Rechtsprechung und Justizhoheit: Festschrift für Götz Landwehr zum 80. Geburtstag von Kollegen und Doktoranden 9783412504731, 9783412503192


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Rechtsprechung und Justizhoheit: Festschrift für Götz Landwehr zum 80. Geburtstag von Kollegen und Doktoranden
 9783412504731, 9783412503192

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Volker Friedrich Drecktrah | Dietmar Willoweit (Hg.)

RECHTSPRECHUNG UND JUSTIZHOHEIT Festschrift für Götz Landwehr zum 80. Geburtstag von Kollegen und Doktoranden

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Das Buch wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius sowie der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Justitia am Eingangsportal des Rathauses der Hansestadt Stade (bis 1852 Sitz des Stadtgerichts Stade). © Volker Friedrich Drecktrah

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Franziska und Malte Heidemann, Berlin Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU

ISBN 978-3-412-50319-2

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einführung: Rechtsprechung und Justizhoheit Von Dietmar Willoweit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I  Grundlegung normativen Denkens im gelehrten Recht des Mittelalters

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Die Stellungnahmen der mittelalterlichen Legistik zum kanonistischen Zinsverbot Von Maximiliane Kriechbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Rechtliche Argumentation in foro conscientiae anhand von Beispielen aus Vitorias Summenkommentar Von Tilman Repgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

II  Höchste Gerichte im Alten Reich

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Reaktionen der Seehansestädte auf den Wandel des Königsgerichts Anfang des 15. Jahrhunderts Von Bernhard Diestelkamp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Die Rechtsprechung des Kaiserlichen Reichshofrats im Streit um die Reichsunmittelbarkeit der Stadt Hamburg Von Wolfgang Sellert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Landfriede und Gerichtsbarkeit in De concordantia catholica des Nikolaus von Kues Von F. Benedict Heyn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Johann Stephan Pütters Reichsbegriff – Seine Antrittsvorlesung über den Zustand der höchsten Reichsgerichte – Von Hans Hattenhauer † . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

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Inhalt

III  Territoriale Gerichtsbarkeit im Alten Reich 175 Selbständigkeit und Abhängigkeit der Gerichtsbarkeit im Alten Reich Von Dietmar Willoweit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 „In puncto der Gerichts=Freyheit“. Eine Fallstudie des 17./18. Jahrhunderts aus den Herzogtümern Bremen und Verden Von Volker Friedrich Drecktrah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Justizskandal in Schlitz. Zum Urteil des Jenaer Schöppenstuhls vom 30. August 1788 und zum Dekret des Reichskammergerichts vom 27. September 1791 in Sachen der Stadt Schlitz gegen den Grafen zu Schlitz und dessen Amtmann Von Lothar Weyhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

IV  Der Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts und sein Untergang 241 Die Ernennung der Richter in Hamburg seit der Trennung von Justiz und Verwaltung Von Heiko Morisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Schutz der rechtlichen Markenfunktionen in den deutschen Markengesetzen und in der Rechtsprechung seit 1874 Von Andreas Ebert-Weidenfeller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Unbegrenztes Eigentum? Ein Nachbarschaftsstreit nach Gesetz, Rechtslehre und Rechtsprechung Von Pirmin Spiess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Die Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit im Strafrecht des Dritten Reiches Von Ingo Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Inhalt

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V  Entgrenzung der Rechtsprechung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 309 Die kurze Geschichte der Friedensgerichtsbarkeit in Württemberg-Baden von 1949 bis 1959 Von Carolin O’Sullivan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Die Macht des Richters beim Indizienbeweis – eine Hamburgensie Von A. W. Heinrich Langhein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Der Syndikusanwalt als Rechtsanwalt – verkannt von den Gerichten. Wie BGH und BSG mit der Doppelberufstheorie Berufs- und Sozialpolitik betreiben Von Nicolas Lührig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Grenzen des Rechtsfortbildungsauftrages des BGH. Am Beispiel der Kick-Back-Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Lehman-Insolvenz Von Sabine Scholz-Fröhling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Die Judikative zwischen Justizhoheit und Justizstaat: En quelque facon nulle. Zur Legitimation der Rechtsprechung im rechtsstaatlichen Funktionengefüge Von Michael Köhler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Rechtsstaat – Richterstaat Von Evelyn Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Naturrecht im 21. Jahrhundert? Versuch einer Prognose Von Rainer Biskup . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Lebenslauf und Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Doktoranden in Heidelberg (1970–1973) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Doktoranden in Hamburg (1973–2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477

Vorwort Der Jubilar Götz Landwehr hat es in seiner ihm eigenen Bescheidenheit und Zurückhaltung bislang erfolgreich verstanden, sich Ehrungen seiner Person zu entziehen. Doch anlässlich seines 80. Geburtstages ist mit der vorliegenden Festgabe ein Lehrer und Forscher zu würdigen, dem eine große Zahl von Akademikern und Akademikerinnen viel zu verdanken hat. Unter dem weit gefassten Titel des Bandes sind Beiträge versammelt, die sich im Kern mit der Unabhängigkeit der Justiz und deren ständiger Gefährdung befassen. Dieses grundlegende Thema wird aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, zeitlich wie inhaltlich, beleuchtet. Die Gefährdung der Unabhängigkeit rührt nicht nur von äußeren Einflüssen her wie z. B. den Institutionen, die die Strukturen der rechtsprechenden Gewalt bestimmen können, sondern auch von den Richterinnen und Richtern, die ihre Befugnisse auszuweiten suchen oder sich dem herrschenden Zeitgeist allzu schnell anpassen. Auch regionale Aspekte werden dabei berücksichtigt. Götz Landwehr hat stets Wert darauf gelegt, diese für die Rechtsgeschichte intensiv in den Blick zu nehmen und mit allen ihren Facetten zu untersuchen. Kennzeichnend für diesen Arbeitsansatz ist sein Aufsatz „Rechts­ geschichte“, veröffentlicht 1985 in: „Methodisches Handbuch für Heimatforschung in Niedersachsen“. Zu danken ist an dieser Stelle der „Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung“ sowie der „ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius“, beide mit Sitz in Hamburg, die die Drucklegung dieses Bandes großzügig unterstützt und damit das Erscheinen der Festgabe ermöglicht haben. Den unkomplizierten Weg zu den Stiftungen hat Dr. Karl-Joachim Dreyer geebnet, wofür ihm die Herausgeber sehr danken. Ebenso danken wir den Autorinnen und Autoren für ihre Beteiligung an der Publikation und die gute Zusammenarbeit. Im Böhlau Verlag waren Frau Rheker-Wunsch und Frau Julia Beenken stets kompetente Ansprechpartnerinnen. Dem Jubilar Götz Landwehr wünschen wir weiterhin viel Freude bei seinen wissenschaftlichen Vorhaben. Volker Friedrich Drecktrah

Dietmar Willoweit

Einführung: Rechtsprechung und Justizhoheit Von Dietmar Willoweit

I  Funktionen der Gerichtsbarkeit im Wandel der Rechtsgeschichte Der Thematik des vorliegenden Bandes liegt die Tatsache zugrunde, dass sich das Verhältnis des Gerichtswesens zur Staatsgewalt nicht in der Frage nach der Unabhängigkeit der Richter erschöpft. Diese Verkürzung der Perspektive legt Art. 97 Abs. 1 GG mit seinen Vorläufern in den Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts nahe. Hervorgegangen aus der Abwehr monarchischer Entscheidungen in Rechtssachen ist durch diese Vorschrift das grundsätzliche Problem, wie die Funktionen des Gerichts zu gewichten sind, einerseits innergesellschaftliche Konflikte zu befrieden, andererseits die politischen Ziele von Herrschaften und Staatsgewalten durchzusetzen, aus dem Blickfeld der Forschung geraten. Dass sich hier aber Fragen stellen, die für das Verständnis der Rechtsgeschichte unverzichtbar sind, liegt auf der Hand. Einen ersten Eindruck davon vermittelt die vergleichende Lektüre der Kommentierungen des Art. 97 Abs. 1 GG. Während Christian Hillgruber mit Entschiedenheit die Gesetzesbindung der Gerichte betont,1 erläutert Claus Dieter Classen die Verfassungsbestimmung vor allem mit ausführlichen Darlegungen zur Rechtsfortbildung, gipfelnd in der Zielvorstellung einer „Recht­ sprechungseinheit als Verfassungsauftrag“.2 Die strikte Bindung an das Gesetz dient offenbar der Wahrung der im demokratisch-parlamentarischen Verfassungssystem den gesetzgebenden Körperschaften anvertrauten Hoheit über die Justiz. Richterliche Rechtsfortbildung dagegen weist der Rechtsprechung eine eigenständige Rolle bei der Erzeugung der die gesellschaftlichen Prozesse steuernden Normen zu. In diesen Kommentierungsschwerpunkten kommt eine Gegensätzlichkeit zum Ausdruck, die der moderne Jurist mit Achselzucken zur Kenntnis nehmen 1 Maunz/Dürig-Hillgruber, Grundgesetz-Kommentar, 2008, Art. 97, Rn. 25 ff.: „Nur bei Annahme strikter Gesetzesbindung lässt sich angesichts der Weisungsunabhängigkeit eine sachliche Unabhängigkeit des Richters überhaupt rechtfertigen.“ Ähnlich Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2000, Art. 97, Rn. 21, der selbst ein „Spannungsverhältnis“ zwischen richterlicher Unabhängigkeit und „möglichst neutraler Realisierung der Gesetzesbindung“ leugnet. 2 Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, 6. Aufl. 2010, Rn. 14 ff., 19.

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mag. Es handelt sich jedoch um einen Befund, der eine Interpretation in einem größeren rechtsgeschichtlichen Zusammenhang herausfordert. Denn es ist daran zu erinnern, dass vor der beginnenden Herausbildung des frühmodernen Gesetzgebungsstaates im ausgehenden Mittelalter einst das Gerichtswesen die wichtigste gesellschaftliche Organisationsform überhaupt gewesen ist. Unter dem Schutz des Königtums und der durch die Kaiserwürde legitimierten Territorialfürsten und -herren, die je für ihren Herrschaftsraum ein Gewaltmonopol in Anspruch nahmen, bewegte sich die Rechtsprechung der zahllosen lokalen Gerichtsversammlungen – ohne übergeordnete Instanzen – in den Bahnen ihrer jeweiligen Rechtsgewohnheiten. Die hoheitliche Gewalt der Gerichtsherren, die selbst oder durch ihre Beauftragten dem Gericht vorsaßen, umfasste im Prinzip nur die Durchsetzung des Gerichtszwangs im Rahmen der Ladung und Vollstreckung, während die Urteilsfindung Schöffen überlassen war.3 Über Jahrhunderte und vielleicht Jahrtausende hinweg haben die gesellschaftlichen Formationen der Menschheit ihr Konfliktmanagement durch vertraglichen Ausgleich im gemeinsamen sozialen Verband, durch Urteiler, Schiedsleute oder in ähnlicher Weise betrieben. Doch in der frühen Neuzeit, spätestens seit dem 17. Jahrhundert, hat sich eine obrigkeitliche Justizhoheit mit dem Entscheidungsrecht des Monarchen in grundsätzlich allen gerichtlichen Verfahren zu einem wirklichen oder jedenfalls potentiellen Machtmittel der Staatsgewalt entwickelt. Diesen Funktionswandel des Gerichtswesens hat zunächst die am römischen und kanonischen Recht geschulte Jurisprudenz des Mittelalters mit der Erkenntnis eingeleitet, dass die iurisdictio als Inbegriff der herrschaftlichen Rechte dem princeps zukommt. Das römische Recht aber kannte die Unterscheidung von Richtern und Urteilern nicht und in der kirchlichen Gerichtsbarkeit war der selbst urteilende Richter seit jeher bekannt. So entstand die Vorstellung einer persönlichen Verantwortung des Fürsten für die zunehmend von Beamten gehandhabte Justiz, die jetzt als ein institutionelles Element des politischen Systems wahrgenommen wurde. Seitdem geriet niemals mehr in Vergessenheit, dass Rechtsprechung auch die Staatsgewalt interessiert und deren politische Ziele tangieren konnte. Diese veränderte Gewichtung zwischen der innergesellschaftlichen Friedenswahrung und dem nunmehr voll ausgebildeten staatlichen Gewaltmonopol ist neben dem neuzeitlichen Verständnis des Fürstenamtes vor allem auch darauf zurückzuführen, dass die Politik seit dem 18. Jahrhundert ihre Ziele durch eine immer umfassendere Gesetzgebung zu realisieren versuchte, die schließlich als Ausdruck einer objektiven Vernunft von den 3 Heiner Lück, Gerichtsverfassung, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. II, 2. Aufl. 2012, Sp. 192–219 m. w. Nachw.

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Gerichten schon deshalb Gehorsam einforderte.4 Aus der so dauerhaft durch das Gesetz etablierten Dominanz der staatlichen Justizhoheit gegenüber der autonomen Rechtsfindung der Gerichte ging freilich auch jener Begriff richterlicher Unabhängigkeit hervor, der nach dem Vorbild der Charte Constitutionelle von 1814 mit dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter in die deutschen frühkonstitutionellen Verfassungen aufgenommen wurde:5 „Niemand darf seinem ordentlichen Richter entzogen werden.“6 Seitdem galten in diesen Staaten aktuelle politische Einflussnahmen auf laufende Gerichtsverfahren als prinzipiell ausgeschlossen. Mit der verfassungsrechtlich abgesicherten Etablierung gesetzgebender Körperschaften im 19. Jahrhundert hat das Gesetz die bis dahin akzeptierte Legitimation durch das monarchische Gottesgnadentum und die aufgeklärte Vernunft des Herrschers und seiner Berater allmählich eingebüßt. Ihre Stelle nahm spätestens seit 1867 im Norddeutschen Bund und Deutschen Reich der demokratisch legitimierte Gesetzgeber ein. Das Verhältnis zwischen der an die Gesetze gebundenen Gerichtsbarkeit und der die Justiz organisierenden und gewährleistenden Staatsgewalt gewann damit eine neue Qualität.7 Während einerseits die Unabhängigkeit der Gerichte in der Anwendung der nun mit neuer Autorität ausgestatteten Gesetze außer Frage stand, schien die inhaltliche Abhängigkeit des Rechts vom wechselnden politischen Willen der gesetzgebenden Gewalt ebenso unbestreitbar. Es ist kein Zufall, dass gerade in dieser Epoche Konzepte des Rechtspositivismus entwickelt wurden, die den Blick nicht mehr philosophisch auf den Begriff des Rechts,8 sondern auf den Geltungsanspruch des Gesetzes und seine Normlo4 Ulrike Müßig, Recht und Justizhoheit. Der gesetzliche Richter im historischen Vergleich von der Kanonistik bis zur Europäischen Menschenrechtskonvention, unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsentwicklung in Deutschland, England und Frankreich, 2. Aufl. 2009, S. 233: „Vorrang des vernunftbestimmten Normzwecks vor dem Willen des Herrschers im aufgeklärten Gesetzesstaat.“ 5 Müßig (Fn. 4), S. 257 ff. 6 Verfassungs-Urkunde für das Königreich Bayern vom 26.05.1818, Titel IV § 8 Abs. 2; ebenso Verfassungs-Urkunde für das Königreich Württemberg vom 25.09.1819, § 26. Dagegen hat die Verfassungs-Urkunde für das Großherzogtum Baden vom 22.08.1818 in § 15 in den zitierten Satz „in Criminalsachen“ eingefügt, dafür aber in § 14 festgestellt: „Die Gerichte sind unabhängig innerhalb der Grenzen ihrer Kompetenz.“ Die Verfassungs-Urkunde für das Königreich Preußen vom 31.01.1850 sprach in Art. 7 statt vom „ordentlichen“ vom „gesetzlichen“ Richter. Vgl. ausführlich Müßig (Fn. 4), S. 261 ff.; ferner Wolfgang Sellert, Unabhängigkeit des Richters (der Justiz), in: HRG, Bd.  V, 1.  Aufl. 1998, Sp. 443–451. 7 Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933), 2. Aufl. 2012, S. 193 ff. 8 Vgl. noch Rudolf Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3.  Aufl. 1928, S.  49 ff.; Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1950, hrsg. von Erik Wolf; aus der neueren

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gik richteten.9 Indessen zeigte sich sehr bald, dass die richterliche Entscheidung nicht als bloßer Gesetzesvollzug zu begreifen war.10 Gerichte ließen ihre eigenen politischen Überzeugungen in die Judikatur einfließen. Nach dem Ersten Weltkrieg avancierten die Generalklauseln des BGB „zu einer fast unerschöpflichen Quelle gesetzeskorrigierenden (und -ergänzenden) Rechts“.11 Als sich im Deutschen Reich seit 1933 eine vordem undenkbare „Rechtsverwüstung“12 anbahnte, war die strikte Gesetzestreue des Richters gegenüber dem Gesetz als Postulat zwar noch präsent, aber zugleich relativiert und verunsichert durch die Möglichkeit richterlicher Rechtsschöpfung. Mit direkten politischen Eingriffen in die traditionellen Formen der Rechtsprechung verwandelte sich die bis dahin anerkannte Justizhoheit in ein unberechenbares Monstrum willkürlicher, totalitärer Gewalt.13 In der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik setzte sich die in der Weimarer Republik aufgekommene Diskussion über die Generalklauseln als dem Problemfeld, auf welchem sich Gesetzesbindung und Richtermacht am augenscheinlichsten begegnen, intensiver fort.14 Seitdem ist nicht mehr zu übersehen, dass die Selbständigkeit der Gerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert in ein dauerhaftes Spannungsverhältnis zum Gesetzgeber als dem modernen Repräsentanten staatlicher Justizhoheit geraten ist – nicht deshalb, weil die Unabhängigkeit der Gerichte durch staatliche Eingriffe bedroht wäre, sondern umgekehrt wegen der zunehmend deutlicher gewordenen rechtspolitischen Folgen höchstrichterlicher Judikatur. Dem Bundesverfassungsgericht ist eine solche Aufgabe vom Gesetzgeber in

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Literatur vgl. insbes. Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2010; Bernd Rüthers/ Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie, 8. Aufl. 2015; vgl. a. zu Rudolf Stammler Dietmar Willoweit, Der richtige Kern der Lehre vom richtigen Recht, in: JZ 2010, S. 373–379. Walter Ott, Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus, 2. Aufl. 1992; am wirkungsmächtigsten bis heute Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1.  Aufl. 1934, Studienausgabe 2008; dazu Robert Walser, Hans Kelsens Rechtslehre, 1999 (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, 24). Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? 1986, S. 257ff.; Schröder (Fn. 7), S. 306 ff. Schröder (Fn. 7), S. 316 f., ebd. auch zur Aufwertungsrechtsprechung m. w. Nachw. Der wohl von Adolf Laufs 1973 erstmals geprägte Begriff markiert gegenüber der Versuchung rechtsphilosophischer Relativierungen treffend einen historischen Einschnitt, der bloße Rechtsbrüche der Staatsgewalt vom Verbrechen als Staatsaufgabe trennt, vgl. Adolf Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 6. Aufl. 2006, S. 375 ff. Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, 3. Aufl. 2002; Sarah Schädler, „Justizkrise“ und „Justizreform“ im Nationalsozialismus. Das Reichsjustizministerium unter Reichsjustizminister Thierack (1942– 1945), 2009; Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 7. Aufl. 2012. Jan Schröder, Generalklausel, in: HRG, Bd. II, 2. Aufl. 2012, Sp. 99–101 m. w. Nachw.

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§ 31 Abs. 2 BVerfGG zwar ausdrücklich anvertraut worden. Doch längst nehmen auch die höchsten Instanzen der Fachgerichtsbarkeit die Kompetenz in Anspruch, rechtspolitische Grundsatzentscheidungen zu treffen. Und wenn das Bundesverfassungsgericht, wie schon häufiger geschehen, nicht nur die Verfassungswidrigkeit gesetzlicher Vorschriften feststellt, sondern dem Gesetzgeber zugleich Richtlinien für eine verfassungskonforme Regelung mit auf den Weg gibt oder gar die Verfassung selbst durch Ergänzungen und Interpretationen ändert, dann kommen Zweifel an der Fortdauer des Gewaltenteilungsprinzips auf. Die Dominanz heutiger Gerichte im Zuge der von ihnen betriebenen Rechtsfortbildung gibt zu bedenken, ob nicht die Anpassungsfähigkeit des Richterspruches an die Vielfalt und Veränderlichkeit der gesellschaftlichen Interessengegensätze und Konfliktsituationen dem abstrakt-generellen Gesetz prinzipiell überlegen ist – oder: ob wir es möglicherweise mit einer hybriden Rechtsentwicklung zu tun haben, die dringend staats- und rechtstheoretisch begründeter Reformen bedarf. Bisher war in den von uns zu überblickenden geschichtlichen Zeiträumen noch jede Rechtsordnung Alterungs- und Wandlungsprozessen unterworfen. Für die Rechtsgeschichte der Bundesrepublik gilt da nichts anderes, auch wenn die wesentlichen Bestimmungen des Grundgesetzes seit dessen Inkrafttreten 1949 unverändert gelten und sich mit Recht großer Akzeptanz erfreuen. Umso wichtiger ist es, die tatsächlichen Veränderungen grundlegender Verfassungsstrukturen zu beobachten und bewusst zu machen. Sie sind tiefgreifender als dies die Öffentlichkeit wahrhaben möchte.

II  Die Beiträge des vorliegenden Bandes Ihre Themen haben die Autoren in Kenntnis der übergreifenden Thematik selbst ausgewählt und bearbeitet. Sie haben die angedeuteten – ihnen als Text nicht bekannten – Gedanken nicht nur bestätigt, sondern auch zu weiterführenden Überlegungen angeregt. Es zeigte sich, dass die hier – soweit ersichtlich, wohl erstmals  – gewählte Perspektive, das Verhältnis von „Rechtsprechung und Justizhoheit“ in einem historischen Längsschnitt zu überdenken, geeignet ist, das gewohnte Bild der Rechtsgeschichte zu ergänzen, wenn nicht zu verändern. Denn der Blick auf die Geschichte der Gerichtsbarkeit im Rahmen des politischen Gemeinwesens macht einerseits die epochenübergreifende Präsenz richterlicher Konfliktlösung unter den verschiedensten gesellschaftlichen Bedingungen bewusst. Sie bildet stets den institutionellen Kern der sonst wie auch immer gearteten „Rechtsordnung“. Andererseits sind vor dem Hintergrund dieser Kontinuität jene Prozesse klarer zu erkennen, die das normative Denken stimuliert und zur

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Verdichtung der Gesetzgebung mit ihren tiefgreifenden Folgen für die Rechtsprechung geführt haben. In der mittelalterlichen Rechtsgeschichte sind die beiden historischen Elemente noch auf verschiedenen sozialen Ebenen nebeneinander zu beobachten. Während sich die weltlichen Gerichte kraft ihres Herkommens an mündlich überlieferten Rechtsgewohnheiten orientierten, entstand in den Kreisen des gelehrten Klerus ein bis dahin unbekannter Bedarf an begrifflich durchdachter Präzision. Denn die im kanonischen Recht vorgesehenen Rechtsfolgen konnten über die Zeitlichkeit hinaus das ewige Heil in Frage stellen. Das in der gegenwärtigen Forschung besonders interessierende gelehrte Recht des Mittelalters hat damit einen entscheidenden Beitrag zur Grundlegung des normativen Denkens im okzidentalen Europa geleistet. In diesem Sinne sind die Beiträge von Maximiliane Kriechbaum über die „Stellungnahmen der mittelalterlichen Legistik zum kanoni­ schen Zinsverbot“ und Tilman Repgen über die „Rechtliche Argumentation in foro conscientiae anhand von Beispielen aus Vitorias Summenkommentar“ in das Gesamtkonzept dieser Festschrift einzuordnen. Sie greifen mit ihren Themen durch die juristische Aufbereitung exemplarischer Sachfragen weit über ihre Epoche hinaus. Die im Prinzip gleich gebliebenen Methoden der Jurisprudenz haben nicht nur die forensische Rechtsanwendung, sondern auch den Stil der viel später breit entfalteten Gesetzgebung geprägt. Zu einem großen und weiterhin ergiebigen Thema der Rechtsgeschichte gehören die Beiträge zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, deren Bedeutung für die Wahrung von Frieden und Recht in diesem auf unterschiedlichem Herkommen gewachsenen Herrschaftsraum kaum unterschätzt werden kann. Mit Bernhard Diestelkamp und Wolfgang Sellert sind hier zwei Autoren vertreten, die frühzeitig und bahnbrechend dieses Forschungsfeld erschlossen haben. Diestel­ kamp zeigt in seinem Beitrag über „Reaktionen der Seehansestädte auf den Wandel des Königsgerichts Anfang des 15. Jahrhunderts“, wie Hansestädte mit Hilfe eines Rechtsgutachtens ihre traditionellen Rechtspositionen gegenüber den als neuartig abgelehnten Ladungen vor das Königsgericht zu verteidigen wussten. Sellert bereichert und korrigiert durch die Untersuchung der „Rechtsprechung des Kaiserli­ chen Reichshofrates im Streit um die Reichsunmittelbarkeit der Stadt Hamburg“ unser Wissen durch neue, aus seinen aktuellen Studien der Reichshofratsakten gewonnene Erkenntnisse. Die Reformbedürftigkeit der Reichsverfassung mit der Sorge um die Funktionstüchtigkeit ihrer Gerichtsbarkeit hat herausragende Staatsdenker ganz verschiedener Generationen bewegt. Nikolaus von Kues musste vor dem „Ewigen Landfrieden“ von 1495 erst noch ein allgemeines Fehdeverbot und aufgrund der concordantia Aller eine neu organisierte Gerichtsbarkeit fordern, wie in der Arbeit von F. Benedict Heyn über „Landfriede und Gerichtsbarkeit

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in De concordantia catholica des Nikolaus von Kues“ nachzulesen ist. Johann Stephan Pütter kritisierte 1749 die Mängel der beiden Reichsgerichte in seiner mutigen Antrittsvorlesung klarsichtig, aber zugleich auch im Geiste des gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fühlbarer werdenden Reichspatriotismus. Hans Hattenhauer hat mit diesem seinem letzten, „Johann Stephan Pütters Reichs­ idee“ betitelten Werk nicht nur dem Jubilar, sondern allen seinen Kollegen ein schönes Abschiedsgeschenk bereitet. Zweifel an der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit im Alten Reich hat die Wissenschaft vor allem der Justiz deutscher Fürsten und kleinerer Herren entgegengebracht. Dietmar Willoweit hat daher den Versuch unternommen, „Selbstän­ digkeit und Abhängigkeit der Gerichtsbarkeit im Alten Reich“ in den Territorien einer näheren Betrachtung zu unterziehen, beginnend mit der mittelalterlichen Trennung der Gerichtsherrschaft von der Urteilerbank, über die eigenverantwortliche Wahrnehmung der Rechtsprechung durch die Landesherren und ihre Ratskollegien bis hin zum Missbrauch dieser Justizhoheit in Gestalt purer Willkürakte. Die von Volker Friedrich Drecktrah vorgelegte Fallstudie „In puncto der Ge­ richts-Freyheit“ eines privilegierten Grundbesitzes spiegelt den für das 17. und 18.  Jahrhundert charakteristischen Konflikt zwischen dem Rechtsherkommen und den Ansprüchen des Fürstenstaates wider, denen nicht zuletzt fiskalische Interessen zugrunde lagen. Die weitere Fallstudie von Lothar Weyhe über einen zu Beginn der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts auch öffentliche Aufmerksamkeit erregenden „Justizskandal in Schlitz“ wirft ein bezeichnendes Licht auf die noch geringe Rechtssicherheit gegenüber Willkürakten herrschaftlicher Beamter einerseits und der schon rechtsstaatlich zu nennenden Beurteilung der Vorgänge durch den vom Reichskammergericht eingeschalteten Jenaer Schöppenstuhl andererseits. Seitdem die frühen deutschen Landesverfassungen die Unabhängigkeit des Richters festgeschrieben hatten, richtete sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Berufung in das Richteramt. Exemplarisch hat Heiko Morisse „Die Ernennung der Richter in Hamburg seit der Trennung von Justiz und Verwaltung“ mit der Beteiligung der Politik wie auch unter Berücksichtigung fachlicher Qualitäten untersucht. Weitere Beiträge aus der Zeit des sich allmählich durchsetzenden Rechtsstaates unter den Hohenzollernkaisern lassen trotz lebhafter Gesetzgebungsaktivitäten im Deutschen Reich die weiterhin großen Spielräume der Gerichte erkennen. Andreas Ebert-Weidenfeller würdigt unter dem Titel „Schutz der rechtlichen Markenfunktionen in den deutschen Markengesetzen seit 1874“ kritisch die dazu bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung. Pirmin Spieß problematisiert in einer Fallstudie mit seiner Frage „Grenzenloses Eigentum? Ein Nachbarschaftsstreit nach Gesetz, Rechtslehre

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und Rechtsprechung“ die rücksichtslose Behauptung des Eigentumsrechts unter dem Schutz des linksrheinisch weitergeltenden Code Civil – ein Exempel für den Vorrang des Gesetzes gegenüber der Flexibilität der Rechtsprechung. Auch ein auf nur wenige Beispiele gestützter Versuch, das Verhältnis von Rechtsprechung und staatlicher Justizhoheit im Laufe der deutschen Geschichte zu überdenken, kann jene zwölf Jahre nicht unbeachtet lassen, in denen sich durch die Entmachtung der Justiz dieses Thema überhaupt erledigt hat. Welches Gewaltpotential eine totalitäre Staatsgewalt und in ihrem Dienst auch die Gerichtsbarkeit dabei zu entfalten vermag, beschreibt zusammenfassend und zugleich anschaulich Ingo Müller in seinem Aufsatz über „Die Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit im Strafrecht des Drit­ ten Reiches“. Die Mitteilung des Rahmenthemas „Rechtsprechung und Justizhoheit“ hat unter den eingeladenen Autoren eine besonders eindrückliche, so nicht vorhergesehene rechtsprechungskritische Resonanz zu den Entwicklungen in der Bundesrepublik gefunden. Im Vorfeld der heutigen Probleme bewegt sich noch die von Carolin O’Sullivan aufgeklärte „Kurze Geschichte der Friedensgerichtsbarkeit in Württemberg-Baden von 1949 bis 1959“, die ihr Ende fand, als das Bundesverfassungsgericht hier einen Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung erkannte. In den weiteren Beiträgen, die unter dem Rubrum „Entgrenzung der Recht­ sprechung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zusammengefasst werden mussten, setzen sich die Autoren sowohl mit fragwürdigen Entscheidungen der ordentlichen und Fachgerichtsbarkeit wie auch mit solchen des Bundesverfassungsgerichts auseinander. A. W. Heinrich Langhein demonstriert „Die Macht des Richters beim Indizienbeweis“ am Beispiel einer „Hamburgensie“, eines Fehlurteils, in dem die Annahme einer aus den Umständen erschlossenen „Unrechtsvereinbarung“ dem komplexen Sachverhalt nicht gerecht werden konnte und den Grundsatz „in dubio pro reo“ verdrängte. Die Macht der höchsten Gerichtsbarkeit, durch Rechtsfortbildung „Berufs- und Sozialpolitik“ zu betreiben und damit bestehende Rechtsverhältnisse mit gravierenden sozialen Folgen zu stören, analysiert der hochaktuelle Beitrag von Nicolas Lührig über den „Syndikusanwalt als Rechtsanwalt – verkannt von den Gerichten“. Unter der Voraussetzung, dass die Gerichtsbarkeit zur Rechtsfortbildung berufen ist, ergeben sich aber auch von den Parteien manipulierte „Grenzen des Rechtsfortbildungsauftrages des BGH“, wie Sa­ bine Scholz-Fröhling am Beispiel der Kick-Back-Rechtsprechung vor dem Hintergrund der Lehmann-Insolvenz nachweist. Zwei Beiträge setzen sich kritisch mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auseinander. Michael Köhler problematisiert die Legitimation dieser vielfach in die Kompetenzen des Gesetzgebers eingreifenden Judikatur in Hinblick auf das Gewaltenteilungsprinzip: „Die Judikative zwischen Justizhoheit und Justizstaat: En quelque façon nulle“. In dem-

Einführung: Rechtsprechung und Justizhoheit

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selben Sinne blickt Evelyn Haas auf das Verhältnis von „Rechtsstaat – Richterstaat“ und ihre Erfahrungen als Richterin am Bundesverfassungsgericht zurück, dessen rechtspolitische Grenzüberschreitungen sie an mehreren Beispielen belegt. Den Abschluss dieses Kapitels über Judikate aus der modernen Rechtsprechung, die Gefahr läuft, rechtstheoretisch nicht mehr zu begründende Wege zu beschreiten, bildet die von Rainer Biskup auf der Grundlage neuerer gerichtlicher Entscheidungen entworfene Zukunftsperspektive über ein „Naturrecht im 21. Jahrhun­ dert? Versuch einer Prognose“. Es ist schwerlich zu bezweifeln, dass diese und die in den vorigen Beiträgen aufgeworfenen Fragen zentrale Themen der zukünftigen Rechtsentwicklung bleiben werden.

Die Stellungnahmen der mittelalterlichen Legistik zum kanonistischen Zinsverbot Von Maximiliane Kriechbaum

Das mittelalterliche ius commune ist geprägt von zwei sich gegenseitig beeinflussenden Rechtskreisen, dem ius legis auf der Grundlage des Corpus iuris Iustiniani und dem ius canonicum der Kirche, die zwar einerseits „nach römischem Recht lebte“,1 andererseits aber immer wieder eigene Anliegen verfolgte und Regelungen schuf, die vom römischen Recht abwichen. Den beiden Rechtskreisen entsprechend entwickelten sich nebeneinander auch zwei Arten der Gerichtsbarkeit, die geistliche und die weltliche, deren Zuständigkeiten festzulegen waren. Allerdings zeigen die parallel geführten, aufeinander Bezug nehmenden Erörterungen vieler materieller Rechtsfragen in Legistik und Kanonistik, dass die Zuständigkeiten geistlicher und weltlicher Gerichte nur in den seltensten Fällen als ausschließliche anzusehen sind. Auch das kanonische Zinsverbot, das die legistische Zinslehre zwar beeinflusste, aber keineswegs zum Verschwinden brachte oder obsolet sein ließ, ist ein Beispiel dafür, daß es in den Diskussionen zwischen Legistik und Kanonistik nicht in erster Linie um Zuständigkeiten ging, sondern zunächst stets um ein Ringen um übereinstimmende materiellrechtliche Inhalte. Die materiellrechtliche Auseinandersetzung wiederum kann auch als eine Auseinandersetzung um Zuständigkeit und Reichweite der Institutionen gelesen werden.

I  Zur Chronologie der zinsrechtlichen Regelungen im kanonischen und römischen Recht Das kanonische Zinsverbot findet sich bereits in der Antike in kirchlichen Beschlüssen ausgesprochen, bald nach der Anerkennung des christlichen Glaubens und seiner kirchlichen Organisation durch Kaiser Konstantin: So wurde auf dem Konzil von Nicaea, abgehalten im Jahre 325 unter Beteiligung Kaiser Konstantins, auch ein Beschluss gefasst, der Klerikern das Zinsnehmen untersagte; dieser Beschluss wurde im 12. Jahrhundert in das Decretum Gratiani (entstanden um

1 Andreas Thier, Ecclesia vivit lege Romana, in: HRG, 2. Aufl., Bd. I, Sp. 1176f.

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1140) aufgenommen2 und damit Bestandteil des mittelalterlichen, bis in das 19. Jahrhundert geltenden Kirchenrechts.3 Das Verbot, zunächst auf Kleriker beschränkt, wurde im 5. Jahrhundert auf die Laien ausgedehnt; diese Anordnung ist ebenfalls in das Decretum Gratiani aufgenommen.4 Die römischen Kaiser der Spätantike – insbesondere ist hier Justinianus als gesetzgeberisch bedeutendster zu nennen – haben einerseits in ihren kirchenpolitischen Anordnungen die Beschlüsse der Konzilien allgemein anerkannt, darunter ausdrücklich die Beschlüsse des Konzils von Nicaea: so in C. 1.1.25 und besonders deutlich in der Authentica De ecclesiasticis titulis des Kaisers Iustinian: „Als Gesetz bestimmen wir also, die heiligen kirchlichen Regeln einzuhalten, die auf den vier heiligen Konzilen erlassen oder bekräftigt wurden, das heißt auf dem [Konzil] von Nicaea und dem von Konstantinopel und dem von Ephesus und von Chalkedon [...]. Die Lehrsätze [Dogmen] der vier ebengenannten Synoden anerkennen wir wie heilige Schrif­ ten, und ihre Regelungen beachten wir wie Gesetze.“6

Die Glossa ordinaria erörtert zu dieser Authentica und ziemlich übereinstimmend zu C.  1.1.17 das Zinsverbot;8 ihr folgt Odofredus.9 Azo hingegen in seiner Codexlectura erwähnt bei C. 1.1.1 die Zinsfrage nicht.10 Die Anerkennung der Evangelien – die ja gleichfalls auffordern, auf Zinsen zu verzichten11 – und der   2 Decretum Gratiani, D. 47 c. 2; verwendet wird die Ausgabe von Emil Friedberg. Corpus Iuris Canonici, Pars prior, ND 1959.   3 Zur Textgeschichte des Decretum kurz Knut Wolfgang Nörr, Die Entwicklung des Corpus Iuris Canonici, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. I, hrsg. von Helmut Coing, 1973, S. 835–846, 838 m. w. N.  4 Decretum Gratiani, C. 14 q. 4 c. 8.   5 C. 1.1.2 spricht von der Nicaena fides, die es zu bewahren gelte; in der Glosse findet für die Zinslehre C. 1.1.1 stärkere Beachtung, wo nicht auf das Konzil, sondern auf die evangelica doctrina Bezug genommen wird.   6 Authentica De ecclesiasticis titulis, Nov. 131/Coll. 9.6, cap. 1; verwendet wurde hier die Druckausgabe Venetiis 1591, die auch die Glossa ordinaria zu den Authentiken enthält: „Sancimus igitur vicem legum obtinere sanctas ecclesiasticas regulas, quae a sanctis quatuor conciliis expositae sunt, aut firmatae, hoc est in Nicaena et in Constantinopolitana et in Ephe­ sina et in Chalcedonia […]. Praedictorum in quatuor synodorum dogmata sicut sanctas scrip­ turas accipimus, et regulas sicut leges observamus.“   7 Nicht C. 1.1.2; dazu in Fn. 4.  8 Glossa ordinaria Coll. 9.6, cap. 1, gl. observamus, C. 1.1.1, gl. Petrum apostolum.  9 Odofredus, Lectura super Codice, Lugduni 1552 (ND 1969), zu C. 1.1.1, no. 3. 10 Azo, Lectura Codicis, Parisiis 1577 (ND 1966). 11 Lukas 6,34: „Und wenn Ihr denen ein Darlehen gegeben habt (mutuum dederitis), von denen Ihr hofft, es [oder etwas]zurückzubekommen (a quibus speratis recipere), welchen Dank habt

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Konzilien als rechtlich verbindlich hat Kaiser Justinian allerdings nicht daran gehindert, in seiner eigenen Gesetzgebung des Codex die Zulässigkeit von Zinsen ganz selbstverständlich vorauszusetzen und im Codextitel De usuris, C. 4.32, nur Modalitäten wie Formerfordernisse und Zinshöhe zu regeln. Verschiedene Legisten weisen auf diesen Umstand hin und sehen darin ein widersprüchliches Verhalten des Kaisers.12 Die Glossa ordinaria bringt umgekehrt eine kleine Chronologie der kaiserlichen Gesetze und leitet daraus ab, dass die Authentica De ecclesiasticis titulis zu den letzten Gesetzen Justinians gehöre und der Kaiser damit seine früher geregelte Zinserlaubnis bereut und außer Kraft gesetzt habe.13 Zur Harmonisierung zwischen den Aussagen von C. 1.1.1 und der kaiserlichen Erlaubnis des Zinsnehmens wird im 14. Jahrhundert – noch nicht in der Glosse und bei Odo­ fredus – auch angeführt, das Bekenntnis zum christlichen Glauben, zu Evangelium und Konzilien beziehe sich nur auf Glaubensaussagen im engeren Sinne.14 Das Decretum Gratiani hat das im 4. und 5. Jahrhundert grundgelegte Zinsverbot in das mittelalterliche kanonische Recht übernommen. Auch Liber Extra und Liber Sextus haben es eingeschärft und mit zusätzlichen Regelungen bestärkt. Für die Diskussion der Legistik im 14. Jahrhundert ist vor allem eine Anordnung in den Clementinae von Bedeutung, die auf das Konzil von Vienne im Jahre 1311 zurückgeht; danach sollte wie ein Häretiker bestraft werden, wer bestreite, dass Ihr davon? Auch die Sünder leihen den Sündern gegen Zinsen, damit sie das Gleiche bekom­ men. Vielmehr […] gebt ein Darlehen, wo Ihr nichts erhofft (mutuum date, nihil inde speran­ tes).“ Auch Psalm 15,5 wäre zu nennen. 12 So Jacobus Butrigarius, Lectura super Codice, Parisiis 1516, zu C. 1.1.1; Baldus, Commentaria in Codicem, in ders. Commentaria omnia, Vol.  5, Venetiis 1599 (ND  2004), zu C. 1.1.1, no. 24: „Videtur, quod Imperator in ista sua lege incipit mentiri, nam ipse dicit, quod vult servari fidem, et tamen ipse non servat, nam permittit usuras, quae sunt contra fidem“ („Es scheint, dass der Kaiser in diesem seinem Gesetz zu lügen beginnt, denn er sagt selbst, dass er den Glauben bewahren wolle, und hält ihn dennoch selbst nicht, denn er erlaubt Zinsen, die gegen den Glauben sind“). 13 Glossa ordinaria in Codicem, Lugduni 1572, C. 4.32.16. auth. ad haec: „Dicta lex Iustini­ ani in auth. de eccle. titu. (Coll. 9.6, sancimus) est de suis ultimis. Unde iam quasi poenitisse videtur de eo quod permiserat eas. Nam posterior prioribus derogant.“ („Das genannte Gesetz Justinians in der Authentica De ecclesiastici titulis ist eines von seinen Letzten, und infolgedes­ sen scheint er schon gleichsam bereut zu haben, was er erlaubt hatte, denn das Spätere dero­ giert das Frühere.“). 14 Baldus (Fn. 12), zu C. 1.1.1, no. 24: „Solutio: hic loquitur de fide catholica respectu Trinitatis, non respectu aliorum articulorum, quae requiruntur ad salutem animae.“ („Lösung: hier wird vom katholischen Glauben bezüglich der Trinität gesprochen, nicht bezüglich anderer Artikel, die zum Heil der Seele erforderlich sind.“). Ähnlich Bartolus, Commentaria in Codicem, Lugduni 1547, zu C.  1.1.1, no.  4 a.  e. und no.  5, und sein Lehrer Jacobus Butrigarius (Fn. 12), zu C. 4.32.16 auth. ad haec.

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Zinsennehmen – exercere usuras – Sünde sei.15 Eine ausdrückliche Bezugnahme der Legistik des 14. Jahrhunderts auf diese Vorschrift findet sich bei Bartolus, der auch den Inhalt der Stelle zustimmend mitteilt: „Sed certe hoc dicere, quod usura sit licita, peccatum est: et qui diceret pertinaciter, quod non esset peccatum, esset haereticus, ut ex. De usuris, c. 1 § fi. in Cle.“16

Obgleich die kanonistische Literatur schon im 13. Jahrhundert usura als ein pecca­ tum mortale bezeichnet,17 begegnet der Ausdruck peccatum in der legistischen Erörterung der Zinsfrage im 13. Jahrhundert überhaupt nicht, erscheint dann im 14. Jahrhundert jedoch einige Male: Albericus de Rosate erwähnt in einer Art geschichtlichem Überblick kirchlicher Maßnahmen auch die Clementinen und nennt dabei das Zinsnehmen leichthin ein delectabile et dulce peccatum – eine anziehende und süße Sünde.18 Jacobus Butrigarius († 1348), der Lehrer des Bartolus, verwendet die Kennzeichnung peccatum als Begründung dafür, dass das Zinsnehmen sich auf den Glauben (fides) beziehe und eine geistliche Angelegenheit (spiri­ tuale) sei, auf die auch von Legisten die Vorschriften der canones anzuwenden

15 Clementinae, Ausgabe Emil Friedberg, Corpus iuris canonici, II, ND 1959, Clem. 5.5, cap. un.: „Sane, si quis in illum errorem inciderit, ut pertinaciter affirmare praesumat, exercere usuras non esse peccatum: decernimus eum velut haereticum puniendum.“ („Wenn jemand in jenen Irrtum verfallen ist, dass er nachweislich hartnäckig behauptet, Zinsen einzufordern sei keine Sünde, der soll, so befehlen wir, wie ein Häretiker bestraft werden“). 16 Bartolus (Fn. 14), zu C. 1.1.1, no. 5: „Aber mit Gewissheit ist es eine Sünde zu sagen, dass Wucher erlaubt sei; und wer hartnäckig sagen würde, dass es keine Sünde sei, wäre ein Häreti­ ker, wie Extra. De usuris cap. 1, letzter § in den Clementinae.“ 17 Goffredus de Trano, Summa super titulis Decretalium, Lugduni 1519 (ND  1992), zu X 5,19 (De usuris), no. 5. 18 Albericus de Rosate, Commentarii in Codicem I, Venetiis 1586 (ND 1979), zu C. 4.32.16, auth. ad haec, no. 3: „Deinde, quia crimen usurarum adhuc invalescebat, romana ecclesia iterato provida dispositione decrevit, usuras peti non posse, et solutas repeti, circa hoc diversas poenas ecclesiasticas imponendo, ut genus humanum a tam delectabili et dulci peccato desiste­ ret, ut extra de usuris per totum, et lib. 6 et in clementinis, et tamen adhuc praedictis obstanti­ bus crimen prodictum non cessat, sed continue invalescit propter cupiditatem“ („Dann, weil das Verbrechen des Wuchers immer weiter anwuchs, hat die römische Kirche wiederholt vorsor­ gend bestimmt, dass Zinsen nicht gefordert und gezahlte Zinsen zurückgefordert werden kön­ nen, und dafür verschiedene kirchliche Strafen auferlegt, damit das Menschengeschlecht von dieser so angenehmen und reizvollen Sünde Abstand nehme, so im Liber Extra, De usuris, durchgehend, im Liber Sextus und in den Clementinen; und dennoch ist dieses Verbrechen entgegen den Vorschriften nicht verschwunden, sondern wegen der menschlichen Begehrlichkeit beständig angewachsen“).

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seien.19 Grundsätzlich jedoch erörtert die Legistik die Zinsfrage unter dem A ­ spekt von Erlaubnis oder Verbot – an usurae sint prohibitae, an sint licitae – und im 13. Jahrhundert nur unter dem Aspekt der Klagbarkeit – an peti possunt. Ebenfalls in Zusammenhang mit der neuen Anordnung in den Clementinae dürfte stehen, dass im 14. Jahrhundert – insbesondere bei Bartolus und Baldus – bei Erörterung der legistischen Zinsvorschriften nun auch die Frage auftaucht, ob der römische Kaiser aufgrund seiner Zinserlaubnis ein Häretiker sei.20 – Die Legistik des 14. Jahrhunderts ist, so lässt sich sagen, mit der Verschärfung des Zinsverbots durchaus mitgegangen.

II  Fragestellungen und maßgebliche Gesichtspunkte der Legistik Die Abfolge der kirchlichen und weltlichen Zinsgesetze war seit der Glosse ein wichtiger Aspekt in der Frage des Verhältnisses von kirchlichem und weltlichem Zinsrecht, jedoch nur einer von mehreren Gesichtspunkten und Argumenten, unter denen die Legistik zum Zinsverbot Stellung nahm. Dies soll nun genauer dargestellt werden.

1  Die Glossa ordinaria des Accursius Die Glossa ordinaria läßt im Ergebnis keinen Zweifel an der Durchschlagskraft des Zinsverbots, erörtert dessen Geltung jedoch ganz in legistischen Bahnen: ­Accursius beginnt mit der Aussage, nach neuem Recht – iure novo – würden Zinsen gänzlich „aufgehoben“ – ex toto tolluntur;21 die Feststellung findet sich ähnlich schon in den Dissensiones dominorum. Als Quellenbeleg stützt die Glosse sich dafür auf die oben 19 Jacobus Butrigarius (Fn. 12), zu C. 4.32.16, auth. ad haec: „In his quae ad fidem pertinent, et ad spiritualia servamus canones etiam in foro ecclesiastico et leges in nostro. Sed nonne hic tractatur de spirituali, s. de peccato: ergo debemus sequi canones.“ – Der Text erscheint in sich nicht schlüssig; ich übersetze: „In denjenigen Fragen, die sich auf den Glauben beziehen und auf geist­ liche Dinge, beachten wir die canones auch [!] vor dem geistlichen Gericht und die weltlichen Gesetze vor unserem [Gericht]. Aber hier, nicht wahr, handelt es sich um eine geistliche Angele­ genheit, nämlich um eine Sünde; also müssen wir die canones befolgen.“ Wieder anders verwendet Baldus, Vol. 6 (Fn. 12), zu C. 4.32, Rubrica, no. 10, den Gesichtspunkt des peccatum. 20 Bartolus (Fn. 14), zu C. 4.32.16, auth. ad haec; Baldus (Fn. 12), zu C. 1.1.1, no. 24: „Iuxta hoc quaero, nunquid Imperator fuerit haereticus, eo quod permittit usuras?“ 21 Glossa ordinaria (Fn. 13), C. 4.32, auth. ad haec, gl. cadat: „Iure novo ex toto tolluntur usurae, ut in auth. de eccles. titu. § 1 coll. 9 (Coll. 9.6.) ubi dicit servandas regulas sanctorum quatuor conciliorum. Sunt enim prohibitae in Nicaeno.“

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besprochene Authentica De ecclesiasticis titulis, in der Kaiser Justinian anordnet, dass die Beschlüsse der Konzilien eingehalten werden sollten.22 Mit ius novum ist nicht das kirchliche Zinsverbot in den mittelalterlichen canones gemeint, sondern die erwähnte Anerkennung des Konzilsbeschlusses durch Kaiser Justinian.23 Inhaltlich ist an der Frage nach dem ius novum bemerkenswert, dass sie das Problem chronologisch-positivistisch angeht, nicht rechtsquellentheoretisch mit der Frage nach dem Geltungsrang von ius canonicum und ius civile. Außerdem beginnt die Erörterung auch nicht mit der Aussage, Zinsen seien verboten, sondern lediglich mit der Feststellung, sie würden „beseitigt“ o. Ä.; der Ausdruck prohibitae/ verboten findet sich nur bei Wiedergabe des Konzilsbeschlusses. Die Verbform tolluntur deutet an, dass man sich die legistischen Vorschriften, die Zinsen grundsätzlich erlauben, als einen eigenständigen Regelungskomplex denkt, der zunächst seine Bedeutung behält und dessen Rechtsfolgen erst in einem letzten Schritt durch das kanonische Recht beseitigt werden. Dieses Verständnis eines Nebeneinanders von weltlichem und kirchlichem Recht zieht sich beim Thema Zins durch die gesamte Legistik. Die nächste Feststellung der Glosse lautet, auch wenn es kein Gesetz – lex – 24 gäbe, das dies anordne, so würden Zinsen dennoch keine Gültigkeit haben, da sie gegen das göttliche Gesetz verstießen.25 Mit lex Dei ist vor allem eine Stelle aus dem Lukas-Evangelium gemeint,26 die in der Glosse aber nicht ausdrücklich genannt wird.27 Später erscheint die Lukasstelle in der Legistik meist nur als einschränkender Beleg dafür, dass das göttliche Gesetz lediglich Zinsen aus Darlehen verbiete, nicht jedoch Zinsen aus anderen Verträgen.28 Den Hinweis auf die lex Dei verbindet Accursius mit der Feststellung, ein niedriger stehender Gesetzgeber könne das Gesetz eines höherstehenden nicht ändern.29 Dies wird auf legistische Allegationen gestützt.30 – Der Gedankengang endet mit dem Satz, es sei „gegen die Natur, dass 22 23 24 25

Zur Auth. De ecclesiasticis titulis oben, bei Fn. 6. Vgl. bei Fn. 21. Damit ist allgemeinem Sprachgebrauch folgend nur das weltliche Gesetz gemeint. Glossa ordinaria (Fn. 13), C. 4.32.16, auth. ad haec, gl. cadat: „Item si nulla lex diceret, adhuc non valerent: cum sint contra legem Dei.“ 26 Lukas 6,34, siehe oben, Fn. 11. 27 Odofredus bezieht sich auf die Psalmen und führt auch die einschlägige Passage im Wortlaut an, Odofredus (Fn. 9), C. 4.32.1, no. 6. 28 Odofredus (Fn. 9), C. 4.32.1, no. 8; Jacobus de Ravanis, Lectura super Codice, Parisiis 1519 (ND 1967), zu C. 4.32.1, fol. 194ra; anders Bartolus; dazu unten. 29 Glossa ordinaria (Fn. 13), C. 4.32.16, auth. ad haec, gl. cadat: „Inferior non potest tollere legem superioris.“ 30 Daneben wohl auch auf eine Bibelstelle, Apostelgeschichte 16,14, die seit Azo in diesem Zusammenhang von vielen Legisten etwas lose angefügt wird: „Durum est contra stimulum calcitrare.“

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der Knecht das Gesetz seines Herrn aufhebe“;31 auch dieser Satz wird auf eine legistische Allegation gestützt. Er vervollständigt das Argument, Zinsen zu nehmen verstoße gegen das göttliche Gesetz: Die Glosse hält es für erforderlich, ausdrücklich zu belegen, dass der Kaiser mit seinen Gesetzen an die lex Dei gebunden sei.32 Es folgt in der Glosse die abschließende entscheidende Feststellung, dass Zinsversprechen in der gängigen römischrechtlichen Form einer Stipulation, beeidete oder durch ein Pfand gesicherte Zinsversprechen gleichermaßen unwirksam seien.33 Die Stipulation begründet nach C. 4.32.1 eine wirksame Zinsverpflichtung, und nach C. 4.32.4 können Zinsen wirksam durch Pfand gesichert werden; die wichtigsten legistischen Möglichkeiten eines wirksamen Zinsversprechens werden damit verworfen. – Stipulatio, pignus, iuramentum werden auch bei späteren Legisten noch erörtert, in der Frage erlaubter Zinsen aber von neuen Kriterien verdrängt.

2  Odofredus de Denariis Odofredus († 1265) beginnt seine Erörterung des Zinsthemas mit der Frage, „ob nach menschlichem Recht Zinsen geschuldet und gefordert werden können, obgleich sie nach göttlichem und kanonischem Recht verboten sind“ 34.

Das kanonische Zinsverbot wird nicht in Zweifel gezogen, das ius divinum als Rechtsquelle anerkannt und das kanonische Recht als Fortsetzung des ius divinum dem ius humanum gegenübergestellt. Das Entscheidende im Verhältnis beider Rechtsbereiche ist für Odofredus die Frage, ob nach ius humanum etwas gefordert werden könne, was nach ius divinum untersagt ist. Es überrascht, dass die Wirksamkeit einer Zinsvereinbarung nach ius humanum trotz kirchlichen Zinsverbots überhaupt zur Debatte steht, und man würde nicht erwarten, dass eine bejahende Antwort in Betracht kommt. Das Zinsverbot nach ius divinum 31 Glossa ordinaria, ebda., gl. cadat: „Item contra naturam est, ut servus tollat legem domini sui.“ 32 Servus/Knecht könnte sich auch auf den Papst beziehen; dann möchte die Glosse sagen, dass das kirchliche Recht von der lex Dei nicht abweichen dürfe; die Argumentation bliebe damit jedoch unvollständig. 33 Glossa ordniaria, ebda., gl. cadat: „Non ergo stipulatio, non pignus, non iuramentum de his praestandis tenet.“ Begründung: mit dem Gesetz, das den Konzilsbeschluss zum Zinsverbot als Gesetz anerkenne, habe Justinian die früheren Regelungen zur Zinserlaubnis „bereut“; dazu auch oben, bei Fn. 13. 34 Odofredus (Fn. 9), C. 4.32.1, no. 6: „An usurae debeantur iure humano et possint peti: dum iure divino et canonico sunt prohibitae.“

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nennt Odofredus jedoch nur als Argument derjenigen, die eine zivilrechtliche Wirksamkeit verneinten,35 hält das Thema aber nicht für vollständig erörtert.36 Dass Odofredus eine Frage formuliert, obgleich die Antwort möglicherweise auch für ihn schon feststand, könnte der neuen Erörterungsform der quaestio geschuldet sein, die seit der Mitte des 13. Jahrhundert immer mehr Bedeutung erlangte und auch die juristische Kommentarliteratur prägte. Was nicht als Frage aufgeworfen und mit Argumenten für und wider erörtert wird, hat keine Überzeugungskraft. Darauf weist auch Odofredus selbst hin: „Aber, meine Herren, ich behaupte, dass diese Worte suggestiv [wörtlich: schmeichlerisch] sind, nicht instruktiv. Und ich habe mir angewöhnt, diese Frage in anderer Weise zu ­prüfen, und zuerst [die Argumente] pro und contra anzuführen und dann zu ent­ scheiden.“37

Odofredus beginnt mit den Argumenten für eine Zinserlaubnis, indem er auf verschiedene kaiserliche Zinsregelungen hinweist, insbesondere auf ein neuestes Gesetz Kaiser Justinians (novissimum ius), das erlaube – d. h. zumindest die Erlaubnis voraussetze –, Zinsen zu fordern.38 Die für das Verhältnis von ius divinum und weltlicher Gesetzgebung maßgebliche Stelle C. 1.1.1 (l. cunctos populos) wird zunächst als Argument für weltliche Zinserlaubnis verwendet: Der Kaiser habe lediglich angeordnet, die christliche Religion bezüglich des Glaubens zu befolgen. – Als einziges Argument gegen eine Zinserlaubnis nach weltlichem Recht bringt Odofredus dann die gleiche Codexstelle, nun aber mit der Feststellung, der Kaiser habe befohlen, die Anweisungen des Apostels Petrus (!) zu befolgen; Petrus habe die „Römer“ angehalten, „ihr Geld nicht auf Zinsen zu geben“.39 Auch diesen Gedankengang kann man aus C. 1.1.1 herauslesen; die Stelle enthält in der 35 Odofredus, ebda. zu C. 4.32.1, no. 6: „Dixit ipse, hodie iure humano non debentur usurae, constat enim quod prohibitae sunt de iure canonico et per consequens iure humano.“ („Er selbst [gemeint ist Azo] sagt, heute würden Zinsen nach ius humanum nicht geschuldet; es stehe nämlich fest, dass sie nach ius canonicum verboten sind, und infolgedessen auch nach ius hu­ manum.“). 36 Odofredus, ebda., no. 6: „Sed non plene iudicio meo.“ („Aber nicht vollständig nach meinem Urteil.“). 37 Odofredus, ebda., no. 6: „Sed signori, dico quod ista verba sunt palpativa, non instructiva. Et consuevi alio modo quaestionem istam examinare. Et tunc primo allegare pro et contra et postea determinare.“ 38 Odofredus, ebda. verweist auf die Authentica Ut nullus mutuans agricolae; Coll. 4.4; es handelt sich m. E. aber wohl um die darauf folgende Authentica Nullum credentem agricolae, Coll. 4.5. 39 Odofredus, ebda. no. 7.

