gottes; die Dinge der sublunaren Welt dagegen sind dadurch gekennzeichnet, dass in earum natura est potentia ad non esse. 22 Nicht nur Engel, sondern auch die Himmelskörper sind für Thomas genau in dem Sinne „nicht entstanden", dass ihr Wirklichwerden nicht ein Prozeß ist. Vgl. S.Th. I, 45, 2 ad 2: creatio non est mutatio nisi secundum modum intelligendi tantum. 23 Garrigou-Lagrange, loc. cit., 270, schreibt, als ob dieser Gedankengang bloß eine Ausschmückung wäre (pour rendre la preuve plus sensible ); doch diese Ausschmückung nimmt im Vergleich zur S.c.G. dem Beweis seine Schlüssigkeit. Überdies begeht G.-L. den Fehler zu behaupten, dass eine Reihe kontingenter Seiender nicht notwendig sein könne, selbst wenn sie sans commencement, éternelle wäre: une collection, même infinie dans le temps et l'espace ne peut faire nécessaire , 271. Damit verwechselt er physische und logische Notwendigkeit, die Letztere wird ja in diesem Argument als physische, im Sinne von „nicht entstehend und vergehend" verstanden. Übrigens: was soll denn eigentlich der Unterschied zwischen einem (physischen) necessarium und einem „immerwährenden" Kontingenten sein? Vgl. Kants Einwand gegen den Grundsatz 2b. - S. Th. 1,46,1 ad 3 beschreibt Thomas übrigens die Materie implizit als ein necessarium: sie ist zwar erschaffen, aber ingenita et incorrubtibilis, vgl. Phys. 1,9, 192 a 28 (άφθαρτον και αγενετον ανάγκη), In Phys. I, 15, ed. Maggiòlo 139. Fr. Engels geht im Anti-Dühring und in der Dialektik der Natur einen - seltsamen
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entstandener und vergehender Wirklichkeiten mag ohne eine Wirklichkeit, die weder entstanden ist noch vergehen kann, nicht befriedigend zu erklären sein (so argumentiert der erwähnte Text in der Summa contra Gentiles ). Aber es ist nicht einzusehen, warum ihr so etwas ein Zeitpunkt vorausgehen müsste, zu dem es sie nicht und damit, wenn es nur sie gäbe, überhaupt nichts gab. Der logische Fehler, den - salva reverentia - Thomas begeht, besteht darin, dass er aus der Vergänglichkeit jeder einzelnen sublunaren Wirklichkeit folgert, auch ihre Summe müsse vergänglich sein, weshalb es, wenn es nur das viele Vergängliche gäbe, einmal nichts Vergängliches und damit, gäbe es nur dieses, überhaupt nichts gebeben hätte. Selbst eine unendliche Reihe solcher Wirklichkeiten mag nicht erklären, wieso es sie gibt; doch wenn es sie gibt, ist kein Grund anzunehmen, warum es ohne ein Immerwährendes einmal nichts gegeben haben sollte. Dabei sehe ich von der Schwierigkeit ab, in welcher Weise denn überhaupt die necessaria die Existenz der possibilia non esse erklären sollen oder auch nur könnten. Es ist nirgends davon der Rede, dass die aeva die Letzteren verursachen würden; und in der Tat ist nicht einmal Thomas selbst der Meinung, die sublunare Welt sei hinsichtlich ihrer Existenz von den endlichen substantiae separatae oder den Himmelskörpern abhängig. Dass Thomas den erwähnten Schnitzer begehen konnte, dürfte wohl dadurch zu erklären sein, dass er Folgendes übersehen hat. Dass jedes einzelne χ auch nicht sein kann, erlaubt nicht ohne weitere Prämissen24 die Folgerung, auch die Summe aller χ könne nicht sein. Dass jeder einzelne Mensch sterben muss, erlaubt als solches nicht die Folgerung, dass die Menschheit untergehen wird; dass es jeden Menschen einmal nicht gegeben hat, besagt als solches nicht, dass es einmal keinen Menschen gegeben hat. Daraus, dass allen Exemplaren einer Klasse die Eigenschaft f zukommt, folgt nicht, dass sie auch dieser Klasse zukommt. Es ist ja nicht logisch ausgeschlossen, dass die Gesamtheit aller Wirklichkeiten, die entstehen und vergehen können, selbst nicht entstanden ist und nicht vergehen wird. Setzt man voraus, es hätte possibilia non esse immer gegeben und es würde auch weiterhin immer welche geben, hätte man es entweder mit einem necessarium im vorhin umschriebenen Sinn 25 oder mit einem possibile non esse, das immer währt, zu tun. Wäre es ein necessarium, wäre damit freilich dem Argument nicht gedient, denn die tertia via will ja die Existenz von etwas Immerwährendem beweisen, das von den possibilia non esse unterschieden ist.
- Schritt weiter: er bezeichnet die Materie als „unerschaffbar", z.B. MEW , XX, 5, 60, 545 u.ö. Was „Unerschaffbarkeit" im Unterschied zu „Unentstehbarkeit" bedeuten soll, ist in der Sowjetphilosophie m.W. nie erörtert worden. 24 Eine solche Prämisse wäre z.B., dass sie alle zum gleichen Zeitpunkt t existieren; in diesem Falle hätte es t-x (wobei χ von Fall zu Fall verschieden sein könnte) keine gegeben. 25 Avicenna leugnet diese Möglichkeit mit dem Argument, ein aus Kontingentem bzw. Vergänglichem Zusammengesetztes könne nicht notwendig bzw. immerwährend sein, vgl. den Text bei Arnou, op.cit. 60. Dieses Argument scheint mir höchstens unter der Voraussetzung stichhaltig, dass es um Teile eines Ganzen geht, was bei der Vielfalt der generabilia et corruptibilia nicht der Fall sein dürfte.
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Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, dürfte ich an dieser Stelle gut daran tun, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass ich nicht grundsätzlich die Möglichkeit eines Gottesbeweises ex contingentia rerum in Frage stellen will. Wenn es etwas gibt, das auch nicht sein kann, bedarf es einer Ursache, deren Vorhandensein erklärt, warum es ist und nicht vielmehr nicht ist; und eine Ursache, die ebenfalls auch nicht sein könnte, hilft als solche nicht weiter. Es scheint mir durchaus zulässig, einen mit Kausalität operierenden Kontingenzbeweis zu führen. Doch so, wie die tertia via der Summa theologiae formuliert ist, scheint sie -jedenfalls in ihrem ersten Teil - gleichsam ohne das Kausalitätsprinzip auskommen zu wollen. Thomas argumentiert in der Summa theologiae nicht, Entstehendes und Vergehendes bedürfe, um zu sein, einer Ursache, und die entsprechende Ursachenreihe könne nicht unendlich sein. Sein Argument lautet vielmehr: wenn es nur Entstehendes und Vergehendes gäbe, hätte es einmal gar nichts gegeben, und dies kann nicht der Fall sein, weil es dann auch jetzt nichts gäbe. Es kommt hinzu, dass der Satz 2b zwar weitgehend unserer Erfahrung entspricht, jedoch nicht einzusehen ist, warum er allgemeingültig sein, also keine Ausnahmen zulassen können sollte. Dass Wirklichkeiten, die aufgrund ihres Wesens auch nicht sein könnten, zuweilen tatsächlich nicht sind, gilt allgemein höchstens dann, wenn man (wie es bei Thomas tatsächlich der Fall zu sein scheint) ausschließlich an Wirklichkeiten denkt, die entstanden sind und vergehen werden. „Was, um zu sein, entstanden sein muss, gibt es nicht immer" ist eine propositio per se nota, ebenso wie „Nichts, was vergehen wird, ist immer". Hätte Thomas jedoch so argumentierten wollen, wäre die allgemeiner klingende Aussage von den possibilia non esse für die Beweisführung gar nicht nötig gewesen. Es hätte genügt zu sagen: was entsteht und vergeht, gibt es zeitweise - genauer: bevor es entstanden und nachdem es vergangen ist - nicht. Versteht man dagegen den Satz possibilia esse et non esse quandoque non sunt so, wie er dasteht, ist nicht einzusehen, warum er allgemeingültig sein sollte. Ein Seiendes, das auch nicht sein kann, kann es immer gegeben haben, und zwar selbst dann, wenn seine Materie eine andere Form zulässt. Um dies auszuschließen, müsste man etwas anführen, von dem Thomas hier nicht spricht: dass es zum Wesen der generabilia et corrutibilia gehört, tatsächlich entstanden zu sein und tatsächlich zu vergehen 26. „Was entstanden ist, vergeht auch" und „Alles, was vergeht, ist entstanden" ist jedoch für uns heute kaum mehr als eine empirische Beobachtung. Als Schüler des Aristoteles durfte Thomas freilich anderer Meinung sein; er hatte ja die Schrift des Stagiriten über den Himmel gelesen und kommentiert. Im letzten Kapitel des ersten Buches dieser heute von Philosophen nur noch selten gelesenen Schrift behauptet Aristoteles, es sei unmöglich, dass etwas Vergängliches nicht tatsächlich vergeht (und etwas Entstehbares nicht tatsächlich entstanden ist). Der Grund, den er angibt, klingt heute freilich wenig überzeugend: ein solches Seiendes würde zugleich vergänglich sein und nicht vergehen und deshalb
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So argumentiert P. Brown im erwähnten Artikel, vgl. A. Kenny , op.cit., 170.
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zugleich fähig immer und nicht immer zu existieren 27. Der eigentliche Grund fur diese Behauptung dürfte sein, dass laut Aristoteles (dem Thomas in dieser Hinsicht folgt) die Art der Materie und insofern die Beziehung der Materie zur Form von vergänglichen und immerwährenden Körpern nicht die Selben sind. In seinem Kommentar zur angegeben Stelle in De caelo 28 fasst Thomas das Argument des Stagiriten zusammen und fugt den Einwand hinzu, ein göttliches Wesen (er denkt wohl, da er Piaton erwähnt, an dessen Demiurgen) könnte doch ein Vergängliches immerwährend erhalten. Seltsamerweise wird dieser Einwand nicht widerlegt: Thomas weist einfach daraufhin, angesichts der Darstellung des Stagiriten sei dieser Einwand nicht stichhaltig; offenbar ist er der Meinung, dass auch ein solches Seiendes einen Widerspruch enthalten würde: es wäre simul possibile et semper esse et non semper esse. Der Abschnitt endet bei Thomas mit den Worten: Sic igitur patet quod omne corruptibile quandoque corrumpetur 19, und im nächsten Absatz heißt es: et similiter si aliquid est generabile in sui natura, necesse est quod factum sit. Wenn man die dargestellte Bedeutung von possibile esse et non esse berücksichtigt sagt der Satz 2b genau dies: quod possibile est non esse, quandoque non est. Dieser Satz ist fur Thomas ein unter Berufung auf Aristoteles beweisbares, allgemein gültiges Axiom, das auch nur die Annahme30 eines immerwährenden Kontingenten ausschließt31. Etwas bloß faktisch Immerwährendes kann es für Thomas ebenso wie für Aristoteles nicht geben. Es scheint mir zumindest fraglich, ob der Satz, dass alles, was auch nicht sein kann, nicht immer war und nicht immer sein wird, auf der Grundlage der heutigen Naturwissenschaft bewiesen werden könnte; doch selbst wenn ein solcher physikalischer Beweis möglich sein sollte, hätte er nicht die „metaphysische Evidenz", die die tertia via voraussetzt. Die Behauptung, ein existierendes Seiendes, das entstehen kann, sei faktisch nicht entstanden, klingt zwar ein wenig absurd; sie würde etwas weniger seltsam klingen, wenn man sie z.B. so formulieren würde: „x ist ein Exemplar jener Art von Seienden, die entstehen; es ist jedoch faktisch nicht entstanden, sondern hat immer existiert". Als Beispiel könnte man sich einen Klum-
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283 a 24-27. Obwohl die genaue Lesart dieses Abschnittes an einer Stelle umstritten ist, ist klar, was Aristoteles sagen wollte, vgl. die entsprechende Stelle in der engl. Ausgabe von W.D. Ross. 28 Leonina I, 116, Nr. 8. 29 Laut der Leonina heißt es in einem der Manuskripte corrumpitur, was eine plausiblere Lesart sein dürfte. 30 In De Pot. III, 14, ad contra 1 scheint Thomas dies allerdings (hypothetisch) anzunehmen: quod mutabilitati subiacet, etiam si semper sit, etc. (wobei freilich nicht auszuschließen, ja sogar wahrscheinlich ist, dass mutabilia hier auch die aeviterna mitmeint, vgl. die Unterscheidung zwischen mutabile per potentiam quae in ipso est und per potentiam quae in altero est, S. Th. I, 9, 1). 51 Vgl. den Aufsatz von P. Brown, loc.cit. : „The point is not that contingent beings in principle can not be; rather it is that they have a built-in process of corruption, an actual progress toward nonbeing". Thomas hat den Kommentar zu De caelo mehrere Jahre nach der Prima pars geschrieben; dass er ihn kannte, als er die Summa zu schreiben begann, scheint jedoch gewiss, da er in ihr Gedanken des Stagiriten erwähnt, die nur in De caelo zu finden sind, z.B. I, 46, 1.
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pen Materie vorstellen, den es - die zeitliche Endlosigkeit des Kosmos vorausgesetzt - irgendwo im Weltall immer schon gegeben hat. Dass Aristoteles und Thomas ein solches Beispiel nicht in den Sinn kam, hat nicht nur mit ihrer Kosmologie zu tun; es ist wohl auch dadurch zu erklären, dass ebenso der Stagirite wie der Aquinate Naturwirklichkeiten von den belebten oder doch „beseelten" her deuten (vgl. z.B. die „natürliche Bewegung" der Elemente), während wir heute dazu neigen, die Biologie auf Chemie und diese auf Physik vielleicht nicht unbedingt zu reduzieren, aber doch zurückzufuhren. Wie dem auch sei, hat der Satz 2b heute für uns nicht unbedingt eine größere Plausibilität als Murphy's Law, das bekanntlich lautet: If anything can go wrong, it will. Dieses „Gesetz" wurde erstmals 1949 im Rahmen des von der Firma Northrop Aircraft durchgeführten Air Force Project MX981 formuliert, dem man an der Edwards Air Force Base in Muroc, Kalifornien, nachging. Ziel des Forschungsprojektes war festzustellen, eine wie starke plötzliche Geschwindigkeitsverringerung der Mensch vergleichsweise unbeschädigt überleben kann. Einer der Ingenieure, Kapitän Edward A. Murphy, ärgerte sich über einen Techniker, der wieder einmal den Umwandler falsch verdrahtet hatte und sagje: „ I f there is any way to do it wrong, he will". Einige Wochen später gab der Arzt und Oberst Dr. John Paul Stapp, der die Versuchsreihe leitete, eine Pressekonferenz, in der er u.a. die Sicherheitsmaßnahmen darstellte. Es war offenbar er, der Murphys Gesetz in der heute bekannten Fassung formulierte, ihm den heute gängigen Namen gab und darstellte, dass (neben der „unbeirrten Bemühung, das Unvermeidliche zu leugnen" - die sorgfältige Beachtung dieses Gesetzes die wichtigste aller Sicherheitsmaßnahmen sei32 . Murphy 's Law ist natürlich kein Gesetz in dem Sinne, in dem der Naturwissenschaftler von Gesetzen spricht. Um an Karl Popper zu erinnern 33, ist es nicht eine falsifizierbare Hypothese, sondern verallgemeinert eine häufig gemachte Beobachtung. Dass etwas, was schief gehen konnte, nicht schief ging, wiederlegt weder Murphy's Law noch verringert es dessen Bedeutung; man kann es entsprechend dem Grundsatz „Die Ausnahme bestätigt die Regel" 34 ignorieren. Ate Grundsatz für Sicherheitsmaßnahmen kann Murphy's Law nur deshalb dienen, weil es eben Ausnahmen zulässt.
32 Vgl. ^vww.edwaΓds.af.mil^istoΓy/docs_html/tidbits/muφhy'sJaw.htmI. Auch A. Bloch, Murphy's Law and other reasons why things go wrong, Los Angeles 1981,4 ff. 33 Logik der Forschung, 3. Aufl. Tübingen 1969, bes. 54 ff. Zu Popper vgl. neuerdings das höchst unterhaltsame Buch von D. Edmonds und J. Eidinow, Wittgenstein's Poker, London 2001. 34 „Gesetze sollen ohne Ausnahme sein ...; aber Regeln sind niemals ohne Ausnahmen", Kant, Opus postumum Ν 4237. Regula accipitur proprie pro praecepto quod patitur exceptione, Gocleniu Lexicon philosophicum (1613), Notre Dame 1964, 974 ff. Der Sinn des Spruches ist also, dass man Regeln daran erkennt, dass sie Ausnahmen zulassen. Für ein anderes Verständnis von „Regeln" vgl. Spinoza, Tractatus, Opera omnia, ed. Gawlik/Niewöhner, I, 193: secundum leges et régulas, quae aeternam necessitatem... involvunt (es geht um die Möglichkeit von Wundern).
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Doch gerade in dieser Hinsicht entspricht es dem Satz 2b, wie wir diesen heute verstehen würden. „Was immer schief gehen kann, wird schief gehen" besagt „ ... wird häufig, einmal, irgendwann, zuweilen, manchmal schief gehen". Dass vergängliche Wirklichkeiten, die auch nicht sein könnten, irgendwann nicht sind, mag zwar ungleich wahrscheinlicher als das Zutreffen von Murphy 's Law sein (zumal, wenn man an Lebewesen und Pflanzen denkt). Aber es ist eben nicht anders als dieses Law eine Erfahrung von der Art, von der Aristoteles am Anfang seiner Metaphysik schreibt: „wiederholte Erinnerung an ein und das Selbe gewinnt die Bedeutung einer einheitlichen Erfahrung" 35. Für Thomas würde die ewige Existenz eines Kontingenten die Gültigkeit seines Grundsatzes 2b in Frage stellen; für uns ist dies heute nicht mehr der Fall. Ich fasse zusammen: I.
Es trifft nicht zu, dass die tertia via, so wie sie in der Summa theologiae formuliert ist, keine mittelalterlichen kosmologischen Voraussetzungen hat. Mit der wichtigste Satz im ersten Teil dieses Beweises ist nur unter der Voraussetzung der aristotelischen Kosmologie allgemeingültig.
II. Eine entscheidende Schlussfolgerung der tertia via scheint nicht gültig zu sein, da sie ohne weitere Prämissen eine Eigenschaft von Exemplaren einer Klasse auf diese Klasse selbst überträgt. III. Dies bedeutet nicht, vergleiche den Text in der Summa contra gentiles , dass die tertia via nicht so umformuliert werden könnte, dass der Beweis stichhaltig ist 36 . Sie ist dann freilich ein Kausalitätsbeweis, der sich seiner Struktur nach nicht von den Beweisen ex motu und ex ratione causae efficientis unterscheidet, da er auch in seinem ersten Teil alleine auf die mangelnde Erklärungskraft einer unendlichen Ursachenkette abstellt37.
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980 b 5 ff. Wobei dann freilich immer noch nicht die schon im Spätmittelalter heftig umstrittene Frage beantwortet ist, inwiefern Thomas' Gottesbeweise wirklich die Existenz Gottes beweisen, vgl. dazu u.a. R. Bauer, Gotteserkenntnis und Gottesbeweise bei Kardinal Kajetan, Regensburg 1955. 37 Man könnte freilich immer noch auf folgenden Unterschied hinweisen. Das Mittelalter unterscheidet zwischen kausalen Ketten per se und per accidens: nur in der Ersteren gilt eine unendliche Reihe als unmöglich. In einer kausalen Kette per se ist die zu erklärende Tätigkeit eines Seienden von der entsprechenden Tätigkeit der Ursache abhängig (x bewegt oder bewirkt etwas nur deshalb, sofern und weil es bewegt wird bzw. eine Ursache sein Wirken bewirkt). Da Existieren keine Tätigkeit ist, kann man, so scheint mir, darüber streiten, inwiefern eine Kausalkette von contingentia, die jeweils das kontingente Sein eines anderen bewirken, als per se oder per accidens verstanden werden soll. Eine Tätigkeit bzw. überhaupt ein Geschehen liegt nur insofern vor, als kontingente Wirklichkeiten entstehen, d.h. von Potenz in Akt übergehen; aber dass etwas von Potenz in Akt übergeht, hängt, so scheint es, nicht davon ab, dass seine kontingente Ursache selbst von Potenz in Akt übergegangen ist, auch wenn dies tatsächlich der Fall war. Kann man wirklich behaupten, A sei der Vater von B, weil und sofern er der Sohn von C ist? Ist die Existenz von Β dadurch verursacht, dass seine Ursache A nur deshalb existiert, weil dessen Existenz von C verursacht ist? Die Stelle in der Metaphysik, auf die man sich in diesem Zusammenhang berief (994 a 1 ff.), spricht bezüglich von Wirkursachen wohl nicht zufällig nur von κίνησις. Wäre dieses Bedenken berechtigt, müsste man fragen, warum eigentlich eine 36
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IV. Dass die quinque viae Voraussetzungen haben, die in der Summa theologiae erst später er- bzw. bewiesen werden, ist kein berechtigter Einwand. Die Summa geht nicht modo geometrico wie Spinozas Ethik vor. Mit die wichtigste Funktion der thomasischen (und aller mittelalterlichen) Gottesbeweise (außer Anselms ontologischem, den Thomas nicht anders als Kant ablehnt38) ist, Prämissen für die Darstellung von Gottes Eigenschaften auszubreiten. V. Meine Analyse bestärkt mich in der Überzeugung, dass es unmöglich ist, stichhaltige Gottesbeweise „auf der grünen Wiese" zu entwerfen. Sie setzen eine Fülle philosophischer, jeweils erst zu begründender Prämissen voraus und sind insofern der Gipfel, nicht der Ausgangspunkt eines philosophischen Systems. Dass Thomas - nach einigen mehr methodologischen Überlegungen - beide Summae mit dem Beweis von Gottes Existenz beginnt, ist allein dadurch zu erklären, dass er sie als theologische, nicht philosophische Werke konzipiert hat 39 .
Kausalkette existierender contingentia nicht unendlich sein können sollte. Vgl. zum Problem G.E.M. Anscombe/P. Geach, Three Philosophers, Oxford 1961, vor allem 113 ff. 38 Vgl. z.B. die Textsammlung A. Plantinga (Hrsg.), The ontological argument, New York 1965. Zu einer Analyse der verschiedenen Versionen des Argumentes vgl. W. Rod, Der Gott der reinen Vernunft, München 1992. 39 Vgl. S.c.G. II, 4, Exinde : In doctrina philosophiae ... prima est onsideratio de creaturi ultima de Deo. In doctrina vero ßdei... primo est consideratio Dei etpostmodum creaturarum. est perfection utpote Dei cognitioni similior, qui seipsum cognoscens alia intuetur.
Anselms ontologischer Gottesbeweis Von Henning Ottmann I. Anselms ontologischer Gottesbeweis begegnet in der Geschichte der Philosophie in unterschiedlichen Kontexten. Diese je anderen Kontexte sind für die Beurteilung des Argumentes von Bedeutung. Daraufhat Wolfgang Rod in seinem Buch Der Gott der reinen Vernunft aufmerksam gemacht.1 Bei Anselm entspringt die Frage nach der Beweisbarkeit der Existenz Gottes dem Interesse des Glaubenden: „fides quaerens intellectum". Später ist das Interesse der Philosophen am ontologischen Argument oft ein anderes. Bei Descartes etwa dient es der Selbstvergewisserung des Ichs und der Begründung der Wirklichkeitserkenntnis. In der rationalistischen Metaphysik Spinozas wird der ontologische Gottesbeweis Teil einer Philosophie more geometrico. Bei Hume und bei Kant wird das ontologische Argument zum Gegenstand sprachphilosophischer und logischer Kontroversen. Für so unterschiedliche Denker wie Kant, G.E. Moore oder Russell wird das ontologische Argument aus sprachphilosophischen Gründen hinfällig. 2 Das ontologische Argument kann verschiedenen Funktionen dienen und es kann in verschiedenen philosophischen Fragestellungen begegnen. Außer nach den Kontexten kann man freilich auch nach dem Sinn des Argumentes selbst fragen. Kann man von einem Gottesbeweis erwarten, daß er mit einigen wenigen Sätzen etwas Bedeutendes über Gott sagt? Sind Gottesbeweise überhaupt „Beweise"? Sind sie nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt, wenn sie das Unendliche vom endlichen Bewußtsein aus zu erreichen versuchen? Würden sie, wenn sie gelängen, nicht Glaube durch Wissen ersetzen und aus Atheisten Idioten werden lassen?
1 Wolf gang Rod, Der Gott der reinen Vernunft. Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel, München 1992. 2 Zur Geschichte des Arguments die Textauswahl von Alwin Platinga (Hrsg.), The Ontological Argument. From St. Anselm to Contemporary Philosophers, London-Melbourne 1968; Dieter Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen 1960, 2 1967.
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Der besondere Vorzug des ontologischen Gottesbeweises läßt sich darin erblicken, daß er - anders als etwa der kosmologische oder der teleologische nicht von der Welt auf Gott schließt, sondern unmittelbar am Begriff Gottes selber ansetzt. Der Vorwurf, das Unendliche nur sub specie des Endlichen zu erfassen, läßt sich dem ontologischen Argument nicht so leicht machen wie anderen Gottesbeweisen. Anselm geht aus vom Begriff des „aliquid, quo maius cogitari non potest", von „dem, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann".3 Dieses „maius" wird auch von dem, der Gottes Existenz bestreitet, gedacht. Es ist, so Anselms Formulierung, „im Intellekt". Es wäre aber nicht das „maius", wenn es nur im Intellekt wäre und nicht auch in re. Ergo muß „das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann", nicht nur in intellectu, sondern auch in re existieren. Dem Begriff Gottes kommt Realität zu. Das faszinierende Argument des Anselm läßt sich schwerer widerlegen, als man prima facie meinen könnte. Der Einwand etwa des Mönches Gaunilo, das Argument zwinge dazu, auch die Existenz einer „vollkommenen Insel" anzunehmen, sticht nicht.4 Eine noch so vollkommene Insel wäre, was immer sie wäre, ein endliches Objekt, und vom Endlichen ist im ontologischen Argument nicht die Rede. Auch Kants berühmtes Beispiel von den 100 Talern überzeugt als Einwand nicht. Nach Kant ist der Begriff immer derselbe, ob es sich um 100 mögliche oder um 100 wirkliche Taler handelt.5 Kant operiert - nicht anders als Gaunilo - mit dem Beispiel eines endlichen Objektes. Eine Geldsumme, und sei sie noch so groß, wird jedoch kaum als das „maius" betrachtet werden können, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Geradezu dogmatische Geltung erlangt hat eine andere Form der Kritik. Sie richtet sich gegen die Existenzprädikation. Immer wieder heißt es, Existenz könne kein Prädikat sein, oder, wie Kant es ausdrückt, kein „reales Prädikat". 6 Dafür spricht, daß wir zwischen der Zuschreibung von Eigenschaften (wie „die Rose ist rot") und Existenzaussagen (wie „die Rose existiert") gewöhnlich unterscheiden. Das Subjekt, von dem etwas ausgesagt wird, wird gewöhnlich als existent unterstellt, so daß eine explizite Existenzaussage redundant zu sein scheint. Es gibt jedoch Fälle, - und diese sind für die Beurteilung des ontologischen Arguments von Interesse - , in denen wir Existenzaussagen fällen, und man kann nicht behaupten, daß diese unsinnig oder logisch unmöglich wären. So ist es durchaus
* Anselm von Canterbury , Proslogien, lat.-dt. v. P. Franciscus Salesius Schmitt O.S.B., Stuttgart/ Bad Cannstatt 1962,2. Kap. 4 Gaunilo, Quid ad haec respondeat quidam pro insipiente, 6, in: Anselm von Canterbury , Proslogien, S. 141. 5 „Der Begriff sei vom Inhalt her derselbe. Nur für mein Vermögen komme durch die hundert Taler, wenn ich sie tatsächlich besitze, in re etwas hinzu, nicht aber für den Begriff selbst". Kritik der reinen Vernunft Β 627/A 599. 6 Kritik der reinen Vernunft Β 626/A 598.
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sinnvoll zu sagen: „Es gibt Einhörner". Es gibt sie in der Dichtung, und eines von ihnen begegnet etwa in Alice in Wonderland. Falls dieses Beispiel zu sehr nach einer fiktiven Existenz nur in der Literatur klingt, sei ein anderes gewählt. Man kann auch sagen: „Troja existiert nicht nur bei Homer.' Troja hat es wirklich gegeben." Die Existenzprädikation ist hier völlig angebracht. Wo die Frage auftaucht, ob etwas existiert, ist die logische Antwort entweder die Bestreitung der Existenz oder deren Bejahung. Existenzaussagen sind sinnvolle Sprachspiele. Sie sind es immer dann, wenn jemand behauptet: „x, y existiert nicht, es ist nur Einbildung, Traum, Illusion, Legende etc.". In allen solchen Fällen kann die Antwort lauten: „aber es existiert". Genau dieser Fall liegt beim ontologischen Argument vor. Es ist eine Antwort auf eine Existenzbestreitung. Anselm richtet das Argument an den „Toren, der in seinem Herzen sagt: ,es ist kein Gott'" (Proslogion Kap. 3). Ihm, der mit den Worten des Psalms „Tor" genannt wird (Ps. 13, 1), zu sagen, „Gott existiert", ist ein völlig legitimes Sprachspiel. Wie sollte es denn anders lauten? Die Beweislast, daß man so nicht sprechen darf, liegt nicht bei Anselm, sondern bei denen, die Existenzaussagen aus philosophischen Gründen verbieten wollen. Worte wie „Existenz" oder „existiert" können in verschiedenen Sprachspielen und modi begegnen. Wir können von der „Existenz" von etwas in Träumen oder im Wachbewußtsein sprechen, von „Existenz" in der Literatur und im Leben, im Bewußtsein und außerhalb desselben. Viele der Einwände, die gegen das ontologische Argument vorgebracht werden, basieren auf einer künstlichen Restringierung des Sprachgebrauches, manche sogar auf einer petitio principii. Eine solche liegt vor, wenn davon ausgegangen wird, Existenz lasse sich nur von sinnlich wahrnehmbaren Objekten aussagen. Dies ist eine petitio principii, da das ontologische Argument von solchen Objekten nicht handelt. Es gehört in eine rationalistische Metaphysik, und einer solchen kann man nicht dadurch gerecht werden, daß man den Empirismus als eine von vorneherein feststehende Wahrheit voraussetzt. Man müßte die Unwahrheit des Arguments schon an diesem selber demonstrieren. Eine petitio principii ist ebenfalls gegeben, wenn man Existenzaussagen so behandelt, wie dies Bertrand Russell vorschlägt. 7 Nach Russell kann Existenz immer nur in einer Satzfunktion begegnen. Über Satzfunktionen lassen sich nur Wahrheitswerte aussagen wie „immer wahr", „manchesmal wahr", „niemals wahr". Einem individuellen Objekt läßt sich auf diese Weise keine Existenz zuschreiben. Existenz wird zu einer Eigenschaft zweiter Ordnung, die nicht auf Gegenstände angewendet werden kann. Die Existenz eines Objekts wird zu einem Beispiel dafür, daß es mindestens einen Fall gibt, auf den die Aussage zutrifft. „Es gibt genau ein JC, so daß A auf χ zutrifft." Der Satz „Sokrates existiert" muß demnach umgeschrieben werden: „Es gibt in der Menge aller Gegenstände einen, der mit
7 General propositions and existence, in: John Hick/Arthur C. McGill (Hrsg.), The Many-Faced Argument. Recent Studies on the Ontological Argument for the Existence of God, London-Melbourne 1968, S. 219 ff.
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Sokrates identisch ist". Aber ist das überhaupt noch eine Existenz-Aussage? Oder nicht vielmehr eine Inklusion, die den individuellen Sokrates zum Verschwinden bringt? Selbst wenn man sich auf Russells Theorie der Satzfunktion einläßt, muß man Anselms ontologischen Gottesbeweis nicht eo ipso für gescheitert halten. Anselm verfolgt nämlich noch eine weitere Argumentationsstrategie, die sprachphilosophisch weniger angreifbar ist als die Existenzprädikation. Im dritten Kapitel des Proslogion bezieht Anselm sein Argument nicht auf die bloße Existenz Gottes, sondern auf dessen notwendige Existenz - , „notwendig" verstanden als denknotwendig. Die Existenz Gottes ist demnach das, was nicht nicht gedacht werden kann. Der Unterschied zwischen einer Existenzprädikation und der Zuschreibung einer Eigenschaft löst sich damit auf. Die Existenz ist eine denknotwendige Eigenschaft Gottes, seinem Begriff notwendig inhärent.8 Es wäre auch hier eine petitio principii, würde man dem Argument entgegnen, Existenzaussagen seien immer kontingent. Das ist hier nicht vorauszusetzen, sondern eben gerade Gegenstand des Streites. Notwendige Wahrheiten sind aus der Mathematik bekannt. Niemand wird bestreiten wollen, daß die Winkelsumme im Dreieck notwendigerweise 180° beträgt. Strittig wird die Sache erst, wenn es um den Übergang von logischer Notwendigkeit zur Behauptung logisch notwendiger Existenz geht. Kant hat das Beispiel des Dreiecks, das schon bei Descartes begegnet, wieder aufgegriffen. Nach Kant darf man sagen: „ Wenn Dreiecke existieren, dann haben sie drei Winkel oder eine Winkelsumme von 180°". Der für Kant springende Punkt ist jedoch, daß Dreiecke nicht existieren müssen. Das Subjekt „Dreieck", von dem die notwendige Wahrheit ausgesagt wird, kann selbst entfallen. „Hebe ich ... das Subjekt zusamt dem Prädikat auf, so entspringt kein Widerspruch; denn es ist nichts mehr, welchem widersprochen werden könnte".9 Dem Argument Kants läßt sich entgegnen, daß wieder nur ein endliches Objekt, ein Dreieck, als Gegenbeispiel angeführt wird, das ontologische Argument aber nicht von endlichen Objekten handelt, sondern vom Unendlichen, daß also ein für endliche Objekte richtiges Argument am falschen Ort vorgebracht wird. Von einem Dreieck kann man sagen: „wenn es Dreiecke gibt, dann haben sie notwendigerweise eine Winkelsumme von 180° Grad; aber Dreiecke muß es nicht geben". Ein Satz jedoch wie „wenn Gott existiert, dann existiert er notwendig" läßt sich nicht in gleicher Weise bilden. Der erste Teilsatz, der mit „wenn" beginnt, unterstellt, daß Gott auch nicht existieren könnte, also nicht notwendig existiert. Der
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Norman Malcolm, Anselm's Ontological Arguments, in: John Hick/Arthur C. McGill (Hrsg.), The Many-Faced Argument. Recent Studies on the Ontological Argument for the Existence of God, London-Melbourne 1968, S. 136 ff. Von Interesse könnten auch Bolzanos und Freges Umformulierungen von Existenzprädikationen in Eigenschaftsattributierungen sein. Siehe Heinrich Scholz, Der Anselmische Gottesbeweis, in: ders., Mathcsis universalis, Darmstadt 1961, S. 62 ff. 9 Kritik der reinen Vernunft Β 622/A 594.
Anselms ontologischer Gottesbeweis
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„Wenn-dann-Satz" lautet also eigentlich: „wenn Gott nicht notwendig existiert, existiert er notwendig" - ein Widerspruch in sich. 10 Was ist damit bewiesen? Ich furchte doch nur die analytische Wahrheit, daß man vom absolut Notwendigen keine Wenn-dann-Sätze aussagen kann. Wird ein solcher Satz gebildet, ergibt sich ein logischer Widerspruch. Daraus aber folgt wiederum nicht, daß es das absolut Notwendige gibt. Es folgt nur, daß das absolut Notwendige notwendig existiert oder der Begriff als solcher sinnlos ist. Entweder notwendig existierend oder gar nicht - mehr läßt sich aus der logisch unsinnigen Konjunktion des Wenn-dann-Satzes nicht folgern. Was den großen Vorzug des ontologischen Arguments ausmacht, sein Ansatz beim Begriff des maius, markiert allerdings zugleich auch seine große Schwierigkeit. Das ontologische Argument läßt sich nur schlüssig machen, wenn die von ihm geforderte Einsicht sich von den endlichen Objekten lösen kann. Die geforderte Einsicht darf auch nicht dem endlichen Bewußtsein zuzuschreiben sein. Sie müßte sich vielmehr dem Sich-Zeigen des Unendlichen selbst verdanken. Wäre der Begriff Gottes vom endlichen Bewußtsein gebildet, wäre er nicht das maius, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Er bliebe immer nur eine bloße Steigerung oder Negation des Endlichen. Er wäre nicht der Grund, der die Erkenntnis des endlichen Bewußtsein selbst begründen könnte, da er selbst vom Endlichen abhängig bliebe. III.
Was kann es bedeuten, daß das Verhältnis von Grund und Begründetem beim ontologischen Argument auf das Unendliche selbst verweist? Heißt dies, daß das ontologische Argument in eine „Deduktion" der Notwendigkeit der Offenbarung mündet? Heißt es, daß das Argument von der Philosophie wieder zur Religion, von der Vernunft wieder zum Glauben führt? Zwei Philosophen haben die Begründungsstruktur des ontologischen Arguments, daß der Grund der Erkenntnis im Unendlichen selbst zu suchen ist, besonders hervorgehoben: Decartes in den Meditationes (III, 28), Hegel in seiner Diskussion der Gottesbeweise, die er in seinen Vorlesungen über Religionsphilosophie, immer ganz schulmäßig, diskutiert hat. Nach Hegel ist es der Mangel aller Versuche, sich dem Unendlichen vom Endlichen aus zu nähern, daß sie dies immer nur via negationis oder durch ein Absehen von allen Unterschieden bewerkstelligen können. Der auf diese Weise gebildete Begriff des Absoluten ist der eines „grenzenlos Unendlichen", das nur in Abhebung vom Endlichen gedacht wird. Der kosmologische und der teleologische Gottesbeweis sind solche Versuche des Aufstiegs vom Endlichen zum Unendlichen. Sie müssen von vorneherein scheitern. Der „allein ... wahrhafte" Gottesbeweis kann nur das ontologische Argument sein." 1( 1
Norman Malcolm, Anselm's Ontological Arguments, S. 154 f.
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Hegel hat das ontologische Argument den anderen Gottesbeweisen vorgezogen, weil es beim Unendlichen selbst ansetzt. Von Kritik verschont hat er aber auch dieses Argument nicht. Sein Mangel ist es nach Hegel, eine bloße „Abstraktion" zu sein. 12 Es ist der Versuch, das Absolute von einer bloßen Tatsache des Bewußtseins aus zu begreifen. Auch im ontologischen Argument wird der Begriff Gottes aller Inhalte (bis auf den der Existenz) entleert. Das geschieht nach Hegel nicht zufällig. Würden die Eigenschaften Gottes benannt, würden sie zu unterschiedlichen, ja sogar zu konfliktreichen Bestimmungen des Absoluten fuhren: zum Gegensatz etwa von Güte und Gerechtigkeit oder von Macht und Weisheit.13 Dem entgeht das ontologische Argument, indem es den Begriff des Absoluten aller Bestimmtheit entkleidet. Im Sinne der Hegeischen Philosophie, für welche die Wahrheit nur das Ganze sein kann, kann ein einzelnes Argument das Absolute nicht erfassen. Erst die ganze Kette der Begriffe und der Zusammenschluß von Anfang und Ende könnten so etwas wie ein ernstzunehmender Gottesbeweis sein. Für Hegel ist das ontologische Argument nur ein Tropfen im Meer der Erkenntnis. Ein Gottesbeweis wäre erst eine Philosophie als ganze. Sie müßte den Aufstieg der Erkenntnis zu Gott, das itinerarium mentis ad Deum mit der Selbstoffenbarung des Begriffs vereinen. Erst dann wäre der Begriff Gottes keine bloße Abstraktion. 14 Von allen philosophischen Betrachtungen des ontologischen Arguments ist die Hegeische die stärkste Kontextualisierung, die Einbettung des Beweises in den Auf- und Abstieg der philosophischen Erkenntnis im ganzen. Diese Einbettung macht darauf aufmerksam, daß Gottesbeweise sehr viel weniger beweisen, als es das starke Wort „Beweis" nahelegt. Wenn etwas keines Beweises bedarf, um sich zu legitimieren, dann der Begriff Gottes, der als Grund aller Gründe nicht selbst beweispflichtig sein kann. Wenn Anselm im Proslogion dennoch einen „Gottesbeweis" fuhrt, so muß man dies recht verstehen. Anselm führt weder ein Selbstgespräch noch einen nur fiktiven Dialog mit einem fiktiven Gegenüber. Er spricht vielmehr mit dem Gott, an den er glaubt, und sein Argument dient nicht dem „Beweis" von dessen Existenz, sondern der rationalen Rechtfertigung des Glaubens gegenüber dem „insipiens", dem „Toren", „,der in seinem Herzen sagt: es ist kein Gott'". Was sich mit dem Argument des maius über Gott sagen läßt, ist wenig. Was bedeuten schon einige wenige Sätze, wenn es um ein Begreifen des Absoluten geht? Wenn dieses sich nicht selber „beweist", das heißt, wenn es sich nicht selber zeigt (oder der Begriff nicht ein Sich-Selber-Zeigen ist) - wer beweist es dann?
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G.F.W. Hegel, Philosophie der Religion, 2. Bd., Jubiläumsausgabe Bd. XVI, Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, S. 547. 12 „Nur die Abstraction des mit sich Einen", ebd., S. 548. » Ebd. 14 Mark C. Taylor , Itinerarium Mentis in Deum: Hegel's Proof of God's Existence, in: The Journal of Religion, Vol. 57 (1977), S. 211-231.
Theologisches Sprechen über Demokratie Von Rudolf Uertz Bis zur Aufklärung und auch darüber hinaus war die Welt auf Gott hin transparent; es gab gewissermaßen eine Evidenz, daß hinter dieser Welt eine höhere Intelligenz steht, daß die Welt mit allem, was in ihr ist, einen Schöpfergeist spiegelt. Diese kollektive Grundvoraussetzung hat sich nach und nach seit der Aufklärung gewendet. Heute ist das Weltbild genau umgekehrt: Alles, so scheint es, ist materiell erklärt; man braucht, wie Laplace schon gesagt hat, die Hypothese Gott nicht mehr; alles wird aus materiellen Faktoren erklärt. Das theologische Sprechen über die Dinge des Alltags, die Natur, die Technik, die Wirtschaft, die politische Ordnung, die Familie, die Kultur usw. ist schwierig geworden angesichts der neuen Autoritäten, den Populärwissenschaften, die sich „sozusagen als die Wissenschaft selbst" ausgeben.1 Anders als die Soziologie, die mit der Religionssoziologie einen eigenständigen Forschungszweig hervorgebracht hat, vermochte die Politikwissenschaft bisher keine allgemein anerkannte Disziplin herauszubilden, die sich mit den historischen, systematischen und aktuellen Fragen des Verhältnisses von Religion und Politik und den theologischen Dimensionen und religiösen Determinanten der Politik befassen. 2 Am ehesten scheinen diese historischen und systematischen Grenzfragen noch Gegenstand der politischen Ethik zu sein, ein Teilgebiet der politischen Theorie, das auch von theologischer Seite bearbeitet wird. Zweifellos haben Theologen und christliche Sozialethiker hinsichtlich der religiösen Dimensionen ihrer Fragestellungen anderen Ansprüchen zu genügen als Juristen, Sozialwissenschaftler und Historiker. 3 Während sich letztere in der Regel auf die historisch-systematischen und empirischen Dimensionen theologischpolitischer Grenzfragen beschränken, haben Theologen, die den christlichen
1 Vgl. Interview mit Joseph Kardinal Ratzinger zu Gottesbewußtsein und Liturgie, Theologie und Ökumene, in: Die Tagespost vom 3.10.2003. 2 Vgl. Johann Baptist Müller, Determinanten politischer Entscheidung, Berlin 1985, S. 139-155. An der Universität Duisburg ist das „Institut für Religionspolitologie" angesiedelt; dieser Begriff hat sich zur Kennzeichnung der interdisziplinären Forschung von Religion und Politik nicht durchgesetzt. Zur aktuellen Diskussion vgl. Erhard Forndran, Religion und Politik - Eine einführende Problemanzeige, in: Ders. (Hg.): Religion und Politik in einer säkularisierten Welt, Baden-Baden 1991, S. 9 ff.; vgl. die materialreiche Edition: Michael Minkenberg/Ulrich Willems (Hg.), Politik und Religion, Wiesbaden 2003. 3 Vgl. Rudolf Uertz, Christliche Sozialethik und Christliche Demokratie. Zur Zukunftsfähigkeit des sozialethischen Dialogs, in: Historisch-politische Mitteilungen 8 (2001), S. 267 ff.
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Glauben und die aus ihm fließenden Motive und Imperative in ihren Besonderheiten erfassen wollen, oft Schwierigkeiten, bei der Behandlung profaner Themen wie etwa der demokratischen Ordnung des Gemeinwesens die genuin theologische Sichtweise zum Vorschein zu bringen. Zweifellos erkennen heute die Kirchen die Eigengesetzlichkeit der gesellschaftlich-politischen Wertsphären an. Das religiöse Bekenntnis hat sich zunehmend in den privaten Raum verlagert - nicht zuletzt als Folge der Pluralität von Kirchen und Konfessionen; 4 in der Öffentlichkeit vernimmt man kaum die religiöse Sprache, wenngleich dieses Tabu gelegentlich durchbrochen wird. Selbst innerhalb der Theologie ist es nicht unumstritten, ob und wieweit etwa die christliche Sozialethik als theologische Disziplin zu betrachten ist, wieweit ihre naturrechtlichen und philosophischen Begründungen noch theologischer Ergänzungen bedürfen. Der katholische Sozialethiker, Nikolaus Monzel, hat sich besonders um die theologische Grundlegung seiner Disziplin bemüht. Er stellt die Frage: „Hat die Offenbarung lediglich die Funktion, sozialphilosophisch-naturrechtliche Erkenntnisse nachträglich zu sanktionieren, sie tiefer zu begründen und damit für den Glaubenden »sicherer4 zu machen? Oder enthält die übernatürlichchristliche Offenbarung,einen inhaltlichen Überschuß (...) an sozial bedeutsamen Wertbestimmungen und Zielsetzungen'"?5 Verschiedene Zeiten haben verschiedene Antworten gegeben auf die Frage, wie sich das Christliche zur staatlich-politischen Ordnung verhält. Neben den epochalen und kulturell-regionalen Unterschieden sind nicht zuletzt auch konfessionsspezifische Zugänge zu diesem Themenkomplex von Bedeutung. Katholiken haben einen anderen Blickwinkel auf das Verhältnis von Religion und Politik als Protestanten, und jüngst hat sich - nach gut einem dreiviertel Jahrhundert der Unterdrückung - mit der Sozialdoktrin des Moskauer Patriarchats vom August 2000 auch die Orthodoxe Kirche mit einem eigenständigen sozialethischen Argumentationstypus in den interkonfessionellen und interkulturellen Dialog eingeschaltet und behauptet dort einen eigenen Platz neben der katholischen und der evangelischen Sozialethik.6 4 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders. t Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zu Staatstheorie und Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1976, S. 42 ff. 5 Lothar Roos, Trinitarischer Humanismus als theologische Mitte einer christlichen Gesellschaftslehre, in: Michael Böhnke/Hanspeter Heinz (Hg.), Im Gespräch mit dem dreieinen Gott. Elemente einer trinitarischen Theologie. Festschrift zum 65. Geburtstag von Wilhelm Breuning, Düsseldorf 1985, S. 457 ff., hier 459; der Begriff „inhaltlicher Überschuß" zur Kennzeichnung einer über die sittlich-naturrechtliche Theorie hinausgehenden theologisch-biblischen Charakterisierung der christlichen Soziallehre, stammt von Nikolaus Monzel, Solidarität und Selbstverantwortung, München 1959, S. 18. 6 Vgl. Rudolf Uertz, Einführung in die politische Theorie des russisch-orthodoxen Christentums, in: Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche. Deutsche Übersetzung mit Einführung und Kommentar, hg. von Josef Thesing/Rudolf Uertz, St. Augustin 2001, S. 134 ff.; zur evangelischen Sozialethik vgl. Martin Honecker, Evangelische Sozialethik, in: Historisch-politische Mitteilungen 8 (2001), S. 33 ff.
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Aus den vielgestaltigen Ansätzen und Ideenkreisen der Kirchen und theologischen Schulen sollen drei wirkungsmächtige Beispiele herausgegriffen werden, wobei hinsichtlich des Verhältnisses von Theologie und Politik vor allem die Frage der Demokratie von Interesse ist. Es soll I. das scholastische Modell vorgestellt werden, das in der frühen Neuzeit, der sogenannten spanischen Spätscholastik, wiederbelebt wurde; II. wird die scholastische Argumentationsweise in ihrer neuscholastischen Variante vortragen; III. werden die Epoche des Übergangs von der Neuscholastik zur personalistischen Sozialethik der Katholischen Kirche seit den 1960er Jahren und die nachfolgenden Adaptionsprozesse behandelt, wobei auch auf die protestantische Ethik einzugehen sein wird. Über alledem steht die Leitfrage, wie sie oben von Nikolaus Monzel formuliert wurde. I. Das scholastische Modell der Volkssouveränität Die naturrechtlich-scholastischen Vorstellungen spiegeln nur sehr bedingt das praktische Rechtsleben des Mittelalters wider. Anders als die philosophischnaturrechtlichen Traktate der Scholastiker vermuten lassen, legitimierte sich das Recht bis weit in die Neuzeit aus seiner historischen Gültigkeit: Alter, Tradition, Gewohnheit sind die Merkmale des „guten alten Rechts". Das hohe Alter des Rechts war zudem auch Ausweis seiner göttlichen Stiftung. 7 Insofern wird man bei aller Bedeutung des Thomas von Aquin, des Fürsten der Scholastik, dessen Naturrechtslehre nicht als repräsentativ für das Hoch- und Spätmittelalter ansehen können. Aber seine Gedanken wurden zu einem unerschöpflichen Reservoir der abendländischen Denktradition. So kommen in der Blütezeit der spanischen Spätscholastik seine Schriften erneut zur Ehre. Die spanische Spätscholastik sollte ihrerseits zur wichtigsten Grundlage einer erneuerten Scholastik werden, die seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts für rund einhundert Jahre mit kirchenamtlicher Förderung sich als offizieller Lehrkanon der theologischen und philosophischen Studienfächer etablierte und auch in beträchtlichem Umfang Einfluß auf das politische und soziale Argumentieren von Klerus und Laien in Staat und Gesellschaft gewann.8 So hatte sich im Bewußtsein weiter kirchlicher und säkularer Kreise ein ideengeschichtlich-theoretisches Verständnis festgesetzt, dessen Gedankenlinien vom Aristotelismus und Thomismus über die frühneuzeitlichen spanischen Theologen und Philosophen bis zu der - in Italien einsetzenden, seit dem Pontifikat Leos XIII. (1878-1903) zur offiziellen Doktrin der Katholischen Kirche
7 Vgl. Wolf Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht. Rechtssoziologische Untersuchungen zum Einfluß der Naturrechtslehre auf die Rechtspraxis in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Neuwied 1972, S. 218; Karl Graf Ballestrem (Hg.), Naturrecht und Politik, Berlin 1993. 8 Vgl. Peter Tischleder, Ursprung und Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule, München-Gladbach 1923; Heinrich Rommen, Die Staatslehre des Franz Suarez, München-Gladbach 1926; vgl. auch die revidierte, stärker vom amerikanischen Verfassungsdenken beeinflußte Neufassung von Ders., „The State in Catholic Thought. A Treatise in Political Philosophy", St. Louis 1945.
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bestimmten - neuscholastischen Lehre reichte. Ihr Merkmal war es, die Synthese von Glauben und Wissen, von theologischer und philosophischer Sicht zu bewahren und somit nach den Umbrüchen, die der Französischen Revolution folgten, ein Bollwerk des Katholizismus gegenüber der sich erkennbar säkularisierenden Gesellschaft, Kultur und Politik zu installieren. Was zur Popularisierung der erneuerten scholastischen Soziallehre im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland beitrug war insbesondere der Umstand, daß die kirchenamtlichen Leitlinien in beträchtlichem Maße auch die Programmatik des politischen und sozialen Katholizismus und der Zentrumspartei prägten, wenngleich diese sich als Verfassungspartei verstand und nicht als politischer Ausschuß kirchlicher Interessen. Aber mit ihrer praktisch-ethischen und politischen Ausrichtung vollzog die christliche Soziallehre zwangsläufig einen Spagat: Sie nahm Stellung zu Fragen des politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, technischen, sozialen und kulturellen Lebens; andererseits aber wollte sie zugleich eine theologische Disziplin sein, deren Kern die biblische Botschaft ist. Vielfach wurde deshalb der katholischen Theologie und Kirche vor allem von protestantischer Seite vorgehalten, mit ihrer naturrechtlich-philosophischen - also „säkularistischen" - Argumentation die religiösen Grundlagen von Staat und Gesellschaft zu schwächen.9 Prominente Denker wie Otto von Gierke und Wilhelm Windelband sehen diese Charakteristika schon in der scholastischen Sozialethik der spanischen Theologen des 16. Jahrhunderts angelegt, deren Lehren in beträchtlichem Maße auch auf das neuzeitliche Völkerrecht eingewirkt haben. Als „eifrigste Gegner der Reformation", so lautet der Vorwurf von Gierke, hätten diese „mit allen Waffen des Geistes für eine rein weltliche Konstruktion des Staates und des Herrscherrechts" gewirkt und - wie Wilhelm Windelband hinzufugte - dem Staat dadurch „die höhere Autorität und gewissermaßen seine metaphysische Wurzel" genommen.10 Letztlich steht dahinter der Vorwurf, daß die Theologie an der Verweltlichung des politischen Denkens Anteil gehabt habe, also die theologischen Argumente weit hinter die philosophisch-naturrechtliche Argumentation zurückgetreten seien. Im wesentlichen vertritt diese These auch Leopold von Ranke. Er pointiert aber seine Aussage beträchtlich, wenn er einen konfessionsvergleichenden Akzent hinzufügt. Dabei will Ranke keineswegs eine kontroverstheologische Debatte vom Zaun brechen; vielmehr geht es ihm um die historische Feststellung, daß letztlich beide Konfessionen, also Protestantismus und Katholizismus zusammen, der Verweltli-
9 Vgl. Karl-Heinz Ohlig y Neuzeit und Moderne als Herausforderung und Bedrohung der Religion, in: Ders./Martin Honecker, Christlicher Glaube, Religion und moderne Gesellschaft, Alfter-Oedekoven 1988, S. 6 ff.; K.-H. Ohlig, Christentum, Kirche, Individuum, in: Richard van Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2001, S. 11 ff. 10 Vgl. Otto von Gierke , Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, Breslau41929, Neudruck Aalen 1981, S. 65 ; Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 131935, S. 359.
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chung und gar der Revolutionierung des politisch-staatlichen Denkens in die Hand gespielt hätten. Gemeinhin, so der Historiker, werde dieser Vorwurf dem „Manne des sechszehnten Jahrhunderts", nämlich Martin Luther, gemacht. Dessen „Grundsatz der freien Prüfung" habe von „Zugeständniß zu Zugeständniß fortgerissen und endlich alles untergraben". Die heutigen „große(n) Gärungen", in denen man frühere Ideen wiedererkenne, stellten also eine Verknüpfung von politischen Bewegungen mit „den kirchlichen" dar. „Hätte nicht der Katholicismus", so fuhrt Ranke eine vor allem in Frankreich zitierte Meinung aus dem frühen 19. Jahrhundert an, „hätten nicht die Jesuiten Widerstand geleistet, so würde man schon längst auf die Stelle gerathen sein, mit deren Gefahren wir heute kämpfen." 11 Was aber haben die Jesuiten gelehrt? Ranke meint, daß sie - und nicht protestantische Denker - die eigentlichen Autoren der neuzeitlichen Volkssouveränität gewesen seien. Er zitiert den Jesuitengeneral Lainez, der auf dem Konzil von Trient 1562 ausgeführt hat: „Es ist ein Gegensatz zwischen der Kirche Gottes und den Staaten der Menschen. Die Kirche machte sich nicht selbst, bildete sich auch ihre Regierung nicht selbst, sondern Christus, ihr Fürst und Monarch, gab ihr zuerst Gesetze. Die Staaten dagegen bilden sich ihre Regierung mit Freiheit: ursprünglich ist alle Gewalt in den Gemeinheiten: diese ertheilen dieselbe ihren Obrigkeiten, ohne sich jedoch damit dieser Gewalt selbst zu berauben." 12 Bemerkenswert sind die von Ranke zitierten Quellen und Gedanken nicht nur hinsichtlich ihres politiktheoretischen Gehalts, sondern auch wegen der Art und Weise, wie dabei theologische und philosophische Argumente verschränkt sind. Im Zentrum seiner These steht die scholastische Lehre vom Volke als dem ursprünglichen Träger der Macht. Ausgangspunkt für die Scholastiker, die sich als Theologen verstehen, ist die paulinische Gewaltenlehre nach dem 13. Kapitel des Römerbriefs: „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen..." 13 Diese Stelle des Neuen Testamentes hatte über Jahrhunderte hinweg die Funktion einer Staatstheorie. Ihr Kern ist genuin theologisch. Aber mit der Aussage „Jede Gewalt kommt von Gott", deren engerer Kontext eine fast umstandslose Rechtfertigung der jeweils bestehenden Machtverhältnisse impliziert, wurde über Jahrhunderte der Legitimismus befördert.
" Leopold von Ranke, Die Idee der Volkssouveränität in den Schriften der Jesuiten, in: Abhandlungen und Versuche. Erste Sammlung, Leipzig21877, S. 225 ff. 12 Ebd. 13 Röm 13,1-7; zit. nach der Deutschen Einheitsübersetzung. Eine auch politiktheoretisch bemerkenswerte Interpretation bietet Paul Mikat, Zur Gehorsams- und Widerstandsproblematik nach Röm 13,1-7, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1987, Köln o.J., S. 19 ff. - Schon der griechische Kirchenvater Johannes Chrysostomus (354-407) vertrat eine naturrechtliche Interpretation des Römerbriefs; vgl. Heinrich Rommen, Die Staatslehre des Franz Suarez, München-Gladbach 1926, S. 89 f.; Stephan Verosta, Johannes Chrystostomus Graz 1960, S. 351 ff.
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Gemäß der spätscholastischen Argumentation, die sich an Thomas von Aquin anschließt, wird die Herrschermacht von Gott allerdings nicht direkt auf eine bestimmte Person, ein Gremium oder eine Dynastie übertragen. Einen solchen Rechtstitel theologisch zu folgern, lehnen die Scholastiker ab. Vielmehr interpretieren sie diese Gewaltübertragung bzw. die Rechtfertigung der Herrschergewalt schöpfungstheologisch. Das heißt, daß überhaupt die staatliche Gewalt besteht, bestehen muß, liegt in Gottes Schöpfiingsplan begründet. Staatliche Ordnung und Anordnungsbefugnisse sind naturnotwendige Bedingungen eines befriedeten menschlichen Zusammenlebens. Im Unterschied zum augustinisch-lutherischen Ansatz vertritt die thomistisch-scholastische Theorie die Ansicht, daß der Staat nicht Folge des Sündenfalls ist; vielmehr hätte er auch ohne diesen Bestand.14 Wohl ist die Erkenntnisfähigkeit des Menschen durch die Ursünde getrübt, aber dennoch bleibt auch nach der Ursünde eine bestimmte natürliche Einsichtsfähigkeit des Menschen erhalten. Daher ist für die thomistisch-scholastische Lehre eine naturrechtlich-metaphysische Betrachtung der näheren Bedingungen der menschlichen Ordnung geboten. Wenn nun aber Gott, so die naturrechtlich-philosophische Begründung weiter, die Macht keiner konkreten Person oder keinem bestimmten Organ direkt verleiht, so können die legitimen Lenker oder Lenkungsorgane die Gewalt von Gott nur mittelbar erhalten haben. Wem kommt dann aber die Macht und die Fähigkeit, über die konkrete Machtordnung zu befinden, ursprünglich zu? Ursprünglicher Träger der von Gott kommenden Macht, so sagen die spanischen Scholastiker unisono, kann dann nur das „Volk" sein. Das Volk, d.h. die bereits geordnete Größe, nicht jedoch die ungestalte „Masse", ist der erste Inhaber der Gewalt, der diese dann auf eine Person oder ein Gremium überträgt. Die faktisch-rechtlichen Formen der Übertragung können vielfältig sein, ebenso die Staatsformen, wobei gemäß der aristotelisch-thomistischen Tradition Monarchie, Aristokratie und Demokratie angenommen werden - mit einer Präferenz für die gemischte Verfassung. Unterschiedlich deuten die spanischen Theologen der frühen Neuzeit auch die wichtige Frage, ob das Volk die ursprüngliche Gewalt mit der Übertragung verliert und z.B. erst dann wieder erlangt, wenn ein Herrscherhaus ausstirbt, oder ob ihm die Gewalt, den Herrscher zu bestellen und die Herrschaft unter Umständen auch zu widerrufen, dauerhaft eignet. Bei allen Differenzen, die sich bei den Spätscholastikern hinsichtlich der konkreten Handhabung der Machtübertragung des Volkes zeigen, stimmen sie doch darin überein, daß allgemeine Vernunftgründe, also ethische und rechtliche Überlegungen hinsichtlich der Frage nach der rechten Ordnung und der Bestellung der Herrschaft ausschlaggebend sind. Entsprechend treten theologische Begründungen zurück, ohne allerdings vollends an Bedeutung zu verlieren. Aber diese Reduzierung der Argumentation auf allgemeinsittliche Ideen, die auch für den Nicht-Gläubigen nachvollziehbar sind, sind der
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Vgl. Dolf Sternberger, Der alte Streit um den Ursprung der Herrschaft, in: Ders., Herrschaft und Vereinbarung, Frankfort am Main 1986, S. 26 ff.
