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German Pages 405 [412] Year 2021
Metaphysik und Kritik
Metaphysik und Kritik Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Sabine Doye Marion Heinz Udo Rameil unter Mitarbeit von Holger Kaletha
w DE
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Walter de Gruyter • Berlin • New York
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3-11-017445-6 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
XI
Siglen
XIII
Wolfgang
Janke
Wirklichkeit und Wirklichkeiten. Metaphysischer Zweifel und Krisen der Metaphysik Andreas
Graeser
Der Mythos vom Platonischen Parmenides der philosophia perennis Theodor
als Dokument 9
Ebert
Leibniz über Monaden als Einheiten Dieter
1
19
Scheffel
Kants Idee einer kritischen euklidischen Geometrie
35
Udo Rameil Kant über Logik als Vernunftwissenschaft
51
Klaus Düsing Spontane, diskursive Synthesis. Kants neue Theorie des Denkens in der kritischen Philosophie . . . . Michael Wolff Kants Urteilstafel. Nicht nur eine Replik Marion
83 109
Heinz
Kants Fundierung von Begriff und Urteil in der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption. Überlegungen im Anschluß an Klaus Reich
137
VIII
Inhalt
Jacqueline
Marina
On Some Presumed Gaps in Kant's Refutation of Idealism Joachim
Hruschka
Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ Bernward
Hariolf
183
Oberer
Honeste vive. Zu Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA 06, 236. 20-30 ..
203
Edwards
Universal Lawgiving and Material Determining Grounds in Kant's Moral Doctrine of Ends Georg
167
Grünewald
Form und Materie der reinen praktischen Vernunft. Über die Haltlosigkeit von Formalismus- und SolipsismusVorwürfen und das Verhältnis des kategorischen Imperativs zu seinen Erläuterungsformeln
Jeffrey
153
215
Geismann
Über Pflicht und Neigung in Kants Moralphilosophie
237
Oliver Robert Scholz „ . . . den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen" Immanuel Kants Präzisierung und Formalisierung des Aufklärungsprogramms Martin
Bondeli
Maimon über Kants Beweis synthetischer Urteile a priori Sally
251
265
Sedgwick
Hegel on Kant's Idea of Organic Unity: The Jenaer Schriften Burkhard
285
Tuschling
Vernunft, Recht, Staat, Völkerrecht. Resultate des philosophischen Produktionsprozesses bei Hobbes, Kant, Hegel
299
Inhalt
IX
Thomas M. Seebohm Die logische Struktur der Hegeischen Dialektik
333
Sabine Doyé Die Rekonstruktion der Kantischen Rechtslehre in Habermas' Diskurstheorie des Rechts
353
Otto Pöggeler Metaphysische Perspektiven. Julius Ebbinghaus und Martin Heidegger
Bibliographie Manfred Baum
379
391
Vorwort der Herausgeber Der Titel der Festschrift Metaphysik und Kritik, die Manfred Baum zum 65. Geburtstag gewidmet ist, soll auf die Gestalt der Philosophie verweisen, die zu erkunden und in ihrem Bedeutungsgehalt auszumessen Manfred Baum sich in besonderem Maße zur Aufgabe seines philosophischen Wirkens gemacht hat: die Philosophie Immanuel Kants. Metaphysik und Kritik sind für Kants spezifischen Begriff der Philosophie von grundlegender Bedeutung: „Metaphysik also, sowohl der Natur als der Sitten, vornehmlich die Kritik der sich auf eigenen Flügeln wagenden Vernunft [... ] machen eigentlich allein dasjenige aus, was wir im echten Verstände Philosophie nennen können." (KrV B 878) Es waren die Marburger Philosophen Julius Ebbinghaus und Klaus Reich, die - trotz der bedeutenden Leistungen der Kant-Forschung des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts - seit den 20er und 30er Jahren allererst ein der Kantischen Philosophie in ihrer Gesamtheit gerecht werdendes Verständnis freigelegt und damit die Kant-Forschung neu begründet haben. Der von diesen beiden Forschern nicht in philosophiehistorischer, sondern in systematisch-philosophischer Absicht initiierten Befreiung der Kantischen Philosophie von den schon unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung einsetzenden Mißverständnissen ihrer genuinen Problemstellung und von den Entstellungen ihrer wesentlichen Lösungsansätze und der dazu unverzichtbaren methodischen Mittel fühlt sich Manfred Baum in Forschung und Lehre verpflichtet. Seine in der Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants gewonnene Haltung eines kritischen Rationalisten prägt auch seine intensive und umfassende Beschäftigung mit Themen und Autoren der Philosophie von der griechischen Antike bis zur modernen und zeitgenössischen Philosophie. Im vorliegenden Band sind philosophische Beiträge von Freunden und Kollegen versammelt, die mit ihm und seinem Denken in enger Verbindung stehen und ihn auf seinem akademischen Weg begleitet haben. Wir danken Tasho Statev Kaletha und Holger Kaletha für die sorgfältige technische Bearbeitung der Beiträge und dem Verlag Walter de Gruyter für die freundliche Betreuung des Bandes. Unser Dank gilt zudem der Unterstützung dieser Festschrift durch den Fachbereich für Geistes- und Kulturwissenschaften, das Rektorat und die Gesellschaft der Freunde der Bergischen Universität Wuppertal.
Siglen Die Schriften Kants werden nach Band und Seite der
Akademie-Ausgabe:
Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1-22 Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1900 ff.
unter Verwendung der folgenden Siglen - vgl. Kant-Studien 93 (2002) Heft 3 - zitiert: AA
Akademie-Ausgabe
Anth
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 7)
BW
Briefwechsel (AA 11-13)
EaD
Das Ende aller Dinge (AA 8)
GMS
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA 4)
KpV
Kritik der praktischen Vernunft (AA 5)
KU
Kritik der Urteilskraft (AA 5)
Log
Logik (AA 9)
MAM
Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte (AA 8)
MS
Metaphysik der Sitten (AA 6) (RL- Rechtslehre; TL: Tugendlehre)
Prol
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA 4)
RGV
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 6)
TG
Träume eines Geistersehers, erläutert durch die Träume der Me-
TP
taphysik (AA 2) Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA 8)
VRML
Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen (AA 8)
WA
Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (AA 8)
WDO
Was heißt: Sich im Denken orientieren? (AA 8)
ZeF
Zum ewigen Frieden (AA 8)
Kants Kritik der reinen Vernunft wird nach der Originalpaginierung der ersten bzw. zweiten Auflage unter Verwendung der folgenden Siglen zitiert: KrV
Kritik der reinen Vernunft (A- 1. Aufl.; B: 2. Aufl.)
Wirklichkeit und Wirklichkeiten Metaphysischer Zweifel und Krisen der Metaphysik Wolfgang Janke, Wuppertal Vormetaphysische Wirklichkeit. „Eines Schatten Traum sind Menschen" Am Anfang war der archaische Zweifel: Vermag sich der ungeheure Mensch, alles bezwingend, auf Erden zu halten, oder fällt er binnen kurzem haltlos verblühend dem Vergehen und Tod anheim? „Wie eine Blume geht er auf und welkt, er schwindet dahin wie ein Schatten" (Hiob 14, 1-2 - vgl. 90. Psalm). Ist unser Leben etwa ein Traum und die Todesstunde ein Erwachen? Pindars berühmteste Gnome steigert die Unwirklichkeit von uns „Tagwesen" (Ephemeroi) zum Traum von schwankenden Schatten. „Eines Schatten Traum (skiäs önar) sind Menschen" (8. Pythie, 5. Triade). Und Aristophanes' verzweifelter Spott höhnt: „So höret, ihr Menschen, / ihr Nichtsvermögenden . . . , / ihr vergänglichen Schattengestalten / . . . traumgleich" (Die Vögel 68489. - Vgl. Aischylos, Prometheus 545-550). Daraus spricht mythisch-poetische, tragisch-komische Existenzerfahrung. Wir schwanken bedenklich nach zwei Seiten (du-bitare, zwei-felnd) zwischen Sein und Nichtsein: in Wirklichkeit unwirklich, im Licht ein Schatten, das Leben ein Traum, vor dem Ewigen wie ein Tag. Metaphysischer Zweifel und Sicherung der realitas actualis Am Anfang der Neuzeit war der methodisch instrumentalisierte, metaphysische Zweifel als Weg zu fundamentaler Gewißheit. Mit dem Vorsatz Descartes' „De omnibus dubitandum" fing das Denken von neuem an. Im Angriff dieses radikalen Zweifels kommt alles ins Schwanken. Beirrt uns nicht die wahrgenommene Welt, da unser Erkennen oft genug den Täuschungen der Sinne ausgesetzt ist? Vollzieht unser intentionales Vorstellen (ich stelle etwas als an sich und außer mir bestehend vor) ein Hinträumen von Traumgebilden? Metaphysisch formuliert: Ist das reflexiv überprüfte Wahre (verum qua clare et distincte perceptum) auch wirklich seiend (verum qua ens)? Und schließlich in wahnwitziger Steigerung des Zweifels gefragt: Ist das als wahr und wirklich Vorgestellte, die in mathematischer Evidenz erfaßte Außenwelt, von aktualer Realität oder ein durch einen genius malignus eingegebenes „Weltbild"? Das scheint weit hergeholt und uns fremd. Aber wächst nicht seit langem das Be-
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Wolfgang Janke
wußtsein, daß der mathematisch-technologisch beherrschte Kosmos gar nicht die wahre Welt, sondern ein Wahn, eine Fremde darstellt, in welcher eine verblendete Menschheit nicht mehr zu Hause ist? Die solcher Zweifel-Klimax folgende Meditation sucht dem Schwanken ein Ende zu machen. Sie geht auf das ego-cogito als einem von keinem Zweifel mehr zu erschütternden Fundament der Seinsgewißheit zurück: Das Sein des Zweifels widerlegt den Zweifel des Seins. Und die die Existenz der Welt beweisenden Gottesbeweise im Doppelschritt der 3- und 5. Meditation denken dem von uns erwirkten Sachgehalt (realitas obiectiva) Wirklichkeit (realitas actualis) zu, indem sie diese auf eine Ursache zurückführen, die im Stande eminenter Realität ist: auf die aktual existierende Allrealität Gottes. Der verbleibende Zweifel an der Realität der Außenwelt löst sich am Ende dadurch auf, daß die Existenz eines ens perfectissimum die Hypothese eines imperfekten Deus deceptor sinnlos macht. Diese Beweisgänge einer theologia rationalis scheinen die psychologia rationalis und deren Prinzip, das apperzeptive Ich, zu ergänzen. Sie lösen eine immanente Krise der Metaphysik aus. Besteht der Anfangs- und Einheitsgrund alles Wirklichen in der Subjektivität des Ich-denke und der Apperzeption oder in der Substantialität des göttlichen Absoluten, dessen Begriff seine Existenz in sich schließt?
Wirklichkeit - Kategorie der Modalität. Krise der Ontotheologie und transzendentale Objektivierung der Erscheinung Kritisch bewältigt ist diese Krise der Metaphysik (Leibniz - Spinoza) durch Kants transzendentale Logik. Da ist die Zweifelsfrage, ob unser Vorstellen objektiv Reales (realitas actualis im Cartesischen Verstände) zur Erscheinung bringt, kritisch beschieden worden. Unsere reinen Verstandesformen (die Kategorien, in Sonderheit die Modalkategorie von Wirklichkeit und Dasein) sind zwar reine Erkenntnisprinzipien (principia cognoscendi), aber in eins Prinzipien der Gegenstände unserer Erkenntnis (principia essendi). Den Nachweis liefert eine transzendentale Deduktion im Rückgang auf die ursprünglich einigende Einheit des Ich-denke.1 Hier sind lediglich die Folgen für die zweifelsfreie Erfassung der Wirklichkeit und Möglichkeit zu betrachten. Transzendentallogisch heißt „real möglich" - und nicht nur logisch möglich und widerspruchsfrei denkbar - , was mit den formalen Bedingungen unserer Erkenntnis (dem Nebeneinander des Raums, dem Nacheinander der Jetztzeit, dem Auseinander der Wirkung aus der Ursache, dem Ineinander von Eigenschaft und Substanz usw.) übereinstimmt. Wirklich heißt, was unter den materialen Bedingungen unserer Erfahrung (in Zusammenhängen der EmpAufbau und Problematik der objektiven und subjektiven Deduktion und die Arten, Schwierigkeiten und Schwächen transzendentaler Beweise überhaupt sind ein Lebensthema im Denken und Forschen von Manfred Baum.
Wirklichkeit und Wirklichkeiten
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findung) gegeben ist. Wahrnehmung, die den Empfindungsgehalt als Stoff zum Begriff hergibt, ist der einzige Charakter der Wirklichkeit, das Kriterium von Dasein im Gegensatz zum Nicht-Dasein. Entscheidend aber wird der Grundsatz (Postulat des empirischen Denkens): Das Wirklichsein der Dinge als Erscheinung ergibt sich aus der Weise, wie sich die Dinge zum Vermögensstande des Menschen in seinem Wahrnehmungsvermögen verhalten. Wirklichsein (wie Möglich-, Notwendigsein) konstituieren gar nicht den Gegenstand in seiner objektiven Realität (Sachgehalt), sie bestimmen allein den Modus, wie sich der Gegenstand zum Vörstellungsstand des Ich-Subjekts verhält. Das durchstreicht die Definition der Schulphilosophie, Wirklichkeit (existentia, actualitas) sei complementum possibilitatis2; recht betrachtet nämlich enthält das Wirkliche im Begriff des Gegenstandes gar nicht mehr als das Mögliche. Sein im Sinne von Wirklichsein ist kein reales Prädikat, sondern Position des Verhältnisses eines Gegenstandes der Sinnenwelt zum endlich-menschlichen Erkenntnisvermögen. Das nun bringt den ontologischen Beweis der Metaphysik in der Disziplin der theologia rationalis zu Fall, stürzt die Absicherung vor dem metaphysischen Zweifel ein und fordert die spekulative Logik der Hegeischen metakritischen Ontotheologik heraus. Weil eben in Kants Kritik der reinen theoretischen Vernunft das Wirklichsein als Modalkategorie immer nur von empirischem Gebrauch ist, kann die Wirklichkeit Gottes unmöglich bewiesen und eben darum auch unmöglich widerlegt werden. Und weil wir die Erkenntnisbedingungen reiner Vernunftwesen - eines anschauenden Verstandes in intellektueller Anschauung - nicht kennen und weil wir überdies nicht beweisen können, daß unsere Erkenntnisweise des Wirklichen die einzig mögliche ist, bleibt die Annahme von Noumena, von Gott- und Vernunftwesen einer intelligiblen Welt, problematisch. Sie sind logisch möglich, der realen Möglichkeit nach aber unwirklich und unter den materialen Bedingungen unserer Erfahrung nicht gegeben. In eins ist der metaphysische Zweifel im Schwanken zwischen Wirklichkeit und Schein, Existenz und Traum stillgestellt. Ob das Ich aus seinen Vorstellungen zur Realität der Außenwelt herauskommt, ist ein Scheinproblem. Das ist nicht nur eine Verirrung, weil Dasein immer schon auch im objektivierenden Entdecken von „Vorhandenem" In-der-Welt-sein bedeutet (Heidegger), oder weil diese metaphysische Frage angesichts der unbezweifelbaren empirischen Realitätswahrnehmung künstlich und sinnlos wäre (Carnap) oder darum, weil die Allgemeinbegriffe empirischer Wissenschaft reale Dinge an sich als konstitutives Korrelat voraussetzen (Peirce). Das Problem erledigt sich im Nachweis der Transzendentalphilosophie: Die objektive Realität einer außer uns vorgestellten Körperwelt ist in den reinen Formen unseres Anschauens und Denkens zur Erscheinung gebracht und ihrer Möglichkeit und Wirklichkeit Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch aller Dinge überhaupt (Deutsche Metaphysik) § 14: „Würklichkeit ist Erfüllung des Möglichen".
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Wolfgang Janke
nach modallogisch gewahrt. Fichtes Grundlage der gesamten — theoretischen und praktischen - Wissenschaftslehre wird die Kategorie der Realität als die auf den Begriff gebrachte Tathandlung des sich schlechthin selbst setzenden Ich an den Anfang einer Deduktion stellen, welche das gegenständliche und widerständliche Sein der Dinge aus den Handlungsgesetzen des absoluten Ich-Subjekts systematisch entfaltet. Wirkliche Realität ist Tätigkeit der Ichheit - und nichts anderes. „Dogmatische" Wirklichkeit (energeia/actus). Zur Seinsstruktur von Bewegung, Denken und göttlichem Leben Kants transzendentallogische Postulate über Wirklichkeit und Möglichkeit lassen die aristotelisch-scholastische Ausarbeitung der Grundbegriffe energeia, entelecheia / dynamis — actus / potentia zurücktreten. Sie geraten in die Krise und Antinomik einer dogmatischen Metaphysik, die immerhin das Verdienst hat, eigenständige Wirklichkeiten von Natur, Seele und Gott ontologisch aufzubauen. Seit Aristoteles bedeutet Wirklichsein eine vorrangige Bedeutung von Sein. Diese ist nicht an ihr selbst definierbar, sondern analog, im Verhältnis zum Möglichsein, bestimmt: Wirklichkeit ist verwirklichte Möglichkeit, Möglichkeit ist noch nicht verwirklichte Wirklichkeit. Das rettet das Bewegte vor dem (Zenonischen) Verdacht der Unwirklichkeit und das Körperhafte In-Bewegungsein vor dem Unwesen, unaufhörlicher Wechsel ins Anderssein zu sein. Nach Aristoteles ist Bewegung nicht bestandloser Übergang vom Noch-nicht ins Nicht-mehr, sondern Wirklichkeit: Wirklichkeit eines der Möglichkeit nach Seienden als eines Möglichen auf dem Wege zur Verwirklichung (Phys. III 1; 201a 10-11). Eine eigentümliche Analogie von Möglichkeit und Wirklichkeit konstituiert auch den Vorgang des Denkens. Unsere denkenkönnende Seele ist Ort möglicher Anwesenheit von Ideen. Ideen (Vernunftgedanken) kommen zur Wirklichkeit, indem unsere Vernunftseele in sich eine lichtende Tätigkeit (noüs poietikös, das Unsterbliche in uns) erleidet, welche die Ideen sichtbar macht, so wie das Licht den farbigen Abglanz der Welt wirklich vor Augen bringt. Das weist über sich auf eine Tätigkeit göttlichen Denkens hinaus. Dieses Denken denkt das Würdigste, nach Hegel: das Vortrefflichste, welches an und für sich ist. So verwirklicht sich das Denken im Gedanken seiner selbst (nöesis noeseos). Das macht die Lebendigkeit Gottes begreiflich, die in ihrer Ruhe zugleich reine, in sich kreisende Tätigkeit ist. „Der höchste Punkt ist also vielmehr, wo Dynamis, Energeia und Entelecheia vereint sind."3 Von daher hat die Scholastik das Geistwesen Gottes als actus purus verstanden und das Gesamt der geschaffenen, aus Materiemöglichkeit und FormHegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 1. Tl., 1. Abschn., 3. Kap., B: Philosophie des Aristoteles.
Wirklichkeit und Wirklichkeiten
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Wirklichkeit zusammengesetzten Wesen (Pflanzen, Tiere, Menschen - Engel) in einer schön gestuften Seinsordnung der Geschöpfe (ordo creationis) aufgebaut. Deren Ordnungsprinzip ist eben das Seinsverhältnis von actus - potentia (materia - forma / essentia - esse) nach Maßgabe der Nähe und Ferne zu Gott, der reinen, von Materie und nichtseiender Möglichkeit absolvierten Vernunftwirksamkeit. 4 Diese Wirklichkeitsordnung begann sich im Zuge des spätmittelalterlichen Ordnungsschwundes aufzulösen. Sie ist mit der transzendentalen Analyse der Wirklichkeit außer Kraft gesetzt und in der pantheistischen Durchdringung von Vernunft und Wirklichkeit überboten worden. Diese begreift das Absolute als die Einheit von Subjektivem und Objektivem, die nicht tote Identität, sondern energeia, Tätigkeit, ist: als Bei-sich-bleiben im Andersein. (Das komplettiert die biblische Vorstellung von der Schöpfung, welcher das Moment der Rückkehr in sich selbst fehle.)
„ Was wirklich ist, ist vernünftig." Hegel und die unwissenschaftliche Nachschrift zur Existenzvergessenheit Hegels System entfaltet die Durchdringung von Wirklichkeit und Vernunft mit spekulativer (hochfliegender) Geisteskraft. „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig." 5 In der Tiefe seines Wesens ist alles Wirkliche vernunfthaft: Natur und Kosmos in ihrer Gesetzlichkeit, die Weltgeschichte als Fortschreiten im Bewußtsein der Freiheit, die Abstufungen des subjektiven Geistes in Seele, Bewußtsein und Geist, die Ausformungen des objektiven Geistes (abstraktes Recht, Moralität, Sittlichkeit) in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat, die Manifestation des absoluten Geistes (Kunstreligion, offenbare Religion, Vernunftwissenschaft) im sinnlichen Scheinen der Idee, in andächtiger Vorstellung, als trinitarischer Prozeß der absoluten Idee. Und umgekehrt gilt: Alles Vernünftige ist wirklich. Die ewige Idee (der göttliche Geist vor der Erschaffung der Welt und des endlichen Geistes) entäußert sich aus Freiheit ins äußerste Anderssein (ins Auseinander von Raum und Zeit), um aus der Entäußerung so in sich zurückzukehren, daß es das Andere und Fremde in sich aufnimmt. Das Leben der Vernunft bleibt im Anderssein bei sich selbst und macht so die wahre Tiefe alles Wirklichen aus. Gegen den „phantastischen" Gedanken des Ich=Ich erhebt sich die leidenschaftliche Einrede der Existenzvergessenheit. 6 Dabei wird Existenz ausschließlich dem Wirklichsein und Selbstwerden des Menschen zugesprochen. (Heideggers Daseinsanalytik wird die Wirklichkeit des Seienden, wie sie im Nur-Hinsehen der positiven Wissenschaften thematisiert wird, als Vorhandensein hinter den umsichtigen Umgang mit Zuhandenem im VerweisungszusamThomas von Aquin, De ente et essentia. - Summa contra gentiles III 64 u. ö. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts 1821, Vorrede. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken.
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Wolfgang Janke
menhang der Zeugwelt zurückstellen und beides, Vorhanden- und Zuhandensein, vom existierenden Dasein des Menschen abtrennen.) Kierkegaards Pochen auf Existenz stürzt Hegels Logik und die Notwendigkeit ihrer Gedankenfolge (Sein - Nichts - Werden) in die Krise. Das Zwischenspiel der Philosophischen Brocken hält dem ideellen Vollzug der Wesensnotwendigkeit das geschichtliche Werden der Existenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit entgegen, nämlich als Selbst-Werden des Einzelnen im Augenblick innerlicher Entschiedenheit. Damit stellt sich dem abgeschlossenen System der Vernunftgewißheit das unabschließbare Dasein, der Allesvermittlung ein unvermittelter Sprung, dem absoluten Wissen das religiöse Existenzstadium entgegen: ein Glauben über dem Abgrund von Ungewißheit durch Zweifel und Verzweiflung hindurch. In Wirklichkeit existieren heißt, als Einzelner, nicht versteckt in der Menge, unmittelbar vor Gottes Majestät stehen und sein Selbstwerden durch Angst, Furcht und Zittern hindurch durchsichtig in derjenigen Macht zu gründen, die das Selbstverhältnis unseres existierenden Geistes gesetzt hat (vgl. Die Krankheit zum Tode). Das beantwortet die Frage: „Wie die Existenz beschaffen sein muß, damit der Zweifel möglich werde." 7 Verlust und Wiederholung der uns angehenden
Wirklichkeiten
Wir leben, da der wissenschaftsgläubige Positivismus, der metaphysikfeindliche Nihilismus und die seinsverlassene Maschinentechnik immer entschiedener heraufkommen, im Zeitalter des Wirklichkeitsverlustes und einer präzisierten Welt. Signifikant dafür ist Comtes' Drei-Stadien-Gesetz. Es formuliert mit dem Vervollkommnungsglauben an den unumkehrbaren Erkenntnisfortschritt eine doppelte, geschichtsträchtige Wirklichkeitsabsage. Unwiederholbar überholt seien das fiktive Weltbild der Religion und die abstrakten Erkenntnisformen der Ideenmetaphysik (welche den Verlust des Mythisch-Numinosen zu kompensieren trachtete). Und positivistisch ist der Anfang moderner „Entmythologisierung". Die mythischen Bestände des Neuen Testamentes, etwa die Dreigeschossigkeit der irdischen Welt mit Himmel und Hölle, seien für unser wissenschaftlich geprägtes Bewußtsein „nicht repristinierbar" (Bultmann). Und der Nihilismus „hinterfragt" die Behauptungen der platonischen ZweiWelten-Metaphysik wie die Gestalten des unvollkommenen Nihilismus (Sozialismus, Positivismus, Utilitarismus u. a. in ihrer metaphysischen Rückständigkeit): Sind ihre Wahrheiten nicht im Grunde lebensdienliche Lügen, ohne die das Menschengeschlecht sich im Andrang des end-, ziel- und sinnlosen Werdens nicht halten und durchsetzen kann? Der einsame Hölderlin, Dichter in dürftiger Zeit, sieht das. Wir sind zu spät gekommen. Die Zeit einer mythischen Wirklichkeit, da Götter und Göttersöhne auf Erden wandelten und da der Mensch wirklich dichterisch auf dieser Erde wohnte, ist vorüber. Für unser undichterisches, dankloses, schlaues GeKierkegaard, Jobannes Climacus oder De omnibus dubitandum est, 2. TI, 1. Kap.
Wirklichkeit und Wirklichkeiten
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schlecht, das ehrfurchtslos den Kosmos ausspäht, ist die Nacht der Götterferne angebrochen. Auch der letzte Gottessohn, Christus, hat die Erde verlassen und der Gott der Philosophen (Plato, Aristoteles, Epikur) lebt jenseits unserer begreifenden Erfassungskraft (epekeina tes ousias), selig-sorglos, unbekümmert um uns. Heinse, dem Dichter des Ardinghello, klagt Hölderlins Elegie Brod und Wein (7. Strophe): Aber Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter, Aber über dem Haupt droben in anderer Welt. Endlos wirken sie da und scheinen's wenig zu achten, Ob wir leben . . .
Ein dreifacher Verlust von Wirklichkeit scheint - zumal in der Epoche äußerster „Seinsverlassenheit" - unser geschichtliches Geschick zu sein. Sind also die Wirklichkeiten einer religiös-numinosen, noetisch-metaphysischen, dichterisch-poietischen Stiftung der Welt nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung vorbei? Das ist ein akuter metaphysischer Zweifel und die gegenwärtige Krise der Metaphysik: Leben wir in einer „präzisierten", wissenschaftlich exakt erfaßbaren und aussagbaren Welt, da religiöse, dichterische, metaphysische Existenzbezüge in strenger, „objektiver" Einstellung endgültig als überflüssig und einer eigenen Überprüfung unzugänglich abgeschnitten und nicht wieder einholbar sind? Um die verlorenen Wirklichkeiten wiedereinzuholen, hat ein selbstkritisches Philosophieren auf die Grundstellung Kants zurückzugehen. Es baut auf das Korrelationsapriori „kein Subjekt ohne Objekt - kein Objekt ohne Subjekt". Weil empirische Wirklichkeit im Vollziehen der reinen Apperzeption entgegengesetzt und zustande gebracht wird, gibt es keinen möglichen und wirklichen Gegen-Stand ohne (setzendes, d. h. etwas als seiend vorstellendes) Subjekt und kein (entgegen-setzendes) Subjekt ohne Objekt. Dieser oberste transzendentale Grundsatz ist unaufhebbar und weder positivistisch zu übergehen noch nihilistisch zu hinterfragen, auch nicht daseinsanalytisch zu berichtigen oder gar seinsgeschichtlich zu verwinden. Recht besehen unterstellt auch der Positivismus unserer Erkenntnis in ihrem letzten Stadium eine (transzendentale) Relation: Das tatsächlich gegebene Wirkliche ist Korrelat der vollendet gedachten positiven Wissenschaften. Und der darüber hinaus gehende Nihilismus stellt die Wirklichkeit von Sein und Werden auf Bedingungen und Sinngebungen zurück, die der menschliche Lebenswille (die lebensmächtige praktische Vernunft) in die Welt hineinlegt. Heideggers Daseinsanalytik endlich hebt zwar gegen Überlagerungen der Subjekt-Metaphysik die Möglichkeit als die ursprünglichste und letzte positive Bestimmung unserer Existenz hervor und bezieht Wirklichkeit als Faktizität und Geworfenheit in den Spielraum unseres Seinkönnens ein (Sein und Zeit § 31). Unausdrücklich aber baut diese Phänomenologie auf einer „jemeinigen" Subjekt-Objekt-Korrelation: „Kein Entworfenes (geworfenes In-der-Welt-seinkönnen) ohne ein Sich-Entwerfen und umgekehrt". Und im Zuge der „Kehre"
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Wolfgang Janke
kommt eine (transzendentale) „Entsprechung" zur Sprache: Keine Entbergung (im „Ereignis" des Seins) ohne (wartend-eräugendes) Da-sein und umgekehrt. Das gilt auch und gerade in unserer Epoche, da wir die Wirklichkeit des „Gevierts" (von Himmel und Erde, Sterblichen und Unsterblichen) in ihrer Verwahrlosung aus dem Bezug zum Unwesen technischen „Bestellens" erfahren. In der Tat, im Zugriff von moderner Wissenschaft und Technologie sind Wirklichkeiten verloren gegangen, die mythische Welt voller Götter, die in großen Werken der Kunst gestiftete Welt, die Überwirklichkeit der Ideenund Vernunftwelt. Dabei meint Verlust der Wirklichkeit nicht, daß es den Schauder des Numinosen, die gotische Kathedrale, die Platonische Idee der Gerechtigkeit nicht mehr gibt, wohl aber, daß all das in wissenschaftlicher Welt zweifelhaft, fern und fremd geworden ist. Die Möglichkeit solcher Entfernung ist dieselbe wie die der Wiederannäherung. Sie findet sich in einer Urkorrelation fundiert, welche die transzendentale Subjekt-Objekt-Beziehung nicht als fernliegend wegläßt, sondern existenzial vertieft. „Kein Angang/Adienz ohne Annahme/Attinenz und umgekehrt." 8 Danach ist in Ding- und Mitwelt alles wahrhaft wirklich, was uns räumlich-zeitlich-geschichtlich so angeht und uns im Innersten derart nahegeht, daß wir es ohne Abzug und Vorbehalt annehmen („attinieren"). Was wir zurückweisen, verdrängen, beschönigen („retinieren") oder indifferent-stoisch unbewegt als Gleichgültiges (adiáphoron) aus unserer Welt heraushalten, das ist existenzialer Wahrheit nach nicht wirklich. Alltäglich halten wir uns solches, das uns bedrängt und nötigt, mit der Redewendung vom Halse: „Das geht mich nichts an" (id nihil me attinet). Das so Retinierte mag zwar zweifelsfrei vorhanden und objektiv real gegeben sein, es ist nicht existent. Es gehört nicht wirklich und innerlich zu meiner Welt. Nun gehen die drei anscheinend verlorenen Wirklichkeiten, die rationalnoetische, die numinos-religiöse wie die im Kunstwerk aufgestellte Welt, unser Existieren in allem geschichtlichen Wandel doch gleich ursprünglich und ohne Widerstreit an. Eine philosophische Besinnung auf dieses transzendentale Existenzverhältnis sollte klar machen: Werden alle drei in ihrem je eigenen Angang wieder zugelassen und wahrhaft angenommen, dann verlieren Zweifel und Krisen der mythisch-dichterisch-ontologisch-metaphysischen Wirklichkeit ihre ruinierende Kraft. Dann versteht sich der Mensch zugleich rational als selbstgewisses, selbstbewußtes und selbstbestimmtes (freies) Vernunftwesen, als nichtige Kreatur vor der maiestas Dei und dichterisch als skiäs ónar - eines Schatten Traum.
Vgl. Vf., Kritik der präzisierten stadt 2002.
Welt, Freiburg 1999. - Ders., Das Glück der Sterblichen, Darm-
Der Mythos vom Platonischen Parmenides als Dokument der philosophia perennis Andreas Graeser, Bern
I.
Auch die Philosophie hat Mythen, die sie pflegt und z. T. fanatisch verteidigt. Dazu gehören Kleinigkeiten wie seinerzeit etwa die Vorstellung einiger analytisch orientierter Denker, ein so Großer wie Wittgenstein könne unmöglich verstanden haben, was Heidegger womöglich mit 'Angst' meinte weshalb der diesbezüglich aufschlußreiche Passus in seinem Brief an Waismann eigentlich nicht publiziert werden sollte;1 dazu gehören umgekehrt hier liegen die Dinge allerdings schon miserabler - Tendenzen auf Seiten der Heideggerianer und der philosophia perennis, die von Mill, Russell, Carnap und anderen wie Tugendhat gegen die Seins-Idee vorgebrachten Einwände einfach totzuschweigen.2 Hier und anderswo finden wir nicht nur eine Bestätigung der These James', daß wir glauben, was wir glauben wollen. Wir begegnen auch einer kalkuliert unwissenschaftlichen Haltung. Daß sie zumal zutiefst un- (und wohl auch anti-) philosophisch ist, sei immerhin erwähnt, von anderen Dingen ganz zu schweigen. Zu den Mythen der Philosophie, die besonders alt sind und sich als wirkungsvoll erwiesen haben, gehört die Vorstellung, daß bestimmte geschichtliche Richtungen, Phasen oder Epochen wenig oder nichts zählen, andere hingegen als traditionskonstituierende Bastionen in normativer Hinsicht positiv auszuzeichnen seien. 3 Vor diesem Hintergrund ist auch die Allianz jener zu sehen, die den Kern der Philosophie als Idee an die Auffassung binden, es gebe seit den Zeiten Piatons ein im Prinzip verbindliches Porträt der Wahrheit. Diese Auffassung - sie geht auf die Neuplatoniker zurück - steht und fällt mit einer bestimmten Interpretation der Dialoge Piatons; sie ist insbesondere an ein bestimmtes Verständnis des Dialoges Parmenides gebunden, weshalb hier auch vom 'Mythos von Piatons Parmenides' gesprochen werden mag. Dieser Mythos soll im Nachfolgenden destruiert und als das erkennbar werden, was Siehe die entsprechenden Hinweise bei M. Murray, A Note on Wittgenstein and Heidegger, in: The Philosophical Review 83 (1974) S. 501-503. Siehe § 5 der XIII. Enzyklika über Glaube und Vernunft („Die moderne Philosophie hat das Fragen nach dem Sein vernachlässigt . . . " ) . Ich denke hier nicht zuletzt an Gadamers Verständnis von Tradition. Gegen seine Vorstellung vom Verstehen als Einrücken in Überlieferungsgeschehen und Heideggers Vorstellung von Wahrheits-Ereignis wende ich mich in meinem Essay Philosophische Hermeneutik - Ein Plädoyer der Unverbindlichkeit?, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2 (2001).
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er in meinen Augen ist, nämlich das Produkt einer unkongenialen Begegnung mit anspruchsvollen Texten, die besseres verdienen als in den Händen fremdartiger Interessen zu bloßen Manualen herabzusinken. II. Unter dem 'Mythos vom Platonischen Parmenides' verstehe ich näherhin die Auffassung, daß im zweiten Teil des Dialoges eine Metaphysik des Absoluten offeriert werde. Diese Auffassung ist weitverbreitet und darf wohl als Standard-Verständnis des Dialoges in unserem Sprachraum bezeichnet werden. Danach meinte Piaton, das Eine befinde sich jenseits vom Sein, sei ohne alle Eigenschaften und mithin unsagbar. Solche und andere Elemente sind bekanntlich durch die neuplatonische Platonrezeption vorgegeben. 4 Gewisse Varianten dieses Verständnisses halten sich hartnäckig als Teil der Einschätzung der Philosophie Piatons und der Gedanken seiner Schüler, deren Meinungen im Wesentlichen als Bestätigung der Auffassungen gelesen werden, die man Piaton im Lichte seiner Wirkungsgeschichte zuschreibt.5 Andere Ausprägungen dieser Vorstellungen leben in und mit der Autorität Hegels weiter, der den Dialog Parmenides bekanntlich bewunderte und in relevanter Hinsicht zumindest vorübergehend als kongeniales Unterfangen in Richtung seiner eigenen Konzeption von Logik als Welt reiner Gedanken empfand. Daß das Eine in der ersten Deduktion des zweiten Teils des Parmenides kein Platonisches Gebilde sein kann, geht daraus hervor, daß die relevante Konklusion („Das Eine ist in keiner Weise", 141E9-10) an einer Voraussetzung hängt, die Piaton in eigener Sache nicht vertreten würde: So heißt es, daß 'sein' - offensichtlich als einstelliges Prädikat verstanden, aber darum nicht notwendig mit dem heutigen 'existiert' identisch - in allen Fällen seines Vorkommens Teilhabe an (der) Zeit signalisiere (141E7-8). Diese These ist nicht nur für heutige Begriffe falsch; sie ist auch Platonisch falsch. Denn wir wissen, daß Piaton im Dialog Timaios zwei Sinne oder Verwendungen von 'ist' (37E6) isoliert, von denen einer als uneigentlicher Gebrauch zu betrachten wäre und ein anderer als eigentlicher, nämlich zeitloser Gebrauch gilt.6 Mit anderen Worten: die im Parmenides statuierte Auffassung, wonach '... i s t . . . ' in sämtlichen Fällen seines Vorkommens Teilhabe an (der) Zeit signalisiert, ist Besonders instruktiv ist hier Plotins Essay V 1 [101; dazu siehe meine Analysen in Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie. Antike, Stuttgart 1992, S. 223-245. Einige Forscher im Bereich der sog. ungeschriebenen Lehre stellen Piaton wie selbstverständlich als Maß der Dinge dar. Umso wichtiger ist hier, im Sinne einer alternativen Betrachtung, z. B. A. Metrys Essay über Speusippus in: Philosophen des Altertums, hrsg. v. M. Erler u. A. Graeser, Darmstadt 2000, Bd. 1, S. 149-162. Es ist auffällig, daß die neuplatonischen Autoren diesen Punkt sehr gut verstanden und seine Tragweite richtig einschätzten. Gleichwohl sind sie vor der naheliegenden Konsequenz (begreiflicherweise) zurückgeschreckt; siehe meine Studie Zeitlichkeit und Unzeitlichkeit. Bemerkungen zu Plotins Unterscheidung zweier 'immer', in: Philosophisches Jahrbuch 94 (1987) S. 127-133.
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keine Auffassung, der Piaton zustimmen würde. Also handelt es sich bei dem in Rede stehenden Gebilde, das nicht an Zeit teilhabe und deshalb in keiner Weise sei, keinesfalls um eine Platonische Entität. Fragen wir, wer allenfalls die These vom 'ist' als Importeur zeitlicher Strukturen als Teil einer Selbstbeschreibung in Betracht ziehen würde, so liegt die Antwort nahe: Parmenides hat, im Kontext der Botschaft der Gottheit, der These Ausdruck gegeben, daß das fragliche Subjekt weder war noch sein wird, da es jetzt ganz und gar sei (Fr. 8,5). Hier hat das 'ist' kraft des 'jetzt' eindeutig zeitlichen Sinn, wenn auch offenbar den einer immerwährenden Gegenwart. Die andere Vorstellung, wonach dieses Eine im Sinne der Devise des erkenntnistheoretischen Exkurses im VII. Brief unsagbar sei, ist in verschiedener Hinsicht absurd und jedenfalls kritikwürdig.7 Die Absurdität beginnt da, wo übersehen wird, daß im VII. Brief diesbezüglich nicht von einem höchststufigen Prinzip die Rede ist, das zum Klischee einer negativen Theologie passen könnte. Vielmehr werden als Beispiele Ideen genannt, das Gute ebenso wie der Kreis-an-sich. (Nota bene: in der Diktion der Politeia handelt es sich bei dem Kreis um eine dianoetische Entität!) Das heißt, was immer 'Unsagbarkeit' im Kontext des VII. Briefes bedeuten mag - es heißt dort eigentlich nicht so (i. e. in gleicher Weise) sagbar wie die sonstigen Dinge offensichtlich handelt es sich um einen Unterschied, der die Beschreibbarkeit bzw. Sagbarkeit kategorial verschiedener Gebilde wie Ideen einerseits und Partizipanten andererseits angeht. Auch wenn wir vielleicht nicht genau wissen, welcher Art das im VII. Brief angesprochene Problem sein mag, ist klar, daß hier sehr normale Komplikationen im Raum stehen müßten. Der Zusammenhang im VII. Brief gibt nämlich im Blick auf die Schwäche jeder Rede zu erkennen, daß wir die Tendenz haben, Gegenstände der Rede durchwegs als Dinge zu behandeln, Begriffe bzw. Ideen aber keine Dinge sind und entsprechend auch nicht dem Status von Dingen assimiliert werden dürfen. Genau diese Problematik - sie taucht in unserer Zeit als Thematik wieder bei Frege auf - ist insofern relevant, als die Regreß-Pflichtigkeit der Ideenannahme auch nach dem Urteil des Aristoteles damit einsetzt, daß Ideen als Gegenstände behandelt werden. Eine andere Facette philosophischer Relevanz tritt damit in den Raum, daß die Ideen als Inhalte bzw. Gehalte suigeneris (i. e. das Gerechte-an-sich, das Schöne-an-sich usw.) nur das sind, was sie sind, und mithin nicht in Begriffen anderer Gehalte beschrieben werden können. Andererseits müßten die in Rede stehenden Gehalte als definierbare Gebilde irgendwie analysierbar sein und insofern doch ihrerseits so etwas wie Merkmale aufweisen. Dieses Problem scheint mit der besonderen Art des Ideen-Ansatzes im Phaidon verwoben zu sein, und Antisthenes scheint den Finger darauf gelegt zu haben. Inwieweit Piaton den (Proto-) Logischen Atomismus seiner Position als ProSiehe meine Darlegung in Philosophische Erkenntnis und begriffliche Darstellung, Stuttgart 1989 (= Abh. Mainzer Ak. d. Wiss.).
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blem empfunden haben mochte und die Sache womöglich im Theaitetos und anderswo aufnahm, läßt sich kaum sicher sagen. Nur gilt es zu sehen, daß die These bezüglich der Nichtsagbarkeit am Ende der ersten Deduktion im Dialog Parmenides gerade nicht das Problem angeht, das im Kontext des VII. Briefes eine Rolle spielt. Denn sagen, es gebe keine Eigenschaft, die das Eine hat, heißt genau genommen negieren, daß das Eine unter irgendwelche Begriffe falle, nicht aber auch per se bestreiten, daß das Eine qua Begriff betrachtet nicht etwa Merkmale hätte. Dieser Unterschied ist wichtig; und er fällt umso mehr ins Gewicht, als jemand wie der historische Parmenides sein (eines) Seiendes deshalb als Gegenstand von absoluter Homogenität porträtierte, weil das Vorhandensein von Eigenschaften in Gestalt interner Differenzierungen ipso facto eine Pluralität von Seiendem importieren müßte. Zwar würde Piaton diese Sicht der Dinge nicht akzeptieren. Denn er gibt verschiedentlich zu verstehen, daß er das herkömmliche Verständnis des Problems von Einheit und Vielheit für trivial ansieht: Daraus, das etwas, x, viele Eigenschaften F, G, H hat (und in diesem Sinne vieles ist), folgt nicht, daß x viele Dinge (etwa eine Pluralität von Dingen) ist; und so, wie Piaton diese Sache sozusagen als 'alten Hut' charakterisiert, scheint er sagen zu wollen, daß das Problem von Einheit und Vielheit auf diesem Niveau keine interessanten Züge an den Tag lege; und doch scheinen es genau diese uninteressanten Züge zu sein, die die Situation im Parmenides ausmachen: (i) Parmenides kündigt an, sein Eines zugrunde zu legen; (ii) die Aufgabe besteht in dem Unterfangen, zu prüfen, was folgt (i.e. für das Eine), wenn es ist; (iii) das Ergebnis lautet: wenn das Eine ist, ist es nicht. - Ohne vorzeitig weitere Komplikationen der Interpretation heraufbeschwören zu müssen, läßt sich feststellen, daß der in (iii) statuierte Widerspruch nur deshalb aufkommt, weil die triviale Annahme im Spiel ist: Soll das Eine das sein, was es sein soll, nämlich ein Ding ohne Teile, die es pluralisieren müßten, so darf das Eine über keinerlei Eigenschaften verfügen. Wenn es aber keinerlei Eigenschaften aufweist, gibt es nichts, hinsichtlich dessen der in Rede stehende Gegenstand sein könnte. Aus der Art und Weise, wie das Problem im Kontext der ersten Deduktion lanciert ist, wird bald einmal deutlich, daß es hier nicht um Ideen oder Begriffe bzw. Eigenschaften CEinheit bzw. eines sein) geht - weder im damaligen noch im heutigen Sinn. Selbst wenn in Betracht gezogen wird, daß Parmenides in Aussicht stellte, Begriffe bzw. Gedankendinge zu berücksichtigen, und er in dieser Hinsicht beim Wort genommen werden dürfte, führt kein Weg an dem Befund vorbei, daß Parmenides das Eine als dingartige Entität behandelt.8 Mit anderen Worten: falls er 'Das Eine' nicht als Namen, sondern als Begriffswort bzw. Prädikatsausdruck interpretiert hätte, würde er seine eigenen Gedanken Lügen strafen, indem er die entsprechenden Gebilde nämlich dem Status von Ich verweise hier auf meinen Text Parmenides in Plato's ,Parmenides', in: Issues in the Philosophy of Language. Past and Present, Bern (u. a.) 1999, Kpt. 2 sowie Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 5 (2000) S. 1-15.
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Dingen assimilierte. Dieser Befund verbietet alle weitergehenden Spekulationen bezüglich etwaiger transzendenter oder hypertranszendenter Strukturen. Insbesondere aber müßte klar sein, daß wir uns hier nicht in einem Milieu befinden, das die Fragen der philosophia perennis beheimatet. Erhärtet wird dieser Befund - ad nauseam und bis zur Ernüchterung - an Hand des Vorgehens in der zweiten Deduktion. Wer diesen Zusammenhang ähnlich wie neuplatonische Philosophen als Modell für die Zweite Hypostase deuten will und hier das Leben des Geistes illustriert sieht, muß sich fragen, wie und mit welchem Recht die Teilung begrifflicher Entitäten der Teilung physischer Gebilde nachempfunden werden darf!9 So muß für den Kontext der ersten Deduktion jeder Gedanke an neuplatonische, hegelianische und anderwärtig besetzte metaphysische Füllungen von vorn herein ausgeschlossen werden. Dies bedeutet, u. a., daß wir auf dieser Ebene nicht nur keine Verbindung zu der Thematik des VII. Briefes ausmachen können, sondern auch keinen Anlaß haben, die für Plotin und andere Autoren selbstverständliche Verbindungslinie zur Politeia zu ziehen. Hier ist, im Zusammenhang des Sonnengleichnisses, von der Idee des Guten als Gebilde jenseits vom Sein bzw. Seiendheit die Rede und davon, daß diese Idee den intelligiblen Gehalten ihre Wahrheit verleihe und uns die Fähigkeit, diese Gebilde zu erkennen. - Was diese z. T. kryptisch anmutenden Bemerkungen genau bedeuten, braucht uns hier nicht zu interessieren.10 Denn mit dem Parmenides hat dies nichts zu tun. Auch wenn die in der Überlieferung auf Aristoxenos zurückgehende Identifikation des Guten mit dem Einen als Teil der sog. Ungeschriebenen Lehre anzusehen wäre, 11 würde dies für die Interpretation des Parmenides ebenso wenig ändern wie für das Verständnis des Exkurses im VII. Brief. III. Nun gibt es Interpreten, die die Berechtigung zu ihrem Platon-Verständnis nicht nur am Zeugnis neuplatonischer Philosophen wie Plotin festzuzurren trachten; sie suchen die schematische Parallelisierung dadurch zu rechtfertigen, daß sie insbesondere Zeugnisse der philosophischen Vorstellungen Speusipps als Evidenz für ein entsprechendes inner-akademisches Verständnis des Parmenides ins Feld führen. Diese Strategie geht allerdings fehl. Das beginnt bereits mit der selbstverständlichen Voraussetzung, daß der Dialog 9
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Siehe Wie über Ideen sprechen? Parmenides, in: Piaton. Seine Dialoge in der Sicht neuerer Forschungen, hrsg. v. T. Kobusch u. B. Mojsisch, Darmstadt 1996, S. 146-180. Eine nicht-metaphysische Lesart im Sinne von William James' Verständnis von Wahrheit als Spezies des Guten habe ich in meinem Essay Tradition ohne Innovation? vorgeschlagen, in: Metaphysik und Religion. Zur Signatur des spätantiken Denkens, hrsg. v. Th. Kobusch u. M. Erler, Leipzig 2002 (-Beiträge zur Altertumskunde, Bd. 160), S. 355-363. Bekanntlich ist nicht ausgemacht, ob der Autor berichtet, das Gute sei eines oder das Gute sei identisch mit dem Einen.
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Parmenides als der terminuspost quem der Diskussion anzusehen sei. Aber woher wissen wir dies? Wir wissen nicht einmal, ob Aristoteles' Schrift Über Ideen diesen Dialog voraussetzt und nicht umgekehrt der erste Teil des Parmenides auf Aristoteles' Essay reagiert. Des weiteren wissen wir nicht, wann Speusipp zu seinen eigenen Auffassungen gelangte. Immerhin wissen wir, daß Speusipp den Ideen-Ansatz seines Onkels ablehnte; und wir wissen ferner, daß Speusipp zumindest eine Variante der akademischen Prinzipienlehre ad absurdum führte und von daher jedenfalls nicht als Anhänger einer Konzeption gelten kann, in der das Eine bzw. Einheit als überseiend vorgestellt wurde. Bei der in Rede stehenden Argumentation handelt es sich um einen Gedanken, der sich im lateinischen Text des Parmenides-Kommentzxs aus der Feder des Proklos findet.12 Dieser Gedanke ist offensichtlich keine These in eigener Sache, wie viele Interpretinnen und Interpreten meinen. Vielmehr arbeitet Speusipp eine doppelte Diskrepanz im Denken jener heraus, die (Q) das Eine als Entstehungsgrund des Seienden (a quo le ens) charakterisieren und (P) das Eine als besser bzw. stärker als das Seiende (melius ente) ansehen. Hier besteht die Diskrepanz im Urteil Speusipps zunächst darin, daß jemand, der P vertritt, Q unterläuft bzw. „das Eine seiner Stellung als Ursprung des Seienden entledigt". - Nun sehen die Vertreter der kritisierten Position wohl, daß die Annahme nur eines Prinzips nicht ausreicht, und haben deshalb mit der unbestimmten Zweiheit ein weiteres Prinzip eingeführt. Hier sieht Speusipp eine weitere Diskrepanz. Denn unter der Voraussetzung von Nicht-Q müßte die unbestimmte Zweiheit alle Arbeit leisten. Aber genau das kann sie ex hypothesi gar nicht. Mithin ist die Position absurd. Nun wäre wissenswert, weshalb Speusipp P als kruzialen Hinderungsgrund für Q ansah. Ein Grund wäre vielleicht, daß Speusipp das Gute als Produkt bzw. Resultat eines Prozesses dachte und von daher kein Gebilde als Prinzip akzeptieren konnte, das über jene Eigenschaft verfügt, deren Vorkommen erst noch erklärt werden muß; dieses Produkt würde von daher gestärkt, daß Speusipp womöglich generell das Prinzip a fortiori fit denominatio bestritt und damit in einen Gegensatz zu seinen Kollegen geriet. Ein anderer Punkt wäre, daß Speusipp seine Kritik am Gedanken der Transzendenz festmachte: Prinzipien im relevanten Sinn müssen wirkliche Ausgangspunkte sein können. Dies würde die Annahme einer Transzendenz ausschließen. Daß diese Erwägung etwas für sich hätte und im übrigen mit Unterstützung rechnen konnte, ist klar: Ein Kernpunkt der Aristotelischen Ideenkritik basiert bekanntlich auf der Annahme, daß die Ideen als transzendente Gebilde kausal ineffizient seien und, so gesehen, eine sinnlose Verdoppelung der Welt bedeuten. Ich beziehe mich hier auf meine Analyse in Probleme der Spensipp-Interpretation,
in: Prole-
gomena zu einer Interpretation des zweiten Teils des Platonischen Parmenides, Bern (u. a.) 1999 (= Berner Reihe philosophischer Studien, Bd. 25), S. 45-47.
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Wie dem auch sein mag - so, wie der Gedanke im Raum steht, kann Speusipps Erwägung nicht als Dokument für oder gegen ein bestimmtes Verständnis der relevanten Stelle des Platonischen Parmenides ins Feld geführt werden. Insofern scheinen weitere Spekulationen müßig, wenn nicht gar frivol. Offensichtlich läßt sich mit diesem Dialog weder Hegels Projekt der Logik begründen noch die Vision der philosophia perennis stärken. Dieser vorwiegend negative Befund provoziert die Frage, was der Dialog dann de facto in die Welt der philosophischen Diskussion einbringt. Diese Frage zwingt uns, den Dialog als Ganzes in den Blick zu nehmen, d. h. den ersten Teil mit der Ideenkritik, Parmenides' Zusicherung, einen Durchblick verschaffen zu wollen, und den zweiten Teil mit den Deduktionen. Dabei stellt sich jeder Interpretin und jedem Interpreten die Aufgabe, eine Strategie zu ersinnen, die beide Teile als Teile eines Ganzen erkennbar macht. IV. Der Schlüssel zum Verständnis bietet sich mit der Beobachtung an, daß Piaton die Rede der Gesprächspartner über Ideen und Begriffe so stilisiert, daß der Eindruck der Vergegenständlichung entsteht.13 Dieser Punkt ist insofern zentral, als die Tendenz zur Vergegenständlichung Ausdruck eines unangemessenen Verständnisses der Ideen ist und Piaton damit deutlich macht, worin er die Hauptursache aller Mißverständnisse sieht. Von hierher ist auch leicht zu verstehen, weshalb Parmenides als Figur über alle vordergründigen Attraktionen hinaus einen eminent typischen Kritiker der Ideen abgibt: Parmenides' eigene Behandlung der Wirklichkeitsproblematik ist - dies zeigt eine Analyse des Vokabulars, das im Lehrgedicht zum Einsatz kommt - das Dokument einer krude anmutenden Metaphysik, die sich noch in den Fängen unangemessener Verdinglichungen bewegt; und sein Monismus ist die unausweichliche Konsequenz eben dieser Betrachtungsweise. So hat Piaton Parmenides als Figur zum Einsatz gebracht, die jene Bewußtseinsgestalt verkörpert, die die Ideenkritik auf den Plan ruft. Wer sich konkret hinter dieser Figur verbirgt, ist eine schwierige Frage. Aristoteles kommt hier nicht in Betracht. Denn er war seinerseits Kritiker der Vergegenständlichung. Aber Eudoxos ist ein wahrscheinlicher Kandidat; denn er interpretierte Eigenschaften als Ingredienzien von Dingen und schlug vor, Teilhabe als physisch reale Beziehung zu deuten. Desgleichen wäre an Speusipp zu denken, der den Ideen-Ansatz kritisierte und eine Ontologie entwarf, die als neu-pythagoreische Konzeption anzusehen ist. In dieser Ontologie figurieren Zahlen, Punkte, Linien, Flächen usw. - kurzum Gebilde, welche die Rede der Vergegenständlichung leicht auf sich ziehen. Die Relevanz dieses Punktes tritt dann hervor, wenn bedacht wird, daß im zweiten Teil des Dialoges von arithmetischen und geometrischen Gegenständen die Rede ist: Diese Situation legt Siehe die in Anm. 7 genannte Untersuchung.
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die Überlegung nahe, daß im ersten Teil von dem Ideen-Kritiker Speusipp die Rede ist, der die Ideen unangemessen als Gegenständlichkeiten von der Art dinghafter Gebilde konzeptualisierte, im zweiten Teil von Speusipp als Verfechter einer bestimmten Ontologie, die den Vorbehalten zum Opfer fallen muß, die als Voraussetzungen seiner Ideen-Kritik fungieren. Diese Betrachtungsweise hat den Vorzug, auch die Rolle transparenter werden zu lassen, die Parmenides zugedacht ist. Parmenides war in seiner Jugend offenbar Pythagoreer gewesen und ist sozusagen auf dem Umweg einer Metakritik zu dem Monisten geworden, als der er in die Annalen der Philosophiegeschichte einging. Diese Auffassungen hat er - das zumindest wird im Sophistes behauptet - nie aufgegeben; und ein Teil der Kritik, die im Sophistes entwickelt wird, betrifft die Voraussetzungen, die der Monist als Monist einging - ein Grund mehr, zu bezweifeln, daß Piaton diesem Philosophen womöglich die Funktion des Denkers zugewiesen haben mochte, der die Ideen-Lehre retten könnte. So bietet sich vielmehr die Überlegung an, daß die Argumente im zweiten Teil eine Vorstellung von jener Metakritik evozieren sollen, der Parmenides in seiner Jugend die Thesen des Pythagoreismus pro und contra unterworfen haben dürfte. In diesem Sinn würde die Statur der philosophischen Konstellation am Ende des zweiten Teils eine Einladung an Sokrates darstellen, mit Parmenides auf den Weg des ' . . . ist . . . ' einzuschwenken und damit den Pfad des Monismus zu betreten. Diese Situation entbehrt nicht einer gewissen Pointe. Denn die Einladung erstreckt sich ja im gewissen Sinne auf Speusipp, der nun - zumindest in der literarischen Fiktion Piatons - vor einem Scherbenhaufen steht. Wie die Ideenlehre ihren Impetus dem Anliegen verdankt, die widersprüchliche Welt des Pluralismus zu retten, so steht und fällt Speusipps Ontologie mit dem Anliegen, jene Schwierigkeiten zu umschiffen, mit denen die Ideenlehre konfrontiert ist; und wie Sokrates' Ideenansatz im zweiten Teil des Parmenides den Vorwurf einfangen soll, die Widersprüchlichkeiten des Pluralismus nicht vermeiden zu können - so wird Speusipps Annahme von Einheit als Prinzip mit dem Befund konfrontiert, daß Einheit in der angenommenen Form Zahl voraussetzt (144A4-5)! Eine genauere Analyse der einzelnen Schritte würde zeigen, daß der Parmenides durchwegs innerakademische Diskussionspunkte aufwirft.14 Dabei geht es ganz offensichtlich nicht um Proklamationen dogmatischer Annahmen wie 'Das Absolute ist F, aber nicht H\ sondern um philosophische Erwägungen bezüglich dessen, was eine bestimmte Annahme, P, eigentlich voraussetzt und was nicht, nämlich Q und Nicht-Z. Insofern scheint es absurd, diesen Dialog als Dokument einer Theologie, Prinzipienlehre oder metaphysica generalis in irgendeinem Sinn verstehen zu wollen. Daß dies gleichwohl geschieht und die hier abgelehnten Lesarten sogar als Ausprägungen einer Standard14
Ich hoffe, diese und andere Punkte bald in einem größeren Buch Plato's Parmenides. Fog dispelled darlegen zu können. Die wesentlichen Gedanken finden sich in meiner Abhandlung Piatons Parmenides, Stuttgart 2003 ("Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Nr. 3, Ak. d. W. u. L. Mainz).