Stellungnahmen der mittelalterlichen Legistik zum kanonistischen Zinsverbot

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Tat sowohl eine Ankündigung des Kaisers, die christlichen Glaubensartikel zu befolgen, wie auch die Anordnung, dass zu befolgen sei, was der Apostel Petrus verkündigt habe. Mit Petrus Apostolus werden im Sinne von Odofredus und Justinianus gleichermaßen wohl auch die Päpste gemeint sein; eine Anweisung des Petrus selbst, keine Zinsen zu nehmen, ließe sich dem Neuen Testament nicht entnehmen. Dennoch liegt in der Bezugnahme auf Petrus auch die Einschränkung, der Kaiser habe nicht die Befolgung der päpstlichen Gesetzgebung schlechthin angeordnet, sondern nur die Befolgung dessen, was in den Evangelien enthalten sei, auf die auch Petrus sich verpflichtet habe. – Odofredus wählt mit dieser Darstellung einen Weg, der die Souveränität des Kaisers gegenüber der Kirche möglichst zu wahren sucht: Nur weil der Kaiser selbst angeordnet habe, die Vorschriften des Petrus bzw. der Päpste zu befolgen, ist göttliches Recht auch im Bereich des weltlichen Rechts bindend. Die sog. determinatio nach diesen Argumenten pro und contra besteht in einer neuen40 Zinslehre, die Odofredus in der Form einer Distinktion vorträgt. Sie orientiert sich nicht an den legistischen Vorgaben – förmliches Zinsversprechen, festgelegte Zinshöhe –, sondern an Gesichtspunkten, die durch die kanonistische Zinslehre vorgegeben sind und von denen Odofredus versichert, sie würden sowohl den römischen Gesetzen (leges) die Wirksamkeit erhalten als auch der Ermahnung des Apostels gerecht werden, „zu geben, ohne etwas dafür zu erwarten“.41 Odofredus unterscheidet als Erstes danach, ob die Zinsen aus einem Darlehensvertrag – ex contractu mutui – gefordert werden oder aus einem anderen Vertrag – aut ex alio contractu. Wenn aus einem anderen als einem Darlehensvertrag, könnten Zinsen stets gefordert werden.42 Für Zinsen „aus anderen Verträgen“ bringt Odofredus mehrere Beispiele: Bei einem Kaufvertrag wird der Kaufpreis nicht gezahlt, die Kaufsache ist jedoch schon übergeben;43 bei einem Mietvertrag wird nach dem Einzug in das Haus der Mietzins nicht gezahlt; eine Mitgift wird nach Beendigung der Ehe nicht fristgerecht zurückgegeben. Der Mietvertrags-Fall und der Mitgift-Fall finden sich auch bei dem Kanonisten Goffredus de Trano, der Verkaufsfall und der Mitgift-Fall finden sich bei Henricus de Segusia,44 der

40 „Neu“ bezogen auf die Darstellung der Glosse. 41 Odofredus (Fn. 9) zu C. 4.32.1, no. 7 a. E.: „Salvabitis omnes leges et dictum Apostoli mutuo dantes nihil“ etc. Zum Zitat aus Lukas 6,34 oben Fn. 26. 42 Odofredus, ebda., no. 8. 43 Das ist der Fall der Codexstelle C. 4.32.2, in der dem Käufer „ratione aequitatis“ eine Zinsverpflichtung auferlegt wird. 44 Goffredus de Trano, Summa (Fn. 17), zu X. 5.19, no. 6; Henricus de Segusia, Summa aurea, Lugduni 1537, zu X. 5.19, no. 8, unter sexto (Mitgift-Fall) und unter septimo (Verkaufsfall).

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Verkaufsfall bereits in der Glosse zum Liber Extra.45 Odofredus setzt bei jedem der Beispiele erläuternd hinzu, dass es sich hier um Zinsen zum Ausgleich für Schaden oder entgangenen Gewinn handele – um usurae ad damnum et interesse. Auch die Kanonistik betont, dass Zinsen nur als Interesse geschuldet werden. Bei den Zinsen aus Darlehensvertrag unterscheidet Odofredus nun ausdrücklich: Zinsen als Gewinn aus dem Darlehensvertrag werden nicht geschuldet, denn dies würde dem ius divinum zuwiderlaufen. Zinsen als Ausgleich für „Schaden und Interesse“ werden hingegen auch bei einem Darlehensvertrag geschuldet.46 Was unter „damnum et interesse“ zu verstehen ist, wird anhand von Beispielsfällen genauer ausgeführt. Bereits in der Glossa ordinaria zum Decretum findet sich bei der Glossierung des Konzilsbeschlusses von Nicaea die Unterscheidung von Zins als damnum/interesse und Zins als reinem Gewinn/lucrum.47 Auch Goffredus de Trano betont, dass Zinsen nach kanonischen Recht nur gefordert werden könnten, wenn es sich dabei um das Interesse handele;48 Interesse setzt er mit Schaden gleich, erwähnt jedoch, anders als Odofredus, den entgangenen Gewinn nicht g­ esondert.49 Odofredus verweist an keiner Stelle auf kanonistische Literatur, sondern ­lediglich auf einige Stellen aus Dekret und Liber Extra, die er zur Interpretation von Lukas 6,34 heranzieht.50 Sein Ausgangspunkt ist die lex Dei selbst, nämlich die Stelle Lukas 6,34, in der von mutuum dare als Vertragsart die Rede ist.51 Dem 45 Glossa ordinaria ad Decretales, Venetiis 1604, zu X. 5.19.8, gl. de feudo, mit Allegation der Codexstelle C. 4.32.2. 46 Odofredus (Fn. 9), zu C. 4.32.1, no. 8. 47 Glossa ordinaria zum Decretum, Venetiis 1604, zu C. 14, q. 4, c. 8, gl. ad quaestum. 48 Goffredus, Summa (Fn. 17), no. 5 a. E.: „Sed nunquid secundum iura canonica haec proce­ dunt. Respondeo non, nisi usura pro interesse petatur“ („Aber gilt das [vorangehend hatte Goffredus vom Verzug als Voraussetzung von Zinsansprüchen gehandelt] auch nach kano­ nischem Recht? Ich antworte, nein, wenn nicht der Zins als Interesse gefordert wird“). 49 Goffredus (Fn. 17), no. 6: „Quartus, cum petitur usura non tanquam usura sed tanquam in­ teresse. […] Sed hoc intelligo cum interesse est intra rem vel cum petitur causa damni vitandi non lucri captandi.“ („Vierter [Fall], wenn Zins nicht als Zins gefordert wird, sondern als In­ teresse. […] Das aber erkenne ich an, weil das Interesse innerhalb der Sache selbst liegt oder weil er [der Zins] gefordert wird, um Schaden zu verhindern, nicht um Gewinn zu erzielen.“). Den Ausdruck „interesse est intra rem“ sehe ich in Zusammenhang mit dem kanonistischen Grundsatz, nur der Darlehensbetrag selbst bzw. die verliehene Sache selbst dürfe zurückgefordert werden, nichts darüber hinaus. Das Interesse gehöre in diesem Sinne noch zur Sache selbst, die als Darlehen gegeben/ausgeliehen worden war. – Nur eine fast beiläufige Erwähnung bei Henricus, Summa aurea, a. a. O, no. 8 unter septimo. 50 Odofredus (Fn. 9), C. 4.32.1, no. 8 a. E. 51 Herangezogen wurde die Ausgabe Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, 1983. Dem Ausdruck mutuum dare entspricht auch das δανίζειν der griechischen Fassung.

Stellungnahmen der mittelalterlichen Legistik zum kanonistischen Zinsverbot

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entnimmt Odofredus, dass Lukas’ Zinsverbot sich auf Darlehen beziehe, nicht auf andere Vertragsarten, und er belegt dies mit einer Decretale, die ihrerseits eine Interpretation der Lukas-Stelle enthält und Odofredus’ Auffassung entgegenkommt.52 – Entscheidend für Odofredus’ Anliegen ist sodann sein einschränkendes Verständnis, dass Lukas’ Ermahnung sich nicht auf solche Zinsen beziehe, die zugleich dem Gläubiger als Schaden zu ersetzen sind. Dies belegt er mit zwei Dekretstellen, die usura mit „lucrum“ und „superabundantia“ (Überfluss) gleichsetzen.53 Für die einschränkende Interpretation des Zinsverbots überlässt Odofredus also die Interpretationshoheit dem kanonischen Recht.

3  Jacobus de Ravanis Die französischen Juristen des späten 13. Jahrhunderts sind dafür bekannt, neue Ansichten und Lösungen in die juristische Diskussion und Rechtsanwendung ­eingebracht zu haben. Dies lässt sich auch an den Stellungnahmen des Jacobus de Ravanis († ca. 1296) zum Zinsrecht beobachten. Jacobus beginnt mit der Frage, ob „nach natürlicher Vernunft (ratione naturali) Zinsen geschuldet würden, wenn sie nicht nach göttlichem Recht (lege divina) verboten wären“.54

Wie Odofredus fragt auch Jacobus positiv nach der Wirksamkeit der Zinsverpflichtung, nicht negativ nach der Wirksamkeit des Verbots. Neu in der Zinslehre, und gegenüber dem Kirchenrecht und dem ius divinum wohl auch einigermaßen provokant, ist bei Jacobus der Maßstab der naturalis ratio.55 Die naturalis ratio findet sich im römischen Recht in vielen wichtigen Zusammenhängen.56 Die französische Legistik hat den Gedanken der ratio naturalis seit dem 13. Jh. ausgebaut; 52 Odofredus (Fn. 9), zu C. 4.32.1, no. 8 a. E. Es handelt sich um die Decretale X. 5.19.10 (De usuris, c. consuluit). Odofredus allegiert für eine abweichende Auffassung noch die Stelle c. cum filii, die ich jedoch nicht ermitteln konnte. 53 Decretum Gratiani, C. 14, q. 4, c. 1 und c. 5. 54 Jacobus de Ravanis, (Fn. 28), zu C. 4.32.1, fol. 193vb: „Quaeritur utrum usurae debeantur naturali ratione, si non essent prohibibitae lege divina.“ 55 Auch Placentinus hatte von einer Übereinstimmung des Zinsnehmens mit der saecularis et humana ratio gesprochen; ders., Summa Codicis, Moguntiae 1536 (ND 1962), zu C. 5.43: „Saeculari et humana ratione aequum est, ut is det mihi usuram, qui suscepit pecuniam meam utendam.“ 56 Hermann Heumann/Emil Seckel, Handlexicon zu den Quellen des römischen Rechts, 1958, nennt aus Institutiones und Digesten 14 Stellen; bekannt die Definition des ius gentium in Inst. 1.2.1. Näher zur Zinslehre liegen die Themen von D. 44.7.1.9, wo es um die

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bekannt ist z. B. die Parömie, das römische Recht gelte in Frankreich nicht ratione imperii, sondern imperio rationis. Auch die mittelalterliche Gesetzgebung und Gesetzgebungslehre verwendet die ratio als Maßstab:57 „Lex et ratio naturalis idem sunt“58 (legistisch); „lex sit aliquid pertinens ad rationem“59 (theologisch). Diesen Aspekt dürfte Jacobus für die kaiserliche Zinserlaubnis mitangesprochen haben. Jacobus erörtert die aufgeworfene Frage nach der naturalis ratio bei Zinsversprechen anhand eines eingehenden Vergleichs von Darlehen und Miete. Die Gemeinsamkeiten von Miete und Darlehen sollen Argumente liefern, dass Zinsen wirksam versprochen werden können: Der Vermieter erhalte für die vermietete Sache Mietzins; daraus ergibt sich für Jacobus, dass auch dem Darlehensgeber ein Vorteil zustehe.60 Der Vergleich von Darlehen und Miete ist schon in der Definition der usura durch die ältere Legistik angelegt: Usura sei, was propter usum rei, also wegen des Gebrauchs einer Sache, gezahlt werde; dabei ist mit Sache das Geld gemeint, das als Darlehen gegeben wird.61 Jacobus orientiert sich für den genaueren Vergleich an drei Gesichtspunkten: Verschlechterung, Eigentumslage in Verbindung mit Gefahrtragung und Gewinn aus fremder Sache. Zuerst erörtert er den Einwand, Miete und Darlehen seien deshalb nicht vergleichbar, weil die Mietsache sich durch den Gebrauch verschlechtere – Jacobus bringt hier das Beispiel eines gemieteten Pferdes – Geld hingegen nicht; daher sei bei der Miete ein Mietzins gerechtfertigt. Das Argument will er nicht gelten lassen: Es gebe viele Mietgegenstände, die sich ebenfalls durch den Gebrauch nicht Unwirksamkeit einer Verpflichtung bei Unmöglichkeit geht, und Inst. 2.1.35, wo es um gezogene Früchte geht, die der Käufer bei Vindikation pro cultura et cura behalten dürfe. 57 Bekannt ist die Formulierung Kaiser Ludwigs des Bayern: „[…] valeamus rationabiliter in­ mutare et aliud statuere“, Hermann Krause, Kaiserrecht und Rezeption (Abh. der Heidelberger Ak. d. Wiss., Phil.-hist. Kl.), 1952, S. 57; zur ratio in der kirchlich geprägten Diskussion um die Gesetzgebungsgewalt des Papstes Ludwig Buisson, Potestas und Caritas, 1958, 2. Aufl. 1982, S. 99 f. 58 Hermann Lange/Maximiliane Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. II, 2007, S. 310 unten f. 59 Thomas von Aquin, Summa theologiae Ia IIae (Ausgabe von Pietro Caramello, 1986), q. 90, a. 1, respondeo – der Artikel stellt die Frage, „Utrum lex sit aliquid rationis?“ 60 Jacobus de Ravanis, Lectura super Codice (Fn. 28), zu C. 4.32.1, fol. 193vb: „[…] ego loco tibi equum meum, nunquid habeo mercedem de equo meo. Similiter si mutuo tibi pecuniam quare non offeres [im Original offeret] mihi commodum nec debet esse pecunia sterilis.“ 61 Azo, Summa Codicis, Papiae 1506 (ND 1966), C. 4.32, S. 140 b oben: „Est autem usura quod propter usum rei concessae datur.“ („Es ist der Zins aber dasjenige, was für den Gebrauch der überlassenen Sache gegeben wird.“) „Dicitur autem usura ab usu quia ob usum rei datur et habet proprie locum in pecunia tantum.“ („Der Zins heißt usura von usus, weil er wegen des Gebrauchs einer Sache gegeben wird, und eigentlich findet er sich nur bei Geld.“).

Stellungnahmen der mittelalterlichen Legistik zum kanonistischen Zinsverbot

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verschlechterten.62 – Als Nächstes erörtert er die Eigentumslage: Bei der Miete bleibt der Vermieter Eigentümer, und der Mietzins ist Gewinn aus eigener Sache; beim Darlehen hingegen wird der Darlehensschuldner Eigentümer des Geldes, und die Zinsen, die der Darlehensgeber erhält, sind Gewinn aus einer fremden Sache. Es sei jedoch, so macht Jacobus zunächst geltend, kein Gebot der ratio na­ turalis, dass jemand aus einer fremden Sache keinen Gewinn erzielen dürfe; Belege für diese Behauptung liefert er nicht.63 – Bevor er diesen Ansatz zu Ende führt, erörtert er das Argument der Gefahrtragung, das sich ebenfalls aus der Eigentumslage ergibt: Bei der Miete trage der Vermieter die Gefahr des zufälligen Untergangs der Mietsache, beim Darlehen hingegen trage der Darlehensnehmer die Gefahr des Untergangs des Geldes. Auch diesen Unterschied lässt er als Begründung des Zinsverbots nicht gelten: Bei der Miete könne vertraglich die Gefahr des zufälligen Untergangs dem Mieter auferlegt werden, und die Mietzinsvereinbarung sei dennoch wirksam; dies wird durch eine Codexstelle belegt.64 Abschließend greift Jacobus nochmals den Gesichtspunkt auf, dem Nichteigentümer stehe der Gewinn aus einer fremden Sache nicht zu und deshalb auch dem Darlehensgeber kein Gewinn aus der ausgezahlten Darlehenssumme: Diesen Gedanken, so berechtigt er an sich ist, möchte Jacobus jedoch nicht für Darlehen und Darlehenszinsen gelten lassen: Denn hier sei der Nichteigentümer, der den Gewinn zieht, früher einmal Eigentümer gewesen. Zum Vergleich bildet er das Beispiel eines Tauschgeschäftes, das mit der Vereinbarung versehen ist, bei Verstoß gegen eine zusätzlich übernommene Verpflichtung die Sache zurückzugeben und außerdem eine angemessene Summe zu zahlen.65 Es ließe sich einwenden, dass 62 Jacobus de Ravanis (Fn. 28) zu C. 4.32.1, fol. 193vb: „Nec est simile de locatione et mutuo: equus qui locatur, deterioratur et consumitur, adminus fatigatur. Sed pecunia mea non deteri­ oratur, aeque bona redditur mihi. Ista ratio non est multum valida. Multa sunt, quae per usum non deteriorantur.“ 63 Jacobus de Ravanis (Fn. 28) zu C. 4.32.1, fol. 193vb: „Non dictat ratio naturalis, quod ex re aliena non debet quis habere lucrum.“ Als Beispiel für Gewinn aus einer fremden Sache könnte man heute an bereicherungsrechtliche Streitfragen zum commodum ex negotiatione denken. 64 Jacobus de Ravanis (Fn. 28) zu C. 4.32.1, fol. 193vb unten: „Pecunia est periculo debitoris ut (C.  4.2.11) ergo non debet esse lucrum alterius:quia ubi periculum et onus ibi debet esse lucrum secundum naturalem aequitatem […]. Ista ratio non movet me. Ego loco tibi equum meum et actum est quod tenearis mihi de casu fortuito: valet locatio ut vidisti supra.“ (C. 4.23.1). 65 Jacobus de Ravanis (Fn. 28) zu C. 4.32.1, fol. 193vb unten f: „Alia ratio videtur validior: ex re mea debet mihi afferri lucrum et ego amitto dominium pecuniae mutuatae. Nec ista ratio movet me in re quae fuit mea. Ut in permutatione quae prohibit quando possum pacisci quod reddatur mihi cum alia aeque bona.“ („Ein anderer Grund erscheint überzeugender: An mei­ ner Sache muss mir selbst der Gewinn zukommen, und ich verliere [demgegenüber] das Ei­

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Zinsen für ein Darlehen, anders als im Tauschbeispiel, ohne Verstoß einer vertraglichen Pflicht anfallen würden. – Dennoch hält Jacobus alle Einwände gegen die Vergleichbarkeit von Darlehen und Miete für entkräftet und gelangt zu der Feststellung, quod usurae de aequitate naturali66 non sunt prohibitae licet prohibeantur lege divina.67 Verboten sind Zinsen naturali ratione also nicht. Die Frage, ob sie auch geschuldet sind, ist damit allerdings noch nicht beantwortet; sie wird von Jacobus aber fortgeführt. Der Vergleich von Darlehen und Miete kommt aus dem kanonischen Recht; er ist bereits in der Dekretstelle D. 88.11 angelegt, die zentrale Äußerungen des Kirchenlehrers Johannes Chrysostomus († 407) zu Handel und Zinsgeschäften wiedergibt.68 Ausdrücklich ist hier die Frage behandelt, ob es nicht dasselbe sei, ein Haus zu mieten oder Geld auf Zinsen als Darlehen zu geben. Es handelt sich bei D. 88.11 um eine palea, um eine spätere Ergänzung zum Dekret; sie ist in der Glossa ordinaria nicht glossiert. Jedoch hat in der Legistik schon Azo den Unterschied von Darlehenszinsen (usurae) und Mietzins (merces) erörtert und in Zusammenhang damit eine Abgrenzung des Darlehens zur Miete vorgenommen; dies erfolgt bei der Definition von usura.69 Auf die Aspekte des Gewinns aus eigener/fremder Sache, der Verschlechterung durch den Mietgebrauch, der Gefahrtragung geht Azo nicht ein, weist aber darauf hin, dass das Eigentum beim Vermieter verbleibe. Die Unterschiede selbst werden nur festgestellt, nicht in Zweifel gezogen, insbesondere wird der Vergleich von Miete und Darlehen nicht als Argument für oder gegen die Berechtigung des Zinsverbotes verwendet.

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gentum am dargeliehenen Geld. Aber dieser Grund stimmt mich nicht um bei einer Sache, die einmal mein gewesen ist. Wie bei einem Tausch, der etwas verbietet [d. h. mit einem Verbot verbunden ist], wo ich vereinbaren kann, dass mir [die Sache] mit einem anderen angemesse­ nen Vermögensgegenstand zurückgegeben wird.“ Jacobus wechselt hier vom Terminus naturalis ratio zur Formulierung aequitas naturalis, der an den Ausdruck ratio aequitatis in C. 4.32.1 anknüpft. Jacobus de Ravanis (Fn. 28) zu C. 4.32, fol. 194ra oben: „Ich sage mit dieser Gesetzesstelle (sc. C. 4.32.1), dass Zinsen nach der natürlichen Billigkeit nicht verboten sind, obgleich sie verbo­ ten sind nach göttlichem Gesetz.“ Decretum Gratiani, D. 88, c. 11: „Qui agrum locat, ut agrariam recipiat, aut domum, ut pensiones recipiat, nonne est similis ei, qui pecuniam dat ad usuram? […] Ideo qui locat agrum vel domum, suum usum dare videtur, et pecuniam accipere, et quodammodo quasi commutare videtur cum lucro lucrum; ex pecunia reposita nullum usum capis.“ („Wer einen Acker vermie­ tet, damit er Ackerfrüchte [als Mietzins] erhält oder ein Haus, damit er Mietzins erhält, gleicht er nicht dem, der Geld auf Zins gibt? […] Daher scheint, wer Acker oder Haus vermie­ tet, seinen Gebrauch [daran] zu geben und Geld [dafür] zu erhalten, und er scheint gleichsam Gewinn gegen Gewinn zu tauschen; aus zurückgelegtem Geld aber kannst du keinen Gewinn ziehen.“ Azo, Summa Codicis (Fn. 61), zu C. 4.32, S. 140 b oben. Zu Azos Definition oben, Fn. 61.

Stellungnahmen der mittelalterlichen Legistik zum kanonistischen Zinsverbot

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In der Kanonistik äußern sich Goffredus de Trano († 1245) und Henricus de Segusia († 1271) zur Unterscheidung von Miete und Darlehen;70 etwa gleichzeitig wie Goffredus zieht auch Bernardus Parmensis de Botone († 1263), Verfasser der Glossa ordinaria zum Liber Extra, für das Zinsthema Parallelen zwischen der Unentgeltlichkeit von Verwahrung (commodatum) und Darlehen, denen er die Miete gegenüberstellt.71 Henricus erörtert Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Darlehen und Miete am eingehendsten: Er bringt Ausführungen zur Eigentumslage,72 vergleicht Gefahrtragung bei Vermietung und Darlehen73 und äußert sich zur Verschlechterung der Mietsache durch Mietgebrauch.74 Anders als Jacobus erörtert er auch den Aspekt des Verbrauchs durch Gebrauch der geliehenen Sache, ein Gesichtspunkt, der über die Kanonistik hinaus in der theologischen Zinstheorie eine wichtige Rolle spielt.75 Von den genannten Aspekten ist in der Dekretstelle D. 88.11 selbst nur Verschlechterung angesprochen, im Übrigen wird ausschließlich der Gebrauch (usus) bei Miete und Darlehen beleuchtet. Auch das für Jacobus de Ravanis’ Entscheidung wichtigste Kriterium des Gewinns aus eigener und aus fremder Sache wird von Henricus de Segusia erörtert, jedoch ohne den für Jacobus entscheidenden Aspekt, dass die Darlehenssumme ursprünglich dem Darlehensgeber gehört habe. Daher lehnt Henricus im Unterschied zu Jacobus, aber im Sinne des kanonischen Zinsverbots, Darlehenszinsen als Gewinn aus fremder Sache ab:76 70 Goffredus de Trano, Summa super decretalibus, zu X. 5.19, fol. 219ra unten; Henricus de Segusia, Summa, zu X. 5.19, Quid sit usura, fol. 249va oben. Der Dekretalenkommentar des Sinibaldus Fliscus (Papst Innozenz IV.) wurde hier nicht herangezogen. 71 Bernardus Parmensis de Botone, Glossa ordinaria ad Decretales (Fn. 45), zu X. 5.19.8 (c. conquestus), gl. de feudo. 72 Henricus de Segusia, Summa (Fn. 44), zu X. 5.19, Quid sit usura, fol. 249va oben; siehe Fn. 73. 73 Henricus de Segusia (Fn. 44), zu X. 5.19, Quid sit usura, fol. 249va oben: „Secus si non esset mutuata sed locata. Et est ratio secundum quosdam quia periculum rei locatae ad locatorem pertinent sed rei mutuatae ad debitorem (Alleg.) ideoque incendium non liberat debitorem.“ 74 Henricus de Segusia, Summa (Fn. 44), zu X. 5. 19, fol. 250rb Mitte. 75 Henricus de Segusia, Summa (Fn. 44), zu X. 5. 19, fol. 249va oben. Dazu sogleich bei Thomas von Aquin. 76 Henricus de Segusia, Summa (Fn. 44), zu X. 5. 19, fol. 249va oben: „Tu dic, quod illa est ratio quia rei locatae dominium retinemus […] et ideo pro usu rei propriae quam credimus pecu­ niam recipimus quod licitum est quia nec aliquis cogitur de proprio beneficium facere x. q. ii. precarie. xii q. ii. precarie. Sed rei mutuatae dominium transferimus: ideo pro usu rei propriae debitoris improbe pecuniam exigimus ab eodem ad hoc ff. de rei vend. si navis.“ – Man beachte, wie Henricus seine Argumentation dadurch zu steigern sucht, dass er das Argument für den kanonistischen Standpunkt durch eine legistische Argumentation untermauert, und umgekehrt.

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„Du aber sage, dass Folgendes der Grund ist [sc. nämlich dafür, dass ein Darlehen unentgeltlich sein müsse]: Weil wir an der vermieteten Sache weiterhin das Eigentum be­ halten […] und deshalb erhalten wir Geld für den Gebrauch [sc. des Mieters] an einer Sache, von der wir glauben, dass sie uns [sc. dem Vermieter] gehört, was erlaubt ist, weil niemand gezwungen wird, mit seinem Eigentum Wohltaten zu erteilen, so x. q. ii. preca­ rie. xii q. ii. precarie. Das Eigentum an der als Darlehen gegebenen Sache aber übertragen wir; deshalb fordern wir zu Unrecht vom Schuldner Geld für den Gebrauch einer ihm gehörenden Sache, dazu ff. de rei vend. si navis.“

Nach den Lebenszeiten und der ungefähren Entstehungszeit der Werke zu urteilen, ist die Summa des Henricus vor der Lectura des Jacobus de Ravanis entstanden.77 Wahrscheinlich hat Jacobus die Summa des Henricus gekannt. Bis auf die Feststellungen zur Eigentumslage hat er jedoch keinem der kanonistischen Argumente für einen maßgeblichen Unterschied von Miete und Darlehen zugestimmt. Dennoch stellt man mit einer gewissen Überraschung fest, dass Jakobus eine Vorlage der Kanonistik für sein eindringliches Konzept verwendet, das ganz und gar legistisch wirkt und mit Grundsätzen arbeitet, die aus dem klassischen römischen Recht stammen und auch für moderne Juristen noch zum Fundus römischer Rechtsregeln gehören. Jacobus hat sich mit legistisch geprägten Argumenten der Kanonistik für ein Zinsverbot auseinandergesetzt und mit neuen, eigenständigen Überlegungen versucht, diese Argumente zugunsten einer Zinserlaubnis zu entkräften. Neu gegenüber der Kanonistik sind größtenteils auch die Allegationen: Jacobus allegiert für die dargestellten Aspekte seines Vergleichs von Darlehen und Miete insgesamt sechs Stellen aus Digesten und Codex;78 nur eine findet sich auch bei Hostiensis, eine zweite, von Jacobus nur für den speziellen Fall vermieteten Geldes verwendete, bei Bernardus de Botone. Umgekehrt verwenden Hostiensis, Goffredus und Bernardus einige legistische Allegationen, die bei Jacobus de Ravanis nicht erscheinen.79

77 Henricus de Segusia, spätestens ca. 1210 geboren, starb 1271, vgl. Johann Friedrich von Schulte, Quellen und Literatur des canonischen Rechts von Gratian bis auf die Gegenwart, 1880, Bd. II, S. 124; die Lebenszeit des Jacobus reichte von ca. 1230/1240 bis ca. 1296. 78 Zur Eigentumsfrage bei Miete: D. 19.2.39; zur Gefahrtragung des Darlehensgläubigers: C.  4.2.11; zum Zusammenhang von Gefahrtragung und Gewinn: D.  50.17.10 und C. 6.51.4; zu Vereinbarungen über Gefahrtragung bei Miete C. 4.23.1; außerdem zu einem speziellen Fall vermieteten Geldes noch D. 13.6.3. 79 D.  6.1.62 (Gewinn aus fremder Sache und Gefahrtragung; Hostiensis, Goffredus); D. 12.1.2.2 (Eigentumslage, Goffredus); C. 4.24.10 (Eigentumslage, Hostiensis).

Stellungnahmen der mittelalterlichen Legistik zum kanonistischen Zinsverbot

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Einer der wichtigsten Gesichtspunkte nicht nur der kanonistischen, sondern auch der theologischen Zinslehre ist das Argument, ein Entgelt/Zins für den Gebrauch von Sachen sei unzulässig, wenn die Sache durch Gebrauch zugleich verbraucht werde. Der Gebrauch einer verbrauchbaren Sache könne nicht verkauft werden, wie Thomas von Aquin sagt. Thomas unterscheidet zwischen vendere rem – Verkauf einer Sache, und vendere usum rei – Verkauf der Nutzung einer Sache. Vendere usum rei entspricht der Miete; Vermietung ist der Verkauf der Nutzung einer Sache. Auch das verzinsliche Darlehen ließe sich als Verkauf des usus pecuniae verstehen. Dies entspricht dem Ansatz von Johannes Chrysostomus in D. 88.11 und ebenso von Jacobus de Ravanis, der zur Verzinslichkeit des Darlehens ja den Vorschlag macht, das Darlehen als Miete und damit als entgeltliches Rechtsgeschäft aufzufassen. Thomas von Aquin sieht im Darlehen den Verkauf einer verbrauchbaren Sache: Da, wie Aristoteles sage, Geld (ausschließlich) für den Tausch bestimmt sei,80 werde es verbraucht, wenn man es bestimmungsgemäß verwende. Daher könne der Gebrauch von Geld nicht verkauft, das heißt nicht gegen Zinsen überlassen werden.81 Interessanterweise findet sich auch für dieses Gebrauchs-Verbrauchs-Argument des Thomas eine legistische Grundlage, nämlich die Digestenstelle D. 13.6.3.6: „Non potest commodari id quod usu consumitur, nisi forte ad pompam vel ostentationem quis accipiat.“82 Thomas spricht allerdings nicht von der unentgeltlichen Leihe, sondern von der entgeltlichen Überlassung einer Sache,83 und er hält Geld für eine verbrauchbare Sache. Der Dekretalist Bernardus de Botone allegiert diese Digestenstelle zur Unentgeltlichkeit von Leihe und Darlehen, allerdings nur für den Ausnahmefall, dass Geld geliehen werde, um es in einem Leichenzug  – pompa  – mitzuführen;84 in diesem Fall könne die entgeltliche Überlassung von Geld als Miete angesehen werden. Den Gesichtspunkt, dass Geld eine verbrauchbare Sache sei, spricht Bernardus nicht ausdrücklich an.

80 Hierzu Aristoteles, Politeia 1.3.23: „Das Geld ist für den Tausch aufgekommen, der Zins aber weist ihm die Bestimmung zu, sich durch sich selbst zu vermehren. Daher widerstreitet diese Erwerbsweise von allen am meisten dem Naturrecht.“ 81 Thomas Aquinas, Summa theologiae, IIa IIae (Ausgabe von Pietro Caramello, 1962), q. 78 in corpore und ad sextum. 82 D.  13.6.3.6: „Es kann dasjenige nicht ausgeliehen werden, was sich durch Gebrauch ver­ braucht. Es sei denn zufällig für einen Leichenzug oder um es zur Schau zu stellen.“ 83 Man könnte daher mit D. 13.6.3.6 auch umgekehrt argumentieren: Nur die unentgeltliche Leihe verbrauchbarer Sachen ist ausgeschlossen, nicht hingegen die entgeltliche Miete und das verzinsliche Darlehen, da hier der Vermieter/Darlehensgeber ja ein Entgelt erhält. 84 So interpretiere ich den Ausdruck „ad pompam“.

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Jacobus de Ravanis hat den in der Zinstheorie des Thomas von Aquin entscheidenden Gesichtspunkt, dass Geld sich verbrauche, wenn es bestimmungsgemäß verwendet werde, ebenfalls nicht erörtert. Vielmehr allegiert er D. 13.6.3.6, die eine Leihe verbrauchbarer Sachen ausschließt, für die umgekehrte Feststellung, dass Geld ausgeliehen werden könne: „Lex dicit, quod posset commodari pe­ cunia, ut ff. commo. l. 3 in fine“.85 Er sieht Geld also ohne Weiteres als eine nicht verbrauchbare Sache an. Den Ausdruck consumere verwendet Jacobus stattdessen, in Übereinstimmung mit der Dekretstelle D. 88.11,86 in der Bedeutung von verschlechtern: Der gemietete Gegenstand verschlechtere sich häufig und werde aufgerieben, Geld hingegen verschlechtere sich nicht.87 So erweisen sich die Ausführungen des Legisten Jacobus, der dem geistlichen Stand angehörte und gegen Ende seines Lebens Bischof war, in allem als das Gegenstück der kanonistischen Überlegungen und Argumente; die Erörterung der naturalis ratio besteht in einer Ablehnung kanonistischer Argumente für das Zinsverbot. Von der Feststellung, dass Zinsen nach natürlicher Billigkeit oder ratio nicht verboten seien, unterscheidet Jacobus die Frage, ob sie nach weltlichem Recht auch geschuldet würden. Für diese Frage setzt er sich mit der Chronologie kirchlicher und weltlicher Zinsgesetzgebung auseinander. Das Argument der Glosse, die Authentica De ecclesiasticis titulis mit der Anordnung, die Konzilsbeschlüsse und kirchlichen regulae wie kaiserliche leges einzuhalten, sei jünger als der Codextitel De usuris und die kaiserliche Zinserlaubnis damit überholt,88 weist er mit der Bemerkung zurück, Justinian habe nicht erst in der späteren Authentica nach seiner Zinsgesetzgebung die Befolgung der Konzilsbeschlüsse angeordnet, sondern schon vorher im Codex selbst in C. 1.1.1. Es handele sich deshalb bei der späteren Anordnung nicht um eine lex novissima,89 denn, so lässt sich ergänzen, dieses neue Gesetz hat keinen neuen Inhalt, und die Zinserlaubnis stand von Anbeginn in Widerspruch zu den Konzilsbeschlüssen, denen Justinian sich unterordnen

85 Jacobus de Ravanis, Lectura (Fn. 28), C. 4.32.1, fol. 193vb. 86 Decretum Gratiani, D. 88.11: „Ager vel domus utendo veterascit. Pecunia autem, cum fuerit mutuata nec minuitur nec veterascit.“ („Acker oder Haus altern durch den Gebrauch. Das Geld aber, wenn es als Darlehen gegeben ist, wird nicht vermindert und altert nicht.“). 87 Jacobus de Ravanis, ebda: „Equus qui locatur, deterioratur et consumitur, adminus fatigatur. Sed pecunia mea non deterioratur.“ („Das Pferd, das ich vermiete, wird verschlechert oder ver­ braucht, zumindest erschöpft man es. Mein Geld aber verschlechtert sich nicht.“). 88 Dazu oben, bei Fn. 21. 89 Jacobus de Ravanis (Fn. 28), C. 4.32.1fol. 194ra oben: „In principio huius voluminis appro­ bat lex fidem catholicam et quatuor consilia. Ergo non est verum, quod per alia iura novissima debeat sumi correctio usurarum.“

Stellungnahmen der mittelalterlichen Legistik zum kanonistischen Zinsverbot

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wollte. – Damit kommt Jacobus zu dem Schluss, dass nach weltlichem Recht Zinsen geschuldet werden: „Unde dico quod iure legum debentur usurae.“ 90

4  Cinus de Pistoia Cinus de Pistoia († 1336) ist dafür bekannt, die französischen Juristen, insbesondere Jacobus de Ravanis und Petrus de Bellapertica, eingehend in seinen eigenen Kommentaren verwendet und dadurch in Italien bekannt gemacht zu haben. Seine Codex-Lectura ist ungefähr in den Jahren 1312–1314 entstanden.91 – In der Zinslehre fragt Cinus, anders als die früheren Legisten, gewissermaßen kanonistisch nach der Erlaubnis des Zinsnehmens, nicht nach Ansprüchen oder Verbindlichkeiten. Er übernimmt dabei von Jacobus de Ravanis den Aspekt der naturalis ratio und die Frage, was nach weltlichem Recht unter Berücksichtigung des göttlichen Rechts für Zinsen zu gelten habe: „Primo quaero, nunquid usurae naturali ratione primaeva sint permissae [...]. Tertio quaero, quicquid sit de lege divina, nunquid de lege humana sint permissae usurae?“92

Eingeschoben ist als kurze zweite Frage, ob Zinsen nach göttlichem Recht „uner­ laubt“ (illicitae) seien. Die Frageform dürfte dem Quaestionen-Schema der Problemerörterung geschuldet sein. Die Übereinstimmung der Zinserlaubnis mit der naturalis ratio beurteilt Cinus nach Kriterien, die er ebenfalls Jacobus de Ravanis entnommen hat: Gebrauchsüberlassung gegen Entgelt als argumentum pro, Gewinnerzielung nur aus Eigentum, nicht aus fremder Sache, als argumentum contra. Das Argument der Verschlechterung erörtert er nicht, und auch das damit zusammenhängende theologische Argument des Verbrauchs bleibt unberücksichtigt. Den Gesichtspunkt der Gefahrtragung verwendet er für die Frage der Gewinnerzielung: Nur wer die Gefahr trägt, soll auch einen Gewinn haben. Der Unterschied der Eigentumslage bei Darlehen und Miete bestimmt die Gefahrtragung und spricht gegen ein legitimes Recht des Darlehensgebers auf Gewinn. Durchdacht ist die gesamte Darstellung und Argumentation auf die Gewinnerzielung aus fremder Sache hin ange90 Jacobus (Fn. 28)ebda.: „Daher sage ich, dass nach dem Recht der leges Zinsen geschuldet werden.“ 91 Lange/Kriechbaum (Fn. 58), S. 656. 92 Cinus de Pistoia, Lectura super Codice, Francoforti 1578, zu C. 4.32.16, auth. ad haec, no. 3: „Als Erstes frage ich, ob nach natürlicher ursprünglicher Vernunft Zinsen erlaubt sind […]. Drittens frage ich, ob nach weltlichem Recht Zinsen erlaubt sind, wenn man das göttliche Recht einbezieht.“

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legt. Man könnte sagen, die Gewinnerzielung aus fremder Sache ist bei Cinus das legistische Gegenstück zum theologischen Argument des Verbrauchs des Geldes durch bestimmungsgemäße Verwendung. Ob die naturalis ratio Darlehenszinsen erlaube, wird mit der Distinktion beantwortet, dass sie in manchen Fällen Gewinn des Darlehensgebers dulde, in anderen Fällen nicht.93 Wann das eine und wann das andere gegeben sei, wird jedoch nicht weiter dargelegt. Das Zinsverbot nach göttlichem Recht unterliegt auch für Cinus keinem Zweifel und wird ohne Umschweife knapp mit Hinweis auf Lukas 6,34 bejaht. Neue Wege schlägt er dann aber bei Erörterung der dritten Frage ein, ob unter Berücksichtigung des göttlichen Rechts Zinsen – nach weltlichem Recht – erlaubt seien: Als Argument für eine Bindung des weltlichen Rechts an die lex divina wird kurz der Satz vom Kaiser als servus Dei wiederholt, ergänzt um das Zitat aus der Apostelgeschichte, dass es „hart“ sei, gegen die Bindung an Gottes Wort anzugehen.94 Sehr viel Raum gibt Cinus sodann den Argumenten gegen eine Bindung an die lex divina und für eine Erlaubnis des Zinsnehmens; eingearbeitet ist hier auch die gesamte differenzierende Lehre von Odofredus und Jacobus zu der Frage, wieweit das Zinsverbot der lex divina reiche. Folgende Punkte in Cinus’ Erörterung wenden sich sozusagen mit neuer ­Munition gegen eine Berücksichtigung des Zinsverbotes im weltlichen Recht: ­Zunächst bringt Cinus ein Beispiel dafür, dass das kaiserliche Recht sich nicht immer an die lex divina halte: So fordere das kirchliche Recht, gestützt auf das Neue Testament, für einen Zeugenbeweis nur drei Zeugen, das kaiserliche Recht hingegen fünf oder sieben Zeugen.95 Man hätte diesen Hinweis dazu verwenden können, genauer nach den Absichten und Wirkungen der einen und der anderen Regelung zu fragen, um dann verallgemeinernd für unterschiedliche positive Absichten und Wirkungen verschiedene Regelungen für zulässig zu halten. Ganz in diesem Sinne wendet Cinus sich zur Rechtfertigung der Zinserlaubnis den Absichten und Wirkungen von Gesetzen zu und argumentiert, der Kaiser habe mit seiner Zinserlaubnis Schlimmeres verhindern wollen: „Denn Rechtsregeln sind manchmal bei der einen Betrachtung ungerecht und bei einer anderen Betrachtung sind sie gerecht, wie (C.  2.12.12). Wenn nämlich das göttliche Recht Zinsen verboten hat, ist das unter regelmäßigen Umständen nach jenem Recht bil­ 93 Cinus, Lectura super Codice,ebda. no. 3: „Aut ratio naturalis patitur, quod remunerationem recipiat ille, qui mutuat, aut non patitur.“ Cinus verweist für diese Distinktion auf Petrus de Bellapartica, in dessen gedruckt vorliegenden Werken ich jedoch nichts Entsprechendes finden konnte. 94 Siehe oben, Fn. 30. 95 Cinus, ebda, no. 5.

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lig und gerecht. Der Kaiser aber, der Volk und Welt zu regieren hat, hat gesehen, dass die Menschen nicht so caritativ sind, wie sie sein sollen. Daher litten die Armen Mangel und gingen an Hunger zugrunde, und deshalb hielt er [sc. der Kaiser] es für billig und g­ erecht, dass sie [sc. Zinsen] geschuldet und gefordert werden können; und dem folgen mehrere Moderni […] und es wird das eine zugestanden, um größeres Unrecht zu verhüten wie in der Gesetzesstelle (D. 9.2.51).“ 96

Cinus verwendet hier zur Beurteilung gesetzgeberischer Maßnahmen, Zwecke und Mittel eine Betrachtungsweise, die besonders das Verhältnis von kirchlichen Grundsätzen und weltlichen gesetzgeberischen Maßnahmen auf eine neue Grundlage stellt. Das unvollkommenere Recht habe in der praktischen Umsetzung eine bessere Wirkung als das eigentlich richtige. Unter dem Gesichtspunkt der Mangelhaftigkeit und Unvollkommenheit dieser Welt rechtfertigt Cinus eine Divergenz zwischen ius divinum – nicht nur ius canonicum – und ius humanum. Es geht dabei nicht lediglich um ein Zugeständnis des weltlichen Rechts an diese Unvollkommenheit, sondern es geht um die Feststellung, dass angesichts der Unvollkommenheit – die Cinus wohl für unabänderlich hält – die weltliche Regelung der Zinserlaubnis ebenso, wenngleich in anderer Weise, ein Übel vermeidet, wie das Zinsverbot des ius divinum. Cinus’ abschließende Stellungnahme fällt ein wenig verhaltener aus als die Darlegung des Arguments als solchem; dies könnte auf die päpstliche Anordnung in Clem. 5.5.1 zurückzuführen sein, wie einen Häretiker zu bestrafen, wer das Zinsnehmen für erlaubt halte; Cinus hat die Codex-Lectura allerdings nur ganz wenige Jahre nach dieser Anordnung geschrieben. Zusammenfassend formuliert er: „Ich antworte, […] es ist wahr, dass [die lex civilis] es verbietet wie das göttliche Recht; und auch der Kaiser hat niemals gewollt, dass die lex civilis es erlaube, es sei denn unter jener Betrachtung, ein größeres Übel zu vermeiden, und wenn man diesen Grund beach­ tet, ist die lex civilis als gerecht zu beurteilen.“ 97 96 Cinus (Fn. 92), zu C. 4.32.16, auth. ad haec, no. 5: „Nam iura quandoque una consideratione sunt iniqua, et alia consideratione sunt aequa, ut C. 2.12(13).12. Cum enim ius divinum prohibuit usuras, aequum fuit regulariter iure illo. Sed Imperator, qui habet populum et mundum regere, vidit, quod homines non sunt ita charitativi, ut deberent. Unde pauperes esuriebant et fame peribant, et ideo reputabat aequum eas posse deberi et peti: et istud sequuntur plures Moderni […] et conceditur unum ut magis iniquum evitetur.“ Mit Moderni sind bei Cinus meist die französischen Juristen gemeint; so verweist Cinus für die vorgetragene Ansicht auf Petrus de Bellapertica. 97 Cinus (Fn. 92), n. 5: „Respondeo […] verum est quod prohibet sicut ius divinum; nec etiam Imperator unquam voluit quod lex civilis permitteret, nisi sicut illa consideratione, propter maius malum evitandum, qua ratione attenta lex civilis resultat aequa.“

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Cinus ist nach eigenen Worten nicht der Erste, der in der Zinsdebatte den Gedanken äußert, durch Zinserlaubnis werde ein größeres Übel vermieden und unter verschiedenen Aspekten seien sowohl Zinsverbot als auch Zinserlaubnis eine angemessene Lösung. Er verweist auf den französischen Juristen Petrus de Bellapertica († 1308), in dessen nur teilweise gedrucktem Werk sich zum Zinsrecht entsprechende Gedanken nicht finden. Jedoch hat Jacobus de Ravanis, dessen Codex-Lectura auch unter dem Namen des Petrus publiziert wurde,98 bei der von Cinus allegierten Codexstelle C. 2.12.12 sich allgemein zum Verhältnis guter und besserer Regelungen geäußert;99 einiges stimmt nahezu wörtlich mit Cinus’ Ausführungen überein: „Hier ergibt sich, dass etwas gerecht ist, dessen Gegenteil gerechter ist.100 [...] Ich sage näm­ lich, dass zu ein und derselben Tatsache die Betrachtungen verschieden sein können. Wie es hier zwei Betrachtungen gibt, bezüglich der einen das eine gut ist, dessen Gegenteil unter einer anderen Betrachtung, die den Vorrang hat, gerechter ist.“101

Petrus de Bellapertica hat diese Ausführungen des Jacobus in anderen Fällen einer Kollision von kanonischem und weltlichem Recht ebenfalls übernommen.102 Cinus stützt seine Argumentation nicht nur auf die Feststellung, dass bei zwei konträren Regelungen beide gerecht sein können, er präzisiert auch den Grund, weshalb das so sein kann: Die weniger gerechte Regelung vermeide größeres Übel und größeres Unrecht. Für diesen Gesichtspunkt, der in C. 2.12.12 nicht ange 98 So die einzige Druckausgabe Paris 1519; dazu Hans Kiefner, Zur gedruckten Codexlectura des Jacques de Révigny, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 31, 1963, S. 5 ff.  99 Die Codexstelle C. 2.12.12 selbst behandelt, modern gesprochen, Prozess-Vertretung und Prozess-Standschaft; sie lässt zwei gegenteilige Lösungen zu und bezeichnet eine davon als iustius. 100 So auch die Glossa ordinaria, die Jacobus hier wiedergibt; C. 2.12.12, gl. non iniuste: „Nota hic aliquid esse iustum, cuius contrarium est iustius“; mit zahlreichen Allegationen. Ebenso auch schon Azo, Lectura super Codice (Fn. 10), zu C. 2.12.12, no. 43. 101 Jacobus de Ravanis, Lectura super Codice (Fn. 28), zu C. 2.12.12, fol. 82ra unten: „Hic colligitur quod iustum est cuius contrarium iustius est […]. Dico enim quod in eodem facto diversae possunt esse considerationes [im Text fälschlich condemnationes]. Ut hic duae sunt considerationes respectu unius [im Text fälschlich minus] bonum esset unum, cuius contrar­ ium aequius est respectu alterius considerationis quae praevalet.“ – Cinus selbst zitiert bei C. 2.12.12, vor no. 1, nur die Glosse. 102 Petrus de Bellapertica, Commentarii in Institutiones, Lugduni 1536 (ND  1972), zu I. 1.10. pr., no. 7; es geht um die väterliche Erlaubnis zur Eheschließung, die vom weltlichem Recht gefordert, vom kirchlichen Recht aber abgelehnt wurde: „Et adverte ius canonicum habuit bonam considerationem, et utrumque statuit aequum, et lex nostra simili­ ter bonam considerationem habuit, et ideo similiter aequum statuit.“

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sprochen ist, allegiert Cinus die Digestenstelle D. 9.2.51: „Multa autem iure civili contra rationem disputandi pro utilitate communi recepta esse […] probari potest.“103 Die Glosse und Odofredus greifen in ihren schmalen Erörterungen dieser Stelle den Gesichtspunkt der utilitas communis nicht auf. Petrus de Bellapertica aber führt die publica utilitas als Strafminderungsgrund an;104 dies kommt der Aufhebung des Zinsverbots aus Erwägungen des gemeinen Besten sehr nahe. – Der italienische Legist Jacobus de Arena († nach 1296) sieht in der Vermeidung von Übeln gewissermaßen eine historische Erklärung für die Zinserlaubnis Justinians, interessanterweise mit Berufung auf das kanonische Dekret: „Das Decretum legt dar, dass Zinsen nach ius civile erlaubt werden, und sagt, Justinian habe sie erlaubt wegen der Tötungsverbrechen, die geschähen, wenn sie nicht erlaubt wür­ den; dennoch, weil es [sc. das weltliche Gesetz] dem Gesetz Gottes entgegen ist, haben wir nicht nach den [weltlichen] Gesetzen zu urteilen.“ 105

Jacobus de Arena weist zwar auf das Decretum hin, nennt jedoch keine Stelle. Albericus de Rosate,106 ein halbes Jahrhundert nach Jacobus, allegiert für die gleiche Frage die Dekretstelle D. 10, c. 1, in der es allgemein um kaiserliche Gesetze geht, die der lex divina widersprechen; die Dekret-Glosse bringt eine Erläuterung, die mit Jacobus’ Bemerkung übereinstimmt:107 „Oder er [sc. der Kaiser] hat es deshalb erlaubt [im Text geht es um Ehetrennung und Eintritt in einen Orden], um Schwerwiegendes zu verhüten […], wie er Zinsen erlaubt hat, um Raub zu verhüten.“ 108 103 Übersetzung: „Dass aber vieles im Zivilrecht gegen die Vernunft [rechtlichen] Argumentie­ rens für den allgemeinen Nutzen eingeführt ist, […] kann aufgezeigt werden.“ 104 Petrus de Bellapertica, Repetitiones in aliquot Codicis leges, Francoforti 1571 (ND 1968), zu C. 2.11.3, no. 11. – Die Glosse, C. 2.11(12).3, gl. certis rationibus, bringt ohne Hinweis auf die utilitas rei publicae den Status des Soldaten (miles rei publicae) als Strafminderungsgrund. Jacobus de Ravanis, zu C. 2.11.3, nennt diesen Strafminderungsgrund nicht; Cinus selbst, zu C. 2.11.3 no. 6, nennt die utilitas rei publicae. 105 Jacobus de Arena, Commentarii in universum ius civile, Super Codice, Lugduni 1541 (ND 1971), zu C. 4.32.16 auth. ad haec: „Decretum ponit pro constanti quod usurae de iure civili permittuntur: et dicit quod propter hoc Iust. permiserit usuras propter homicidia quae fie­rint nisi permitterentur; tamen quia contraria est legi dei, non habemus iudicare secundum leges.“ 106 Albericus de Rosate, Super Codice (Fn. 18), zu C. 4.32.16, auth. ad haec, no. 1. 107 Jacobus de Arena spricht allerdings von homicidium, die Dekret-Glosse von rapina. 108 Decretum Gratiani (Fn. 47), Dist. 10 c. 1, gl. lex humana: „Vel ideo permissit hoc, ut gravia vitarentur […] sicut usuras permissit, ut vitarentur rapinae.“

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Damit übereinstimmend führt Hostiensis den Gedanken einer irdischen Notwendigkeit (necessitas mundi) kurz als historische Erklärung der kaiserlichen Zinsregelung an, legt ihm sachlich jedoch kein Gewicht bei;109 den Aspekt, größeres Übel zu vermeiden, bringt er nicht. Der Aspekt der necessitas mundi, den Hostiensis nennt, begegnet als necessitas humana in anderen markanten Zusammenhängen wieder bei den Legisten, etwa bei Petrus de Bellapertica zur Frage des Krieges und der Sklaverei als Gegenstand des römischen ius gentium.110 So wird man erneut sagen können, dass ein Grundgedanke zum Verhältnis geistlicher und weltlicher Gesetzgebung in der Kanonistik vergleichsweise früh zur Zinslehre ausgesprochen und von dort in die Legistik übernommen wurde. Die Legistik hat später diesen Gedanken auf der Grundlage legistischer Quellenbelege stärker thematisiert und ausgebaut. Cinus hat in grundsätzlicher Weise die vorhandenen Ansätze für eine neue Sicht der Vereinbarkeit von göttlichem und weltlichem Recht verwendet und dabei Zinsverbot und Zinserlaubnis nebeneinander eine selbständige Berechtigung zu geben gesucht.

5  Bartolus de Saxoferrato Bartolus (1314–1357), der wohl namhafteste Jurist der Kommentatorenzeit, dessen Lehren das europäische ius commune weit über das 14. Jh. hinaus geprägt haben, ist bekannt für seine Frömmigkeit, seine Hinwendung zum franziskanischen Ideal und seinen Einsatz für den Orden der Minderbrüder, in deren Annalen er auch für seine Unterstützung und rechtliche Beratung nachdrücklich erwähnt wird.111 So überrascht es vielleicht nicht, dass Bartolus in der Zinsfrage stärker als alle bisher betrachteten Legisten das kanonische Zinsverbot der eigenen Darstellung zugrunde legt. Er referiert zwar auch kritischere Meinungen zur Bedeutung des Zinsverbots in der Legistik, weist diese Ansätze aber zurück. Neue Argumente oder Auffassungen finden sich m. E. bei ihm nicht, weder gegen das Zinsverbot noch zu dessen Rechtfertigung. Im Anschluss an seinen Lehrer Jacobus Butrigarius spricht er dem Kaiser die Gesetzgebungsbefugnis für eine Zinserlaubnis ab. Richtschnur für die Beurteilung kaiserlicher Zinsvorschriften ist bei 109 Henricus de Segusia (Hostiensis), Summa aurea (Fn. 44), zu X 5.19, no. 7: Qualiter petantur si deductae sunt, a. E.: „Hoc de iure humano. Nam propter mundi necessitatem non po­ tuit imperator ex toto cassare obligationem usurarum: sed tamen minuit. Lege autem dei qui veteri novoque testamento continetur omnes usurae prohibitae sunt extractae: Unde non valet quod sequitur ex eo vel ob id.“ 110 Petrus de Bellaperica, Commentarii in Institutiones (Fn. 102), zu I.1.2. pr., no. 15, no. 18. 111 Lange/Kriechbaum (Fn. 58), S. 694 unten f.