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Grund für die These von Gierke, Ranke und Windelband, daß die Jesuiten bzw. spanischen Spätscholastiker die Säkularisierung des Staates befördert hätten. Tatsächlich ist die theologisch-philosophische Ambivalenz der spätscholastischen These vom Volk nicht zu übersehen: Der Gedanke der Gottgewirktheit und der Menschengewirktheit werden synthetisiert, ohne nach der einen oder der anderen Seite hin aufgelöst zu werden. Oder anders formuliert: in der Konstruktion der Spätscholastiker fließen gemäßigt voluntaristische Elemente und traditionalistisch-gewohnheitsrechtliche Formen (etwa die Zustimmung des Volkes) zusammen.15 Peter Graf Kielmansegg urteilt: Zu den „merkwürdigen Inkonsequenzen" der Spätscholastiker zählt, daß sie mit ihrer Volkssouveränitätslehre einerseits das Schema für das neuzeitliche Legitimitätsdenken vorbereitet haben und die Herrschaftsstrukturen als prinzipiell machbar erkannt haben, andererseits aber der überlieferten Vorstellung verbunden blieben, daß der Mensch in vorgegebene Ordnungen hineingebunden sei.16 II. Die neuscholastische Lehre vom Gemeinwohl Genau diese Ambivalenz, daß nämlich einerseits die Herrschaftsordnung einer willentlichen Entscheidung entspringt, die Ordnung also ein menschliches Produkt ist, daß andererseits aber die Ordnung historisch gewachsen und als solche vorgegeben ist, war die Grundlage und Essenz der leoninischen Staatslehre (seit 1881), mit der er die bis dahin in der kirchenamtlichen Lehre eindeutig dominierende theologisch-traditionalistische Theorie modifizierte. Seit Leo XIII. wurde wieder stärker die naturrechtliche aristotelisch-thomistische Lehre vom Gemeinwohl akzentuiert. Das bedeutete: Wo die monarchische Ordnung (noch) Bestand hatte, konnte diese als rechtens und gottgewollt Geltung beanspruchen. Doch wo sich die demokratische Ordnung faktisch durchgesetzt hatte, konnte auch diese Ordnung legitimiert werden. Die katholische Staatslehre argumentierte also in einem ersten Schritt theologisch-biblisch, in einem zweiten philosophisch-rechtlich. In den Staatsenzykliken Leos XIII. verbanden sich beide Argumentationslinien in kunstvoller Weise. Die Monarchien in Europa konnten sich ebenso auf die Staatsdoktrin der katholischen Kirche stützen wie die republikanisch-konstitutionellen Staaten, etwa
15 Johann Sauter , Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts. Untersuchungen zur Geschichte der Rechts- und Staatslehre, Wien 1932, S. 82, sieht in der „Betonung des menschlichen Entscheidungswillens als Faktor der ,Mitbegründung des Staates aus der geistigen Freiheit des Menschen'" Anklänge an die Vertragstheorie der Staatsphilosophie der Aufklärung. Im Unterschied zu Hobbes und Rousseau, bei denen der Vertrag wesenskonstitutiv ist, sei er für die Scholastiker allerdings wesensexplikativ. 16 Peter Graf Kielmansegg, Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität, Stuttgart 1977, S. 76 f.; vgl. auch PaulMikat, Grundelemente katholischer Staatsauflfassung, in: Christentum und Liberalismus, hg. von Karl Forster, München 1960, S. 84 ff.; Hans Maier, Katholizismus und Demokratie (Schriften zu Kirche und Gesellschaft, I), Freiburg i. Br. 1983.
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Frankreich und Belgien. 17 Damit hatte das scholastische Denken, die „Summentheologie", noch einmal Gestalt gewonnen; diese Synthese war jedoch kein Natur-, sondern ein Kunstprodukt. Der katholische Rechtsphilosoph Heinrich Rommen hat diese Synthese von Theologie und Philosophie der neuscholastischen Staatsidee, wie sie vor allem durch Leo XIII. rekonstruiert worden war, in seinem Buch Der Staat in der katholischen Gedankenwelt als „Coincidentia discordantium" beschrieben. Was hierbei an Ungleichförmigem zusammengefugt wird, sind zwei Gedankenreihen: die theologische, wonach Gott die Gewalt zum Herrschen verleiht, die Ordnung gottgewollt-naturhaft tradiert wird, und die philosophische Reihe, wonach es die Menschen eines Herrschaftsverbandes sind, die über die konkrete Ordnungsstruktur befinden. Die beiden gegensätzlichen Gedanken der Gott- und der Menschengewirktheit der Ordnung finden ihren Ausdruck in der Designationstheorie und in der Translationstheorie. Der letzteren wohne eine größere Konsequenz inne, da sie „das vielfältige und häufige Problem der Verfassungsänderung" sowie des Wandels der geschichtlichen Staatsformen" und der sozialen Dynamik besser erkennen lasse. Die Translationstheorie sei somit offen vor allem für die „individuelle geschichtliche Entwicklung der Völker und die willensfreien, nicht notwendigen4 Bahnen dieser Entwicklung ihrer politischen und sozialen Formen". Während die Translationstheorie demnach primär die philosophisch-historische und auch rechtliche Seite der Gewaltenordnung im Auge hat, intendiert die Designationstheorie eine genuin theologische Idee der Ordnung als solcher und ihrer Dauer. Die Tatsache, „daß Ordnung sei, ist ihr zunächst wichtiger als die Entscheidung über die Frage, ob die geltende Ordnung auch die aus der geschichtlichen Entwicklung richtige ist. Der Staat als Zustand, als Geschöpf geschichtlicher Mächte, der menschlich freien Bestimmung weitgehend entzogen, das ist es, was sie zuerst und vor allem sieht". Mit ihrem Sinn für den Wert der Ordnung und der Dauer betont diese theologische Sichtweise die Dimension des Staates als „Zustand" sowie seine übergeschichtlichen abstrakten Werte. „Designationslehre und Übertragungslehre", theologische und philosophische Gedanken leben zusammen im „Kosmos der christlichen Staatslehre". So lange sie in ihm lebten, seien sie vor extremen Formen bewahrt. Wenn nämlich, so Rommens Schluß, eine von ihnen „aus dieser Spannungseinheit entlassen wird, dann erliegt sie der Gefahr aus politischem Zweckdenken sich absolut zu setzen, dann wird sie zur politischen Hilfstheorie des Legitimismus oder des freien Revolutionsrechtes". 18
17 Vgl. Peter Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII., München-Gladbach 21927; eine kritische Analyse der päpstlichen Staatslehre und ihrer politiktheoretischen Relevanz bietet Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, in: Zeitschriii der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte/Kanonistische Abteilung 73 (1987), S. 296 ff. 18 Heinrich Rommen, Der Staat in der katholischen Gedankenwelt, Paderborn 1935, S. 223 ff.; bezeichnend ist, daß Rommen in dieser philosophisch-theologischen Synthese nur schwer zu den praktischen Fragen des positiven Rechts finden kann; die Fragen der verfassungsstaatlichen Verankerung der Menschenrechte und der demokratischen Willensbildung werden erst in der ein Jahr
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Rommen beschreibt damit ein grundsätzliches Problem der theologischen Theorie von Staat und Herrschaft und ihrer Beziehung zur philosophischen Betrachtung. Tatsächlich hatten alle theologischen Betrachtungen zur politischen Ordnung in der Zwischenkriegszeit äußerste Bedenken, dieses kunstvolle theologisch-philosophische Gebäude nach der einen oder anderen Seite hin aufzulösen und zum Einsturz zu bringen. Der Organismusgedanke war die angemessene Leitidee; die formale Demokratie sollte durch die organische Demokratie ersetzt und erfüllt werden. Das organische Sozialmodell, das biblisch-theologisch gut belegt ist, identifizierte man mit natürlicher Ordnung, wie sie Gottes Schöpfungsordnung entspreche und setzte sie - ähnlich wie übrigens im säkularen Staatsdenken - als Ideal. Als Gegenbild sahen katholische Theologen und Sozialethiker die mechanistisch-individualistische Ordnung, die man mit Verfall und Auflösung identifizierte. Von dieser theologisch-philosophischen Balance her gesehen aber mußten individuelle Menschenrechte und die demokratische Ordnung als Verfallsordnung erscheinen. Das Problem für die Theologie bestand darin, daß sie von dieser Art Synthese her einseitig Stellung nehmen mußte zugunsten der organisch-ganzheitlichen Ordnung. Ein Trugschluß, der dazu führte, daß man damit die Neutralität der katholischen Lehre aufgegeben hatte. Von ihrem Selbstverständnis her betont die Theologie ihren übergeschichtlichen Charakter; sie vermag dementsprechend aus den biblischen Quellen keine direkten Handlungsanweisungen für die Gestaltung konkreter Ordnung zu entnehmen, sondern nur Leitbilder zu vermitteln, die auf regional, zeitlich und kulturell unterschiedliche Ordnungen Anwendung finden können. Und so betonte auch die leoninische Lehre, daß über den Gedanken hinaus, daß jede Ordnung angemessen und gerecht sein kann, sofern sie dem Gemeinwohl entspricht, keine konkrete Maßgabe formuliert werden kann. Wer aber sollte darüber bestimmen (dürfen), was dem Gemeinwohl entspricht, das doch offenbar keine theologische, sondern eine rechtlich-philosophische Größe darstellt. Die auf Synthese abgestellte neuscholastische Theorie kam über diesen Zirkelschluß nicht hinaus; denn das „Volk" und das „Wohl des Volkes" bzw. das „Wohl der Allgemeinheit" konnte im organischen Denken nicht durch individuell-plurale Willensbildung, verbunden gar mit individuellen Grundrechten, zusammen gedacht werden, ohne daß diese Synthese sich auflöste. Genau diese Schwäche hat ErnstWolfgang Böckenforde dem katholischen Staatsdenken der 1930er Jahre vorgehalten.19 Die Konsequenzen hieraus wurden - von wenigen Ausnahmen abgesehen - erst 1945 gezogen.
später erschienenen Publikation Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, Leipzig '1936, München 2 1947, behandelt. , Vgl. P. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, S. 30. 47 K. G. Ballestrem , Vertragstheoretische Ansätze in der politischen Philosophie, S. 11.
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wieder realisierbar erscheinen. Kein Grund also, der Vertragstheorie ein baldiges Aus zu prognostizieren. Sie ist und bleibt faszinierend.
Gehorsam und „zugleich ein Geist der Freiheit" Zur Aktualität der Kantischen Lehre vom ursprünglichen Vertrag als einer bloßen „Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat" Von Norbert Herold In der gegenwärtigen Politik zeigt sich eine merkwürdige Gespaltenheit zwischen hohen moralischen Ansprüchen auf der einen Seite und einem Verlust der Politik an Ansehen und Glaubwürdigkeit auf der anderen. Einerseits verlangt man nach Prinzipien, Ideen, nach der großen Linie, einem neuen Gesellschaftsvertrag, gleichzeitig traut man der Politik aber immer weniger zu und stellt fest, dass die Kraft zur Veränderung ersetzt wird durch die Kunst, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. Ein übersteigerter Idealismus und Moralismus entpuppt sich als ohnmächtig und schlägt um in einen Zynismus der Machterhaltung. Es fehlt dagegen ein Pragmatismus, der gleichwohl ideengeleitet ist. In seiner vieldiskutierten Antrittsvorlesung in Oxford hatte Isaiah Berlin 1958 erklärt: „Wer das Gebiet des politischen Denkens vernachlässigt, weil dessen schwankende Themen mit ihren fließenden Grenzen sich mit den festen Begriffen, den abstrakten Modellen und ausgefeilten Instrumenten von Logik und Sprachanalyse nicht fassen lassen,... der liefert sich auf diese Weise primitiven, kritiklos hingenommenen politischen Überzeugungen aus. ... Vielleicht werden politische Ideen ohne den Druck gesellschaftlicher Kräfte tatsächlich nicht recht lebendig: sicher ist aber, daß diese Kräfte, sofern sie sich nicht in Ideen kleiden, blind und richtungslos bleiben." 1
Auch wenn sich - so Berlin weiter - historische Bewegungen oder Konflikte zwischen Menschen nicht ausschließlich „auf Bewegungen von Ideen oder geistigen Kräften oder auf Konflikte zwischen ihnen zurückführen lassen", so muss doch, „wer solche Bewegungen oder Konflikte verstehen will, vor allem die an ihnen beteiligten Ideen und Lebensanschauungen verstehen ..." Berlin wendet sich mit seiner These von der Kraft der Ideen und seinem Plädoyer für das Studium des politischen Denkens nicht nur gegen einen überzogenen Wissenschaftsanspruch seiner analytisch orientierten Kollegen, der sie für zentrale Fragen der Politik wie z.B. die nach dem Verhältnis von Freiheit, legitimem Zwang und Gehorsamsverpflichtung blind macht, sondern auch gegen eine Form von Pragmatismus, der sich letztlich erfolglos gegen die Macht der Verhältnisse anstemmt, weil er die Denk-
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Isaiah Berlin, Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt 1995, 199f.
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weise der politischen Akteure nicht versteht. In Abwandlung der 11. FeuerbachThese des jungen Karl Marx könnte man sagen, dass die Voraussetzung für jeden Versuch, die Welt zu verändern, die Fähigkeit ist, sie zu interpretieren. Seit Berlins Weckruf vor fünfundvierzig Jahren hat sich die wissenschaftliche Situation zwar durchaus in Sinne seines Aufrufs verändert, allerdings sind die Herausforderungen für die Erforschung des politischen Denkens auch größer geworden. An die Stelle der Konfrontation zweier großer politischer Systeme, die eine tödliche Bedrohung für die Welt darstellte, ist seit 1989 eine Vielzahl von Konflikten getreten, die sich als nicht minder gefährlich erweisen und die insofern „blind und richtungslos" erscheinen, als Nationalismen, Hass, Ressentiments, Fanatismus und pure Mordlust ungebremst zu Tage treten und sich allenfalls in wirre Ideen kleiden. Angesichts dieser Gemengelage müssen nicht nur traditionelle Handlungsmuster und Institutionen, sondern auch traditionelle Deutungsmuster der politischen Philosophie überprüft werden. Für die modernen westlichen Demokratien ist die Vertragstheorie eine der wichtigsten politischen Leitideen und Legitimitätsmuster. Daher soll im Folgenden versucht werden, am Beispiel der Vertragstheorie die These von der Kraft der Ideen bei der Gestaltung der politischen Wirklichkeit zu untermauern. Für Immanuel Kant ist der ursprüngliche Kontrakt oder Gesellschaftsvertrag „eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat". 2 Um diese praktische Realität geht es, wenn Kant den Gehorsam des Staatsbürgers mit dem Anspruch des freien Subjektes, mit sich im Einklang, d.h. ohne einen Selbstwiderspruch zu leben, verbindet. Kant ist sich darüber im klaren, dass ein friedliches Zusammenleben nicht ohne gesetzliche Regelungen möglich ist, deren Befolgung erzwungen werden kann. Er spricht daher in der Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von der vollkommen gerechten bürgerlichen Gesellschaft als einer „Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt angetroffen wird" ( V I 39) und beschwört, wenn er im Gemeinspruch von einem „Mechanismus der Staatsverfassung nach Zwangsgesetzen (die aufs Ganze gehen)" spricht, gleichwohl zugleich den „Geist der Freiheit", der sich äußern können müsse, damit die eigentliche Absicht des Staates, das öffentliche Wohl, realisiert werden könne. Ein solcher Geist der Freiheit respektiere, „dass jeder durch Vernunft überzeugt zu sein verlangt, daß dieser Zwang rechtmäßig sei, damit er nicht mit sich selbst in Widerspruch gerate." (VI 163) Die Gefahr des Selbstwiderspruchs ist vor allem dann gravierend, wenn es um das geht, „was allgemeine Menschenpflicht betrifft." Die Idee der Menschenrechte, welche die Menschen „im Kopf haben", gewinnt im Begriff des Staatsrechts „verbindende Kraft, mithin objektive (praktische) Realität" (VI 164). Wenn es aber zur Idee gehört, dass sie
2 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, VI, 153. Die weiteren Angaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
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- einmal geäußert - auch wirksam ist und nicht nur die Überzeugung der Rechtmäßigkeit in die Herzen der gehorchenden Untertanen, sondern auch in die Anordnungen der Gesetzgeber hineinbringt, dann ist sie viel mehr in die soziale Realität verwoben, als dies die Gegenüberstellung von bloßer Idee und dem Mechanismus der Gesetze erkennen lässt. Die Idee des Sozialvertrages war zwar von Anfang an umstritten, sie spielt aber bis heute eine zentrale Rolle bei dem notwendigen Balanceakt zwischen bürgerlicher Freiheit und legitimen staatlichen Zwang. Schon vor zwei Jahrzehnten, also am Anfang einer neuen Aufmerksamkeit für die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, hat Karl Graf Ballestrem zwischen dem historischen, dem impliziten und dem hypothetischen Vertrag unterschieden und vorgeschlagen, insbesondere den Gedanken eines impliziten Vertrages für die Legitimationsprobleme in modernen Demokratien zu nutzen.3 Ich teile seine positive Einschätzung, was die Aktualität dieser Argumentationsfigur angeht, möchte aber abweichend die These vertreten, dass trotz nicht zu leugnender theoretischer Schwierigkeiten die Vorstellung eines hypothetischen Vertrages insgesamt besser geeignet ist, die legitimierende Kraft des Vertragsgedankens auch in der Gegenwart zur Geltung zu bringen. Dies soll in sieben Schritten geschehen. Nach einem kurzen historischen Blick auf den Vertragsgedanken als politische Legitimationsfigur (1) wird der Grund für die Attraktivität des Vertragsgedankens, der Bezug auf den Willen des Einzelnen, angesprochen (2). Die Kritik Humes an der Vertragstheorie (3) und Kants Antwort, seine Lehre vom ursprünglichen Vertrag als Idee der Vernunft (4) führen zwar zu der Frage, wie eine bloße Idee der Vernunft verpflichtenden Charakter haben könne (5). Die Vorzüge der Kantischen Vertragskonzeption legen es aber nahe, den Vertragsgedanken über die Idee eines Menschenrechts auf Freiheit hinaus auszuweiten auf die Idee sozialer Gerechtigkeit (6). Es kann so die Aktualität und Unersetzbarkeit dieser Idee der Vernunft aufgezeigt und der „Geist der Freiheit" als ihr eigentlicher Kern sichtbar gemacht werden. I. Die Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag - nach wie vor ein aktuelles Instrument der politischen Philosophie Historisch gesehen liegt die Blütezeit der Vertragstheorien bekanntlich im 17. und 18. Jahrhundert, von Thomas Hobbes über John Locke und Jean-Jacques Rousseau bis zu Immanuel Kant; kritisch stehen ihr vor allem David Hume und G. W.F. Hegel gegenüber. Ein Buchtitel von 1972 - Sozialvertrag und bürgerliche Emanzipation von Hobbes bis Heget - signalisiert aber schon, dass man damals
3 Karl Graf Ballestrem, Vertragstheoretische Ansätze in der politischen Philosophie, in: Zeitschrift für Politik 30 (1983), 1-17; ders., Die Idee des impliziten Gesellschaftsvertrages, in: L. Kern/H. P. Müller (Hrsg): Gerechtigkeit, Diskurs oder Markt?, Opladen 1986, 35-45. 4 Wilfried Röhrich, Sozialvertrag und bürgerliche Emanzipation von Hobbes bis Hegel, Darmstadt 1972.
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noch von einer historischen Abgeschlossenheit des Vertragsgedankens ausgehen konnte. Seit dem 19. Jahrhundert hatten Positivismus, Historismus und Kulturrelativismus das Interesse an normativen Fragen zurückgedrängt. Das Klima des Szientismus und Logischen Empirismus im 20. Jahrhundert war für eine normative politische Philosophie ebenfalls nicht zuträglich. 5 Erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts setzte eine Renaissance der Vertragstheorien ein, jetzt allerdings nicht mehr in der Staatstheorie, der es um die Legitimierung von politischer Herrschaft ging, sondern in der angelsächsisch geprägten Sozialphilosophie, in der über die Grundprinzipien einer gerechten Gesellschaft gestritten wurde. Inzwischen sind die wegweisenden Bücher von John Rawls , Robert Nozick und James M. Buchanan schon wieder Klassiker geworden.6 Es ist erstaunlich, dass die Theorie des Gesellschaftsvertrages in der Gegenwart praktisch konkurrenzlos die gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskussion beherrscht, 7 zumal es keiner der vielen vertragstheoretischen Versionen gelingt, in allgemein überzeugender Weise die Grundsätze des politischen und sozialen Zusammenlebens zu rechtfertigen. Auch wenn ,jede der erörterten Theorien ... eine Menge Einsichten enthält, die es wert sind, für die Zukunft aufbewahrt zu werden" 8 - eine Art Denkmalschutz für gelungene Argumente würde kaum ausreichend erklären, warum der Vertragsgedanke aus der politischen Philosophie der Gegenwart und wohl auch der Zukunft nicht mehr wegzudenken ist. Einleuchtender ist die Vermutung, dass eine demokratisch verfasste Gesellschaft auf den Vertrag als Legitimationsmuster angewiesen bleibt. Wenn allerdings der Vertragsgedanke Leitidee einer demokratischen Legitimierung von Herrschaft und Gesellschaft sein soll, dann ist zumindest stark irritierend, dass sich historisch gesehen völlig unterschiedliche Positionen auf das Vertragsmodell berufen haben: Hobbes rechtfertigt den Absolutismus, Locke den liberalen Rechtsstaat mit repräsentativer Regierung, Rousseau die Republik. Der Blick auf die gegenwärtigen Debatten ist kaum weniger verwirrend: John Rawls, der sich auf Kant beruft, plädiert für den sozialliberalen Wohlfahrtsstaat. Nozick und Buchanan befürworten dagegen das Konzept eines Minimalstaates.9 Was also macht das Vertragsmodell so konkur-
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Vgl. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, Frankfurt 1993,12f.; Peter Koller, Die neuen Vertragstheorien, in: Karl Graf Ballestrem/H. Ottmann (Hrsg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1990,281-306, v.a. 284. 6 John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971 ; Robert Nozick , Anarchy, State, and Utopia, New York 1974; James M. Buchanan, The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago 1975; Vgl. dazu: Peter Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1987; Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1994, 259-351. 7 So z.B. die Feststellung von Karl Homann/Andreas Suchanek, Ökonomik. Eine Einführung, Tübingen 2000, 190. - Die Autoren sehen den Grund für diese Dominanz der Theorie des Gesellschaftsvertrages darin, dass sie mit sehr schwachen Voraussetzungen auskommt. 8 Koller, Die neuen Vertragstheorien (Anm. 5), 302. 9 Vgl. dazu die gründlichen Darstellungen bei: Karl Graf Ballestrem, Vertragstheoretische (Anm. 3), 1-17, v.a. 10; Koller, Die neuen Vertragstheorien (Anm. 5); Kersting: Gesellschaftsvertrag (Anm. 6), 259fif.
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renzlos unter den Bedingungen der Neuzeit und der Moderne? Worin liegt die legitimierende Kraft des Vertrages? II. Der Wille jedes Einzelnen legitimiert die staatliche Ordnung In den Augen Piatons ist der Versuch der Sophisten zurückzuweisen, welche den (nur) konventionellen Charakter des Staates durch den Rückgriff auf den Vertragsgedanken betonen. Für die Philosophie der Neuzeit macht aber genau dieser Punkt, die Zurückführung des Staates auf den Willen der Einzelnen, die Stärke des Modells aus. Staatliche Herrschaft besteht nicht von Natur aus, sondern weil jeder einzelne Bürger es so will. Der Zwang, den staatliche Gewalt ausübt, ist deshalb gerechtfertigt, weil sich alle freiwillig einer Gewalt unterstellen, die sie selbst geschaffen haben. Freiheit - so Rousseau in seiner paradox klingenden Formulierung - ist „der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selber vorgeschrieben hat." 10 Für den Menschen der Neuzeit, der beansprucht, frei geboren zu sein, ist und bleibt es ein Paradox, „regiert zu werden." 11 Selbst wenn man nicht mehr von dem Befund Rousseaus: „und überall liegt er in Ketten" ausgeht, so bleibt doch die von ihm formulierte Aufgabenstellung für den Gesellschaftsvertrag aktuell: „ Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt, und kraft deren jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher? " Dies ist die Hauptfrage, deren Lösung der Gesellschaftsvertrag gibt. 12 Die neuzeitlichen Theorien des Gesellschaftsvertrages suchen eine Antwort auf die Frage, wie sich die Freiheit des einzelnen in der Gesellschaft behaupten lässt. Der Kern der Rede vom Gesellschaftsvertrag findet sich in der Idee, dass sich Autorität und Herrschaft durch freiwillige Selbstbeschränkung, aus eigenem Interesse, unter der Rationalitätsbedingung einer strikten Wechselseitigkeit legitimieren lassen.13 Die freiwillige vertragliche Selbstbindung dient als Quelle für die Legitimation der staatlichen Herrschaftsausübung. Wie ist eine derartige freiwillige Selbstbindung denkbar? 14 Der Mensch ist, so Friedrich Nietzsche, ein Tier, „das versprechen darf." 15 Ein Versprechen bindet
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Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts, hg. H. Weinstock, Stuttgart 1974,24 (CS 18). 11 Vgl. James M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan, Tübingen 1984, 129, Kap. 6: Das Paradox,,»regiert zu werden". 12 Rousseau, Gesellschaftsvertrag (Anm. 10), 17 (CS 16). 13 Vgl. Kersting, Gesellschaftsvertrag (Anm. 6), 15. 14 Zum Folgenden vgl. Kersting, Gesellschaftsvertrag (Anm. 6), 24f. 15 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: ders., Sämtliche Werke, hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari , Bd. 5, München 1980,291. - Vgl. Volker Gerhardt, „Das Thier, das versprechen darf' - Mensch, Gesellschaft und Politik bei Friedrich Nietzsche, in: Otfried Höffe (Hg.), Der Mensch - ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, Stuttgart 1992, 134-156, v.a. 143 ff. 20*
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mich für die Zukunft, vor mir selbst und gegenüber der Person, der ich dieses Versprechen gegeben habe. Sie kann sich auf die Tatsache, dass ich mein Versprechen gegeben habe, berufen. Allein daraus schon entsteht eine Verpflichtung, der ich mich nicht durch Argumente wie: „Ich habe es mir anders überlegt", oder: „Es liegt jetzt nicht mehr in meinem Interesse" entziehen kann, jedenfalls nicht, ohne meine moralische Glaubwürdigkeit zu verlieren. Aber bin ich damit, wenn ich einmal ein Versprechen gegeben oder einen Eid geleistet habe, zur „Nibelungentreue" bis zum eigenen Untergang verpflichtet? Offensichtlich nicht. Zur Normativität der Selbstbindung, die in der Wendung: „Versprochen ist versprochen" ihren kürzesten Ausdruck findet, kommen noch andere Faktoren wie Rationalität oder Moralität hinzu. Der Vertrag, ein gegenseitiges Versprechen, enthält ebenfalls diese Komponente der Selbstverpflichtung, auch wenn bei ihm die rechtliche Verpflichtung dominiert, die gegenseitig eingeräumt wird. Wir schließen also einen Vertrag, weil wir z.B. ein gemeinsames Ziel verfolgen und uns von einer Kooperation Vorteile versprechen, schreiben aber Sanktionen und einen Gerichtsstand in den Vertrag hinein, um sicher zu gehen, dass die freiwillige Selbstverpflichtung aller Vertragspartner auch erfüllt wird. Das Recht, das wir unserem Vertragspartner zugestanden haben, kann von diesem nicht nur wie beim Versprechen eingefordert, sondern auch erzwungen werden. Es besteht allerdings ein gravierender Unterschied zwischen Privatverträgen, die ich abschließen oder auch nicht abschließen kann, und dem Gesellschaftsvertrag. Er ist nicht ein Vertrag unter anderen. Auch wenn der Privatvertrag als Muster dient, steht es beim Gesellschaftsvertrag bei genauerer Betrachtung um den Status der Freiwilligkeit nicht zum Besten. Es handelt sich um einen Vertrag, den ich kaum ablehnen kann. Jeder muss ihm zustimmen und niemand kann sich ihm entziehen. Dennoch versuchen sich die neuzeitlichen Vertragstheoretiker, die historisch mit der Bürgerkriegssituation und den Widersprüchen einer entstehenden bürgerlichen Gesellschaft konfrontiert sind, an der paradoxen Aufgabe, die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber staatlicher Gewalt auf den freien Entschluss der Individuen zurückzuführen. Die klassischen Vertragstheorien enthalten zur Begründung von Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft jeweils vier Elemente: den Naturzustand als Ausgangssituation, die Auffassung von der Konfliktnatur des Menschen, die Vertragschließung, schließlich die Konzeption des gesetzlichen Zustandes einer bürgerlichen Gesellschaft. Ungeachtet der Unterschiede bei Hobbes, Locke und Rousseau gilt für alle: Sie abstrahieren vom gesellschaftlichen Zustand und gehen auf einen Ausgangspunkt zurück, den Naturzustand, der sich angesichts der Natur des Menschen aus unterschiedlichen Gründen als unhaltbar oder zumindest sehr unvorteilhaft erweist. Daher kommt es zu einem Vertrag, der für den einzelnen Freiheitsverzichte beinhaltet, den aber jeder dennoch aus guten Gründen abschließt, um unter der Voraussetzung des gleichen Verzichts der anderen für alle Freiheit unter gesellschaftlichen Bedingungen zu gewinnen.
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Die Beschreibung der Ausgangssituation eines Naturzustandes, in dem sich die Menschen aufgrund ihrer Konfliktnatur nicht erhalten können und den sie deshalb mit Hilfe eines Gesellschaftsvertrages in einen bürgerlichen, gesetzlich geregelten Zustand verwandeln, hat Folgen für die Art der Herrschaft. Ein Krieg aller gegen alle - so die Diagnose bei Hobbes - rechtfertigt die absolute und unwiderstehliche Gewalt des Leviathan. Ein Naturzustand, in dem es schon relativ sicheren Besitz gibt - wie bei Locke - rechtfertigt hingegen nur einen konstitutionellen Monarchen, der diesen Besitz respektieren und garantieren muss. Tut er das nicht, wird er zu einer Bedrohung für die Bürger und diese haben das Recht, Widerstand zu leisten und ihn abzusetzen. Die Glorious Revolution in England, aber auch die Rebellion der amerikanischen Kolonisten und ihr Kampf um die Unabhängigkeit von der britischen Krone fanden so ihre Rechtfertigung. Ungeachtet der Unterschiede im einzelnen besteht die systematische Funktion des Naturzustandes darin, einen Zustand elementarer Interessengleichheit vor Augen zu stellen. Ein Zustand ohne Ordnungsmacht z.B. verletzt das Überlebensinteresse eines jeden in gleicher Weise. Hobbes betont daher, dass alle insofern gleich sind, als jeder von jedem getötet werden kann. In einem solchen Zustand haben alle das gleiche Interesse, nämlich gesichert zu leben. Die latente Gefahr eines Rückfalls in die Anarchie, den Zustand der gesetzlosen Gewalt, bleibt bestehen. Auch wenn schon Hobbes und Rousseau den methodischen Charakter der Annahme eines Naturzustandes betonen, die Plausibilität dieses Modells lebt von der Realitätsnähe der Annahmen. Die Ausnahmezustände eines Ausbruchs von Gewalt sind eine latente Gefahr. Auf die Gutwilligkeit der Menschen ist kein Verlass. Auch wenn sie nicht von Natur aus böse sein sollten, muss man doch mit ziemlicher Sicherheit früher oder später mit Gewalt rechnen. Weil jeder ein Interesse an der Erhaltung des Lebens und des Besitzes hat, ist es für ihn vernünftig, mit allen anderen einen Gesellschaftsvertrag abzuschließen. Fragt man nach der Quelle für den verpflichtenden Charakter dieses Vertrages, so lassen sich - wie schon erwähnt - systematisch die Momente der Normativität, der Rationalität und der Moralität eines Vertrages unterscheiden. Die Normativität beruht auf der Tatsache, dass ein Vertrag, ein Versprechen auf Gegenseitigkeit, abgeschlossen wurde (Vertrag ist Vertrag) und dass mir in dem, was ich selber gewollt habe, kein Unrecht zugefügt werden kann (volenti non fit iniuriä). Die Rationalität des Vertrages ist ein starkes Argument, ihn überhaupt abzuschließen und an ihm festzuhalten, also vertragstreu zu bleiben (es liegt im Interesse eines jeden Akteurs). Aber hier liegt auch der Schwachpunkt des Vertragsgedankens, das Problem der Trittbrettfahrer; denn aus der Sicht des Einzelnen fährt er am besten, wenn alle anderen sich an die Regeln halten, er selbst sich aber von der mit Kosten verbundenen Regelkonformität ausnimmt. Er kommt dann in den Genuss der allgemeinen Vorteile, ohne sich an den Lasten beteiligen zu müssen. Die Gefahr, dass durch das egoistische Kalkül des Einzelnen die Kooperationsbereitschaft der anderen ausgenutzt wird, erzwingt daher hohe Strafandrohungen, die das Risiko der Schwarzfahrer so erhöhen, dass es in jedem Fall vernünftiger wird, den
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Fahrpreis zu zahlen. Damit erweist sich die Rationalität eines Vertragstreuen Verhaltens als abhängig von zusätzlichen Bedingungen, die einen Ausgleich zwischen kurzfristigem Vorteilskalkül des Einzelnen und dem vernünftigen Interesse aller an einer Kooperation herstellen sollen. Erst der dritte Faktor, die Moralität, sorgt dafür, dass beim Vertrag die Kriterien der Fairness erfüllt sind. Es handelt sich um vertragsexterne Bedingungen (wie Freiwilligkeit, Symmetrie, Reziprozität), von denen aber ebenfalls abhängt, ob der Vertrag verpflichtend ist. Ist z.B. jemand verpflichtet, ein Versprechen zu halten oder einen Vertrag zu erfüllen, zu dem er gezwungen wurde, der ganz auf seine Kosten geht oder der nur ihn, nicht aber die Gegenseite verpflichtet? Offensichtlich nicht. Historisch betrachtet gehen alle drei Faktoren - wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung entsprechend den verschiedenen Theorien - in die Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag ein. Aber es ist auch unübersehbar, dass die Bedingungen, die zur Einhaltung eines Vertrages verpflichten, beim Gesellschaftsvertrag nie vollständig gegeben sind. Entgegen der von den Vertragstheoretikern geweckten Erwartung, die Normativität des Vertrages, die auf dem Willensakt beruht, lasse sich mit der Rationalität und der Moralität in Einklang bringen, sind diese Komponenten nicht widerspruchsfrei miteinander vereinbar. I I I . Kritik der Vertragstheorie Spätestens seit dem 18. Jahrhundert ist die Leistung der Vertragstheorien daher auch umstritten. Kritiker der Vertragstheorie haben schon früh darauf verwiesen, dass weder die Historizität des Vertrages gegeben sei, noch die Bedingung der Freiwilligkeit als erfüllt gelten könne. So eindrucksvoll auch die Gründerszenen von Malern und Dichtern vor Augen gestellt worden sind, und so nachhaltig diese Gründungsmythen im Bewusstsein der Völker verankert sind, 16 es lässt sich nicht bestreiten, dass nur die wenigsten Staaten sich einem solchen bewussten Akt entschlossener Individuen verdanken. Gegner der Vertragstheorie wie der Empirist und Skeptiker David Hume stehen zwar auf dem Boden des neuzeitlichen Individualismus, sie bestreiten aber die Möglichkeit, bestehende Herrschaft durch die Berufung auf einen ursprünglichen Vertrag zu legitimieren. Historisch gesehen sei Herrschaft fast immer durch Gewalt und so gut wie nie durch einen förmlichen Vertrag zustande gekommen. Zweitens wären selbst dann allenfalls die wenigen Vertragspartner, nicht aber ihre Nachkommen an den Vertrag gebunden. Und drittens könne man sich auch nicht auf das Argument einer stillschweigenden Zustimmung berufen, da gerade im Falle despotischer Gewalt Widerspruch unmöglich oder mit untragbaren Risiken verbun-
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Als Beispiele sei verwiesen auf den Rütlischwur der Schweizer Eidgenossen (dazu: Dolf Sternberger, Herrschaft und Vereinbarung, Frankfurt 1986, lOff.) oder den Ballhausschwur der Abgeordneten des dritten Standes zu Beginn der Französischen Revolution (dazu: Jean Starobinski, 1789. Die Embleme der Vernunft, Paderborn 1981, 78ff.).
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den sei, so dass von freiwilliger Zustimmung keine Rede sein könne. Eindrucksvoll ist Humes Beispiel: „Kann man emsthaft behaupten, es stünde im Belieben eines armen Bauern oder Handwerkers, seine Heimat zu verlassen, obwohl er weder fremde Sprachen noch fremde Lebensart kennt und überdies vollauf damit beschäftigt ist, seinen täglichen Lebensunterhalt zu verdienen? Mit gleicher Berechtigung könnte man an der Fiktion festhalten, daß ein Mann, der ein Schiff auf hoher See nicht verläßt, dadurch freiwillig in die Herrschaft des Kapitäns einwilligt, obwohl man ihn im Schlaf an Bord gebracht hat und seine einzige Alternative in einem Sprung ins Meer besteht."17
Nun wird sich nicht jeder, der das Gefühl eines „bösen Erwachens" angesichts unangenehmer Erfahrungen mit staatlicher Gewalt oder gesetzlichen Verpflichtungen hat, den Verpflichtungen als Bürger dadurch entziehen können, dass er sich auf Unwissenheit oder die fehlende ausdrückliche Zustimmung beruft. Da es in den modernen repräsentativen Demokratien immer nur begrenzte Möglichkeiten für eine aktive und direkte Beteiligung an den Entscheidungsprozessen geben kann, macht es Sinn zu fragen, ob nicht auch ein impliziter Vertrag, also die stillschweigende Zustimmung als Legitimationsbasis von Herrschaft ausreicht. Karl Graf Ballestrem sieht jedenfalls diese Gedankenfigur als eine Chance, „Grundprobleme des politischen Handelns auf interessante Weise weiterzudenken und dabei die Möglichkeiten und Grenzen des individualistischen Denkens in der politischen Ethik zu erproben." 18 Sein Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung des „tacit consent" geht von der Unterscheidung zwischen freiheitlichen und totalitären Systemen aus. So wie unter totalitären Bedingungen Massenaufmärsche, Abstimmungsergebnisse mit 99 Prozent Zustimmung und Ergebenheitsadressen nicht als Nachweis der Legitimität anerkannt werden, so dürften umgekehrt unter freiheitlich-demokratischen Bedingungen, die Alternativen zulassen und Dissens ermöglichen, Schweigen und das Nicht-Wahrnehmen von Alternativen durchaus als Zeichen der Zustimmung gewertet werden. Die klassischen Argumente tauchen schon in Piatons Kriton auf: Die Pflicht der Dankbarkeit verlange den Gehorsam gegenüber den Gesetzen. Die Tatsache, dass wir den Staat in guten Zeiten nicht verlassen hätten, bezeuge unseren Entschluss, nach dessen Regeln zu leben, und impliziere damit auch die Bereitschaft zur Übernahme von Pflichten. So einleuchtend auch die diskutierten Beispiele von Wehrpflicht, Steuerehrlichkeit und Auswanderungsrecht behandelt werden, es bleibt doch der Vorwurf, dass implizite Verträge im Dilemma und im Zirkel enden;19 denn stillschweigende Zustimmung kann nur in denjenigen politischen Systemen für die Legitimität der Macht geltend gemacht werden, die schon freiheitlich und insofern legitim sind. Es kommen zu diesem grundsätzlichen Einwand noch praktische Schwierigkeiten hinzu: Es bleibt umstritten, was denn als stillschweigende Zustimmung gelten soll, 17 David Hume, On the Social Contract, zitiert nach Norbert Hoerster, Klassische Texte der Staatsphilosophie, München 1976, 171. 18 Ballestrem, Vertragstheoretische Ansätze (Anm.3), 17. 19 Vgl. Henning Ottmann, Politik und Vertrag. Eine Kritik der modernen Vertragstheorien, in: Zeitschrift für Politik, 33 (1986), 22-32, hier 28.
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und es ist in Erinnerung zu bringen, dass partikulare Kooperation noch lange nicht als generelle Legitimierung ausgelegt werden darf. Legt man außerdem den Begriff der stillschweigenden Zustimmung allzu großzügig aus, so stellt sich die Frage, worin dann noch der Wert der ausdrücklichen Zustimmung bestehen soll. Angesichts dieser gravierenden Einwände macht es Sinn, sich genauer der Variante des hypothetischen Vertrags zuzuwenden, die in der Kantischen Version bei Rawls wieder aufgenommen wurde. IV. Kants Lehre vom ursprünglichen Vertrag Immanuel Kant hat die Konsequenzen aus der Kritik David Humes gezogen. Er steht in der liberalen Traditionslinie, für ihn ist aber von den drei Strukturmerkmalen des Vertrages nur noch die Moralität wichtig. Er rückt von der Annahme eines historischen Vertrages ab, mit der Konsequenz, dass fortan die Frage im Raum steht, wie aus einem hypothetischen Vertrag überhaupt eine Verpflichtung resultieren kann; denn die Normativität des Vertrages, also die Verpflichtung, die aus dem Vertrag resultiert, ist nun einmal daran gebunden, dass auch tatsächlich, bewusst und freiwillig, ein Vertrag abgeschlossen wurde. Insofern haben die Kritiker der Vertragstheorie recht, wenn sie darauf bestehen, dass es sich beim Gesellschaftsvertrag um eine Metapher der politischen Philosophie, nicht aber um einen Vertrag im eigentlichen Sinne handle. Die Tatsache, dass eine Handlungsweise in meinem Interesse liegt, verpflichtet mich für sich genommen ebenfalls noch nicht, entsprechend zu handeln. Vor allem ändert sich die Interessenlage mit der jeweiligen Situation, und es bleibt zumindest eine sehr gewagte These, dass die aus der Sicht der Individuen rationalen Entscheidungen von einer unsichtbaren Hand (Adam Smith 20 ) oder durch die List der Vernunft (Hegel 21 ) zu einem sinnvollen Ganzen gefügt werden. 22 Wenn ich schließlich zur Moralität verpflichtet bin, so mag das für mich als Vernunftwesen zwar zutreffen, aber die Idee eines Vertrages liefert
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Adam Smith geht davon aus, dass der einzelne Bürger in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohlfördert, sondern lediglich nach eigenem Gewinn strebt. Dennoch wird er aber „von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zufördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat." (Der Wohlstand der Nationen, München 1974,371); vgl. dazu: Karl Graf Ballestrem, Adam Smith, München 2001,148ff und 160f; Ulrich van Suntum, Die unsichtbare Hand, Berlin/Heidelberg 1999. 21 G. W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, Bd. 12, hg. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970, 49: „Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie (die allgemeine Idee, N.H.) die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet.... Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen." 22 Die Frage, ob demokratische Organisationsformen überhaupt kollektive Entscheidungen zustande bringen können, die einem bestimmten Rationalitätsideal genügen, ist im Anschluss an das Buch von Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values, New York 1951, heftig diskutiert worden. Das sogenannte Arrow-Paradox bestreitet diese Möglichkeit. (Vgl. Homann/Suchanek, Ökonomik (Anm.7), 197ff).
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keine zusätzliche Bestätigung meiner Verpflichtung zur Moral. Ein Interpret hat daher vom Vertrag als einer „useless fiction" gesprochen.23 - Was kann also ein Vertrag leisten, der niemals geschlossen wurde, sondern nur noch den Status einer Idee hat?24 In der kleinen Schrift: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793) schreibt Kant: „Hier ist nun ein ursprünglicher Kontrakt, auf den allein eine bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche Verfassung unter Menschen gegründet und ein gemeines Wesen errichtet werden kann. - Allein dieser Vertrag (contractus originarius oder pactum sociale genannt), als Koalition jedes besonderen und Privatwillens in einem Volk zu einem gemeinschaftlichen und öffentlichen Willen (zum Behuf einer bloß rechtlichen Gesetzgebung), ist keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig (ja als ein solches gar nicht möglich); ... Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können, und jeden Untertan, so fem er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes."25
Der Vertrag wird als historisches Faktum aufgegeben, aber die „Idee des ursprünglichen Vertrags" avanciert „zum unfehlbaren Richtmaße, und zwar a priori". (VI 155). Die Idee des Sozialkontrakts bleibt - so Kant - „in ihrem unbestreitbaren Ansehen ... nur als Vernunftprinzip der Beurteilung aller öffentlichen rechtlichen Verfassung überhaupt" (VI 159). Das ist deshalb möglich, weil die inhaltlichen Zielvorgaben politischen Handelns, deren Beurteilung immer von Erfahrung abhängig ist, durch den Rechtsgedanken ersetzt werden. Das öffentliche Wohl ist zwar nach wie vor auch für Kant das oberste Gesetz des Staates, das öffentliche Wohl ist aber „gerade diejenige gesetzliche Verfassung, die jedem seine Freiheit durch Gesetze sichert: wobei es ihm unbenommen bleibt, seine Glückseligkeit auf jedem Wege, welche ihm der beste dünkt, zu suchen, wenn er nur nicht jener allgemeinen gesetzmäßigen Freiheit, mithin dem Rechte anderer Mituntertanen, Abbruch tut." (VI 155) Der Zwang der Gesetze und damit verbunden die Gehorsamspflicht des Bürgers sind unverzichtbar, aber sie sind nur deshalb und insofern gerechtfertigt, als sie den „Geist der Freiheit" ermöglichen und widerspiegeln. Kant ist auffällig
23 John W. Gough, The Social Contract, Oxford 1936, 183 (zitiert nach Kersting: Gesellschaflsvertrag (Anm. 6), 207). Vgl. Ludwig Siep, Vertragstheorie - Ermächtigung und Kritik von Herrschaft?, in .Udo Bermbach/Klaus-M. Kodalle (Hrsg.), Furcht und Freiheit. Leviathan-Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes, Opladen 1982, 129-145, 129 und Ballestrem, Vertragstheoretische Ansätze (Anm. 3), 1. 24 So macht Henning Ottmann (Anm. 19) gegen hypothetische Verträge geltend: „Sie scheitern am einfachsten aller Tests: an dem der Realität. Ist ein Vertrag Fiktion, dann bindet er auch nur fiktive Personen". 25 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders., Werke, Bd. VI, hg. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1975, 153. Die weiteren Angaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
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gleichgültig gegen inhaltliche Zielvorgaben, die dem Glück der Bürger, des Volkes oder der Menschheit dienen sollen. Er weiß, dass Handlungsziele abhängig sind von den jeweiligen Erfahrungen und dass sie sich dementsprechend wandeln. Zwar gilt, dass kein endliches, vernünftiges Wesen seinem natürlichen Zweck, der Glückseligkeit, entsagen kann, aber der Mensch kann doch im Konfliktfall „von dieser Rücksicht abstrahieren" (VI 131). Von seiner Glückserwartung, von der Ausrichtung auf seine Interessen muss er dann abstrahieren, wenn er Gefahr läuft, „mit sich selbst in Widerspruch" (VI 163) zu geraten. Mit sich selbst in Widerspruch geraten kann der Mensch aber dort, wo er Zwängen unterworfen wird, die verhindern, dass er der allgemeinen Menschenpflicht genügt. Aus der Kantischen Lehre vom Sozialvertrag lässt sich thesenförmig festhalten: -
Der Vertrag ist kein historisches Faktum, sondern ein Richtmaß und Probierstein zur Beurteilung der „Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes."
-
Es ist auch keine Frage der Rationalität, also der Zweckmäßigkeit, ob ein solcher Vertrag als Maßstab angelegt wird - oder auch nicht. Damit entfällt auch der Dualismus von Vertragssituation (dem Naturzustand oder einer Situation unter dem Schleier der Ignoranz) und Vertrag als Ergebnis der Interessengleichheit. Unabhängig von anthropologischen Annahmen ist der Mensch als Vernunftwesen moralisch verpflichtet, sich in einen gesetzlichen, staatlichen Zustand zu begeben.26 Er würde mit sich selbst in Widerspruch geraten, wenn er es bei der „wilden Freiheit" anstelle einer „gesetzlichen Freiheit" beließe. Umgekehrt muss sich staatliche Gesetzgebung gefallen lassen, mit diesem Richtmaß überprüft zu werden.
Kant setzt also ganz auf die Vertragskomponente Moralität mit ihren Elementen der Freiwilligkeit, der Symmetrie der Vertragspartner und der Wechselseitigkeit ihrer Leistungen. Die Pointe, ja die „Genialität der Kantischen Vertragsvariante" besteht darin, dass der Vertrag mit den Bestimmungen der Vertragsgerechtigkeit zusammenfällt. Der Vertrag bei Kant ist nichts anderes, so Wolfgang Kersting, als „die reine Form menschenrechtskonformer Willenseinigung, die reine Form rechtlicher Interpersonalität." 27 Aus der Vertragsform kann ich natürlich nicht inhaltlich ablesen, welche Gesetze zu erlassen sind. Aber wenn eine gesetzliche Regelung nicht vorstellbar ist als Ergebnis einer Vertragsschließung unter Freien und Gleichen nach einem allgemeinen Gesetz, so ist die Bedingung der Rechtmäßigkeit nicht erfüllt. Im Umkehrschluss heißt das, eine Maßnahme ist gerechtfertigt, wenn es sich um eine Entscheidung von Freien und Gleichen nach einem allgemeinen Gesetz handelt.
26 Vgl. dazu Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 44, in: ders., Werke, Bd. IV, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1975,430. 27 Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Anm. 5), 45.
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V. Inwiefern kann die bloße „Idee" eines Gesellschaftsvertrages eine Verpflichtung bedeuten? Nach dem kurzen Blick auf diesen Schlüsseltext bei Kant ist also erneut und präziser zu fragen: Was kann die „Idee eines Gesellschaftsvertrages" für die Legitimation politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse leisten? Zwei grundsätzliche Fragen stehen meines Erachtens im Vordergrund. Zunächst einmal geht es um den verpflichtenden Charakter von Ideen, d.h. um die Verpflichtung zur Vernunft, die Kant als Faktum voraussetzt. Die Vernunft, über welche die Menschen als Instrument verfügen, stellt zugleich eine normative Instanz dar. 28 Wer sich der Vernunft als eines Instruments zur Erkenntnis, Urteilsfindung und Orientierung bedient, der ist auch an die Ergebnisse dieses Vernunftgebrauchs gebunden und unterliegt in seinen Entschlüssen und Handlungen ihrem Urteilsspruch. Die Verpflichtung auf die Vernunft ist eng gebunden an das Selbstverständnis des Menschen, der von sich ein Bild hat, der sich um sich sorgt und dazu Freiheit und Selbstbestimmung beansprucht. Diejenigen, welche die Vernunft nicht als Norm anerkennen, befinden sich in einem performativen Selbstwiderspruch: „Für Individuen, die sich als Person verstehen, gibt es gar keine Alternative. Sie haben schon soviel Vernunft in ihre Problemwahrnehmung, Situationsdiagnose, Weltorientierung und Selbsterkenntnis investiert, daß sie sich ohne Selbstwiderspruch gar nicht von der Vernunft lossagen können." 29 Zum Selbstverständnis des Menschen als eines vernünftigen Wesens gehört untrennbar die Idee der Freiheit. Trotz aller Widerstände und Rückschläge, die den Empiriker skeptisch stimmen oder ihn sogar zum Zyniker der Macht werden lassen, sind daher die Ideale der Freiheit und Gleichheit genauso unwiderruflich wie die Moderne selbst, die sie auf ihre Fahnen geschrieben hat. Wem das zu utopisch erscheint, der sollte sich von Heinrich Heine belehren lassen. Mit Blick auf Rousseau, Kant, Fichte und Schelling warnte er davor, die Kraft der Ideen und Gedanken zu unterschätzen: „Der Gedanke, den wir gedacht, ... läßt uns keine Ruhe, ... bis wir ihn zur sinnlichen Erscheinung gefordert.... Die Welt ist die Signatur des Wortes. Dies merkt Euch, Ihr stolzen Männer der That." 30 Wenn es um die grundlegende Vernunftidee eines freien, selbstbestimmten Lebens geht, sollten wir uns jedenfalls die Verpflichtung auf die Vernunft nicht ausreden lassen, von Leuten, deren „Maulwurfsaugen" - so Kant - nur auf die Erfahrung geheftet sind und die trotzdem vorgeben, „weiter und sicherer sehen zu können, als mit Augen, welche einem Wesen zu Teil
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Diese normativen Implikationen des Vernunftbegriffs entwickelt in präziser Knappheit: Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999,342-361. 29 Gerhardt, Selbstbestimmung (Anm. 28), 352f. 30 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 3. Buch, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 8/1, hg. von M. Windfiihr, Hamburg 1979, 79ff. Zusammenfassend bezieht sich auf diesen Text Isaiah Berlin, Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt am Main 1995, 198.
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geworden, das aufrecht zu stehen und den Himmel anzuschauen gemacht war." 31 Der Blick zum Himmel wird die Vertragstheoretiker im übrigen auch vor dem Irrglauben bewahren, Vernunft sei alles und der Vertrag auf Erden könne den Traum vom Paradies schon erfüllen. Zweitens stellt sich selbst dann, wenn man den verpflichtenden Charakter der Vernunft und der Vernunftideen für das praktische Handeln anerkennt, die Frage, was der Gedanke des Vertrages noch an zusätzlicher Legitimität beisteuern kann oder soll. Handelt es sich um eine bloße Metapher, 32 die bestenfalls eine zusätzliche rhetorische Verstärkung der moralischen Ideen: Freiheit und Gleichheit darstellt? Aus Kantischer Sicht ist mehr verlangt. Wenn Kant der Idee des Vertrages ausdrücklich „praktische Realität" zuspricht, macht er damit deutlich, dass man sie nicht einfach fallen lassen kann, um gleich zum Punkt: ,moralische Verpflichtung' überzugehen. Die Leistung der Vertragsidee besteht darin, dass sie erst die notwendige Verbindung von der Sphäre der Moral zum Bereich des Politischen herstellt. Die fundamentalen Prinzipien des Vernunftrechts müssen erst ausbuchstabiert werden für die gesellschaftliche Realität, und dafür bedarf es eines Verfahrens. Erst der Vertragsgedanke sichert ein Verfahren, das Fairness unter den jeweiligen Gegebenheiten garantiert und dabei Freiwilligkeit ermöglicht sowie verhindert, dass ungerechter Zwang oder Übervorteilung stattfinden. - Der Rückgriff auf ein Verfahren als Kriterium der Gerechtigkeit verschafft etwa im Unterschied zur platonischen Vorstellung von den Philosophenherrschern der Tatsache Anerkennung, dass politische Entscheidungen im Hinblick auf bestimmte historische Gegebenheiten gefallt und unter der Bedingung einer unsicheren Zukunft getroffen werden und daher zwar prinzipientreu, aber niemals endgültig sein können.33 Die Idee des Vertrages bewahrt uns vor der Illusion, Vernunftprinzipien könnten unmittelbar, sozusagen im Maßstab eins zu eins, auf die Wirklichkeit übertragen werden. Es geht also bei der Idee des Vertrages darum, die Eigenständigkeit der Sphäre der Politik gegenüber der Tendenz zur durchgehenden Moralisierung zu erhalten. Weil es den Stein der Weisen in der Politik nicht gibt oder weil zumindest die Stimmen der erleuchteten Weisen in der Vielzahl der Stimmen nicht eindeutig auszumachen sind, die Weisen außerdem auch immer unter dem Verdacht der Korrumpierbarkeit durch die Macht stehen, bleibt für Kant als letzte Instanz nur die Rückbesinnung auf das, was uns die Vernunft als unbedingte Verpflichtung und als das einzige Recht des Menschen unmittelbar vor Augen gestellt hat, das Recht eines jeden auf Freiheit. 34 Diese Freiheit in der Gesellschaft ist im doppelten
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Kant, Über den Gemeinspruch (Anm. 25), 129. So spricht Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit, Frankfurt 1987,441, von der „Metapher des Gesellschaftsvertrages". 33 Vgl. Homann/Suchanek, Ökonomik (Anm. 7), 199f. 34 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Einteilung der Rechtslehre (Anm. 26), 345: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem 32
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Sinne negativ: sie weist die Zumutungen der anderen genauso zurück wie die despotische oder patriarchalische Anmaßung der Machthaber. Erst dann, wenn die gleiche Freiheit aller rechtlich gesichert ist, entsteht der Spielraum, den der einzelne für die Verfolgung persönlicher Handlungsziele benötigt. Die Kantische Konzeption vom Vertrag als einer Idee der Vernunft hat folgende Vorzüge: -
Sie verbindet die Prinzipien der Rechtsvernunft mit den Interessen, so dass beide ihre Berechtigung behalten. Ihr Ausgleich wird als Aufgabe einer vernunftgeleiteten Politik verstanden, die prinzipienorientiert bleibt. Der Vertrag gibt das Verfahren vor, das es uns erlaubt zu überprüfen, ob wir uns bei unseren Maßnahmen noch im Einklang mit den eigenen Vernunftprinzipien befinden. Mit Kant endet also eine bestimmte Form der Vertragstheorie, die auf naturrechtlichen Voraussetzungen basierte. Zugleich gewinnt aber der Vertragsgedanke dadurch, dass er als Verfahren verstanden wird, eine neue Funktion und Aktualität. Ihre Überlebenstüchtigkeit verdanken die Vertragstheorien ihrer Verwandlung durch Idealisierung und Transzendentalisierung. 35
-
Mit der Idealisierung des Vertrages ist auch das Problem der Sekundarität des Gesellschaftsvertrages 36 entschärft, d.h. die Schwierigkeit, dass der Vertrag nicht aus sich selbst begründet werden kann. Schon Hume hatte gefragt, was uns eigentlich zur Einhaltung des Vertrages verpflichtet. Es kann nicht den Vertrag geben, der uns verpflichtet, den Vertrag einzuhalten. Insofern steht die Verpflichtung zum Vertrag unter dem Vorbehalt der Moralität, deren Kern die gegenseitige Respektierung des Freiheitsanspruchs darstellt. Dieser Punkt wurde nicht nur von den Klassikern des 17. Jahrhunderts vernachlässigt, sondern auch von den modernen Spieltheoretikern, welche die Rationalität des Vertrages einseitig in den Vordergrund stellen.
-
Schließlich bedarf es bei Kant nicht mehr einer wunderbaren Verwandlung des Subjektes vom wilden zum zivilisierten und schließlich vernünftigen Menschen wie bei Rousseau37 oder, wie bei Rawls, der Rückverwandlung des seine Interessen verfolgenden Bürgers in den Unwissenden, der seine zukünftige Rolle noch nicht kennt, aber Rollen nur aus dieser Kenntnis beurteilen kann. Bei Kant ist das Subjekt selber schon in sich gespalten, es ist in der Lage, sich selbst mit Distanz zu betrachten, zu sich selbst Stellung zu nehmen und die Perspektive einer vernünftigen Weltsicht frei zu wählen. Weil die Kantische Philosophie das Subjekt nach der Art einer Institution oder eines Gerichtshofes
allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht." 35 Vgl. dazu: Ulrich Steinvorth, Über die Rolle von Vertrag und Konsens in der politischen Theorie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 72 (1986), 21-31. Vgl. auch Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Anm. 5), 34f. 56 Vgl. dazu Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Anm. 5), 42ff. 37 Vgl. z.B. Rousseau, Jean-Jacques: Diskurs über die Ungleichheit, hg. von Heinrich Meier, 2. Aufl., Paderborn u.a. 1984, 267.
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Norbert Herold vorstellt, 38 bietet sie auch die Voraussetzung für die Schaffung von Institutionen, welche die Selbstbindung der Freiheit unterstützen und sichern. Aus der „wilden Freiheit" wird so erst „wohlgeordnete Freiheit". VI. Lässt sich die Kantische Idee eines Menschenrechts auf Freiheit ausweiten auf soziale Rechte?