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Interpretation gelten dürfen, muß darum erstaunen. Denn sie hat nicht nur die Kraft der Gedanken gegen sich. Sie verstößt auch gegen alle Prinzipien verantwortungsvoller Lektüre. Indem einzelne Worte oder Satzfetzen als Schlüsselpassagen ausgezeichnet werden, 1 5 feiert der Eklektizismus Triumph. (Und dabei bleibt noch unbeachtet, daß vermeintlich supra-naturalistische Theologumena wie 'Was keinen Anfang und kein Ende hat, ist ewig' wörtliche Korrespondenzen bei dem Eleaten Melissos haben; auch im berüchtigten Zusammenhang der ersten Hypothese bleibt unbemerkt, daß hier ein Gedanke Zenons ausgebeutet wird: 'wenn das Eine unteilbar ist [...], ist es wohl nicht'.) Verbunden damit ist der nahezu vollständige Verzicht auf die Analyse argumentativer Kontexte und ein massives Desinteresse an eigentlichen Fragestellungen.
V. Wir begannen mit einem allgemeinen Gesichtspunkt und sollten den Befund dieser Erörterungen nun entsprechend zurückzubinden suchen. Dabei liegt der springende Punkt auf der Hand. Sollen Ideen - oder Philosophiegeschichte überhaupt zu etwas führen, was jenseits intellektueller Befriedigung und ästhetischem Appeal Licht auf den tatsächlichen Gang philosophischer Diskussionen werfen kann, so gilt es, die in Rede stehenden Texte mit ihren Thesen als Teile argumentativer Zusammenhänge anzusehen und sich über die Natur und Validität der jeweiligen Argumente Klarheit zu verschaffen. Manche Resultate sind ernüchternd und legen ein Umdenken nahe: nämlich, daß z. B. zwischen Piaton und der Akademie, auf der einen Seite, und dem Neuplatonismus, auf der anderen Seite, massive Diskontinuitäten systematischer Art bestehen; daß z. B. Aristoteles von manchen Neuplatonikern nur auf Kosten der Unterdrückung so gut wie aller systematisch brisanten Elemente assimiliert wird; daß Thomas von Aquins Aristoteles-Bild auf Grund bestimmter hermeneutischer Voraussetzungen in der Sache zu herben Verzerrungen Vorschub leistet; daß Heideggers (und Gadamers) Vörsokratiker-Bild mit der Sache nachweislich nichts zu tun hat, sondern im Dienste gänzlich anderer Anliegen steht. Das Spektrum der Beispiele ließe sich beliebig erweitern. Stets haben wir es mit Diskontinuitäten zu tun - mit systematischen Brüchen und z. T. auch groben Mißverständnissen - warum sollte es auch anders sein? Was wäre daran so schlimm, daß wir (oft wider besseres Wissen) zum Mittel der Geschichtsklitterung greifen? Vielleicht gestatten diese Fragen wie andere Belange des menschlichen Lebens keine einfachen Antworten. Doch dürften sie mit einer Beantwortung der Frage zu tun haben, weshalb wir überhaupt Mythen brauchen und diejenigen attackieren, die sie dekuvrieren und uns so Dies war bereits die Technik mancher Neuplatoniker; und man mag sich fragen, ob es nicht Handbücher gab, in denen derartige Schlüssel-Termini im unmittelbaren Kontext aufgeführt wurden.
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zu bedrängen scheinen! Abermals mag hier ein Hinweis auf James am Platz sein, dessen Unterscheidung philosophischer Temperamente Aufmerksamkeit verdient. Nur gehen die Dinge offensichtlich sehr viel tiefer. Fanatismus und dergleichen - so namentlich auch mala fide-Strategien - führen uns w e g von den Gefilden der Philosophie. Wohin, das mögen andere befinden. Doch dürfte auch so deutlich geworden sein, daß das Fach Philosophie von seinem elementaren Selbstverständnis her betrachtet kein Ort für irgendwelche Klitterungen sein kann; ebenso klar ist allerdings auch, daß mit Lebenslügen aller Art auf die Dauer niemandem gedient ist.
Leibniz über Monaden als Einheiten Theodor Ebert, Erlangen In Kants Kritik der reinen Vernunft wird kein Philosoph häufiger erwähnt als Leibniz; er rangiert damit noch vor David Hume. Angesichts der Rolle, die Leibniz für die Philosophie und die Philosophen des 18. Jahrhunderts und damit auch für Kant spielt, ist das vielleicht nicht einmal besonders erstaunlich. Kant selbst hat als Anhänger der Leibniz-Wölfischen Tradition begonnen; erst die Entdeckung, daß Raum und Zeit reine Formen der Anschauung sind, hat zur Lösung Kants aus der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie geführt. Mit der Entdeckung, daß mit Raum und Zeit auch reine Formen der Sinnlichkeit vorlagen, der Sinnlichkeit, die für Leibniz immer nur eine Form der verworrenen Erkenntnis war, verfugt Kant aber auch über ein Mittel der Kritik an der Philosophie seines großen Vorläufers, und in der Kritik der reinen Vernunft ist die Unterscheidung von Verstand und Sinnlichkeit und ihrer unterschiedlichen Rollen im Erkenntnisprozeß dann auch das Vehikel der Kritik an der Monadenlehre von Leibniz. Kant hat seine Kritik an der Philosophie von Leibniz am ausführlichsten in dem Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft dargestellt, der überschrieben ist „Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe durch Verwechslung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem transzendentalen" (B 316 ff.). Daß der empirische Verstandesgebrauch der einzig legitime und der transzendentale Gebrauch des menschlichen Erkenntnisvermögens, der „auf Dinge überhaupt und an sich selbst" geht (B 298), ein Irrweg ist, das war das wichtigste Ergebnis der transzendentalen Analytik, zu der das Kapitel über die Amphibolie der Reflexionsbegriffe einen abschließenden Anhang darstellt. Leibniz ist nun in Kants Augen solch ein Fall einer Verwechslung des transzendentalen mit dem empirischen Verstandesgebrauch: Leibniz nahm die Erscheinungen als Dinge an sich selbst, mithin für intelligibilia, d.i. Gegenstände des reinen Verstandes, (ob er gleich, wegen der Verworrenheit ihrer Vorstellungen, dieselben mit dem Namen der Phänomene belegte,) ( . . . ) . (KrV B 320)
Der Fehler, der für Kant der Leibniz'schen Monadenlehre zugrunde liegt, wird innerhalb dieses Stückes insbesondere bei der Behandlung des dritten Paares von Reflexionsbegriffen behandelt, des Begriffspaares „Das Innere und das Äußere" (B 321 f.). „An einem Gegenstande des reinen Verstandes" (und dafür hat Leibniz nach Kant die Erscheinungen genommen) „ist nur dasjenige
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innerlich, welches gar keine Beziehung (dem Dasein nach) auf irgend etwas von ihm Verschiedenes hat." (B 321) Und Kant fährt fort: Dagegen sind die inneren Bestimmungen einer substantia phaenomenon im Räume nichts als Verhältnisse, und sie selbst [Mellin: ist] ganz und gar ein Inbegriff von lauter Relationen. ( . . . ) Als Objekt des reinen Verstandes muß jede Substanz dagegen innere Bestimmungen und Kräfte haben, die auf die innere Realität gehen. Allein, was kann ich mir für innere Akzidenzen denken, als diejenigen, so mein innerer Sinn mir darbietet? nämlich das, was entweder selbst ein D e n k e n , oder mit diesem analogisch ist. Daher machte Leibniz aus allen Substanzen, weil er sie sich als Noumena vorstellte, selbst aus den Bestandteilen der Materie, nachdem er ihnen alles, was äußere Relation bedeuten mag, mithin auch die Z u s a m m e n s e t z u n g , in Gedanken genommen hatte, einfache Subjekte mit Vorstellungskräften begabt, mit einem Worte, Monaden. (KrV B 321 f.) Ganz analog lautet diese Diagnose Kants in der „Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe": ( . . . ) die Leibnizische Monadologie hat gar keinen anderen Grund, als daß dieser Philosoph den Unterschied des Inneren und Äußeren bloß im Verhältnis auf den Verstand vorstellte. Die Substanzen überhaupt müssen etwas I n n e r e s haben, was also von allen äußeren Verhältnissen, folglich auch der Zusammensetzung, frei ist. Das Einfache ist also die Grundlage des Inneren der Dinge an sich selbst. Das Innere aber ihres Zustandes kann auch nicht in Ort, Gestalt, Berührung oder Bewegung, (welche Bestimmungen alle äußere Verhältnisse sind,) bestehen, und wir können daher den Substanzen keinen anderen inneren Zustand, als denjenigen, wodurch wir unseren Sinn selbst innerlich bestimmen, nämlich den Z u s t a n d d e r V o r s t e l l u n g e n , beilegen. So wurden denn die Monaden fertig, welche den Grundstoff des ganzen Universum ausmachen sollen, deren tätige Kraft aber nur in Vorstellungen besteht, wodurch sie eigentlich bloß in sich selbst wirksam sind. (KrV B 330) Mit dem „bloß im Verhältnis auf den Verstand (Vorstellen)" ist hier wieder nichts anderes gemeint als der transzendentale Verstandesgebrauch. Leibniz hat also, so Kant, den Fehler begangen, die Begriffe des Inneren und Äußeren losgelöst von dem Bereich, in dem sie allein sinnvoll Anwendung finden können, nämlich im Bereich der Erfahrung, auf die Dinge an sich anzuwenden. Zwar sind die vier Paare von Begriffen, die Kant als Reflexionsbegriffe vorstellt, dadurch von den Kategorien unterschieden, „daß durch jene nicht der Gegenstand, nach demjenigen, was seinen Begriff ausmacht, (Größe, Realität,) sondern nur die Vergleichung der Vorstellungen, welche vor dem Begriffe von Dingen vorhergeht, in aller ihrer Mannigfaltigkeit dargestellt wird" (B 325). Und diese Vergleichung von Vorstellungen kann vorgenommen werden, ohne sich darum zu kümmern, „wohin ihre Objekte gehören, ob als Noumena für den Verstand, oder als Phänomena für die Sinnlichkeit" (B 325). Sobald wir die Reflexionsbegriffe aber auf Gegenstände anwenden wollen, so bedarf es zuvor der kritischen Reflexion darauf, „für welche Erkenntniskraft sie Gegenstände sein sollen, ob für den reinen Verstand, oder die Sinnlichkeit" (B 325). Ohne eine solche Reflexion kommt es zu einer „transzendentalen Amphibolie" (B 326) dieser Begriffe, die, wie Kant abschließend sagt, „sogar
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einen der scharfsichtigsten unter allen Philosophen zu einem vermeinten System intellektueller Erkenntnis, welches seine Gegenstände ohne Dazukunft der Sinne zu bestimmen unternimmt" (B 336), verleitet haben. I. Kant hat also in seiner Kritik an Leibniz eine systematische Einsicht seiner eigenen theoretischen Philosophie dazu benutzt, eine in seinen Augen fehlerhafte Theorie eines Vorgängers zu erklären: Der Mangel dieser Einsicht bei Leibniz soll verständlich machen, warum einer „der scharfsichtigsten unter allen Philosophen" eine Theorie wie die Monadologie vertreten hat. Dieses Vorgehen, eine eigene systematische Erkenntnis zur kritischen Erklärung der (fehlerhaften) Lehren von Vorgängern zu nutzen, ist nichts, was sich nur bei Kant findet: Ähnlich hat schon Aristoteles seine sog. Vier-Ursachen-Lehre dazu genutzt, die Theorien seiner Vorgänger als wissenschaftlich unzulänglich zu erweisen. Daß sich mit dieser Möglichkeit der eigenen Theorie, einen Fehler in der Theorie eines Vorgängers nicht nur aufzudecken, sondern auch dessen scheinbare Plausibilität verständlich zu machen, zugleich die Stärke der eigenen Lehre unter Beweis stellen läßt, dürfte diese Anwendung der eigenen Theorie zusätzlich attraktiv machen.1 Dennoch ist die geschilderte Strategie bei aller prima-facie-Plausibilität nicht ohne Probleme. Ein naheliegender Einwand gegen Kants Erklärung, warum Leibniz eine Monadenlehre vertreten hat, ist einfach der, daß sie zu allgemein ist: Wenn das Fehlen der kantischen Einsicht, daß unsere Erkenntnis, wenn es um Gegenstände geht, auf den Bereich der Erfahrung beschränkt ist, bei Leibniz zur Ausbildung seiner Monadologie geführt hat, dann erscheint unverständlich, warum nicht auch andere Philosophen, die ebensowenig wie Leibniz diese Einsicht Kants teilten, eine Monadenlehre entwickelt haben. Schließlich spielen jene vier Paare von Reflexionsbegriffen, deren Rolle in einem transzendentalen Vernunftgebrauch für Kant die Quelle dieser philosophischen Theorie darstellt, auch bei anderen Philosophen einen wichtigen Part. Selbst wenn man die Philosophen der empiristischen Tradition hier in Abzug bringt, so bleiben doch immer noch genügend andere übrig. Warum haben nicht auch die Scholastiker, warum haben nicht auch Descartes und die Cartesianer eine solche Metaphysik entwickelt? Überdies läßt sich auch an einzelnen Details der kantischen Erklärung Kritik üben. So will Kant den Umstand, daß Leibniz seine Monaden als den Seelen ähnlich vorstellt, damit erklären, eine Substanz müsse „als Objekt des reinen Verstandes ( . . . ) innere Bestimmungen und Kräfte haben, die auf die innere Realität gehen" (B 321). Und mit der folgenden rhetorischen Frage wird Vgl. dazu Manfred Baum: Metaphysik und Kritik in Kants theoretischer Held, J. Hennigfeld (Hgg.): Kategorien der Existenz (Festschrift W.Janke), Neumann, Würzburg 1993, S. 13-30.
Philosophie, in: K. Königshausen und
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dann behauptet, daß als innere Akzidenzen einer so vorgestellten Substanz nur das Denken oder etwas diesem Analogisches gedacht werden könne (B 321). Aber ist das wirklich die einzige Möglichkeit? Lassen sich nicht auch Teile einer Seele denken, ohne daß man dabei schon an eine räumliche Zusammensetzung denken muß? Etwa als unterschiedliche Vermögen, wie in der platonischen Lehre von den drei Seelenteilen? II. Ich möchte im folgenden zu zeigen versuchen, daß es spezifischere Gründe gibt, die Leibniz die Annahme seiner Monadologie nahegelegt haben. Dabei werde ich für die Darstellung der Leibniz'schen Monadenlehre sein Systeme nouveau pour expliquer la nature des substances et leur communication entre elles, aussi bien que l'union de l'ame avec le corps (Neues System der Natur und der Verbindung der Substanzen soivie der Vereinigung zwischen Seele und Körper) zugrunde legen.2 Diese Schrift erschien auf Französisch im Journal des Savants, im Juni 1695. In dieser kleinen Abhandlung hat Leibniz zwar den Ausdruck 'Monade' noch nicht verwendet - er spricht statt dessen von 'forces primitives', die er den Aristotelischen 'ersten Entelechien' analog setzen will - , er gibt aber hier ausführlich die Gründe an, die ihn zur Annahme seiner Monaden gebracht haben. Die Monadologie, die Leibniz im Jahr 1714 verfaßt hat, also nur wenige Jahre vor seinem Tod, und die er auch nicht veröffentlicht hat, ist gerade wegen ihrer dogmatischen Darstellung für die Frage nach den Motiven von Leibniz in der Entwicklung seiner Monadenlehre viel weniger aufschlußreich. Leibniz gibt im Système nouveau, ähnlich wie Descartes das in seinem Discours de la Méthode getan hat, eine Art kurzer Biographie. Er stellt sich zunächst als jemanden vor, der die scholastische Philosophie gut kennt (J'avois penetré bien avant dans le pays des scholastiques" [478]), den aber dann die Mathematik und die modernen Autoren davon abgezogen haben. Die mechanische Erklärung der Natur durch die neueren Autoren hätten ihn entzückt und dazu gebracht, die Methode jener Philosophen, die nur Formen und Fähigkeiten zur Erklärung heranziehen, zu verachten; aus diesen Formen und Fähigkeiten ließ sich schließlich nichts lernen (vgl. 478). Mit 'Formen' ist hier der lat. Ausdruck forma oder species übersetzt, der seinerseits den griechischen Terminus eidos wiedergibt. Die Formen, die eide, das sind bei Aristoteles die Naturen oder Wesenheiten der Dinge. Eine Erklärung des Typs, die Leibniz hier kritisiert, wäre etwa die, daß ein Körper nach unten fällt, weil es zur Form des Schweren gehört, zum Erdmittelpunkt zu streben, zu seinem natürlichen Ort. Gegen eine derartige Erklärung setzte 2
Ich zitiere den französischen Text von Leibniz in der Ausgabe der Philosophischen Schriften, die C. J. Gerhardt in 7 Bänden 1880 in Berlin publiziert hat (Reprint Hildesheim: Olms, 1965). Der Text des Systeme nouveau steht im Bd. IV dieser Ausgabe.
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die Galilei'sche Naturwissenschaft die Angabe eines funktionalen Abhängigkeitsverhältnisses, das eine Berechnung der Zeit erlaubt, die ein Körper im freien Fall für eine bestimmte Strecke benötigt. Ähnlich wurden die Fähigkeiten in bestimmte Substanzen hereingelegt, mit deren Hilfe man dann eine Erklärung für etwas, das auf Grund solcher Fähigkeiten möglich sein sollte, abgeben konnte: Leibniz selber karikiert diese Art von Erklärung einmal durch das Beispiel, daß man die zeitanzeigende Fähigkeit einer Uhr und nicht ihren inneren Mechanismus hernimmt, um zu erklären, warum sie uns anzeigt, wie spät es ist. Aber Leibniz fährt dann fort: Mais dépuis, ayant taché d'approfondir les principes mêmes de la Mecanique, pour rendre raison des loix de la nature que l'experience faisoit connoistre, je m'apperçûs que la seule considération d'une masse étendue ne suffisoit pas, et qu'il falloit employer encor la notion de la force, qui est très intelligible, quoyqu'elle soit du ressort de la Métaphysique. Il me paroissoit aussi, que l'opinion de ceux qui transforment ou degradent les bestes en pures machines, quoyqu'elle semble possible, est hors d'apparence, et même contre l'ordre des choses. (478)
Leibniz nennt hier also zwei Gründe für seine Abkehr von der mechanistischen Naturauffassung; von ihnen ist der erste offenbar wichtiger als der zweite. Der erste Grund ist die Unzulänglichkeit der Vorstellung von Körpern als allein durch Ausdehnung charakterisiert; der zweite ist die Vorstellung, Tiere könnten als Automaten aufgefaßt werden. Man sieht unschwer, wer hier kritisiert wird, auch wenn sein Name nicht fällt: Descartes. Dessen Bestimmung der Natur der Körper durch Ausgedehntheit kann nicht die Undurchdringlichkeit der Körper erklären. Leibniz will dem durch die Einführung des Begriffs der Kraft Rechnung tragen. Es ist der folgende lange Abschnitt, in dem Leibniz nun die Gründe nennt, die ihn zur Annahme der Monaden bewegt haben: Au commencement, lorsque je m'estois affranchi du joug d'Aristote, j'avois donné dans le vuide et dans les Atomes, car c'est ce qui remplit le mieux l'imagination. Mais en estant revenu, après bien des méditations, je m'apperceus, qu'il est impossible de trouver les principes d'une veritable Unité dans la matiere seule ou dans ce qui n'est que passif, puisque tout n'y est que collection ou amas de parties jusqu'à l'infini. Or la multitude ne pouvant avoir sa réalité que des unités véritables qui viennent d'ailleurs et sont tout autre chose que les points mathématiques qui ne sont que des extrémités de l'étendu et des modifications dont il est constant, que le continuum ne sçauroit estre composé. Donc pour trouver ces unités reelles, je fus contraint de recourir à un point reel et animé pour ainsi dire, ou à un Atome de substance qui doit envelopper quelque chose de forme ou d'actif, pour faire un Estre complet. (478)
In der ursprünglichen Fassung von 1695 hieß der zweite Teil des zitierten Textes: Ich gebe die Auszeichnung durch Sperrdruck in den Texten von Leibniz im folgenden durch kursive Schrift wieder.
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Or la multitude ne pouvant avoir sa realité que des unités véritables qui viennent d'ailleurs et sont tout autre chose que les points dont il est constant que le continu ne sçauroit estre composé; donc pour trouver ces unités reelles, je fus contraint de recourir à un atome formel, puisqu'un estre matériel ne sçauroit estre en même temps matériel et parfaitement indivisible, ou doué d'une veritable unité.4 Dieser Abschnitt ist unter den von Leibniz zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Schriften die Textstelle, in der Leibniz am ausführlichsten begründet, warum er die substantiellen Formen wieder einführt, warum er die Lehre von den Monaden vertritt. Versuchen wir daher, uns durch diese Überlegungen einen Weg zu bahnen. Leibniz beginnt auch hier wieder mit einer biographischen Reminiszenz wie schon im Textstück, das unmittelbar voraufgeht. Hatte er dort seinen Abschied von Descartes' Vorstellung der Ausdehnung als einziger wesentlicher Eigenschaft der Materie, der Körper begründet, so will er hier seine Abwendung von der atomistischen Physik Gassendis erklären. Descartes kann hier schon deshalb nicht gemeint sein, weil Descartes die Annahme unteilbarer Atome und eines leeren Raumes ablehnt. Und wie bei der Kritik an Descartes läuft auch diese Kritik auf den Begriff der Kraft hinaus. Nur - hier wird dieser Begriff erst nach längeren andersartigen Überlegungen eingeführt. Der Hauptpunkt in diesen Überlegungen ist offenbar der Begriff einer 'wahrhaften Einheit', einer veritable unité. Das 'formale Atom' (das gewissermaßen in Opposition steht zu den materiellen Atomen Gassendis) und die 'substantielle Form' sind dann die Gegenstände, die den Bedingungen einer wahrhaften Einheit entsprechen. Obwohl Leibniz hier den Begriff der Monade nicht benutzt, ist doch klar, daß er das meint, was später diesen Titel erhalten wird. Dabei ist nun zunächst wichtig, den Gebrauch des Ausdrucks 'wahrhafte Einheit' im Leibniz'schen Text zu beachten: Mais en estant revenu, après bien des méditations, je m'apperceus, qu'il est impossible de trouver les principes d'une veritable Unité dans la matiere seule ou dans ce qui n'est que passif; puisque tout n'y est que collection ou amas de parties jusqu'à l'infini. Leibniz benutzt hier den Ausdruck 'wahrhafte Einheit' zunächst im Singular; Einheit ist hier entgegengesetzt der Ansammlung oder Anhäufung von Teilen - dem bloßen Aggregat. Was nur Ansammlung oder Masse verschiedener Teile ist, von dem können wir den Ausdruck 'Einheit' in der Tat nicht sinnvoll gebrauchen. Jene Dinge, denen wir den Charakter der Einheit absprechen, von denen heißt es auch, daß sie auseinanderfallen, daß ihre Teile keinen Zusammenhang haben etc. Etwa wenn wir sagen, daß die Szenen eines Dramas keine Einheit bilden, sondern zusammengestückelt wirken. Umgekehrt können wir von 'Einheit' reden, wenn etwas, was vorher kein Ganzes bildete, dies nunmehr tut. So wenn ein Land, das vorher geteilt war, nun wieder eine Einheit bildet. Insoweit ist es ganz richtig zu sagen, daß Gerhardt gibt den ursprünglichen Text in einer Fußnote an. (478 f.)
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dort, wo wir es mit einer bloßen Ansammlung von Teilen zu tun haben, eine wirkliche, wahrhafte Einheit nicht vorliegen kann. Das 'wahrhaft' drückt dabei den Gegensatz zu bloß äußerlicher, scheinbarer Einheit aus. Das zusammengestückelte Drama verfügt eben nur über eine scheinbare, keine wirkliche Einheit. 'Einheit' in dem hier gebrauchten Sinn bezeichnet eine Eigenschaft von Gegenständen, die nur dort vorliegen kann, wo diese Gegenstände auch Teile haben. 'Einheit' heißt hier soviel wie 'Geeintheit', etwa die 'politische Einheit' eines Landes. Ein Indiz dafür, daß wir es mit diesem Sinn des Ausdrucks 'Einheit' zu tun haben, ist die Unmöglichkeit der Pluralbildung. 'Einheit' in diesem Sinn ist so wenig in der Mehrzahl zu gebrauchen wie das Wort 'Einigkeit'. Dieser Punkt (keine Pluralbildung) verdient deshalb Hervorhebung, weil Leibniz nun im nächsten Satz sofort den Plural bildet und damit also zu einer anderen Bedeutung des Ausdrucks 'Einheit' übergegangen ist: Or la multitude ne pouvant avoir sa realité que des unités véritables ( . . . ) . Donc pour trouver ces unités reelles, je fus contraint de recourir à un point reel et animé pour ainsi dire, ou à un Atome de substance qui doit envelopper quelque chose de forme ou d'actif, pour faire un Estre complet. Bzw. in der ersten Fassung: donc pour trouver ces unités reelles, je fus contraint de recourir à un atome formel, puisqu'un estre matériel ne sçauroit estre en même temps matériel et parfaitement indivisible, ou doué d'une veritable unité. In welchem Sinn reden wir von 'Einheiten' im Plural? Wir gebrauchen diesen Ausdruck mit Bezug auf Zählvorgänge - so nehmen wir etwa bei Längenmessungen das Meter als Maßeinheit, oder wir können etwa in einer Stadt die Einwohner zählen, dann nehmen wir als Einheit, die dieser Zählung zugrunde liegt, die Person; wir können aber auch die Haushalte zählen, dann nehmen wir als Einheit etwas, was oft aus einer Gruppe von Personen besteht. Was wir allerdings nicht tun dürfen, ist etwa bei der Einwohnerzählung in einer Stadt einmal Personen (einzelne) und einmal Haushalte zu zählen und aus diesen zusammen eine Summe zu bilden. Einheiten, die uns als Maßstab einer Zählung dienen, müssen gleichartig sein. Das wird am deutlichsten dort, wo wir Maßeinheiten (Gramm, Meter, Liter) zählen, denn die sind per definitionem gleichartig, eine Gleichartigkeit, die gerade durch die willkürliche Festsetzung gesichert wird. Wenn wir 'Einheit' in dieser Bedeutung gebrauchen, dann reden wir von etwas, das eine Einheit ist, nicht aber vom Charakter einer Sache, die die Eigenschaft der Einheit hat. Vor allem aber ist eines klar: Ebensowenig wie bei der politischen Einheit eines Landes, wie bei 'Einheit' im Sinne von Geeintheit, ist es hier ausgeschlossen, daß eine Einheit Teile hat. Personen haben ebenso Teile wie Haushalte, ohne daß das irgendwie ihrer Befähigung, als Zähleinheiten zu dienen, Abbruch tut. Aber hier können wir auch solches zählen, was keinerlei Teile hat, Punkte z. B. Während also bei der Rede von 'Einheit' im Sinne
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von Geeintheit das Haben von Teilen eine Voraussetzung für den sinnvollen Gebrauch des Ausdrucks zu sein scheint, ist das bei der 'Einheit' im Sinne der Zähleinheit keine Voraussetzung für ihre sinnvolle Anwendung, obwohl es dort nicht ausgeschlossen ist. Der Plural, den Leibniz also hier anwendet, zeigt klar, daß er an Einheiten denkt, bei denen das Wort einen anderen Sinn hat als bei der Rede von 'wahrhafter Einheit' im vorhergehenden Satz. Aber es scheint ebenso klar, daß Leibniz auf diesen Bedeutungswechsel nicht aufmerksam geworden ist. Man beachte weiterhin, daß die Hinzufügung von solchen verstärkenden Ausdrücken wie 'wahrhaft' oder 'wirklich' zu 'Einheit', Hinzufügungen, die im Falle der Einheit als Geeintheit einen guten Sinn haben (nämlich den, eine wirkliche von einer bloß scheinbaren Einheit zu unterscheiden), bei Einheiten im Sinne von Zähl- und Maßeinheiten keineswegs einen ebenso klaren Sinn haben. Was soll eine 'wahrhafte' Maß- oder Zähleinheit sein? Das scheint schon deshalb schwierig zu beantworten, weil unklar ist, was eine bloß scheinbare Maß- oder Zähleinheit sein soll. Aber für Leibniz hat diese Hinzufügung, das verstärkende 'wahrhaft' bzw. 'wirklich', einen (scheinbar) klaren Sinn. Sie drückt nämlich aus, daß diese Einheiten nicht mehr teilbar sein sollen: je fus contraint de recourir à un atome formel, puisqu'un estre matériel ne sçauroit estre en même temps matériel et parfaitement indivisible, ou doué d'une veritable unité. (478 f., erste Fassung) Die spätere Fassung zeigt das in gewissem Sinn noch deutlicher, weil es dort heißt: je fus contraint de recourir à un point reel et animé pour ainsi dire. Hier wird also die Unteilbarkeit durch den Begriff des Punktes klar gemacht. Punkte sind aber nicht nur unteilbar, sondern teillos. Die Rede von einem „point reel" zeigt damit, was Leibniz mit dem Begriff der Unteilbarkeit tatsächlich verbindet: die Vorstellung der Teillosigkeit. Teillosigkeit ist gewissermaßen der Idealfall der Unteilbarkeit. Aber auf das, was keinerlei Teile hat, kann, wie wir eben gesehen haben, der Begriff der Einheit als Geeintheit gar nicht angewandt werden. Von dem, was „parfaitement indivisible" ist, weil es als Punkt teillos ist, läßt sich daher gar nicht sinnvoll sagen, es sei mit einer wahrhaften Einheit versehen („doué d'une veritable unité"). Denn die 'Einheit', mit der etwas versehen ist, die Einheit, die etwas hat, das ist die Einheit im Sinne der Geeintheit; und die ist an das Vorliegen von Teilen gebunden. Im Deutschen wie im Französischen, der Sprache, in der Leibniz die Mehrzahl seiner philosophischen Abhandlungen schreibt, sind die Ausdrücke 'Einheit' bzw. 'unité' mit diesem Doppelsinn behaftet. Anders dagegen das Englische, das zwischen 'unity' und 'unit' unterscheidet. Leibniz scheint nun aber zu meinen, für den Begriff einer 'Einheit' als Zähleinheit ('unit' im Unterschied zu 'unity') sei die Unteilbarkeit Voraussetzung. Denn die wirklichen Einheiten will Leibniz ja dadurch finden, daß er ein formales Atom einführt (die substantiellen Formen), mit der Begründung, daß
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puisqu'un estre matériel ne sçauroit estre en même temps matériel et parfaitement indivisible, ou doué d'une veritable unité. (479, erste Fassung) Was ausgestattet ist mit einer wahrhaften Einheit, das hat die Eigenschaft der Einheit - das ist der Begriff der Einheit als unity. Leibniz glaubt fälschlich, daß Einheiten (units) die Eigenschaft der Einheit (unity) haben müssen, und obendrein, daß diese Eigenschaft in völliger Unteilbarkeit bzw. Teillosigkeit besteht. Es ist diese Gleichsetzung von vollkommener Unteilbarkeit („parfaitement indivisible") und wahrhafter Einheit („doué d'une veritable unité"), die den Ursprung der Monadenlehre bildet, eine Gleichsetzung, die ihrerseits verursacht ist durch die Verwirrung zweier Bedeutungen des Wortes 'Einheit'.
III. Da Leibniz meint, daß jene Gegenstände, die den Charakter einer wahrhaften Einheit haben, unteilbar im Sinne der Teillosigkeit sein müssen, ist er nun auf der Suche nach Dingen, die diese Bedingung erfüllen. Das Musterbeispiel von etwas Teillosem ist der Punkt der Geometrie, der ein Schnittpunkt von Linien oder ein Endpunkt einer Linie oder auch ein Eckpunkt eines Körpers ist. Aber ein Punkt ist kein Ding, er kann die Bedingung der Substantialität nicht erfüllen. Das Atom der Atomisten wiederum ist zwar kein bloßes Akzidenz an etwas wie ein Punkt, sondern ist ein wirkliches Ding, aber es ist immer ausgedehnt und kann daher immer als mit Teilen versehen betrachtet werden, auch w e n n es faktisch nicht in Teile zerlegt werden kann. Da also die Atome der Atomisten, die kleinsten Körper, wegen ihrer Ausgedehntheit nicht die Bedingung völliger Teillosigkeit erfüllen, meint Leibniz nun, auf eine andere Vorstellung zurückgreifen zu müssen, um seine 'wahrhaften Einheiten' unterbringen zu können. Für diese Kopfgeburt nimmt er die aristotelische Vorstellung der Seele als erster Entelechie eines belebten Körpers her. Sie soll ihm das formale Atom vertreten, das er zu benötigen glaubt. Il fallut donc rappeller et comme rehabiliter les formes substantielles, si décriées aujourd'huy, mais d'une maniere qui les rendist intelligibles et qui séparât l'usage qu'on en doit faire, de l'abus qu'on en a fait. Je trouvay donc que leur nature consiste dans la force, et que de cela s'ensuit quelque chose d'analogique au sentiment et à l'appétit; et qu'ainsi il falloit les concevoir à l'imitation de la notion que nous avons des ames. Mais comme l'ame ne doit pas estre employée pour rendre raison du détail de l'oeconomie du corps de l'animal, je jugeay de même qu'il ne falloit pas employer ces formes pour expliquer les problèmes particuliers de la nature, quoyqu'elles soyent nécessaires pour établir des vrays principes généraux. Aristote les appelle entelechiespremieres, je les appelle peutestre plus intelligiblement forces primitives, qui ne contiennent pas seulement l'acte ou le complément de la possibilité, mais encor une activité originale. (478 f.) Il fallut donc rappeller et comme rehabiliter les formes substantielles, si décriées aujourd'huy ( . . . ) . Warum 'also' (donc)? Weil Leibniz hier die einzige
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Möglichkeit sieht, neben den materiellen Atomen, die in seinen Augen keine wahrhaften Einheiten sind, eine andere Art von Einheiten zu finden, die als 'formale Atome' dem Anspruch an wahre Einheit genügen. Was sind nun die substantiellen Formen? Hier greift Leibniz auf Unterscheidungen des Aristoteles zurück, die der ganzen Scholastik geläufig waren, Unterscheidungen, die Aristoteles im zweiten Buch seiner Schrift Über die Seele entwickelt. Aristoteles will dort drei Bedeutungen des Wortes Substanz, 'ousia', unterscheiden: von der Substanz als Materie, als Stoff einer Sache ist die Form, die Gestalt dieser Sache zu unterscheiden, der dritte Sinn ist schließlich der des aus beiden, aus Stoff und Form, Zusammengesetzten (vgl. De Anima II 1, 4l2a6-9). Die Ausführungen des Aristoteles in diesem Kapitel sind alles andere als klar, und in gewissem Sinn bilden sie eine dialektische tour de force, aber das hat diesen Text nicht daran gehindert, eine enorme Wirkungsgeschichte zu haben. Aristoteles trifft diese Unterscheidungen, um eine Definition der Seele zu geben. Eine substantielle Form ist daher nicht eine besondere Art von Form, sondern eben Substanz im Sinne von 'Form'. Substanz in dieser Bedeutung von Form, von Eidos (die zweite Bedeutung von 'Substanz'), sei, so erklärt Aristoteles, entelecheia, Wirklichkeit, und 'entelecheia' werde in einem doppelten Sinn gebraucht. Einmal so wie das Wissen, dann aber auch wie das aktive Betrachten, d.h. die Anwendung des Wissens (vgl. 412a9-ll). Aristoteles meint hier folgendes: Eine bloße Fähigkeit, wie die des Sprechen-lernen-Könnens, kann sozusagen in zwei Stufen realisiert, verwirklicht werden; erste Stufe: Ich erlerne das Sprechen einer Sprache, z.B. Deutsch. Dann kann ich Deutsch. Das ist die erste (Stufe der) Verwirklichung/erste entelecheia. (Man könnte ebenso gut auch von einer zweiten Stufe des Vermögens sprechen: vom Vermögen, Sprechen zu können, zur tatsächlichen Beherrschung einer Sprache). Die zweite Stufe der Realisierung dieser Fähigkeit ist das aktuelle Ausüben dieser Fähigkeit: wenn ich z.B. Deutsch spreche = zweite (Stufe der) Verwirklichung, zweite entelecheia. Was Aristoteles mit Hilfe dieser Unterscheidung klar machen will, ist dies, daß die Seele, die den Charakter einer Substanz im zweiten Sinne von 'Substanz' hat, gleichzeitig die erste Entelecheia eines belebten Körpers ist - die erste, nicht die zweite, weil auch schlafende, also nicht aktive, Organismen eine Seele haben. Darum kann er die Seele, die er zuerst als eidos des Körpers, als forma corporis bezeichnet hat (4l2a20), dann als die erste Entelecheia eines natürlichen Körpers, der der Möglichkeit nach Leben hat, charakterisieren (412a27-28, vgl. 4l2b5-6). Die Seele als erste Entelechie - dieser Gedanke ist dann bei Leibniz angekommen. Aber was bei Aristoteles eine Möglichkeit war, die Seele in ihrer Beziehung zum Körper des Lebewesens zu charakterisieren, wird bei Leibniz (miß)verstanden als eine Bezeichnung der Seele selbst, wenn er sagt: „Aristote les appelle entelechiespremieres"? Der bei AriVgl. dazu v. Verf.: Entelechie und Monade: Bemerkungen zum Gebrauch eines aristotelischen Begriffs bei Leibniz. In: J. Wiesner (Hg.), Festschrift Paul Moraux Bd. II, de Gruyter, Berlin 1987, S. 560-583.
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stoteles wesentliche Genitiv, der die Beziehung zu dem in bestimmter Weise charakterisierten Körper des Lebewesens ausdrückt (vgl. 4l2a27-28, 4l2b5-6), ist bei Leibniz verschwunden. Das Interesse, das Leibniz der Seelenlehre des Aristoteles entgegenbringt, wird verständlich von dem Scheinproblem aus, das er sich mit der Suche nach einer teillosen Substanz aufgeladen hat. Weil kein körperliches Ding wegen seiner Ausgedehntheit die Eigenschaft der Teillosigkeit besitzen kann, sucht Leibniz nach etwas, das Substanz ist, aber nicht materiell. Da Aristoteles die Substanz als Form, als eidos, von der Substanz als Stoff, als hyle, unterschieden hat, scheint die Substanz als Form stofflos und damit immateriell zu sein. Aber diese Folgerung auf die Immaterialität ist dann unberechtigt, wenn diese stofflose Substanz als ein eigenes Ding verstanden wird, wie Leibniz das tut. In Wirklichkeit soll mit der Unterscheidung von Substanz als Form und Substanz als Stoff bei Aristoteles eine Unterscheidung von Aspekten an dem einheitlichen Ding vorgenommen werden, das aus Form und Stoff besteht. Aristoteles macht das im Fortgang des Kapitels De Anima II 1 an einem Beispiel deutlich: „Wenn nämlich das Auge ein Lebewesen wäre, dann wäre seine Seele die Sehkraft. Das Auge wäre dann der Stoff der Sehkraft, nach deren Wegnahme das Auge kein Auge mehr wäre, außer im homonymen Sinn, wie auch das steinerne oder das gemalte Auge." (4l2bl8-22) Das Wesen des Auges ist es, ein Sehorgan zu sein, Sehkraft zu besitzen. Wo das nicht der Fall ist, wie bei den Augen einer Statue oder auf einem Gemälde oder eben auch bei den Augen eines Blinden, da reden wir von Auge nur in einem übertragenen Sinn. In diesem Beispiel des Aristoteles wird von 'Auge' in unterschiedlichem Sinn geredet. Bei seinem ersten Auftreten bezeichnet dieser Ausdruck das Ganze aus Stoff und Form; wenn dann im folgenden Satz vom Auge als Stoff der Sehkraft die Rede ist, dann ist das anatomische Organ gemeint, das auch beim Blinden vorhanden sein kann. Entscheidend für unsere Überlegungen ist aber nun, daß die Sehkraft, die in diesem Beispiel der Seele entspricht, für sich und abgetrennt gar nicht existieren kann. Es gibt zwar ein Auge ohne Sehkraft, aber niemals eine Sehkraft ohne ein Auge, dem sie innewohnt. Ebensowenig kann es für Aristoteles eine Seele ohne einen Körper geben, dem sie innewohnt. Daher ist die Seele als Form des Körpers nur dem Begriff nach ohne Stoff, die konkrete Seele ist dagegen immer nur zusammen mit dem Organismus anzutreffen, dessen Seele sie ist, sie ist immer stoffgebunden. Wenn Leibniz sich daher auf die substantiellen Formen beruft, um sie zu seinen immateriellen und wahrhaften Einheiten zu machen, dann liegt dem ein Mißverständnis der aristotelischen Unterscheidung von Substanz als Form und Substanz als Stoff zugrunde. Dieses Mißverständnis wird durch die Redeweise von den 'substantiellen Formen' befördert, ein Ausdruck, der in Wahrheit nur Substanzen als Formen bezeichnet. Leibniz hat in der Tat diesen Aspektcharakter der aristotelischen Unterscheidung nicht gesehen; das zeigt sich daran, daß er von den substantiellen Formen sagen kann,
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que leur nature consiste dans la force, et que de cela s'ensuit quelque chose d'analogique au sentiment et à l'appétit; et qu'ainsi il falloit les concevoir à l'imitation de la notion que nous avons des ames. (479) Das, was bei Aristoteles ein Aspekt an einer Substanz im Sinne des konkreten Individuums ist, wird bei Leibniz zu einer besonderen Art von Substanz. Aristoteles kann nun nur bei Lebewesen den Form-Aspekt mit der Seele gleichsetzen, und es könnte d e m g e g e n ü b e r zunächst d e n Anschein haben, als o b Leibniz allen substantiellen Formen diesen Status einer Seelenanalogie zugestehen will. Das w ü r d e allerdings den aristotelischen Begriff einer Substanzals-Form überdehnen, d e n n für Aristoteles läßt sich die entsprechende Unterscheidung unterschiedlicher Bedeutungen von 'Substanz' auch bei Artefakten vornehmen; so wird nur wenig später im Text von De Anima II 1 die Unterscheidung von Form u n d Stoff auch an einem Artefakt, an der Axt (pelekys),
durchdekliniert (4l2bll-15). Aber in Wirklichkeit will Leibniz den Begriff der substantiellen Formen nur für das verwenden, was auch bei Aristoteles 'Seele' heißt. Ihm geht es u m eine Anleihe bei der aristotelischen Psychologie, nicht bei dessen Ontologie. Das zeigt sich nun schon daran, daß Leibniz in d e m gerade zitierten Satz allen substantiellen Formen etwas d e m Gefühl u n d d e m Begehren Analoges zugestehen u n d diese substantiellen Formen in Analogie zum Begriff der Seele verstehen will. Was hier zunächst noch als eine Analogie zur Seele vorgestellt wird, erscheint aber nur wenig später selbst als Seele, d e n n Leibniz fährt in seinem Text fort: Je voyois que ces formes et [Gerhardt: est] ces ames devoient estre indivisibles, aussi bien que nostre Esprit, comme en effet je me souvenois que c'estoit le sentiment de S. Thomas à l'égard des ames des bestes. (479) Und etwas weiter schärft Leibniz seinen Lesern ein, qu'il n'y falloit point mêler indifféremment ou confondre avec les autres formes ou ames les Esprits ny l'ame raisonnable ( . . . ) . (479) Und nur w e n i g später heißt es dann: Cependant, pour revenir aux formes ordinaires, ou aux Ames brutes, ( . . . ) . (480) Klarerweise will Leibniz die substantielle Form so verstanden wissen, d a ß sie allen Lebewesen zukommt, also genau jenen Wesen, d e n e n auch Aristoteles eine Seele zuerkennt. Daher die Rede von d e n „formes ordinaires", die d e n „ames brutes", also d e n Tierseelen, entsprechen. Allerdings ist die Seele dieser Wesen bei Leibniz nun e b e n nicht mehr, wie bei Aristoteles, ein Aspekt an jener Substanz, die das konkrete Individuum ist, sondern hat den Status einer eigenen Substanz. Nur darum kann sie bei Leibniz die Eigenschaft der Unteilbarkeit u n d Teillosigkeit haben. Und diese Eigenschaft ist nun der Grund dafür, diesen „Formen oder Seelen" eine Existenz zuzusprechen, die mit der
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Erschaffung der Welt ihren Anfang nahm. Das zeigt nun der Fortgang des ersten der gerade zitierten drei Textstücke: Mais cette vérité renouvelloit les grandes difficultés de l'origine et de la durée des ames et des formes. Car toute substance simple qui a une veritable unité, ne pouvant avoir son commencement ny sa fin que par miracle, il s'ensuit qu'elles ne sçauroient commencer que par création ny finir que par annihilation. Ainsi (excepté les Ames que Dieu veut encor créer exprès) j'etois obligé de reconnoistre qu'il faut que les formes constitutives des substances ayent esté créées avec le monde, et qu'elles subsistent tousjours. (479) Aus der Teillosigkeit folgt ja in der Tat, daß eine Entstehung durch Zusammensetzung von Teilen nicht möglich ist, ebenso wenig wie eine Zerstörung durch Auflösung in die Bestandteile. Darum, so folgert Leibniz, muß hier eine creatio ex nihilo den Anfang bilden, ebenso eine Vernichtung, d.h. eine destructio in nihilum ihr Ende. Allerdings versucht Leibniz dabei die Paradoxie dieser These der von Ewigkeit her existierenden Seelen durch zwei Manöver abzuschwächen: Zum einen beruft er sich darauf, daß sich bei einigen scholastischen Philosophen, er nennt Albert den Großen und Jean Bachon (Johannes Baconthorp), eine ähnliche Ansicht findet; zum anderen dienen ihm die Atome der Anhänger Gassendis dazu, diesen Gedanken als keineswegs außergewöhnlich darzustellen, sei doch die Dauer dieser Atome ebenso unbegrenzt. Leibniz hat allen Grund, die Paradoxie dieses Gedankens durch die erwähnten Manöver abzumildern, denn was er hier behauptet, nimmt der menschlichen Seele das Privileg der alleinigen Unsterblichkeit. Nun sollen auch die Seelen aller Tiere, die doch in der Rangordnung weit unter den Menschen zu stehen scheinen, ebenso unsterblich sein wie die Seele des Menschen. IV. Aber wie läßt sich die ewige Existenz dieser Tierseelen mit der Tatsache in Übereinstimmung bringen, daß Tiere sterben und ihre Körper verwesen? Leibniz glaubt auch darauf eine Antwort zu haben: Mais il restoit encor la plus grande question de ce que ces ames ou ces formes deviennent par la mort de l'animal, ou par la destruction de l'individu de la substance organisée. ( . . . ) Cela m'a fait juger enfin qu'il n'y avoit qu'un seul parti raisonnable à prendre; et c'est celuy de la conservation non seulement de l'ame, mais encor de l'animal même et de sa machine organique; quoyque la destruction des parties grossieres l'ait réduit à une petitesse qui n'echappe pas moins à nos sens que celle où il estoit avant que de naistre. (480) Jetzt werden diese Seelen, die forces primitives, doch wiederum mit einem Körper, einer machine organique, ausgestattet, der die Ewigkeit dieser Seelen teilen soll. Es folgt eine Berufung auf einen angeblichen Beweis aus der Erfah-
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rungswelt: Die Wiedererweckung ertrunkener und dann unter pulverisierter Kreide begrabener Fliegen. Dann die Folgerung: Il est donc naturel que l'animal ayant tousjours esté vivant et organisé (comme des personnes de grande pénétration commencent à le reconnoistre) il le demeure aussi tousjours. Et puisqu'ainsi il n'y a point de premiere naissance ny de génération entièrement nouvelle de l'animal, il s'ensuit qu'il n'y en aura point d'extinction finale, ny de mort entiere prise à la rigueur métaphysique; et que par conséquent au lieu de la transmigration des ames, il n'y a qu'une transformation d'un même animal, selon que les organes sont pliés différemment, et plus ou moins développés. (481) Leibniz betont dann den Unterschied der vernünftigen Seelen zu denen, die er allen Körpersubstanzen zubilligt, beruft sich auf antike (pythagoreisierende) Autoren und übt Kritik an modernen Autoren (Fontenelle), die den Unterschied einer künstlichen und einer natürlichen Maschine, d.h. eines Organismus, nicht hinreichend beachtet hätten. Er betont den Unterschied eines Organismus zur künstlichen Maschine: Une machine naturelle demeure encor machine dans ses moindres parties, et qui plus est, elle demeure tousjours cette même machine qu'elle a esté, n'estant que transformée par des differens plis qu'elle reçoit, et tantost étendue, tantost resserrée et comme concentrée lorsqu'on croit qu'elle est perdue. (482) Daran anschließend deckt Leibniz nun noch einmal das Motiv auf, das ihn bei diesen Überlegungen geleitet hat, nämlich die Suche nach einer wahrhaften Einheit: De plus, par moyen de l'ame ou forme, il y a une veritable unité qui repond à ce qu'on appelle moy en nous; ce qui ne sçauroit avoir lieu ny dans les machines de l'art, ny dans la simple masse de la matière, quelque organisée qu'elle puisse estre; qu'on ne peut considérer que comme une armée ou un troupeau, ou comme un estang plein de poissons, et comme une montre composée de ressorts et de roues. Cependant s'il n'y avoit point de véritables unités substantielles, il n'y aurait rien de substantiel ny de reel dans la collection. ( . . . ) Il n'y a que les Atomes de substance, c'est à dire, les unités reelles et absolument destituées de parties, qui soyent les sources des actions, et les premiers principes absolus de la composition des choses, et comme les derniers elemens de l'analyse des choses substantielles. On les pourrait appeller points métaphysiques: ils ont quelque chose de vital et une espece de perception, et les points mathématiques sont leur points de veue, pour exprimer l'univers. Mais quand les substances corporelles sont resserrées, tous leur organes ensemble ne font qu'un point physique à nostre égard. Ainsi les points physiques ne sont indivisibles qu'en apparence: les points mathématiques sont exacts, mais ce ne sont que des modalités: il n'y a que les points métaphysiques ou de substance (constitués par les formes ou ames) qui soyent exacts et reels, et sans eux il n'y aurait rien de reel, puisque sans les véritables unités il n'y aurait point de multitude. (482 f.) Im letzten Satz dieses Textstücks finden wir in der Tat den eigentümlichen (und leider fehlerhaften) Gedankengang konzentriert vor, der Leibniz zur Annahme seiner Monaden gebracht hat. Ohne Einheiten gäbe es wohl keine Vielheiten (im Sinne zählbarer Mengen), aber dazu bedarf es keiner wahr-
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haften Einheiten, d.h. in Leibniz' Verständnis solcher, die teillos sind. Daß wirkliche Einheit für ihn gleichzusetzen ist mit Teillosigkeit, das sagt Leibniz hier noch einmal expressis verbis: Il n'y a que les Atomes de substance, c'est à dire, les unités reelles et absolument destituées de parties (...). Und das Beispiel, das Leibniz hier benutzt, das Beispiel der mathematischen Punkte, die ja in der Tat diese Bedingung der Teillosigkeit erfüllen, bestätigt das noch einmal eindrucksvoll. Eben darum will er auch die substantialen Atome 'metaphysische Punkte' nennen. V. Der Monadenlehre liegt also eine Verwirrung von zwei Gebrauchsweisen des Wortes 'Einheit' zugrunde, wobei Leibniz zusätzlich die falsche Annahme macht, daß der eine Sinn dieses Wortes, 'Einheit' im Sinn von Zähleinheit, die Teillosigkeit dieser Einheiten voraussetzt. Es mag vielleicht enttäuschend sein, das großartige barocke Gebäude der Monadenlehre auf einen solch vergleichsweise trivialen Fehler zurückgeführt zu sehen; aber wenn wir die Theorien früherer Philosophen nicht nur wie Museumsstücke behandeln wollen, die man betrachten, aber nicht anrühren darf, sondern wenn wir ihren Anspruch auf Wahrheit ernst nehmen wollen, dann können wir nicht anders, als sie kritisch auf wahr und falsch zu prüfen und auch nach den Gründen einer falschen Theorie zu fragen. Das zu tun, heißt aber nicht, uns in historischem Hochmut über einen Philosophen wie Leibniz zu erheben. Weil wir auf den Schultern von Riesen stehen, können wir heute weiter sehen als diese Riesen, und Leibniz ist sicher einer von ihnen, aber wir sind darum nicht größer als sie. Aber das Umgekehrte gilt eben auch: Auch w e n n wir nicht größer sind als die großen Geister der Vergangenheit, auf deren Schultern wir stehen, so können wir doch weiter sehen als sie; und ich glaube nicht, daß sie es billigen würden, wenn wir auf diese Möglichkeit des WeiterSehens Verzicht übten.