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Bartolus nicht ausschließlich die unumstößliche Autorität des ius divinum wie bei den früheren Legisten, sondern er nimmt häufiger Bezug auf das einfache ius canonicum.112 Eingehender und genauer als andere Legisten bezieht er sich auf das kanonische Recht: Er allegiert sieben Stellen aus Dekret und Dekretalen, insbesondere einige Stellen aus dem Liber Extra, jeweils aus dem Titel De usuris, 113 sowie die ziemlich neue Regelung der Clementinen, wonach als Häretiker zu gelten habe, wer Zinsen für erlaubt hält.114 Die allegierten Stellen aus dem Liber Extra behandeln einige speziellere, das Zinsverbot verschärfende Aspekte, etwa, dass alles, was der Gläubiger über den Darlehensbetrag hinaus sich versprechen lässt, Zinsen seien, auch dann, wenn er dafür die Gefahr des zufälligen Untergangs übernommen habe;115 oder dass die Früchte einer gepfändeten Sache mit ihrem Wert auf den Darlehensbetrag verrechnet werden müssen.116 Nicht allegiert finden sich bei Bartolus hingegen diejenigen Stellen aus dem kanonischen Recht, die als Schlüsselstellen für die Anordnung, Begründung und Rechtfertigung des kanonischen Zinsverbotes gelten können.117 Bartolus hat sich mit dem Zinsverbot als solchem und seiner Legitimation nicht auseinandergesetzt. Insbesondere fehlt jede Stellungnahme zum Vergleich von entgeltlicher locatio (Sachmiete) und Darlehen, dessen strikte Unentgeltlichkeit sich durch diesen Vergleich in Zweifel ziehen ließe. Bartolus’ Ausführungen zur Unterscheidung des Darlehens von anderen Verträgen sind zwar ungemein ausführlich, beschränken sich aber auf die Abgrenzung zu anderen unentgeltlichen Verträgen, insbesondere zu Leihe (commodatum) und Verwahrung (depositum).118 Die locatio taucht hierbei nicht auf. Umgekehrt finden sich zwar auch zur locatio Abgrenzungsfragen; sie betreffen jedoch überwiegend die Dienstmiete (locatio conduc-

112 Bartolus, Commentaria in Codicem (Fn. 14), zu C. 4.32.2: „Usurae an possint peti de iure canonico per venditorem propter pretium non solutum“; ebd. zu C. 4.32.15: „De iure tamen canonico est vera prima solutio huius glossae“; ebd. zu C. 1.1.1, no. 7 a. E.: „secundum praeceptum iuris canonici“. 113 Es handelt sich um X. 5.19.2; X. 5.19.8 (zweimal) und X. 5.19.19 (zweimal); außerdem einmal 5.19 „per totum“. 114 Clem. 5.5.1, mit Bartolus, In Codicem (Fn. 14), zu C. 1.1.1, no. 5, dazu oben, bei Fn. 16. 115 So X. 5.19.19, bei Bartolus, In Codicem (Fn. 14), zu C. 4.32.16 auth. ad haec und C. 1.1.1, no. 6. 116 So X. 5.19.8, bei Bartolus, In Codicem (Fn. 14), zu C. 1.1.1, no. 6. 117 In Betracht kämen hierfür etwa aus dem Decretum Dist. 47, c. 2; Dist. 88, c. 11; C. 14, q. 4, c. 8 oder auch C. 14, q. 4, c. 1 und 5; diese Stellen erscheinen bei Bartolus sämtlich nicht. 118 Bartolus, Commentaria in Digestum vetus, Lugduni 1518, zu D. 12.1.2, § mutui datio, passim.

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tio operarum) und führen ebenfalls nicht zu einer Erörterung möglicher Gemeinsamkeiten von Sachmiete und (verzinslichem) Darlehen.119 Allegiert wird die Dekretstelle D. 10, c. 1, welche die kaiserliche Zinserlaubnis mit dem Hinweis auf die Vermeidung größerer Übel erklärt.120 Es bleibt Bartolus bei aller Zustimmung zum Zinsverbot doch wichtig, den Kaiser und seine Zinsgesetzgebung sozusagen aus der Schusslinie kanonistischer Verurteilung zu nehmen. Vor die Dekretstelle D. 10, c. 1, die schon andere Legisten verwendet hatten, setzt Bartolus zur Rechtfertigung des Kaisers einen Hinweis auf die Evangelienstelle, in der Jesus die Erlaubnis der Ehescheidung durch Moses mit der Herzenshärte der Menschen begründet.121 Es gelingt ihm damit, die kaiserliche Zinserlaubnis aus dem ius divinum selbst und seinem Weg durch die Geschichte zu rechtfertigen, wenn auch nicht unbedingt gutzuheißen: „Nec propterea haereticus fuit imperator, quia Moyses propter duritiem populi permisit divortium, quod ab initio saeculi est prohibitum: ita imperator permisit usuras.“ 122

Was zunächst wie eine Steigerung der Legitimation kaiserlicher Zinserlaubnis erscheint, lässt sich aber auch als Relativierung und Klarstellung verstehen: Die weltliche Gesetzgebung der Bekämpfung größerer Übel durch geringere hat aus christlicher Sicht keinen Bestand. Zur kaiserlichen Gesetzgebungsbefugnis bezieht Bartolus abschließend Stellung mit der Unterscheidung von mens/voluntas und potestas des Gesetzgebers. Im ius civile gebe es die gesetzgeberische Absicht und den Willen, Zinsen zu erlauben, jedoch fehle dem Kaiser dafür die gesetzgebende Gewalt:

119 Bartolus (Fn. 118), zu D. 12.1.2, § mutui datio, no. 14: „Non consistit locatio, nisi in his quae consueverunt locari: scilicet habentibus similitudinem cum eis. In his vero, quae dissimi­ lia sunt, locatio non consistit“ („Es besteht keine Miete außer in denjenigen Fällen, in denen nach der Gewohnheit vermietet zu werden pflegt; nämlich dann, wenn eine Ähnlichkeit mit den Mietfällen vorhanden ist. In denjenigen Fällen aber, die unähnlich sind, besteht keine Miete“). Ferner zu D.  19.5.5, § at cum do. Die Feststellungen der Kommentierung zu D. 12.1.2, § mutui datio, no. 14 werden bei D. 19.5.5, § at cum do, no. 1 mit Beispielen aus der Dienstmiete fortgeführt. 120 Bartolus (Fn. 14), zu C. 1.1.1, no. 6; siehe zur Dekretstelle schon oben, bei Fn. 108. Auch Albericus de Rosate allegiert sie; dazu oben, Fn. 106. 121 Matth. 19,8; Mk 10,5. 122 Bartolus (Fn. 14), zu C. 4.32.16 auth. ad haec: „Und der Kaiser ist deshalb kein Häretiker, denn [wie] Moses wegen der Härte des Volkes die Ehescheidung erlaubt hat, so hat der Kaiser Zinsen erlaubt.“

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„Dominus Jacobus Butrigarius sagte, und gut, wie ich meine, es entspreche dem Sinn und Willen des ius civile, dass im Rahmen der Modalitäten von (C. 4.32.26) Zinsen gefordert werden können, wie es Zustimmung findet in (X. 5.19.19) und in der Authentica De ec­ clesias. Tit. (coll. 9.6). Aber dennoch liegt es nicht in dessen Gewalt: Denn der Kaiser, da niedriger als Gott, hat das Gesetz Gottes nicht aufheben können, so (D.  4.8.4 und D. 36.1.13.4).“ 123

Nach diesen Darlegungen erfüllt die kaiserliche Zinserlaubnis teilweise die Voraussetzungen eines wirksamen Gesetzes, und m. E. möchte Bartolus darauf hinweisen, dass sie sie zumindest teilweise erfüllt. Voluntas und potestas beziehen sich auf eine Gesetzgebungslehre, die in den römischen Quellen angedeutet ist; Bartolus hat die einschlägigen Stellen kommentiert und die Elemente potestas und vo­ luntas aus ihnen entnommen, aber doch nirgendwo zu einer klaren Gesetzgebungslehre zusammengeführt. Als Ausgangspunkt kann D. 1.4.1.pr. angesehen werden, die für die Gesetzeskraft kaiserlicher Erlasse eine Kombination von pla­ cere und potestas anführt: „Was der Princeps nach seinem Belieben beschlossen hat, hat die Kraft eines Gesetzes, da nämlich durch kaiserliches Gesetz das Volk auf ihn sein ganzes Imperium und seine Potes­ tas übertragen hat.“ 124

In Anlehnung an D. 1.4.1 spricht Bartolus von gesetzgeberischer potestas bei der Frage, ob der Populus Romanus Gesetze erlassen könne, und verneint dies mit der Begründung, der Populus Romanus habe alle potestas auf den Princeps übertragen, ihm sei keinerlei potestas imperii verblieben.125 Potestas als Voraussetzung wirksamer Gesetzgebung kann man diesen Ausführungen gewiss entnehmen. 123 Bartolus (Fn. 14), zu C. 1.1.1, no. 6: „Dicebat dominus Iacobus Butr. et bene, ut puto, quod de mente et voluntate iuris civilis est, quod usurae possunt exigi, secundum formam legis eos infra de usuris (C. 4.32.26) ut placet in c. naviganti extra de usuris (X. 5.19.19) et § sin autem distulerint in Auth. De ecclesia. tit. (Novellae 131, c. XI, nu. 3). Sed tamen non fuit de potestate: quia cum Imperator inferior Deo, non potuit legem Dei tollere: ut l. nam magistra­ tus ff. de arbi. (D. 4.8.4), ad Trebell. l. ille a quo § tempestivum (D. 36.1.13.4).“ Ähnlich auch zu C. 4.32.16, auth. ad haec, lectura antiqua. 124 D. 1.4.1.pr: „Quod principi placuit, legis habet vigorem: utpote cum lege regia […] populus ei et in eum omne suum imperium et potestatem conferat.“ 125 Bartolus (Fn. 14), zu C. 1.4.11, no. 3 und 4: „Populus Romanus et Senatus non possunt fa­ cere legem. Ratio est: postquam populus Romanus transtulit potestatem in Principem, adhuc apud eos remansit potestas eligendi et privandi, et illo tempore poterat Populus Romanus con­ dere legem. Sed hodie omnis potestas Imperii est abdicata ab eis […]. Cum nihil sit quid de Imperio remanserit eis, non video quomodo possint legem condere.“

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Die voluntas legis oder voluntas et mens iuris civilis, wie Bartolus sagt, ist nicht nur in der römischen Interpretationslehre von Bedeutung,126 sondern bildet nach D. 1.4.1 als placitum Principis auch die zweite Grundlage eines wirksamen Gesetzes.127 Bartolus gibt in seiner Kommentierung den Inhalt der Stelle nur kurz mit den Worten wieder: „Principum placita, animi ius condendi facta, habent vim legis generalis.“128 Die Verbindung von animus und potestas führt er nicht an und stellt damit den Bezug zu einer allgemeinen Gesetzgebungslehre nicht vollständig her. Andere Hinweise auf Bedeutung und Relevanz des gesetzgeberischen Willens habe ich in Bartolus’ Kommentarwerk nicht finden können. – Den Ausdruck pla­ cuit hat Bartolus im Zusammenhang mit Testamenten häufiger kommentiert,129 die Parallele zur kaiserlichen Gesetzgebung jedoch nicht ausdrücklich gezogen. Aufschlussreich auch für den hier gegebenen Zusammenhang ist aber, dass er in Anlehnung an eine Äußerung des römischen Rechts130 als Bedeutung von placere nicht das freie Belieben angibt, sondern die Entscheidung nach dem Urteil eines vir bonus, d. h. eines redlich und gerecht denkenden Menschen: „Sic videtis quod verbum placet significat arbitrium boni viri.“131 An einer zweiten Stelle überträgt Bartolus diese Bedeutung auch auf den Erlass von Statuten: „Hier [wurde die Entscheidung] nicht in das freie Belieben [gestellt], obgleich gesagt ist, ‚Wenn es gebilligt worden ist‘. Denn [als Billigung] wird [nur] verstanden, was ein ge­ recht denkender Mann entscheiden würde […] Das wird auch auf Statuten angewandt: Man überträgt gewöhnlich bestimmten Personen die freie Entscheidung, festzusetzen, was sie beschlossen und gebilligt haben.“ 132

126 Etwa D. 1.3.18; auch D. 33.10.7.2. 127 Interessant ist auch die Formulierung legem accipere ex mente praetoris in D. 45.1.52. pr.; jedoch kommentiert Bartolus diese Stelle nicht unter dem Aspekt Gesetzgebung, sondern nur zum Thema Interpretation. 128 Bartolus (Fn. 118), zu D. 1.4.1, vor no. 1: „Beschlüsse der Kaiser, in gesetzgeberischer Absicht gefasst, haben die Kraft eines allgemeinen Gesetzes.“ 129 Bartolus (Fn. 118), zu D. 40.5.41.4; zu D. 40.5.14; zu D. 30.1.75 (78); zu C. 7.4.8. 130 D. 40.5.41.4: „Respondit spectandum […] id quod boni viri posset placere“ ([der Jurist] ant­ wortet, es sei […] darauf zu achten, was ein redlicher Mann billigen könne.“). 131 Bartolus (Fn. 118), zu D. 40.5.14, no. 4. Die Stelle D. 40.5.41.4 kommentiert Bartolus lediglich mit der verallgemeinernden Bemerkung: „Nota istum textum quando dicitur: Si tibi placet.“ 132 Bartolus (Fn. 14), zu C. 7.4.8, no. 1: „Hic non [fuit collatum] in liberum arbitrium, licet fuit dictum, si placuerit. Nam intelligitur arbitrio boni viri […]. Facit pro statutis: consuevit dari libertas certis hominibus faciendi quicquid placuerit.“

Stellungnahmen der mittelalterlichen Legistik zum kanonistischen Zinsverbot

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Wenn nach der unausgesprochenen Ansicht des Bartolus für das placuit des Kaisers dasselbe zu unterstellen ist wie für das placuit des Rates einer Stadt, der Statuten beschließt, dann ist es aufschlussreich, wenn Bartolus für die kaiserliche Zins­ erlaubnis nicht von placitum, sondern von voluntas und mens spricht: Er vermeidet damit nämlich, die Zinserlaubnis am Urteil eines vir bonus zu messen. In der theologisch-politisch geführten Gesetzgebungslehre spielt die Verbindung von volun­ tas und ratio eine zentrale Rolle: „Die ratio hat durch den Willen die Kraft, etwas zu bewegen. [...] Der Wille aber muss von irgendeiner ratio bestimmt sein, um von dem, was befehligt werden soll, zu dem zu gelangen, was die ratio legis enthält. Und auf diese Weise erkennt man, dass der Wille des Herrschers die Kraft eines Gesetzes hat; sonst wäre der Wille des Herrschers mehr Unrecht als Gesetz.“ 133

Diesen Aussagen dürfte Bartolus nahestehen und durch die Ausdrücke voluntas und mens statt placuit/placitum sich nicht der beginnenden voluntaristischen Vorstellung von Gesetzgebung angeschlossen haben.134 Sondern er scheint indirekt die naturalis ratio der kaiserlichen Zinserlaubnis anerkennen zu wollen.

III Schluss Die Diskussion zwischen Legistik und Kanonistik um das kirchliche Zinsverbot wird ohne Bezugnahme auf die Zuständigkeiten geistlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit geführt. Die Legistik erkennt die Geltung des Zinsverbotes nahezu ausschließlich nur als Bestandteil des ius divinum an, jedoch nicht unter dem Aspekt eines Vorrangs des ius canonicum. Jacobus de Ravanis stellt unter dem Aspekt der naturalis ratio das Zinsverbot in einem intensiven Vergleich von Darlehen und Miete in Frage, findet bei den Italienern des 14. Jahrhunderts jedoch keine Nachahmer. Nur Cinus gestaltet aus diesem Vergleich ein geschlossenes Konzept des Gewinns aus fremder Sache. Die Italiener des 14. Jahrhunderts verwenden vor allem verschiedene allgemeine Aspekte der neu entstandenen spätmittelalterlichen Gesetzgebungslehre: Cinus argumentiert mit einem speziellen 133 Thomas von Aquin, Summa theologiae Ia IIae (Fn. 59), q. 90, a. 1 ad tertium: „Ratio habet vim movendi a voluntate […]. Sed voluntas de his quae imperantur, ad hoc quod legis ratio­ nem habeat, oportet quod sit aliqua ratione regulata. Et hoc modo intelligitur quod voluntas principis habet vigorem legis: alioquin voluntas principis magis esset iniquitas quam lex.“ 134 Hierzu knapp Werner Krawietz, Art. Gesetz, Nr. 3 und 4 (Beginn) in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 3, 1973, S. 483.

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Maximiliane Kriechbaum

Aspekt des bonum commune, nämlich mit der Vermeidung größerer Übel, indem man kleinere Übel in Kauf nehme. Bartolus belässt es dabei, auf der Grundlage einer modern anmutenden Gesetzgebungslehre die fehlende potestas als Wirksamkeitsdefizit der kaiserlichen Zinserlaubnis anzuführen, stellt die kaiserliche Gesetzgebungsgewalt damit aber nur unter das ius divinum, nicht unter die Gesetzgebung des Papstes.

Rechtliche Argumentation in foro conscientiae anhand von Beispielen aus Vitorias Summenkommentar Von Tilman Repgen

I  In foro conscientiae Mit großer Selbstverständlichkeit stellt Eike von Repgow im Text des Prologs zum Sachsenspiegel den Menschen und das Recht in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang.1 Das Recht tritt bei Eike – und damit steht er nicht allein – als ein Element der Heilsordnung hervor.2 Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ist das nichts Ungewöhnliches. Im Sachsenspiegel heißt es: „Got, der da is begin unde ende aller guten dinge, der machte alrest himel unde erde unde machte den menschin in ertriche unde saczte en in das paradis.

„Gott, der da Beginn und Ende aller guten Dinge ist, der schuf zuerst Himmel und Erde und den Menschen im Erdreich und setzte ihn in das Paradies.

Der brach den gehorsam, uns allin czu schaden.

Der brach den Gehorsam, uns allen zum Verderben.

Dar umme ginge wir irre alse di hertelosin schaf, wen an di czit, das he uns irloste mit siner marter.

Deshalb sind wir in die Irre gegangen wie hirtenlose Schafe, bis zu der Zeit, als er uns erlöste durch sein Martyrium.

1 Weiterführend dazu Alexander Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, 1984. 2 Tilman Repgen, Unfreiheit ist wider die Menschenwürde – eine rechtshistorische Miniatur, in: Der Appell des Humanen. Zum Streit um Naturrecht, hrsg. von Hans Thomas und Johannes Hattler, 2010, S. 125–152, hier S. 125–132 mit weiteren Nachweisen.

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Tilman Repgen

Nu abir wir bekart sin unde uns got wider geladin hat, nu halde wir sine e unde sin gebot, das uns sine wissagin gelart habin unde gute geistliche lute unde ouch cristine kunige habin gesaczt, Constantin unde Karle, in Sachsinlande noch sines rechtis nucz.“ 3

Jetzt aber, wo wir bekehrt sind, und Gott uns wieder gerufen (wörtlich: eingeladen) hat, nun halten wir sein Gesetz und sein Gebot, das uns seine Propheten gelehrt haben und fromme geistliche Leute und das auch die christlichen Könige gesetzt haben, Konstantin (d. Gr.) und Karl (d. Gr.), im Sachsenland zum Nutzen sei­ nes Rechtes.“

Der Text beschreibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Erlösung und einem rechtstreuen Leben. Das war für das 13. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit. Das Glücksstreben des Menschen ist eine anthropologische Konstante. Für das europäische Mittelalter und die frühe Neuzeit ist ausgemacht, dass dieses Glück nur dann eintritt, wenn der Mensch sein eschatologisches Ziel erreicht: die beatitudo, die ewige Seligkeit, auf die der gesamte christliche Glaube ausgerichtet ist. Spätestens seit der ersten Jahrtausendwende war diese Perspektive auf das Leben des Menschen allgegenwärtig. Das in die Zeit gestellte menschliche Leben wird, wie am Beispiel des Sachsenspiegel-Prologs gezeigt, heilsgeschichtlich gedeutet. Nicht ohne Grund hat man diese eschatologische Sichtweise als eine Art Charaktermerkmal des beginnenden neuen Jahrtausends bezeichnet.4 Natürlich war der Gegenentwurf zu keiner Zeit unbekannt. Die Bibel selbst beschreibt ihn, etwa im Buch der Weisheit: „Sie tauschen ihre verkehrten Gedanken aus und sagen: Kurz und traurig ist unser Leben; für das Ende des Menschen gibt es keine Arznei, und man kennt keinen, der aus der Welt des Todes befreit. Durch Zufall sind wir geworden, und danach werden wir sein, als wären wir nie gewesen. Der Atem in unserer Nase ist Rauch, und das Denken ist ein Funke, der vom Schlag des Herzens entfacht wird; verlöscht er, dann zerfällt der Leib zu Asche und der Geist verweht wie dünne Luft. […] Auf, lasst uns die Güter des Lebens ge­ nießen, […]. Lasst uns den Gerechten unterdrücken, der in Armut lebt, die Witwe nicht schonen und das graue Haar des betagten Greises nicht scheuen. Unsere Stärke soll bestim­ 3 Eike von Repgow, Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift, Cod. Guelf. 3.1, Aug. 2, Textband, hrsg. von Ruth Schmidt-Wiegand, 1998, hier fol. 9v. Dort auch die hochdeutsche Fassung. 4 Cf. Johannes Fried, „Die Liebe erkaltet“. Das 11. Jahrhundert erwartet das Jüngste Gericht und erneuert die Kirche, in: Das 11. Jahrhundert. Kaiser und Papst, hrsg. von Michael Jeismann, 2000, S. 13–34.

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men, was Gerechtigkeit ist; denn das Schwache erweist sich als unnütz. Lasst uns dem Gerechten auflauern! Er ist uns unbequem und steht unserem Tun im Weg. Er wirft uns Vergehen gegen das Gesetz vor und beschuldigt uns des Verrats an unserer Erziehung.“ 5

Eine solche rein diesseitsorientierte Lebenssicht ist keineswegs erst dem modernen Menschen der Gegenwart eingefallen. Das Buch der Weisheit macht zugleich auf die dadurch entstehende prekäre Situation für die Rechtsidee aufmerksam. Das Recht erscheint in dieser Perspektive nicht als eine vorgegebene Ordnung im Rahmen des Heilsplans Gottes, sondern als eine Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten, die dem „Genuss der Lebensgüter“ im Wege steht und daher durch ein „Recht“ des Stärkeren ersetzt werden soll. Das Buch der Weisheit bleibt aber nicht bei dieser nihilistischen Weltsicht stehen, sondern sagt: „So denken sie, aber sie irren sich; denn ihre Schlechtigkeit macht sie blind. Sie verstehen von Gottes Geheimnis nichts, sie hoffen nicht auf Lohn für die Frömmigkeit und erwarten keine Auszeichnung für untadelige Seelen. Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht.“6 

Der christliche Glaube bezeugt die Erlösung des Menschen vom Tod, seine Rettung zum ewigen Leben. Danach steht am Ende des irdischen Lebens, am Übergang zur Ewigkeit das Jüngste Gericht, in dem sich das Schicksal des Menschen für die und in der Ewigkeit entscheidet. In der Reimvorrede zum Sachsenspiegel heißt es: „Swe buten miner lere gat, / he sprikt lichte, des he laster hat, / Unde dut sunde jegen Got; / went he brikt der e bot / Swe so recht verkeret.“ 7

„Wer sich außerhalb meiner Lehre bewegt, kann leicht so Recht sprechen, dass es ihm zur Unehre gereicht und dass er sich Gott gegenüber versündigt. Wenn er das Recht verdreht, bricht er den Bund [mit Gott].“

Wer aber aus dem Bund mit Gott ausbricht, so könnte man fortfahren, verspielt sein Seelenheil. Zwischen dem rechtlichen Verhalten und dem Schicksal in der Ewigkeit besteht also ein Konnex, der in der Kategorie der Sünde ausgedrückt wird. Im Jüngsten Gericht wird über das Verhalten des Einzelnen auf Erden in 5 Weish 2, 1–3; 6; 10–12. 6 Weish 2, 21–23. 7 Sachsenspiegel, Reimvorrede, Vers 133–137. Da die oben zitierte Wolfenbütteler Handschrift nicht die Reimvorrede enthält, folgt der Text der Ausgabe von Clausdieter Schott, Eike von Repgow, Der Sachsenspiegel, 2. Aufl. 1991, S. 16.

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Tilman Repgen

einer moralisch-rechtlichen Dimension geurteilt. Bis weit in die Neuzeit hinein gehören Darstellungen des Jüngsten Gerichts zu den selbstverständlichen Ausstattungsgegenständen weltlicher wie kirchlicher Gerichte. Der Sachsenspiegel oder auch das Hamburger Stadtrecht des Mittelalters sprechen das Endgericht an, um nur ein paar Beispiele zu nennen.8 Das Neue Testament erwähnt wiederholt das Endgericht. Besonders eindrucksvoll ist die Schilderung in Mt 25,31–46. „Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden, und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet […].“ 9

Der Evangelist schreibt, Jesus werde bei dieser Gelegenheit die Menschen einteilen in „Gerechte“ und „Ungerechte“. Der darauf aufbauende Kosmos christ­licher Morallehre braucht hier nicht entfaltet zu werden. Es genügt zu sehen, d­ ass am Ende des Lebens das Gericht steht und dort ein normativer Maßstab ­entscheidet, der abstrakt als „Gerechtigkeit“ anzusprechen ist. Schon das auf dem Ersten Konzil von Nicäa im Jahre 325 formulierte christliche Glaubensbekenntnis spricht von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, der „kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten“.10 Anselm von Canterbury schrieb im 11. Jahrhundert:11   8 Aus dem Sachsenspiegel nur zwei Beispiele, hier zitiert nach der hochdeutschen Fassung von Schott (Fn. 7), S. 21, Vorrede in Reimpaaren, Z. 183–190: „Alle Leute mahne ich, daß sie dies Buch in der Weise benützen, daß es ihrer Ehre nicht schadet, damit es ihnen gnädig gehen möge und sie ihr Lebensweg nicht reut, wenn Gott den Spiegel umwendet und uns mit der Erde mischen und nach unserem Verdienst lohnen wird“; S. 29, Prolog: „[…] Deshalb sollen alle, denen von Gott das Gericht übergeben worden ist, bemüht sein, so zu richten, daß Gottes Zorn und Gericht über sie gnädig ergehen mögen.“ – Das Hamburger Ordeelbook (hier zitiert nach der von Frank Eichler besorgten Ausgabe unter dem Titel: Das Hamburger Ordeelbook von 1270 samt Schiffrecht, 2005, S. 76, einer von dem Jubilar betreuten Hamburger Doktorarbeit) beginnt mit der nur vor dem oben im Text geschilderten Sichtweise verständlichen Appell: „Iuste iudicate filii hominum – richtet gerecht, ihr Menschen­ kinder!“ Die bebilderte Ratshandschrift des Hamburger Stadtrechts von 1497 enthält im Anschluss an die Vorrede die Formel für den Ratseid. Dieser ist eine Miniatur vorangestellt, die das Jüngste Gericht zeigt, cf. Die Bilderhandschrift des Hamburgischen Stadtrechts von 1497, erläutert von Heinrich Reincke, neu hrsg. von Jürgen Bolland, 1968, S. 17.   9 Mt 25,31 f. 10 Cf. Josef Neuner/Heinrich Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, neubearbeitet von Karl Rahner und Karl-Heinz Weger, 13. Aufl. 1971, Rn. 155. 11 Zur Rolle Anselms von Canterbury für die Restitutionslehre cf. Tilman Repgen, De restitutione – eine kommentierende Einführung, in: Francisco de Vitoria, De iustitia – Über die Gerechtigkeit, Teil II, hrsg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Joachim Stüben,

Rechtliche Argumentation in foro conscientiae

„nullus […] iniustus admittetur ad beati­ tudinem […].“ 12

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„Kein Ungerechter […] wird zur Seligkeit zugelassen.“

„Ungerecht“ ist, wer im Zustand der Sünde lebt.13 Den Zustand der Sünde zu beenden, ist das Ziel der kirchlichen Bußpraxis. Aufbauend auf Mt 16,19 hat sich seit dem Hochmittelalter die persönliche Beichte als die sakramentale Form der Sündenvergebung endgültig durchgesetzt.14 Dabei verstand man den Vollzug dieses Sakramentes als ein Gerichtsverfahren, das gewissermaßen einen Teil des Endgerichts vorwegnahm.15 Der Beichtvater erteilte unter bestimmten Voraussetzungen die Lossprechung von Sündenstrafen. Das Konzil von Trient fasste in seiner 14. Sitzung 1551 die lange vorher entwickelten Einzelheiten dieses actus iudicia­ lis16 verbindlich zusammen.17 Es ist klar, dass der Grundgedanke des Bußsakraments die Umkehr ist, die Abwendung vom Bösen und die Hinwendung zum Guten. Die Umkehr muss sich unter Umständen auch nach außen manifestieren. Der Kirchenlehrer Augustinus hatte einmal bemerkt:



12 13 14 15

16 17

(erscheint 2016). – Der hier vorgelegte Text vertieft diese Ausführungen im Hinblick auf die Bedeutung juristischer Argumentation für die Entscheidungsfindung in foro conscientiae. Soweit dabei aus Gründen der Verständlichkeit hier Überlegungen aus der erwähnten Einführung wiederholt werden, wird das nicht im Einzelnen nachgewiesen. Anselm von Canterbury, Cur Deus homo. Warum Gott Mensch geworden. Lateinisch und deutsch, hrsg. und übersetzt von Franciscus Salesius Schmitt O.S.B., 1993, I, 24, S. 82 f. Georg Plasger, Die Not-Wendigkeit der Gerechtigkeit. Eine Interpretation zu „Cur Deus homo“ von Anselm von Canterbury, 1993, S. 82 mit weiteren Nachweisen. Zur geschichtlichen Entwicklung der Beichte: Isnard W. Frank, Art. Beichte II., in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 5, 1980, S. 414–421. Cf. etwa das Vorwort zu Valère Regnault, Praxis fori poenitentialis ad directionem confessarii in usu sacri sui muneris. Opus tam poenitentibus quam confessariis utile, Lyon 1616; das Vorwort wird ausführlich zitiert von Wim Decock, Theologians and Contract Law. The Moral Transformation of the Ius Commune (ca. 1500–1650), 2013, S. 71, dort S. 69– 104 ausführlicher zum forum conscientiae unter Einschluss der hier nicht weiter untersuchten Frage nach dem Mechanismus der Normdurchsetzung beyond the state, l. c., S. 85– 104. Anders wohl Gerhard Otte, Der Probabilismus. Eine Theorie auf der Grenze zwischen Theologie und Jurisprudenz, in: La Seconda Scolastica nella Formazione del Diritto Privato Moderno. Incontro di studio, hrsg. von Paolo Grossi, 1973, S. 283–302, hier S. 300, der dem forum conscientiae die Prozesshaftigkeit abspricht. Sessio XIV, 25.11.1551, Doctrina de sanctissimis poenitentiae … sacramentis, cap. VI, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta, hrsg. von Giuseppe Alberigo, Perikles P. Joannou, Claudio Leonardi, Paolo Prodi, consultante Hubert Jedin, 1962, S. 683. Neuner/Roos, (Fn. 10), Rn. 641–674.

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Tilman Repgen

„Si enim res aliena, propter quam pecca­ tum est, cum reddi possit, non redditur, non agitur poenitentia, sed fingitur: si autem veraciter agitur, non remittetur pec­ catum, nisi restituatur ablatum; sed, ut dixi, cum restitui potest.“ 18

Wenn nämlich eine fremde Sache, derent­ wegen gesündigt worden ist, zurückgege­ ben werden kann, aber nicht zurückgege­ ben wird, wird keine Buße getan, sondern fingiert. Wenn aber wahrhaftig gehandelt wird, wird die Sünde nicht vergeben, wenn die entwendete Sache nicht zurück­ gegeben wird. Aber, wie ich gesagt habe, wenn sie [überhaupt] zurückgegeben wer­ den kann.

Die Sündenvergebung wird danach an die Restitution gebunden. Von einer Umkehr kann sonst eben gerade nicht gesprochen werden. Diese Lehre des Augustinus fand Eingang ins Dekret19 und den Liber Sextus.20 Petrus Lombardus hat sie in seinen Sentenzen behandelt.21 Diese Stelle wurde dann in den Kommentaren zum locus classicus für die Restitutionslehre.22 Auch Thomas von Aquin griff den Augustinustext auf.23 Natürlich stellt sich sofort die Frage, wann etwas ablatum, entwendet, ist. Die Relevanz zivilrechtlicher Wertungen für die Entscheidung in foro con­ scientiae liegt damit auf der Hand. Sie soll im Folgenden nicht anhand theoretischer (Re-)Konstruktionen moraltheologischer oder -philosophischer Theorien, sondern anhand ganz praktischer Fragestellungen und Beispiele aus dem Summenkommentar von Francisco de Vitoria (1483–1546) betrachtet werden.

II  Vitorias Summenkommentar Francisco de Vitoria hat seit seinem Wechsel von Paris nach Valladolid 1523, dann 1526 nach Salamanca die Summa theologiae des Thomas von Aquin in der Weise zum Gegenstand regelmäßiger Vorlesungen gemacht, dass er diesen Text anstelle 18 Augustinus, Epistola CLIII (ad Macedonium), cap. 6, n. 20, in: Opera omnia Augustini Hipponensis, hrsg. von Jacques Paul Migne, 1865 (Patrologia Latina, Bd. 33), col. 662. 19 C. 14, q. 6, c. 1. 20 VI 5, 12, reg. 4. 21 Petrus Lombardus, Libri IV Sententiarum, tom. II, hrsg. von PP. Collegii S. Bonaventurae, Quaracchi [= Ad claras aquas] 1916, lib. 4, dist. 15, cap. 7 am Ende, S. 838. 22 Zu dieser vor allem: Nils Jansen, Theologie, Philosophie und Jurisprudenz in der spätscholastischen Lehre von der Restitution. Außervertragliche Ausgleichsansprüche im frühneuzeitlichen Naturrechtsdiskurs, 2013. 23 Summa theologiae II–II, q. 62, a. 2, sed contra.

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der bis dahin üblichen Sentenzen des Petrus Lombardus kommentiert hat.24 Aus dem Gliederungsschema der Summa theologiae ergibt sich ein Verständnis des Menschen, das in völliger Übereinstimmung mit der oben geschilderten Sicht das Leben als einen Weg zu Gott deutet: Das Leben nimmt in der Schöpfung seinen Ausgang (exitus) von Gott her. Und durch die Erlösungstat Jesu Christi ist der Mensch am Ende seines Lebens zur Rückkehr zu Gott bestimmt (reditus).25 Diese Rückkehr kann jedoch nur dann gelingen, wenn der Mensch ein tugendhaftes, heiligmäßiges Leben führt. Die Beichte hat hierbei die wesentlich wichtige Funktion der correctio. Die schlechten Neigungen des Menschen bedürfen immer wieder der gnädigen Korrektur, um nicht den Weg zu verfehlen, sondern das ewige Ziel zu erreichen. Vor diesem Hintergrund sind die Erörterungen der Tugenden in dem Kommentar zur Summe des Thomas durch Vitoria zu sehen. Sie dienten in erster Linie dazu, die angehenden Priester auf ihre Aufgaben einer Entscheidung in foro con­ scientiae – im Beichtgericht – vorzubereiten. Um die Sündhaftigkeit der Taten des Poenitenten beurteilen zu können, galt selbstverständlich ein normativer Maßstab. Die Detailliertheit und Tiefe der zivilrechtlichen Überlegungen in Vitorias Summenkommentar zeigt, dass man sich dabei nicht mit oberflächlichen Bemerkungen zufrieden gab, sondern in einen regelrechten juristischen Fachdiskurs eintauchte. Im Traktat De iustitia des Vitoria, also dem Summenkommentar zu den quaestiones 57–122, geht es um die Ausdifferenzierung dieses normativen Maßstabs in foro conscientiae. Die Gerechtigkeit möchte Vitoria nicht im Sinne einer Erfüllung aller Tugenden als Synonym für Heiligkeit beschreiben, wie der Begriff in der Bibel häufig

24 Weiterführend: Tilman Repgen, Der Summenkommentar des Francisco de Vitoria, in: Kommentare in Recht und Religion, hrsg. von David Kästle und Nils Jansen, 2014, S. 249– 275. – Der Text des Summenkommentars folgt hier stets: Francisco de Vitoria, De iustitia – Über die Gerechtigkeit, Teil II, hrsg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Joachim Stüben [erscheint 2016], der wiederum auf Francisco de Vitoria, Comentarios a la Secunda secundae de Santo Tomás, hrsg. von Vicente Beltrán de Heredia, tom. III, Salamanca 1934, beruht. 25 Das exitus-reditus-Schema der Summa theologiae hat maßgeblich herausgearbeitet: Marie-Dominique Chenu, Le plan de la Somme théologique de saint Thomas, in: Revue Thomiste 47 (1939), S. 93–107, in deutscher Übersetzung von Klaus Bernath unter dem Titel: Der Plan der „Summa“, in: Thomas von Aquin, Bd. 1: Chronologie und Werkanalyse, hrsg. von Klaus Bernath, 1978, S. 173–195. Zu dem abweichenden Deutungsansatz von Wilhelm Metz, Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin: Zur Gesamtansicht des thomanischen Gedankens, 1998, cf. Repgen, Summenkommentar (Fn. 24), S. 258.

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Tilman Repgen

verwendet wird,26 sondern er möchte von Gerechtigkeit sprechen, insofern sie „restitutio in ordine ad alterum“ sei.27 Der Begriff der Restitution hat daher für Vitoria bei der Bestimmung dessen, was Gerechtigkeit ist, zentrale Bedeutung.28 Diese wird noch verständlicher, wenn man hinzunimmt, dass es nach Vitoria nicht allein genügt, wenn etwas gut ist, damit man es auch „gerecht“ nennen kann: „[…] sed requiritur, quod tale bonum cadat aliquo modo sub necessitate debiti, id est quod sit debitum.“ 29

[…] es ist erforderlich, dass das Gute auf irgendeine Art unter die Notwendigkeit des Geschuldeten fällt, das heißt, dass es etwas ist, was geschuldet wird.

Was aber das „Geschuldete“ ist, ist in erster Linie eine Frage des Rechts. Für Vitoria ist es klar, dass das, was das Recht als „geschuldet“ bezeichnet, immer auch zugleich moralisch „geschuldet“ ist. Das wird sich im Folgenden zeigen. Inhaltlich steht das, was geschuldet ist, in enger Beziehung zur zitierten Lehre des Augustinus. Vitoria formuliert: „[…] nemini dimittitur peccatum, nisi res­ tituatur ablatum.“ 30

[...] niemandem wird eine Sünde nachge­ lassen, wenn er das Entwendete nicht zu­ rückerstattet.

Wann etwas entwendet ist, ist aber eine alles andere als leicht zu beantwortende Frage. Klar erschien, dass eine unrechtmäßige Besitzsituation vorausgesetzt wird. Im Hintergrund stehen aber selbstverständlich viele weitere Probleme, die die heutige Dogmatik feinsinnig ausdifferenziert hat. Ob eine unrechtmäßige Besitzsituation besteht, ist eine für Vitoria zunächst und vor allem eine juristische Frage, die Raum für juristische Erwägungen gibt. In diesem Raum entfaltet sich eine umfassende normative Ordnung nichtstaatlichen Rechts.31 Im folgenden Text soll es jedoch nicht abstrakt um diese 26 27 28 29 30

Zum Beispiel: Mt 5,20; 13,43; 21,32; 25,37 und Röm 1,17. ComSTh II–II, q. 57, a. 1 (5). Zum Hintergrund dieses Umstands Repgen, De restitutione (Fn. 11). ComSTh II–II, q. 57, a. 1 (8). Dazu auch Repgen, Summenkommentar (Fn. 24), S. 267 f. ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (2) Cod. Ottb. Im Codex Salmantinus heißt es sinngleich: Nul­ lus potest consequi veniam de peccato, nisi restituat ablatum. 31 Zu dieser Normenordnung: Thomas Duve, Katholisches Kirchenrecht und Moraltheo­ logie im 16. Jahrhundert: Eine globale normative Ordnung im Schatten schwacher Staatlichkeit, in: Recht ohne Staat? Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung, hrsg. von

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Normenordnung gehen, sondern um ein konkretes Beispiel aus dem Kommentar zur quaestio 62 dafür, wie eine rechtliche oder juristische Argumentation in foro conscientiae bei Vitoria aussehen kann. Es geht darum, die Argumentationsweise nachzuvollziehen und damit den Prozess der Implementation juristischer Normen in die Entscheidungsfindung in foro conscientiae zu veranschaulichen. Damit soll nicht behauptet werden, alle Entscheidungen in foro conscientiae beruhten allein auf fachjuristischer Analyse, aber es ist doch ein Beweis dafür, dass diese Analyse von Fall zu Fall erforderlich sein konnte und dann eine moraltheologische Relevanz hatte. Normbestimmung in foro conscientiae ist jedenfalls ohne Rücksicht auf die Rechtslage nicht möglich. Anders wäre die Aufmerksamkeit Vitorias und der Schule von Salamanca für die Rechtsfragen auch gar nicht erklärlich. Die juristische Analyse ist danach notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für die richterliche, d. h. in diesem Fall priesterliche Entscheidung.

III  Beispiele aus der Restitutionslehre Vitorias Art. 1 der quaestio 62 der Summa theologiae behandelt die Frage, ob die Restitution ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit sei, was Vitoria zusammen mit Thomas bejaht, da Restitution den „Wiederausgleich“ bedeute. Der, der etwas entwendet hat, hat das zu viel, was der, dem es entwendet wurde, zu wenig hat. Diese Situation wird im Wege der Restitution ausgeglichen und damit dann Gerechtigkeit (wieder)hergestellt.32 Der Schlüsselbegriff für die Behandlung der Restitution ist das dominium.33 Restitution ist nämlich dann nötig, wenn das dominium verletzt worden ist, denn der durch die Entwendung gestörte Besitz hat seine Grundlage im dominium.34 Daher gilt, „[…] quia omnis restitutio fundatur in ­dominio.“   35

[…] dass jede Restitution auf dem domi­ nium beruht.

Stefan Kadelbach und Klaus Günther, 2011, S. 147–174, hier S. 158 f., 161 f., 165 f.; Nils Jansen, Verwicklungen und Entflechtungen. Zur Verbindung und Differenzierung von Recht und Religion, Gesetz und rechtlicher Vernunft im frühneuzeitlichen Naturrechtsdiskurs, in: ZRG Germ. Abt. 132 (2015), S. 29–81, hier S. 35. 32 Vitoria, ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (1). 33 Zu diesem Begriff Repgen, De restitutione (Fn.  11), nach Anm.  78. Ferner Hans  K. Schulze, Dominium, öffentlich-rechtlich, in: HRG, 2. Aufl. 2008, Sp. 1106–1108; Werner Ogris, Dominium, privatrechtlich, ebda. Sp. 1108–1109. 34 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (4). 35 ComSTh II–II, q. 62, a. 2 (6), nur im Codex Samantinus.

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Tilman Repgen

Restitution bedeutet Wiederherstellung des ursprünglichen dominium. Dominium ist nach Vitoria vor allem die facultas utendi re36 im Sinne einer Befugnis, eine Sache im von der Rechtsordnung gedeckten Rahmen zu gebrauchen. Dominium als Eigentum (proprietas) nur im Sinne eines vollständigen Verfügungsrechts zu verstehen, ist in den Augen Vitorias zwar möglich, aber für das Thema der Restitution nicht nützlich, weil hier ius und dominium insofern auseinanderfallen könnten, als der Eigentümer das Nutzungsrecht isoliert einer anderen Person überlassen kann.37 Leistungsfähig für die Restitutionslehre ist seiner Meinung nach vor allem38 die Gleichsetzung von dominium mit dem umfassenden Nutzungsrecht an der Sache. Vitoria versteht allerdings im weiteren Verlauf seines Traktats das uti dieser Eigentumsdefinition in einem weiten Sinn, der auch die Verfügungsbefugnis umfasst. Es heißt bei ihm nämlich später im Text: „[…] dominium est facultas ad utendum re pro arbitrio suo. Ergo potest stando in iure naturali res suas transferre in alium, dummodo non impediatur per leges.“  39

Dominium ist die Befugnis, eine Sache nach eigenem Gutdünken zu verwenden. Also kann man aufgrund natürlichen Rechts seine Sachen auf einen anderen übertragen, solange es nicht durch Gesetze verhindert wird.

Nach einer ausführlichen Legitimation des Privateigentums in Abgrenzung vom Gemeineigentum40 wendet sich Vitoria den Erwerbstiteln zu. Nur von hier aus ist die Rechtmäßigkeit einer Eigentumsposition juristisch zu beurteilen. Einmal einer bestimmten Person zugeordnetes Privateigentum kann nach der Auffassung von Vitoria grundsätzlich nur auf zwei Wegen auf einen anderen übertragen werden: erstens mit der Einwilligung des Eigentümers, also rechtsgeschäftlich, oder durch einen autoritativen Zuweisungsbefehl des Herrschers.41 Im letzteren Fall müsste

36 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (12). 37 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (7). 38 Entgegen Daniel Deckers, Gerechtigkeit und Recht: eine historisch-kritische Untersuchung der Gerechtigkeitslehre des Francisco de Vitoria, 1991, S. 162–165, schließt Vitoria die Gleichsetzung von dominium mit proprietas aber nicht für die Restitutionslehre aus, cf. ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (8 am Ende). 39 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (29). 40 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (9–20). Dazu Repgen, De restitutione (Fn. 11), bei und nach Anm. 91. 41 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (27).

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man modern wohl von einer Enteignung sprechen. Sie soll mit Rücksicht auf das Gemeinwohl mit einer iusta causa möglich sein.42 Die auf der Grundlage solcher juristischer Prüfung für korrekt befundene Eigentumsposition bewirkt ein „ruhiges Gewissen“. Es besteht in foro conscientiae dann kein Grund zur Kritik. Vitoria sagt: „Et generaliter unus titulus ad forman­ dum conscientias est iste, quod si quis verus dominus dat mihi aliquid, quod non est lege prohibitum, ego sum vere dominus et non teneor ad restitutionem.“ 43

„Und allgemein ist eine Rechtsgrundlage zur Bildung des Gewissens die, dass ich, wenn ein wirklicher Eigentümer mir etwas gibt, das von Gesetzes wegen nicht verbo­ ten ist, wirklich Eigentümer und nicht zur Rückgabe verpflichtet bin.“

In der Argumentation des Vitoria hat die Freiheit entscheidende Bedeutung. Es hat, so erklärt Vitoria, Gott gefallen, den Menschen den Gebrauch der Güter nach ihrem Willen im Rahmen der Gesetze zu überlassen.44 Wichtig ist dabei, dass die Eigentumsverschiebung vom freien Willen des Veräußerers getragen ist und dass dies publik wird.45 Ist das der Fall, besteht in foro conscientiae keine Veranlassung zur Restitution. Mit folgendem Beispielsfall illustriert Vitoria diese Regel: Jemand verspricht, einem Krankenhaus hundert Goldstücke zu geben, behält das Geld aber in seinem Besitz. Vitoria fragt, ob er das Versprechen widerrufen kann oder zur Übergabe des Geldes verpflichtet ist. Es scheint, so sagt Vitoria, dass der Geldgeber verpflichtet bleibt und in foro conscientiae gebunden ist, weil er sich auch verpflichten wollte.46 „Dico tamen, quod iste non tenetur illos dare et in foro conscientiae manet tutus. Patet: Quia ille manet dominus il­ lorum.“ 47

Ich sage dennoch, dass jener nicht ver­ pflichtet ist, das Geld zu geben und in foro conscientiae sicher bleibt. Das ist deutlich, weil er Eigentümer der Goldstücke bleibt.

Die rechtlichen Überlegungen von Vitoria erscheinen zunächst überraschend, weil Vitoria selbst einräumt, der Geldgeber scheine verpflichtet zu sein, dennoch 42 43 44 45 46 47

ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (33). ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (29), Übersetzung von Stüben. ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (29 am Ende). Zu Letzterem ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (30). ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (31). ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (31).

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aber gelte etwas anderes. Die vertragsrechtliche Seite bleibt hier unbestimmt. Vitoria spricht davon, dass jemand verspricht, er gebe Geld (do centum aureos). Es ist naheliegend, darin eine Schenkung zu sehen.48 Diese wäre nach gemeinem Recht, das Vitoria stets zugrunde legt, keineswegs frei widerruflich, sondern als Konsensualvertrag grundsätzlich verbindlich.49 Bei einer Schenkung entstünden hier freilich Zweifel hinsichtlich der nach römischem Recht gegebenen Formbedürftigkeit.50 Dem eigentumsrechtlichen Zusammenhang entsprechend weist Vitoria darauf hin, dass, solange das Geld beim Versprechenden bleibt, dieser wirklicher Eigen­ tümer bleibt. Ein Diebstahl des Geldes würde sein dominium verletzen.51 Diese Überlegung führt auch zur von ihm vertretenen Lösung. Er sagt weiter: „Ergo potest revocare promissum, ante­ quam aliquis acceptet. Secus autem esset, si alius acceptet, quia tunc non posset illud revocare.“ 52

Denn er kann das Versprechen widerrufen, bevor es jemand annimmt. Anders wäre es aber, wenn der andere es annähme, weil er das Versprechen dann nicht widerrufen kann.

Vitoria möchte mit dem Beispiel erläutern, dass ein intern gebliebener Übereignungswille nicht zur Eigentumsübertragung ausreicht. Auch wenn die Fallerzählung hinsichtlich der Geldzuwendung an das Krankenhaus dazu schweigt, so ist doch dieser Kontext zu beachten. Aus ihm heraus wird die soeben zitierte Begründung stimmig. Solange das Geld nicht übertragen und die Zuwendung nicht anders angenommen worden ist, bleibt der Versprechende frei. Vitoria erweist sich hier – vielleicht entgegen einem ersten Eindruck – als geschickter und präziser Dogmatiker des Zivilrechts. In foro conscientiae ist in diesem Fall kein Anspruch des Hospitals auf das Geld entstanden, weil der notwendige Konsens fehlte. Die empfangsbedürftige Willenserklärung war nicht zugegangen. Ein nächster Beispielsfall für die durchgreifende Wirkung rechtlicher Bewertung in foro conscientiae ist bei Vitoria ein ungültiges Vermächtnis. Wenn jemand in einem Testament zum Beispiel den Minoriten (Franziskanern) tausend Duka48 In diesem Sinne übersetzt Stüben die Stelle. 49 Zum Schenkungsrecht im Überblick Guido Pfeiffer, §§  516–534  BGB. Schenkung, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, hrsg. von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert und Reinhard Zimmermann, Bd.  III/1, 2013, S.  439–463, hier insbesondere Rn. 22–25. 50 Cf. C. 8.53.25; Pfeiffer, HKK (Fn. 49), §§ 516–534 Rn. 21. 51 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (31). 52 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (31).

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ten verspreche, sei, so Vitoria, das Legat nichtig, da die Minoriten – kraft kanonischen Rechts – nicht erbfähig seien. „Dico, quod, nisi aliud lege humana sit constitutum, quod legatum illud pertinet ad heredem omnino et ipse potest ex iure naturali retinere illud bona conscientia; quia heres est dominus boni istius, et alius non acceptat. […] Hoc intelligo, ut dico, nisi aliud sit derminatum in iure.“ 53

„Ich sage, dass das Vermächtnis, sofern es nach menschlichem Gesetz nicht anders bestimmt ist, ohne Einschränkung dem Erben gehört und dass dieser selbst es vom natürlichen Recht her guten Gewissens ­behalten kann; denn der Erbe ist Eigen­ tümer des Gutes, und kein anderer nimmt es an. […] Das verstehe ich so, wie ich sage, für den Fall, dass im Recht nichts anderes festgesetzt ist.“

Vitoria schärft seinen Zuhörern also ein, dass es auf die Bewertung nach menschlichem Recht durchaus ankomme. Wer – wie die Minoriten – nicht erbfähig ist, kann nicht Empfänger eines Vermächtnisses sein. Es fehlt die für eine Eigentumsübertragung nötige Annahmemöglichkeit. Die Eigentumssituation bleibt also, wie sie vorher war. Für eine Restitution besteht kein Anlass, auch wenn, wie Vitoria einräumt, den Erben eine Pflicht aus sittlicher Anständigkeit (ex quadam h­ onestate morali) treffe, das Geld für die Seele des Verstorbenen ad pias causas zu verwenden.54 Der Verstoß gegen diese sittliche Pflicht genügt aber offenbar nicht, um einen Restitutionsfall zu erzeugen. Der Verstoß gehört nicht in die Kategorie der Sünde, bedeutet für Vitoria keine Ungerechtigkeit. Die Koppelung der Kategorie der Sünde an die juristisch zu bestimmende Rechtslage ist keine Erfindung des Vitoria, bei ihm freilich in besonderer Klarheit zu beobachten.55 Vitoria selbst berichtet seinen Zuhörern von Johannes Duns Scotus, der gelehrt habe, „[…] quod leges dant et adimunt ius in foro conscientiae.“ 56

53 54 55 56

[…] dass in foro conscientiae Gesetze Recht verleihen und entziehen könnten.

ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (32), Übersetzung von Stüben. ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (32). Cf. auch das Sachsenspiegel-Zitat bei Fn. 7. ComSTh II–II. q. 62, a. 1 (33). Vitoria beruft sich auf Johannes Duns Scotus, Quaestiones in quartum librum sententiarum (in: Opera omnia, vol. 18, Paris 1894), lib. 4, dist. 15. Dazu Annabel S. Brett, Liberty, Right and Nature. Individual Rights in Later Scholastic Thought, 1998 (ND 2003), S. 29–31 und 129–132.

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Und Thomas von Aquin sei dieser Auffassung gefolgt. Er lehrte: „Respondeo dicendum quod leges positae humanitus vel sunt iustae, vel iniustae. Si quidem iustae sint, habent vim obligandi in foro conscientiae a lege aeterna, a qua derivantur […].“ 57

Ich antworte: Man muss sagen, dass die positiven menschlichen Gesetze entweder gerecht oder ungerecht sind. Wenn sie ge­ recht sind, haben sie auch in foro conscien­ tiae verbindliche Kraft aufgrund der lex aeterna, von der sie abgeleitet werden.

Diese Stelle des Thomas öffnet den Horizont für einen Blick einerseits auf die Hierarchie der Rechtsquellen, andererseits auf die damit verbundene Frage nach der Herrschaftslegitimation, mit der die Gesetzgebungskompetenz zusammenhängt. Auch ließen sich differenzierte Überlegungen zu den Voraussetzungen eines gerechten Gesetzes anfügen. Für unseren Zusammenhang genügt es jedoch festzustellen, dass schon bei Thomas kein Zweifel daran besteht, dass die menschlichen Gesetze in foro conscientiae bindende Wirkung erzeugen. Aus der Kompetenz des Herrschers, mit einer gemeinwohlorientierten iusta causa über fremdes Privateigentum zu verfügen, folgt nach Vitoria auch, dass der Herrscher als Gesetzgeber Regeln aufstellen, die Verfügungen des Privateigen­ tümers beschränken und ungültig machen kann.58 „Cum enim non tenet contractus iure, non tenet, quia res publica prohibet, cuius con­ sensu et ad cuius utilitatem sancitae sunt leges.“ 59

„Wenn nämlich ein Vertrag rechtlich un­ gültig ist, ist er ungültig, weil das Gemein­ wesen ihn verbietet, aufgrund dessen Zu­ stimmung und zu dessen Nutzen die Gesetze in Kraft getreten sind.“

Entscheidend ist hierbei, dass Vitoria auf die Wirksamkeit nach dem Maßstab menschlicher Gesetze abstellt. Das hatten etwa der Kanonist und Papst Ha­ drian VI. und Silvester Prierias anders beurteilt, da sie nur auf die Kongruenz mit dem Naturrecht abstellen wollten, wie Vitoria selbst mitteilt.60 Vitoria ist hier an einem Punkt angekommen, der ihm besonders wichtig erscheint, so dass er ihn seinen Zuhörern anhand von Beispielen genauer auseinandersetzen wollte: 57 58 59 60

STh I–II, q. 96, a. 4 resp. ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (34). ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (34), Übersetzung von Stüben. Cf. Hadrian VI., Quaestiones quodlibeticae, Löwen 1515, q. 6, n. k, fol. 53r; Silvester Prierias, Summa summarum, Venedig 1581, s. v. alienatio, n. 13, fol. 33r.

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Zunächst spricht er von einem Unmündigen, der ohne Ermächtigung eine Sache verkauft und dabei, da er klug und verständig ist, einen wirtschaftlichen Nutzen hat. Dennoch, so Vitoria, sei der Verkauf in foro conscientiae ebenso ungültig wie in foro contentioso, also dem Streitgericht.61 Die Rechtsposition des Käufers ist nicht beeinträchtigt. Sein dominium ist nicht verletzt, wenn nicht arglistige Täuschung hinzutrat, und es besteht kein Grund zur Restitution. Es wurde nichts „entwendet“. Dasselbe soll gelten, wenn kirchliche Güter ohne Beachtung der vorgeschriebenen Form dreifacher Vertragsausfertigung veräußert werden.62 Oder: Jemand setzt einen Fremden testamentarisch zum Erben ein, ohne sieben Zeugen oder ohne einen Notar hinzuziehen. Vertrag und Testament sind formnichtig und das gilt auch in foro conscientiae.63 Die damit aufgeworfenen Fragen behandelt Vitoria in detaillierter Auseinandersetzung mit dem Dekretalenkommentar des Nicolaus de Tudeschis (Panormitanus). Letzterer habe gelehrt, dass ein Vertrag zum Beispiel deshalb unwirksam sein könne, weil eine Partei rechtlich nicht selbständig (sui iuris) sei (und keine Genehmigung vorliegt) oder weil beim Geschäftsschluss nicht die vom Gesetz erforderten Formvorschriften eingehalten worden seien. Für den ersten Fall bestehe Einigkeit, dass dieser Unwirksamkeitsgrund auch in foro conscientiae beachtlich sei.64 Anders liege es jedoch nach der Auffassung von Nicolaus de Tudeschis, wenn der Nichtigkeitsgrund auf einem Formverstoß beruhe. Dann bestehe zwar kein Anspruch in foro contentioso, wohl aber entstehe eine Restitutionspflicht, die in foro conscientiae verbindlich werde.65 Lässt man für einen Augenblick noch die Frage offen, welche Argumente dafür und dagegen vorgebracht werden, so springt doch sofort ins Auge, dass eine Differenzierung der Maßstäbe vor den beiden Gerichtshöfen die Validität rechtlicher Argumentation in foro conscientiae notwendig in Zweifel zieht. Es wird daher nützlich sein zu prüfen, wie Nicolaus de Tudeschis seine Auffassung begründet, zumal dieser Kanonist in höchstem Ansehen stand und seine Meinung Gewicht besaß. Bei ihm heißt es:

61 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (35). 62 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (35). 63 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (35). 64 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (36). 65 ComSTh II–II, q.  62, a.  1 (37) mit Bezug auf Nicolaus de Tudeschis, Commentaria, X. 1.41.1.