Mit diesen Überlegungen auf Kantischer Basis ist aber zunächst nur ein Minimalstaat verteidigt, ohne dass die soziale Realität mit in den Blick kommt. Das ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: Die Bedeutung der sozialen Frage ist seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr zu leugnen und steht uns heute in Form globaler Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen permanent vor Augen. Es wäre also zu fragen: Lässt sich der Vorzug der Kantischen Argumentation, die Unabhängigkeit von inhaltlichen Vorgaben und damit die Offenheit für eine fortdauernde Gestaltung der politisch-gesellschaftlichen Realität nach den Prinzipien von Freiheit und Recht, auch auf die Forderung nach sozialen Rechten übertragen? Die Frage liegt gegenwärtig umso näher, als auch in den verschiedenen Generationen der Menschenrechte, wie sie in den UN-Deklarationen vorliegen, soziale Rechte bis hin zum Recht auf Bildung aufgeführt sind. 39 Der zeitgenössische Liberalismus, von dem man mit gutem Grund sagen kann, dass er „das variantenreiche Werk einer Kantischen Erbengemeinschaft" ist, 40 setzt sich seit mehreren Jahrzehnten mit dem Problem sozialer Gerechtigkeit auseinander. Dabei ist bei den liberalen Neo-Kontraktualisten, die in zwei Lager gespalten sind, vor allem die Rolle des Staates heftig umstritten. Den strikten Verfechtern eines Minimalstaates wie Nozick und Buchanan steht die sozialliberale Richtung im Anschluss an John Rawls gegenüber.41 Dieser hatte - wie zu Beginn schon erwähnt - unter Berufung auf Kant die Idee des ursprünglichen Gesellschaftsvertrags erneut ins Spiel gebracht. Während die radikalen Liberalen oder Libertarians die Aufgaben des Staates eng auf den Schutz der Individuen und des Eigentums beschränkt wissen wollen und den Wohlfahrtsstaat genauso wie jede Art von Umverteilungspolitik als Einschränkung der bürgerlichen Freiheit und als Angriff auf das persönliche Eigentum bekämpfen, plädiert John Rawls in seiner Theory of Justice für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die den Freiheitsanspruch mit der Idee sozialer Gerechtigkeit verbindet. Er teilt nicht den Verdacht des radikalen Liberalismus, der moderne Wohlfahrtsstaat produziere den betreuten, versorgten
38 Vgl. dazu Volker Gerhardt, Individualität. Das Element der Welt, München 2000, 158; ders:. Selbstbestimmung (Anm. 28), 337ff. 39 Vgl. Heiner Bielefelds Philosophie der Menschenrechte, Darmstadt 1998, S. 8ff. 40 Kersting,, Wohlgeordnete Freiheit (Anm. 5), 19f. 41 Die Positionen von Rawls, Buchanan und Nozick werden genauer vorgestellt bei: Koller, Sozialkontrakt (Anm. 6); ders., Vertragstheorien (Anm. 5); Kersting, Gesellschaftsvertrag (Anm. 6), 259-351.
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und entmündigten Bürger, sondern vertritt die Auffassung, dass zunächst einmal faire Ausgangsbedingungen in der Gesellschaft hergestellt werden müssten. Sein Konzept der Gerechtigkeit als Fairness kann hier nicht im Detail, schon gar nicht in den Verästelungen und Differenzierungen der Folgediskussionen dargestellt werden. 42 In unserem Zusammenhang müssen wir uns auf die Frage beschränken, ob sein Versuch überzeugt, mit Hilfe des Vertragsmodells ökonomische Rationalität und Moralität zur Deckung zu bringen. Die Prinzipien für die Grundordnung einer Gesellschaft und der Verteilung der Grundgüter sind für ihn dann gerecht, wenn sie den Grundsätzen entsprechen, die sich rational entscheidende Menschen in einer fairen Ausgangssituation geben würden. Damit diese ursprüngliche Situation nicht von Privatinteressen dominiert wird, muss durch einen „Schleier der Unwissenheit" gewährleistet sein, dass niemand seine zukünftige gesellschaftliche Stellung und seine individuellen Aussichten kennt. Die Fairness dieser Ausgangssituation, die Gleichheit und gegenseitige Anerkennung ebenso wie die Reziprozität der Freiheitsansprüche und -rechte beinhaltet, garantiert die Gerechtigkeit der Prinzipien, nicht so sehr die zweckrationalen Überlegungen der auf ihren Vorteil bedachten Individuen. Wenn Rawls auf die allgemeine Zustimmung vernünftiger Menschen zu seinen Prinzipien setzt, so deshalb, weil er überzeugt ist, einen „archimedischen Punkt", einen „Blickwinkel der Ewigkeit" gefunden zu haben, den sich „vernunftgeleitete Menschen in der Welt zu eigen machen können." 43 Dieser Standpunkt ist aber kein anderer als der einer moralischen Wahl, die in die Bedingungen der Ausgangssituation eingespeist wird. Die Begründungsleistung, die dem unter dem Schleier des Nichtwissens geschlossenen ursprünglichen Vertrag zugesprochen wird, verdankt sich daher nicht der ökonomischen Wahl und einem rationalen Selbstinteresse, sondern den in der Ausgangssituation schon akzeptierten Gerechtigkeitskriterien. Man kann insofern sagen: Rawls und Kant stimmen in der Grundidee überein, dass es notwendig ist, „um der Freiheit, der Autonomie und der vernunftbegründeten Würde willen ... die Verteilung materieller Güter und sozialer Lebenschancen rationalen Prinzipien zu unterwerfen ...". 4 4 Dies ist notwendig, weil und insofern die naturwüchsige oder zufällige historische Verteilung der Güter zum Hindernis für den Freiheitsgebrauch geworden ist; denn es ist unübersehbar, dass die Auswirkungen sozialer und ökonomischer Ungleichheit freiheitsfeindlich sind. Insofern geht es bei der Gerechtigkeitsfrage auch darum, die Vorbedingungen für den Gebrauch der Freiheit zu gewährleisten. Aus dem Rechtsbegriff allein lässt sich zwar kein Prinzip sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit ableiten, aber es ist doch
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Vgl. z. B.: John Rawls , Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989, hg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt 1994; Wolfgang Kersting, John Rawls, Hamburg 1993. 43 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975, 296 und 637f. 44 Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Anm.5 ), 65.
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möglich, das Recht auf Freiheit so auszuweiten, dass es soziale Bedingungen impliziert, die für eine Ausübung desselben unabdingbar sind. 45 V I I . Gehorsam im Geist der Freiheit Bei der Ausweitung der Fragestellung auf die Probleme sozialer Gerechtigkeit dient der Vertrag also weiterhin als Idee, als Gedankenexperiment im Kopf und als Verfahren der Entscheidung, das die gegenseitige Anerkennung der Beteiligten als Freie und Gleiche garantiert. Ein möglicher Einwand könnte lauten: „Wie kann die Form des Vertrages, wie kann das Verfahren vertraglicher Einigung schon Gerechtigkeit verbürgen?" Wenn wir uns eingestehen, dass nirgendwo und nicht ein für allemal ablesbar ist, was soziale Gerechtigkeit bedeutet, dann lässt sich mit Hilfe des Vertragsmodells zumindest überprüfen, ob und wie die bestehenden oder geforderten gesellschaftlichen Verhältnisse mit den Grundprinzipien des Rechts und der Ermöglichung von Freiheit kompatibel sind. Da weder die Natur noch die Geschichte gerecht sind, die Menschen in der Moderne sich außerdem nicht auf substantielle Ergebnisse über das Gute festlegen lassen, bleibt nur das rechtliche Verfahren als Mindestgarantie von Gerechtigkeit. Der Preis für die Trennung des Verfahrens von seinen Inhalten ist der Verlust an Identität - so die Klage der Kommunitaristen - , der Gewinn besteht in der Universalität der Rechtsprinzipien und der Zunahme an Freiheit. Da wir - so schon Kant - auf der endlichen Fläche der Erde wohnen und die Ereignisse selbst in fernsten Ländern uns unmittelbar tangieren, haben wir keine Alternative zu der Anerkennung der gemeinsamen Vernunftrechte und ihrer Festschreibung und Umsetzung in konkrete Politik, die insofern „ausübende Rechtslehre" ist und sich dem Ideal eines allgemeinen Rechtsfriedens verpflichtet weiß. 46 In der Form des Rechts ist nicht schon das Ergebnis enthalten, sondern dieses muss sich nur auf seine Kompatibilität mit der Rechtsform hin überprüfen lassen. Politik, als „ausübende Rechtslehre", behält allen Spielraum, um das Glück der Menschen zu befordern. Die Kantische Verlagerung der Fragestellung auf ein gerechtes Verfahren der Einigung und Entscheidung bewirkt, dass der Prozess gesellschaftlicher Veränderungen für Neues offen bleibt. Sie öffnet so den Weg für Reformen und versöhnt zugleich mit dem Verlust eines endgültigen Wahrheitsanspruchs, weil alle Regelungen prinzipiell unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit verbleiben. 47
45 Otfried Höffe hat für ein derartiges Kantisches Sozialstaatsmodell den Begriff eines „freiheitsfunktionalen Sozialstaats" geprägt. Vgl. dazu Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Anm. 5) 64f. 46 Die Formel von der Politik als „ausübender Rechtslehre" findet sich bei Kant ,Zum ewigen Frieden, Werke, Bd. VI, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1975, 229. Zu Kants Theorie der Politik vgl.: Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ,Zum ewigen Frieden'. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, 156ff. 47 Die Idee des Vertrages, die den konkreten Vertrag prägt, schließt auch nicht die Einsicht in die Unsicherheit des eigenen Tun aus. Indizien dafür sind das Pathos, welches den Vertragsabschluß umgibt, der Gebrauch von Formeln, welche Gott als Zeugen und den Himmel als Beistand anrufen,
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Natürlich sollte dennoch die Unverzichtbarkeit von Regeln und gewachsenen Institutionen nicht unterschätzt werden. Der Geist der Freiheit, so Kant, will sich äußern, aber wie er dies tut und wie sich Freiheit institutionell niederschlägt, das hängt in der Tat von historischen, kulturellen und sozialen Bedingungen ab. Auch Kant, der unsere Verpflichtung zur Vernunft über alles stellt, betont, dass es einmal eine moralische Verpflichtung zum Staat, also zu positiver Gesetzgebung und zu staatlicher Macht für die Durchsetzung des Rechts gibt und dass zweitens politische Weisheit nicht ohne große Erfahrung und gereifte Urteilskraft zu haben ist. Die Erfahrung sagt uns - und insofern ist der Ansatz Kants auszuweiten - dass Freiheitsrechte ein Mindestmaß an sozialen Rechten und Lebensbedingungen erforderlich machen. Aber die Festschreibung sozialer Errungenschaften darf wiederum nicht einer Veränderungssperre auf Kosten Dritter gleichkommen. Daher müssen wir uns z.B. die Verpflichtung gefallen lassen, die Freiheitsrechte zukünftiger Generationen in unser Gedankenexperiment eines Gesellschaftsvertrages einzubeziehen.48 Vor die Alternative gestellt: ,Traditionsbewahrung oder Fortschritt nach Vernunftideen' plädiert Kant eindeutig für eine Philosophie, die das Licht der Ideen ihrer Zeit voranträgt. 49 Das heißt aber nicht, dass damit schon die Illusion einer völligen Machbarkeit oder Kündbarkeit politischer Verhältnisse gehegt würde. 50 Wenn Kant und in seiner Nachfolge die Kantianer unter den politischen Denkern in erster Linie das Menschenrecht auf Freiheit in den Vordergrund stellen, so rechtfertigt das noch lange nicht den Vorwurf, dass der Begriff der Vernunft monologisch sei oder dass die Rolle der Geschichte, der Wert der Sittlichkeit oder die Bedeutung der Kultur und der politischen und gesellschaftlichen Institutionen prinzipiell ausgeblendet würden. Insofern trifft die Kritik an der individualistischen Grundlage des vertragstheoretischen Liberalismus nicht zu. Auf diese inzwischen sehr umfangreiche Debatte zwischen Kommunitarismus und
schließlich auch die Offenheit von Verträgen, die Spielraum für Ermessen und für Überlegungen der Billigkeit lassen oder auch Regelungen für den Ausnahmezustand treffen. 48 Kant gibt zwei Beispiele: 1. Es sei nicht vorstellbar, dass die Privilegien des Geburtsadels in einem fairen Verfahren gemäß dem Vertragsmodell beschlossen werden könnten. 2. Eine Gesellschaft könne nicht für alle Zukunft eine bestimmte Religion vor- oder festschreiben. Beide Beispiele stimmen darin überein, dass der Anspruch auf die gleiche Freiheit, als Grundlage aller „gesetzlichen Freiheit", von einer bestimmten Gruppe den anderen vorenthalten wird. - Es dürfte nicht schwer fallen, vergleichbare „Unrechtsgesetze" oder unfaire gesellschaftliche Praktiken und Bedingungen in der Gegenwart auszumachen. 49 Vgl. Kant, Der Streit der Fakultäten, Erster Abschnitt, hg. von W. Weischedel VI 291. 50 Klassisch schon der Vorwurf bei G. W. F. Hegel; z.B. Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 75 Zusatz, in: ders., Werke, Bd. 7, hg. von Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, 159: „...es liegt nicht in der Willkür der Individuen, sich vom Staat zu trennen ... der Staat beruht nicht auf Vertrag, der Willkür voraussetzt." Vgl. dazu: Herbert Schnädelbach, Hegel und die Vertragstheorie, in ders., Vorträge und Abhandlungen 2. Zur Rehabilitierung des animal rationale, Frankfurt 1992, 185-204; Henning Ottmann, Politik und Vertrag. Eine Kritik der modernen Vertragstheorien, in: Zeitschrift für Politik 33 (1986), 22-32, 29ff. 21 FS Ballestrem
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Liberalismus kann hier nicht mehr eingegangen werden. 51 Ich möchte nur noch thesenhaft festhalten, dass die Vorwürfe, die den Liberalen gemacht werden, unter den Bedingungen der Moderne eher als Vorzüge zu sehen sind: Man kann die Individualisierung, die Auszeichnung des Subjekts, die Priorität des Rechts gegenüber der Moral, die Neutralität des Staates nicht aufgeben, ohne zugleich hinter das historisch gewonnene Selbstverständnis und die politisch durchgesetzten Freiheitsansprüche zurückzufallen. Wenn es um den Ausgleich zwischen der politischen Notwendigkeit der Gesetzestreue der Bürger und der Sicherung des „Geistes der Freiheit" geht, dann bleibt jedenfalls der Anspruch des vernünftigen Individuums unverzichtbar, „dass jeder durch Vernunft überzeugt zu sein verlangt, dass dieser Zwang rechtmäßig sei, damit er nicht mit sich selbst in Widerspruch gerate." 52 Um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Die These von der Macht der Ideen sollte stark gemacht und am Gedanken des Sozialvertrags durchgespielt werden. Es sollte plausibel gemacht werden, dass gerade die Fiktionalität des Vertrages und seine Bindung an den Vernunftanspruch ihm praktische Realität, d.h. Bedeutung gegenüber der Macht des Faktischen verschafft. Gegen allen empirischen Pragmatismus und gegen alle Soziologie, die normativ, aber gleichwohl frei von Metaphysik zu sein beansprucht, bleibt der entscheidende Hinweis von Isaiah Berlin gültig: „.. .sicher ist, daß die Kräfte, sofern sie sich nicht in Ideen kleiden, blind und richtungslos bleiben."
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Zu dieser inzwischen sehr umfangreichen Debatte vgl. z.B. Rainer Forst, Kommunitarismus und Liberalismus - Stationen einer Debatte, in: Axel Honneth (Hg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/Main 1993,181-212; vgl. auch die Angaben bei Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, (Anm. 5), 20ff und 52ff. 52 Kant, Über den Gemeinspruch, (Anm. 25) VI 163.
Moral und Politik Ein Kommentar zu Leo Trotzkijs „Ihre Moral und unsere" Von Abdussalam A. Gussejnow Die Grausamkeiten des Bürgerkriegs, die Repressalien der 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, der Gewaltcharakter der russischen sozialistischen Revolution hatten seinerzeit heftige Diskussionen ausgelöst. Es ging um die Frage nach dem Zweck-Mittel-Verhältnis und - in einen größeren Problemkreis eingebunden - die Frage der Rolle der Moral in der Geschichte. Einer der aktivsten Teilnehmer an diesen Diskussionen war L. D. Trotzkij, der in seinen theoretischen Anschauungen eine ebenso doktrinäre Haltung an den Tag legte, wie es auch für seine praktische revolutionäre Aktivität bezeichnend war. Eine Gesamtdarstellung seiner Auffassung von ethischen Problemen findet sich in seinem Artikel „Ihre Moral und unsere".1 Dieser Artikel, geschrieben und veröffentlicht im Jahre 1938 in der Zeitschrift Bülleten opposziji („Mitteilungsblatt der Opposition"), entstand aus einem konkreten Anlaß. Nach den Moskauer Prozessen der 30er Jahre begannen viele Vertreter der demokratischen Öffentlichkeit zu der Ansicht zu neigen, dass der harte Terror, die Skrupellosigkeit in der Wahl der Mittel, die von den Bolschewisten während des Bürgerkriegs praktiziert wurde, keine bloß situationsbedingte Handlungsweise war, sondern eine prinzipielle Position darstellte, und dass der Trotzkismus nicht minder amoralisch ist als der Stalinismus. Trotzkij fühlte sich brüskiert und lehnte die Gleichstellung seiner Tätigkeit mit der repressiven Praktik von Stalin empört ab. Trotzkij verteidigte seine Position, indem er sie auf das Niveau der theoretischen Begründung und Rechtfertigung einer klassengebundenen Konzeption der Moral hob, so dass sein Artikel eine Bedeutung gewann, die weit über den Rahmen des unmittelbaren Anlasses hinausging. Der theoretische und normative Inhalt des Artikels von Trotzkij wird ziemlich genau schon durch dessen Titel wiedergegeben: „Ihre Moral und unsere". Man könne nicht die gleichen moralischen Kriterien anwenden auf die Handlungen von
1 L. D. Trotzkij, Ich moral i nascha [Ihre Moral und unsere]. In: Etitscheskaja misi. Nautschnopublizistitscheskije tschtenija. 1991 [„Der ethische Gedanke. Wissenschaftlich-publizistische Lesungen" (Jahrbuch). 1991]. Moskau 1992. S. 264-285. In deutscher Übersetzung findet sich der Artikel von Leo Trotzkij in: Karl Kautsky/Leo Trotzkij/John Dewey , Politik und Moral. Die ZweckMittel-Debatte in der neueren Philosophie und Politik, mit einer Einleitung und einer Bibliographie, hrsg. v. Ulrich Kohlmann, Lüneburg 2001, S. 113-159. 21
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Revolutionären und die von Reaktionären, auf „uns" und auf „sie": es sei „uns" erlaubt, das zu tun, was „ihnen" kategorisch verboten sei; wenn „wir" töten, so sei diese „unsere" Handlung gut, wenn „sie" töten, so sei diese „ihre" Handlung schlecht und böse. Die Grenze, die das Gute vom Bösen trenne, falle sozusagen mit der Grenze zusammen, die die moderne Gesellschaft in einander widerstreitende Klassen teilt. Wie begründet Trotzkij seine Position, welche geistige Tradition und welche Lebenslogik führen ihn zu diesem Standpunkt? I. Über eine ewige Moral Philosophisch entscheidend in Trotzkij s Gedankenkette ist die Behauptung, dass die Idee einer ewigen Moral und allgemeingültiger moralischer Normen keine Begründung im Rahmen einer materialistischen Geschichtsauffassung finden könne. „Ohne Gott", sagt er, „kann die Theorie einer ewigen Moral gar nicht auskommen". Diese Behauptung von Trotzkij ist in ihrer Art nicht ohne Überzeugungskraft: der Mensch als ein endliches, relatives Wesen kann nicht (weder kognitiv noch kreativ) zu einer Quelle des Ewigen und Absoluten werden. Aber wenn wir auch annehmen würden, dass es noch niemandem gelungen sei, ein objektives Analogon, einen „Stoff ' moralischer Absoluta zu finden, und dass das Postulat einer ewigen Moral einen Denker notwendig in den himmlischen Bereich des Idealismus und der Religion entrückt oder ihn bestenfalls zu einer „natürlichen Theologie" geneigt mache: wir können doch noch immer nicht die daraus gezogene Folgerung als begründet akzeptieren, nach der die Idee einer ewigen Moral an und für sich falsch sein müsse. Vorstellungen von einer ewigen oder - in einem noch engeren Sinne - einheitlichen Moral darf man nach Trotzkij nicht für bare Münze nehmen. Sie würden auf einer Illusion beruhen, die in einen absichtlichen Betrug übergehe. In gnoseologischer Hinsicht spiegelte sie nur die Tatsache wider, dass das Individuum zu einer Gesellschaft gehöre, dass er ursprünglich und unzertrennlich mit anderen Menschen verbunden sei. Hier wird schon eine Erklärung angedeutet, die man immerhin als eine Hypothese annehmen könnte. Das menschliche Individuum ist mit anderen Menschen nicht bloß durch seine Herdentiernatur verbunden, durch eine Art phylogenetische Nabelschnur, sondern auch durch eine soziale Komponente, das heißt: es wird zu sich selbst, es gewinnt seine individuelle Identität nur als ein Gattungs- und Sozialwesen im Rahmen und aufgrund des sich geschichtlich entwickelnden Austausches von Tätigkeiten. Die Moral stellt eben diese gesellschaftliche Form des menschlichen Daseins dar und sie - die Moral - ist innerhalb der menschlichen Daseinssphäre und für den Menschen als praktisch tätiges Wesen etwas Unbedingtes, Absolutes und Ewiges. Mit dieser Erklärung kann sich Trotzkij aber nicht zufriedengeben, denn die Moral erweist sich in diesem Fall als nicht mehr, denn eine leere „Hülle"; eine
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Form ohne Inhalt, indem sie in sich „gar nichts Kategorisches, nämlich nichts Konkretes" enthalte. Dass aber die Moral eine Form ohne Inhalt ist oder, genauer gesagt, dass ihr einziger Inhalt eben die Form ist - Allgemeingültigkeit als Kennzeichen der moralischen Qualität einer Handlungsmaxime, als Anerkennen der Selbstwertigkeit der menschlichen Gesellschaft in der Person eines jeden Individuums - , dass sie nicht konkret ist, dass sie nicht ein einziges und genügendes Motiv der menschlichen Handlung ist, dass sie den Inhalt der Handlung nicht erschöpfen kann, dass sie sich schließlich nicht realisieren kann in der Art von anderen Regeln und Zwecken: das alles stellt gerade die Eigenart der Moral dar. Eben deshalb ist die Moral absolut, weil sie in keinem relativen Zustand zur Vollendung gebracht werden kann, und eben deshalb ist sie formal, weil sie die Möglichkeitsbedingung der ganzen Vielfalt materieller (inhaltlicher) Zwecke ist, und eben deshalb ist sie kategorisch, weil sie keine Summe von relativen Handlungsnormen ist, sei deren Satz noch so komplett. Sie ist in der Tat nur eine „Hülle", aber doch eine solche, die alle diese Normen umfasst und sie zu der einen menschlichen Grundlage bündelt. Und für einen Menschen, der eine Waffe in die Hand genommen hat, um ganz konkret einen anderen Menschen zu töten, sowie für eine Menschengruppe, die einer anderen gegenüber feindlich gesinnt ist, ist die eine (ewige) Moral nur eine fremdartige Erscheinung. Aber das bedeutet eben, dass diese Moral für etwas anderes bestimmt ist, und zwar für Einigung und nicht für Trennung. Trotzkij kam also, wie es scheint, sehr nahe an die Wahrheit heran, aber doch ohne sie „einzusehen", oder, genauer gesagt, er übersah sie. Das kommt manchmal vor, wenn man etwas anderes zu finden bestrebt ist. Was suchte Trotzkij aber eigentlich? Das Bewusstsein und das Verhalten des Menschen sind nach Trotzkijs Meinung nur als klassenmäßig bestimmt zu verstehen. In den ewigen moralischen Normen glaubt er einen verborgenen, aber desto gefährlicheren Klasseneigennutz zu sehen. Er war der Ansicht, dass mit moralischen Abstraktionen die Bourgeoisie nur das ausbeuterische Wesen der konkreten Normen ihres Katechismus zu verhüllen versuche. „Eine Berufung auf abstrakte Normen ist kein uneigennütziger philosophischer Fehler, sondern ein notwendiger Bestandteil des Mechanismus einer Klassengesellschaft." Klassenheuchelei, nicht weniger als individuelle, ist etwas ganz Reelles, und nicht selten wurde und wird sie in eine moralische Rhetorik gekleidet. Und in dieser Hinsicht hat Trotzkij recht. Sein Ärger gegen die moralisierende Ideologie hat in marxistischer Tradition wohl keine Nachfolger, die an Stärke ihm gewachsen wären, dafür aber sind noch glänzendere Vorgänger da. Unter ihnen Karl Marx. Er hat auch darin recht, dass in finsteren Zeiten Moralisten, indem sie „mit eigenen Worten die Bergpredigt wiedererzählen", sich „nicht so sehr an die triumphierenden Reaktionäre, als an die von ihnen verfolgten Revolutionäre" wenden. Sind das denn aber die einzigen Daseinsformen von abstrakten moralischen Prinzipien, von einer wirklichen Soziologie der Moral? War es denn nicht auch so, dass die Moral, dieselbe Bergpredigt, zur geistigen Fahne von Unterdrückten wurde? Kamen die Normen der persönlichen Moral denn nicht zu einem hohen Grad von Konkretisierung und Wirksamkeit in dem individuellen Erfahrungsweg der Helden des Geistes, die in der Menschenmasse zwar nicht
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immer zahlreich waren, aber doch gar nicht seltener vorkamen, als die Adler unter den anderen Vögeln? Wurden denn nicht in den Zeiten des Wohlstandswachstums der zivilisierten Nationen, wie Trotzkij selbst zugibt, in den Sozialbeziehungen neben den Normen der Demokratie und den Gewohnheiten des sozialen Friedens auch gewisse Grundregeln der Moral festgesetzt? Zeugen denn nicht alle gesellschaftlichen Kompromisse, alle gewaltlosen Lösungsformen zwischenmenschlicher Konflikte von einer praktischen Wirksamkeit der Moral? Kurzum, die soziologische Ontologie der Moral ist sehr vielfältig. Und wenn Trotzkij aus ihr nur deren verwandelte, falsche Formen herausgreift, so geschieht es nur deshalb, da er die Sache äußerst einseitig und voreingenommen betrachtet. Er sieht nur das, was ins Blickfeld eines Menschen geraten kann, für den „die Moral nur eine ideologische Funktion" des Klassenkampfes ist. In Trotzkij s Ethik steckt ein Widerspruch, dessen er sich nicht bewusst war: In ihr wird nämlich die Moral wiederum von einem moralischen Standpunkt aus kritisiert. Gegen die Idee einer ewigen Moral bringt Trotzkij dasselbe entscheidende Argument vor: sie sei eine Heuchelei, sie bemäntele und rechtfertige die Gewalt, sie erweise sich als ein Hindernis auf dem Wege zu einer Gesellschaft, wo „ein Mensch zum Zweck für einen anderen Menschen wird". Indem Trotzkij gegen die Unterdrückung des Menschen zu Felde zieht, nimmt er eine moralische Haltung ein, und zwar eine solche, die auch jeder der von ihm so sehr gehassten Moralisten akzeptieren könnte, und indem er gegen die Unterdrückung kategorisch auftritt, indem er sie absolut verwirft, erweist er sich als Vertreter einer unbedingten, absoluten Moral. Noch mehr: Die von Trotzkij vorgebrachte Kritik an absoluten moralischen Normen läuft im Grunde genommen darauf hinaus, dass diese nicht genügend moralisch und absolut seien. Der Weltanschauung von Trotzkij, wie der eines jeden Marxisten, liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Unterdrückung eines Menschen durch einen anderen etwas Böses ist. Mit diesem ethischen Axiom steht und fällt die ganze Logik seines Gedankengangs, und auf ihm beruht auch seine Kritik am hergebrachten Moralisieren sowie die Apologie des bolschewistischen „Amoralismus". Es braucht nicht bewiesen zu werden: die Behauptung, dass Menschenunterdrückung etwas Böses ist, beinhaltet denselben Gedanken, der abstrakten Moralprinzipien wie demjenigen des kategorischen Imperativ zugrunde liegt. Der Unterschied besteht nur darin, dass dieser Gedanke hier in einer empirischen Sprache formuliert ist, und zwar in der Sprache der Soziologie. Dieser Unterschied ist allerdings sehr wichtig, denn dadurch wird die Moral gleichsam vom Ende an den Anfang verschoben und nicht als ein Bewertungskriterium genommen, nach dem man den Wert der Handlungen nachträglich ermisst, sondern als ein ursprünglicher und von selbst einleuchtender Tätigkeitsgrund aufgestellt. Hier wird der Moral ein ganz anderer Verbindlichkeitsgrad zugesprochen. Im Nachstehenden wird auf diesen Aspekt noch näher eingegangen werden, zunächst nur eine Bemerkung vorweg: Die als Kampf gegen Menschenunterdrückung dargestellte Idee des Humanismus ist als eine bestimmte Lebenseinstellung ganz verständlich. Sobald sie aber durch
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Verallgemeinerung in den Rang einer unbedingten Wahrheit gehoben wird, entstehen alle gnoseologischen Schwierigkeiten, auf die eben alle die Versuche stoßen, die den Humanismus in Form von abstrakten Prinzipien zu begründen. Trotzkij lehnt entschieden eine von Klassengebundenheit freie Moral ab. Aber sobald er der Position einer Klasse (derjenigen der Unterdrückten) vor der einer anderen (der Unterdrückenden) den Vorzug gibt, stellt er sich tatsächlich auf den Standpunkt einer solchen über den Klassen stehenden Moral, denn er hat keine anderen Gründe dafür als moralische. Der Begriff der Unterdrückung selbst enthält nicht bloß eine Beschreibung eines wirklichen Sachverhaltes, sondern auch dessen eindeutig negative Beurteilung. Er ist sekundär im Verhältnis zu einem bestimmten Wertsystem. Und wenn er sich auch als Resultat einer geschichtlichen Untersuchung darstellt, so ist doch eine solche Untersuchung im voraus in eine bestimmte moralische Perspektive eingeschlossen. Es muß festgestellt werden: Trotzkij kann sich dem Bannkreis der ewigen Moral nicht entziehen. Es gelingt ihm nicht, die Moral auf ihre irdischen Wurzeln, auf bestimmte geschichtliche Fakten zurückzuführen, denn bei näherer Betrachtung ergibt sich, dass die Fakten, von denen die Moral abgeleitet wird, selbst moralischer Natur sind. Trotzkij betrachtet die Moral als eine der ideologischen Funktionen des Klassenkampfes, aber in Wirklichkeit stellt sich in seinem Gedankengang der Klassenkampf als eine der praktischen Funktionen der Moral heraus. II. Ob der Zweck die Mittel heiligt? Wenn, wie Trotzkij glaubt, die Anerkennung einer ewigen Moral zum Instrumentarium der geistigen Massenunterdrückung gehöre, wozu führt dann deren Ablehnung? Welche geschichtliche Realität eröffnet sich uns, nachdem diese falsche „Hülle" abgestreift ist? Die Moralitätskriterien liegen nach Trotzkij außerhalb der Moral, sie seien veränderlich und würden mit konkreten gesellschaftlichen Interessen und Aufgaben zusammenfallen. Ein geschichtlicher Zweck sei es, womit der Grad der Moralität der menschlichen Handlungen, der Grad der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit verschiedener Mittel, konkreter Formen und Methoden des Kampfes gemessen werde. Trotzkij folgt dieser Logik des Utilitarismus mit soviel Überzeugung und so konsequent, dass er das jesuitische Prinzip, nach dem der Zweck die Mittel heilige, ganz und gar akzeptiert. Er sieht darin nichts Unmoralisches, nichts Jesuitisches". Nach Trotzkijs Auffassung sind die Mittel autonom und vom Zweck so unabhängig, dass sich ein und dasselbe Mittel zur Erreichung ganz verschiedener Zwecke benutzen lasse. Mit einer Kugel könne man einen tollwütigen Hund niederschießen, um ein Kind zu retten, und mit derselben Kugel sei es auch möglich, einen Menschen zu töten, um einen Raub zu begehen. Geiselnahmen werden sowohl von Reaktionären als auch von den Revolutionären praktiziert. Alles hänge von dem Zweck ab. Durch den Zweck könne alles gerechtfertigt, alles geheiligt werden. Durch den Zweck könne man aus Schwarz Weiß machen. Und der Zweck
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sei es auch, wodurch alles diskreditiert und Weiß in Schwarz verkehrt werden könne. Wie können aber die einen Zwecke von den anderen unterschieden werden? Das ist eine entscheidende Frage, eine Grundfrage, die aber auch den schwächsten Punkt des klassengebundenen Utilitarismus zu erkennen gibt. Trotzkij als ein mit scharfem Verstand begabter Mensch kann diese Frage nicht umgehen: er versteht sehr wohl, dass „der Zweck seinerseits einer Rechtfertigung bedarf. Er ist aber weit davon entfernt, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ihm ist hier alles klar, wie jenem Kaffer, der genau weiß, für wen sein Pfahl bestimmt ist: „unsere" Zwecke seien gut und die „ihrigen" seien böse. Allerdings kann Trotzkij diese klare, aber doch barbarische Position auf Dauer nicht halten. Etwas hindert ihn daran. Ist es nicht gerade die allgemeinmenschliche Moral, die er mit soviel Sarkasmus verwirft? Er kann nicht umhin, zuzugeben, dass doch „nicht alle Mittel erlaubt sind". Seine Feder sträubt sich, die allgemeine Formel niederzuschreiben, womit „Lüge, Fälschung, Verrat und Mord" sanktioniert werden, obwohl er auch nicht sagt, dass diese Mittel, vom moralischen Standpunkt aus gesehen, an und für sich absolut inakzeptabel wären. Trotzkij kann die Last des theoretischen Amoralismus nicht ertragen und fallt hinter sich selbst zurück, indem er selbst einer Tautologie und der von ihm doch so gehassten abstrakten Phrasendrescherei verfällt. Für Mittel wie Lüge und Gewalt macht er einen vagen Vorbehalt, dass sie „unter gewissen Umständen" zulässig seien. Die Frage aber, von welchen „gewissen Umständen" hier die Rede ist, bleibt dahingestellt. Vor einer unauflöslichen Aufgabe stehend, ein Kriterium des Kriteriums zu finden, schreibt Trotzkij: „Der Zweck ist gerechtfertigt, wenn dessen Erreichung zur Steigerung der Macht des Menschen über die Natur und zur Minderung der Gewalt eines Menschen über den anderen führt." Aber wie kommen wir überhaupt dazu, einzusehen, ob die Wahl der Mittel uns gerade in diese Richtung führt? Trotzkij fahrt fort: „,Es ist also alles erlaubt, damit dieser Zweck erreicht sei?4 wird uns ein Philister mit Sarkasmus fragen, damit zeigend, dass er nichts verstanden hat. Und wir antworten, dass alles das erlaubt ist, was wirklich zur Befreiung der Menschheit führt." Das ganze Problem aber, die ganze Schwierigkeit, womit hier Trotzkij konfrontiert ist, besteht eben darin, herauszufinden, welches die geeigneten Mittel sind und welche vom rechten Weg abbringen. Und Trotzkij hat deshalb eigentlich keinen Grund, sich über den Philister zu ärgern. Dieser muß an der Sache ganz direkt interessiert sein: er will nämlich wissen, aus welchem Grund Trotzkij und seine revolutionären Gesinnungsgenossen sich das Recht anmaßen, über das Leben anderer Menschen zu verfügen und gegebenenfalls auch eine Kugel durch einen „Philisterkopf 4 zu jagen. Wenn Trotzkij nicht an einer Idiosynkrasie gegenüber ethischer Terminologie gelitten hätte, hätte er wohl sagen können: Der Zweck heiligt die Mittel, wenn er selbst moralisch sei. Das wäre aber nicht bloß ein logischer Fehler (ein Zirkel) in seinem Gedankengang, sondern darüber hinaus eine Kapitulation vor der „ewigen Moral" gewesen und gerade dann hätte der Philister mit vollem Recht sagen können: „Sie verfolgen moralische Zwecke, aber die Moral ist es eben, die uns unseren Mitmenschen zu lieben und nicht zu töten lehrt."
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Die Logik der gegenständlichen zweckgerichteten Tätigkeit des Menschen, wo die Mittel wirklich durch den Zweck gerechtfertigt werden, darf nicht auf die Moral übertragen werden. Wenn die Moral auch ein Zweck ist, so ist doch dieser Zweck von ganz eigener Art. Es handelt sich hier um einen höchsten, letzten Zweck oder - nach einer Redeweise des Aristoteles - um den Zweck der Zwecke. Im Unterschied von allen anderen Zwecken darf man diesen Zweck nicht auf das Niveau eines Mittels herabsetzen. Wird die Moral zu einem Mittel degradiert, verliert sie eben die Qualität der Moral und ist also keine Moral mehr. Sie ist der absolute Referenzpunkt aller anderen Zwecke und deren Möglichkeitsbedingung. Die Moral ist ein Wert, und dieser Wert ist selbst unbedingt. Ihre Eigenart besteht darin, dass sie nie erfüllt, ausgeschöpft, vollendet werden kann und doch zugleich in jedem moralischen Akt gegenwärtig ist. Einerseits versteht Trotzkij, dass der Moral eine besondere Stelle im Leben des Menschen und der Gesellschaft zukommt. Indem er die Frage nach Rechtfertigungsgründen der Zwecke selbst stellt, kommt er zu dem Schluss, dass diese Begründungsmöglichkeiten durch den Bezug auf die Aufgabe der Menschheitsbefreiung gewährleistet seien. Die Menschheitsbefreiung ist für Trotzkij also die letzte und höchste Instanz, d. h. das, was man einen moralischen Zweck nennen kann. Andererseits lässt er aber die Eigenartigkeit dieses Zwecks, dessen Grundunterschied zu allen anderen Zwecken außer Betracht. Angenommen, ein Mensch hat beschlossen, ein Haus zu bauen. Dieser Zweck bestimmt von nun an die Gesamtheit seiner Handlungen, die der Erreichung dieses Zieles dienen, wobei viele der vermittelnden Schritte mit an und für sich unbequemen und unangenehmen Nebenfolgen verbunden sein können (das mit Bauschutt bedeckte Territorium, die anstrengende Arbeit usw.). Sobald aber das Haus fertig ist, macht es das Leben des Menschen bequemer, komfortabler, und alle Unbequemlichkeiten bleiben weit dahinter zurück und werden vergessen. In diesem Fall werden die Mittel durch den Zweck ganz gerechtfertigt. Diese Logik ist für den Menschen durchaus natürlich: er nimmt bestimmte zeitweilige Nachteile um größerer Vorteile willen in Kauf. Wäre die Moral ein solcher reeller Zustand, den man auf eine ähnliche Weise erreichen könnte, wie man ein Haus bauen kann, so wären auch alle diesem Zwecke dienende Mittel zu rechtfertigen. Aber der entscheidende Punkt liegt hier eben darin, dass die Moral kein solcher Zustand ist: sie ist unerreichbar, und deshalb funktioniert sie als ein Ideal und nicht als ein Zweck im gewöhnlichen Sinne des Wortes. (Dabei sei die Frage hier dahingestellt, ob die Moral überhaupt grundsätzlich unrealisierbar oder deren Verwirklichung in einer Weise unmöglich ist, wie das Erfassen der Kosmosunendlichkeit. Es genügt, zu sagen, dass wenn sie auch in absehbarer Zukunft, für gegebene Menschengenerationen nicht zu erreichen ist, so durchdringt sie doch schon jetzt unser Leben, und zwar als Ideal, als regulatives Prinzip, nicht aber als ein konkretes Tätigkeitsprogramm.) Amoralische Mittel (Lüge, Mord, Gemeinheit) sind keine Mittel, die durch einen guten Zweck gerechtfertigt werden, da ihre Amoralität nicht auf-
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zuheben ist; einmal getan, geht das Böse - übrigens nicht weniger als das Gute auf ewig in die Geschichte ein. Trotzkij lässt nicht nur die Eigenart der moralischen Zwecke außer Betracht, sondern er gibt, nach einer treffenden Bemerkung von John Dewey, das Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit der Zwecke und der Mittel überhaupt auf. 2 Er gibt dieses Prinzip auf, indem er den für seine Begriffe höchsten Zweck der Menschenbefreiung als ein Gesetz der Geschichte und eine notwendige Folge des Klassenkampfes ansieht. Das Bezogensein der Mittel auf die Zwecke bedeutet folgendes: Wir haben einen bestimmten Zweck und, indem wir uns danach richten, wählen wir die Mittel, wobei wir jedesmal einzusehen versuchen, ob sie in der Tat zu diesem Zweck führen oder nicht. Selbstverständlich sind hier Fehler nicht auszuschließen, nicht alles lässt sich vorausberechnen. Uns aber ist das Prinzip wichtig: Die Wahl der Mittel richtet sich nach dem Zweck. Wenn aber der Zweck als ein Gesetz, als ein notwendiges Resultat nur dieser eindeutig bestimmten Handlungen angesehen wird, so kann er nicht mehr in der Dimension bleiben, wo er als ein leitendes Prinzip beim Auswählen dieser Handlungen fungiert. Wenn der Klassenkampf der einzige Weg ist, der zum Zweck der Menschenbefreiung führt, so kann er selbst nicht Gegenstand einer kritischen Analyse und einer praktischen Wahl sein, die im Hinblick auf diesen Zweck gemacht wird. Eher umgekehrt: die Ausrichtung auf den Zweck (die Lösung der Frage, ob es in einem bestimmten Fall sich wirklich um die Menschheitsbefreiung handelt) wird durch die Hingabe an den Klassenkampf bestimmt. Dann ist aber der Zweck nicht mehr das, wonach sich das Auswählen von Mitteln richtet, in bezug auf diese wird er vielmehr sekundär. Wie J. Dewey in seinem in Anknüpfung an die Schrift von Trotzkij geschriebenen Artikel „Die Zwecke und die Mittel" richtig bemerkte, sei Trotzkij von dem Prinzip „Der Zweck heiligt die Mittel" abgegangen, weil in seiner Schrift der von ihm proklamierte Zweck der Menschheitsbefreiung eigentlich dem doch als Mittel für die Erreichung dieses Zwecks zu betrachtenden Klassenkampf untergeordnet wird. Der Klassenkampf wird verabsolutiert und der moralischen Kritik entzogen. Er wird so aufgefasst, als ob er seine Kriterien und Sanktionen gänzlich in sich enthielte und selbst ein ausgewählter Zweck wäre. Es stellt sich hier die Frage an, ob eine humanistische Interpretation des Satzes über das Zweck-Mittel-Verhältnis nicht doch möglich wäre. Wie muss dieser Satz im Hinblick auf die Sphäre der Moral präzisiert und konkretisiert werden? Das Wichtigste in diesem Fall ist nach meiner Meinung die Einheit der Zwecke und der Mittel. Es kann sich hier um die Einheit zweifacher Art handeln, und zwar um eine inhaltliche und eine Subjekteinheit.
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Siehe John Dewey , Mittel und Zweck: Ihre Wechselbeziehung und Leo Trotzkijs Essay ,Ihre Moral und unsere4, in: Karl Kautsky/Leo Trotzkij/John Dewey , Politik und Moral. Die Zweck-MittelDebatte in der neueren Philosophie und Politik, mit einer Einleitung und einer Bibliographie, hrsg. v. Ulrich Kohlmann, Lüneburg 2001, S. 161-168.
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Die inhaltliche Einheit setzt voraus, dass die bewusst proklamierte moralische Qualität der Zwecke obligatorisch in den zu deren Erreichung eingesetzten Mitteln anwesend ist. Noch mehr: gerade durch die Mittel zeigt sich ein wirklicher und nicht bloß proklamierter Sinn der Zwecke. Jedenfalls ist es so, dass die Behauptung, dass die Mittel es seien, wodurch die Zwecke gerechtfertigt werden, bedeutend mehr theoretische Garantie für einen praktischen Humanismus gibt, als die Gegenbehauptung, dass der Zweck die Mittel heilige. Und wieder müssen wir staunend feststellen, dass Trotzkij nicht nur der richtigen Auffassung des Problems nahe kommt, sondern auch dessen genaue Formulierung gibt: „Wenn man Weizenähren ernten will, muss man Weizenkörner säen." Ganz genau! Aus dem Kern einer Wassermelone oder erst recht aus einem Steinkorn kommt ja kein Weizen. Wie aber muss die folgende Behauptung von Trotzkij verstanden werden: „Eine Gesellschaft ohne Sozialgegensätze wird natürlich eine Gesellschaft ohne Lüge und ohne Gewalt sein. Aber die Brücke zu ihr ist nicht anders zu schlagen, als mit revolutionären, das heißt gewaltsamen Mitteln"? Eine seltsame Logik: Weizen komme nur aus Weizenkorn, aber eine gewaltfreie Gesellschaft könne nur mit Gewaltmitteln aufbaut werden. Wie stark muss man doch der Ideologie des Klassenkampfes verfallen sein, damit es in ein und derselben kleinen Schrift zu so krassen Widersprüchen kommt! Die von politischen Interessen bestimmten Forderungen sind stärker als die logischen Regeln - diese Wahrheit ist schon lange bekannt. Es stellt sich aber heraus, dass selbst wenn ein Politiker die Rolle eines Theoretikers spielt und kein Schlachtfeld des Bürgerkriegs, sondern nur ein reines Papierblatt vor sich liegen hat, so kann doch eine Laune der Leidenschaft ein stärkerer Beweggrund sein, als die strenge Zucht der Gedanken. Das zeigt, dass die ethische Theorie von Trotzkij in psychologischer Hinsicht ein sehr aufrichtiges und redliches Menschenwerk, inhaltlich aber nichts als eine Spiegelung der Praktiken des Klassenkampfs ist. Die Subjekteinheit der Zwecke und der Mittel besteht darin, dass beides nicht so weit auseinandergehen darf, dass als Zweckträger und als Mittelträger nicht ein und dieselben Individuen bzw. Menschengenerationen in Frage kommen. Nur wenn die Zwecke und die Mittel in dasselbe menschliche Raum-und-Zeit-Kontinuum eingeschlossen sind, nur wenn dieselben Menschen, als Mittel auftretend, zugleich Zwecke in sich selbst bleiben: nur dann kann von einem humanistischen Kriterium des Zweck-Mittel-Verhältnisses die Rede sein, was im übrigen auch mit der zweiten Formulierung des Kantischen kategorischen Imperativs gemeint ist: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" 3 Auf die von ihm selbst gestellte Frage, wie man die Zwecke ihrerseits rechtfertigen kann, gibt Trotzkij keine bestimmte Anwort. Er meint, dass diese Frage in
3 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: I. Kant, Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. IV. Berlin, 1908. S. 429.
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jedem konkreten Fall eigens zu beantworten sei, und kommt zu einem Schluss, der die Hauptlast seiner ethischen Konzeption zu tragen hat: „Die Fragen der revolutionären Moral sind mit den Fragen der revolutionären Strategie und Taktik unzertrennlich verschmolzen." In der sich um diese Schrift von Trotzkij drehenden philosophischen Polemik wurde das Hauptaugenmerk zwar auf das Problem des Zweck-Mittel-Verhältnisses gerichtet. Aber merkwürdigerweise blieben doch damit verbundene und in theoretischer Hinsicht sehr wichtige Fragen über die Beziehung zwischen Moral und Politik außer Betracht: Ob die Formel von Trotzkij, mit der die Moral auf die Politik, auf die „revolutionäre Strategie und Taktik" zurückgeführt wird, die notwendige logische Folge einer klassengebundenen Konzeption der Moral ist und inwiefern sie für die marxistische Behandlungsweise des Problems der Ethik bezeichnend ist? I I I . Der Marxismus und die Ethik Ohne Zweifel gehört die Ethik von Trotzkij zur marxistischen geistigen Tradition. Das erhellt nicht nur aus der ideologischen Selbstmanifestation des Autors, der sich sowohl auf dem Gebiet der Ethik als auch auf allen anderen Gebieten der Theorie und der Praxis als einen revolutionären Marxisten reinsten Wassers anzusehen pflegte. Wichtiger und wesentlicher ist hier noch etwas anderes: Trotzkij vollendet die marxistische Theorie der Moral, indem er ihr in ihrem sozialpraktischen Teil die möglichst lückenlose und adäquate Darstellung gibt, und zwar am Eingang in eine Sphäre der menschlichen reellen Tätigkeit (die Sphäre des Klassenkampfs und der Revolution), die nach den theoretischen Kanons des wissenschaftlichen Kommunismus die einzig mögliche, absolut notwendige und wünschenswerteste Weise der moralischen Selbstreinigung zivilisierter Gemeinschaften sein soll. Marxismus und Ethik, das ist ein vielseitiges Thema.4 Für unsere Aufgabe genügt es aber, nur auf einen, aber doch wichtigen Aspekt dieses Themas einzugehen und zwar auf den normativen. Und auch hier können wir uns darauf beschränken, die Spezifik des marxistischen normativen Modells im Unterschied zu den hergebrachten philosophisch-ethischen Rezepten zu zeigen. In ihrer äußersten Zuspitzung lautet die Frage: Ob die marxistische Ethik auf eine ähnliche Weise existiert wie ζ. B. die Ethik des Aristoteles, Boethius, Spinoza oder Kant? Ob sich der Marxismus in diese klassische Reihe einordnet oder aus ihr herausfallt, indem er nämlich, mit einer bei uns bis vor kurzem üblichen Lexik gesprochen, eine revolutionäre Umwälzung in der Auffassung der Moral bedeutet? Die europäische Ethik von der griechischen Antike bis in die Neuzeit lässt sich bei aller ihr anhaftenden Gegensätzlichkeit und Mannigfaltigkeit als ein einheitli-
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Siehe dazu auch Karl Graf Ballestrem, Marxismus und Ethik, in: Hans F. Hollederer/Jörg Jantzen (Hrg.), Sozialismus in der veränderten Welt, München 1984, S. 29-42.
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ches Ideengebilde auffassen. Sie erwächst aus zwei grundlegenden Feststellungen: aus einer moralischen, dass die Welt böse, und aus einer philosophischen, dass die Welt objektiv sei. Die Welt sei böse in dem Sinn, dass sie den Menschen nicht befriedigen könne, weil sie es nicht erlaube, das den Individuen innewohnende Streben nach Glück mit deren moralischen Pflichten gegen sich selbst und gegeneinander zu einer harmonischen Einheit zu bringen. (Alle großen Philosophen betrachteten den reellen Zustand der gesellschaftlichen Sitten ziemlich pessimistisch, wobei auch diejenigen unter ihnen keine Ausnahme bildeten, die, wie z. B. Rousseau, dazu neigten, den Menschen als ursprünglich gutes Wesen anzusehen. Sie unterschieden sich von den Vertretern der Idee der ursprünglichen Boshaftigkeit des Menschen nur dadurch, dass nach ihrer Meinung die Ursache der Sittenverdorbenheit in bestimmten geschichtlichen Verhältnissen zu suchen sei in der Zivilisation, im Privateigentum, in der Ungleichheit.) Die Welt sei objektiv in dem Sinn, dass deren Einrichtung und Entwicklung unabhängig vom Menschen verlaufen. Der Mensch, indem er ein Teil, ein Fragment der Welt sei, vermag den objektiven Verlauf der Dinge nur anzuschauen, zu erkennen, mit Vernunft zu erfassen und seine innere Haltung dazu einzunehmen, aber es sei ihm nicht gegeben, ihn irgendwie bedeutend zu verändern. Da die Welt nicht gut sei, wolle der Mensch, dass sie anders werde. Auf dieser Einstellungsgrundlage gestaltet sich ein ideelles Bild der Moral, das auf das reelle menschliche Dasein bezogen ist als dessen Negation. Ebendeshalb ist der allgemeine humanistische Kanon nicht nur in seinem negativen, dem konkretesten und gegenständlichsten („Du sollst nicht töten", „Du sollst nicht lügen", „Du sollst nicht stehlen"), sondern auch in seinem positiven Teil (die Forderung nach dem Guten und nach der Nächstenliebe) nichts als eine Umkehrung der wirklichen zwischenmenschlichen Verhältnisse. Da die Welt objektiv (gegenständlich, vorgegeben) sei, könne sie nicht anders werden: jedenfalls nicht grundsätzlich qualitativ anders. Also: die Welt sollte verändert werden, aber man kann es nicht. Die philosophische Ethik hat diesen unauflöslichen diesen unauflöslichen Widerspruch jedoch in der Weise zur Auflösung gebracht, dass sie ihre eigenen ideellen Welten zu konstruieren begann, welche, ohne die reelle Welt aufzuheben, als deren glückliche Fortsetzung vorschweben können. Sie hat die Möglichkeit entdeckt, empirische Kollisionen in der geistigen Erfahrung auf dem Wege der Vervollkommnung und der Selbstvervollkommnung des Menschen aufzuheben. Unterschiedliche ethisch-philosophische Systeme sind eigentlich nichts anderes, als bestimmte Modelle dafür, wie man eine disharmonische Wirklichkeit mit einer harmonischen ergänzen (nicht verändern, nicht transformieren, sondern eben ergänzen), kann, wie man seine Würde unter entwürdigenden Verhältnissen wahren, wie man über die Welt hinausgehen und zugleich in der Welt bleiben kann. Die Analyse ethisch-normativer Modelle, die für die moderne Kultur bezeichnend sind, ist eine Forschungsaufgabe für sich. Aber schon bei flüchtigem Hinsehen kann man hier ziemlich deutlich sich abzeichnende Traditionen unterscheiden, wie Stoizismus, Epikureismus, Skeptizismus, Ethik der kontemplativen Seligkeit, Ethik der Liebe.