Kants Idee einer kritischen euklidischen Geometrie Dieter Scheffel, Duisburg
Vorbemerkung Will man Begriff und Funktion der euklidischen Geometrie in Kants Kritik der reinen Vernunft (KrV) bestimmen, so muß man innerhalb der Transzendentalen Ästhetik, nach der 2. Auflage (1787), die vier Argumentationsschritte der metaphysischen Erörterung des Lehrbegriffes vom Raum verfolgen, dann als fünften Schritt die transzendentale Erörterung und schließlich als letzten Schritt die Aufstellung des reinen Verstandesgrundsatzes der „Axiome der Anschauung" in der Transzendentalen Analytik. In diesem ganzen Argumentationsgang kommen, was die reine Geometrie betrifft, drei apriorische Grenzbestimmungen vor: 1. der Schnitt zwischen (äußerer) Erscheinung und Ding an sich, in welchem die reine Geometrie a priori auf die Seite der äußeren Erscheinungen gehört. Diese Grenzbestimmung a priori wird im 3. und 4. Raumargument der metaphysischen Erörterung durchgeführt. 2. die raumimmanente Grenzbestimmung a priori zwischen anschaulicher euklidischer Geometrie und anschaulicher nicht-euklidischer, sphärischer Geometrie. Diese Grenzbestimmung a priori kommt implizit ebenfalls im 3- und 4. Raumargument vor. Und 3- die Grenzbestimmung a priori, die sowohl die nicht-euklidische, sphärische als auch die euklidische Geometrie auf die formale Möglichkeit a priori äußerer Erfahrung relativiert. Diese Grenzbestimmung wird in einem 1. Teilschritt (innerhalb der Transzendentalen Ästhetik) in der transzendentalen Erörterung des Lehrbegriffs vom Raum durch Einführung der Lehre vom Raum als der Form a priori meines äußeren Sinnes durchgeführt und in einem 2. Teilschritt (implizit) innerhalb der Transzendentalen Analytik durch Einführung und Beweis des reinen Verstandesgrundsatzes der „Axiome der Anschauung". Die Rekonstruktion des ganzen Argumentationsganges unter der Grundidee der KrV, daß dem systematischen Geschäft der Philosophie als einer Vernunftwissenschaft erst das kritische Geschäft der Grenzbestimmung möglicher Erkenntnis a priori vorangehen muß, die Kritik der reinen Vernunft jeder möglichen Metaphysik, die als Wissenschaft soll auftreten können, werde ich bei einer anderen Gelegenheit durchführen. Hier, auf begrenztem Raum und auf Grund einer gewissen Problemstellung, werde ich vor allem auf das kritische Verfahren der Konstruktion der mathematischen Begriffe, eingeschränkt auf die geometrischen Begriffe oder die ostensive Konstruktion, zu sprechen
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kommen und nur insoweit auf die Grenzbestimmung, welcher die euklidische Geometrie a priori unterliegt. Nur soviel sei hier gesagt: nach der kritischen Raumtheorie ist der Raum als Vorstellung a priori schließlich ein Prinzip der Möglichkeit a priori äußerer Erfahrung, in welcher ich a posteriori handelnd und leidend mit Dingen außer mir im Raum verbunden bin, und zwar sowohl ursprünglicher leidend denn handelnd als auch, unter dieser Bedingung, ursprünglicher handelnd denn leidend. Die Möglichkeit dieser Struktur muß die kritische Raumtheorie schon a priori auf formale Weise einsichtig machen. Sie muß daher schon a priori sowohl eine auf mich zugeschnittene Funktion eines primär leidenden Subjektes als auch eine auf mich zugeschnittene Funktion eines primär handelnden Subjektes in meine Vorstellung vom Raum integrieren können und integrieren. Und das geschieht a priori auf formale Weise einerseits vermittelst der nicht-euklidischen, sphärischen Geometrie, die in ihrer Möglichkeit in meiner reinen Anschauung vom Raum mir als primär passivem Subjekt korrespondiert, und andererseits vermittelst der euklidischen Geometrie, die in ihrer Möglichkeit in meiner reinen Anschauung vom Raum mir als primär aktivem Subjekt korrespondiert. Problemstellung Im kantischen Nachlaß kommen Bemerkungen vor, die sich auf den 20. Lehrsatz in § 29 des 1. Buches der Elemente Euklids beziehen, der die Umkehrung des 18. (§ 27) und des 19- (§ 28) Lehrsatzes darstellt. Diese Bemerkungen finden sich unter den Reflexionen zur Mathematik (AA 14) als Nr. 11 aus dem Jahre 1800 (AA 14, S. 52) und im Opus postumum (AA 21, S. 63; AA 22, S. 81 u. 91), und sie besagen (mit den Worten der Reflexion 11), daß der Satz, „wenn 2 Parallellinien von einer dritten durchschnitten werden etc. etc ., durch eine philosophische Vörstellungsart durch Begriffe mit Vorbeygehung der Construction völlig strenge, aber doch nicht euclideisch bewiesen werden könne" (AA 14, S. 52). Das soll nach einer der Bemerkungen im Opus postumum, in welcher Kant den 20. Lehrsatz als 47. Satz bezeichnet, allerdings ein Ausnahmefall sein: „Man kann auch einen rein mathematischen Satz (nämlich den 47sten Satz im ersten Buch des Euklides) auch philosophisch beweisen; aber dieser ist auch der einzige weil er eine Qualität betrifft indem die Entfernung der Parallellinien so klein angenommen wird als man will mithin auch als verschwindend gedacht werden kann" (AA 21, S. 63). Wenn Kant von der philosophischen Vorstellungsart durch Begriffe unter Ausklammerung der Konstruktion (seil, der Begriffe) spricht, so meint er damit den prinzipiellen Unterschied zwischen der philosophischen und der mathematischen Vernunfterkenntnis, den er vor allem in der Transzendenta-
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len Methodenlehre der KrV vorgetragen hat: „Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunfterkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus der Konstruktion der Begriffe" (A 713)- Stellt Kant aber nicht prinzipiell seine Lehre von der mathematischen Erkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe in ihrer Allgemeingültigkeit in Frage, wenn er die philosophische Erkenntnisart auch in der Mathematik gelten lassen will, obschon nur in einem Ausnahmefall? Und wie soll Kants Behauptung „Matheseos principia philosophica kann es auch in der Lehre von den Parallellinien geben" (AA 22, S. 91) mit seiner Äußerung im 3. Argument der metaphysischen Erörterung des Lehrbegriffes vom Raum übereinstimmen, daß „auch alle geometrischen Grundsätze, z. E. daß in einem Triangel zwei Seiten zusammen größer sind als die dritte, niemals aus allgemeinen Begriffen von Linie und Triangel, sondern aus der Anschauung und zwar a priori mit apodiktischer Gewißheit abgeleitet" (A 25) werden? Zählt nicht auch das der euklidischen Parallelendefinition (1. Buch, 23. Definition) entsprechende, doch von Euklid nicht explizit angeführte, Parallelenpostulat bzw. -axiom, wonach es zu einer gegebenen Geraden durch einen nicht auf ihr liegenden Punkt in derselben Ebene nur eine einzige Gerade als Parallele gibt, zu den unbeweisbaren Grundsätzen, die mit apodiktischer Gewißheit aus der reinen Anschauung abgeleitet werden? Heißt das nicht einerseits sagen, daß derselbe Parallelenbegriff in der reinen Anschauung vom Raum darstellbar oder konstruierbar sein muß, und andererseits sagen, daß er nicht konstruiert werden kann? Begeht also Kant nicht einen immanenten Widerspruch? So daß man gegen die apodiktische Gewißheit des Parallelenpostulates bzw. -axioms und die Unmöglichkeit eines ihm widersprechenden Grundsatzes gar nicht erst das nachkantische, moderne Faktum der Existenz nicht-euklidischer Geometrien bemühen muß, um Kant zu widerlegen, weil er sich nämlich schon selbst widerlegt? Oder übt Kant nur Selbstkritik, indem er einen ersten Schritt über seine ursprüngliche Lehre der apodiktischen (anschaulichen) Gewißheit der Grundlagen der euklidischen Geometrie hinausgeht? Um die aufgeworfenen Fragen zu untersuchen und zu beantworten, kommen wir nicht umhin, uns einen ersten Begriff von der Konstruktion mathematischer Begriffe, insbesondere der ostensiven Konstruktion der geometrischen Begriffe zu machen. Konstruktion der Begriffe Die Konstruktion der mathematischen Begriffe ist im Prinzip nichts anderes als die Umänderung oder Revolution der Denkart in der Mathematik (B X ff.), durch welche sie in den sicheren Gang einer völlig hypothesenfreien Vernunftwissenschaft gebracht worden ist. Diese Umänderung der Denkart hat zusammen mit der Revolution der Denkart in der Naturwissenschaft (B
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XII ff.) Vorbildfunktion für die sogenannte kopernikanische Wendung (B XVI) in der Metaphysik. Mit der Umänderung der Denkart in der reinen Mathematik, insbesondere der reinen Geometrie, meint Kant folgendes: „Dem ersten, der den gleichseitigen Triangel demonstrierte (er mag nun Thaies oder wie man will geheißen haben), dem ging ein Licht auf; denn er fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sah, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern [ihre Eigenschaften] durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellte (durch Konstruktion), hervorbringen müsse, und daß er, um sicher etwas a priori zu wissen, er der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat" (B XI f.). Über die mathematische Erkenntnis als Vernunfterkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe läßt sich Kant in der Transzendentalen Methodenlehre der KrV, insbesondere im 1. Abschnitt des 1. Hauptstücks (A 712 ff.) noch genauer aus. Grundsätzlich gilt-, „Zur Konstruktion eines Begriffs wird . . . eine nicht empirische Anschauung erfordert" (A 713), und „nur der Begriff von Größen läßt sich konstruieren, d. i. a priori in der Anschauung darlegen" (A 714). Und im Falle der reinen Geometrie läßt sich ein Begriff von einem quantum nur zugleich mit dessen Qualität, d. h. seiner Gestalt a priori in der Anschauung darstellen bzw. konstruieren (A 720). Dabei hat die Größe Vorrang vor der Gestalt (im Unterschied zur sphärischen Geometrie). Um aber einen mathematischen Begriff konstruieren zu können, d. h. ihn „a priori in der Anschauung geben" (A 722) zu können, „indem wir uns im Räume und der Zeit die Gegenstände selbst durch gleichförmige Synthesis schaffen" (A 723), muß der Begriff „schon eine reine Anschauung in sich" (A 719) enthalten bzw. „schon auf eine Anschauung a priori gehen" (A 724). Wie ist das zu verstehen? Die Berücksichtigung der reinen Anschauung betrifft zunächst nur die intellektuelle Möglichkeit des Begriffs und noch nicht die anschauliche Möglichkeit seines Gegenstandes, die erst Sache der Konstruktion des Begriffes ist. Der Begriff eines bestimmten Raumquantums (und seiner Gestalt), z. B. derjenige eines ebenen Dreiecks, ist der Begriff eines bestimmten Raumes im Raum. Er beruht in seiner Möglichkeit auf einer Einschränkung (uneigentlichen Teilung) des Raumes als eines unendlichen quantum continuum. Aber ich kann mir einen solchen Begriff nicht als einen an sich möglichen, sondern nur als einen in Beziehung auf mich möglichen machen. Das heißt, die Einschränkung des Raumes kann ich nur vermittelst einer noch ursprünglicheren intellektuellen Bestimmung meiner Vorstellung vom Raum als einem quantum continuum, die alsdann eine reine Anschauung ist, zuwege bringen. Daß der bloße Begriff eines bestimmten Raumquantums (und seiner Gestalt) a priori reine Anschauung enthält, heißt zunächst (nach dem 3- Raumargument) nur, daß ich selbst mir einen solchen Begriff nur vermittelst meiner intellektuellen Synthesis von Mannigfaltigem meiner, mir a priori korrespon-
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dierenden, reinen Anschauung vom Raum als einem quantum continuum machen kann und muß. Der Raum wird dabei ursprünglicher als quantum continuum denn als Gegenstand meiner reinen Anschauung gedacht. Dadurch wird aber noch nicht ein an sich möglicher Begriff eines unabhängig von aller Anschauung auf einer Einschränkung des quantum continuum beruhenden bestimmten Raumquantums im Raum als Unding ausgeschlossen. Das geschieht erst dann, wenn (im 4. Raumargument) meine, mir a priori korrespondierende, reine Anschauung im Raum und vom Raum als einem quantum continuum zur ursprünglichen Vorstellung a priori vom Raum schlechthin gemacht wird, so daß der Raum nicht mehr als quantum continuum Gegenstand meiner reinen Anschauung in ihm, sondern sogar als Gegenstand meiner reinen Anschauung in ihm überhaupt erst ein quantum continuum ist oder eine unendliche mir gegebene Größe. Die konstruierbaren mathematischen Begriffe fallen also auch, wie die conceptus communes (B 133 f ), in ihrer Möglichkeit unter die von der synthetischen Einheit der Apperzeption abhängige analytische Einheit meines Selbstbewußtseins. Folglich steht auch die Konstruktion der Begriffe letzten Endes unter der Verknüpfung des Satzes vom Widerspruch mit dem Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption und also unter dem kritischen Wahrheitsbegriff, der in der objektiven Einheit der Apperzeption besteht. 1 Diese Grundlegung tritt in der kritischen Transzendentalphilosophie an die Stelle der Verbindung des Satzes vom Widerspruch mit dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten und ist in der KrV mit der Grenzbestimmung zwischen reinem Verstand und reiner Vernunft gleichbedeutend und etwas ganz anderes als die Kritik der modernen Intuitionisten oder Konstruktivisten am Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Der bloße Begriff ist vermittelst meiner intellektuellen Bestimmung meiner reinen Anschauung vom Raum nur meine allgemeine Vorstellung einer Einschränkung des Raumes, aber noch keine Vorstellung einer allgemeinen Einschränkung in concreto, allerdings eine Regel für das Verfahren, eine solche Vorstellung zu erzeugen und dadurch den konstruierbaren Begriff zu einem Wissensbegriff (nach B XI f.) zu machen. Der kritische Wahrheitsbegriff ist ein a priori nur relativ auf mich möglicher Begriff einer formalen Wahrheit. Auf ihm beruht auch die allgemeine und reine Logik als Lehre von der Form des Denkens überhaupt, insbesondere die Urteilslehre und der Nachweis ihrer Vollständigkeit (vgl. fürs erste: KI. Reich, Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. 3. Aufl. Hamburg 1986). Dagegen setzt die moderne mathematische Logik in ihrer Lehre von den Aussageverknüpfungen als Wahrheitsfunktionen einen an sich möglichen Begriff der formalen Wahrheit voraus und (nach H. Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft. 3. Aufl. Darmstadt 1966, S. 30) für die Bestimmung der formalen Wahrheit der Verknüpfung eine „finite Vorschrift", die auf dem Satz vom Widerspruch und dem tertium non datur (!) beruht. An diesen sich ausschließenden Grundlagen liegt es, daß die kantische und die moderne formale Logik auf keinen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Das kann man sich zum Beispiel an der logischen Struktur des hypothetischen Urteils klarmachen, die durch keine der modernen „wenn - so"-Verknüpfungen adäquat wiedergegeben werden kann.
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Die Konstruktion des Begriffs, seine Darlegung in meiner reinen Anschauung vom Raum, durch welche die objektive Möglichkeit des Gegenstandes des Begriffes sichergestellt wird, beruht auf einer nur unter Bedingung meiner reinen Anschauung möglichen Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung, die eine Handlung der produktiven Einbildungskraft ist. Sie ist eine Synthesis, die nicht nur, wie die intellektuelle, das Mannigfaltige der reinen Anschauung zum Objekt hat, sondern sogar eine Synthesis in meiner reinen Anschauung vom Raum ist, d. h. eine Synthesis, die zugleich Gegenstand meiner reinen Anschauung ist. Ich kann das Ziehen einer geraden Linie in Gedanken sowohl als rein intellektuelle Synthesis verstehen (B 137/138) als auch als Handlung der produktiven Einbildungskraft (A 162/163). Im ersten Fall sage ich lediglich, daß ich Mannigfaltiges meiner reinen Anschauung vom Raum verbinde, und abstrahiere davon, in welcher Weise ich handle. Im zweiten Fall dagegen ist die Synthesis nur unter Bedingung des Raumes in meiner reinen Anschauung möglich. Dann kann ich in Gedanken keine gerade Linie durch zwei verschiedene Punkte A und B ziehen, ohne sie entweder zuerst durch A und dann durch B oder umgekehrt in entgegengesetzter Richtung zu ziehen. Diese Synthesis ist, als vollzogene, nicht als Begriff gegeben wie die intellektuelle, sondern als bestimmte Anschauung vom Raum. Vor der Konstruktion des Begriffes, unter der Bedingung der analytischen Einheit meines Selbstbewußtseins, ist lediglich gesagt, daß der Begriff selber in seiner Möglichkeit ein in meine Gewalt gegebener oder ein mir a priori korrespondierender Begriff ist. Aber es ist noch nicht gesagt, daß er als Begriff von einem Objekt der Begriff von einem in seiner (objektiven, begriffsunabhängigen) Möglichkeit in meine Gewalt gegebenen formalen Objekt ist. Das wird erst durch seine Konstruktion sichergestellt. In diesem Sinne sagt Kant in seinen Prolegomenen (1783) bei der Charakterisierung des „himmelweiten Unterschiedes" zwischen mathematischen und metaphysischen Sätzen: „ . . . in der Mathematik kann ich alles das durch mein Denken selbst machen (konstruieren), was ich mir durch einen Begriff als möglich vorstelle" (AA 4, S. 370). So ist meine Konstruktion des Begriffes des ebenen Dreiecks als einer Figur, die in drei geraden Linien eingeschlossen ist (A 716), ein Hinausgehen über den gegebenen Begriff in die reine Anschauung vom Raum. Und das geschieht in zwei Schritten: entsprechend dem angegebenen Unterschied zwischen dem 3- und 4. Raumargument. Ich kann mir kein Dreieck vorstellen, ohne es in Gedanken zu konstruieren. Das ist zunächst (unter der Idee des 3- Raumargumentes) nur eine Aussage über mich selbst: ich kann nicht anders. Aber ich sage noch nicht, daß es auch zur Möglichkeit und damit zum Begriff des Dreiecks gehört, daß ich es in Gedanken in meiner reinen Anschauung konstruieren muß. Das sage ich erst unter der Bedingung, daß meine, mir a priori korrespondierende, reine Anschauung vom Raum als einem quantum continuum die ursprüngliche Vorstellung a priori überhaupt vom Raum ist und also meine Handlung der
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Konstruktion des Dreiecks die Handlung schlechthin ist (Aussage auch über die Möglichkeit eines Dreiecks unter der Idee des 4. Raumargumentes). Und nur durch meine Konstruktion des Begriffs eines ebenen Dreiecks entspringt mit apodiktischer Gewißheit a priori ein intuitives synthetisches Urteil (A 720); z. B. dasjenige, „daß in einem Triangel zwei Seiten zusammen größer sind als die dritte". Durch mein Hinausgehen über den gegebenen Begriff in die reine Anschauung verknüpfe ich mit dem durch den Begriff gedachten Dreieck, als dem Subjekt, ein auf meiner Handlung der Bestimmung der reinen Anschauung beruhendes Prädikat, z. B. dasjenige, „daß zwei Seiten zusammen größer sind als die dritte". Durch mein Hinausgehen über den Begriff ist schon gesagt, daß ein solches synthetisches Prädikat nicht dem Subjekt, dem es beigelegt wird, entsprechen kann, und die Möglichkeit eröffnet, daß nur das Subjekt dem Prädikat entsprechen kann. Das intuitive synthetische Urteil, das durch meine Konstruktion des Begriffes eines ebenen Dreiecks entspringt, ist zunächst nur ein subjektiv gültiges Urteil, nämlich nur als das meine möglich, ohne daß schon gesagt wäre, daß es auch das Urteil ist. Das wird erst dadurch gesagt, daß ich mein Urteil zur objektiven Einheit der Apperzeption bringe oder den Begriff eines Dreiecks meiner Vorstellung von der Möglichkeit des Objekts des Begriffs unterordne, wodurch ich nichts anderes sage, als daß das gedachte Subjekt dem synthetischen Prädikat entspricht. Nur auf diese Weise, durch mein synthetisches Urteil, kommt dem Begriff des Dreiecks eine objektive Bedeutung zu, nämlich nur in Beziehung a priori auf mich als primär aktives Subjekt im Raum. Und nur auf diese Weise leite ich mit apodiktischer Gewißheit den Grundsatz, „daß in einem Triangel zwei Seiten zusammen größer sind als die dritte", a priori aus der reinen Anschauung ab.2 Kants Lehre von der Konstruktion der Begriffe der euklidischen Geometrie stellt auch eine kritische Wendung gegen J. Wallis (1616 - 1703) dar. Wallis übt an Euklids 5. Postulat Kritik. Er ersetzt dieses Postulat durch die Forderung der Existenz ähnlicher Figuren: „Zu jeder beliebigen Figur gebe es stets eine andere ihr ähnliche von beliebiger Größe" (nach O. Becker ).3 Man kann jede Figur, während sie ihre Gestalt behält, unbeschränkt verkleinern und vergrößern. Das ist nach J. Wallis an sich möglich, nach Kant jedoch nicht. Nach ihm muß ich ursprünglicher über mich selbst aussagen, daß ich die Figuren, als formale äußere Erscheinungen, nach meinem Belieben stetig vergrößern und verkleinern kann, ehe ich über die Figuren selber aussagen kann, daß sie stetig vergrößerbar und verkleinerbar sind, so daß die objektive Möglichkeit der stetigen Vergrößerung und Verkleinerung nur relativ auf mich besteht. Dieser Satz ist ein Grundsatz, weil er sowohl das ebene Dreieck als auch das sphärische betrifft. Durch die Konstruktion des Begriffs des ebenen Dreiecks wird er jedoch nur als in der euklidischen Geometrie gültig abgeleitet. Als in der sphärischen Geometrie gültig muß er auf andere Weise aus der reinen Anschauung abgeleitet werden, was ich hier nicht zeigen kann. Einen ähnlichen Status hat der Satz, daß der Raum nur drei Abmessungen besitzt. O. Becker, Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 114. Frankfurt a. M. 1975, S. 170.
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Die Notwendigkeit aber der Konstruktion der geometrischen Begriffe beruht nicht nur darauf, die Begriffe von Größen (und Gestalten) zu Wissensbegriffen zu machen, sondern zugleich auch darauf, daß, wenn der Raum als reine Anschauung Prinzip a priori der Möglichkeit a priori äußerer Erfahrung sein können soll, in der ich a posteriori handelnd und leidend mit Dingen außer mir im Raum verbunden bin, auch schon a priori auf formale Weise die Struktur meines Integriertseins in die äußere Wirklichkeit einsichtig gemacht werden muß. Raumimmanente
Grenzbestimmung
Die Synthesis der produktiven Einbildungskraft, durch die ich in meiner reinen Anschauung Größen und Gestalten erzeuge, ist in zweifacher Weise unter Bedingung meiner reinen Anschauung vom Raum möglich. Ich kann und muß sie sowohl unter Bedingung meiner reinen Anschauung ursprünglicher als objekterzeugende denn als durch die reine Anschauung vom Raum bestimmte denken als auch umgekehrt unter Bedingung meiner reinen Anschauung ursprünglicher als durch die reine Anschauung bestimmte denn als objekterzeugende; das erste in der euklidischen, das zweite in der sphärischen Geometrie. Z. B. kann ich mir eine durch zwei verschiedene Punkte A und B bestimmte gerade Linie nicht vorstellen, ohne sie in Gedanken in meiner reinen Anschauung zu ziehen. Und ich kann sie nicht ziehen, ohne sie entweder zuerst durch A und dann durch B zu ziehen oder umgekehrt in entgegengesetzter Richtung, aber mit dem Ergebnis, daß ich in beiden Fällen ein und dieselbe gerade Linie erzeuge. Meine Handlung der Synthesis ist in diesem Fall unter Bedingung meiner reinen Anschauung vom Raum ursprünglicher objekterzeugend als eine durch die reine Anschauung bestimmte Handlung. Ich denke mich in diesem Fall primär als formal handelndes Subjekt im Raum und nur unter dieser Bedingung als leidend. Und ich denke mir ein durch meine Synthesis erzeugtes formales Objekt, das ein correspondens meiner selbst als eines aktiven Subjektes im Raum ist, d. h. zu dessen Möglichkeit es gehört, prinzipiell in meine Gewalt gegeben zu sein. Was anderes ist es dagegen, wenn ich sage, daß meine Handlung der Synthesis etc. a priori unter Bedingung meiner reinen Anschauung vom Raum ursprünglicher durch die reine Anschauung bestimmt ist, als sie eine Handlung der Objekterzeugung sein kann. In diesem Fall führt der durch den Raum in meiner äußeren Anschauung vom Raum gestiftete Richtungsgegensatz nicht bloß zu zwei verschiedenen Handlungen, sondern auch zu zwei nur anschaulich unterscheidbaren Ergebnissen, z. B. im Falle des sphärischen Dreiecks, das nicht ohne sein Gegendreieck möglich ist. Beide Dreiecke sind flächengleich, haben die gleichen Seiten und Winkel, aber verschiedenen Um-
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laufsinn.4 Ich denke mich in diesem Fall primär als formal leidendes Subjekt im Raum und nur unter dieser Bedingung als handelnd. In diesem Fall denke ich mir ein durch meine Synthesis erzeugtes formales Objekt, das ein correspondens meiner selbst als eines passiven Subjektes im Raum ist, d. h. zu dessen Möglichkeit es gehört, prinzipiell meiner Gewalt entzogen zu sein. Trotz der raumimmanenten Grenzbestimmung zwischen euklidischer und nicht-euklidischer, sphärischer Geometrie besteht ihre Einheit darin, daß beide Wissenschaften a priori nur relativ auf mich unter Bedingung des Raumes mögliche Erkenntnisse sind und unter das Prinzip der synthetischen Einheit der Apperzeption etc. fallen und nicht auf dem tertium non datur beruhen. Ich muß mich in meiner reinen Anschauung vom Raum a priori zuerst als auf formale Weise primär aktiv denken oder setzen. Das kann ich aber nicht, ohne mich darüber hinaus auch als auf formale Weise primär passiv zu denken bzw. zu setzen. Darüber geht dann die transzendentale Erörterung ihrerseits noch hinaus: ich muß mich in meiner reinen Anschauung vom Raum a priori zuerst als auf formale Weise primär passiv denken, bevor ich mich unter dieser Bedingung auch als auf formale Weise primär aktiv setzen kann und muß. Erst durch diese Umkehrung mache ich den Raum als reine Anschauung a priori zur Form meines äußeren Sinnes und damit zu einem Prinzip a priori der (formalen) Möglichkeit a priori meiner äußeren Erfahrung (nicht etwa nur zu einem Prinzip a priori der Möglichkeit a posteriori äußerer Erfahrung).
Der Parallelenbegriff
als konstruierbarer
Begriff
Nach Kant kann also das Verhältnis von euklidischer Geometrie und nichteuklidischer, sphärischer Geometrie nicht so gedacht werden, daß die Kugelgeometrie bloß ein anschauliches Modell der völlig unanschaulichen, sogenannten elliptischen Geometrie ist, die ein dem euklidischen Parallelenpostulat widersprechendes Parallelenaxiom voraussetzt und diese Voraussetzung ohne Widerspruch machen kann, weil eben das euklidische Parallelenpostulat bzw. -axiom, verstanden als unbeweisbares Prinzip, keine evidente Grund Wahrheit ist, sondern bloß eine Grund annahme. Nach der kantischen Lösung dagegen müßte einerseits unter der Idee der Konstruktion der Begriffe eine eingeschränkte apodiktische Gewißheit des euklidischen Parallelenpostulates und andererseits seine Ungültigkeit in der sphärischen Geometrie in ein und derselben reinen Anschauung vom Raum möglich sein. Doch darf diese Lösung auch nicht der nachkantischen EntDieser Fall ist elementarer als das von Kant sowohl in seiner Dissertation von 1770 § 15, C als auch in den Prolegomenen (1783) § 13 angeführte Beispiel inkongruenter symmetrischer sphärischer Dreiecke, das nur dazu dient, die reine Anschauung vom Raum als nicbtbegrifflicbe Vorstellung einzuführen, und für die Entstehungsgeschichte der kritischen Raumtheorie von grundlegender Bedeutung ist. Das sphärische Dreieck und sein Gegendreieck indessen können schon deswegen nicht zur Deckung gebracht werden, weil sie gar nicht gegeneinander verschoben werden können.
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deckung und Entwicklung der modernen nicht-euklidischen Geometrien widersprechen. Ist das überhaupt möglich? Es ist. Kant gibt selbst den Schlüssel zur Lösung dieses Problems an die Hand. Denn ich habe nach ihm (AA 6, S. 233) zwei verschiedene Begriffe einer geraden Linie. Der eine Begriff einer geraden Linie ist dem Begriff des Krummen entgegengesetzt, das Geradesein eine innere Beschaffenheit der Linie, der andere Begriff ist dem Begriff des Schiefen entgegengesetzt, das Geradesein die Lage einer Geraden (der ersten Art) zu einer anderen, nämlich das Senkrechtstehen auf ihr. Unter dieser Voraussetzung kann ich prinzipiell auf zweifache Weise von der Parallelität zweier gerader Linien sprechen. Ich kann nämlich einmal sagen, daß der Begriff der Parallelität ursprünglicher ist als der Begriff der Senkrechten bzw. des rechten Winkels. Und zum andern kann ich umgekehrt sagen, daß der Begriff des rechten Winkels bzw. der Senkrechten ursprünglicher ist als der Parallelenbegriff und diesem zugrundeliegt. Und dementsprechend habe ich dann auch zwei verschiedene Parallelenpostulate. Der erstgenannte Fall liegt in Euklids Parallelendefinition vor. Dieser Begriff ist nach Kant kein konstruierbarer Begriff (AA 14, S. 31) und kann deswegen mit der reinen Anschauung vom Raum qua Erkenntnisquelle gar nicht in Verbindung gebracht werden, ebensowenig das ihm korrespondierende, von Euklid nicht explizit angeführte, Parallelenpostulat. Für Kant kommt nur der zweite Fall in Betracht. Der Begriff der Parallelität zweier gerader Linien darf allererst mit dem Begriff der Senkrechten verbunden werden. Parallel (im Sinne von äquidistant) sind zwei gerade Linien, die beide auf einer Geraden in derselben Ebene senkrecht stehen, also gerade auch im Sinne des Senkrechtseins sind und nicht bloß gerade im Sinne der inneren Beschaffenheit. Die Basisgerade macht von vornherein die Entfernung beider Senkrechten voneinander, ihre Äquidistanz, als quantum möglich. Der Begriff des rechten Winkels bzw. der Senkrechten ist also grundlegend für den Begriff der Parallelen: als einen konstruierbaren Begriff. Nur dann kann ich die Äquidistanz in meiner reinen Anschauung vom Raum als eine nur in Beziehung auf mich mögliche (und bloß formale äußere Erscheinungen betreffende) darlegen. Es genügt also auch nicht, mit Chr. Wölff (im Unterschied zu Euklid) die Parallelen als äquidistante Linien zu definieren. 5 Ich habe nicht erst zwei Geraden, die dann von einer dritten durchschnitten werden und die, wenn diese dritte eine Perpendikellinie ist, zueinander parallel sind. Denn dann ist diese Perpendikellinie lediglich ein Erkenntnisgrund (eine ratio cognoscendi) einer an sich möglichen, in der Äquidistanz Chr. Wolff, Elementa matheseos universae. 1. Teil. Elementa Geometriae. Halle 1730. 5 81: „Linea OP parallela est alteri QR, si ubique eandem ab ea distantiam servat". Vgl. auch Wolfis Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften. 1. Teil. Geometrie. Wien 1775. § 25. Vgl. auch die Berücksichtigung von Wolff durch E. Adickes in seiner Kommentierung der Gedanken Kants zur Mathematik in dessen Nachlaß in AA 14, worauf ich hier nicht eingehen kann.
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bestehenden Parallelität zweier Geraden. Die dritte Gerade darf, unter der Idee der Konstruktion der Begriffe, gegenüber den beiden geraden Linien keine bloß sekundäre, sondern muß eine primäre Funktion haben, d. h. Bedingung der Möglichkeit (ratio essendi) zweier gerader Linien sein, nämlich als senkrechter Linien. Der konstruierbare Parallelenbegriff enthält usprünglich eine Aussage über zwei gerade Linien, nämlich als Senkrechte. Zwei Senkrechte etc. sind ursprünglich zueinander (gemeinsam) parallel, bevor ich sagen kann, daß jede für sich genommen parallel zu der jeweils anderen ist. Denn nach dem 4. Postulat Euklids sind alle rechten Winkel gleich. Zwei verschiedene Senkrechte auf einer gemeinsamen Basisgeraden in ein und derselben Ebene sind daher ursprünglich in ihrer Möglichkeit ununterschieden und erst sekundär unterschieden. Auf diese Weise ist der Begriff der Parallelität zweier gerader Linien als Begriff ihrer Äquidistanz sowohl im Unterschied zu Euklids Parallelendefinition als auch zu derjenigen Chr. Wolfis, die beide letzten Endes auf dem tertium non datur beruhen, ursprünglich der Begriff eines Raumquantums im Raum, der in seiner Möglichkeit unter der analytischen und synthetischen Einheit der Apperzeption auf meiner intellektuellen Synthesis des Mannigfaltigen meiner, mir a priori korrespondierenden, reinen Anschauung im und vom Raum beruht und die Regel für die Synthesis der produktiven Einbildungskraft abgibt, durch die ich in meiner reinen Anschauung vom Raum erst die Möglichkeit auch des Gegenstandes des Begriffes vorstelle. Das kritische Parallelenpostulat Das dem konstruierbaren Parallelenbegriff entsprechende Parallelenpostulat, das ebenfalls bei Euklid nicht explizit vorkommt, setzt einerseits Euklids 4. Postulat voraus und geht andererseits dem 5. Postulat vorher. Dieses Parallelenpostulat entspringt, wenn man die Möglichkeit einer Parallelen zu einer Geraden, die keine Senkrechte ist, ins Auge faßt, also über den konstruierbaren Parallelenbegriff hinausgeht. Ich muß die gerade Linie zwar als von der ursprünglich gemeinschaftlichen Parallelität zweier senkrechter gerader Linien ausgenommen denken, also vom konstruierbaren Parallelenbegriff, aber nicht im Widerspruch zu ihm. D. h. ich muß an der grundlegenden Funktion des Gebrauchs des rechten Winkels festhalten. Es geht jedoch nicht nur um die Möglichkeit der Konstruktion einer Parallelen zu einer gegebenen Geraden, die ursprünglich keine Senkrechte ist, indem schon die Existenz genau einer Parallelen zu einer gegebenen Geraden durch einen nicht auf ihr liegenden Punkt in derselben Ebene vorausgesetzt wird. Es geht vielmehr noch elementarer auch erst um die Möglichkeit, daß zu einer gegebenen Geraden etc. eine einzige Parallele überhaupt existiert.
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Es darf nicht von einer an sich möglichen Existenz genau einer Parallelen die Rede sein, sondern nur von einer durch mich und in Beziehung auf mich möglichen. Voraussetzung dafür ist, daß die gegebene gerade Linie ebenfalls keine an sich mögliche, sondern nur eine durch und in Beziehung auf mich mögliche ist, durch die mir meine Handlung der Erzeugung der geraden Linie als äußere Handlung gegeben ist (es ist nicht durch meine Handlung eine an sich mögliche gerade Linie gegeben). Ich muß aber nicht nur von meiner Handlung der Synthesis etc. als einer äußeren sprechen können und sprechen, sondern sogar das Meinsein meines äußeren Handelns als ein äußeres darlegen können und darlegen. Ich muß mir nicht nur meine Handlung der Erzeugung einer geraden Linie als eine äußere Handlung denken können und denken und als solche mir gegeben (in Form einer bestimmten Anschauung). Ich muß mir sogar das Meinsein einer solchen Handlung als ein äußeres denken und als mir gegeben. Ich selbst muß machen können und machen, daß die formale Identität meiner Handlung und dadurch die meiner selbst als eine äußere mir gegeben ist: in meiner reinen Anschauung vom Raum. Und das kann ich selbst nur dadurch machen, daß ich selbst erst mache, daß zu einer gegebenen Geraden durch einen nicht auf ihr liegenden Punkt in derselben Ebene genau eine Gerade als äquidistante Linie (Parallele) existiert. Das kritische Parallelenpostulat fordert also nicht bloß, daß man zu einer gegebenen Geraden etc. genau eine Gerade als Parallele konstruieren kann. Denn das kann auch so verstanden werden, daß man vorweg erst die Existenz genau einer Parallelen fordern müsse und dabei von einem an sich möglichen Parallelenbegriff Gebrauch macht. Es muß vielmehr dem konstruierbaren Parallelenbegriff korrespondierend gefordert werden, daß ich selbst es machen kann, daß zu einer gegebenen Geraden etc. nur eine einzige Gerade als Parallele existiert; daß die gegebene, also existierende, Gerade etc. genau eine Parallele hat, so daß ich dann folgeweise auch umgekehrt sagen kann und muß, daß die erzeugte Parallele in der Ausgangsgeraden genau eine Parallele hat. Dann erst kann ich sagen, daß beide Geraden zueinander parallel sind. Zu Euklids Postulatenlehre, in welcher ein der Parallelendefinition entsprechendes Parallelenpostulat nicht ausdrücklich vorkommt, hat sich Kant in seinen kritischen Schriften an einer Stelle geäußert, wo niemand dergleichen Äußerungen suchen würde, nämlich in der Kritik der praktischen Vernunft. In § 7 sagt er: „Die reine Geometrie hat Postulate als praktische Sätze, die aber nichts weiter enthalten als die Voraussetzung, daß man etwas tun k ö n n e , wenn etwa gefordert würde, man s o l l e es tun, und diese sind die einzigen Sätze derselben, die ein Dasein betreffen. Es sind also praktische Regeln unter einer problematischen Bedingung des Willens" (AA 5, S. 31). Zuvor hatte Kant schon auf den Unterschied hingewiesen, der zwischen den Postulaten der reinen Mathematik, „welche apodiktische Gewißheit bei sich führen" (AA 5, S. 11), und denjenigen der reinen praktischen Vernunft besteht. Während diese aus apodiktischen praktischen Gesetzen „die Möglichkeit eines Gegenstandes" postulieren, fordern die Postulate der reinen
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Mathematik „die Möglichkeit einer Handlung, deren Gegenstand man a priori theoretisch mit völliger Gewißheit als möglich voraus erkannt hat" (AA 5, S. 11). Hiernach ist zunächst einmal klar, daß die Postulate der reinen Geometrie als die einzigen Sätze, die ein Dasein betreffen, keine Forderungen der Existenz von etwas sind. Denn sie postulieren die Möglichkeit einer Handlung. So kann das 5. Postulat Euklids nach Kant nicht die Forderung der Existenz eines Schnittpunktes zweier konvergierender Geraden sein, wie die Modernen (z. B. O. Becker, a. a. O., S. 91) Euklid interpretieren. Aber wie soll nach Kant das 5. Postulat Euklids einerseits die Existenz des Schnittpunktes zweier konvergierender Geraden, die von einer dritten geschnitten werden, betreffen und andererseits die Möglichkeit einer Handlung postulieren? Oder wie soll das äquivalente Parallelenpostulat einerseits die Existenz genau einer Parallelen betreffen und andererseits die Möglichkeit einer Handlung postulieren? Jedenfalls nicht so, daß man erst die Existenz genau einer Parallelen fordern müsse, bevor man die Parallele konstruieren könne. Die Forderung, daß ich selbst es machen kann, daß zu einer gegebenen Geraden etc. genau eine Parallele existiert, ist vielmehr die Forderung der Möglichkeit einer Handlung, die das Dasein genau einer Parallelen betrifft. Und sie ist zugleich als Forderung eine Bedingung der Möglichkeit einer Handlung, d. h. selbst ein praktischer Satz bzw. eine praktische Regel unter einer problematischen Bedingung des Willens, nämlich eine Regel, nach der ich handeln kann und muß, wenn durch eine gewisse Aufgabenstellung etwas zu tun gefordert wird, nämlich zu einer gegebenen Geraden etc. eine Parallele zu konstruieren. Das ist mir nur unter der Bedingung der Gewißheit möglich, daß nur eine existiert. Doch für diese Gewißheit kann und muß ich vorweg selber sorgen. Nur ich selbst kann machen, daß genau eine Parallele existiert. Nur auf diese Weise ist die Existenz genau einer Parallelen apodiktisch gewiß. Sie ist eine nur relativ auf mich mögliche Gewißheit und Existenz. Und das ist eine Kritik an einer an sich möglichen Gewißheit, wie sie die euklidgläubige Tradition angenommen hat. Auch die nachkantische, moderne Mathematik verwirft eine an sich mögliche Gewißheit der Existenz genau einer Parallelen, aber nicht zugleich die an sich möglichen Begriffe. Kants Kritik steht in negativer und nur in negativer Übereinstimmung mit der modernen Kritik. Das apodiktisch gewisse, formale, nur relativ auf mich mögliche Dasein genau einer Parallelen kann daher nicht durch den modernen Existenzquantor „es gibt" adäquat wiedergegeben werden. Denn dieser bringt ein an sich mögliches Dasein zum Ausdruck. Wir verstehen jetzt auch die raumimmanente Grenzbestimmung a priori zwischen euklidischer und nicht-euklidischer, sphärischer Geometrie noch besser. Daß ich selbst a priori in meiner reinen Anschauung vom Raum machen kann und muß, daß genau eine Parallele existiert, und ich auf diese Weise selbst dafür sorgen kann und muß, daß nicht nur meine äußere Handlung, sondern auch das Meinsein der Handlung und dadurch die Identität
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meiner selbst als äußere mir, dem Handelnden, in meiner reinen Anschauung vom Raum gegeben ist, setzt voraus, daß ich mich a priori selbst zuerst zu einem primär auf formale Weise handelnden Subjekt im Raum gemacht habe und damit meine formalen äußeren Handlungen unter Bedingung des Raumes ursprünglicher als die meinen denn als äußere (vom Raum abhängige) denke. Das kann ich aber nicht denken, ohne mich darüber hinaus a priori selbst auch zu einem primär auf formale Weise leidenden Subjekt im Raum zu machen und in diesem Fall meine formalen äußeren Handlungen unter Bedingung des Raumes ursprünglicher als äußere (vom Raum abhängige) Handlungen zu denken denn als die meinen. Damit ist dann implizit auch gesagt, daß das Parallelenpostulat in Beziehung auf mich als ursprünglich passives Subjekt in meiner reinen Anschauung nicht gelten kann, obwohl es in seiner Gültigkeit apodiktisch gewiß ist. Kant kann daher gar nichts dagegen haben, wenn man an Euklids Parallelendefinition festhält und das ihr entsprechende Parallelenpostulat bzw. -axiom einerseits für nicht evident oder apodiktisch gewiß und andererseits für unbeweisbar erklärt, weder für eine Grund Wahrheit noch für einen Lehrsatz, sondern lediglich für eine Grundannahme, die ohne Widerspruch durch eine ihr widersprechende Annahme ersetzt werden kann. Mit anderen Worten: Kant kann gar nichts gegen die nachkantische, von aller Anschauung losgelöste, Entdeckung und Entwicklung nicht-euklidischer Geometrien haben. Er selbst geht jedoch, wie gesagt, den entgegengesetzten Weg. Er eliminiert den nicht konstruierbaren euklidischen Parallelenbegriff und das ihm korrespondierende Parallelenpostulat bzw. -axiom.
Lösung des gestellten Problems Ich komme wieder auf das Problem zurück, von dem ich unter Bezugnahme auf kantische Äußerungen in dem als Reflexionen zur Mathematik bezeichneten Nachlaß (AA 14, S. 52) und im Opus postumum (AA 21 u. 22) ausgegangen bin. Es war die Frage, wie im Falle des 20. Lehrsatzes im 1. Buch der Elemente des Euklid, der die Umkehrung des 18. und 19. Lehrsatzes darstellt, die Ausnahme zu beurteilen ist, daß der Satz auch durch die philosophische Vorstellungsart durch Begriffe bewiesen werden könne, wo doch die mathematische Erkenntnis grundsätzlich eine Vernunfterkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe sein soll. Die auf den 20. Lehrsatz ausnahmsweise mögliche Anwendung der philosophischen Erkenntnisart durch Begriffe ist keine Verletzung der Allgemeingültigkeit der Lehre von der mathematischen Erkenntnis durch die Konstruktion der Begriffe, kein immanenter Widerspruch und keine Selbstkritik. Sie resultiert vielmehr nur daraus, daß im Falle der Umkehrung des 18. und 19Lehrsatzes im 20. Lehrsatz nicht mehr über zwei gerade Linien, die von einer dritten geschnitten werden, ihre Parallelität ausgesagt wird, sondern eine Aus-
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sage über zwei Parallelen, die von einer dritten Geraden geschnitten werden, gemacht wird und in diesem Fall der Parallelenbegriff Euklids (die 23. Definition) bzw. derjenige Wolfis, die beide nicht konstruiert werden können, mit Kants Parallelenbegriff, der konstruiert werden kann, zwangsläufig zusammenfällt. Mit anderen Worten: über die Konstruktion der Begriffe hinaus ist im Falle des 20. Lehrsatzes, und nur in diesem Fall, auch die philosophische Vorstellungsart durch Begriffe möglich und somit kein Argument gegen die kritische Lehre von der mathematischen Erkenntnis durch die Konstruktion der Begriffe, sondern nur eine indirekte Bestätigung.6
Conclusio Kants Philosophie der euklidischen Geometrie und der Mathematik überhaupt ist nicht nur ein in seiner Möglichkeit a priori bedeutungsvoller Formalismus, sondern sogar ein in seiner Bedeutung prinzipiell auf mich als formal denkendes und anschauendes Subjekt relativierter, d. h. kritischer Formalismus. Dieser Formalismus ist, wie ich auch sagen möchte, ein Formalismus der apriorischen Ichintegration bzw. ein Formalismus mit prinzipieller Innensicht. Die moderne mathematische Lehre von euklidischer und nicht-euklidischer Geometrie ist dagegen ein ursprünglich in seiner Möglichkeit bedeutungsleerer Formalismus und kann nur sekundär ausgedeutet und angewandt werden. Er ist ein in seiner Möglichkeit, wie ich auch sagen möchte, Formalismus der Icheliminierung (auch des logischen Ichs, wie Kant sagen würde) bzw. ein Formalismus mit prinzipieller Außensicht. Beide Theorien stellen eine Kritik an der traditionellen Auffassung der euklidischen Geometrie dar, sofern für diese Euklids Definition der Parallelen maßgebend ist (oder auch die von Chr. Wolff), und stimmen in dieser Kritik negativ und nur negativ überein. Ich darf weder den kritischen Formalismus Kants, den Formalismus der Ichintegration, mit den Mitteln des modernen Formalismus, des Formalismus der Icheliminierung, rekonstruieren und beurteilen noch auch umgekehrt verfahren wollen. In beiden Fällen würde ich etwas absolut setzen, was nicht absolut gesetzt werden kann, und dogmatisch bzw. unkritisch verfahren. Kant hat zwar den modernen Formalismus de facto nicht gekannt, aber sein kritischer Formalismus läßt doch Raum für die Möglichkeit des modernen Formalismus. Mit dem Hinweis darauf, daß die moderne Mathematik keine synthetischen Urteile a priori enthalte und enthalten könne, rennt man nur offene Türen ein. Wenn er eine Widerlegung Kants sein sollte, so müßte man zeigen, daß deswegen, weil der moderne Formalismus keine synthetischen Urteile a priori enthalten könne, schlechterdings keine synthetischen Urteile a priori, z. B. in der reinen Geometrie, möglich seien. Das hieße jedoch, Die Lösung des gestellten Problems hat Kant schon in der KrV und nicht erst im Opus postumum, wie es prima facie scheinen könnte.
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daß man das zeigen müßte, was die modernen Mathematiker immer von sich weisen, daß nämlich mit ihrem Formalismus über seine Widerspruchsfreiheit hinaus notwendig eine Anwendung a priori auf die aposteriorische Wirklichkeit verbunden sei, in die ich mich vorweg selbst in Gedanken handelnd und leidend prinzipiell muß integrieren können. Doch was hieße das anders, als daß ich einen Formalismus der Icheliminierung für einen Formalismus der Ichintegration ausgeben würde, also, daß ich mir selbst widersprechen würde? Man muß vielmehr, denke ich, umgekehrt verfahren und in dem modernen Formalismus eine prinzipielle Gegenprobe zum kritischen kantischen Formalismus sehen, indem man die Frage aufwirft, was noch formal möglich ist, wenn man die reine Anschauung grundsätzlich als Erkenntnisquelle aus der Mathematik eliminiert? Und daß dann noch Mathematik möglich ist, hat die nachkantische Entwicklung der Mathematik überzeugend gezeigt. Aber sie hat nicht Kant widerlegt. Den wahren Fortschritt über den kantischen kritischen Formalismus hinaus darf man, wie ich meine, nicht in der nachkantischen Philosophie suchen, sondern nur in der Mathematik, mathematischen Logik und exakten Naturwissenschaft.
Kant über Logik als Vernunftwissenschaft Udo Rameil, Wuppertal
Als Kant im Frühjahr 1790 die Arbeit an der Kritik der Urteilskraft zum Abschluß bringt,1 setzt er an das Ende der „Vorrede": „Hiemit endige ich also mein ganzes kritisches Geschäft. Ich werde ungesäumt zum doctrinalen schreiten, um wo möglich meinem zunehmenden Alter die dazu noch einigermaßen günstige Zeit noch abzugewinnen"; 2 und er fügt hinzu, „daß nach der Eintheilung der Philosophie in die theoretische und praktische und der reinen in eben solche Theile die Metaphysik der Natur und die der Sitten jenes Geschäft ausmachen werden" (KU; AA 5. 170). Neben den von Kant genannten beiden Hauptteilen der materiellen Philosophie oder der Metaphysik (theoretische und praktische Philosophie) gehört zum System der Philosophie auch die formale Philosophie oder die Logik,3 so daß das .doktrinale Geschäft' auch diese umfaßt, ist doch die (allgemeine und reine) Logik „eine demonstrierte Doktrin, und alles muß in ihr völlig a priori gewiß sein" (KrV B 78). Freilich bedarf dieser doktrinale Teil der Philosophie keiner eigenen vorausgehenden Kritik, und so konzentriert Kant seinen Plan, dem kritischen Geschäft das doktrinale folgen zu lassen, auf die beiden materialen Teile der Philosophie. In einem Brief an Markus Herz vom 26. Mai 1789 berichtet er demgemäß von der Anstrengung, „in meinem 66sten Jahre noch mit einer weitläuftigen Arbeit meinen Plan zu vollenden (theils in Lieferung des letzten Theils der Critik, nämlich dem der U r t h e i l s k r a f t , welcher bald herauskommen soll, theils in Ausarbeitung eines S y s t e m s der Metaphysik, der Natur sowohl als der Sitten, jenen critischen Foderungen gemäß,) beladen" zu Vgl. Kants Brief an den Verleger der KU vom 25. März 1790, in dem Kant mitteilt, er habe am 22. März das Manuskript der Vorrede (und Einleitung) abgeschickt, das er in seiner Lieferung vom 8. März noch schuldig geblieben war (BW; AA 11. 145, vgl. 143). Vgl. die ähnlichen Formulierungen bereits in Kants Briefen an L. H. Jakob vom Herbst 1787: .Unmittelbar wende ich mich nun auf die Bearbeitung der Critik des G e s c h m a c k s , womit ich mein critisches Geschäft schließen werde, um zum dogmatischen fortzuschreiten", und an C. L. Reinhold vom 7. März 1788: „Dem ungeachtet hoffe ich doch meine Critik des Geschmacks um Michael liefern und so mein critisches Geschäfte vollenden zu können" (BW 10. 494, 532). Vgl. GMS Vorrede (AA 4. 387): „Alle Vernunfterkenntniß ist entweder m a t e r i a l und betrachtet irgend ein Object; oder f o r m a l und beschäftigt sich bloß mit der Form des Verstandes und der Vernunft selbst und den allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt ohne Unterschied der Objecte. Die formale Philosophie heißt Logik, die materiale aber, welche es mit bestimmten Gegenständen und den Gesetzen zu thun hat, denen sie unterworfen sind, ist wiederum zwiefach. Denn diese Gesetze sind entweder Gesetze der Natur, oder der Freiheit. Die Wissenschaft von der ersten heißt Physik, die der andern ist Ethik; jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre genannt."
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sein (BW; AA 11. 49). Doch nach der Ausarbeitung der Metaphysik der Sitten (1797) gelingt es Kant nicht mehr, die geplante Metaphysik der Natur fertigzustellen; und eine (für Kant ja auch weniger dringliche) doktrinale Darstellung des formalen Teils des philosophischen Systems kommt auch nicht zustande. Kant selbst hat also kein Buch über Logik veröffentlicht, das nach seiner Idee der (formalen) Logik ausgeführt ist.4 Auch das von ihm im Semester 1798/99 in Auftrag gegebene, von Gottlieb Benjamin Jäsche verfertigte5 „Handbuch zu Vorlesungen", das 1800 - also noch zu Lebzeiten Kants - unter dem Titel Immanuel Kants Logik erschien,6 erfüllt einen solchen Anspruch nicht. Das verwundert auch nicht, wenn man Jäsches eigenes Verständnis seiner Aufgabe berücksichtigt, Kants Logik, „so wie er sie in öffentlichen Vorlesungen seinen Zuhörern vorgetragen, für den Druck zu bearbeiten, und dieselbe in der Gestalt eines c o m p e n d i ö s e n Handbuches dem Publicum zu übergeben" (Log; AA 9- 3). Demgemäß hat Jäsche Kants „selbsteigene Handschrift, deren er sich bei seinen Vorlesungen bedient hatte" (ebd.), ausgewertet, nämlich Kants kritisch kommentierende Notizen zu Meiers Auszug aus der Vernunftlehre (Halle 1752), den er seinen Logikvorlesungen als Kompendium zugrunde zu legen pflegte.7 So folgt Jäsche, indem er sich an Kants Nach Kants vielzitierter Anm. zu 5 16 in der 2. Aufl. der KrV ist „die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, [ . . . ) heften muß" (B 134 n). „Aber ein vom Prinzipe [dieser Apperzeptionseinheit] her aufgebautes System der Logik hat Kant nie geliefert." (Julius Ebbinghaus: Typoskript von 1962, S. 6) Nach Ebbinghaus' Urteil gelöst hat „die Aufgabe der systematischen Rekonstruktion der von der Kritik der reinen Vernunft v o r a u s g e s e t z t e n allgemeinen Logik erst Prof. [Klaus] Reich in seiner sensationellen Erstlingsschrift Die Vollständigkeit der Kantiscben Urteilstafel ([Berlin] 1932, 2. Aufl. 1948). Das System der Kantischen Logik, soweit es die Lehre vom Begriffe und Urteil betrifft, liegt darin vor" (ebd.; erscheint demnächst in Ebbinghaus: Gesammelte Schriften. Bd 5). Vgl. Ebbinghaus' Rezension (von 1933) der 1. Aufl. der genannten Schrift von Reich in Ebbinghaus: Gesammelte Schriften. Bd 3. Bonn 1990, S. 95-97. Neben Jäsches eigener Angabe (Log; AA 9. 3) vgl. Kants öffentliche Erklärung vom 29. Mai 1801 (BW 12. 372) sowie die Vorrede zur Ausgabe von Kants Physischer Geographie von Friedrich Theodor Rink (AA 9. 155) und dessen Brief an den Verleger Vollmer vom 20. Juli 1800, in dem er mitteilt, Kant habe „mir und meinem Freunde dem Herrn M. J ä h s c h e seine sämtlichen handschriftlichen Werke zur künftigen Herausgabe übergeben und g e s c h e n k t " (zit. nach AA 13. 527); vgl. darüber hinaus Rinks Vorbemerkung (vom 9. Februar 1800) in seiner Schrift Mancherley zur Geschichte der metakritischen Invasion. Königsberg 1800, S. XIX f (ebd.). Immanuel Kant's Logik, ein Handbuch zu Vorlesungen. Königsberg 1800 (im folgenden: Jäsche-Logik'). In Immanuel Kant's sämmtliche Werke (hrsg. von Gustav Hartenstein. Bd 8. Leipzig 1868) wird als vollständiger Titel angegeben (S. III): Immanuel Kant's Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. Auf Verlangen des Verfassers aus seiner Handschrift herausgegeben und zum Theil bearbeitet von Gottl. Benj. Jcische. Königsberg 1800. Jäsche gibt an, Kant habe „seit dem Jahre 1765" seinen Logikvorlesungen Meiers Lehrbuch zugrunde gelegt (Log 9. 3). Tatsächlich aber hat Kant bereits seit dem Wintersemester 1755/56 seine Vorlesungen über Logik nach der erst wenige Jahre zuvor erschienenen Logik von Meier (dem Auszug aus der Vernunftlehre, zunächst wohl nach der von Meier ebenfalls Halle 1752 veröffentlichten vollständigen Vernunftlehre) gehalten; vgl. Emil Arnoldt: Möglichst vollständiges Verzeichnis aller von Kant gehaltenen oder auch nur angekündigten Vorlesungen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von O. Schöndörffer. Bd V. Berlin 1909, S. 177 ff. Vgl. Kants eigene Hinweise auf Meiers Logiklehrbuch in seinen gedruckten Vorlesungsankündigungen für die Sommersemester 1757 und 1758 sowie die Wintersemester 1759/60 und
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L o g i k v o r l e s u n g e n hält, die sich ihrerseits a n Meiers K o m p e n d i u m r e n , 8 im g a n z e n d e r A n o r d n u n g d e r in d i e s e m L o g i k l e h r b u c h
orientie-
behandelten
G e g e n s t ä n d e . 9 O h n e d a ß J ä s c h e in s e i n e r V o r r e d e d a r ü b e r R e c h e n s c h a f t ablegt, hat e r offensichtlich a u c h e i n e o d e r m e h r e r e N a c h s c h r i f t e n v o n Kants L o g i k v o r l e s u n g e n zu Rate g e z o g e n . D a s o l c h e N a c h s c h r i f t e n d a m a l s in K ö n i g s b e r g k u r s i e r t e n , 1 0 k o n n t e J ä s c h e darauf z u r ü c k g r e i f e n , a u c h o h n e selbst e i n e Vorlesung Kants ü b e r Logik g e h ö r t o d e r e i n e e i g e n e Nachschrift a n g e fertigt zu h a b e n . 1 1 S c h o n früh ist J ä s c h e s Edition d e r K a n t i s c h e n Logik hinsichtlich Zuverlässigkeit mit Skepsis b e g e g n e t w o r d e n . B e r e i t s die
ihrer
zeitgenössischen
R e z e n s e n t e n ä u ß e r n Vorbehalte, inwieweit Kant selbst als ihr e i g e n t l i c h e r Autor zu v e r a n s c h l a g e n sei. 1 2 Im 2 0 . J a h r h u n d e r t ü b e r w i e g t e i n e kritischa b l e h n e n d e Haltung g e g e n ü b e r J ä s c h e s A u s g a b e v o n Kants Logik, nicht zuletzt a u f g r u n d d e r e n t s c h i e d e n e n S t e l l u n g n a h m e v o n Klaus Reich, d e r J ä s c h e s H a n d b u c h d e r K a n t i s c h e n Logikvorlesung vorwirft, e s e n t b e h r e „aller G r u n d sätzlichkeit u n d Schärfe" u n d enthalte „nicht n u r g e n u g schillernde Unklarhei-
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1765/66 (AA 2. 10, 25, 35, 310). Jäsche bezieht sich auf die zuletzt genannte Ankündigung Kants (Log 9. 3, vgl. 505), die wohl als einzige Kolleganzeige ihm um 1800 zugänglich war; sie ist enthalten in der Sammlung einiger bisher unbekannt gebliebener kleiner Schriften von Immanuel Kant. Hrsg. von Fr. Th. Rink, Königsberg 1800, S. 56 - 70. - Vgl. auch Jakob Sonderling: Die Beziehungen der Kant-Jäscheschen Logik zu George Friedrich Meiers „Auszug aus der Vernunftlehre". Berlin [19031, S. 3. - Zu Leben und Werk von Georg Friedrich Meier siehe Elfriede Conrad: Kants Logikvorlesungen als neuer Schlüssel zur Architektonik der Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 30 ff. Kant selbst bewertet das Verhältnis seiner Vorlesungen zu den zugrunde gelegten Lehrbüchern auf folgende Weise: „Ich habe [ . . . ] in meinen Vorlesungen über Logik Metaphysik Moral und Anthropologie Physik und Rechtslehre den Autor den ich mir zum Leitfaden wählete nicht blos commentirt sondern gesichtet gewogen [... ] zu erweitern und auf mir besser scheinende Principien zu bringen gesucht" (BW; AA 13. 538). „Darum muß man es bedauern, kann es ihm aber nicht zum Vorwurf machen, daß er die Bemerkungen K a n t s , die besonders in der Kritik der reinen Vernunft über die Idee der allgemeinen reinen Logik verstreut sind, nicht als Leitfäden zu einem Aufbau der Logik, der dem originalen kantischen Entwurf entsprochen hätte, benutzt hat." (Klaus Reich: Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von M. Baum, U. Rameil, K. Reisinger und G. Scholz. Hamburg 2001, S. 27) Vgl. den Hinweis von Erich Adickes (Ein neu aufgefundenes Kollegheft nach Kants Vorlesungen über physische Geographie. Tübingen 1913, S. 8), „daß Abschreiben und Kompilieren KANTischer Kollegnachschriften [... J in Königsberg ein blühender Industriezweig gewesen ist" (zit. nach Werner Stark: Neue Kant-Logiken. Zu gedruckten und ungedruckten Kollegheften nach Kants Vorlesungen über Logik. In: R. Brandt, W. Stark (Hrsg.): Kant-Forschungen. Bd 1. Hamburg 1987, S. 137). W. Stark kommt zu dem Ergebnis: „Die naheliegende Annahme, daß Jäsche ein von ihm selbst geschriebenes Heft herangezogen hat, [... 1 klingt zwar sehr plausibel, hält aber einer historischen Nachprüfung nicht stand"; es „ist nicht anzunehmen, daß Jäsche je eine Vorlesung Kants über die Logik selbst gehört hat. Falls die L o g i k - J ä s c h e also auf studentischen Nachschriften fußt, so konnte ihr Herausgeber die Authentizität von letzteren nicht aufgrund eigener Kenntnis beurteilen, sondern war dazu ausschließlich auf die ihm und Rink ausgehändigten literarischen Papiere Kants angewiesen." (A.a.O. [Anm. 101 S. 128) Siehe die bei W. Stark (a.a.O. [Anm. 101 S. 126 0 abgedruckten Zitate aus Rezensionen von 1801. Vgl. Terry Boswell: Quellenkritische Untersuchungen zum Kantischen Logikhandbuch. Frankfurt a.M., Bern, New York 1991, S. 6 ff und E. Conrad: Kants Logikvorlesungen [...]. A.a.O. (Anm. 7) S. 62 ff.