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„Pone, quod in alienatione non fuit ser­ vata forma debita, tamen fuit facta in casu licito, et inter[ve]nit consensus illorum, quod habent consentire, nunquid in foro animae sit tutus iste, qui habet rem sine debita solemnitate?

Gesetzt, dass bei einer Veräußerung nicht die vorgeschriebene Form beachtet worden ist, [im Übrigen] aber erlaubterweise ge­ handelt worden ist und der Konsens jener, die übereinstimmen müssen, besteht, ist dann in foro conscientiae derjenige sicher, der die Sache ohne die vorgeschriebene Form besitzt?

De hac quaestio vide per Inn. in c. quia plerique, de immunitate ecclesiarum. ubi concludit, quod non, quia ex quo contrac­ tus est nullus propter defectum formae, non potest iste tenere rem cum conscientia sine titulo iusto.

Zu dieser Frage siehe bei Innozenz IV. zu X 3.49.8. Dort folgert er, dass nicht, weil der Vertrag wegen eines Formmangels nichtig ist. Daher kann diese Person die Sache nicht ohne gerechten Titel mit [reinem] Gewissen behalten.

Sed D. Ant. tenet ibi contrarium.

Aber Antonius [de Butrio] meint an die­ ser Stelle [X 3.49.8] das Gegenteil.

Dicit, nota sufficere quo ad forum consci­ entiae, ut contractus teneat secundum lim­ ites iuris naturalis, seu gentium:

Er sagt: Merke, dass es in foro conscientiae genügt, dass ein Vertrag die Regeln des Na­ turrechts und des Völkergemeinrechts ein­ hält.

Nam de iure naturali, seu gentium sufficit solus consensus, et haec opinio mihi placet, et adduco singular dictum Innocentii in cap. quia propter, de electio, ubi dicit, quod electus est tutus in foro animae si electio sua tenuit de iure gentium, licet non fuerit servata forma tradita a iure positive, quia illa forma est introducta propter scandala, et deceptiones evitandas:

Nach Naturrecht und Völkerrecht näm­ lich genügt allein der übereinstimmende Wille [der Parteien]. Und diese Meinung gefällt mir. Und ich füge allein den Aus­ spruch von Innozenz  IV. zu X  1.6.42 hinzu, wo er sagt, dass der Gewählte im Gewissen sicher ist, wenn seine Wahl nach Völkergemeinrecht gültig ist, obgleich nicht die nach positivem Recht überlieferte Form beachtet worden ist, weil jene Form [nur] eingeführt worden ist, um vor Är­ gernissen und Betrügereien zu schützen.

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Unde ex quo omnia ista cessarunt, et inter­ venit verus consensus, satis est is tutus quo ad Deum, et tenebis semper menti illud dictum, quia valet in omnia actu, in quo est praetermissa solemnitas iuris positive, ut in foro animae non teneatur quis sibi de hoc facere conscientiam, ex quo non inter­ venit ibi aliqua deceptio, et affuit consen­ sus habentium actum explicare de iure naturali.

Wenn daher alle diese [Ärgernisse] fehlen und echter Konsens besteht, ist dieser darin ausreichend sicher vor Gott und du wirst immer jene Regel im Kopf behalten, dass [der bloße Konsens] bei jeden Geschäft ausreicht, bei dem nach positivem Recht feierliche Form erforderlich ist, so dass man in foro conscientiae nicht verpflichtet ist, sich darüber ein [schlechtes] Gewissen zu machen, wenn nicht dort irgendeine Betrügerei dazwischenkommt, aber ein Konsens über die gegenwärtigen Geschäfte vom Naturrecht her besteht.

Ex quo inferatur, quod in foro conscientiae aequitas iuris naturalis praefertur rigori iuris positivae, quod nota.

Daraus ergibt sich, dass in foro conscien­ tiae die Billigkeit des natürlichen Rechts der Strenge des positiven vorgezogen wird, was zu merken ist.

Et vide quod plene dixi in dict. capitu. quia plerique.“ 66

Und siehe, was ich vollständig gesagt habe in dem erwähnten Kapitel X 3.49.8.

An der zum Schluss beigezogenen Stelle vertritt Nicolaus de Tudeschis dieselbe Regel, führt sie aber anhand konkreter Beispiele aus,67 die auch Vitoria in seiner Vorlesung aufgegriffen hat: insbesondere die Veräußerung von Kirchengut ohne Beachtung der vorgeschriebenen Form und die formwidrige kanonische Wahl. Zusammenfassend begründet Nicolaus de Tudeschis noch einmal seine Auffassung, dass die Formnichtigkeit allein nicht die Entstehung der Verbindlichkeit beziehungsweise die Verfügung über das Eigentumsrecht in foro conscientiae hindert mit einem Hinweis auf den Zweck der Formvorschriften:

66 Nicolaus de Tudeschis [Abbatis Panormitani], Commentaria Secundae Partis in Primum Decretalium Librum, tom. 2, Venedig 1591, fol. 163 zu X. 1.41.1, n. 19. 67 Diese Stellungnahme findet sich in Nicolaus de Tudeschis, Commentaria (Fn. 66), fol. 221 zu X. 3.49.8 nn. 28, 31.

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„Ius enim positivum adinvenit solennitates propter periculum animarum et deceptio­ nes evitandas; sed cum omnia cessent in causa occurrenti, non est in foro conscien­ tiae de illarum defectu curandum, quod singulariter nota quia facit ad multa.“  68

Das positive Recht hat nämlich die Form­ vorschriften wegen der Gefahr für die ­Seelen und zur Vermeidung von Betrüge­ reien eingeführt. Aber wenn diese im vor­ liegenden Fall fehlen, muss man sich in foro conscientiae nicht um die Nichtein­ haltung von ihnen [sc. den Formvorschrif­ ten] kümmern. Das merke allein, weil es oft geschieht.

Nicolaus de Tudeschis sieht in foro conscientiae einen Vorrang des Naturrechts gegenüber dem positiven Recht offenbar als selbstverständlich an. Entscheidend für die Bindungskraft des positiven Rechts soll dessen ratio sein. Bei den Formvorschriften sieht er diese in einer Sicherung des Seelenheils durch Bewahrung vor Betrügereien. Fehlt aber im konkreten, nicht unbedingt seltenen Einzelfall jede Schlechtigkeit, so entfällt nach Nicolaus de Tudeschis auch der Sinn der Formvorschrift. Das Argument hat eine innere Verwandtschaft mit der allgemeinen kanonistischen, sprichwörtlichen Regel cessante causa cessat lex,69 wonach ein Gesetz seine Wirkung verliert, wenn sein Sinn (endgültig) wegfällt. Der wichtigste Gewährsmann für Nicolaus de Tudeschis war Antonius de Butrio, der dieselbe Position gegen Innozenz IV. vertrat: Wer ehrlich eine Sache mit gerechtem Titel erworben hat, sollte sie guten Gewissens behalten dürfen, auch wenn die zivilrechtlich nötige Form nicht eingehalten worden sei.70 Vitoria stellt sich allerdings gegen Nicolaus de Tudeschis und Antonius de Butrio. Stärker als bei den erwähnten Kanonisten geht es Vitoria – seiner Ausgangsfrage völlig getreu – um einen klaren Maßstab für das Gewissen:

68 Nicolaus de Tudeschis, Commentaria (Fn. 66), fol. 221 zu X. 3.49.8, n. 31. In diesem Sinne auch Hadrian VI., l. c. Hadrians Ausgangsfrage in der quaestio 6 ist, ob die Überschreitung menschlicher Rechtsvorschriften eine Todsünde sein könne. Nach bemerkenswerten, an dieser Stelle aber nicht zu vertiefenden Ausführungen zur Unverbindlichkeit ungerechter Gesetze kommt Hadrian auch auf den hier diskutierten Fall, dass menschliche Gesetze Formvorschriften anordnen, deren Nichteinhaltung manchmal aber unschädlich erscheint, weil kein Fall von Betrug oder Ähnlichem vorlag. 69 Zum kanonistischen Ursprung und der Entwicklungsgeschichte Hermann Krause, Cessante causa cessat lex, in: ZRG Kan. Abt. 46 (1960), S. 81–111. 70 Antonius de Butrio, In Librum Tertium Decretalium Commentarii, tom. 5, Venedig 1578 [ND Turin 1967], fol. 205 zu X. 3.49.8, n. 12.

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„Unde ob securitatem conscientiarum pono hanc regulam, quod ex quocumque con­ tractu non datur et adquiritur ius in foro contentioso nec etiam datur nec adquiritur in foro conscientiae.“ 71

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Daher stelle ich mit Rücksicht auf die S­ icherheit der Gewissen diese Regel auf: Aufgrund eines solchen [i. e. formnichtigen] Vertrags wird in foro contentioso kein Recht verliehen und erworben, und es wird auch nicht in foro conscientiae verlie­ hen und erworben.

Anders als die herrschende Meinung der Kanonisten entscheidet sich Vitoria also für einen Gleichlauf der rechtlichen Einschätzung vor dem Streitgericht und dem Beichtgericht. Doch warum? Vitoria bestreitet zunächst einmal die Autorität der Juristen, Legisten wie Kanonisten, da sie sich um Fragen diesseitiger Streitigkeiten zu kümmern hätten, es hier aber um Gewissensfragen in foro conscientiae gehe. „Quamobrem potius in hoc standum est dictis theologorum quam iurisconsultorum, quandoquidem theologi ius natu­ rale divinumque norunt.“ 72

„Deswegen soll man sich lieber an die Aus­ sagen der Theologen als der Juristen hal­ ten, da die Theologen ja mit dem natürli­ chen und göttlichen Recht vertraut sind.“

Danach hat es den Anschein, als würde Vitoria den Juristen die Kompetenz in Gewissensfragen bestreiten. Doch so liegt es nicht, wie die weitere Lektüre zeigt. Den Juristen kommt vielmehr die Kompetenz zu, die scripta iura autoritativ zu interpretieren. Sodann folgt Vitorias zentral wichtiges Argument, das das gesamte Verhältnis von Jurisprudenz und Theologie in foro conscientiae bestimmt: „Quod enim secundum leges tenet, secun­ dum conscientiam etiam valet.“ 73

„Was nämlich gemäß den Gesetzen gültig ist, das gilt auch gemäß dem Gewissen.“

Wenn sich aus dem geschriebenen Recht nun ergibt, dass ein Veräußerungsgeschäft nichtig ist, so bindet das Ergebnis auch im Gewissen. Das gilt, solange das geschriebene Recht nicht dem Naturrecht widerspricht. Aber wie etwas übereignet wird, folgt nicht naturrechtlichen Regeln, sondern dem positiven menschli-

71 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (38). 72 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (38), Übersetzung von Stüben. 73 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (38), Übersetzung von Stüben.

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chen Recht.74 Das Naturrecht gibt dafür lediglich eine Erlaubnis.75 Der rechtlichen Argumentation kommt damit in foro conscientiae eine ganz entscheidende Bedeutung zu. Und insofern haben die Juristen nur scheinbar eine untergeordnete Rolle. Was sich nach legitimen geschriebenen Gesetzen regelt, wird von den Juristen entschieden. Die Juristen sollen nach Vitoria nicht etwa entscheiden, was im Gewissen verpflichtet, sondern sie sollen sagen, was die Gesetze zu dieser oder jener Frage sagen: „Nam si diffiniant, vere absque formidine inferet theologus, quod etiam illud tenet in foro conscientiae. Ubi tamen iuristae non probant sententiam suam per leges, sed ­potius contra, non est tenenda illorum sen­ tentia.“ 76

„Wenn die Juristen diese Festlegungen ma­ chen, wird der Theologe wirklich ohne Scheu folgern, dass der jeweilige Sachver­ halt auch in foro conscientiae gilt. Sobald die Juristen jedoch ihre Auffassung nicht durch Gesetze beweisen, sondern vielmehr das Gegenteil der Fall ist, darf man sich nicht an ihre Auffassung halten.“

Die Maßgeblichkeit juristischer Auffassungen hängt für Vitoria also letztlich davon ab, ob sie durch ein geschriebenes „Gesetz“ bewiesen werden. Selbstverständlich muss dieser „Beweis“ nicht durch eine ausdrückliche Regelung geführt werden, sondern Gesetzesauslegung ist zulässig. Unverbindlich ist hingegen der Rückzug eines Juristen auf Billigkeitsargumente oder Naturrecht, wie sie in den zitierten Fällen der Formnichtigkeit begegnet. „Unde si ipsi ostenderent textum, in quo habetur, quod contractus invalidi defectu solemnitatis licet non teneant in foro con­ tentioso, tenent tamen in foro conscientiae, bene crederemus illis.“ 77

„Wenn die Juristen selbst ein Gesetz vor­ weisen würden, in dem steht, dass Ver­ träge, die formnichtig sind, zwar nicht vor dem Streitgerichtshof, wohl aber vor dem Beichtgericht gültig sind, dann würden wir ihnen sehr wohl glauben.“

Auch Hadrian und die „Summisten“ weist Vitoria zurück, denn

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ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (18–20). ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (20). ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (38), Übersetzung weitgehend von Stüben. ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (38), Übersetzung weitgehend von Stüben.

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„[…] non nituntur fundamento valido nec allegant capitulum nec legem aliquam ad hoc.“ 78

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[…] sie stützen sich auf keine tragfähige Grundlage und berufen sich dazu weder auf ein Kapitel [des kanonischen Rechts] noch auf irgendein Gesetz.

Juristische Argumente haben danach nur das Gewissen bindende Kraft, wenn sie sich auf geschriebene Normen des positiven Rechts stützen können. In diesem Fall ist eine rechtliche Argumentation in foro conscientiae aber auch maßgeblich und die Erwägungen der Theologen müssen zurückstehen. Vorausgesetzt wird ein positives „Gesetz“. Darüber, was eigentlich ein „Gesetz“ ist, hat Vitoria an anderer Stelle seiner Vorlesung ausführlich gesprochen.79 Auch dieses Thema ist im Kontext der Gliederung der Summa theologiae zu sehen. Das Gesetz ist neben der Gnade ein Mittel, um den Weg zurück zu Gott (reditus) zu finden.80 Die Ausführungen zur Unbeachtlichkeit formnichtiger Ver78 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (38). 79 Der sogenannte Lex-Traktat findet sich im Summenkommentar I–II, qq. 90–108: Francisco de Vitoria, De lege – Über das Gesetz, hrsg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Joachim Stüben, mit einer Einleitung von Norbert Brieskorn, 2010. Die rechtsphilosophisch wichtige Frage nach dem Grund für die Verpflichtungskraft des Gesetzes kann an dieser Stelle offen bleiben. Anselm Spindler, Die Theorie des natürlichen Gesetzes bei Francisco de Vitoria. Warum Autonomie der einzig mögliche Grund einer universellen Moral ist, 2015, insbesondere S. 191–196, ist ihr jüngst für den Bereich des „natürlichen“ Gesetzes bei Vitoria nachgegangen und hat die These entwickelt, das natürliche Gesetz sei bei Vitoria als Gesetz der praktischen Vernunft zu verstehen, aufbauend auf den Grundprinzipien des Satzes vom Nichtwiderspruch und des Satzes, das Gute sei zu tun, das Böse hingegen zu meiden. Auf dieser Basis entwickle die praktische Vernunft eine eigene, insofern autonome Gesetzgebung. Damit steht Spindler gegen Deckers, Gerechtigkeit und Recht (Fn. 38), S. 86, einerseits, der den Verpflichtungsgrund im schöpfungstheologisch gedeuteten finis ultimus sah, und andererseits gegen eine Rückführung des Geltungsgrundes des Gesetzes auf den gesetzgeberischen Willen Gottes, wie es etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die spanische Spätscholastik, in: ders., Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie: Antike und Mittelalter, 2. Aufl. 2006, S. 348–351, und ähnlich Gideon Stiening, ­Suprema potestas […] obligandi. Der Verbindlichkeitsbegriff in Francisco Suárez’ Tractatus de Legibus, in: Kontroversen um das Recht. Beiträge zur Rechtsbegründung von Vitoria bis Suárez, hrsg. von Kirstin Bunge u. a., 2013, S. 341–367, vertreten. Selbst wenn man Spindlers These folgen möchte, so wäre die Reichweite dieser Autonomie kritisch zu hinterfragen. Für den Geltungsgrund des natürlichen Gesetzes selbst mag die Autonomie plausibel begründbar sein, für die Inhalte gilt das bei Vitoria nicht. Sie sind vom göttlichen beziehungsweise auch vom menschlichen Gesetzgeber willentlich festgelegt, wobei aber auch diese Gesetzgeber nicht völlig frei, nicht willkürlich Inhalte setzen können. 80 Dazu zusammenfassend Norbert Brieskorn, Einleitung, zu: Franciso de Vitoria, De lege – Über das Gesetz (Fn. 79), S. XXIII–XXXIII.

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träge in foro conscientiae bestätigen diese These, da Vitoria mit der Verbindlichkeit des positiven Gesetzes argumentiert, um eine Orientierung für das Gewissen zu finden. Das steht völlig in Übereinstimmung mit der abstrakten Bemerkung Vitorias im Summenkommentar zu I–II, q. 96, a. 4 zur Frage, ob das menschliche Gesetz dem Menschen eine Verpflichtung in foro conscientiae auferlegt: Auch das menschliche Gesetz verpflichtet im Gewissen. Der theologische Grund dafür ist die Lehre über Christ und Staat im 13. Kapitel des Römerbriefs. Vitoria zitiert unter anderem Röm 13,1 und 2:81 „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt. Wer sich daher der staatlichen Ge­ walt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen.“

Vitoria meint lakonisch: „Nihil clarius“ – nichts ist deutlicher.82 Göttliches und menschliches Gesetz stammen, so erklärt Vitoria, nur von verschiedenen Urhebern, aber ihre Gesetzesqualität und damit ihre Bindungskraft sind gleich,83 vor-

81 ComSTh I–II, q. 96, a. 4 (5 und 1), in: Vitoria, De lege (Fn. 79). 82 ComSTh I–II, q. 96, a. 4 (1). – Dieselbe Argumentation mit Röm 13,1 f. findet sich in ganz ausführlicher Beweisführung auch bei Francisco Suárez, De legibus ac Deo legislatore – Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber, Liber tertius: de lege positiva humana – Drittes Buch: Über das menschliche positive Gesetz, Teil 2, hrsg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening, 2014, cap. 21 ff., hier insbesondere: cap. 21 (6), S. 26 f.: Quia etiam legislator civilis fert leges ut minister Die per potestatem ab ipso acceptam; ergo obligat in conscientia ad parendum. – Da auch der weltliche Gesetzgeber als Diener Gottes Gesetze erlässt aufgrund der von Gott empfangenen Macht, des­ halb verpflichtet er auch im Gewissen zum Gehorsam. Suárez hat die Frage der Relevanz legitimer (cf. lib. III, cap. 22 [1] ut lex obliget, oportet ut sit vera lex – damit ein Gesetz verpflichtet, ist es nötig, dass es ein echtes Gesetz ist) menschlicher Gesetze in foro conscientiae in lib. III, cap. 21 ff. in aller Breite theoretisch durchdrungen, bleibt dabei allerdings anders als Vitoria bei einer rechtstheoretischen Argumentationsweise, während bei Vitoria praktische Anwendungsfälle wie die formnichtigen Rechtsgeschäfte im Vordergrund stehen. Zur Heilsnotwendigkeit der Beachtung menschlicher Gesetze nach der Lehre des Suárez cf. auch Decock, Theologians (Fn. 15), S. 85, mit Bezug auf das Prooemium zu De legibus. 83 ComSTh I–II, q. 96, a. 4 (2). – Ob ein Gesetzesverstoß allerdings eine beichtpflichtige Todsünde zur Folge hat oder eine nicht beichtpflichtige lässliche, hängt nach Vitoria nicht in erster Linie von der Absicht des Gesetzgebers, sondern vom Objekt selbst, von der Natur der Sache (ex natura rei) ab, ComSTh I–II, q. 96, a. 4 (5). Scherzhaft erklärt Vitoria, das Verbot, Mauleselinnen zu halten, sei eben kein schwerwiegender Gegenstand. Ein Verstoß begründe nur eine lässliche Sünde, l. c. (5 am Ende).

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ausgesetzt, sie sind in richtiger Weise erlassen und haben keinen ungerechten I­ nhalt.84 Vitoria weist ein Auseinanderfallen der Rechtslage vor dem Streitgerichtshof und dem Beichtgericht strikt zurück. Das zentrale Argument ist für ihn das Fehlen entsprechender Vorschriften. Juristisch ist nichts anderes festgelegt. Die Verbindlichkeit des positiven Rechts wird durch die Hinweise insbesondere auf den Römerbrief untermauert. Hinzu kommt, dass man sonst in eine schädliche, weil widersprüchliche normative Lage geraten würde: Wenn beispielsweise der Erblasser ein nichtiges Testament hinterließ, tritt die gesetzliche Erbfolge ein. Der Fall ist so zu behandeln, als hätte es kein Testament gegeben. Das ergibt sich nach ­Vitoria bereits aus Inst. 2.17.7.85 Wenn das aber im Beichtgericht nicht zuträfe, wären die menschlichen Gesetze insofern widersinnig. Als Regel gilt für Vitoria mithin: Was fehlerfrei positivrechtlich festgestellt ist, gilt auch in foro conscientiae. Detailliert beschäftigt sich Vitoria mit den einzelnen, insbesondere von Nicolaus de Tudeschis diskutierten Einzelfällen und erläutert, dass auch nach natür­ lichem Recht kein Widerspruch zum positiven Recht eintrete.86 Insbesondere gelte das, so Vitoria, weil es gegen das natürliche Recht verstieße, wenn ein Nichteigentümer über fremde Güter verfügte.87 Wer positivrechtlich Nichteigentümer ist, kann als Nichtberechtigter nicht verfügen. Daran ändert auch das ­Naturrecht nichts. Überall bewegt sich Vitoria hier auf der Ebene rechtlicher A ­ rgumentation. Im Ergebnis ist sich Vitoria sicher: Das Gewissen ist in diesen Fällen am Maßstab des positiven Rechts auszurichten. Dennoch unterbreitet er zum Schluss ­seinen Zuhörern einen praktikablen Ratschlag, geboren aus der Klugheit: Wer durch die Formvorschriften geschützt wird, also zum Beispiel der gesetzliche Erbe im Falle eines formnichtigen Testaments, kann auf seinen rechtlichen Vorteil in dieser Situation freiwillig verzichten. Dann kann der andere guten Gewissens das Erbe antreten, die Sache behalten und macht sich nicht restitutionspflichtig.88

84 Zu Letzterem z. B. ComSTh I–II, q. 96, a. 5 (3). 85 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (41). In Inst. 2.17.7 heißt es am Ende: Nam imperfectum testamentum sine dubio nullum est. Denn ein unvollendetes Testament ist ohne Zweifel nichtig. 86 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (41–43). 87 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (42 am Ende). 88 ComSTh II–II, q. 62, a. 1 (44).

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IV Erträge Der hier untersuchte Abschnitt aus dem Summenkommentar des Francisco de ­Vitoria gibt Aufschluss über die Bedeutung rechtlicher Argumentationen in foro conscientiae. Ausgangspunkt der Überlegungen von Vitoria sind eine Anzahl nichtiger Rechtsgeschäfte, bei denen die Nichtigkeit aus der Nichtbeachtung bestimmter Formvorschriften resultiert. Eine Reihe von Kanonisten vertrat dazu die Auffassung, dass in dieser Situation eine Differenz zwischen der rechtlichen Beurteilung in foro contentioso und der moralischen Bewertung in foro conscientiae eintreten könne: In foro conscientiae resultiere nämlich auch aus einem formnichtigen Rechtsgeschäft ein Anspruch, der im Falle der Vermögensverschiebung auch einen legitimen Grund zum Eigenbesitz biete, obgleich in foro contentioso gegebenenfalls eine Rückforderung durchgesetzt werden könne. Das zentrale Argument war die Behauptung einer naturrechtlichen Wirksamkeit solcher Rechtsgeschäfte: Dort genüge der bloße Konsens. Das Formerfordernis entfalte daher nur positivrechtliche Folgen, die im Gewissen keine Beachtung verdienten. Vitoria hat dieser Auffassung klar widersprochen: Ein nach positivem Recht formnichtiges Rechtsgeschäft erzeugt danach weder in foro contentioso noch in foro conscientiae Rechtsfolgen. Seine Unwirksamkeit gilt vor beiden Gerichten gleichermaßen. Dieser Gleichlauf resultiert in der Sicht Vitorias daraus, dass das positive Recht verbindliche Rechtsnormen enthält. Ihre Verbindlichkeit ergibt sich aus dem Gesetzgebungsbefehl des legitimen Herrschers (Röm 13,1 f.). Die gegenteilige Position der Kanonisten überzeugt Vitoria hingegen vor allem deshalb nicht, weil die Kanonisten nicht in der Lage sind, eine geschriebene Rechtsnorm für ihre Auffassung ins Feld zu führen. Deren Rückbeziehung auf das Naturrecht scheitert in seinen Augen, weil auch dort keine Norm zu finden ist, die dieses Ergebnis stützt. Positives menschliches Recht kann nämlich auch etwa einen Grundtatbestand wie den, dass ein einfacher Konsens grundsätzlich verbindliche Kraft hat, modifizieren. Ob aber nach positivem Recht diese oder jene Lage herrscht, bestimmt sich nach dem Urteil der Juristen. Damit deren Auffassung überzeugt, ist allerdings ein positivrechtliches Argument erforderlich, die Berufung auf eine passende Rechtsnorm. Der Rückgriff auf ungeschriebene Regeln des Naturrechts würde nach Vitorias Meinung nicht ausreichen, um in foro conscientiae Wirkung zu entfalten. Eine valide juristische Argumentation braucht vielmehr als Fundament eine geschriebene Rechtsnorm. Kann sie sich aber darauf berufen, so verdrängt sie die Rechtsauffassung von Theologen. Vitoria hat sich wiederholt zum Verhältnis von Theologie und Jurisprudenz geäußert. Im Allgemeinen schließt man aus seinen Äußerungen auf einen Vorrang der Theologie vor der Jurisprudenz. In seiner Relectio de potestate civili von 1528

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beteuerte Vitoria, kein Gegenstand sei der Theologie fremd.89 In der Relectio de indis von 1538/39, also einem Text, der zeitlich nach der Stellungnahme im Summenkommentar entstand, meinte Vitoria zu der Frage nach dem Rechtstitel der spanischen Krone zur Herrschaft über die Indianer, dies müsse auf der Grundlage göttlicher Gesetze entschieden werden. Es gehe um eine Angelegenheit de foro conscientiae, die in die Kompetenz der Priester gehöre.90 Danach hat es den Anschein, als betrachte Vitoria die Kompetenz von Juristen in foro conscientiae als untergeordnet gegenüber dem Ratschluss der Theologen.91 Der oben behandelte Abschnitt aus dem Summenkommentar lehrt hingegen, dass Vitoria sehr genau differenziert hat: Die Theologen sind die Spezialisten für die ungeschriebenen Regeln des ius divinum und des ius naturale. Das ius positivum humanum, ob weltlich oder kirchlich, ist hingegen ein Gebiet, in dem die Juristen die fachwissenschaftliche Autorität beanspruchen können, soweit sie ihre Meinungen auf positivrechtliche Normen stützen können. Von einem generellen Vorrang der Theologie gegenüber der Rechtswissenschaft bei Vitoria kann daher nicht länger die Rede sein. Dabei geht es keineswegs um Eitelkeiten, sondern die Frage hat Bedeutung für den Umgang mit moralischen Zweifeln. Dieser war ein Problem, dem sich an der Schwelle zur Neuzeit vor allem der sogenannte Probabilismus widmete, wonach man moralische Zweifel dadurch lösen kann, dass man sich mit guten Gründen für eine Handlung entscheidet, auch wenn es bessere Gründe für die Wahl des Gegenteils geben könnte.92 Immer geht es dabei darum, dem Gewissen Sicherheit zu geben. Die Handlungsmaßstäbe sollen weder überbordend sein noch in Laxheit verkommen. Hier gewinnt die fachwissenschaftliche Einsicht von Autoritäten eine besondere Rolle, denn, so lehrte es zum Beispiel ein Schüler von Vitoria 89 Francisco de Vitoria, De potestate civili, in: ders. Vorlesungen (Relectiones): Völkerrecht, Politik, Kirche, hrsg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven und Joachim Stüben, Bd. 1–2, 1995–1997, Bd. 1, S. 116, Z. 19–21. 90 Francisco de Vitoria, De indis, in: ders., Vorlesungen (Fn. 89), Bd. 2, 1997, S. 380, Z. 27– 32, S. 420, Z. 15 ff. und S. 430, Z. 13–15. 91 So etwa Jörg A. Tellkamp, Vitorias Weg zu den legitimen Titeln der Eroberung Amerikas, in: Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria, hrsg. von Kristin Bunge, Anselm Spindler und Andreas Wagner, 2011, S. 143–170, hier S. 166. 92 Dazu umfassend das zweibändige Werk von Rudolf Schüßler, Moral im Zweifel, Bd. 1: Die scholastische Theorie des Entscheidens unter moralischer Unsicherheit, 2003, und Bd. 2: Die Herausforderung des Probabilismus, 2006; ders., Probability in Medieval and Renaissance Philosophy, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2015 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL = http://plato.stanford.edu/archives/spr2015/entries/probability-medieval-renaissance/ (04.08.2015); einen guten Überblick gibt bereits: Otte, Probabilismus (Fn. 15), S. 283–302.

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­ amens Bartolomé de Medina (1527–1581), eine moralisch vertretbare Meinung n besteht dann, wenn ein vernünftiger Grund von weisen und klugen Fachleuten angegeben wird.93 Dieser Meinung zu folgen, ist dann keine Sünde.94 Hier schließt sich der Kreis. Es geht Vitoria um das Seelenheil.95 Juristische Erwägungen sind für ihn nicht Selbstzweck, sondern stehen im Kontext der Orientierung des menschlichen Lebens an den Regeln der Heilsordnung. In dieser spielt das menschliche, positive Recht eine eigenständige und praktisch herausra93 Diese Lehre hat selbstverständlich viel ältere Wurzeln, die bis auf Aristoteles zurückreichen, cf. nur Otte, Probabilismus (Fn. 15), S. 299 f. 94 Bartolomé de Medina, Expositio in primam secundae angelici doctoris Thomae Aquinatis, Salamanca 1582, I–II, q. 19, a. 6, p. 309: Tertio. Opinio probabilis est conformis rectae rationis, et existimationi virorum prudentum et sapientium: ergo eam sequi non est peccatum. Zusammenfassend zu Medinas doctrina probabilitatis: Rudolf Schüßler, Scholastic Probability as Rational Assertability. The Rise of Theories of Reasonable Disagreement, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 96 (2014), S. 202–231, hier S. 209–213. 95 Es wäre zu kurz gegriffen, wenn man das Bemühen um eine klare Orientierung der Gewissen vorrangig als eine Strategie kirchlicher Machtausübung verstehen wollte, wie es Paolo Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, 2. Aufl. 2005, S. 196 f., mit der Verwendung von Begriffen wie „Gewissenskontrolle“ und „Seelenkontrolle bei den Untertanen-Gläubigen“ nahelegt. Das forum conscientiae hat in erster Linie sakramentalen Charakter und transzendente Wirkung, deren theologisches Fundament in der Soteriologie liegt, dazu weiterführend Repgen, De restitutione (Fn. 11). Dieses Fundament und auch die entsprechende Beichtpraxis waren längst etabliert, als der von Prodi behauptete Umschwung kirchlicher Jurisdiktion vom forum externum zum forum internum am Übergang zur Neuzeit stattgefunden haben soll. Eine Erklärung des Interesses der frühneuzeitlichen Moraltheologie an den das forum conscientiae betreffenden Fragen lässt sich daher mit einem Kontroll- oder Machtinteresse der Kirche nur unvollkommen erklären. Hinzu kommt, dass der bis ins 20. Jahrhundert hinein herrschende Probabilismus wenigstens seiner theoretischen Anlage nach „freiheitsaffin“ war, in dem er Handlungsspielräume sicherte (der darin liegende favor libertatis wird schon in der Spätscholastik klar ausgedrückt, beispielsweise von Antonio Pérez [1599–1649], Tractatus de iustitia et iure, Rom 1668, tract. 2, disp. 2, cap. 4, n. 78, S. 174 (online: https://archive.org/ stream/bub_gb_emdsR1ACC-8C#page/n195/mode/2up [04.08.2015]); zu diesem auch Decock, Theologians (Fn.  15), S.  77–79; cf. aber kritisch schon Otte, Probabilismus (Fn. 15), S. 299 f., auch Janet Coleman, Are There Any Individual Rights or Only Duties? On the Limits of Obedience in the Avoidance of Sin according to Late Medieval and Early Modern Scholars, in: Transformations in Medieval and Early-Modern Rights Discourse, hrsg. von Virpi Mäkinen und Petter Korkman, 2006, S.  27–32), was nicht eben für ­„Kontrolle“ spricht. Auch die strikte, strafbewehrte Schweigepflicht des Beichtvaters (cf. Canon 21 des IV. Laterankonzils von 1215, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta (Fn. 16), S. 221, der Konzilsbeschluss fand auch wortgleich Eingang in die Dekretalen: X. 5.38.12) steht einer Interpretation der Beichte als Überwachungs- und Herrschafts­ instrument entgegen, da diese Vorschrift dann dysfunktional erschiene.

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gende Rolle, weil – soweit die menschlichen Gesetze reichen – aus dem positiven Recht Rückschlüsse auf die moralische Bewertung menschlichen Handelns gezogen werden können. Durchaus souverän und auf Augenhöhe mit der Fachdiszi­ plin prüft Vitoria die wissenschaftliche Validität juristischer Argumente, die in foro conscientiae normative Wirkung entfalten, hält aber daran fest, dass eine ­argumentativ haltbare Auslegung positiven Rechts durch die Juristen in foro c­ onscientiae verbindlich ist. Gerade im Zusammenhang mit dem dominium, in dem die Fragestellung bei Vitoria erscheint, kommt in der strikten Befolgung des positiven Rechts zugleich eine freiheitssichernde Tendenz zum Ausdruck. Der rechtliche Rahmen des d­ ominium wird nämlich nur durch das positive Recht gezogen. Einschränkungen des dominium bedürfen insofern einer sicheren Grundlage. Das garantiert einen definierten Handlungsspielraum und damit Freiheit.

Reaktionen der Seehansestädte auf den Wandel des Königsgerichts Anfang des 15. Jahrhunderts Von Bernhard Diestelkamp

I  Das Königsgericht nach 1400 Seit der Wende zum 15. Jahrhundert begann sich die Königsgerichtsbarkeit in Deutschland in einem lang dauernden dialektischen Prozess zu verändern.1 Im Laufe des 15.  Jahrhunderts gelangten zunehmend komplexere Verfahren um reichsständische Konflikte an den König, in deren Verlauf wichtige Verfassungsfragen des Reiches reguliert werden mussten. Für die Lösung dieser Probleme war die überkommene Gerichtsstruktur nicht mehr optimal geeignet. Wandlungen im Reich zwangen zudem das Zentralgericht zu angleichenden Reaktionen. So ­bewirkten die seit der Wende zum 15. Jahrhundert am Hof eintreffenden ersten Appellationen nach gelehrtem Prozessrecht von reichsständischen Gerichten an das Königsgericht Umstrukturierungen am Hof, weil die Appellationsprozesse in den überlieferten Strukturen nicht angemessen behandelt werden konnten.2 Umgekehrt nötigten die am Hof vollzogenen Veränderungen ihrerseits Reichsstände zu Anpassungen an die neuen Standards, indem sie ihre Justiz von einstufigen Gerichten zu Instanzenzügen umorganisieren mussten. Das vollzog sich im Reich in sehr unterschiedlichem Tempo. In Holstein,3 Mecklenburg und Pommern4 gelang es sogar erst im 16. Jahrhundert. Diese Vorgänge sind keineswegs hinreichend mit dem Stichwort „Rezeption des Gelehrten Rechtes“ zu charakterisieren, auch wenn der Übergang vom einstufigen Gericht mit nach Rechtserfahrung urteilendem Gerichtsumstand zu den 1 Bernhard Diestelkamp, Vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz. Die deutsche Königsgerichtsbarkeit und die Verdichtung der Reichsverfassung im Spätmittelalter (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, – zukünftig QFHG –, Bd. 64), 2014. 2 Diestelkamp (Fn. 1), S. 36 ff. 3 Wolfgang Prange, Schleswig-Holstein und das Reichskammergericht in dessen ersten fünfzig Jahren (Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 22), 1998. 4 Bernhard Diestelkamp, Die Reichsgerichtsbarkeit in den Ostseeländern, in: Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich, hrsg. von Nils Jörn und Michael North (QFHG, Bd. 35), 2000, S. 13 ff., 20 ff., 24 ff.

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nach geschriebenen Rechtsquellen urteilenden Juristenrichtern ein nicht unwesentlicher Faktor dieser Wandlung war. Mindestens genauso gewichtig war jedoch die Veränderung der Stellung des Königs, die durch die Umwandlung des Königsgerichts vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz im Alten Reich bewirkt wurde. War er bis dahin oberster Richter im Reich bestenfalls ­idealtypisch im Sinne eines Hüters des Rechtes oder als Verleiher des Gerichtsbanns gewesen, so wurden allmählich er und seine Gerichte zur Spitze eines ­Instanzenzuges. Die beiden im Zuge dieser Entwicklung entstehenden höchsten Gerichte des Reiches, das Reichskammergericht und der Reichshofrat, konnten als Gerichte des Herrschers durch die Appellationsverfahren die Tätigkeit der reichsständischen Justiz umfassend kontrollieren. Eine solche Form der Königs­ gerichtsbarkeit, in der der Herrscher realiter oberster Richter im Reich wurde, dessen gerichtliche Entscheidungen Gehorsam forderten, war der Vorstellungswelt bis etwa 1400 fremd gewesen. Sie konnte sich deshalb nur allmählich und zögernd und gegen erhebliche Widerstände im Reich durchsetzen. Zum Beispiel verweigerten die westfälischen Freigerichte den aus der neuen Position des Königs resultierenden königlichen Mandaten und Ladungen intensiv und lang anhaltend den Gehorsam.5 Ursache dafür war nicht ein rebellischer Geist der Westfalen, sondern es war der Versuch, ihr altes, überliefertes Rechts- und Gerichtssystem vor ungewohnten und deshalb als systemwidrig empfundenen Zugriffen des Herrschers zu bewahren. Deshalb beließen es die Freigrafen auch nicht beim Ungehorsam, sondern fixierten ihre Rechte in Freigrafenkapiteln und Reformationen, auf die sie sich gelegentlich für ihre Gehorsamsverweigerung beriefen. Nicht selten boten sie an, nach den Regeln des alten Rechts vor einem Freigericht in Westfalen zu Recht stehen zu wollen. Die folgenden Überlegungen dienen der Erhellung der Reaktionen hansischer Seestädte6 auf die angedeuteten Neuerungen in der Sphäre des Königsgerichts.

II  Der Fall Glüsing gegen Rostock und Wismar als Vorspiel Zum ersten Mal wurde Unsicherheit, wie man sich gegenüber dem Neuen verhalten solle, in einer Anfrage der Älterleute und Kaufmannschaft der deutschen Hanse zu Brügge an die zu Lübeck versammelten Abgesandten der Hansestädte 5 Diestelkamp (Fn. 1), S. 88 ff. 6 Binnenländische Hansestädte wie Köln oder Dortmund waren dagegen schon früher in Verfahren vor dem Königsgericht verwickelt, was wohl mit ihrer engen Beziehung zum König zusammenhängt.

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vom 29. April 1402 deutlich.7 Die Hansen in Brügge hatten einen Brief von König Ruprecht erhalten, in dem er ihnen mitteilte, dass die Städte Rostock und Wismar auf Klage Johann Glüsings in die Reichsacht erklärt worden seien und Glüsing die Anleite auf die Güter der beiden Städte und ihrer Bürger erhalten habe. Eine ­solche Mitteilung König Ruprechts über Acht und Anleite gegen Rostock und Wismar hatte nicht nur der deutsche Kaufmann zu Brügge erhalten, sondern sie war auch an andere Adressaten des Ostseeraumes ergangen, wie entsprechende Mandate an den Herzog von Holstein-Rendsburg-Schleswig 8 und die Stadt Stralsund9 beweisen. Weshalb waren die um Rat Fragenden unsicher, wie sie sich verhalten sollten? Die Antwort des Lübecker Hansetages auf die Anfrage von der westlichen Peripherie des Hanseraumes, wie man sich in dieser sie nach eigener Angabe sehr belastenden Angelegenheit verhalten solle, ist leider nicht überliefert, so dass nicht explizit zu sagen ist, worauf sich die Unsicherheit bezog. Die Hansekaufleute in Brügge konnten nicht unsicher darüber sein, was das Königsgericht von ihnen erwartete, weil das klar und eindeutig aus den beiden ihnen ebenfalls übermittelten Urteilsbriefen hervorging.10 Die Ratlosigkeit der Hansekaufleute in Flandern resultierte also offenbar daraus, dass sie einen solchen Akt des Königs als Richter bisher so nicht gekannt hatten. In der Tat hatten die hansischen Seestädte und ihre Bewohner bis dahin die Königsgerichtsbarkeit nur sehr selten und lediglich im Zusammenhang mit politischen Streitigkeiten kennengelernt, die – jedenfalls nach der vorhandenen Überlieferung – schnell und ohne Achturteile erledigt worden waren.11 Weswegen die   7 Urkundenregesten zur Tätigkeit des deutschen Königs- und Hofgerichts bis 1451, hrsg. von Bernhard Diestelkamp (Sonderreihe der QFHG, künftig: URHG), Bd. 15: Die Zeit König Ruprechts 1400–1403, bearb. von Ute Rödel, 2009, Nr. 326.   8 URHG (Fn. 7), Bd. 15, Nr. 223 (1402 November 23).   9 URHG (Fn. 7), Bd. 15, Nr. 224 (1402 November 24). 10 URHG (Fn. 7), Bd. 15, Nr. 225 (1402 November 24): Achtbrief gegen Rostock und Wismar. 11 König Rudolf, URHG (Fn. 7), Bd. 3, Nr. 358 (1282 Mai 15), Nr. 391 (1282 November 9), Nr. 392 (1282 November 13), Nr. 396 (1282 November 24), Nr. 401 (1282 Dezember 7), Nr. 408 (1283 März 11), Nr. 409 (1283 März 27), Nr. 419 (nach 1283 März 11–Juni 23), Nr. 423 (vor 1283 Juli 2), Nr. 438 (1284 Juni 5), Nr. 634 (1291 Juni 3). König Adolf, URHG (Fn. 7), Bd. 4, Nr. 66 (1294 Januar 18), Nr. 86 (1295 Januar 9), Nr. 87 (1295 Januar 9), Nr. 88 (1295 Februar 2). König Abrecht I., URHG (Fn. 7), Bd. 4, Nr. 176 (1299 Januar 23), Nr. 216 (1299 November 17), Nr. 218 (1299 November 24), Nr. 231 (1300 Januar 18), Nr. 232 (1300 Januar 19), Nr. 233 (1300 Januar 19), Nr. 2780 (1300 August 29), Nr. 288 (1301 Juni 6), Nr. 303 (1302 Juli 29), Nr. 338 (1304 Juli 1), Nr. 377 (1307 Mai 4), Nr. 380 (1307 Juni 1), Nr. 387 (1308 Februar 21), Nr. 388 (1308 Februar 21), Nr. 448 (1310 Januar 7).

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vorpommersche Städtegruppe Greifswald, Stralsund, Anklam, Demmin, Tribsees und Loitz am 10. November 1323 in die Acht gekommen war12, ist nicht ersichtlich, aber in diesem Zusammenhang auch nur von geringen Interesse, weil es wegen dieser Acht offenbar nicht zu Weiterungen gekommen war, die die Hanse hätte irritieren können. Zum ersten Mal erging ein Achturteil im Zusammenhang mit einem Streit um Vermögen unter König Wenzel. Herzog Albrecht von Sachsen erwirkte 1384 die Reichsacht gegen Lübeck wegen der Güter des Gieselbert von der Neustadt.13 Aus dieser Acht wurde die Stadt im Frühjahr 1395 wieder entlassen,14 ohne dass es vorher deswegen im Hanseraum zu Beeinträchtigungen des Handels gekommen wäre. Gegenüber diesen wenigen Vorgängen besaß die Klage Johann Glüsings, eines Lübecker Bürgers, gegen seine Heimatstadt Lübeck und die Städte Wismar und Rostock einen anderen Charakter. Während sich der Kläger mit Lübeck schnell einigte, wodurch sich diese Klage erledigte,15 führte die hartnäckige Weigerung der Nachbarstädte Wismar und Rostock, sich dem Verfahren am Königshof zu stellen, dazu, dass Johann Glüsing gegen sie am 18. November 1402 vom Hofgericht König Wenzels ein Anleiteurteil16 über 10.000 fl. und wegen weiter andauernden Ungehorsams am 24. November 1402 ein Achturteil17 erwirken konnte.18

12 13 14 15 16 17 18

König Heinrich VII. URHG (Fn. 7), Bd. 4, Nr. 515 (1311 Mai 4), Nr. 589 (1313 Juni 10). König Karl IV. URHG (Fn. 7), Bd. 5, Nr. 465 (1342 Oktober 13), Bd. 6, Nr. 241, 242 (1350 März 29), Nr. 243, 244, 245, 246, 247, 248, 249 (1350 April 6), Nr. 305 (1350 Juli 19). Kaiser Karl IV. URHG (Fn. 7), Bd. 7, Nr. 281 (1357 August 16), Bd. 8, Nr. 174, 175 (1361 April 18), Nr. 206, 207, 211, 212 213 (1361 Juni 23), Bd. 9, Nr. 203 (1367 März 12), Nr. 237 (1367 Dezember 8), Nr. 280, 281 (1369 November 16), Nr. 284 (1369 Dezember  6), Nr.  310 (1370 Mai  20), Nr.  314 (1370 Juni  26), Nr.  358 (1370 Oktober  18), Nr. 398, 399 (1372 März 5+6). Kaiser Karl IV., URHG (Fn. 7), Bd. 10, Nr. 10, 11, 12 (1372 April 4), Nr. 105 (1373 März 1), Nr. 142 (1373 September 7), Nr. 183 (1374 März 23), Nr. 428 (1377 April 27), Nr. 452 (1377 Oktober 28). König Wenzel, URHG (Fn. 7), Bd. 11, Nr. 282 (1384). URHG (Fn. 7), Bd. 5, Nr. 59. URHG (Fn. 7), Bd. 11, Nr. 282 (1384). URHG (Fn. 7), Bd. 11, Nr. 297 (1385 März 23), Nr. 302 (1385 April 17), Bd. 13, Nr. 166 (1394 November 23). URHG (Fn. 7), Bd. 15, Nr. 221 (wohl 1402 um November 18). Zur Anleite: Friedrich Battenberg, Reichsacht und Anleite im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der königlichen Gerichtsbarkeit im Alten Reich, besonders im 14. und 15. Jahrhundert, 1986 (QFHG, Fn. 1, Bd. 18), S. 304 ff. URHG (Fn. 7), Bd. 15, Nr. 222–225. URHG (Fn. 7), Bd. 15, Nr. 220 (1402 November 18).

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Johann Glüsing klagte, weil Rostock und Wismar ihm auf einer Wasserstrasse des Reichs gewaltsam und rechtswidrig Güter weggenommen hätten.19 Das bestritten die Beklagten – allerdings erst in einem Güteverfahren vor Herzog Heinrich von Braunschweig-Lüneburg, den König Ruprecht damit beauftragt hatte, sich des Falles anzunehmen.20 Am Königsgericht hatten sie diese Gegenargumente nicht geltend machen können, weil sie sich dem Verfahren nicht gestellt hatten. Des­ wegen war dem Kläger die Anleite in ihre Güter erteilt und waren sie selbst in die Acht verurteilt worden. Solche Konflikte von Bürgern mit Seehansestädten waren offenbar bislang innerhansisch bereinigt worden, so dass die Ratlosigkeit der ­Hansekaufleute in Brügge aus der Konfrontation mit den ihnen bislang offenbar unbekannten Folgen von Urteilen eines Königsgerichtsverfahrens resultieren dürfte.21 Die pure Weigerung von Rostock und Wismar, sich der Klage Glüsings am Königsgericht zu stellen, spricht dafür, dass man in diesen beiden Städten meinte, in dieser Klage liege etwas Ungewöhnliches oder gar Unerhörtes. Erst vor dem von König Ruprecht zum Schiedsrichter ernannten Herzog Heinrich von Braunschweig-Lüneburg, also in einem gütlichen Verfahren, das sie gewohnt waren und das zudem in dem ihnen gut zugänglichen Dannenberg stattfand, brachten Rostock und Wismar ihre Verteidigungsargumente vor.22 Da Johann Glüsing aus Furcht vor Gewalttaten seiner Prozessgegner in Dannenberg nicht erschienen war, fällte dort Herzog Heinrich ein Urteil zu seinen Ungunsten. Auch mit diesem Spruch war der Konflikt jedoch nicht beendet, sondern schwelte weiter bis in die ersten Herrschaftsjahre König Sigismunds. Der Streit wurde erst im Jahr 1415 beigelegt. Am 1. Dezember 1415 konnte der von König Sigismund am 22. Juli 1415 damit beauftragte Markgraf Friedrich von Brandenburg23 den Konflikt so weit bereinigen, dass die Reichsacht aufgehoben werden konnte.24 Voraussetzung dafür war, dass die Städte Rostock und Wismar dem Johann Glüsing und seiner Ehefrau als Entschädigung – anstelle der 1402 von diesem geforderten und

19 URHG (Fn. 7), Bd. 15, Nr. 427 (vor 1403 November 19). 20 URHG (Fn. 7), Bd. 15, Nr. 428 (1403 November 19). 21 Zur innerhansischen Erledigung von Konflikten um „internes Kaufmannsrecht“: Albrecht Cordes, Jenseits des Lex mercatoria-Mythos, in: 100 Jahre Rechtswissenschaft in Frankfurt. Erfahrungen, Herausforderungen, Erwartungen, 2014, S. 383 ff., 391. 22 URHG (Fn. 7), Bd. 15, Nr. 428 (1403 November 19). 23 Adolph Friedrich Riedel, Codex Diplomaticus Brandenburgensis, 1838 ff., Bd. III/3, S. 40, Nr. 37. 24 Riedel (Fn. 23), Bd. III/3, S. 41, Nr. 38.

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am Hofgericht erwirkten Schadensersatzsumme von 10.000 fl.25 – eine Leibrente von 60 fl. verschrieben26.

III  Der Lübecker Verfassungskonflikt Obwohl dieser Konflikt also keineswegs schnell bereinigt worden war und die Ostseestädte, ja sogar den Deutschordenshochmeister in Preußen beschäftigt hatte,27 war dies doch nur ein mattes Vorspiel dessen, was sich sehr bald in Lübeck abspielen sollte.28 Von dem verwickelten Verlauf dieses Lübecker Verfassungskonfliktes können hier nur diejenigen Punkte herausgestellt werden, die für die vorliegende Fragestellung von Interesse sind.29 Die Stadt Lübeck war Anfang des 15.  Jahrhunderts überschuldet, so dass der patrizische Rat Abgaben erhöhen wollte, um die Zahlungsfähigkeit der Stadt zu sichern. Die daraus resultierenden Unruhen wurden für den Rat so bedrohlich, dass im Jahr 1408 von 23 Ratsherren 15, darunter vier Bürgermeister, aus der Stadt flohen.30 Die damit obsiegende Gemeinde änderte die Ratswahlordnung, so dass sich der Rat nicht mehr selbst durch Kooptation ergänzte, sondern auch Vertreter der Handwerkerschaft gewählt werden konnten. König Ruprecht bestätigte die neue Wahlordnung am 4. Juli 1408 unter der Bedingung, dass der neue Rat auf das Reich vereidigt werde.31 Dies verdankte der neue Rat seinem geschickten Lavieren. Während der alte 25 URHG (Fn. 7), Bd. 15, Nr. 220 (1402 November 18). 26 Hanserecesse. Die Recesse und andere Akten der Hansetage 1256–1430, 1870 ff., NeuDr. 1975, Bd. I/6, Nr. 216. 27 Glüsing hatte König Albrecht von Schweden als Herzog von Mecklenburg für sich gewinnen können (URHG, Fn. 7, Bd. 15, Nr. 369, 1403 Juli 2), so dass König Ruprecht schließlich den Herzog von Braunschweig-Lüneburg oder wahlweise den Hochmeister mit der Beilegung des Streites beauftragen wollte (URHG, Fn. 7, Bd. 15, Nr. 427, vor 1403 November  19). Wismar informierte den Hochmeister am 7. April 1404: URHG (Fn. 7), Bd. 16, Nr. 25. Die Parteien entschieden sich für den Welfen. 28 Zu dieser Lübecker Verfassungskrise: Philippe Dollinger, Die Hanse. Neu bearbeitet von Volker Henn und Nils Jörn, 2012, S. 373 ff. Angaben von Einzelstudien bei: Gerhard Fouquet, Geldgeschäfte im Auftrag des römischen Königs. Eberhard Windeck, Brügge, Lübeck und König Sigmund (1415–1417), in: ZHF 41, H. 3 (2014), S. 375– 399, 385, Anm. 62. 29 Ausführliche Darstellung des Verfahrensverlaufs in: Bericht König Ruprechts an Herzog Bernhard von Braunschweig-Lüneburg (von 1409 nach Juni 28 bis vor September 29): Hanserecesse (Fn. 26), Bd. I/5, S. 466, Nr. 597; aus der Sicht des alten Rates, Ende 1411: Codex diplomaticus Lubecensis, 1843 ff. (zitiert: UB Stadt Lübeck), Bd. V, S. 429, Nr. 388. 30 Dollinger (Fn. 28), S. 374. 31 1408 Juli 4: Joseph Chmel, Regesta chronologico-diplomatica Ruperti regis Romanorum, 1834, Nr. 2594.

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Rat dem neu gewählten König Ruprecht die Huldigung und die Zahlung der Reichssteuer verweigert und weiter zum abgesetzten König Wenzel gehalten hatte, holte der neue Rat beflissen beides nach und gewann damit König Ruprechts Huld und Gnade.32 Doch wendete sich das Blatt, nachdem der alte Rat den König davon hatte überzeugen können, dass er nicht allein die Schuld an der Verweigerung der Huldigung und insbesondere der Reichssteuerzahlung hatte. Dadurch erlangte er vom König Verzeihung,33 womit der Weg frei war für seine Klage am Hofgericht gegen den neuen Rat wegen der Beschlagnahme der Güter der geflohenen Ratsherren. Der vertriebene alte Rat verklagte den neuen Rat auch wegen des neuen Wahlsystems. Die vertriebenen Ratsmitglieder, die offenbar sowohl verwandtschaftlich als auch ökonomisch in den Hanseseestädten gut vernetzt waren, mobilisierten die Räte befreundeter Städte und aktivierten die Hanse gegen den neuen Rat.34 Am 28. Juni 1409 fällte der Hofrichter Engelhard von Weinsberg ein Urteil, das nunmehr gegen den neuen Rat ausfiel.35 In der lebhaften Korrespondenz unter den Hansestädten wurde immer wieder der große Schaden beschworen, den dieser innerlübische Zwist für den ganzen Hanseraum hervorrufen könne oder schon hervorrufe.36 Insbesondere wurde regelmäßig beklagt, dass der neue Rat sich nicht dem Hofgerichtsverfahren stelle. Damit riskiere er die Ächtung, wodurch der Hansehandel verunsichert werde. Zusätzlich irritierte die Hanse, dass Lübeck als anerkanntes Haupt der Hanse durch den Verfassungskonflikt zeitweilig funktionsunfähig geworden sei und seine traditionellen Leitungsfunktionen nicht wahrnehmen könne. Schließlich gab die Geldnot des Herrschers den Ausschlag, weil der neue Rat König Sigismund versprochene Zahlungen nicht leisten konnte.37 So musste der neue Rat im Mai 1416 nachgeben und den alten Rat in seine Rechte wieder einsetzen.38 In diesem lang dauernden Konflikt spielten der König und sein 32 1408 Juli 4: UB Stadt Lübeck (Fn. 29), Bd. V, S. 206, Nr. 204. 33 1409 Januar 21: UB Stadt Lübeck (Fn. 29), Bd. V, S. 749, Nr. 660. 34 Da auf den Nachweis der umfangreichen innerhansischen Korrespondenz im Einzelnen verzichtet werden muss, sei nur der Hamburger Hanserezess vom 20. Januar 1408 angeführt: Hanserecesse (Fn. 26), Bd. I/5, S. 418 Nr. 521. 35 UB Stadt Lübeck (Fn. 29), Bd. V, S. 267–276 Nr. 257. 36 An westfälische Städte, Hanserecesse (Fn. 26), Bd. I/5, Nr. 678 (1410 April 1); preußische Städte an Lübeck, Hanserecesse, Bd. I/5 Nr. 700 (1411 April 18); Riga teilt Reval und Dorpat mit, dass vier Schiffe vor der Weichsel genommen worden seien, Hanserecesse, Bd. I/5, Nr. 692, 693 (1411 April 18); der deutsche Kaufmann zu Brügge an den neuen Rat (1411 April 26); Dorpat rät Reval, die flämischen Schiffe nicht auslaufen zu lassen, Hanserecesse, Bd. I/5, Nr. 694. 37 Eingehend dazu Fouquet (Fn. 28), S. 285 ff. 38 Dollinger (Fn. 28), S. 376 f.