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Die beiden erstgenannten Traditionen sollen etwas näher betrachtet werden, da sie in einem Polarverhältnis zueinander stehen und für die europäische philosophische Ethik am repräsentativsten sind. Dem Stoizismus zufolge ist die Welt so beschaffen, dass darin eine durchgehende Kausalität herrscht, so dass man am Weltlauf gar nichts ändern kann. Der Kosmos wird zwar von einer Vernunft regiert, in seinen einzelnen Erscheinungen aber, denjenigen, mit denen es die Individuen zu tun haben, scheint er „unvernünftig" zu sein: im menschlichen Sinne grausam, absolut unerbittlich und gnadenlos. Dem Menschen bleibt so nur die Möglichkeit, sich in sein Schicksal zu finden und all dessen Launen und Schläge hinzunehmen. Das gibt ihm, dem Stoizismus zufolge, die nötige innere Festigkeit, so dass sein Geist durch keine Wendung der Lebensumstände ins Schwanken gebracht werden kann. Der Stoiker ist ein Mann der Pflicht, er erhebt sich über Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut, über all die Unterschiede, die vital und praktisch, aber doch nicht ethisch relevant sind. Die auf diesem Weg zu erlangende Freiheit und Ruhe sind von rein innerlicher Art, und nach ihrem äußeren Lebensmuster, nach ihrer weltlichen Lebensweise lassen sich ein stoischer Weiser und ein gewöhnlicher vernünftiger Mensch durch nichts unterscheiden. Nach Epikur ist aber die Weltkausalität nicht ohne gewisse Lücken (spontane Bewegungsabweichungen der Atome), die es dem Menschen erlauben, sich den eisernen Krallen der Notwendigkeit zu entreißen. Das wird durch Einsich-Distanzieren von der Welt erreicht und kommt in einer Reduktion der natürlichen Bedürfnisse auf ein leicht zu befriedigendes Minimum zum Ausdruck. Das Höchste, womit der Mensch rechnen kann, ist ein Glückseligkeitszustand, der keinen positiven Inhalt hat und von Epikur als ein von leiblichem Leiden und Gemütsunruhe freies Sichselbstgleichbleiben des Geistes bezeichnet wird. Hier handelt es sich um eine Art innere Selbstgenügsamkeit des Menschen, deren Erreichen für ihn nicht dadurch ermöglicht wird, dass er die natürliche und soziale Umgebung nach seinem moralischen Urteil verändert, sondern dadurch, dass er aus dieser Umgebung zu „springen", ihr zu „entkommen" sucht. Die epikureische Freiheit ist kein positiver Zustand, sondern vielmehr eine negative Bewegung. Das „Land" der Glückseligkeit liegt nicht in der Welt des Alltags, sondern irgendwo jenseits dieser Welt, neben ihr, in einem besonderen „Garten". In diesem Punkt stimmt der Epikureismus, der historisch gesehen ein Gegenpol zum Stoizismus bildet, ganz mit diesem überein. Es stellt sich nun die Frage, mit welchen Kräften die klassische Ethik rechnet, indem sie die Menschen in ätherische Höhen einer Idealdimension zu entrücken sucht und offensichtlich unrealistische moralische Programme anbietet. Wiederum allgemein und somit vereinfachend könnte man antworten: Sie rechnet mit einer dem Menschen innewohnenden Fähigkeit zu geistiger Selbstbezwingung, der Fähigkeit, seine unmittelbaren Handlungsantriebe einem rational aufgestellten Tätigkeitsplan unterzuordnen. Die dem Menschen eigene zweckgebundene Aktivität orientiert sich auf ein bestimmtes beabsichtigtes Endresultat, sie stellt sich als eine mehr oder weniger lange Reihe der Handlungen dar, von denen jede an und für sich nicht unmittelbar lebenswichtig, manchmal sogar mit unangenehmen
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Erlebnissen verbunden sein mag, im Ganzen aber, als Bestandteil einer Summe betrachtet, doch ein Schritt ist, der zur Befriedigung eines unmittelbaren Bedürfnisses führt. Ein indirekter, durch mehrere Mittelstufen hindurchgehender Weg zum Zweck setzt voraus und gestaltet eine psychologische Struktur, in deren Rahmen die affekthafte, emotionale Sphäre der rational-objektivierten untergeordnet wird. Das moralische Sollen schaltet sich in diesen Mechanismus der Selbstbeherrschung, der inneren Disziplin des Menschen ein. Der Widerspruch zwischen der Tugend und dem Glück wird in der Pflicht aufgehoben. Es wird angenommen, dass der Mensch die Forderungen der Moral auch gegen seine Neigungen und gegen den Druck unmittelbarer Umstände erfüllen soll. Ein moralisches Problem wird als eine Willensaufgabe und eine persönliche Wahl betrachtet. In Wirklichkeit entspricht jedoch, wie schon gesagt, der Mechanismus der zweckgerichteten Tätigkeit doch nicht der Natur der moralischen Wahl. Die menschlichen Zwecke sind (a) gegenständlich, (b) erreichbar und (c) auf einen Nutzen ausgerichtet. Was aber die Moral (und insbesondere das moralische Ideal) betrifft, so bleibt sie doch von gegenständlichen Bestimmungen grundsätzlich frei und lässt sich durch keine deutlich umrissene und gänzlich durchschaubare Gesamtheit von Handlungen in die Wirklichkeit umsetzen. Freisein von Egoismus (Uneigennützigkeit) ist das bezeichnendste Merkmal für die Moral. Infolgedessen findet die Moral keinen adäquaten Ausdruck in der menschlichen Tätigkeit, sondern stellt sich als deren äußere und fremdartige Begrenzung dar, indem sie auf bloße verbale Beschwörungsformeln hinausläuft. Zu all dem, was über die normativen Entwürfe der klassischen Ethik gesagt worden ist, muss also jetzt hinzugefügt werden, dass sie mehr oder weniger moralistischer Art sind. Der Marxismus stimmt mit dem ihm vorangehenden philosophischen Denken darin überein, dass er die moralische Qualität der wirklichen Lebensformen, der Gesellschaftssitten pessimistisch bewertet, aber er unterscheidet sich von ihm im Verstehen des Seins, genauer gesagt: in der Behandlung der Frage nach der Beziehung zwischen dem Sein und der menschlichen Tätigkeit. Die Philosophie des Marxismus betrachtet die Wirklichkeit „subjektiv", als „menschliche sinnliche Tätigkeit" (K. Marx). Sie geht davon aus, dass die Welt ein offenes System ist. Das Sein stellt sich als ein Werden, als ein Geschichtsvorgang dar. Die Geschichte, das gesellschaftliche Sein - das sei nicht bloß der Höhepunkt, die Vollendung, sondern die aktuelle Daseinsweise des Seins überhaupt. Kurzum, das Sein wird als gesellschaftliche Praxis verstanden. Die Welt entwickelt sich, und diese Entwicklung erfolgt durch den Menschen. Nach Marx ist nicht nur das menschliche Erkenntnisvermögen, sondern auch seine praktische Tätigkeit der Welt angemessen. Es folgt daraus, dass der Mensch durch seine Handlungen der Welt einen bestimmten Sinn geben und sie nach seinen Idealen umgestalten kann. Eben dadurch unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen, dass er sich nach Normen richtet, die er für sich selbst aufstellt. Die marxistische Weltauffassung führt natürlicherweise zu der Frage, wie die Welt sein, wie der Mensch sie einrichten soll. Die Antwort darauf, in moralische
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Termini gefasst, ist ganz selbstverständlich: die Welt soll ganz anders sein, frei von dem das menschliche Dasein vergiftenden Bösen in all dessen Erscheinungen. Die allgemeinmenschliche Moral, im Rahmen der klassischen Ethik begriffen, wird vom Marxismus als Negation der in der Lebenspraxis real wirkenden Sitten betrachtet. Was aber den normativen Gehalt des moralischen Ideals betrifft, so wird hier eigentlich nichts Neues aufgestellt. Das humanistische Pathos, wodurch die klassische Philosophie zu ethischen Forschungen beflügelt war, ist auch dem marxistischen Weltverständnis in vollem Maß eigen. Das Neue, das der Marxismus in die Ethik einführt und wodurch er sich in der Tat von allen vorhergehenden ethischen Konzepten unterscheidet (und zwar grundsätzlich, so dass man hier von einer revolutionären Umwälzung, von einem Aufheben der Tradition reden darf) besteht in folgendem: der Marxismus verlagert das allgemeinhumanistische moralische Ideal in die praktische Dimension, indem er es als das versteht, was im Laufe der geschichtlichen Entwicklung wirklich erfüllt werden kann. Der Marxismus stellt das Ideal einer Moralgesellschaft auf, er stellt die Aufgabe, die Moral aus den Höhen des gesellschaftlichen Bewusstseins auf den festen Boden des gesellschaftlichen Seins wieder herunterzubekommen. In der „Deutschen Ideologie" von K. Marx und F. Engels wird ζ. B. Kant deswegen kritisiert, weil er sich mit einem bloßen „guten Willen" begnügt, auch wenn dieser ganz fruchtlos bleibt, d.h. seine Erfüllung im Sinne von Glückseligkeit erst im Jenseits erfährt. In gleicher Weise setzt sich W. Lenin mit den Volkstümlern hinsichtlich der Frage nach dem Ideal auseinander. Er betont, dass ein Marxist das gleiche Ideal ins Auge fasst, dabei aber nicht auf „moderne Wissenschaft und moderne moralische Ideen", sondern auf bestehende Klassengegensätze Bezug nehme und es deshalb nicht als eine Forderung der „Wissenschaft", sondern als eine Forderung einer bestimmten Klasse formuliere, die aus bestimmten (objektiv zu erforschenden) sozialen Verhältnissen entstehe und nur auf einem Wege zu erfüllen sei, der eben durch die gegebene Beschaffenheit dieser Verhältnisse bestimmt werde. 5 Selbst die berühmte Definition des Kommunismus als einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" {Manifest der Kommunistischen Partei von K. Marx und F. Engels) ist eigentlich nichts anderes, als das klassische moralische Ideal (die „Goldene Regel", der Kantische kategorische Imperativ), allerdings nicht als individuelle Aufgabe aufgestellt, sondern als Programm für das geschichtliche Handeln. Das außerzeitliche Ideal wird in einen geschichtlichen Zweck verwandelt. Diese Ähnlichkeit zwischen dem Marxismus und der klassischen Ethik hat J. P. Sartre in seinen Notizen zu Trotzkijs Artikel aufgezeigt. 6 Nachdem er feststellt, dass Trotzkij die Befreiung der Menschheit, das Ende von Lüge und Gewalt im
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W.I. Lenin, Polnoje sobranije sotschinenij [Sämtliche Werke], if. 1. Ν. 436. Siehe Jean-Paul Sartre , Trotsky: Leur morale et la nôtre, in: ders., Cahiers pour une morale, Paris 1983, S. 167-176. 6
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gesellschaftlichen Leben als den höchsten Zweck ansieht, bemerkt er, dass dahinter das Kantische Ideal vom „Reich der Zwecke" wieder ganz unverkennbar stehe. Was das Ideal betrifft, so besteht zwischen Trotzkijs Auffassung und dem hergebrachten bürgerlichen Gesichtspunkt insofern kein bedeutender Unterschied. Einen gewaltigen Unterschied sieht Sartre aber in folgendem: Die bürgerliche Moral geht von der Annahme aus, dass das „Reich der Zwecke" ewig ist (und also eigentlich im Jenseits liegt) und dass wir doch irgendwie daran teilnehmen, indem wir sittlich handeln. Bei Trotzkij steigt aber das „Reich der Zwecke" vom Himmel auf die Erde herunter. Es ist für ihn nichts anderes, als eine sozialistische Gesellschaft, die sich verwirklicht hat. Der Marxismus lehnt die klassische Ethik ab, weil sie eine lediglich moralisierende Kritik am Kapitalismus zu üben pflege, die sich letztlich als eine spezifische Form von Apologie erweise. Der Marxismus sprengt sozusagen die Luftschlösser, um greifbare Paläste aufzubauen, und stellt ein Programm auf, demzufolge die Moral dem Sein selbst immanent ist. Worin liegt aber die revolutionäre Kraft, die dem gesellschaftlichen Sein eine sittliche Qualität verleihen kann? Der Marxismus sieht sie im Proletariat - in derjenigen Klasse, die nichts als ihre Ketten zu verlieren hat, die aufgrund ihrer objektiven Lage ganz radikal gegen die bestehende Gesellschaftsordnung gesinnt sei. Die wirklichen Sitten der Proletarier aber, so hoch sie über den Sitten anderer Gesellschaftsklassen stehen mögen, seien doch vom eigentlichen Ideal sehr weit entfernt, denn das Dasein des Proletariats sei durch eigene und zwar sehr tückische Fehler gekennzeichnet. Im Rahmen der marxistischen Theorie wird dieser Schwierigkeit durch die Annahme begegnet, dass das Proletariat als der Träger der sittlichen Mission nichts anderes denn eine sozial-kritische Kraft (nicht eine „Klasse an sich", sondern eine „Klasse für sich") sei, nur insofern also, als es sich der bürgerlichen Denk- und Lebensart entgegenstellt, dagegen in einen organisierten Kampf eintritt, der sich nach den Ideen des wissenschaftlichen Kommunismus richtet. Aus all dem ergibt sich, dass Lebensformen der Arbeiterklasse, die durch die Ziele seines Kampfes bestimmt werden, sich vor allem durch Organisiertheit und Solidarität auszeichnen, einen normativen sittlichen Sinn hätten und dass die Moral überhaupt dem Klassenkampf des Proletariats untergeordnet werden sollte. Die These von Trotzkij, dass die revolutionäre Moral sich mit der revolutionären Strategie und Taktik des Proletariats zusammenschließe, fügt sich ganz organisch in die marxistische ethische Konzeption ein, indem sie eigentlich - sowohl logisch, als auch historisch gesehen - deren letzte Konsequenz ist. IV. Die Moral und die politische Zweckmäßigkeit Der Artikel von Trotzkij ist keine Prognose, kein Projekt, sondern in gewissem Sinne bereits eine retrospektive Zusammenfassung. Er hat mit der kommunistischen Bewegung zu tun, die schon ein bedeutendes Stück des Weges zurückgelegt
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hatte (von der Machtergreifung über den Bürgerkrieg bis zur Errichtung ihrer vollständigen Diktatur) und im Verlauf dieser äußerst harten und grausamen Periode alle romantische Gutmütigkeit, alle moralischen Illusionen ihrer ersten Phase hinter sich ließ. Die Geschichte der proletarischen Bewegung war inzwischen so sehr mit Gewalt verbunden, dass eine theoretische Legitimation der ersteren zugleich eine ethische Rechtfertigung der letzteren erforderte. Da Trotzkij Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunders sich zum Verkünder der revolutionären Moral aufwarf, sah er sich vor die Aufgabe gestellt, in den Kontext seines ethischen Diskurses auch Dinge wie Geiselnahme, Terror und Mord mit einzubeziehen. Gegenüber dem Vorwurf, sich das jesuitische Prinzip: „Der Zweck heiligt die Mittel " zueigen gemacht zu haben, anwortet er, dass Jesuiten doch Kämpfer für die Idee Christi gewesen seien, während die Vertreter der friedlichen Kirchenhierarchie bloß deren Händler waren. Gegenüber dem Vorwurf, dass er sich eigentlich zur Moral der Kaffern bekennen würde, behauptet er, dass sie, die Kaffern, in sittlicher Hinsicht weit höher gestanden hätten als die europäischen Missionare, die dieses Volk ins Verderben geführt hätten. Soweit er für das Geiselinstitut verantwortlich gemacht wird, das in der Bürgerkriegszeit geschaffen worden war, nimmt er die Verantwortung für diese „im Kampf gegen die Unterdrücker notwendige Maßnahme" stolz auf sich und findet für seine Ankläger nur bittere Worte. In seinem Artikel „Moralisten und Sykophanten gegen den Marxismus" 7 schreibt Trotzkij, dass seine Kritiker oft ein und denselben Fehler begehen würden, indem sie in den Fragen der Ethik Lenin für seine (Trotzkijs) Worte, ihn aber für Lenins Handlungen verantwortlich machen wollten. Es ist Sache der Historiker, zu entscheiden, ob und inwiefern Trotzkij mit dieser Behauptung recht hat. Eines ist aber ganz sicher: die Grenzaufgabe, das eigentliche Pathos der ethischen Theorie von Trotzkij besteht darin, alle Sündenlast der revolutionären Praxis auf sich zu nehmen. Und das wird dadurch erzielt, dass die Gleichsetzung der Moral mit der politischer Strategie und Taktik, die als Zentralpunkt der Ethik von Trotzkij schon erwähnt worden war, ganz direkt, ganz buchstäblich verstanden wird: so direkt und buchstäblich, dass hier die Politik die Ethik entbehrlich macht und sich von der letzteren „befreit". Trotzkij will sich durch kein Urteil der Moralisten, diesen „kläglichen Taschendieben der Geschichte", gebunden wissen, die nur deshalb zu Zentrismus, Versöhnlertum, zur moralischen Mitte neigten, weil sie unfähig seien, sich zu „hervorragenden Missetaten" emporzuschwingen. Er schreibt: „Der Zweck (Demokratie oder Sozialismus) rechtfertigt unter bestimmten Bedingungen (unter welchen Bedingungen? wer bestimmt sie? - A. G.) solche Mittel wie Gewalt und Mord. Ganz zu schweigen von Lüge!" Oder: „Bei einem revolutionären Marxisten darf kein Gegensatz zwischen der persönlichen Moral und den Interessen der
7 Geschrieben im Juni 1939 als Antwort auf Anspielungen und kritische Bemerkungen, die in dem anonymen Vorwort zur französischen Übersetzung des Artikels „Ihre Moral und unsere" enthalten waren.
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Partei bestehen, denn die Partei umfasst in seinem Bewusstsein die höchsten Aufgaben und Zwecke der Menschheit." Der Wunsch des Menschen, über den engen Rahmen eines individuellen Wohlseins hinauszugelangen und sein Leben etwas Höherem unterzuordnen, ist ganz verständlich. Nicht weniger verständlich ist auch sein Bestreben, diesem Höheren eine sichtbare Darstellung in konkreten Zwecken zu verleihen. Wie kann man aber eines mit dem anderen vereinigen und von Idealen zu praktischen Zweck en übergehen, ohne die moralische Größe der ersteren aus den Augen zu verlieren? Was kann man tun, um in seinen Zweckvorstellungen nicht enttäuscht zu werden und das Hohe mit dem Niedrigen nicht zu verwechseln? Zu unserem konkreten Beispiel zurückkehrend, wo der Übergang von Idealen zu praktischen Zwecken als Übergang von einem individuellen Willen zum Willen einer politischen Partei verstanden wird, ist zufragen: Wie kann man herausfinden, worin das Interesse der Partei eigentlich besteht? In der Praxis, und unter anderem in der Praxis der KPdSU, war die Problemlösung sehr einfach: Der Wille der Partei wurde mit deren Entscheidungen und mit den Direktiven ihres führenden Kerns identifiziert. Und das war alles. Wenn man Luftschlösser baut, so kann man ihnen eine beliebige Form geben. Wenn man es aber mit Stein und Lehm zu tun hat, so wird die Phantasie durch den Stoff begrenzt. Die Partei als politischer „Stoff 4 hat auch ihre eigene, harte Logik, nach der ihre Mitglieder gehorsam und diszipliniert sein sollten und bereit, die von leitenden Organen und Personen getroffenen Anordnungen zu befolgen. Wir brauchen jetzt nicht darauf einzugehen, dass diese Anordnungen auch fehlerhaft, schädlich, ja sogar verderblich sein können. Die Formel, dass der individuelle Wille mit den Parteiinteressen übereinzustimmen habe, verliert ohnedies ihren äußeren sittlichen Glanz, denn in ihrem realen, durch die Geschichte in seiner Blöße dargestellten Inhalt bedeutet sie nichts anderes, als Unterordnung des individuellen Willens unter den der Partei. Hier wird die Verschmelzung der Moral mit der Strategie und Taktik der politischen Praxis so komplett, dass Strategie und Taktik selbst einen sittlichen Status gewinnen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wofür steht bei einer so vollständigen Verschmelzung der Moral mit der Strategie und Taktik der politischen Praxis eigentlich noch das Wort „Moral"? Warum verwirft Trotzkij den Terminus nicht selbst? In Trotzkij s Ausführungen hat der Begriff der Moral zweifellos eine apologetische Funktion, die im Unterschied zur moralischen Apologetik der Ausbeuterklassen darin besteht, die Logik des Klassenkampfes zu rechtfertigen. Er wird eingesetzt, damit man gleichsam mit einem Schlag einen Ablassbrief bekommt für alle Sünden, die in einem solchen Kampf begangen werden mögen. Indem Trotzkij die absolute Moral ablehnt unter dem Vorwand, ihre Normen widersprächen der revolutionären Strategie und Taktik, zu deren unentbehrlichen Möglichkeitsbedingungen unter anderem die Gewalt gehöre, und indem er die revolutionäre Strategie und Taktik mit der Moral identifiziert, misst er der revolutionären Strategie und Taktik absolute Bedeutung zu, und zwar gerade in dem
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Punkt, wo sie der Moral widerspricht. Das Postament, von dem die ewige Moral gestürzt worden ist, wird nicht zerstört; es wird vielmehr die „revolutionäre Strategie und Taktik" darauf errichtet. Trotzkij kehrt nur die Logik der ewigen Moral um, kann aber nicht über sie hinausgehen. Und alle seine dialektischen Finessen, mit denen er die These plausibel zu machen sucht, dass die Mittel durch die Zwecke gerechtfertigt seien, die Zwecke aber nur dann, wenn sie wirklich dem obersten Zweck der Befreiung der Menschheit untergeordnet würden - das wird alles nur von einer Absicht getragen: freie Hand zu bekommen, um die absolute Herrschaft des revolutionären Willens herzustellen. Als Politiker denkt Trotzkij ganz konsequent, und ihm Amoralismus vorzuwerfen, weil er die Notwendigkeit von Gewalt und anderer, das Moralgefiihl schmerzhaft verletzende Mittel beweisen will, ist ebenso wenig sinnvoll, wie der Vorwurf einem Ökonomen gegenüber, er kalkuliere die Arbeitslosigkeit im System der Lohnarbeit oder die Unvermeidlichkeit der Sozialdifferenzierung in einer Marktwirtschaftsgesellschaft mit ein. In seinem Denken kommt die Politik allerdings nicht zum Bewusstsein ihrer eigenen Grenzen und zeigt die Tendenz zu einer schrankenlosen Expansion. Über die Ufer tretend, überflutet sie die ganze soziokulturelle Landschaft. Dadurch wird die Ordnung, die Übereinstimmung der Sphären des menschlichen Daseins nur gestört. Und wenn Trotzkij sich täuscht, so nur als Philosoph. Unter seiner Feder schrumpft die Multidimensionalität der Welt auf eine einzige, und zwar politische Dimension zusammen. Wenn Trotzkij sagt, man solle „unterschiedliche Bewertungskriterien fur die Handlungen der Ausbeuter und die der Ausgebeuteten geltend machen", so ist das schwer zu bestreiten, denn auf diese Verschiedenheit der Kriterien stützt sich das ganze politische Leben einer Klassengesellschaft. Er hat auch mit der folgenden Behauptung recht: „Ein Sklavenhalter, der durch List und Gewalt seinen Sklaven in Ketten schlägt, und ein Sklave, der durch List und Gewalt seine Ketten zerreißt, - wir wollen uns von den elenden Eunuchen nicht einreden lassen, dass die beiden vor dem Gericht der Moral gleich seien." Aber, so antworten wir, die „List und Gewalt" des Sklaven auf dem Wege zu seiner Freiheit verdienen eine positive Bewertung nur im Rahmen eines politischen Kampfes: nur dann, wenn sie der „List und Gewalt" des Sklavenhalters entgegengestellt werden. In moralischer Dimension betrachtet, heißt das: Im Vergleich zu der Möglichkeit, denselben Zweck mit anderen, gewaltfreien Mitteln zu erreichen, bleiben sie doch eine Spielart des Bösen. Und wenn das „Gericht der Moral" die Gewalt der einen von der Gewalt der anderen, ein Böses von dem anderen unterscheidet, so nur deswegen, weil es von einem Ideal ausgeht, das jenseits der Politik liegt: vom Ideal des Guten, vom Ideal der Gewaltfreiheit. Der Hauptvorwurf, den in diesem Zusammenhang ein Moralphilosoph Trotzkij machen könnte, besteht in Folgendem: Die politische Notwendigkeit bzw. Zweckmäßigkeit wird bei Trotzkij mit der sittlichen Berechtigung identifiziert, der
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politische Zwang mit der moralischer Überzeugung gleichgestellt. Beides sind aber ganz verschiedene Dinge. (Aus dem Russischen übersetzt von Andrej W. Kritschewskij, überarbeitet von Lothar R. Waas)
David Hume on Comparison From Philosophy to Political Theory and History Von Melvin Richter
„[We] seldom judge of objects from their intrinsic value, but from our notions of them from a comparison with other objects ... The misery of another gives us a more lively idea of our happiness, and his happiness of our misery ... Here then is a kind of pity reverst, or contrary sensations arising in the beholder, from those which are felt by the person, whom he considers." David Hume, A Treatise of Human Nature , Book II, Sect. VIII. „ [ I ] η affixing ... approbation or blame, we are commonly more influenced by comparison than by any fixed unalterable standard in the nature of things." David Hume, „ O f the Dignity or Meanness of Human Nature." 1
I. Comparison in the human sciences of the 18 th century: some divisive issues There have been surprisingly few critical studies of the methods and functions of comparison in the moral, human, and social sciences of the 18th century. From our 21 st century point of view, it seems odd to treat comparison as a philosophical theory of the human mind and passions. Such a method seems far removed from those now used to compare in political, social, anthropological, legal, and cultural studies. However, Locke, Montesquieu, Buffon, Condillac, Rousseau, and Hume all treated comparison both as a faculty of the mind and passions, and as the appropriate means for charting and possibly explaining both the diversity and similarities of human arrangements worldwide and over time.2 By investigating how David Hume theorized and applied this concept in several domains, this paper seeks to contribute to the systematic investigation of
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84.
David Hume, Essays, moral, political, and literary, ed. Eugene F. Miller (Indianapolis, 1985), 81-
2 For Locke and Montesquieu, see my „Two Eighteenth-Century Senses of »Comparison' in Locke and Montesquieu," in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), pp. 1-22. For the other authors, the following citations indicate how comparison was treated philosophically in the eighteenth-century.
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comparison in 18th century thought, considered both as philosophical reflection upon an operation of the human mind and passions, as well as a set of discourses on the diversity and similarities of human regimes and societies within and beyond Europe. As for Hume studies, what follows is offered, not as an advance on recent analyses of „the principle of comparison" in Hume's moral psychology, but rather as a demonstration of how he applied that theory in his essays, political theory, and history. Eighteenth century thought has been most extensively analyzed in terms of its theories of human nature and philosophy of history, of observation and induction, of analysis and deduction, of reason and abstraction. Yet, even in the numerous discussions of theories of progress and of Scottish stadial theory, the place of comparison in each of these domains has received as little attention from historians of philosophy as from specialists in the development of the moral, human, or social sciences. This is due in part to the fact that while some of the meanings now carried by the concept of comparison coincide with what was understood by that term in the eighteenth century, other senses do not now signify what they then did. 3 Again, because of subsequent professional and departmental divisions of knowledge beginning in the nineteenth-century German university, the various forms of comparison in the eighteenth century figure, i f at all, in histories of now separate disciplines, such as anthropology, political science, sociology, linguistics, and the history of religions. This failure to treat together the varied forms of comparison as then conceived and practiced has led to an underestimation of its overall significance in eighteenth century thought. Historians of philosophy tend to associate comparison with the social sciences. Thus until relatively recently, it has been difficult to find discussions of this concept in the vast literature on Locke and Hume. Nevertheless, comparison was crucial to the philosophies of mind, moral psychology, and language developed by Locke and Hume, as well as to their politics and history, in the case of Hume; and to theology, as in the case of Locke.4
3 A more extended discussion of eighteenth-century concepts of comparison is in my chapter on „The Comparative Study of Regimes and Societies in the Eighteenth-Century," in: The Cambridge History of Eighteenth-Century Political Thought, Mark Goldie and Robert Wokler , eds., (Cambridge, forthcoming); and my „That Vast Tribe of Ideas: Competing Concepts and Practices of Comparison in Eighteenth-Century Europe," in: Archiv für Begriffsgeschichte 44 (2002), 199-219. 4 As philosophers have recently become interested in the place given by Hume in his moral psychology to the theory of the passions, they have increasingly recognized the significance of „the principle of comparison" in Hume's theory of human nature. See above all, Gerald J. Postema , Pity Reverst: Sympathy and Comparison in Hume's Moral Psychology, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000); and Annette C. Baier , A Progress of Sentiments. Reflections on Hume's Treatise (Cambridge, Mass.: 1991) 207 et seq.; Pâli S. Ardai , Passion and Value in Hume's Treatise (Edinburgh 1989) Ch. 3.
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I f historians of philosophy have passed over the concept of comparison, so too have social scientists today. They have displayed little interest in either the philosophical origins or the varied historical forms of what they call unreflectively „the comparative method." For them, comparison is an unproblematic, transparent concept, the meaning of which has changed little over time. This paper will challenge that unexamined assumption by analyzing the place of comparison in Hume's philosophy, political theory, and writing of history. Any generalization about comparison in the 18th century is complicated by present-day disagreements about that period's historiography. It has become unclear whether the thought of Europe and its satellites was or was not dominated by belief in Enlightenment, les lumières, die Aufklärung. After two hundred years, this homogenizing treatment of 18th century thought has become increasingly disputed. Some scholars now emphasize currents of thought and feeling which call into question identifications of this period as the „Age of Reason;" others, while continuing to use the term „Enlightenment," wish to use it only in the plural or in adjectival form. This is because of the diversity of its intellectual components, political implications, and differences in its respective national forms. Radical, reforming, Catholic, and conservative Enlightenments increasingly figure in book titles. In another historiographical development, long unquestioned connections among Enlightenment thought, modernity, and the French Revolution have been queried or rejected. While some recent accounts depict enlightened conservatives defending an established order defined as modern against what are perceived to be regressive and primitivist attacks, others have emphasized the radical, i f submerged, radically democratic and sometimes atheistic undercurrents of 18 th century thought.5 Elsewhere I have treated a historiographical development, which at least in the United States, has colored all depictions of eighteenth century comparative theories treating Europe's past relationship to the rest of the world." 6 This history has been increasingly interpreted in terms of constructed identities. We are told that Europeans in the past, including 18th century thinkers, have always understood themselves in terms of a stark contrast to „the Other." This composite concept is said to have derived from Europeans' sense of the differences separating them from all the unfamiliar cultures and peoples encountered overseas since the 15 th century. Theorists of „the Other" depict European thinkers as dealing with the diversity of societies outside their continent by constructing invidious binary oppositions. Such polar contrasts, we are told, systematically demeaned non-
5 Wyger R. E. Velema , Enlightenment and Conservatism in the Dutch Republic. The Political Though of Elie Luzac (1721-1796) (Assen/Maastricht, 1993); Jonathan Israel , Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750, (Oxford 2001) contains the newest and most thoroughly documented theory of a radically democratic and atheistic Enlightenment. 6 Melvin Richter, Europe and the Other in Eighteenth-Century Thought, in: Politisches Denken Jahrbuch 3, hrsg. von Karl Graf Ballestrem u.a., Stuttgart 1997, 25-47.
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Europeans as different and inferior, as savage or barbarian in contrast to civilized Europeans. Those eighteenth-century authors who engaged in comparative analysis are now often assumed to have been „Eurocentric," colonialist, imperialist, or „Orientalist" in their now prevalent pejorative senses.7 The perspective of 18th century Europeans, led invariably, we are told, to theories framed in terms of invidious dichotomies. When dealing with the great empires outside their continent, Europeans are said to have depicted them as despotic, stationary or declining, compared to their own free, dynamic and progressive societies. When treating „archaic or primitive" cultures, eighteenth-century Europeans considered them as warlike, irrational, lacking the governments, civilized or,polite' restraints, and established order of European states. Description of European assumptions in terms of „the Other" indubitably captures some aspects of 18th century European thought and action. This seems to be most nearly true for encounters of Europeans with the native inhabitants of the Americas, Africa, and the South Pacific; rather less so for Asian high cultures in the seventeenth- and eighteenth-centuries. But i f left unqualified, interpretations phrased exclusively in terms of „the Other" posit partial, excessively politicized redescriptions, and reductive explanations of how eighteenth-century authors treated the relation of Europe to the rest of the world. In that paper, my goal was to add to the analysis those considerations necessary to restore to the historical record both the complexity and the numerous contestations which characterized European political and social thought in the eighteenth century. Contrary to some interpretations of that time, which view it as dominated by a single project, climate of opinion, Zeitgeist , or Weltanschauung , in fact there was no single, inviolable set of instinctively held, unchallenged presuppositions. Most, although not all, writers were preoccupied by the contestations dividing their own societies. Present-day treatments of eighteenth century thought often attribute to Europe an internal unity, a degree of consensus which did not exist. After all, the century was ended by the most violent and profound revolution that had yet occurred, and it was not limited to France. Long before then almost all comparative analyses were framed and executed within their authors' positions along embattled lines of fissure, to contested aspects of the governments and societies comprising pre-revolutionary Europe. Since Hume is often represented as neutral and objective, as a „scientific Whig," does he constitute an exception to the above characterization of the
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For definitions of these terms, see The Columbia Dictionary of Modern Literary and Cultural Criticism, Joseph Childers and Gary Hentzi , eds. (New York: Columbia University Press, 1995). Interlocking concepts include: „Eurocentrism." „Other," „Phallocentrism," „Phallogocentrism," „Orientalism," „Discourse," „Colonialism," „Enlightenment." and „Logocentrism."
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polemical uses of comparison in the eighteenth century? 8 In what follows, I shall examine both Hume's philosophical treatments of comparison as a mental operation and passion, and his applications of those theories when in his Essays and History of England, he compared and contrasted political regimes, societies, religions, and modes of thought. II. Hume's uses of comparison To what extent did Hume deploy comparison when dealing with the uniformity of human nature and the diversity of governments, societies, religions, and civilizations? How did he explain such uniformity or diversity as he found? How did he think about comparison, and what were the concepts, general theories, and sources he used in his formulations ? Just what did Hume compare, and how far did divisive issues in Britain affect his analysis? What were his findings about the relative status and value of non-European peoples? How relativist, Eurocentric, „orientalist," pro- or anti-primitivist were his judgments? The relationship between Hume's philosophy, his political theory, and his position in the politics of his time has been variously assessed. One judicious verdict is that Hume's philosophy, although affecting his political thought, did not altogether determine it. 9 I f we ask about the balance between uniformity and diversity struck in his work, the fact that he began his career with A Treatise of Human Nature points to his lasting concern with human nature, the characteristics common to all human beings at all times. This concern underlies his epistemology, moral psychology, and project for a science of politics. To a lesser extent, Hume was concerned with diversity, with variations among regimes and societies, above all with charting and explaining changes over time between classical and modern Europe. In his Dialogue, Hume replied to the contention that „fashion, vogue, custom, and law were the chief foundation of all moral determinations ... What wide difference ... must be found between civilized nations and Barbarians, or between nations whose characters have little in common?" Hume's response was: „By tracing matters, replied I, a little higher, and examining the first principles,
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For the contrast between „sceptical" to „vulgar Whiggism," and the application of thefirst to Hume and Smith, see Duncan Forbes , Sceptical Whiggism, Commerce, and Liberty, in: Essays on Adam Smith, Andrew Skinner and Thomas Wilson , eds. (Oxford, 1975), 179-201. This point is developed at length in terms of British politics by Forbes's Hume's Philosophical Politics (Cambridge, England, 1975). It will be criticized because it fails to take into account the many French theorists and groups who held France to be either a despotism, or in danger of becoming one. In short, Hume was not neutral or objective, but took a position on a contested issue. See my ,,Le concept de despotisme et l'Abus des mots," in: Dix-huitième Siècle 34 (2002), 373-88. 9 David Miller, Philosophy and Ideology in Hume's Political Thought (Oxford, 1981), 13.
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which each nation establishes, of blame or censure." 10 The standards of moral evaluation in one nation, i f compared to those adopted in another nation or period, will reveal the degree of uniformity or diversity between them. As an admirer of Newton, to explain the workings of the human mind meant for Hume, the reduction of complexity to a few causes; and the discovery of the laws of mental operations by verifiable experience. Thus his treatment of human nature, and later politics, would be successful to the extent that it was simple, empirical, and not subject to infinite variations. Thus Hume believed a science of politics possible because: So great is the force of laws, and of particular forms of government ... that consequences almost as general and certain may sometimes be deduced from them, as any which the mathematical sciences afford us. 11 Like Voltaire, Hume regarded human nature as uniform, while attributing some diversities in human behavior, institutions, and beliefs to customs, manners, and national characters. Unlike Voltaire, Hume thought that most human differences could be accounted for by differences in types of government: Men cannot live without society, and cannot be associated without government. Government makes a distinction of property, and establishes the different ranks of men. This produces industry, traffic, manufactures, law-suits, war leagues, alliances ... and all those other actions and objects, which cause such a diversity, and at the same time, maintain such an uniformity in human life. 12 Hume never abandoned the concern with human nature at the center of his Treatise on that subject.13 Critics have disagreed on Hume's later statements about human nature in An Enquiry Concerning Human Understanding. Some have stressed his failure to admit historical and cultural variability in statements such as: „Mankind are so much the same in all times and places, that history informs us of nothing new or strange ..." Others have called attention to Hume's qualifications: „We must not, however, expect that... all men, in the same circumstances, will always act in precisely the same manner, without making allowance for the diversity of characters, prejudices, and opinions.14 Unlike Voltaire, Hume attacked rationalism, and viewed human customs and habits positively . A mitigated sceptic, Hume set out to prove that reason alone cannot justify our judgments. These, he argued, are the work of our imagination. Even in everyday explanations of cause and effect, our imagination functions
10 „A Dialogue," in: David Hume, Enquiries concerning Human Understanding and concer-ning the Principles of Morals (3rd ed.; revised by P. H. Nidditch, Oxford, 1975), 333. 11 Hume, „That Politics may be reduced to a Science," in: Essays, ed. Eugene F. Miller, 16. 12 Hume, A Treatise of Human Nature, (2nd. ed., revised P. H. Nidditch, Oxford, 1978), 402. 13 Hume, A Treatise of Human Nature, Book II, Sect. VIII. 14 An Enquiry Concerning Human Understanding, in: Enquiries, 83-84. For an exhaustive discussion of the literature, see Duncan Forbes, Hume's Philosophical Politics, Ch. 4.
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through customary associations. „Custom, then, is the great guide of human life ... Without the influence of custom, we should be utterly ignorant of every matter of fact beyond what is immediately present to the memory and senses."15 „The same kind of reasoning runs through politics, war, oeconomy."16 And in his History of England : „Habits more than reason, we find in everything to be the governing principle of mankind." 17 For Voltaire, custom, like ignorance, superstition, and fanaticism were impediments to the rational politics he favored. But Hume distrusted abstract principles, a priori reasoning about politics, morals, and aesthetics. How did Hume conceive of comparison, and to which subjects did he apply it? At his most abstract, Hume considered comparison in relation to the characteristics of human nature; at his most concrete, in relation to types of existing regimes. Hume recommended using relative judgments rather than referring to any „fixed unalterable standard in the nature of things," as did rationalists, theologians, and natural lawyers. When compared to animals, human nature appears noble; when the standard is „a secret comparison to beings of perfect wisdom," we are misled into an unduly low estimate. Thus it is an error to hold that humans are purely selfish, dominated by self-love and interest, and incapable of affection and abnegation in favor of nation or community. In practice, we compare individuals, we praise or blame them for their acts of friendship or sacrifice benefitting others, or society itself. Comparison, the operation using such relative judgments, is a necessary condition of calling things by their proper names.18 It will, however, produce fallacious conclusions i f disparate classes or categories are compared. Yet comparison is not merely an intellectual operation, as Locke believed. Hume argued that i f objects appear greater or less by comparison with others, this explains why pain and pleasure are rooted in the passions of malice and envy. „The misery of another gives us a more lively idea of our happiness, and his happiness of our misery." The great feel a double pleasure in their authority from the comparison of their condition with that of their slaves. No comparison is more obvious than with ourselves. This „is directly contrary to sympathy in its operation." 19 Hence comparison is „a kind of pity reverst, or contrary sensations arising in the beholder, from those which are felt by the person, whom he considers." But this occurs only among those perceived to be alike. Why are other nations praised or criticized? Because of the psychological consequences for those comparing them. „This is the reason why travellers are
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Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding, in: Enquiries, 44-45. Hume, in An Enquiry on Human Nature, V, in: Enquiries, 405. Hume, The History of England from the Invasion of Julius Caesar to the Abdication of James the Second, 6 vols; (Indianapolis, 1985). 18 Hume, „Of the Dignity or Meanness of Human Nature," Essays, ed. Eugene F. Miller, 80-86. 19 Hume, A Treatise of Human Nature, Book III, Section II. ,f t 17
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commonly so lavish of their praises to the Chinese and Persians , at the same time, they depreciate those neighbouring nations, which may stand upon a foot of rivalship with their native country." 20 Hume here offers an analysis pointing not to a Eurocentrism deprecating „the other," but rather to the assertion that near neighbors are more apt to be hated than are more distant societies. Adam Ferguson had also stressed that European societies were bitterly divided internally and externally. From his Treatise to his final essay, Hume emphasized the crucial role of government. Comparison of regimes involves judgment of their relative merits rather than referring to any „fixed unalterable standard in the nature of things." Seeing himself as an impartial observer transcending local partisanship, as a citizen of Europe, Hume attempted a new set of political classifications. This was not done explicitly in treatise form, as had Montesquieu, but in the course of Hume's essays and history. He distinguished between absolute monarchies and free governments; and between regular and arbitrary governments. Regimes which were both absolute and arbitrary, he tended to call „barbarous monarchies" or despotisms, and these he identified with both the Roman emperors, and with „Eastern," that is, Asian or oriental regimes, such as the Ottoman Empire. But such governments could arise in Europe. Hume called Cromwell's Protectorate „military and despotic," it „parcelled out the people into so many subdivisions of slavery." But absolute monarchies may also be „civilized," by which Hume meant that although a king may have has absolute authority, he can choose to govern according to general laws, which place his subordinates under the rule of law. Hume wished to argue that the French monarchy was of this kind. The king is limited by „custom, example, and the sense of his own interest." Thus „civilized monarchy" allows liberty because it does not use arbitrary coercion. In France, Hume argued, property is secure, „industry encouraged; the arts flourish, and the prince lives secure among his subjects, like a father among his children." 21 Free government „is that which admits of a partition of power among several members, whose united authority is no less, or is commonly greater than that of any monarch, but who... must act by general and equal laws, that are previously known to all the members and to all their subjects."22 The two varieties of free government are limited monarchies, such as Great Britain, and pure republics, the worst form of which was for Hume, a direct democracy. But if improved in a number of ways detailed by Hume, even republics could become a „perfect commonwealth."23 What follows from Hume's new set of political classifications? The choice between absolute monarchy and free government has been narrowed by
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Hume, A Treatise of Human Nature, Book II, Section VIII. Hume, „Of Civil Liberty," Essays, ed. Eugene F. Miller, 94. Hume, „Of the Origin of Government," Essays, 41. Hume, „Idea of a Perfect Commonwealth," Essays, 512-29.
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comparison, in Hume's sense, of their relative merits. Rejecting any „fixed unalterable standard" such as liberty alone, Hume went on to argue that both France and Great Britain regularly enforced the rules of justice, protected the property of their subjects, and maintained order. Differences between them were marginal. Free governments encouraged commerce more than civilized monarchies; while the arts flourish more in civilized monarchies. Thus Hume subverted the gross contrast between French slavery and British liberty dear to „vulgar Whigs." Hume regarded this conclusion as a triumph over British selfcongratulatory prejudices. It should be noted that he accepted the concept of despotism, but refused to admit that it should be applied to France. Thus he did not adopt Voltaire's strategy of denying that despotism was a fiction, and that there never had been an example of this regime type. But what of Montesquieu's suggestions that the French monarchy was becoming increasingly despotic, that monarchies lose themselves in despotism? Hume's favorable judgment of the French monarchy ignored the views of those in France critical of it. Montesquieu's political discourse purported to describe arrangements empirically true of the Orient, but unnatural and menacing to European liberties. In the second half of the eighteenth century after Montesquieu's death, the damning power of despotism as a political term made it irresistible to every group involved in French oppositional politics. They applied it to any and all alleged abuses. By the outbreak of the Revolution, the sheer number of practices denounced as despotic transformed the concept into a revolutionary weapon. The monarchy, along with other inherited arrangements such as aristocratic privileges, came to be viewed as a system which could not be repaired but had to be replaced. The term for every disliked aspect of absolutist monarchy was despotisme. Thus like opinion publique, which was coined at this time and used by all sides, despotisme had become an indispensable but highly contested concept of political discourse. 24 Despite his intimate acquaintance with France, Hume seems not to have detected any sign that his appraisal of its government was being increasingly rejected. Hume died in 1776. Not many years later, events, inexplicable on Hume's analysis, disproved his assertion that under the „civilized monarchy" of France, the King „lives secure among his subjects, like a father among his children."
24 Thus despotisme from being a taboo term under Louis XIV, had become what Reinhart Koselleck has called a basic concept (Grundbegriff), a part of the political vocabulary which had to be used by all political contenders, including power holders. See Koselleck's contribution to Begriffsgeschichte, ed. Lehmann and Richter. For the emergence of opinion publique, see Keith Michael Baker , Inventing the French Revolution (Cambridge, 1990), 167-202.
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Melvin Richter 1. Hume and the conceptual Vocabulary of Comparative Study
The principal concepts employed in Hume's comparative work were those already noted: type of regime or political constitution, manners, customs, national character, and „oeconomy, domestic and political." 25 His comparative method emphasized types of government, national characters, and customs. In his essay on national character, Hume's philosophical acuity is applied to questions of method. This essay has no sustained analyses of any nation's character such as Montesquieu's treatments of Great Britain and China. Hume's most extended comparison in terms of group characteristics occurred in „ A Dialogue," where he playfully contrasted the ancient Athenians and the modern French. Hume and his Scottish contemporaries were well connected to the salons, philosophes, and physiocrats of Paris. As has been seen, Hume refused to classify the subjects of French absolute monarchy as living in political slavery, here contrasted to British freedom. 26 Hume depicted France not only as a modern commercial society, but as governed by laws protecting the civil liberties and property of its subjects.27 In Hume's typology of regimes, France is a „civilized monarchy," characterized by „civility, humanity, and knowledge." 28 This last phrase is drawn from „Of National Characters," perhaps the most sophisticated specimen in English of a genre popularized by John Barclay's Icon Animorum (1614), and systematized by Bodin in his République . Both works were translated and discussed throughout Europe. A second generation gallicized Scot, Barclay added the concept of national character to the agenda of historians. 29 In refining this mode of comparative analysis, Hume followed Voltaire and Montesquieu in making l'esprit des nations, their customs, and their moeurs or „manners", as Hume translated the term, into preferred topics of philosophical history. But Hume made his own distinctive contributions. In „ O f National Characters," Hume accepted, but qualified the now familiar notion that each nation has a peculiar set of „manners" (moeurs). This ought not to be understood as implying that every member of that nation shares all its qualities. Hume was primarily interested in two prior questions: what evidence supports the concept of national character, and how can such national differences be explained?
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Hume, in: Essays, 383 et seq. Voltaire's Lettres Philosophiques (1734) was the result of his English stay; the results of Montesquieu's three years in England are too well known to need explication here; Didero's literary career was launched through a free translation of Shaftesbury's Inquiry concerning Virtue or Merit (1745), and Diderot wrote an Éloge de Richardson (1761); Raynal was elected on the basis of the English translation of his Histoire du Parlement d'Angleterre (1751). 27 Hume, „Of Civil Liberty," in: Essays, 94. 28 Hume, ,,0f National Characters," Essays, 206. 29 The influential manual of historical study by Lenglet-Dufresnoy recommended both John Barclay and Bodin as models for analyzing national characters. 2f>
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Diversity, Hume answered, is due either to moral causes or to accidents; physical causes produce no discernible effects. Human history throughout the world demonstrates that manners are spread through the laws made by governments over time. In this way an uniform national character can be stamped upon even a farflung empire. Despite variations in their air and climate, the Chinese have the greatest known similarity of manners. Although ostensibly attacking Montesquieu's theory of climate, Hume did not indicate either that Montesquieu agreed that moral could override physical causes, or that Montesquieu had explained Chinese uniformity by a close analysis of how ritual was used. Hume asserted that even in small contiguous governments, the characters of nations differ. Where state boundaries change, so too do characters. But whenever two nations in the same country do not mix because of religious or language differences, each of them will preserve a distinct set of manners, as in the case of the Turks who ruled Greece. Another assertion was that even when members of a nation move to other parts of the world, they will retain their respective manners, laws, and languages. Diderot was to dissent fiercely from this view. Finally, communication also affects national character. When peoples maintain close communication by travel, commerce, or national policy, they acquire a similitude of manners in proportion to the degree of communication. Again the same manners arise among any set of men maintaining ties despite geographical separation. Such groups have little in common with the nations where they live. Thus Jews in Europe have a character peculiar to themselves. They are noted for fraud. On no more evidence, Hume claimed that negroes are naturally inferior to whites. Despite his own remarks criticizing prejudice, Hume felt free to make these assertions. They indicate how easily, even in a mind of Hume's quality, generalizations about national character can express gross and uncriticized beliefs. Hume argued two further points. The first dealt with the considerable changes over time which may occur in the manners of a given people. Such alterations may be ascribed to fundamental changes in government, to the introduction of new populations, or to chance. Here Hume provided several brief national character sketches in terms of striking changes over time. The Gauls described by Caesar were ignorant, barbaric, and gross. Now France is distinguished by its „civility, humanity, and knowledge." As for Britain, its changes in religion are no less striking. In the middle ages, its inhabitants were „sunk into the most abject superstition;" in the 17th century, they were „inflamed with the most furious enthusiasm." Now at the time of writing, „they have settled into the most cool indifference with regard to religious matters, that is to be found in any nation of the world." Hume's final point, and this is difficult to reconcile with much of what has gone before, is that there can be a „wonderful mixture of manners and characters in the same nation, speaking the same language, and subject to the same government." This is particularly true of the English because the English government is a mixture
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of monarchy, aristocracy, and democracy. Hence the English have the the least unified national character of any people in the universe, unless this diversity is itself a national character. Here Hume's exceptionalism appears as patently ideological. All other nations have a fixed character; only the English cannot be reduced to a stereotype. Of all determinants of manners and national character, Hume regarded the type of political organization as most significant. Hume's treatment of customs stresses the large part played by habit in human ways of life. This notion is prominent in his refutation of contract theory, his treatment of justice as an artificial virtue, and his theory about how political allegiance is determined. Although initially Hume's use of „manners" was difficult to distinguish from that of customs, he moved towards a revised concept: that politeness in manners is unique to civilized or polished societies. In his essay „ O f Refinement in the Arts," Hume stated what he regarded as the distinctive traits of European civilization in his time. When commerce and industry flourish, the spirit of the age affects all the arts and the minds of men. The more these refined arts advance, the more sociable men become. Flocking into cities, they learn to receive and communicate knowledge; to show their wit or breeding; their highly developed taste in conversation and mose of life. As it becomes possible for men and women to meet in an easy and sociable manner, their behaviour becomes more refined. Thus „industry, knowledge, and humanity" are linked by an indissoluble chain. For laws, order, police, discipline cannot be perfected before human reason itself has been refined by commerce and manufacture. Can we expect that a government will be well modelled by a people who know not how to make a spinning wheel ...? Knowledge in the arts of government naturally begets mildness and moderation... When the tempers of men are softened as well as their knowledge, this humanity appears still more conspicuously, and is the chief characteristic which distinguishes a civilized age from times of barbarity and ignorance. Factions are then less inveterate, revolutions less tragical, authority less severe, and seditions less frequent. Even foreign wars abate of their cruelty ... 30 2. Hume and the World Outside Europe Hume was most interested in comparing the Europe of his time to that of classical antiquity; in contrasting Great Britain and France; and considering them together as the most civilized and polished commercial societies yet known. He went on to contrast their virtues and vices to those of barbaric societies. In his
30 David Hume, The Philosophical Works, ed. T. H. Green and T. H Grose (4 vols; London, 1882), ΙΠ, 303.
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History of Great Britain , Hume interrupted his narrative to contrast the stages of manners and government in earlier centuries to those of the seventeenth. Although noting and seeking to refute the attacks on the arts and sciences by Rousseau and Adam Ferguson, Hume displayed little interest in the world outside Europe, whether the high civilizations of Asia, or the native peoples of Africa, the Americas, and the South Pacific. Montesquieu in his Lettres persanes , and Diderot in the Supplément au Voyage de Bougainville sought to distance themselves from the arrangements of their nation and century, and to apply the insights thus gained to criticizing and possibly reforming their own society. This procedure was of no interest to Hume. Although unlike Burke, Hume denounced prejudice, he saw the remedy to it in his own philosophical method and in the impartiality recommended in his political writings. Despite occasional references to China and Africa, he showed no signs of regarding them and the rest of the world outside Europe as posing critical problems for human studies. When he discussed non-Europeans, he made categorical and unsubstantiated statements about them. There was none of the careful qualifications, weighing of evidence pro and con, and criticism of sources found in his impressive essay, „ O f the Populousness of Ancient Nations." As has been seen, in his treatment of national character, Hume showed little selfawareness. His treatment of Jews as given to fraud, and of negroes as naturally inferior to whites were gross expressions of uncriticized prejudices. His condemnation of slavery does not alter his weakness on this point. Finally, his assertion that the English have the the least unified national character of any people in the universe is a patently ideological exceptionalism. Perhaps the comparison most important to Hume was that between the governments of France and Great Britain. It has been argued by one of the greatest Hume scholars that it was on this subject that Hume demonstrated his own „scientific WTiiggism," the objectivity and freedom from partisanship which he felt had to be introduced into British politics, i f it were to survive. But the detached tone of Hume's philosophical discussion of human nature was not always maintained when he wrote history, any more than when he analyzed French absolute monarchy. On the English Revolution he wrote: „ A base populace exalted above their superiors: Hypocrites exercising iniquity under the vizor of religion. In these two circumstances are comprized the utmost depravity of human nature; and these were now found united, in the same usurped and illegal administration." 31 What of Hume;'s defense of the absolutist monarchy in France? At issue was the British Whig image of the French as living under a government which imposed the equivalent of political slavery on its subjects. As noted above, there were many in France who accepted this view. Hume's rejection of it cannot be said to have been detached and based on an indisputable set of objective facts. Rather Hume was taking a defensible but partisan position.
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Hume, The History of Great Britain, ed. Forbes, 659.
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The extent to which this was the case can be perceived by contrasting Hume's evaluation to that of Montesquieu. It was he, who more than any other writer of his time, helped popularize the concept of despotism. Montesquieu did not agree with Hume that „politeness of manners" together with highly developed arts were the highest achievements of modern civilization, or that these were principally found in absolute „civilized monarchies such s the French." 32 As against Hume's discourse associating royal courts with politeness, Montesquieu drew on a French moralist discourse criticizing courtiers' moeurs and manières. These Montesquieu deprecated ironically in a series of maxims.33 For the two authors disagreed about French absolutism. Montesquieu had defined love of patrie as the principle of republics, thus endorsing La Bruyère's view that citizens possess a patrie only where they have rights and participate in government. Those who live under a despotic regime have no patrie, a statement which would be repeated by Diderot. 34 As for politeness in absolute regimes, Montesquieu did not regard it as worth the loss of liberty: „Les nations libres sont des nations policées. Celles qui vivent dans la servitude sont des nations polies." 35 What emerges from contrasting these two views of French absolutism is not that one was right, and the other, wrong. Neither Hume nor Montesquieu were making detached, objective judgments. Both were taking political positions and making arguments in which comparison played an important part. Both, like so many of their 18th century contemporaries, were intensely, although not exclusively concerned with the implications for domestic political issues of their polemical comparative analyses. Committed to persuade their readers. Their comparative work was thus rhetorical, as well as descriptive and philosophical.36
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Hume, „Of Refinement in the Arts,": Essays, 277; „The Rise of Arts and Sciences," 126-27. Montesquieu , De l'Esprit des loix, IV, 2. The critique of courtiers occurs in III, 2. 34 La Bruyère , Les Caractères, X. Diderot's statement occurred in one of his unidentified contributions to Raynal's l'Histoire ... des Deux Indes: „[Without liberty] You have no patrie , fellow citizen, nor God." Diderot , Political Writings, ed. John Hope Mason and Robert Wokler (Cambridge, 1992), 186-87. 35 Montesquieu , „Mes Pensées," in: Caillois, I, p. 1432. 36 The fìlli extent of Montesquieu's philosophical interests was revealed only after the posthumous publication of his Essai sur les causes qui peuvent affecter les esprits et les caractères. This was Montesquieu's rationale for the comparative method he regarded as indispensable to establishing and explaining uniformities and diversities in the wide range of human regimes, societies and periods treated in De l'Esprit des lois, perhaps the century's single most influential comparative work. Montesquieu , Oeuvres complètes, ed. Roger Caillois (2 vols.; Paris, 1951), II, 39-68. See in Political Theory 4 (1976), my „Introduction to Montesquieu's 'Essay on Causes,' pp. 132-38; and „An Essay on the Causes that may Affect Men's Minds and Characters," tr. by M. Richter , pp. 139-62; and „Two Eighteenth-Century Senses of Comparison4 in Locke and Montesquieu," op. cit. 55
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I I I . Conclusion One purpose of this paper has been to point up the continuity between Hume's philosophical theory of comparison and his subsequent application of it in his essays and writing of history. But it has also been argued here that Hume's use of this concept is best understood when placed in the context of analogous 18th century practices of comparison in political and social thought and the writing of history. Hume's comparative work was executed within two genres: the classification of political regimes and philosophical history. 37 These overlapped. Without treating „government, manners, finances, arms, trade, learning," „history can be little instructive and often will be unintelligible." 38 Although Hume used the concepts of manners, customs, and national character to explain diversities, all of these, he argued, were ultimately shaped by regime forms. Whenever Hume discussed „history" or „manners," he referred first to the effects of government. This political explanation of diversity reversed the jurisprudential, sociological and economic analyses of those other Scots, who understood themselves to be engaged in a conjectural „natural history of legal establishments."39 As has been seen, Hume applied comparison to the human sciences, to political organization, culture, and history. In this regard resembling Locke, Hume often made use of analyses he had initially developed philosophically. It is instructive to contrast Locke and Hume's uses of comparison. Both began with philosophical analyses of comparison as they defined it. Although Locke developed a theory that made comparison into a basic operation of the human mind, he did not, as Hume was to do, treat comparison in terms of moral psychology, as one of the three basic principles of human nature. In Locke's Essay concerning Human Understanding , his most detailed exposition of his theory of comparison, he did not compare political systems or types of regimes. 40 In Book I, he deployed ethnological comparisons, taken from travel books and the classics in his attack on the theory of innate ideas, as applied to theology, a subject not prominent among Hume's concerns.
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Hume, along with Robertson, was designated by Voltaire as his successors in philosophical history. This verdict was echoed by Gibbon: „a strong ray of philosophic light has brokefrom Scotland ... Hume, Robertson, and Adam Smith." 38 Hume, „Appendix to the reign of James I." Cited in the Editor's Introduction, David Hume, The History of Great Britain, ed. Duncan Forbes (Harmondsworth, 1970), 14. 39 J. Millar , An Historical View of the English Government (4 vols; 4th ed. (London, 1812), 28485. Cited by David Lieberman, in: Wealth and Virtue, Istvan Hont and Michael Ignatieff, eds. (Cambridge, England, 1983), 204. 40 John Locke, An Essay concerning Human Understanding, ed. Peter H. Nidditch (Oxford, 1975). In „Two Eighteenth-Century Senses of,Comparison' in Locke and Montesquieu," op. cit., I have analyzed in detail Locke's theory of comparison and his applications of it.
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Locke's comparative references were to societies outside or preceding early modern Europe. Hume, relatively uninterested in the non-European societies of his own time, preferred to contrast the civilization of the Europe he knew to that of classical antiquity. As for contrasting modern Europe to „the Other," Hume seems to have been immunized against it by his philosophical theory of comparison as a passion originating in malice and envy. His emphasis on comparison as always rooted in one's own situation led him instead to hold that we are more apt to deprecate our near neighbors, and to reserve our praises for more remote societies.