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ten, sondern selbst Widersprüche"; als Bearbeitung sei es als „zur Kantliteratur und nicht zu Kants Werken gehörig" einzuschätzen.13 Ihm war bereits 1913 Erich Adickes mit dem Urteil vorausgegangen, Jäsche sei „mit seinem Material noch um vieles gewaltsamer und selbstherrlicher umgegangen als Rink, und seine Logik ist deshalb in noch viel geringerem Maasse ein .authentisches und selbständiges Werk Kants', als dies von U [sc. Rinks Ausgabe von Kants Physischer Geographie] gilt".14 Bei dieser Beurteilungslage ist es nicht verwunderlich, daß Jäsches Bearbeitung von Kants Logikvorlesungen schon bald textkritischen Eingriffen durch spätere Herausgeber ausgesetzt war. Ein solcher (angeblich notwendiger) kritischer Texteingriff, der bereits 1868 beim Wiederabdruck der JäscheLogik' in der (zweiten) Kant-Ausgabe von Gustav Hartenstein vorgenommen worden ist und seitdem eine gewisse Tradition entwickelt hat, ist Auslöser und Ansatzpunkt der folgenden Überlegungen zu Kants besonderem Verständnis der Logik als Vernunftwissenschaft. Die von Hartenstein veränderte Textstelle steht nun nicht in einem bloß nebensächlichen Kontext, sondern ist von zentraler Bedeutung: Sie bildet, durch Sperrdruck eigens hervorgehoben, in der „Einleitung" der Jäsche-Logik' den Anfang des resümierenden Abschlusses des ersten Abschnitts, der unter dem Titel „Begriff der Logik" steht: Die Logik ist eine Vernunftwissenschaft nicht der bloßen Form, sondern der Materie nach (Log 9. 16). Hartensteins Textveränderung verkehrt den Satz in sein Gegenteil: Die Logik ist eine Vernunftwissenschaft nicht der Materie, sondern der blosen Form nach. 15 Hartensteins Lesart dieser grundlegenden Bestimmung der Logik ist von Walter Kinkel in die Ausgabe der Jäsche-Logik' von 1904 im Rahmen der „Philosophischen Bibliothek" übernommen worden; darüber hinaus wurde dort, in 13 14
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Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. A.a.O. (Anm. 9) S. 24 f. E. Adickes: Ein neu aufgefundenes Kollegheft [...] (a.a.O. [Anm. 101, S. 48 n. 2; zit. nach W. Stark, a.a.O. [Anm. 10] S. 147 n. 24); Adickes bezeichnet die Jäsche-Logik' deshalb herabsetzend als „Machwerk" (ebd.; vgl. Norbert Hinske: Kant-Index. Bd 2: Stellenindex und Konkordanz zu „Immanuel Kant's Logik" Qäsche-Logik). Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. XI; vgl. auch T. Boswell, a.a.O. [Anm. 12] S. 16). Julius Nathan urteilt, „die Kant-Jäschesche Logik [sei] von zweifelhaftem historischen Werthe und inhaltlich unvollständig" (Kants logische Ansichten und Leistungen. Jena 1878, S. 4). Moritz Steckelmacher stellt fest, die von Jäsche herausgegebene Logik sei „an nicht wenigen Stellen dunkel und lückenhaft" (Die formale Logik Kant's in ihren Beziehungen zur transcendentalen. Breslau 1879, Vorwort). Für Riccardo Pozzo bildet „die weitgehend apokryphe Jäsche-Logik" keine zuverlässige Grundlage für eine Beurteilung von Kants Logik (Kant und das Problem einer Einleitung in die Logik. Ein Beitrag zur Rekonstruktion der historischen Hintergründe von Kants Logik-Kolleg. Frankfurt a.M. u.a. 1989, S. 213). Immanuel Kant's sämmtliche Werke. A.a.O. (Anm. 6) S. 16. Zur Textänderung S. III: „Da das Original ziemlich sorgfältig gedruckt ist, so bedurfte es nur an einigen Stellen einer kleinen Veränderung des Textes. Es ist gesetzt worden: 16, 9 - 10 o. nicht der Materie, sondern der blosen Form nach st. nicht der blosen Form, sondern der Materie nach"; eine Begründung für diesen Texteingriff gibt Hartenstein nicht.
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Konsequenz dieser angeblichen Textemendation, auch die im Wortlaut nahezu identische vorausgehende (und von Hartenstein unverändert beibehaltene) Textstelle, welche von der gerade angeführten resümierenden Wendung aufgegriffen wird, in gleicher Weise verändert: Die Formulierung in Jäsches Ausgabe, daß die Logik „eine Vernunftwissenschaft sei nicht der bloßen Form, sondern der Materie nach" (Log 9. 14), ist so umgestellt, daß es nun heißt, daß die Logik „eine Vernunftwissenschaft sei nicht der Materie, sondern der b l o ß e n Form nach". 1 6 Max Heinze, der Herausgeber der Jäsche-Logik' in der Akademie-Ausgabe, hält an beiden Stellen Jäsches ursprünglichen Text (Log 9• 14, 16) und verteidigt ihn gegen Hartensteins und Kinkels Änderungen, die im Anhang als „Lesarten" verzeichnet sind (Log 9. 507). Auch in der Kant-Ausgabe von Wilhelm Weischedel ist beidemal Jäsches Text gehalten worden; in textkritischen Fußnoten werden jedoch eigens die im Anhang der Akademie-Ausgabe mitgeteilten abweichenden und offenbar als ernsthaft erwägenswert angesehenen Lesarten abgedruckt.17 Da nun aber der ursprüngliche Text der Jäsche-Logik' und die abweichende Lesart dem Inhalt nach einander diametral entgegengesetzt sind, ergibt sich die Frage, welche der entgegengesetzten Formulierungen aus welchen Gründen als die richtige, d. h. als die Kants intendierten Gedanken treffende Textversion zu bevorzugen und welche zu verwerfen ist. Es stellt sich mithin das (durch die Kant-Philologie angedeutete) Sachproblem, dem im folgenden nachgegangen werden soll, in welcher Bedeutung die Logik im Sinne Kants als Vernunftwissenschaft aufzufassen ist. Zur Lösung sollen zunächst die umstrittenen Textstellen im Rahmen der Jäsche-Logik' selbst erörtert werden (I). In einem zweiten Schritt wird auf die Reflexionen zur Logik in Kants handschriftlichem Nachlaß zurückgegriffen, um die Authentizität der von Jäsche veröffentlichten Formulierungen zu prüfen; dabei sind Aufschlüsse über den ursprünglichen Problemzusammenhang der Kantischen Bestimmung der Logik als Vernunftwissenschaft zu gewinnen (II). Danach sollen die ermittelten Befunde in Beziehung gesetzt werden zu den erhaltenen Nachschriften von Kants Vorlesungen über Logik (III). Abschließend werden die gewonnenen Ergebnisse in den Kontext von Kants grundlegendem Begriff einer allgemeinen und reinen Logik in der Kritik der reinen Vernunft gestellt (IV).
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Immanuel Kants Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. (Zuerst) hrsg. von G. B. Jäsche. Neu hrsg. von W. Kinkel. Leipzig 1904 (3. Aufl. Leipzig 1920), S. 15, vgl. S. 17. Immanuel Kant: Werke. Hrsg. von W. Weischedel. Bd III. Wiesbaden 1958, S. 435, 437; die den mitgeteilten Lesarten jeweils vorangestellte Formulierung „Akad.-Ausg. erwägt" gibt nicht wieder, daß dort die Eingriffe in den Text der Jäsche-Logik' begründet zurückgewiesen werden.
Udo Rameil
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I.
Der ersten der beiden fraglichen Stellen in der Jäsche-Logik' geht die deflatorische Bestimmung der Logik voraus: Sie ist die Wissenschaft von den nothwendigen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft überhaupt oder, welches einerlei ist, von der bloßen Form des Denkens überhaupt (Log 9. 13).
Die Logik als „eine Wissenschaft, die auf alles Denken überhaupt geht, unangesehen der Objecte als der Materie des Denkens" (ebd.), wird nun in drei Hautpunkten fortbestimmt. Sie ist erstens zwar die Propädeutik allen Verstandesgebrauchs (und insofern die Grundlage aller Wissenschaften), zweitens aber kein Organon der Wissenschaften (weil sie aufgrund ihrer Abstraktion von den Objekten des Denkens keine Erweiterung unserer Objekterkenntnisse zustande bringen kann), sondern vielmehr drittens (als Wissenschaft der notwendigen Gesetze des mit sich selbst übereinstimmenden Denkens 18 ) ein Kanon des Verstandes19. Infolgedessen „darf sie [... ] auch keine Principien weder aus irgend einer Wissenschaft noch aus irgend einer Erfahrung bor-
18
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Die Logik ist „eine Wissenschaft der nothwendigen Gesetze des Denkens, ohne welche gar kein Gebrauch des Verstandes und der Vernunft stattfindet, die folglich die Bedingungen sind, unter denen der Verstand einzig mit sich selbst zusammen stimmen kann und soll" (Log 9. 13). „Sie soll uns den richtigen, d. h. den mit sich selbst übereinstimmenden Gebrauch des Verstandes lehren." (Log 9. 14) Sie ist „nützlich und unentbehrlich als e i n e Kritik der E r k e n n t n i s , oder zu Beurtheilung der gemeinen so wohl als der speculativen Vernunft, nicht um sie zu lehren, sondern nur um sie c o r r e c t und mit sich selbst übereinstimmend zu machen. Denn das logische Princip der Wahrheit ist Übereinstimmung des Verstandes mit seinen eigenen allgemeinen Gesetzen." (Log 9. 20, vgl. 51; vgl. auch KrV B 84 f; Refl. 1628 und 1629, AA 16. 46 f) „Verstand" kann von Kant in einer weiten (allgemeinen) und in einer engen (besonderen) Bedeutung gebraucht werden. Vgl. dazu z.B. Antb (AA 7. 196 f): „ V e r s t a n d , als das Vermögen zu d e n k e n (durch B e g r i f f e sich etwas vorzustellen), wird auch das o b e r e Erkenntnißvermögen [... 1 genannt [... 1. Es wird aber das Wort V e r s t a n d auch in besonderer Bedeutung genommen: da er nämlich als ein Glied der Eintheilung mit zwei anderen dem Verstände in allgemeiner Bedeutung untergeordnet wird, und da besteht das obere Erkenntnißvermögen [...1 aus V e r s t a n d , U r t h e i l s k r a f t und V e r n u n f t . " In weiter Bedeutung steht „Verstand" mithin für das obere Erkenntnisvermögen insgesamt; vgl. KrV B 169: „Die allgemeine Logik ist über einem Grundrisse erbaut, der ganz genau mit der Einteilung der oberen Erkenntnisvermögen zusammentrifft. [... 1 Jene Doktrin handelt daher in ihrer Analytik von [... ] gerade den Funktionen und der Ordnung jener Gemütskräfte gemäß, die man unter der weitläufigen Benennung des Verstandes überhaupt begreift." In gleicher Bedeutung kann Kant auch „Vernunft" (ebenso in weiter Bedeutung) gebrauchen: „Ich verstehe hier aber unter Vernunft das ganze obere Erkenntnisvermögen" (B 863). Siehe auch die synonyme Verwendung von „Verstandesgebrauch" und „Vernunftgebrauch" (Log 9. 13, Z. 9 und Z. 19). In enger Bedeutung wird Verstand von Vernunft unterschieden. Da es aber hier im Kontext der Bestimmung der Logik überhaupt auf den spezifischen Unterschied von Verstand und Vernunft (noch) nicht ankommt, findet sich häufig die Formulierung „Verstand und Vernunft" (beides in enger Bedeutung); siehe z.B. „Gebrauch des Verstandes und der Vernunft" (ebd. Z. 28). Die Bedeutungsdifferenz zwischen Verstand und Vernunft wird in Kants Logik etwa bei der Unterscheidung zwischen Verstandes- und Vernunftschlüssen relevant.
Kant über Logik als Vernunftwissenschaft
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gen" (ebd.); denn das erste verstieße gegen die Allgemeinheit der (formalen) Logik20 und das zweite gegen deren Reinheit.21 Aus dieser „Erklärung der Logik" (Log 9- 14) leitet Jäsche nun als eine der „übrigen wesentlichen Eigenschaften dieser Wissenschaft" die (hier zu untersuchende) Bestimmung der Logik ab, nämlich daß sie 4) eine Vernunftwissenschaft sei nicht der bloßen Form, sondern der Materie nach, da ihre Regeln nicht aus der Erfahrung hergenommen sind und da sie zugleich die Vernunft zu ihrem Objecte hat. Die Logik ist daher eine Selbsterkenntniß des Verstandes und der Vernunft, aber nicht nach den Vermögen derselben [sc. des Verstandes und der Vernunft] in Ansehung der Objecte [des Denkens], sondern lediglich der Form nach. (Log 9. 14) Was den unmittelbaren Anlaß zu einer Verwirrung und zum Mißverständnis dieses Textes bieten könnte, ist die zweimal auftretende Formulierung ,der Form nach', und zwar in der sich scheinbar gegenseitig ausschließenden Konfrontation von einerseits ,nicht der bloßen Form nach' und andererseits ,lediglich der Form nach'. Aufgabe der Auslegung muß es in erster Linie sein, die widerspruchsfreie Vereinbarkeit dieser beiden Formulierungen im Kontext der Bestimmung der Logik als Vernunftwissenschaft zu prüfen. Mit dem Terminus „Vernunftwissenschaft" greift Kant offensichtlich eine traditionelle Bezeichnung der Logik auf; nahezu durchgängig hatte sich in 20
Den (in den Logiken vor Kant durchweg ungebräuchlichen) Ausdruck „formale Logik" verwendet Kant nur ein einziges Mal in der KrV (B 170). Der Grund dafür könnte darin liegen, daß Kant die Formalität der Logik als Folge oder Implikation ihrer Allgemeinheit begreift und deshalb die Bestimmung „allgemeine Logik" der Bestimmung „formale Logik" vorzieht. Auch an der genannten Stelle bezieht sich Kant unmittelbar auf die „allgemeine Logik" zurück (siehe das Zitat B 169 in Anm. 19) in der Formulierung: „Da gedachte [sc. eben genannte! bloß formale Logik von allem Inhalte der Erkenntnis (ob sie rein oder empirisch sei) abstrahiert, und sich bloß mit der Form des Denkens (der diskursiven Erkenntnis) überhaupt beschäftigt [... ]" (B 170). Die allgemeine Logik abstrahiert aufgrund ihrer Allgemeinheit von allem (besonderen) Inhalt des Denkens, so daß sie bloß die Form des Denkens überhaupt zum von ihr thematisierten Gegenstand oder ihrem eigenen Inhalt hat und folglich „bloß formale Logik" ist. Vgl. B 78: „Als allgemeine Logik abstrahiert sie von allem Inhalt der Verstandeserkenntnis, und der Verschiedenheit ihrer Gegenstände, und hat mit nichts als der bloßen Form des Denkens zu tun." Vgl. auch in der Jäsche-Logik': „Und hieraus folgt zugleich: daß die allgemeinen und nothwendigen Regeln des Denkens überhaupt lediglich die F o r m , keineswegs die M a t e r i e desselben betreffen können. Demnach ist die Wissenschaft, die diese allgemeinen und nothwendigen Regeln enthält, bloß eine Wissenschaft von der Form unsers Verstandeserkenntnisses oder des Denkens." (Log 9- 12) In Kants inhaltlich damit übereinstimmender Refl. 1620 heißt es: „Die allgemeine Verstandeslehre trägt also nur die nothwendige Regeln des Denkens vor ohne unterschied der obiecte, d. i. der Materie, worüber gedacht wird, also nur die Form des Denkens überhaupt" (A4 16. 40). Vgl. Tillmann Pinder: Kants Begriff der Logik. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 61 (1979), S. 315 f. - Ein weiterer Grund für Kant, den Ausdruck „formale Logik" zu vermeiden, könnte darin liegen, daß er die Logik selbst schon als „formale Philosophie" bestimmt (siehe Anm. 3).
2'
Vgl. KrV B 76 ff. Jäsche orientiert sich nicht an dem Abschnitt „Von der Logik überhaupt" in der KrV, sondern in erster Linie an Kants Notizen zum Lehrbuch von Meier und an Kants Logikvorlesungen; deshalb steht Kants (nicht aus Meiers Logik entlehnte) Bestimmung der allgemeinen und reinen Logik zwar der Sache nach, aber nicht terminologisch im Zentrum der Jäsche-Logik'.
Udo Rameil
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d e r e r s t e n H ä l f t e d e s 18. Jahrhunderts i m d e u t s c h s p r a c h i g e n R a u m d e r T e r m i nus „ V e r n u n f t l e h r e " f ü r d i e W i s s e n s c h a f t . L o g i c a ' o d e r . P h i l o s o p h i a rationalis' d u r c h g e s e t z t . 2 2 A u c h u n d g e r a d e M e i e r s L o g i k l e h r b u c h trägt d i e s e n T i t e l . 2 3 A u c h in K a n t s Kritik
der reinen
Vernunft
ist a n e i n e r Stelle ( b e i d e r B e s t i m -
m u n g d e r r e i n e n L o g i k als T e i l d e r a l l g e m e i n e n L o g i k ) d i e s e
Terminologie
eingegangen: In der allgemeinen Logik muß also der Teil, der die reine Vernunftlehre ausmachen soll, v o n demjenigen gänzlich abgesondert werden, welcher die angewandte ( o b z w a r noch immer allgemeine) Logik ausmacht. ( B 78) „ V e r n u n f t l e h r e " o d e r „ V e r n u n f t w i s s e n s c h a f t " ( s c i e n t i a r a t i o n a l i s ) ist nun a b e r für K a n t nicht o h n e w e i t e r e s e i n e t r e f f e n d e B e z e i c h n u n g für d i e L o g i k , da d e r T e r m i n u s f ü r sich g e n o m m e n
z u w e i t u n d nicht s i g n i f i k a n t ist.
unter „ V e r n u n f t w i s s e n s c h a f t " k a n n d e r I n b e g r i f f aller v e r n ü n f t i g e n
Denn
(rationa-
l e n ) E r k e n n t n i s s e ü b e r h a u p t v e r s t a n d e n w e r d e n , z u d e n e n - in A u s g r e n z u n g der ( i h r e m objektiven Ursprung nach) empirischen und ( i h r e m subjektiven Ursprung n a c h ) historischen Erkenntnisse -
alle philosophischen
Erkennt-
nisse ü b e r h a u p t ( V e r n u n f t e r k e n n t n i s s e aus b l o ß e n B e g r i f f e n o d e r d i s k u r s i v e Erkenntnisse) und auch d i e mathematischen Erkenntnisse (Vernunfterkenntnisse aus d e r K o n s t r u k t i o n d e r B e g r i f f e o d e r intuitive E r k e n n t n i s s e ) z u z ä h l e n 22
Begriffsprägend war wohl Christian Thomasius mit seinen noch im 17. Jahrhundert erschienenen Schriften Einleitung zu der Vernunfft-Lebre (Halle 1691) und Ausübung der VernunfftLehre (Halle 1692). Vgl. dann Wolffs .Deutsche Logik' (Halle 1712/13) § 10: „Derowegen damit wir wissen, ob wir zu der Welt-Weisheit [sc. der Philosophie! geschickt sind, oder nicht; soll dieses unsere erste Arbeit seyn, daß wir die Kräfte des menschlichen Verstandes und ihren rechten Gebrauch in Erkäntniß der Wahrheit erkennen lernen. Der Theil der WeltWeisheit, darinnen dieses gezeiget wird, heisset die Logick, oder Vernunft-Kunst, oder auch Vernunft-Lehre." (Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. Hrsg. und bearbeitet von H. W. Arndt. In: Wolff: Gesammelte Werke. 1. Abt. Bd 1. Hildesheim, New York 1978, S. 117 0 Wolffs .Lateinische Logik' trägt den Titel Philosophia rationalis sive Logica (Frankfurt und Leipzig 1728). Vgl. neben der Einleitung des Hrsg. (Deutsche Logik, a.a.O. S. 50) auch die in seiner Liste zur Schullogik des 18. Jahrhunderts aufgeführten Logikbücher, die ,Philosophia rationalis' (Baumeister, Hollmann, Knutzen, Marquardt, Schneider, Syrbius) oder ,Vernunftlehre' (Fabricius, Hoffmann, Lehmann, Meier, Reimarus) im Titel führen (ebd. S. 286 ff). Vgl. darüber hinaus J. Chr. Gottsched, der im 1. Bd seines Werkes Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Leipzig 1733) die Logik als Vernunflehre bezeichnet, wie auch Chr. A. Crusius: Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß (Leipzig 1747, S. 26: „ L o g i k oder V e r n u n f t l e h r e " , vgl. S. 98 u.ö.) undj. H. Lamberts Fragment Von der Vernunftlehre überhaupt. In: Ders.: Philosophische Schriften. Hrsg. von H. W. Arndt. Bd VI. Hildesheim 1967, S. 183 ff.
23
In § 1 führt Meier als äquivalente Ausdrücke neben „Vernunftlehre" auf: Vernunftkunst, logica, philosophia instrumentalis und philosophia rationalis (AA 16. 5). Die mögliche Differenz zwischen „Vernunftlehre" (als Theorie - der Anwendung oder Ausübung - der Logik) und „Vernunftkunst" (als angewandte oder ausgeübte Logik) kann hier vernachlässigt werden. Bei Reimarus kann aufgrund des praktischen Charakters der Logik als Anleitung zum (richtigen) Denken die Vernunftlehre „Wissenschaft von der Vernunftkunst" heißen (Reimarus: Vernunftlehre. 3. Aufl. Hamburg 1766, S. 3); vgl. dazu Werner Schneiders: Praktische Logik. Zur Vernunftlehre der Aufklärung im Hinblick auf Reimarus. In: W. Walter, L. Borinski (Hrsg.): Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur, Vernunftlehre' von Hermann Samuel Reimarus. Göttingen 1980, S. 75 - 92.
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Kant über Logik als Vernunftwissenschaft
sind. Alle solche nicht empirisch „aus D a t e n
( e x datis)", sondern a priori
„aus P r i n c i p i e n ( e x principiis)" (Log 9- 22; vgl. KrV Erkenntnisse sind ihrer Form
B 863 0 g e w o n n e n e n
nach rationale Erkenntnisse oder Vernunfter-
kenntnisse und gehören insofern insgesamt zur Vernunftwissenschaft. Vernunftwissenschaft zu sein ist mithin noch keine spezifische der Logik,
sondern der Philosophie
Bestimmung
im allgemeinen, und zwar ihrer
Form
nach; genauer gesagt, in Abgrenzung g e g e n die Mathematik, die w i e sie zur Vernunftwissenschaft überhaupt gehört: Philosophie ist also das System der philosophischen [sc. diskursiven] Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen (Log 9. 23; vgl. KrV B 865 0U m nun innerhalb
der Philosophie als rationaler Wissenschaft die Logik (als
Teil der Philosophie) zu bestimmen, 24 kann die Kennzeichnung der Philosophie überhaupt lediglich als Gattungsbestimmung (genus p r o x i m u m ) dienen: W i e alle besonderen philosophischen Disziplinen ist auch die Logik eine Vernunftwissenschaft der Form nach. Als Logik ist sie in ihrer Besonderheit aber allererst durch einen spezifischen Bestimmungszusatz (differentia specifica) erfaßt: D i e Logik ist Vernunftwissenschaft nicht bloß der Form nach, sondern auch
und gerade
die Vernunft
ihrem thematischen Gegenstand o d e r Inhalt
nach, sofern
selbst und ihre Gesetze das Untersuchungsobjekt der Logik sind.
Und genau das ist der Sinn des umstrittenen Satzes aus der Jäsche-Logik', daß die Logik „eine Vernunftwissenschaft sei nicht [sc. nicht nur] der bloßen Form, sondern [sc. sondern auch und gerade] d e r M a t e r i e n a c h " (siehe o b e n ) . Mit anderen Worten: D i e Logik ist beides zugleich; sie ist Vernunftwissenschaft sowohl der Form der Materie
nach
nach
(nämlich als Teil der Philosophie überhaupt), als auch
(nämlich spezifisch als Logik im Unterschied zu anderen
Teilgebieten der Philosophie). 2 5 Legt man dieses Verständnis des im fraglichen Satz formulierten Gedankens zugrunde, so ändert die v o n einigen Editoren vorgeschlagene Umstellung v o n ,Form' und .Materie' der Sache nach zunächst gar nichts an der so gefaßten Bestimmung der Logik, „nämlich daß sie eine Vernunftwissenschaft sei nicht [sc. nicht nur b z w . sowohl] der Materie, sondern [sc. sondern auch b z w . als auch] d e r 24
25
26
bloßen
Form
nach". 2 6 Freilich verstößt eine solche
Vgl. dazu den Abschnitt „Der Ort der formalen Logik in Kants Entwurf der Philosophie" in Rainer Stuhlmann-Laeisz: Kants Logik. Berlin, New York 1976, S. 14 f. Diese Interpretation des in Frage stehenden Satzes findet sich auch schon im ersten Kommentar zur Jäsche-Logik': „Die Logik ist es, was den menschlichen Verstand in der Eigenschaft aufstellt, wo er nicht bloß der Form, sondern auch der Materie nach aus sich selbst schöpfet. Sie ist also eine reine Vernunftwissenschaft" (Gottfried Immanuel Wenzel: Canonik des Verstandes und der Vernunft. Ein Commentar über Immanuel Kants Logik. Wien 1801, S. 55). Dementsprechend ist in Wenzels Kommentar die zusammenfassende Wendung der JäscheLogik' (AA 9- 16) unverändert wiedergegeben: „Die Logik ist eine Vernunftwissenschaft nicht der bloßen Form, sondern der Materie nach" (S. 58). Ebenso haben J. Nathan (Kants logische Ansichten/...]. A.a.O. [Anm. 14) S. 33 n. 4) undj. Sonderling (DieBeziehungen l...]. A.a.O. [Anm. 71 S. 16) den ursprünglichen Text der Jäsche-Logik' beibehalten. So stehen bei J. Nathan (Die logischen Ansichten [...]. A.a.O. [Anm. 14]) - allerdings ohne jede inhaltliche Auseinandersetzung - die beiden Sätze unmittelbar nebeneinander: Die Logik
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Udo Rameil
„Lesart" gegen die von ihnen verfolgte Intention des Texteingriffes; der veränderte Satz soll nach ihrer Auffassung, zumal mit der ausdrücklichen Betonung auf ,der bloßen Form nach', notwendigerweise bedeuten: Die Logik ist eine Vernunftwissenschaft schlechthin nicht der Materie, sondern ausschließlich der bloßen Form nach. Denn zur Begründung für die behauptete unerläßliche Textemendation wird gesagt: „Diese Änderung schien der Text dringend zu gebieten, denn es heißt weiterhin ausdrücklich, die Selbsterkenntnis der Vernunft dem m a t e r i e l l e n Gebrauche nach gehöre in die Metaphysik, nicht die Logik." (Ed. Kinkel, a.a.O. [Anm. 16] S. XXVI) Auf das Mißverständnis des in dieser Rechtfertigung herangezogenen Gedankens wird noch einzugehen sein; es wird sich zeigen, daß sich aus dem angeführten angeblichen Grund für den Texteingriff kein Einwand gegen den ursprünglichen Text, sondern durchaus dessen Bestätigung ergibt. Zunächst ist festzustellen: Die unverändert beibehaltene, mit „da" eingeleitete unmittelbare Fortsetzung des zu klärenden Satzes der Jäsche-Logik' (siehe oben) begründet ganz und gar nicht den editorisch hergestellten Gedanken, sondern enthält exakt die Begründung für den ursprünglichen Wortlaut in dem oben bestimmten Sinne. Der erste Teil des begründenden Satzteiles („da ihre Regeln nicht aus der Erfahrung hergenommen sind", Log 9- 14) weist die Logik als Wissenschaft aus, die formaliter rational ist (wenn sie auch nicht nur so zu bestimmen ist, weil diese Bestimmung zu weit oder zu allgemein ist); der zweite Teil („und da sie zugleich die Vernunft zu ihrem Objecte hat", ebd.) zeigt auf, daß sie darüber hinaus („zugleich") materialiter eine rationale Wissenschaft ist. Gerade das Wörtchen „zugleich" bestätigt die oben entwickelte Auslegung, daß das „nicht - sondern" zu verstehen ist als „nicht nur - sondern auch" im Sinne eines „sowohl - als auch". Im folgenden Text der Jäsche-Logik' ist diese Interpretation dadurch unmißverständlich belegt, daß die Logik als zugleich „eine der Materie und der Form nach rationale Wissenschaft" (Log 9- 14) bezeichnet wird.27 Es wird sich im folgenden (im Rückgang auf Kants Reflexionen und auf Nachschriften seiner Vorlesungen über Logik) aber noch herausstellen, daß der originale strikte Wortlaut der Jäsche-Logik' (.nicht sondern') auch ohne die Interpolation der erläuternden Zusätze (.nicht nur sondern auch') einen präzisen Sinn ergibt. Wenn die Logik eine Vernunftwissenschaft in doppelter Hinsicht - nämlich sowohl der Form als auch der Materie nach - ist, so heißt das, daß im Ausbist also eine Vernunftwissenschaft sowohl der Materie als auch der Form nach" (S. 33, vgl. S. 39), und: „Die reine allgemeine Logik ist also eine Vernunftwissenschaft der Form als auch der Materie nach" (S. 34). Nur die zweite Formulierung trifft Kants eigentliche Pointe: Die Logik ist eine Vernunftwissenschaft nicht nur (wie andere Vernunftwissenschaften) der Form, sondern (gerade) auch der Materie nach. Diese Formulierung zeigt durch das additional zu verstehende „und", das im Sinne des „sowohl - als auch" zu verstehen ist, daß die Reihenfolge von „Form" und „Materie" dann (zunächst für sich genommen, ohne weiteren Kontext) gleichgültig ist; die Logik ist eben Vernunftwissenschaft in beiden Hinsichten: „nicht [nur) der Form, sondern [auch] der Materie nach" oder „der Materie und der Form nach".
Kant über Logik als Vernunftwissenschaft
61
druck .Vernunftwissenschaft' oder .Wissenschaft der Vernunft' die Vernunft in doppelter Funktion auftritt. Zum einen ist die Logik .Wissenschaft der Vernunft' im Sinne einer Wissenschaft aus und durch Vernunft; dieser Aspekt betrifft den Umstand, daß die Logik ihrer Form nach eine nicht-empirische Wissenschaft (aus Prinzipien) ist. Zum anderen ist die Logik .Wissenschaft der Vernunft' in dem Sinne, daß die Vernunft selbst ihr Untersuchungsobjekt ist, freilich in der Weise, daß in dieser Wissenschaft von allen möglichen Inhalten der Vernunft (d. h. von allen möglichen Objekten des Denkens in ihren Unterschieden) abstrahiert wird. Kurz gesagt: Die Vernunft ist in der Logik das Erkennende und zugleich das Erkannte; sie ist in diesem betonten Sinn Se/bsierkenntnis der Vernunft (im weiten Sinne oder des Verstandes im weiten Sinne, bzw. des Verstandes und der Vernunft). Demgemäß setzt der Text in der Jäsche-Logik' fort: Die Logik ist daher eine Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft, aber nicht nach den Vermögen derselben [sc. des Verstandes und der Vernunft] in Ansehung der Objekte [sc. der Gegenstände von Verstand und Vernunft], sondern lediglich der Form [des Denkens] nach. (Log 9. 14) In diesem Satz bestimmt der Zusatz „lediglich der Form nach" nicht wie im fraglichen Ausgangssatz („nicht der bloßen Form [ . . . ] nach") die Logik ihrer Form nach als (rationale) Wissenschaft, sondern die Materie dieser Wissenschaft: Die Logik hat einen spezifischen Inhalt, einen besonderen Untersuchungsgegenstand, sie handelt von der Form (den allgemeinen und notwendigen Gesetzen) des Denkens überhaupt. Ihrer wissenschaftlichen Form nach ist die Logik (die formale Philosophie) ebensogut Vernunftwissenschaft wie die Metaphysik (die materiale Philosophie) und die Mathematik: „Der Inbegrif der Vernunfterkenntnis ist [ . . . ] philosophie und Mathematik" (Refl. 2025; AA 16. 200). Zur Gattung „Vernunftwissenschaft" gehören als ihre beiden Arten Mathematik (als intuitive Vernunfterkenntnis) und Philosophie (als diskursive Vernunfterkenntnis): „Vernunftwissenschaft entweder mathematic oder philosophie" (Refl. 1865; AA 16. 141). „Philosophie" ihrerseits als Gattung genommen enthält Logik (formale Philosophie) und Metaphysik (materiale Philosophie) unter sich (siehe oben Anm. 3)- Diese beiden Hauptteile der Philosophie haben als Gattungsbestimmung gemeinsam, ihrer Form nach diskursive Vernunftwissenschaft (Philosophie überhaupt) zu sein, unterscheiden sich aber im jeweiligen Gegenstand ihrer Untersuchung: Die Metaphysik ist die „Vernunftwissenschaft, die es mit Objekten [der Erkenntnis] zu tun hat", während die Vernunftwissenschaft,Logik' ihrer Materie nach „sich nur mit der Form des Denkens überhaupt" beschäftigt (KrV B XXIII), 28 ohne sich um die Verschiedenheit der Objekte des Denkens zu kümmern.
28
Auf diese Stelle aus der Vorrede zur 2. Aufl. der KrV bezieht sich auch Klaus Reich bei der Bestimmung der Logik „als Vernunftwissenschaft von der Form des Denkens überhaupt" (Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. A.a.O. [Anm. 9) S. 8).
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Udo Rameil
Die Logik ist (ihrer Materie nach) eine Wissenschaft des Verstandes und der Vernunft, „aber nur in Ansehung des Formalen ihres Gebrauchs, der Inhalt mag sein, welcher er wolle" (B 77). Anders gesagt: Die allgemeine Logik abstrahiert, wie wir gewiesen, von allem Inhalt der Erkenntnis, d. i. von aller Beziehung derselben auf das Objekt, und betrachtet nur die logische Form im Verhältnisse der Erkenntnisse aufeinander, d. i. die Form des Denkens überhaupt. (KrV B 79)
Dem Formalen des Gebrauchs von Verstand und Vernunft in der (allgemeinen und reinen) Logik (als dem formalen Teil der Philosophie oder der formalen Philosophie) entspricht das Materielle des Gebrauchs von Verstand und Vernunft; ein solcher materialer Gebrauch wird von Verstand und Vernunft im materialen Teil der Philosophie (als der Form nach ebenso wie die Logik rationaler Wissenschaft oder Vernunftwissenschaft), also in der Metaphysik als der materialen Philosophie gemacht, die nicht von den (formalen) Gesetzen der Vernunft im allgemeinen, sondern von den (nicht aus der Erfahrung, sondern aus Prinzipien zu erkennenden) Gesetzen der Natur (Metaphysik der Natur) und der Freiheit (Metaphysik der Sitten) handelt. Deshalb heißt es in der Jäsche-Logik' in unmittelbarer Fortsetzung des zuletzt zitierten Satzes (siehe oben): Ich werde in der Logik nicht fragen: W a s erkennt der Verstand und w i e v i e l kann er erkennen oder w i e w e i t geht seine Erkenntniß? Denn das wäre Selbsterkenntnis in Ansehung seines m a t e r i e l l e n Gebrauchs und gehört also in die Metaphysik. In der Logik ist nur die Frage: Wie wird sich d e r Verstand selbst e r k e n n e n ? (Log 9. 14)
Dieser Gedanke von der Logik als Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft in Ansehung (nicht des Materialen, sondern) des bloß Formalen ihres Gebrauchs bestätigt aufs genaueste die Bestimmung, von welcher der Text der Jäsche-Logik' ausgegangen war, daß die Logik nicht (nur) der bloßen Form, sondern (auch) der Materie nach eine Vernunftwissenschaft sei: nämlich der Materie nach eine Wissenschaft der Vernunft in ihrem formalen Gebrauch. Daß er geradezu dafür in Dienst genommen werden konnte, die Auffassung zu begründen, die Logik sei im Sinne Kants eine Vernunftwissenschaft nicht der Materie, sondern lediglich der bloßen Form nach, beruht auf einem grundlegenden Mißverstehen des Textes und des in ihm ausgedrückten Gedankens. Der Doppelaspekt im Ausdruck , Wissenschaft der Vernunft' zur Bezeichnung der Logik kann auch so verdeutlicht werden, daß der Genitiv ,der Vernunft' einmal als genitivus subjectivus (Wissenschaft aus oder durch Vernunft, vernünftige oder rationale Wissenschaft), zum anderen und zugleich als genitivus objectivus (Wissenschaft von der und über die Vernunft) genommen werden muß. Eine vollständige Auflösung des verkürzten Ausdrucks .Vernunftwissenschaft' als Bestimmung der Logik, die dem doppelten Aspekt von Vernunft gerecht wird, lautet dann: Die Logik ist (ihrer Form nach) rationale
Kant über Logik als Vernunftwissenschaft
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Wissenschaft von der Vernunft (als ihrer Materie), unangesehen des besonderen Gegenstandes (was immer er sein mag) der Vernunft, der in der Logik unberücksichtigt bleibt.29 In der vollen Bedeutung der Bestimmung der Logik als Vernunftwissenschaft sind .Vernunft' und .Form' streng genommen je zweimal zum Ausdruck zu bringen, ohne daß dadurch eine bloße Tautologie oder überflüssige Redundanz vorläge: Die Logik ist eine formaliter rationale Wissenschaft, und zwar materialiter von der Form der Vernunft. Ein solcher komplexer Begriff der Logik erfüllt die Haupterfordernisse an eine Definition: 1) der Q u a n t i t ä t nach [ . . . ] müssen die Definition und d a s Definitum W e c h s e l b e g r i f f e [ . . . ] , und mithin die Definition weder w e i t e r noch e n g e r sein als ihr Definitum, 2) der Q u a l i t ä t nach muß die Definition ein a u s f ü h r l i c h e r und zugleich p r ä c i s e r Begriff sein, 3) der R e l a t i o n nach muß sie nicht t a u t o l o g i s c h [ . . . ] sein, und endlich 4) der M o d a l i t ä t nach m ü s s e n die Merkmale n o t h w e n d i g und also nicht solche sein, die durch Erfahrung hinzukommen. (Log 9. 144)
Der erläuterte ausführliche Begriff der allgemeinen Logik als .vernünftiger Wissenschaft von der Vernunft überhaupt' im dargelegten Kantischen Verständnis ist somit eine präzise und adäquate Bestimmung der Logik.30 II. Die bisher aus dem Text der Jäsche-Logik' gewonnene Klärung ist nun zu überprüfen an den in Kants handschriftlichem Nachlaß überlieferten Reflexionen zur Logik, d. h. an Kants Notizen zu Meiers Lehrbuch Auszug aus der Vernunftlehre, aus denen Jäsche (nach seinen eigenen Angaben) in erster Linie seine Ausgabe von Kants Logik komponiert hat. Da Jäsches Ausgabe keine entwicklungsgeschichtlichen Aspekte der Überlegungen Kants zur Logik berücksichtigt, soll hier auf Datierungsfragen hinsichtlich der Reflexionen zur Logik nicht eingegangen werden. Als direkte Bestätigung der oben vorgetragenen Auslegung der Bestimmung der Logik als Vernunftwissenschaft kann Refl. 1612 dienen: Diese doppelte Rolle der Vernunft (der Form und der Materie nach) in der Bezeichnung der Logik als Vernunftwissenschaft ist in Kiesewetters Darstellung der Kantischen Logik nicht hinreichend erfaßt; er stellt nur den formal rationalen Charakter der Logik heraus und führt ihn allein als Grund für die Bestimmung der Logik als Vernunftwissenschaft an: „Die Logik ist eine reine Vernunftwissenschaft (scientia rationalis), denn ihr Objekt ist ihr durch die Vernunft selbst, also a priori gegeben" (J- G. C. C. Kiesewetter: Grundriß einer reinen allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen zum Gebrauch für Vorlesungen. Berlin 1791. Einleitung S 8, S. VI). Dies ist zwar der Sache nach richtig, gilt aber auch für die Metaphysik, und also kann die Logik nach Kant nicht allein deswegen zu Recht Vernunftwissenschaft heißen. „Die extensive Größe der D e u t l i c h k e i t , sofern sie nicht abundant ist, heißt P r ä c i s i o n (Abgemessenheit). Die Ausführlichkeit (completudo) und Abgemessenheit (praecisio) zusammen machen die A n g e m e s s e n h e i t aus (cognitionem, quae rem adaequat)" (Log 9. 63; vgl. Refl. 2413 f, AA 16. 354).
64
Udo Rameil Die Logic ist eine Vernunftwissenschaft sowohl der Materie als Form nach. (AA 16. 36)
Auf diese Reflexion könnte Jäsche zurückgegriffen haben in seiner Formulierung, die Logik sei „eine der Materie und der Form nach rationale Wissenschaft" (siehe oben; Log 9- 14). Der folgende Satz der Refl. 1612 gibt an, inwiefern die Logik als eine Vernunftwissenschaft der Form nach anzusehen ist: Was das letztere betrift, so hat sie als canon der Vernunft lauter principia a priori und nicht empirische, also nicht aus der psychologie entlehnte. (AA 16. 36) A u c h diese Präzisierung steht in sachlicher Übereinstimmung mit d e n in Abschnitt I e n t w i c k e l t e n Ü b e r l e g u n g e n über d e n d e r F o r m n a c h rationalen Charakter d e r Wissenschaft d e r Logik.
Die inhaltlich deutlichste Parallele zum oben analysierten Textabschnitt der Jäsche- Logik' findet sich in Refl. 1629, auf die Jäsches Wortlaut unmittelbar zurückgehen dürfte. In Kants Reflexion heißt es-. Logica. Vernunftwissenschaft. Scientia rationalis nicht der Form nach, sondern dem obiect nach (AA 16. 46).
Die Formulierung in der Jäsche-Logik' ist somit durch Kants Notiz weitgehend als authentisch ausgewiesen; eine (der Sache nach wie immer begründete) Umstellung des Wortlauts stellt also nicht bloß einen Eingriff in die Formulierung Jäsches, sondern in Kants eigene Reflexion dar. Von besonderem Interesse sind freilich Textzusätze Kants zu dem bisher unvollständig zitierten Text der Refl. 1629. Zum einen fügt Kant (in einem späteren Zusatz) in den Text das Wort „blos" ein, so daß er nun lautet: Logica. Vernunftwissenschaft. Scientia rationalis nicht blos der Form nach, sondern dem obiect nach (ebd.). 31
Wiederum wird dadurch der Doppelcharakter der Logik als Wissenschaft der Vernunft herausgestellt: Einerseits bestimmt die Vernunft den formalen Charakter der Logik als Wissenschaft; dementsprechend formuliert Kant in einem gleichzeitigen Zusatz: „Empiricarum regularum non datur scientia." (ebd.) Andererseits ist die Vernunft Untersuchungsgegenstand der Logik als Wissenschaft der Vernunft (genitivus objectivus); demgemäß enthält der zitierte Satz eine weitere Ergänzung: Logica. Vernunftwissenschaft. Scientia rationalis nicht blos der Form nach, sondern dem obiect nach: der Vernunft selbst, (ebd.)
Die Logik ist mithin (ihrer Form nach) rationale Wissenschaft von der Vernunft (als ihrer Materie). Möglicherweise hat Jäsche in seinem Text an der fraglichen Stelle Kants Zusatz „blos" anders in den Satz integriert, so daß er bei ihm lautet: Die Logik ist eine Vernunftwissenschaft „nicht der bloßen Form, sondern der Materie nach" (siehe oben; Log 9. 14).
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Dieselbe Refl. 1629 enthält in Kants ursprünglicher Formulierung noch ein Element, das von Jäsche überhaupt nicht berücksichtigt wurde, aber geeignet ist, Kants eigentliche Absicht bei der Abfassung seiner Notiz zu erkennen zu geben: Die Reflexion beginnt mit dem Wort „denomination" (ebd.). Es geht in Kants Gedanken demnach von Anfang an um die Frage, wie die Logik ihrem spezifischen Charakter nach angemessen zu bezeichnen oder zu benennen sei. 32 In dieser Hinsicht will Kant nun sagen: Den Namen .Vernunftwissenschaft' trägt die Logik zu Recht, aber nicht (jedenfalls nicht in erster Linie) ihrer Form nach (denn insofern unterscheidet sie sich gar nicht von den anderen scientiae rationales wie Mathematik und materiale Philosophie oder Metaphysik), sondern (vor allem und auf spezifische Weise) ihrer Materie oder ihrem Objekt nach. Die Bezeichnung ,Vernunftwissenschaft' ist für die Logik noch keine adäquate Benennung, sofern sie als Gattungsbestimmung (genus proximum) genommen wird, nämlich als formale Auszeichnung einer scientia rationalis oder „rationalwissenschaft" (Refl. 1865; AA 16. 141) überhaupt, die ihre Erkenntnisse ex principiis (a priori) und nicht ex datis (empirisch) gewinnt. Vielmehr ist die Logik in dem Sinne angemessen als .Wissenschaft der Vernunft' benannt, daß sie eine (freilich auch der Form nach rationale) Wissenschaft von der Vernunft ist und ein System von Erkenntnissen über die Vernunft selbst und ihre (nicht empirischen, nicht der Psychologie entlehnten, sondern aus der Vernunft selbst geschöpften) Regeln und Gesetze darstellt. In dem von Kant expressis verbis hergestellten Problemkontext der Denomination der Logik, der in der Jäsche-Logik' überhaupt nicht erkennbar wird, löst sich die anfängliche Schwierigkeit des Verständnisses der Bestimmung der Logik als Vernunftwissenschaft und die Interpretationsbedürftigkeit des Textes in Jäsches Ausgabe vollständig auf: Den Namen ,Vernunftwissenschaft' trägt die Logik zu Recht, aber nicht aufgrund der (rationalen) Form dieser Wissenschaft, sondern aufgrund ihrer Materie, welche die Vernunft selbst (freilich in ihrem formalen Gebrauch, unangesehen der Objekte des Denkens) ist. Der Frage nach der Benennung der Logik nachzugehen, ergibt sich für Kant ohne weiteres im Ausgang von seinem Lehrbuch für seine Logikvorlesungen. Meier führt ja schon in § 1 der „Einleitung in die Vernunftlehre" als verschiedene synonyme Bezeichnungen für die Logik an: Vernunftlehre (oder Vernunftkunst), logica, philosophia rationalis und philosophia instrumentalis (AA 16. 5; siehe oben). Kant bezieht sich unmittelbar darauf in der Refl. 1569: 12
Es ist ein in seinen Werken durchgängig zu beobachtendes Bemühen Kants, der Frage nach der Angemessenheit von Benennungen nachzugehen, insbesondere im Kontext der Einführung neuer theoretischer Ansätze und der darauf bezogenen Terminologie wie in der KrV. Um hier nur ein Beispiel anzuführen, sei auf den Abschnitt „Von den Begriffen der reinen Vernunft" zu Beginn der transzendentalen Dialektik verwiesen: „Die Benennung eines Vernunftbegriffs aber zeigt schon vorläufig: daß er sich nicht innerhalb der Erfahrung wolle beschränken lassen [...]. Vernunftbegriffe dienen zum B e g r e i f e n , wie Verstandesbegriffe zum V e r s t e h e n [...]. [Wir] werden vorläufig, so wie wir die reinen Verstandesbegriffe Kategorien nannten, die Begriffe der reinen Vernunft mit einem neuen Namen belegen und sie transzendentale Ideen nennen, diese Benennung aber jetzt erläutern und rechtfertigen." (B 367 0
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D e n o m i n a t i o . Logica, Philosophia rationalis, Vernunftlehre sind identisch in ihrer Wortbedeutung. Philosophia instrumentalis heißt sie [sc. die Logik] darum, weil sie gleichsam das instrument ist, andere Wißenschaften zu tractiren (AA 16. 7).
Aufgrund der Vielfalt der Namen für die Logik stellt sich mithin das Problem einer ihrem Charakter angemessenen Denomination. Und da der Terminus „Vernunftlehre" oder „Wissenschaft der Vernunft" in der erörterten Weise doppeldeutig ist (formaliter oder materialiter; „der Vernunft" als genitivus subjectivus oder objectivus), bedarf er in besonderem Maße der Aufklärung. Dem geht Kant in der Refl. 1579 weiter nach: Nahmen der logic: a priori Vernunftwissenschaft, nicht wegen der Form, sondern des obiects. (wegen der materie.) (obiect. Vernunft überhaupt, nicht auf ein besonderes obiect angewandt.) (Die Form muß philosophisch seyn, und das obiect ist doch selbst die philosophie.) (AA 16. 20)
Unmißverständlich wird der Problemzusammenhang von Kant exponiert: Obwohl die Logik (auch) der Form nach eine rationale Wissenschaft ist, kann ihr der Name , Vernunft Wissenschaft' nicht aus diesem Grunde (wegen der Form) berechtigterweise zugesprochen werden, sondern aus dem (anderen) Grunde, daß sie eine Wissenschaft von der und über die Vernunft ist (wegen der Materie); freilich ist der Untersuchungsgegenstand der Logik als Wissenschaft der Vernunft die „Vernunft überhaupt, nicht auf ein besonderes obiect angewandt", oder wie es in derselben Reflexion heißt: nicht [die Gesetze] des besonderen Gebrauchs (organon) auf ein obiect, sondern des Verstandes überhaupt, (propaedevtica philosophiae.) (AA 16. 21),
d. h. der Verstand und die Vernunft im allgemeinen unter Abstraktion von ihren besonderen Gegenständen (seien sie empirisch oder rein) und Gegenstandsbereichen (Mathematik, Natur, Moral), mithin „nur in Ansehung des Formalen ihres Gebrauchs" (KrV B 77, siehe oben). Was die allgemeine und reine Logik unberücksichtigt läßt, ist mithin nicht der Umstand, daß sich unser Denken, d. h. unser Verstandes- und Vernunftgebrauch, überhaupt und im allgemeinen auf ein Objekt bezieht, sondern das, worum sich die (formale) Logik nicht kümmert,33 ist die Besonderheit dieses Objekts, auf das Verstand und Vernunft im Erkenntnisprozeß Anwendung finden: Die Logik ist eine Wissenschaft a priori von den reinen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft überhaupt, nicht des besonderen gebrauchs. So wie er [sc. der
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Vgl. in der „Logik Pölitz": „In allem unserm Denken sind 2 Stücke: Materie und Form. - Einige Erkenntniße sind der Materie nach unterschieden, der Form nach einerley. [ . . . ] demnach ist eine Wißenschaft die die algemeinen Regeln enthält blos eine Wißenschaft der Form des Erkennen unsers Verstandes, oder des Denkens wo man von allen Objecten abstrahirt und eine solche Wißenschaft nennen wir eine Logic. - Das Wort Xöyoc von dem das Wort herkomt hat verschiedene Bedeutung hier aber: Verstand und Vernunft. Also wird die Logic eine Wißenschaft seyn von der Form des Verstands und Vernunft überhaupt. Die algemeine Logic muß von allen Objecten abstrahiren. Z. B. In aller Erkenntniß sind Begriffe Die Logic zeigt also nur die Form derselben ohne sich um die Materie zu bekümmern." (AA 24. 503)
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Verstand] im g e m e i n e n E r k e n t n i s angewandt wird und in Wissenschaften o h n e U n t e r s c h i e d d e s o b i e c t s . (Refl. 1603; AA 16. 33)
Die Logik als Lehre von den Regeln und Gesetzen des Verstandes und der Vernunft überhaupt achtet nicht auf die Objekte des Denkens hinsichtlich ihrer Unterschiedlichkeit,34 ob es empirische oder reine Gegenstände sind, auf die sich Verstand und Vernunft in Absicht auf Objekterkenntnis beziehen. Die Logik ist „auf kein obiect bestirnt" (und deshalb ein Kanon und kein Organon) und als solche eine Wissenschaft „nicht des besonderen und bestirnten, sondern des allgemeinen Gebrauchs" von Verstand und Vernunft (Refl. 1612; AA 16. 3 6 ) : Diese Allgemeine Lehre des Denkens ist Logik. [ . . . ] Logik ist allgemeine Verstandeslehre. (Wissenschaft der Regeln des Denkens überhaupt.) [ . . . ] Eine allgemeine Verstandeslehre trägt also nur die nothwendige Regeln des Denkens vor ohne unterschied der obiecte, d. i. der Materie 35 , worüber gedacht wird, also nur die Form des Denkens überhaupt und die Regeln, ohne welche gar nicht gedacht werden kann. [ . . . ] Die a l l g e m e i n e Regeln sind n o t h w e n d i g e : entweder nur in b e s o n d e r e r Absicht zur Erkentnis gewisser obiecte, oder in a l l e r A b s i c h t , so daß ohne sie das D e n k e n überhaupt u n m ö g l i c h ist. (Refl. 1620; AA 16. 40 0
Die allgemeine Logik handelt demnach von den in aller Absicht oder schlechthin notwendigen Regeln und Gesetzen des Denkens von Objekten ohne Berücksichtigung (oder unter Beiseitesetzung; vgl. KrV B 83, Log 9. 12 Z. 20) ihrer Verschiedenheit. Diese für die allgemeine Logik konstitutive Abstraktion von der Besonderheit und Bestimmtheit der Objekte des Denkens drückt Kant in Refl. 1629 so aus: sie enthalt blos die Regeln a priori von der Form des Denkens, und diese können nur dadurch, daß unsere Verstandeshandlungen analysirt werden und man das, was das object betrift, wegläßt, erkannt werden. (AA 16. 49)
Entsprechend heißt es in der Jäsche-Logik', die Logik enthalte diejenigen Regeln des Verstandesgebrauchs, die in aller Absicht und unangesehen aller besondern Objecte des Denkens schlechthin nothwendig sind, weil wir ohne sie gar nicht denken würden. Diese Regeln können daher auch a priori d. i. u n a b h ä n g i g v o n a l l e r E r f a h r u n g eingesehen werden, weil sie, o h n e U n t e r s c h i e d d e r G e g e n s t ä n d e , bloß die Bedingungen des Verstandesgebrauchs überhaupt, er mag r e i n oder e m p i r i s c h sein, enthalten. (Log 9. 12) 34
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Daß die Logik die Gesetze des Denkens überhaupt enthält ohne Unterschied (Verschiedenheit) der Objekte (Gegenstände), auf die sich das Denken beziehen mag, ist eine von Kant wiederholt gebrauchte Formel; siehe z.B. KU Einleitung: Die Logik enthält „Principien der Form des Denkens überhaupt ohne Unterschied der Objecte" (AA 5. 171). Vgl. u.a. KrV B 76, 77 und 78; GMS (AA 4. 387; siehe Anm. 3); Log (AA 9. 12, vgl. 51); Refl. 1603, 1620 und 1628 (AA 16. 33, 40 und 44), „Logik Bauch" (Ed. Pinder, a.a.O. [Anm. 361 10); ähnlich KrV B IX, B 82. Kant präzisiert in einer ergänzenden Notiz unter Berücksichtigung seiner kritischen Erkenntnistheorie: „Nicht die [Regel], nach welcher wir objecte erkennen, sondern überhaupt denken, welches nur ein Theil vom Erkennen ist." (AA 16. 41)
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Der resümierende Schlußabschnitt zum „Begriff der Logik" in der JäscheLogik' faßt diese Bestimmung der Logik so zusammen: Die Logik ist e i n e V e r n u n f t w i s s e n s c h a f t nicht der b l o ß e n F o r m , s o n dern der Materie n a c h ; e i n e W i s s e n s c h a f t a priori von den n o t w e n digen G e s e t z e n d e s D e n k e n s , a b e r nicht in A n s e h u n g b e s o n d e r e r G e g e n s t ä n d e , s o n d e r n aller G e g e n s t ä n d e ü b e r h a u p t (Log 9. 16). In dieser ihrer Allgemeinheit gründet die Formalität der (allgemeinen oder formalen) Logik: Das D e n k e n ist das Geschäfte des Verstandes. Aber [je] nachdem die obiecte Verschieden seyn, müssen auch verschiedene Regeln des Denkens seyn, z. B. Andere Regeln im Gegenstand der Erfahrung als im Gegenstand der bloßen Vernunft ([z.B.] Tugend), andere Regeln des Verstandes vor äußere Erfahrung als vor innere. Jede Wissenschaft hat ihre besondere Regeln. Es muß aber doch auch eine Geben, die vor allen Wissenschaften vorhergeht und die Regeln des Denkens überhaupt enthält. Hier muß von allem unterschiede der obiecte abstrahirt werden. Von aller Materie der Erkentnis. Also wird eine solche Wissenschaft blos die Form des Denkens unter Regeln bringen. Z. B. Was ist ein Begrif? was ist ein deutlicher Begrif? was ist ein Urtheil, eine Bestimmung? Diese Regeln sind nothwendig (ohne die gar nicht gedacht werden kan, abstrahiren also vom Unterschied der obiecten) und wesentliche des Denkens überhaupt. Logic. (Refl. 1628; AA 16. 43 f; zum besonderen Verstandesgebrauch vgl. Log 9. 12) Wie in der oben bereits zitierten Refl. 1612 wird in Refl. 1579 über den materialen Aspekt der Logik als Wissenschaft von der Vernunft hinaus auch ihr formal-rationaler Charakter herausgestellt, der darin besteht, zugleich Wissenschaft aus der Vernunft zu sein. In einer von Kant überarbeiteten Notiz heißt es, die Logik als „Canon" sei „Wissenschaft wegen der Form, weil ihre Regeln a priori könen bewiesen werden" (AA 16. 21). Die Logik ist „eine theorie und Wissenschaft, nemlich deren Vernunftregeln selbst aus der Vernunft bewiesen werden" (ebd.). Die Logik als Wissenschaft muß also ihrer Form nach „philosophisch", d. h. rational-diskursiv sein, „und das obiect ist doch selbst die philosophie" (AA 16. 20, siehe oben), nämlich die apriorischen Regeln von Verstand und Vernunft selbst. Wenn die Logik diejenige Vernunftwissenschaft ist, die sich dadurch auszeichnet, daß sie gerade von den Unterschieden der Objekte des auf Objekterkenntnis gerichteten Denkens absieht, so ist die ihr eigentümliche Leistung eingeschränkt: Sie ist nur ein Canon der Beurtheilung, nicht ein Werkzeug [sc. Organon] der Erfindung. Sie lehrt nicht die Erkentnis mit dem obiect, sondern mit den allgemeinen Gesetzen des Denkens überhaupt einstimmig zu machen. Nur daß der Verstand im Denken mit sich selbst und mit seinen allgemeinen Regeln zusammenstimme. (Refl. 1628; AA 16. 46) Zur Untersuchung von Bedingungen materialer Erkenntnis von (in ihrer Besonderheit bestimmten) Objekten kann die allgemeine Logik w e g e n ihrer
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Formalität nicht taugen; lediglich die Frage nach der Übereinstimmung des Verstandes mit sich selbst im Denken von Objekten überhaupt (unangesehen ihrer Verschiedenheit) ist ihre Angelegenheit: Allgemeine Logik ist blos Canon [... ] allgemeine Logik abstrahirt von allem obiecte und betrachtet nur die Form des Denkens. Die Übereinstimmung mit den Gesetzen des Verstandes ist das Formale der Warheit. Aber dieser canon als organon gebraucht und die formale principien ohne Materiale (des obiects) zur Beurtheilung der obiecte gebraucht, ist ein bloßer Schein. Denn das Materielle der Warheit besteht in Uebereinstimmung mit dem obiect, so wie das Formale in Uebereinstimmung des Verstandes mit sich selbst. (Refl. 1629; AA 16. 47)
In der Jäsche-Logik' ist diese Überlegung Kants im Abschnitt VII der Einleitung formuliert: die f o r m a l e Wahrheit besteht lediglich in der Zusammenstimmung der Erkenntnis mit sich selbst bei gänzlicher Abstraction von allen Objecten insgesammt und von allem Unterschiede derselben. Und die allgemeinen formalen Kriterien der Wahrheit sind demnach nichts anders als allgemeine logische Merkmale der Übereinstimmung der Erkenntniß mit sich selbst oder - welches einerlei ist - mit den allgemeinen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft. (Log 9. 51)
Die allgemeine Logik handelt demnach nicht von allgemeinen materialen Kriterien der Wahrheit oder der Frage nach der Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Objekt. Es geht vielmehr um allgemeine formale Wahrheitskriterien oder um die Frage, ob die Erkenntnis „mit sich selbst (der Form nach) zusammenstimme. Dies ist Sache der Logick" (Refl. 2152; AA 16. 253, vgl. Log 9. 51), und - wird man hinzufügen - nur dies. In einer fragmentarischen Notiz (Refl. 1594) zur Logik als „Philosophia propaedevtica generalis" hält Kant fest: Die logic heißt philosophia rationalis, nicht weil sie durch den Gebrauch der Vernunft erlangt wird, sondern weil sie [sc. die Vernunft] ihr [sc. der Logik] obiect [ist] (AA 16. 28).