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Gericht unterschiedliche Rollen. Die in diesem Zusammenhang ausgesprochenen verschiedenen Achturteile hatten den Seehandel der Hanse von Flandern bis Livland tiefgreifend gestört.39

IV  Ungebräuchliche Ladungen vor das Königsgericht als Grund für die Einholung eines Gutachtens Dieses verstörende Erlebnis mag die Hanse dazu veranlasst haben, sich grundsätzliche Gedanken über ihr Verhältnis zur Königsgerichtsbarkeit zu machen.40 Der Zusammenhang ergibt sich zwar nicht ausdrücklich aus der Quelle, ist aber mit guten Gründen zu vermuten. Dem sich mit diesem Problem befassenden Rezess des Lübecker Hansetages vom 14. Mai 1419 liegt ein sechs handschriftliche Seiten umfassendes Rechtsgutachten zugrunde, das in einer in Stralsund liegenden Handschrift überliefert ist. Wer das Gutachten verfasst hat, sagt die Quelle nicht. Es müssen Juristen gewesen sein, wie sich aus den Allegationen des Gelehrten Rechtes ergibt. Ebenfalls bleibt unbekannt, wann es in Auftrag gegeben und wann es genau verfasst wurde. Einziger Anhaltspunkt ist die Angabe, es gehe um man­ date de keyser moghe gheven, alse he nu in den neghesten ver jaren vele gegheven hefft.41 Da die Gutachter geraume Zeit für die Erstellung dieses umfangreichen und sorgfältigen Textes benötigt haben müssen, dürfte mit den „letzten vier Jahren“ die Endphase des Lübecker Verfassungsstreits seit der Krönung König Sigismunds gemeint sein, in deren Verlauf der König als Richter in der Tat viele Mandate erlassen hatte.42 Die Aktivität muss vom neuen Rat ausgegangen sein, bevor er das Regiment wieder an den alten Rat hat zurückgeben müssen. 39 Am 17. April 1411 warnten die flandrischen Städte die Städte in Preußen, dass die Gemeine Kaufmannschaft Flandern wegen des Konfliktes nicht mehr über See besuchen könne, Archiwum Panstwowe Gdanzk 300, Stadt Danzig 59 Nr. 4, Städtebuch IV, Hanseatica S. 258. 40 Hanserecess zu Lübeck am 14. Mai 1419: Hanserecesse (Fn. 26), Bd. I/7, Recess S. 22–23, Nr. A. 51 und Beilage Gutachten S. 23–29, B. 52. 41 Wie Fn. 39, S. 23, Eingang des Recesses. 42 Schon vorher waren zahlreiche Mandate ergangen: Nürnberg, 1408 Juli 4 (UB Stadt Lübeck, Fn. 29, Bd. V, S. 210, Nr. 207); Heidelberg, 1408 Oktober 10 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 223, Nr. 222); Sachsenhausen, 1409 Januar 21 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 749, Nr. 660); Heidelberg, 1409 April 9 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 239, Nr. 240, 241); Heidelberg, 1408 Juni 28 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 755, Nr. 666, Hanserecesse [Fn. 26], Bd. I/8, S. 690, Nr. 1067, UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 267–276, Nr. 257); Heidelberg, 1409 Juli 1 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 277, Nr. 258); Heidelberg, 1409 August 19 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 287, Nr. 269); Heidelberg, 1409 September 2 (Regesta Historico Diplo-

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Im Lauf dieser letzten vier Jahre vor Beendigung des Konfliktes – also vor 1415 – waren Zweifel aufgekommen, ob de unwontliken ladinge der Räte, Bürger und Einwohner vor dat hilge Romische ryke ane vorvolghinge enes yewelken vor sinen eghen bynnenländischen richter zulässig seien. Anlass für die Einholung des Gutachtens und die Diskussion auf einem Hansetag waren also die nach Auffassung des neuen Rates gemäß Kaiserrecht und sächsischer Freiheit unwontliken la­ dinge der Räte, Bürger und Einwohner von Hansestädten vor das Heilige Römische Reich, die den Städten sehr geschadet hätten. Unwontlik können die Ladungen nicht im Sinne von „selten“ gewesen sein, weil gerade die große Zahl solcher Mandate beklagt wurde. Vielmehr dürfte unwontlik hier „ungewohnt“ im Sinne von „ungebräuchlich“ meinen, weil die Kläger sich an das Königsgericht gewandt hatten, bevor sie, wie bisher üblich, den innerstädtischen oder den innerhansischen Klageweg erschöpft hatten. Sowohl Glüsing als auch die vertriebenen patrizischen Ratsmitglieder Lübecks hatten nicht zuerst die städtischen Gerichte oder wegen deren Befangenheit wenigstens die Hanse um Beilegung des Streites bemüht, sondern waren unmittelbar an den Königshof geeilt und hatten den Herrscher und sein Gericht gegen die Städte mobilisiert. Sich dagegen nur schweigend zu verhalten, hatte sich als unpraktikabel und letztlich sogar als gefährlich erwiesen, weil dies Achturteile provozierte. Deswegen habe man über diese Frage ein Gutachten erstatten lassen, das jeder Ratssendebote seinem Rat vortragen solle, damit dieser darüber beraten könne, wie man dem Heiligen Römischen Reich das Recht angedeihen lasse, zu dem man in schuldigem Gehorsam nach Recht zu tun verpflichtet sei, ohne gegen die alte Freiheit, das Recht und die alte löbliche Gewohnheit zu verstoßen.



matica Ordinis S. Mariae Theutonicorum 1198–1525, 1948 ff., zitiert: Regesta Ordinis, Bd. I/1, S. 266, Nr. 1127, 2); Heidelberg, 1409 November 21 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S.  313, Nr.  278, 279); Heidelberg, 1409 Januar  20 (UB Stadt Lübeck, Bd.  V, S.  332, Nr. 298); Heidelberg, 1409 Januar 21 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 336, Nr. 299, S. 752, Nr.  672, S.  368, Nr.  338); Heidelberg, 1410 Januar  23 (Hanserecesse, Bd.  I/5, S.  534, Nr. 682); Heidelberg, 1410 März 2 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 341–327, Nr. 308). Mandate König Sigismunds: Ofen, 1412 Februar 12 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 437, Nr. 398, S. 439, Nr. 400, 401); Dios-Gyor, 1412 Mai 5 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 456, Nr. 413); Ofen, 1412 August 29 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 562, Nr. 420, Hanserecesse, Bd. I/6, S. 98, Nr. 112); Konstanz, 1415 Juli 15 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 700); Konstanz, 1415 Juli 18 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 575, Nr. 532, S. 579, Nr. 532, 533, S. 580, Nr. 534, S. 581, Nr. 535, S. 582, Nr. 536); Leeds, 1416 Juni 30 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, Nr. 586 S. 656); Konstanz, 1417 Juli 15 (UB Stadt Lübeck, Bd. V, S. 700, Nr. 618); Blindenburg, 1419 Mai 1 (UB Stadt Lübeck, Bd. VI, S. 133, Nr. 89).

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V  Der Rezess als Resultat eines Rechtsgutachtens Das Gutachten der Rechtsgelehrten sollte den Lübeckern bestätigen, dass sie im Recht waren, als sie sich dem Königsgericht verweigerten. Nach Vorlage des Gutachtens hatten die zu Lübeck versammelten Ratssendeboten als das Beste und Nützlichste beschlossen, dass jeder Rat oder Einwohner einer Hansestadt, der vor das Heilige Reich oder das Hofgericht geladen werde, sich gegenüber dem Kläger in einer beweisbaren Art erbieten solle, ihm auf sächsischer Erde zu Recht stehen zu wollen, wie es sich nach Recht gebühre. Wenn dann der Kläger trotzdem die Ladung weiter verfolge und Urteil und Achtspruch erwirke, dann sollten die Städte dies in ihrem Gebiet für unwirksam halten. Bekomme die Stadt, die so reagiere, Probleme mit dem Heiligen Reich mit Acht oder anderen Beschwerungen, so sollten die anderen Städte dies für unwirksam halten und die betroffene Stadt mit ihren Einwohnern als nicht geächtet ansehen und weiter wie bisher mit ihnen handeln. Wenn dann weitere Mandate, etwa eine Anleite vom Kaiser, kämen, die dem Gemeinen Gut einer bestimmten Stadt schadeten, dann solle diese Stadt mit anderen Städten beraten, ob sie den Mandaten folgen solle. Kämen dann noch größere Beschwerungen wie die Reichsacht, sollten sich die Städte gegen solche Beschwerungen gegenseitig mit Rat und Tat helfen und alles gemeinsam tragen. In diesen Grundsatzbeschluss wurde am Ende das Rechtsgutachten gewisser­ maßen als Begründung integriert. Der Text des Rezesses schließt mit der Bemerkung, dass man auch anders handeln könne, wenn ein Hoftag des Reiches und damit ein Hofgericht, so wie es sein solle (nämlich auf sächsischer Erde), stattfinde. Wenn es einen solchen ordnungsgemäßen Hoftag jedoch nicht gebe, solle man tun, was man vermöge.

VI  Reaktion auf den Rezess Auf diesen Hanserezess sollten die in Lübeck vertretenen Städte bis zum 15. August 1419 nach Lübeck unter dem jeweiligen Stadtsiegel antworten. Doch scheint das Interesse an den in dem Rezess verhandelten Problemen gesunken zu sein, denn als Reaktion ist nur ein Schreiben der Stadt Stade überliefert,43 die ein Eigen­ interesse an der diskutierten Problemlösung hatte, weil sie selbst in ein Verfahren vor König Sigismund verwickelt war.44 Offenbar hatte sich mittlerweile die Situa43 1419 nach Mai 14, Hanserecesse (Fn. 26), Bd. I/7, S. 29, Nr. 53. 44 1415 Mai 3, Ladung der Stadt Stade auf Klage des Reyner von Lerbeke (StA Stade, Dep. 8. StadtA Stade Urk. Nr. 23); 1417 Februar 22, Ladung der Stadt Stade wegen Klage der

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tion gegenüber der Lage, die zur Anforderung und Erstattung des Gutachtens geführt hatte, grundlegend geändert. Die über den neuen Rat und die Stadt Lübeck verhängte Reichsacht hatte König Sigismnnd schon am 18. Juli 1415 aufgehoben.45 Der alte Rat hatte wieder das Regiment fest in der Hand, so dass er kein Interesse an dem Ergebnis des vom neuen Rat eingeholten Rechtsrates hatte. Hamburg, das von Lüneburg wegen der Beeinträchtigung seiner Rechte auf und an der Elbe am Königsgericht verklagt worden war, ließ sich von seinen Stadtherren, den Holsteinern, vom Hofgericht evozieren.46 Danzig, gegen das mehrere Verfahren am Königshof anhängig waren,47 ging einen vergleichbaren Weg, indem es als eine Stadt des Deutschen Ordens beanspruchte, nur der päpstlichen Gerichtsbarkeit unterworfen zu sein. Als die Danziger auf dem nächsten Hansetag in Wordingburg beklagten, dass sie von König Sigismund geächtet worden seien, Witwe Werners von Tocken, Bürgers dieser Stadt (StA Stade, Dep. 8 StadtA Stade, Urk. Nr. 24); 1417 Mai 1, 1418 Anfang, Urteil zugunsten Margarethes (Deperditum, erschlossen aus 1418 April 21); 1419 Januar 29, Achturteil in der Sache Margarethes von Tocken (StA Stade, Dep. 8 StadtA Stade Urk. Nr. 27); 1419 Januar 30, Mitteilung an Lüneburg (StadtA Lüneburg, Lib. Mem. AB 6´, fol. 44). 45 Hanserecesse (Fn. 26), Bd. I/6, Nr. 202. 46 1417 Februar 9, Mandat (Regesta Imperii, Bd. XI/1, Nr. 2064); 1417 Juni 28, Verbotsmandat (Regesta Imperii, Bd. XI/1, Nr. 2425), 1419 März 12; Intervention des Herzogs Heinrich von Schleswig-Holstein und des Grafen Heinrich von Holstein wegen Unzuständigkeit des Hofgerichts (StA Magdeburg, Stolberg-Wernigerode I Anhang J, Nr. 2); 1419 April 28, Ernennung Konrads von Weinsberg zum Prokurator König Sigismunds in der Klage gegen Hamburg, Rostock und Wismar wegen Untreue (HHStA Wien Reichsregister G, fol. 44). 47 1417 Januar 5, Klage des Bischofs von Leslau wegen des bischöflichen Hauses zu Danzig (Regesta Ordinis, Fn. 42, Bd. I/1, Nr. 2294); 1419 Januar 21, Beschwerde beim Papst, weil das Achturteil König Sigismunds von 1416 wegen des Danziger Aufruhrs unzulässig gewesen sei (Regesta Ordinis, Bd. I/1, Nr. 2889); der Hochmeister an die Hansestädte Mitteilung der Acht (Geh.StA Berlin OF. 10, Nr. 341 Archivregest); 1419 Februar 9, Aufforderung des Hochmeisters an genannte Ostsseehansestädte, die gegen Danzig ausgesprochene Acht nicht zu befolgen, weil das Ordensgebiet nur der Jurisdiktion des Papstes unterstehe (Geh.StA Berlin OF 10, Nr. 341, Archivregest); 1419 Mai 20, Danzig beurkundet diesen Protest (Regesta Ordinis, Bd. II, Nr. 1955); 1419 Mai 21, der Hochmeister und andere Gebietiger des Deutschen Ordens protestieren bei König Sigismund gegen die Ladung vor sein Gericht (Regesta Ordinis, Bd. II, Nr. 1956; Transumierung der Urkunden von 1419 Mai 20 und 21 durch einen Vertreter des Hochmeisters und der Stadt Danzig (Regesta Ordinis, Bd. II, Nr. 1964); 1419 Juni 26, der Hochmeister in derselben Sache an den Ordensprokurator (Regesta Ordins, Bd. II, Nr. 2987); 1419 Juni 29, Hanserezess zum Fall Danzig (Hanserecesse, Fn. 26, Bd. I/7, Nr. 86, 1+2); 1419 September 16 und 27, der Rat von Alt-Stettin an den Hochmeister (Regesta Ordinis, Bd. I/1, Nr. 3028, 3030); 1419 nach September 27, der Hochmeister in der Sache an die Hansestädte (Hanserecesse, Fn. 26, Bd. I/7, Nr. 84).

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o­ bwohl sie durch einen (rechtskundigen) Doktor der Theologie48 eine Inhibition des Papstes hätten vorlegen lassen, konnte der Hansetag ihnen keinen Rat geben, der auf der am 14. Mai 1419 beschlossenen Lösung basierte.49 Selbst bei extensivster Interpretation konnte man nicht behaupten, dass Danzig und sein Umland auf sächsischer Erde lägen. Stattdessen verwiesen die in Wordingburg vertretenen Ratssendeboten (trotzig oder resigniert?) nur darauf, dass auch gegen Lübeck, Bremen und Stade schon je drei Achturteile ergangen seien und Rostock und Wismar schon dreimal einen (rechtskundigen) papen zum Hofrichter gesandt hätten, offenbar genauso ergebnislos wie die Danziger. Stattdessen erboten sie sich, beim Hochmeister zugunsten Danzigs zu intervenieren. Sie vertrauten also mehr auf eine politische Lösung. Das war auch deshalb geboten, weil mittlerweile die Bindung des Deutschordensstaates zum Reich gelockert war, nicht zuletzt auch durch solche prozessualen Manöver. Das Hofgericht akzeptierte die von der Hanse vertretene Rechtsmeinung nicht. Jedenfalls ist kein Fall bekannt, der nach den geschilderten Regeln behandelt worden wäre. Die Delegation vom Hofgericht an Richterkommissare, die in der Region der Parteien beheimatet waren, kann nicht als Ausführung der in Lübeck geltend gemachten Rechtsvorstellungen gelten. Die Beauftragung von Richterkommissaren in der Region der Parteien war schon seit der Mitte des 14. Jahrhunderts gängige Praxis.50

VII  Der Inhalt des Gutachtens Vorab erörtert das umfangreiche Gutachten51 unter der Fragestellung, wo de achte unkreftich werd geholden, alle Verfahrensschritte, die ein Kläger nach Meinung der Gutachter gehen müsse, der ein Achturteil in einer Stadt vollstrecken wolle. Dies war die Fallkonstellation, die die Hansen am ärgsten betroffen hatte, wenn nämlich der Geächete und sein Vermögen nach der Ächtung sofort und unmittelbar in Anspruch genommen wurden.52 Komme ein Kläger in eine Stadt, heißt es in dem Gutachten, und lege dem Rat sine breve – also seine Achtbriefe – vor, so solle der 48 Theologen wurden damals auch im Kanonischen Recht unterrichtet und waren daher als Prokuratoren begehrt, weil sie die Methoden des Gelehrten Rechts für ihre Mandanten nutzen konnten, wie auch die folgende Bemerkung über die Entsendung ihrer papen durch Rostock und Wismar an das Hofgericht zeigt. 49 Hansercesse (Fn. 26), Bd. I/7, Nr. 86, 1+2. 50 Diestelkamp (Fn. 1), S. 20 ff. 51 Hanserecesse (Fn. 26), Bd. I/7, Nr. 52, S. 23–29. 52 Zur Wirkung der Acht: Battenberg, Reichsacht (Fn. 16), S. 349 ff., 370 ff.

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Rat ihn empfangen und dem Kläger antworten, dass er ihm gegen seinen Widerpart Recht geben wolle, wenn er dies in seinem Gebiet fordere. Erkläre sich der Kläger vor einem Notar damit einverstanden, müsse er folgende Verfahrensschritte einhalten. Wenn der Geächtete oder sein Gut in die Stadt komme, dürfe der Kläger den Geächteten oder sein Gut nach Recht bekümmern. Dazu solle man das Gut verwahren. Falls der Kläger nicht bis zum Ende des Verfahrens warten könne, solle er einen Bevollmächtigten ernennen. Komme der bekümmerte Mann oder sein Prokurator zum Gericht, um seine Person oder sein Gut zu entsetzen, müsse der Kläger dem Gericht seinen Achtbrief vorlegen, den er vom Reich habe, damit man diesen lichte, also eindeutig oder ordnungsgemäß finde. Wolle der Beklagte sich oder sein Gut schützen, indem er sich mit Recht gegen den Achtbrief wehre, so frage er danach, wo man einen Sachsen mit Recht verklagen solle. Darauf antworte man: Vor seinem Richter auf sächsischer Erde. Werde ihm dort das Recht verweigert, so müsse der Kläger dies beweisen. Deshalb hätte er ihn verklagen müssen vor dem Reich oder des Reichs beauftragtem Richter auf sächsischer Erde. Sei das Recht gegen ihn außerhalb sächsischer Erde gefunden worden, so sei das unwirksam. Darauf sei zu urteilen, dass dann der Geächtete und sein Gut unbekümmert bleiben müssten. Auch wenn der König Ladung und ­Urteile auf sächsischer Erde gegeben habe, hätte der Kläger doch seine Klage zunächst vor dem eigenen Richter des Beklagten verfolgen müssen. Der Kläger müsse daher zu dem Achtbrief beweisen, dass er den Beklagten vor seinem eigentlichen Richter verklagt und dieser ihm das Recht verweigert habe. Könne er dies nicht, so sei der Beklagte zu nichts verpflichtet. Wenn darüber der König zornig werden sollte, müssten ihm die Gemeinden der Städte die eben geschilderten ­Urteile übermitteln. Dieser Teil des Gutachtens war gewissermaßen das Kondensat der Überlegungen, die die Gutachter zu den Problemen aller denkbaren Fallkonstellationen in 16 Artikeln angestellt hatten. Danach bezieht dieses Resümee des Gutachtens Stellung in der streitigen Frage, ob ein Achturteil dem Kläger gegen den Beklagten ein unmittelbares Zugriffsrecht auf die Person des Geächteten und dessen Güter gebe oder ob es dazu eines weiteren gerichtlichen Verfahrens, etwa eines Anleiteverfahrens, bedürfe.53 Die Antwort der Gutachter ist eindeutig: Der Kläger müsse zur Pfändung der Güter eines Geächteten das Gericht, in dem die Pfändung vorgenommen werden solle, bemühen. Damit konnte dem Unwesen gesteuert werden, dass sich jedermann jederzeit und überall ohne Vorwarnung unter Berufung auf ein Achturteil der Güter eines Geächteten oder von dessen Mitbürgern bemächtigte. Nicht zuletzt schloss dieses Verfahren auch aus, dass jemand Schiffe eines Geächteten oder von Bürgern einer geächteten Stadt auf 53 Battenberg, Reichsacht (Fn. 16), S. 386 ff.

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hoher See einnahm und sie sowie die transportierten Güter im nächsten Hafen verkaufte, wie es in den Quellen bezeugt ist. In einem solchen Verfahren konnte das angerufene Stadtgericht das Achturteil des Reichshofgerichts auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüfen. Ein zu überprüfendes Achturteil solle nämlich nur dann als rechtmäßig anerkannt werden, wenn der Kläger zuvor den Beklagten an dessen eigentlichem Gericht verklagt gehabt habe und ihm dort das Recht verweigert worden sei. Aber selbst dann wäre das Achturteil nur wirksam, wenn das Gericht des Königs, bei dem es erwirkt worden sei, auf sächsischer Erde getagt habe. Diese Bedingungen brachten alle Verfahren am Königsgericht faktisch wieder in den Hansebereich zurück. Der König und sein Gericht hielten sich nur sehr selten auf sächsischer Erde auf, so dass nach dieser Auffassung die wenigsten Verfahren gegen die westlichen Seehansestädte am Reichshofgericht rechtmäßig gewesen wären. Die Ladungen, Mandate und Urteile sowohl im Verfahren Glüsings gegen Rostock und Wismar54 als auch im Lübecker Verfassungskonflikt55 waren an Orten weit vom Hansebereich entfernt gefällt worden, so dass sich die verklagten Hansestädte und ihre Bürger nach dieser Rechtsauffassung nicht auf einen solchen Hofgerichtsprozess einlassen mussten. Ebenfalls entspreche es geschriebenem Recht, doziert der dritte Artikel, dass man niemand vor das Reich laden dürfe, wenn der zuständige Richter nicht das Recht verweigert habe. Geschehe dies, so solle der Kläger den Bischof anrufen, damit dieser den Richter anhalte, das Recht zu gewähren. Aber selbst dann, wenn der Richter dem nicht nachkomme, dürfe der Kläger den Beklagten nicht vor das Reich laden, weil dem nach dem geschriebenen Recht die sächsische Freiheit entgegenstehe, dass man einen Sachsen selbst dann nicht nach außerhalb sächsischer Erde laden dürfe. Das sage auch die Glosse, auf die mit einem Merke hingewiesen wird: Die Sachsen müssten nicht zum Königshof kommen, wenn der König nicht auf sächsischer Erde weile. Die Sachsen seien ebenso gefreit wie Witwen und Waisen, so dass auch auf sie deren Begünstigungen anzuwenden seien. In Artikel 4 wechselt das Gutachten von der persönlichen Perspektive zu der einer betroffenen Stadt. Eine auf sächsischer Erde gelegene Stadt dürfe man auch dann nicht vor ein Gericht, das außerhalb sächsischer Erde tage, laden, wenn sie keyservrig sei. Sie habe dieselbe Freiheit wie die anderen Städte auf sächsischer Erde. Diese Freiheit habe sie nicht dadurch verloren, dass sie dem Reich unterstellt wurde, weil man niemandem zu seinem Schaden wenden dürfe, was ihn begünstige. Also nicht die Zuständigkeit des Königsgerichts für alle Reichsstände sollte maßgebend sein, sondern die alte sächsische Freiheit. Damit wird Lübecks 54 S. o. Fn. 17–20, 22. 55 S. o. Fn. 42.

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besondere Situation angesprochen, zwar auf sächsischem Boden gegründet worden, später aber zur Reichsstadt erhoben worden zu sein. Es ist nicht die Aufgabe des Rechtshistorikers, den Anspruch Lübecks, auf sächsischer Erde gegründet worden zu sein, zu hinterfragen. Es genügt festzuhalten, dass die Gutachter glaubten, Lübeck könne dies mit Aussicht auf Glaubwürdigkeit behaupten. Da zu dieser Zeit von den Seehansestädten nur Lübeck die Reichsunmittelbarkeit beanspruchen konnte, wird erneut der Zusammenhang des Hanserezesses und des Gutachtens mit dem Lübecker Verfassungsstreit vom Anfang des 15. Jahrhunderts deutlich. Wo also könne einem Kläger Recht widerfahren, fragt Artikel 5, wenn er einen Sachsen nicht nach außerhalb sächsischer Erde vor das Reich laden dürfe und der zuständige Richter ihm kein Recht gewähren wolle und dazu auch vom Bischof nicht bewogen werden könne und man eine kaiserfreie Stadt nicht nach außerhalb sächsischer Erde vor das Reich laden dürfe, weil sie auf sächsischer Erde keinen Herrn habe? Dazu sage der weitere Inhalt des Artikels über die Witwen, dass der Kläger dann zum Reich gehen und sich dort einen Richter auf sächsischer Erde geben lassen solle, wenn die Stadt nicht einen solchen Richter von des Reiches wegen in ihren Mauern habe. Auf diese Weise werde den Sachsen ihre Freiheit bewahrt und dem Kläger sein Recht gewährt. Derjenige, der jemanden vor das Reich lade, ohne dass er ihn vorher vor seinen properen Richter geladen habe, wie es vorher erörtert worden sei, solle nach Kaiserrecht dieselbe Strafe erleiden wie der Richter, der das Recht verweigert habe, wird in Artikel 6 vorgetragen. Diese Strafe ergebe sich nach Artikel 7 aus dem Kaiserrecht, wozu das Gutachten konkrete Stellen allegiert. Artikel 8 zieht aus diesen Überlegungen die Folgerung, dass die Ladungen und darauf ergehenden Mandate nicht gelten, wenn einer vor das Reich geladen werde, ohne vorher vor seinen ordentlichen Richter geladen zu sein, weil sie dem Gemeinen Recht widersprächen. Diesen Gedanken führt Artikel 9 fort mit der Überlegung, dass man niemanden vor dem Reich verklagen oder ihn laden solle, wenn ihm nicht ein ordentlicher Richter das Recht verweigert habe. Und wenn das Recht etwas verbiete, dann sei dies nicht nur unnütz, sondern das solle man sogar als ungetan und ungeschehen behandeln. Daraus ergebe sich, dass alle Urteile und Achtsprüche, die auf solche Ladungen ergangen seien, unwirksam und unnütz seien. So möge man binnen Landes urteilen, wenn der Kläger einen solchen Achtspruch vollstrecken wolle. In Artikel 10 lehnen es die Gutachter ab, dass der Rat einer Stadt einem gegen das Gemeine Recht verstoßenden Mandat gehorche. Es könne nämlich sein, dass solche Mandate ohne Wissen des Königs ergangen seien. Selbst wenn sie jedoch mit seinem Wissen erlassen worden seien, sei es möglich, dass er dies tun musste

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und es ihm deshalb lieber wäre, wenn man ihm nicht gehorche. Deshalb hätten die Kaiser den Untertanen des Reiches aufgegeben, ihm solche unrechten Mandate unter Angabe der Gründe zurückzusenden. Wenn also ein König einer Stadt ein unrechtes Mandat sende und die Stadt dieses befolge, so könne nach Artikel 11 des Gutachtens die Stadt den König oder dieser die Stadt strafen, weil das Recht des Reiches verlange, solche Mandate nicht zu befolgen. Die Stadt dürfe allerdings den König nicht strafen, weil dieser zu beschäftigt sei, um immer gewährleisten zu können, dass alles, was er tue, redlich sei. Der König bleibt also aus rein pragmatischen Gründen straffrei, nicht etwa weil er als Herrscher oder als oberster Richter unangreifbar über den Rechtsunterworfenen stehe. Deshalb sei es nicht des Königs sondern der Stadt Schuld, wenn sie einem unrechten Mandat gehorche. Artikel 12 widmet sich dem Problem, was geschehen solle, wenn ein Sachse um Geld oder Erbe vor das Reich geladen werde, weil dem Kläger von dem zuständigen Richter kein Recht gegeben worden sei und er darüber ein Zeugnis des Bischofs beibringe, so dass der König ihm rechtsgemäß eine Ladung gebe und darauf folgend ein Urteil gewähre, dass der Beklagte dem Kläger eine bestimmte Geldsumme schulde und dieser sie in festgelegter Frist zahlen oder das Gut räumen müsse. Wenn der Schuldner dann ungehorsam werde, dann dürfe der König ihn deswegen weder nach Sachsenrecht noch nach Kaiserrecht verurteilen und auch nicht in die Acht tun. Denn die Reichsacht sei des Reiches Verfestung. Niemanden dürfe man jedoch wegen Geldschuld oder Erbe verfesten. Wie könne man aber dann einem solchen Kläger zu seinem Recht verhelfen? Bei Geldschuld könne er den Verurteilten pfänden. Gehe es um Güter, so solle man ihn in das Gut einweisen. Um den Ratsherren, für die das Gutachten bestimmt war, die Vorzüge der vorgeschlagenen Lösung vor Augen zu führen, benennen die Gutachter in Artikel 13 die Vorteile, die eine Stadt habe, wenn sie dem Reich ungehorsam sei wegen Geldschuld und wenn der Stadt und ihren Einwohnern vom Reich die Pfändung ­erlaubt werde, nicht aber die Acht. Jedermann dürfe weiter mit dieser Stadt ­Gemeinschaft haben, ohne bußfällig zu werden. Zudem dürfe nur der Kläger oder sein Prokurator und niemand anderes sein Recht fordern, wenn man die Pfändung erlaube. Und dieser müsse dann die Pfänder rechtsgemäß zur Minderung seiner Schuld veräußern. Weiterhin könne die Stadt, der das Reich die Pfändung erlaube, vor Gericht klagen, so dass man ihr antworten müsse. Dieselbe Stadt könne auch richten, wenn sie selbst ein entsprechendes Gericht habe. Auch verliere sie nicht nach Jahr und Tag Lehen und Erbe, was der Fall wäre, wenn sie ordnungsgemäß in die Acht komme. Zwischen der einen und der anderen Lösung bestehe also ein großer Unterschied. Und weil man nach jedem Recht gegen den

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Ungehorsamen mit der leichtesten Poen vorgehen solle, dürfe man niemanden nur wegen Schuld etc. verfesten oder in die Acht tun. Wenn ein Mann mit Achtbriefen in eine Stadt komme und Forderungen an Bürger der Stadt stelle, die sich in der Acht befänden, obwohl nicht so verfahren worden sei mit der Ladung, wie vorher gesagt wurde, dem solle man nach Artikel 14 das Recht gewähren. Der Bürger könne dann verlangen, dass der Kläger sowohl die Ladungen als auch die Urteile und den Achtbrief vorlege. Zeige sich dabei, dass er nicht so vorgegangen sei wie vorher gefordert, so solle man den Bürger freisprechen. Wenn der Kläger dann das Recht schelte binnen Landes, so gewähre der Richter es ihm. Schelte er es aber vor dem König, dann verfolge er die gescholtene Sache, sobald der König auf sächsischer Erde weile. Artikel 15 befasst sich mit der Fallgestaltung, dass ein Kläger, dem seine Briefe für unwirksam erklärt worden seien, sich an den König wende und dieser deswegen dem Richter zürne. Dann solle sich der Richter zu Recht erbieten in seinem Land. Dort werde man nach sächsischer Freiheit aber auch nach Kaiserrecht finden, dass er recht gerichtet habe. Oder man halte die Verfolgung der Mandate zurück und schreibe dem König über die Unredlichkeit der Mandate. Vielleicht lasse er es sich genügen, wenn er vernehme, dass man die Unredlichkeit erkenne. Nach dem Schlussartikel 16 solle ein jeder Richter ebenso handeln, wenn die Ladung redlich ergangen und jedoch unter gebrek sei, weil die Zeit zwischen dem Urteil und der Acht zu kurz sei. Das gelte auch, wenn zwar die Zeit lang genug sei, die Partei es aber nicht habe wissen und deshalb nach Recht nicht habe schelten können. Ebenso sei es, wenn die Partei es erfahre und rechtgemäß schelten könne, aber die Zeit zwischen Kenntnis der Partei und der Acht zu kurz sei, so dass die Partei nicht binnen der Frist habe schelten können. Nach sächsischem Recht betrage die Frist nach der Kenntnisnahme vierzehn Nächte, nach der man pfänden, aber nicht ächten dürfe. Nach Kaiserrecht betrage die Frist vier Monate nach der Kenntnisnahme. Wenn derjenige, der gewonnen habe, auf den letzten Tag sein Urteil verschweige, mit dem habe der Richter keine Geduld, weil das Recht es nicht wolle.

VIII  Mit neuen Methoden alte Positionen festigen Das Gutachten basiert, obwohl die Gutachter des Gelehrten Rechts kundig sind, vollständig auf dem System des einstufigen Gerichts mit seiner Urteilsfindung aus dem Rechtswissen und der Rechtserfahrung der Laien des Urteilergremiums. Das methodische Vorgehen des Gutachtens ist dem alten System verhaftet. Die ­Gutachter benutzen nicht die klassische Form eines gelehrten Rechtsgutachtens,

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sondern arbeiten sich in der Form von Fragen zu Antworten und von da zu weiteren Fragen vor, so wie ein Fall im einstufigen Gericht erörtert werden und von einer Entscheidung zur nächsten getrieben werden musste. Die gefundenen Antworten werden am Ende56 deshalb konsequent als desse ordele de vorspraken gevun­ den bezeichnet. Auch inhaltlich dienen die gefundenen Urteile des Gutachtens der Sicherung des Verfahrens im einstufigen Gerichtssystem. Artikel 1 behandelt die Schelte eines Urteils an den König, nicht dagegen die Appellation nach Gelehrtem Recht. Prozessual hat der König in diesem System keine übergeordnete Stellung, die es ihm erlauben würde, autoritativ das Urteil eines sächsischen Gerichts abzuändern. Seine Position als Richter ist gewissermaßen der des städtischen Gerichts gleichrangig. Das zeigt sich besonders deutlich in Artikel 11. Darin wird den Fall erörtert, dass der König einer Stadt ein rechtswidriges Mandat schicke und diese es befolge. Dann könne sowohl die Stadt den König wegen dieser Rechtswidrigkeit strafen wie umgekehrt der König auch die Stadt, weil diese sein rechtswidriges Mandat befolgt habe. Diese scheinbare Gleichrangigkeit lösen die Gutachter dann nur deswegen zugunsten des Königs auf, weil dieser zu beschäftigt sei, um gewährleisten zu können, dass an seinem Hof alles immer rechtsgemäß vor sich gehe. Deshalb müsse der König die Stadt bestrafen, wenn sie ein rechtswidriges Mandat befolgt habe, während er für den Erlass des rechtswidrigen Mandats straffrei bleibe. Diese Schlussfolgerung leiten die Gutachter ab aus dem Satz wante dat recht des rykes heft de here gegeven, da man sulke mandate nicht vorvolgen schal. Der Dreh- und Angelpunkt der Argumentation des Gutachtens, dass ein Sachse nur auf sächsischer Erde verklagt werden dürfe, ist nur sinnvoll im System des einstufigen Gerichts, weil dadurch gewährleistet werden sollte, genügend Urteiler zu finden, die Rechtserfahrung und Rechtswissen im heimischen Recht besitzen. Für Gerichte, bei denen Juristen nach dem Gelehrten Recht das Urteil sprachen, war dieser Grundsatz dysfunktional. Deshalb spielte er folgerichtig später auch keine Rolle mehr. Als sich das Reichskammergericht als Appellationsinstanz durchgesetzt hatte, kamen aus Lübeck im Gegensatz zu Holstein, wo sie zunächst aus anderen Gründen fehlten, sofort regelmäßig Verfahren, vorwiegend Appellationen, nach dort,57 ohne dass der Grundsatz, dass auch das Gericht des Königs über einen Sachsen nur auf sächsischem Boden urteilen dürfe, noch eine Rolle spielte. Entgegen diesem inhaltlich ganz im alten System wurzelnden Gutachten verstanden es die Gutachter durchaus, in moderner Weise rechtsgelehrt zu argumen56 Diestelkamp (Fn. 1), S. 24. 57 Bernhard Diestelkamp, Die Reichsgerichtsbarkeit in den Ostseeländern, in: Die Integration des südlichen Ostseeeraumes in das Alte Reich (QFHG, Bd. 35), 2000, S. 13 ff., 34 f.

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tieren. Den zentralen Punkt der Argumentation, dass man ein Urteil aus Sachsen nur dann mit der Schelte an das Königsgericht bringen dürfe, wenn dieses auf sächsischer Erde tage, leiten die Gutachter im 6. Artikel aus Ssp.LDr. II. 1258 ab, also einem Text, der damals normative Geltung beanspruchte. Eine solche Berufung der Argumentation auf einen als normativ geltenden Text entspricht der rechtsgelehrten Urteilsfindung. Auf den Sachsenspiegel als Rechtsgrundlage verweisen die Gutachter auch noch in Artikel  12 zur Fundierung zweier Nebenpunkte, die die Verfestung betreffen. Um zu beweisen, dass die vorgeschlagene Lösung vorteilhafter ist, als wenn man Acht und Verfestung riskiert, berufen sie sich auf Ssp.LDr. III. 16 § 3, wo es heißt, dass man einem Verfesteten im Gericht nicht antworten müsse, und Ssp.LDr. I. 68 § 1, dass man nur verfesten dürfe bei Klagen um Leib und Leben, nicht aber um Geldschuld. Zusätzlich zum Text des Sachsenspiegels beziehen sie sich dafür auch auf die Sachsenspiegelglosse, jedoch ohne nähere Spezifizierung. Auch sonst beschränken sich die Gutachter bei der Verwendung des Gelehrten Rechts weitgehend darauf, normative Quellen zu allegieren. So lösen sie in Artikel 2 das Problem, was geschehen könne und solle, wenn der König nicht in absehbarer Zeit zur sächsischen Erde komme, mit einer Analogie zum Gelehrten Recht. Dann solle er einen Richterkommissar ernennen, der über den Fall auf sächsischer Erde richten könne. Die Gutachter begründen dies mit dem Hinweis auf L. unica C. 3. 14, wonach Witwen, Waisen und kranke Menschen in der Weise gefreit seien, dass man sie nicht nach außerhalb ihrer Provinzen laden dürfe. Die Sachsen seien ebenso gefreit wie der privilegierte Personenkreis dieser Norm. Die Rechtsgelehrten Sinus59 und Bartolus60 hätten dazu ausgeführt, dass man diesen Personen ihr Privileg, ihre Sachen nur innerhalb des Landes behandeln lassen zu müssen, auch dann nicht nehmen dürfe, wenn der Richter der Provinz ihnen das Recht verweigere oder nicht richten könne. Damit war die gewohnheitsrechtlich begründete „Sächsische Freiheit“ mit Hilfe des Gelehrten Rechts und juristischer Literatur im Sinne des Gutachtens handhabbar gemacht worden.

58 Zitiert nach : Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum IX. Momumentis Germaniae Historicis separatim editi, Sachsenspiegel Landrecht, hrsg. von Karl August Eckhardt, 1933. 59 Peter Weimar, Sinus de Sighibuldis, in: Juristen. Ein Bibliographisches Lexikon, hrsg. von Michael Stolleis, 1995, S. 127 f. 60 Norbert Horn, Die legistische Literatur der Kommentatoren und der Ausbreitung des Gelehrten Rechts, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1: Mittelalter (1100–1500), hrsg. von Helmut Coing, 1973, S. 274; Peter Weimar, Bartolus de Saxoferrato, in: Juristen (Fn. 59), S. 67f.

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Für die Aussage, dass man niemanden vor das Reich laden dürfe, dem der zuständige Richter nicht das Recht verweigert habe, berufen sich die Gutachter in Artikel 3 nur allgemein auf das geschriebene Recht und die Glosse mit der Zusammenfassung: Die Sachsen müssen nicht zum Königshof kommen, wenn dieser nicht auf sächsischer Erde weile, weil sie ebenso wie die Witwen und Waisen ­g efreit seien. Daher gelte für sie dasselbe, was Bartolus und Sinus über diesen ­Personenkreis für den Fall der Rechtsverweigerung gesagt hätten. Auch für auf sächsischer Erde gelegene Städte solle nach Artikel 4 gelten, dass sie nur vor einem auf sächsischer Erde tagenden Gericht verklagt werden dürften. Das war wichtig, weil im Fall Glüsing die Städte Rostock und Wismar sowie im Lübecker Verfassungskonflikt Lübeck selbst am Hofgericht verklagt worden waren. Diese sächsische Freiheit habe Lübeck nicht dadurch verlieren können, dass die Stadt keyservrig, also dem Reich unterstellt worden sei. Das wird abgeleitet aus L. 6 C. 1. 14, wo es heiße, dass man niemandem das, was ihn begünstige, zu seinem Schaden wenden dürfe. Mit dieser dem Gelehrten Recht entnommenen Wendung gelingt es den Gutachtern, die Gerichtsstandschaft Lübecks als Reichsstand vor dem König auf den Fall zu reduzieren, dass dieser auf sächsischer Erde weile. Dass ein Richter, der das Recht verweigere, sich strafbar mache, entnimmt ­Artikel 7 der Nov. 86 (Coll. IX., tit. 10). Die Folgerung, dass Ladungen und da­ rauf ergehende Mandate nicht wirksam seien, wenn jemand vor das Reich geladen werde, ohne vorher vor seinem ordentlichen Richter verklagt worden zu sein, weil sie dem Gemeinen Recht widersprächen, begründet das Gutachten in Artikel 8 mit Allegation der Nov. 134, c. 6 (Coll. IX. tit. 9). Artikel 9 führt c. 5 C. 1. 14 an, um zu begründen, dass man niemanden vor das Reich laden dürfe, wenn sein ­ordentlicher Richter ihm nicht das Recht verweigert habe, um dann daraus mit Berufung auf Nov. 134, c. 6 die Konsequenz zu ziehen, dass das, was das Recht verbiete, nicht nur unnütz sei, sondern dass man es als ungeschehen behandeln müsse. Infolgedessen hätten alle Urteile und Achtsprüche, die auf solche unerlaubten Ladungen hin ergangen seien, keine Rechtsfolgen. So müsse man binnen Landes urteilen, wenn ein Kläger einen solchen Achtspruch vollziehen wolle. Das Gutachten bleibt jedoch nicht dabei stehen, den Vollzug solcher Achturteile abzulehnen, sondern fordert in Artikel 10 vom Rat einer Stadt, der ein solches gegen das Gemeine Recht verstoßendes Mandat vorgelegt werde, es nach Nov. 17, 6. 4 (Coll. 3.1. 4) unter Angabe der Gründe dem Kaiser zurückzusenden. Dass der König eine Stadt, die ein unrechtmäßiges Mandat befolge, bestrafen dürfe, begründet Artikel 11 mit einem deutschen Zitat aus der Glosse zum Sachsenspiegel und einem weiteren lateinischen Zitat. Den Gutachtern ist offenbar bewusst, dass die Adressaten ihrer Überlegungen  – die Lübecker Ratsherren  – nicht unbedingt über eine so umfangreiche

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rechtsgelehrte Bibliothek verfügten, dass sie darin alle Allegationen des Gelehrten Rechtes hätten nachschlagen können. Deshalb begnügten sie sich nicht mit den Allegationen, sondern zitierten ausführlich den Wortlaut der Texte. Im Sinne eines modernen Verständnisses der „Rezeption“61 als Übernahme der Dogmatik und Methode des Gelehrten Rechtes, als der Verwissenschaftlichung des Rechtslebens, ist dieses Gutachten sicherlich ein Zeugnis für die „Rezeption“, weil es seine Ergebnisse aus Allegationen des Gelehrten Rechtes ableitet. Allerdings dient der Aufwand an Rechtsgelehrsamkeit nicht der Einführung oder Durchsetzung von Kategorien des gelehrten Prozessrechts oder der Neugliederung der Gerichtsverfassung im Sinne eines hierarchisch aufgebauten Instanzenzuges, sondern will das überkommene Rechtssystem gegen als neu empfundene Ansprüche der Königsgerichtsbarkeit abschirmen. Es wirkt wie das letzte Aufbäumen eines Rechtssystems, in dem die Königsgerichtsbarkeit nur marginale Bedeutung gehabt hatte, gegen die spürbare Verstärkung der Rolle des Königs als Richter im Nord- und Ostsee­ bereich der Hanse. Die Lübecker und ihre Gutachter versuchten, mit den Rechtsregeln des alten Systems zu verhindern, dass sie mit ihren Achtsprüchen in die Königsgerichtsbarkeit eingebunden würden. Es war dies letztlich ein kontraproduktives Verhalten, weil die Position des deutschen Königs als oberster Richter sich im Laufe des 15. Jahrhunderts ständig weiter verfestigte und verstärkte. Die Bindung der Lande des Reiches im südlichen Ostseeraum an den König als obersten Richter war schließlich so stark und fest, dass sie jedem Entfremdungsversuch durch die übermächtigen politischen und militärischen Kräfte Dänemarks und Schwedens in diesem Raum standhielt, mochten einige Teile des Reiches auch der Krone Schwedens unterstellt werden. Sie blieben gleichwohl Teile des Reiches, was sich nicht zuletzt darin manifestierte, dass sie weiter der höchsten Gerichtsbarkeit des Reiches unterworfen blieben. Die Einrichtung des Wismarer Obertribunals als Oberappellationsgericht für alle schwedischen Besitzungen auf deutschem Boden war nicht das Ergebnis einer souveränen Entscheidung des schwedischen Königs, sondern eine notwendige Konsequenz der Erteilung des illimitierten Appellationsprivilegs. Gleichwohl vorgenommene Versuche, Appellationen nach Stockholm zu leiten, scheiterten an dem nachhaltigen Widerstand der Untertanen.

61 Übersicht über den Forschungsstand: H. Kiefner, Rezeption (privatrechtlich), in: HRG, Bd. IV, 1. Aufl., Sp. 970f.

Die Rechtsprechung des Kaiserlichen Reichshofrats im Streit um die Reichsunmittelbarkeit der Stadt Hamburg Von Wolfgang Sellert

I Vorbemerkung Wie Hamburg unmittelbare kaiserliche Reichsstadt wurde, ist bereits Gegenstand zahlreicher historischer und einiger rechtshistorischer Diskurse gewesen.1 Dort geht es hauptsächlich um ein Urteil des Reichskammergerichts (RKG) vom 16. Juli 1618, wonach Hamburg künftig nicht mehr unter dänisch-holsteinischer Herrschaft stehen sollte, sondern als „freie Reichsstadt mit allen fiskalischen ­Konsequenzen“ anerkannt worden ist.2 Erwähnt wird in diesen Untersuchungen zwar gelegentlich noch, dass in der Immedietätsfrage auch der weitab von Hamburg in Wien tagende Reichshofrat (RHR) eine Rolle gespielt habe. Nahezu unbeachtet ist jedoch ein für den Streit wichtiges Dekret des RHR vom 26. April 1641 (Sessionsdekret) geblieben.3 Gleiches gilt für ein einschlägiges Gutachten (votum ad imperatorem), das der RHR dem Kaiser bzw. seinem Geheimen Rat am 1 Zu nennen ist der grundlegende Beitrag von Heinrich Reincke, Hamburgs Aufstieg zur Reichsfreiheit, Vortrag am 25. Januar 1956, aus dem Nachlass herausgekommen, Sonderdruck der Zeitschrift des Vereins Hamburgische Geschichte, Heft 47, 1961; ferner Sybille Weber, Die Stellung Hamburgs in der Verfassung des Alten deutschen Reiches, jur. Diss. Bonn, 2005; Kai-Michael Hingst/Götz Landwehr, Hamburg u. das Reich, in: Recht u. ­Juristen in Hamburg, Bd. 1, hrsg. von J. Albers, K. Asche u. a., 1994, Teil I, S. 15–20; Werner Jochmann/Hans-Dieter Loose (Hrsg.), Hamburg, Geschichte der Stadt u. ihrer Bewohner, Bd. 1, Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, hrsg. von H.-D. Loose, 1982, S. 141–146, 292–303; Tilman Repgen, Hamburg, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. 2, 2. Auflage 2012, hrsg. von A. Cordes, H. Lück, D. Werkmüller u. Chr. Bertelsmeier-Kierst, Sp. 684–690 u. die dort zitierte Literatur. 2 Reincke (Fn. 1), S. 32 f.; Weber (Fn. 1), S. 45, 56, 69, 96, 133; Loose (Fn. 1), S. 45, 56, 69, 96, 133, 293; Repgen (Fn. 1), Sp. 688. 3 Weber (Fn. 1), S. 70, verweist lediglich auf ein nicht näher bestimmtes kaiserliches „decre­ tum sessionis et voti“. Erwähnt wird das Dekret  – allerdings mit dem falschen Datum 16. April 1641 – in der Zeitschrift „Hamburg und Altona. Ein Journal zur Geschichte der Zeit, der Sitten und des Geschmacks“, VII. Heft, Juli 1805, S. 124 f.

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18. November 1643 erstattet hat.4 Es soll im Zentrum der vorliegenden Unter­ suchung stehen. Durch die jetzt erschlossenen Akten des Kaiserlichen RHR5 sind zudem eine Fülle von Verfahren zutage gefördert worden, in denen es – häufig in engem Verbund mit handelspolitischen Fragen – teils mittelbar und teils unmittelbar um den Rechtsstatus Hamburgs geht. Besonders erwähnenswert sind drei Akten, die zum Teil verschollenes urkundliches Material zu den einschlägigen Kontroversen und weiteren Auseinandersetzungen enthalten.6 Insgesamt zeigen die Akten, dass Kaiser und RHR in diese lang andauernden Kontroversen weit mehr als das RKG involviert gewesen sind. Dementsprechend bietet das Aktenmaterial eine Vielzahl von weiteren einschlägigen Dekreten, Mandaten und Gutachten, die einer gründlichen Auswertung harren. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf eine Auswahl zu den hier im Mittelpunkt stehenden Rechtsfragen.

II  Zur Vorgeschichte Die Zahlung von Reichssteuern hatte die Stadt Hamburg verschiedentlich mit dem Argument abgelehnt, sie sei eine nicht dem Reich unterworfene dänisch-holsteinische Landstadt. Forderungen ihres Landesherrn verweigerte sie dagegen mit dem Hinweis, als freie Reichsstadt nur dem Kaiser verpflichtet zu sein. Dementsprechend soll Kaiser Maximilian I. (1493–1519) geäußert haben: Die Hamburger seien seltsame Leute; wenn man etwas von ihnen haben wolle, sagten sie immer Nein; vor ihm, dem Kaiser, beriefen sie sich auf die Landesherren und bei den Landesherren wieder auf den Kaiser; sie wollten wohl aus ihm einen Waldesel machen.7 Die Statusfrage Hamburgs ist Gegenstand mehrerer Immedietätsprozesse gewesen. Es beginnt 1363 mit einem Verfahren vor dem Reichshofgericht. Die Stadt 4 Johann Jacob Moser, Von denen Teutschen Reichs-Ständen, der Reichs-Ritterschafft, auch denen übrigen Reichs-Gli[e]dern, 1767, S. 1081 f., weist auf ein „im Druck vorhandenes“, vom RHR 1643 erstattetes votum ad imperatorem hin. 5 Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, Serie I, Alte Prager Akten, hrsg. von W. Sellert, bearb. v. E. Ortlieb: Bd. 1, A–D, 2009, Bd. 2, E–J, 2011, Bd. 3, K–O, 2012; bearb. von T. Schenk: Bd. 4, P–R, 2014 und Bd. 5, 2014; ferner Serie II, Antiqua, hrsg. von W. Sellert, bearb. v. U. Machoczek, Bd. 1, Karton 1–43, 2010; bearb. v. U. Rasche, Bd. 2 , 2014, Karton 44–135. 6 Antiqua (Fn. 5), Bd. 1, Nr. 195; Antiqua Bd. 2, Nr. 469 u. Nr. 482 mit einem gedruckten Konvolut „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“, fol. 11r–28r. 7 Zitiert nach Reincke (Fn. 1), S. 26; Loose (Fn. 1), S. 145.

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wurde verurteilt, ihrem Landesherrn Huldigung zu leisten und sich damit Holstein zu unterwerfen.8 Zu einem zweiten Prozess kam es 1418 erneut vor dem Reichshofgericht, als Sigismund (1433–1437) ohne Rücksicht auf das vorangegangene Urteil des Reichshofgerichts zur Stärkung seiner Herrschaftsgewalt von Hamburg verlangte, „Gericht, Münze und Mühlen vom Reiche zu Lehen“ zu nehmen.9 Weil sich Hamburg dazu nicht entschließen konnte, verhängte das Gericht die Reichsacht über die Stadt.10 Weitere gerichtliche Auseinandersetzungen konnten zunächst dadurch vermieden werden, dass Hamburg mit dem König von Dänemark Christian  I. (1448–1481) einen Vergleich, die sog. Annehmung,11 schloss. Ihr zufolge leisteten die Bürger 1461 nicht den von den Worten „treu und hold“ begleiteten formalen Huldigungseid, sondern baten den König lediglich darum, sie als Untertanen „anzunehmen“. Daraufhin erklärte der König: „Ick annehme iuw unde iuwe borgere vor mine undersaten, will iuwe privilegie bestegigen.“12 Mit dieser „Annehmung“, der 1487 eine zweite unter Johann I. von Dänemark (1481–1513) folgte,13 blieb der Rechtsstatus Hamburgs weiterhin in der Schwebe. Eine Änderung trat ein, als Kaiser Maximilian I. Hamburg nicht nur zu den Reichstagen lud,14 sondern es auch zu Steuerzahlungen und Waffenhilfe verpflichtete. Erwartungsgemäß legte die Stadt unter Hinweis auf ihre fehlende Reichsunmittelbarkeit Protest ein.15 Daraufhin erhob der Reichsfiskal 1508 vor dem 1495 gegründeten RKG in einem dritten Immedietätsverfahren Zahlungsklage.16 Dort wurde der Prozess jedoch zunächst nicht weitergeführt, weil sich inzwischen der dänische König mit einem Rekurs an den Reichstag gewandt hatte.17 Letzterer   8   9 10 11

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Reincke (Fn. 1), S. 20; Loose (Fn. 1), S. 142. Reincke (Fn. 1), S. 20; Loose (Fn. 1), S. 143. Reincke (Fn. 1), S. 22. Abgedruckt in: Dokumente zur Geschichte der Hamburgischen Reichsfreiheit, bearbeitet von H. Reincke (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Hamburg, Bd. VII, Teil 1), 1961, S. 3–17; vgl. ferner Reincke (Fn. 1), S. 25; Loose (Fn. 1), S. 144. Reincke (Fn. 11), S. 14; vgl. auch Loose (Fn. 1), S. 144. Reincke (Fn. 11), S. 18–42. Eine gedruckte Liste mit den „an die Stadt Hamburg abgegangener Vocationum ad Comitia“ aus den Jahren 1473–1491 enthält die Akte Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 482, fol. 12r–14v. Loose (Fn. 1), S. 145. Reincke (Fn. 1), S. 26; Loose (Fn. 1), S. 145; Weber (Fn. 1), S. 38. Loose (Fn. 1), S. 145; zum Recursus ad comitia W. Sellert, Prozeßgrundsätze u. Stilus Curiae am Reichshofrat (= Untersuchungen zur deutschen Staats- u. Rechtsgeschichte, Neue Folge, hrsg. von A. Erler, W. Schlesinger u. W. Wegener, Bd. 18), 1973, S. 398–412.