Gesellschaftstheorie und politische Philosophie Versuch einer vergleichenden Analyse zweier Schwesterdisziplinen Von Peter Koller I. Einleitung Im gegenwärtigen Wissenschaftssystem treten ,Gesellschaftstheorie' und »politische Philosophie' als weitgehend selbständige und voneinander unabhängige Fachdisziplinen auf, die sich kaum füreinander zu interessieren scheinen, was ihnen schon dadurch leicht gemacht wird, dass sie gewöhnlich in unterschiedlichen Branchen des akademischen Betriebs angesiedelt sind. Die Frage nach dem Verhältnis dieser Disziplinen mag daher auf den ersten Blick vielleicht als etwas esoterisch erscheinen. Sie ist aber keineswegs abwegig. Da sich beide Disziplinen, wenn auch unter unterschiedlichen Perspektiven, auf die soziale Welt beziehen und insofern doch irgendwie den gleichen Gegenstandsbereich haben, liegt die Vermutung nahe, dass es zwischen ihnen nicht unwesentliche Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte gibt, die Aufmerksamkeit verdienen. Die Gesellschaftstheorie wird heute üblicherweise als ein Teilgebiet der Sozialwissenschaften betrachtet, die sich ihrerseits als empirische Wissenschaften verstehen und ihre wichtigste Aufgabe darin sehen, die soziale Welt so gut wie möglich begrifflich zu erfassen, zu verstehen und zu erklären. Im Rahmen des vielfältig differenzierten Gesamtunternehmens der Sozialwissenschaften verfolgt die Gesellschaftstheorie das Ziel, eine möglichst allgemeine, umfassende und übergreifende Theorie des Sozialen zu entwickeln, sozusagen eine Theorie ,größter Reichweite', die einen tauglichen Rahmen für die Beschreibung, Deutung und Erklärung des sozialen Lebens in seiner Gesamtheit bietet. Natürlich wird nicht erwartet, dass eine solche Theorie jede soziale Tatsache vollständig zu erklären vermag. Was von ihr aber erwartet wird, ist, dass sie - jedenfalls der Idealvorstellung nach - ein entsprechendes Repertoire von empirischen Begriffen, generellen Hypothesen und methodischen Regeln bereitstellt, mit Hilfe welcher es möglich ist, alles soziale Geschehen - das soziale Handeln der Einzelmenschen, das Verhalten gesellschaftlicher Kollektive, die Beschaffenheit sozialer Systeme und den Verlauf des gesellschaftlichen Wandels - zumindest in groben Zügen verständlich zu machen. Soweit ich sehe, steht eine derartige Theorie bislang noch nicht zur Verfügung, ja es ist nicht einmal gelungen, Einigung darüber zu erzielen, wie sie eigentlich auszusehen hätte, d.h. von welchen ontologischen Vorannahmen sie ausgehen und
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welchen methodologischen Anforderungen sie entsprechen sollte. Was die Gesellschaftstheorie vielmehr bietet, das ist eine Vielzahl von konkurrierenden Ansätzen, welche die soziale Welt aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten und sich schon in ihren Grundvoraussetzungen mehr oder minder unterscheiden. Zu diesen Ansätzen gehören zum Beispiel, um nur einige bekannte zu nennen, die folgenden: der ökonomische Ansatz bzw. die Rational-choice-Theorie (vertreten z.B. durch Gary Becker, James Coleman), der historische Materialismus (Marx und seine Nachfolger), die Gesellschaftstheorie Max Webers, die funktionalistische Systemtheorie (Talcott Parsons, Wilbert Moore) und der symbolische Interaktionismus (Erving Goffman, Howard Becker). Demgegenüber gilt die politische Philosophie, wie schon ihr Name verrät, als eine Teildisziplin der Philosophie, der systematischen Erkundung der allgemeinsten - vor allem der logischen, begrifflichen, ontologischen, methodischen und normativen - Grundvoraussetzungen unseres Denkens und Glaubens sowie unseres Wollens und Handelns. Im Rahmen dieses Unternehmens wird sie meist der praktischen Philosophie zugerechnet, innerhalb welcher sie ein Schnittfeld zwischen Ethik und Rechtsphilosophie bildet. Obwohl es über Funktion und Methode der politischen Philosophie - wie ja auch jeder anderen philosophischen Disziplin - erhebliche Meinungsverschiedenheiten gibt, kann man ihren paradigmatischen Konzeptionen von Platon bis Rawls entnehmen, dass sie im Wesentlichen auf zweierlei abzielt: einerseits die allgemeinen, schon in der Natur der Menschen angelegten Funktionsbedingungen, Erscheinungsformen und Gestaltungsmöglichkeiten menschlicher Koexistenz und sozialer Ordnung zu erhellen und in Begriffe zu fassen, und andererseits über normative Maßstäbe nachzudenken, die als Grundlage für die kritische Bewertung und aktive Gestaltung sozialer Beziehungen, gesellschaftlicher Normen und politischer Ordnungen dienen können. Es erübrigt sich zu sagen, dass so gut wie alle Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, mehr oder minder umstritten sind und dass keiner der zahlreichen Versuche, diese Fragen in systematischer Weise auf der Grundlage einer umfassenden Theorie von Gesellschaft, Recht und Politik zu beantworten, mit allgemeiner Zustimmung rechnen kann. Was wir in der politischen Philosophie finden, das ist eine bunte Vielfalt von Konzeptionen, die sich teils überlappen, teils aber weit auseinanderstreben. Einige unterscheiden sich schon in ihren ontologischen und normativen Voraussetzungen, andere bezüglich gewisser empirischer Annahmen, etwa über die menschliche Natur oder über die Funktionsgesetzlichkeiten sozialer Ordnung. Ich nenne nur einige der klassischen und zeitgenössischen Denker, die in der politischen Philosophie der Gegenwart eine bedeutende Rolle spielen: Aristoteles, Hobbes, Locke, Adam Smith, Hume, Rousseau, Kant, Hegel, Marx, Mill, Hayek, Rawls, Dworkin, Habermas, Walzer. Die Auffassungen dieser und anderer Denker lassen sich nach mehreren Gesichtspunkten klassifizieren: so etwa nach ihren methodologischen Grundauffassungen (z.B. Individualismus vs. Kollektivismus), nach ihren theoriestrukturierenden Konstruktionsverfahren (z.B. Kontraktualismus vs. Evolutionismus), nach ihren ethischen Grundvorstellungen
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(z.B. utilitaristische vs. deontologische Konzeptionen) sowie nach ihren gesellschaftspolitischen Positionen (z.B. Liberalismus, Anarchismus, Kommunismus, demokratischer Sozialismus, Kommunitarismus). Schon diese oberflächliche Gegenüberstellung von Gesellschaftstheorie und politischer Philosophie lässt neben den zwischen ihnen bestehenden Differenzen auch mehrere Gemeinsamkeiten und Überlappungen erkennen. Ihre zentrale Differenz liegt sicherlich in ihren unterschiedlichen Erkenntniszielen, aus denen sich weitere Unterschiede hinsichtlich ihrer Methoden und Inhalte ergeben. Zielt die Gesellschaftstheorie vor allem darauf ab, die soziale Welt samt den sie regulierenden Normen aus der Beobachterperspektive als eine Gesamtheit empirischer Tatsachen zu erfassen und die ihr zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten zu enthüllen, so verfolgt die politische Philosophie, zumindest in ihrer vorherrschenden Gestalt, auch ein praktisches Erkenntnisziel: sie betrachtet die soziale Welt gewissermaßen aus der Teilnehmerperspektive und sucht die normativen Anforderungen aufzuzeigen, denen soziale Beziehungen und gesellschaftliche Ordnungen unterworfen sein müssen, wenn sie eine friedliche und gedeihliche Koexistenz ermöglichen und unsere Anerkennung finden sollen. Trotz dieser Differenz ihrer Erkenntnisziele und Perspektiven bestehen zwischen den beiden Disziplinen aber auch weitgehende Gemeinsamkeiten: Nicht nur befassen sie sich über weite Strecken mit den gleichen Themen und ähnlichen Problemen, sondern sie verwenden zu einem großen Teil auch die selben Begriffe, um die soziale Welt zu beschreiben. Beide räsonieren über menschliche Bedürfnisse und Interessen, über Knappheit und Konflikt, über Arbeitsteilung und Tausch, über soziale Normen und Institutionen, über Gemeinschaft und Gesellschaft, über Macht und Herrschaft, über Recht und Staat, über soziale Gleichheit und Ungleichheit, über Legitimität und Gerechtigkeit, über Werte und Moralvorstellungen, um nur einige gemeinsame Themen zu benennen. Diese Übereinstimmung kann auch gar nicht überraschen, wenn man bedenkt, dass Gesellschaftstheorie und politische Philosophie bis vor kurzer Zeit eine Einheit bildeten und sich erst im Laufe des vergangenen Jahrhunderts zunehmend voneinander abgelöst und zu relativ selbständigen Disziplinen entwickelt haben. Beide Disziplinen entstammen den selben geistigen Wurzeln und teilen die Ahnengalerie klassischer Denker von Piaton und Aristoteles bis Marx und Mill, von deren Früchten sie ja heute noch zehren. Damit hängt eine weitere Gemeinsamkeit zusammen, durch die sich Gesellschaftstheorie und politische Philosophie von vielen anderen Disziplinen, vor allem den Naturwissenschaften, aber auch von manchen empirischen Sozialwissenschaften, unterscheiden. Jede dieser Disziplinen präsentiert sich als ein Tummelfeld einer Vielzahl von verschiedenen theoretischen Ansätzen und Konzeptionen, die nicht nur in ihren inhaltlichen Aussagen, sondern mitunter schon in ihren begrifflichen Voraussetzungen so stark divergieren, dass sich der Eindruck einer babylonischen Sprachenverwirrung einstellt. Und in keiner der beiden Disziplinen scheint es zu gelingen, auch nur eine annähernde Übereinstimmung zumindest über
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die Grundlinien einer vorzugswürdigen Standardtheorie zu erzielen. Damit ist nicht gesagt, dass es in ihnen gar keine Entwicklung und keinen theoretischen Fortschritt gibt, in dessen Verlauf einzelne Theorien verbessert und manche von ihnen nach und nach durch andere, überzeugendere verdrängt und ersetzt werden. Doch selbst wenn es einen solchen Fortschritt geben sollte, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass der bestehende Theorienpluralismus verschwinden oder sich auch nur verringern wird, weil in beiden Disziplinen ja bereits die grundlegendsten methodologischen Anforderungen, denen ihre Theorien entsprechen sollten, umstritten sind. Dieser Sachverhalt hängt, glaube ich, mit einigen grundlegenden Eigenschaften zusammen, die das gesellschaftstheoretische und das sozialphilosophische Denken gemeinsam haben: Beide haben fundamentalen Charakter in dem Sinne, dass sie die soziale Welt auf der Grundlage der elementarsten Einsichten in die Natur menschlichen Strebens und Handelns verstehen und erklären bzw. bewerten und beeinflussen wollen; und beide haben neben anderen Zwecken stets auch eine orientierungsstiftende Funktion in dem Sinne, dass sie einen Deutungsrahmen der sozialen Welt bereitstellen, der, insoweit wir ihm Glauben schenken, unvermeidlich auf unser Wollen und Handeln Einfluss nimmt und damit stets auch politische Konsequenzen hat. Diese Eigenschaften erklären die starke Tendenz sozialtheoretischer und politikphilosophischer Vorstellungen zur Ideologisierung, zur Ausbildung relativ kompakter und oft auch dogmatisch verfestigter Weltbilder, die ein Interpretationsschema für das Verständnis der sozialen Welt und zugleich auch gewisse Richtlinien für das soziale Handeln bieten. Wie es dazu kommt und wie das funktioniert, möchte ich im Folgenden sowohl am Beispiel einiger bekannter sozialtheoretischer Ansätze als auch verschiedener Konzeptionen der politischen Philosophie näher untersuchen. Ich gehe dabei in zwei Schritten vor. Im ersten Schritt werde ich zu zeigen versuchen, dass praktisch alle gesellschaftstheoretischen Ansätze, wenn auch meist nur indirekt und implizit, mit gewissen - teilweise ziemlich fragwürdigen - normativen Vorannahmen operieren, die politische Implikationen haben. Und im zweiten Schritt möchte ich den Nachweis erbringen, dass jede Konzeption der politischen Philosophie, oft ohne darüber Rechenschaft abzulegen, bestimmte gesellschaftstheoretische Annahmen voraussetzt, die zu einem erheblichen Teil ihre politischen Präferenzen erklären. II. Der normative Gehalt der Gesellschaftstheorie Die Gesellschaftstheorie präsentiert sich als ein Teil der empirischen Sozialwissenschaften und damit als eine empirisch-deskriptive Disziplin, deren Aussagen sich auf bestimmte Tatsachen der Realität beziehen und sich anhand dieser Tatsachen zumindest im Prinzip bestätigen oder widerlegen lassen. Die Tatsachen, die den Gegenstand der Sozialwissenschaften bilden, sind freilich nicht bloß ,rohe Fakten' wie die Sachverhalte und Ereignisse des Naturgeschehens, sondern soziale Tatsachen, nämlich die Vorkommnisse, Regelmäßigkeiten und Ergebnisse
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menschlichen Handelns, insoweit dieses irgendwelche Wirkungen auf andere hat. Jedes solche Handeln resultiert selber aus dem Zusammenwirken vielfältiger Faktoren, die sich grob in zwei Sorten einteilen lassen: da sind einerseits die objektiven Gegebenheiten der natürlichen und sozialen Umwelt, welche die Möglichkeiten und Grenzen jedes Handelns bestimmen, und zum anderen die subjektiven Vorstellungen der Handelnden, zu denen sowohl ihre epistemischen Glaubensüberzeugungen als auch ihre praktischen Handlungsantriebe, ihre Wünsche, Interessen und Werthaltungen gehören. Soziale Tatsachen - darunter soziale Beziehungen, Gruppierungen, Konflikte, Normen, Institutionen, Strukturen, Ordnungen, Prozesse und Entwicklungen - heben sich von rohen Fakten durch die zweite Sorte von Faktoren ab: sie sind sinnerfüllte menschliche Artefakte, die nicht ohne Bezugnahme auf die Glaubensüberzeugungen und Beweggründe der handelnden Menschen angemessen verstanden und erklärt werden können. Das impliziert allerdings nicht, dass es für ein angemessenes Verständnis sozialer Tatsachen erforderlich ist, sie unter einer Teilnehmerperspektive zu betrachten, in der man sich die sinnverleihenden Überzeugungen, Zwecke und Normen der Handelnden selber zu eigen macht oder sonst in irgendeiner Weise aktiv zu ihnen Stellung nimmt. Um z.B. eine soziale Beziehung zwischen mehreren Personen zu verstehen, ist es zwar notwendig, deren Situationsdeutungen und Ziele nachzuvollziehen und die normativen Regeln zu kennen, an denen sie sich in ihrem wechselseitigen Verhalten orientieren, was voraussetzt, dass man sich bis zu einem gewissen Grade in die Situation jener Personen versetzen kann und versteht, was soziale Regeln sind. Dazu ist es aber sicher nicht erforderlich, dass man die Einstellungen und Erwartungen jener Personen teilt oder die Regeln ihres Handelns selber gutheißt. Um ein Verständnis der sozialen Welt zu gewinnen, genügt demnach die Einnahme einer Beobachterperspektive, unter der man den Glaubensüberzeugungen und Zwecken der beteiligten Akteure samt den sozialen Normen, von denen sie sich leiten lassen, hinreichende Beachtung schenken muss, ihnen gegenüber aber Distanz und Neutralität bewahrt, um ein möglichst unverzerrtes Bild der sozialen Realität zu gewinnen. Und es sprechen gute Gründe dafür, dass eine solche Beobachterperspektive den Sozialwissenschaften im Allgemeinen und der Sozialtheorie im Besonderen zuträglich wäre. Aber sie ist schwer zu erreichen und durchzuhalten. Eine informierte und zugleich vollkommen neutrale Betrachtung sozialer Verhältnisse wird jedenfalls dann kaum gelingen, wenn man von diesen Verhältnissen selber betroffen ist. Man ist dann zugleich Partei und wird darum eine wertende Stellungnahme zu den betreffenden Verhältnissen nicht ohne weiteres unterdrücken können. Die Beobachterperspektive kippt dann in die Teilnehmerperspektive, unter der die betrachteten sozialen Tatsachen im Lichte gewisser normativer Vorstellungen gedeutet werden, die, vielleicht ganz unbemerkt, die Wahrnehmung in eine bestimmte Richtung lenken und damit zu einer entsprechend selektiven, möglicherweise sogar verzerrten Vorstellung der sozialen Realität führen. Und ich meine, das ist bei vielen, wenn nicht überhaupt allen Ansätzen der Gesellschaftstheorie bis zu einem gewissen Grade der Fall.
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Es ist hier nicht der Platz, die wichtigsten gesellschaftstheoretischen Ansätze oder auch nur einige von ihnen, im Detail auf die ihnen inhärenten normativen Gehalte zu untersuchen. Ich möchte vielmehr versuchen, die auffallige politische Imprägnierung vieler dieser Ansätze zu erklären, indem ich sie in generalisierender und vergröbernder Weise zu mehreren Gruppen zusammenfasse. Zu diesem Zweck nehme ich zwei Distinktionen vor, um solche Ansätze zu klassifizieren. Die erste Distinktion besteht in der geläufigen Differenzierung zwischen individualistischen und kollektivistischen Sozialtheorien. Eine individualistische Theorie geht davon aus, dass die soziale Welt letztlich aus nichts weiter als den Handlungen der einzelnen Menschen besteht, weshalb sie die Beschreibung und Erklärung jedes sozialen Geschehens auf solche Handlungen zurückzuführen sucht. Demgegenüber ist eine Theorie kollektivistisch, wenn sie als die wesentlichen Faktoren des sozialen Lebens bestimmte soziale Ganzheiten (wie z.B. Gesellschaften, Klassen, Produktionsverhältnisse) betrachtet und darum diese zur Grundlage der Beschreibung und Erklärung jedes soziale Geschehens macht. Neben dieser Differenzierung schlage ich eine zweite, nicht geläufige Distinktion vor, welche die grundlegenden Triebkräfte sozialen Handelns betrifft. Hier lassen sich zwei idealtypische Modelle der sozialtheoretischen Deutung sozialer Tatsachen unterscheiden: ein Nutzenmodell, welches das soziale Geschehen im Lichte des nutzenorientierten Handelns von Menschen interpretiert, und ein Machtmodell, das die soziale Welt als Manifestation des Machtstrebens der Menschen begreift. Um sich diese Modelle plastisch vor Augen zu führen, braucht man nur zwei klassische Texte der Sozialphilosophie zu vergleichen: David Humes Traktat über die menschliche Natur, 3. Buch, von 1740 und Rousseaus Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen von 1755. Obwohl beide Texte dieselbe Frage behandeln (nämlich die, welche Triebkräfte die soziale Entwicklung vorantreiben, der zur Bildung großer, staatlich organisierter Gesellschaften führt) und obwohl beide diese Frage in ähnlicher Weise beantworten (indem sie diese Entwicklung durch die fortschreitende Arbeitsteilung erklären), zeichnen sie doch völlig unterschiedliche Bilder: Während Hume die Menschheitsentwicklung als eine Geschichte des Fortschritts deutet, führt sie nach Rousseau immer tiefer ins Verderben. Diese differenten Bewertungen kommen deshalb zustande, weil die soziale Arbeitsteilung von Hume als ein Prozess gedeutet wird, der den Menschen zum Nutzen gereicht, wogegen sie von Roussseau einzig und allein als das Ergebnis eines erbarmungslosen sozialen Machtkampfes gesehen wird. Das Nutzenmodell besteht in der Annahme, dass jedes soziale Geschehen im Großen und Ganzen aus dem nutzenorientierten Verhalten der einzelnen Menschen und/oder kollektiver Akteure resultiert und daher im Wesentlichen unter dem Aspekt seiner - individuellen oder kollektiven - Nützlichkeit oder Vorteilhaftigkeit für die beteiligten Personen oder Kollektive zu erklären ist. Diese Annahme kann sowohl mit einer individualistischen als auch mit einer kollektivistischen Theorie verbunden werden: Im ersten Fall steht der Nutzen bzw. das nutzen-
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orientierte Handeln der Individuen im Vordergrund (wie im Rahmen des ökonomischen Ansatzes bzw. der Rational-choice-Theorie), im zweiten der Kollektivnutzen für ganze soziale Gruppierungen, etwa für die Gesellschaft im Ganzen (wofür der Funktionalismus als Beispiel dienen kann). Demgegenüber geht das Machtmodell davon aus, dass das soziale Leben im Wesentlichen von Machtverhältnissen regiert wird und deshalb aus diesen heraus zu erklären ist, wobei unterstellt wird, dass die bestehenden Machtverhältnisse willkürlich, d.h. jedenfalls nicht legitimiert, wenn auch nicht unbedingt illegitim sind. Auch dieses Modell lässt sich mit einer individualistischen wie mit einer kollektivistischen Gesellschaftstheorie vereinen: Im einen Fall wird man sich vor allem für die Machtbeziehungen zwischen einzelnen Individuen interessieren (wie der symbolische Interaktionismus), im anderen eher auf den Machtkampf zwischen sozialen Gruppierungen und auf gesamtgesellschaftliche Machtstrukturen abstellen (wie der Marxismus). Fügt man beide Distinktionen zusammen, so ergeben sich, wie das folgende Schema illustrieren soll, vier grobe Typen gesellschaftstheoretischen Denkens, die meines Erachtens die politische Grundorientierung mehrerer einflussreicher Richtungen dieses Denkens bis zu einem gewissen Grade erhellen.
Nutzenmodell
Machtmodell
individualistisch
Rational choice
Interaktionismus
kollektivistisch
Funktionalismus
Marxismus
eher affirmativ
eher kritisch
Es scheint mir offensichtlich, dass die politische Imprägnierung der in Betracht stehenden Sozialtheorien in auffälliger Weise mit ihrer Zuordnung zum Nutzenoder Machtmodell korreliert: Während die Theorien, die das Nutzenmodell favorisieren, im Allgemeinen eher zu einer affirmativen, die jeweils gegebenen sozialen Verhältnisse billigenden Haltung neigen, stehen die Ansätze, die sich auf das Machtmodell festlegen, den bestehenden Verhältnissen im Großen und Ganzen kritisch oder sogar ablehnend gegenüber. Diese Korrelation trifft natürlich nur der Tendenz nach zu, von der es auch zahlreiche Ausnahmen gibt, aber sie besteht. Warum das so ist, möchte ich am Beispiel der genannten Theorien in aller Kürze andeuten. Der Rational-choice-Ansatz, der eine dem Nutzenmodell verpflichtete individualistische Sozialtheorie geradezu in paradigmatischer Weise verkörpert, nimmt das nutzenorientierte - nutzenmaximierende oder auf Präferenzbefriedigung gerichtete - Handeln der Individuen zum Ausgangspunkt, von dem aus er alle anderen sozialen Tatsachen erklären will. Schon dieses grundlegende Erklärungsschema suggeriert eine Wertung, die jedoch in vielen Fällen kaum plausibel ist. Wenn nämlich angenommen wird, dass die Menschen im Allgemeinen das tun,
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was unter den gegebenen Bedingungen ihren Interessen am besten dient, und wenn ferner angenommen wird, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse eben deshalb so sind, wie sie sind, weil sie von den beteiligten Personen durch zweckrationales Handeln herbeigeführt worden sind, dann liegt es nahe, diese Verhältnisse für allgemein vorteilhaft und damit für legitim zu halten. Aber diese Folgerung ist trügerisch. Denn erstens handeln die Menschen oft nicht rational im Sinne der Verfolgung ihrer wohlüberlegten und längerfristigen Interessen; zweitens kann das subjektiv-rationale Handeln der Individuen bekanntlich in die Falle kollektiver Irrationalität, also zu suboptimalen Ergebnissen führen; und drittens hängen die Handlungen der Menschen und die Ergebnisse, zu denen sie führen, wesentlich von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen - darunter den bestehenden Machtverhältnissen - ab, die ja auch völlig unakzeptabel sein können. Zumindest mit diesem letzten Problem kann der Rational-choice-Ansatz schwer fertig werden, weil er diese Rahmenbedingungen ja selber wieder als das Ergebnis eines vorangegangenen rationalen Handelns erklären muss, wodurch er neuerlich den Eindruck erzeugt, dass sie ohnehin dem Interesse aller entsprechen. Wie immer man den ökonomischen Ansatz des sozialen Verhaltens dreht und wendet, er erzeugt immer wieder die Suggestion, dass die soziale Welt, so wie sie ist, schon in Ordnung ist. Ähnliches gilt für die funktionalistische Gesellschaftstheorie, die das soziale Geschehen durch dessen Funktion oder Nutzen für das Bestehen und Gedeihen sozialer Kollektive, vor allem ganzer Gesellschaften, zu erklären sucht, wobei sie offenbar voraussetzt, dass der Bestand dieser Kollektive dem gemeinsamen Interesse ihrer Mitglieder entspricht. So werden soziale Ungleichheiten damit erklärt, dass sie dazu dienen, gesellschaftlich erwünschte Aktivitäten, die rare Fähigkeiten oder kostspielige Aufwendungen verlangen, durch geeignete Anreize zu stimulieren und die jeweils geeignetsten Personen dafür auszuwählen. Es ist schon oft gezeigt worden, dass solche Erklärungen systematisch unvollständig sind und nur unter gewissen, oft nicht erfüllten empirischen Zusatzbedingungen gelingen. Darum soll es hier nicht gehen. Was hier vielmehr interessiert, ist die politische Schlagseite des funktionalistischen Ansatzes, seine affirmative bzw. konservative Grundorientierung. Ich behaupte, dass diese Orientierung eine zwangsläufige Folge seiner Erklärungsmethode ist. Indem der Funktionalismus das Entstehen und Bestehen sozialer Zustände, beispielsweise bestimmter gesellschaftlicher Normen oder Institutionen, stets damit zu erklären sucht, dass diese Zustände zum Bestand der Gesellschaft im Interesse ihrer Mitglieder beitragen, suggeriert er unvermeidlich den Eindruck, dass diese Zustände auch gutzuheißen sind, zumindest aus der Sicht der betroffenen Personen. Aber dieser Eindruck ist verfehlt, weil das funktionalistische Erklärungsschema, das ihm zugrunde liegt, in zwei Hinsichten unschlüssig ist. Erstens garantiert der Umstand, dass ein sozialer Zustand für den Bestand der Gesellschaft im Interesse ihrer Mitglieder erforderlich oder nützlich ist, für sich alleine noch nicht, dass dieser Zustand tatsächlich zustande kommt, also von den Individuen herbeigeführt wird, sei es, weil diese die Vorteilhaftigkeit jenes Zustands nicht erkennen oder weil ihre kurzfristigen Ziele einem Handeln
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entgegenstehen, das zu seiner Realisierung notwendig ist. Und zweitens folgt daraus, dass ein sozialer Zustand für den Fortbestand einer Gesellschaft in ihrer bestehenden Form erforderlich oder nützlich ist, noch lange nicht, dass dieser Zustand im Interesse aller oder auch nur der meisten ihrer Mitglieder liegt, weil es ja sein kann, dass diese Gesellschaftsform selber auf krassen Machtungleichheiten beruht. Beide Varianten einer dem Nutzenmodell verpflichteten Gesellschaftstheorie kranken demnach daran, dass sie den Strukturen sozialer Macht keine angemessene Aufmerksamkeit schenken und dies auch gar nicht können, weil sie sich den Blick auf diese Strukturen schon von vornherein durch ihre methodischen Vorannahmen verstellen. Im Unterschied dazu verfallen jene Theorien, die als typische Instanzen des Machtmodells gelten können, in das gegenteilige Extrem: Indem sie jedes soziale Geschehen als Ausfluss blanker Machtverhältnisse deuten und dabei die Legitimitätsvorstellungen der Menschen außer Acht lassen, vermitteln sie ein mehr oder minder apokalyptisches Bild der sozialen Welt. Der symbolische Interaktionismus, so wie er sich in den Schriften seiner bekanntesten Vertreter präsentiert (Goffman, Howard Becker), stellt eine individualistische Sozialtheorie dar, die sich im Wesentlichen auf das Machtmodell stützt. Was ihn vor allem interessiert, das sind soziale Interaktionen, also interpersonelle Face-to-face-Beziehungen, welche er aus den wechselseitigen Verhaltenserwartungen der beteiligten Personen zu erklären sucht. Diese Erwartungen werden dabei durch die , Situationsdefinition 4 bestimmt, auf die sich die Beteiligten entsprechend ihrer ,Defmitionsmacht', d.h. entsprechend der zwischen ihnen bestehenden Machtverteilung, einigen. Dieser Erklärungsansatz setzt nicht von vornherein das Bestehen ungleicher Machtverhältnisse voraus, aber die meisten Interaktionisten interessieren sich vor allem für soziale Beziehungen, deren Beteiligte über eine sehr ungleiche Definitionsmacht verfügen, wie etwa die Verhältnisse in Gefängnissen, Kasernen und Krankenhäusern, die Beziehungen zwischen Organen der staatlichen Obrigkeit und Angehörigen der Unterschichten, zwischen Lehrern und Schülern und dergleichen. Dabei wird stillschweigend unterstellt, dass die Machtungleichheiten, welche in die wechselseitigen Erwartungen der handelnden Personen einfließen, jeder Rechtfertigung entbehren. Eben dadurch wird ganz allgemein der Eindruck erzeugt, als seien alle sozialen Verhältnisse durch und durch von willkürlichen Machtverhältnissen beherrscht, die es abzuschaffen gilt. Dieser Eindruck ist aber in dieser Allgemeinheit irreführend. Denn obwohl es sicher zutrifft, dass in vielen Bereichen des sozialen Lebens unannehmbare Machtverhältnisse herrschen, ist die Unterstellung, dass soziale Machtungleichheiten stets willkürlich sind, im Kontext einer empirischen Sozialtheorie fehl am Platz und vom Standpunkt einer halbwegs plausiblen normativen politischen Theorie offensichtlich falsch. Die Marxsche Theorie, die ich als Beispiel einer kollektivistischen Gesellschaftstheorie anführe, die mit dem Machtmodell operiert, ist ein vielschichtiges Gedankengebäude, das sich schwer in eine einfache Schematik pressen lässt. Was
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aber die dieses Gebäude tragende Grundvorstellung der sozialen Welt, die materialistische Geschichtsauffassung, angeht, so ist es wohl möglich, sie als eine Theorie zu verstehen, die das soziale Geschehen im Wesentlichen als einen Prozess sozialer Machtkämpfe modelliert. Ihr Ausgangspunkt ist das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, das in einem ständigen Kampf der sozialen Klassen Niederschlag findet, deren Mitglieder jeweils nach einer für sie möglichst vorteilhaften gesellschaftlichen Organisation der ökonomischen Verhältnisse streben. Dieser Kampf mündet immer wieder aufs Neue in die Etablierung einer Gesellschaftsform, die den Kräfteverhältnissen der Klassen entspricht, durch Gewaltmittel gesichert wird und so lange bestehen bleibt, wie jene Kräfteverhältnisse aufrecht sind. Aber da sich die sozialen Kräfteverhältnisse mit der Entwicklung der Produktivkräfte verändern, kommt es immer dann, wenn sie sich so weit verschoben haben, dass es einer der benachteiligten Klassen möglich ist, das Joch der Unterdrückung abzuschütteln, zu einer Revolution. Damit dreht sich das Rad der Geschichte weiter zur nächsten Gesellschaftsform, bis es mit der vollen Entfaltung der Produktivkräfte, die in eine kommunistische Ordnung mündet, letztlich zum Stillstand kommt. Obwohl Marx den gesamten Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung als Fortschrittsgeschichte versteht, die schließlich zu einem glücklichen Ende führen wird, rückt seine Analyse alle gesellschaftlichen Organisationsformen, die dem erhofften Endzustand vorangehen, in ein weitgehend negatives Licht. Er betrachtet alle diese Gesellschaftsformen, darunter insbesondere die kapitalistische Gesellschaft, als blanke Unterdrückungsverhältnisse, die schon deshalb durch nichts legitimiert sein können, weil es nach seiner Auffassung keine von ihnen unabhängigen normativen Maßstäbe gibt, an denen sie gemessen werden könnten. Ethik und Moral seien nichts weiter als Pfaffengeschwätz, und die Menschenrechte bloß ein Mittel der Besitzbürger, ihre Privilegien gegen die Unterdrückten zu verteidigen. Diese Begleitmusik der Marxschen Theorie hat es leicht gemacht, sie selber zur Legitimation eines gesellschaftliches Unterdrückungssystem von gigantischen Dimensionen zu missbrauchen. Soviel zu dem mehr oder minder versteckten normativen Gehalt des sozialtheoretischen Denkens am Beispiel solcher Ansätze, die sich entweder dem Nutzen- oder dem Machtmodell zuordnen lassen. Diese Ansätze bilden - jedenfalls in der vereinfachten und überzeichneten Form, in der ich sie präsentiert habe - gewissermaßen die Eckpunkte eines weiten Feldes von Möglichkeiten. Darin gibt es natürlich viele weitere Theorien, die ein differenzierteres Bild der sozialen Realität zeichnen. Aber auch diese Theorien, zu denen etwa jene von Max Weber oder von Norbert Elias gehören, haben ihre normativen Untertöne, die jedoch den Ambivalenzen des sozialen Lebens mehr Aufmerksamkeit widmen. Darauf kann ich hier nicht eingehen. Ich komme nun zur politischen Philosophie.
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I I I . Gesellschaftstheoretische Annahmen der politischen Philosophie Politische Philosophie ist das Nachdenken über die allgemeinen Bedingungen menschlicher Existenz und Koexistenz, über die Voraussetzungen und Möglichkeiten sozialer Ordnung sowie über die Erfordernisse eines friedlichen, gerechten und gedeihlichen sozialen Zusammenlebens von Menschen. Dieses Nachdenken zielt nicht nur auf die Gewinnung theoretischer Einsichten, sondern es verfolgt, zumindest nach dem vorherrschenden Verständnis politischer Philosophie, auch eine praktische Zielsetzung: nämlich die, soziale Verhältnisse - seien sie zwischenmenschliche Beziehungen, soziale Normen, rechtliche Regelungen, politische Zustände oder ganze gesellschaftliche Ordnungen - einer kritischen Bewertung zu unterziehen und Anleitungen für ihre angemessene Gestaltung zu liefern. Insofern nimmt die politische Philosophie gegenüber der sozialen Welt eine Teilnehmerperspektive ein, unter der sie auf die Gestaltung des sozialen Lebens vom Standpunkt bestimmter Grundsätze des Rechten und Guten aktiv Einfluss zu nehmen sucht. Dieses Geschäft setzt zwei Sorten von Prämissen voraus: einerseits entsprechende normative Maßstäbe, die als Grundlage der kritischen Bewertung sozialer Verhältnisse dienen können, und andererseits hinreichende Kenntnisse über die Tatsachen der sozialen Realität, die uns die Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens vor Augen führen. Was die normativen Maßstäbe der kritischen Bewertung sozialer Verhältnisse betrifft, so ziehe ich hier nur solche Konzeptionen des politischen Denkens in Betracht, die eine rationale, d.h. allgemein nachvollziehbare und überzeugende Begründung solcher Maßstäbe für möglich halten. Diese Einschränkung scheidet zwar jene Theorien aus, die entweder auf eine religiöse Fundierung der politischen Ethik setzen oder aber einen radikalen ethischen Relativismus vertreten, lässt aber die meisten bedeutenden politischen Theorien der Moderne im Spiel. Dazu gehören jedenfalls die klassischen Konzeptionen des Sozialkontrakts von Hobbes bis Rousseau, die Sozialphilosophie der schottischen Aufklärung (Smith und Hume), die politische Philosophie Kants, die Hegeische Rechts- und Staatsphilosophie, der Utilitarismus (Bentham, John Stuart Mill, Sidgwick), die Theorien des Sozialismus und der Sozialdemokratie (Proudhon, Lassalle und Marx, der aber wegen seiner vehementen Ablehnung jeder ethischen Begründung der Politik einen Grenzfall darstellt), und schließlich auch die Mehrzahl der bekannten politischen Theorien der Gegenwart (darunter jene von Rawls, Hayek, Nozick, James Buchanan, Ronald Dworkin, Habermas und Walzer). Wenn verbindliche Richtlinien politischer Ethik nicht mehr allein durch Berufung auf religiöse Glaubenswahrheiten plausibel gemacht werden können, steht nur ein Weg offen, um solche Richtlinien öffentlich zu begründen: der Versuch, sie durch Vernunftgründe zu fundieren, indem man zeigt, dass sie in Anbetracht der Gegebenheiten der Realität von allen betroffenen Personen bei vernünftiger Erwägung, d.h. bei Berücksichtigung ihrer wohlüberlegten Interessen und Werthaltungen, übereinstimmend als allgemein verbindliche Grundsätze ihres sozialen Lebens 24 FS Ballestrem
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akzeptiert werden sollten. Das letzte normative Kriterium für die Bewertung sozialer Verhältnisse ist demnach die regulative Idee, dass diese Verhältnisse unter der fiktiven Voraussetzung der Vernünftigkeit aller Beteiligten deren allgemeine Zustimmung finden würden bzw. sollten. Nun gibt es allerdings verschiedene Möglichkeiten, die Idee allgemeiner Zustimmung, die ja ein hypothetisches Konstrukt ist, näher zu fassen. Unter Vernachlässigung mancher Einzelaspekte kann man ihre diversen Lesarten in den politischen Theorien der Moderne in zwei Sorten einteilen: eine eher realistische Deutung, welche die allgemeine Zustimmung als das Ergebnis einer mehr oder minder zufälligen Übereinstimmung der abweichenden partikularen Interessen und Präferenzen der Beteiligten modelliert, und eine anspruchsvollere, stärker idealisierende Deutung, die annimmt, dass die allgemeine Zustimmung aus universellen, allgemein geteilten Vernunftgründen erfolgen muss, die sich aus den gleichartigen Interessen aller ergeben. Entsprechend diesen beiden Deutungen der Idee allgemeiner Zustimmung können zwei grundlegende Ansätze politischer Ethik unterschieden werden, in die sich die meisten Konzeptionen des neuzeitlichen politischen Denkens einordnen lassen: partikularistische und universalistische Ansätze. Eine politische Theorie verkörpert einen partikularistischen Ansatz, wenn sie die Legitimität sozialer Verhältnisse danach beurteilt, ob und inwieweit diese Verhältnisse den faktischen Interessen und Präferenzen der betroffenen Personen oder Gruppen unter den jeweils gegebenen Bedingungen des sozialen Status quo entsprechen. Ein solcher Ansatz liegt den Theorien von Hobbes, Locke, Hegel, Marx, Hayek, Nozick, James Buchanan und Walzer zugrunde, ungeachtet der sonstigen Differenzen, die zwischen diesen Theorien bestehen. Demgegenüber zeichnen sich politische Theorien, die einem universalistischen Ansatz verpflichtet sind, dadurch aus, dass sie die Bewertung sozialer Verhältnisse auf der Grundlage einer unparteiischen Berücksichtigung der grundlegenden allgemeinen Interessen aller Betroffenen vornehmen. Das erfordert freilich weiterreichende hypothetische Annahmen, weil von den jeweils gegebenen Umständen des Status quo abstrahiert und eine unparteiische Betrachtungsweise konstruiert werden muss. Zur Klasse dieser Theorien gehören u.a. die von Rousseau, Kant, Proudhon, John Stuart Mill, Rawls und Habermas. Die Begründung verbindlicher Grundsätze des gesellschaftlichen Lebens ist aber nicht ohne entsprechende Kenntnisse der realen Tatsachen möglich, wozu auch sozialtheoretische Annahmen gehören. Schon die Beantwortung der ganz grundlegenden Frage, warum Menschen für ein gedeihliches Zusammenleben überhaupt verbindliche soziale Normen brauchen, setzt gewisse - wenn auch nur sehr allgemeine und fast selbstverständliche - Annahmen über die Natur der Menschen und die Bedingungen ihrer sozialen Koexistenz voraus. Und je spezifischer die Themen sind, die zur Debatte stehen, desto nähere Kenntnisse sind für ihre Erörterung vonnöten. Natürlich muss die politische Philosophie bei der Erörterung solcher Themen auf das Alltagswissen und die Erkenntnisse der zuständigen empirischen Disziplinen zurückgreifen. Insoweit die betreffenden empi-
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rischen Tatsachen ihrerseits umstritten sind, kann sich die politische Philosophie damit behelfen, ihre normativen Probleme unter der hypothetischen Voraussetzung gewisser Tatsachenkonstellationen zu erörtern. Aber dass sie mit solchen Annahmen operieren muss, um substanzielle Fragen von Gesellschaft, Recht, Staat und Politik diskutieren zu können, darum kommt sie nicht herum. Von besonderem Interesse sind in diesem Kontext gewisse gesellschaftstheoretische Annahmen ganz allgemeiner und fundamentaler Art, die zwar die empirische Erfahrungswelt zum Gegenstand haben, aber relativ erfahrungsresistent sind, weil sie die soziale Erfahrung überhaupt erst strukturieren. Sie betreffen den Begriff der Gesellschaft, dem auch in der politischen Philosophie eine zentrale Rolle zukommt. Um die Annahmen, die hier in Betracht kommen, deutlich zu konturieren, möchte ich wiederum eine idealtypische Distinktion vornehmen und zwei Grundmodelle der Gesellschaft unterscheiden: ein Marktmodell und ein Gemeinschaftsmodell. Das Marktmodell stellt sich eine Gesellschaft nach dem Muster eines Marktes vor, nämlich als eine Ansammlung freier und unabhängiger Individuen, die alle bereits über gewisse Fähigkeiten oder Ressourcen verfügen und vermittels freiwilliger Übereinkünfte in Beziehung treten, um aus dem Austausch von Gütern und Leistungen Nutzen zu ziehen, was aber ihre Bereitschaft voraussetzt, sich den Regeln einer Marktordnung zu fügen, nämlich Gewalt gegen Andere zu unterlassen, deren Eigentum zu respektieren und geschlossene Verträge zu halten. Diese ganz und gar atomistische Vorstellung der Gesellschaft, die so gut wie allen Konzeptionen des Wirtschaftsliberalismus einschließlich des gegenwärtigen Neoliberalismus zugrunde liegt, geht zwar oft mit einem partikularistischen Ansatz der politischen Rechtfertigung einher (etwa bei Hobbes, Hayek, Nozick und James Buchanan), kann aber auch mit einer universalistischen Theorie verbunden sein (wie bei Kant und John Stuart Mill). Dementgegen deutet das Gemeinschaftsmodell eine Gesellschaft als eine Gemeinschaft, als eine Personengesamtheit, deren Mitglieder das gemeinsame Ziel verfolgen, ihr soziales Zusammenleben auf eine Weise zu gestalten, die ihnen allen nach Möglichkeit das Überleben und eine annehmbare Existenzgrundlage sichert, was freilich nur gelingen kann, wenn jedes Mitglied bereit ist, zur Erreichung dieses Ziels einen entsprechenden Beitrag zu leisten. Eine Gesellschaft wird demnach als eine übergreifende Gemeinschaft der menschlichen Daseinsbewältigung gesehen, deren Mitglieder von Geburt an durch ein enges Netzwerk sozialer Kooperation miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, weshalb sie auch nicht einfach als selbständige Besitzbürger aus dem Boden wachsen, sondern erst im Rahmen ihrer sozialen Umwelt die jeweiligen Fähigkeiten und Ressourcen ihres Überlebens und Wohlergehens erwerben. Auch diese kommunitäre Auffassung der Gesellschaft ist mit beiden Ansätzen der politischen Ethik vereinbar und kann daher sowohl zusammen mit einem Partikularismus (wie z.B. bei Hegel, Marx und Walzer) wie auch zusammen mit einem Universalismus (wie bei Rousseau, Rawls und Habermas) auftreten. Legt man beide Differenzierungen - Markt- vs. Gemeinschaftsmodell / Partikularismus vs. Universalismus - übereinander, so ergeben sich vier idealtypische
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Konzeptionen politischer Theorie, von deren Exponenten ich im folgenden Schema nur jeweils zwei bekannte Namen hervorhebe.
Marktmodell
Gemeinschaftsmodell
partikularistisch
Hobbes, Hayek
Marx, Walzer
universalistisch
Kant, Mill
Rousseau, Rawls
eher marktliberal
eher egalitaristisch
Diese Typologie bietet, glaube ich, eine Grundlage, um die politischen Präferenzen vieler politischer Theorien, jedenfalls der genannten, zumindest bis zu einem gewissen Grade zu erklären. Da diese Theorien hier nicht im Einzelnen besprochen werden können, werde ich mich darauf beschränken, die normativen Konsequenzen, die sich aus den gesellschaftstheoretischen Modellen und den ethischen Ansätzen ergeben, in generalisierender Weise aufzuzeigen. Nach dem Marktmodell ist eine Gesellschaft nichts weiter als eine Menge unabhängiger und selbständig produzierender Personen, die zwar das Interesse an einem friedlichen Zusammenleben und an wechselseitig vorteilhaften Austauschbeziehungen teilen, sonst aber nichts gemeinsam haben. Diese Sicht führt - zusammen mit einigen weiteren Annahmen, die hier auf sich beruhen können - zur Folgerung, dass die Menschen gut beraten sind, sich einer rechtlich verfassten gesellschaftlichen Ordnung zu unterwerfen, die ihre Freiheit in dem Umfang einschränkt, in dem es notwendig ist, ihr Leben und ihren Besitz wirksam zu schützen und einen gedeihlichen wirtschaftlichen Austausch zu ermöglichen, ihnen sonst aber größtmögliche Freiheit lässt, ihr Leben nach Gutdünken zu gestalten und ihren Geschäften nachzugehen. Eine solche gesellschaftliche Ordnung muss zwar Sorge dafür tragen, dass die Austauschbeziehungen der Individuen den Erfordernissen der Tauschgerechtigkeit (Freiwilligkeit, Transparenz, Vorteilhaftigkeit) genügen, bietet aber für allfällige Forderungen der Verteilungsgerechtigkeit keinen Raum. Denn wenn - ausgehend von einer anfänglichen Güterverteilung, in der niemand einen Anspruch auf irgendwelche Besitztümer eines anderen hat jede Person über die ihrem Besitz stehenden Güter verfügen darf, wie sie will, und wenn jeder Transfer von Gütern oder Leistungen auf der freien Übereinkunft der dazu Berechtigten beruht, dann führt das Marktgeschehen von selber zu einer Verteilung, die jeder Person zukommen lässt, was ihr gebührt. Unter dieser Voraussetzung gibt es weder für den Ruf nach distributiver Gerechtigkeit noch für staatliche Eingriffe in den Marktprozess guten Grund. Das Marktmodell läuft damit im Ergebnis stets auf irgendeine Spielart des ökonomischen Liberalismus hinaus, die Vorstellung also, dass eine kapitalistische Wirtschaftsordnung in Verbindung mit einem ,Nachtwächterstaat' die beste aller möglichen Welten sei.
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Die nähere Ausbuchstabierung einer solchen Vorstellung hängt allerdings auch von dem zugrunde gelegten Ansatz der normativen Begründung ab, vor allem davon, ob es sich dabei um einen partikularistischen oder um einen universalistischen Ansatz handelt. Ein Universalismus muss zumindest eine gewisse Gleichheit der individuellen Ausgangsbedingungen verlangen, da von seinem Standpunkt aus eine gesellschaftliche Ordnung nur dann als legitim gelten kann, wenn sie vom Standpunkt einer unparteiischen Betrachtung als allgemein akzeptabel erscheint. Im Unterschied dazu wird ein Ρ artikular ismus umso größere soziale Ungleichheiten zulassen, je ungleicher die faktischen Machtverhältnisse sind, unter denen eine gesellschaftliche Ordnung zustande kommt. Obwohl diese Differenz nicht unerheblich ist, spielt sie im Theorienvergleich deshalb keine große Rolle, weil die meisten Exponenten partikularistischer Theorien (wie Hobbes) einfach relativ symmetrische Ausgangsverhältnisse unterstellen, woraus sie dann die - im Kontext einer partikularistischen Theorie durch nichts gedeckte - Folgerung ziehen, dass die Zustimmung zu Regeln, die für alle gleichermaßen gelten, im gleichen Interesse aller Beteiligten liege. Aber natürlich ist diese Folgerung auf Sand gebaut, da die Annahme gleicher Ausgangsverhältnisse der Realität oft nicht entspricht. Es ist, nebenbei bemerkt, überhaupt ein auffälliges Kennzeichen fast aller Theorien, die das Marktmodell präferieren, dass sie gesellschaftlichen Machtungleichheiten kaum Aufmerksamkeit schenken und infolgedessen auch keinen Sinn für die aus solchen Ungleichheiten resultierenden Verzerrungen der Marktbeziehungen haben. Im Unterschied zum Marktmodell konzipiert das Gemeinschaftsmodell eine Gesellschaft als ein umfassendes Netzwerk funktionsteiligen Zusammenwirkens, in dem die diversen Aktivitäten aller Gesellschaftsmitglieder ineinander greifen und voneinander abhängen, gleichsam wie in einer Fabrik, in der viele Menschen im Wege arbeitsteiliger Kooperation gemeinsam ein Produkt erzeugen. Unter dieser Voraussetzung werden die wirtschaftlichen Aussichten und die sozialen Positionen der Bürger nicht mehr länger als das zufällige Resultat unabhängiger Produktions- und Austauschvorgänge betrachtet, sondern vielmehr als soziale Güter, die aus der gemeinsamen Zusammenarbeit aller entspringen und eben deswegen auch einer gerechten, allgemein vertretbaren Verteilung bedürfen. Damit erhebt sich die Forderung der sozialen Verteilungsgerechtigkeit, die im Prinzip eine weitgehend gleichmäßige Verteilung der sozialen Güter und Lasten einschließlich des gemeinsam erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtums verlangt, sofern Ungleichheiten nicht durch allgemein akzeptable Gründe, wie etwa durch ungleiche Leistungen oder durch ungleiche Bedürfhisse von Menschen, gerechtfertigt scheinen. Und dies legt die Folgerung nahe, dass der Staat als Repräsentant der ganzen Gesellschaft deren Wirtschaftsleben in entsprechender Weise regulieren muss, um eine halbwegs gerechte Verteilung sozialer Positionen und wirtschaftlicher Aussichten zu erreichen. Das ist das gemeinsame Credo der Theorien des Sozialismus, der sozialen Demokratie und des zeitgenössischen Kommunitarismus, zwischen deren Auffassungen in anderen Hinsichten freilich vielfältige Differenzen bestehen.
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Eine der Differenzen betrifft z.B. die Frage, in welchem Umfang eine moderne Gesellschaft ein gemeinschaftliches Unternehmen ist: Das Meinungsspektrum reicht hier von der extremen Vorstellung einer totalen, alle Lebensbereiche umfassenden Gemeinschaft (Kommunismus) bis zur moderaten Auffassung der Gesellschaft als einer Kooperationsgemeinschaft gleicher und freier Bürger, die sich auf die Sicherung bestimmter grundlegender Rechte beschränkt (liberaler Sozialismus, Sozialliberalismus). Eine andere Streitfrage bezieht sich auf die Art von Wirtschaftsordnung, die am ehesten geeignet ist, eine gerechte Verteilung der gemeinschaftlichen Güter und Lasten herbeizuführen: Als mögliche Alternativen kommen hier eine zentrale Planwirtschaft, ein Marktsozialismus oder irgendeine Form der sozialen Marktwirtschaft in Betracht. Beide Fragen scheinen aber heute durch die geschichtliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts entschieden und daher kaum noch aktuell. Die ethisch-politische Stoßrichtung einer philosophischen Theorie, die sich auf eine kommunitäre Gesellschaftsauffassung festlegt, hängt jedoch nicht nur davon ab, wie sie die gesellschaftliche Gemeinschaft näher bestimmt, sondern auch davon, welchen Weg sie bei der Bewertung sozialer Verhältnisse einschlägt. Und hierbei kommt es wiederum vor allem darauf an, ob sie nur auf die aktuellen Interessen und Vorlieben der beteiligten Personen oder Gruppen unter den Gegebenheiten des Status quo abstellt oder sich vielmehr um eine unparteiische Berücksichtigung der geteilten grundlegenden Interessen aller Betroffenen bemüht. Der erste, einem partikularistischen Ansatz entsprechende Weg, der u.a. von Hegel, Marx und Walzer beschritten wird, führt zur Ansicht, dass die maßgeblichen Forderungen politischer Moral und sozialer Gerechtigkeit durchgängig gesellschaftlich und geschichtlich bedingt sind, d.h. dass jede Gesellschaft entsprechend ihren Lebensverhältnissen ein eigenes Verständnis von Gerechtigkeit entwickelt und fortbildet. Wenn dieses Verständnis aber tatsächlich nichts weiter als die partikularen Interessen und Werthaltungen der Gesellschaftsmitglieder unter den Bedingungen des jeweiligen Status quo zum Ausdruck bringen soll, dann wird sein Gehalt in einem weitgehenden Maße die jeweils bestehende gesellschaftliche Machtverteilung widerspiegeln, weil mit dieser ja die Chancen der beteiligten Individuen und Gruppen korrelieren, ihren jeweiligen Interessen und Werthaltungen Gehör und Geltung zu verschaffen. Eine Theorie, die diesen Weg konsequent zu Ende geht, müsste darum im Ergebnis eigentlich zu einer unkritischen Affirmation der jeweils bestehenden Verhältnisse gelangen, eine Konsequenz, die freilich weder interessant noch plausibel ist. Dieser Befund scheint nun aber mit der Tatsache in Widerspruch zu stehen, dass offenbar nicht alle Theoretiker, die eine kommunitäre Gesellschaftsauffassung mit einem partikularistischen Ansatz verknüpfen, zu einem Konservativismus neigen, ja dass einige von ihnen sogar exponiert gesellschaftskritische Positionen einnehmen, so insbesondere Marx und seine Anhänger, bis zu einem gewissen Grade aber auch Walzer und einige andere zeitgenössische Kommunitaristen. Dieser Widerspruch besteht jedoch nur scheinbar, weil die Gesellschaftskritik dieser Theoretiker keine systematische Verankerung in den von ihnen angenommenen theoretischen Prämissen findet, sondern teils auf stillschweigend unterstellten universalistischen Annahmen,
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teils auf nichts weiter als subjektiver Stellungnahme beruht. Ein gutes Beispiel dafür liefert Marx, wenn er in seiner Kritik des Gothaer Programms (1875) einerseits - im Einklang mit seiner partikularistischen Auffassung - erklärt, die Forderung nach einer gerechten Verteilung des Ertrags der gesellschaftlichen Arbeit mache in einer kapitalistischen Gesellschaft keinen Sinn, weil in dieser eben jene Verteilung gerecht sei, die sich aus den bestehenden Eigentums- und Austauschverhältnissen ergibt, andererseits aber auf eine Verschiebung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse hofft, die zur Ablösung des Kapitalismus durch eine sozialistische Gesellschaftsordnung führen soll, deren Mitglieder - ganz im Sinne einer universalistischen Vorstellung - allesamt gleiche Freiheit und Selbstbestimmung genießen. Diese Erwartung war jedoch illusorisch, und unabhängig davon ohnehin kein tragfähiges normatives Fundament einer politischen Philosophie, die sich die Aufgabe stellt, die Welt nicht bloß zu interpretieren, sondern auch zu verändern. Verglichen damit verspricht der zweite Weg - die Verbindung einer kommunitären Auffassung der Gesellschaft mit einem universalistischen Begründungsansatz - mehr Aussicht auf Erfolg, obschon auch er mit erheblichen Schwierigkeiten gepflastert ist. Dieser Weg, der u.a. von Rousseau, Proudhon, Rawls und Habermas eingeschlagen wird, erfordert nämlich die Konstruktion eines geeigneten Verfahrens der kollektiven Willensbildung, in dem vermittels einer unparteiischen Erwägung der grundlegenden Interessen aller betroffenen Personen allgemein annehmbare Grundsätze der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse gefunden werden sollen. Da hierfür weitreichende Abstraktionen von den De-factoPräferenzen der Individuen unter den realen Gegebenheiten nötig sind, stehen vielfältige Möglichkeiten der Modellierung eines solchen Verfahrens offen, über die sich die Theoretiker seit jeher streiten und wohl auch weiterhin streiten werden. Aber immerhin gibt es zwischen den Theorien, die das Gemeinschaftsmodell mit einer universalistischen Ethik kombinieren, auch einige bemerkenswerte Konvergenzen, durch die sie sich von anderen Theorien deutlich unterscheiden: Nicht nur stimmen sie darin überein, dass gewisse grundlegende Forderungen der politischen Moral und der sozialen Gerechtigkeit für alle Gesellschaften Geltung besitzen, sondern ihnen ist auch eine mehr oder minder ausgeprägte Präferenz für soziale Gleichheit gemeinsam, nämlich für die Ansicht, dass relevante Ungleichheiten der bürgerlichen Rechte und der individuellen Freiheiten, aber auch der sozialen Positionen und der ökonomischen Aussichten nur dann und insoweit zulässig sind, wenn und soweit sie durch Gründe gerechtfertigt scheinen, die im Lichte der grundlegenden Interessen aller Betroffenen deren allgemeine Zustimmung finden können. Die Präferenz für soziale Gleichheit ergibt sich ganz von selber, wenn ein kommunitäres Gesellschaftsverständnis mit einem ethischen Universalismus zusammen trifft. Denn in dem Umfang, in dem die Gesellschaft als ein gemeinschaftliches Unternehmen verstanden wird, erhebt sich an sie die Forderung distributiver Gerechtigkeit, der zufolge die sozialen Güter und Lasten einer gleichen Verteilung bedürfen, sofern für eine Ungleichverteilung keine guten Gründe sprechen; und da solche Gründe unter der Voraussetzung eines universalistischen Begründungsansatzes nur dann vorliegen, wenn sie im Lichte einer
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Peter Koller
unparteiischen Erwägung der grundlegenden Interessen aller betroffenen Personen als plausibel erscheinen, muss auch jede Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten relativ strengen Anforderungen genügen, wie immer auch jene unparteiische Erwägung im Einzelnen modelliert werden mag. IV. Schlussbemerkung Ich habe zu zeigen versucht, dass zwischen Gesellschaftstheorie und politischer Philosophie ungeachtet ihrer divergierenden Zielsetzungen zahlreiche Berührungspunkte und Überlappungen bestehen. Auf der einen Seite operiert die Gesellschaftstheorie trotz ihrer Zugehörigkeit zu den empirischen Sozialwissenschaften vielfach, wenn auch mitunter unbemerkt, mit mehr oder minder fragwürdigen werthaltigen Annahmen, die zu einer bemerkbaren politischen Schlagseite mancher Ansätze führen. Andererseits setzt die politische Philosophie trotz ihrer normativen Zielsetzung empirisch gehaltvolle gesellschaftstheoretische Annahmen voraus, die von ihr aber nicht hinreichend reflektiert werden. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass die Differenzierung der beiden Disziplinen, die sich im Zuge der Entwicklung des modernen Wissenschaftssystems vollzogen hat, nicht nur von Vorteil ist, sondern auch gravierende Nachteile hat: Gerät die Gesellschaftstheorie leicht in eine ideologische Sackgasse, weil sie den normativen Aspekten ihres Unternehmens oft nicht die erforderliche Aufmerksamkeit schenkt, erweist sich die politische Philosophie mitunter als ziemlich naiv, was die gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen ihres Räsonierens angeht. Eine engere Kooperation der beiden Disziplinen wäre daher sicher für beide von Nutzen. Die Notwendigkeit einer solchen Kooperation scheint umso dringlicher, als beide Disziplinen durch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungen, vor allem durch die voranschreitende Globalisierung, in ihren überkommenen Grundlagen erschüttert und mit vielen neuen Problemen konfrontiert werden. So erhebt sich im Rahmen der Gesellschaftstheorie das Problem, wie sich das Konzept einer Weltgesellschaft theoretisch fassen lässt, während sich für die politische Philosophie die Frage stellt, worin eine tragfähige Vorstellung der globalen Gerechtigkeit bestehen könnte. Doch das ist ein anderes Kapitel.
V. Aktuelle Probleme zum Verhältnis von Politik, Moral und Religion
Unglücks-Zwangsversicherung? Eine Kritik staatlicher Katastrophenhilfe Von Thomas Cornides I. Katastrophen sind Massenereignisse Unter Katastrophe ist hier ein Massen-Ereignis zu verstehen, das viele Menschen in gleichartiger Weise schädigt, also z.B. ein Hochwasser, eine ausgedehnte Feuersbrunst, ein Erdbeben, Dürre 1. Das Merkmal der „Massenhafiigkeit" geht dabei zweifellos über den alltäglichen Sprachgebrauch des Wortes „Katasptrophe" hinaus: Manche mögen von einer Katastrophe sprechen, wenn eine Bezugsperson stirbt, wenn jemand schwer erkrankt, wenn der Stammhalter eine Schulklasse repetieren muß, ja sogar bei einem Rohrbruch im Eigenheim. Und ohne Frage sind das alles mehr oder weniger belastende Einzelereignisse, in ihrer Singularität aber gleichwohl (gemäß unserer Definition) keine Katastrophen. Brutal ausgedrückt: 100 Verkehrstote an einem Pfingstwochenende, über das Staatsgebiet verstreut, sind definitionsgemäß keine Katastrophe, ein Tunnelbrand mit 100 Toten ist defmitionsgemäß eine Tunnelkatastrophe - weil der Schaden auf wenigen Quadratmetern und innerhalb weniger Minuten eintritt. II. Katastrophen lösen Anspruchshaltungen aus und schaffen Profilierungschancen Massenhaftes Unglück löst nicht selten Anspruchshaltungen gegenüber „der Regierung" aus, wie sie bei individuellem Unglück - mag dieses auch den Einzelnen weit schwerer treffen als manches Massenereignis - nicht auftreten 2. Nie-
1
Z.B. Meyers Konversationslexikon, Leipzig 1888: [... auch] unglückliches und folgenschweres Naturereignis; - Oxford Students Dictionary: catastrophe = sudden event causing great suffering and destruction (e.g. a flood). 2 Erdbeben der Stärke 6,4 in der Nacht zum 1 .Mai 2003 in Bingöl (Osttürkei). Am 2.Mai verliert eine aufgebrachte Menge, welche Zelte und Nahrungsmittel fordert, die Geduld. Steine fliegen gegen das Regierungsgebäude, die Polizei reagiert mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Warnschüssen, es gibt Verletzte und vorübergehende Festnahmen. (Die Presse, 3.5.2003).- Erdbeben in Algerien, 22. Mai 2003: Steine fliegen auf den Wagen des Ministerpräsidenten, der das Katastrophengebiet besucht, und wiederum lautet die Beschwerde: Die Hilfe der Regierung sei nichtfrüh und nicht reichlich genug (Die Presse, 23.5.2003).
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Thomas Cornides
mand käme auf die Idee, „die Regierung" solle irgendeinem Einzelnen helfen, dessen Haus durch einen Erdrutsch beschädigt wird. Werden aber 100 Häuser im gleichen Ort beschädigt, dann ist „Soforthilfe" angesagt. Doch gibt es auch Unzufriedene, wie folgender Leserbrief zeigt: Es ist ungeheuerlich, [...] Tausende haben keine eigene Wohnung, von Zweitwohnung keine Rede, sie können selbst von der Erstwohnung nur träumen. Nun sollen auch die Zweitwohnbesitzer Hochwasserhilfe bekommen, ich empfinde das als Unverschämtheit [...] Wenn man sich eine Zweitwohnung leisten kann, verfugt man über ein sehr gutes Einkommen und ein ausreichendes Bankguthaben, um das zu finanzieren. Die Österreicher haben nicht fur Zweitwohnbesitzer gespendet, sondern für die Menschen, die es wirklich brauchen. (Die Presse, 29.8.2002)
Katastrophen sind potentielle Wahlschlager: Die jeweils Regierenden können in rituellen Gewändern (Gummistiefel, Regenjacke, Helm) Katastrophen besichtigen und mit rituellen Gesten (Deuten mit dem Zeigefinger, Vorschieben der Kinnbacken) Betroffenheit und Tatkraft demonstrieren. Einprägsame, simple Worte, wie niemand solle nach der Flut materiell schlechter gestellt sein als vor der Fluf 3, begünstigen die Wiederwahlchancen von Regierenden. Katastrophen, sofern sie in der Prime Time im Fernsehen gezeigt werden, entfesseln Wogen privater Hilfsbereitschaft. Prominente sammeln Spenden, Caritas, Diakonie und andere professionelle Helfer bringen ihre Kompetenz in Erinnerung. Katastrophen lösen kollektive Hilfsbereitschaft und Solidarität aus, aber auch Anspruchsdenken, Missgunst, Neid, Kleinlichkeit. Eine Mischform der Erregung besteht darin, dass man voll Leidenschaft meint, den Betroffenen müsse geholfen werden, allerdings eher „von oben", von der Regierung, als dass man sich persönlich zu privater Hilfeleistung aufgerufen fühlen würde. Kollektive Emotionen sind wohl einerseits naturwüchsig, andererseits aber auch, bis zu einem gewissen Grad zumindest, durch Nachdenken, ja durch Philosophieren beeinflussbar 4. Der oben zitierte Leserbrief ist ein typisches Beispiel. Der Ton, speziell ein gewisses Parfüm des Sozialneids, mag zwar irritieren. Jedoch wird hier auch zu Recht der traditionelle sozialphilosophische Topos „Jedem nach seinen Bedürfhissen" angesprochen. Was kann denn wirklich, bei ruhiger Überlegung, Motiv und Maßstab kollektiver Hilfsbereitschaft sein:
3 G. Schröder, deutscher Bundeskanzler, anlässlich der Hochwasserkatastrophe im August 2002 (wenige Wochen vor der deutschen Bundestagswahl; da ein Schaden nicht einmal durch das Machtwort eines deutschen Bundeskanzlers einfach verschwinden, wollte Schröder damit wohl sagen, alle Schäden sollten aus Steuergeldern kompensiert, also auf alle Steuerzahler umverteilt werden. Erwiderung des oppositionellen Kanzlerkandidaten E. Stoiber: „... Herr Bundeskanzler Sie haben versprochen, niemand solle nach der Flut materiell schlechter gestellt sein als vor der Flut [...] bei aller Anstrengung kann der Staat und staatliche Hilfe niemals eine Art Versicherung sein". - Kommentar: Jochen Thies, „Schröder-Versprechen", Deutschlandfunk, 27.8.2002, 19:05. 4 Zur Wechselwirkung zwischen populärem Denken einerseits, politischer Theorie andererseits vgl. Martha C. Nussbaum, Langfristige Fürsorge und soziale Gerechtigkeit, in: Deutsche Zeitschrift filr Philosophie 51 (2003) S. 179-198, hier S. 181.
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der Schaden, den die Katastrophe verursachte? oder die Bedürftigkeit der Opfer? I I I . Staatliche Katastrophenhilfe - zum Unterschied von privater Hilfsbereitschaft
Zum Unterschied von privater Hilfsbereitschaft - einer Tugend unentgeltlicher Generosität, die nicht hoch genug gelobt werden kann - ist staatliche Katastrophenhilfe nicht gratis, sondern wird durch Steuern bezahlt5. Sie ist politische Disposition über knappe Ressourcen, die nicht im Privateigentum der Politiker stehen. Unabhängig vom Grad seiner persönlichen, privaten Hilfsbereitschaft kann der Staatsbürger vernünftigerweise fragen: Wünsche ich, potentiell empfangend, mit Gewissheit zahlend, überhaupt staatliche Katastrophenhilfe, und wenn ja, dann von welcher Art? - Im folgenden wird zweierlei Katastrophenhilfe unterschieden -
Schadensbegrenzende Maßnahmen (Prävention),
-
Schadenersatz (Kompensation);
und in Beziehung gebracht zu unterschiedlichen Kostenarten 6: -
Primäre Schadenskosten entsprechen den konkreten Schäden (Tod, Verletzungen, Zerstörungen von Habe und Natur) im Gefolge einer Katastrophe und lassen sich, wenn auch zuweilen etwas gewaltsam, grundsätzlich in Geldeinheiten ( € ) ausdrücken.