Erneut ist unübersehbar, daß es Kant hier um die Frage nach der treffenden Benennung oder dem ,passenden' Namen der Logik geht, d. h. darum, wie sie angemessen „heißen" kann. Diesmal greift Kant als Bezeichnung für die Logik den Namen „philosophia rationalis" auf, der ja von Meier (§ 1; siehe oben) eigens als äquivalenter Ausdruck der Tradition für die Logik oder Vernunftlehre eingeführt worden ist. Für die spezifische Kennzeichnung „rationalis" im Terminus „philosophia rationalis" für die Logik gilt (wie in ihrem Namen „scientia rationalis"), daß sie nicht in erster Linie die Vernunft als Form der Logik, sondern die Vernunft als Materie der Logik betrifft. Wiederum wird deutlich daß die angefochtene Formulierung aus der Jäsche-Logik' (auch und gerade mit der im ursprünglichen Text kenntlich gemachten Hervorhebung) als präziser Ausdruck des von Kant intendierten Gedankens gelten kann, sofern eben dem Umstand Rechnung getragen wird, daß Kant hier auf die richtige Benen-
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nung der Logik abhebt: Die Logik ist „eine Vernunftwissenschaft [... ] nicht der bloßen Form, sondern der Materie nach" (Log 9- 14). III. Kants handschriftliche Eintragungen in und zu Meiers Auszug aus der Vernunft lehre stammen aus dem Kontext von Kants zahlreichen Vorlesungen über Logik. Deshalb sollen nun die erhaltenen Nachschriften der Kantischen Logikvorlesungen zur Überprüfung des dargelegten Verständnisses von Kants genereller Bestimmung der Logik als Vernunftwissenschaft herangezogen werden. Da es hier nicht um entwicklungsgeschichtliche Nuancen im Kantischen Denken auf dem Gebiet der Logik gehen soll, können die Vorlesungsnachschriften zur Logik, die in der Akademie-Ausgabe (AA 24) veröffentlicht sind, ausgewertet und die nachträglich publizierten Nachschriften (Ed. Pinder) ihnen zugeordnet werden, ohne daß näher auf Datierungsprobleme eingegangen werden müßte.36 An den neun vollständig erhaltenen Nachschriften läßt sich belegen, daß Kant in seinen Logikvorlesungen bei der Bestimmung der Logik als Vernunftwissenschaft all die Aspekte herausgehoben hat, die bisher schon zur Sprache gekommen sind: 1. Die Logik ist Vernunftwissenschaft einerseits in formaler, andererseits in materialer Hinsicht. 2. Eine der Form nach rationale Wissenschaft zu sein, ist nur allgemeine (Gattungs-)Bestimmung der Logik, die sie mit der Mathematik und den übrigen Teilgebieten der (materialen) Philosophie als scientiae rationales gemeinsam hat; spezifisch bestimmt als Vernunftwissenschaft ist sie, sofern ,Vernunft' als Bestimmung der Materie der Logik verstanden wird, d. h. sofern die Vernunft selbst das Untersuchungsobjekt dieser Wissenschaft ist. 3. Den Namen ,Vernunftwissenschaft' trägt sie mithin aufgrund dessen zu Recht, daß sie der Materie nach eine Wissenschaft von der Vernunft in dem Sinne ist, daß die notwendigen Regeln und Gesetze, die den Inhalt der Logik ausmachen, diejenigen der Vernunft selbst sind. 4. .Vernunft' im Ausdruck „Vernunftwissenschaft" oder „Wissenschaft der Vernunft" muß also im Fall der Logik vorrangig im Sinne eines genitivus objectivus verstanden werden: Vernunft ist hier nicht (nur) das (erkennende) Subjekt, sondern (auch und gerade) das (erkannte) Objekt der Wissenschaft. Da die einschlägigen Belege aus den Nachschriften Kantischer Logikvorlesungen weitgehend
Es handelt sich insgesamt um sechs Nachschriften in Bd 24 der Akademie-Ausgabe und drei Nachschriften in der Ausgabe von Pinder: Immanuel Kant: Logik-Vorlesung. Unveröffentlichte Nachschriften. Bearbeitet von Tillmann Pinder. Hamburg 1998. In den folgenden Zitaten aus Nachschriften der Ed. Pinder werden die vom Herausgeber in den Anmerkungen vorgenommenen Korrekturen berücksichtigt. - Zu den drei neu edierten Nachschriften vgl. neben Pinders Einleitung auch W. Stark: Neue Kant-Logiken. A.a.O. (Anm. 10) S. 123 ff und T. Pinder: Zu Kants Logik-Vorlesung um 1780, anläßlich einer neu aufgefundenen Nachschrift. In: R. Brandt, W. Stark (Hrsg.): Kant-Forschungen. Bd 1. Hamburg 1987, S. 79 - 114.
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für sich sprechen, kann es im folgenden genügen, sie jeweils in Hinblick auf die genannten Aspekte kurz zu kommentieren. In der „Logik Blomberg" stellt der Nachschreiber vor die „Einleitung in die Vernunft-Lehre nach dem Autore" (AA 24. 26), nämlich nach Meier, eigens eine „Einleitung in die Vernunft-Lehre nach denen Gedancken des Herrn Profeß: Kant:" (AA 24. 16). In dieser wird zunächst die formaliter und materialiter rationale Natur der Logik erläutert: Die Logic zeigt die Reguln des Gebrauchs des Verstandes, und Vernunft, die selbst a priori, und ohne Erfahrung können erkannt werden, da sie von derselben nicht dependiren. Der Verstand sieht hier seine eigene Reguln ein, und macht daraus eine Disciplin, eine Unterweisung, die aber a priori erkannt werden kann, und dahero heißt sie eine Doctrin. In der Logic wird eigentlich nicht allein die Vernunft angewandt, sondern die Vernunft ist ihr Object, der Gegenstand ihrer Betrachtung in usu. Es giebt viele Erkenntniße, deren Form nicht rational ist, und als denn ist es keine VernunftLehre. (AA 24. 24)
Im Anschluß daran stellt sich dann konsequenterweise die Frage, in welchem Sinn denn die Logik auf eine ihr eigentümliche Weise mit dem Namen .Vernunftlehre' oder ,Vernunftwissenschaft' zu bezeichnen ist: Die Logic heißt mit einem besonderen und ihr eigentlich zukommenden Nahmen die Vernunft-Wißenschaft, weil diese [sc. die Vernunft] ihr [sc. der Logik] Object ist. Die übrige vielen Scientias rationales solte man Wißenschaften der Vernunft nennen. (AA 24. 24 0
Hier ist das Augenmerk auf den Umstand zu richten, daß Kant zur Bestimmung des besonderen rationalen Charakters der Logik Gebrauch macht von einer möglichen terminologischen Differenz zwischen ,Vernunft-Wissenschaft' (der Materie nach) und .Wissenschaft der Vernunft' (der Form nach) zur Kennzeichnung des sachlichen Unterschieds zwischen einer (nur) der Form nach rationalen Wissenschaft oder scientia rationalis (.Wissenschaft der Vernunft' im Sinne einer Wissenschaft aus und durch Vernunft) und einer (auch) der Materie nach rationalen Wissenschaft (.Vernunft-Wissenschaft' als Wissenschaft von der und über die Vernunft). Die Logik ist zwar beides, aber die ihr eigentlich oder spezifisch zukommende Bestimmung besteht darin, „VernunftWissenschaft" (Vernunft als genitivus objectivus) zu sein, gegenüber solchen Wissenschaften, deren Rationalität (lediglich) in ihrer Form besteht (.Wissenschaft der Vernunft' im Sinne eines genitivus subjectivus). 37 37
Ein ähnlicher Versuch einer terminologischen Differenzierung wird in der „Logik DohnaWundlacken" unternommen: „Die Logik kann heißen Vernunftlehre, nicht allein vernünftige Lehre" (AA 24. 695). Den Namen .vernünftige Lehre' (scientia rationalis) kann die Logik aufgrund ihrer (rationalen) Form tragen, die sie mit anderen (vernünftigen oder rationalen) Lehren oder Wissenschaften gemein hat; aber sie ist nicht allein - wie diese - eine vernünftige Lehre in diesem (formalen) Sinne, sondern sie ist .Vernunftlehre' oder .Vernunftwissenschaft' in einem eminenten Sinne als Lehre oder Wissenschaft von einer besonderen Materie, nämlich von der Vernunft selbst. In dieser ausgezeichneten Bedeutung kann die Logik auf spezifische Weise .Vernunftlehre' oder .Vernunftwissenschaft' heißen, während die
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Die „Logik Philippi" weist deutliche Parallelen mit der „Logik Bauch" auf; auch in der fraglichen Bestimmung der Logik gibt es sachliche, wenngleich nicht wörtliche Übereinstimmungen. In der ausführlicheren Darlegung der „Logik Bauch" heißt es: So sind die Gegenstände mit den verschiednen Wissenschaften verschieden, z. B. Die Theologie geht mit den obersten Ursachen um, die Moral mit den Sitten. Die Physik mit den Eigenschaften und Kräften der Körper und ihren Erscheinungen. Die Mathematik mit den Größen. Alle diese Wissenschaften sind Vernunft Wissenschaften, weil ihre Principia a priori erkannt werden können und sie nicht anders, als durch die Vernunft können eingesehen werden. [ . . . ] Da nun die Logik auch eine Vernunftwissenschaft ist; wie ist sie von andern unterschieden? Wollen wir dieses recht bestimmen, so muß man von den Gegenständen abstrahiren. Die Moral, Physik und der gleichen sind Vernunftwissenschaften, weil ihre Gegenstände a priori eingesehen werden können. Der Gebrauch der Vernunft wird dazu erfordert; also sind sie nur qvoad formam Wissenschaften der Vernunft. D i e Logik a b e r hat zum G e g e n s t a n d e und O b j e c t die V e r n u n f t s e l b s t . Sie erwegt die nothwendigen Regeln des Gebrauchs der Vernunft ohne Unterschied und unangesehen aller Gegenstände, auf welche sie applicirt wird. Die Logik handelt von der allgemeinen Form der Vernunft [ . . . ] . Wir unterscheiden hier also f o r m a m et m a t e r i a m . Materien sind die Stücke, die zu einer Erkenntnis gehören; die Form ist die Methode, Art und Weise, nach welcher der Verstand bey jeder Erkentnis verfehlt, unangesehn der Gegenstände, diese Enthält die Logik. Sie ist also eine Vernunftwissenschaft, qvoad materiam, der Vernunft. (Ed. Pinder 9 - 1 1 )
Der Herausgeber schlägt vor, am Ende des zitierten Textes „der Vernunft" zu streichen (Ed. Pinder 11 n.); dies ist aber wohl nicht notwendig, wenn „der Vernunft" hier als Erläuterung im Sinne des genitivus objectivus verstanden wird: Die Logik ist eine Vernunftwissenschaft, nämlich der Materie nach, d. h. als (auch der Form nach rationale) Wissenschaft von der oder über die Vernunft. Die besondere Pointe besteht gerade darin, daß die Logik als ,eine Vernunftwissenschaft der Vernunft' aufzufassen ist. Denn die Vernunft ist in doppelter Weise bestimmendes Element für die Logik und kommt dementsprechend zu Recht zweifach zum Ausdruck: zum einen ,quoad formam' im Terminus .Vernunftwissenschaft', sofern dieser (wie zu Beginn des Zitates) als Kennzeichnung einer scientia rationalis überhaupt verstanden wird, durch den die Logik gerade noch nicht unterschieden wird etwa von (rationaler, nicht empirischer) Physik, Moral und Mathematik; zum anderen (wie am Ende des Zitats) ,quoad materiam' im Ausdruck ,der Vernunft', in dem die Vernunft (als genitivus objectivus) den Untersuchungsgegenstand dieser Wissenübrigen (lediglich) formal-rationalen Wissenschaften .Wissenschaften der Vernunft' („Logik Blomberg") oder .vernünftige Lehren' („Logik Dohna-Wundlacken") genannt zu werden verdienen. - Die in der „Logik Dohna-Wundlacken" auf die zitierte Stelle bezogene Randnotiz enthält einen gravierenden Fehler: „Vernunftwissenschaft nicht der Materie nach, weil ihr Objekt allein die menschliche Vernunft ist. Mathematik, Physik, Moral sind zwar auch Vernunftwissenschaften, aber nur der Form, nicht der Materie nach." (ebd.) In der Formulierung „nicht der Materie nach" zu Beginn des Satzes ist „nicht" zu streichen. (Die zahlreichen Fehler der Logik-Nachschriften in der Darbietung der Akademie-Ausgabe sind darauf zurückzuführen, daß diese die Handschriften häufig unkorrigiert abdruckt und somit deren Fehler übernimmt.)
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schaft bezeichnet (im Unterschied zu den je besonderen Gegenständen der übrigen scientiae rationales). Dabei ist zu beachten, daß die Logik als (quoad formam) rationale Wissenschaft nur in einer ganz spezifischen Weise (quoad materiam) von der Vernunft handelt, nämlich - wie es im zitierten Text heißt „von der allgemeinen Form der Vernunft": Die allgemeine Form der Vernunft ist die Materie der (auch ihrer Form nach rationalen) Wissenschaft ,Logik', die aufgrund dieser ihrer Materie „Vernunftwissenschaft" heißen kann. Bezeichnend für die Schwierigkeit der Leser und Interpreten, diesen Kantischen Gedanken einer strengen Bestimmung der (formalen) Logik aufzufassen, ist eine vom Herausgeber mitgeteilte Notiz zum Ende des zitierten Auszugs aus der „Logik Bauch", die der Sache nach genau den oben erörterten Texteingriffen von Hartenstein und Kinkel entspricht: „Die Worte ,qvoad materiam' sind von anderer Hand (Bauch) unterstrichen; am Rand steht (ebenfalls von Bauchs Hand): ,quo ad formam'." (Ed. Pinder 11 n.) Das Mißverständnis besteht wiederum darin, nicht zu beachten, daß Form zum einen als Element der Bestimmung der Logik als Wissenschaft fungiert (nämlich deren rationalen Charakter auszeichnet) und zum anderen Form als Element der Bestimmung des Gegenstandes dieser (rationalen) Wissenschaft dient (nämlich den Umstand betrifft, daß dieser Gegenstand, die Vernunft selbst, nur ihrer allgemeinen Form nach in der Logik thematisch ist). Der Herausgeber kommentiert die Randnotiz deshalb ganz richtig: „Die damit offenbar angedeutete Korrektur ist falsch." (ebd.) Dieses Urteil wird im Fortgang der „Logik Bauch" bestätigt: D i e Logik ist a l s o e i n e D o c t r i n (weil sie a priori erkannt wird) v o n d e n n o t h w e n d i g e n R e g e l n d e s G e b r a u c h s u n s r e r Vernunft. [ . . . ] Sie ist eine Vernunft-Wissenschaft qvo ad materiam, und hat zum Object die Regeln der Vernunft selbst; non qvoad formam, wie die Moral, Physik und der gleichen. Die Vernunft ist hier der Gegenstand selbst. Hier wird die Vernunft durch die Vernunft erkannt in andern Doctrinen ist sie nur die Form. So wie die Sinne die Form der Anschauung setzen, so ist die Vernunft die Form unsrer Erkentnis in der Moral, Physik pp Daher sind diese Vernunftwissenschaften, qvoad formam; aber die Logik hat zum Object die Vernunft selbst; unabhängig von allen Gegenständen, auf welche sie applicirt wird. Sie ist also wohl eine Vernunft-Wissenschaft, aber in einem ganz andern Verstände [sc. Sinne], Ihre Erkenntnisquellen sind auch a priori; aber deswegen heißt sie nicht eine Vernunft-Wissenschaft; sondern deswegen; weil ihr Object die Vernunft selbst ist. (Ed. Pinder 13 0
In der Logik wird die Vernunft durch die Vernunft erkannt; entsprechend heißt es in der Jäsche-Logik': „Die Logik ist daher eine Selbsterkenntniß des Verstandes und der Vernunft" (AA 9- 14; siehe oben Abschnitt I). Daß der Gegenstand oder die Materie der Logik (nämlich die Form der Vernunft) durch die Vernunft erkannt wird, macht die Logik zu einer Vernunftwissenschaft „quoad formam" unter anderen, ebenso zu charakterisierenden Vernunftwissenschaften. Aber nicht deswegen, also nicht aufgrund ihrer formal-rationalen Natur, kann die Logik Vernunftwissenschaft heißen; dieser Name gebührt ihr in einer anderen Bedeutung von Wissenschaft der Vernunft: Die Logik hat
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zum Objekt ihrer Untersuchung die Vernunft selbst (freilich ohne Berücksichtigung der Gegenstände, auf welche die Vernunft Anwendung findet), und weil sie insofern ihrer Materie nach Wissenschaft von (der Form) der Vernunft selbst ist, trägt sie - in spezifischer Differenz zu den übrigen Vernunftwissenschaften in formaler Bedeutung - zu Recht die Benennung .Vernunftwissenschaft' im eminenten Sinne. Ausschlaggebend für die Bezeichnung ,Vernunftwissenschaft' für die Logik ist mithin nicht der (die Logik nicht signifikant charakterisierende) Umstand, daß das in dieser Wissenschaft Erkannte a priori durch oder aus Vernunft erkannt wird, sondern die sie auszeichnende Besonderheit, daß sie derjenige Teil der Philosophie ist, in dem über die Vernunft selbst (freilich ihrer allgemeinen Form nach) philosophiert wird. In der allgemeinen Logik, heißt es wiederum in der „Logik Bauch", studirt der Verstand sich selbst und in dieser Rücksicht heißt sie auch philosophia rationalis; weil das Object ihrer Erkentnis ratio ipsa ist und von der allgemeinen Form der Vernunft handelt. Philosophie und Mathematik sind der Form nach rational, allein38 in der Logik ist auch die Materie die Vernunft (Ed. Pinder 27). Derselbe Sachverhalt, nämlich die Benennung der Logik als Vernunftwissenschaft aufgrund der in dieser (rationalen) Wissenschaft angestrebten •Se/bsierkenntnis des Verstandes bzw. der Vernunft (als des Objekts der Logik), wird in der „Logik Philippi" so formuliert: Logica kommt her von Xoyoc (ratio) und wird auch sonst Philosophia rationalis genennet; nicht weil sie durch die Vernunfft sondern weil sie von und über die Vernunfft philosophiret. Das rationale ist hier nicht [nur] die Form, sondern das Object, denn die Form kann rational seyn, es mag das Object oder die Materie seyn was sie wolle Z. E. in der Physick ist das Object die Körper, in der Mathematick die Größen: in beiden ist die Form rational, in beiden philosophirt man durch die Vernunfft. (AA 24. 315) Philosophische Erkenntnis überhaupt und im allgemeinen ist (formaliter) rationale (und zwar diskursive) Erkenntnis, so daß die Philosophie insgesamt in Hinsicht auf die Form ihrer Erkenntnisse als Vernunftwissenschaft (scientia rationalis) zu bestimmen ist in definitorischer Abgrenzung gegen Wissenschaften, in denen (objektiv) empirisch oder (subjektiv) historisch erkannt wird: Definlition]. Philosophia est scientia rationalis de rerum qualitatibus.39 Durch die rationale Erkenntniß wird sie von andern Erkenntnissen, die historisch oder empirisch sind, unterschieden. (AA 24. 319) Der besondere Teil der Philosophie, der über ihren grundsätzlichen Charakter als formal-rationale Wissenschaft hinaus auch materialiter rational ist in dem 38
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Übereinstimmend damit heißt es in der „Logik Pölitz": „Logik allein ist aber materialiter und formaliter rational, so fern sie den Verstand zu ihrem Object hat." (AA 24. 543 0 Von einer solchen Definition der Philosophie durch ihre Materie .Qualität' im Unterschied zur .Quantität' als der Materie der Mathematik distanziert sich Kant in der KrV B 741 ff (vgl. Log 9. 23). Vgl. auch die auf Klaus Reich zurückgehende Anmerkung zur obigen Stelle: AA 24. 1001. (Die „Logik Philippi" war „Eigentum von Kl. Reich in seiner Rostocker Zeit", ebd. 978.)
Kant über Logik als Vernunftwissenschaft
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Sinne, daß er von der und über die Vernunft selbst und die allgemeinen und notwendigen Gesetze des Denkens überhaupt handelt, kann insofern in einem eminenten Sinne .philosophia rationalis' heißen. Für sich genommen, ohne hinreichende Klarstellung der in doppelter Hinsicht (formal und material) rationalen Natur der Logik, ist der Terminus .Vernunftwissenschaft' (scientia rationalis) als Bestimmung der Logik noch nicht abgemessen (präzise) und angemessen (adäquat): Gerade die in dieser Bezeichnung versteckte, nicht explizit gemachte (formale und materiale) Doppelfunktion der Vernunft führt zu einer Zweideutigkeit des Ausdrucks ,Vernunftwissenschaft' als Definition der Logik. Diese Problematik kommt in der „Logik Pölitz" zur Sprache: weil in der Logic von allem Inhalt [des Denkens] abstrahirt wird: so abstrahirt man auch zugleich von aller Art wie uns die Gegenstände durch die Erfahrung gegeben worden, und eine solche Wißenschaft nennt man rationalis zum Unterschied der empirischen. Eine Logic wird also der Quelle nach rationalis seyn müßen. Logic ist aus der Vernunft hergelehnt, und hat zu ihrem Object die Vernunft. Man definirt die Logik so: rationalis durch Scientia, hierin liegt 2erley, [1.] daß sie nicht aus der Erfahrung hergenommen ist, [2.] daß sie die Vernunft zum Object hat. [... 1 Die Definition der Logik als scientia rationalis ist 2deutig, sie ist rational der Form nach, darin ist sie aber von den andern [Vernunftwissenschaften] noch gar nicht unterschieden, die eigentliche Ursache der Definition liegt darin, daß die Vernunft ihr Object ist und zwar nach den algemeinen Gesezen des Gebrauchs derselben. Dieser Ausdruck ist also nicht paslich. (AA 24. 504 0 Wird die Logik durch den Ausdruck ,scientia rationalis' definiert, so ist allein dadurch noch nicht gesichert, daß die besondere, einzigartige Natur der Logik getroffen ist; denn im Ausdruck .scientia rationalis' liegt terminologisch ungeschieden zweierlei: Eine so gekennzeichnete Wissenschaft kann entweder der Form oder (zugleich) der Materie nach rational sein. Wird mithin die Logik als scientia rationalis definiert, so liegt darin die Zweideutigkeit, daß in diesem Ausdruck noch ungeklärt ist, in welcher der beiden möglichen Hinsichten die Logik als rationale Wissenschaft vorzustellen sei. Nun ist die Logik beides: Vernunftwissenschaft sowohl der Form als auch der Materie nach. Da sie die Bestimmung, der Form nach Vernunftwissenschaft zu sein, mit anderen Wissenschaften gemeinsam hat, kann nur die andere Bestimmung, Vernunftwissenschaft der Materie nach zu sein, für die Definition der Logik entscheidend sein, sofern eben die Logik durch eine solche Definition in ihrem wesentlichen Unterschied zu anderen (der Form nach ebenfalls rationalen) Wissenschaften und damit in ihrer Besonderheit und Einzigartigkeit ausgezeichnet werden soll. Darauf hebt die (mit der „Logik Pölitz" verwandte) „Warschauer Logik" in einer mit dem letzten Zitat inhaltlich parallelen Ausführung ab: Die Logik wird also der Quelle nach rational seyn müßen; denn sie ist aus der Vernunft hergeleitet; sie hat aber auch zu ihrem Objecte die Vernunft also quoad materiale et formale ist die Logik rational, und hierinn ist sie die einzige ihrer Art. [... ] Die Definition der Logik als Scientia rationalis ist zweideutig; denn sie ist der Form nach rational; aber darinn ist sie nicht von andern Wissenschaften
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unterschieden - sie ist aber auch der Materie nach rational denn die Vernunft ist ihr Objekt, und zwar nach allgemeinen Gesezen des Gebrauchs derselben. Dieser Ausdruck ist also gar nicht paßend (Ed. Pinder 509 f).
Der .eigentliche' Grund (vgl. oben „Logik Pölitz") für die Berechtigung, die Logik als Vernunftwissenschaft zu bestimmen und sie mit diesem Namen zur Charakterisierung ihrer Eigenart zu bezeichnen, liegt somit darin, daß die Logik als einzige (der Form nach) rationale Wissenschaft zugleich die Vernunft zu ihrem Untersuchungsobjekt hat und somit auch der Materie nach Vernunftwissenschaft ist. Dies führt die „Logik Hechsei" so aus: in der Vernunftlehre muß man alles a priori beweisen. Eine solche Wißenschaft die alles a priori herleitet, (das heißt von der Vernunft) heißt scientia rationalis, nicht aber Empirica. Sie [sc. die Logik] ist eine Wißenschaft aus der Vernunft, und hat auch dieselbe zu ihrem obiect, wodurch sie sich von andern scientiis rationalibus unterscheidet. Die Logic ist die einzige Wißenschaft, die der Materie nach rational ist, andre Wißenschaften sind nur der Form nach rational. Die Logic ist der Form nach rational, weil sie aus der Vernunft geschöpft, [und] auch der Materie nach rational, weil ihr Obiect die Vernunft ist. Zur definition der Logic gehöret, daß sie die allgemeinen Gesezze des Verstandes [und der Vernunft] zum Obiect habe, daß sie aber der Form nach rational sey, gehöret nicht in die Definition der Logic, sondern in so fern sie nur [lies: sondern nur insofern sie] der Materie nach rational ist. [ . . . ] Wenn die Logic scientia rationalis genent wird; so ist dieser Ausdruk 2 deutig, denn scientia rationalis wird bisweilen der Form nach genommen, da man sie von allen empyrischen Prinzipien unterscheidet. Es wird aber die Logic scientia rationalis [eigentlich nicht] deswegen genant, weil sie Prinzipien a priori (oder die von keiner Erfahrung abhangen) in sich enthält. Die eigentliche Uhrsache aber [lies: vielmehr] ist, weil ihr Obiect Nichts weiter als der Verstand und die Vernunft selbst ist. (Ed. Pinder 277 f, 280)
Die Frage, aus welchem Grund die Logik den Namen ,Vernunftwissenschaft' tragen kann, stimmt mit der Frage überein, was (als spezifische Bestimmung) „zur Definition der Logik gehört": Zwar ist die Logik sowohl der Form nach als auch der Materie nach eine rationale Wissenschaft, aber ihre formale Rationalität macht nicht die einzigartige Natur der Logik aus und ist insofern nicht das entscheidende Moment für ihre Definition, die gerade ihre charakteristische Besonderheit zum Ausdruck bringen soll. In ihrer artbildenden Differenz zu anderen scientiae rationales wird die Logik nur bestimmt, wenn in ihrer Denomination „Vernunftwissenschaft" unter .Vernunft' die Materie der Wissenschaft ,Logik' verstanden wird, oder anders gesagt: wenn in ihrem Namen .Wissenschaft der Vernunft' der Genitiv ,der Vernunft' als genitivus objectivus aufgefaßt wird: Das Wort Logic kommt her von X6yoei's habe Kant nicht wirklich führen wollen. Ich hatte zwar in meinem Buch Krügers Schlussfolgerungen zu widerlegen versucht, und meine Argumente zieht auch Thöle nicht in Zweifel. Aber er meint, sie würden nicht ausreichen, um Krügers Schlussfolgerungen ganz zu entkräften. Schauen wir uns Thöles Überlegungen an. Ich hatte Krüger selbstverständlich eingeräumt, von einem Vollständigkeitsbeweis sei bei Kant nirgendwo explizit die Rede. Aber die Wörtwahl sei nicht entscheidend; Kant ziehe es regelmäßig vor, von einer systematischen Einteilung, von einer Einteilung nach einem Prinzip oder von Ähnlichem
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zu sprechen. Im übrigen sei diese Sprechweise treffend, da der von mir rekonstruierte Beweis die Form einer systematischen, d. h. nach einem Einteilungsprinzip vorgehenden Einteilung hat. In diesem Zusammenhang hatte ich darauf hingewiesen, dass Kant in A 80 f./B 105-7, rückblickend auf die Kategorientafel und rückblickend auf das bereits im ersten Leitfadenabschnitt aufgestellte Einteilungsprinzip, von einer „systematisch aus einem gemeinschaftlichen Prinzip, nämlich dem Vermögen zu urteilen" erzeugten Einteilung spricht, die im Unterschied zu einer „rhapsodistisch [... ] auf gut Glück unternommenen Aufsuchung reiner Begriffe" Gewissheit über deren Vollzähligkeit verschaffen soll. Thöle hält diesen Hinweis für irrelevant, da mit der Einteilung, von der an dieser Stelle die Rede ist, die Einteilung der Kategorien innerhalb der Kategorientafel gemeint sei. Das stimmt natürlich. Aber die viermal dreifache Einteilung der Kategorien setzt die viermal dreifache Einteilung der Urteilsfunktionen voraus. Und auch Thöle sieht, dass „die These von der Vollständigkeit der Kategorientafel wesentlich auf der vorausgesetzten Vollständigkeit der Urteilstafel" „beruht". (S. 480) Erstaunlicher Weise fügt er aber sogleich hinzu: „Besonderer Begründung bedürftig erschien Kant" „diese Voraussetzung" nicht. (S. 480) Erstaunlicher Weise. Denn einen Beleg dafür, dass Kant die Ansicht vertreten habe, die Vollständigkeit der Urteilstafel bedürfe einer 'besonderen Begründung' nicht, bietet Thöle nicht an. Statt dessen verweist er auf drei Äußerungen Kants, die schon Krüger angeführt hatte, um seine Meinung abzustützen, die Vollständigkeit der Urteilstafel brauche nach Kant nicht bewiesen zu werden, Kant meine vielmehr: „Die Tafel selbst [... ] muß uns über ihre Vollständigkeit belehren."3 Aber die drei angeführten Äußerungen leisten nicht, was sie leisten sollen. Von der ersten behauptet Thöle, sie sei „besonders prägnant". (S. 480) Sie lautet: In dem „Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft [... ] kann uns [... ] nichts entgehen, weil, was Vernunft gänzlich aus sich selbst hervorbringt, sich nicht verstecken kann, sondern selbst durch Vernunft ans Licht gebracht wird, sobald man nur das gemeinschaftliche Prinzip desselben entdeckt". (A XX) Diese Stelle belegt das genaue Gegenteil von dem, was sie belegen soll. Denn in ihr wird uns mitgeteilt, uns könne das, was die Vernunft ganz aus sich selbst hervorbringt (z. B. die Gesamtheit der reinen Verstandeshandlungen), gar nicht bekannt werden, es sei denn, wir hätten zuvor das „gemeinschaftliche Prinzip" dessen entdeckt, was die Vernunft ganz aus sich selbst hervorbringt. Kant appelliert hier nicht an introspektive Einsichten, auch nicht an Evidenzerlebnisse und schließlich auch nicht an die Überzeugungskraft tabellarischer Übersichten und sagt nicht, sie müssten uns darüber belehren, was zum Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft gehört. Vielmehr verweist er auf die Vernunft selbst, die alles dies ans Krüger, S. 343; Thöle, S. 481, findet die Überlegungen, die Krüger zu diesem Ergebnis führen, „gut nachvollziehbar".
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Licht bringe. Mit anderen Worten, Kant sagt, durch Denken und durch Ziehen von Schlussfolgerungen haben wir das gesuchte Inventarium ans Licht zu ziehen. Denn Denken und Schließen ist das, was Kant Vernunft nennt. Auch die zweite, von Krüger als „beste Bestätigung" seiner These herangezogene Stelle leistet nicht das Gewünschte. 4 Bei dieser Stelle handelt es sich um den letzten Satz des ersten Leitfadenabschnitts (A 69/B 94): „Daß dies aber sich ganz wohl bewerkstelligen lasse, wird der folgende Abschnitt vor Augen stellen. ' 6 Diese Äußerung soll nach Krüger bestätigen, dass Kant „gedacht haben muß", es müsse „die Vollständigkeit der Urteilstafel [ . . . ] für den, der den bisherigen Überlegungen [sc. des ersten Leitfadenabschnitts] überhaupt folgen konnte, nunmehr vor Augen liegen." 6 Aber Kants Satz sagt nicht aus, es sei die Vollständigkeit der Urteilstafel das, was „der folgende Abschnitt vor Augen stellen" werde, sondern vor Augen gestellt werde, dass sich bewerkstelligen lässt, wovon der vorangehende Satz spricht: „Die Funktionen des Verstandes können also insgesamt gefunden werden, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann." Schließlich zieht Thöle mit Krüger erneut eine Äußerung Kants heran, die einen Beweis der Vollständigkeit der Urteilstafel „sogar ausdrücklich für unmöglich zu erklären" scheine. (S. 481) In § 21 der B-Deduktion heißt es: Von der Eigentümlichkeit unseres Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zustande zu bringen, läßt sich ebensowenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine anderen Funktionen zu urteilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind. (B 145 f.) In meinem Buch hatte ich darauf hingewiesen, dass Krüger hier das Wörtchen „ferner" übersehen hat. Thöle meint nun, es sei grammatisch möglich, „die einschränkende Funktion des Wörtchens 'ferner' durchaus lediglich auf die im ersten Teil des Satzes angesprochene Behauptung" zu beziehen. (S. 482) Kant würde demnach in § 21 sinngemäß sagen: Von der Eigentümlichkeit unseres Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zustande zu bringen, lässt sich kein weiterer Grund angeben; hingegen lässt sich gar kein Grund angeben dafür, warum wir gerade diese und keine anderen Funktionen zu urteilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind. Aber mit dieser Textveränderung liest Thöle nicht nur etwas in § 21 hinein, sondern er verkehrt geradezu das, was § 21 aussagt, in sein Gegenteil. Sinngemäß sagt nämlich Kant dort lediglich aus: 'Ebensowenig wie sich für die Eigentümlichkeit unseres Verstandes ferner ein Grund angeben lässt, ebensowenig lässt sich ferner ein Grund angeben für . . . usw.' 4 5 6
Krüger, S. 343; Thöle, S. 481. Kursivdruck nicht im Original. Klüger, S. 343; Thöle, S. 481.
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Um die vorgeschlagene Textveränderung zu legitimieren, gibt Thöle zu bedenken, dass Kant die Frage nach der Vollständigkeit der Urteilsfunktionen „auf dieselbe Stufe stellt wie die Frage nach der Vollständigkeit der Anschauungsformen". (S. 482) Und er fügt hinzu: „Zwar behauptet Kant, dass 'die transzendentale Ästhetik nicht mehr als diese zwei Elemente, nämlich Raum und Zeit, enthalten könne' - von einem Völlständigkeitsfoew>eis kann aber beim besten Willen keine Rede sein." (S. 482) Mit anderen Worten: Thöle meint, würden wir den Text von § 21 so nehmen, wie ich es vorgeschlagen hatte, so würde darin etwas angenommen, was sich mit Kants sonstigen Ausführungen 'beim besten Willen' nicht verträgt. Gern sei zugegeben: das Wort „Vollständigkeitsbeweis" benutzt Kant weder im Hinblick auf die Elemente der transzendentalen Logik noch im Hinblick auf die der transzendentalen Ästhetik. Er zieht es, wie gesagt, vor, von systematischen Einteilungen zu sprechen oder von Einteilungen, die auf einem (Einteilungs-)Prinzip oder auf einem (Einteilungs-)Grund beruhen, usw. So ist denn ja auch in § 21 ausdrücklich nur von der Angabe eines Grundes, nicht von einem Beweis die Rede. Einen Grund für die Einteilung der Anschauungsformen von Raum und Zeit deutet Kant freilich bereits in den ersten Sätzen von § 2 der Kritik der reinen Vernunft an. Hier wird der innere vom äußeren Sinn unterschieden und gleich anschließend erklärt, der Raum könne nicht mit dem inneren Sinn, die Zeit nicht mit dem äußeren Sinn angeschaut werden. Auf dieser Erklärung basiert die in der A-Auflage durchgehaltene Einteilung der Anschauungsformen, nach der sie Formen der Anschauung entweder des äußeren oder des inneren Sinnes sind. Daraus, dass es einen dritten Sinn nicht gibt, folgt, dass Raum und Zeit die beiden einzigen Anschauungsformen sind. Ein weiterer Grund lässt sich nach der A-Auflage nicht angeben. Die B-Auflage, zu der § 21 gehört, gibt einen weiteren Grund an. Sie führt die Einteilung zwischen innerem und äußerem Sinn auf einen tiefer liegenden Einteilungsgrund zurück, indem sie den Gedanken zugrundelegt, Sinn sei die Fähigkeit, sich affizieren zu lassen, - im Gegensatz zur Fähigkeit, spontan Funktionen auszuüben. Die Einteilung der Sinne in den inneren und den äußeren Sinn war schon in der A-Auflage natürlich nicht räumlich gemeint. Aber wie sie gemeint war, ließ sie noch einigermaßen im Unklaren. Die B-Auflage klärt diesen Punkt auf, indem sie den inneren Sinn als die Fähigkeit bestimmt, sich „durch die eigene Tätigkeit des Gemüts" (§ 8, B 67 f., vgl. § 24 B 152-6) affizieren zu lassen. Dementsprechend ist der äußere Sinn die Fähigkeit, sich von etwas Anderem als dem eigenen Gemüt affizieren zu lassen. Die aus dieser Beschreibung folgende Einteilung hat erstens den Vorteil, dass sie die Metaphorik von Innen und Außen vermeidet, und zweitens, dass sie als vollständige Einteilung sogleich einsichtig ist. Sie macht eigentlich erst verständlich, warum es gar nicht möglich ist, dass die transzendentale Ästhetik mehr „als diese zwei Elemente, nämlich Raum und Zeit" enthält (A 41/B 58).
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Kants Bemerkung, es sei auch „klar", dass dies nicht möglich sei - diese Unmöglichkeit sei nämlich „daraus klar, weil alle anderen zur Sinnlichkeit gehörigen Begriffe, selbst der der Bewegung, welcher beide Stücke vereinigt, etwas Empirisches voraussetzen" (A 41/B 58) - , weist darauf hin, dass nicht einmal durch die bloße Verbindung der Vorstellungen von Raum und Zeit etwas Drittes erzeugt werden kann, das noch zu den Gegenständen der transzendentalen Ästhetik gezählt werden dürfte. Kant zeigt hier einen Unterschied auf, der gegenüber den Einteilungen der transzendentalen Logik besteht: Während Urteilsfunktionen und Kategorien eine 'synthetische Einteilung a priori', nämlich eine logische Dekomposition zulassen, lassen die Anschauungsformen von Raum und Zeit keine solche Einteilung zu. Wie immer man die Ausführungen im Einzelnen zu verstehen hat, mit denen Kant die Einteilung der Anschauungsformen begründet, jedenfalls liegt es auf der Hand, dass sich Kant in beiden Auflagen in der Lage gesehen hat, einen Grund dafür anzugeben, warum Raum und Zeit die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind. Dieser Grund besteht einfach darin, dass es nicht mehr als zwei Arten gibt, sich affizieren zu lassen, nämlich entweder innerlich oder äußerlich, bzw. durch eigene Gemütstätigkeit oder nicht durch eigene Gemütstätigkeit. Nur sah sich Kant eben nicht in der Lage, über den erwähnten Grund hinaus einen iveiteren Grund anzugeben. Da es nun freilich richtig ist, dass Kant die Frage nach der Vollständigkeit der Urteilsfunktionen „auf dieselbe Stufe stellt wie die Frage nach der Vollständigkeit der Anschauungsformen", ist es offensichtlich völlig abwegig, mit § 21 die Meinung abstützen zu wollen, Kant habe einen Beweis der Vollständigkeit der Urteilstafel „sogar ausdrücklich für unmöglich" erklärt. Andere Text-Belege hat Thöle nicht ins Spiel gebracht. Die Einwürfe, mit denen er plausibel machen will, Kant habe für seine Behauptung, die Urteilstafel sei vollständig, keine Begründung geben wollen oder eine solche Begründung sogar für unmöglich gehalten, zielen ins Leere. Krügers Ansicht, es sei angebracht, Kant so auszulegen, als habe er angenommen, „die Tafel selbst" müsse uns „über ihre Vollständigkeit belehren", war schon deshalb so unbefriedigend, weil sie Kant eine Annahme unterstellt, die, bei hellem Tageslicht betrachtet, nicht einmal verständlich ist. Wie denn eigentlich sollte die Tafel es anstellen, uns über ihre Vollständigkeit zu belehren? Krüger hat uns dies nicht mitgeteilt. Thöle meint, Krüger verstanden zu haben. Aber warum hat Thöle uns nicht mitgeteilt, was er verstanden hat? Im Grunde ist es immer ein Kunstfehler, wenn jemand, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die verborgenen Absichten eines Autors offen zu legen, zu diesem Zweck bereit ist, ihm Ansichten zu unterstellen, die nicht einmal verständlich sind. Thöle müsste uns nicht nur sagen können, wie die Belehrung auszusehen hätte, die uns die Urteilstafel über ihre Vollständigkeit erteilen muss, sondern er müsste uns sogar erklären können, wie es möglich sein soll, dass diese Belehrung zuverlässig ist. Denn Kant verlangt, dass die Vollständigkeit der Kategorientafel „mit Zuverlässigkeit" (A 64/B 89) ange-
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nommen werden kann; und da er die Vollständigkeit der Kategorientafel von der Vollständigkeit der Urteilstafel abhängig gemacht hat, verlangt er a fortiori, dass auch ihre Vollständigkeit mit Zuverlässigkeit angenommen werden kann, es sei denn, es findet eine petitio principii statt. Oder wollte Thöle vielleicht nur sagen, er glaube weder, Kant habe etwas Verständliches gemeint, noch, er habe ein fehlerhaftes Argument vermieden? Das hätte er mit geringerem Aufwand sagen können.
3• Exegetische Details Wird mein Rekonstruktionsversuch dem Text Kants gerecht? Nachdem wir gesehen haben, dass es keinen Grund gibt, an der Absicht Kants zu zweifeln, er habe in der Kritik der reinen Vernunft eine systematische, nach einem Prinzip zuverlässig verfahrende Einteilung der Urteilsfunktionen vornehmen wollen, bleibt jetzt nur noch zu fragen, ob diese Einteilung der Rekonstruktion entspricht, die ich in meinem Buch vorgenommen habe. Nach Thöles Ansicht ist diese Rekonstruktion mit dem Text Kants unverträglich. Schauen wir uns an, worauf seine Ansicht beruht. Unter der Überschrift 'Wolffs Interpretation des ersten Leitfadenabschnitts' (S. 483) diskutiert er eine Reihe exegetischer Probleme, die nach seiner Ansicht Lösungen erforderlich machen, die mit meiner Interpretation unverträglich sind. Das erste Problem liegt in den beiden letzten Sätzen des ersten Leitfadenabschnitts. Sie lauten: „Die Funktionen des Verstandes können also insgesamt gefunden werden, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann. Daß dies aber sich ganz wohl bewerkstelligen lasse, wird der folgende Abschnitt vor Augen stellen." (A 69/B 94) Thöle hält es aus einem mir nicht deutlich gewordenen Grund für „naheliegend" (S. 483), der erste dieser beiden Sätze sei gleichbedeutend mit einem Satz, der in Kants Text bereits ein paar Zeilen vorher vorkommt und den er jetzt nur wiederhole als einen Satz, der durch die dazwischen stehenden Sätze nunmehr begründet sei. Und zwar soll er soviel bedeuten wie: 'Alle Verstandeshandlungen sind auf das Urteilen zurückführbar.' (S. 483) Nach dieser Deutung kann der nachfolgende Satz dann sinngemäß nichts Anderes aussagen als: 'Der folgende Abschnitt wird vor Augen stellen, dass sich die Zurückführung aller Verstandeshandlungen auf das Urteilen bewerkstelligen lässt.' Dass diese Deutung der beiden fraglichen Sätze naheliegend ist, wird man schon deshalb nicht annehmen dürfen, weil sie implizit davon ausgeht, dass mit ihnen dem zweiten Leitfadenabschnitt eine Aufgabe zugewiesen wird, die im ersten Leitfadenabschnitt bereits erledigt wurde, nämlich die Aufgabe zu zeigen, dass alle Verstandeshandlungen auf das Urteilen zurückführbar sind.
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Hier scheint nun Thöle anzunehmen, es bestehe ein Unterschied in der Art der Bewältigung dieser Aufgabe. Während nämlich der erste Leitfadenabschnitt nur behauptet und begründet, dass alle Verstandeshandlungen auf das Urteilen zurückführbar sind, listet der zweite Leitfadenabschnitt, mit der Urteilstafel, zwölf Urteilsfunktionen auf und benennt auf diese Weise, welche Verstandeshandlungen es sind, die auf das Urteilen zurückführbar sind. Thöle schlägt vor, die zitierte Bemerkung Kants „so zu verstehen, dass sie zum Ausdruck bringen soll, dass mit der Präsentation der im folgenden Abschnitt vor Augen gestellten zwölf i/rtei7sfunktionen eben alle Verstandesfunktionen gefunden werden können, weil sich alle Verstandeshandlungen auf diese zwölf Urteilsfunktionen zurückführen lassen". (S. 483-4) Kants These von der Zurückführbarkeit aller Verstandeshandlungen auf das Urteilen bedeutet demnach soviel wie die These: Jede Verstandeshandlung kann mit einer der zwölf Urteilsfunktionen gleichgesetzt werden. Diese These ist es nach Thöles Interpretationsvorschlag also eigentlich, die Kant mit Hilfe des Satzes ausdrücken möchte: „Die Funktionen des Verstandes können also insgesamt gefunden werden, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann." Aber dass dieser Interpretationsvorschlag irgendwie 'naheliegen' sollte, ist nicht einzusehen. Erstens setzt er voraus, dass es möglich ist, Urteilsfunktionen unmittelbar, d. h. ohne eine bestimmte heuristische Regel oder ein bestimmtes heuristisches Verfahren anzuwenden, vollständig anzugeben (oder 'darzustellen')- Das heißt, er setzt voraus, dass Kant der Urteilstafel die Aufgabe aufbürdet, uns über ihre Vollständigkeit belehren zu müssen. Er setzt zweitens voraus, dass, nachdem schon gezeigt ist, dass alle Verstandeshandlungen Urteilsfunktionen sind, die Anwendung eines besonderen heuristischen Verfahrens zur Auffindung der Verstandeshandlungen überflüssig ist. Denn mit den Urteilsfunktionen, die in der Urteilstafel aufgezählt werden, können die Verstandeshandlungen gleichgesetzt werden. Deshalb muss es eigentlich überraschen, dass Kant am Ende des ersten Leitfadenabschnitts in Aussicht stellt, die Verstandeshandlungen könnten „insgesamt gefunden werden", vorausgesetzt, die Urteilsfunktionen lassen sich „darstellen". Drittens macht dieser Interpretationsvorschlag nicht verständlich, warum Kant in der angekündigten Tafel vier Klassen aufzählt, obwohl er nur eine Aufzählung von zwölf Urteilsfunktionen und Verstandeshandlungen ankündigt. Völlig unmotiviert und ohne Vorbereitung scheint Kant erst im zweiten Leitfadenabschnitt die vier Klassen ins Spiel zu bringen. Viertens übersieht Thöles Interpretationsvorschlag, dass Kants These von der Zurückführbarkeit aller Verstandeshandlungen auf das Urteilen nicht einfach gleichgesetzt werden darf mit der Behauptung, jede Verslandesfunktion sei eine der zwölf Urteilsfunktionen. Aus Kants Zurückführbarkeitsthese folgt nämlich, wie Kant selbst ausdrücklich hervorhebt, dass „der Verstand überhaupt", d. h. das ganze sogenannte obere Erkenntnisvermögen, „als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann". (A 69/B 94) Diese These muss
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daher so verstanden werden, dass sie sich auf die drei operationes intellectus des Begreifens, Urteilens und Schließens bezieht. Dass diese Handlungen auf das Urteilen 'zurückgeführt werden können', gibt eine Ansicht wieder, die Kant seit seiner frühen Schrift über Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren vertreten hat und die sich in erster Linie gegen die traditionelle Lehre vom Begreifen als einer apprehensio simplex richtet. - Wenn aber die Zurückführbarkeitsthese so zu verstehen ist, darf man den vorletzten Satz des ersten Leitfadenabschnitts, wie Thöle ihn versteht, nicht mit dieser These gleichsetzen. Dann aber kann auch das Wörtchen „also" in diesem Satz nicht so erklärt werden, wie Thöle es erklären möchte. Thöles Interpretationsvorschlag hängt demnach von Voraussetzungen ab, die nicht erfüllt sind oder deren Erfülltsein zumindest nicht offensichtlich ist. Dass sie nicht, oder jedenfalls nicht offensichtlich, erfüllt sind, habe ich bereits in meinem Buch ausführlich dargelegt. Warum hat Thöle dann seinen Vorschlag überhaupt gemacht und meine Auskünfte, auf die er sich nicht einlässt, ignoriert? Die Antwort ist: Er hat sich genötigt gesehen, zu meiner Auslegung der beiden Schlusssätze des ersten Leitfadenabschnitts eine Alternative anzubieten. Denn seine mit Strenge vorgebrachte Behauptung ist, dass meine Auslegung eine „ziemlich willkürliche Interpretation" sei. (S. 483) Dies bedeutet, dass ich nach seiner Behauptung zwischen mehreren möglichen Auslegungen zu wählen hatte und es für meine Entscheidung in dieser Wahl keinen vernünftigen Grund gibt. Worin liegt die angebliche Willkür meiner Interpretation? Ich hatte darauf hingewiesen, dass die beiden Schlusssätze des ersten Leitfadenabschnitts „auf den ersten Blick rätselhaft sind, da sie einen Zirkel beschreiben, wenn sie sagen sollen, man könne Funktionen 'finden', wenn man sie 'darstellen kann'". Ich hatte angenommen, dass „das Darzustellende auf jeden Fall bekannt sein muss, bevor es dargestellt werden kann", es also nicht möglich ist, das Darzustellende zu finden, indem man es darstellt. Deshalb habe ich vorgeschlagen, den angedeuteten Zirkel aufzulösen mit Hilfe der Annahme, dass Kant mit dem Darzustellenden und mit dem zu Findenden Verschiedenes meint, nämlich mit dem Darzustellenden etwas, was uns aufgrund der Ausführungen des ersten Leitfadenabschnitts bereits bekannt ist, und mit dem zu Findenden etwas, was erst im zweiten Leitfadenabschnitt vorgestellt werden soll. Und diese Auflösung des Zirkels passte dann ganz harmonisch zu den Ergebnissen aller voranstehenden Analysen des Textes des ersten Leitfadenabschnitts und im übrigen auch zum Wortlaut dessen, was im Text des unmittelbar nachfolgenden ersten Satzes des zweiten Leitfadenabschnitts steht. Das heißt, es ergab sich wie von selbst, dass Kant mit dem Darzustellenden die vier im ersten Leitfadenabschnitt vorkommenden Arten von £/rtez'/s Funktionen gemeint haben muss, und dass er mit dem zu Findenden die zwölf Versiani/esfunktionen gemeint haben muss, deren Auffindung das eigentliche heuristische Ziel des ganzen Leitfadenkapitels ausmacht. Von diesen Verstan-
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desfunktionen muss der Leser am Ende des ersten Leitfadenabschnitts noch nicht wissen, dass ihnen logische Urteilsformen korrespondieren. Das aufzuklären, ist erst Sache des zweiten Leitfadenabschnitts. Worüber ihn aber der erste Leitfadenabschnitt (nach meiner Analyse) am Ende bereits aufgeklärt hat, das ist, erstens, der Umstand, dass alle aufzufindenden Verstandesfunktionen Urteilsfunktionen sein müssen, und zweitens der Umstand, dass jeder dieser Urteilsfunktionen ein reiner Verstandesbegriff korrespondiert, da (reine Verstandes-)Begriffe auf (reinen Verstandes-)Funktionen beruhen. (A 68/B 93) Thöle findet an dieser Interpretation meine Aussage willkürlich, es sei nicht anzunehmen, Kant habe das, was er als das Darzustellende bezeichnet, identifiziert mit dem, was er als das zu Findende bezeichnet. „Warum", so möchte Thöle hier wissen, „soll man nicht etwas finden können, indem man es darstellt?" (S. 483) Er hätte besser fragen sollen: Warum soll man nicht Kant die Ansicht unterstellen, man könne etwas finden, indem man es darstellt? Die Antwort auf diese Frage ist: Weil man keinem Autor, dessen Texte interpretationsbedürftig und interpretationswürdig erscheinen, Ansichten unterstellen sollte, deren Inhalt man selbst nicht versteht. Thöles Frage ist natürlich bloß rhetorisch gemeint. Das heißt, er selbst scheint ernsthaft zu meinen, es sei möglich, dass man etwas findet, indem man es darstellt. Etwas von dieser Art wird man denn auch tatsächlich meinen müssen, wenn man der Urteilstafel zutraut, sie habe im Zusammenhang der Heuristik des Leitfadenkapitels die Aufgabe zu erfüllen, uns (und ihren Autor) darüber zu belehren, dass die Verstandesfunktionen, die sie darstellt, alle Verstandesfunktionen sind, die man finden kann. Das erste der vier Interpretationsprobleme, die Thöle diskutiert, ist daher im Grunde kein Problem, dessen Auflösung unvereinbar wäre mit der von mir vorgeschlagenen Interpretation des ersten Leitfadenabschnitts, sondern es ergibt sich lediglich daraus, dass Thöle voraussetzt, die Urteilstafel müsse uns selbst über ihre Vollständigkeit belehren. Das zweite Interpretationsproblem, das Thöle diskutiert, ergibt sich dagegen aus Schwierigkeiten, die mit der von mir oben beschriebenen Skizzenhaftigkeit des ersten Leitfadenabschnitts zusammenhängen. Thöle schreibt: Wenn Wolfis Annahme zuträfe, dass Kant im ersten Leitfadenabschnitt tatsächlich jene vier Grundfunktionen herleiten wollte, dann wird man wohl sagen müssen, dass er sich besondere Mühe gegeben hat, diese Absicht zu verbergen. Der Text enthält keine entsprechenden Ankündigungen. Von vier Grundfunktionen ist an keiner Stelle des Textes die Rede. Keine der von Wolff benannten Grundfunktionen wird explizit erwähnt. (S. 484)
Die Hypothese, Kant habe sich mit dem Verbergen seiner Absicht Mühe gegeben, würde ich lieber durch die plausiblere Hypothese ersetzen, Kant habe bei der in wenigen Monaten ausgeführten Niederschrift der Kritik der reinen Vernunft für den Text des ersten Leitfadenabschnitts einen schon fer-
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tigen Entwurf verwendet und diesen (aus Zeitnot oder aus anderen Gründen) nur geringfügig überarbeitet. Im übrigen sind Thöles Feststellungen zwar zutreffend, allerdings folgt aus ihnen kein Einwand gegen meine Interpretation. Der stillschweigende Vorwurf, ich hätte in den Text zuviel hineingelesen, ist aus Thöles Feststellungen auch nur deshalb herauszuhören, weil er es unterlässt, sie durch ein gehöriges Aber zu ergänzen. So ist es zwar richtig, dass die Herleitung der vier Grundfunktionen nicht angekündigt wird. Aber Kant kündigt in der Einleitung des Leitfadenkapitels, und zwar unmittelbar vor dem Eintritt in den ersten Leitfadenabschnitt, ausdrücklich an, dass es in den folgenden Abschnitten, also auch im ersten Leitfadenabschnitt, darum gehe, die Kategorien, d. h. die von ihm wiederholt als Verstandesfunktionen bezeichneten reinen Verstandesbegriffe, „nach einem Prinzip aufzusuchen" und aufgrund dieses Prinzips zu einer „Regel" zu gelangen, „nach welcher jedem reinen Verstandesbegriff seine Stelle und allen insgesamt ihre Vollständigkeit a priori bestimmt werden kann, welches alles sonst vom Belieben, oder vom Zufall abhängen würde". Denn die „Transzendental-Philosophie" habe „den Vorteil, aber auch die Verbindlichkeit, ihre Begriffe nach einem Prinzip aufzusuchen". (A 67/B 92) Hier fällt zwar nicht das Wort 'Grundfunktion', das Kant sowieso nicht verwendet. Wohl aber können wir, in Kenntnis des Inhalts des ersten Leitfadenabschnitts, sagen, dass sich Kants Ankündigung so deuten lässt, dass die Regel, von der er spricht, Obersatz eines disjunktiven Schlusses ist, von dem Gebrauch zu machen ist, wenn es darum geht, einem der reinen Verstandesbegriffe, die aus Metaphysikbüchern geläufig sind (Substanz, Realität, Ursache etc.), eine bestimmte Stelle in der Kategorientafel anzuweisen und festzustellen, welche Stellen in der Tafel besetzt werden müssen, damit sie alle reinen Verstandesbegriffe enthält.7 Dieser Schluss hat die Form Eine Verstandesfunktion X ist eine Urteilsfunktion entweder der Klasse A oder der Klasse B oder der Klasse C oder der Klasse D. Der reine Verstandesbegriff Y ist eine Verstandesfunktion X. Also ist der reine Verstandesbegriff Y entweder usw. Man könnte diese Schlussform mit guten Gründen als das wichtigste Instrument der von Kant konzipierten Kategorien-Heuristik ansehen; sie bildet gleichsam die Hauptfaser des Leitfadens. Nach meiner Interpretation des ersten Leitfadenabschnitts besteht das Hauptziel dieses Abschnitts darin zu zeigen, dass es eine vierteilige Regel gibt, die in einem Schluss dieser Form die Stelle des Obersatzes einnehmen kann. Zweitens wird in diesem Abschnitt Dass Kant für den Obersatz eines Schlusses den Ausdruck 'Regel' verwendet, setze ich hier als bekannt voraus. - Thöle hätte eigentlich eine Alternative zu meiner Interpretation dieses Ausdrucks und seines Kontextes vorschlagen müssen, um plausibel zu machen, dass Kant im ersten Leitfadenabschnitt gar keine Regel in dem von mir beschriebenen Sinne angeben möchte.