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stellte im Augsburger Reichsabschied von 1510 fest, dass Hamburg für eine unmittelbare „Reichs-Stadt zu halten“ ist und daher rechtlich nicht zur holsteinischen Landesherrschaft gehört.18 Gleichwohl berief sich Hamburg wiederum darauf, eine Landstadt zu sein, als die Stadt unter Karl  V. (1519–1556) zu einer auf dem sog. „Geharnischten“ Reichstag von 1547/1548 beschlossenen Reichssteuer herangezogen werden sollte.19 Daraufhin erhob der Reichsfiskal 1548 auf Veranlassung des Kaisers in einem vierten Immedietätsprozess Zahlungsklage gegen Hamburg, die sich zugleich auch gegen die dänisch-schleswig-holsteinische Landesherrschaft richtete.20 Im Laufe dieses von Hamburg verschleppten Verfahrens,21 das erst 70 Jahre später enden sollte, begann die Stadt von ihrem Rechtsstandpunkt abzurücken. Die entscheidende Wende begann, als der dänische König Friedrich II. (1559– 1588) das gute Verhältnis, das sein Vorgänger Christian III. (1534–1559) mit der Stadt hatte, nicht fortsetzte, sondern Hamburg durch Handelsbehinderungen unter Druck setzte.22 In dieser Weise verfuhr auch der Nachfolger Christian IV. (1588–1648),23 so dass sich Hamburg schließlich gezwungen sah, im Oktober 1603 dem dänischen König den Huldigungseid zu leisten.24 18 Eine Kopie des Reichsabschieds enthalten die Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 482, „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“; vgl. auch Antiqua Bd.  1, fol.  14vr. In dem Reichs­abschied heißt es außerdem, dass es Dänemark u. Holstein freistehe, sofern sie in dieser Sache anderer Ansicht seien, ihre Rechte vor dem RKG geltend zu machen. 19 Reincke (Fn. 1), S. 27; Weber (Fn. 1), S. 41. 20 Weber (Fn. 1), S. 41. Offenbar hatte Kaiser Ferdinand I. 1557 den Reichsfiskal nochmals aufgefordert, gegen Dänemark und den Herzog von Schleswig-Holstein einen Prozess zu führen; vgl. Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 469. 21 Zu Einzelheiten dieses Verfahrens vgl. Reincke (Fn. 1), S. 28. 22 In dieser Lage erklärte sich Hamburg für autonom, behauptete also, weder dem Reich noch Dänemark anzugehören, so dass sich auch die „Annehmung“ verzögerte; vgl. dazu Reincke (Fn. 1), S. 28 f.; Weber (Fn. 1), S. 41. – 1570 beantragte der dänische König Friedrich II. am RHR die Bestätigung eines Dekrets, das unter Kaiser Karl V. ergangen sein soll. Auf Grund dieses Dekrets sollte die Frage der Reichssteuerleistung Hamburgs und des Stifts Schleswig vor dem RKG verhandelt und anschließend im Reichstag endgültig entschieden werden. Hamburg bezweifelte die Existenz eines solchen Dekrets und bestand darauf, dass die Angelegenheit ausschließlich vom RKG entschieden werde. Daraufhin verlangte der RHR 1570 vom RKG in einem „Schreiben um Bericht“ Informationen über den Stand des dortigen Verfahrens; vgl. dazu Alte Prager Akten (Fn. 1), Bd. 1, Nr. 867. Wie in dieser Angelegenheit weiter verfahren wurde, ist unbekannt, weil die Akten unvollständig sind. 23 Zu Einzelheiten vgl. Reincke (Fn. 1), S. 30. 24 Es handelt sich um die „Huldigung-Annehmung“, abgedruckt in: Reincke (Fn.  11), S. 125–157. Zuvor hatte Kaiser Rudolf II. (1576–1612) im Hinblick auf den rechtshängigen Immedietätsprozess am RKG die Huldigung durch Pönalmandate an Dänemark-Holstein und Hamburg zu verhindern gesucht; vgl. Antiqua (Fn. 5), Bd. 1, Nr. 195, fol. 53r–

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Als der Reichsfiskal 1617, vermutlich auf Drängen des Kaisers,25 das 1548 am RKG gegen Hamburg begonnene Verfahren wieder aufnahm, änderte die Stadt angesichts der Bedrohungen durch den dänischen König ihre Verteidigungsstrategie.26 Denn eine Verurteilung hätte sie zwar zur Zahlung der Reichssteuern verpflichtet, ihr aber inzidenter den von ihr inzwischen gewünschten Status einer Reichsstadt verschafft. Tatsächlich erging am 6. Juli 1618 in Sachen „deß Kayserl. Fiscalis, Klägers eins, wider“ den am Ausgang des Verfahrens interessierten („pro Interesse“) „Herren Christian Johan und Adolphen, ietzo Herrn Christian und Friederichen, Hertzogen zu Holstein“, […] sowie gegen die sich auf Befreiung von Reichsabgaben („Exemp­ tion“) berufenden „Burgermeister und Rath der Stadt Hamburg, Beklagte anders Theils“, ein Endurteil. Im Tenor dieses wichtigen Urteils heißt es u. a., dass sich Hamburg nicht „der Röm. Kayserl. Mayest. und deß Heil. Reichs Hohen Obrigkeit und unmittelbaren Subjection […] entziehen und davon frey machen“ dürfe. Und weil die Stadt „Ihrer Kayser. Majest. und dem heil. Reich ohne Mittel […] unter­ worffen und verwandt“ ist, sei sie schuldig, die Reichsanlagen, Steuern und Bürden zu tragen und zu leisten, „auch deroselben Anstand zu entrichten und zu bezahlen […] und zu solchem allen zu condemnieren und zu verdammen“ gewesen.27 Das Urteil bildete in den Auseinandersetzungen um die Rechtsstellung Hamburgs eine entscheidende Zäsur. Dennoch wurde mit ihm nicht, wie H. Reincke meint, „in aller Form Rechtens für immer der unmittelbare Stand der Stadt im Reich festgestellt“, weil es sich, so Reincke, um eine Entscheidung in einer Fiskalangelegenheit gehandelt habe, die mit der Appellation nicht angefochten werden konnte.28 Wie der Autor allerdings später zutreffend vermerkt,29 legten der König und der Herzog von Holstein gegen dieses Urteil Revision ein, um deren Wirksamkeit und Konsequenzen fortan gestritten wurde. So behauptete Dänemark,

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59v. Dennoch ließ er die Erbhuldigung durchführen, nachdem er erklärt hatte, dass diese weder für das Reich noch für Hamburg „praejudizierlich“ sein solle; Weber (Fn. 1), S. 42 f. Schon 1557 hatte der RHR das RKG in einem Promotorialschreiben zur Prozessbeschleunigung aufgefordert; vgl. Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 469. Vgl. dazu die Ausführungen von Reincke (Fn. 1), S. 31 f. Das Urteil ist in den Akten des RHR mehrfach als handschriftliche Kopie und teils sogar gedruckt enthalten; vgl. Antiqua (Fn. 5), Bd. 1, Nr. 195, fol. 61rv; Antiqua, Bd. 2, Nr. 482, „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“, fol. 15v. Es ist außerdem abgedruckt bei Moser (Fn. 4), S. 1080. In dem Urteil wurde den Herzögen zu Holstein vorbehalten, ihre Ansprüche gegen die Stadt auf dem Rechtswege geltend zu machen. Die „Ge­ richts-Kosten, so deswegen aufgelaufen“, wurden „aus beweglichen Ursachen gegeneinander kompensiert und verglichen“. Reincke (Fn. 1), S. 32. Reincke (Fn. 1), S. 33.

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das Urteil sei infolge der Revision noch nicht rechtskräftig und könne wegen des Suspensiveffekts nicht vollstreckt werden. Der König warnte die Stadt daher, er werde sie militärisch in die Zange nehmen, wenn sie „den Kayserlichen Mandatis pariren“ würde.30 Unter dieser Drohung sah sich Hamburg gezwungen, 1621 mit Dänemark den sog. Vertrag von Steinburg abzuschließen. Darin verpflichtete sich die Stadt ungeachtet des reichskammergerichtlichen Urteils alles beim „status quo ante“, d. h. alles „gänzlich und ungeschmälert […] in dem Stand“ zu belassen, wie es „bey voriger regierenden Herzogen zu Holstein Zeiten gewesen.“31 Mit diesem Vergleich endeten die Auseinandersetzungen zwischen den Parteien nicht. So hat in den Jahren 1621–1642 eine ganze Reihe von Verfahren vor dem RHR stattgefunden, die auch dadurch veranlasst waren, dass der dänische König wiederholt die Handelsfreiheit Hamburgs störte, indem er die Zufahrten auf der Elbe sperrte und für die Aufhebung solcher Blockaden Abfindungssummen in erheblicher Höhe beanspruchte.32 Der Rechtsstatus Hamburgs spielte spätestens wiederum eine Rolle, als der dänische König den Niedersächsischen Kreis zu einem Beschluss (Conclusum) veranlasste, die Stadt von der nur für Reichsunmittelbare vorgesehenen Teilnahme an den Kreistagen auszuschließen. Auf Weisung des Kaisers hatte daraufhin der Reichsfiskal dieses „Conclusum“ kassiert und am 30. Juni 1620 mit einem Mandatum „Cassatorii & Inhibitorii sine Clausula“ dem niedersächsischen Kreis unter Androhung einer Strafe von „zwanzig Mark löthigen Goldes“ befohlen, das Urteil 30 Moser (Fn. 4), S. 1080; Loose (Fn. 1), S. 293. 31 Der Vertragstext ist in den Akten des RHR, Antiqua (Fn. 5), Bd.1, Nr. 195, in gedruckter Form enthalten (fol. 21vr). Er ist ferner abgedruckt bei Moser (Fn. 4), S. 1081; vgl. ferner Weber (Fn. 1), S. 45; Loose (Fn. 1), S. 293. Insgesamt war das eine schwere Niederlage der Stadt, weil sie sich auf diese Weise nicht nur – und dieses Mal sogar für die Zukunft – mit dem Versprechen einer „Huldigung und Annehmung“ in die Abhängigkeit des dänischen Königs begeben, sondern gemäß dem Urteil des RKG auch für die Reichssteuern und Reichslasten aufzukommen hatte. – In den Jahren 1664–1671 spielte der Steinberger Vertrag nochmals eine Rolle, als der dänische König an Altona Stadtrecht und Privilegien verliehen hatte, wogegen sich Hamburg mit einer Klage vor dem RHR wegen Verstoßes gegen die Rechte des Reiches wehrte. Dänemark beantragte Abweisung der Klage, weil diese nicht im Einklang mit dem Steinbergischer Vertrag stünde; vgl. Antiqua, Bd. 1, Nr. 235. 32 Vgl. z. B. Antiqua (Fn. 5), Bd. 1, Nr. 211: Der dänische König Christian IV. befreit Hamburg von einem Handelsembargo gegen Zahlung von 200.000 Reichstalern; Nr. 215; Hamburg beklagt sich 1636 darüber, dass der dänische König seit 1630 über die Stadt ein Handelsembargo verhängt hat; Nr.  217: Hamburg beschwert sich über die gewaltsame Einziehung eines Zolls durch Dänemark; Nr. 221: Hamburg beklagt sich 1641 über Truppenzusammenziehungen des dänischen Königs vor der Stadt und beantragt infolgedessen Maßnahmen wegen Landfriedensbruchs.

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des RKG von 1618 zu beachten und das Recht der Stadt zur Teilnahme an den Kreistagen nicht zu beschneiden.33 Als Hamburg erneut Sitz und Stimme auf dem niedersächsischen Kreistag verweigert wurden, schaltete sich der Kaiser ein. Unter Hinweis auf das Mandat vom 30. Juni 1620 forderte er am 25. Mai 1630 den Fiskal des RKG auf, ungeachtet der von Holstein gegen das Urteil des RKG von 1618 eingelegten Revision jeden Verzug zu vermeiden und mit der Exekution fortzufahren.34 Dagegen protestierte der dänische König mit einem Schreiben an den Kaiser vom 31.  Mai 1631.35 Er machte geltend, dass der Reichsfiskal nicht nur die „Reichs Anlagen“ von Hamburg eingefordert, sondern seine Klage darüber hinaus „auff die Superiorität und Hochheit“, d. h. auf eine „total[e] exemption“ der Stadt „extendiret“ hätte. Das aber sei unzulässig, weil Hamburg eine dem Fürstentum Holstein von alters her zugeordnete „Uhr-Alte Stadt“ sei. Daran könne auch das Urteil des RKG von 1618 nichts ändern, weil dagegen Revision eingelegt und diese vom Mainzer Erzkanzler angenommen und dem RKG „per Decretum notifiziert“ worden sei. Jedes weitere Vorgehen aus dem Urteil des RKG gegen Holstein und Dänemark widerspräche außerdem dem Deputationsabschied von 1600.36 Deswegen bat der König den Kaiser, das RKG daran zu erinnern, „sich pendente lite, in puncto praedictae revisio­ nis, alles ferneren procedirens, judicirens und exequirens gäntzlich zu […] enthalten“. Im Verlaufe all dieser Ereignisse erging am 26.  April 1641 das anfangs erwähnte kaiserliche Sessionsdekret,37 das den Status Hamburgs als unmittelbare Reichsstadt bestätigte, indem es den Abgeordneten der Stadt befahl, den „Kayserl. Außschreiben“ zu den Reichstagen gehorsam Folge zu „leisten und zu Beforderung der allgemeinen Ruhe und Wohlfart und Berathschlagung deß Reichs Anliegen und Geschäfften gleich andern beschriebenen Reichs-Ständen sich in dem Reichs-Städte-Rath gehorsambst ein[zu]stellen“.

33 Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 482, „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“, fol. 16r–18v; vgl. auch Moser (Fn. 4), S. 1080. 34 Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 482, „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“, fol. 19r–20r. 35 „Schreiben der zu Dennemarck Königl. May. So dann I. Fürstl. Gn. Hertzog Friedrich zu Holstein/An Die Röm. Kayserl. auch zu Hungarn und Boeheimb Königl. May. Der Stadt Hamburg Exemtion betreffend“, in: Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 482, „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“, fol. 20v–21r. 36 Vgl. u. Fn. 93. 37 Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 482, „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“, fol. 22rv.

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Als Dänemark die Kassation dieses Dekrets verlangte, entschied der Kaiser darüber erst, nachdem der RHR 1643 zu den einschlägigen Fragen ein Gutachten erstellt hatte.38

III  Das Gutachten des Reichshofrats (votum ad imperatorem) vom 18. November 1643 1 Inhalt Mit fast schulmäßiger juristischer Relationstechnik39 stellt der RHR in seinem Votum zunächst den Sachverhalt und die Verfahrensgeschichte dar. Danach habe am 12. April 1641 der dänische Abgeordnete Christoph von der Lippe (Lipp) in einem Memorial dagegen protestiert, dass in verschiedenen kaiserlichen „Schrei­ ben und Patenten“ Hamburg ungeachtet der Revision gegen das Urteil des RKG v. 1618 als „Euer Kayserlichen Majestät und des heil. Römischen Reichs Stadt tituliert“ worden sei.40 Es sei außerdem gegen den zwischen Holstein und Hamburg geschlossenen Vertrag zu Steinburg von 1621 verstoßen worden, wonach „die Stadt sich der Session in dem Städte-Rath enthalten“ müsse.41 Über diese Frage habe der RHR am 18. April 1641 dem Kaiser mit einem Votum berichtet. Im Einzelnen habe der RHR dort auf die fast 100-jährige ­Litispendenz des Streites am RKG und dessen Urteil von 1618 hingewiesen.42 Das 38 Das „Reichs-Hof-Raths-Gutachten in Sachen Dännemarck-Holstein contra die Stadt Hamburg, der letzten Sitz und Stimme auf den Reichs-Tägen betreffend. d. d. 1643. 18. Nov.“ in: Friedrich Carl Moser, Sammlung von Reichs-Hof-Raths Gutachten, 1. Teil, 1752, S. 35–45. Die Sammlung erschien wegen der gerichtlichen Geheimhaltungspflicht anonym. Dass F. C. Moser der Herausgeber ist, steht inzwischen fest. Nicht enthalten ist das Gutachten in dem im Wiener Haus-, Hof- u. Staatsarchiv aufbewahrten Bestand von 66 Kartons der vota ad imperatorem (ÖStA HHStA, RHR, Vota). Anhand der Resolutionsprotokolle (ÖStA HHStA, RHR) lassen sich aber die Spuren des Gutachtens verfolgen: Protocolla rerum resolutarum, XVII, Bd. 129, fol. 329rv, 337r–338r. Danach hat der RHR am 18.11.1643 votiert und sein Votum am 27.11.1643 ergänzt. 39 Hans L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relation u. ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, jur. Diss. Frankfurt a. M., 1975. 40 Moser (Fn. 38), S. 36; vgl. auch Antiqua (Fn. 5), Bd. 1, Nr. 216. Es heißt dort, dass der dänische König 1636 den Kaiser gebeten habe, Hamburg in seinen Schreiben an ihn nicht als Reichsstadt zu bezeichnen. 41 Moser (Fn. 38), S. 37. 42 Eodem.

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fürstliche Haus Holstein habe zwar gegen dieses Urteil Revision eingelegt, die aber „im Cammer-Gerichte zu Speyer nicht angenommen“ worden sei.43 Das Urteil sei auch rechtskräftig und vollstreckbar, weil die Revision in „einer Fiscalischen Exemptions-Sache“ nach dem Deputationsabschied von 1600 keinen „effectum suspensivum“ habe.44 Die Berufung Holsteins auf den Steinburgischen Vertrag von 1621 habe der RHR mit dem Argument zurückgewiesen, dass solche „Privat- und Particular-Pacta oder Verträge den juribus publicis nichts derogieren“ könnten.45 Und weil, so heißt es in dem Gutachten weiter, die Abgeordneten Hamburgs zwar „gehorsamst“ auf dem Reichstag erschienen seien, sich aber wegen der Proteste und Drohungen Dänemarks der „Sessionen und Stimme enthalten“ hätten, habe der RHR damals dem Kaiser zur Wahrung des „Reichs Autorität“ vorgeschlagen, „den Abgeordneten per Decretum“ zu befehlen, „sich zu dem Reichs-StädteRath zu Deliberirung der Reichs-Geschäfften […] gehorsamst ein[zu]stellen“.46 ­Außerdem habe der RHR vorgeschlagen, das Direktorium des Mainzer Kur­ fürsten über das Dekret zu informieren, damit Hamburg von dort zum Vollzug seiner Sessionspflicht angehalten werde.47 Nachdem der Kaiser den Vorschlag des RHR – allerdings ohne Einschaltung des Mainzer Direktoriums – gebilligt hätte, sei das Sessionsdekret v. 26. April 1641 ergangen.48 Am 29. Juni 1641 hätten sich die auf dem Reichstag zu Regensburg anwesenden „Dän- und Hollsteinische[n] Räthe und Gesandte D. Wilhelm Bidenbach und Johannn Adolph Kielmann“ mit einem „Memorial“ an den Kaiser bzw. dessen mitgereisten RHR gewandt und gebeten, dieses Dekret wieder zu kassieren. Denn es sei „altera parte inaudita, lite & Revisione in Camera pendente, quo in casu executio sit suspensa nihilque innovandum und wider obgemeldten Steinburgischen Vertrag“

43 Eodem. 44 Eodem. 45 Eodem. 46 Moser (Fn. 38), S. 38. 47 Eodem. 48 Nicht erwähnt wird, dass der Kaiser auf das Memorial Christophs von der Lippe mit einem Dekret vom 22. Juni 1641 reagiert und dort die von dem Abgeordneten erhobenen Einwendungen mit der Begründung zurückgewiesen hatte, dass die Revision gegen das Urteil des RKG von 1618 keinen Suspensiveffekt habe sowie der zwischen Dänemark-Holstein und Hamburg 1621 abgeschlossene Vertrag zu Steinburg für das am RKG ergangene „Ex­ emptions-Urtheil“ keine Bedeutung haben könne. Deswegen sei es rechtens, dass Hamburg „in den Kayserl. Schreiben jederzeit als eine Reichs-Stadt tractiret worden“. Das müsse auch so bleiben, „biß ein anders in Revisorio Judicio außgeführet“. Das kaiserliche Dekret ist in den Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 482, „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“, fol. 23rv, enthalten.

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ergangen.49 Das Dekret hätte also nicht ergehen dürfen, weil das Verfahren über den Rechtsstatus Hamburgs wegen der eingelegten Revision am RKG noch anhängig sei. Dieses Rechtsmittel habe Suspensiveffekt, da es sich nicht um eine möglicherweise davon ausgenommene „Fiscalische Sache“ handele, zumal „dem Reiche an der Contribution nichts abgehe“.50 Daraufhin habe der RHR am 13. Juli 1641 beschlossen, dass es ungeachtet „dieses Einwendens […] bey dem ergangenen Kayserlichen Decreto bleiben“ solle.51 Über diese Entscheidung hätten sich die dänischen und holsteinischen Gesandten „bey dem Churfürstlichen Collegio zu Regensburg“ beklagt, das wiederum beim Kaiser im Sinne der Beschwerdeführer vorstellig geworden sei.52 Das Kürfürstenkolleg habe dem Kaiser daraufhin zu bedenken gegeben, dass solche Dekrete in „jetzige[n] zerrüttete[n], armseelige[n] und betrübte[n] Zeiten“ nicht opportun seien, zumal die Abgeordneten Hamburgs selbst „Session und Votum“ nicht begehrt hätten.53 Neue Maßnahmen sollten, so das Kurfürstenkolleg, gegen Hamburg nicht unternommen werden. Denn wegen der Revision gegen das Urteil des RKG von 1618 sei über die Hauptsache noch nicht endgültig entschieden worden. Hinzu komme, dass dieses Dekret „bey so vornehmen Fürstlichen Häusern“ Mißtrauen („Diffidenz“) sowie andere Missstimmungen („Offensiones“) und „Un­ gelegenheiten“ hervorrufen könne.54 Nach alledem habe das Kurfürstenkolleg zur „Verhütung dergleichen Inconvenientien“ vorgeschlagen, die Angelegenheit ruhen zu lassen und nicht auf einer Teilnahme der Deputierten Hamburgs „in dem Reichs-Städte-Rath zu dringen“.55 Diesem Vorschlag habe sich „Ihre Churfürstliche

49 Moser (Fn. 38), S. 39. Dass der RHR dem Kaiser zum Reichstag folgte, war keine Be­ sonderheit. Denn es galt weiterhin der althergebrachte Grundsatz, dass dort, wo sich der ­Kaiser als Inhaber der vollen Jurisdiktionsgewalt des Reiches aufhielt, auch sein Gericht tagte und alle andere Gerichtsbarkeit zu ruhen hatte. Dementsprechend lautet ein Sprichwort „Wo der Kaiser hinkommt, da stehet ihm das Recht offen“; Julius Hubert Hillebrand, Deutsche Rechtssprichwörter, Zürich 1858, S. 240; vgl. auch Tit I § 7 RHRO v. 1654, in: Wolfgang Sellert, Die Ordnungen des Reichshofrats 1550–1766, 2. Halbb. 1626–1766 (= Quellen u. Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 8/II), 1990, S. 69 f. 50 Eodem. 51 Eodem. 52 Eodem. 53 Moser (Fn. 38), S. 40. 54 Eodem. 55 In den Jahren 1630 und 1641 waren Gutachten des Kurfürstlichen Kollegiums zugunsten Holsteins erstellt worden; vgl. Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 469.

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Durchlauchtigkeit in Bayern de dato den 8. und praes. 17. Maji dieses Jahres“ angeschlossen.56 Es folgt eine erneute Beurteilung des Falles durch den RHR. Diese beginnt mit dem Entscheidungsvorschlag, dass das Dekret vom 26. April 1641 „in den Rechten und Reichs-Constitutionibus fundirt“ und für den nächsten Reichstag beachtet werden solle. In seiner kurzen Begründung kommt der RHR zu dem Ergebnis, dass nach dem im Deputationsabschied von 1600 enthaltenen „articulo Liquidationis & Mandatorum de relaxandis captivis, nec non in causis Decretorum, alimentorum, tamquam casibus exceptis & privilegiatis“ die Revision zwar „zugelassen“ sei, die „Execution“ aber „nicht suspendiren mag“.57 Daraus folge nicht, wie Holstein argumentiere, „daß die vermöge der gemeinen beschriebenen Rechten in andern Fällen verbothene Revision den effectum suspensivum nach sich ziehe“. Hierfür beruft sich der RHR auf „Caspar Klock in Tract. De Contrib.“58 Außerdem verstoße die Revision gegen die einschlägigen Grundsätze des Gemeinen Rechts und ferner gegen die Reichsabschiede von 1548 und 1576.59 Aufgrund dieser seien Kammerrichter und Beisitzer verpflichtet, den kaiserlichen Fiskal in seiner Tätigkeit „mit Abkür­ zung aller gesuchter Verzüglichkeit“ zu unterstützen.60 Daher sei auch „Zacharias Victor (sic!) in Tract. De Causis Exemtionum Impe­ rii in fin.“ 61 zu dem Ergebnis gekommen, dass bisher in Exemtionssachen keine Revision zugelassen worden sei. Demzufolge sei auch die Revision des Hauses Holstein vom RKG nicht „attendiret“ worden.62 Im Übrigen müsse der Kaiser in einer derart wichtigen Sache die Interessen des Reiches bedenken und dürfe keine Präjudizien schaffen.63 Auch wenn Hamburg bisher für die fälligen Reichs-Anlagen aufgekommen sei, so könne die Stadt im Falle einer Aufhebung des Dekrets, beispielsweise auf Verlangen des dänischen Königs, ihre Kontributionen verweigern.64 Darüber hinaus könnte die Kassation des Dekrets dazu führen, dass man sich in anderen „Exemtions-Fällen“ auf den 56 Moser (Fn. 38), S. 40; vgl. auch Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 469, wonach sich der Kurfürst von Bayern Maximilian I. schon 1631 in einem Fürbittschreiben an den Kaiser zugunsten der holsteinischen Angelegenheit ausgesprochen hatte. 57 Moser (Fn. 38), S. 41. 58 Kaspar Klock, Tractatus nomico-politicus de contributionibus in Romano Germanico ­Imperio, Bremen 1634; vgl. dazu Fn. 95. 59 Vgl. unten Fn. 91 60 Moser (Fn. 38), S. 41. 61 Zacharias Vietor, Quaestio status causis exemtioneum imperii, Basel 1615. 62 Moser (Fn. 38), S. 42. 63 Eodem. 64 Moser (Fn. 38), S. 42 f.

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Suspensiveffekt berufen würde. Und schließlich könnten sich aus einer Kassation des Dekrets noch andere „Weiterung[en] und Ungelegenheit[en]“ zwischen dem Kaiser und dem Haus Holstein ergeben. Dies gelte umso mehr, als der Kaiser das Dekret auf die Entscheidung des RKG von 1618 gestützt und „per mandatum sine clausula, in puncto sessionis &voti“ an den Niedersächsischen Kreis zur Vollstreckung „ausgeantwortet“ habe.65 Nach alledem könne der RHR zu einer Kassation des Dekrets nicht raten, zumal die Stadt Hamburg im Hinblick auf ihre „Hergebung ansehnlicher Geld-Hülfen“ die Protektion des Kaisers verdiene.66 „Jedoch stehet“, so heißt es am Schluss, „alles zu Eurer Kayserlichen Majestät allergnädigsten Belieben.“67

2  Bedeutung der vota ad imperatorem Im Gegensatz zum RKG war der RHR nach allen seit 1559 ergangenen Reichshofratsordnungen68 und nach den Wahlkapitulationen69 verpflichtet, in bestimmten Fällen – sei es von Amts wegen, nach eigenem Ermessen oder auf Verlangen des Kaisers70 – dem Kaiser bzw. dem Geheimen Rat ein Gutachten mit einem ­Entscheidungsvorschlag vorzulegen.71 Dabei ging es in erster Linie um Angelegenheiten, die das „Staatsinteresse des Kaisers oder deutschen Reichs“, die von der kaiserlichen Gnade abhängigen „Reservatrechte und Regalien“ sowie die „Lehen65 Moser (Fn. 38), S. 43 f. 66 Moser (Fn. 38), S. 44. 67 Es folgt das Datum des Gutachtens vom 18. November 1643. Das Gutachten ist, nachdem es ergänzt wurde, in der Sitzung vom 27. November 1643 in Anwesenheit des RHR-Präsidenten und von 10 namentlich aufgeführten Reichshofräten verlesen und gebilligt worden. Entsprechend heißt es dort: „Lectum & approbatum in eodem Consilio Imper. Aulico die 27. Nov. Anno 1643.“ 68 RHRO v. 1559, § 19, in: Wolfgang Sellert, Die Ordnungen des Reichshofrats 1550–1766, 1. Halbb. bis 1626 (= Quellen u. Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 8/I), 1980, S. 33f.; RHRO v. 1617, Tit. III §§ 34–36, ebda., S. 198–201; Tit. V §§ 18–20f. RHRO v. 1654, in: Sellert (Fn. 49), S. 200–209; vgl. Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat (= Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich, Bd. 33, Wien 1942), NeuDr. 1970, S. 4. 69 Vgl. z. B. Art. XVI des Entwurfs einer beständigen Wahlkapitulation, abgedruckt in: Karl Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung, 2.  Aufl., 1923, S. 485–487. Die Bestimmung des Entwurfs wurde in alle folgenden Wahlkapitulationen übernommen; vgl. z. B. Wahlkapitulation Karls VII. (1742–1745), Art. XVI §§ 12– 16, in: Johann Jacob Schmauß, Corpus Juris Publici, 4. Aufl. 1745, S. 1471 f. 70 Johann Jacob Moser, Von der Teutschen-Justizverfassung, Teil 2, 1774, S. 221. 71 Zur Form der vota ad imperatorem vgl. Moser (Fn. 70), S. 221.

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sachen (sic!) von einiger Erheblichkeit“ betrafen.72 Nach der Ansicht des Kommentators der RHRO von 1654, H. v. Portner, wurde am RHR „fast nichts, so nur ein wenig in den statum publicum einlauffet, [...] absque voto ad Caesarem resol­ viret“.73 In dem hier betreffenden Fall, der ohne Zweifel die Staatsinteressen des Reiches berührte, fungierte der RHR als Berater des Kaisers. Folglich wurde das ­Gutachten dem Geheimen Rat am 30. November 1643 zur Entscheidung vorgelegt. Dieser vermerkte: „Lectum Sac. Caes. Mtti 30 9bris, und haben Ihre Kay. Mt. geschlossen, das dero Reichsvicekanzler, wie die Königl. Dennemarkische Gesandte zubescheiden, aufsetzen solle, darinn aber der Statt Hamburg merita nit zuberüh­ ren.“74 Der Kaiser ist also dem Votum weitgehend gefolgt. Dementsprechend hat er am 15. Dezember 1643 den königlich-dänischen Gesandten erklären lassen, dass das Sessionsdekret rechtens ergangen sei, weil „vermög des Reichs-Deputa­ tions-Abschiedt de Anno 1600“ die Revision in einer „Fiscalischen executions sach […] keinen effectum Suspensivum“ habe und mit einer Aufhebung des Dekrets ein gegen die Interessen des Reiches verstoßendes „praejudicium“ geschaffen werden würde.75

3  Rechtliche Beurteilung Der Streit wäre vermutlich vermieden worden, wenn Hamburg seinen Status als unmittelbare Reichsstadt urkundlich hätte nachweisen können. Die Stadt verfügte jedoch, anders als beispielsweise Lübeck, über keinen entsprechenden „feierlichen Kaiserbrief “.76 Notgedrungen griff die Stadt daher zu anderen Argumenten. Sie müsse, so erklärte sie, als freie Reichsstadt gelten, weil sie der Kaiser mit „Privilegien und Freyheiten“ und vor allem mit dem Münzrecht ausgestattet habe.77 Außerdem stützte sie sich darauf, dass sie schon immer nicht nur zu den Kreistagen, sondern von „Alters hero auch zu allen Reichs-Versamblungen […]

72 Julius Friedrich Malblank, Anleitung zur Kenntniß der Verfassung des Höchstpreißlichen Kaiserlichen Reichshofraths, 1792, S. 241 f. 73 Vgl. Sellert (Fn. 49), S. 201. 74 Protocolla resolutarum (Fn. 5), XVII., Bd. 129, fol. 329r. 75 Der Bescheid ist in den Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 482, „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“, 24rv, enthalten. Vgl. auch Antiqua Bd. 2, Nr. 469, fol. 120r–121v; Moser (Fn. 4), S. 1082. 76 Reincke (Fn. 1), S. 19. 77 Reincke (Fn. 1), S. 21.

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beru­fen“ worden sei78 und sogar die „Reichs Bürden“ mitgetragen habe.79 Ebenso wie diese Argumente kein sicherer Beweis für die Immedietät Hamburgs sein konnten, war auch der gegenteilige Standpunkt Dänemark-Holsteins, Hamburg habe sich mit dem Vertrag zu Steinburg von 1621 den Status einer dem Land unterworfenen Stadt gegeben, kaum überzeugend. Denn es handelte sich insoweit um eine reichsrechtliche Verfassungsfrage, die, wie der RHR einleuchtend erklärt hatte, nicht durch einseitige „Privat- und Particular-Pacta oder Verträge“ entschieden werden konnte.80 Maßgebend für den reichsunmittelbaren Status Hamburgs war und blieb nach alledem das Urteil des RKG vom 16. Juli 1618.81 Im Zentrum der rechtlichen Auseinandersetzungen stand daher dieses Urteil, das die Grundlage für den Erlass des reichshofrätlichen Sessionsdekrets vom April 1641 bildete. Insoweit ging es nicht mehr um ein streitiges Verfahren, sondern um eine einseitige Vollstreckungsmaßnahme. Deswegen hatte der Einwand Holsteins, das Dekret sei nichtig, weil es „altera parte inaudita“ ergangen war, aus der Sicht des RHR keine Bedeutung. Dreh- und Angelpunkt des Streits blieben folglich die Fragen, ob die Revision gegen das Urteil des RKG zulässig war und Suspensiveffekt hatte oder nicht. Denn bei bestehendem Suspensiveffekt hätte der RHR bis zur endgültigen Entscheidung über die Revision aus dem Urteil des RKG nicht vollstrecken, also auch das Sessionsdekret nicht erlassen dürfen. Auch die Titulierung Hamburgs als reichsunmittelbare Stadt hätte, solange „biß ein anders in Revisorio Judicio außgeführet“, unterlassen werden müssen.82 Unstreitig war zwischen den Parteien, dass das RKG die Revision nicht angenommen hatte. Bereits mit dieser Zurückweisung wäre das reichskammergerichtliche Urteil rechtskräftig geworden und ein möglicher Suspensiveffekt nicht in Betracht gekommen. In diesem Sinne hatte der RHR dem RKG unterstellt, es 78 Vgl. oben Fn. 14. 79 Mandatum „Cassatorii & Inhibitorii sine Clausula“, in: Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 482, „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“, fol. 16v. Tatsache ist, dass ­Hamburg erst nach dem Urteil des RKG von 1618 alle Reichslasten mitgetragen hat. Davor hatte die Stadt jedenfalls einmal freiwillig Türkenhilfe geleistet; vgl. Reincke (Fn. 1), S. 27, 33. 80 Moser (Fn. 38), S. 37. 81 Über die Entscheidungsgründe des RKG ist nichts bekannt, weil das Gericht die Motive seiner Urteile nicht offenlegte; vgl. dazu W. Sellert, Zur Geschichte der rationalen Urteilsbegründung gegenüber den Parteien insbesondere am Beispiel des Reichshofrats u. des Reichskammergerichts, in: Recht, Gericht, Genossenschaft u. Policey, hrsg. v. G. Dilcher u. B. Diestelkamp, 1986, S. 97–113. 82 Das Gegenteil nahm der RHR in seinem Dekret von 22. Juni 1641 (vgl. oben Fn. 48) an, weil er von einem bereits rechtskräftigen und vollstreckbaren Urteil ausging.

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habe das Rechtsmittel mit der Begründung abgewiesen, dass „in Exemtions-Sa­ chen keine Revision“ zulässig sei.83 Die Lage änderte sich jedoch dadurch, dass Dänemark-Holstein die Revision gegen das Urteil des RKG von 1618 später nochmals, nunmehr aber beim Mainzer Erzkanzler, einlegte und dieser sie annahm. Das war auch der richtige durch die RKGO von 1555 vorgeschriebene Weg,84 zumal über die Revision nicht das RKG, sondern die vom Mainzer Erzkanzler einzuberufende Visitationskommission zu entscheiden hatte.85 Der Erzkanzler war allerdings verpflichtet, das RKG über die Einlegung der Revision zu unterrichten.86 Diese amtliche Information war schon wegen eines möglichen mit der Revision eingetretenen und vom RKG zu beachtenden Suspensiveffekts geboten. In diesem Sinne hat der Mainzer Erzkanzler das RKG am 7. Januar 1619 „per Decretum“ über die Einlegung der Revision informiert.87 Nun kam es entscheidend darauf an, ob die beim Mainzer Erzkanzler erhobene Revision Suspensiveffekt hatte oder nicht. In den Revisionsvorschriften der RKGO von 1555 war dieses Problem weitgehend offen gelassen und lediglich festgestellt worden, dass mit der Exekution im Falle eines bestätigenden Revisionsurteils fortgefahren werden könne.88 Daraus hätte man mit einem argumentum e contrario auf einen „grundsätzlichen Suspensiveffekt der Revision“ schließen können.89 Der 83 Reincke (Fn. 1), S. 29; Weber (Fn. 1), S. 98 f. 84 Teil III, Tit. 53 § 1 RKGO v. 1555, in: A. Laufs (Hg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (= Quellen u. Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 3, hrsg. v. B. Diestelkamp, U. Eisenhardt, G. Gudian, A. Laufs u. W. Sellert), 1976, S. 275 f.; Heinrich Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß am Ende des alten Reiches, 1965, S. 238; Klaus Mencke, Die Visitationen am Reichskammergericht im 16. Jahrhundert (= Quellen u. Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 13, hrsg. v. B. Diestelkamp, U. Eisenhardt, G. Gudian, A. Laufs u. W. Sellert), 1984, S. 84–92. 85 Teil III, Tit. 53 § 1, in: Laufs (Fn. 84), S. 275 f.; ferner Teil III, Tit. 63 § 1, Concept der auf kayserlichen und des reichs befehl im jahr 1613 verbesserten Cammergerichts-Ordnung (COC), hrsg. v. Johann Jacob von Zwirlein, 1783, S. 386; Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555, 1981, S. 217; Mencke (Fn. 84), S. 84 f. Vermutlich hatte auch die Visitationskommission und weder der Mainzer Erzkanzler noch das RKG über die Zulässigkeit der Revision zu entscheiden; vgl. dazu Mencke, S. 87 f. 86 Mencke (Fn. 84), S. 88. 87 Eine Kopie dieses Dekrets befindet sich in den reichshofrätlichen Akten; vgl. Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 469, fol. 23rv; vgl. auch Antiqua, Bd. 2, Nr. 482, „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“, fol. 21r. 88 Teil III, Tit. 53 § 7 RKGO v. 1555, in: Laufs (Fn. 84), S. 277 f. 89 Dementsprechend heißt es in Teil III, § 5 Concept der RKGO v. 1613 (Fn. 85), „daß pen­ dente revisione mit der execution nicht verfahren, sondern damit eingehalten werden soll“; vgl. dazu auch Mencke (Fn. 84), S. 89.

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RHR berief sich deswegen nicht auf die RKGO, sondern zunächst auf die Reichsabschiede von 154890 und 1576.91 Im letzteren heißt es, dass die vom Reichsfiskal vor dem RKG erstrittenen Urteile „vim Definitivae“ haben, also rechtskräftig sind und folglich trotz einer Revision vollstreckt werden können. Zu Recht bezog sich der RHR hierfür zusätzlich auf die Meinung von Vietor.92 Der RHR stützte sich außerdem auf den hier schon mehrfach erwähnten Deputationsabschied von 1600. Gemeint ist § 146 dieses Abschieds, in dem es u. a. heißt, dass „in sachen decretorum alimentorum“ die Revision gegen Urteile des RKG zwar zulässig sei, der „effectus sententiae“ aber „nit suspendirt“ und „mit der execution unverhindert verfahren werden“ könne.93 Der RHR hat daher angenommen, dass es sich um einen „casus alimentorum“ handelt, weil Gegenstand des reichskammergerichtlichen Urteils hauptsächlich eine sog. ärarisch-fiskalische Forderung und nicht die Immedietät Hamburgs, also der Rechtstatus der Stadt, war. Überraschend argumentierte der dänische König in seinem Protestschreiben an den Kaiser vom 31. Mai 163194 für seinen gegenteiligen Rechtsstandpunkt ebenfalls mit dem Deputationsabschied von 1600. Er meinte, dass der Schwerpunkt des reichskammergerichtlichen Urteils nicht in der fiskalischen Forderung, sondern in der in dem Urteil inzidenter festgestellten Immedietät Hamburgs liege. Die Revision gegen ein derartiges Urteil, so die Begründung Dänemark-Holsteins, sei aber nach dem Gemeinen Recht „verbothen“, falle daher nicht unter den Deputationsabschied von 1600 und habe folglich Suspensiveffekt. Dem hielt der RHR entgegen, dass nach dem insoweit nicht aufgehobenen Gemeinen Recht auch verbotene Revisionen keinen Suspensiveffekt hätten. Folglich unterscheide Klock zwar in Anknüpfung an den Deputationsabschied auch zwischen zulässigen und verbotenen Revisionen, verneine aber für letztere den Suspensiveffekt.95

90 Es handelt sich um § 53 Reichsabschied von 1548, in: Schmauß (Fn. 69), S. 125. 91 § 102 Reichsabschied von 1576, in: Neue und vollständige Sammlung der Reichs-Abschiede, Bd. 3, 1747, S. 370. 92 Vietor (Fn. 61), Conclusio XL. 93 Deputationsabschied § 146, in: Friedrich C. Bergmann (Hrsg.), Corpus iuris iudiciarii germanici academicum, 1819, S. 380 f.; vgl. auch Mencke (Fn. 84), S. 89. 94 Vgl. oben Fn. 35. 95 Klock (Fn. 58), Cap. 18: “De Exactione seu Excution collectarum“ Rdnr. 152 (S. 451). Dort interpretiert Klock die fraglichen Vorschriften des Reichsabschieds von 1600 folgendermaßen: „Nam Statuum mens non fuit, tradere Regulam et Exceptiones, quando Revisio admitti debeat, nec ne: sed tantum in quibus casibus effectum suspensivum fortiatur. Dato igi­ tur, extra tres ibi propositas species, omnes Revisiones suspendere Juridictionem Camerae, tamen ex eo non sequitur, Revisionem, quae Jure communi interdicta est, illum effectum ha­ bere: Cum Jus commune intactum et illibatum manserit.“

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Letztendlich beharrten die Parteien auf ihren Standpunkten und durften sich jeweils im Recht fühlen, solange über die Revision nicht entschieden war. Dass eine solche Entscheidung in weiter Ferne lag, hing nicht, wie Weber vermutet, mit einer Überlastung des RKG zusammen.96 Ursache war vielmehr, dass die für die Revisionen des RKG zuständigen Visitationskommissionen nur selten zusammentraten. Daraus folgte, dass die Urteile des RKG weitgehend ihre Wirkung verloren hätten, wenn mit jeder Revision der Suspensiveffekt ausgelöst worden wäre.97 Um diese Konsequenz zu vermeiden, bestimmte später der Jüngste Reichs­ abschied von 1654, dass der „Effectus suspensivus bey den gesuchten Revisionibus wider die Cammer-Gerichtliche Urtheile inskünfftige aufgehebt“ sein solle.98

IV  Die Fortsetzung der Streitigkeiten Angesichts der unsicheren Rechtslage kamen die Auseinandersetzungen zwischen den Parteien nicht zur Ruhe. Abgesehen davon, dass weiterhin über die Wirksamkeit und Vollstreckbarkeit des Sessionsdekrets von 1641 gestritten wurde, versuchten Dänemark und Holstein ihre Rechte auf Hamburg mit politisch-diplomatischen Mitteln, aber auch durch Anwendung von Gewalt zu realisieren. Als beispielsweise Dänemark die Stadt durch die Beschlagnahme von Schiffen und die Sperrung der Elbe bedrängte,99 sah sich Hamburg 1643 zu einem Vergleich mit dem dänischen König gezwungen und zahlte an diesen 280.000 Rthl.100 Als Gegenleistung versprach der König der Stadt, ihre überkommenen Rechte, Freiheiten und Privilegien zu respektieren und ihren wirtschaftlichen Handel nicht zu stören,101 was der König am 17. November 1645 nochmals in einer Resolution bestätigte.102  96 Weber (Fn. 1), S. 97 f.; Reincke (Fn. 1), S. 33, vertritt die Ansicht, eine Entscheidung über die Revision sei nicht zustande gekommen, weil die „gesetzlich vorgesehenen Revisionskammern bisher überhaupt noch gar nicht gebildet waren“.  97 Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat. Im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens, 1973, S. 388 f.  98 § 124 Jüngster Reichsabschied, in: A. Buschmann (Hrsg.), Kaiser u. Reich, 1984, S. 507; Mencke (Fn. 84), S. 89.  99 Loose (Fn. 1), S. 297. 100 Eodem. 101 Moser (Fn. 4), S. 1082; ferner Hamburg u. Altona (Fn. 3), S. 124. Demgegenüber ist Loose (Fn. 1), S. 297, der Ansicht, dass Hamburg in diesem Vergleich auf seine „Elbhoheit und Elbprivilegien“ verzichtet habe. 102 Moser (Fn. 4), S. 1082.

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Damit fanden die Auseinandersetzungen noch immer kein Ende.103 Denn alsbald ging es wiederum um die Frage der Teilnahme Hamburgs an den Reichstagen. So wurde die Stadt mit einem kaiserlichen „Decretum in puncto Sessionis &Voti“ vom 22. April 1654 aufgefordert, die Ladung zum Reichstag zu befolgen und sich dort „zu Beförderung der allgemeinen Ruhe und Wolfart und Berathschla­ gung deß Reichs Anliegen und Geschäfften gleich andern beschriebenen Reichs-Stän­ den“ einzufinden.104 Als es 1664 erneut um die vom dänischen König kritisierte Ladung Hamburgs zum Reichstag ging,105 bestätigte der RHR am 18. April 1664 die Sessionsdekrete von 1641 und 1654.106 Kaiser Leopold I. (1658–1705) erklärte in diesem Zusammenhang, dass er nicht gewillt sei, dasjenige aufzuheben, was seine Vorfahren beschlossen hätten.107 Unter dem Dänenkönig Christian V. (1670–1699) kam es erneut zu Spannungen, als dieser die Huldigung Hamburgs verlangte.108 Nachdem der König der 103 Als das Fürstenhaus Holstein 1655 von Hamburg die Erbhuldigung verlangte und die Stadt sich weigerte, gelangte die Angelegenheit an den Kaiser, der den RHR aufforderte, dazu ein Gutachten zu erstatten. Die Akte enthält u. a. eine Zusammenstellung von Dokumenten über die Rechtsstellung Holsteins; vgl. Antiqua Bd. 1, Nr. 195; Antiqua Bd. 2, Nr. 482. In letzterer Akte befinden sich ein Votum ad Imperatorem, ein Beschluss des Geheimen Rats aus dem Jahre 1665 und weitere Dokumente zur Unmittelbarkeit Hamburgs. 104 Das Dekret ist in den Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 482 „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“, 24v–25r, enthalten. 105 Vgl. auch Antiqua (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 469. 106 Das entsprechende Conclusum ist in den Antiqua (Fn. 5) Bd. 2, Nr. 482, „Documenta der Stadt Hamburg Immedietät betreffend“, fol. 27r–28r, enthalten. Vgl. auch Hamburg u. Altona (Fn. 3), S. 125. 107 Hamburg u. Altona (Fn. 3), S. 125. 108 Antiqua (Fn. 5), Bd. 1, Nr. 196 u. 197. Aus der Akte Nr. 196 ergibt sich, dass der Kaiser 1576 nun auch am RHR einen Fiskal eingesetzt hatte, vgl. dazu Gernot Peter Obersteiner, Das Reichshoffiskalat 1596 bis 1806, in: Anette Baumann/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Reichspersonal (= Quellen u. Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 46), 2003, S. 89–164. Der Fiskal meldete dem Kaiser, dass der dänische König und Holstein Hamburg wie eine erbuntertänige Stadt behandelten und von ihr die Erbhuldigung verlangten. Unter Hinweis auf das die Reichsunmittelbarkeit bestätigende Urteil des RKG von 1618 und die gegen das Urteil noch nicht entschiedene Revision bittet der Reichshoffiskal den Kaiser, die gegen Dänemark ergangenen und nicht aufgehobenen Inhibitionsmandate zu erneuern. Aus der Akte Nr. 197 folgt, dass Hamburg den RHR um Schutz ersucht hatte, weil einige Stände im Reich – gemeint ist wohl vor allem Dänemark – nicht die Entscheidungen der Reichsjustiz abwarteten, sondern mit Waffengewalt ihre Ansprüche durchzusetzen versuchten. Daraufhin erging 1671 eine Ermahnung an den dänischen König, während der gegen das Urteil des RKG von 1618 laufenden Revision den reichsunmittelbaren Status der Stadt Hamburg zu respektieren. Zugleich wurde von Hamburg verlangt, dem dänischen König keine Erbhuldigung zu leisten. 1672 wurde der

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Stadt mit militärischer Blockade gedroht hatte,109 kam es am 1. November 1679 wiederum zu einem Vergleich, dem sog. Pinneberger Rezess.110 Darin verpflichtete sich die Stadt Hamburg zu einer Zahlung von 220.000 Rthl. an den dänischen König. Dieser versprach wiederum, die Rechte, Freiheiten und Privilegien der Stadt anzuerkennen und im Übrigen die heikle Frage der Huldigung bis zu einer gütlichen Einigung oder gerichtlichen Entscheidung ruhen zu lassen.111 Als Hamburg 1686 gegenüber Christian V. erneut die Erbhuldigung verweigerte, drohte dieser der Stadt mit Belagerung,112 worauf sie sich am 16. August 1692 in Kopenhagen wiederum auf einen Kompromiss einließ,113 der sich von dem vorangegangenen Pinneberger Rezess nur insoweit unterschied, als sich Hamburg jetzt zur Zahlung einer Summe von 400.000 dänische Kronen verpflichtete.114 1712 verstand es Dänemark, ohne dass die Frage der Huldigung eine Rolle spielte, Hamburg nochmals eine Summe von 246.000 Rth. abzunötigen, womit es Hamburg möglich war, seine von Dänemark beschlagnahmten Schiffe und militärisch besetzten Ländereien loszukaufen.115 RHR vom Kaiser aufgefordert, ein Votum zum Streit über die Huldigung Hamburgs abzugeben. Dort empfahl er, mit einem Mandat den Agenten des Königs zu verbieten, Hamburg als erbuntertänig zu bezeichnen; vgl. dazu Antiqua, Bd. 1, Nr. 246. 109 Antiqua (Fn. 5), Bd. 1, Nr. 254: Hamburg hatte 1679 den Kaiser darüber informiert, dass Dänemark und Friedrich Wilhelm von Brandenburg Truppen vor der Stadt stationiert hätten, die eine Bedrohung darstellten. Schon 1672 hatte Hamburg beim RHR ein Mandat gegen den dänischen König auf Abriss einer Befestigungsanlage verlangt, die der König auf einer Elbinsel hatte errichten lassen. 110 Hamburg u. Altona (Fn. 3), S. 125. Der Vergleich ist bei Moser (Fn. 4), S. 1082 f. abgedruckt; Loose (Fn. 1), S. 301 f. 111 Moser (Fn. 4), S. 1082 f.; Hamburg u. Altona (Fn. 3), S. 125. 112 Antiqua (Fn. 5), Bd. 1, Nr. 265. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Akte Nr. 250. Sie enthält u. a. einen Bericht von 1688 über die militärischen Maßnahmen des dänischen Königs gegen Hamburg und wie diesen die Stadt im Ernstfalle begegnen könne. – Im Zuge von Schutzmaßnahmen zugunsten Hamburgs verlangte Kaiser Leopold I. 1688 von der Stadt Akten heraus, die das Statusverfahren vor dem RKG betrafen. Denn diese seien für eine Entscheidung über die Revision gegen das Urteil des RKG von 1618 notwendig. Die Stadt zögerte mit der Herausgabe, weil sie, so wurde auf Seiten des Kaisers vermutet, offenbar wenig Interesse an einer Entscheidung über die Revision habe, obwohl sie sich doch mit einer solchen Entscheidung – vorausgesetzt sie erfolgt zu ihren Gunsten – „von allen weiteren Prä­ tensionen des Kg. von Dänemark befreien könnte“; vgl. Antiqua Bd. 1, Nr. 278. 113 Dem Kaiser ging es hauptsächlich darum, dass dieser Vergleich keinen Einfluss auf den am RKG schwebenden Prozess über die Reichsunmittelbarkeit der Stadt haben dürfe; Antiqua (Fn. 5), Bd. 1, Nr. 265. 114 Hamburg u. Altona (Fn. 3), S. 126; Moser (Fn. 4), S. 1083. Bei Loose (Fn. 1), S. 302 f., ist statt von dänischen Kronen von Reichstalern die Rede. 115 Hamburg u. Altona (Fn. 3), S. 126; Loose (Fn. 1), S. 303.

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Die Rechtsfrage der Immedietät spielte wiederum eine Rolle, als Hamburg 1733 auf Verlangen des Kaisers ein nach Mecklenburg zu verlegendes Truppenkontingent zur Verfügung stellen sollte. Dagegen erhob der dänische König Einspruch, weil Hamburg „dadurch einen Actum eines unmittelbaren Reichs-Standes“ hätte „ausüben“ müssen.116 Nachweislich hat Dänemark-Holstein spätestens von nun an die Revision am RKG nicht mehr mit Nachdruck betrieben, sondern versuchte, wie die zahlreichen Vergleiche zeigen, auf andere Weise zum Erfolg zu kommen.117 Die gesamten Auseinandersetzungen endeten erst 1768 mit dem sog. Gottorper Vergleich.118 Dort erklärte der dänische König Christian VII. (1766–1808) für sich und seine Nachfolger die Rücknahme der Revision gegen das Urteil des RKG von 1618. Von nun an nannte sich Hamburg unangefochten und offiziell „Kayserliche freye Reichs-Stadt“ und unterstand nicht mehr der Herrschaft des dänischen Königs.119

V Schlussbemerkung Auch wenn nur ein Teil des bisher erschlossenen reichshofrätlichen Aktenmaterials ausgewertet werden konnte, hat die Untersuchung gezeigt, dass das kaiserliche Gericht in dem Hamburger Immedietätsstreit eine zentrale und von der Forschung bisher vernachlässigte Rolle gespielt hat. Aus den Akten wird außerdem sichtbar, dass mit dem Urteil des RKG von 1618 die rechtlichen Auseinandersetzungen zwischen Hamburg und Dänemark-Holstein keineswegs beendet waren, sondern vor dem RHR bis zum Gottorper Vergleich von 1768 fortgesetzt wurden. Die Immedietätsfrage stand weiterhin im Mittelpunkt des Rechtsstreits, auch wenn diese jetzt mit der eingelegten Revision Teil der entstandenen Vollstreckungsprobleme (Suspensiveffekt) geworden war. Hauptsächlich ging es um die Durchsetzung des Sessionsdekrets v. 26. April 1641, mit dem der RHR die Reichsunmittelbarkeit Hamburgs inzidenter festgestellt hatte.

116 Hamburg hat daraufhin „eine Deduction in puncto Immedietatis in den Druck ausgehen ­lassen“; Moser (Fn. 4), S. 1083. – Der Kaiser hatte offenbar schon 1703 Hamburg aufgefordert, dem niedersächsischen Kreis Truppen zu stellen. Dagegen hatte sich Dänemark beschwert, weil damit der Anschein erweckt werden könne, Hamburg sei reichsunmittelbar und nicht erbuntertänig; vgl. dazu Antiqua (Fn. 5), Bd. 1, Nr. 251. 117 Reincke (Fn. 1), S. 34. 118 Weber (Fn. 1), S. 56 f., 98. 119 Weber (Fn. 1), S. 56.

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Dabei fällt auf, dass die wichtigsten Schriften des Rechtsstreits in gedruckter Form zu den Akten gegeben worden sind. Hieraus ist zu schließen, dass diese nicht nur für das Verfahren am RHR, sondern auch zur Verteilung an diejenigen gedacht waren, von denen sich die Parteien Unterstützung für die jeweils eigene Sache erhofften. Dazu gehörten hauptsächlich die Abgeordneten der Reichs- und Deputationstage. Der Immedietätsstreit hatte also eine weit über die Auseinandersetzungen der Parteien hinausgehende allgemeine Bedeutung für die Verfassung des Reichs und die Friedenswahrung. Das Votum ad imperatorem v. 18. November 1643 bietet gute Einblicke in die juristische Argumentationsweise des RHR. Es ist zudem für die Entscheidungsbegründung aufschlussreich, die im Allgemeinen verborgen blieb, weil weder der RHR noch das RKG die Motive ihrer Urteile den Parteien gegenüber offen legten. Mit dem Votum wird zudem die von den Reichsständen oft gehörte Vermutung relativiert, dass der RHR bei seinen Entscheidungen anders als das RKG weniger rechtliche, sondern politisch-diplomatische Lösungen angestrebt hätte. Demgegenüber zeigt die Sorgfalt, mit welcher der RHR in seinem Votum die Streitfrage erörterte und sich mit den Argumenten der Gegenseite auseinandersetzte, wie sehr diesem Höchstgericht an einer überzeugenden rechtlichen Begründung gelegen war. Das mag auch damit zusammenhängen, dass der RHR den ihm von den Ständen wiederholt vorgeworfenen Verdacht einer willkürlichen und parteiischen Rechtsprechung vermeiden wollte.120 Dies gilt umso mehr, als im betroffenen Fall der Kaiser als unmittelbar an dem Ausgang des Rechtsstreits interessierte Institution beteiligt war. Der RHR ließ sich auch nicht dadurch beeinflussen, dass das Kurfürstenkolleg mit Unterstützung Bayerns den Kaiser 1641 bedrängte, zur Vermeidung von „Inconvenientien“ das Dekret unbeachtet zu lassen. Auch später ist der RHR Forderungen, das Sessionsdekret aus politischen Gründen zu kassieren, nicht nachgekommen. – Die richterliche Unabhängigkeit des RHR blieb freilich dadurch getrübt, dass dieser letztlich seine Entscheidung nicht selbst traf, sondern sie mit dem Votum ad imperatorem dem Kaiser bzw. dessen Geheimen Rat überließ. Der Fall zeigt darüber hinaus, dass die Entscheidungen des RHR nicht ohne weiteres durchgesetzt werden konnten121 und schon gar nicht in einem Falle wie dem erörterten, in dem sich Dänemark-Holstein mit schlüssigen Argumenten bis 120 Wolfgang Sellert, Richterliche Unabhängigkeit am Reichskammergericht u. am Reichshofrat, in: Gerechtigkeit u. Geschichte, Festschrift für Malte Diesselhorst, 1995, S. 118– 132. 121 Wolfgang Sellert, Vollstreckung u. Vollstreckungspraxis am Reichshofrat u. am Reichkammergericht, in: Festschrift für Wolfram Henckel, hrsg. v. W. Gerhardt, U. Diederichsen, B. Rimmelspacher u. J. Costede, 1995, S. 817–839.

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zur Entscheidung über die Revision auf den Suspensiveffekt berufen konnte. Hier besteht allerdings der Verdacht, dass die dänischen und holsteinischen Territorialherren die Revision als prozesstaktisches Machtmittel ausgenutzt haben, um ihre Ansprüche auf Hamburg durchzusetzen. Insoweit wäre – so auch die Beurteilung v. Hingst und Landwehr – die Annahme verfehlt, dass es den Parteien in erster Linie nur um die Rechtsfrage der Immedietät gegangen sei.122 Im Vordergrund dürften vielmehr Fragen der Herrschaftsgewalt im Spannungsfeld von Reich und Territorien sowie ganz allgemein weitreichende ökonomische, freiheitliche und handelspolitische Interessen gestanden haben. Das erklärt auch die häufig wechselnde Haltung Hamburgs in der Statusfrage. Während die Stadt einerseits in der Zugehörigkeit zu den holsteinischen Landesherren rechtliche, politische und ökonomische Vorteile sah, fürchtete sie andererseits als reichsunmittelbare Stadt die Lasten des Reiches mittragen zu müssen. Letztlich strebte sie die Unabhängigkeit sowohl vom Reich als auch von Dänemark-Holstein, also den Status einer freien, autonomen und neutralen Stadt, an. Darin sah sie die beste Voraussetzung für die Verwirklichung ihrer Handels- und Wirtschaftsinteressen sowie für die Sicherung ihres Wohlstands und des Stadtfriedens. Auch für Dänemark-Holstein war die Rechtsfrage der Immedietät kein Wert an sich. Es ging vielmehr um wirtschaftliche Interessen. So nutzte der Dänenkönig die durch die Revision entstandene unentschiedene Rechtslage, ließ die Zufahrten der Elbe sperren und forderte von Hamburg für die Beseitigung solcher Blockaden erhebliche Abfindungssummen. Die verweigerte Erbhuldigung Hamburgs diente ihm dazu, um mit einem erzwungenen Vergleich dieser reichsten Stadt Deutschlands, wie sie S. Pufendorf genannt hat,123 Geld abzutrotzen. Damit trat die Statusfrage hinter der Aussicht auf wirtschaftlichen Gewinn zurück. Letztendlich wurde der gesamte Konflikt jenseits aller Rechtsfragen mit dem auf diplomatischem Wege zustande gekommenen Gottorper Vergleich gelöst. Aber ohne das Recht ging es eben auch nicht. Anderenfalls hätten die Streitereien mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit einen gewaltsameren Verlauf genommen. Damit zeigt sich einmal mehr, welche Bedeutung nicht nur das RKG, sondern auch der RHR für die Sicherung des Friedens im Reich hatte.