-
Sekundäre Schadenskosten entsprechen der Tatsache, dass diese primären Schadenskosten, die nun einmal da sind, nicht immer gerade diejenigen treffen, die sie am leichtesten verschmerzen könnten; sie sind grundsätzlich nicht in Geld ausdrückbar, sondern allenfalls in Maßen subjektiver oder sozialer Wohlfahrt (Nutzenmaßen).
-
Tertiäre Schadenskosten sind Kosten der administrativen Erfassung und evtl. administrativen Umverteilung von primären Kosten; sie sind grundsätzlich in Geld ausdrückbar, z.B. als Bürokosten von Hilfsorganisationen, Versicherungen, Gerichten ...
5 Financial Times Deutschland, 20.8.2002, Leitartikel „Schröder zockt.. .Steuerentlastungen von rund 7 Mrd € , die als zweite Stufe der Steuerreform für 2003 seit langem im Gesetzblatt stehen, will er nun streichen, um so die Mittel für den Wiederaufbau der vom Hochwasser zerstörten Regionen einzutreiben". - Österreich: Angesichts der Hochwasser-Katastrophe verspricht die österreichische Bundesregierung 650 Millionen € Direkthilfe, sagt gleichzeitig die (entlastende) Steuerreform für 2003 endgültig ab (Österreichisches Jahrbuch für Politik 2002, Wien/München 2003, S. 561). 6 Unterscheidung in primäre, sekundäre und tertiäre Kosten vgl. Hans-Bernd Schäfer/Claus Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, Berlin/Heidelberg/New York 1986, S. 86-92; geht zurück auf Guido Calabresi , The Cost of Accidents - A Legal and Economic Analysis, New Haven/London 1970.
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IV. Zweierlei Katastrophenhilfe: Prävention und Kompensation 1. Katastrophenhilfe
als (kurzfristige)
Prävention
Katastrophen, die sich abzeichnen oder in vollem Gange sind, bringen dem Einzelnen zunächst einmal Gefahr. Hochwasser z.B. gefährdet Leben, Gesundheit, Habe. Die Abwehr (Prävention) der Gefahr kann langfristig erfolgt sein (z.B. die Organisation einer Feuerwehr, Bau von Dämmen) oder kurzfristig eintreten (Einsatz der Feuerwehr, improvisierte Deiche). Unter „Katastrophenhilfe" ist die kurzfristige Prävention zu verstehen. Sie kann Schäden selten gänzlich verhindern, aber doch oft verringern und begrenzen. Schadensbegrenzende, (präventive) Katastrophenhilfen, z.B. Feuerwehreinsätze, sind somit einerseits nur ein spezielles Teilgebiet allgemeiner Prävention. Andererseits ist „Schadensbegrenzung im Katastrophenfall" weiter auszulegen als unser Alltagsverständnis nahe legen mag: -
Schadensbegrenzung kann z.B. auch darin bestehen, dass man zur schnellen Instandsetzung einer vom Hochwasser zerstörten Fabrik Subventionen ausreicht, um den sozialen Schaden der Arbeitslosigkeit abzuwenden.7 Daß diese Subventionen den Fabriksbesitzer für erlittenen Hochwasserschaden kompensieren, ist ein Nebeneffekt, der unter dem Stichwort „Kompensation" weiter unten zu behandeln sein wird.
-
Überhaupt kann Schadensbegrenzung in der Verhinderung sozialer Folgeschäden bestehen, die der plötzliche Verlust von Vermögen und Einkommen (die Verarmung, zu unterscheiden vom Zustand der Armut) mit sich brächte. Um zu verhindern, dass der Geschädigte resigniert und fortan in immer tiefere Not absteigt, ist eine finanzielle Abfederung durchaus einem Feuerwehreinsatz zu vergleichen.
Nicht jede Abwehr von Schaden ist wirtschaftlich sinnvoll. Die Überflutung eines Gemüsebeets verursacht zweifellos Schaden, trotzdem lohnt es nicht, eigens zur Abwehr dieses Schadens mit hohem Einsatz einen Deich zu bauen. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Schadensbegrenzung wirtschaftlich sinnvoll ist, wird weiter unten unter dem Titel der primären Kosten in allgemeiner Weise zu behandeln sein („Learned-Hand-Kriterium"). 2. Katastrophenhilfe
als Schadenersatz (Kompensation)
Über die unmittelbare Schadensbegrenzung hinaus kann Katastrophenhilfe auch Schadenersatz (Kompensation) sein. Der Geschädigte könnte mit dem Scha-
7 Financial Times Deutschland, 21.8.2002: „Bundeswirtschaftsminister Müller hat Banken und Sparkassen aufgefordert, die Darlehensschulden der durch Hochwasser geschädigten Unternehmen zu erlassen [...] sofern dadurch das Weiterbestehen des Unternehmens gesichert werden kann ..
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den zwar allein fertigwerden, aber Grundsätze der Gerechtigkeit gemäß Rechtsanspruch, Schuld und Verdienst, Bedürfnissen 8, Grundsätze der Gleichheit9, der sozialen Wohlfahrt (Bentham: Das größte Glück der größten Zahl!) mögen es nahe legen, zugunsten der Geschädigten ein Solidaritätsopfer zu verlangen, welches natürlich, weil es nichts auf der Welt gratis gibt, die nicht Geschädigten, die „Anderen", die „Allgemeinheit" zu leisten haben10. Prävention und Kompensation sind Idealtypen. Sie sind im konkreten Fall schwer zu trennen. Auch Überbrückungshilfen, die den Verarmungsschock und soziale Folgeschäden verhindern sollen, haben einen kompensatorischen Effekt, und jede Kompensation mildert den unmittelbaren Verarmungsschock. Trotzdem lohnt es, im folgenden Prävention und Kompensation getrennt zu betrachten. V. Primäre, sekundäre und tertiäre Kosten von Katastrophen /. Primäre Kosten von Katastrophen im Vergleich zu Kosten der Schadensprävention Primäre Kosten von Katastrophen sind einerseits Heilungs- und Reparaturkosten, andererseits der Wert des zerstörten Unwiederbringlichen (menschliches Leben, Arbeitsplätze, Naturdenkmäler, Kunstwerke, wirtschaftlich nicht reparaturwürdige beschädigte Sachen, ausgefallene Produktionszeit), nicht-ungeschehen-zumachender Schmerzen. Wenn auch Katastrophenursachen wie Naturereignisse oft unabwendbar sein mögen, so sind doch die primären Kosten von Katastrophen fast immer beeinflussbar durch 1. aktive Gefahrenabwehr, z.B. durch vorausschauende Organisation von Feuerwehr, Bau von Deichen, Sicherheitsmerkmale von Gebäuden, 2. Einschränkung gefährlicher Aktivitäten (wie z.B. Abholzen von Schutzwäldern, Wildbachverbauung, soweit sie die Durchflussgeschwindigkeit von Gewässern erhöht) 3. Einschränkung gefährdeter Aktivitäten (wie z.B. Gebäude in Gefahrenzonen, Skifahren im lawinengefährdeten Gebiet).
8
Vgl. David Miller, Social Justice, Oxford 1976, S. 52-153. Vgl. Elizabeth Anderson, Consumer Sovereignty vs. Citizens Sovereignty. Some Errors in Neoclassical Welfare Economics, in: Herlinde Pauer-Studer/Herta Nagl-Docekal (Hg.) Freiheit, Gleichheit und Autonomie, Wien/Berlin 2003, S. 358-388. 10 Guido Calabresi, Die Entscheidung für oder gegen Unfälle: Ein Ansatz zur nichtverschuldensbezogenen Allokation von Kosten, in: HD. Assmann, C. Kirchner, E. Schanze (Hg.), Ökonomische Analyse des Rechts, KronbergHaunus 1978, S. 259-289, hier S. 260: „»Entschädigung' bedeutet als Zielsetzung nichts anderes als die Feststellung, dass es wünschenswert erscheint, anderen Personen die Kosten der Verletzung aufzuerlegen als dem Verletzten." 9
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Die Kosten möglicher Katastrophen zu senken, verursacht selbst Kosten. Sinnfällig sind die Kosten aktiver Gefahrenabwehr, es wird stets irgendetwas gebaut, organisiert, investiert. Aber auch Einschränkungen oder Unterlassungen verursachen sog. Opportunitätskosten. Wenn z.B. ein attraktives, doch leider lawinengefährdetes mögliches Wohngebiet nicht erschlossen wird, so entstehen diese Opportunitätskosten in Form des Verzichts auf eine wirtschaftliche Nutzung. Nicht um jeden Preis versucht man Katastrophenschäden zu vermeiden. Aktive Gefahrenabwehr hat wirtschaftliche Grenzen, gefährliche und gefährdete Aktivitäten finden statt. Nicht einmal menschliches Leben wird um jeden Preis geschützt, erst recht nicht Sachwerte. Um beim Beispiel des letzten Absatzes zu bleiben: Das potentielle Wohngebiet sei eben nur ein wenig lawinengefährdet, attraktive Alternativen seien nicht erkennbar. Also wird eben doch flächengewidmet und gebaut. Auch wenn es nach dem Lawinenabgang heißt „hier hätte niemals gebaut werden dürfen", so mag es doch im Vorhinein rational gewesen sein, diese Gefahr in Kauf zu nehmen. Für das Schadenersatzrecht hat 1947 der amerikanische Richter Learned Hand einen inzwischen vielzitierten Maßstab für die (eventuelles zivilrechtliches Verschulden begründende) Zumutbarkeit von Vorsichtsmaßnahmen formuliert: 11 Ist der mögliche Schaden S, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit ρ seines Eintretens, größer als die Kosten Κ der Gefahrenabwehr? - (S*p > K)?
Nur wenn S*p > K, sind Maßnahmen der Schadens Verhütung wirtschaftlich rational. Dieses „Learned-Hand-Kriterium" ist kein Freibrief für jegliche Unvorsichtigkeit zu Lasten Dritter, erinnert jedoch daran, dass wir kaum je das Maximum der denkbaren, technisch möglichen Sicherheitsvorkehrungen treffen, sondern vernünftigerweise den Zugewinn an Sicherheit mit den Kosten zusätzlicher Sicherheit vergleichen. Das gilt auch für Maßnahmen, die Katastrophenschäden verhindern oder mindern sollen. Das Learned-Hand-Kriterium markiert das unverzerrte 12 Gleichgewicht zwischen Vorsichtsmaßnahmen und SchadensInkaufnahme. Gleichgültig, ob die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe gut bekannt oder nur ein dunkles Ahnen ist - stets vergleichen wir in irgendeiner Weise den erwartbaren Schaden mit den Kosten seiner Vermeidung. Wir unternehmen (vernünftigerweise!) so gut wie niemals wirklich alles Denkbare, um alle Katastrophenschäden hintanzuhalten.
11 Richard A. Posner, Economic Analysis of Law, Boston/Toronto 19772, S. 122; Hans-Bernd Schäfer/Claus Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, Berlin/Heidelberg/New York 1986, S. 97; Robert Cooter/Thomas Ulen, Law and Economics, Ill./London 1988, S. 361. 12 „Unverzerrt" in dem Sinn, dass das Subjekt den Schaden, der es trifft, selbst zu tragen hat (casum sentit dominus) und seine Vorsichtsstrategie danach richtet. Wenn der Schaden in irgendeiner Weise, aus irgendeinem Grund, kompensiert wird, dann verschiebt sich der Gleichgewichtspunkt, weil das Subjekt zwar immer noch alle Kosten der Vorsicht zu tragen hat, aber nicht mehr die vollen primären Kosten eventuellen Schadens.
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Die primären Kosten sind sozusagen der „Schaden pur", der Einen oder auch viele trifft, ausgedrückt in Geldeinheiten. Der „Schaden pur" mag stets der gleiche sein, doch es ist nicht gleichgültig, wer es ist, den diese primären Kosten treffen oder treffen könnten - hier beginnt das Problem der sekundären Kosten. 2. Sekundäre Kosten von Katastrophen - Umverteilung? Am Haus des A sei ein Schaden von 10.000 € entstanden. Wenn der Schaden (= primäre Kosten) endgültig dem A verbliebe (casum sentit dominus), dann käme einerseits die empirisch feststellbare Tatsache in Betracht, dass A nun um 10.000 € ärmer ist, andererseits das nicht meßbare Verlustleid des A (entgangener subjektiver Nutzen, Wohlfahrtsverlust). Um A's Verlustleid einzuschätzen, nehmen wir an, dass A die 10.000 € umso leichter verschmerzt, je größer sein Einkommen ist, und zwar dermaßen, dass für A der Nutzen seines Einkommens unterproportional, etwa im Maß der Quadratwurzel wächst13. Wir nehmen an, dass A monatlich 2250 € , jährlich also 27.000 € verdient, und wir betrachten den Nutzen seines im Jahr des Schadens verbleibenden Resteinkommens nach Abzug seines Schadens. - Es gebe einen Β mit einem Jahreseinkommen von 36.000 € , und auch fur Β steige der Nutzen seines Jahreseinkommens im Maß der Quadratwurzel. A und Β seien eine kleine Gemeinschaft, und die Summe der (subjektiv empfundenen, angenommen: im Maß der Quadratwurzel des jährlichen Resteinkommens variierenden) Nutzen von A und Β sei die Wohlfahrt 14 dieser Gemeinschaft. Tabelle 1 „Casum sentit dominus" - keinerlei Umverteilung des Schadens Jahreseink. vor Schaden
Nutzen Jahreseink
A
€ 27.000
164,32
€10.000
€ 17.000
130,38
33,93
Β
€ 36.000
189,74
€0
€ 36.000
189,74
0,00
320,12
33,93
Wohlfahrt
13
primäre Kosten
Resteinkommen
Nutzen Resteinkommen Verlust
Das Maß gerade der Quadratwurzel ist vereinfachende Willkür. Die Zahlen sollen die Idee abnehmenden Grenznutzens illustrieren. Es findet sich z.B. bei Hans-Bernd Schäfer/Claus Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, Berlin/Heidelberg/New York 1986, S. 89. Zwischen abnehmendem Grenznutzen und Risikoscheu besteht ein anerkannter theoretischer Zusammenhang, vgl. Hai Varian, Grundzüge der MikroÖkonomik, München/Wien 19912, S. 200-210. 14 Der Begriff „Wohlfahrt" setzt voraus, dass man subjektiven Nutzen bzw. subjektives Leid von Menschen überhaupt vergleichen und verrechnen kann. Streng genommen ist das bei Geld ebenso unmöglich wie bei Zahnweh. Trotzdem stellt die Theorie, mit gebotener Vorsicht, Wohlfahrtserwägungen an, vgl. Hai Varian, Grundzüge der MikroÖkonomik, München/Wien 19912, S. 506 ff. 25 FS Ballestrem
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Durch die primären Kosten (den Schaden) von 10.000 € sinkt A's Resteinkommen um 37% von 27.000 € auf 17.000 € . Weil der Nutzen des Resteinkommens nur unterproportional, eben im Maß der Quadratwurzel steigt oder sinkt, sinkt A's Nutzen nur um 21%. (Man kann sich vorstellen, A müsse sich kräftig einschränken, doch seine vitalen Bedürfnisse könne er auch mit 17.000 € befriedigen, oder er nehme einen Kredit a u f . . . - aber da sei doch ein erheblicher Schaden.) Β hingegen ist überhaupt nicht betroffen. Bei Β fällt somit auch kein Wohlfahrtsverlustanteil an. Eine Entlastung des A, sodaß er nicht den gesamten Schaden tragen müsste, ginge in dieser kleinen Welt notwendigerweise zu Lasten des Β - keine Entlastung ist gratis, die primären Kosten verschwinden durch Umverteilung nicht! Ob eine solche Umverteilung sich begründen ließe im Sinn von Mitschuld, Haftung, Versicherung, „Verteilungsgerechtigkeit",.. .sei zunächst dahingestellt. Wir betrachten nur den Wohlfahrtseffekt, der sich daraus ergäbe, dass A und Β je die Hälfte des Schadens von 10.000 € tragen: Tabelle 2 Jeder trägt die Hälfte des Schadens Jahreseink. Nutzen vor Schaden Jahreseink.
primäre Kosten
Resteinkommen
Nutzen Resteinkommen
Verlust
A
€ 27.000
164,32
€ 5.000
€ 22.000
148,32
15,99
Β
€ 36.000
189,74
€ 5.000
€31.000
176,07
13,67
324,39
29,66
Wohlfahrt
Für A wäre diese Umverteilung eine bedeutende Entlastung, sein Nutzenverlust wäre nicht 33,93, sondern nur mehr 15,99. Bei Β entsteht ein Nutzenverlust von 13,67. - Niemals vergessend, dass wir es hier mit einem scheingenauen Kalkül, auf unsicherer theoretischer Grundlage, zu tun haben, vergleichen wir die Summe der Nutzenverluste in Tabellen 1 und 2 und bemerken, dass diese mit 29,66 bei hälftiger Aufteilung des Schadens geringer ist als wenn A den Schaden allein übernimmt (33,93). Dies deutet in die Richtung der Alltagsweisheit, dass geteiltes Leid halbes Leid ist. Wir bemerken auch (wie schon gesagt, mit gebotener Vorsicht gegenüber scheinexakten Zahlen!), dass trotz der hälftigen Aufteilung des Schadens der einkommensstärkere Β weniger Nutzen einbüßt als A. Das entspricht der Alltagserfahrung, dass normalerweise, d.h. falls nicht von krankhafter Habsucht geplagt, ein Reicherer den Verlust einer bestimmten Summe leichter verschmerzen kann als ein Ärmerer. Wann wird, wenn man so rechnet, die Summe der Nutzenverluste (Wohlfahtsverlust) minimal?
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Tabelle 3 Nivellierung: Minimale Summe der Wohlfahrtsverluste Jahreseink vor Schaden
Nutzen primäre JahresKosten eink.
Resteinkommen
Nutzen Resteinkomme η Verlust
A
€27.000
164,32
€ 500
€26.500
162,79
1,53
Β
€36.000
189,74
€9.500
€26.500
162,79
26,95
325,58
28,48
Wohlfahrt
Der Wohlfahrtsverlust erreicht sein rechnerisches Minimum, wenn durch die Aufteilung des Schadens die Resteinkommen nivelliert werden. Dieses erstaunliche Resultat erklärt sich aus der Annahme, dass A und Β dieselbe Nutzenfunktion (Quadratwurzel des Resteinkommens) haben. Daraus ergibt sich, dass die Wohlfahrt maximal wird, wenn der Nutzen des „letzten € " (Grenznutzen) für beide gleich ist, also bei nivelliertem Resteinkommen. Β wird für eine Aufteilung des Schadens nach Tabelle 3 schwerlich zu begeistern sein. Warum auch sollte dieser Schadensfall Anlaß einer Nivellierung sein, zumal wo es das Haus des A ist, das ursprünglich beschädigt wurde? Das Äußerste an Solidarität, wozu sich Β hinreißen ließe, wäre eine Aufteilung, wo A und Β nicht gleich viele € , sondern gleich viel Nutzen verlieren würden: Diese sähe so aus: Tabelle 4 Gleicher Nutzenverlust bei unterschiedlicher €-BeIastung Jahreseink. vor Schaden
Nutzen Jahreseink.
A
€27.000
164,32
€4.626
€22.375
149,58
14,74
Β
€36.000
189,74
€ 5.375
€30.626
175,00
14,74
324,58
29,47
Wohlfahrt
primäre Rest- Nutzen RestKosten einkommen einkommen Verlust
A und Β verlieren demgemäß je 14,74 Nutzen. Diese Aufteilung entspricht der Alltagsweisheit, dass der €-Betrag, den man bei gleichem seelischem Schmerz entbehren kann, für einen Wohlhabenderen höher ist als für einen Ärmeren. Der Wohlfahrtsverlust ist ein wenig höher als wenn die Einkommen mittels der Schadensaufteilung nivelliert würden. Tabelle 3 zeigt das Minimum des Wohlfahrtsverlusts an. Der Verlust liegt in Tab. 4 um 1 Nutzeneinheit höher, in Tab 2 um 1,18 und in Tab. 1 um 5,46 Nutzeneinheiten. Diese Differenzen nennen wir sekundäre Kosten.
25 :
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Sekundäre Kosten eines Schadens ist der Verlust an Wohlfahrt, der daraus entsteht, dass ein Schaden - aus welchen Gründen auch immer - nicht in wohlfahrtsschonendster Weise (nicht wohlfahrtsoptimal) verteilt wird: -
Sekundäre Kosten sind nicht in € , sondern in Nutzen- oder Wohlfahrtseinheiten auszudrücken.
-
Der Begriff sekundärer Kosten setzt voraus, dass man Nutzen intersubjektiv vergleicht und verrechnet. Das ist theoretisch fragwürdig, kann aber einer vernünftigen Praxis den Weg weisen.
Gemäß den oben gemachten Voraussetzungen (Einkommen von A und B, Nutzenfunktion des Jahreseinkommens gleich Quadratwurzel des Jahreseinkommens) sind die sekundären Kosten in Tabelle 3 gleich Null, da die einkommensnivellierende Aufteilung der primären Kosten das Wohlfahrtsoptimum ist. Andere Aufteilungen (Tabellen 4, 2 und 1) führen zu sekundären Schadenskosten von 1 bzw. 1,18 bzw. 5,4 Nutzeneinheiten. Sekundäre Kosten zeigen an, dass der Schaden (dessen primäre Kosten in € bereits feststehen) nicht wohlfahrtsoptimal aufgeteilt ist. Die bisherige Erklärung der sekundären Kosten ist extrem vereinfacht, weil sie nur auf die Nutzen des Resteinkommens abstellt. Sie vernachlässigt die Vergangenheit der Subjekte A und B: In Tabelle 3 hat Β dasselbe Resteinkommen wie A. Jedoch Β ist gewissermaßen Besseres gewöhnt als A. - Auch das zählt. - Der Mensch nimmt Veränderungen oft sogar stärker wahr als Zustände, z.B. Beschleunigung stärker als Geschwindigkeit, daher wohl auch Verarmung bzw. Verlust stärker als den Zustand der Armut. Selbst wenn ein garantiertes Mindesteinkommen Armut verhindern würde, könnte doch die schiere Veränderung des sozialen und wirtschaftlichen Status unerträglich sein, wenn die Kosten eines Schadens den Betroffenen von einem guten auf einen Minimum-Lebensstandard zurückwerfen. Sekundäre Kosten eines Unglücks sind in gleichem Maß die Veränderungen im sozialen und wirtschaftlichen Status der Betroffenen wie der eventuell resultierende Armutsstatus 15. Daraus ergibt sich, dass eine Umverteilung von Katastrophenschäden, die die sekundären Kosten geringhalten soll, sowohl den Endzustand der Wohlfahrt bzw. der Armut beachten muß, der nach einer Umverteilung erreicht wird (vgl. Tabellen 1 bis 4) als auch die Statusveränderung, die eine abrupte Entreicherung mit sich bringt. Um die sekundären Kosten eines Katastrophenschadens gering zu halten, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die sämtlich auf dem Prinzip des abnehmenden Grenznutzens beruhen: 15 Guido Calabresi , The Cost of Accidents - A Legal and Economic Analysis, New Haven/ London 1970, S. 45: „even if poverty were eliminated by a guaranteed minimum income, we would still find to severe those social and economic dislocations resulting from the fact that some unspread accident costs reduce people from a good to a minimum standard of living ...since the social and economic costs of unspread accident losses result as much from the change in social and economic status caused by the accident as from the actual economic condition in which the accident may leave people, no discussion defining the problem in terms of poverty alone is sufficient."
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1. Aufteilung auf Viele, personelle Spreizung des Schadens (loss spreading) begrenzt die Wohlfahrtsverluste, da den Einzelnen nur ein geringerer Betrag trifft. 16 2. zeitliche Spreizung, Verteilung eines Schadens über eine längere Periode hinweg, begrenzt den Wohlfahrtsverlust nach dem Prinzip „Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not". Dieses Prinzip liegt vielen Arten der Versicherung zugrunde. 3. relativ stärkere Belastung der Reicheren („deep pockets "). 17 Noch einmal sei daran erinnert, dass alle Wohlfahrts-Überlegungen von der intersubjektiven Vergleichbarkeit und Aufrechenbarkeit von Nutzen und Schaden ausgehen. Diese Vergleiche, so plausibel sie im Einzelfall auch sein mögen - wo der Reiche einen Schaden kaum bemerkt, welchen der Arme hingegen als Vernichtung empfindet - sind streng genommen nicht möglich. Das gilt auch fur die Umverteilung von Katastrophenschäden. Doch wenn man dieses methodische Problem der intersubjektiven Vergleichbarkeit angemessen im Auge behält, sind Überlegungen, wie man Katastrophenschäden umverteilt, um die Summe der Leiden zu mindern, durchaus ernst zu nehmen. 3. Tertiäre
Kosten von Katastrophen - Verwaltungskosten
Primäre Kosten ist der direkte Schaden, in € ausgedrückt. Sekundäre Kosten, in Nutzeneinheiten ausgedrückt, sind die (intersubjektive) Summe der Wohlfahrtsgewinne und -Verluste, welche dadurch entstehen, dass ein Schaden nicht wohlfahrtsoptimal verteilt wird. Tertiäre Kosten, wiederum in € ausgedrückt, sind die administrativen Kosten eines Schadens18, z.B. Verwaltungskosten der Schadenserfassung, Anwaltskosten, Verwaltungskosten von Entschädigungsverfahren, von Strafverfahren, von Spendenaktionen etc. Wenn jeder Betroffene seinen eigenen Schaden trägt {casum sentit dominus), sind die tertiären Kosten gering. Sobald der Schaden umverteilt wird, sei es durch Schadenersatzverfahren, sei es durch sozial motivierte Hilfsaktionen, sei es durch Versicherungsleistungen, wachsen die tertiären Kosten. VI. Schadensbegrenzung als Staatsaufgabe? Wie lässt sich begründen, dass nicht einfach jeder sich selbst der Nächste ist und selbst am besten weiß, wie er im Fall von Katastrophen Schaden abwehren
16
Vgl. z.B. Tabelle 2 mit Tabelle 1. Vgl. Tabelle 3. 18 Vgl. Guido Calabresi , The Cost of Accidents - A Legal and Economic Analysis, New Haven/ London 1970, S. 225. - Nicht undenkbar erscheint tertiärer Nutzen, der z.B. darin bestünde, dass Prominente sich anhand von Katastrophen als hilfreich und kompetent profilieren, dass die Katastrophen-Administration Arbeitsplätze schafft usw. 17
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kann und will? Wenn Schutz gratis wäre, möchte wohl ein jeder lieber geschützt sein als nicht geschützt sein. Jedoch nichts ist gratis, und so stellt sich das Problem der Kosten auch für den Staat. 1. Primäre Kosten - Degression der Kosten der Schadensabwehr, Trittbrettfahrerproblem Zugunsten gemeinschaftlicher (staatlicher) Prävention spricht, dass ihre Kosten im Verhältnis zu den ersparten primären Schäden steil degressiv sind. Z.B. kann eine effiziente Betriebsfeuerwehr ohne nennenswerte Kostenerhöhung auch den Schutz der umliegenden Ortschaft übernehmen, Analoges gilt für Lawinenschutz, für Abwehr von Hochwasserschäden etc. Dieser Kostenvorteil allein genügt jedoch nicht. David Hume schildert das Problem wie folgt: Es können wohl zwei Nachbarn sich vereinigen, um eine Wiese zu bewässern, die ihnen gehört. Für diese ist es leicht, sich wechselseitig zu kennen und jeder sieht unmittelbar, wenn er einen Teil der Arbeit ungetan lässt, so bedeutet dies die Vereitelung des ganzen Unternehmens. Dagegen ist es sehr schwer, ja unmöglich, dass tausend Personen in solcher Weise zu einer Handlung sich vereinigen. Es ist schon schwer, in einem so verwickelten Falle einen klaren und einheitlichen Plan festzustzellen, noch schwerer, ihn auszuführen; jeder wird einen Vorwand suchen, um sich von der Mühe und den Kosten zu befreien und die ganze Last den anderen aufzuhalsen. Die staatliche Gesellschaft hilft beiden Übelständen leicht ab. 19
Heute wird das Problem in der Literatur als das Trittbrettfahrerproblem bezeichnet20: Nichtzahler lassen sich nicht immer von den Vorteilen gemeinschaftlicher Aktivitäten wie Lawinenverbauung und Hochwasserschutz, Brandlöschung ausschließen. - Ist es zu rechtfertigen, nicht Zahlungswilligen einen Anteil an den Kosten gemeinschaftlicher Schadensabwehr zwangsweise aufzuerlegen - etwa in Form von Steuern? Wenn ein Zahlungsunwilliger vorbringt, er habe kein Interesse an gemeinschaftlichem Katastrophenschutz, so ist das im Prinzip kaum zu widerlegen. Er könnte ja subjektiv -
die Gefahr (Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe) geringschätzen,
-
die Wirksamkeit seiner individuellen Vorkehrungen hochschätzen,
-
seine eventuellen primären Schäden geringschätzen,
sodaß er (subjektiv) zu gemäß dem Learned-Hand-Kriterium seinen Kostenanteil an gemeinschaftlichen Präventionsmaßnahmen für zu hoch hält. Doch auch der
19 David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur ΠΙ, 2 (7). Die in Mitteleuropa weitverbreiteten Freiwilligen Feuerwehren sind allerdings ein Beispiel freiwilliger Zusammenarbeit. 20 James M. Buchanan, The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago/London 1975, S. 36f.; Hal Varian , Grundzüge der MikroÖkonomik, S. 552 ff.
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Verdacht liegt nahe, das Subjekt deklariere seine subjektiven Wahrscheinlichkeiten und seine Präferenzen falsch, um seiner anteiligen Zahlungspflicht zu entweichen. Wer als distanzierter und unparteiischer Beobachter - sozusagen in idealer philosophischer Position - über Ausmaß und (als Steuern zwangsweise umzulegende) Kosten gemeinschaftlichen Katastrophenschutzes nachsinnt, muß das eigentlich Subjektive -
wahrgenommene Gefahren,
-
Vergleich der Wirkung individueller und gemeinschaftlicher Abwehrmaßnahmen,
-
Bewertung möglicher individueller Schäden (primärer Kosten)
zu objektivieren versuchen. Diese 3 Kriterien können Dimensionen sein, innerhalb derer staatlicher, steuerfinanzierter Katastrophenschutz zu rechtfertigen, von exotischer Unvorsichtigkeit oder paternalistischer Übervorsicht abzugrenzen ist. 2. Vermeidung sekundärer Kosten Beispiel: Eine Fabrik, der größte Arbeitgeber eines Ortes, wird durch Hochwasser zerstört. Wenn dieser Betrieb schlecht versichert ist, dann ist das nicht nur bedauerlich für die Eigentümer des Unternehmens, sondern eine Katastrophe für den Ort, zunächst für die, die ihren Arbeitsplatz verlieren (hohe sekundäre Kosten!), in der Folge auch für viele andere wegen des Ausfalls lokaler Kaufkraft. Eine private Neuinvestition scheide aus, weil der Betrieb einer von jenen vielen Betrieben sei, deren Weiterexistenz gerade noch wirtschaftlich sei, in die aber niemals freiwillig neu investiert würde. Eine mittelgroße Summe, einige Millionen € , sei erforderlich, um den Betrieb wieder in Gang zu bringen und dadurch hohe Folgeschäden von jenem Ort abzuwenden. Nicht also für die Eigentümer, jedoch in einem „ortswirtschaftlichen Gesamtkalkül" sei diese Investition zweckmäßig. Wer soll das bezahlen? Man kann sich leicht vorstellen, wie die Verhandlungen über dieses ortswirtschaftlich sinnvolle Projekt zu lange dauern und schließlich scheitern, nicht wegen Dummheit der Beteiligten, sondern weil es auch hier für jeden Beteiligten individuell rational ist, seine Präferenzen, sein wahres Interesse nicht vollständig einzubekennen. Eine gemeinschaftliche, evtl. steuerfinanzierte Hilfsaktion kann in solchen Fällen das einzige Mittel sein, um Sekundärschäden wie Arbeitslosigkeit schnell zu verhindern. 3. Tertiäre
Kosten - Transaktionskosten
Tertiäre Kosten sind die administrativen Kosten der Prävention und der Kompensation. - Die in Mitteleuropa weitverbreiteten Freiwilligen Feuerwehren sind ein erfreuliches freiwilliger, kostengünstiger Selbstorganisation. Persönliche Bekanntschaft der Mitglieder, gemeinsame Traditionen und vergangene Erfolge,
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informelle soziale Kontrolle (Auszeichnungen, Ehrungen, gute Nachrede) sind Grundlagen eines Zusammenwirkens auf Gegenseitigkeit über weite Ortsgrenzen hinweg. - Die gemeinschaftliche Abwehr von Katastrophengefahren muß also nicht unbedingt Staatsaufgabe sein. Das sog. Subsidiaritätsprinzip besagt, dass „dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf' 21 . Zwischen dem Subsidiaritätsprinzip und den sog. Transaktionskosten 22 besteht ein ökonomischer Zusammenhang. Was muß geschehen, damit Menschen sich freiwillig, unter Marktbedingungen zusammenschließen, wie finden sie zueinander, wie kommen sie zu einer Übereinkunft, wie kontrollieren sie, dass jeder seine Pflicht tut, was kommt dabei heraus und wie vergleicht sich das mit staatlich verordneter Zusammenarbeit? Wie groß und wie umfassend mag die optimale Organisation, sozusagen die „Firma Schadensbegrenzung" werden? 23 *
Inwieweit der Staat (Zentralstaat, Bund, Länder, Gemeinden) in der Begrenzung von Katastrophenschäden tätig sein sollte, hängt von 3 logisch aufeinanderfolgenden Fragen ab: 1. Lohnt sich Schadensbegrenzung überhaupt im Vergleich zur Hinnahme von Schäden (Richter Learned Hand Kriterium)? 2. Bietet gemeinsame Schadensbegrenzung Kostenvorteile gegenüber individueller Schadensbegrenzung (andernfalls sollte man die Schadensbegrenzung dem Einzelnen anheim stellen)? 3. Kann (Subsidiaritätsprinzip!) gemeinsame Schadensbegrenzung „unterhalb des Staates" organisiert werden? Soweit gemeinsames Tun wirtschaftlich sinnvoll ist und die Transaktionskosten hoch sind, ist staatlich organisierte Prävention von Katastrophenschäden auf der
21 Enzyklika Quadragesimo anno (1931), wonach Jedwede Gesellschaftstätigkeit ihrem Wesen und ihrem Begriffe nach subsidiär ist" und zitiert nach Johannes Messner, Das Naturrecht, Berlin 1984, S. 295. 22 Ronald Coase, Das Problem der sozialen Kosten, in: HD. Assmann/C. Kirchner!E. Schanze (Hg.), Ökonomische Analyse des Rechts, Kronberg/Taunus 1978, S. 146-202, hier S. 164: „Um eine Markttransaktion durchzuführen, muß man herausfinden, mit wem man eine Übereinkunft erzielen will, muß man wissen lassen, dass und unter welchen Bedingungen man einen Abschluß sucht, muß man Verhandlungen führen, die zu einer Übereinkunft führen, muß man einen Vertrag schließen, die notwendigen Vorkehrungen treffen, um die Einhaltung der Vertragsbedingungen zu überwachen usw." - Transaktionskosten können den Wert „unendlich" annehmen, wenn eine Einigung auf kollektives Tun nach menschlichem Ermessen unmöglich ist. 23 Vgl. Ronald Coase, The Nature of the Firm, in: Economica 4 (1937) S. 386.
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niedersten erreichbaren Ebene staatlicher Organisation („Bund, Länder, Gemeinde") sinnvoll. V I I . Kompensation als Staatsaufgabe? Von Schadensabwehr (Prävention) zu unterscheiden ist die Entschädigung (Kompensation). Der Schaden als in Form primärer Kosten steht bereits fest. Auch die dringlichen Maßnahmen zur Vermeidung hoher sekundärer Kosten (Schnellhilfe) seien bereits abgewickelt, sodaß der Schadenersatz keine großen sozialen Effekte mehr hat. Der Geschädigte kann den Schaden ohne weiteres allein verkraften - aber natürlich ist ihm eine Entschädigung trostreich und willkommen. Soll das Staatsaufgabe sein? - Zwei Begründungen dafür scheinen denkbar: -
Staatshaftung;
-
„Solidarität", der Staat als Katastrophen-Zwangsversicherer. 1. Staatshaftung
Haftung kann auf Verschulden beruhen, setzt aber Verschulden nicht voraus. Für den Staat kommt zweifellos die jeweilige gesetzliche Amtshaftung nach positiven Rechtsnormen in Betracht. Gibt es darüber hinaus noch andere Gründe, dass der Staat Entschädigung leisten sollte? Man könnte davon ausgehen, dass der Staat die allerdings schwer fassbare „Allgemeinheit" im Guten und im Argen 24 repräsentiert. So könnte es auch sein, dass eine Veränderung der Landschaft, etwa ein Speichersee, insgesamt der Allgemeinheit nützt, jedoch eine Gefahrenerhöung für Siedlungsgebiete bringt, die vorher völlig hochwassersicher waren. Die „Ureinwohner" (also nicht die, die nach dem Bau des Speichersees zugezogen sind und die Gefahr schon hätten berücksichtigen können) würden nun eines Tages wirklich durch Hochwasser geschädigt. Hier lässt es sich wohl rechtfertigen, dass der Staat, wenn andere Haftende nicht gefunden werden können, Entschädigung übernimmt. 2. Solidarität - Der Staat als Katastrophen-Zwangsversicherer Gut klingt: Alle Einwohner des Staats (wie erinnerlich, in allen Ausprägungen von Bund, Land, Gemeinde, ...) seien eine solidarische Schicksalsgemeinschaft.
24 Selbst wenn es dafür keine positiven Rechtsnormen gibt, ist der Staat de facto zuweilen Repräsentant irgendeiner Allgemeinheit oder Schicksalsgemeinschaft, z.B. beim sog. „Lastenausgleich" im Deutschland nach 1945. - Wie anders könnte man begründen, dass die Republik Österreich, die nach herrschender Lehre 1938 bis 1945 gar nicht existierte, in durchaus vernünftiger Weise die Opfer der NS-Herrschaft (auf dem damaligen Gebiet der damals nichtexistenten Republik) zu entschädigen versucht, vgl. dazu: Jabloner u.a. (Hg.), Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich, Wien/München 2003.
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Wirtschaftlich relevant ist: Die Einwohner zahlen Steuern; aus diesen Steuermitteln werden unter anderem Katastrophenentschädigungen gezahlt, die wohl jeder Betroffene gerne annimmt, zumal da er sie selbst mitfinanziert hat. Da Steuern nicht freiwillig gezahlt werden, ist diese Art der Entschädigung wirtschaftlich gesehen eine Zwangsversicherung. 25 Versichern beruhigt, das gilt auch für Zwangsversicherungen. Versichern verleitet aber leider auch, höhere primäre Kosten in Kauf zu nehmen. Wer nicht versichert, aber (annähernd) rational ist, strebt im Sinn des Learned-Hand-Kriteriums nach einem Gleichgewicht zwischen den Kosten der Schadensvermeidung (durch Sicherheitsmaßnahmen oder durch Verzicht auf Gefährliches) und den wahrscheinlichen primären Kosten eines Schadens. Dieses Gleichgewicht ist für das einzelne Subjekt ein Optimum 26 - Nach Abschluß des Versicherungsvertrags, bzw. im Zustand der Zwangsversicherung, weicht das Subjekt im Eigeninteresse von diesem Optimum ab. Es vernachlässigt Sicherheitsvorkehrungen, steigert riskante Aktivitäten, weil für den Schaden nun der Versicherer, für die Vorsichtsmaßnahmen das Subjekt selbst aufkommt. - Dieses individuell-rationale Verhalten nennt ist das „moralische Risiko" {moral hazard) 21. Wie hoch dieses moralische Risiko ist, hängt vom Grad der Risikogerechtigkeit der Versicherung ab. Eine Versicherung ist umso risikogerechter, je genauer das, was der Versicherte wahrscheinlich (als Versicherungsleistung) herausbekommt, dem entspricht, was er einzahlt (als Prämie, excl. Verwaltungskosten) Versicherungsprämie = (Wahrscheinlichkeit
einer Auszahlung * voraussichtliche
Höhe der Auszahlung)
+ Verwaltungskosten.
Im Idealfall reagiert die vollkommen risikogerechte Versicherung seismographisch genau auf das jeweils aktuelle Schadensvermeidungsverhalten des Versicherten. Sie erkennt das Nachlassen der Vorsicht nach Abschluß der Versicherung 28 ebenso wie gesteigerte Vorsicht und passt die Prämien ohne Zeitverzöge-
25 E. Stoiber (Kanzlerkandidat bei den deutschen Bundestagswahlen 2002): „... Herr Bundeskanzler Sie haben versprochen, niemand solle nach der Flut materiell schlechter gestellt sein als vor der Flut [...] bei aller Anstrengung kann der Staat und staatliche Hilfe niemals eine Art Versicherung sein" (Vgl. Anm. 3. - Hervorhebung: TC). 26 Diese Aussage kann man theoretisch kritisieren: Das Subjekt sei über die Risiken schlecht informiert (... aber wer wäre besser informiert?), wisse nicht, was ihm frommt (... aber wer weiß es besser?),... 27 „Moral Hazard" vgl. R.Cooter/T.Ulen, Law and Economics, Glenview/Ill. 1988, S. 66. - H. Varian, Grundzüge der MikroÖkonomik, S. 570 ff. 28 Man stelle sich vor: Zunächst besichtigt der Versicherer eine Liegenschaft und anerkennt den guten Zustand der Schleusen und Entlastungsgerinne durch eine niedrige Prämie für die HochwasserVersicherung. Kaum ist die Tinte trocken unter dem Versicherungsvertrag, meint der Versicherte, er könne es sich nun leichter machen mit der Reinigung seiner Entlastungsgerinne ... Doch, halt! Der Versicherungsinspektor kehrt unerwartet ein, bemerkt mit Entsetzen das nun gestiegene Verklausungsrisiko, und erhöht die Prämie ... Man beachte: Während der ganzen Periode gab es kein Hochwasser, der vollkommene Versicherer bemerkt schon die Erhöhung der eventuellen Gefahr!
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rung an. Eine vollkommen risikogerechte Versicherung trüge kein moralisches Risiko. Ihr könnte es im Prinzip egal sein, ob der Versicherte übervorsichtig, vernünftig oder untervorsichtig ist, sie widerspiegelt das aktuelle Verhalten des Versicherten stets mit einer dazu passenden Versicherungsprämie. Die vollkommen risikogerechte Versicherung, gäbe es sie - es gibt sie in der Realität nicht - wäre auch der beste, weil der informierteste Risikoberater. Die Änderung der Versicherungsprämie, die mit der Änderung des Risikos einhergeht, wäre für den Versicherten ein überaus wertvolle Information. Er könnte daraus auch für die Zukunft einschätzen, wie riskant geplante Aktivitäten oder auch Unterlassungen wären und ob er sich das Risiko überhaupt leisten kann und leisten will. Wer einen Turm baut, sollte nicht nur an die reinen Baukosten denken29, sondern auch an die Kosten der Schadensminderung für den Fall von Naturereignissen30. Er sollte Versicherungsprämien in die Gesamtkosten der Aktivität (total costs of ownership) einkalkulieren. Die Aussicht auf Katastrophenhilfe, als „Versicherung" betrachtet, ist äußerst unvollkommen. Sie verzerrt im Prinzip das Optimum. 31 A baut in einem gefährdeten Gebiet und riskiert mit 2% Wahrscheinlichkeit in jedem Jahr 32 einen Schaden von 100.000 € . -
Bestünde keine Aussicht auf Katastrophenhilfe, so müsste A mindestens 4.000 € in die laufenden Kosten einkalkulieren bzw. zu noch etwas höheren Kosten versichern. Das heißt: A muß sich fragen, ob das Bauwerk auch dann noch wirtschaftlich ist, wenn zusätzlich zu den Baukosten noch 4.000 € hinzukommen. Es kann sich herausstellen, dass das Bauwerk, mit realistischen Versicherungskosten belastet, unwirtschaftlich ist.
-
Wenn aber Aussicht besteht, 50% des Schadens durch Katastrophenhilfe zu kompensieren, dann beläuft sich das persönliche Risiko im Jahresdurchschnitt nur auf2.000 € . Das macht für A das Bauen wirtschaftlicher, obwohl sich am Risiko nichts geändert hat. Die Differenz bezahlt der „Staat" bzw. bezahlt A selbst wieder in Form von Steuern.
Nun könnte man einwenden, dass Katastrophenhilfe nicht fix einkalkuliert werden kann, zumal da man nicht weiß, ob die Katastrophe auf ein Wahljahr fiele, wo die Regierung besonders spendabel wäre. Dieser Einwand ist ebenso triftig wie die Frage, ob eine Auto-Teilkaskoversicherung die Neigung zu riskantem Fahren erhöht. Vernünftig scheint die Annahme, dass sich der Mensch im Durchschnitt
29
Vgl. Lk 14,28. Vgl. Mt 7,26. 31 Beispiel: Versicherungsentschädigungen werden vo der Basis des Kreditzinsenzuschusses in Abzug gebracht (Leitfaden für die Abwicklung der Betrieblichen Hochwasserhilfe, (österr.) Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Wien 2002): Versichern wirkt sich also tendenziell staatszuschuß-mindernd aus. 32 Man könnte dabei an ein 50-Jahres Hochwasser denken. 30
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doch umso vorsichtiger verhält, je mehr vom Schaden er voraussichtlich selbst tragen muß. Eine dermaßen unvollkommene Versicherung hat erfahrungsgemäß auch eine Einschränkung der persönlichen Dispositionsfreiheit zur Folge. Betrachten wir das Bauen in lawinen- oder hochwassergefährdetem, aber nicht stark gefährdetem Gebiet. Natürlich, wenn ein Unglück passiert, hat jeder es schon zuvor gewusst, und den Perioden angeblichen bodenlosen lokalpolitischen Leichtsinns, wo hochgefährdetes Land als Baugebiet ausgewiesen wird, folgt eine populäre Mode ebenso sinnloser Bauverbote. Urplötzlich mag niemand mehr - insbesondere die Medien nicht - hinnehmen, dass Menschen zuerst leichtsinnig bauen und dann auf Kosten der Allgemeinheit Katastrophenhilfe kassieren 33. Sinnvoller wäre, daß in schwach gefährdetem Gebiet gebaut werden dürfte, eventuelle Katastrophenhilfe ausdrücklich ausgeschlossen wäre und der Bauherr, der das Risiko scheut34, auf den Abschluß einer seriös kalkulierten Versicherung verwiesen würde. Die Kompensation von Katastrophenschäden durch den Staat ist, ihrem wirtschaftlichen Effekt nach, eine Zwangsversicherung mit einer „Prämie", die nicht vom Verhalten des potentiellen Kompensationsempfängers abhängt und daher auch keine gesamtgesellschaftlich rationale ökonomische Steuerung des Verhaltens bewirkt, sondern die Katastrophenrisiken eher verschleiert als verdeutlicht. V I I I . Soll Katastrophenhilfe Staatsaufgabe sein? Jeder potentielle Empfanger staatlicher Hilfe ist als aktueller Steuerzahler auch Geber. Seine konkrete Lebenssituation nicht kennend, insbesondere nicht wissend, ob ihn jemals eine Katastrophe treffen wird - der Rawls'sche Schleier des Nichtwissens sei nicht gelüftet! - mag er sich fragen, welchen Institutionen staatlicher Katastrophenhilfe, der Prävention und/oder der Kompensation, er zustimmen soll. Für präventive staatliche Katastrophenhilfe, Feuerwehreinsätze etc., gilt das Learned-Hand-Kriterium: Soweit die Kosten geringer sind als der damit vermiedene Schaden, ist Prävention effizient. Inwieweit und auf welcher Ebene der Staat diese Prävention durchführen sollte, oder andere Gemeinschaften, oder jeder Gefährdete selbst, hängt von den Transaktionskosten ab und ist nach dem Subsidiaritätsprinzip zu beurteilen. Kompensatorische staatliche Katastrophenhilfe ist eine Art staatlicher ZwangsKaskoversicherung mit dem Effekt einer Umverteilung von denjenigen, die von einer Katastrophe betroffen sind, hin zu denen, die einen Katastrophenschaden
33 Calabresi , The Cost of accidents, S. 66 hält es für unvermeidlich, daß, je mehr die Gesellschaft alle Schäden auf alle verteilt (the more society moves towards total loss spreading), desto mehr menschliches Verhalten staatlicherseits geboten oder verboten werden muß und eine Art moralischer Qualität bekommt. 34 Risikoscheu ist allerdings nicht für jedermann vernünftig, vgl. H. Varian, Grundzüge der MikroÖkonomik, S. 207 ff.
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erlitten haben. Diese Umverteilung ist fragwürdig vom Standpunkt der Wirtschaftlichkeit, denn Zwangsversicherung ist an und für sich wenig effizient, weil sie einerseits das Risikobewusstsein einschläfert, risikogerechtere freiwillige Versicherungen verdrängt, andererseits freiheitsbeschränkende staatliche Zwangsmaßnahmen nahe legt - weil die Allgemeinheit ja nicht dulden kann, daß jeder auf Kosten der Allgemeinheit hohe Risiken eingeht. Kompensatorische staatliche Katastrophenhilfe ist aber auch fragwürdig vom Standpunkt der Gerechtigkeit: -
Da nichts getauscht wird, kann sie kaum durch Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) legitimiert sein.
-
Da kein Verdienst darin liegt, katastrophengeschädigt zu sein, hilft die Maxime „Jedem nach seinem Verdienst" ebenfalls nicht weiter.
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„Jedem nach seinem Bedürfiiis" ist ebenfalls nicht anwendbar, denn kompensatorische staatliche Katastrophenhilfe bedeutet nicht eine Umverteilung „von den Reichen zu den Bedürftigen".
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„Jedem gemäß seinen Verlusten" wäre zwar kein anerkannter Topos distributiver Gerechtigkeit, entspräche aber einer solidarischen Gesinnung, einer ehrenwerten Maxime privater Hilfsbereitschaft. Bei steuerfinanzierter kompensatorischer Katastrophenhilfe stellt sich jedoch die Frage der Gleichbehandlung: Warum sollte der Staat - also der Steuerzahler - sensationelles, geballtes, medienwirksames Unglück eher kompensieren als unauffälliges, individuelles, medialer Sensationsberichte weniger gewürdigtes Unglück?
Daher sollte sich kompensatorische staatliche Katastrophenhilfe nicht immer mehr von politischem Aktionismus zur berechenbaren und beanspruchbaren paternalistischen Institution verfestigen. Den gegenwärtig üblichen humanitär-politischen Aktionismus („Naturkatastrophe als Wahlschlager") sollte man auch nicht gänzlich ablehnen. Natürlich sollte eine zivilisierte Gesellschaft, subsidiär also auch der Staat, stets den wirklich Bedürftigen helfen. Freilich: Woher will man schnellstens wissen, welcher Katastrophengeschädigte „wirklich bedürftig" ist? Man weiß es eben nicht. Selbst wenn man die rein materiellen Verhältnisse des Geschädigten kennte, wüsste man noch nichts über die viel wichtigeren höchstpersönlichen Ressourcen (Energie, Spannkraft, Intelligenz), mit Hilfe derer der Geschädigte die Katastrophe bewältigen kann. Dieses Nichtwissens eingedenk, sind als staatliche Katastrophenhilfe wohl am ehesten Kredite sinnvoll, welche die Frist verlängern, innerhalb derer sich herausstellen kann, wer wirklich dauerhafter Hilfe bedürftig ist.
Bomben auf Bali Zur Ethik des Zusammenlebens pluraler Gesellschaften Von Franz Magnis-Suseno SJ Gegen 20 Uhr 45 am 12. Oktober 2002 explodieren auf der indonesischen Insel Bali fast gleichzeitig drei Bomben. Eine, die wenig Schaden anrichtet, vor dem amerikanischen Konsulat in der Provinzhauptstadt Denpasar, zwei auf dem Gelände des Sari-Klubs im Touristenzentrum Kuta. Eine davon, eine Mammutbombe, reißt einen zwei Meter tiefen Krater in den Straßenboden. Mindestens 202 Menschen kommen ums Leben. Inzwischen1 steht der größte Teil der in den Anschlag Verwickelten vor Gericht. Es sind muslimische Extremisten, die nach eigenem Beteuern das Attentat als Djihad gegen die Amerikaner inszeniert hatten. Heute bedauern sie, daß sie statt der intendierten US-Amerikaner vor allem Australier erwischt haben (von den mehr als 30 ebenfalls getöteten Indonesiern wird kaum gesprochen). Eine Woche danach, Samstag Nacht in Jakarta. Etwa 200 Studenten haben sich auf Einladung des islamischen Studentenverbanders PMII 2 zu einem „gemeinsamen Gebet der Religionen" im Garten eines vergammelten Hauses versammelt, um der Opfer des Anschlages zu gedenken. Ein Mädchen im islamischen Schleier sagt ein paar Worte, dann spricht ein Kiai, ein traditioneller Muslimlehrer, ein Gebet, danach trete ich als katholischer Priester zu einem freien Gebet - das ich, unter Vermeiden spezifisch christlicher Sprache, an „Gott" 3 richte - ans Mikrofon, gefolgt von einer buddhistischen Nonne. Alle halten brennende Kerzen in den Händen. Ein Kiai und NGO-Leiter hält eine Rede, in der er jeglichen Terror, auch unter islamischen Vorzeichen, verureilt und zu gegenseitiger Anerkennung und Bereitschaft, miteinander in Frieden zusammenzuleben, auffordert. An der Veranstaltung, einer unter vielen nach der Bali-Terrortat, ist einiges bemerkenswert. Erstens, daß sie stattfindet, obwohl zur gleichen Zeit 2000 km weiter östlich der Bürgerkrieg zwischen Christen und Muslimen (bisher fast 10.000 Tote auf beiden Seiten) noch weiterschwelt und obwohl fünf Stunden vorher indonesische Behörden den radikalen Islamführer Abubakar Bashir fest-
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Im Juni 2003 als dieser Artikel geschrieben wurde. Perhimpunan Mahasiswa Islam Indonesia, die Studentenorganisation der „traditionalistisch" ausgerichteten größten indonesischen Islamorganisation Nädlatul Ulama. 3 Das Wort „Allah" gebrauchen in Indonesien auch die Christen. 2
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genommen haben. Zweitens, daß die Initiative von Muslimen, und zwar Studenten ausgeht. Drittens, daß solche gemeinsame Gebete von Muslimen selbst im Rahmen von Bemühungen erfolgen, die nach dem 11. September 2001 begonnen wurden, um das öffentliche Bild des Islams nicht mehr nur von Extremisten bestimmen zu lassen. Indonesien ist ein typisches Beispiel für ein komplexes, in beinahe jeder Hinsicht extrem plurales Land, zum Zerreißen gestreckt zwischen immer noch starken Traditionen und ungebremster Modernisierung. Demokratie und Militärdiktatur, säkuläre Verfassung und islamische Scharia, extremer Reichtum einer gar nicht so kleinen Oberschicht und mühsamer Kampf ums tägliche Überleben der „gewöhnlichen" Bevölkerung, Nationalismus und Separatismus, Toleranz und äußerste Gewaltbereitschaft, gemäßigter und harter Islam, eine alles durchdringende Korruption, die schon den Zusammenbruch der Suhartowirtschaft verursacht hat und das indonesische Rechtssystem zu einer Farce macht, enorme wirtschaftliche und strategische Interessen des Auslands, und ideale Möglichkeiten des Unterschlupfes für alle Art Terroristen: Bomben auf Bali und gemeinsames Sühnegebet quer durch die Religionen kennzeichnen das Nach-Suharto Indonesien. Seit fünf Jahren bastelt die politische Elite des Landes am Aufbau eines demokratischen Staatswesens. Das ist die Situation, in der in Indonesien die Frage nach den Grundprinzipien politischer Gerechtigkeit - in Habermas' Formulierung die Frage, „welche Rechte sich freie und gleiche Personen gegenseitig einräumen müssen, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven und zwingenden Rechts regeln wollen" 4 - scharf kontrovers diskutiert wird. Angesichts dieser Situation fragen sich Indonesier konkret in Bezug auf ihr Land, „how is it possible for there to exist over a just and stable society of free and equal citizens, who remain profoundly divided by reasonable religious, philosophical, and moral doctrines ?" 5 Genau dieser Frage möchte ich in diesem Artikel am Fallbeispiel Indonesien nachgehen. Ich wähle Indonesien nicht nur, weil ich seit über 40 Jahren dort lebe und mich daher dort besser auskenne als anderswo, sondern auch deshalb, weil in Indonesien seit 80 Jahren ein Diskurs über grundlegende politische Gerechtigkeit auf hohem Niveau stattgefunden hat. Abgesehen vom Problem selbst, hängt dies auch damit zusammen, daß die Urväter der indonesischen Unabhängigkeitsbewegung hochgebildet und spezifisch an europäischer Philosophie und Geisteswissenschaften interessiert waren. Der unabhängige Kommunist Tan Malakka schleppte auf seinen Wanderungen im Exil eine ganze Privatbibliothek mit sich herum, in der alle großen Philosophen vertreten waren. Der spätere Vizpräsident Mohammad Hatta schrieb eine noch heute lesenswerte Einleitung in die griechische Philosophie. Und Sukarno, Indonesiens erster Präsident, zitierte Thomas Jefferson, Ernest Renan und Otto Bauer auswendig im Urtext.
4 Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1996, S. 92. 5 John Rawls , Political Liberalism, New York 1993, S. 4.