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der Grundgedanke entwickelt, auf dem der Untersatz in einem Schluss dieser Form beruht, nämlich der Gedanke, dass alle Begriffe auf Funktionen beruhen. Und drittens wird in diesem Abschnitt dargelegt, von welchem Prinzip die Heuristik des Leitfadenkapitels, und damit auch die Regel, nach der sie verfährt, abhängt. Dieses Prinzip ist die These, dass alle Verstandeshandlungen auf das Urteilen zurückführbar sind, so dass der Verstand überhaupt, d. h. das ganze obere Erkenntnisvermögen, ein Vermögen zu urteilen ist. Mit der in § 10 gegebenen Auskunft, die Einteilung der Kategorientafel beruhe auf einem „gemeinschaftlichen Prinzip, nämlich dem Vermögen zu urteilen" (A 80 f./B 106), wird dem Leser im Grunde nichts mitgeteilt, was er als Leser des ersten Leitfadenabschnitts nicht auch von selbst hätte einsehen können. Auch die andere Feststellung Thöles, es sei an keiner Stelle des Textes von vier Grundfunktionen die Rede und keine der von mir benannten Grundfunktionen werde explizit erwähnt, kann durch ein Aber ergänzt werden. Zwar ist es so, wie er sagt. Aber erwähnt werden explizit Handlungsweisen, die den vier Grundfunktionen der Reihe nach entsprechen, nämlich: 1. der Gebrauch eines Begriffs in einem Urteil, in dem dieser Begriff auf eine Vorstellung bezogen wird, die gleichfalls ein Begriff ist (A 68/B 93), 2. das unmittelbare Beziehen einer Vorstellung, die in einem Urteil vorkommt, auf einen bestimmten Gegenstand (A 68/B 93), 3- das Beziehen eines Begriffs als eines Prädikats möglicher Urteile auf einen noch unbestimmten Gegenstand (A 69/B 94), 4. das Urteilen (A 68/B 93). Es ist zwar richtig, dass Kant diese vier Handlungsweisen nicht mit Hilfe derselben Terminologie klassifiziert, in der ich sie klassifiziert habe. Aber durch den logischen Aufbau seines Gedankengangs, durch Erläuterungen und durch Beispiele, die wenn auch interpretationsbedürftig, so doch aufschlussreich genug sind, macht Kant hinreichend deutlich, dass es die vier aufgezählten „Funktionen der Einheit in den Urteilen" gibt. Da diese Funktionen Arten des sogenannten 'logischen Verstandesgebrauchs' sind, kann man in der Überschrift des ersten Leitfadenabschnitts eine Ankündigung der Abhandlung dieser Arten erkennen. 8 Das dritte Interpretationsproblem, das Thöle diskutiert, bezieht sich auf den Anfang des zweiten Leitfadenabschnitts. Thöle schreibt: „Träfe Wolffs Annahme zu [sc. dass Kant im ersten Leitfadenabschnitt tatsächlich genau vier Schon bemerkenswert ist, dass es Thöle als eigene „These" hingestellt hat (S. 485), „dass die Aufgabe des ersten Leitfadenabschnitts allein in dem Nachweis besteht, dass alle Verstandeshandlungen auf £/rte»7ifunktionen zurückführbar sind", und diese These mit dem Hinweis auf zwei Sätze dieses Abschnitts belegt. Ich stimme dieser These ausdrücklich zu und richte an Thöle nur die Frage, was ein „Nachweis" der Richtigkeit einer All-Aussage eigentlich sein soll, wenn er kein Beweis von Vollständigkeit sein soll.
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Grundfunktionen herleiten wollte], dann würde man erwarten, dass Kant in der kurzen Passage des zweiten Leitfadenabschnitts, die der Urteilstafel unmittelbar vorhergeht, etwa Folgendes gesagt hätte: 'Im vorigen Abschnitt fanden wir vier Grundfunktionen des Urteilens. Da jede dieser vier Grundfunktionen drei Momente unter sich enthalten muss, können wir - wenn wir die aus der Logik bekannten Formen des Urteils betrachten - jeder der vier Grundfunktionen drei Elementarfunktionen so zuordnen, wie sie in der folgenden Tafel vorgestellt werden.' Statt dessen lesen wir bei Kant: Wenn wir von allem Inhalt eines Urteils überhaupt abstrahieren, und nur auf die bloße Verstandesform darin achtgeben, so finden [nicht: fanden]9 wir, dass die Funktion des Denkens in demselben unter vier Titel gebracht werden könne, deren jeder drei Momente unter sich enthält. Sie können füglich in folgender Tafel vorgestellt werden. (A 70/B 95) Von einer Vierteilung ist erst hier zum ersten Mal explizit die Rede, und Kants Formulierung macht klar, dass wir eben auch erst jetzt 'finden', dass die Funktion des Denkens im Urteilen unter vier Titel gebracht werden kann." (S. 484) Zunächst: Von einer Vierteilung ist hier keineswegs zum ersten Mal explizit die Rede. Denn von einer Vierteilung ist hier gar nicht, weder explizit noch implizit, die Rede. Das Bringen unter vier Titel setzt vielmehr eine vierfache Einteilung schon voraus. Ohne eine solche Einteilung wüsste man nämlich gar nicht, was unter vier Titel gebracht werden sollte. Und noch etwas: Nach meiner Interpretation 'fanden' wir keineswegs im ersten Leitfadenabschnitt, dass die vier Grundfunktionen unter vier Titel gebracht werden können. Vielmehr ist es im heuristischen Verfahren Kants ein wesentlich neuer Schritt, dass nun, im zweiten Leitfadenabschnitt, diese Funktionen zugeordnet werden zu logischen Urteilsformen. Diese Zuordnung beschreibt Kant in der Weise, dass er von 'Titeln', unter die in Logikbüchern (in denen man 'von allem Inhalt eines Urteils überhaupt abstrahiert, und nur auf die bloße Verstandesform darin achtgibt') logische Urteilsformen gebracht werden, behauptet, man könne unter sie (auch) die 'Funktion des Denkens' (nämlich den vierfach eingeteilten logischen Verstandesgebrauch) bringen. Schließlich noch ein dritter Punkt: Die Möglichkeit, jeder der vier Grundfunktionen drei Elementarfunktionen zuzuordnen, hängt nach Kant (wenn meine Rekonstruktion richtig ist) keineswegs von der Prämisse ab, dass jede dieser Funktionen drei Momente unter sich enthalten muss. Kant scheint vielmehr sagen zu wollen, dass wir die drei Momente in allen vier Fällen erst dadurch finden, dass wir die vier Grundfunktionen unter die vier erwähnten Titel bringen, indem wir sie damit nämlich vier Klassen logischer Urteilsformen zuordnen. Weil wir in Logikbüchern unter dem 'Titel' Quantität z. B. die Formen des universellen, partikulären und singulären Urteils finden, finden wir, dass diesen drei Formen drei reine Verstandesfunktionen entsprechen. Das Heranziehen von Logikliteratur ist für Kants heuristisches Verfahren im Thöles Einfügung.
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Hinblick auf jede der vier Grundfunktionen unerlässlich. Dieser Umstand mindert nicht die Gewissheit, dass es genau vier Klassen logischer Urteilsformen gibt. Denn weil, ganz unabhängig von Rücksichten auf Logikliteratur, bewiesen wurde, dass es nicht mehr als vier Grundfunktionen des Denkens gibt und diesen Funktionen Klassen logischer Urteilsformen entsprechen, kann es nicht mehr als vier Klassen logischer Formen geben. Ich habe in meinem Buch darauf hingewiesen, dass das Leitfadenkapitel keinen Versuch zu erkennen gibt, nach welchem Einteilungsverfahren die dreifache Einteilung der als 'Momente' bezeichneten Verstandesfunktionen zustande kommt. Kant scheint einfach sagen zu wollen: Wir finden, zugleich mit der Zuordnung der vier Grundfunktionen zu vier Klassen logischer Urteilsfunktionen, dass jede dieser Klassen drei Elemente enthält, nämlich drei logische Urteilsformen, und dies lässt den Schluss zu, dass diesen drei Urteilsformen jeweils drei Verstandesfunktionen entsprechen, die wir nach den logischen Urteilsformen benennen dürfen. Aus welchem Grund es sich um jeweils genau drei Elemente handelt, darüber sagt die Kritik der reinen Vernunft nichts. Über diesen Grund gibt erst die Kritik der Urteilskraft nachträgliche Auskunft, indem sie die Form dreifacher Einteilungen, die in der 'reinen Philosophie' vorkommen, als Form 'synthetischer Einteilungen a priori' (logische Dekompositionen) kennzeichnet und näher beschreibt. Ich habe in meinem Buch erläutert, inwiefern es einen durchaus vernünftigen Sinn macht, die vier Trichotomien der Verstandesfunktionen, die aus der Urteilstafel folgen, als logische Dekompositionen zu deuten; siehe oben. Die Tatsache, dass die Kritik der reinen Vernunft selbst keine Auskunft über die logischen Dekompositionen gibt, die den vier Trichotomien der Urteilstafel zugrunde liegen, bedeutet freilich nicht, dass es im Leitfadenkapitel gar keinen Versuch geben würde zu rechtfertigen, dass in der Urteilstafel unter jedem Titel drei Dinge aufgezählt werden. Diese Rechtfertigung findet vielmehr, und zwar vergleichsweise ausführlich, für alle vier Trichotomien in direktem Anschluss an die Aufstellung der Urteilstafel statt. Sie findet in der Weise statt, dass zunächst, in den Ziffern 1 und 2 des zweiten Leitfadenabschnitts, begründet wird, warum es falsch wäre zu meinen, mit dem singulären und unendlichen Urteil werde unter den ersten beiden Titeln der Urteilstafel jeweils zuviel aufgezählt. In den Ziffern 3 und 4 wird anschließend begründet, warum es falsch wäre zu meinen, im Rest der Urteilstafel werde zuwenig aufgezählt. Wie diese Begründungen im einzelnen aussehen, kann man dem ausführlichen Kommentar entnehmen, den mein Buch zu jedem der vier Ziffern enthält. Was die kurze Passage am Anfang des zweiten Leitfadenabschnitts betrifft, die Kant der Urteilstafel vorangestellt hat, um darin anzukündigen, dass wir „finden", die Funktion des Denkens im Urteil könne „unter vier Titel gebracht werden", so steht sie mit meiner Annahme, Kant habe im ersten Leitfadenabschnitt eine vierfache Einteilung in Bezug auf diese Funktion durchgeführt und durchführen wollen, in vollem Einklang. Thöles Einwurf, diese Annah-
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me lasse den Leser im Gegenteil einen ganz anderen Text „erwarten", beruht einfach darauf, dass er meint, das Bringen unter vier Titel sei dasselbe wie eine vierfache Einteilung. Nur deshalb glaubt er, schließen zu dürfen, Kant wolle in dieser Passage eine „Vierteilung" ankündigen, und nur deshalb zieht er nicht einmal die Möglichkeit in Betracht, dass, auch in Kants Augen, bereits eingeteilt ist, was er in der Urteilstafel unter vier Titel bringt. Nun zum vierten und letzten der Interpretationsprobleme, die Thöle aufwirft. Es hängt damit zusammen, dass er meint, erst der zweite Leitfadenabschnitt führe eine vierfache Einteilung der Urteilsfunktionen aus und der erste Leitfadenabschnitt enthalte keine explizite Erwähnung von vier Grundfunktionen. Thöle vermisst dementsprechende „Differenzierungen" innerhalb des ersten Leitfadenabschnitts und meint, dass ich sie „eher in den Text hereinals herausgelesen" habe. (S. 484-5) Er schreibt: „Meine These" ist, „dass die Aufgabe der ersten Leitfadenabschnitts allein in dem Nachweis besteht, dass alle Verstandeshandlungen auf i/rtei'Munktionen zurückführbar sind." (S. 485) Es sei „in dem gesamten Text des ersten Leitfadenabschnitts nur von einer einzigen Grundfunktion die Rede: nämlich dem prädikativen Begriffsgebrauch, der mit dem Urteilen identifiziert wird. Ja man könnte Kants zentrales Anliegen im ersten Leitfadenabschnitt geradezu so beschreiben, dass es ihm um den Nachweis ging, dass alle Verstandeshandlungen nur Momente des prädikativen Begriffsgebrauchs sind. Es ist daher auch verständlich, wieso Kant im ersten Absatz des zweiten Leitfadenabschnitts von 'der Funktion des Denkens' im Urteilen im Singular spricht. Die verschiedenen, in der Urteilstafel aufgelisteten Funktionen sind eben nur verschiedene Momente der einen, prädikativen Urteilsfunktion." (S. 486) Zunächst möchte ich zu der Behauptung des letzten Satzes Stellung nehmen. Es steht im Einklang mit dem, was Kant auch sonst sagt, dass die zwölf in der Urteilstafel aufgezählten Momente ausnahmslos „Momente des Denkens in den Urteilen" sind. Mit diesen Worten charakterisiert er sie selbst ausdrücklich am Ende von Ziffer 2 des zweiten Leitfadenabschnitts (A 73/B 98). Insofern ist es richtig zu behaupten, Kant sehe in allen zwölf Momenten die Momente einer einzigen Funktion, nämlich des Denkens in Urteilen. Aber diese Behauptung schließt keineswegs aus, dass jeweils drei dieser Momente als Momente eines bestimmten Denkens zu betrachten sind. So sagt Kant selbst, im Hinblick auf die drei Momente, die unter dem Titel 'Modalität' stehen, im letzten Satz des zweiten Leitfadenabschnitts, am Ende von Ziffer 4 ausdrücklich, man könne „diese drei Funktionen der Modalität auch so viel Momente des Denkens überhaupt nennen". (A 76/B 101) Von den Momenten „des Denkens überhaupt" (des Denkens generatim), d. h. des Denkens im Allgemeinen, lassen sich nach dieser Bemerkung offenbar Momente unterscheiden, die Momente des Denkens im Besonderen sind. Von diesem Denken hatte die Urteilstafel offenbar zeigen sollen, dass es unter die Titel der Quantität, Qualität und Relation gebracht werden kann.
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Wie ist Kants Unterscheidung zwischen dem Denken überhaupt und dem Denken im Besonderen zu verstehen? Da der erste Leitfadenfadenabschnitt (wie Thöle vermutlich zugeben wird) darauf angelegt ist zu zeigen, dass Denken und Urteilen zusammenfallen, dürfte Kant annehmen, dass das Denken überhaupt das Urteilen qua Urteilen ist, während das Denken im Besonderen darin besteht, in bestimmter Weise zu urteilen. Die Urteilstafel deutet an, dass bestimmte Urteile voneinander unterscheidbar sind, je nach dem, ob sie quantitativ, qualitativ oder relational bestimmt sind. Das Denken im Besonderen zerfällt demnach in ein dreifach, nämlich quantitativ, qualitativ und relational bestimmtes Denken. Was die Momente der Modalität, also des Denkens überhaupt, angeht, so scheint es mir weder der Sache noch dem, was Kant sagt, angemessen, mit Thöle anzunehmen, auch sie seien „nur Momente des prädikativen Begriffsgebrauchs". Es käme der Sache und dem, was Kant sagt, jedenfalls viel näher, sie als Momente aufzufassen, nach denen sich Urteile als solche, nämlich als Arten, einen „Satz gelten zu lassen", (A 75/B 101) voneinander unterscheiden lassen. Das problematische Urteil wird jedenfalls von Kant (siehe Ziffer 4 des zweiten Leitfadenabschnitts) so aufgefasst, dass es „eine freie Wahl" zum Ausdruck bringe, einen „Satz gelten zu lassen". Der assertorische Satz bringe dementsprechend eine Entscheidung in dieser Wahl, und zwar nach „Gesetzen" des Verstandes, zum Ausdruck, während der apodiktische Satz den assertorischen als „durch die Gesetze des Verstandes selbst bestimmt" hinstelle. Thöles Behauptung, Kant identifiziere das Urteilen mit dem Gebrauch eines Begriffs als Prädikat und es sei sein zentrales Anliegen nachzuweisen, alle Verstandeshandlungen seien nur Momente des prädikativen Begriffsgebrauchs, hat weder eine direkte Stütze im Text, noch scheint sie mir mit dem Text verträglich zu sein. Wenn nämlich die Urteilshandlung dasselbe wäre wie der prädikative Gebrauch eines Begriffs, dann könnte es nur so viele Momente des prädikativen Begriffsgebrauchs geben, wie es Momente des Urteilens gibt. Wie sollten sich dann aber noch Momente des prädikativen Begriffsgebrauchs von den Momenten der Modalität unterscheiden lassen? Also sollte Thöle doch wenigstens bereit sein, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass von den Handlungen, die der erste Leitfadenabschnitt ausdrücklich erwähnt, zwei, nämlich das Urteilen und der prädikative Begriffsgebrauch, Handlungen sind, die Kant als verschiedene Verstandeshandlungen ansieht. Würde Kant das Urteilen mit dem prädikativen Begriffsgebrauch identifizieren, und würde er, wie Thöle meint, im ersten Leitfadenabschnitt nur nachweisen wollen, dass es außer der Handlung des Urteilens keine Verstandeshandlung gibt, dann wäre es eigentlich sogar überraschend, dass er am Ende dieses Abschnitts und am Anfang des zweiten Leitfadenabschnitts eine Tafel ankündigt, auf der mehrere Verstandeshandlungen aufgezählt werden. Diese Ankündigung wäre ein regelrechter Gedankensprung.
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Überraschend wäre eigentlich schon die Art und Weise, in der Kant sein „zentrales Anliegen" im ersten Leitfadenabschnitt zum Ausdruck bringt: „Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so dass ...". Wenn nämlich weder in den voranstehenden noch in den nachfolgenden Sätzen Verstandeshandlungen erwähnt worden sind, die sich voneinander unterscheiden lassen, so bleibt ganz unverständlich, worauf sich eigentlich der Plural 'alle Verstandeshandlungen' beziehen soll. Oder wollte Kant mit seinem Satz etwa bloß sagen: 'Immer wenn der Verstand handelt, urteilt er nur,' - ohne unterscheidbare Arten oder unterscheidbare Einheiten von Handlungen des Verstandes in Betracht zu ziehen? Gegen diese Deutung spricht wenigstens der vorletzte Satz des erstens Leitfadenabschnitts, wenn man Thöles eigenem Vorschlag folgt und meint, Kant wiederhole in diesem Satz nur seine Behauptung: „Wir können aber alle Verstandeshandlungen . . . usw." Denn der wiederholende Satz tauscht den Ausdruck „alle Handlungen des Verstandes" gegen den Ausdruck „Die Funktionen des Verstandes . . . insgesamt" ein. Nach Kants Definition von Funktion in A 68/B 93 sind aber Verstandesfunktionen Handlungseinheiten. Nach Thöles eigenem Interpretationsvorschlag müsste also Kant mit dem Plural „Handlungen des Verstandes" unterscheidbare Handlungseinheiten gemeint haben. Aber welche Einheiten sollten das sein, wenn es außer der Handlungseinheit des Urteilens gar keine Einheit einer Verstandeshandlung gibt und jedenfalls der erste Leitfadenabschnitt gar keine unterscheidbaren Handlungen in Betracht zieht? Auch wenn man Thöles Vorschlag nicht folgt, ist es ganz ausgeschlossen, den Text so zu verstehen, als enthielte er nur die Behauptung, immer wenn der Verstand handelt, urteile er nur. Denn der auf die These „Wir können aber alle Verstandeshandlungen . . . " nachfolgende Denn-Satz enthält ganz offensichtlich keine Begründung, die sich sinnvoll beziehen ließe auf die Behauptung: 'Immer wenn der Verstand handelt, so urteilt er nur.' In dieser Begründung geht Kant vielmehr auf die Handlung des Schließens ein und weist anhand eines Beispiels,10 nämlich anhand des Schlusses: alle Körper sind teilbar, jedes Metall ist ein Körper, also: Jedes Metall ist teilbar, darauf hin, dass das Schließen auf das Urteilen zurückführbar ist, da das Urteilen, sofern es in einer bestimmten Form stattfindet, schon implizites Schließen ist. So besagt das kategorische Urteil: 'Alle Körper sind teilbar', gemäß dem 10
Thöle ist auf meine Erläuterungen der mit diesem Beispiel zusammenhängenden Überlegungen Kants leider nicht eingegangen. Welches Beispiel Kant hier diskutiert, ist, soweit ich sehe, allen bisherigen Interpreten verborgen geblieben. Dass Kant den beschriebenen Schluss vor Augen hat, ergibt sich unmißverständlich daraus, dass der im fünftletzten Satz des Abschnitts auftretende Ausdruck „durch jenen Begriff" auf den Begriff des Körpers zurückverweist, der in Kants Beispielsatz 'Alle Körper sind teilbar' auftritt.
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Dictum de omni, dass, wenn etwas (nämlich 'ein noch unbestimmter Gegenstand' x) ein Körper ist, es (nämlich dieses x) teilbar ist. Auf diesem Umstand beruht es, dass das Schlussschema: alle Körper sind teilbar, x ist ein Körper, also: x ist teilbar, und ebenso der erwähnte inhaltliche Schluss aus rein logischen Gründen korrekt ist. Der Begriff des Körpers wird im Obersatz nicht als Prädikat dieses Satzes, wohl aber als 'Prädikat eines möglichen Urteils' verwendet, nämlich als Prädikat aller Urteile der Form 'x ist ein Körper', die entstehen, wenn man für x einen entsprechenden Ausdruck einsetzt. Kant hätte übrigens, statt einen kategorischen Satz als Beispiel für den Obersatz eines Schlusses anzuführen, ebenso gut einen hypothetischen oder disjunktiven Obersatz wählen können, etwa einen Satz der Form 'wenn x ein Körper ist, so ist x teilbar' oder einen Satz der Form 'entweder ist x teilbar, oder x ist kein Körper'. Auch Urteile dieser Form sind implizite Schlüsse. Denn 'Wenn A, so B' gibt nur die Regel an, nach der B aus A folgt. Ein Schluss nach Modus ponendo ponens oder nach Modus tollendo tollens ist schon aus diesem Grund korrekt. Ganz entsprechend ist ein Schluss nach Modus tollendo ponens oder nach Modus ponendo tollens schon deshalb korrekt, weil 'Entweder A, oder B' bedeutet, dass wir nach diesen beiden Regeln schließen dürfen. Die Teilsätze A und B in 'Wenn A, so B' oder in 'Entweder A, oder B' sind für sich genommen noch keine Urteile, aber sie können als mögliche Urteile angesehen werden. Ganz entsprechend werden die Begriffe in diesen Teilsätzen nur als Prädikate möglicher Urteile gebraucht, und sie lassen die Gegenstände, auf die sie sich beziehen würden, wenn sie Prädikate wirklicher Urteile wären, noch unbestimmt. Kant scheint mit den Überlegungen, die sich auf sein Schluss-Beispiel beziehen, eine Behauptung begründen zu wollen, von der ich gezeigt habe, dass sie einer frühen These entspricht, die Kant schon in seinem Aufsatz Die
falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren von 1762 vertreten hat.
Diese Behauptung ist: Die Verstandeshandlung des Schließens lässt sich auf das Urteilen zurückführen, und zwar genauer darauf, dass von einem solchen Urteil Gebrauch gemacht wird, das dadurch bestimmt ist, dass in ihm ein Begriff nicht als Prädikat dieses Urteils selbst, sondern so gebraucht wird, dass es als Prädikat möglicher Urteile in Frage kommt, durch die ein Gegenstand, der mit dem vorliegenden Urteil noch unbestimmt gelassen wird, bestimmt werden könnte. Was Thöle versäumt hat zu berücksichtigen, ist die Tatsache, dass der Ausdruck 'Handlungen des Verstandes' ein Terminus technicus ist, der, wie bereits Reinhard Brandt gesehen hat, in der Logikliteratur des 18. Jahrhunderts einen festen Platz hat und dessen Bedeutung Kant deshalb bei seinen Lesern
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als bekannt voraussetzen konnte. Da nach dem technischen Sprachgebrauch unter Handlungen des Verstandes auch sonst immer nur die drei Operationen des Begriffsgebrauchs, des Urteilens und des Schließens zu verstehen sind, ist in der Begründung, die Kant für den Satz „Wir können aber alle Handlungen des Verstandes . . . usw." gibt, sowieso nichts Anderes zu erwarten, als dass Kant in ihr auf das Schließen zu sprechen kommt. Denn von den beiden anderen Handlungen redet ja bereits der voranstehende Text explizit. Im Hinblick auf den Begriffsgebrauch, als einen der drei operationes (oder actiones) intellectus, argumentiert der voranstehende Text zunächst dafür, dass es einen solchen Gebrauch nur im Medium des Urteilens gibt. Ein urteilsfreies, aber begriffliches Auffassen, eine apprehensio simplex, wie sie in traditionellen Logikbüchern angenommen wird, schließt Kant im ersten Leitfadenabschnitt explizit aus: Von „Begriffen kann der Verstand keinen anderen Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt." (A 68/B 93) Im Satz, der diesem direkt folgt, unterscheidet Kant zwei Arten, wie ein Begriff (der im Urteil vorkommt) auf einen Gegenstand bezogen wird, nämlich: entweder durch Beziehung auf einen anderen Begriff oder durch Beziehung auf Anschauung. Niemals werde ein Begriff „unmittelbar auf den Gegenstand [ . . . ] bezogen". (Ebenda) Was nun den ersten dieser beiden Fälle angeht, so interessiert sich Kant für ihn in erster Linie. Denn da die Heuristik des Leitfadenkapitels Verstandesfunktionen entdecken soll, braucht das Beziehen auf Anschauungen nur insoweit in Betracht gezogen zu werden, als es eine reine Verstandeshandlung impliziert, während das Beziehen von Begriffen auf Begriffe schon als solches eine reine Verstandeshandlung ist, da ja der Verstand per definitionem „kein Vermögen der Anschauung", sondern das Vermögen ist, Begriffe zu gebrauchen. (A 68/B 96) Der Leser wird beim reinen Beziehen von Begriffen auf Begriffe zunächst das Subordinieren von Begriffen vor Augen haben, wie es in Begriffspyramiden vorkommt. Im Hinblick auf dieses Subordinieren scheint Kant behaupten zu wollen, dass es bereits implizites Urteilen ist. - (Der Leser kann sich hier durch eigenes Nachdenken selbst leicht klarmachen, dass dieses nur implizite Urteilen, sofern es von gegebenen Gegenständen völlig absieht, ein wesentlich quantitativ bestimmtes, und zwar problematisches Urteilen ist, bei dem einer der Begriffe als Prädikat des Urteils gebraucht wird. Denn sich einen Begriff a als subordiniert unter einen anderen Begriff ß vorzustellen, bedeutet nichts Anderes, als sich vorzustellen (d. h. als möglich zu denken), es sei ein universelles Urteil der Form 'Jedes a ist ein ß' wahr. Ein solches Urteil ist eo ipso konvertierbar in ein partikuläres Urteil der Form 'Irgendein ß ist ein a'.) Solange wir es nur mit der Vorstellung rein begrifflicher Subordinationen zu tun haben, urteilen wir freilich noch nicht eigentlich über Gegenstände. Und problematische Urteile, die in solchen Vorstellungen implizit enthalten sind, tragen nur mittelbar etwas zur Erkenntnis von Gegenständen bei.
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Das eigentliche Urteilen, nämlich das assertorische Urteilen über Gegenstände, findet erst statt, wenn Gegenstände unter Begriffe subsumiert werden. Auch dieses Urteilen setzt einen prädikativen Gebrauch von Begriffen voraus. Insofern ist es richtig, nicht nur das problematische, sondern auch das assertorische Urteil als „mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes" oder als „Vorstellung einer Vorstellung desselben" zu charakterisieren. (A 68/B 93) Mit diesem Gedanken scheint mir Kant sein Argument abschließen zu wollen, dass der prädikative Begriffsgebrauch eine Verstandesfunktion ist, die zwar nicht mit dem Urteilen als solchen identisch, aber doch für dieses grundlegend ist. Was das eigentliche, nämlich assertorische Urteilen anlangt, so scheint Kant anzunehmen, dass es ohne Anschauungsbezug nicht zustande kommen kann. Das heißt, Kant scheint anzunehmen, dass auf einen solchen Bezug letztlich jede Ja/Nein-Entscheidung angewiesen ist, auf deren Grundlage das assertorische Urteil über das problematische Urteil hinausgeht. Nun interessiert sich Kant aber nur für die reinen Verstandeshandlungen. Deshalb kann der erste Leitfadenabschnitt auch nur eine Antwort auf die Frage enthalten,
welche Art von Begriffsgebrauch außerdem prädikativen Begriffsgebrauch im
Urteil noch stattfinden muss, damit assertorisches Urteilen stattfinden kann. Auf diese Frage geht Kant nach meiner Deutung gleich im Anschluss an den zuletzt zitierten Satz ein. Seine Antwort auf diese Frage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ja/Nein-Entscheidungen setzen eine Subsumption von Gegenständen unter Begriffe voraus. Auch ein Verstandesurteil, d. h. ein Urteil, in dem ein Begriff auf einen Begriff bezogen wird, kann eine (assertorische) Bejahung oder Verneinung nur enthalten, wenn die Begriffe, die im Urteil vorkommen, auf einen Gegenstand bezogen werden, auf den sie zutreffen, falls das Urteil wahr ist, und dem sie widerstreiten, falls das Urteil falsch ist. Der prädikativ gebrauchte Begriff muss mittelbar, nämlich vermittelt durch den nicht-prädikativ gebrauchten Begriff, auf den Gegenstand bezogen werden. Der nicht-prädikativ gebrauchte Begriff muss dagegen unmittelbar, nämlich ohne Vermittlung durch einen Begriff, auf den Gegenstand bezogen werden. Dieses unmittelbare Beziehen eines Begriffs auf einen Gegenstand macht nach meiner Interpretation die dritte von Kant beschriebene Art des Begriffsgebrauchs im Urteil aus. Und es ist klar, dass sich aus dieser Beschreibung, wie Thöle zugeben muss und auch zugegeben hat (S. 478-9), eine vollständige Einteilung des Begriffsgebrauchs in Urteilen ergibt. Aber Thöle behauptet nun, meiner Beschreibung des hier an dritter Stelle erwähnten Begriffsgebrauchs fehle eine „hinreichende Textbasis", ja sie stehe „in direktem Widerspruch zu Kants Text". (S. 487) Der Text, auf den Thöle verweist, ist dieser: In jedem Urteil ist ein Begriff, der für viele gilt, und unter diesem Vielen auch eine gegebene Vorstellung begreift, welche letztere denn auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird. So bezieht sich z. B. in dem Urteile: alle Körper sind teilbar, der Begriff des Teilbaren auf verschiedene andere Begriffe; unter diesen aber wird er
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hier besonders auf den Begriff des Körpers bezogen, dieser aber auf gewisse uns vorkommende Erscheinungen. (A 68 f./93 f.) Thöle schreibt: „Hier wird nirgends behauptet, dass sich der Subjektbegriff des Beispielsatzes unmittelbar auf Gegenstände bezieht. Und dies kann Kant auch nicht sagen, da er kurz zuvor explizit bestritten hatte, dass sich Begriffe unmittelbar auf Gegenstände beziehen können." (S. 486-7) Thöle übersieht hier die Argumente, mit denen ich in meinem Buch ausführlich begründet habe, warum es unausweichlich ist, diesen Text so auszulegen, dass er aussagt, der Subjektbegriff des Beispielsatzes werde unmittelbar auf einen Gegenstand bezogen. Auch habe ich ausführlich erklärt, warum es nur ein scheinbarer Widerspruch ist, wenn Kant einerseits explizit sagt, ein Begriff werde niemals auf einen Gegenstand unmittelbar bezogen, andererseits wenig später behauptet, der Begriff des Körpers werde im Urteil 'Alle Körper sind teilbar' auf einen Gegenstand unmittelbar bezogen. Der scheinbare Widerspruch lässt sich auf ganz einfache Weise auflösen: Ohne Vermittlung durch Anschauung kann sich ein Begriff tatsächlich niemals auf Gegenstände beziehen; aber dies bedeutet selbstverständlich nicht, es sei ausgeschlossen, dass ein Begriff auf einen Gegenstand bezogen werden kann, ohne der Vermittlung durch einen Begriff zu bedürfen. Mit seinem Beispiel will Kant aber auch offensichtlich gar nicht sagen, der Begriff des Körpers bedürfe keiner Vermittlung durch Anschauung, um auf einen Gegenstand bezogen zu werden. Vielmehr scheint er nur sagen zu wollen, der Begriff des Körpers bedürfe, im Unterschied zu dem prädikativ gebrauchten Begriff des Teilbaren, keiner Vermittlung durch einen Begriff. Tatsächlich genügt es für die Zwecke seiner Argumentation, nur zu behaupten: 'nicht durch einen Begriff vermittelt' (und in diesem Sinne „unmittelbar") werde der Begriff des Körpers auf einen Gegenstand bezogen. Angesichts dieser ganz unproblematischen Auflösung des scheinbaren Widerspruchs ist es schon merkwürdig, dass Thöle behauptet, Kant könne gar nicht eine unmittelbare Beziehung von Begriffen auf Gegenstände in Betracht gezogen haben. Mit seiner Behauptung befindet er sich sogar in einer misslichen Lage, da er selbst genötigt ist zu erklären, wie es möglich ist, dass Kant mit seinem Beispielsatz 'Alle Körper sind teilbar' die Absicht verfolgt, den Gedanken zu erläutern, „in jedem Urteil" gebe es einen „Begriff" (wie in seinem Beispielsatz den Begriff des Teilbaren), „der für viele [Begriffe] gilt" (so, wie der im Beispielsatz auftretende Begriff des Teilbaren ein Begriff ist, der sich „auf verschiedene andere Begriffe" „bezieht") „und unter diesem Vielen auch eine gegebene Vorstellung begreift" (so, wie „unter" den vielen Begriffen, auf die sich der Begriff des Teilbaren bezieht, der „Begriff des Körpers" eine Vorstellung ist, auf die der Begriff des Teilbaren im Beispielsatz „besonders" „bezogen" wird), „welche letztere denn auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird" (wie in dem Beispielsatz der Begriff des Körpers „auf gewisse uns vorkommende Erscheinungen" bezogen wird). Es hilft Thöle hier wenig,
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dass Kant nicht expressis verbis sagt, der Begriff des Körpers werde unmittelbar auf Erscheinungen bezogen. Aber dass er dies meint, geht schon daraus hervor, dass der Begriff des Körpers die einzige in Kants Beispiel auftretende Vorstellung ist, für die es in Frage kommt anzunehmen, der Begriff des Teilbaren 'begreife' sie unter dem Vielen, auf das er sich bezieht, und sie selbst werde auf den Gegenstand (des Urteils) „unmittelbar bezogen". Auch Thöle kommt daher nicht um die Aufgabe herum, eine Lesart anzubieten, die den Kant-Text widerspruchsfrei erscheinen lässt. Zu diesem Zweck bietet er nun an, die „gegebene Vorstellung", von der Kant spricht, sei nicht der Begriff des Körpers, sondern sie müsse „eine Anschauung sein". (S. 487) Aber dieses Angebot führt in die Irre: Diese Lesart kann erstens nicht erklären, an welcher Stelle des von Kant angeführten Beispielsatzes denn eine Anschauung vorkommen soll, von der es sinnvoll wäre zu sagen, sie werde auf den Gegenstand unmittelbar bezogen. Zweitens ist es schon aus rein sprachlichen Gründen wenig wahrscheinlich, dass mit dem Ausdruck „gegebene Vorstellung" eine Anschauung gemeint ist. Denn der Satz, in dem er steht, lautet: „In jedem Urteil ist ein Begriff, der für viele gilt, und unter diesem Vielen auch eine gegebene Vorstellung begreift, welche . . . " . Hinter dem Wort „viele" ist vermutlich sinngemäß das Wort 'Begriffe' zu ergänzen, da kein anderes Wort im Kontext vorkommt, das näher läge. Dann ist aber mit dem Vielen, zu dem in diesem Satz die gegebene Vorstellung gezählt wird, eine Menge von Begriffen gemeint, und nicht eine Menge von Anschauungen. Thöles Meinung, meiner Auslegung fehle eine „hinreichende Textbasis", ja sie stehe „sogar in direktem Widerspruch zu Kants Text", ist also unbegründet, ja sie beruht ihrerseits auf einer ad Aoc-Auslegung, die mit Kants Text nicht oder doch nur wenig verträglich ist. Weitere Einwände gegen meinen Versuch, Kants Text gerecht zu werden, habe ich bei Thöle nicht gefunden: Sowohl ein erfolgreicher Versuch nachzuweisen, dem von mir rekonstruierten Beweis fehle es an Beweiskraft, als auch ein erfolgreicher Versuch nachzuweisen, es gebe exegetische Details, in denen meine Interpretation mit Kants Text nicht verträglich ist, würde mehr Gründlichkeit und Genauigkeit voraussetzen, als Thöle bereit war aufzubringen. 4. Schluss Damit hat sich herausgestellt: Ob der Völlständigkeitsbeweis, den ich in den ersten Leitfadenabschnitt hineingelesen habe, Kants Beweis gewesen ist, mag noch in Einzelheiten bezweifelt werden, - wenn auch nicht aus einem der Gründe, die Thöle angeführt hat. Da indessen Vieles darauf hindeutet, dass Kant einen Vollständigkeitsbeweis hat führen wollen, da außerdem der natürliche Ort, an dem Kant diesen Beweis hat führen müssen, wenn er ihn hat führen wollen, der
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erste Leitfadenabschnitt ist, und da schließlich der Beweis, den ich in diesen Abschnitt hineingelesen habe, erstens beweiskräftig ist und zweitens eine in den wichtigsten Details nachweisbare Textbasis hat, ist es mindestens wahrscheinlich, dass der hineingelesene Beweis in wesentlichen Einzelheiten mit Kants Beweis übereinstimmt.
Kants Fundierung von Begriff und Urteil in der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption Überlegungen im Anschluß an Klaus Reich 1 Marion Heinz, Siegen Wie der Titel zu erkennen gibt, geht es im folgenden darum, Kants Behauptung, die synthetische Einheit der Apperzeption sei der höchste Punkt, an dem selbst die ganze Logik zu heften sei, nachzuvollziehen und in ihrer Begründung einsichtig zu machen.2 Die Bewältigung dieser Aufgabe ist zugleich ein Versuch, die Einsichten von Klaus Reich und die darauf rekurrierenden Forschungen Manfred Baums in der gegenwärtigen Diskussion um die Vollständigkeit der Urteilstafel zur Geltung zu bringen.3 Der profunde Beitrag von Michael Wolff bringt durch die Übernahme des Titels von Klaus Reichs Abhandlung Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel Übereinstimmung zum Ausdruck. Michael Wolff verfolgt nicht nur das gleiche Ziel wie Reich, eben zu beweisen, daß Kant einen triftigen Vollständigkeitsbeweis geliefert hat, er bestätigt prima vista auch den Ansatz Klaus Reichs, demzufolge die Funktionen des Urteils nur im Ausgang von der synthetischen Einheit der Apperzeption als dem höchsten Punkt für Logik und Transzendentalphilosophie zu gewinnen sind: „Klaus Reich schließlich behält Recht mit der Ansicht, daß Kant die Titel und, mittelbar, auch die Momente der Tafel aus dem in der Zweitauflage der Kritik (B 134) sogenannten , höchsten Punkt' der synthetischen Einheit der Apperzeption' deduktiv hat herleiten wollen - und zwar gemäß der kantischen Deklaration, man müsse an diesem höchsten Punkt ,allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die Transcendentalphilosophie heften' (B 134 [... ])• Was Kant die syntheDieser Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, der auf dem Wuppertaler Kolloquium zu Michael Wolfis Buch Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel am 24. 11. 1999 gehalten wurde. Vgl. 1. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. vonj. Timmermann. Hamburg 1998, (im folg.: KrV) B 134 Anm.; B 131. Vgl. K. Reich: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Berlin 2. Aufl. 1948 (im folg.: Reich); diese Schrift ist 2001 zusammen mit den übrigen Publikationen Reichs von M. Baum, U. Rameil, K. Reisinger und G. Scholz mit Einleitung und Annotationen aus dem Nachlaß neu herausgegeben worden (K. Reich: Gesammelte Schriften, Hamburg 2001, S. 3-112); M. Baum: Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zur „Kritik der reinen Vernunft". Königsstein/Ts. 1986 (im folg.: Baum); M. Wolff: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Frkf./M. 1995 (im folg.: Wolff); B. Thöle: Michael Wolff und die Vollständigkeitderkantischen Urteilstafel. In: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. II. Hrsg. v. V. Gerhardt u. a., Berlin/New York 2001, S. 477 ff.
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tische Einheit der Apperzeption nennt, ist ja nach seiner eigenen Auskunft nichts anderes als ,der Verstand selbst' (B 134 [... ]). Wie wir gesehen haben, ist eben dieser der Ausgangspunkt für die Herleitung der Urteilstafel [... ]" (Wolff, S. 177). Allerdings unterscheidet sich die Interpretation Wolffs von Reich fundamental im Verständnis dieses höchsten Punktes und in der Art, wie davon Gebrauch gemacht wird. Während für Reich der Begriff des Begriffs und der Begriff des Urteils nur im Ausgang von der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption zu definieren sind, macht Wolff keine Voraussetzung dieser Art. Vielmehr geht Wolff so vor, daß er unter dem höchsten Punkt, den Kant auch als den Verstand selbst bezeichnet, das „Vermögen der .Erkenntnis durch Begriffe'" (ebd.) oder das diskursive Vermögen (vgl. ebd.) verstanden wissen will. Dieser Begriff vom Verstand selbst als diskursives Vermögen ist für Wolff der Ausgangspunkt, von dem durch eine Reihe von Schlüssen die „,Idee" des .Verstandes überhaupt' als eines .Vermögens zu urteilen'" (ebd.) zu gewinnen ist. Wolff zufolge wird dieser Begriff vom Verstand selbst als diskursives Vermögen oder als Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe von Kant zunächst für den Zweck des heuristischen Verfahrens der Gewinnung der Grundfunktionen des Urteils dogmatisch vorausgesetzt. Im ersten Schritt werde bloß eine metaphysische Deduktion der Urteilsfunktionen erreicht, die der Ergänzung durch eine im zweiten Schritt zu leistende transzendentale Deduktion bedürfe. Deren Aufgabe sei es, „,die Möglichkeit' des .reinen Verstandes' und seiner .Erkenntniskräfte' zu erklären, d.h. zu zeigen, daß die in den Prämissen der metaphysischen Deduktion enthaltenen Annahmen über die .Erkenntniskräfte' des Verstandes deshalb gemacht werden müssen, weil sie von Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung handeln." (Wolff, S. 177 f.) Im Gegensatz dazu setzt Reich so an, daß er den allgemeinen Begriff der Verstandeserkenntnis unangesehen des Unterschiedes von logischem und realem Gebrauch in der Behauptung Kants über die Selbigkeit der Funktion des Verstandes, Einheit der Vorstellungen in Urteilen und Einheit von Vorstellungen in Anschauungen zustande zu bringen, erkennt. Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedruckt, der reine Verstandesbegriff heißt. Derselbe Verstand also, und zwar durch eben dieselben Handlungen, wodurch er in Begriffen, vermittelst der analytischen Einheit, die logische Form eines Urteils zu Stande brachte, bringt auch, vermittelst der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt, in seine Vorstellungen einen transzendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe heißen, die a priori auf Objekte gehen, welches die allgemeine Logik nicht leisten kann. (B 104 f.)
Dieser Begriff der allgemeinen Verstandeserkenntnis als eines Vermögens der Herstellung von Einheit in Urteilen und Anschauungen oder als eines Vermögens der Vereinigung bzw. Synthesis von Vorstellungen ist nach Reich
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zunächst eine bloße Idee, d.h. eine Behauptung, deren Realität zweifelhaft ist. Daher bedarf es des Nachweises, ,,[d]aß diese Idee zu Recht besteht und nicht ein bloßes Hirngespinst sei [... ]." (Reich, S. 26) Für Reich ist erst durch diesen zweiten Schritt der Rechtfertigung des Begriffs der Verstandeserkenntnis das Fundament gelegt, das es erlaubt, die Frage nach der Vollständigkeit der Urteilstafel zu beantworten. Denn nur im Rekurs auf die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption ist die Definition des Urteils als „die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen" (B 141), einsichtig zu machen, die ihrerseits der Ableitung der Titel und Momente zugrunde zu legen ist. Für Wolff hingegen genügt es zur Auffindung der Grundfunktionen des Urteils, von der zunächst bloß dogmatisch angenommenen Prämisse auszugehen, die Eigentümlichkeit unseres Verstandes bestehe darin, ein diskursiver Verstand zu sein. (Vgl. Wolff, S. 181) Wie erwähnt, bedarf es nach Wolff noch der transzendentalen Deduktion, um diese Prämisse zu rechtfertigen. Erst im Zuge dieser als transzendentale Deduktion sich vollziehenden Rechtfertigung wird nach Wolff von dem Grund der Eigentümlichkeit unseres Verstandes, diskursiv zu sein, gehandelt. Die Lösung dieser „Fundierungsaufgabe" skizziert Wolff so: erstens wird „die im ersten Leitfadenabschnitt gegebene Beschreibung der Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes, diskursiv zu sein, ersetzt durch die Beschreibung, diese Eigentümlichkeit bestehe darin, ,nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zu Stande zu bringen' (B 145-6 [ . . . ]), und zweitens [wird] erklärt, diese Eigentümlichkeit beruhe letztlich auf dem folgenden Grund: Nur durch Ausübung der in der Urteils- und Kategorientafel aufgezählten Funktionen ist ein erkennendes, aber nur mit diskursivem Verstand ausgestattetes Wesen überhaupt in der Lage, ein Bewußtsein der Identität seiner selbst in Bezug auf eine wie auch immer gegebene Mannigfaltigkeit von Vorstellungen herzustellen." (Wolff, S. 181) Auf den ersten Blick erscheinen die Positionen Wolfis und Reichs auch bzgl. dieser Gliederung der Argumentation Kants in einen Teil, der die Idee der Verstandeserkenntnis bloß voraussetzt, und einen Teil, der diese Idee in der Einheit des Selbstbewußtseins begründet, übereinstimmend. So heißt es etwa bei Reich: „Daß diese Idee [sc. die der Selbigkeit der Funktion, „verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile [ . . . ] , und der, der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung [ . . . ] Einheit zu geben" (Reich, S. 14)] zu Recht besteht und nicht ein bloßes Hirngespinst sei, wird in dem auf das erste Hauptstück der transzendentalen Analytik der Begriffe, den ,Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe' folgenden zweiten: der ,Deduktion der reinen Verstandesbegriffe' bewiesen." (Reich, S. 26) Und: das Recht der Rede vom Verstand als eines nichtsinnlichen Erkenntnisvermögens wird gegründet auf das reine oder ursprüngliche Selbstbewußtsein. (Vgl. ebd.)
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Gleichwohl bestehen entscheidende Differenzen zwischen beiden Ansätzen 4 : Erstens, und das ist ausschlaggebend, geht Wolff von einem von Reich abweichenden Verständnis dessen aus, was Verstandeserkenntnis allgemein bedeutet. Die im folgenden zu erhärtende These lautet: Reich legt im Gegensatz zu der bis dato vorherrschenden, überwiegend dem Neukantianismus zuzurechnenden Kantexegese größten Wert auf die Unterscheidung zweier Einheitsfunktionen: Die im Leitfadenkapitel (B 94) genannten „Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen" sind strictissime zu trennen von der B 104/105 genannten „Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt". J e n e frühere Einheit ist allerdings die analytische Einheit, die jedem Begriffe als solchen anhängt, diese letztere aber ist die logische Form des Urteils, freilich in Begriffen, vermittelst der analytischen Einheit" (Reich, S. 17). Für Wolff ist dieser von Reich für alles entscheidend erachtete Unterschied irrelevant. Daß Begriffe auf Funktionen beruhen, bedeutet für Wolff: sie beruhen auf der Handlung, eine bestimmte Vorstellung als Teilvorstellung auszuzeichnen. (Vgl. Wolff, S. 65 f.) Das Urteil definiert Wolff im Anschluß an Kants Satz „Das Urteil ist also die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, mithin die Vorstellung einer Vorstellung desselben" (B 93) als Vorstellung zweiter Stufe, und das soll heißen: „in Urteilen [werden] Begriffe als Teilvorstellungen von Vorstellungen oder als Prädikate von Gegenständen vorgestellt [.. .]. Urteile bestehen demnach darin, Vorstellungen (nämlich Begriffe) vorzustellen." (Wolff, S. 76) Der zweite wichtige Unterschied zwischen Reich und Wolff besteht darin, daß Reich - wie gesagt - von dem bewiesenen Begriff der Verstandeserkenntnis ausgeht, um den Vollständigkeitsbeweis zu führen, während für Wolff der bloß dogmatisch vorausgesetzte Begriff der reinen Verstandeserkenntnis den für diesen Nachweis völlig hinreichenden Ausgangspunkt darstellt. Das heißt natürlich, daß Kants Lehre vom ursprünglichen reinen Selbstbewußtsein, mithin die Doktrinen von ursprünglich synthetischer Apperzeption und analytischer Einheit des Selbstbewußtseins für diesen Zweck vollkommen verzichtbar sind. Mithin wird die spätere Fundierung des Begriffs des Verstandes selbst in einer transzendentalen Deduktion durch den Nachweis der Unverzichtbarkeit von Urteil und Begriff für ein endliches Verstandeswesen, das sich seiner selbst denkend bewußt werden können muß, auch schon als vernachlässigenswert für das Verständnis von Begriff und Urteil als solchen angesehen. Die Leistung der Lehre vom ursprünglichen Selbstbewußtsein in den ersten Paragraphen der transzendentalen Deduktion ist Wolff zufolge darauf restringiert, einen Grund für eine schon in sich selbst zureichend artikulierte Idee dieser Verstandesleistungen beizubringen; dieser Grund ist also zum Verständnis dieser Idee nicht notwendig. Die Diskussion der von Wolff ausgemachten Mängel von Reichs Vollständigkeitsabhandlung (vgl. Wolff S. 6 ff.) muß hier aus Platzgründen unterbleiben.
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Auf eine knappe Formel gebracht: Wolff und Reich unterscheiden sich im Begriff der Verstandeserkenntnis und sie unterscheiden sich hinsichtlich der Frage, ob für den Vollständigkeitserweis der begründete oder bloß der dogmatisch vorausgesetzte Begriff des Verstandes zugrunde zu legen ist. Die Absicht, die Stärken von Reichs Position zur Geltung zu bringen, verlangt demnach zu zeigen, daß Kants Lehre von Begriff und Urteil in der Lehre von der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption fundiert ist.5 Was also ist unter „ursprünglich-synthetischer Einheit der Apperzeption" zu verstehen? Der § 16 der KrV geht aus von der Behauptung, daß das „Ich denke" alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Diese Behauptung ist durch Analyse des Begriffs „meine Vorstellung" zu rechtfertigen, wie der folgende Satz zu verstehen gibt: „denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein." (B 131 f ) Vorstellungen, die als meine zu qualifizieren sind, unterliegen also zwei Bedingungen: Erstens müssen sie denkbar sein, d.h. sie dürfen den Gesetzen des Denkens nicht widerstreiten, und zweitens genügt es nicht, daß sie bloß in mir, bloße Bestimmungen meines Gemüts sind, sondern: in demselben Subjekt, darin sie angetroffen werden, müssen sie eine notwendige Beziehung auf das „Ich denke" haben. Als in mir seiende müssen sie auf mich als denkendes Subjekt bezogen werden können. (Vgl. Reich, S. 26 f.; Baum, S. 93 f.) Bedenkt man nun Kant folgend, was diese als notwendig erwiesene Möglichkeit des Begleitetwerdenkönnens von Vorstellungen durch das „Ich denke" für die Vorstellungen selbst bedeutet, ergibt sich folgendes: Indem die notwendige Verbindbarkeit jeder Vorstellung mit mir gedacht wird, wird von allen Vorstellungen insgesamt gedacht, daß sie alle mit mir verbunden werden können müssen. Und indem sie alle als notwendig mit mir als dem einen und selben Subjekt zu verbindende gedacht sind, sind sie zugleich als untereinander notwendig verbindbar, nämlich als in einem allgemeinen Selbstbewußtsein notwendig zusammenstehen könnend gedacht. (Vgl. B 132 f.) Derselbe Sachverhalt, die durchgängige Verbindbarkeit der Vorstellungen mit mir als dem Denkenden, stellt sich von dem Ich aus gesehen so dar: Das Ich stellt sich nicht nur als Begleitvorstellung jeder Vorstellung für sich vor, sondern denkt sich ursprünglich als diejenige Einheit, in der alle möglichen gegebenen Vorstellungen selber verbunden sind - der Möglichkeit nach. (Vgl. Reich, S. 27) So gesehen ist das „Ich denke" „diejenige Vorstellung, in der ich mir diese mögliche durchgängige Verbindung aller meiner Vorstellungen vorstelle [... ]" (ebd.). Um sich der durchgängigen Identität seiner selbst bewußt sein zu können, reicht es nach Kant nicht aus, mehrere Vorstellungen je für sich mit der VörDiese Skizze profitiert auch von Baums Bezugnahmen auf Reich in: Metaphysikkritik Erfahrungstheorie in Kants theoretischer Philosophie. In: Baum, S. 19 ff.
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Stellung „Ich denke" zu begleiten. In diesem Falle wäre zwar der Sache nach das „Ich denke" eine identische Vorstellung in allen verschiedenen Vorstellungen, aber es wäre als solches mir nicht selbst bewußt; für mich bliebe das Selbst vielfarbig und zerstreut. Was also ist erforderlich, um sich die durchgängige Identität des „Ich denke" selbst vorzustellen? Die Bewußtmachung der durchgängigen Identität der Apperzeption setzt nach Kant einen Akt der Synthesis und dessen Bewußtsein voraus: Nur dadurch, daß ich mir dessen bewußt werde, daß ich es bin, der alle mannigfaltigen gegebenen Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, kann ich mir meiner selbst als des Identischen in allen einzelnen Vorstellungen selbst bewußt sein. Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Beivusstsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich.
(B 133)
Das „Ich denke" als analytische Einheit des Bewußtseins zu begreifen, heißt, das Ich als durch Analyse und d.h. durch den Akt der Trennung oder Isolierung von allen bestimmten Inhalten gewonnene Vorstellung des einen und selben Denkenden zu denken. Von dieser Vorstellung muß zugleich gedacht werden, daß sie, d.h. daß das „Ich denke" das Eine und Selbe oder Identische ist, das mit allen anderen, von ihm verschiedenen Vorstellungen verbunden sein kann. (Vgl. Reich, S. 33) M.a.W. das Ich wird so als Einheit gedacht, die das Eine und Selbe in vielen ansonsten verschiedenen Vorstellungen ist, und insofern als diesen gemein gedacht. Das Ich in diesem Sinne als analytische Einheit zu verstehen, ist aber nur möglich unter der Voraussetzung, daß die vielen verschiedenen Vorstellungen als der Möglichkeit nach in ihm und verbunden gedacht werden. Und sofern diese Verbindung den Vorstellungen nicht als solchen, d.h. als gegebenen zukommt - als solche sind sie bloß Bestimmungen des Gemüts - , muß ein Akt der Synthesis und dessen Bewußtsein als Grund der Möglichkeit der analytischen Einheit der Apperzeption angenommen werden. Unter synthetischer Einheit der Apperzeption ist dementsprechend die durch einen Akt der Synthesis notwendig hervorbringbare Verbindung der Vörstellungsmannigfaltigkeit mit mir als dem einen und selben Denkenden zu verstehen, durch welchen Akt diese mannigfaltigen Vorstellungen als mit mir verbundene zugleich selbst untereinander verbunden werden. Mit dieser rudimentären Explikation des Verhältnisses von analytischer und synthetischer Einheit der Apperzeption ist schon eine Grundlage dafür geschaffen, Kants Behauptung, die synthetische Einheit der Apperzeption sei der höchste Punkt, an dem selbst die ganze Logik zu heften sei, nachzuvollziehen. Denn in der Anmerkung zu § 16 macht Kant unmißverständlich klar, daß die analytische Einheit des Selbstbewußtseins zugleich die logische Einheit jeden Gedankens, d.h. der Begriff seiner logischen Form nach ist. (Vgl.