122 Hingst/Landwehr (Fn. 1), S. 15, 20; Reincke (Fn. 1), S. 20; Weber (Fn. 1), S. 44 f. 123 Samuel Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches, hrsg. u. übersetzt von H. Denzer (= Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, hrsg. v. H. Maier/M. Stolleis, Bd. 4), 1994, Kap. 2, § 13, S. 78 f.; Moser (Fn. 4), S. 1083 f.

Landfriede und Gerichtsbarkeit in De concordantia catholica des Nikolaus von Kues Von F. Benedict Heyn

Im Jahre 1433 erschien das Werk De concordantia catholica, in dem Nikolaus von Kues neben grundlegenden kirchlichen Reformüberlegungen und einem Votum für den Konziliarismus einen Vorschlag zur Reform des Heiligen Römischen Reiches – und hier auch zu Teilen der Justiz – publizierte. Nikolaus von Kues verfasste damit eine Schrift, in der er sich schon in jungen Jahren als reformerischer Vordenker erwies. Nikolaus von Kues (1401–1464) ist als Universalgelehrter, Theologe und vor allem Philosoph in die Geschichte eingegangen. Gleichwohl hat uns Cu­ sanus, der seiner eigentlichen Profession nach Rechtsgelehrter war, mit der Schrift De concordantia catholica auch eine juristisch geprägte Abhandlung hinterlassen. Cusanus hatte in Heidelberg die artes liberales1 und in Padua die Rechte studiert. Die erworbenen kanonistischen Kenntnisse ermöglichten ihm eine rasche kirchliche Karriere. Zunächst Kirchenrechtler, wurde Cusanus Kardinal und stieg zum Vertrauten des Papstes auf. Als solcher wurde er mit zahlreichen kirchendiplo­ matischen Missionen betraut, die ihn bis nach Byzanz führten.2 In dem Werk De concordantia catholica beschäftigt sich das erste Buch mit kirchlichen Reformfragen, das zweite Buch mit der Konzilstheorie, bevor sich Cusanus im dritten Buch schließlich dem weltlichen Regiment zuwendet mit Vorschlägen, die auf eine Reichsreform zielen. Ausgelöst wurden die Überlegungen des Cusanus in der Concordantia durch die Lage von Reich und Kirche in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die als in hohem Maße reformbedürftig angesehen wurden.

I  Die historische Ausgangslage Zum Zeitpunkt der Abfassung und Veröffentlichung der Concordantia hatte sich die seit dem 12. Jahrhundert fortschreitende Entwicklung im Reich zugespitzt. 1 Walter A. Euler, in: Brösch/Euler/Geissler/Ralff, Handbuch Nikolaus von Kues, 2014, S. 34. 2 Zum Leben des Nikolaus von Kues: Euler (Fn. 1), S. 31–103; Kurt Flasch, Nikolaus von Kues in seiner Zeit. Ein Essay, 2004.

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Die Schwächung der Zentralgewalt des Königs, der Klammer, die das Reich als solches zusammenhielt, zugunsten der Reichsfürsten hatte ein bedrohliches Ausmaß erreicht, das die Handlungsfähigkeit des Königs stark beeinträchtigte und das Reich gefährdete. Auch das Verhältnis des Königs zur Geistlichkeit im Reich, ja selbst die Beziehungen der Reichsstände untereinander waren nicht ungetrübt. Zu den Problemen im Reich traten die Auseinandersetzungen mit den Hussiten und hernach mit den Türken, die dem Reich immer näher kamen, hinzu. Aber auch die Auseinandersetzungen zwischen König und Papst intensivierten sich, der wiederum einer zunehmend reformbedürftigen Kirche den Weg weisen musste, über lange Zeit durch das Schisma seinerseits geschwächt. Aus dieser allgemeinen Erkenntnis der Reformbedürftigkeit von Reich und Kirche erwuchs Ende des 15. Jahrhunderts die angestrebte Reichsreform, im 16. Jahrhundert die Reformation. Wendet man sich zunächst der Situation des Reiches zur Zeit des Cusanus zu, so zeigt sich das Ergebnis eines kontinuierlichen Machtverlustes des Kaisers an die Reichsfürsten. Im Folgenden soll die Situation skizzenhaft umrissen werden, wie sie sich vor Niederschrift der Concordantia darstellte. Hierdurch wird zum einen der konkrete Reformbedarf, aber auch eine Entwicklung verdeutlicht, in die sich Cusanus mit seiner Schrift hineinstellt und die sich weit über ihn hinaus fortsetzt. Eine erste Manifestation der Machtverschiebung zwischen König und Reichsfürsten stellt das Statutum in favorem principum von 12323 dar. Entgegen früherer Einschätzung als eines Rückzuges königlicher Macht aus den Territorien verhält es sich tatsächlich so, dass der Vertrag den Reichsfürsten die Rechte zubilligte, die von ihnen bereits faktisch erworben oder ihnen vom König durch Einzelprivilegien eingeräumt worden waren.4 Hartmut Boockmann5 spricht in diesem Zusammenhang von einem „Waffenstillstand“6 zwischen Kaiser und Reichsfürsten, indem er auf den nicht unerheblichen Ausbau der Macht durch Reichsministeriale des in Italien weilenden Kaisers auf Reichs- und Reichskirchengut verweist, der in zahlreichen Fällen zu Lasten der Reichsfürsten ging.7 Damit wollte Friedrich II. freie Hand für seine imperialen Vorhaben gewinnen. Eine endgültige Be3 Lorenz Weinrich, Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, 1977, Nr. 144, S. 434–439. 4 Vgl. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Aufl. 2013, S. 75; vgl. früher z. B. noch Ernst H. Kantorowicz, Friedrich der Zweite, 2. Aufl. 1928, S. 343 f. 5 Hartmut Boockmann, Stauferzeit und spätes Mittelalter; Deutschland 1125–1517, 2. Aufl. 1993, S. 166 f. 6 Boockmann (Fn. 5), S. 167. 7 Boockmann (Fn. 5), S. 167; Alfred Haverkamp, Aufbruch und Gestaltung. Deutschland 1056–1273, 1984, S. 221 f.

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friedung des Ringens von König und Reichsfürsten um die Vormachtstellung im Reich konnte hierdurch indes nicht erreicht werden.8 Darüber hinaus wurde der fürstenfeindlichen Politik Heinrichs (VII.) entgegengewirkt.9 Der Machtausbau erfolgte jedoch bereits zuvor auf beiden Seiten in wesentlichem Maße durch Landausbau in Form neuer Siedlungen und Herrschaftsverdichtung, mithin durch Neuschaffung von Herrschaft.10 Diese Vorgehensweise hatte bereits vor dem Inkrafttreten des statutum auf den Weg zu einem föderalistischen Aufbau des Reiches im Gegensatz zu dem zentralistischen anderer westeuropäischer Länder geführt.11 Inhaltlich wird u. a. das Verbot der Errichtung königlicher Burgen und Städte auf reichskirchlichem Grund und Boden12 – insoweit eine Bestätigung der Con­ foederatio cum principibus ecclesiasticis von 122013 – und die Untersagung der Verdrängung bestehender alter Märkte durch neue auf Reichskirchengrund festgelegt. Die Fürsten erwarben – als domini terrae (im Sinne von „Eigentumsherren“)14 bezeichnet – mit Münz-, Zoll-, Markt und Befestigungsrechten wichtige Regalien vom Kaiser; ebenso ging die Gerichtsbarkeit auf sie über.15 Nach dem Ende des Interregnums im Jahre 1273 setzte sich das Ringen zwischen den Reichsfürsten, die ihre Landeshoheit ausbauen wollten, und dem König, der das Königtum zu stärken bestrebt war, fort. In dieser Zeit festigten die Landesfürsten auf Basis der confoederatio von 1220 und des statutum von 1232 ihre Herrschaft, gestützt auf die Rechte, die ihnen in beiden Privilegien bestätigt worden waren. Es entstanden zunehmend gefestigte und starke Herrschaften der Landesfürsten mit Rechtsprechung, Gesetzgebung und Besteuerung. Eine Art Endpunkt dieser Entwicklung stellt die Goldene Bulle von 1356 dar.16 Sie regelt die Königswahl durch die Kurfürsten auf reichsrechtlicher Ebene, nachdem bereits bei der Doppelwahl von 1257 zum ersten Mal eine Begrenzung der Zahl der   8 Boockmann (Fn. 5), S. 166 f.   9 Vgl. Boockmann (Fn. 5), S. 168 zur „antikommunalen“ Ausrichtung; ferner Haverkamp (Fn. 7), S. 221; Wolfgang Stürner, Friedrich II., Teil II, 2003, S. 282; Kantorowicz (Fn. 4), S. 343 f. 10 Vgl. Boockmann (Fn. 5), S. 166. 11 Vgl. Boockmann (Fn. 5), S. 166. 12 Vgl. Boockmann (Fn. 5), S. 166; diese Beschränkung erfolgte erst in der 2. Fassung des sta­ tutum aus dem Jahre 1232. 13 Weinrich (Fn. 3), Nr. 95, S. 376–383. 14 So Willoweit (Fn. 4), S. 76. 15 Vgl. zu diesem Problem Götz Landwehr, Königtum und Landfriede. Gedanken zum Problem der Rechtsbildung im Mittelalter, in: Der Staat, Bd. 7 (1968), S. 84–97, 86. 16 Lorenz Weinrich, Quellen zur Verfassungsgeschichte des römisch-deutschen Reiches im Spätmittelalter (1250–1500), 1983, Nr. 94, 94a, 94b, S. 314–395.

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Kurfürsten auf das spätere Kollegium von sieben Fürsten vertreten worden war und der Kurverein von Rhens im Jahre 1338 – unter Ausnutzung des Streits zwischen Ludwig dem Bayern und Johannes  XXII.  – beschlossen hatte, dass der König fortan nur noch von der relativen Mehrheit der Kurfürsten gewählt werden solle und die Wahl zum deutschen König – unabhängig vom Papst – auch die Würde des römischen Kaisers nach sich ziehe.17 Damit bauten die Fürsten ihre Machtposition im Reich durch Unterstützung des Königtums aus und vertieften die Trennung zwischen Reich und Kirche. Parallel zu der eben umrissenen Entwicklung war mit der als Folge des Investiturstreits eingetretenen Trennung geistlicher und weltlicher Macht indes schon längst ein weiteres Konfliktfeld für das deutsche Königtum entstanden. War die Kirche ursprünglich eine entscheidende Stütze des Reiches gewesen, so brach sich im Laufe des 11. Jahrhunderts, ausgehend vom Benediktinerkloster Cluny, eine Reformbewegung Bahn, deren Forderungen sich insbesondere auf die Beseitigung des Einflusses von Laien auf die Kirche – namentlich im Falle der Investitur – richtete. Die von Gelasius I. formulierte sog. „Zwei-Schwerter-Lehre“18 sah weltliche und geistige Macht nebeneinander existierend, ohne einer der beiden den Vorrang gegenüber der anderen einzuräumen. Seit dem 14. Jahrhundert wurde sie jedoch von der Kirche zunehmend im Sinne der Suprematie des Papstes vertreten. Zur Begründung dieser Vorrangstellung stützte sich die Kirche u. a. auch auf die sog. „Konstantinische Schenkung“, die von Cusanus19 in der Concordantia catholica erstmals und ausführlich von kirchlicher Seite als Fälschung dargestellt und bewiesen wurde.20 Die bedeutsame Funktion der Kirche als Bindeglied zwischen römischer Spätantike und dem Mittelalter hatte zunächst zu einer besonderen Privilegierung der Kirche durch den Kaiser geführt.21 Die Reichskirche entstand als Resultat enger Einbindung kirchlicher Herrschaften – nach bereits einsetzender Verselbständigung unter den fränkischen Herrschern – durch die frühkarolingischen Herrscher Karl Martell und seinen Sohn Pippin dem Jüngeren im 8. und 9. Jahr17 Edmund E. Stengel, Avignon und Rhens (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, Bd. VI, Heft 1), 1930, S. 113 ff., 118. 18 Gelasius  I. (492–496) leitete die Beschreibung des Verhältnisses beider Mächte aus Lukas  22,38 ab; Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, 4.  Aufl. 1953, NeuDr. 1986, S. 190. 19 Vgl. Percy Ernst Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio (Studien der Bibliothek Warburg, Bd. 17), 1929, NeuDr. 1992, S. 163. 20 Otto III. hatte bereits die Konstantinische Schenkung als Fälschung erkannt, Willoweit (Fn. 4), S. 61. 21 Vgl. hierzu Friedrich Prinz, Grundlagen und Anfänge. Deutschland bis 1056, 1989, S. 327–336.

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hundert. Dies geschah im Wesentlichen durch Zurückschneiden der Privilegien und durch Investitur ihnen genehmer Bischöfe und Äbte.22 Darüber hinaus erfolgte die Inpflichtnahme der Kirche zur Gestellung von Truppen aufgrund der am Anfang des Lehenswesens stehenden Rechtsinstitute der Stiftsvasallität23 und der precaria verbo regis,24 zu deren besserer Durchsetzung die erwähnte Investitur genehmer Amtsträger durch den Herrscher erfolgte.25 Erst die Reformsynoden – beginnend mit dem concilium Germanicum von 742 – führten zu einem Ausgleich zwischen Kirche und Reich.26 Die fortan bestehende enge Verbindung von weltlicher und kirchlicher Macht im Reich löste sich jedoch im Laufe des 9. und 10. Jahrhunderts in zunehmendem Maße auf.27 Zu einer völligen Neuerung der politischen Situation führte der durch die cluniazensiche Reformbewegung ausgelöste Investiturstreit. Mit dem Wormser Konkordat von 1122 fand nicht nur dieser ein Ende. Zugleich wurde eine weitreichende Weichenstellung vorgenommen. Indem die Kirche eine Vorrangstellung im Verhältnis zur weltlichen Herrschaft des Kaisers anstrebte, führte sie einen ersten Säkularisationsschub herbei.28 Die res publica Christiana als religiös-politische Einheit, in der bislang Kaiser und Papst innerhalb der einen Kirche lediglich als „Inhaber verschiedener Ämter“29 anzusehen waren, war nun aufgebrochen worden. Fortan standen sich weltliches und geistliches Regiment gegenüber.30 Dieser Entwicklung, durch welche das Reich in Reformzwang geriet, konnte nur durch eine starke Zentralgewalt Einhalt geboten werden. Welche Machtmit22 Prinz (Fn. 21), S. 84–85. 23 Prinz (Fn. 21), S. 84; so schon Mitteis (Fn. 18), S. 109. 24 Prinz (Fn.  21), S.  84; Heinrich Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt, 1933, ND  1974, S. 117 ff., insb. S. 120. 25 Hieran u. a. entzündete sich die Kritik des Bonifatius, der er in seinem Schreiben Ausdruck verlieh, das zum concilium Germanicum von 742 führte, Prinz (Fn. 21), S. 87 f. 26 Prinz (Fn. 21), S. 87–88; Mitteis (Fn. 24), S. 121 f. 27 Päpstliche Schutzprivilegien, die zunächst neben den königlichen bestanden, gewannen in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts an Bedeutung, bevor sie im 10. Jahrhundert in Konkurrenz miteinander traten. Nach Beginn der cluniazensischen Reformbewegung schließlich wurden sie Mittel der päpstlichen Bestrebungen gegen die Reichskirche, vgl. Willoweit (Fn. 4), S. 62. 28 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Recht, Staat, Freiheit, erw. Ausgabe 2006, S. 92–114, 94 f.; zur Fortsetzung dieser Entwicklung zum modernen Staat im 17. Jahrhundert vgl. Carl Schmitt, Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, 4. Aufl. 2003, S. 375–385. 29 Böckenförde (Fn. 28), S. 95. 30 Heinrich Mitteis, Die deutsche Königswahl, 2. Aufl. 1944, ND 1987, S. 106–107.

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tel aber standen dem Königtum noch zur Verfügung? In diesem Zusammenhang kommt dem Rechtsinstitut des Landfriedens auch als Herrschaftsmittel des deutschen Königs besondere Bedeutung zu. Das Rechtsinstitut des Landfriedens offenbart indes in seiner Entwicklung gleichermaßen die zunehmende Schwächung des Königs und spiegelt das Ringen um dieses Herrschaftsinstrument des Königtums wider: In der Folge des Mainzer Reichslandfriedens von 1235 erhielt das Königtum eine Stärkung seiner Position im Machtgefüge des Reiches, indem ihm durch diesen über die Rechtswahrung hinaus die Friedensgewalt über alle Fürsten, Städte und Herren zugewiesen wurde.31 Möglichkeiten, initiativ zu werden, und die Rechtsposition des Königs werden erweitert. Mit Blick auf die zeitgleich durch Friedrich II. in Sizilien entstehende Form beginnender Staatlichkeit erscheint es nicht abwegig, in diesem Machtzuwachs – flankiert durch die Einführung des Reichshofgerichts – eine Vorform ähnlicher Strukturen auszumachen.32 Die weitere Entwicklung im 14. Jh. ist durch Einbußen in der Machtposition der Könige charakterisiert. Durch Veräußerung von Reichsgut bzw. Reichsrechten,33 um die eigene Wahl zu erreichen, verloren Adolf von Nassau (1292–1298), Albrecht I. (1298–1308) und Heinrich VII. (1308–1313) die von den Staufern aufgrund des Reichslandfriedens von 1235 statuierte Friedensgewalt. Mit dem hiermit verbundenen Verzicht der Könige begaben sie sich der Möglichkeiten, durch königliche Gerichtsbarkeit eine unmittelbare Überwachung der Einhaltung der Landfrieden und ihrer Durchsetzbarkeit vorzunehmen, hernach auch der Verfügungsgewalt über die ordentlichen Gerichte in Landfriedenssachen.34 In der Folgezeit unternommenen Versuchen Karls IV., direkten Einfluss in den Territorien zu gewinnen, war kein Erfolg beschieden. Wenzels Versuch schließlich, die Territorien zu einer einheitlichen Friedensordnung zu bewegen, scheiterte ebenfalls. 35

II  Die Reformvorschläge des Nikolaus von Kues betreffend Landfrieden und Gerichtsbarkeit Diesen – eingangs skizzierten – Zustand des Heiligen Römischen Reiches, wie er sich gleichsam am Vorabend des Werkes De concordantia catholica darstellte, hatte 31 Vgl. Heinz Angermeier, Königtum und Landfriede, München 1966, S. 29–33. 32 Vgl. Angermeier ebda. 33 Diesen Umstand kritisiert Nikolaus von Kues, De concordantia catholica, liber III, n. 500 explicit als eine der Ursachen der Schwächung des Königtums. 34 Vgl. Angermeier (Fn. 31), S. 106f. 35 Angermeier (Fn. 31), S. 282 f. und 297 f.

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Cusanus bei der Abfassung der Schrift vor Augen. Er selbst umschrieb die Lage mit den bekannten Worten: „[…], quia mortalis morbus imperium Germanicum invasit, cui, nisi subito salutari an­ tidote subveniatur, mors indubie sequetur.“ 36

Die von Cusanus gewählte Formulierung macht zugleich deutlich, wie groß und existentiell er die Gefahr sieht, in der sich das Reich befindet, und für wie dringlich und geboten er Reformschritte hält. Spätestens seit der Krönung Sigismunds  I. zum deutschen König im Jahre 1410, nach der dieser alsbald eine Reichsreform angesichts der offenkundigen Missstände als Vorhaben seiner Regentschaft postulierte,37 hatte die Publikation von Reformvorschlägen in vielfältiger Weise begonnen. Dementsprechend zahlreich sind die Reformschriften und -anstöße, die in den folgenden Jahrzehnten öffentlich wurden. Cusanus äußerte sich im Jahre 1433 als Teilnehmer des Konzils von Basel, als ihm eine Verhandlungspause die Gelegenheit dazu eröffnete. Eine kirchliche, konziliare Reformschrift erweiterte Cusanus stückweise um Reformvorschläge für das Reich im III. Buch der Concordantia sowie schließlich um eine allgemeine Vorrede zu demselben.38 Cusanus sah in der Überhandnahme und Verselbständigung des Fehdewesens, das Züge von Selbstjustiz angenommen hatte und dem niemand Einhalt gebot, das Grundübel und die Hauptursache für den Verfall der Rechtsordnung und mithin des Reiches.39 Das praktische politische Problem, mit dem er konfrontiert war, bestand darin, dass die unterschiedlichen machtausübenden Beteiligten des weltlichen und kirchlichen Lebens im Reich im gegenseitigen, steten Machtkampf eine Stärkung der eigenen Position im Machtgefüge anstrebten und sich hierzu namentlich des Rechtsinstitutes der Fehde bedienten. Eine dauerhaft befriedende Lösung musste diesen Missstand beseitigen. Cusanus zielte deshalb mit seinen Vorschlägen auf die Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung („ordo in curando detur“).40 Wird von Cusanus oder einem seiner Zeitgenossen in diesem Zusammenhang der Begriff der „Reform“ verwendet, so ist nicht im heutigen Sinne von einer Weiterentwicklung, sondern von einer Re-form im Sinne einer 36 Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 507. 37 Heinz Angermeier, Reichsreform 1410–1555, München 1984, S. 52, 54. 38 Vgl. Gerhard Kallen, Die handschriftliche Überlieferung der Concordantia catholica des Nikolaus von Kues, 1963 (Cusanus-Studien, Bd. VIII), S. 12 f. 39 Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 504; Matthias G. Fischer, Reichsreform und „Ewiger Landfrieden“, 2007, S. 81 f. 40 Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 510.

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Wiederherstellung der in Verfall geratenen Zustände die Rede. Da das Heilige Römische Reich von seiner Idee her „als ‚Erscheinungsform der ecclesia‘ mit dem Auf­ trag, das ‚regnum Dei‘ auf Erden zu verwirklichen“,41 gesehen wurde, erhellt, dass es eine Weiterentwicklung nach damaligen Vorstellungen gar nicht geben konnte. Cusanus schlug aus diesem Grunde im III. Buch seines Werkes vor, die Fehde als zur Eigenmächtigkeit und zum Missbrauch verleitendes Rechtsinstitut gesetzlich zu verbieten42 und das Verbot gerichtlicher Kontrolle zu unterwerfen. Diese Stärkung der Gerichtsbarkeit sollte mit einer neuen organisatorischen Ausgestaltung einhergehen. Verteilt auf Länder, die dem Reich unterstanden, sollten mindestens zwölf Gerichte eingerichtet werden.43 Die Spruchkörper sind nach dem Vorschlag des Cusanus mit drei Richtern zu besetzen („constituatur pro triplici nominum statu“):44 einem Adligen, einem Geistlichen und einem Mann aus dem Volke. Diesen Gerichten wies Cusanus eine umfassende Zuständigkeit für alle Rechtsfälle zu. Dabei bejahte er die Zuständigkeit auch bei geistlichen Parteien, wenn und soweit weltlicher, vom Reich abhängiger Besitz betroffen war.45 Die Gerichte sollten sowohl Eingangsinstanz sein – im Falle einer einfachen Klage („simplicis querele“)46 mit Appellationsmöglichkeit vor die nächste Versammlung („proximum conventum“) – als auch Appellationsinstanz letztinstanzlich.47 Dabei sollte jeder Richter entsprechend seiner und der jeweiligen Parteien Standeszugehörigkeit das Urteil sprechen. Nur endgültige Urteile sollten durch alle Richter eines Spruchkörpers – gegebenenfalls im Wege der Mehrheitsentscheidung – ergehen.48 Bei schwierigen Fällen („[…] qui in arduis consilium re­ quirant“) räumte Cusanus dem Gericht die Möglichkeit ein, Rechtskundige zu konsultieren. 49 Um das neue System der Geltendmachung von Rechten nicht seinerseits im Rahmen der Rechtsdurchsetzung scheitern zu lassen und das Ziel des Rechtsfriedens zu verfehlen, beabsichtigte Cusanus, auch die Vollstreckung der Gerichtsurteile in die Hände der erkennenden Richter zu legen.50 Damit sollte auch das letzte Einfallstor zur Fortsetzung der eigenmächtigen Rechtsdurchsetzung im 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Böckenförde (Fn. 28), S. 95. Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 514. Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 511. Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 511. Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 511. Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 511. Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 511. Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 511. Ebda., a. E. Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 512 sowie n. 514.

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Wege der Fehde oder eines fehdeähnlichen Instituts beseitigt werden. Stattdessen eröffnete Cusanus den Richtern die Möglichkeit, den weltlichen Arm (seculare bracchium)51 anzufordern. Nach dem Vorbild der von Konstantin den Großen dem Präfekten Galliens Agricola befohlenen Versammlung in Arles – Cusanus führt das wörtliche Zitat der Urkunde ein52 – sollte alljährlich zu Pfingsten eine nicht mit dem Reichstag identische Versammlung der Kurfürsten in Frankfurt am Main stattfinden.53 Neben zahlreichen Bestimmungen zu Wahlverfahren, Ablauf und Disziplinierung der teilnehmenden Kurfürsten sieht Cusanus hier den Ort zur grundlegenden Überarbeitung des Prozessrechts,54 mit dem Ziel, Vorteile des Rechtskundigen gegenüber dem juristischen bzw. im Prozess unerfahrenen Laien auszugleichen. Als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben der eben erwähnten Versammlung legte Cusanus in seinen Vorschlägen fest, dass ein Gesetz zu erlassen sei, das jede Fehde verbiete.55

III  Naturrechtliche Herleitung des Gesetzes bei Nikolaus von Kues Dieser Vorschlag einer gesetzlichen Regelung ist aus drei Aspekten heraus interessant: Zum einen stellt sich die Frage nach den politisch-praktischen Folgen der inhaltlichen Regelungen, die mit dem Gesetz getroffen werden sollen. Zum anderen bahnt sich hier eine neue Form der Gestaltung des Gemeinwesens an. Zunächst aber zeigt sich bei näherem Hinsehen ein weiterer Mosaikstein in der Kontinuität des Rechtsdenkens, beginnend in der Antike. Cusanus bezieht sich in der Vorrede zu liber III der Concordantia ausdrücklich auf Ciceros Ausführungen zum Naturrecht und stellt so seine Rechtsüberlegungen auf das Fundament der ciceronischen Naturrechtsdefinition, indem er in der Vorrede zu liber III auf De officiis I, 3 verweist.56 Cicero hatte – wenngleich in De officiis I, 4 (11) – folgenden Grundsatz formuliert: „principio generi animantium omni est a natura tributum, ut se, vitam corpusque tucatur, declinet ea […] eisudem.“ Diese grundlegenden Ausführungen Ciceros, die sich auch in anderen seiner Hauptwerke, die zu derselben Zeit entstanden und denselben Zweck verfolgten, finden, sind von grundsätzlichem Interesse, weshalb ihre Übernahme durch Cu­ 51 Ebda. 52 Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 521–526. 53 Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 528. 54 Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 530, 531. 55 Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 514. 56 Nikolaus von Kues (Fn. 33), Vorrede zu liber III, n. 268.

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sanus näher zu betrachten ist. Von besonderer Bedeutung erscheint hier die Anknüpfung an die Selbsterhaltung des Menschen. Cusanus führt in der Einleitung zu liber III57 in Übernahme der Aussagen Ciceros aus: „[…] naturalis quidem iura cunctas humanas considerationes et antecedunt et ad omnis illa principa sint. Omnia autem generi animantium primum a natura tribuitur, ut tuatur se, corpus vitam­ que, declinet nocituar, acquiratque necessaria, ut Tullius ex hac radice primo De offi­ cio tertio capitulo intentum elicit.“ Es stellt sich die Frage, worin das Spezifische der Auffassung Ciceros vom Naturrecht liegt und damit einerseits, worin sich Ciceros Ansatz von anderen – beispielsweise von dem der Stoa oder dem des Aristoteles – unterscheidet und warum sich Cusanus andererseits gerade für diesen entscheidet und ihn als Grundlage seiner Überlegungen wählt. Schließlich ist zu fragen, mit welchen Folgen für die Vorschläge in liber III – namentlich für die folgenden Ausführungen zum Landfrieden – Cusanus seine Wahl getroffen hat. Vor näherer Betrachtung des Grundprinzips der „Selbsterhaltung“ ist es zudem wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Cusanus Rechtssetzung, gesellschaftliche Ordnung und Rechtsordnung, aber auch die Herrschaftsorganisation naturrechtlich ableitete bzw. begründete. Bereits in liber II der Concordantia findet sich hierzu eine grundlegende Aussage des Cusanus:58 „[…] omnis constitutio raducatur in iure naturali, et si contradicit, cons­ titutio valida esse nequit […]“59 sowie ferner: „[…] unde cum ius naturale naturali­ ter rationi insit, tunc comata est omnis lex homini in radice sua.“60 Hieraus ergibt sich die bestimmende Rolle, die Cusanus dem Naturrecht beimisst.61 Cicero knüpfte in seinen rechtsphilosophischen Überlegungen an die Gedanken der Stoa an, veränderte sie jedoch maßgeblich, wodurch sie für Cusanus in seiner konkreten Situation attraktiv wurden und sich zur Übernahme förmlich anboten. Cusanus und Cicero standen in einer vergleichbaren historischen Situation, als sie sich ihren rechtsphilosophischen Überlegungen widmeten, und verfolgten mit ihren Schriften ähnliche Ziele.62 Cicero entwickelte seine Gedanken in der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr., als sich die römische Republik im Stadium des Verfalls befand. Es tobten heftige innenpolitische Machtkämpfe: Ge57 Nikolaus von Kues (Fn. 33), Vorrede zu liber III, n. 268. 58 Vgl. Claudia Lücking-Michel, Konkordanz und Konsens. Zur Gesellschaftstheorie in der Schrift De concordantia catholica des Nicolaus von Cues, 1994, S. 125. 59 Vgl. Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber II, n. 162. 60 Ebda. 61 Vgl. hierzu Lücking-Michel (Fn. 58), S. 125 ff. 62 Vgl. Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 510: „[…] et quia non posset tantus lapsus pris­ tine sanitati restitui ordo in curando detur“; vgl. Kurt Flasch, Nikolaus von Kues, Geschichte einer Entwicklung, 3. Aufl. 2008 der Sonderausgabe 2003, S. 87.

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walttätige Auseinandersetzungen und die Verfolgung politischer Gegner destabilisierten die Republik und führten zum Verfall des Rechtssystems.63 Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten und mit dem Ziel der Wiederherstellung der alten Republik, wenngleich sicherlich auch um persönliches Scheitern im Machtkampf zu verarbeiten,64 verfasste Cicero die Werke De officiis, De legibus und De republica,65 in denen er auf rechtsphilosophische Gedanken der Stoa zurückgriff und sie weiterentwickelte, auf die Cusanus sich in seinen Vorschlägen zur Reichsreform stützte. Indem Cicero indes den griechischen Begriff νόμος, der im Sinne eines unveränderlichen, ewigen, der Rechtsordnung vorgelagerten Gesetzes – ähnlich der späteren lex aeterna66 – zu verstehen war, mit dem römischen Begriff lex übersetzte,67 der das Gesetz im Sinne positiven Rechts meinte, entfernte sich Cicero von der Stoa. Ihm ging es darum, statt einer Beurteilung der Gesetze aufgrund eines vorgelagerten Maßstabes zu einer Gesamtschau des Rechts zu gelangen.68 Die Stoa hatte eine Auffassung des Naturrechts vertreten, wonach dieses dem positiven Recht gegenübersteht, vorgelagert und als dessen Maßstab in ethischer Hinsicht anzusehen ist.69 Der neue Ansatz Ciceros, den Cusanus übernahm, leitete das Naturrecht stattdessen aus der menschlichen Natur-Vernunft ab. Cicero stellte die Frage, wann kodifiziertes Recht wirkliches Recht ist.70 Er lehnte den stoischen Ansatz, der die von ihm intendierte Wiederherstellung des Rechts im Sinne der alten Republik nicht zwingend befördert hätte, ab. Stattdessen verknüpfte Cicero Natur-Recht und positives Recht wesentlich enger. Er sah im positiven Gesetz (lex) „das Wesen“ 63 Vgl. hierzu insgesamt Karl Christ, Krise und Untergang der Römischen Republik, 7. Aufl. 2010. 64 Zur Motivation Ciceros in diesem Prozess Manfred Fuhrmann, Cicero und die römische Republik, 4. Aufl. 1997, S. 155 ff. 65 De re publica soll hier nicht weiter erörtert werden, da es aufgrund seiner Rezeptionsgeschichte Cusanus nicht bekannt gewesen sein dürfte. Das Werk wurde 1820 als Palimpsest wiederentdeckt; De re publica, Tusculum-Ausgabe, hrsg. und übersetzt von Karl Büchner, 5. Aufl. 1993, S. 281; De legibus und De officiis hingegen waren Cusanus bekannt. Zur Rezeption von De legibus seit dem 9. Jh. vgl. Otto Mazal, Geschichte der abendländischen Wissenschaft des Mittelalters, 2006, Bd. I, S. 499. 66 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, 2. Aufl. 2006, S. 139. 67 Cicero, De legibus. Tusculum-Ausgabe, hrsg., übersetzt und erläutert von Rainer Nickel, 3. Aufl. 2004, I, 6, 19; vgl. Böckenförde (Fn. 66), S. 161. 68 Cicero (Fn. 67), I, 5, 17. 69 Vgl. Böckenförde (Fn. 66), S. 163. 70 Cicero (Fn. 67), I, 6, 19 und I, 5, 17; vgl. Böckenförde (Fn. 66), S. 160 f., 163.

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(vis)71 der Natur verkörpert, Geist und Vernunft des Weisen, die Richtlinie für Recht und Unrecht: „Ea [sc. lex; d. Verf.] est enim naturae vis, ea mens ratioque prudentis, ea iuris atque iniuriae regula.“72 Cicero charakterisiert das Gesetz wie folgt: „[…] lex est ratio summa, insita in natura, quae iubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria.“73 Das positive Recht ist somit nur dann wirkliches Recht, wenn es dem aus der Natur-Vernunft abgeleiteten Naturrecht entspricht.74 Damit ist das Naturrecht von der Entscheidung des Gesetzgebers unabhängig und notwendigerweise Bestandteil positiven Rechts als konstitutives Merkmal.75 Cicero entfernte sich indes gleichermaßen vom methodischen Ansatz des Aristoteles, das bestehende Recht auf die in ihm erscheinende Idee zurückzuführen und das Recht in seiner „Idee-Geformtheit“ aufzuweisen.76 Aristoteles führte aus: „ἡ δὲ δικαιοσύνη πολιτικόν ἡ γὰρ δίκη πολιτικῆς κοινωνίας τάξις ἐστίν, ἡ δὲ δικαιοσύνη τοῦ δικαίου κρίσις.“77 Cicero lehnte sich inhaltlich enger an stoisches Gedankengut an. Bereits in der Schrift De legibus, die vermutlich in der Zeit ­zwischen 53 und 51 v. Chr. entstanden ist,78 hatte Cicero, wie gesehen, zwar die Abkehr vom naturrechtlichen Ansatz der Stoa formuliert. Er übernahm jedoch in dem im Jahre 44 v. Chr. nach dem Tode Caesars folgenden Werk De officiis79 die „τέλος“-Formel des Stoikers Panaitios von Rhodos.80 Dieser hatte das Leben im 71 72 73 74 75 76

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Cicero (Fn. 67), I, 6, 19. Cicero (Fn. 67), I, 6, 19. Cicero (Fn. 67), I, 6, 18. Cicero (Fn. 67), I. 6, 19; I, 5, 17 und I, 15, 42. Böckenförde (Fn. 66), S. 163. Böckenförde (Fn. 66), S. 160. Dieser Umstand darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Cusanus – obwohl er offenbar erst 1453 eine lateinische Übersetzung der aristotelischen Politik in seine Bibliothek einfügen konnte – vgl. Andreas Lukas, Cusanus’ Rechtsund Staatsdenken in der Vorrede zu Buch III der „Concordantia catholica“, 2009, S. 29 – inhaltlich auf Aristoteles stützte; vgl. nur De concordantia catholica, liber III, n. 314–315: „Videmus enim hominem animal esse politicum […]“ sowie der ausdrückliche Bezug auf das VII. Buch der Politik des Aristoteles in De concordantia catholica, liber III, n. 268. Böckenförde (Fn. 66), S. 109 schlussfolgernd aus Aristoteles, Politik, I, 2, 1253a, 37–38. Hieraus folgt dementsprechend, dass Recht im aristotelischen Sinne nicht der Ordnung der Polis vorgelagert ist, sondern als Polis-Ordnung besteht. Vgl. Aristoteles, Politik, I, 1253a; übersetzt und hrsg. von Olof Gigon, 11. Aufl. 2011, ND der Ausgabe „Bibliothek der Alten Welt“, 2. Aufl. 1971: „Die Gerechtigkeit dagegen ist der staatlichen Gemeinschaft eigen. Denn das Recht ist die Ordnung der staatlichen Gemeinschaft und die Gerechtigkeit urteilt darüber, was gerecht sei.“ De legibus (Fn. 67), Einführung S. 283. Vgl. Fuhrmann (Fn. 64), S. 257 f. Vgl. Cicero, De officiis, Tusculum-Ausgabe, 2008, hrsg. und übersetzt von Rainer Nickel, I, 11–14, Anm. 8.

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Sinne von vier, dem Menschen von Natur gegebenen Möglichkeiten (ἀφορμαί) definiert.81 Von diesen vier Möglichkeiten – Selbsterhaltungstrieb, Streben nach Wahrheit und Erkenntnis, Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung sowie Neigung zu Ordnung und Schönheit – sei vorliegend die erste herausgegriffen, zu der Panaitios die Tugend der Gerechtigkeit in Entsprechung setzt.82 Mit dem philosophischen Begriff der Selbsterhaltung greift Cusanus im Anschluss an Cicero83 nicht nur einen Terminus auf, der im Hinblick auf das in der Concordantia behandelte Fehdeverbot als hilfreich anzusehen, sondern darüber hinaus in der Philosophiegeschichte von grundlegender Bedeutung ist. Die Selbsterhaltung als philosophisches Grundprinzip hat – wie Hans Blumenberg es ausdrückt – „[…] für eine geschichtliche Formation dieselbe Bedeutung […] wie Leitfossilien für eine geologische.“84 Dieser Befund hat Bedeutung insbesondere für die Frage, ob die Selbsterhaltung auf einem bloßen menschlichen Trieb oder auf der Vernunft des Menschen basiert. Cicero hatte die Selbsterhaltung nicht nur in De officiis angeführt, sondern auch bereits in De finibus bonorum et malorum, einem seiner philosophischen Hauptwerke, das ein Jahr vor De officiis – im Sommer 45 v. Chr. – entstanden war85: „Omne animal re ispum diligit ac, simul et ortum est, id agit, ut se conservat, quod hic ei primus ad omnem vitam tuendam appetitus a natura datur, se ut conservet atque ita sit affectum, ut optime secundum naturam affectum esse possit.“86 Aus dieser Darstellung Ciceros erhellt, dass er eine Entwicklung menschlicher Erkenntnisfähigkeit und Vernunft sieht. Die Selbsterhaltung konkretisiert sich dementsprechend auf den verschiedenen Stufen in unterschiedlicher Form. Während in der Jugend zunächst nur von einem Selbsterhaltungstrieb auszugehen ist, gewinnt mit zunehmender Erkenntnisfähigkeit die Reflexion bestimmenden Einfluss.87 Hierdurch wird deutlich, dass Cicero Selbsterhaltung sowohl als Trieb angesehen hat, insbesondere auf früherer 81 Vgl. zu den Bezügen von Ciceros De officiis zum Werk des Panaitios „Über das Angemessene“: Fuhrmann (Fn.  64), S.  258, sowie Karl Büchner, Römische Literaturgeschichte, 6. Aufl. 1994, S. 198. 82 Cicero (Fn. 80), I, 11–14 Anm. 8. 83 Nikolaus von Kues (Fn. 33), Vorrede zu liber III, n. 268. 84 Hans Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, 1970 (Abh. der geistes- und sozialwiss. Klasse der Akad. der Wiss. und der Literatur Mainz, Nr. 11, Jg. 1969), S. 1–51, S. 1. 85 Cicero, De finibus bonorum et malorum, Tusculum-Ausgabe, hrsg., übersetzt und kommentiert von Olof Gigon und Laila Straume-Zimmermann, 1988, S. 573 f. 86 Cicero, De finibus bonorum et malorum, Tusculum-Ausgabe, hrsg. und übersetzt von Alexander Kabza, 1960, ND V, IX, 24. 87 Ebda.

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Stufe menschlichen Daseins, aber auch als Ausdruck der Natur-Vernunft,88 jener Natur-Vernunft also, in der das Recht begründet wird und aus der es als Natur-Recht hervorgeht.89 Die Natur-Vernunft des Menschen als Naturanlage90 bestimmt das Recht.91 Die Selbsterhaltung ist somit Ausdruck des Naturrechts und Inhalt desselben.92 Dabei ging bereits die Stoa davon aus, dass sich die Vernunft des Menschen mit zunehmendem Alter ausbildet, konkret ab dem 7. Lebensjahr.93 Hans Blumenberg fasst Ciceros Ansatz unter Bezugnahme auf De finibus bonorum et malorum V, IX, 24 dergestalt zusammen, dass der Selbsterhaltungstrieb als „Affekt der Selbstliebe“ Akte der Selbsterhaltung „innerviert“,94 keinesfalls aber Ausdruck eines „gesamtkosmischen Erhaltungsprinzips“ im einzelnen Menschen sei.95 Da der Selbsterhaltungstrieb als Trieb am reinsten und unverfälscht vorliege, schließt Blumenberg aus, dass – in Abgrenzung zur Auffassung der Aufklärung – in der Stoa und ihrer Rezeption bei Cicero Selbsterhaltung Vernunft sein könne, wohl aber Ausdruck der Natur-Vernunft.96 Hans Blumenberg verweist auf den von Hobbes vertretenen Ansatz, dass die Selbsterhaltung als Vernunft im Gegensatz zum Trieb auf alle natürlichen Rechte verzichtet, um sie im Rahmen des „gesetzgebenden Willens“ zurückzuerhalten.97 Demgegenüber wohnt der Selbsterhaltung als Trieb zwangsläufig das Problem inne, dass die Nutzung aller natürlichen Rechte zur Selbsterhaltung gerade zur Selbstgefährdung führe.98 Umstritten – wenngleich vorliegend von keiner ausschlaggebenden Bedeutung – ist dabei, ob die Selbsterhaltung – angefangen bei Machiavelli schließlich seit dem 17. Jahrhundert zum zentralen Thema einer säkularen Moralphilosophie des neuzeitlichen Rationalismus geworden99 – in ihrer neuzeitlichen gedanklichen Ausformung nicht aus der Rezeption des stoischen Ansatzes entwickelt wurde.100  88 Vgl. Blumenberg (Fn. 84), S. 20.  89 Böckenförde (Fn. 66), S. 163.  90 Vgl. Cicero (Fn. 67), I, 6, 18 sowie inhaltlich Cicero (Fn. 80) I, 4, 14.  91 Vgl. Böckenförde (Fn. 66), S. 163.  92 Vgl. Flasch (Fn. 62), S. 90, der die Entwicklung bis ins 14. Jh. nachzeichnet.  93 Vgl. Cicero (Fn. 80), Anm. 36: Im Gegensatz zum Tier kann der Mensch aufgrund seiner Vernunft sein Leben planen und vorausschauen.  94 Blumenberg (Fn. 84), S. 20.  95 Blumenberg, ebda.  96 Blumenberg, ebda.  97 Blumenberg (Fn. 84), S. 20; zur Selbsterhaltung eingehend Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, 2002, S. 422 f.  98 Blumenberg, ebda.  99 Vgl. Kondylis (Fn. 97), S. 413. 100 So Blumenberg (Fn.84), S. 1, den Standpunkt Wilhelm Diltheys kritisierend.

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Betrachtet man Cusanus’ Ausführungen in der Einleitung zu liber III der Con­ cordantia, so bleibt festzuhalten, dass er nach dem Hinweis „homines vero ratione prae cunctis animalibus dotati a principio […]“101 explizit ausführt, dass sich die Menschen zwar ihrem Instinkt folgend zu Gemeinschaften – wie in Dörfern und Städten – zusammenschließen, („naturali instinctu se univere“), die Notwendigkeit hierzu jedoch durch Ausübung ihrer Vernunft („immo necessariam rationabili discursu intelligentes“) erkennen.102 Die zum Zusammenleben erforderlichen Regeln dienten dazu, dem zerstörerischen Affekt vieler („corruptum multorum affec­ tum regulas invenisset“) zu wehren, intendiert, den Frieden zu wahren und damit göttlichem Gesetz folgend.103 Damit aber weist Cusanus bereits den Weg zur Selbsterhaltung aufgrund Vernunftgebrauches, wie es später die Vertreter der Aufklärung vertraten. Denn die Vernunfterkenntnis der Menschen umfasst nach Vorstellung des Cusanus auch die Regelung des Zusammenlebens.104 Indem Cusanus die Erschaffung das Gemeinschaftsleben ordnender Regeln als Anwendung göttlicher Gesetze beschreibt, verlangt er implizit, dass sich der Einzelne in diese Ordnung einstelle, die den Frieden und damit die eigene Existenz sichere. Das aber scheint nichts anderes zu sein als zumindest der erste Schritt zum Verzicht auf das natürliche Recht, um es sodann nach Maßgabe des gesetzgebenden Willens zurückzuerhalten, wenn und soweit er in Umsetzung des göttlichen Gesetzes handelt. Hier besteht indes die Koppelung der Selbsterhaltung an göttliche Gesetze im Gegensatz zur Bestrebung des neuzeitlichen Rationalismus, die Selbsterhaltung zur Begründung einer säkularen Moral zu benutzen, insoweit eher von gegenseitiger Regulierung menschlicher Leidenschaften ausgehend.105 Wenn aber Cusanus in der Einleitung zu liber  III im Rückgriff auf Cicero ­präzisierend ausführt, dass zwar der Zusammenschluss der Menschen instinktiv aufgrund des Selbsterhaltungstriebes, jedoch die weitere Ausgestaltung der nun ent­ stehenden Gruppe in Anwendung der Vernunft erfolgt, wird hierdurch Cusanus’ zukunftsweisende Bedeutung sichtbar. Bereits Ernst Cassirer106 hatte den Einfluss des Cusanus auf die italienische Renaissance – sicherlich ihm wohl zu große Bedeu101 Nikolaus von Kues (Fn.33), Vorrede zu liber III, n. 269. 102 Ebda.; vgl. Andrea Lukas, Cusanus Rechts- und Staatsdenken in der Vorrede zu Buch III der Concordantia catholica, 2009, S. 12–14. 103 Nikolaus von Kues (Fn. 33), Vorrede zu liber III, n. 269. 104 Nikolaus von Kues (Fn. 33), Vorrede zu liber III, n. 269 und 270; vgl. Lukas (Fn. 102), S. 14. 105 Vgl. Kondylis (Fn. 97), S. 413. 106 Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 1927 (Studien der Bibliothek Warburg, H. 10), ND 7. Aufl. 1994.

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tung beimessend – herausgestrichen. Auch Hans Blumenberg betont die Brückenfunktion des Cusanus zur Gedanklichkeit der Neuzeit.107 Dass Cusanus tatsächlich insoweit rezipiert und in der Aufklärung auf De concordantia catholica zurückgegriffen wurde, erscheint indes eher unwahrscheinlich, da er diese Ideen nur in diesem Werk niederschrieb und dieses – lediglich in insgesamt 26 Exemplaren – geringe Verbreitung fand, ja von Cusanus selbst nicht weiter beachtet wurde.108 In dieser gedanklichen Konstruktion der Ausrichtung des Individuums auf die Gemeinschaft stellt sich die Frage nach den Voraussetzungen eines gedeihlichen Miteinanders zum einen im Sinne des von Cusanus dem Werk bereits im Titel vorangestellten Grundsatzes der Konkordanz, zum anderen im Hinblick auf den altrömischen Rechtssatz „quod omnes tangit, ab omnibus approbetur“. Beide Ansätze – der eine philosophisch, der andere juristisch – liefern die Grundlage für die Legitimation von Gesetzen im Wege der Selbstbindung. Den Grundgedanken der Konkordanz hat Cusanus insbesondere in liber I, II der Concordantia ekklesiologisch entwickelt und in liber III auf die Gesellschaft und weltliche Herrschaftsstrukturen übertragen.109 Er erweitert damit das gedankliche Fundament seiner Überlegungen, die von dem Grundsatz bestimmt werden, der Mensch sei seiner Natur nach auf die Gemeinschaft ausgerichtet. Auf diesen aristotelischen Gedanken aufbauend fügt Cusanus die beiden Elemente hinzu, die letztlich nur das eine Prinzip in verschiedenen Aspekten verdeutlichen. Die Konkordanz wird von Cusanus zu Beginn von liber I wie folgt definiert: „[…] concordantia enim est, ratione cuius ecclesia catholica immo et pluribus concor­ dat, in uno domino et pluribus subditis.“110 Damit umreißt Cusanus nicht nur die für sein Werk grundlegend bestimmende Begrifflichkeit, sondern gibt auch eine Linie vor, auf der sich seine Vorschläge zur Reform der Kirche und des Reiches bewegen werden: Es geht Cusanus um die Einheit der Kirche und so auch des Reiches. Sein Ziel ist es, einen Zustand des Friedens und der Harmonie zu erreichen,111 concordantia „ist Einheit der Unterschiede“.112 Entwickelt im Blick auf die 107 Hans Blumenberg, Nikolaus von Kues. Die Kunst der Vermutung, 1957, S. 1–69, 10 ff. 108 Den direkten Einfluss des Werkes auf die Reichsreform widerlegend: Hartmut Boockmann, Über den Zusammenhang von Reichsreform und Kirchenreform, in: Reform von Kirche und Reich, hrsg. von Ivan Hlavacek und Alexander Patschovsky, 1996, S. 203-214, sowie Boockmann (Fn. 5), S. 531. 109 Die Herkunft des Begriffs ist aus mehreren Wurzeln denkbar. Einerseits wird der Rückgriff auf den von Cusanus geschätzten Raimundus Lullus für wahrscheinlich gehalten, vgl. Lücking-Michel (Fn. 58), S. 263 f., die zudem auf Cyprian und Gratian verweist; Karl Jaspers, Nikolaus Cusanus, 1964, S. 170, leitet die Begrifflichkeit dagegen theologisch ab. 110 Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber I, n. 4. 111 Vgl. hierzu Jaspers (Fn. 109), S. 168–171. 112 Jaspers (Fn. 109), S. 171.

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kirchliche Situation im Spannungsverhältnis zwischen Papst und Konzil, leitet Cusanus die concordantia von Jesus Christus als dreieinigem Gott her.113 Übertragen auf das – weltliche – Reich beantwortet Cusanus mit dem Gedanken der concordantia das Gegenüber von Individuum und Gesellschaft, indem er – parallel zu den von Cicero übernommenen naturrechtlichen Überlegungen – ein Leben in der Gemeinschaft, allgemeinen Regeln zur Erhaltung von Friede und Eintracht unterworfen, als Ordnung des Reiches und der Gesellschaft zeichnet. Den anzustrebenden Zustand der concordantia stellt Cusanus auf das Fundament eines om­ nium consensu,114 also einer Übereinkunft aller.115 Diese Ganzheitslehre, die ihren Ursprung sicherlich ganz maßgeblich in den schon ausgeführten naturrechtlichen Überlegungen hat und die aufgrund ihrer sehr detaillierten Erörterung in der Literatur116 hier nicht vertieft darzustellen ist, korrespondiert mit dem römisch-rechtlichen Grundsatz „quod omnes tangit, ab omnibus approbetur“, der sich bereits in den Digesten und im Codex Justinianus findet.117 Cusanus nimmt in seiner Vorrede zu Buch  III ausdrücklich diesen Grundsatz auf,118 der besagt, dass diejenigen einem Gesetz zuzustimmen haben, die von diesem betroffen sind. Er bedingt seinerseits den Grundsatz der Gesamt­ repräsentation.119 Der Begriff der repraesentatio ist dabei nicht nur juristisch, sondern auch im Sinne der figuratio zu verstehen, wie es Carl Schmitt ausdrückte, als „Darstellung der Einheit des Ganzen“.120 Den Begriff, der Cusanus aus dem Kirchenrecht geläufig war, entwickelte er in diesem Sinne im Rahmen seiner konzi­ liaren Überlegungen weiter zu einer „umfassenden Leitidee“ in seinem Werk,121 geht mithin weit über die juristische Bedeutung hinaus. In liber III der Concor­ dantia knüpft Cusanus an seine naturrechtlichen Ausführungen an. Er versteht die Weisen eines Gemeinwesens als dazu bestimmt, Gesetze – auch in Stellvertre-

113 Jaspers (Fn. 109), S. 169. 114 Vgl. Lücking-Michel (Fn. 58), S. 72. 115 Vgl. Kallen (Fn. 38), S. 15 f. 116 Vgl. nur Lücking-Michel (Fn. 58), Jaspers (Fn. 109) sowie Flasch (Fn. 62), S. 71 ff. 117 Vgl. hierzu Lücking-Michel (Fn. 58), S. 124, insbes. Anm. 13. 118 Nikolaus von Kues (Fn. 33), Vorrede zu liber III, n. 276: „[…] et quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet, […].“ 119 Ernst H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies, 1957, dt. von Walter Theimer 1992, unter Bezugnahme auf Eduards I. Brief an Papst Gregor X. aus dem Jahre 1275. 120 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 8. Auflage 1993, S. 214; Hervorhebung durch den Autor des Werkes. 121 Vgl. Rudolf Haubst, Wort und Leitidee der „repraesentatio“ bei Nikolaus v. Kues, in: Der Begriff der repraesentatio im Mittelalter, hrsg. von Albert Zimmermann (Miscellanea mediaevalia, Bd. 8), S. 139–162, 139 f.

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tung für die „stultis et fatuis“ – für alle mehrheitlich zustande zu bringen.122 Cusanus sieht eine Art natürlichen Gehorsams der Toren und Einfältigen gegenüber den Weisen, jedoch keine natürliche Ungleichheit.123 Die repraesentatio dient – ebenso wie die juristische Formel des „quod omnes tangit“ – der argumentativen Untermauerung des von Cusanus entwickelten Konkordanzgedankens. Hierdurch werden auch juristische Argumente eingeführt, die sich als Beleg für die Anwendbarkeit der Konkordanz anführen lassen.

IV  Zusammenfassende Betrachtung Im Rahmen der von Nikolaus von Kues in der Concordantia catholica entworfenen Reformvorschläge für das Heilige Römische Reich setzt er einen Schwerpunkt auf die Beseitigung des Fehderechts durch gesetzliches Verbot, nachdem dieses schädliche Ausmaße angenommen hatte. Cusanus’ Reformvorstellungen offenbaren sich als Teil eines geschlossenen Systems juristischer, theologischer und philosophischer Überlegungen, mit denen er an vorangegangene Denker – auch der klassischen Antike – anknüpft. In Ermangelung praktischer Erfahrungen mit verschiedenen Staatsformen, ihren Vor- und Nachteilen, Verfallserscheinungen und den Gefahren für ihren Bestand war dieser Rückgriff auf die Überlegungen früherer Generationen die einzige Quelle zur Schöpfung neuer Ideen und Korrektur des Bestehenden. Hierbei bewegt sich Cusanus grundsätzlich im Rahmen der ursprünglichen Ordnung des Reiches, die in Verfall geraten war. Sein Bestreben richtet sich auf die Wiederherstellung dieser Ordnung und des Rechts.124 Die zu diesem Zweck entwickelten Ideen lassen jedoch gleichwohl neue Ansätze erkennen, die über eine bloße Reform hinausweisen.125 Es wird hieran einmal mehr deutlich, dass Cusanus – an einer „Epochenschwelle“, einem „unmerklichen Limes“ stehend126 – schon in die Gedankenwelt der Neuzeit vorstieß. 122 Nikolaus von Kues (Fn. 33), Vorrede zu liber III, n. 271. 123 Vgl. Böckenförde (Fn. 66), S. 316 f., der auf die Rolle des Volkes zur Begründung weltlicher Herrschaft bei Wilhelm von Ockham verweist, in scharfer Abgrenzung zu Gedanken der „gemäßigten Volkssouveränität“, wie sie die spanische Spätscholastik entwickelte. Zur verpflichtenden Eidleistung beim Landfrieden vgl. Landwehr (Fn. 15), S. 92; ferner auch Lukas (Fn. 102), S. 16 f. 124 Zur Rechtsauffassung im Mittelalter vgl. Landwehr (Fn. 15), S. 84 f. 125 Vgl. grundsätzlich hierzu Willoweit (Fn. 4), S. 114. 126 Vgl. hierzu Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, 1. Aufl. 1996, S. 545 f., zustimmend Carl Schmitt im „Nachwort zur heutigen Lage des Problems: Die Legitimität der

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So rückt die Vernunft als bestimmender Faktor in den Blickwinkel naturrechtlicher Argumentation, wenngleich an eine Lösung von der theologischen Betrachtungsweise des Mittelalters noch nicht zu denken ist. Auch schlägt Cusanus ein gesetzliches Fehdeverbot als Ersatz der bisherigen Formen des Landfriedens vor. Damit zielt er bereits auf einen institutionalisierten, „ewigen“ Landfrieden, wie er nach 1495 Realität werden sollte. Die Ahndung von Verstößen gegen dieses Gesetz sollte einer neu zu organisierenden Gerichtsbarkeit zugewiesen werden. Mit der Wahl der Gesetzesform, bei der Cusanus als Kanoniker sicherlich auch auf das Kirchenrecht, ausdrücklich und in erster Linie aber auf Aristoteles zurückgriff,127 knüpfte er – wie vielfältig in der Concordantia – auch an Marsilius von Padua an128 und wies damit zugleich den Weg zum Gesetzesstaat. Spiegelt sich in den Gedanken zum Erlass des Gesetzes und seiner Anwendung u. a. das von Cusanus als grundlegend erachtete Prinzip der Konkordanz wider, so scheinen die realpolitischen Auswirkungen seines Reformvorschlages viel gravierender. Entgegen dem Bestreben des Cusanus, die ursprüngliche Machtposition des Königs wiederherzustellen,129 wäre bei Umsetzung der Vorschläge tatsächlich ein weiterer Machtverlust eingetreten. Der König wäre jeder Möglichkeit verlustig gegangen, aus eigener Kompetenz selbständig tätig zu werden. Stattdessen sollte auch er dem Gesetz unterworfen werden. Cusanus vergleicht das Reich – wie die Kirche – mit dem menschlichen Körper und leitet hieraus die Unterwerfung auch des Herrschers unter das Gesetz ab.130 Er untermauert seine Argumentation, indem er auf den zu seiner Zeit allgemein bekannten Satz patere legem, quam tu ipse tuleris verweist und führt den 75. Brief des Ambrosius an Kaiser Valentinian an.131 Cusanus folgt aber in erster Linie Marsilius von Padua. Von ihm übernahm er – ohne den heftigen, im Jahre 1327 als Ketzer verurteilten Papstkritiker am Hofe Ludwigs des Bayern ausdrücklich zu zitieren – gerade in der Vorrede zu liber III zahlreiche Aussagen, die von diesem im Defensor pacis niedergeschrieben worden waren,132 so auch die zentrale Stellung des positiven Gesetzes in seiner Vorstellung politischer Ordnung. In vollständiger Übernahme der Ausführungen des Marsilius stellt Cusanus zur Erreichung des friedlichen Zusammenlebens in einer Neuzeit“ aus: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, 1970; Hans Blumenberg – Carl Schmitt. Briefwechsel 1971–1978, hrsg. von Alexander Schmitz und Marcel Lepper, S. 35–50, 46. 127 Nikolaus von Kues (Fn. 33), Vorrede zu liber III, n. 276–277. 128 Lukas (Fn. 102), S. 31. 129 So ausdrücklich Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 552. 130 Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 588. 131 Nikolaus von Kues (Fn. 33), liber III, n. 589. 132 Vgl. hierzu Lukas (Fn. 102), S. 32, insbes. Anm. 106 und 107.