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Im ersten Teil stelle ich den Gerechtigkeitsdiskurs in Indonesien in den letzten 80 Jahren dar. Dabei beschränke ich mich auf die beiden Hauptprobleme, die in diesem Diskurs zur Sprache kamen: Die Frage der Demokratie und die Frage der Beziehung zwischen Staat und Islam. Eine dritte, weniger prominent geführte Kontroverse, die ebenfalls bis heute noch weiter geht, nämlich, ob die indonesische Wirtschaft eher marktwirtschaftlich oder eher etatistisch, mit besonderem Gewicht auf Genossenschaften, organisiert werden sollte, lasse ich beiseite. Im zweiten Teil untersuche ich, wie die eine Frage, über die bisher kein Konsens erzielt werden konnte, nämlich ob die islamische Scharia als staatliches Recht gesetzt werden soll, einer Lösung zugeführt werden könnte. I. 80 Jahre indonesischer Gerechtigkeitsdiskurs Die Frage, wie ein von den Holländern befreites Indonesien aussehen sollte, wurde seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts diskutiert, und auch nach der Proklamation der Unabhängigkeit im Jahr 1945 und deren Anerkennung durch die Holländer 1949 ging dieser Diskurs bis heute weiter. Dabei gab es drei Perioden, in der die Frage der politischen Grundstruktur Indonesiens besonders intensiv diskutiert wurde. Die erste ging von Ende Mai 1945 (als eine von den Japanern eingesetzte Kommission zur Vorbereitung der indonesischen Unabhängigkeit unter Führung von Sukarno sich an die Ausarbeitung einer Verfassung machte) bis zum 18. August 1945, dem Tag nach der Proklamation der indonesischen Unabhängigkeit durch Sukarno und Hatta in Jakarta, an dem die von der Kommission erarbeitete Verfassung ratifiziert wurde (die sog. „Verfassung von 1945"). Die zweite ging von 1956 bis 1959; es war die Zeit der Beratungen der 1955 in freien Wahlen gewählten „Konstituante", die eine endgültige Verfassung für Indonesien ausarbeiten sollte. Die dritte begann mit dem Zusammenbruch des Suhartoregimes im Mai 1998 und ist bis heute in vollem Gange. 1. Die zwei grundsätzlichen Fragen Darüber, daß ein freies Indonesien demokratisch sein müsse, bestand, in dieser Allgemeinheit formuliert, natürlich nie ein Zweifel unter den jungen Intellektuellen, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts von einem freien Indonesien träumten. Aber schon in den zwanziger Jahren zeichneten sich spätere Kontroversen ab. So zum Beispiel über die Bedeutung der traditionellen „Dorfdemokratie". Mohammad Hatta, später erster Vizepräsident und „der" Demokrat des neuen Indonesiens, konzidierte zwar, daß diese Tradition bei der Herausbildung moderner demokratischer Einstellungen der Indonesier eine Rolle spielen könnte, ließ aber keinen Zweifel, daß es zur „westlichen Demokratie" keine Alternative gäbe (wobei er zugleich kritisierte, daß diese, in der Tradition der Französischen Revolution, sich nur aufs Politische beschränkt, die Wirtschaft aber dem Kapitalismus überlassen
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habe, was in der Folge auch die politische Demokratie aushöhlen müsse).6 Bei Sukarno, der später den Versuch Indonesiens, eine westliche Demokratie zu errichten, als Irrweg ansah, herrschte eine antikapitalistische Rhetorik vor. 7 In aller Schärfe brach die Debatte um die grundlegende politische Ordnung des zukünftigen Indonesiens in der im Mai 1945 von den Japanern eingesetzten „Kommission zur Vorbereitung der Unabhängigkeit" aus. Am 29. Mai plädierte der Staatsrechtler Supomo in einer großen Rede für ein „indonesisches integralistisches Staatsmodel". Sich auf Spinoza, Adam Müller und Hegel berufend, und peinlicherweise auch unter positiver Bezugnahme auf das japanische und das nationalsozialistische politische System, lehnte Supomo nicht nur das kommunistische Staatssystem ab, sondern auch das System westlicher „parlamentarischer Demokratie" mit ihren gegen den Staat gerichteten individuellen Freiheitsrechten und der Gewaltenteilung, das vom Gegensatz von Volk und Regierung, Individuum und Staat ausgehe. Die „integralistische Idee des indonesischen Volkes" kenne keinen solchen Dualismus, Indonesier empfanden Volk und Führung, Individuum und Staat als „eine organische Einheit". 8 Supomos Rede wurde damals wenig beachtet. Sie lag nicht im Trend des modernistischen Nationalismus. Außerdem wurde sie von einer viel dramatischeren Kontroverse verdrängt. Die islamistische Minderheit in der Kommission verlangte mit der Begründung, die große Mehrheit aller Indonesier gehörten dem Islam an,9 daß Indonesien auf den Islam zu gründen sei. Die ebenfalls fast hundertprozentig islamisch-nationalistisch gesinnte Mehrheit der Kommission wollte dagegen, daß Indonesien ein moderner säkularer Nationalstaat werden sollte. 10 In einer berühmten Rede am 1. Juni 11 schlug Sukarno als Kompromiss vor, den Staat
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„... nicht daß Indonesien, nachdem es seine Freiheit erlangt habe, in die Hände des Adels falle. In einem solchen freien Indonesien wäre dann das Volk nicht frei", Hatta (1932), Ke Arah Indonesia Merdeka, in: ders., Kumpulan Karangan, 1. Bd., Jakarta 1953, S. 78. 7 Zur Ablehnung westlicher Demokratie siehe etwa eine Rede vom 21.2. 1957, in: H. Feith/L. Castles (ed.), Indonesian Political Thinking 1945-1965, Ithaca-London 1970, S. 83ff.; zu Sukamos früher Auffassung siehe Demokrasi politik dan demokrasi ekonomi (1932), in: Sukarno, Di bawah benderà revolusi, 1. Bd. 1963-64, S. 171-176. In den 30-er Jahren war Sukarno auch stark von Lenins Was tun? und Staat und Revolution beeinflußt, siehe Mencapai Indonesia Merdeka (1933) wieder herausgegeben vom Yayasan Pendidikan Soekarno/Yayasan Idayu, Jakarta 1982. 8 Supomos Rede findet sich, auf Indonesisch, in: Muhammad Yamin, Naskah Persiapan UUD 1945, 1. Bd., Jakarta 1959; ein Teil der Rede ist ins Englische übersetzt in: Feith/Castles (Anm. 7), S. 188-192. 9 Im Jahre 2002 gehörten gut 85% der Bevölkerung Indonesiens dem Islam an, was bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 210 Millionen 183 Millionen entspricht. Etwa 10% der Bevölkerung sind christlich, davon ein Drittel katholisch, 2% sind die hinduistischen einheimischen Bewohner von Bali, die restlichen 3% verteilen sich auf Konftizianer, Buddhisten und Angehörige von Stammesreligionen. 1945 war bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 60 Millionen Menschen der Prozentsatz der Muslime und der Angehörigen von Stammesreligionen sicher noch höher. 10 Auch Supomo hatte sich in seiner Rede gegen einen Islamstaat mit dem Argument ausgesprochen, daß ein solcher die integrale Einheit der gesamten indonesischen Bevölkerung gefährden würde. Es ist fast immer das Einheitsargument, das in Indonesien ausschlaggebend ist. 11 Die wichtigsten Teile dieser Rede („ Lahirnya Pancasila ") finden sich in Feith/Castles (Anm. 7), S. 40-49.
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auf fünf (panca) Prinzipien (sila) zu basieren, die er Pancasila (ausgesprochen „Pantschasila") nannte, deren erstes der „Glaube an den einen Gott" war. 12 Obwohl Sukarno von allen Kommissionsmitgliedern begeisterten Beifall erhielt, wurden seine fünf Prinzipien in einer Kommission genauer bearbeitet. Die wichtigste Änderung wurde in der Sitzung vom 22. Juni beschlossen. Dort erreichte die islamistische Minderheit, daß das erste Prinzip, „Glaube an den einen Gott" um den Nebensatz „mit der Verpflichtung für Anhänger, die islamische Scharia zu halten" (später „die sieben Worte" genannt13) erweitert wurde. In dieser Formulierung, die als „Jakarta Charter" in die indonesische Geschichte einging, wurden die „fünf Prinzipien" in die Präambel des Verfassungsentwurfes aufgenommen. 14 Im Juli 1945 kam es bei der Frage der Aufnahme der demokratischen Freiheitsrechte in die Verfassung zu einer scharfen Kontroverse. Sukarno, unterstützt von Supomo, sprach sich dagegen aus, mit dem Argument, daß es in Indonesien um soziale und nicht um individuelle Gerechtigkeit ginge und daß eine Aufnahme der „Menschen- und Staatsbürgerrechte" nicht garantiere, daß das Volk genug zu essen bekäme. Dagegen bestand Hatta darauf, einer möglichen Entwicklung zu einem „Machtstaat" durch verfassungsmäßige Garantie der demokratischen Grundrechte einen Riegel vorzuschieben. 15 Am Ende wurden diese in einer abgeschwächten Form in den Verfassungsentwurf aufgenommen. Am 17. August 1945 proklamierten Sukarno und Hatta die indonesische Unabhängigkeit. Einen Tag darauf sollte die ausgearbeitete Verfassung verkündet werden. Aber in der Nacht davor passierte etwas, was inzwischen im indonesischen Geschichtsverständnis beinahe mythischen Charakter angenommen hat. Der für Ostindonesien zuständige japanische Admiral Maeda übermittelte Hatta eine Botschaft ostindonesischer Christen, daß sie sich Indonesien nicht anschließen würden, wenn in der Verfassungspräambel dem Islam eine Sonderstellung eingeräumt würde. Auf Drängen Hattas wurden daraufhin am folgenden Morgen die „sieben Worte" gestrichen und die fünf Prinzipien der Pancasila in der bis heute gültigen Form als Grundlage des indonesischen Staates in die Verfassung aufgenommen.16
12 Die vier anderen Prinzipien sind „gerechte und zivilisierte Menschlichkeit", „nationale Einheit", „Volkssouveränitat geleitet durch Weisheit und Konsens" und „soziale Gerechtigkeit". In Sukarnos Rede war „Glaube an den einen Gott" das fünfte Prinzip. 13 Ketuhanan, dengan kewajiban menjalankan syari'at bagi pemeluk-pemelukya. 14 Zur Entstehungsgeschichte der Pancasila s. A.M.W. Pranarka, Sejarah Pemikiran tentang Pancasila, Jakarta: Yayasan Proklamasi/CSIS 1985. 15 Nachzulesen in Moerdiono, Masalah dan Tantangan Mewujudkan Demokrasi dan Keadilan dalam Perspektif Pancasila dan UUD 1945, Sekretariat Negara R.I. (Staatssekretariat der Indonesischen Republik) 1988. 16 Diese sog. „Verfassung von 1945" wurde 1949 durch eine neue flir die mit den Holländern ausgehandelte „Bundesrepublik Indonesien" (Republik Indonesia Serikat) ersetzt, die wiederum nur nach einem halben Jahr durch die „Vorläufige Verfassung" des „Einheitsstaates Indonesien" (Undangundang Dasar Sementara Negara Kesatuan Republik Indonesia) ersetzt wurde. Diese, interessanterweise von Supomo ausgearbeitete Verfassung enthielt den vollen Menschenrechtskatalog der Erklärung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. Die Regierungsform war parlamentarisch
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Das Ergebnis dieser ersten Periode eines grundsätzlichen Gerechtigkeitsdiskurses brachte Entscheidendes für Indonesiens zukünftige Entwicklung. Die Ambivalenz der 1945er Verfassung zeigte, daß der Konflikt zwischen Integralisten und Demokraten nur aufgeschoben war. Das Erstaunliche aber ist, daß in Bezug auf die Stellung des Islams ein solider Konsens erzielt werden konnte. Die Annahme des Pancasila bedeutete zunächst, nach offizieller Sprachregelung, daß Indonesien „weder ein säkularer Staat noch ein Religions- (sprich: Islam-)staat" sein sollte. Der springende Punkt an diesem Formelkompromiß war jedoch, daß sich auch die Islamisten dafür ausgesprochen hatten, daß in dem neuen Indonesien alle Staatsbürger die selben Menschen- und Bürgerrechte, ungeachtet ihrer religiösen Einstellung, genießen sollten. Die Besprechungen machen deutlich, daß entscheidend, auch fur die Zustimmung der Islamisten, die Überlegung war, daß nur so die Einheit des religiös pluralen Indonesiens auf Dauer gesichert werden konnte, plus der moralischen Überzeugung, daß das indonesische Staatswesen nur gerecht sein könne, wenn alle einheimischen17 Indonesier darin gleichberechtigt seien. Bemerkenswert ist, daß dieses Nichtdiskriminierungsprinzip damals von keiner Seite angezweifelt wurde - und das, obwohl Christen vielfach mit den holländischen Kolonialisten in Verbindung gebracht wurden. 18 Noch bemerkenswerter ist, daß trotz mancher späterer Konflikte dieses Prinzip bis heute selbst von muslimischen „ Hardlinern " und Kämpfern für die Einführung der Scharia nie in Frage gestellt worden ist. 19 Obwohl Muslime in Geschichtsdialogen gern auf die Stellung der Christen und Juden in islamischen Staaten als dimmi , als „Schutzbefohlene" (als Beweis für die grundsätzliche religiöse Toleranz des Islams) verweisen, ist auch von indonesischen Islamisten niemals ein dimmi-Stüus als wün-
mit einem Ministerpräsidenten als Chef der Exekutive. In beide Verfassungen war dieselbe Pancasilaformel aufgenommen. 1959 löste Sukarno die Verfassungsgebende Versammlung auf und führte die Verfassung von 1945, die dem Präsidenten eine dominierende Stellung gab, wieder ein. Die schwache Sicherung der demokratischen Grundrechte ermöglichte es erst Sukarno, dann Suharto, diese praktisch zu unterdrücken. 1989, unter Präsident Habibie, wurde dieser Verfassung von 1945 ein umfassender Katalog von Menschenrechten angehängt. 2002 wurde der Verfassungstext vielfältig modifiziert, wodurch unter dem Strich eine beachtliche Verbesserung der demokratischen Verfassungselemente erreicht wurde. 17 Indonesisch „aseli"; gegenüber den, zum Teil schon seit Jahrhunderten ansässigen Chinesen blieb die Verfassungslage von Anfang an ambivalent. Einerseits sind sie volle Staatsbürger, u.a. mit aktivem und passivem Wahlrecht. Sowohl unter Sukarno als auch unter den Nachfolgern von Suharto waren und sind indonesische Chinesen Minister gewesen. Aber Präsident kann nur ein „orang Indonesia aseli" werden, ein „ursprünglicher Indonesier", worunter nach allgemeiner (aber nie gerichtlich geklärter) Auffassung Chinesen nicht fallen. Als später das Religionsministerium fünf Religionen „anerkannte" (Muslime, Protestanten, Katholiken, Hindus und Buddhisten) mußten die Chinesen, da Konfuzianismus nicht anerkannt war, bei den Buddhisten unterkommen. 18 Allerdings nahmen Christen führende Stellungen im Freiheitskampf ein. Der zweite Armeechef, General T.B. Simatupang, war Protestant. Die drei „Märtyrer" des Freiheitskampfes der Armee, Luftwaffe und Marine, Slamet Riyadi, Adi Sucipto und Yos Sudarso, die höchstrangigsten von im Kampf gefallenen Militärs, waren Katholiken. 19 S. Zunanto, et. al., Gerakan Militan Islam di Indonesia dan di Asia Tenggara, Jakarta 2003, S. 56-58.
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sehenswert für Nichtmuslime in Erwägung gezogen worden. Es gibt praktisch bis heute keine Stimme im indonesischen (islamischen) politischen und religiösen Spektrum, die nicht ohne Zögern dazu steht, daß Indonesien allen Indonesiern, einschließlich der Nicht-Muslime, in gleicher Weise gehört. Man darf sicher sagen, daß die Übereinkunft über Nichtdiskriminierung aus religiösen Gründen den entscheidenden „übergreifenden Konsens" darstellt, der es bis heute ermöglicht hat, daß die plurale Gesellschaft der indonesischen Inseln sich in einem Staat zusammengefmden konnte. Was jedoch nicht entschieden war, war die Frage der Scharia - von der ihre Anhänger, für die Nichtmuslime nicht wirklich beruhigend, immer betont haben, daß sie nur für Muslime gelten würde und daher die verfassungsmäßige Gleichberechtigung der Nichtmuslime nicht berühren würde. Die sieben Worte der Jakarta-Charter waren nicht vergessen. 2. Die Konstituante 1950, nachdem auch die ehemalige Kolonialmacht Holland die indonesische Unabhängigkeit anerkannt hatte, gab sich Indonesien eine „Vorläufige Verfassung", nach der Indonesien eine parlamentarische Demokratie wurde und auch die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen fast vollständig aufgenommen wurde. Dennoch kam Indonesien nicht zur Ruhe. Auch die ersten (und bis 1999 einzigen) freien Wahlen des Landes 1955 führten nicht zur erhofften Stabilisierung. Aus parallelen Wahlen ging eine Verfassungsmäßige Versammlung („Konstituante") hervor, die 1956 begann, an der Erstellung einer endgültigen Verfassung für Indonesien zu arbeiten. Sie erzielte beachtliche Ergebnisse. So wurde die Aufnahme von 19 Menschenrechten in die Verfassung beschlossen, 22 weitere hatten bereits die zuständige Kommission passiert und 13 weitere waren in Arbeit. 20 Der Streitpunkt, der nicht überwunden werden konnte, hing wiederum mit der Religion zusammen.21 Die gut 40% der Delegierten stellenden islamischen Parteien in der Konstituante forderten, daß die am 18. August 1945 gestrichenen „sieben Worte" wieder in die Pancasila eingefügt würden (die sog. „Pancasila Plus"). Der Antrag erhielt zwar keine Mehrheit, doch blockierte damit umgekehrt die islamistische
20 Siehe vor allem Adnan Buyung Nasution, The Aspiration for Constitutional Government in Indonesia. A Socio-legal Study of the Indonesian Konstituante 1956-1959, Dissertation Utrecht 1992. 21 Auch über die Formulierung des Rechts auf freie Religionsausübung wurde gestritten. Da die Formulierung von Artikel 18 der Erklärung der Vereinten Nationen keine Zweidrittelmehrheit erreichte - gegen Art. 18 wurde eingewandt, daß er den Religionswechsel ermuntere - , blieb es schließlich bei der nicht kontroversen, schwachen Formulierung des Paragraphen 29/2 der Verfassung von 1945: „Der Staat garantiert die Freiheit eines jeden Einwohners, seiner Religion anzugehören und die Freiheit des Gottesdienstes seiner Religion und seinem Glauben entsprechend."
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Minderheit die Annahme der neuen Verfassung. Inzwischen operierte die Konstituante immer mehr im luftleeren Raum. Sukarno einerseits und große Teile der Bevölkerung andererseits, vor allem auf Java (auf dem über 60% der indonesischen Bevölkerung leben), hatten den Parteienstreit und den ständigen Wechsel der parlamentarischen Regierungen satt. Es zeigte sich nun, daß Supomo mit seiner „integralistischen Staatsidee" nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt war. Als Sukarno das Patt der Konstituante benützte, um mit Unterstützung der drei großen, Java repräsentierenden Parteien der Nationalisten (PNI), traditionalistischen Muslime (NU) und der Kommunisten (PKI), aber gegen den Widerstand der vierten großen Partei, der modernistisch-islamischen, Sumatra repräsentierenden Masyumi, die Konstituante aufzulösen, zur Verfassung von 1945 zurückzukehren und eine „gelenkte Demokratie" („Demokrasi Terpimpin") einzuführen, stand die Mehrheit der Bevölkerung hinter ihm. Mit anderen Worten, Hatta (der 1956 aus Protest gegen Sukarnos beginnende Sabotage der demokratischen Staatsform sein Amt niedergelegt hatte) und die Demokraten hatten verloren, es war nicht gelungen, zu einem Konsens darüber zu gelangen, daß funktionierende demokratische Mechanismen wesentliche Elemente politischer Gerechtigkeit seien. Es folgten sieben Jahre „gelenkter Demokratie" unter Sukarno 22 und 32 Jahre sog. „Pancasila Demokratie" des General Suharto in der „parlamentarische Demokratie" und „Menschenrechte" zu Unworten gemacht wurden. Dabei beriefen sich sowohl Sukarno als Suharto darauf, daß „parlamentarische/liberale/westliche Demokratie" auf dem Individualismus basiere und dieser der indonesischen Gesellschaft mit ihrer Kultur der Zusammenarbeit (gotong royong, Sukarno) und der Familienwerte (kekeluargaan, Suharto) entgegengesetzt sei. Suharto befand sich dabei in Übereinstimmung mit Singapurs Lee Kuan-Yew und Malaysias Mahatir Muhammad, die ausgiebig „östliche Werte" bzw. „Familienkultur" bemühten, um ihre Regierungssysteme moralisch zu legitimieren. Die Pancasila selbst war unter Suharto Tabu, da sie zur Legitimierung des Systems der „Neuen Ordnung" verwendet wurde 23 , und daher wurde jede Bemühung, islamistische Elemente in die Politik einzubringen, mit unerbittlicher Härte geahndet. Pikanterweise holten etwa 1980 Ideologen des Suhartoregimes Supomos Integralismus-Rede wieder aus der Schublade, um dem Modell der „Neuen Ordnung" wieder mehr Legitimität zu
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Bekanntlich endeten sie, in der Folge eines mißlungenen Coups linker Kräfte im Oktober 1965, mit einem der größten Genozide der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert, dem Ende 1965 bis Anfang 1966 vermutlich mindestens eine halbe Million sog. Kommunisten zum Opfer fielen; (es gibt keine genauen Zahlen, während frühe Schätzungen, z.B. B.R.O'G Anderson/R. McVey, A Preliminary Analysis of The October 1, 1965 Coup in Indonesia, Ithaca, New York 1966, oder A. C. Brackman , The Communist Collapse In Indonesia, New York 1969, von mindestens 200.000 Toten sprechen, rechnet man jetzt mit obiger Zahl, vgl. z.B. Hermawan Sulistyo (Palu Arit di Ladang Tebu Sejarah Pembantaian Massai yang Terlupakan, Jakarta 2000), der im Gebiet von Kediri und Jombang exakte Untersuchungen durchgeführt hat. 23 Für eine exakte Analyse der ideologischen Verwendung der Pancasila unter Suharto siehe Franz Magnis-Suseno, Neue Schwingen für Garuda. Indonesien zwischen Tradition und Moderne, München 1989, S. 143-154.
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geben 2 4 (wobei Supomos Bezug auf Nazideutschland von Regimekritikern genüßlich als Gegenmunition benützt wurde 2 5 ). 3. Nach dem Sturz Suhartos Nach dem Sturz Suhartos verschwand der Integralismus spurlos von der B i l d fläche, niemand interessierte sich mehr für ihn. 2 6 Aber etwas viel Interessanteres zeigte sich: Die tiefe Skepsis eines Teiles Indonesiens, einschließlich der intellektuellen und politischen Eliten, gegenüber „westlicher Demokratie" war nach 40 Jahren autoritärer Regime wie weggeschmolzen. Abgesehen von einer kleinen Gruppe islamischer Extremfundamentalisten (auf die ich i m letzten T e i l zurückkomme) und sich i m Hintergrund haltender sog. „ vested interests " bejaht jetzt das gesamte politische und intellektuelle Spektrum Demokratie. Unter dem N o t präsidenten Burhanuddin Habibie fielen innerhalb von wenigen Wochen bislang uneinnehmbar scheinende antidemokratische Bastionen. Die demokratischen Grundfreiheiten wurden ohne Einschränkung in Kraft gesetzt, selbst das M i l i t ä r wagte es nicht zu bremsen - und trotz gewaltiger Probleme, die zum T e i l noch zugenommen haben, ist der demokratische Konsens bis heute ungebrochen. Hier hat nicht nur der Diskurs i m Untergrund, sondern vielleicht noch mehr die bittere langjährige Erfahrung zu einem Konsens in einer tief kulturell verwurzelten K o n troverse über ein grundlegendes Element politischer Gerechtigkeit geführt. 2 7
24 1988 lud mich Minister Moerdiono, Chef des Staatsskretariates, zu einem Vortrag über Supomos Integralismus ein. Überraschenderweise schickte er mir auch eine Fotokopie der ersten Ausgabe, in deutscher Druckschrift, von Adam Müllers Die Elemente der Staatskunst von 1809; da meine Beurteilung des Integralismus offenbar nicht mit seiner übereinstimmte, blieb es bei dieser Einladung. 25 Marsillam Simanjuntak, Pandangan Negara Integralistik. Sumber, Unsur, dan Riwayatnya dal am persiapan UUD 1945, Jakarta 1994. 26 Noch unter Suharto zeigte sich, daß abgesehen von den intellektuellen Chorführern des Suhartoregimes, die auf den Supomo-Integralismus als offizielle Staats-Ideologie zurückgriffen,unter Intellektuellen aller Richtungen Einigkeit darüber bestand, daß Indonesiens Zukunft nur durch eine demokratische Reform gesichert werden könne. Siehe dazu: S. Andreas Ufen, Herrschaflsfiguration und Demokratisierung in Indonesien. Entstehung, Entwicklung und Zerfall des Suharto-Regimes (19651999), Dissertation Hamburg 1999; D. E. Rammage, Ideological Discourse in the Indonesian New Order: State Ideology and the Beliefs of an Elite, Univ. of South Caroline Press 1993; Masykuri Abdillah, Responses of Indonesian Muslim Intellectuals to the Concept of Democracy (1966-1993), Hamburg 1997; Franz Magnis-Suseno, Mencari Sosok Demokrasi. Sebuah Telaah Filosofis („Auf der Suche nach der richtigen Demokratie. Eine philosophische Untersuchung"), Jakarta 1995 (wo der demokratische Diskurs Indonesiens ausführlicher dargestellt ist). Zu einem möglichen javanischen" kulturellen Hintergrund des Suhartoregimes siehe Franz Magnis-Suseno, Langsir Keprabon: New order leadership, Javanese culture and the prospects for democracy in Indonesia, in: Geoff Forrester , (ed.), Renewal or Chaos?, Singapore/Leiden: Institute of Southeast Asian Studies/KITLV, 1999, S. 214-228 und S. 239/40. 27 Hier sei dem Verfasser erlaubt, daraufhinzuweisen, daß trotzdem die indonesische Demokratie ihre Bewährungsprobe noch nicht bestanden hat. Gelingt es nicht, die grassierende Korruption in den Griff zu bekommen und die Menschen erfahren zu lassen, daß die Politik des Landes wirklich auf soziale Gerechtigkeit ausgerichtet ist (es sei an die Kontroverse Sukarno - Hatta erinnert), so könnten
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Zugleich ermöglichte die demokratische Öffnung nach dem Sturz Suhartos Islamisten es aber auch, die eine große Forderung in aller Härte wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen, die seit dem 18. August 1945 nicht verschwinden wollte: Die Forderung nach staatlicher Einfuhrung der Scharia für die indonesischen Muslime. Die „sieben Worte" der Jakarta Charter meldeten sich wieder. Wenn auch damit in der nächsten Zeit noch nicht zu rechnen ist - die beiden großen islamischen Organisationen, die Nadlatul Ulama und die Muhammadiah, haben beide eine staatliche Einführung der Scharia als nicht opportun zurückgewiesen - , so dürfte die Frage doch kaum verstummen. Außerdem versuchen islamistische Kräfte die Scharia sozusagen auf kaltem Wege über lokale Verordnungen in die Tat umzusetzen. Damit komme ich zum zweiten Teil meiner Ausführungen: Was könnte politische Philosophie zur Lösung der Frage beitragen? Wie ist ein Konsens in einer solchen Frage vorstellbar. Wenn die Überlegungen von Rawls, Habermas, Höffe, der Kommunitaristen und anderer überhaupt einen Sinn haben sollten, dann müßten sie sich bei der Beantwortung dieser Frage als brauchbar erweisen. II. Auf der Suche nach einer gerechten Lösung 1. Die Argumente Formulieren wir zunächst noch einmal das Problem. Zwei Auffassungen stehen sich in Indonesien diametral gegenüber. Die einen, eine Minderheit von nicht mehr als maximal 30 Prozent der indonesischen Bevölkerung (die, wie gesagt, zu 85% aus Muslimen besteht), verlangen die staatliche Einführung der Scharia für Muslime. Darunter verstehen sie, daß Verstöße gegen das islamische Recht, zum Beispiel was Bekleidung der Frauen oder Fasten angeht, staatlich geahndet werden sollten. Die Nicht-Muslime und eine Mehrheit von Muslimen lehnen die staatliche Sanktionierung der Scharia ab. Die Anhänger der Einführung der Scharia stützen sich im Wesentlichen auf drei Argumente. Erstens, die islamische Gemeinde sehne sich nach der Einführung der Scharia. Als große Mehrheit habe sie das Recht dazu, zumal die Scharia nicht für Nicht-Muslime vorgesehen sei. Zweitens beruhe die Ablehnung der staatlichen Sanktionierung der Scharia auf der Auffassung, daß Kirche und Staat getrennt sein müßten; diese Auffassung aber widerspreche dem Islam, wo Religion und Staat nicht getrennt werden könnten (din wa daulah). Drittens, und das ist das Hauptargument, ist die Scharia das von Gott definitiv der Menschheit gegebene Gesetz, daher ist der Mensch verpflichtet, es zu halten, außerdem gereicht es allen zum Vorteil, da Gehorsam gegenüber der Scharia ewige Glückseligkeit nach dem Tode garantiere.
diese schließlich das Interesse an Demokratie verlieren und statt dessen sich wieder nach der starken Hand sehnen.
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Von den Gegnern der Scharia wird erstens vorgebracht, daß deren flächendeckende Einführung der jahrhundertelangen Tradition des indonesischen Islam nicht entspricht. Zweitens, dass es auch ohne staatliche Sanktionierung jedem Muslim freistehe, nach der Scharia zu leben. Drittens, das Hauptargument, daß zumindest der moderne (das Wort „säkulare" wird vermieden) Staat nicht das Recht habe, seinen Bürgern ihr religiöses Verhalten vorzuschreiben, also auch nicht Muslimen, wie sie ihren Islam leben sollten. Das vierte Argument wird von Nichtmuslimen vorgebracht, nämlich daß es höchst unwahrscheinlich sei, daß die Einführung der Scharia die religiöse Freiheit der Nichtmuslime nicht beeinträchtigen werde. Beide Seiten argumentieren im Namen der Gerechtigkeit. Beide Auffassungen sind sich gegenseitig ausschließend. Welche Art von Überlegungen'bzw. Argumentationen könnten möglicherweise zu einem Konsens führen? Ich gehe dabei davon aus, daß beide Seiten eine gerechte rechtliche Grundordnung erstreben, aber entgegengesetzter Ansicht darüber sind, worin eine solche besteht. Wie könnte da nun ein Konsens darüber, was gerecht ist, zustande kommen? Es ist also genau die Situation, die Rawls und Habermas im Auge haben. 2. Rawls und Habermas Um die Problematik der Konsenssuche in den Griff zu bekommen, möge man mir verzeihen, daß ich mit Rawls' Theorie der Gerechtigkeit (die ich der Einfachheit halber „Rawls I" nenne) beginne und Überlegungen bringe, die, seit sie von Sandel, Charles Taylor und anderen vor über 20 Jahren vorgebracht wurden, nichts Neues mehr enthalten.28 Es ist offensichtlich, daß die Rawls'sche Prozedur ungeeignet ist, den Konflikt zu lösen. Schon die entscheidende, dem „Urzustand" noch vorausliegende moralische Voraussetzung, daß gerecht ist, was fair ist (und es daher darum geht, eine Grundordnung zu konstruieren, deren Prinzipien optimal fair sind) akzeptieren die Islamisten nicht. Für sie ist diejenige Gesellschaftsordnung gerecht, die Gottes Ordnung entspricht, denn wenn sie Gottes Ordnung entspricht, ist sie gut für alle, und was gut für alle ist, ist auch gerecht, und, wenn man an die Lehre vom Himmel glaubt, auch das Vernünftigste. Man sage nun nicht, daß hier das Moralprinzip nicht auf den Begriff gebracht sei, daß es sich um eine heteronome Konzeption handle. Das mag oft so sein, muß es aber nicht. Für einen tiefgläubigen Menschen, der glücklich in seinem Glauben ist, ist Gottes Gesetz nichts von außen Auferlegtes, sondern der sichere Weg, um zum eigenen Selbst zu gelangen. Wenn der Mensch wirklich in jeder Hinsicht von Gott geschaffen ist, kann Gehorsam gegen-
28 M.J. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge/Mass. 1982. Von Charles Taylor siehe: Aneinander vorbei. Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/M., 1993, S. 103-130.
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über Gott niemals von sich selbst wegführen. Auch der Kern einer solchen Moral ist Autonomie. Die indonesische Situation ist also durch Konfrontation mehrerer „umfassender Konzeptionen" bestimmt, die auch bestimmen, was politisch gerecht ist. Nicht nur die Islamisten, sondern auch diejenigen Gruppen, die staatlichen Zwang in Sachen Scharia ablehnen, müssen nicht Rawls' Auffassung teilen, daß Gerechtigkeit nur durch Fairness bestimmt und diese dann in einem Urzustand über hochallgemeine Prinzipien konkretisiert werden muss. Sie können nämlich auch Gerechtigkeit mit bestimmen Vorstellungen einer „guten Gesellschaft" verbinden, die als solche für alle das Beste und in diesem Sinne fair ist. Indonesien bestätigt also die Kritik der Kommunitaristen an Rawls I. Kämen wir mit Habermas' diskursethischem Ansatz weiter? Habermas geht davon aus, daß vormals Unstrittiges strittig geworden ist. In Indonesien ist diese Situation zweifellos gegeben. Früher, in vormoderner Zeit, war es (vielleicht auch nicht ganz so) klar, wie eine „richtige", also gerechte Gesellschaftsordnung auszusehen hatte. Heute aber ist umstritten, was grundlegende politische Gerechtigkeit für das hoch plurale Indonesien bedeutet. Ein klarer Fall also für einen Habermas'sehen Diskurs. Aber hier passiert genau dasselbe, was auch bei Rawls passiert: Die Betroffenen spalten sich in solche, die bereit sind, in einen Diskurs einzusteigen, und solche, die es nicht sind. Wessen Gerechtigkeitsauffassung durch eine „umfassenden Weltanschauung" bestimmt ist, kann das Habermas'sehe Moralprinzip, intersubjektive Universalisierbarkeit, nicht akzeptieren. Habermas' Diskursethik setzt „post-metaphysisches" Denken bereits voraus. In pluralen Gesellschaften, jedenfalls in Indonesien, gibt es meistens Mitglieder, die sich hartnäckig weigern, metaphysisches Denken aufzugeben. Auch post-metaphysisches Denken ist ein Glaube und so steht Glaube gegen Glauben. Habermas' Diskursethik ist sogar noch unakzeptabler als die Rawls'sehe Konzeption, da Rawls' Fairneß-Auffassung substantiell und nicht nur formal ist und vermutlich irgendwie in den meisten religiösen Gerechtigkeitsauffassungen enthalten ist. Aber Habermas' Feststellung, daß „nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden können)" 29 , würde nicht nur bei indonesischen Islamisten basses Erstaunen auslösen. Bei Habermas kommt, wenn ich ihn recht verstehe, dazu, daß, anders als Rawls I, der Fairneß als moralische Tugend und Verpflichtung bereits voraussetzt, für Habermas die intersubjektive Universalisierbarkeit selbst das Moralprinzip ist. Nach ihm sind nur Normen, deren „Folgen und Nebenwirkungen ... von allen zwangslos akzeptiert werden können" gerecht. 30 Diese Auffassung ist selbst unter „nach-metaphysischen" Bedingungen wenig überzeugend und schon gar nicht für Mitglieder von Gemeinschaften mit „umfassenden Konzeptionen". Nicht daß für
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J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, S. 103. Ebd., S. 103.
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diese ein Diskurs nicht notwendig werden könnte. Aber dieser Diskurs konstituiert nicht, was gerecht ist, sondern ist ein Weg, um in Gemeinsamkeit, die ja in Indonesien selbst ein hoher Wert ist, herauszufinden, was man in Wirklichkeit gemeinsam hat. Es geht um Klärung, Anwendung, eventuell auch Weiterentwicklung jeweils vorhandener Gerechtigkeitsvorstellungen. Der Gedanke, eigentlich gerecht sei, was von allen Betroffenen in einem Diskurs akzeptiert werden kann, entbehrt innerer Plausibilität. Man wird sich, in unserem konkreten Fall, etwa darüber verständigen, daß soziale Gerechtigkeit gerade nicht gegen demokratische Mitspracherechte ausgespielt werden kann, daß Anerkennung von Freiheitsrechten nicht als Austarieren gegenseitiger Individualismusforderungen verstanden werden darf, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität ist, da immer die Schwachen, Unterdrückten, Minderheiten davon profitieren, 31 und daß der Islam die freie Religionsausübung anderer Religionen respektiere. Aber etwa anzuerkennen, daß eine Norm, die nicht die Zustimmung aller Betroffenen erzielen kann, nicht gerecht sein kann (das schließlich impliziert Habermas' Moralprinzip, und zwar, weil es nicht diese Zustimmung findet, und nicht bloß, weil das unfair wäre und Fairness immer ein Kennzeichen von Gerechtigkeit ist), ist in Indonesien kaum nachzuvollziehen.32 Offensichtlich sind die erreichten Konsense: Demokratie und Toleranz, nicht dadurch zustande gekommen, daß sich die verschiedenen Parteien zusammengesetzt und versucht haben, sozusagen von Grund auf herauszufinden, welche Gesellschaftsordnung wirklich gerecht ist. Vielmehr haben sie durch die Erfahrungen von Diktatur belehrt, sich auf eine politische Gerechtigkeit geeinigt, die für alle von ihnen akzeptabel war. Sie sind also von „umfassenden Konzeptionen" ausgegangen, haben sie gemeinsam reflektiert und gemeinsam zur Einsicht gekommen, daß Indonesien nur als tolerantes, demokratisches Land politische Gerechtigkeit ermöglicht. Das wurde dadurch erleichtert, daß die Pancasilaprinzipien eine tief
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Diesen Punkt stellen z.B. George Kateb , Democratic Individuality and the Meaning of Rights, in: N. Rosenblum (ed.), Liberalism and Multiculturalism, Cambridge/Mass. 1989, S. 183-205; und Judith N. Shklar , Injustice, Injury, and Inequality, in: F. Lucash (ed.), Justice and Equality Here and Now, Ithaca/London 1986, S. 13-33 heraus. M Ist nicht auch Kant falsch verstanden, wenn man sein Verallgemeinerungsprinzip als Moralprinzip ansieht? Ist Verallgemeinerungsfähigkeit der Grund, weshalb etwas moralisch verpflichtend ist, oder ist es (nur) ein Kennzeichen moralischer Verpflichtung? Ist nicht bei Kant der kategorische Imperativ eine Ausfaltung des Entscheidenden, nämlich des an und für sich guten Willens, und diesen macht Kant, allerdings verschämt, weil es mit seinem Formalismus nicht recht zusammenpaßt, am „Vernunftfaktum" fest? Daß man überhaupt moralisch handeln sollte - so sehr auch diese Frage als redundant, inhaltsleer erklärt wird - ist doch wohl eine dem kategorischen Imperativ vorausliegende Einsicht, die sittliche Grundeinsicht des Menschen in das Verpflichtetsein aufs absolut Gute. Dann aber kann Habermas' Universalisierungprinzip in der Tat die Weise sein, wie man in „nach-metaphysischer" Zeit, wenn traditionelle Moralvorstellungen und allzu simple Moralbehauptungen der Religionen ihre sittliche Evidenz verloren haben, findet, was gerecht ist. Aber es kann nicht ein Moralprinzip sein, daß den moralischen Verpflichtungscharakter, den Charakter der Norm als gerechter, begründet.
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verwurzelte Gemeinsamkeit in grundlegenden Dimensionen des Zusammenlebens offenbarten. Dieser Rawls'sche übergreifende Konsens war jedoch nicht im leeren Raum entstanden. Vielmehr waren die Verfassungsväter 1945 und sind die politischen Eliten seit 1998 mit neuzeitlicher westlicher politischer Ethik konfrontiert, die in der Nachfolge der Französischen Revolution die Gewährleistung der Menschenrechte (mit besonderer Betonung religiöser Toleranz und Freiheit der Religionsausübung) sowie eine demokratischer Staatsform als unabdingbare Elemente politischer Gerechtigkeit erforderten. Der Diskurs hat sich also nicht so abgespielt, daß die verschiedenen Parteien: Demokratieanhänger und -Skeptiker, Säkularisten und Islamisten, Gegner und Anhänger der Einführung der Scharia, jeweils ihre Auffassungen eingebracht haben und im Diskurs herausgefunden haben, daß sie sich - mit Ausnahme des Schariaproblems - auf eine Gerechtigkeitskonzeption (Nichtdiskriminierung, Demokratie) einigen konnten, weil diese ihren jeweiligen umfassenden Konzeptionen tatsächlich entspricht. Sondern die Demokraten und Vertreter religiöser Gleichberechtigung im Staat haben die Skeptiker davon überzeugt, daß nur Toleranz und Nichtdiskriminierung sowie Demokratie (ein langer Prozeß) „gerecht" bzw. sittlich akzeptabel sind. Dieser Prozeß entspricht, soweit ich sehe, ziemlich genau dem, was Rawls in seinem Buch Political Liberalism entwickelt hat („Rawls II"). Er ist mehr als eine pragmatische Weise, friedliches Zusammenleben zu ermöglichen (die selbst schon ein hohes, in Indonesien vergleichbaren Ländern kostbares, sittliches Gut darstellt). Sein Ergebnis ist eine moralische Einsicht: Demokratie und Toleranz sind sittlich gefordert. Diese Einsicht ist nicht einfach die Schnittmenge schon vorhandener moralischer Intuitionen, sondern ist eine neue, gemeinsame Einsicht, die dadurch möglich wurde, daß die Beteiligten ihre, in ihren jeweiligen umfassenden Konzeptionen enthaltenen moralischen Überzeugungen weiter entwickelten. Die demokratie-skeptischen „Nationalisten" etwa, indem sie lernten, daß soziale Gerechtigkeit nicht paternalistisch von oben verfügt werden kann, sondern Ermächtigung der Schwachen voraussetzt, was ohne politische Demokratie nicht zu haben ist. Die Islamisten dadurch, daß sie zur Einsicht kamen, daß die ihrer Auffassung nach im Islam immer schon bejahte religiöse Toleranz und Überzeugung, daß es „in der Religion keinen Zwang"gibt (Q. 2, 256), im heutigen Kontext die völlige Gleichstellung der Nicht-Muslime mit Muslimen erfordert. Diese Gerechtigkeitsauffassung ist primär gerade nicht prozedural, da sie in der Wertewelt der verschiedenen Beteiligten wurzelt. Sie kann aber insofern prozedural werden, als auf Grund der Akzeptanz von Demokratie und Toleranz zur weiteren konsensuellen Bestimmung politischer Gerechtigkeit der Diskurs aller Beteiligten der einzige sittlich akzeptable Weg ist. Demnach ist Diskurs durchaus der Ort, wo neue Einsichten in Gerechtigkeit erzielt werden können. Dabei ist der Diskurs nicht der moralische Grund für die Verbindlichkeit der neuen Einsicht, sondern der Weg, auf dem erkannt wird, was Gerechtigkeit heute fordert - Gerechtigkeit, die durch die eigene Konzeption immer schon sittlich gefordert wurde.
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Diskurs ist als ein Lernprozeß zu verstehen, in dem ein „Überlegungsgleichgewicht" erreicht wird. Habermas wirft nun Rawls II vor, er habe zu viel über Bord geworfen, wenn er als Ergebnis eines Diskurses sich mit einem übergreifenden Konsens zufrieden gibt, der zwar insofern vernünftig ist, als ihn alle annehmen können, andererseits aber keinen intrinsischen Wahrheitsanspruch erheben kann, obwohl Rawls immer noch an substantiellen Elementen einer Gerechtigkeitskonzeption festhalte. 33 Dieser Vorwurf stößt jedoch ins Leere. Einerseits ist der erreichte „übergreifende Konsens" aus den substantiellen Gerechtigkeitsauffassungen der Diskursteilnehmer entwickelt worden und hat zu einer neuen Einsicht gefuhrt, die die Teilnehmer trotz ihre pluralen Konzeptionen verbindet. Daß Toleranz und Demokratie nicht mehr verhandelbar sind, ist für sie sittlich wahr und nicht nur pragmatisch sinnvoll. Sie haben ja gerade im Diskurs herausgefunden, daß die Auffassungen von Gerechtigkeit, über die sie Übereinstimmung erzielt haben, tatsächlich gerecht sind, also moralische Wahrheit beanspruchen können. Sie sind moralisch wahr, weil sie Teil der jeweils als wahr geglaubten umfassenden Konzeption darstellen. Das sind dann sehr solide Gerechtigkeitsprinzipien. Andererseits stand der Diskurs immer schon vor der Herausforderung, daß das Ergebnis, der Konsens für ein demokratisches Staatswesen und religiöse Toleranz, von denen, die von beiden Elementen im Sinne einer modernen politischen Ethik bereits überzeugt waren, als unverhandelbar vorgebracht wurde. Menschenrechte stehen nicht zur Diskussion. Vielmehr mußte Überzeugungsarbeit geleistet werden - bei der Demokratie hat das etwa 50 Jahre gedauert - , damit schließlich alle Diskursteilnehmer einsahen, daß sie ihren eigenen Gerechtigkeitsüberzeugungen nur treu bleiben konnten, wenn sie sich auf Demokratie und Toleranz verpflichteten. 3. Diskurs mit Fundamentalisten? Wie schon dargestellt, ist ein Punkt in Indonesien bis heute umstritten: Die staatliche Sanktionierung der Scharia für indonesische Muslime. Wie stehen da die Chancen für eine konsensuelle Lösung, die ja nichts anderes bedeuten könnte als Verzicht auf Einführung der Scharia? Welche Rolle könnte da ein Diskurs spielen? Und wer würde an diesem Diskurs teilnehmen? Zunächst scheint ein Diskurs ausgeschlossen. Wenn das Hauptargument stimmt, daß die Scharia der von Gott den Menschen gewiesene Weg zu einem friedlichen, guten Leben aller Menschen auf Erden und zur Seligkeit im Himmel ist, dann gibt es nichts mehr zu diskutieren. Dann bestimmt die Scharia die gerechte Ordnung des Staates und der Gesellschaft. Das Argument, daß diese Auffassung auf einem starken, nicht universalen Glauben basiert, beeindruckt ihre Anhänger nicht im mindesten. Ihr Glaube ist eine „undiskutierbare umfassende Konzepti-
" Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1996, S. 65-94.
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on". 34 Wer die Scharia als die göttlich dekretierte Weltordnung ansieht, kann seine Forderung nach ihrer Einfuhrung weder durch Hinweis auf Menschenrechte noch auf die moralische Pflicht zur Fairness relativieren lassen. Außerdem sind fundamentalistische Anhänger der Scharia der Meinung, daß ein Scharia-geordnetes politisches Leben, eben weil es von Gott so bestimmt ist, objektiv für alle auch die besten Chancen auf ein gelingendes Leben bietet.35 Und dennoch bietet sich hier ein zweistufiger Diskurs an. Der erste Diskurs ist ein Selbstverständigungsdiskurs auf der Basis des islamischen Glaubens. NichtMuslime können nicht daran teilnehmen, jedenfalls nicht als gleichberechtigte Partizipanten (sie könnten durch Fragen und Hinweise die muslimischen Diskutanten auf Denkmöglichkeiten hinweisen). Diesen Diskurs initiieren Muslime, die die staatliche Sanktionierung der Scharia aus oben genannten Gründen befürworten. Wie im Demokratie- und Menschenrechte-Diskurs deren „Gläubige" die Skeptiker diskursiv davon überzeugt haben, daß politische Gerechtigkeit Demokratie und Gewährleistung der Menschenrechte erfordert, so versuchen diese die SchariaAnhänger davon zu überzeugen, daß einerseits eine staatliche Sanktionierung der Scharia keineswegs vom Islam gefordert ist, andererseits aber der Islam selbst immer einen Pluralismus in seiner Auslegung anerkannt habe - was allein schon durch die Existenz der vier im Sunni-Islam als gleichberechtigt akzeptierten Rechtsschulen bewiesen ist 36 - , und es daher vom Islam selbst geboten sei, Muslime nicht staatlich zu einer bestimmten Auffassung von Scharia zu verpflichten. Diese Argumentationsmöglichkeiten sollten nur zeigen, daß auch „undiskutierbare umfassende Weltanschauungen" einen Diskurs über politische Gerechtigkeit nicht unmöglich machen. Allerdings kann gerade deshalb, weil das, was „politische Gerechtigkeit heute" bedeutet, auf der Basis umfassender Weltanschauungen diskutiert wird, im Falle einer exklusiven Konzeption der Diskurs nur oder wenigstens am Anfang nur innerhalb derjenigen stattfinden, die diese Konzeption haben, wenn auch in verschiedenen Ausprägungen. Mit anderen Worten, wenn es sich um eine religiöse Konzeption handelt, ist ein theologischer Diskurs erforderlich.
34 „An unreasonable comprehensive conception", Rawls II; „unreasonable" übersetze ich mit „undiskutierbar" und nicht mit „unvernünftig"; Rawls meint mit „unreasonable", daß die betreffende Konzeption es nicht zuläßt, mit ihr und über sie, zu argumentieren („to reason"); aus der Frage, ob eine solche Konzeption vernünftig sein kann oder nicht, hält er sich ja gerade heraus. 35 Nach einer Diskussion über „Islam und Demokratie", 1995, in dem muslimische Redner erklärten, daß der Islam pro-Demokratie sei, überreichte mir ein freundlicher junger Mann ein Manuskript, das er selbst verfaßt hatte, offenbar unter dem Einfluß einer Lektüre von Maududi (Abdul A'la Al Maududi, 1903-1979, aus Pakistan, neben Sayyid Qutb der Ziehvater der heutigen islamischen Fundamentalisten), in dem er, ohne auch auf nur eines der von muslimischen Intellektuellen gebrauchten Argumente einzugehen, erklärte, es sei ein „fataler Fehler zu meinen, Demokratie sei Teil des Islams". Demokratie sei Erfindung menschlicher Vernunft, „im Islam aber sei die Scharia und nicht die Vernunft die Norm, an der man sich auszurichten habe." Eine solche Argumentation ist typisch für islamische Fundamentalisten. 36 In jedem Fall stellt sich bei staatlicher Sanktionierung der Scharia sofort die Frage, welcher der vier großen sunnitischen Rechtsschulen der Syafiiten, Hanbaliten, Malikiten und Hanafiten man folgen solle (indonesische Muslime sind fast ausnahmslos Syafiiten).
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Dann aber zeigt sich noch etwas: Nämlich daß auch ein Total-Fundamentalist sich einem solchen Diskurs nur schwer entziehen kann. Ich nenne einen „Totalfundamentalisten" jemanden, der erstens exakt und detailliert zu wissen glaubt, was Gott dekretiert hat, zweitens jegliche Möglichkeit unterschiedlicher Auslegung der heiligen Texte ablehnt, und drittens überzeugt ist, daß seine eigene Auslegung (die er nicht als Auslegung versteht) die einzig richtige ist. Selbst ein solcher Fundamentalist kann sich nicht guten Gewissens der Forderung entziehen, seine Positionen in einem Diskurs gegenüber Alternativen, die genau wie er sich auf die gemeinsam anerkannte Offenbarung stützen, zu rechtfertigen. Wir haben es also mit einem zweistufigen Diskurs zu tun. Im ersten überzeugen Anhänger der Demokratie, Menschenrechte, Nichtdiskriminierung und Freiheit der Religionsausübung die Skeptiker davon daß diese Positionen nicht verhandelbare Forderungen politischer Gerechtigkeit sind. In einem zweiten Diskurs versuchen Mitglieder einer Gemeinschaft mit starken umfassenden Konzeptionen, z.B. eine islamische Gemeinschaft, die bereits von Demokratie, Menschenrechten, religiöser Toleranz und Freiheit der Religionsausübung überzeugt sind, ihre mehr oder weniger fundamentalistisch-exklusiv eingestellten Glaubensgenossen davon zu überzeugen, daß diese Grundelemente politischer Gerechtigkeit nicht nur mit ihrem gemeinsamen Glauben, z.B. dem Islam, vereinbar sind, sondern im Gegenteil von ihm gefordert werden. Zusammenfassend hat sich ergeben, daß weder Rawls I noch ein Habermas'scher Diskurs geeignet sind, in hochpluralen Gesellschaften zu einem Konsens über grundlegende politische Gerechtigkeit zu führen. Die Kritik der Kommunitaristen an freistehenden Gerechtigkeitsvorstellungen rein prozeduraler Art gibt die Situation treffend wieder. Leider bieten sie aber keine Lösung an. Wenn Gerechtigkeitsvorstellungen eins zu eins mit den entsprechenden Weltbildern und Wertewelten verknüpft sind, dann ist der Versuch, eine solche plurale Gesellschaft auf der Basis einer für alle konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellung zu ordnen hoffnungslos. Dann bleibt nur noch der Polizeistaat. Diese Sackgasse überwindet Rawls II. Allerdings ist der in einem nach Rawls II vollzogenen Diskurs erreichte Konsens nicht einfach ein „übergreifender". Vielmehr haben sich die Vertreter einer modernen politischen Ethik diskursiv durchgesetzt. Man hat keinen Kompromiss erzielt, sondern die anderen Parteien sind im Diskurs zur Überzeugung gekommen, daß eine ethische Position, die sie früher wenig überzeugend oder gar unakzeptabel fanden, von ihnen zu akzeptieren ist. Wenn überhaupt, dann kommt Otfried Höffes Auffassung von politischer Gerechtigkeit mit den Menschenrechten als kategorischen Rechtsprinzipien der Sache am nächsten.37 Der Diskurs stellt sich dann so dar, daß Parteien, die noch in traditionellen Gerechtigkeitsvorstellungen befangen waren, diskursiv zu einem adäquateren Verständnis grundlegender
" Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt/M. 1987; ders. Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt/M. 1990.
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politischer Gerechtigkeit gelangen. Politische Ethik, zu deren Kernstücken Demokratie, Nichtdiskriminierung auf Grund religiöser Unterschiede und Freiheit der Religionsausübung gehören, ist dann nicht als Ethik des westlich-liberalen Kulturraumes zu relativieren (das gilt für Rawls Urzustand und Habermas' Verständnis des Universalisierungsprinzips als Moralprinzip), sondern die moralisch einzig akzeptable. Die Konzeption der Menschenrechte ist zwar aus den Bedingungen einer ganz bestimmten Kultur entstanden, auch was die sprachliche Formulierung angeht, aber was diese Konzeption ausdrückt, ist moralisch irreversibel. Hätte der Terroranschlag auf Bali verhindert werden können, wenn Amrozi, Imam Samudra und die anderen darin Verwickelten von überzeugten muslimischen Menschenrechtlern in einen Diskurs verwickelt worden wären? Die Frage selbst klingt im ersten Augenblick lächerlich. Wer aus ideologischen Gründen Bomben bastelt, hat im Allgemeinen längst die Bodenhaftung verloren. Sie sehen sich als kleine Minderheit der Erleuchteten inmitten einer Gemeinde, die blind und stumpf geworden ist. Für sie ist eine Diskussion mit „liberalen" Glaubensgenossen verlorene Zeit, ja solche Liberale sind die größte Gefahr für die Gemeinde, da sie deren Widerstand gegen das moderne Heidentum aushöhlen. Aber ganz so abwegig ist die Frage auch nicht. In indonesischen „liberalen" Muslimkreisen beginnt sich die Ansicht durchzusetzen, daß es für sie höchste Zeit ist, die „Fundamentalisten" in der eigenen Gemeinde in einen Diskurs zu verwickeln. So gibt es in Indonesien seit zwei Jahren ein „Netzwerk Liberaler Islam", der genau das tut. Auch muslimische Frauengruppen - es sind vor allem die Frauen, die unter der Einführung der Scharia zu leiden haben - melden sich mutig zu Wort. „Fundamentalismus" ist nichts Monolithisches. Tatsächlich ist der Gerechtigkeitsdiskurs unabdingbar. Er sollte von denen, die von Menschenrechten überzeugt sind, mutig und nicht relativistisch geführt werden. Es wäre irreführend, einen solchen Diskurs als einen Diskurs abqualifizieren zu wollen, der in Wirklichkeit ein Nicht-Diskurs und eine Indoktrination sei. Denn erstens versuchen in diesem Diskurs auch die anderen, ihre Partner zu überzeugen. Zweitens wird ausschließlich mit Argumenten gearbeitet. Und drittens ist auch die Position der „Menschenrechtler" offen in dem Sinn, daß sie sich scharfen Fragen der anderen Parteien stellen müssen, deren Beantwortung nicht vorgegeben, sondern offen ist und möglicherweise zu einer Veränderung in der Menschenrechtsposition führen könnte.38
38 Ein Beispiel dafür ist Artikel 18 der UN-Menschenrechtserklärung über Religionsfreiheit. Dessen sehr ausführliche Formulierung erweckt bei vielen Muslimen den Eindruck, er ermuntere zum Religionswechsel oder erkläre ihn zu einer Frage des individuellen Beliebens. Tatsächlich will er nur sagen, daß frei vollzogener Religionswechsel den Staat nichts angeht. Man darf vielleicht aus dem möglichen Mißverständnis schließen, daß dieser Artikel in dieser Form moralisch noch nicht als Menschenrecht anzusehen ist, da er in nicht-universalisierbarer Weise formuliert ist. Ein Diskurs mit Muslimen hätte dann zur Einsicht geführt, daß etwas, was als Menschenrecht angesehen wurde, es so in Wirklichkeit noch nicht und daher neu formuliert werden muß.
War der Irak-Krieg ein bellum iustuml Von Manfred Spieker I. Die bellum-iustum-Lehre auf dem Prüfstand Im Pro und Contra einer militärischen Intervention im Irak steht die Lehre vom gerechten Krieg erneut auf dem Prüfstand. Läßt sich ein Krieg gegen Saddam Hussein sittlich rechtfertigen? Ist die Lehre vom bellum iustum überhaupt tauglich zur Beantwortung dieser Frage? Schon in den Reaktionen auf die Terroranschläge von New York, Washington und Pennsylvania am 11. September 2001 stand die bellum-iustum-Lehre zur Debatte. In ihrem Manifest „What we're fighting for" vom Februar 2002 erklärten 59 amerikanische Politologen und Publizisten den Anti-Terror-Krieg zu einem ,just war". 1 Zu den Unterzeichnern des Manifests gehörten Samuel Huntington, Francis Fukuyama, Amitai Etzioni, Michael Walzer, aber auch zahlreiche prominente Katholiken wie Michael Novak, George Weigel, Mary Ann Glendon, Robert P. George und Robert Royal. Ihnen antworteten deutsche Intellektuelle, darunter Hans-Peter Dürr, Walter Jens, Dorothee Solle und Friedrich Schorlemmer: „Der Krieg der so genannten Anti-Terror-Allianz in Afghanistan ist kein gerechter Krieg' - ein unglückseliger historischer Begriff, den wir nicht akzeptieren". Der Anti-Terror-Krieg sei vielmehr ein geostrategischer Krieg zur Festigung der amerikanischen Hegemonie.2 Die Erklärung, ein bestimmter Begriff sei „historisch" oder „unglückselig" und man akzeptiere ihn nicht, war zwar kein Argument, das den Anforderungen eines rationalen Diskurses entsprach, aber auch als Bekenntnis markierte sie die gegensätzlichen Standpunkte. In der Debatte um den Krieg gegen Saddam Hussein war die Spaltung der Intellektuellen nicht weniger manifest. Während Richard Land, ein führender Vertreter der Südlichen Baptisten in den USA einen solchen Krieg für gerecht, ja für einen „Akt der christlichen Nächstenliebe" hielt, 3 nannte ein deutscher Philo-
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What we're fighting for, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2003, hrsg. von Karl Graf Ballestrem u. a., Stuttgart 2003, S. 223ff. Auszüge in: Blätter fìlr deutsche und internationale Politik (2002), S. 756flf. 2 „Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders aus" - Eine Antwort auf das Manifest „Gerechter Krieg gegen den Terror" vom 2.5.2002, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2002), S. 763ff. * Richard Land, Die Zeit ruft nach Gewalt, in: Rheinischer Merkur vom 13.2.2003. 27 FS Ballestrem
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soph einen solchen Begründungsversuch einen Rückfall ins Mittelalter. Die Renaissance der Lehre vom gerechten Krieg bedeute eine „moralische Aufrüstung gegen das geltende Völkerrecht". 4 Auch der seit 1. Oktober 2002 amtierende Präsident des Päpstlichen Rates Justitia et Pax, der im Oktober 2003 zum Kardinal ernannte Renato Martino, erklärte die bellum-iustum-Lehre für überholt. Er zog eine Parallele zur Todesstrafe, die im Katechismus der katholischen Kirche von 1993 zwar noch „in schwerwiegendsten Fällen" akzeptiert worden sei,5 von Papst Johannes Paul II. aber in seiner Enzyklika Evangelium Vitae 1995 für nicht mehr notwendig erklärt wurde. 6 Dies gelte auch, so Martino, für den Fall des Krieges. Die moderne Gesellschaft verfüge über die Mittel, um den Krieg zu vermeiden. 7 Welche Mittel dies sind, darauf ging Martino nicht ein. Hans Küng dagegen kannte diese Mittel. Er empfahl auf einem Kongreß der Bundeszentrale für politische Bildung am 6. März 2003 sein „Weltethos", das alle Religionen und Kulturen zum Dialog, zu Solidarität, Gewaltlosigkeit, Toleranz und Gleichberechtigung verpflichte. Er tadelte den „frommen Kriegstreiber Bush", daß er dieses Weltethos noch nicht zur Kenntnis genommen habe. Im Gegensatz zu Martino hielt er die bellum-iustum-Lehre aber nicht für obsolet. Sie sei entwickelt worden, um ungerechtfertigte Kriege zu verhindern. An ihr müsse sich die Politik von Bush messen lassen. Als Ergebnis dieser Prüfung verkündete Küng: Bushs Irak-Politik erfülle kein einziges der Kriterien der bellum-iustum-Lehre. Deshalb sein ein Krieg gegen Saddam Hussein unmoralisch. 8 Auch der Salzburger Weihbischof Andreas Laun, in moralischen und dogmatischen Fragen gewiß kein Gefolgsmann Küngs, kam nach seiner Prüfung der Frage, ob ein Irak-Krieg ein gerechter Krieg sein könne, erstaunlich schnell zu dem eindeutigen Ergebnis: „Nein, dieser Krieg,... ist kein »gerechter Krieg', sondern ein ebenso ungerechter wie schlecht überlegter Krieg". 9 Differenzierende Anwendungen der bellumiustum-Lehre auf den Krieg gegen den Terrorismus und auf den Irak-Konflikt waren in Deutschland selten. „Der ,gerechte Krieg 4 hat einen schlechten Ruf in Deutschland", so begann Karl Graf Ballestrem sein Plädoyer für die Erklärung amerikanischer Intellektueller „WTiat we're fighting for", um sich dann hinter diese Erklärung zu stellen und zu zeigen, daß der Pazifismus als Handlungsprinzip für Staaten abzulehnen ist, „weil er theoretisch unbefriedigend und im Ergebnis unmoralisch ist". 10
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Thomas Kater, Moral zur Unzeit, in: Rheinischer Merkur vom 13.2.2003. KKK 2266. 6 Johannes Paul II., Evangelium Vitae 56. 7 Renato Martino , Interview mit John L. Allen, in: National Catholic Reporter vom 5.2.2003. 8 Hans Küng, Weltpolitik und Weltethos. Zum neuen Pradigma internationaler Beziehungen, in: www.bpb.de, 15.3.2003. Vgl. auch sein Interview mit dem Spiegel „Rechtswidrig und unmoralisch", in: Der Spiegel vom 17.3.2003, S. 61ff. 9 Andreas Laun, Gott bewahre uns vor diesem Krieg!, in: Kirche heute 2/2003, S. 6; ders., Amerika gegen Irak: Ein gerechter Krieg?, in: Die Tagespost vom 11.1.2003. 10 Karl Graf Ballestrem, Eine Theorie des gerechten Krieges ist unverzichtbar, in: Politisches Denken: Jahrbuch 2003, S. 249ff. 5
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Was ist Gegenstand und Ziel der bellum-iustum-Lehre? Warum ist sie so umstritten und weshalb führt sie zu so unterschiedlichen Ergebnissen? Ist sie überhaupt geeignet zur Bewertung militärischer Konflikte, wenn sich die Befürworter militärischer Interventionen ebenso auf sie berufen wie deren Gegner? Die bellum-iustum-Lehre ist die Frucht einer seit Cicero, mithin seit 2000 Jahren anhaltenden ethischen Reflexion über die Frage, wann der Einsatz militärischer Mittel gerechtfertigt werden kann. Wie jede ethische Reflexion fragt sie nach den Bedingungen richtigen Handelns, mithin nach den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, soll der Einsatz militärischer Mittel legitim sein. Sie ist nicht eine Strategie zur Rechtfertigung, sondern zur Verhinderung von Kriegen, sowie zu deren Begrenzung, wenn die Verhinderung mißlungen ist. Thomas von Aquin erörtert sie im 13. Jahrhundert in seiner Summa theologica im Kapitel über die Nächstenliebe, zu der um des Gemeinwohles willen die Fürsorgepflicht der Regierenden für die ihnen anvertrauten Menschen gehört. 11 Daß sich in der Geschichte auch Kriege finden lassen, in denen diese Lehre zur Rechtfertigung eines Angriffs mißbraucht wurde, ist noch kein Argument gegen diese Lehre, wie ja auch niemand bis 1989 die Benutzung des Begriffs „Volksdemokratie" durch Staaten mit kommunistischer Einparteiherrschaft als Argument gegen die Demokratie gelten ließ. Eine Ethik der Friedenssicherung, die sich auf die bellum-iustum-Lehre stützt, schließt den Einsatz militärischer Mittel zur Sicherung des Friedens bzw. zur Verteidigung existentieller Güter nie aus. Aber sie sieht sich andererseits auch nicht in der Lage, jeden Waffeneinsatz des Angegriffenen oder Bedrohten zur Abwehr der Aggression bzw. der Bedrohung zu rechtfertigen. Es kann Situationen geben, in denen das Unrecht eines Angriffs oder einer Annexion oder eine Bedrohung hinzunehmen ist, wenn klar voraussehbar ist, daß die Abwehr der Bedrohung oder die Wiederherstellung des status quo einen unverhältnismäßig hohen Preis kosten würde. Das Recht, sich mit militärischen Mitteln zu verteidigen, hat der Angegriffene also nach der von Augustinus im 5. Jahrhundert systematisierten bellum-iustumLehre nur unter ganz bestimmten Bedingungen: 1. Die Aggression bzw. die Bedrohung muß das Leben oder die existentiellen Rechte und Güter Unschuldiger gefährden. 2. Der Einsatz militärischer Mittel muß durch die rechtmäßige politische Autorität angeordnet sein. 3. Alle anderen Möglichkeiten, die Aggression bzw. die Bedrohung abzuwehren, müssen ausgeschöpft sein.