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Reich, S. 33) Aber es wird nicht nur behauptet, daß Begriffe ihrer logischen Form nach die analytische Einheit der Apperzeption voraussetzen, sondern weitergehend, begriffliches Vorstellen sei für einen nicht-produktiven Verstand notwendig.6 Um Kants Begriff des Begriffs zu klären, ist von Inhalt und Form des Begriffs auszugehen. Charakterisiert man die begriffliche Vorstellung hinsichtlich ihres Inhalts, so ist sie Teilvorstellung. Wie die Anschauung ist auch der Begriff perceptio obiectiva, d.h. Gegenstandsvorstellung im Unterschied zur Empfindung als bloß subjektiver Bestimmung des Gemüts (vgl. A 320, B 376 f.). Aber anders als in der Anschauung wird der Gegenstand durch den Begriff nur mittelbar, nämlich durch einen Teil derjenigen Vorstellungen, die zu ihm insgesamt gehören, vorgestellt. Hinsichtlich der Form ist der Begriff analytische Einheit des Bewußtseins, mithin das, was das Ich unbedingt ist, in restringierter, bestimmter Weise. (Vgl. Reich, S. 35) D.h. sofern ein bestimmter Inhalt, z.B. die Vorstellung „rot" als ein einfaches Merkmal so aufgefaßt wird, daß diese Vorstellung als die eine und selbe mit vielen anderen außer in der Rot-Vorstellung differenten Vorstellungen verbunden sein kann, wird dieser Inhalt als analytischer Erkenntnisgrund vorgestellt oder als etwas, wodurch die anderweitig bestimmten Gegenstände erkannt werden können. Insofern der Begriff als analytischer Erkenntnisgrund bestimmt ist, hat er eine Sphäre, nämlich diejenigen Dinge und Vorstellungen, die durch ihn vorstellbar sind. (Vgl. Reich, S. 40; Baum, S. 99 f.) Die spezifische Allgemeinheit der durch den endlich-menschlichen Verstand erzeugten Begriffe besteht eben darin, daß ihr Inhalt qua Teilvorstellung als vielen verschiedenen Vorstellungen distributiv gemein gedacht wird, so daß diese noch anderweitig bestimmten Vorstellungen durch diesen ihnen je für sich zukommenden identischen Teil erkannt werden können. Diese Explikation vom Begriff reicht hin, um einsichtig zu machen, daß gegebene Begriffe in ihrem Verhältnis zueinander notwendig bestimmt sind. Denn bloß durch Vergleichung ihres Inhalts ist zu erkennen, welcher Begriffsinhalt Teilvorstellung eines anderen ist. Dieser Begriff ist dann eo ipso als durch diese Teilvorstellung zu erkennender jenem untergeordnet.7 Also ist es zufolge ihrer Form als Begriffe, die darin besteht, analytische Einheit zu sein, bei Begriffen als gegebenen immer schon bestimmt, ob sie im Verhältnis der Identität oder Nichtidentität stehen, und d.h. es ist immer schon bestimmt, in welchem Teilvorstellungs- und Erkenntnisgrundverhältnis sie zueinander stehen. Dieses Verhältnis wird durch Vergleichung explizit geVgl. dazu B 135: „Denn durch das Ich, als einfache Vorstellung, ist nichts Mannigfaltiges gegeben; in der Anschauung, die davon unterschieden ist, kann es nur gegeben und durch Verbindung in einem Bewußtsein gedacht werden." Vgl. auch B 138, 139. Vgl. auch Baum: Die Transzendentale Deduktion. In: Baum, S. 99, 101, 117. Vgl. zum folgenden Reich, S. 40; zum Thema Vergleichung und der dabei leitenden Reflexionsbegriffe vgl. Renate Broecken: Das Amphiboliekapitel der „Kritik der reinen Vernunft". Der Übergang der Reflexion von der Ontotogie zur Transzendentalphilosophie. Diss. Köln 1970 (im folg.: Broecken).
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macht. Wie sich noch zeigen wird, ist das Verknüpfungsverhältnis, durch das im Urteil verbundene Begriffe gekennzeichnet sind, nicht als durch die Form des Begriffs bei gegebenen Inhalten notwendig bestimmtes angesetzt, vielmehr ist es als durch ein Drittes, das Objekt, notwendig gemachtes Verhältnis der Begriffe gedacht. Um zunächst aber noch die Fundierung des Begriffs in der synthetischen Einheit der Apperzeption sichtbar zu machen und damit zur Erörterung des Urteils überzuleiten, ist zweierlei zu bemerken: 1. Die Bildung von Begriffen ihrem Inhalt nach setzt die synthetische Einheit des Bewußtseins und mithin die synthetische Einheit der Apperzeption voraus: „Vor aller Analysis unserer Vorstellungen müssen diese zuvor gegeben sein, und es können keine Begriffe dem Inhalte nach analytisch entspringen." (B 103) Zwar kann der Inhalt des Begriffs „rot" durch Analysis der anschaulichen Vorstellung einer Tomate z.B. gewonnen worden sein, aber diese Analysis setzt eine Synthesis schon voraus: die Merkmale wie z.B. „rot" und „rund" und „Pflanze" müssen als gegebene schon zur Einheit eines Bewußtseins, einem einheitlichen Vorstellungsinhalt, synthetisiert worden sein. Und wenn der Begriffsinhalt nicht bloß aus dem einfachen Merkmal „rot", sondern aus der genannten Mannigfaltigkeit besteht, wenn es also um den Begriff „Tomate"8 geht, ist hierfür natürlich die Synthesis dieses Mannigfaltigen zu einem Bewußtseinsinhalt verlangt. (Vgl. Baum, S. 99 f ) 2. Aber nicht nur in dieser Hinsicht der Beschaffung von Inhalten ist die analytische Einheit des Bewußtseins qua Begriff nicht ohne vorhergehende synthetische Einheit möglich. Auch hinsichtlich der Form des Begriffs qua analytischer Erkenntnisgrund ist eine Synthesis vorausgesetzt bzw., wie Kant sagt (vgl. B 134 Anm.), immer schon vorausgedacht. Damit nämlich durch den Begriff Dinge gedacht werden können, damit also der Begriff als einen Umfang habende Vorstellung möglich ist, muß der im Begriff gedachte Inhalt als der Möglichkeit nach verbunden gedacht werden mit solchen Inhalten, die von ihm verschieden sind. (Vgl. ebd.) Zieht man nun in Betracht, daß diese Vorstellungen, mit denen der Begriff als der Möglichkeit nach verbunden gedacht wird, nicht eo ipso gegeben, sondern ihrerseits bloß mögliche und gänzlich unbestimmte Vorstellungen sind, so wird klar, daß die hier voraus zu denkende Synthesis und deren Resultat, die synthetische Einheit von Begriff und anderen Vorstellungen, selbst nur als möglich gedacht sind (vgl. Baum, S. 101). Es handelt sich also beim Bewußtsein dieser synthetischen Einheit nicht um das Bewußtsein einer schon vollzogenen Synthesis gegebener Inhalte, also nicht um „die synthetische Einheit des Bewußtseins der Vorstellungen" (ebd.), sondern um das Bewußtsein der Möglichkeit und Notwendigkeit des Vollzugs der Verbindungshandlungen des Verstandes. Der Verstand ist sich so seiner selbst als eines Vermögens gänzlich unabhängig von dem bestimmten gegebenen Vorstellungsmaterial, dessen er bedarf, um diese VerbindungsDas Beispiel stammt von Wolff; vgl. z.B. Wolff, S. 65.
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handlungen wirklich vollziehen zu können, bewußt. (Vgl. ebd.) Und dies, die synthetische Einheit der Apperzeption als eines Vermögens, ist in der Tat „[d]er höchste Punkt, an den also sogar die Voraussetzung aller Logik, nämlich das Denken durch Begriffe, geheftet werden muß" (ebd.). Zum Abschluß dieser Ausführungen zum Verhältnis von Begriff und synthetischer Einheit der Apperzeption ist die Frage, warum für einen nichtproduktiven Verstand wie den menschlichen begriffliches Vorstellen notwendig ist, aufzugreifen und zu beantworten. Um sich der durchgängigen Identität der Apperzeption bewußt werden zu können, bedarf es erstens des Aktes der Synthesis gegebener Vorstellungen, in dem diese mit dem Ich als dem für sie alle einen und selben verbunden werden, wodurch sie zugleich untereinander vereinigt werden. Zur Vorstellung der durchgängigen Identität seiner als des Denkenden ist zweitens die Abstraktion von allen bestimmten Vorstellungsinhalten erforderlich, durch die das Ich als das eine und selbe, das mit Verschiedenem verbunden sein kann, gedacht wird. Das heißt nun für jeweils gegebene von mir verschiedene Vorstellungen, daß sie der Bedingung ihrer Denkbarkeit durch mich entsprechen müssen, und d.h. daß sie sich erstens in ein Bewußtsein müssen vereinigen lassen können. So gesehen ist die Bildung von Begriffen dem Inhalt nach notwendig. Um willen der Identität seiner selbst, die nur unter Voraussetzung der möglichen synthetischen Einheit aller Vorstellungen möglich ist, muß aber jeder bestimmte synthetisch entsprungene Inhalt zweitens selbst als etwas gedacht werden können, das mit anderen möglichen Vorstellungen seinerseits verbindbar ist, und d.h. er muß als bestimmtes identisches Bewußtsein, das mit vielem ansonsten Verschiedenen verbunden sein kann, gedacht werden (vgl. Reich, S. 33). Wie das Ich sich seiner selbst nur als das Identische bewußt ist, das mit dem Mannigfaltigen seiner Vorstellungen nur durch einen Akt der Synthesis verbunden ist, so verhält es sich auch mit jedem vom Ich gedachten bestimmten Inhalt: als analytische Einheit ist er nur durch einen Akt der Synthesis auf anderes von ihm Verschiedenes beziehbar, aber diese Möglichkeit seiner Verbindbarkeit ist selbst notwendig. „Notwendigkeit der .Synthesis' als besonderen Aktus des Denkens [... ] und Erkenntnis durch conceptus communes sind also Wechselbegriffe." (Reich, S. 36) Wenn das Urteil in § 19 definiert wird „als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen" (B 141), ist zum Verständnis dessen, was Kant unter Urteil versteht, zunächst der Begriff der objektiven Einheit der Apperzeption zu klären. Denn durch den Begriff der objektiven Einheit der Apperzeption wird das Charakteristische einer Verbindung von Begriffen angegeben, die das Urteil im Unterschied zu allen anderen Arten ihrer Verbindung bestimmt. Etwa wenn die Begriffe „Mensch" und „jung" zum Begriff „Kind" verbunden werden. Mit der Angabe dieses Definiens der Vörstellungsverbindung qua Urteil soll also dem Mangel der Logiker abgeholfen sein, der nach Kant darin besteht, nicht erklärt zu haben, worin das Spezifische des Begriffsverhältnisses qua Urteil besteht. (Vgl. B 141)
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Was also heißt „objektive Einheit der Apperzeption", und in welchem Verhältnis steht diese zur synthetischen Einheit der Apperzeption? Nach Reich ist der Begriff des Objekts überhaupt der notwendige Korrelationsbegriff zur synthetischen Einheit der Apperzeption, so jedoch, daß dieser Begriff primär ist. (Vgl. auch zum folgenden Reich, S. 31 f.) Verstehen wir unter dem Begriff „Objekt überhaupt" vorläufig diejenige an Inhalt gänzlich unbestimmte eine Vorstellung von demjenigen Etwas, auf das mannigfaltige Vorstellungen so bezogen werden, daß dieses durch sie vorgestellt wird, so ist zu fragen, warum die Bildung dieses Begriffs notwendig ist für einen endlichen, menschlichen Verstand. Klar ist, daß der Begriff des Objekts überhaupt als Begriff von demjenigen Einen, worauf unsere mannigfaltigen Vorstellungen bezogen werden, eine gemachte und keine gegebene Vorstellung ist. Denn als gegebene sind Vorstellungen eben bloße Bestimmungen des Gemüts. Die Notwendigkeit der Bildung dieses Begriffs springt heraus, wenn die im Selbstbewußtsein vorgestellte Endlichkeit qua Nichtproduktivität ins Auge gefaßt wird. Dieses Bewußtsein der Nicht-Produktivität impliziert das, was Reich die Notwendigkeit des Hinausgehens aus sich genannt hat: der Gedanke, daß das mit ihm gegebene Vorstellungsmannigfaltige nicht durch es selbst hervorgebracht ist, impliziert die Notwendigkeit der Beziehbarkeit dieses Mannigfaltigen auf ein vom Ich unterschiedenes Etwas: Alles, was mit dem Ich und durch es untereinander verbunden ist, ist eben nicht das Ich. Der Gedanke des Objekts überhaupt ist, anders gesagt, der Gedanke von demjenigen Etwas, durch das meine mannigfaltigen Vorstellungen gegeben sind bzw. auf das sie - dieses bestimmend - notwendigerweise zu beziehen sind. Wenn der weitergehende Gedanke, daß auch die Art der Verbindung des Mannigfaltigen meiner Vorstellungen als durch das Objekt bestimmt zu denken sein muß, beachtet wird, d.h. wenn darauf gesehen wird, daß meine Vorstellungen auch in diesem Sinne als nicht durch das Ich hervorgebrachte, notwendige Vorstellungen zu begreifen sind, tritt das Spezifische des Verbundenseins von Vorstellungen im Urteil hervor, wodurch sich diese Art der Vorstellungsverbindung von anderen unterscheidet: von bloß subjektiv notwendigen assoziativen Verbindungen, von beliebigen Verbindungen von Begriffen wie z.B. „Mensch" und „jung" zu „Kind" ebenso wie von der schon in einem Begriff als solchen vollzogenen Synthesis von Vorstellungen. (Vgl. Reich, S. 40; Baum, S. 106 ff.) Dabei stellt sich natürlich folgendes Problem: Wenn der Gedanke des Objekts überhaupt eine vom Verstand hervorgebrachte Vorstellung ist, muß auch die darin gedachte notwendige Weise der Verbindung vieler Vorstellungen zur Einheit einer Gegenstandsvorstellung Produkt des Verstandes sein. Wie also ist es möglich, eine auf dem Verstand beruhende Weise des Verbindens von Vorstellungen als eine solche zu denken, die für die Vorstellungen selbst notwendig sein soll, insofern als sie objektiv ist? Die Kantische Lösung besteht grob gesagt - darin, diejenigen Vorstellungsverbindungen als objektiv auszuzeichnen, die gemäß den für endliche Verstandeswesen überhaupt oder allge-
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mein notwendigen Verbindungshandlungen zustande gebracht sind. (Vgl. KrV § 17; vgl. hierzu und zum folgenden Baum, S. 123, 126, 128) Die im Begriff des Objekts gedachte notwendige synthetische Einheit meiner Vorstellungen ist also ihrerseits ermöglicht durch die in der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption gedachten, für ein sich seiner Identität bewußt werden könnendes Verstandeswesen notwendigen Handlungen des Verbindens. (Vgl. Baum, S. 106 ff.) Welche Art von Vörstellungsverbindungen beanspruchen kann, der Form ihrer Verbindung nach objektiv gültig zu sein, ist damit noch nicht positiv bestimmt, aber klar ist schon jetzt, daß es sich weder um das logische Subordinationsverhältnis von Begriffen handeln kann, noch um diejenige synthetische Einheit, die ein Begriff hinsichtlich seines Inhalts selbst ist. Es kann sich nicht um das Begriffen als solchen zukommende analytische Verhältnis der logischen Unterordnung handeln, weil dieses Verhältnis bloß durch den Inhalt der Begriffe als gegebener bestimmt ist: ist der Inhalt eines Begriffs Teilvorstellung eines anderen, so ist er eo ipso dessen analytischer Erkenntnisgrund, diesem mithin übergeordnet. Für dieses logische Verhältnis der Begriffe untereinander als gegebener ist der Verstand als Erkenntnisvermögen, mithin die objektive Einheit der Apperzeption irrelevant. Denn das logische Subordinationsverhältnis der Begriffe kommt ihnen eben bloß als gegebenen zu, so daß das hier gedachte logische Verhältnis nicht als durch das Objekt, sondern bloß als durch die Vorstellungen selbst begründetes und somit durch deren Analyse erkennbares gefaßt ist. Die gemäß dem Gedanken vom Objekt überhaupt vorgestellte synthetische Einheit kann auch nicht die synthetische Einheit des Begriffsinhalts selbst sein, so daß ein einziger inhaltlich definierter Begriff als diejenige synthetische Einheit fungieren könnte, die alle das Objekt überhaupt der Möglichkeit nach bestimmen könnenden Inhalte zusammenfassen könnte. Dies wird durch folgende Überlegung deutlich: zwar ist die Zusammenfassung mannigfaltiger Vorstellungen zur Einheit eines Bewußtseins, mithin die Bildung von Begriffen für ein sich der Identität seiner selbst nur durch das Bewußtsein der Synthesis seiner Vorstellungen bewußt sein könnendes Wesen notwendig. Aber gleichwohl kann diese notwendig mögliche synthetische Einheit von Vorstellungen nicht mit der im Begriff vom Objekt überhaupt gedachten notwendigen Weise der Vereinigung oder des Vereinigtseins von gegebenen Vorstellungen identisch sein. Erstens ist im Begriff des Objekts überhaupt der Gedanke der Notwendigkeit der Art der Verbindung des Mannigfaltigen enthalten, und dies ist für Begriffsinhalte als solche nicht der Fall. Notwendig ist nur das Verbundenwerdenkönnen des Mannigfaltigen zu einem Bewußtsein, aber nicht die Art der Verbindung selbst; vereinfacht gesagt: für Begriffsinhalte als solche ist bloß ihre Verbindbarkeit mit anderen Vorstellungen notwendig; im Begriff des Objekts aber ist die Notwendigkeit des Verbundenseins von Vorstellungen geltend gemacht. Zweitens aber ist im Begriff qua Teilvorstellung eines
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ganzen Dinges als solchen offengelassen, mit welchen Vorstellungen verbunden durch ihn ein Objekt bestimmt ist. (Vgl. auch zum folgenden Reich, S. 47) Oder anders ausgedrückt: Die im Begriff des Objekts überhaupt gedachte notwendige Möglichkeit des Verbundenseins aller meiner Vorstellungen zur objektiven Einheit des von mir Gedachten ist durch einen Begriff nicht realisierbar, insofern der Begriff als solcher zufolge seines Charakters der diskursiven Allgemeinheit sozusagen notwendig eine Leerstelle enthält. Die notwendig zu denkende Verbindung aller Vorstellungen zu dem einen Bewußtsein des durch die Vorstellungen gedachten, aber diese auch notwendig machenden Objekts überhaupt ist durch einen Begriff nicht erreichbar, weil der Begriff zufolge seiner Eigenschaft als Begriff, d.h. zufolge seiner analytischen Einheit, das durch ihn zu denkende Mannigfaltige, mit dem verbunden er die ganze Vorstellung eines Dinges ausmachen würde, selbst nicht mit sich bringen kann, also als solcher bloß mit möglichen, völlig unbestimmten Vorstellungen in synthetischer Einheit verbunden gedacht werden muß. Um in bestimmter Weise auf Objekte bezogen werden zu können, und d.h. zur objektiv gültigen Vorstellung oder zur Erkenntnis werden zu können, bedarf es daher eines zweiten Begriffs, der als Bedingung der Beziehbarkeit des ersten auf den Gegenstand fungiert. (Vgl. auch zum folgenden Reich, S. 45 ff.) Reich folgend ergibt sich die Unmöglichkeit der Objekterkenntnis durch einen Begriff allein auf folgende Weise aus der Beschaffenheit des Ich: Wenn der Gedanke des Objekts überhaupt ein für ein sich seiner Nichtproduktivität im Zuge seiner Selbsterfassung als analytische Einheit der Apperzeption bewußtes Subjekt notwendiger Gedanke ist, und sofern diese Form allen vom Ich verschiedenen Gedanken zukommt, überträgt sich - metaphorisch gesprochen - das Defizit des Ich auf jeden Gedanken: obwohl bereits als bestimmter Gedanke qualifiziert, fehlt ihm dasjenige Mannigfaltige, mit dem verbunden er zur Erkenntnis eines Objekts würde. „Dieselbe Tatsache, daß durch das Ich denke nichts Mannigfaltiges, kein Inhalt zum Denken gegeben ist, drückt sich in der Form des Begriffes so aus, daß ein Begriff für sich nicht objektive Gültigkeit, nicht Wahrheit hat. Damit diese möglicherweise statthat, muß zum Begriff noch ein besonderer .Gedanke', der dem Begriff diese Funktion erteilt, hinzukommen." (Reich, S. 47) Der die bestimmte Beziehung eines Begriffs auf Objekte ermöglichende Begriff ist der Subjektbegriff, der ihm in dieser Hinsicht der Möglichkeit der Objektbestimmung untergeordnete Begriff ist der Prädikatbegriff. Die SubjektPrädikat-Struktur des Urteils ist also notwendig, sofern ein Begriff zur bestimmten Erkenntnis von Gegenständen soll gebraucht werden können. "Ein Begriff für sich hat nicht objektive Gültigkeit, hat nicht Wahrheit [... ]" (ebd.). Die spezifische Differenz des Verhältnisses von Begriffen im Urteil zu dem logischen Verhältnis ihrer bloß als gegebener Vorstellungen in der Form der analytischen Einheit besteht also darin, daß die Vorstellung des Objekts als Grund der Verknüpfung der Begriffe angesetzt ist. M.a.W. durch das Urteil werden die Begriffe als im Objekt synthetisch vereinigt gesetzt. Prinzip der
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Vergleichung als der logischen Einheit des Bewußtseins ist hingegen nicht die synthetische, sondern die analytische Einheit des Bewußtseins, die Identität eines bestimmten Merkmals in mannigfaltigen verschiedenen Vorstellungen. (Vgl. Broecken, S. 77) Zum Abschluß sollen einige wesentliche Unterschiede zwischen der soeben vorgetragenen Auffassung von Begriff und Urteil im Anschluß an Reich und den ebenso energischen wie raffinierten neuen Interpretationen Wolfis diskutiert werden. Ruft man sich die von Wolff vorgeschlagene Strukturierung der Kantischen Argumentation, die Unterteilung in eine metaphysische und eine transzendentale Deduktion in Erinnerung, so ist klar, daß der für die metaphysische Deduktion zugrunde gelegte Begriff der Verstandeserkenntnis der für das gesamte Unternehmen bestimmende Ausgangspunkt ist. Denn dieser Begriff ist bloß noch transzendental zu rechtfertigen, also in seiner Geltung als Prinzip zu legitimieren. Während es für Reich und Baum darauf ankommt, alle Verstandesleistungen als durch die Apperzeption ermöglichte zu erweisen, um damit Kants Charakterisierung der Apperzeption als „Verstand selbst" (B 134 Anm.) Rechnung zu tragen (vgl. Baum, S. 96), geht Wolff von dem Begriff des Verstandes als Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe oder als diskursives Erkenntnisvermögen aus, um ebenso konsequent alle Verstandesleistungen darauf zu fundieren. Entscheidend für die weitere Argumentation ist dann die These: Begriffe beruhen auf Funktionen, und unter Funktion ist die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen, zu verstehen. (Vgl. Wolff, S. 65) Im Zentrum der Wolffschen Rekonstruktion des Völlständigkeitsbeweises steht der Nachweis, daß sowohl der Begriff als solcher als auch die verschiedenen Weisen seines Gebrauchs im Urteil und das Urteil selbst als Funktion in diesem Sinne zu bestimmen sind. Begriff und Urteil beruhen mithin auf derselben Handlung. Das Urteil versteht Wolff als Vorstellung zweiter Stufe, insofern als „in Urteilen Begriffe als Teilvorstellungen von Vorstellungen oder als Prädikate von Gegenständen vorgestellt werden." (Wolff, S. 76) Schon aus dieser groben Skizze ist erkennbar, daß Wolff den fundamentalen Unterschied zwischen Begriff und Urteil, den Reich herausgearbeitet hat, nahezu einebnet: Begriffe sind Teilvorstellungen von Vorstellungen; in Urteilen werden Begriffe als Teilvorstellungen von Vorstellungen vorgestellt. Diese Erklärungen Wölffs sind Reich folgend als Auslegung des Leitfadenkapitels B 93 f. vollkommen richtig, treffen aber nicht das Spezifische der Urteilseinheit im Unterschied zur Einheit des Begriffs. Insofern das Urteil notwendigerweise Begriffe enthält und Begriffe ihrem Ursprung nach als „Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen" (B 93), zu kennzeichnen sind, müssen auch die Urteile als „Funktionen der Einheit unter unsren Vorstellungen" (B 94; vgl. Reich, S. 17) verstanden werden. Aber diese Charakterisierung trifft eben noch nicht das Wesen des Urteils. Die Definition des Urteils ist vielmehr Reich zufolge im Ausgang von Kants programmatischem Hinweis, die
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Funktionen des Verstandes ließen sich dann insgesamt finden, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen könne (vgl. B 94), zu erschließen. Diese „Funktion der Einheit in den Urteilen" ist nach Reich - anders als seine dem Neukantianismus zuzurechnenden Zeitgenossen meinten - strikt von der Bestimmung des Urteils als „Funktion der Einheit unter unseren Vorstellungen" zu unterscheiden: während es sich bei dieser um die logische Form des Begriffs als analytische Einheit handelt, handelt es sich bei jener um die logische Form des Urteils als objektiver und synthetischer Einheit (vgl. ebd.). Nun ist Wolffs Argumentation durchaus differenziert: nachdem bereits die Behauptung, alle Weisen des Gebrauchs von Begriffen im Urteil seien als Funktionen im Sinne des Ordnens von Vorstellungen unter Vorstellungen zu verstehen, begründet worden ist - was mit Reichs Einsicht, das Urteil sei eben, insofern es Gebrauch von Begriffen mache, eine solche Funktion der Einheit unter unseren Vorstellungen, übereinstimmt - , stellt Wolff explizit zur Diskussion, ob das Urteilen selbst im Sinne einer von den einzelnen Formen des Begriffsgebrauchs im Urteil verschiedenen Handlung gleichwohl als dieselbe Funktion der Einheit zu begreifen sei. (Vgl. Wolff, S. 112) Die Antwort lautet: Urteile sind Vorstellungen zweiter Stufe, indem sie Vorstellungen qua Begriffe vorstellen. Dieses ihnen eigentümliche Vorstellen ist genauer zu fassen im Sinne von „Handlungen [...], die darin bestehen, Vorstellungen erster Stufe (nämlich Begriffe) zu ordnen, indem sie diese teils als wirkliche, teils als nur mögliche Prädikate hinstellen" (Wolff, S. 113). Der an der Prädikatstelle auftretende Begriff fungiert als das wirkliche Prädikat, der an der Subjektstelle auftretende Begriff aber ist seinerseits mögliches Prädikat zu Urteilen. So wäre etwa in dem Urteil „Alle Körper sind teilbar" Teilbarkeit das wirkliche Prädikat, Körper aber ist mögliches Prädikat zu weiteren Urteilen - etwa zu dem Urteil „Metall ist ein Körper" - , die die Anwendung des wirklichen Prädikats vermittelst des im Obersatz eines Schlusses als Prädikat verwendeten Subjektbegriffs erweitern, so daß das zunächst nur implizit darunter Begriffene (Metall) nun explizit darunter (Teilbarkeit) fällt. Gerade diese Deutung der spezifischen Urteilshandlung als eine Funktion des Ordnens von Vorstellungen unter Vorstellungen unter Rückgriff auf die Schlußlogik macht unmißverständlich klar, wie konsequent Wolff das Urteil von den gegebenen Begriffen als solchen zukommenden logischen Verhältnissen her begreift. Diese Angleichung von Begriff und Urteil kann noch von anderer Seite her, im Ausgang von der These Wolffs, Ursprung und Gebrauch von Begriffen in Urteilen fielen zusammen, demonstriert werden. Hierzu heißt es: Ursprung und Gebrauch von Begriffen fallen immer schon zusammen, insofern als „die Handlung des Ordnens von Vorstellungen unter Vorstellungen, auf deren Einheit Begriffe beruhen [...], immer schon in Urteilen ausgeübt wird" (Wolff, S. 74 Anm. 70). Wenn ich recht sehe, findet hier eine fundamentale Verwechslung bzw. die Gleichsetzung von äußerst Verschiedenem statt: wenn die von einer gegebe-
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nen ganzen Vorstellung abgesonderte Teilvorstellung gedacht wird als deren analytischer Erkenntnisgrund, handelt es sich um die Unterordnung der ganzen Vorstellung unter die Teilvorstellung bzw. um die Bildung eines Begriffs, dessen Inhalt die Teilvorstellung ist. Wird aber im Urteil der an der Stelle des Subjekts auftretende Begriff dem an der Stelle des Prädikats auftretenden Begriff untergeordnet, so bedeutet diese Unterordnung keineswegs, daß der Prädikatbegriff qua Teil des Subjektbegriffs als Erkenntnisgrund dieses Begriffs fungiert, sondern in diesem Fall ist es so, daß der Begriff des Objekts überhaupt vermittelst des Subjektbegriffs durch den Prädikatbegriff bestimmt wird. Anders gesagt: die Begriffe werden als im Objekt und nicht bloß in einem beliebigen Gedanken verbunden behauptet. Daß alle Gedanken als Gedanken in Verhältnissen der Über- und Unterordnung stehen, qualifiziert sie eben noch nicht' zur Erkenntnis. Allenfalls wenn man die Funktion der Unterordnung als vollkommen reziproke Umkehrung der Abstraktion verstehen würde, könnte man der These bezüglich der Identität von Ursprung und Gebrauch von Begriffen im Urteil etwas abgewinnen. In diesem Falle wäre eben das Mannigfaltige, das durch den Begriff denkbar wird, selbst präsent. Die Funktion der Unterordnung wird jedoch unabhängig von den jeweils gegebenen Inhalten immer dann ausgeübt, wenn ein beliebiger Inhalt als analytischer Erkenntnisgrund vorgestellt wird. „Nun sind alle Begriffe für sich .Gedanken', durch die ich mir etwas vorstelle, das als verschiedenen möglichen Vorstellungen gemein gedacht wird; dieses Verschiedene aber wird durch den Begriff nicht in seiner Verschiedenheit gegeben: es ist nur eine unendliche Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen. Urteil aber, so ist seine Definition, ist der Gebrauch von Begriffen zur Erkenntnis von Objekten." (Reich, S. 46)
On Some Presumed Gaps in Kant's Refutation of Idealism1 Jacqueline Marina, West Lafayette Two key premises stand at the heart of Kant's Refutation of Idealism in the B-edition of the first Critique. The first is Kant's claim, developed in the first analogy, that time determination requires us to posit the existence of a substance that endures. The second premise is that nothing in the self can perform this function, and neither can the empirical self itself. Hence, Kant concludes, time determination and consequently the determination of the self in time requires us to posit the existence of a thing outside us. The refutation is therefore directed at dogmatic and problematic types of idealism, both of which admit that we have inner experience, that is, consciousness of our representations, but either deny the possibility of spatial objects (Berkeley) or claim that we can only be certain of the mind and its contents (Descartes). Kant's aim is to show that the temporal determination of inner experience presupposes outer experience. Commentators have rightly noted the extraordinarily compressed character of Kant's argument, and numerous gaps in the argument have been pointed out. In this paper I focus on two of these gaps and provide a reconstruction of Kant's argument that closes them. The first gap concerns the argument of the first analogy itself, and involves three interrelated problems. In it, Kant tells us that "time itself cannot be perceived", and that consequently "there must be found in the objects of perception, that is, in the appearances, the substratum which represents time in general". 2 Moreover, Kant claims that all change must be perceived as taking place in this substratum. In his book Problems from Kant, James van Cleve describes these three interrelated problems with Kant's first analogy argument. First, and most importantly, van Cleve notes that Kant rejects time itself as the backdrop on the ground that it is not perceivable, but his own best candidate for substance is not perceivable either. We do not perceive the matter that undergoes transformation from wood to ashes or from caterpillar to butterfly; we only conceive of it.3 1
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Several years ago, I had many lengthy and intense conversations with Manfred Baum on the topic of Kant's refutation of idealism, which no doubt have influenced my thinking on the matter. Immanuel Kant, Critique of Pure Reason, translated and edited by Paul Guyer and Allen Wood (Cambridge: Cambridge University Press, 1998), B 275. All future references to the Critique will be to this translation; the A and B edition pagination will be indicated at the end of the citation. James Van Cleve, Problems from Kant, (Oxford: Oxford University Press, 1999), 107-108.
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If both are imperceptible, why do we need substance to represent time? Are we not reduplicating entities unnecessarily? Second, van Cleve notes, even granting that substance is needed to represent time, why must we represent substance as permanent? And thirdly, why must we understand alterations as taking place within it? Contrary to most interpreters who find the spring of Kant's argument to be his claim that time cannot be perceived, I argue that the key to Kant's argument is his claim that time cannot change. This is a sophisticated argument regarding the nature of time: strictly speaking, time cannot pass, that is it cannot change. To talk about the passage of time implies that we must be able to determine the rate of the passage of time, but such talk is incoherent. As Kant notes, "If one were to ascribe such a succession to time itself, one would have to think yet another time in which this succession would be possible" (A 183/ B 226). Because time cannot pass, what we are really referring to when we speak of the passage of time is of substances that endure throughout their changes. The second major gap has been pointed out by Jonathan Vogel and concerns Kant's second premise that the substance we must posit in order to determine our existence in time cannot be the self or any of its determinations. Note that this premise refers first and foremost to the empirical self, since Kant claims that "my own existence in time can first be determined only through this persistent thing". Vogel asks: "If Kant holds that the empirical self is knowable through inner sense, why does self knowledge then fail to provide whatever is required for time-determination?"4 Moreover, here a problem similar to the one noted regarding the first analogy crops up. Henry Allison is surely right when he notes that Kant adopted Hume's arguments5 regarding why we have no knowledge of a persisting self: we have no impression of the self that endures through the self s changing determinations (namely its representations).6 But as Hume noted, the same can be said about outer objects: what we have is a host of differing impressions that we take to be differing determinations of an object, but we do not perceive the substratum through an impression that endures through the object's changing determinations.7 If we do not have a persisting impression of the self, or a Jonathan Vogel, The Problem of Self-Knowledge in Kant's 'Refutation of Idealism': Two Recent Views, Philosophy and Pbenomenological Research, Vol. LIII, No. 4, 1993. As Hume famously notes, "But self or person is not any one impression, but that to which our several impressions and ideas are suppos'd to have a reference. If any impression gives rise to the idea of self, that impression must continue invariably the same, thro' the whole course of our lives; since self is suppos'd to exist after that manner. But there is no impression constant and invariable. Pain and pleasure, grief and joy, passions and sensations succeed each other, and never all exist at the same time. It cannot, therefore, be from any of these impressions, or from any other, that the idea of self is deriv'd; and consequently there is no such idea." David Hume, A Treatise of Human Nature, text and revised notes by P. H. Nidditch, (Oxford: Oxford University Press, 1978), I. iv. 6; 251-252. Henry Allison, Kant's Transcendental Idealism, (New Haven: Yale University Press, 1983), 299. Hume notes, "Philosophers deny our resembling perceptions to be identically the same, and uninterrupted; and yet have so great a propensity to believe them such, that they arbitrarily
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persisting representation of an object, it is hard to see why the representation of an object outside the self is a better candidate for time determination than the self and its inner determinations. Building on the arguments developed in section one of the paper, I will address these questions in the second part of the paper by showing that the representation of two objects existing simultaneously (and hence existing in space) is necessary for time determination. The results of this investigation will show why the empirical self must be an embodied self. The First Analogy Commentators have provided numerous and divergent analyses of Kant's argument in the first analogy. Guyer, for instance, finds three separate arguments in the first analogy section, while Allison finds one argument in seven steps with a progressive structure.8 Like Allison, I find one principle argument, although I differ with him on its progression. I reconstruct the argument in the following way: 1. All appearances are in time, in which, as substratum (as persistent form of inner intuition), both simultaneity as well as succession can alone be represented. 2. The time, therefore, in which all change of appearances is to be thought, lasts and does not change; since it is that in which succession or simultaneity can be represented only as determinations of it. 3- Now time cannot be perceived by itself. 4. Consequently it is in the objects of perception, i.e., the appearances, that the substratum must be encountered that represents time in general and in which all change or simultaneity can be perceived. 5. However, our apprehension of the manifold is always successive and changing. But if all you have is succession, existence is always disappearing and beginning and never has the least magnitude. 6. Yet, only through that which persists does existence in different parts of the temporal series acquire a magnitude, which one calls duration. 7. Change does not affect time itself. invent a new set of perceptions, to which they attribute these qualities. I say, a new set of perceptions: For we may well suppose in general, but 'tis impossible for us distinctly to conceive, objects to be in their nature any thing but exactly the same with perceptions. What then can we look for from this confusion of groundless and extraordinary opinions but error and falsehood? And how can we justify to ourselves any belief we repose in them?" David Hume, op. cit., 1. iv. 2; 218. Alison, op. cit., 137.
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8. Since change does not affect time itself, that which persists is the object itself, that is, the substance. 9- Everything that changes or that can change belongs only to the way in which this substance or substances exist, thus to their determinations. (Substance is therefore the substratum of everything real.) As the substratum of all change, substance always remains the same. 10. And as it is thus unchangeable in its existence, its quantity in nature can be neither increased nor diminished. My own reconstruction follows that of Allison up through step four, and after that there are significant divergences between his reconstruction and my own. The reconstruction I provide takes into account the significance of the claims made in the paragraph directly following Kant's initial presentation of the argument. This paragraph contains crucial material justifying Kant's claims that a) substance persists and b) substance is the substratum of everything real and everything that exists can be thought of only as its determinations. The first premise tells us that all appearances are either in succession (before or after) or simultaneous with one another. Commentators such as Caird and Robert Paul Wolff have found problems with Kant's second premise that time lasts; just as it is a category mistake to say that time changes, it is equally a mistake to say that it endures. 9 However, on this point Allison is surely right: Kant's point is that there is one time that is continuously identifiable throughout all change. Only thus can all events be arranged as before, after, or simultaneous with one another. The third premise is very important to Kant's argument: it is because time cannot itself be perceived that we must look to the appearances in order to grasp the passage of time. What does Kant mean by this claim, and why does he make it? According to Allison, the claim that time cannot be perceived is derived from "the doctrine that time is a form or mode of representing objects rather than itself an object that is represented". 10 This is true, but it still does not get to the heart of why time is imperceptible. Guyer on the other hand thinks Kant means by this that we are given "merely successive moments of time, not a duration of any magnitude, let alone a duration as long as that of permanent time itself'. 11 He justifies this interpretation through Kant's point that "in mere sequence alone existence is forever disappearing and beginning, and never has the least magnitude" (A 183/ B 226). The problem with Guyer's interpretation is that Kant is not referring to the successive moments 9
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Both are mentioned by Allison (Ibid. 202). The original references are to Edward Caird, The Critical Philosophy of Kant, (Glasgow: J. Maclehose, 1909), and to Robert Paul Wolff, Kant's Theory of Mental Activity, (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1963), 251. Ibid. 202. Paul Guyer, Kant and the Claims of Knowledge, (Cambridge: Cambridge University Press, 1987), 217.
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of time in this statement. Rather the succession Kant refers to is our successive apprehension of the manifold of perception, mentioned earlier in the first analogy argument. As Kant notes in a crucial passage of the deduction, "Motion, as action of the subject, . . . consequently the synthesis of the manifold in space, . . . first produces the concept of succession at all. The understanding therefore does not find some sort of combination of the manifold already in inner sense, but produces it, by affecting inner sense" (B 154 f.). Hence I only become aware of the passage of time through self-affection, that is, through my awareness of my own successive apprehension of the manifold. 12 This point will play a key role in the refutation of idealism later on. Hence, what Kant means when he tells us that time cannot be perceived is rather the following. If one abstracts the content of perception that fills time, there is nothing left to distinguish one moment of time from another. As such, the moments of time cannot be apprehended independently of our perceptions. The only succession we are aware of is that of our successive apprehension of the manifold of perception. This succession is a necessary, although not a sufficient condition of our awareness that time has elapsed. If all there were was empty time, we should not know what it means for time to elapse. For suppose there were such a thing as empty time. If so, the moments in such a time would be indistinguishable from one another. How could I then identify the present moment, and know that it is no longer present once it has passed, if the present moment that succeeds it is indistinguishable from it? How can I mark the so called "passage of time"? But perhaps, it might be objected, the flow of time can be perceived independently of the objects of perception that fill time. Each moment of time first has the property of being in the future, it then has the property of being in the present, and then has the property of being in the past. As such, each moment of time undergoes change, and it is through its undergoing change that I become aware of the passage of time.13 There are, however, at 12
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The relation between the nature of time and the doctrine of self-affection has been put forward quite clearly by Manfred Baum (Kant on Cosmological Apperception, International Philosophical Quarterly, Vol. XXIX, No. 3, September 1989, 281-289) and is worth quoting at length. He notes, "Time must be a form of sensibility just because it conditions a priori the way in which we become aware of our own activity, through which we apprehend within ourselves, combine and separate, and bring to concepts the given but still unconscious matter of outer representations. By this act of apprehension we are affected by ourselves because we become aware of this activity of the understanding (or imagination) as something that occurs successively. Positing representations into inner sense, thus making them conscious, means: positing them into time, and this, at the same time, means having a temporally conditioned consciousness of this activity of positing. The self is affected by this activity in two senses: materially by the contents of the outer senses and formally by the act of apprehension of which we are conscious only as occurring successively (cf. B 67 f.)", 283. In the Anglo-American literature on time, J. M. E. McTaggart was the first to draw attention to the fact that the positions of pastness, presentness, and futurity are not permanent, but changing determinations. An event which is now present was future and will be past. He calls this the A-series. J. M. E. McTaggart, The Nature of Existence, Vol. 2 (Cambridge: Cambridge University Press, 1927), 10-11.
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least two problems with this scenario. The first concerns a problem already mentioned above: by what means do we mark off one moment from the other such that the two are distinct? We need to mark the moments off from one another in order to distinguish between the present moment and the one that has just passed. Notice that on Kant's view, where a necessary condition (but not a sufficient one) of the recognition of the passage of time is the successive character of our apprehensions, this problem does not arise. On Kant's view, the moments of time can be distinguished from one another in virtue of the difference of the contents of our apprehensions themselves. But when time is considered independently of the content that fills it, there is no such way to differentiate the moments of time from one another. The second problem has to do with the very idea that time passes. To say that "time passes", or "time flows", such that a particular moment will first have the property of being in the future, then the property of being in the present, and then of being in the past, is to open oneself up to a host of objections. If each moment has each of these properties in turn, then presentness crawls up the time line, first privileging one moment and then the next. However, if the present crawls up the time line, and if time passes, the question naturally arises: How fast does the present crawl up the time line? How fast does time pass? To attempt to answer these questions involves one in a fundamental incoherence. For how are we to go about answering this question? Since all movement is movement at a particular rate, presentness must have its rate of movement. But we can't determine the rate of movement of the present if we know only the temporal distance it has covered, just as we cannot determine the rate of spatial movement if we know only the spatial distance covered. Hence, the question of the rate of movement of the present would require us to introduce a hyper-time. Since rate is distance over time, if we wanted to clock the present's rate of movement from one point on the temporal continuum to a later point, we must know when in hyper-time it is at the first point and when in hyper-time it is at the second.14 Note that Kant refers to this problem when he notes that "If one were to ascribe such a succession to time itself, one would have to think yet another time in which this succession would be possible" (A 183/ B 226). While I have introduced these matters in relation to the claim that time cannot be perceived, these considerations will play an important role at a later stage in Kant's argument in their own right; they are in fact, the spring of Kant's argument. Since the passage of time cannot be perceived, it is in the appearances that the substratum must be found representing time in general. This is the fourth step in Kant's argument. However, as Kant notes in his fifth step, our apprehension of what appears is always successive. There are two important 14
The problems that crop up when time is thought of as something that passes or flows have been the subject of discussion in recent Anglo-American literature. J. J. C. Smart points to problems very much like these in his famous article The River of Time, in: Flew, Antony (ed.), Essays in Conceptual Analysis (New York: St Martin's Press, 1966), 213-227.
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points that follow from this. First is a point relevant to Kant's second analogy as well: the fact that my apprehension of B has followed my apprehension of A does not mean that A and B follow each other in the object. A and B may be different parts of an object, e. g., a house, that exist simultaneously with one another. In order to think that the representations succeed one another in the object I must posit a substratum of which A and B are changing determinations: they are opposite states of the same thing. Second, the successive character of my apprehension of A, B, and C etc., is a necessary but not a sufficient condition for the determination of time. It is necessary insofar as the distinct content of what is apprehended marks the different moments of time. However, it is not sufficient for time determination because insofar as what is apprehended is merely successive, it has no duration. As Kant notes, "In mere sequence alone existence is always disappearing and beginning, and never has the least magnitude" (A 183/ B 226). Hence in step six Kant concludes, something must serve as the substratum, i.e., as that which endures through these changing determinations. Kant will further conclude (in step 8) that this thing must be substance. At this point it is important to bring up Van Cleve's objection. We only conceive of substance, we do not perceive it. Kant seems to reject time itself as the "backdrop" because it is not perceivable. But substance is not perceived either, so what makes substance a better candidate for the backdrop than time itself? Why can't time itself be that which persists? Guyer asks a similar question when he notes that By stating that even representations of matter are themselves transitory, in spite of the permanence which we ascribe to matter, Kant implies that the permanence of matter itself - that is, permanence in empirical objects, rather than of time itself must be inferred rather than directly perceived. But if that is so, then it is less than obvious why the detour through the permanence of matter or substance is needed to infer the permanence of time itself. If permanence can be inferred in one case, why cannot it be inferred equally directly, without further justification, in the other case, the case of time itself? Kant in fact does provide the answer to this question, and he does so in the seventh step of his argument. There he notes that change does not affect time itself. Contra Guyer, it is this premise, and not the mere assertion that time cannot be perceived, that is the spring of Kant's argument. 15 Now suppose that time itself were the substratum, i.e., that which endures through these changing determinations. If it were, then time itself would be the changing thing: presentness would be continuously identifiable as it surged through the time line of events. As such, it would be that which endures through the changes in time's passing. But just after Kant notes that "that which Paul Guyer, op. cit., 219. In fact, Guyer does not even register Kant's premise that time cannot change. Allison also mentions the essential character of the premise that time cannot be perceived, but like most other commentators does not note the essential role of Kant's claim that time does not change. Allison, op. cit., 202 ff.
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persists is the substratum of the empirical representation of time itself', he tells us that "change does not affect time itself', and that "we cannot ascribe such a succession to time itself' (A 183/ B 226). The reasons for this have been touched on above: there is a fundamental incoherence to the idea that time passes, because if time passes we must be able to answer the question concerning the rate at which time passes, and this would require us to posit a hyper-time. As Kant notes, "If one were to ascribe such a succession to time itself, one would have to think yet another time in which succession would be possible" (A 183/ B 226). If time itself cannot b e the changing thing, some other thing, namely substance, must be posited as that which is continuously identifiably and endures throughout the states of its change. Thus far, we have discussed the progression of Kant's argument through step eight. At this point, it might be useful to consider Van Cleve's two other objections, since answering them will help clarify Kant's argument as a whole. It is important to note that characterizing this argument as the "backdrop" argument is somewhat misleading. The word appears nowhere in Kant's argument; he is, rather trying to prove the much stronger claim that we must posit a substratum that underlies the succession of appearances if time determination is to be possible. In other words, all change and simultaneity must be thought of as just so many ways "in which that which persists exists" (A 182/ B 226). Already the second premise of Kant's argument contains this idea; there he tells us that "succession or simultaneity can be represented only as determinations of it [time]" (B 225). And, Kant seems to reason, since succession or simultaneity can b e represented only as determinations of time, but time cannot be the changing thing, succession and simultaneity must be represented as determinations of substance. As such, all change must be alteration. This thesis has been questioned by Van Cleve who notes: Even granting the need for a permanent backdrop, why would changes have to be alterations in it? This is a lacuna in Kant's argument that has gone largely unnoticed. What the argument proves at most is that every change takes place against the backdrop of something permanent, but it does not prove that any change is an alteration in that permanent something, or even that it is an alteration of anything at all. Let the sun be hung up as permanent backdrop in the sky: things under the sun are still free to pop into and out of existence as they please, violating the maxims gigni de nihilo nihil and in nihilum nil posse reverti.16 Unless Kant can show why all changes must be alterations of a substratum, his argument does not go through. If we cannot show why the succession of appearances must be thought of as determinations of the way in which the substratum exists (whatever that substratum may be), we do not have to posit any thing that persists through its changing determinations. It seems all we would need is something that persists (i.e., the sun) to serve as a backdrop, that is, as that which endures; other things, different 16
Van Cleve, op. cit., 108.
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from this one persisting thing, may go in and out of existence. But is time determination truly possible under this scenario? How would we relate the time through which the sun endures to the moments at which things pop in and out of existence? The two can only be related to one another if the establishment of a single time has already been presupposed. But this is precisely what is at issue: the ability to relate the appearances to one another through a single time. On Kant's view, only if the succession of appearances are determinations of a substratum that endures through its changes can they be related to one another as occurring in a single time. This is the upshot of Kant's argument in the following passage: . . . it is this very thing that persists that makes possible the representation of the transition from one state into another, and from non-being into being, which can therefore be empirically cognized only as changing determinations of that which lasts. If you assume that something simply began to be, then you would have to have a point in time in which it did not exist. But what would you attach this to, if not to that which already exists? For an empty time that would precede is not an object of perception; but if you connect this origination to things that existed antecedently and which endure until that which arises, then the latter would only be a determination of the former, as that which persists. (A 188/ B 231)
Since the appearances are all given successively, but do not themselves have any magnitude, they must be thought of as alterations of that which endures if they are to be thought as occurring within a magnitude at all. Since time itself is not what undergoes change (and hence is not what endures throughout the states of change), what endures must be the changing thing. As such the changing appearances mark the states of a change, but it is the changing thing that has duration. It is through the states of the changing thing, and the endurance of the thing throughout its changing states, that we are able to mark that an interval of time has elapsed. However, if something absolutely began to be, the first state of its existence could not be said to have occurred within the duration of anything at all. Hence it cannot be known to have occurred in time, since time cannot be known independently of the duration of things. This reconstruction of Kant's argument also answers an objection of Van Cleve's closely related to his earlier question of why changes must be understood as alterations of the substratum. Van Cleve reconstructs Kant's argument in the following way: (1) Suppose we know by perception that a thing x has come into being (or gone out of being, in which case a parallel argument could be given). (2) This requires us to perceive that x exists at some time t2 and also to have perceived that x did not exist at an earlier time tl. (3) Since we cannot perceive an empty time, there must be something else, y, that existed at tl. (4) x must be a "determination" of y (a property of y or something
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whose existence consists in y's having some property). Therefore, (5) x's coming into being is an alteration in y.17 Van Cleve sees a non-sequitur in Kant's move from step 3 to step 4. He asks, "Why must x be a 'determination' at all, and why in any case of y or anything existing at tl?"18 First, it must be noted that according to Kant what we perceive are always determinations of the substratum, not the substratum itself. Hence, given that we do not perceive an empty time, what must be perceived at tl is not the substratum itself, but some determination of it. Van Cleve's reconstruction of Kant's argument is thereby flawed in this regard: Kant is not saying that x must be a determination of y, but rather that both x and y must be determinations of an underlying substrate, that is, they are both states of a changing thing. That said, if we keep in mind that time cannot be that which endures through change (time is not that which undergoes alteration; it is not the changing thing) the only candidate for what endures is substance. If appearances are to be in time, they must be in something that endures. But to think them as in something that endures is just to think them as the states of a changing thing. Hence all succession of appearances must be thought of as states of a changing thing, and all change must be alteration. It is for this reason that x must be a determination of an underlying substrate. This argument also shows why we must represent substance as permanent, and answers the last of Van Cleve's questions. Since there can be no absolute coming into existence or perishing, the substrate cannot itself come into being or perish. It is permanent and can only undergo alteration. This is merely another way of putting step nine of Kant's argument: "Everything that changes or that can change belongs only to the way in which this substance or substances exist, thus to their determinations. (Substance is therefore the substratum of everything real.) As the substratum of all change, substance always remains the same." It also follows from the fact that there can be no absolute coming into being or perishing that the quantity of substance must always remain the same. In order for the quantity of substance to increase there must be an absolute beginning of some of it, and in order for it to decrease there must be an absolute ceasing to be of some of it. Since this is impossible, the quantity of substance must remain the same (step 10). Substance, Space, and the Refutation of Idealism Before the reconstruction of Kant's argument against idealism proceeds, another crucial point needs to be discussed. This point concerns the character of substance. As we have noted above, the substrate of change cannot be time itself, because time cannot change. For anything that changes, we must 17 18
Ibid. i n . Ibid. 111.
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be able to answer questions regarding the rate of its change. Since rate is distance over time, the candidate for the substrate that undergoes change must be something that can be represented as covering a distance in a particular amount of time. Hence the crucial characteristic of substance distinguishing it from time is that substance must be spatial. This is implied in the following key passage, worth quoting at length: In order to exhibit alteration as the intuition corresponding to the concept of causality, we must take motion, as alteration in space, as our example, indeed only by that means can we make alterations, the possibility of which cannot be comprehended by any pure understanding, intuitable. Alteration is the combination of contradictorily opposed determinations in the existence of one and the same thing. Now how it is possible that from a given state an opposed state of the same thing should follow not only cannot be made comprehensible by reason without example, but cannot even be made understandable without intuition, and this intuition is the intuition of a point in space, the existence of which in different places (as a sequence of opposed determinations) first makes alteration intuitable to us; for in order subsequently to make even inner alterations thinkable, we must be able to grasp time, as the form of inner sense, figuratively through a line, and grasp the inner alteration through the drawing of this line (motion), and thus grasp the successive existence of ourself in different states through outer intuition; the real ground of which is that all alteration presupposes something that persists in intuition, even in order merely to be perceived as alteration, but there is no persistent intuition in inner sense. (B 291-292)
This passage contains several important arguments. The first is that the intuition of time depends upon our intuition of space. This is an a priori argument having to do with the character of the two forms of intuition. Kant defines space as the form of intuition by which two or more coexistent objects may be presented (A 23/ B 38). In the first analogy Kant showed that time determination requires some thing that endures throughout its changes. But in order to represent the changing thing, I must represent two things simultaneously: first the thing that endures, and second its changing determinations. If I am only conscious of a particular state of the thing, I am not conscious of the movement from one state of the change to the other, and hence of the change. It is, however, only through space that I can represent both at once, namely that which endures through its changes, as well as the states of its change. Hence it is "the intuition of a point in space, the existence of which in different places (as a sequence of opposed determinations) first makes alteration intuitable to us". The point in space represents that which endures through its changes, and the different points on the line its changing determinations. Both must be apprehended simultaneously in order to know that a change has taken place, and hence the intuition of space is necessary if the intuition of time is to be possible. 19 There is another extremely important consequence of this as well, of which Kant is very much aware. As noted above, the moments of time are 19
Cf. Reflexion 6314, AA 18:616.
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given to us through our successive apprehension of the manifold: "Motion, as action of the subject, . . . first produces the concept of succession" (B 154 f.). But it is only through the synthesis of the succession that the moments are brought together, and through which we become conscious of duration and hence time. This is what Kant means when he tells us that "the understanding does not find some sort of combination in the manifold already in inner sense, but produces it, by affecting inner sense" (B 155). Moreover, it is because time is given first and foremost through the action of the subject in the successive character of its apprehension that the self can only know itself as it affects itself. A second important argument contained in the passage has consequences for how we must think of the empirical self. Kant tells us that, "in order subsequently to make even inner alterations thinkable, we must be able to grasp time, as the form of inner sense, figuratively through a line, and grasp the inner alteration through the drawing of this line (motion), and thus grasp the successive existence of ourself in different states through outer intuition" (Cf. B 156). This means that in order to even think of myself as the subject of these alterations, I must think of myself as that which endures through the change of my representations, hence as spatial and embodied. For it is only as in space that I can represent something different from my changing representations that co-exists throughout their changes. For me to become my own object, that is, in order to intuit myself, I can only intuit myself as both in time and space and hence I can only make myself my own object insofar as what I know is the empirical, embodied self. 20 This discussion prepares us to understand what is going on in the second of Kant's premises for his refutation of idealism: "This persisting thing, however, cannot be something in me, since my own existence in time can first be determined only through this persistent thing." (B 275) The persisting thing cannot be a mere representation in me, for my representations are fleeting and successive. In order to represent something permanent, I must represent it as in space, that is, as existing simultaneously with my changing representations and existing throughout their change. As shown above, this means that I can only know myself as the subject of my changing determinations if I think of myself in space, and therefore as having a body. However, to think of myself as an embodied subject of my changing representations is a necessary, but not a sufficient condition of time determination. This is what Kant means when he notes that "my own existence in time can first be determined only through this persisting thing" (B 275). Since we can20
This point has also been made by Manfred Baum. He notes: "Since there is nothing permanent in inner intuition, there is also no substance, no constans et perdurabile rerum (B 186), which can be directly measured as to the length of its duration. . . . The duration of the soul's existence and the measurement of this duration presupposes, therefore, the soul's connection with a body which is enlivened by it and which is simultaneous with other bodies. For it is only the body that can be known to be simultaneous with something in the world, i.e., in space." {Kant on Cosmological Apperception, op. cit., 285).
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not determine the absolute passage of time, in order to measure the duration of lengths of time, we must measure one change by another. In the second note to the Refutation Kant notes that "we can perceive all time determination only through the change in outer relations (motion) relative to that which exists in space (e.g. the motion of the sun with regard to the objects on earth)" (B 277 f.). In the B deduction he makes the related claim "we must always derive the determination of lengths of time or of also the positions in time for all inner perceptions from that which presents external things to us as alterable" (B 156). What this means is the following. Suppose that I am traveling at a constant rate, and I need to find out what this rate is. How do I find out? I first check my position by noting that I have passed a certain mile marker and immediately check the clock; when I pass the next mile marker I do the same thing. Let us suppose I then discover I am traveling a mile per minute, that is, sixty miles an hour. But the clock does not have any significance in its own right; its significance lies in the fact that the clock represents the sun's movement in the sky, which changes at the rate of fifteen degrees per hour. So in finding out my rate of travel, what I have really done is to compare the rate of one physical change to that of another. Two things are significant in this regard. First, in order to measure one change by another, I must think of them as occurring simultaneously with one another, but in order to represent them as such, I require the intuition of space in which the two changing substances co-exist.21 Second, if time determination requires two or more substances in order to measure one change by the other, then my own existence as subject of my changing determinations (the empirical self) is a necessary, but not a sufficient condition for the determination of lengths of time, or for determining the position in time of inner perceptions. For this I require a change or changes different from the changes of my own state that occur simultaneously with my own, and therefore a change of something outside me. It is for this reason that Kant tells us, in the second premise of the refutation, that "my own existence in time can first be determined only through this persisting thing" (B 275). This answers Vogel's question, posed at the beginning of the paper, regarding why the empirical self alone is not sufficient for time determination. This reconstruction also answers our last question noted in the introduction: if we do not have a persisting impression of the self, or a persisting representation of an object, why then is an object outside the self a better candidate for time determination than the self and its inner determinations? 21
This is the subject of Reflexion 6313, AA 18:614: "The simultaneity of A and B cannot even be represented without something that endures, for all apprehension is really successive. But insofar as the succession can take place not only forward from A to B but also (as often as I want) backward from B to A, it is necessary that A endure (fortdaure]. The senserepresentations A and B must therefore have a ground other than in inner sense, but yet in some sense, therefore in outer sense; therefore there must be objects of outer sense (and as far as dreaming is concerned, this object, which causes the illusion o f the presence of several outer objects, is the body itself)."
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The answer lies in the fact that the empirical self is a necessary, but not a sufficient condition of time determination. For this something else is required, i.e., we need to be able to measure changes by one another. But this requires that I refer my perceptions to a body that exists simultaneously with other things in the world, that is, that exists in space.
Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ Joachim Hruschka, Erlangen
I. Problemstellung Gegenstand der folgenden Interpretation ist eine Passage in den handschriftlichen Bemerkungen, die Kant in seinem Handexemplar der Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 angebracht hat.1 Die Bemerkungen sind wahrscheinlich in den Jahren 1764 und 1765 geschrieben worden. 2 Sie stammen damit aus einer der frühesten Phasen, in denen sich Kant mit moralphilosophischen Fragen befaßt hat. Die Passage ist nicht zuletzt deswegen interessant, weil das in ihr verwendete Beispiel eines Früchtediebstahls in der Literatur der Gegenwart als eine frühe Anwendung des Kategorischen Imperativs aufgefaßt wird. 3 Die Stelle lautet: (AA 20, 161) Voluntas est vel propria hominis vel communis hominum. . . . Actio spectata secundum voluntatem hominum communem si sibimet ipsi contradicat est externe moraliter impossibilis (illibitum). Fac me alterius frumentum occupatum ire tum si specto hominem neminem sub ea conditione ut sibi ipsi eripiatur quod acquisivit acquirere velle quod alterius est idem secundum privatum volo et secundum publicum aversor. Quatenus enim aliquid a volúntate alicujus plenarie pendet eatenus impossibile est ut sibi ipsi contradicat (objective). Contradiceret autem voluntas divina sibimet ipsi si vellet homines esse quorum voluntas opposita esset voluntati ipsius. Contradiceret hominum voluntas sibimet ipsi si vellent quod ex volúntate communi abhorrerent. Est autem voluntas communis in statu collisionis praegnantior propria.4 Der Wille ist entweder der eigene eines Menschen oder der gemeinsame Wille der Menschen. . . . Eine unter dem Gesichtspunkt des gemeinsamen Willens der MenKant's gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe (= AA) 20, S. 1 - 192. - Der Text wird (in einer teilweise anderen Fassung) auch wiedergegeben in: Immanuel Kant, Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen " neu herausgegeben und kommentiert von Marie Rischmüller, 1991; Verweise auf dieses Werk hier unter dem Namen der Herausgeberin. - Aus den Bemerkungen werden im folgenden verschiedene Abschnitte wiedergegeben, die zur Unterscheidung voneinander nach den Seitenzahlen von Bd. 20 der Akademie-Ausgabe zitiert werden. Auch sonst wird im folgenden auf die Bandzahlen der Akademie-Ausgabe verwiesen. - Bei den Übersetzungen stütze ich mich im wesentlichen auf die Übersetzungen von Rischmüller, die ich jedoch gelegentlich modifiziere. Vgl. Gerhard Lehmann in der „Einleitung", AA 20, S. 472; Rischmüller in der „Einleitung", S. XVI f. Vgl. Christian Schnoor, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium der Richtigkeit des Handelns, 1989, S. 182 ff. mit weiteren Nachweisen. AA 20, S. 161 Z. 2 und 5 - 17; Rischmüller, S. 119 f. Rischmüller: statt „tum": „tarn", statt: „acquisivit": „acquisit". Übersetzung Rischmüller, S. 266.
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sehen betrachtete Handlung ist dann, wenn sie sich selbst widerspricht, äußerlich moralisch unmöglich (es gefällt nicht). Nimm an, daß ich mich anschicke, das Getreide eines anderen zu stehlen. Weil ich keinen Menschen kenne, der unter der Bedingung, daß ihm selbst geraubt wird, was er erworben hat, überhaupt eines anderen Gut erwerben will, so will ich das für mich privat, was ich für die Öffentlichkeit gerade nicht will. Soweit nämlich etwas vollständig vom Willen eines Subjekts abhängt, ist es unmöglich, daß das Subjekt sich (objektiv) selbst widerspricht. Der göttliche Wille würde sich selbst widersprechen, wenn er wollte, daß es Menschen gäbe, deren Wille seinem [dem göttlichen] Willen entgegengesetzt ist. Der Wille der Menschen widerspräche sich selbst, wenn sie etwas wollten, wovor sie mit dem gemeinsamen Willen zurückschrecken. Im Kollisionsfall ist der gemeinsame Wille gewichtiger als der eigene. 5
Bei der Stelle fällt zuerst ins Auge, daß nach ihr eine Handlung dann und deswegen als moralisch falsch - Kant sagt „moralisch unmöglich" - zu beurteilen ist, wenn und weil die Handlung einen Selbstwiderspruch enthält. Das wird nicht nur gleich am Anfang gesagt, sondern am Ende der Stelle noch einmal näher ausgeführt. Dabei steht die „voluntas communis hominum", der gemeinsame Wille der Menschen, im Vordergrund. Dazwischen findet sich das Beispiel des Früchtediebstahls, das eine Anwendung des Kategorischen Imperativs sein könnte, wenn der Kategorische Imperativ nur schon formuliert worden wäre. Wir fassen es - vorsichtiger - als eine Anwendung des Prinzips der Verallgemeinerung auf. Die nachstehenden Überlegungen beginnen mit einer Passage zur Soziabilität des Menschen bei Pufendorf, in der Pufendorf den Gedanken formuliert, bestimmte moralisch falsche Urteile liefen auf einen Selbstwiderspruch des Urteilenden hinaus. Kant übernimmt von Pufendorf den Gedanken der Soziabilität des Menschen (unten II.). Darüber hinaus formuliert er, wohl ebenfalls mit Blick auf die Pufendorf-Stelle, den Gedanken, daß moralisch falsches Handeln auf einem Selbstwiderspruch des Handelnden beruht. Zur Darstellung der Möglichkeit eines Selbstwiderspruchs bedient sich Kant der Figur einer „voluntas communis", die sich einerseits an der Definition von Gerechtigkeit bei Ulpian orientiert, andererseits an den „sensus communis" anlehnt (unten III.). Danach ist zur Vorbereitung einer Diskussion des Diebstahlsbeispiels auf die im 18. Jahrhundert bekannten Formulierungen des Prinzips der Verallgemeinerung einzugehen (unten IV.). Schließlich ist das Beispiel selbst zu diskutieren, an dem sich der Selbstwiderspruch des moralisch falsch Handelnden aufzeigen läßt (unten V ). Der Beitrag geht davon aus, daß Kant mit der einschlägigen Literatur seiner Zeit vertraut ist. Insbesondere kennt er Pufendorfs De Jure Naturae et Gentium von 1672 (in der Originalsprache) und den Kommentar von Barbeyrac dazu von 1706. Aber er kennt auch die 1764/65 neuere und neueste Literatur.
Die Übersetzung des Satzes „Fac me . . . " (mit einigen Veränderungen) im Anschluß an Dieter Henrich, Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus, in: Paulus Engelhardt (Hg.), Sein und Ethos, 1963, S. 350 ff., 361.
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Dazu gehören Achenwalls Prolegomena Iuris Naturalis6 von 1758 und Hutchesons An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue in der Übersetzung von Johann Heinrich Merk, Untersuchung unsrer Begriffe von Schönheit und Tugend, von 1762. II. Die Soziabilität des Menschen bei Pufendorf und Kant Ausgangsbasis unserer Interpretation von AA 20, 161 ist eine Äußerung von Pufendorf in De Jure Naturae et Gentium zum Thema „Gleichheit": Et sane uti contraria judicare de rebus, quae inter se conveniunt, contradictionem implicat; ita etiam in casu prorsus simili, meo & alieno, dissimilia statuere. Quin quia cuique sua natura est notissima, & exinde aliorum hominum natura, saltem quoad generales inclinationes non minus nota, sequitur illum, qui in simili alterius hominis iure statuit aliter, quam in suo, sibi in materia notissima contradicere, argumento animi non mediocriter aegrotantis. Nulla quippe ratio idonea proferri
potest, quare quod mihi ipsefas duco, ceteris paribus nefas ducam alteri. Sic etiam uti illi ad societatem quam maxime sunt idonei, qui facile eadem omnibus permittunt, quae sibi, ita plane insociabiles sunt, qui dum aliis sese superiores existimant, omnia licere sibi solis volunt, omnia sibi ignoscunt, nihil aliis remittunt; & ante caeteros honorem sibi arrogant, partemque praecipuam e x rebus in medio positis, ubi nullo prae reliquis jure eximio pollent. 7
Genauso wie es einen Widerspruch impliziert, wenn von Dingen, die in ihren wesentlichen Aspekten übereinkommen, entgegengesetzte Aussagen gemacht werden, impliziert es auch einen Widerspruch, wenn ganz und gar ähnliche Fälle, mein Fall und der ähnliche Fall eines anderen, unterschiedlich beurteilt werden. Aus der Tatsache, daß Kant seine Vorlesungen über Achenwalls Naturrecht „von ca. 1767" an gehalten hat (Gerhard Lehmann in der „Einleitung", AA 27.2.2., S. 1053), wird man jedenfalls nicht schließen können, daß er Achenwalls Werk 1764/65 noch nicht gekannt hat. Die uns bekannten äußeren Fakten passen mit der Annahme, Kant habe Achenwalls Prolegomena seit etwa 1763 benutzt, gut zusammen: Kant wird noch Jahrzehnte später Achenwalls Ius Naturae gerade in der 5. Auflage von 1763 (und nicht in der 6. Auflage von 1767) benutzen. Das gilt auch für die Vorlesung im Jahre 1784 (Naturrecht Feyerabend, AA 27.2.2., S. 1317 ff.), was sich u.a. daran zeigt, daß die Reihenfolge der in der Vorlesung aufgezählten Rechte der Reihenfolge dieser Rechte in der 5. Auflage und nicht der demgegenüber geänderten Reihenfolge in der 6. Auflage entspricht (dazu weiter unten in dieser Fn.). Dem korrespondiert die Tatsache, daß das erhalten gebliebene Exemplar der Iuris Naturalis Pars Posterior, das Kant kommentiert hat (AA 19, S. 325 ff.), ein Exemplar der 5. (und nicht der 6.) Auflage ist. Zur 5. Auflage des Ius Naturae aber gehört die gleichzeitig erschienene 2. Auflage der Prolegomena (und nicht etwa die 3. Auflage von 1767). - [Vergleich der 5. und der 6. Auflage des Ius Naturae: In der 5. Auflage behandelt Achenwall in Liber I die absoluten Rechte in folgender Reihenfolge: Tit. I „De iure cuiusvis respectu sui ipsius", Tit. II „De aequalitate naturali", Tit. III „De libertate naturali", Tit. IV „De iure circa declarationem mentis", Tit. V „De iure circa existimationem", Tit. VI „De iure circa res". In der 6. Auflage findet sich die folgende Reihe: Tit. I „De iure cuiusvis respectu sui ipsius", Tit. II „De libertate naturali", Tit. III „De aequalitate naturali", Tit. IV „De iure circa declarationem mentis", Tit. V „De iure circa existimationem", Tit. VI „De iure circa res". In der 6. Auflage hat Achenwall gegenüber der 5. Auflage die Titel II und III vertauscht. Naturrecht Feyerabend, S. 1338 f., folgt in diesem Punkt zweimal der 5. Auflage.] Samuel Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium, 2. Aufl. 1684 (1. Aufl. 1672), Lib. III Cap. II § 4; hg. von Frank Böhling 1998, S. 229 Z. 12 - 24. Hervorhebungen von mir.
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Daraus, daß jedem seine eigene Natur bestens bekannt ist und von daher nicht weniger die Natur der anderen Menschen, jedenfalls was ihre allgemeinen Neigungen angeht, ergibt sich, daß jeder, der in dem ähnlichen Fall eines anderen Menschen anders urteilt als in seinem eigenen, sich in einer ihm bestens bekannten Sache selbst widerspricht, ein Zeichen für einen nicht nur geringfügig kranken Geist. In der Tat kann kein taugliches Argument dafür vorgetragen werden, warum ich etwas, was ich für mich selbst als Recht ansehe, für einen anderen als Unrecht ansehen darf, wenn im übrigen die Dinge gleich sind. Wie diejenigen für die Gesellschaft am meisten taugen, die auch allen anderen bereitwillig gestatten, was sie sich selbst erlauben, so sind diejenigen klar ungesellig, die, solange sie sich den anderen überlegen fühlen, sich selbst allein alles herausnehmen wollen, sich selbst alles nachsehen, wogegen sie anderen nichts verzeihen, sich im Gegenteil vor den anderen eine besondere Ehre anmaßen und einen besonderen Anteil an den Dingen, die allen gehören, obwohl ihnen vor den anderen kein besonderes Recht zukommt. Pufendorf formuliert hier den Gedanken, daß es moralische Urteile gibt, die deswegen falsch sind, weil sie einen Selbstwiderspruch des Urteilenden enthalten, und zwar entsteht ein solcher Selbstwiderspruch immer dann, wenn zwei Fälle sich in ihren wesentlichen Zügen gleichen, ich die beiden Fälle moralisch aber trotzdem unterschiedlich beurteile. Was für mich selbst richtig ist, kann, ceteris paribus, für einen anderen nicht falsch sein, und was für mich selbst falsch ist, kann, ceteris paribus, für einen anderen nicht richtig sein. Mit diesem Gedanken verknüpft Pufendorf den der Soziabilität („Geselligkeit"). Soziabilität ist die Tauglichkeit zum Zusammenleben mit anderen Menschen. Wer Urteile fällt, die aufgrund eines Selbstwiderspruchs moralisch falsch sind, und diese Urteile in die Praxis umsetzt, ist insociabilis. Er ist, wenn nicht untauglich, so doch jedenfalls weniger tauglich für die menschliche Gesellschaft als derjenige, der solche Selbstwidersprüche vermeidet. In den Bemerkungen greift Kant beide Überlegungen auf. Zunächst den der Soziabilität. An der hier interessierenden, sogleich im Zusammenhang wiederzugebenden Stelle befaßt Kant sich mit der Frage, ob Lügen erlaubt sei. Dabei nimmt er einen „sensus juris quo fas ac nefas distinguimus" an, einen „Sinn für das Rechte, durch den wir zwischen Recht und Unrecht unterscheiden", und er führt dazu folgendes aus: (AA 20, 156) Hic sensus . . . originem ducit a mentis humanae natura per quam quid sit bonum categorice (non utile) judicat non ex privato commodo nec ex alieno sed eandem actionem ponendo in aliis si oritur oppositio et contrarietas displicet si harmonia et consensus placet. Hinc facultas stationum moralium ut medium heuristicum. Sumus enim a natura sociabiles et quod improbamus in aliis in nobis probare sincera mente non possumus. Est enim sensus communis veri et falsi non nisi ratio humana generatim tanquam criterium veri et falsi et sensus boni vel mali communis criterium illius. Capita sibi opposita certitudinem logicam corda moralem tolleren!.8
AA 20, S. 156 Z. 8 - 17; Rischmüller S. 116. Übersetzung Rischmüller, S. 261 f.
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Dieser Sinn hat seinen Ursprung in der Natur des menschlichen Geistes, durch die er das, was kategorisch gut (nicht nützlich) ist, nicht nach dem privaten oder fremden Nutzen beurteilt, sondern dadurch, daß er dieselbe Handlung in andere Personen verlegt. Entsteht dabei ein (kontradiktorischer oder konträrer) Gegensatz, dann mißfällt die Handlung, entstehen Harmonie und Einklang, dann gefällt sie. Daher die Fähigkeit, moralische Standpunkte einzunehmen, als heuristisches Mittel. Wir sind nämlich von Natur aus sociabiles und, was wir bei anderen mißbilligen, können wir bei uns selbst nicht redlicher Weise billigen. Der Gemeinsinn des Wahren und Falschen ist nichts anderes als die menschliche Vernunft, allgemein genommen als Kriterium des Wahren und Falschen, und entsprechend ist der Gemeinsinn des Guten und Bösen nichts anderes [als die menschliche Vernunft, wieder allgemein genommen,] als das Kriterium des Guten und Bösen. Entgegengesetzte Köpfe würden die Erkenntnisgewißheit, entgegengesetzte Herzen die moralische Gewißheit aufheben.
Die Stelle bei Pufendorf liefert den Hintergrund für Kants Überlegungen. Allerdings setzt Kant die Akzente anders als Pufendorf. Pufendorf sagt, es sei für das streitlustige Tier, das der Mensch ist, ein „necessarium, ut sit sociabile" - d.i. es sei für den Menschen lebensnotwendig, für das Zusammenleben mit anderen zu taugen, 9 woraus er (Pufendorf) dann seinen Grundsatz des Naturrechts ableitet. Kant sagt, der Mensch sei von Natur aus, also schon immer, ein sociabilis (wenn auch vielleicht, wie es viel später heißt, 10 ein „ungeselliger Geselliger"). Unsere Soziabilität zeigt sich 1) an unserer Fähigkeit, moralische Standpunkte einzunehmen, d.i., wie Rischmüller richtig umschreibt, 11 an der „Fähigkeit, sich an die Stelle anderer zu versetzen". Anders gewendet ist die Fähigkeit, moralische Standpunkte einzunehmen, die Fähigkeit, die (künftige) Handlung, die wir ins Auge fassen, in eine andere Person zu verlegen. Tun wir das, dann kommt eine weitere Komponente hinzu. Wir können 2) gleiche Fälle ehrlicherweise nicht anders denn als gleich beurteilen, auch wenn der eine Fall mein Fall und der andere Fall der meines Nachbarn ist. Kant: „Was wir bei anderen mißbilligen, können wir bei uns selbst nicht redlicher Weise billigen." Soziabilität verhindert danach bei Kant wie bei Pufendorf, daß vergleichbare Handlungen verschieden beurteilt werden, wodurch moralische Gewißheit möglich wird. Sie ist bei Kant konstitutiv für den „sensus boni vel mali communis", den „sensus juris quo fas ac nefas distinguimus", den moralischen Gemeinsinn, den Kant schon hier mit der (praktischen) Vernunft gleichsetzt.
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Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium, Lib. II Cap. III § 15; Böhling, S. 148 Z. 16 f. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784, AA 8, S. 20 Z. 30: „ungesellige Geselligkeit". Rischmüller, S. 269 (zu 136, 18).
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III. Zur voluntas communis
als dem Maßstab
richtigen
Handelns
Kant übernimmt von Pufendorf aber nicht nur den Gesichtspunkt der Soziabilität, sondern auch den Gedanken, daß moralische Urteile falsch sind, wenn und weil sie einen Selbstwiderspruch enthalten. Allerdings geht er über Pufendorf hinaus, weil er den Gedanken von vornherein von bloßen (moralischen) Urteilen auf die zu beurteilenden Handlungen selbst überträgt. Nach unserem Ausgangstext (AA 20, 161) sind diejenigen Handlungen moralisch falsch, die auf einen Selbstwiderspruch des Handelnden hinauslaufen. Selbstwidersprüche bei Urteilen sind Widersprüche im Denken. Selbstwidersprüche bei Handlungen sind Widersprüche im Wollen. Deshalb stellt Kant auf den Willen ab, und, um zu zeigen, wie derartige Selbstwidersprüche aussehen, benutzt er die Figur einer „voluntas communis hominum", eines gemeinsamen Willens der Menschen. Die Frage stellt sich, was diese voluntas communis hominum denn nun eigentlich ist. Dazu könnte man zuerst an einen vereinigten Willen der Gesellschafter in einer Gesellschaft denken. Nach Achenwall ist für eine Gesellschaft (im zivilrechtlichen Sinne von „Gesellschaft") eine Reihe von Momenten konstitutiv, deren erste das gemeinsame Ziel und das gemeinsame Gut der Gesellschaft sind. Unter dem Titel „De societate in genere" schreibt Achenwall: Cogitatur vero in omni societate . . . finis communis, ergo unio voluntatum et bonum commune.12 Zu jeder Gesellschaft wird ein gemeinsames Ziel gedacht, folglich eine Vereinigung der Willen [der Gesellschafter] und ein gemeinsames Gut. Es liegt nahe, die unio voluntatum, die Vereinigung der Willen der Gesellschafter, die auf eine finis communis und ein bonum commune hinarbeiten, „voluntas communis" zu nennen. Achenwall zieht diese Konsequenz zwar noch nicht, aber Kant zieht sie. Bei seiner Kommentierung von Achenwalls Ius Naturae spricht Kant im Zusammenhang mit dem Begriff der Gesellschaft ausdrücklich von einer „voluntas communis": Societas est totum personarum, quatenus obligatae sunt ad agendum secundum voluntatem communemP Eine Gesellschaft ist eine Gesamtheit von Personen, soweit diese verpflichtet sind, einem gemeinsamen Willen gemäß zu handeln. Nun geht es Kant in AA 20, 161 aber nicht um eine einzelne Gesellschaft, sondern um die Menschheit schlechthin. Zwar sieht es auf den ersten Blick so aus, als ziehe er mit der voluntas communis hominum eine Analogie zu der 12 13
Achenwall, Iuris Naturalis Pars Posterior (ob. Fn. 6), § 2. Hervorhebungen von mir. AA 19, S. 446 Z. 11 ff. (R 7524); Hervorhebung von mir. - Vgl. auch (in demselben Band) die Reflexionen 7526, 7528, 7858, 7962, 7987.
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voluntas communis, die in das Gesellschaftsrecht gehört. Doch ist die Annahme einer solchen Analogie alles andere als zwingend. Denn es stellt sich die Frage, ob und, wenn ja, wie der Menschheit, dem genus humanum, ein gemeinsamer Wille in derselben Weise zugeschrieben werden soll, wie wir einer Gesellschaft einen gemeinsamen Willen zuschreiben. Die Menschheit ist keine Gesellschaft mit einem gemeinsamen Ziel und einem gemeinsamen Gut in der Weise, wie eine Gesellschaft ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsames Gut hat. An eine Weltgesellschaft war in den Jahren 1764/65 jedenfalls noch nicht zu denken. Infolgedessen kann die Menschheit auch keinen gemeinsamen Willen haben wie eine einzelne Gesellschaft.14 Deshalb muß, wenn Kant trotzdem von einer voluntas communis hominum spricht, diese voluntas communis hominum einen anderen Charakter haben als die voluntas communis, die für eine Gesellschaft konstitutiv ist. Es läßt sich zeigen, daß Kant bei der voluntas communis hominum an die voluntas in Ulpians berühmter Definition von Gerechtigkeit denkt: Justitia est constans et perpetua voluntas jus suum cuique tribuendi.15 Gerechtigkeit ist der beständige und andauernde Wille, jedermann sein Recht zu geben.
Kant sagt nicht ausdrücklich, daß er an die Ulpian-Formel anknüpft. Aber an der Stelle, wo er die voluntas communis in den Bemerkungen einführt, macht er eine Andeutung. Dort heißt es: Habitus actionis e volúntate singulari est solipsismus Moralis Habitus actionis e volúntate communi est justitia Moralis.16 (AA 20, 145) Der Habitus, Handlungen aus einem vereinzelten Willen heraus vorzunehmen, ist moralischer Solipsismus; der Habitus, Handlungen aus dem gemeinsamen Willen heraus vorzunehmen, ist moralische Gerechtigkeit.
Kant stellt hier (in AA 20, 145) Gerechtigkeit und moralischen Solipsismus einander gegenüber. 17 Gerechtigkeit wie moralischer Solipsismus können mit Hilfe der moralischen Standpunkte bestimmt werden, von denen auch AA 20, 156 spricht. So Kant zum moralischen Solipsismus ausdrücklich:
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Das alles spricht auch gegen eine mögliche Anknüpfung an Rousseaus Contrat Social, wobei sich noch das zusätzliche Argument ergibt, daß Kant nicht von „voluntas generalis" redet (was die wörtliche Übersetzung von „volonté générale" wäre), sondern von .voluntas communis". Digesten 1, 1, 10 pr. (Pseudo-Ulpian) - Institutionen 1, 1 pr. AA 20, S. 145 Z. 4 f.; Rischmüller, S. 108, statt „Habitus" „", der zweite Satz wird teilweise nur durch Striche angedeutet. Übersetzung Rischmüller, S. 256. Um der parallelen Formulierung willen spricht Kant statt von „Gerechtigkeit" von „moralischer Gerechtigkeit", und, was den „moralischen Solipsismus" angeht, so würden wir heute nicht mehr von „moralischem Solipsismus", sondern von „Egoismus" sprechen. Zum letzteren vgl. Gottfried Gabriel, Art. Solipsismus, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 9 (1995), Sp. 1018 ff.
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(AA 20, 169) De stationibus ... moralibus, in Ermangelung Solipsismus moralis.18 Das soll heißen: Wenn ich nicht den Standpunkt der anderen einnehme, dann bin ich moralischer Solipsist. Daraus ergibt sich, daß es zu Gerechtigkeit führt, wenn ich den Standpunkt der anderen einnehme. Dabei bestimmt Kant in AA 20, 145 Gerechtigkeit als einen Habitus, also als eine Einstellung und Fertigkeit, die ein Mensch bei seinem Handeln hat. Dazu gibt es eine geschichtliche Parallele. Schon die Scholastik hat Gerechtigkeit als einen Habitus bestimmt. Beim Aquinaten findet sich die folgende Stelle: Iustitia est habitus secundum quem aliquis constanti et perpetua voluntate ius suum unicuique tribuit.19 Gerechtigkeit ist ein Habitus, kraft dessen jemand mit beständigem und andauerndem Willen jedermann sein Recht gibt. Nicht überraschend ist hier (bei Thomas) der Wille, der den Habitus der Gerechtigkeit hat, die voluntas aus der Definition des Ulpian. Thomas übernimmt die Begriffsbestimmung des römischen Juristen mit der Modifikation, daß Gerechtigkeit nicht der beständige und andauernde Wille selbst ist, sondern der Habitus eines Willens. Diese Bestimmung von Gerechtigkeit hält sich über Jahrhunderte hinweg. Wir können voraussetzen, daß Kant sie kennt, nicht zuletzt auch gerade deshalb, weil er im Zusammenhang mit dem Gerechtigkeitsbegriff die aristotelisch-scholastische Kategorie des Habitus benutzt. Deshalb können wir auch voraussetzen, daß Kant, wenn er Gerechtigkeit als den Habitus eines Willens bestimmt, an die Gerechtigkeit denkt, von der Ulpian spricht. Damit erweist sich Ulpians voluntas jus suum cuique tribuendi als der Ursprung und die Wurzel der voluntas communis hominum. Die voluntas communis ist identisch mit dem Willen, jedermann sein Recht zu geben. Die Frage stellt sich, warum Kant es für richtig hält, die voluntas jus suum cuique tribuendi als „voluntas communis" zu bezeichnen. Hier wird eine weitere Assoziation erkennbar. Die „voluntas communis" ist an den „sensus communis" angelehnt, von dem auch in AA 20, 156 die Rede ist. Sensus communis, Gemeinsinn, ist der gemeine Menschenverstand, der Erkenntnisse vermittelt.20 Es ist kein Zufall, daß das, was in AA 20, 161 „voluntas communis" heißt, in AA 20, 156 „sensus boni vel mali communis" genannt wird. Kant wechselt zwischen den Ausdrücken „sensus boni vel mali communis" 18 19 20
AA 20, S. 169 Z. 1 und 3; Rischmüller, S. 125. Thomas, Summa theologica II/II q 58 a 1. 1705 beschreibt Christian Thomasius im Titelblatt seiner Fundamenta Juris Naturae et Gentium die von ihm vorgetragenen Lehrsätze ausdrücklich als „ex sensu communi deducta", d.i. als „aus dem sensus communis deduziert". Auch andere Autoren des 18. Jahrhunderts nehmen einen sensus communis an. Vgl. Astrid von der Lühe, Art. sensus communis/111. Neuzeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 9, Sp. 639 ff., 650 ff. (unter A 5). Siehe auch die Hinweise auf die Literatur in William Hamilton, On the Philosophy of Common Sense, in: The Works of Thomas Reid, hg. von William Hamilton, 5. Aufl. 1858, S. 742 ff., 770 ff.
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und „voluntas communis", denen das „communis" gemeinsam ist, hin und her.21 Auch sonst ist er in den Bemerkungen an dem interessiert, was Menschen gemeinsam haben. An einer anderen Stelle bringt er einen Hinweis auf den „mundus communis", die gemeinsame Welt der Menschen: „Wenn wir wachen, so haben wir mundum communem."22 An einer wieder anderen Stelle heißt es: „Wir müssen den gemeinen Verstand und den gemeinen Geschmack in Ehren halten."23 Betrachten wir das alles in einer Gesamtschau, dann zeigt sich, daß die voluntas communis, der gemeine Wille der Menschen, als eine Analogie vor allem zum sensus communis aufzufassen ist. Die voluntas communis ist eine Anlage des Menschen, die zum richtigen Handeln lenkt, wie der sensus communis zum richtigen Denken anleitet. Das Kriterium der Richtigkeit zeigt sich, wenn wir die voluntas communis als eine voluntas jus suum cuique tribuendi verstehen. Der voluntas communis steht der individuelle Wille gegenüber, der in unserem Ausgangstext (AA 20, 161) „voluntas propria" (wörtlich: '"eigener Wille") heißt. In AA 20, 145 stehen „voluntas communis" und „voluntas singularis" (wörtlich: „einzelner Wille") einander gegenüber. Voluntas propria und voluntas singularis sind nicht dasselbe. „Voluntas propria" meint den individuellen Willen in einer neutralen Beschreibung. Die voluntas propria ist mein eigener Wille, wobei offen bleibt, was ich mit diesem eigenen Willen will. Die voluntas propria kann dem gemeinsamen Willen der Menschen entsprechend handeln. Sie kann ihm auch zuwider handeln. Die Gegenüberstellung von „voluntas communis" und „voluntas propria" korrespondiert damit der späteren Gegenüberstellung von „Wille" und „Willkür". Kant in der Metaphysik der Sitten: „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen."24 Anders die voluntas singularis. Die voluntas singularis ist durch ihren moralischen Solipsismus gekennzeichnet. Sie hat sich von der voluntas communis gelöst und ist nicht so sehr einzelner, als vielmehr vereinzelter Wille. Die Annahme einer voluntas communis hat vor allem den Zweck, den Gedanken zu formulieren, daß die Qualität einer Handlung, moralisch falsch zu sein, auf einem Selbstwiderspruch des Handelnden beruht. Mit diesem Problem befaßt sich unsere Ausgangspassage AA 20, 161. Die Grundlage von Kants Reflexion ist der Gedanke, daß der reine Wille sich nicht selbst widersprechen kann. Schon Pufendorf hatte überlegt, daß Gott nicht schlechthin Beliebiges wollen könne, weil er sich sonst in einen Selbstwiderspruch verstricken würde. Beispielsweise kann Gott, so Pufendorf, nicht wollen, durch
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22 23 24
AA 20, S. 145: „voluntas communis", AA 20, S. 156: „sensus boni vel mali communis", AA 20, S. 161: "voluntas communis". AA 20, S. 179 Z. 1; Rischmüller, S. 132. AA 20, S. 167 Z. 5 f.; Rischmüller, S. 124. AA 6, S. 226 Z. 4 f.
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Blasphemie und Verachtung verehrt zu werden. 25 Kant greift das auf. Gott würde sich selbst widersprechen, wenn er wollte, daß Menschen etwas wollen, was dem göttlichen Willen entgegen ist. Aber auch der gemeinsame Wille der Menschen kann sich nicht selbst widersprechen. Die voluntas propria dagegen, der eigene Wille des einzelnen Menschen, kann der voluntas communis zuwiderhandeln. Wie individuelle Verstöße gegen Denkgesetze durch einen Vergleich mit den Regeln der Logik festgestellt werden können, die der sensus communis bereitstellt, und wie die individuelle Behauptung einer vermeintlichen Tatsache durch einen Appell an den mundus communis der Wachen als ein bloßes Phantasieprodukt entlarvt werden kann, kann das individuelle moralische Urteil durch einen Vergleich mit der voluntas communis als falsch erwiesen werden. IV. Zum Prinzip der Verallgemeinerung im 18. Jahrhundert Eine gewisse Ausarbeitung des Selbstwiderspruchs, um den es Kant geht, enthält die Bemerkung über den Früchtediebstahl. Wir werden die Stelle vor dem Hintergrund des Prinzips der Verallgemeinerung lesen müssen, wie es im 18. Jahrhundert diskutiert worden ist. Wir finden das Prinzip schon bei Laktanz, der seinerseits von Pufendorf zitiert wird.26 Nihil sapienter fit, quod si ab omnibus fiat, inutile est ac malum.27 Nichts tut der Weise, was, wenn es von allen geschähe, unnütz wäre oder schlecht.
Zu Kants Zeiten sind insbesondere zwei Fassungen des Prinzips im Umlauf, eine erste von Johann Balthasar Wernher, eine zweite von Barbeyrac.28 Wernhers Formel lautet: Quicquid ita comparatum, ut, si ab omnibus hominibus omitteretur, generi humano pereundum esset, illud per legem Naturae a Deo praeceptum. Quicquid ita comparatum, ut, si ab omnibus hominibus fieret, generi humano pereundum esset, illud naturaliter a Deo prohibitum.29 Was so beschaffen ist, daß, wenn es von allen Menschen unterlassen würde, der Menschheit den Untergang brächte, das ist durch das Gesetz der Natur von Gott geboten; und was so beschaffen ist, daß, wenn es von allen Menschen getan würde, der Menschheit den Untergang brächte, das ist von Natur aus von Gott verboten. 25
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Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium, Lib. II Cap. III § 4; Böhling (ob. Fn. 7), S. 132 Z. 43 - S. 133 Z. 1. Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium, Lib. III Cap. II $ 4; Böhling (ob. Fn. 7), S. 229 Z. 11 f. Diviniae Institutiones, Lib. III Cap. 23. Vgl. L. Caelius Firmianus Lactantius, Opera Omnia, hg. von Samuel Brandt und Georg Laubmann, Pars I, 1890, S. 252. Zu den beiden Versionen des Prinzips der Verallgemeinerung im 18. Jahrhundert vgl. meinen Beitrag Universalization and Related Principles, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Bd. 78 (1992), S. 289 ff. Johann Balthasar Wernher, Elementa Iuris Naturae et Gentium, 1705, S. 123.
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Die Regeln verlangen von jedem, der im Begriffe ist, etwas zu tun, daß er die Handlung verallgemeinert, an die er gerade denkt. Es kommt dabei auf die Wirkungen an, die zu erwarten wären, würde die Handlung von jedermann vorgenommen, beziehungsweise auf die zu erwartenden Wirkungen, würde sie von jedermann unterlassen. Stelle ich fest, daß die allgemeine Vornahme der Handlung, die ich im Auge habe, den Untergang der Menschheit (genus humanum) zur Folge hätte, dann bin ich verpflichtet, die Handlung zu unterlassen; und stelle ich fest, daß ihre allgemeine Unterlassung in den Untergang führte, dann bin ich verpflichtet, sie vorzunehmen. In seinem Kommentar zu Pufendorfs De Jure Naturae et Gentium schlägt Barbeyrac einen etwas anderen Weg ein. Die maßgebliche Stelle lautet folgendermaßen: Dès là qu'une chose paraît avantageuse ou nuisible à la Société Humaine en général, dans quelque état que les hommes puissent être, en tout tems, & en tout lieu; il faut la tenir pour absolument prescrite ou défendue par le Droit Naturel. Ainsi, quoi que le Larcin: par exemple, ou l'Adultère, ayent pu, en certaines circonstances, & par un effet des moeurs corrompues d'un certain pais, ne troubler que peu ou point une Société particulière, comme on prétend que l'expérience le fit voir autrefois dans la République des Matëagétes, & dans celle des Lacédémoniens: ces deux crimes n'en sont pas pour cela moins contraires à la Loi Naturelle; pars que, si on les permettoit toujours & dans tous les Etats du Monde, il en résulterait, sans contredit, de fâcheux inconvéniens, & de terribles désordres; & qu'au contraire, toute Société, quelle que ce soit, sera toûjours plus tranquille & plus heureuse, lors que ceux qui la composent s'abstiendront religieusement de ravir les biens ou de débaucher la Femme de leur prochain, que si l'on y commet fréquemment de pareils attentats.30 Wenn eine Sache für die menschliche Gesellschaft im ganzen als vorteilhaft oder nachteilig erscheint, in welchem Status auch immer sich Menschen befinden, zu jeder beliebigen Zeit und an jedem beliebigen Ort, dann müssen wir diese Sache als vom Gesetz der Natur absolut geboten oder verboten betrachten. Obwohl also Diebstahl oder Ehebruch unter bestimmten Umständen und durch den Verfall der Sitten in gewissen Ländern und für besondere Gesellschaften wenig oder gar keine Schwierigkeiten verursacht haben, wie einige Leute behaupten, daß Erfahrung dies für die Reiche der Massageten und der Lakedämonier lehrt, so ändert das nicht das geringste daran, daß diese beiden Verbrechen dem Gesetz der Natur zuwider sind. Denn wenn sie immer und in allen Situationen erlaubt wären, dann würden daraus zweifellos schwerwiegende Nachteile und schreckliche Unordnung entstehen; im Gegenteil, jede Gesellschaft, welche auch immer, muß ruhiger und glücklicher sein, wenn ihre Mitglieder sich des Raubes und der Verführung der Frau des Nächsten peinlich genau enthalten, als wenn der Versuch dieser Verbrechen häufig gemacht wird. Barbeyrac bringt hier eine Variante des Prinzips der Verallgemeinerung, die sich von der Wernhers unterscheidet. Wernher stellt auf die verheerenden 30
Le Droit de la Nature et des Gens, Systeme General ... Traduit du Latin de feu Mr. Le Baron
de Pufendorf, par Jean Barbeyrac. Avec des Notes du Traducteur . . . & une Préface, Tome Premier et Tome Second, 1706, Note 4 zu Liv. II Chap. Ill S XV (Bd. I S. 178).
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Folgen für die Menschheit ab, die eintreten würden, wenn eine bestimmte Handlung von jedermann vorgenommen würde. Barbeyrac hingegen stellt auf die verheerenden Folgen ab, die eintreten würden, wenn eine bestimmte Handlung jedermann erlaubt wäre. Wernher arbeitet mit der Annahme, daß die Leute sich die fragliche Handlung tatsächlich herausnehmen, oder, um es anders zu fassen, daß sie sich die Handlung selbst erlauben. Barbeyrac arbeitet mit der Annahme, daß das maßgebliche Gesetz den Leuten die fragliche Handlung erlaubt. Wir wollen Wernhers Prinzip als „erste Variante" und Barbeyracs Prinzip als „zweite Variante" des Prinzips der Verallgemeinerung bezeichnen. Beide sind in der Folgezeit durchaus erfolgreich. Die erste Variante wird unter anderem von Achenwall aufgegriffen, der sie 1758 in seine Prolegomena einstellt.31 Die zweite Variante finden wir unter anderem bei Hutcheson, der in der Inquiry von 1725 ausführt, Handlungen seien dann moralisch schlecht, wenn ihre allgemeine Zulassung der Menschheit den größeren Schaden brächte als ihr allgemeines Verbot, „if their universal Allowance would be more detrimental to Mankind than their universal Prohibition".32 In der Übersetzung von Merk lautet die Stelle bei Hutcheson: Dies ist die Ursache, warum manche Gesetze Handlungen überhaupt verbieten, auch da, w e n n in besondern Fällen diese Handlungen sehr nützlich sein würden, weil eine allgemeine Erlaubnis derselben, w e n n man die Irrtümer betrachtet, worein die Menschen wahrscheinlicher Weise fallen würden, schädlicher als ein allgemeines Verbot sein würde?1
Das ist offenbar der Gedanke, den Barbeyrac schon 1706 gehabt hat. Er wird von Hutcheson vielleicht etwas schärfer gefaßt als von Barbeyrac. V. Die Ausarbeitung des Selbstwiderspruchs am Beispiel des Früchtediebstahls Gehen wir über zu dem Beispiel selbst. Kant nimmt an, daß ein Mensch im Begriffe ist, einem anderen Menschen die Früchte seiner Arbeit zu stehlen. Der Täter vergegenwärtigt sich dabei die Möglichkeit eines Verlustes des Diebesguts. Er rechnet ein, daß ihm das Diebesgut seinerseits wieder abgenommen wird, und zwar nicht nur vom Eigentümer in einer Besitzkehr oder von der Polizei bei der Strafverfolgung, sondern gewissermaßen wahllos von jedermann. Die Voraussetzung, die er dabei macht, bleibt unausgesprochen. Man könnte daran denken, daß Kant hier die tatbestandlichen Voraussetzungen des Prinzips der Verallgemeinerung in der ersten Variante anwendet: Die 31 32 33
Achenwall, Prolegomena Iuris Naturalis, § 85. Francis Hutcheson, Art Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue, 1725, (Collected Works I, 1971), S. 164 f. Franz Hutchesons Untersuchung unsrer Begriffe von Schönheit und Tugend, 1762, S. 193. Hervorhebungen von mir.
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Diebesbeute wird dem Täter von den anderen wieder abgenommen werden, weil jedermann jedem anderen Sachen wegzunehmen pflegt. Man könnte aber auch an eine Anwendung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Prinzips in der zweiten Variante denken: Die Diebesbeute wird dem Täter von den anderen wieder abgenommen werden, weil die anderen das tun dürfen. Kant geht m.a.W. entweder von der Annahme aus, daß die Wegnahme von Sachen, die anderen Leuten gehören, allgemein üblich, oder von der Annahme, daß sie allgemein erlaubt ist. Ohne eine solche Annahme bliebe der Gedankengang unverständlich, weil erst die eine oder die andere Annahme den Grund für die Bedingung liefert, daß dem Täter wieder weggenommen wird, was er erworben hat. Den Gedanken, einen Diebstahl als ein Beispiel zu nehmen, hat schon Barbeyrac gehabt. Kant greift den Gedanken auf und denkt ihn weiter. Er fragt, was die Konsequenzen wären, wenn Diebstahl allgemein üblich oder allgemein erlaubt wäre. Unter dieser Voraussetzung würde niemand mehr etwas durch einen Diebstahl erwerben wollen. Genauer: Niemand mehr würde überhaupt etwas erwerben wollen, auf welche Weise auch immer. Das Problem, das sich damit auftut, versucht Kant mit Hilfe der Gegenüberstellung von „voluntas communis" und „voluntas propria" zu formulieren. Ich verallgemeinere die voluntas propria, d.h. ich verallgemeinere meinen Entschluß, einen Diebstahl zu begehen. Die Verallgemeinerung führt zu der Annahme, Diebstahl sei allgemein üblich oder allgemein erlaubt. Diese Voraussetzung aber, daß Diebstahl allgemein üblich oder allgemein erlaubt ist, würde meinen Entschluß, den Diebstahl zu begehen, sinnlos machen. Denn ich kann dann nicht behalten, was ich zu stehlen plane. Deshalb muß ich mit der voluntas communis wollen, daß Eigentum als Institution erhalten bleibt. Wenn Eigentum erhalten bleiben soll, dann muß Diebstahl verboten bleiben. So die voluntas communis. Mit dem nicht verallgemeinerten Willen, der voluntas propria dagegen will ich den Diebstahl. Darin sieht Kant den Selbstwiderspruch des Diebes, daß der Dieb (mit der voluntas communis) die Institution „Eigentum" erhalten will und (mit der voluntas propria, die zur voluntas singularis wird) sich selbst gleichzeitig gestattet, die Regeln, die aus der Institution folgen, zu durchbrechen. Das ist ein Selbstwiderspruch, weil sowohl voluntas communis wie voluntas propria jeweils mein Wille sind. Ich will beides zugleich, Eigentum und Diebstahl, was Kant so formuliert, daß ich „secundum privatum", also mit meinem Einzelwillen, etwas will, was ich „secundum publicum", d.i. mit der voluntas communis, gerade nicht will. Der Fortschritt, den Kant gegenüber Wernher und gegenüber Barbeyrac (und Hutcheson) erzielt, liegt bei der Formulierung der Folgen der Annahme, Diebstahl sei allgemein üblich oder allgemein erlaubt. Wernher hatte darauf abgestellt, daß die allgemeine Vornahme der Handlung zu einem Untergang des Menschengeschlechts führen würde. Barbeyrac hatte überlegt, ob die allgemeine Zulassung von Diebstahl „schwerwiegende Nachteile und schreckli-
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che Unordnung" zur Folge hätte. Kant präzisiert das und hebt es auf eine neue Ebene. Der Nachteil, der entsteht, besteht in dem Selbstwiderspruch des Handelnden, der aus dem Willen zur Aufrechterhaltung der Institution „Eigentum" bei gleichzeitigem Abbedingen der Konsequenzen aus eben dieser Institution resultiert.34 Der Fortschritt, den Kant gegenüber Pufendorf erzielt, besteht darin, daß er besser als dieser formulieren kann, wann die Handlung eines Menschen einen Selbstwiderspruch enthält. Pufendorf konnte einen Selbstwiderspruch nur dann erkennen, wenn das moralische Urteil, das einer Handlung zugrunde liegt, dem Gleichbehandlungsgrundsatz entgegen ist. Kant dagegen kann sagen, daß der Selbstwiderspruch allgemein in einer Diskrepanz von voluntas communis und voluntas propria liegt. Für Kant kann der Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nur ein Sonderfall eines moralischen Selbstwiderspruchs sein: Mit der voluntas communis will ich, daß mein Nachbar und ich gleich behandelt werden, mit der voluntas propria will ich die Ungleichbehandlung, und darin steckt der Selbstwiderspruch. Aber es gibt auch andere Fälle. In dem Beispiel des Früchtediebstahls will ich mit der voluntas communis die Aufrechterhaltung der Institution „Eigentum", mit der voluntas propria durchbreche ich die daraus folgenden Regeln, und wieder ergibt sich ein Selbstwiderspruch. So sehr Kant über Wernher, Barbeyrac und Hutcheson einerseits und über Pufendorf andererseits hinausgeht, so sehr ist doch auch die Kontinuität zu betonen, die zwischen diesen Autoren und Kants Diskussion des Früchtediebstahls in den Bemerkungen besteht. Die Verallgemeinerung (Wernher, Barbeyrac, Hutcheson) führt zu der voluntas communis, die nicht Eigentum und Diebstahl zugleich wollen kann, und das wiederum führt zur Feststellung des Widerspruchs zwischen der voluntas communis und der voluntas propria, weshalb die mit der voluntas propria vorgenommene Handlung moralisch falsch ist. Pufendorf faßt den Gedanken, daß am Grunde moralisch falschen Urteilens ein Selbstwiderspruch liegt. Auch für Kant spielt ein Selbstwiderspruch die entscheidende Rolle, nämlich der Selbstwiderspruch, der am Grunde moralisch falschen Handelns liegt. Kant steht also in einer Tradition, sowohl, was die Verallgemeinerung, als auch, was den Gedanken des Selbst-
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Hervorzuheben ist, daß Kant mit seinen Überlegungen nicht zu dem Ergebnis kommt, die voluntas communis wolle stets die Institution „Eigentum". Sie will es zwar im Falle des Diebes, weil die Möglichkeit von Diebstahl das Bestehen von Eigentum voraussetzt. Aber das bedeutet noch nicht, daß die voluntas communis Eigentum in jedem Falle will. Dafür braucht es zusätzliche Annahmen. Jahrzehnte später wird Kant in der Metaphysik der Sitten (AA 6, 246 Z. 5 f.) ein „rechtliches Postulat der praktischen Vernunft" aufstellen, nach dem es „möglich" ist, „einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben". Mit einem solchen Postulat wird Eigentum in einer zusätzlichen Überlegung geschaffen, die von dem Selbstwiderspruch des Diebes unabhängig ist.
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Widerspruchs angeht. Seine Leistung besteht nicht zuletzt in dem Zusammendenken von vorher als heterogen erscheinenden Gesichtspunkten. Es kann kein Zweifel sein, daß sich Kant mit unserer Ausgangspassage (AA 20, 161) auf dem Wege zur ersten Formel des Kategorischen Imperativs befindet. 35 Die von seinen Vorgängern gedachten Gedanken liegen auf diesem Weg.
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Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, AA 4, S. 421 Z. 7 f.
Form und Materie der reinen praktischen Vernunft Über die Haltlosigkeit von Formalismus- und SolipsismusVorwürfen und das Verhältnis des kategorischen Imperativs zu seinen Erläuterungsformeln Bernward Grünewald, Köln
Der kategorische Imperativ, jenes einfache Prinzip, das „die gemeine Menschenvernunft" nach Kant „jederzeit vor Augen" hat,1 macht den Philosophen immer wieder beträchtliche Schwierigkeiten. Hegel fand in seinem Naturrechtsaufsatz in ihm nichts als „die analytische Einheit und Tavtologie der praktischen Vernunft", die „nicht nur etwas überflüssiges, sondern in der Wendung, welche sie erhält, etwas falsches" sei und daher „als das Princip der Unsittlichkeit erkannt werden" müsse; 2 schon Hegel bestand darauf, dass es „an sich widersprechend" sei, „eine Sittengesetzgebung, da sie einen Innhalt haben müßte, bey dieser absoluten praktischen Vernunft zu suchen, da ihr Wesen darin besteht, keinen Innhalt zu haben", dieser „Formalismus" sei darauf angewiesen, „daß irgend eine Materie, eine Bestimmtheit gesetzt werde, welche den Innhalt des Gesetzes ausmache"; dieser werde aus „der Maxime des besondern Willens" genommen und einfach „als Begriff, als Allgemeines gesetzt". „Aber", so heißt es weiter, „jede Bestimmtheit ist fähig, in die Begriffsform aufgenommen und als eine Qualität gesetzt zu werden, und es gibt gar nichts, was nicht auf diese Weise zu einem sittlichen Gesetz gemacht werden könnte." 3 Scheler hat mindestens ebenso polemisch, die bis dahin eher rationale Phänomenologie durch eine Gefühlstheorie anreichernd, eine „materiale Wertethik" gegen den Formalismus setzen wollen. 4 Und noch in jüngerer 1 2
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Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, S. 402. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschaften (Kritisches Journal der Philosophie, II 2-3, 1802/03), in: ders., Jenaer kritische Schriften, hrsg. v. H. Buchner u. O. Pöggeler, Hamburg 1968, S. 415-485 (Ges. W Bd. 4), [im folgenden zitiert als: Naturrecht] S. 437. Naturrecht S. 436. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/16), Ges. WW Bd. 2, 6. Aufl. 1980. - Etwas weniger polemisch hat Nicolai Hartmann die Schelersche Position vertreten, vgl. N. Hartmann, Ethik (1925), Berlin 4. Aufl. 1925. - Zur Kritik der materialen Wertethik vgl. E. v. Aster, Zur Kritik der materialen Wertethik, in: Kantstudien 33, 1928, S. 172-199; ders., Sein und Sollen in der Wertphilosophie, in: Kantstudien 34, 1929, S. 97-124; Karl Alphéus, Kant und Scheler, hrsg. von B. Wolandt, Bonn 1981; Julius Ebbinghaus, Deutung und MiJSdeutung des kategorischen Imperativs (Stud. Gen. 1, 1948, S. 411-419; wieder
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Bernward Grünewald
Zeit unterfüttern weniger radikale Kritiker der Kantischen Moralphilosophie, die etwa einen Kompromiss zwischen Utilitarismus und Kantianismus suchen (R. M. Hare 5 ) oder eine .diskursethische' Transformation der Kantischen Moralphilosophie empfehlen, ihre Position mit dem Formalismus-Vorwurf. In der zuletzt genannten Bewegung verbindet sich dieser Vorwurf mit der Entdeckung eines Solipsismus in der praktischen Philosophie Kants.6 Kant wird zwar zugestanden, dass er schließlich in der Zweckformel des kategorischen Imperativs und dem Prinzip der Menschenwürde einen richtigen Punkt treffe, „eine gelungene Artikulation des moralpoint of view"1. Aber, so heißt es bei Wolfgang Kuhlmann, erst durch die Zweckformel und die Idee des Reichs der Zwecke habe „das vorher sehr blasse, extrem formale und leere Moralprinzip nunmehr eindeutig Inhalt bekommen" 8 , freilich ohne dass diese Ideen ausreichend begründet worden wären, insofern nämlich „die Voraussetzungen, von denen Kant ausgeht, es in Wahrheit nicht plausibel erscheinen lassen, ja nicht erlauben, das Moralprinzip - wie Kant es tut - als eine Art Gerechtigkeitsprinzip oder als Prinzip der Unparteilichkeit zu fassen" 9 . Der entscheidende Schritt Kants zu einer inhaltlich relevanten Moralphilosophie findet sich nach dieser Deutung von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten also erst in der Zweckformel des kategorischen Imperativs; diese sei jedoch eine wesentliche Erweiterung des „Kreises der hier relevanten Gedanken"; erst im Zusammenhang der Zweckformel werde (so wundert sich der Autor) „explizit davon geredet, dass schon das rein formale Sittengesetz den Bezug auf andere Vernunftwesen enthält, dass es in dem Moralprinzip wesentlich um so etwas wie die Achtung fremder Ansprüche als den meinen prinzipiell gleichberechtigter geht". 10 In der Grundformel dagegen komme nur eine „blanke Gesetzmäßigkeit" 11 zum Ausdruck. Schließlich: Kant könne nicht beweisen, dass der Sitz der Sittlichkeit die reine Vernunft sei. 12 Da klingt sie wieder an, die Hegeische Melodie von der .analytische Einheit und Tautologie der praktischen Vernunft'. Nachdem diese Vernunft sich auch noch den Solipsismus zugezogen hat, empfiehlt es sich, noch einmal
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abgedr. in: Ges. Aufs., Darmstadt 1968), in: Ges. Sehr., hrsg. v. G. Geismann u. H. Oberer, Bonn 1986, Bd. 1, S. 279-295; Christian Krijnen, Der .Formalismus' in der materiellen Wertetbik Max Scbelers, in: Ch. Bermes/W. Henckmann/H. Leonardy (Hrsg.), Person und Wert. Schelers,Formalismus'Perspektiven und Wirkungen, Freiburg/B. 2000, 120-138. Vgl. z. B. R. M. Hare, Freedom and Reason, Oxford 1963; ders., Moral Thinking: Its Levels, Method, and Point, Oxford 1981; ders., Could Kant have been a Utilitarian?, in: Kant and Critique, ed. R. M. Dancy, Dordrecht, 1993, dt. Übs. in: Zum moralischen Denken, hrsg. v. C. Fehige u. G. Meggle, Frankfurt a. M. 1995. Vgl. Wolfgang Kuhlmann, Solipsismus in Kants praktischer Philosophie und die Diskursethik, in: ders., Kant und die Transzendentalpragmatik, Würzburg 1992, S. 100-130 (im Folgenden zitiert als: Solipsismus). Vgl. Solipsismus S. 100. Vgl. Solipsismus S. 107. Solipsismus S. 103. Solipsismus S. 107. Vgl. Solipsismus S. 108; 109. Vgl. Solipsismus S. 109.
Form und Materie der reinen praktischen Vernunft
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in den Text zu schauen und zunächst mit Kant zu überlegen, was eigentlich Vernunft sei, was praktische Vernunft und was schließlich die von Kant in Anspruch genommene reine oder Jür sich selbst praktische Vernunft" sein könne. Ich werde im folgenden also zunächst versuchen, den allgemeinen Begriff der Vernunft ein wenig zu klären, um die Kantische These von der für sich selbst praktischen Vernunft in ihrem Anspruch verständlich zu machen. Ich werde sodann durch einen genaueren Blick auf den zweiten Abschnitt der Grundlegung, insbesondere auf das Verhältnis zwischen der Grundformel und der Zweckformel des kategorischen Imperativs, zu zeigen versuchen, dass der Formalismus- wie der Solipsismus-Vorwurf am kategorischen Imperativ und am Inhalt der Kantischen Theorie vorbeigehen. Meine Überlegungen werden sich insoweit nur auf die Frage beziehen, was das Grundgesetz der für sich selbst praktische Vernunft besage, noch nicht auf die Frage, inwiefern wir durch diese Vernunft verpflichtet seien. Darüber habe ich mich anderweitig geäußert13 und kann abschließend dazu nur eine knappe Andeutung machen. I. Der allgemeinen Begriff der Vernunft Ich mache zunächst darauf aufmerksam, dass wir es im Deutschen mit dem Begriff der Vernunft wesentlich schwerer haben als andere Sprachgemeinschaften, insbesondere die westeuropäischen, weil aus der Etymologie des deutschen Wortes nicht gar zu viel zu entnehmen ist. Für die angelsächsische und französische Sprachwelt ist es, wie für alle vom Lateinischen herkommende Sprachen, völlig selbstverständlich, dass reason, raison, ratio etwas mit reasons, raisons, rationes zu tun hat, so wie im Griechischen Xöyo