11 Thomas von Aquin, Summa theologica, II-II qu 40 a 1. Vgl. auch Josef Rief Die bellum-iustumTheorie historisch, in: Norbert Glatzel/Ernst Josef Nagel (Hrsg.), Frieden in Sicherheit, Freiburg 1981, S. 95ff. und John Finnis, The Ethics of War and Peace in the Catholic Natural Law Tradition, in: Terry Nardin (Hrsg.),The Ethics of War and Peace. Religious and Secular Perspectives, Princeton 1996, S. 15ff.
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4. Der Zweck des Einsatzes militärischer Mittel muß sich auf die Abwehr der Aggression bzw. die Beseitigung der Bedrohung beschränken, darf sich also nicht seinerseits in eine Aggression verwandeln. 5. Mit der Möglichkeit eines Erfolgs muß gerechnet werden können. 6. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel muß beachtet werden, d. h. das Schadensrisiko des Einsatzes militärischer Mittel zur Abwehr der Aggression bzw. der Bedrohung ist abzuwägen gegen das Schadensrisiko einer hingenommenen Aggression bzw. einer fortdauernden Bedrohung. 7. Schließlich muß das zur Hegung von Kriegen entwickelte Kriegsvölkerrecht, das ius in bello im Unterschied zum ius ad bellum, beachtet werden, d. h. a) die Wirkung der eingesetzten Waffen muß kontrollierbar, mithin auf militärische Zwecke begrenzbar bleiben, und b) die Immunität der Nichtkombattanten muß gewahrt werden können. Diese sieben Bedingungen lassen sich in drei Fragen zusammenfassen, die jeder bejahen können muß, der den Einsatz militärischer Mittel zur Sicherung oder Wiedergewinnung des Friedens in Erwägung zieht: 1. Ist der Grund für den Waffeneinsatz gerecht? 2. Wird ein Ziel verfolgt, das gerecht ist? 3. Sind die Mittel, mit denen dieses Ziel verfolgt wird, angemessen? Nur wenn alle drei Fragen positiv beantwortet werden können, läßt sich der Einsatz militärischer Mittel rechtfertigen. Der Entwicklung der bellum-iustum-Lehre liegen zwei Voraussetzungen zugrunde, die auch eine Ethik des Irak-Krieges in Erinnerung rufen muß und die in Spannung zueinander stehen: erstens die Überzeugung, daß jeder Krieg, der IrakKrieg ebenso wie der Golfkrieg 1991 oder die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, ein Übel ist, ein unheilschwangerer Akt der Gewalt, der Zerstörungen, Elend und Tod mit sich bringt, der auf Grund der ihm innewohnenden Eigendynamik nicht nur militärische, sondern auch politische Risiken birgt und bei den Menschen - Soldaten wie Zivilisten - Ängste auslöst, der möglicherweise auch mehr neue Probleme schafft als alte löst. Zweitens die Überzeugung, daß die Alternative zum Einsatz militärischer Mittel oft nicht der Friede ist, sondern Unterdrückung, Erpressung und fortdauernde Bedrohung, die Überzeugung, daß auch der Pazifismus den Frieden nicht sichern kann, daß er gelegentlich das, was er verhindern will, gerade erst provozieren kann. II. Der Irak-Krieg und seine Vorgeschichte Wer den Irak-Konflikt erst im Herbst 2002 mit der Resolution 1441 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 8. November beginnen läßt, unterliegt einem folgenreichen Irrtum. Er rückt die bescheidenen, aber immerhin vorhandenen Fortschritte bei den Abrüstungsinspektionen der UNO in den Mittelpunkt
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seiner Betrachtung. Er hält die viermonatige Tätigkeit von UNMOVIC und IAEA im Irak fur ebenso unabgeschlossen wie erfolgversprechend und bewertet die am 20. März 2003 beginnende militärische Intervention der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten als Angriffskrieg. Der Irak-Konflikt aber begann am 2. August 1990. Damals überfiel die Armee Saddam Husseins das kleine, aber reiche Nachbarland Kuwait. Am 28. August 1990 erklärte der Irak Kuwait zur 19. Provinz seines eigenen Staatsgebietes. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stellte noch am 2. August 1990 in seiner Resolution 660 unter Bezugnahme auf Kapitel V I I der UN-Charta („Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen") fest, daß die irakische Invasion einen Bruch des internationalen Friedens und der Sicherheit darstellt. Er forderte den sofortigen und bedingungslosen Rückzug des Irak. Der Resolution 660 folgten im Laufe der nächsten vier Monate elf weitere, in denen unter anderem gegen die Geiselnahme der Ausländer sowie die Irakisierung Kuwaits protestiert und ein Wirschaftsembargo verhängt wurde. Mit der Resolution 678 vom 29. November 1990 wurden schließlich die Kuwait unterstützenden Mitgliedsstaaten ermächtigt, „to use all necessary means to uphold and implement resolution 660 and all subsequent relevant resolutions and to restore international peace and security in the area", wenn der Irak bis zum 15. Januar 1991 nicht aus Kuwait abzieht. Aller Welt war klar, daß die Ermächtigung „to use all necessary means" eine Ermächtigung zum Einsatz militärischer Mittel bedeutete. Nachdem die Embargo-Politik ebenso erfolglos geblieben war wie zahlreiche diplomatische Bemühungen, kam es in der Nacht vom 16. auf den 17. Januar 1991 zum Einsatz der alliierten Luftwaffe und am 24. Februar zur Landoffensive gegen die irakischen Truppen in Kuwait und ihre Nachschubbasen im südlichen Irak. Die militärische Intervention zwang den Irak innerhalb von vier Tagen zur Kapitulation und zur bedingungslosen Annahme aller Resolutionen des Sicherheitsrates. Die Truppen Saddam Husseins verließen plündernd, mordend und brandschatzend Kuwait. Am 28. Februar wurden die Kämpfe eingestellt. Am 3. März wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet und am 3. April beschloß der Sicherheitsrat in seiner Resolution 687 ein umfangreiches Programm zur Abrüstung und Kontrolle des Irak. Er forderte die Zerstörung bzw. Unschädlichmachung der chemischen und biologischen Waffen, der entsprechenden Produktionsanlagen, der Raketen mit einer Reichweite über 150 Kilometer, die Beendigung des Programms zur Entwicklung von Nuklearwaffen, die Einstellung jeglicher Unterstützung des internationalen Terrorismus, die Freilassung aller Gefangenen und die Rückgabe kuwaitischen Besitzes. Er bekräftigte seine Absicht, weitere Schritte zur Durchsetzung dieser Resolution und zur Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in der Region zu beschließen, wenn solche notwendig werden sollten. Dieser Waffenstillstand war noch kein Friedensschluß. Damit war auch das Mandat des Sicherheitsrates zur Anwendung militärischer Mittel noch nicht erloschen. Militärisch war der Irak-Krieg zwar beendet, aber der Friedensschluß und damit das Ende des UN-
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Mandats hingen von der Erfüllung der in der Waffenstillstandsresolution 687 vereinbarten bzw. diktierten Bedingungen ab. 12 Im Laufe der 90er Jahre geriet der durch den Krieg und das Embargo geschwächte Irak an den Rand des westlichen Interesses. Zweimal, 1993 und 1998, flogen die Alliierten Luftangriffe gegen den Irak, weil er die Bedingungen des Waffenstillstandes verletzt hatte. Niemand hielt damals eine eigene Ermächtigung durch den Sicherheitsrat für notwendig. Der Generalsekretär der UNO Boutros Ghali erklärte vielmehr am 14. Januar 1993, er könne bestätigen, daß diese Luftangriffe im Einklang mit der Resolution 687 des Sicherheitsrates und der Charta der Vereinten Nationen stehen. Aber das Regime Saddam Husseins, der sich wider alle westlichen Erwartungen auch nach dem verlorenen Krieg an der Macht halten konnte, stellte die Kooperation mit den Inspektoren der UNO ein. Der Irak betrachtete sie als Spione der USA. Im Dezember 1998 zwang Saddam Hussein sie, den Irak zu verlassen. Dabei erklärte der Leiter der UN-Sonderkommission für die Vernichtung der Massenvernichtungswaffen im Irak (UNSCOM), Richard Butler, die Zerstörung des Raketen- und Chemiewaffenprogramms habe kurz vor dem Abschluß gestanden, die Vernichtung der biologischen Waffen sei dagegen noch nicht erfolgt. Drei Jahre blieb der Rauswurf folgenlos. Daß sich das Interesse der USA und des Sicherheitsrates im Laufe des Jahres 2002 wieder auf den Irak konzentrierte, ist nicht zuletzt auf die Terroranschläge des 11. September 2001 und auf den Regierungswechsel in den USA von Clinton zu Bush zurückzuführen. Nicht daß das Regime Saddam Husseins beschuldigt wurde, die Anschläge vom 11. September begangen oder initiiert zu haben, aber die Tatsache, daß er die in der Resolution 687 geforderte kontrollierte Abrüstung nicht durchgeführt und den Inspektoren der UNO den bedingungslosen, unbeschränkten Zutritt verweigert hat, entzog dem am 3. März 1991 unterzeichneten Waffenstillstand den Boden. Dies stellte der Sicherheitsrat denn auch in seiner Resolution 1441 am 8. November 2002 fest: Der Irak habe seine Verpflichtungen aus Resolution 687 sowie weiteren Resolutionen nicht erfüllt. Erfülle er sie nicht innerhalb einer bestimmten letzten Frist von wenigen Wochen, müsse er mit „serious consequences" rechnen. Daß „serious consequences" bedeutete, militärische Mittel einzusetzen, war allen Beteiligten ebenso klar wie bei jener Formulierung in der Resolution 678 am 29. November 1990, „to use all necessary means". Der Sicherheitsratsbeschluß allein hätte Saddam Hussein wohl kaum dazu bewogen, die Inspekteure der Vereinten Nationen im November 2002 wieder in den Irak einreisen zu lassen. Aber der Aufmarsch der amerikanischen und britischen Truppen an seinen Grenzen im Sommer und Herbst 2002 zeigte ihm den Ernst der
12 Dieter Blumenwitz, Die völkerrechtlichen Aspekte des Irak-Konflikts, in: Zeitschrift fUr Politik, 50. Jg. (2003), S. 304 meint dagegen, das UN-Mandat zur militärischen Intervention sei mit der Wiederherstellung der Souveränität und der Autorität der legitimen kuwaitischen Regierung beendet gewesen, weshalb auch die erneute militärische Intervention 2003 als völkerrechtswidrig bewertet werden müsse.
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Lage. Die Inspekteure bemühten sich rund drei Monate um neue Erkenntnisse und ihr Leiter Hans Blix berichtete dem Sicherheitsrat einerseits von Fortschritten und andererseits von den Mängeln der Kooperationsbereitschaft des Regimes. Hauptmangel war und blieb bis zuletzt, daß der Irak nicht bereit war, von sich aus den geforderten Nachweis über die Vernichtung aller Massenvernichtungswaffen vorzulegen. Der erneute Einsatz militärischer Mittel am 20. März 2003 kann deshalb weder als Angriffskrieg noch als Präventivkrieg bewertet werden. 13 Vor dem Hintergrund der 21 Resolutionen des Sicherheitsrates der UNO zwischen dem 2. August 1990 und dem 8. November 2002 war er eine Suspendierung des Waffenstillstandes vom 3. März 1991, mithin eine Fortsetzung des damals unterbrochenen Krieges gegen Saddam Hussein. Wäre die amerikanische Regierung bei dieser Begründung der militärischen Intervention im Irak geblieben, statt immer wieder neue Gründe zu nennen oder die Akzente der Begründung zu verschieben, hätte sie den Sturm der weltweiten Opposition gegen die Intervention zwar auch nicht beseitigen, aber vermutlich doch mildern können. Die Sprunghafiigkeit der Begründung dieser Intervention beseitigt aber nicht die Möglichkeit ihrer völkerrechtlichen Legitimierung. Dennoch bleiben kritische Fragen. Die Logik der Resolutionen des Sicherheitsrates kann eine Bewertung des Krieges anhand der sieben Kriterien der bellumiustum-Lehre nicht ersetzen. War der Grund für die Wiederaufnahme militärischer Handlungen sittlich zu rechtfertigen? Waren die Vereinigten Staaten zu einer militärischen Intervention ohne erneutes Mandat des Sicherheitsrates berechtigt? Waren bzw. sind die Ziele des Krieges legitim und die Mittel angemessen? I I I . Der Grund, die Ziele und die Mittel des Krieges gegen Saddam Hussein Um die Frage nach dem gerechten Grund für die Wiederaufnahme militärischer Handlungen zu beantworten, sind die ersten drei Kriterien der bellum-iustumLehre auf den Krieg gegen Saddam Hussein anzuwenden. Wie stand es um die Bedrohung Unschuldiger durch Saddam Hussein, um die Rechtmäßigkeit der
15
Die Deutsche Bischofskonferenz meinte in einer Erklärung vom 20.1.2003 den bevorstehenden Krieg gegen Saddam Hussein so bewerten zu müssen. Vgl. die Erklärung des Ständigen Rates „Im Widerspruch zum Völkerrecht" in: Die Tagespost vom 23.1.2003. Vgl. auch Thomas Hoppe, Gewaltprävention statt Präventivkriege. Die Lehren des Irakkriegs und das Bischofswort zum „Gerechten Frieden", in: Herder-Korrespondenz, 57. Jg. (2003), S. 227ff. Die amerikanischen Bischöfe neigen in ihrem Statement on Iraq vom 13.11.2002 ebenfalls zu dieser Auffassung, in: www.nccbuscc.org/ bishops/iraq. Daß es sich weder um einen Angriffs- noch um einen Präventivkrieg handelt, unterstreichen dagegen Lothar Roos, Völkerrecht durchsetzen, in: Rheinischer Merkur vom 13.2.2003 und G. Weigel The Just War Case for the War, in: America, vol. 188, Nr. 11 vom 31.3.2003, S. 8.
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Entscheidung zum Einsatz militärischer Mittel und um die Ausschöpfung aller friedlichen Mittel zur Abwehr der Bedrohung? 1. Die Aggression bzw. die Bedrohung muß das Leben oder existentielle Rechte und Güter Unschuldiger gefährden Die Frage, ob das Regime Saddam Husseins eine Gefahr für das Leben Unschuldiger darstellte, war Anfang 2003 schwieriger zu beantworten als 1991. Wie skrupellos dieses Regime damals mit dem Leben Unschuldiger umging, zeigten seine Kriege gegen den Iran, gegen Kuwait und Israel, sein Kampf gegen Kurden, Schiiten und christliche Assyrer im eigenen Staatsgebiet und nicht zuletzt sein wiederholter Einsatz chemischer Waffen, dem allein in Halabdscha im März 1988 cirka 5000 Kurden zum Opfer fielen. Niemand hatte genaue Zahlen, aber es waren Hunderttausende, wenn nicht zwei Millionen, denen die Kriege und Gewalttaten Saddam Husseins das Leben gekostet haben. Seine Feindschaft gegen die USA, Israel und den Westen ist vielfach dokumentiert - nicht zuletzt am 11. September 2001, als er die Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon freudig begrüßte. Aber welche Gefahr ging vom Regime Saddam Husseins im Jahr 2002 aus? Spricht Hans Küng nicht für viele, wenn er feststellt, daß „eine bloß vermutete und im Entstehen begriffene Bedrohung ... kein Kriegsgrund" ist? 14 Wenn dem aus der Perspektive der USA entgegengehalten wird, die Terroranschläge vom 11. September 2001 hätten bewiesen, daß es sich beim Terrorismus nicht bloß um eine „vermutete", sondern um eine sehr reale Bedrohung handle, der an jenem Tag über 3100 Unschuldige zum Opfer gefallen sind, werden die Kritiker der militärischen Intervention entgegnen, daß zwar der Terrorismus für die USA eine Bedrohung sein mag, aber nicht der Irak. Wie aber ist der Bedrohung des Terrorismus zu begegnen und hat der Irak nichts mit ihm zu tun? Der Terrorismus ist für die Politik, das Völkerrecht und die bellum-iustum-Lehre eine neue Herausforderung. Er ist nicht eine neue Form organisierter Kriminalität, sondern eine offensive politisch-militärische Strategie, die weniger auf die physischen Folgen der Gewaltanwendung als vielmehr auf die davon ausgehenden psychischen Effekte abzielt. 15 Er signalisiert dem Angegriffenen, daß er auch bei größter ökonomischer, technologischer und militärischer Überlegenheit jederzeit und an jedem Ort verwundbar ist. Terroristische Netzwerke operieren global und sie können dies nur, wenn sie Staaten bzw. Regierungen hinter sich wissen, die sie unterstützen oder wenigstens tolerieren. Die Unterstützung des Terror-Netzwerkes von A l Kaida durch das afghanische Taliban-Regime war offenkundig. Deshalb war der Krieg gegen dieses Regime legitim. Er war auch völkerrechtlich vertretbar. Der Sicherheitsrat der
14 15
Hans Küng,, Weltpolitik und Weltethos, S. 11; Spiegel-Interview, S. 61. Herfried Münkler, Über den Krieg, Weilerswist 2002, S. 257.
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Vereinten Nationen hat die Terroranschläge in seiner Resolution vom 12. September 2001 ausdrücklich als eine Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit eingestuft. „Der Terrorismus" ist insofern zu einer Gefahr geworden, „die dem Angriff mit militärischen Streitkräften eines Staates vergleichbar ist". 16 Der Krieg gegen Saddam Hussein aber konnte sich nicht auf eine direkte Verbindung seines Regimes zum Terrornetzwerk Osama bin Ladens stützen. Dennoch war es keine bloße Behauptung der Regierung Bush, daß auch das Regime von Saddam Hussein Verbindungen zum Terrorismus - nicht zuletzt der Palästinenser - hat. So beklagte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen schon am 3. April 1991 in seiner Resolution 687, daß der Irak sich in seiner Kriegsführung terroristischer Mittel bedient hat. In seiner Resolution 1441 hat der Sicherheitsrat erneut festgestellt, daß der Irak seine Verpflichtung aus Resolution 687, jegliche Verbindung zum Terrorismus einzustellen, nicht erfüllt hat. Als der amerikanische Außenminister Powell im Februar 2003 diese Verbindungen sowie die verbotenen Waffenprogramme nachzuweisen suchte und die anderen Mitgliedsstaaten, vor allem Frankreich, Deutschland und Rußland, Zweifel auf Zweifel häuften, schienen sie die Feststellungen des Sicherheitsrates in den Resolutionen 687 und 1441 völlig verdrängt zu haben. Worin besteht die Herausforderung des Terrorismus für die Politik, die Militärstrategie und die bellum-iustum-Lehre? Sie besteht in einer Veränderung der Kampfkonstellation. Der Angreifer versucht, sich unsichtbar und damit unangreifbar zu machen. Er bedarf aber der heimlichen Unterstützung bestimmter Staaten oder staatenähnlicher Gebilde wie des palästinensischen Autonomiegebietes, in denen seine Operationsbasen und Terrorzellen unangetastet bleiben. Der Krieg wandelt sich so von einem „symmetrischen" zu einem „asymmetrischen Krieg". 17 Im „symmetrischen" Krieg stehen sich Staaten oder Koalitionen von Staaten gegenüber. Im „asymmetrischen" Krieg steht dem Opfer terroristischer Attacken kein klar identifizierbarer Angreifer, der Uniform trägt, gegenüber, sondern ein global oder regional operierendes Netzwerk von Terroristen, die zivile Kleidung tragen, Unschuldige ermorden und Zivilflugzeuge in Massenvernichtungswaffen verwandeln. In dieser Situation muß der Verteidiger nicht nur sein Waffenarsenal und seine Militärstrategie überprüfen, er wird auch in jedem den Terrorismus unterstützenden Staat selbst einen Angreifer sehen. Für die bellum-iustum-Lehre bedeutet dies, daß ein Grund für den legitimen Einsatz militärischer Mittel, der in den 50er Jahren aufgrund der Nuklearwaffen aus den Gründen für einen legitimen Waffeneinsatz herausgenommen worden war, nämlich die Sanktionierung von Regimen, die den Frieden bedrohen, wieder ins
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Jochen A. Frowein, Terroristische Gewalttaten und Völkerrecht, in: FAΖ vom 15.9.2001. Michael Novak , »Asymmetrical Warfare" and Just War, A moral obligation, in: www.nationalreview.com vom 10.2.2003. Vgl. auch Η. Münkler (Anm. 15), S. 252ff. 17
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Blickfeld rückt und Legitimität beansprucht.18 Wenn es „outlaw"- oder „rogue"states, sog. Schurkenstaaten gibt, die durch ihre mehr oder weniger heimliche Unterstützung des Terrorismus einen unerklärten Krieg gegen die USA oder „den Westen" führen, haben die Angegriffenen, und das heißt primär ihre Regierungen, nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, ihre Bürger gegen eine derartige tödliche Gefahr zu schützen. Die Frage nach einem gerechten Grund für einen legitimen Einsatz militärischer Mittel muß deshalb in Erwägung ziehen, den Begriff „Bestrafung des Bösen" (punishment for evil) neu zu bedenken und in die legitimen Kriegsgründe einzubeziehen. Schon die humanitären Interventionen der 90er Jahre in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Somalia haben die gerechten Gründe für den Einsatz militärischer Mittel über die Verteidigung gegen einen unmittelbaren Angriff hinaus ausgeweitet.19 Die Frage, ob das Regime Saddam Husseins eine unmittelbare Gefährdung für das Leben Unschuldiger außerhalb der Grenzen des Iraks darstellt, kann mithin bejaht werden, wenn sowohl der neue Charakter terroristischer Bedrohungen und asymmetrischer Kriege als auch die Geschichte der Resolutionen des Sicherheitsrates gewürdigt werden. Aber sofort stellt sich die Frage, ob die Regierung Bush allein befugt war, diese Bedrohung festzustellen, oder ob dies nicht in die Kompetenz des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen fiel. 2. Der Einsatz militärischer Mittel muß durch die rechtmäßige politische Autorität angeordnet sein Der Sicherheitsrat ist als völkerrechtliches Organ kollektiver Sicherheit nach Kapitel V bis V I I der UNO-Charta ohne Zweifel die privilegierte Autorität zur Anordnung des Einsatzes militärischer Mittel in einem Konflikt. Seine Resolution 678 vom 29. November 1990, die ausdrücklich auf Kapitel V I I der Charta Bezug nahm, war eine solche Anordnung, bei deren Umsetzung er dann allerdings nicht auf eigene Streitkräfte zurückgreifen kann. Er bleibt auf die Armeen der Mitgliedsstaaten angewiesen, die zur Ausführung solcher Beschlüsse bereit sind. In der Regel sind dies die USA, die dann mehr oder weniger breite Koalitionen anführen. Die Ermächtigung zum Einsatz militärischer Mittel in Resolution 678 galt allen „Mitgliedsstaaten, die mit der Regierung Kuwaits zusammenarbeiten". Die Resolution 1441 enthielt zwar keine unmittelbare Anordnung zum Einsatz militärischer Mittel, aber sie drohte dem Irak mit „ernsthaften Konsequenzen" im Falle der fortgesetzten Weigerung, die Verpflichtungen aus Resolution 687 zu erfüllen. Sie erinnerte ausdrücklich an das Mandat zum Waffeneinsatz in Resolution 678. Ob
18 George Weigel , Moral Clarity in a Time of War. The Second Annual William E. Simon Lecture, in: www.eppc.org. Vgl. auch Robert Kennedy, War and the Bishops, in: Star Tribüne vom 2.4.2003 und Wolf gang Schäuble, Lektionen aus der Krise, in: KAS-Auslandsinformationen 4/03, S. 14. 19 Vgl. M. Spieker, Zur Aktualität der Lehre vom „gerechten Krieg". Von nuklearer Abschreckung zur humanitären Intervention, in: Die Neue Ordnung, 54. Jg. (2000), S. 4ff. Vgl. auch die Botschaft Papst Johannes Pauls II. zum Weltfriedenstag am 1.1.2000, Ziffer 11.
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deshalb nach Ablauf der dem Irak gesetzten Fristen eine weitere Resolution des Sicherheitsrates überhaupt notwendig gewesen wäre, um den Einsatz militärischer Mittel anzuordnen, ist umstritten. China, Rußland und Frankreich hielten eine solche Resolution für notwendig, Großbritannien wünschte sie mehr aus politischen als aus völkerrechtlichen Gründen, obgleich der britische Generalstaatsanwalt Lord Goldsmith sie in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage nicht für notwendig hielt 20 und die USA hielten sie ebenfalls nicht für notwendig.21 Eine neue Resolution scheiterte schließlich an der Uneinigkeit des Sicherheitsrates. Daß mit den „serious consequences" im Falle der Nichterfüllung der Verpflichtungen aus Resolution 687 aber nicht eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Abrüstungsinspektionen, sondern nur eine militärische Intervention gemeint sein konnte, kann kaum bezweifelt werden. Bei der Wiederaufnahme der militärischen Intervention am 20. März 2003 war deshalb ein Rückgriff auf Art. 51 der UNO-Charta, der jedem Mitgliedsstaat „das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung" zugesteht, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat", gar nicht mehr notwendig. Daß einzelnen Staaten oder Staatenbündnissen ein solches Recht nicht genommen werden kann, wenn der Sicherheitsrat blockiert oder desinteressiert ist, wie er das die meiste Zeit seiner bald 60jährigen Geschichte war, findet zwar nicht ungeteilte Zustimmung. Vor allem die Evangelische Kirche in Deutschland reserviert die Entscheidungskompetenz immer wieder der UNO. 2 2 Auch die Deutsche Bischofskonferenz hat in ihrer Erklärung zum Irak-Konflikt vom 13. März 2003 jede „militärische Gewaltanwendung, die ohne Mandat des Sicherheitsrates ... erfolgte", als eine „Abkehr vom Völkerrecht" bezeichnet.23 Dieses Mandat lag mit der in Resolution 1441 bestätigten Resolution 678 jedoch vor. In vielen Konfliktfällen würde ein Monopol des Sicherheitsrates dazu zwingen, dem Unheil zuzusehen. Die katholische Kirche bringt deshalb zwar in vielen Dokumenten und päpstlichen Ansprachen ihre Wertschätzung für die Vereinten
20 Statement by the Attorney General Lord Goldsmith, in answer to a parlamentary question vom 18.3.2003, in: www.fco.gov.uk 21 Für Bruno Simma, „Präventivschläge brechen das Völkerrecht", Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 1./2.2.2003, war die Resolutin 1441 ein „typischer Formelkompromiß", der beide Schlußfolgerungen zuließ, die Frankreichs, Chinas und Rußlands, die ein eigenes „Mandat zum Krieg" verlangten und die der USA, die dieses Mandat aus der Resolution 1441 ableiteten. Keinen Auslegungsspielraum sieht dagegen Dietrich Murswiek, Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht, in: Neue Juristische Wochenschrift 2003, S. 1014ff. in der Resolution 1441. Sie enthalte in keinem Fall eine Ermächtigung zum Krieg. 22 Vgl. Rat der EKD, Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik" vom 6.1.1994, Hannover 1994, S.28. Auch/). Murswiek (Anm. 21), S. 1017 spricht vom „Monopol des Sicherheitsrates, Zwangsmaßnahmen ... zu treffen". Die EKD scheint allerdings im gleichen Dokument dann doch wieder an einem solchen Monopol zu zweifeln, da der tatsächliche Zustand der UNO eine Orientierung an den Grundsätzen und Regelungen der Charta nicht gewährleiste (S. 29). 23 Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum Irak-Konflikt vom 13.3.2003, in: www.dbk.de/presse.
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Nationen zum Ausdruck, reserviert die Kompetenz zur Entscheidung über den Einsatz militärischer Mittel aber nicht dem Sicherheitsrat. 24 Die Kompetenz zu entscheiden, ob alle Kriterien der bellum-iustum-Lehre erfüllt sind, kommt vielmehr „dem klugen Ermessen derer zu, die mit der Wahrung des Gemeinwohls betraut sind". 25 Die Wahrung des Gemeinwohls aber ist in erster Linie die Pflicht der Regierung. Im Falle humanitärer Interventionen, die meist ohne UNO-Beschlüsse realisiert werden, haben sie nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, einzugreifen, wenn die Institutionen kollektiver Sicherheit blockiert sind. „Wenn einmal alle von diplomatischen Verhandlungen gebotenen Möglichkeiten, alle durch Übereinkünfte und internationale Organisationen vorgesehenen Prozesse erschöpft sind und trotzdem ganze Volksgruppen dabei sind, den Schlägen eines ungerechten Angreifers zu erliegen", erklärte Kardinal Sodano in Vertretung des Papstes beim Neujahrsempfang für das beim Hl. Stuhl akkredidierte Diplomatische Korps 1993, „haben die Staaten kein,Recht mehr auf Gleichgültigkeit'. Es scheint vielmehr, daß ihre Pflicht in der Entwaffnung dieses Angreifers besteht, nachdem alle übrigen Mittel sich als unwirksam erwiesen haben. Die Grundsätze der Souveränität der Staaten und der Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten die ihren vollen Wert behalten - dürfen keine Schutzwand bilden, hinter der man foltern und morden darf". 2 6 3. Alle anderen Möglichkeiten, die Aggression bzw. die Bedrohung abzuwehren, müssen ausgeschöpft sein Die Beantwortung der Frage, ob alles getan wurde, um die Bedrohung auf friedlichem Weg abzuwehren, wird immer strittig bleiben. Wer kann je sagen, er habe alles getan? Die Überzeugung, auf den friedlichen Ebenen der Diplomatie, der Inspektionen, der Embargo-Politik und der Abschreckung sei alles getan worden, um Frieden und Sicherheit am Golf wiederherzustellen, ist schwer zu belegen. Noch schwerer aber ist nachzuweisen, daß nicht alles getan wurde. Überzeugende Argumente, daß eine Verlängerung der Inspektionen um drei oder vier Monate das Problem gelöst hätte, sind nicht bekannt geworden. Schon vor der Militärintervention 1991 war der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich
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Wer behauptet, Johannes Paul II. habe sich für ein Gewaltmonopol der Vereinten Nationen ausgesprochen (wie z. B. Martin Maier, Ächtung des Krieges, in: Stimmen der Zeit, 128. Jg. (2003), S. 218), bleibt dafür jeden Beleg schuldig. Wohl lassen sich bischöfliche Äußerungen finden, die ein derartiges Monopol behaupten, so z. B. Jean-Louis Tauran, Ein Angriffskrieg wäre ein Verbrechen gegen den Frieden, in: 30 Tage 3/2003, S. 11. 25 KKK 2309. Vgl. dazu auch G. Weigel (Anm. 18), S. 4 und ders., The Just War Case for the War (Anm. 13), S. 7ff.; M. Novak (Anm. 17), S. 1; Rudolf Pesch, „Der Krieg ist nicht einfach Schicksal", in: Heute in Kirche und Welt, 3. Jg. (2003), S. 1. 26 Angelo Kardinal Sodano , Ansprache beim Neujahrsempfang für das Diplomatische Korps am 16.1.1993. Nr. 13, in: Osservatore Romano (deutschsprachige Wochenausgabe) vom 29.1.1993, S. 9. Vgl. auch Giuseppe Mattai/Bruno Marra , Dalla guerra all' ingerenza umanitaria, Turin 1994, S. 123 ff.
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Genscher der Meinung, nie zuvor seien einem Aggressor so viele Gelegenheiten zum Einlenken gegeben worden wie Saddam Hussein. Dies gilt erst recht 2003. Schließlich hatte er seit der Resolution 687 zwölf Jahre Zeit, seine Abrüstungsverpflichtungen zu erfüllen. Wer den Irak-Konflikt erst mit der Resolution 1441 beginnen läßt, wird die Frage, ob alle friedlichen Mittel ausgeschöpft wurden, verneinen. Er wird auf die vom UNMOVIC-Chef Blix mehrfach bestätigten Fortschritte in der Kooperationsbereitschaft des Irak verweisen und darauf, daß die Inspekteure selbst erklärten, sie benötigten noch einige Monate, um die Inspektionen abzuschließen. Das Plädoyer für verlängerte Inspektionen übersieht jedoch zum einen die 13-jährige Geschichte des Irak-Konflikts und zum anderen die Tatsache, daß Saddam Hussein die Inspektoren im November 2002 nur deshalb wieder ihre Arbeit aufnehmen ließ, weil die USA und Großbritannien bereits rund 100.000 Soldaten am Golf stationiert hatten. Saddam Husseins Kooperationsbereitschaft war nicht die Folge eines politischen Kurswechsels im Irak, sondern des Druckes, den die USA mit ihren Truppenverlegungen auf ihn ausübten. Da diese Truppenverlegungen auch während der Inspektionen fortgesetzt wurden, kam es mehrfach zu kleinen Fortschritten bei der Kooperation, die Hans Blix aber nicht davon abhalten konnten, vor dem Sicherheitsrat wiederholt über die mangelhafte Kooperationsbereitschaft des Iraks zu klagen. Inspektionen, die nur unter dem Druck einer Armee von mehreren 100.000 Soldaten durchgeführt werden können, sind gewiß nicht mehr jene Inspektionen, die der Sicherheitsrat in seinen Resolutionen 687 und 1284 dem Irak auferlegt hatte. Saddam Hussein ließ sich durch diese Inspektionen auch nicht davon abhalten, neue Aufrüstungspläne zu verfolgen und mit Nordkorea über die Lieferung von - waffenstillstandswidrigen - Mittelstreckenraketen zu verhandeln. 27 Die Entwicklung des Irak-Konflikts seit dem Waffenstillstand 1991 ist eine fast unendliche Geschichte von diplomatischen Verhandlungen in der UNO, von Resolutionen im Sicherheitsrat, von Luftwaffeneinsätzen der Alliierten im Irak wegen Verletzung der Verpflichtungen aus dem Waffenstillstandsvertrag und von Inspektionen. Ein letztes Ultimatum von Präsident Bush zur Vermeidung eines Krieges verlangte am 17. März 2003 von Saddam Hussein, daß er mit seinen beiden übel beleumdeten Söhnen den Irak innerhalb von zwei Tagen zu verlassen habe. Das Ultimatum wurde zurückgewiesen. In Anbetracht dieser Fakten fällt es schwer, von einem voreiligen Krieg zu sprechen. Das Kriterium, daß ein Einsatz militärischer Waffen zwecks Abwehr einer Bedrohung nur ultima ratio sein dürfe, wurde nicht verletzt. Aber wie steht es mit den Zielen dieses Krieges? Entsprechen sie dem Kriterium der recta intentio, der rechten Absicht und gibt es Chancen, diese Ziele, wenn sie denn sittlich vertretbar sind, zu erreichen? Um diese Frage zu beantworten, sind
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In: „Neue Belege für Saddams Waffenpläne", FAΖ vom 3.11.2003.
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die mit der militärischen Intervention verbundenen Ziele an den Kriterien vier und fünf der bellum-iustum-Lehre zu messen. 4. Der Zweck des Einsatzes militärischer Mittel muß sich auf die Abwehr der Aggression bzw. die Beseitigung der Bedrohung beschränken, darf sich also nicht seinerseits in eine Aggression verwandeln Im Golfkrieg 1991 galt die Befreiung Kuwaits als primäres Ziel. Die Alliierten vertrieben die Armee Saddam Husseins aus Kuwait und schlossen nach sechswöchigem Krieg am 3. März einen Waffenstillstand, der dem Irak mit den Abrüstungsverpflichtungen, den Inspektionen und Flugverbotszonen zwar besondere Auflagen machte, das Regime von Saddam Hussein aber nicht antastete. Ein Regimewechsel galt damals als politisch erwünschtes, aber als völkerrechtlich nicht legitimes Kriegsziel. Die Verteidigung der Souveränität Kuwaits sollte sich nicht in eine Aggression gegen den Irak verwandeln. So unterließen es die alliierten Streitkräfte, Bagdad zu besetzen und ein Besatzungsregime zu errichten. Die Hoffnung, daß der Diktator seine Vertreibung aus Kuwait und die Zerstörung seines offensiven Rüstungspotentials nicht lange überleben würde, erfüllte sich nicht und schon im Konflikt um die Inspektionen 1998, in dem sich Saddam Hussein durchsetzte, erwies sich die Zurückhaltung der Alliierten 1991 als Fehler. Die Beseitigung des irakischen Aggressionspotentials und der vom Regime Saddam Husseins ausgehenden Bedrohung ließ sich ohne Regimewechsel nicht erreichen. Im März 2003 erklärte der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, die Kriegsziele der Vereinigten Staaten seien, „das amerikanische Volk zu verteidigen, die Massenvernichtungswaffen des Iraks zu vernichten und das irakische Volk zu befreien". Die Militäroperationen seien deshalb auf mehrere Teilziele ausgerichtet, darunter zunächst darauf, „dem Regime von Saddam Hussein ein Ende zu setzen".28 Gegen dieses Ziel erhob sich die Kritik. Es sei durch die Beschlüsse des Sicherheitsrates nicht gedeckt. Diese Beschlüsse zielten lediglich auf die Beseitigung der Massenvernichtungswaffen. Diese Kritik ist jedoch nicht begründet. Da die Massenvernichtungswaffen auch zwölf Jahre nach dem Waffenstillstand noch nicht beseitigt waren, kann die Feststellung, daß der Regimewechsel eine Voraussetzung für deren Beseitigung ist, kaum als Verstoß gegen die Resolution 687 bezeichnet werden, zumal der Sicherheitsrat selbst in dieser Resolution und auch schon in Resolution 678 erklärt hatte, daß es ihm nicht nur um Abrüstung, sondern auch um die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in der Region gehe. Die Vereinten Nationen seien entschlossen, alles zu unternehmen, „to secure peace and security
28 Dokumentation der Rede von D. Rumsfeld über die offiziellen Kriegsziele der USA, in: FAZ vom 24.3.2003.
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in the region". 29 Das Ziel des Krieges gegen Saddam Hussein im Frühjahr 2003, die Befreiung des Irak durch einen Regimewechsel, kann deshalb als gerechtes Ziel bezeichnet werden, das in der Logik aller Resolutionen des Sicherheitsrates liegt. Ob dieses Ziel schon bedeutet, eine stabile demokratische Ordnung im Irak zu etablieren, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Wenn die Regierung Bush ihr Kriegsziel derart umschreibt oder gar auf eine demokratische Neuordnung des gesamten Nahen Ostens ausweitet, muß sie damit rechen, daß ihr im alten Europa bestenfalls Naivität, schlimmstenfalls Imperialismus vorgeworfen wird. Die politischen Systeme aller Staaten im Nahen Osten sind mit Ausnahme Israels so weit von demokratischen Ordnungen entfernt, daß eine Demokratisierung der Region wohl nur über eine amerikanische Militärherrschaft angestrebt werden könnte. Dies aber wäre ein Widerspruch in sich. Mit dem Ziel einer Demokratisierung der ganzen Region können sich die USA vermutlich nur übernehmen, mithin blamieren. Dieses Ziel würde nicht nur eine Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein im Irak, sondern auch eine Lösung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern sowie eine andere politische Kultur voraussetzen. Weder der militärische Sieg über Saddam Hussein noch eine längere amerikanische Militärverwaltung aber gewährleisten eine neue politische Kultur. Daß die Demokratisierung Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg über eine Militärherrschaft der Alliierten gelang, ist noch kein Argument fur eine Militärverwaltung im Irak. Deutschland hatte eine demokratische Tradition aus der Weimarer Republik, die 1945 noch nicht völlig abgerissen war, und eine politische Kultur, die wesentlich zum Erfolg des Besatzungsregimes beitrugen. Beides fehlt im Irak, so daß eine Militärverwaltung schnell zu einer Besatzungsherrschaft werden könnte. Sie würde die Demokratisierungschancen aber schnell weiter vermindern. Sollte sie gar zu einer Spaltung des Iraks in ein nördliches Kurdistan und in einen mit dem Iran verbündeten südlichen Schiitenstaat führen, wäre das Ende schlimmer als der Anfang. Ein Schiitenreich mit Massenvernichtungswaffen würde die Machtbalance am Golf zerstören, demokratische Entwicklungen im Nahen Osten weiter erschweren und die Operationsbasen für terroristische Netzwerke ausweiten. Wenn das Kriegsziel „Demokratisierung der Region" mittels einer längeren amerikanischen Militärverwaltung somit als unrealistisch, ja kontraproduktiv kritisiert wird, so bedeutet dies jedoch nicht, daß der Krieg gegen Saddam Hussein als unverantwortlich abgelehnt werden muß. Die Befreiung des Irak blieb ein sittlich legitimes Ziel. Dieses Ziel wurde innerhalb von vier Wochen erreicht. Nun folgt die nicht weniger schwierige Aufgabe der Neuordnung des politischen Systems, die nicht nur eine Aufgabe der USA ist. Sie ist auch eine Aufgabe der Vereinten Nationen, die sich an ihr beteiligen müssen, nicht um die Rolle der USA zu
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Resolution 687, Punkt 34; Resolution 678, Einleitung.
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relativieren, sondern um das Ziel der eigenen Resolutionen zu erreichen, Frieden und Sicherheit in der Region zu gewährleisten. Mit den Sicherheitsratsresolutionen 1483 vom 22. Mai und 1551 vom 16. Oktober 2003, mit denen die Handelssanktionen gegen den Irak aufgehoben die USA und Großbritannien als Besatzungsmächte anerkannt sowie Pläne zur Übergabe der Regierungsverantwortung aus den iralischen Übergangsrat entwickelt wurden, ist auch die Beteiligung der Vereinten Nationen am Wiederaufbau des Landes beschlossen worden. Gelegentlich war den USA vorgeworfen worden, es ginge ihnen in diesem Krieg vor allem um ökonomischen Interessen, mithin um die Sicherung der irakischen Ölquellen. Die Regierung Bush wurde mit dem Pathos der Entlarvung als Öl-Lobby präsentiert. Dieser Vorwurf war und ist unseriös. Zum einen sind ökonomische Interessen nicht eo ipso unsittlich. An der Freiheit des Ölhandels sind nicht nur die USA, sondern auch die Kriegsgegner, die OPEC-Staaten und die Entwicklungsländer interessiert. Zum anderen geht es im Krieg gegen Saddam Hussein wie schon im Golfkrieg 1991 nicht primär um Öl, sondern um die Durchsetzung der legitimen Kriegsziele des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen aus der Resolution 687. Im übrigen zeigen auch die amerikanischen Interventionen im Kosovo 1999, in Korea 1950 und in Deutschland 1941, daß der Vorwurf, es ginge den USA immer nur um ökonomische Interessen, falsch ist. 5. Mit der Möglichkeit eines Erfolges muß gerechnet werden können Diese Frage hatte bereits vier Wochen nach Kriegsbeginn nur noch historische Bedeutung, wenn denn unter Erfolg nur die Beseitigung des Regimes von Saddam Husseins verstanden wird. Aber der Erfolg besteht nicht nur in der Beseitigung des tyrannischen Regimes und der Vernichtung der Massenvernichtungswaffen, sondern in der Errichtung eines politischen Systems, das Frieden und Sicherheit in der Region gewährleistet. Dazu gehört ein Verhältnis der Kooperation, des Vertrauens und der gesicherten Grenzen, in das alle Staaten der Golfregion, Israel und die Palästinenser, die Türkei und die Kurden, einbezogen sind. Erst wenn sich kein Land und kein Volk im Nahen Osten einem institutionalisierten Friedensprozeß, einer Art Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten verschließt, kann von einem Erfolg gesprochen werden. Ein derartiges Ziel liegt nicht außerhalb jeglicher Reichweite. Es liegt unterhalb des Zieles einer Demokratisierung des ganzen Nahen Ostens, dem keine realistische Chance eingeräumt werden kann. Aber es liegt über dem Ziel einer bloßen Beseitigung der Tyrannei Saddam Husseins. Um es zu erreichen, ist die Kooperation der irakischen Opposition und darüberhinaus der irakischen Bevölkerung notwendig.
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6. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel muß beachtet werden, d. h. das Schadensrisiko des Einsatzes militärischer Mittel zur Abwehr der Bedrohung ist abzuwägen gegen das Schadensrisiko einer fortdauernden Bedrohung Die Verhältnismäßigkeit der Mittel im Laufe einer noch nicht abgeschlossenen militärischen Auseinandersetzung zu bestimmen, ist schwierig, aufgrund einer häufig wenig objektiven Nachrichtenlage geradezu unmöglich. Normativ ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht schwer zu bestimmen. Das, was gerettet bzw. befreit werden soll, darf im Laufe der militärischen Intervention nicht zerstört werden. Deshalb ist jede Kriegshandlung, die unterschiedslos auf die Vernichtung ganzer Städte oder weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung abzielt, ungeachtet der eingesetzten Waffen, ein sittlich verwerflicher Verstoß gegen diesen Grundsatz. Ein gezieltes Bombardement auf die Zivilbevölkerung Bagdads, um sie zum Verlassen der Stadt zu bewegen, wäre nicht zu rechtfertigen gewesen. Aber sind 10.000 Luftangriffe noch verhältnismäßig, 100.000 dagegen nicht mehr? Sind vier Wochen Kriegsdauer verhältnismäßig, vier Monate dagegen nicht mehr? Eine ethische Erörterung des Irak-Krieges kann diese Fragen allein nicht beantworten. Sie bleibt, wenn sie am Recht auf eine militärische Durchsetzung der Resolution 687 und auf Beseitigung des terroristischen Bedrohungspotentials Saddam Husseins festhält, auf die Kompetenz einer möglichst objektiven militärischen Lagebeurteilung angewiesen. Im allgemeinen gilt: Je länger der Krieg dauert, je unkalkulierbarer sein Verlauf ist, desto zahlreicher sind die Opfer unter Zivilisten wie Soldaten, desto größer die Zerstörungen, desto tiefer die physischen und seelischen Wunden. Aber die Alternative zum Einsatz militärischer Mittel war und ist nicht der Frieden, sondern die Tyrannei des Regimes Saddam Husseins, sein Krieg gegen die Kurden und Schiiten und die terroristische Bedrohung der Nachbarn, Israels und der westlichen Welt. Die Beendigung dieser Übel unter Einhaltung der oben genannten Grenze und des ius in bello muß die Verhältnismäßigkeit der Mittel bestimmen. Wenige Monate nach der Beendigung der militärischen Handlungen läßt sich, auch wenn noch nicht genau zu überblicken ist, welche Opfer und Schäden sie verursacht haben, wohl feststellen, daß offenkundige Verletzungen dieses Grundsatzes nicht vorliegen. 7. Das zur Hegung des Krieges entwickelte ius in bello muß beachtet werden: a) die Wirkung der eingesetzten Waffen sche Zwecke begrenzbar bleiben und
muß kontrollierbar,
mithin auf militäri-
b) die Immunität der Nichtkombattanten muß gewahrt werden können. Auch dieses Kriterium bereitete Schwierigkeiten. Einerseits war die Kontrollierbarkeit und d. h. die Zielgenauigkeit der eingesetzten Waffen seit dem Golfkrieg 1991 noch beträchtlich weiterentwickelt worden. Die technischen Möglichkeiten, sie genau ins Ziel zu lenken, erleichterten die Einhaltung des Prinzips der Immunität der Nicht-Kombattanten ebenso wie die des Grundsatzes 28 FS Ballestrem
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der Verhältnismäßigkeit. Andererseits bedeutete dies nicht, daß Zivilisten nicht zu Schaden kamen. Bilder von Opfern der Zivilbevölkerung, von verletzten oder getöteten Kindern und von Zerstörungen der Wohnviertel beunruhigen. Auch wenn sie häufig nicht eo ipso bewiesen, was sie beweisen sollten, mithin selbst als Waffe im Kriegsgeschehen eingesetzt wurden, bleibt die Beunruhigung. Die Opfer unter der Zivilbevölkerung, wenn sie denn wirklich von der kriegführenden Koalition verursacht wurden, können ungewollte Nebenwirkungen oder gar Fehlsteuerungen der eingesetzten Waffen sein. Auch bei Präzisionswaffen kann es ein Versagen der Technik geben. Entscheidend für die Einhaltung des ius in bello ist nicht nur die technische Kontrollierbarkeit der eingesetzten Waffen, sondern auch die nachweisbare Intention der kriegführenden Koalition, die Immunität der Zivilbevölkerung zu achten. Ein gezielter Einsatz der Waffen gegen die Zivilbevölkerung ist sittlich verwerflich. Die kriegführende Koalition hätte damit rechnen müssen, daß ein derartiger Verstoß gegen die bellum-iustum-Lehre ihrer militärischen Intervention die Legitimität entzieht und die öffentliche Meinung demokratischer Gesellschaften (noch mehr) gegen sie aufbringt. Es wäre für sie auch keine Entschuldigung gewesen, wenn das Regime Saddam Husseins fortgefahren wäre, in seiner Kriegführung gegen das Kriegsvölkerrecht zu verstoßen, die eigene Zivilbevölkerung als Geisel zu nehmen und zum Instrument einer zynischen Kriegführung zu machen, zivile und militärische Einrichtungen untrennbar zu vermischen, Soldaten in Zivilkleidung kämpfen zu lassen, Kriegsgefangene unmenschlich zu behandeln, Selbstmordattentäter als Waffe zu benutzen und chemische Waffen einzusetzen. Eine derartige Kriegsführung hätte für die Koalition nach den Erfahrungen mit Saddam Hussein im Golfkrieg 1991 und im Krieg gegen den Iran keine Überraschung sein können. Und selbst wenn sie es wäre, sie befreit die Koalition nicht von der Pflicht, alle Kriterien der bellum-iustum-Lehre einzuhalten.
IV. Schlußfolgerungen Welche Schlußfolgerungen sind aus der Anwendung der Kriterien der bellumiustum-Lehre auf den Irak-Krieg zu ziehen? 1. Die bellum-iustum-Lehre ist weiterhin nicht nur gültig, sondern auch geeignet, um die Frage nach der Legitimität einer militärischen Intervention zu beantworten. Wenn eine Entwicklung der Waffentechnologie, wie jener der Kernwaffen, oder der Kriegführungsstrategie, wie jener der humanitären Interventionen oder asymmetrischen Kriege im Zeitalter eines globalen Terrorismus, die Einhaltung des einen oder anderen Kriteriums auf den ersten Blick erschwert oder gar unmöglich macht, dann kann die Schlußfolgerung nur lauten, daß ein Krieg unter diesen Umständen nicht mehr zu legitimieren ist. Aber deshalb ist noch nicht die bellum-iustum-Lehre überholt. Im Gegenteil, sie wird gerade bestätigt und der, der sie ablehnt, beruft sich nichtsdestotrotz auf ihre Kriterien. 30
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Der Präsident des Päpstlichen Rates Justitia et Pax Renato Kardinal Martino wird der Lehre der katholischen Kirche nicht gerecht, wenn er behauptet, die bellum-iustum-Lehre sei wie die Todesstrafe überholt, oder wenn er meint, ein gerechter Krieg sei absolut unmöglich. Er übersieht, daß Regierungen in ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl nicht nur das Recht, sondern die Pflicht haben, ihre Bürger zu verteidigen - notfalls mit Waffen, wenn ihr Leben oder ihre existentiellen Rechte bedroht sind. Diese Pflicht zur Notwehr unterstreicht nicht nur der Katechismus der Katholischen Kirche 31 , von dem Martino meint, er sei durch die Enzyklika Evangelium Vitae von Johannes Paul II. überholt. Auch in Evangelium Vitae weist der Papst auf diese Pflicht hin 3 2 und in seiner Neujahrsansprache an das Diplomatische Korps beim Hl. Stuhl am 13. Januar 2003 Schloß er, trotz seines engagierten Einsatzes für den Frieden im Nahen Osten das Recht auf militärische Mittel als ultima ratio nicht aus: Der Krieg darf, wenn es um die Sicherung des Gemeinwohls geht, zwar „nur im äußersten Fall und unter sehr strengen Bedingungen gewählt werden", aber er darf gewählt werden. 33 2. Die Frage nach der Möglichkeit einer sittlichen Rechtfertigung der militärischen Intervention der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten im Irak läßt sich mit den ethischen Kriterien der bellum-iustum-Lehre allein nicht beantworten. Dazu bedarf es auch einer kompetenten Analyse der politischen, völkerrechtlichen und militärischen Entwicklungen im Irak und im Nahen Osten. Erst wenn eine solche Analyse und die sittliche Orientierung zusammenkommen, ist eine ethische Reflexion, mithin eine Rechtfertigung oder Mißbilligung der militärischen Intervention im Irak möglich. Auch auf der Basis hoher Kompetenz aber werden die Analysen der politischen und militärischen Entwicklungen sowie die Interpretationen des Völkerrechts nicht immer zu identischen Ergebnissen führen. 34 Dies gilt auch für bischöfliche Stellungnahmen.35 Es ist ein Gebot des inneren Friedens in
30 Ein markantes Beispiel für einen solchen Widerspruch ist der Hirtenbrief der deutschen Bischöfe „Gerechter Friede" vom 27.9.2000. In Ziffer 1 erklären die Bischöfe, die Lehre vom gerechten Krieg sein an ein Ende gekommen, in den Ziffern 150 bis 161 bestätigen sie sie wie selbstverständlich in ihrer Rechtfertigung humanitärer Interventionen. Vgl. dazu M. Spieker, „Gerechter Friede". Kritische Anmerkungen zum Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom 27. September 2000, in: Die Neue Ordnung, 55. Jg.(2001), S. 467ff. Eine nüchterne „Ehrenrettung" der bellum-iustum Lehre aus evangelischer Perspektive liefert Wilfried Härle, Wenn Gewalt ethisch geboten ist. Das Vorgehen der USA und die christliche Vorstellung vom „gerechten Frieden", in: Zeitzeichen 3. Jg. (2002), Heft 2, S. 3Off. 31 KKK 2265. 32 Johannes Paul II, Evangelium Vitae 55. 33 Johannes Paul //., Ansprache an das beim Hl. Stuhl akkredidierte Diplomatische Korps am 13.1.2003, in: Osservatore Romano (deutschsprachige Wochenausgabe) vom 24.1.2003, Ziffer 4. 34 Darauf weisen auch die amerikanischen Bischöfe in ihrem Statement on Iraq vom 13.11.2002 hin. 35 Vgl. auch Robert Kennedy, War and the bishops, (Anm. 18).
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einer demokratischen Gesellschaft, abweichende Meinungen dann nicht des Fundamentalismus, der Häresie, des Imperialismus oder gar der sittlichen Verderbtheit zu bezichtigen. 3. Die Politik hat es in der Regel nicht mit der Entscheidung zwischen Licht und Finsternis, zwischen einem großen Gut, genannt Frieden, und einem großen Übel, genannt Krieg, sondern mit der Wahl zwischen zwei Übeln zu tun. Dies gilt für die Politik des amerikanischen Präsidenten und der Alliierten im Irak ebenso wie für die Politik Chiracs, Schröders oder Putins. Die Alternative zum Irak-Krieg war nicht der Frieden, sondern die Fortdauer der despotischen Herrschaft Saddam Husseins, seiner terroristischen Bedrohung und seiner Mißachtung der 21 Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. In einem solchen Dilemma zwischen zwei Übeln das kleinere Übel zu wählen, ist die Kunst der Politik und eine sittliche Entscheidung dazu.
Die Weltrepublik - doch keine Chimäre? Von Hanns W. Maull In seinem Aufsatz „Auf dem Weg zur Weltrepublik?" setzt sich Karl Graf Ballestrem mit Immanuel Kants Antworten auf die Frage auseinander, wie sich der „Ewige Friede" politisch schaffen, wie sich also das Mit- und Gegeneinander der Staaten im Sinne einer dauerhaft friedlichen internationalen Ordnung ausgestalten ließe. Wie Kant sieht auch er dabei keine andere Möglichkeit, die realistisch und erstrebenswert zugleich ist, als ein „Bündnis der Völker" (foedus pacißcum), eine lose Selbstverpflichtung demokratisch verfasster Staaten auf den Frieden, die mit der Ausbreitung demokratischer Regierungsformen schrittweise universale Verbindlichkeit erlangen sollte. Der Idee einer „Weltrepublik", eines demokratisch verfassten Weltstaates, erteilt er dagegen eine klare Absage. Aus mehreren Gründen - der gesicherten Abwesenheit von Krieg, der Gewährleistung der Menschenund Bürgerrechte im Weltmaßstab und der Chance für einen verantwortlichen Umgang mit den Ressourcen und kulturellen Schätzen der Erde - hält er die Weltrepublik zwar durchaus für wünschenswert und auch für vorstellbar; mit Kant teilt er allerdings auch die Befürchtung, dass ein Weltstaat zum „seelenlosen Despotismus" entarten könnte und fragt: „Um des Friedens willen zum Polizeistaat, um der Menschenrechte willen zum tyrannischen Wohlfahrtsstaat, um des Überlebens willen zu einem gigantischen Überwachungsstaat"?1 Hier soll - ausgehend von diesen Überlegungen - eine etwas andere Argumentation entfaltet werden. Danach ist die Weltrepublik nicht nur im Grundsatz vorstellbar, sie ist bereits im Entstehen begriffen. Unter „Weltrepublik" verstehe ich dabei - mit Kant - ein politisches Gebilde mit Staatsqualität, das geographisch universale Zuständigkeit besitzt. Sie impliziert eine Verdichtung der zwischenstaatlichen und zwischengesellschaftlichen Beziehungen, die sich grundsätzlich vom „Bündnis der Völker", dem lockeren zwischenstaatlichen Kooperationsverbund, unterscheidet. Ihre spezifische Qualität besteht in der Möglichkeit der autoritativen Regelsetzung, der Durchsetzung universaler Normen auch gegen Widerstand (Sanktionsmöglichkeiten) und einer demokratischen Grundstruktur sowohl im Sinne von Macht und Gegenmachtbildung (