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Gemeinschaft auf das Gesetz als höchste Autorität ab,133 die naturrechtlich abzuleiten ist. Betrachtet man den Lösungsvorschlag des Cusanus vor diesem Hintergrund, so muss zunächst konzediert werden, dass er als einer der ersten „Reformer“ ein vollständiges Fehdeverbot vorsieht.134 Cusanus schlägt, um diesem Verbot Geltung zu verschaffen, einen neuen systematischen Ansatz vor, der zwar auf einen Reichslandfrieden zielt, dessen Institutionalisierung indes die Position des Königs schwächt, da ihm ein direkter Zugriff, ein unabhängiges Handeln sowohl auf rechtsbegründender als auch – wie gleich zu sehen sein wird – auf Recht sprechender und durchsetzender Seite verwehrt wird. Zudem erscheint der Grund­ gedanke der Konkordanz in seiner Anwendung auf die politische Realität problematisch.135 Die widerstreitenden Partikularinteressen hätten durch die teilweise Einbindung der Reichsfürsten wohl kaum befriedet werden können. Sie machten eher eine starke Zentralgewalt erforderlich. Cusanus sah zwar die Schwäche der Position des deutschen Königs in seiner Situationsanalyse, schlug aber keine Stärkung des Königs, sondern dessen Einbindung vor. Cusanus suchte den Ausgleich. Hier setzt die Kritik der philosophischen Grundposition des Cusanus an, die in erster Linie Karl Jaspers formulierte. 136 Er kritisiert neben anderen Punkten, dass Cusanus aus seiner „harmonischen Grund­ auffassung“ heraus die „Harmonie aller Dinge sieht“ und „in Widersprüchen und Gegensätzen nur die Möglichkeit ihrer Überwindung“ wahrnimmt, „nicht die Zei­ chen des Kampfes der Mächte“. Damit wird offenkundig, dass bereits Cusanus auf der Basis des Konkordanzgedankens eine neue Gesellschaftsordnung anstrebt, in der dem Einzelnen die Möglichkeit genommen wird, sein Recht in bestehenden Grenzen durchzusetzen. Eine gesetzliche Regelung soll nunmehr ein Gewaltmonopol herbeiführen, das den Frieden gewährleistet. Unberücksichtigt bleibt von Cusanus jedoch in seinen Vorschlägen die mit dieser Absicht eigentlich verbundene Sicherung des Friedensgebotes durch vorbeugende Ordnungsvorschriften polizeilichen Charakters.137 Er beschränkt sich auf das Verbot der Fehde und die 133 Nikolaus von Kues (Fn. 33), Vorrede zu liber III, n. 276 und 277. 134 Vgl. Fischer (Fn. 39), S. 200 f., der auf die hiermit verbundene Übernahme kirchenrechtlicher Grundsätze verweist und ausführlich auf die übrigen Reformentwürfe eingeht. 135 Jaspers (Fn. 109), S. 252–256. 136 Jaspers (Fn. 109), S. 229–265; zur „harmonischen Grundauffassung“ des Cusanus’ S. 252– 256; vgl. auch Gerald Christiansen, De concordantia catholica, in: Cusanus-Handbuch (Fn. 1), S. 131–138, 136 f. 137 Vgl. hierzu unter Hinweis auf den christlichen Hintergrund des Landfriedens, der sich aus dem Gottesfrieden entwickelte, Dietmar Willoweit, Die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols im Entstehungsprozeß des modernen Staates, S. 313–323, 319 in: Kon-

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Ahndung von Verbotsverstößen. Cusanus strebt damit andererseits aber auch eine ständisch bestimmte, gesetzlich ausgeformte Ordnung an, in die der König ohne eigenes originäres Herrschaftsrecht eingebunden sein sollte. Als Konsequenz dessen wäre eine Trennung von Königtum und Landfrieden eingetreten, wie sie tatsächlich nach 1495 Realität wurde.138 Auch die Reformvorschläge des Cusanus für die Gerichtsbarkeit sind dem eben Dargelegten entsprechend ständisch und im Sinne des Grundsatzes der Konkordanz ausgeformt, in Umsetzung der konziliaristischen Überlegungen, die Cusanus in den beiden vorangegangenen Büchern des Werkes entwickelt hat. Die Ausgestaltung der Rechtsprechung erscheint als zwangsläufige Ergänzung der gesetzlichen Regelung, um deren Einhaltung zu gewährleisten. Cusanus greift – wie gesehen – bei der Zusammensetzung der Spruchkörper auf einen aus der göttlichen Dreieinigkeit abgeleiteten Grundgedanken zurück. Er geht unausgesprochen von einer völligen inhaltlichen Übereinstimmung zwischen gesetzgeberischer Vorgabe und Rechtsprechung aus. Das mag nicht verwundern, da Cusanus im Falle einer Realisierung seiner Vorschläge am Beginn dieser neuen Landfriedensordnung gestanden hätte, ein Zeitpunkt, zu dem eine Notwendigkeit der Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung nicht immer absehbar ist. Cusanus sah zudem einen Instanzenzug vor, der praktisch bei demselben Kreis endete, der auch auf gesetzgeberischer Ebene tätig werden sollte. Die Besetzung der Gerichte sollte aus den Ständen heraus erfolgen. Die Wahrnehmung des Richteramtes durch Juristen war nicht vorgesehen. Sie hätte diesen „harmonischen“ Gleichklang unterbunden. Der König wäre auch im Rahmen der Rechtsprechung ein Teil des Systems ohne eigene unabhängige Handlungsmacht geworden. Ihm wurde nur die Funktion als Vorsitzender der jährlichen Versammlung zugewiesen. Seine bisherige Rolle sollte zukünftig das Gesetz erfüllen. Cusanus sah gleichwohl die Gefahren, die auch eine solche Regelung in sich birgt. Er verlangt deshalb den Erlass eines von allen verabschiedeten Gesetzes und macht Vorschläge zur Diszi­ plinierung der Reichsfürsten, ja er schlägt sogar die Regelung der Richterbesoldung vor, ein ernsthaftes Problem, wie sich später zeigen sollte. Trotz erstaunlicher Ähnlichkeit des cusanischen Reformvorschlages mit den Bestimmungen der Reichsreform von 1495 ist der direkte Einfluss der Concordan­ tia catholica auf die Reichsreform als gering zu veranschlagen.139 Der Grund hierfür mag zum einen darin liegen, dass lediglich 19 komplette und 7 Manuskripte sens und Konflikt. 35 Jahre Grundgesetz, hrsg. von Albrecht Randelzhofer und Werner Süß, 1986, S. 313–323, 319. 138 Vgl. Angermeier (Fn. 31), S. 533–566. 139 Boockmann (Fn. 108), S. 206-208 sowie ders. (Fn. 5), S. 531.

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von Teilen des Werkes kursierten. Einer Aufnahme der concordantia in breiteren Schichten der Bevölkerung stand sicherlich entgegen, dass die Schrift in lateinischer Sprache abgefasst war und nicht – wie etwa die reformatio Sigismundi – in deutscher Sprache. Auffällig ist jedoch überdies, dass Cusanus selbst die Schrift nach ihrer Veröffentlichung nicht weiter erwähnte, sie sogar in seinen Ausgaben aussparte.140 Die Beschäftigung mit der Thematik sollte einmalig bleiben. Cusanus griff insbesondere die Gedanken zur Reform des Reiches in seinen weiteren Schriften nicht wieder auf. Als ein Hauptgrund hierfür ist anzuführen, dass sich Cusanus nach Fertigstellung des Werkes von seinem ursprünglichen Standpunkt trennte. Auch wenn er zum Lager der Konziliaristen gerechnet wurde, so befand er sich aufgrund seines gedanklichen Ansatzes aus der Konkordanz immer in einer vermittelnden, nie einer ausschließlichen Position zwischen Papst und Konzil. Als Papst Eugen IV. einerseits die Vereinigung mit der oströmischen Orthodoxie anstrebte, Konzil und Papst sich andererseits aber entzweiten, folgte Cusanus dem Papst und sagte sich von dem Konzil los.141 Eine Veröffentlichung des Werkes dürfte bereits aus diesem Grund nicht mehr in Frage gekommen sein. Dessen ungeachtet dürften Gedanken des Nikolaus von Kues mit großer Wahrscheinlichkeit von den am Baseler Konzil teilnehmenden Juristen weiter­ getragen worden sein. Nikolaus von Kues selbst blieb es vorbehalten, in philosophischer Hinsicht die Tür zur Neuzeit weiter aufzustoßen und als Kardinal und päpstlicher Legat auf dem diplomatischen Parkett für die Sache des Heiligen Stuhls einzutreten.

140 Vgl. Kallen (Fn. 38), S. 17 f. 141 Zu den möglichen Gründen des Parteiwechsels vgl. Walter A. Euler, in: Cusanus-Handbuch (Fn. 1), S. 48 f.

Johann Stephan Pütters Reichsbegriff – Seine Antrittsvorlesung über den Zustand der höchsten Reichsgerichte – Von Hans Hattenhauer †

I Vorgeschichte Während seines ersten Semesters als Göttinger Professor hielt der ein Jahr zuvor ernannte, erst 22 Jahre alte Johann Stephan Pütter (1725–1807)1 im Januar 1749 seine Antrittsvorlesung. Er war damals in der Wissenschaft schon kein unbekannter Mann mehr und in der Zunft bereits bekannt durch seine ersten Veröffentlichungen zum Verfassungsrecht des Heiligen Römischen Reiches, seinem Lebensthema. Schon als Assistent des in Marburg lehrenden Johann Georg Estor (1699–1773) war er nach seinen Vorlesungen von dort nach Wetzlar zum Reichskammergericht geritten und hatte, auch als Betreuer dort anhängiger Rechtsstreitigkeiten, erste praktische Bekanntschaft im Reichskammergericht mit dessen Prozesswesen gesammelt. Der geniale Gründer der kurhannoverschen Universität Göttingen, Minister, Universitätsreformer und Kurator der 1732–1734 gegründeten Georgia Augusta, Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen (1688– 1770),2 hatte von der hohen Begabung des jungen Marburger Privatdozenten erfahren und ihn während der Pfingstferien 1746 zu sich nach Hannover eingeladen. In einem gründlichen Gedankenaustausch hatte er mit sicherem Blick Pütters außergewöhnliche Begabung erkannt und ihm einen Ruf nach Göttingen unter günstigsten Bedingungen angeboten. So war es ihm gelungen, Pütter trotz drei anderer jenem bereits gemachter Angebote für seine Universität zu gewinnen. Der junge Pütter wusste sehr gut, was er in der Wissenschaft leisten konnte, künftig leisten wollte und der Georgia Augusta wert sein werde. Zusammen mit dem 24 Jahre älteren Johann Jacob Moser (1701–1788)3 sollte er rasch zum füh1 Wilhelm Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, 1975; Gustav Hugo, Pütter, in: Civilistisches Magazin, Bd. 5 (1825), S. 54-98; Gerd Kleinheyer, Johann Stephan Pütter, in: Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, hrsg. von dems./Jan Schröder, 5. Aufl. 2008, S. 345–349; Johann Stephan Pütter, Selbstbiographie, Bd. 1–2, 1798. 2 ADB 22 (1885), S. 729–745; NDB 18 (1997), S. 523–524. 3 Reinhard Rürüp, Johann Jacob Moser. Pietismus und Reform, 1965.

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renden Vertreter des ungemein komplizierten Reichsverfassungsrechts aufsteigen und der berühmteste Professor seiner Fakultät werden. Zwar fehlten ihm Kenntnisse der reichsgerichtlichen Praxis nicht vollständig, um sich aber noch gründlicher auf seinen Beruf vorzubereiten, hatte er seinen Minister gebeten, dieser möge ihm unmittelbar nach seiner Ernennung zum Professor und vor Aufnahme seiner Lehrtätigkeit eine halbjährige Reise zu den Zentren des praktischen Reichsverfassungsrechts, dem Reichskammergericht in Wetzlar, dem Reichstag in Regensburg und dem Reichshofrat in Wien ermöglichen. Er hatte dafür um Gewährung eines Reisekostenstipendiums und die Befreiung von der Vorlesungspflicht gebeten. Im Gegenzug dafür hatte er versprochen, sein gesamtes künftiges Berufsleben an der Universität in Göttingen zu verbringen. Der Minister hatte in kluger Einschätzung des jungen Mannes dessen Wunsch großzügig erfüllt, später sogar die Ver­ längerung der Reise gebilligt und auch die dadurch entstandenen zusätzlichen Kosten auf die Staatskasse übernommen. Pütter hatte auf diese Weise persönliche Bekanntschaften mit den führenden Praktikern seines Fachs und Angehörigen des Hofs in Wien gemacht und praktische Erfahrungen im Reichsprozessrecht gesammelt. Die allgemein verbreitete Klage über den Verfall der beiden höchsten Gerichte des Reiches, hatte sich ihm bestätigt, so dass er nun in Göttingen keine Schwierigkeiten hatte, für seine ­Antrittsvorlesung ein ebenso spannendes wie aktuelles Thema, den Zustand der beiden höchsten Reichsgerichte, zu finden und sachkundig zu erörtern: „De statu amborum supremorum imperii tribunalium“. Eine Veröffentlichung des Vortragsmanuskripts als solchem im Druck hatte Pütter nicht vorgesehen. Dieses schien ihm noch nicht gründlich genug ausge­ arbeitet zu sein. Schließlich kam es dann doch zu einer Veröffentlichung der im Kolleg vorgetragenen Gedanken in einer in deutscher Sprache ausgearbeiteten Schrift von 122 Druckseiten. Sie erschien ohne Angabe des Verlegers und Erscheinungsorts im April 1749 auf dem Buchmarkt unter dem Titel: „Patriotische Abbildung des heutigen Zustandes beyder höchsten Reichsgerichte worin der Verfall des Reichs-Justizwesens samt dem daraus bevorstehenden Unheil des ganzen Reichs und die Mittel wie demselben noch vorzubeugen der Wahrheit gemäß und aus Liebe zum Vaterlande erörtert werden von I[ohann]. S[tephan]. P[ütter]. P[rofessor]. G[öttingensis].“

Seinen Namen als Verfasser hatte Pütter nur durch Anfangsbuchstaben angedeutet. Er hatte keine der sonst üblichen gelehrten, nur für einen kleinen Leser- und Hörerkreis bestimmten Abhandlungen veröffentlichen wollen. Ihn hatte dazu nicht allein der akademische Ritus angeregt, sondern sein Patriotismus, seine

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Liebe zum Heiligen Römischen Reich. Sein offen erklärtes Motiv war die Sorge um den Bestand des Reiches, das sich durch eigenes Verschulden demnächst selbst ein Ende bereiten könne. Er wollte darauf aufmerksam machen, dass nicht nur Patrioten, sondern auch die weniger patriotisch Gesinnten Grund hatten, im eigenen Interesse um den Bestand des Reichs besorgt zu sein. Wenn Pütter das Wort „patriotisch“ an den Anfang des Titels der Publikation stellte und sich selbst als einen Patrioten des Reiches vorstellte, war dies von ihm sehr ernst gemeint. Das zeigt bereits ein Vergleich des Titels der Antrittsvorlesung mit dem der späteren Veröffentlichung. Dort war weder von „Patriotismus“ die Rede gewesen, noch hatte der Verfasser gar seine „Liebe zum Vaterland“ offen bekannt. Dabei war er nicht der Einzige seiner Zeit, der sich um den Zustand der beiden Reichsgerichte Sorgen machte. Man wusste allgemein, dass dieses Reich als eine Institution umfassender Rechtsgarantie und Friedenssicherung seinen Dienst wesentlich als Rechtsorganismus tat. Es verdankte sein Dasein und seinen Fortbestand allein noch seiner Rechtspflege, der Arbeit der beiden Reichsgerichte, nach Pütters Dafürhalten vor allem jener des Reichskammergerichts. Anscheinend war der junge Göttinger Professor einer der Ersten, die ihren Zeitgenossen diese Frage nun politisch zugespitzt öffentlich mit wissenschaftlicher Gründlichkeit als ein Existenzproblem des Reiches vorlegten.4 Zu einer großen, allgemein von der Sorge um den Bestand des Reiches bewegten Reformdiskussion kam es im Reich erst nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1763), als Österreich und Preußen sich für jedermann erkennbar aufmachten, „neben das Reich“ (Treitschke) zu treten und Kaiser Joseph II. (1765/80–1790) die Reichsreform, vor allem die des Reichskammergerichts, zu seinem Anliegen machte. Über den Anlass zur Veröffentlichung seiner „Patriotischen Abbildung“ berichtete Pütter in seiner „Selbstbiographie“:5 „Unser Maecen [von Münchhausen] unterhielt fast beständig mit auswärtigen und ein­ heimischen Gelehrten einen Briefwechsel, und vernahm gern ihre Gedanken, wo er zur Aufnahme der Universität glaubte Gebrauch davon machen zu können. So hatte er den berühmten Johann Jacob Moser ersucht, über meine Schriften ihm seine Gedanken zu er­ öffnen. In der darauf erhaltenen Antwort, die der Minister zu meinem großen Vergnügen mir vertraulich mittheilte, hatte Moser über die tabellarische Form meines Buchs vom Reichsprocesse die nicht unbegründete Bemerkung gemacht: man müsse mit dem Schuhe 4 Gabriele Haug-Moritz, Die Krise des Reichsverbandes in kaiserlicher Perspektive (1750– 1790), in: Monika Hagenmaier/Sabine Holtz (Hrsg.), Krisenbewusstsein und Krisenbewältigung in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Hans-Christoph Rublack, 1992, S. 73–82. 5 Selbstbiographie (Fn. 1), S. 206.

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nicht auch den Leisten verkaufen.6 Dann hatte er zugleich geäussert: Ich würde wohl thun, wenn ich nicht bloß, wie bisher, lateinische Schriften herausgäbe, sondern auch Teutsch schriebe, was mehrere lesen könnten. Dieser Wink war ganz nach meinem Sinne. Er schien mir besonders dem Stoffe, worüber ich in meiner Rede mehr nur im allgemeinen gesprochen hatte, zur weitern Bearbeitung recht angenehm zu seyn. Kurz, ich schrieb jetzt eine ‚patriotische Abbildung des heutigen Zustandes beyder höchsten Reichsgerichte, worin der Verfall des Reichsjustizwesens, sammt dem daraus bevorstehenden Unheile des ganzen Reichs, und die Mittel, wie dem­ selben vorzubeugen, erörtert werden‘.“

Pütter berichtete also nicht, ob sein „Mäzen“ auch den Text seiner Antrittsvorlesung Moser gesandt und ob sich jener etwa dazu geäußert und wie er dies gegebenenfalls getan hatte. Das ist aber unwahrscheinlich. Hätte Moser dies und womöglich gar zustimmend getan, hätte Pütter es gewiss mitgeteilt. Solche Zustimmung dürfte Moser aber schwer gefallen sein. Er erwähnte wohl aus diesem Grund Pütters Druckschrift im Jahre 1774 in seinem „Neue(n) Teutsche(n) Staatsrecht“7 weder in den Bibliographien noch der Sache nach, obwohl er in bi­ bliographischer Hinsicht sorgfältig zu sein pflegte. Zudem unterschied sich Pütters wissenschaftliches Anliegen deutlich von jenem Mosers. Dieser war bestrebt, möglichst alle Tatsachen und Begebenheiten im Bereich des Reichsrechts in den dicken Bänden seines „Teutschen Staats-Rechts“ zusammenzustellen. Pütter dagegen ging es um die Systematisierung der Stofffülle und deren Rückführung auf klar formulierte Grundsätze. Pütter berichtete auch nicht, warum von Münchhausen seine damals bereits veröffentlichten Schriften Moser übersandt und sich nach dessen Meinung über den Inhalt derselben erkundigt hatte. War jener in seinem Urteil über den jungen Professor etwa schwankend geworden? Auch erfahren wir von Pütter nicht, wie er zu seinem Entschluss gekommen war, das Vortragsmanuskript zu einem Buch auszuarbeiten, ob allein aus eigenem, innerem Antrieb oder auch auf Anregung Dritter. Dass von Münchhausen dazu beigetragen hätte, ist nach dessen späterer Reaktion auf das ihm von Pütter übersandte Buch unwahrscheinlich. Es war also wohl allein Pütters eigener Entschluss gewesen, der es zu der Veröffentlichung hatte kommen lassen. Dabei mag sich dann auch sein Buch in der Vertiefung seines Anliegens und der Schärfe der Darstellung seiner Gedanken wesentlich von der Vor6 Das heißt: nicht auch mit dem Werkstück das zu dessen Herstellung benötigte Werkzeug veröffentlichen. 7 Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 8, 2, Von der teutschen Staats-Verfassung, Theil 2: Von der teutschen Justiz-Verfassung, 1774, NeuDr. 1967.

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tragsvorlage unterschieden haben. Der politisch anscheinend noch ahnungslose junge Mann schrieb seine Gedanken und Sorgen jedenfalls sehr unbekümmert, deutlich und besorgt nieder, ohne sich die Frage zu stellen, wie sein Buch wohl in der Öffentlichkeit aufgenommen werde. Er wollte in bester patriotischer Absicht seine Leser aufrütteln. Das gelang ihm dann zwar auch, doch ganz anders, als er es wohl erwartet hatte. Seine Schrift wirkte unter den Politikern des Reiches, vor allem in Wien, wie ein Paukenschlag. Er hatte sie mit den Worten eingeleitet (§ 1): „Jedermann klagt über den Verfall des Justizwesens und der höchsten Reichsgerichte in Teutschland. Rechtschaffene Patrioten, die die Wichtigkeit dieser Sache und das daraus bevorstehende Unheil einsehen, wünschen, daß demselben vorgebeuget werde. Aber nicht alle sind Patrioten; viele sind Patrioten, und sehen es nicht ein; viele sehen es ein, und wissen die rechte Mittel nicht zu helfen. Allen diesen mit gutem Rathe Nachricht und Vorschlägen an die Hand zu gehen, ist die Absicht gegenwärtiger Blätter, die nichts als ein Patriotischer Trieb und eine wahre Liebe für das Wohl des Vaterlandes veranlasset.“

Dass es ihm angesichts des befürchteten Unheils nicht allein um den Zustand und Bestand der Reichsgerichte, vor allem des Reichskammergerichts, ging, war keine Frage. Der Verfall der Reichsjustiz werde ein „Unheil des ganzen Reichs“ zur Folge haben. Dieses Anliegen war ihm so wichtig, dass er es bereits im Titel seiner Schrift deutlich zur Sprache brachte.

II Inhalt Nach dem Vorwort stellte Pütter in einem ersten Abschnitt (§§ 2–64) die Verfassungen der beiden Reichsgerichte dar, wie sie entstanden waren, wie sie hatten sein sollen und wie sie sich derzeit befanden. Dabei ging es ihm vor allem um das Reichskammergericht in Wetzlar, wenngleich er auch den Reichshofrat in Wien als reformbedürftig darstellte. Seit seiner Errichtung im Jahre 1495 habe das Reichskammergericht durch sein Wirken die gesamte Justizverfassung aller Länder geprägt und emporgebracht. Es habe ihnen die Maßstäbe einer guten Gerichtsverfassung vor Augen geführt und sie zur Nachahmung veranlasst. Daher müsse man befürchten, dass sein Verfall auch für die Gerichtsverfassungen der Reichsstände böse Folgen haben werde. Die Reichsgerichte seien anfangs so angeordnet worden, dass sich darin das ganze Band aller einzelnen deutschen Länder und Einwohner unter dem Schutze und Ansehen eines allgemeinen allerhöchsten Oberhaupts habe vereinigen sollen. Wie könne eine glückseligere Einrichtung

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eines Staats erdacht werden als diese, da ein jedes Mitglied des Reichs in Erhaltung des Seinigen sicher gegen die Beleidigungen anderer geschützt und im festen Besitz seiner Freiheit ein Untertan wäre? Leider habe man dieses Ziel bereits zum Teil verfehlt, als man bei Gründung des Reichskammergerichts den Reichsfürsten die Einrichtung einer ihnen vorbehaltenen, eigenen Austrägalgerichtsbarkeit8 und den Vorbehalt der sich zusehends vermehrten Appellationsprivilegien, privilegia de non appellandi9, zugestanden und sie damit der unbeschränkten Zuständigkeit der Reichsgerichte entzogen habe. Es komme hinzu, dass beide Reichsgerichte nicht imstande seien, die Verfahren zügig zu erledigen. Wenige, die um Recht und Gerechtigkeit seufzen und wehklagen, hätten das Glück, dazu zu gelangen. Auch gehorche man den Entscheiden der Reichsgerichte oft nicht und tue, was man wolle. Dies geschehe allerding nicht in offenem Ungehorsam gegen die höchstrichterlichen Urteile. Die Mächtigen verlegten sich auf Verfahrenstricks, Prozessverschleppung, Nichterscheinen zu Terminen, juristische Spitzfindigkeiten, Einholen von Gutachten und Verbreiten von Streitschriften etc., worauf die Räte der Großen allen Witz, alle ihre Wissenschaft und Kunst wendeten. So bleibe dem Schwächeren nichts übrig, als Geduld zu üben und (§ 19) „die Freyheit, Gott dem höchsten Richter seine Gerechtigkeit zu kla­ gen“. Komme es aber endlich doch einmal zu einem Urteil, so unterliefen die Reichsstände dessen Befolgung und Vollstreckung durch Rekurse10, die Anrufung des Reichstags mit der Behauptung, das Gerichtsurteil sei ein Eingriff in ihre reichsständischen Vorrechte und eine Verletzung der Reichsgesetze, um schließlich die Vollstreckung der Gerichtsurteile doch zu hintertreiben (§§ 37–56). Dann beginne vor dem Reichstag wieder das alte Spiel der Gutachten und Streitschriften. Mit deutlichen Worten zog Pütter daraus die Konsequenz (§ 64): „Desto betrübter aber ist es für den vorher Obsiegenden Theil, [...] wenn der Recurs gebil­ liget, des Reichsgerichts Erkenntnis oder Verfahren aufgehoben, ein anders gut gefunden [...] wird. Alsdann ist alle Mühe, Sorge, Zeit und Ausgabe an Reichsgerichten und am Reichstag umsonst und vergeblich angewandt.“

Im zweiten Kapitel (§§ 65–75) erörterte Pütter das bereits im Titel der Schrift beschworene „Unheil, so aus dem Verfalle der Reichsgerichte dem ganzen Reiche be­   8 F.  Merzbacher, Austrägalinstanz, in: HRG, 1.  Aufl., Bd.  1 (1971), Sp.  273 f., Michael ­Kotulla, Austrägalinstanz, in: HRG, 2. Aufl., Bd. 1 (2004), Sp. 387 f.   9 G. Buchda, Appellationsprivilegien, in: HRG, 1. Aufl., Bd. 1, Sp. 200 f. In der 2. Aufl. des HRG unter „Privilegia de non appellando“ vorgesehen. 10 Karl Otmar Frhr. v. Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776–1806, 1967, S. 100 f.

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vorstehet“. Dessen Einheit und Zusammenhalt sei allein in der Person des Kaisers als seinem oberstem Richter verkörpert. Die höchste Gewalt des Kaisers sei derzeit aber so eingeschränkt, dass ihm fast nur noch sein Richteramt verblieben sei. Mit dieser Feststellung traf Pütter den Kern des Problems. Das Heilige Römische Reich war kein Staat, sondern die Summe und der Inbegriff von Staaten und Verfassungen und eben deshalb ein Reich. Es hatte keine Hauptstadt und kein einheitliches politisches Zentrum, keine einheitliche Kultur und war kein einheitlicher Wirtschaftsraum, besaß keine einheitliche Militärmacht und vereinigte in sich unterschiedliche Verfassungen. Seine Einheit bestand allein in dem Besitz und der Geltung des ihnen allen gemeinsamen römischen Rechts, des „Gemeinen Rechts“. Das schloss nicht aus, dass die einzelnen Territorien und Länder, Stände und Kommunen unter dem Dach des Gemeinen Rechts ihr eigenes besaßen und fortbildeten. Über diesen allen wölbte sich das Gemeine Recht, setzte die allen verbindlichen Maßstäbe und hielt das Reich mit der Fülle seiner Territorialrechte zusammen. Das Reich war ein Rechtskörper und ohne diesen nicht überlebensfähig. Sein Bestand musste und konnte daher allein garantiert werden durch die Person des Kaisers und die Arbeit seiner beiden das Gemeine Recht des Reiches verwaltenden Reichsgerichte. Pütter sah es nur noch an drei Orten sichtbar verkörpert: in Wien, Wetzlar und Regensburg. In dieser Dreiheit waren die beiden Reichsgerichte „Kleinodien“ des Reiches. Pütter war nicht der Einzige, der zu dieser Zeit das Wesen und den Charakter des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation so definierte. So stellte im Jahr 1754 der Reichsvizekanzler Rudolf Colloredo es als einen täglich bestätigten Grundsatz fest, dass die beiden höchsten Reichsgerichte, vorzüglich aber der Reichshofrat, die größten Stützen der kaiserlichen Autorität seien.11 Pütter aber war wohl einer von wenigen, die bereits in der Jahrhundertmitte daraus die weitergehenden Konsequenz zogen und sich bei der Betrachtung der beiden Reichsgerichte nicht mit wohlfeilen Klagen über die offenbaren Missstände des Reichskammergerichts zufrieden gaben. Er drang vor bis zu den wahrscheinlichen Folgen des Notstands. Was sollte aus dem Reich werden und wie sollte man seinen Bestand noch garantieren können, wenn man dessen Rechtspflege weiterhin so verwahrlosen ließ? Er konnte die letzte Konsequenz eines fortschreitenden Verfalls der Reichsrechtspflege nicht düster genug schildern. Zuerst würden dies die mittelbaren Stände und Reichsuntertanen zu spüren bekommen. Es bestehe die Gefahr, dass dann die absolut herrschenden Landesherren ihre Macht missbrauchten. Was helfe es dann den Bürgern, wenn in einem solchen Lande das vollkommenste Justizwesen wäre, sie aber nur noch untereinander, 11 Oswald von Gschliesser, Der Reichshofrat, 1942, ND 1970, S. 43.

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nicht aber gegen ihren eigenen Landesherrn Recht und Gerechtigkeit einfordern könnten? Aber auch die reichsunmittelbaren Stände würden schließlich in Gefahr geraten. Die Schwächeren unter ihnen bekämen die Gewalt der Stärkeren zu spüren und müssten zudem den Aufstand ihrer Untertanen befürchten (§ 74). Selbst die mächtigsten Herrscher des Reiches würden endlich in den Strudel des Rechtsund Machtverfalls des Reiches hineingerissen. Sie würden ihre Konflikte statt durch das Recht des Reiches und die Anrufung der Reichsgerichte untereinander mit Gewalt austragen. Es sei dann nicht zu vermeiden, dass endlich zwei oder mehrere gleich Mächtige miteinander in Streitigkeiten, über die kein Richter mehr entscheide, Kriege führten und endlich einer den andern aufreibe. Pütters Zeitgenossen verstanden bei diesem letzten Hinweis, dass er damit auf den Streit zwischen Österreich und Preußen anspielte, der nicht mehr vor Gericht ausgetragen worden war. Die beiden Schlesischen Kriege (1740–1742 und 1744–1745) waren jüngste Geschichte und der Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs (1756– 1763) deutete sich bereits an. Es war also keine akademische Schwarzmalerei eines Gelehrten im Elfenbeinturm, was Pütter mit seinem Bild der dem Reich drohenden Gefahr vor den Augen der Leser beschrieb. Er schloss den Abschnitt mit den Worten (§§ 75–76): „(§ 75) Mit einem Worte: Das Reich zerfällt; ein Faustrecht tritt an die Stelle einer mit der grösten Mühe eingeführten Gerichtsverfassung; die Freyheit geht zu Grunde; die Schwächern werden ein Opfer der Grossen; Adeliche, Städte, Grafen, Prälaten u[nd]. d[er]. g[leichen]. dürfte die Reyhe am ersten treffen; aber wer ist sicher, daß sie nicht auch an ihn komme? Und wer will Bürge seyn, daß nicht zuletzt ganz Teutschland ein Raub der Fremden werde? (§ 76) Unglückseelige Folgen, woran ein Teutscher, geschweige denn ein Patriotischer Teutscher, gewiß ohne Furcht und Zittern nicht einmahl denken kann! Gleichwohl sind sie möglich, ja, da es schon so weit mit dem Verfall der Reichsgerichte gekommen, so schei­ nen sie fast unserm Vaterlande schon bevorzustehen. Wer wollte dabey stille sitzen? Wer wollte sich nicht um alle mögliche Mittel bekümmern, solchem Unheile zu helfen und fürs künftige vorzubeugen, da Freyheit, Religion, das ganze Wohl des Vaterlandes, ja das Gleichgewicht von ganz Europa darauf beruhet?“

Im dritten Kapitel (§§  77–170) erörterte Pütter die dem Verfall der Reichs­ gerichte zugrunde liegenden Ursachen. Dass diese mit den anhängigen Verfahren nicht fertig würden, liege nicht am Versagen der Assessoren und Räte, auch nicht am Fehlen zweckmäßiger Gesetze, sondern daran, dass die zur Pflege der beiden Gerichte berufenen Autoritäten ihren Auftrag nicht erfüllten. Bei der Gründung des Reichskammergerichts, dem „höchsten Kleinod des heiligen Römischen Reiches“,

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hätten sich der Kaiser und die Reichsstände im Jahre 1495 zwar alle Mühe gegeben, es angemessen einzurichten, doch hätten die Reichsstände das Gericht in der Folgezeit verfallen lassen, weil sie dieses nicht so wert geachtet hätten und auch derzeit nicht achteten, wie es geboten sei. Ein derart bedeutendes Gericht müsse auch mit einer großen Zahl von angemessen besoldetem Personal ausgestattet sein. Daran fehle es seit Langem. Die Zahl der zu berufenden Assessoren sei anfangs auf 16, bei Abschluss des Westfälischen Friedens auf 50 festgesetzt worden. Für deren Besoldung seien von den Ständen mit genauer Not nur so viele Zahlungen des geschuldeten Kammerzielers12 eingegangen, dass 17 Richter hätten entlohnt werden können. So habe das Gericht nie mehr als 18, bis zum Jahre 1719 sogar nur 12 Assessoren gehabt. Das Kammergericht sei in seinem derzeitigen Zustand deswegen schlechterdings nicht im Stande, auch nur den größten Teil der dort anhängigen Sachen zu erledigen. Außerdem fehle es auch an einer gehörigen Aufsicht über die Anwälte. Man habe ihnen einen unkontrollierbaren Freiraum bei der Einwirkung auf die Verfahren eröffnet. Das habe den Satz zur Folge (§110): „Wer nicht sollicitirt,13 erhält nichts“. Niemand könne sich daher begründete Hoffnung machen, dass seine Sache binnen gewisser Zeit zu Ende gehen werde. Die andere Hauptursache der Zustände am Reichskammergericht sei das Fehlen regelmäßiger Visitationen seines gesamten Personals. Wie dies auch bei allen anderen Gerichten geschehe, müssten vor allem die Reichsgerichte regelmäßig durch Kontrollbesuche geprüft werden. Das habe man schon im Jahre 1507 erkannt und das Reichskammergericht sei damals wiederholt visitiert worden, während des 16. Jahrhunderts sogar eine Zeit lang alljährlich. Derzeit aber fehle es daran wie auch an der Hoffnung auf neue Visitationen. Schließlich habe sich auch das Rekursunwesen dermaßen entwickelt, dass besonders am Reichskammergericht seit geraumer Zeit fast kein Urteil, keine Verfügung gegen einen Reichsstand erfolge, gegen die nicht sofort ohne Unterschied der Rekurs an den Reichstag ergehe. Das Kammergericht werde dabei „meist übel angezäpfet“14 und der Vollzug der gerechtesten Sprüche leicht vereitelt. Auch beim Reichshofrat stellte Pütter Verfall fest. Da allein der Kaiser die Reichshofräte anstelle und besolde, stünden diese zu ihm „in einer weit nähern Verbindung, als es mit einem ordentlichen Justizcollegio nöthig wäre“. Jeder neue 12 Abgabe zum Unterhalt des Kammergerichts, vgl. Anja Amend-Traut, Kammerzieler, in: HRG, 2. Aufl., Bd. 2, Sp. 1567–1569. 13 Das heißt: Den Fortgang eines Gerichtsverfahrens durch Berufung eines Anwalts betreiben. 14 Das heißt: Einen Zapfen einschlagen, etwas hart angreifen.

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Kaiser berufe und ernenne seine Hofräte neu und habe daher „nicht geringen Ein­ fluß“ auf deren Tun. Nach Sachgebieten gegliederte Senate gebe es nicht. Die insgesamt 18 Hofräte berieten und entschieden sämtliche Sachen einschließlich der prozessleitenden Verfügungen im Plenum. Das Verfahren sei daher willkürlicher und es komme dabei am meisten auf den Referenten und dessen Vortrag im Plenum an. Die letzte Entscheidung bleibe dabei aber dem Kaiser vorbehalten, der auch selbst Gutachten einholen könne. Deshalb sei der Reichshofrat nach seiner derzeitigen Verfassung für Justizsachen „nicht so bequem“ wie das Reichskammergericht. Er könne seine anhängigen Sachen noch weniger befriedigend erledigen als jenes, wobei seine Sprüche „selten beständig“ seien und leicht durch andere Beschlüsse widerrufen werden könnten. Es gebe dort auch keine Rechtsmittel und keine Revisionsinstanz, so dass auch dort die Rekurse wucherten. Pütter hatte seine Darstellung der den Mängeln beider Reichsgerichte zugrunde liegenden Ursachen bei einem jeden für sich vorgestellt. Dabei konnte trotz seiner den Reichshofrat betreffenden höflichen Wortwahl selbst der weniger kritische Leser nicht verkennen, dass er allein das Reichskammergericht, das Gericht der Reichsstände, als ein echtes Gericht ansah. Auf dieses konzentrierte er, auch angesichts der vor allem daran geäußerten allgemeinen Kritik, im vierten Kapitel (§§ 171–269) seine Vorschläge der Mittel, mit deren Hilfe dem weiteren Verfall der Gerichte und dem drohenden Untergang des Reiches gewehrt werden könne und müsse, beschränkte sich also nicht auf Klage und Diagnose. Im vierten, dem ihm wichtigsten Kapitel (§§ 171–269) erörterte Pütter die „Mittel und Vorschläge, wie dem Verfall des Reichs-Justizwesens abzuhelfen“ sei. Als Erstes müsse man mehr Kenntnisse über die Reichsgerichte in der Öffentlichkeit verbreiten. In den juristischen Fakultäten habe man bisher allein das Gemeine Recht gelehrt. Daran habe sich auch derzeit wenig geändert, obwohl man sich, wenn auch nur nebenher, neuerdings auch für das deutsche Recht und dessen Geschichte interessiere. Es müssten endlich gründliche Vorlesungen über das Reichsrecht, vor allem über dessen Gerichtswesen und den Reichsprozess angeboten werden. Mit dieser Forderung befand sich Pütter im Einvernehmen mit seinem „Mäzen“ von Münchhausen, der ihn eben deshalb an seine Reformuniversität berufen hatte. Zugleich redete er dabei aus eigener ernüchterter Erfahrung im Interesse seines Lehrauftrags. Zu seiner ersten Vorlesung über diesen Gegenstand hatten sich nur drei Hörer eingefunden, und die Zahl seiner Hörer sollte auch später nur allmählich wachsen, bevor der nun berühmte Mann als Leuchte der Fakultät die Studenten in Scharen anzog. Selbst in Göttingen betrachte man, klagte Pütter, das Angebot und Hören solcher Vorlesungen noch als „etwas Unnötiges“. Die dort studierenden Standespersonen, die sich doch eigentlich für das Reichsrecht interessieren müssten, gingen an die Universität nicht, um das Recht zu studieren, son-

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dern um „rechte Lebensart“ kennenzulernen. Aus alledem zog Pütter den Schluss (§ 186): „1) Man lasse auf Teutschen Academien es nicht an Gelegenheit fehlen, daß ein jeder Rechtsbeflissener von beyden höchsten Reichsgerichten, deren Verfassung und Processe, eine hinlängliche Erkenntniß erlangen könne; 2) Man mache den Gebrauch davon allgemeiner, und bringe sowohl unsern Stands Per­ sonen als allen andern Teutschen Rechtsbeflissenen die Nothwendigkeit dieser Wissen­ schaft bey; 3) Wer irgend Zeit und Vermögen dazu hat; der besuche nach vollbrachter Academischer Arbeit die Reichsgerichte selber.“

Zwar sei es bereits üblich, dass manche junge Juristen nach dem Studium zum Praktizieren die Reichsgerichte aufsuchten, doch interessierten sich die meisten Gerichtshospitanten nur für die eigenen Prozesse, wegen derer sie zu den Gerichten gingen, nicht aber für die Gerichte selbst, deren Verfassung und Zukunft. Sie nutzten – wer denkt da nicht an den jungen Goethe 1772 in Wetzlar? 15 – ihren Aufenthalt nicht so gründlich, wie dies geboten wäre. Anschließend wandte Pütter sich dem Zustand der Reichsgerichte zu. Dazu formulierte er zwei handfeste an die Reichsstände gerichtete Forderungen (§ 194): „Alles, was man vom Verfalle des Cammergerichts anmerken kann, und was dasselbe von seinem gehörigen Zustande und Ansehen abhält, beruhet mit einander nur auf den zween Haupt-Puncten: daß es nicht gehörig bestellt und unterhalten wird, und daß die beständige Visitationen dieses höchsten Gerichts nicht im Gange sind. Beydes hat aber wiederum nebst einigen andern Hindernissen noch einen gemeinschaftlichen Grund, an den sich hauptsächlich alles stösset, und ohne welchen doch überall sonst nichts auszurich­ ten ist. Das ist: Es fehlet am Gelde.“

Ohne Geld sei eine gute Einrichtung des Justizwesens unmöglich. Damit das Reichskammergericht mit dem dringend benötigten Geld ausgestattet werde, müssten die Reichsstände endlich ihre rückständigen Beiträge leisten und erhöhen (§ 193): Wenn man das getan habe, könne man 25 Assessoren anstellen und deren Zahl sogar noch vermehren. Dann werde das Gericht schon gute Arbeit leisten. Die Visitationen des Reichskammergerichts müssten wieder alljährlich stattfinden. Dabei dürfe nicht allein die Arbeit der Richter überprüft werden, sondern auch die des gesamten Gerichtspersonals und die Anwaltschaft. Dem stelle 15 Dichtung und Wahrheit, Hamburger Ausgabe 9 (1974), S. 524–531.

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sich aber mehr als eine Schwierigkeit in den Weg. Als Erstes bedürfe es dazu der patriotischen Einigkeit der Reichsstände. Aber auch da gehe es ums Geld. Denn solche Visitationen seien kostspielig. Auch werde es für dieses schwierige und langwierige Geschäft wahrscheinlich an geschickten Männern mangeln, doch werde der Nutzen des Unternehmens bedeutend sein. Ganz andere Probleme als beim Reichskammergericht stellten sich dagegen bei einer Reform des Reichshofrats (§§ 228–239). Dieser habe hauptsächlich über Lehnrechtsangelegenheiten zu beraten. Im Vergleich dazu werde er weniger als das Reichskammergericht mit Justizangelegenheiten überhäuft. Die meisten der allgemein für eine Reform des Reichshofrats gemachten Vorschläge müssten eine Einschränkung der kaiserlichen Vorrechte zur Folge haben. Das sei unvermeidlich, wenn man der „gar zu genauen Verbindung“ des Reichshofrats zum Kaiser und dessen „willkürlichen Einflüsse(n)“ auf solche Entscheidungen engere Grenzen setze, um das Vertrauen des Reiches in die Gerechtigkeit der Allerhöchsten Person zu stärken. Wer aber wolle dies dem Kaiser zumuten? Daher lasse man den Reichshofrat am besten in dessen bisheriger Verfassung und überhäufe ihn nicht mit Justizsachen. Statt eine Reform des Reichshofrats zu fordern, äußerte Pütter die Hoffnung, dass dieser nach einer Reform des Reichskammergerichts in Justizsachen ohnehin überflüssig werde. Werde das Kammergericht wieder in den gehörigen Stand gesetzt, so werde dies ohnehin von selbst geschehen, weil die große Inanspruchnahme des Reichshofrats als Reichsgericht derzeit wesentlich eine Folge der gegenwärtigen Verhältnisse am Reichskammergericht sei. Schließlich nahm Pütter sich die Reform des Rekurswesens (§ 240–247) vor. Die Möglichkeit von Rekursen der Reichsstände an den Reichstag sei in keinem Gesetz begründet. Wegen der eingetretenen Missstände sei die gänzliche Abschaffung der Rekurse im Interesse der Reichsjustizpflege zu wünschen, damit der Weg durch die Instanzen der Gerichte endlich doch einmal ein Ende finde. Aber Pütter wusste wohl, dass dies derzeit nicht möglich war. So beschränkte er sich darauf, das politisch Mögliche zu fordern. Da der Rekurs nicht abzuschaffen sei, müsse man ihm wenigstens so enge gesetzliche Grenzen wie irgend möglich ziehen. Überschaut man Pütters Bild eines vorbildlichen Gerichtswesens, kann man dem jungen Mann den Respekt für seinen politischen Weitblick nicht versagen. Zwar lässt seine Selbstbiographie erkennen, wie sehr er sich bewusst war, Untertan in einem Ständestaat zu sein. Er zeigte nie revolutionäre Anwandlungen. Höher gestellten Standespersonen trat er bescheiden gegenüber und erwies ihnen re­ spektvoll die gebührende Ehrerbietung. Das hinderte ihn aber nicht daran, im Vorgriff auf das bürgerliche Zeitalter Vorschläge zu machen, die erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich mühsam verwirklicht wurden. Er besaß bereits die Vision einer bürgerlichen Staatsverfassung, einer von der Verwaltung getrennten

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Rechtspflege und eines politisch unabhängigen Richteramts. Dass die Zeit dazu aber noch nicht gekommen und das Reich in seiner derzeitigen Verfassung dazu nicht in der Lage war, war ihm ebenso bewusst. Wenn er dennoch seiner Zeit eine solche Diagnose stellte, sah er weiter voraus als die Mehrheit seiner Zeitgenossen. Er war mehr als ein Justizreformer und hatte mit seiner Sorge um den Bestand des Reiches besser als viele andere begriffen, was auf dem Spiele stand. Das zeigte sich deutlich in den Worten, mit denen er seine Abhandlung abschloss: „Doch dieses alles mag ein geneigter Leser selber Prüfen, und das beste behalten.16 Dixi et liberavi animam.17

III  Rezensionen und Reaktionen Das Echo, das sein Buch in der Öffentlichkeit auslöste, war kühl. Die Rezensenten hielten sich in ihren gedruckten Berichten im Urteil zurück und spendeten kaum Lob. Die „Jenaische(n) gelehrte(n) Zeitungen auf das Jahr 1749“18 berichteten, es liege die Schrift in Göttingens Buchhandlungen zum Verkauf aus. Deren Verfasser sei zweifelsohne der dortige Professor Pütter. Sodann wurde in knappen Worten eine Zusammenfassung des Inhalts gegeben, ohne dass der Rezensent ein Urteil dazu abgab. Dass er die „angenehme Lebhaftigkeit und anständige Freymüthigkeit“ der Darstellung rühmte, mochte der kritische Leser auch so deuten, dass Pütter sich etwas zu jugendlich und unbekümmert ein politisch unkorrektes Urteil erlaubt hatte, obwohl ihm dies nicht ausdrücklich bescheinigt wurde. Dass die „Göttingische(n) Zeitungen von Gelehrten Sachen“ über die Schrift zu berichten hatten, war unvermeidlich gewesen. Der Bericht, der dort im 39. Stück am 21. April 174919 erschien, war gründlicher als jener aus Jena und teilte korrekt die Argumente des Verfassers mit. Dennoch wirkte er erstaunlich distanziert im Verhältnis des Rezensenten zum Verfasser. Statt diesen als einen Professor der heimischen Universität vorzustellen und nach Kräften zu loben, ging der Rezensent auf die Verfasserfrage mit keinem Wort ein. Er vermied es ­geradezu, eine 16 Zitat des Apostel Paulus, 1. Thess. 5, 21: „Prüft alles und behaltet das Beste.“ 17 Ich habe es gesagt und mir die Seele befreit. Anspielung auf ein Wort des Propheten Hesekiel 3, 19: „Wenn du aber den Gottlosen warnst und er sich nicht bekehrt von seinem gottlosen Wesen und Weg, so wird er wegen seiner Sünde sterben, aber du hast dein Leben gerettet“ (tu autem animam tuam liberavisti). 18 Jenaische gelehrte Zeitungen auf das Jahr 1749, S. 436–437. 19 Göttingische Zeitungen von Gelehrten Sachen 1749, S. 306–309.

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solche, bei Rezensionen gewiss wesentliche Mitteilung zu machen. Er erwähnte zwar die auf Anfangsbuchstaben verkürzte Verfasserangabe „J.S.P.P.G.“ des Titel­ blatts, unterließ es aber, diese zu entschlüsseln, obwohl überall in Göttingen bekannt war, dass die Buchstaben die Bedeutung „Johann Stephan Pütter Professor Göttingensis“ hatten. Ein nicht ortskundiger Leser musste rätseln, ob der Rezensent keine Kenntnis der Identität des Verfassers hatte oder ob er sein Wissen bewusst verschwieg und den Verfasser unbekannt bleiben lassen wollte. Der Kenner der Identität des Autors dagegen musste darin erkennen, dass der Rezensent zum Verfasser auf Abstand ging, obwohl er Letzterem bestätigte, seine Beschreibung der Lage des Reiches und seine Reformvorschläge „der Wahrheit gemäß und aus Liebe zum Vaterlande“ dargestellt zu haben. Im späteren Verlauf der Buchanzeige bestätigte er ihm: „Den patriotischen Eyfer des V. und seine genaue Kenntniß der höchsten Reichs-Gerichte legen alle Blätter dieses Werks vor Augen.“ Beifall spendete er Pütter allein für dessen vernichtendes Urteil über das Rekurswesen. Dem Kenner des Rezensionswesens musste zudem auffallen, dass der Rezensent den Text nicht, was doch zu erwarten gewesen war, unter der Überschrift „Göttingen“, sondern unter „Hannover“ veröffentlicht hatte, während unmittelbar zuvor eine andere Literaturanzeige unter „Göttingen“ erfolgt war. Sollte der Erscheinungsort Göttingen und damit eine Verbindung der Schrift zur dortigen Universität verschwiegen werden? Sollte der Leser etwa annehmen, dass Hannover der Wohnsitz des Verfassers und Erscheinungsort der Schrift sei? Wie konnte er ahnen, dass dieser Ort der Wohnsitz des Rezensenten war? Dass jener die Schrift nicht in Beziehung zu Göttingen bringen wollte, sondern für die Hauptstadt Hannover reklamierte, gaben auch die Einleitungsworte des Textes zu erkennen: „In den hiesigen Buchläden siehet man folgende Schrift: ‚[Titel]‘ […]“. Welchem auf rühmende Erwähnung seiner Georgia Augusta erpichten Göttinger musste diese Distanzierung nicht auffallen? Wer musste dort nicht fragen, wie es zu dieser Rezension gekommen und wer deren Verfasser war? Die Antwort auf diese Fragen gab Pütter 40 Jahre später 1789 in seiner „Selbstbiographie“.20 Die Erfahrungen, die er mit seiner Jugendschrift gemacht hatte, hatten ihn in der Folgezeit politisch vorsichtig werden lassen. So fleißig er inzwischen im Verfassen von Rechtsgutachten für Reichsstände gewesen war, so entschieden hatte er sich mit politischen Urteilen und Prognosen aus der Öffentlichkeit herausgehalten. Was im Erscheinungsjahr seiner Selbstbiographie aus Paris kommend im Begriff war, über Europa hereinzubrechen, bestätigte zwar seine Prognose von 1749, weckte bei ihm aber nicht die Neigung, damit aufzutrumpfen, wie recht er damals doch gehabt habe. 20 Pütter (Fn. 1), S. 206–209.

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Während Pütter auf den Anlass der Veröffentlichung seiner Schrift von 1749 in der Selbstbiographie nur ungenau einging, wehrte er sich entschieden gegen den Vorwurf, er habe das Buch anonym erscheinen lassen, weil es eine gegen den Kaiser gerichtete Streitschrift gewesen sei. Als er sein Buch statt mit voller Verfasserangabe nur mit Initialen habe erscheinen lassen, habe er sich an das Vorbild seines Amtsvorgängers, des Hofrats und Professors Johann Jacob Schmauß, halten wollen. Er habe nie daran gedacht, seinen Namen geheim zu halten, zumal man diesen in Göttingen ohnehin überall als den des Verfassers gekannt habe und er das Buch zusammen mit einem anderen aus seiner Feder stammenden vielen Freunden und Kollegen geschenkt habe. Keine Erklärung hatte Pütter dagegen dafür, dass er sein Buch ohne Orts- und Verlagsangabe zur Ostermesse 1749 hatte herausbringen lassen. Ging so viel Anonymität auf einem einzigen Titelblatt nicht doch zu weit, um nicht den Verdacht wecken zu können, der Autor habe sich nicht offen und ehrlich an die Öffentlichkeit gewagt? Auf den Inhalt der Schrift eingehend, erinnerte Pütter eingangs zwar stolz daran, wie viel Zustimmung und Lob ihm für seine Veröffentlichungen zuteil ­geworden war. Dann fuhr er fort: „Dieses Glück widerfuhr auch an vielen Orten der patriotischen Abbildung“. Man hätte daher erwarten sollen, davon Einzel­ heiten zu erfahren, insbesondere die Mitteilung, wer ihn gelobt hatte, welche ­großen Namen jener Zeit ihm zugestimmt und warum sie dies getan hatten. Wen gab es in der Zunft, der den Mut aufgebracht hatte, ihm öffentlich Beifall zu spenden? Daran scheint es gefehlt zu haben. Pütter teilte allein etwas von einem weniger öffentlichen Applaus in sehr allgemein gehaltenen Worten mit: „Besonders wurden mir von Wetzlar aus viele Complimente gemacht […].“ Dass man ihm am Kammergericht Lob und Dank spendete und die viel gescholtenen dortigen ­Assessoren ihm zustimmten, war zu erwarten gewesen. Er hatte dieses Gericht dem Reichshofrat in seiner Wertschätzung derart offen vorgezogen und es als das einzige unabhängige Reichsgericht vorgestellt, dass man ihm dort dafür nur dankbar sein konnte. Auf die Frage, von wem Pütters Buch sonst gelobt oder getadelt worden war, erfahren wir fast nichts. Die Reaktion auf Pütters Schrift äußerte sich anscheinend fast nur in privatem Gedankenaustausch, Briefen und Ge­ sprächen. Die Handschriftenabteilung der Universität in Göttingen enthält dazu keine Quellen. Der von außerhalb Wetzlars gespendete Beifall scheint rar und nicht laut gewesen sein. Dass ihm aber der Reichshofrat zustimmen werde, hatte Pütter nicht erwarten dürfen. Er beendete den oben zitierten Halbsatz vom Beifall aus Wetzlar überraschend mit den Worten: „[…] doch nicht völlig so von Wien“. Das war milde formuliert. Protest und Empörung gegen die Schrift gab es anscheinend zwar auch außerhalb Wiens, dort aber waren sie ihm gewiss und Pütter

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bekam dies peinlich zu spüren. Als Erster äußerte sein Mäzen und Minister von Münchhausen Bedenken. Er schrieb ihm am 6. April 1749:21 „Das mir zugesandte Impressum habe ich noch nicht ganz durchlesen und erwegen kön­ nen. Soviel gutes, gründliches und heilsames ich darin antreffe; so sehr besorge ich, daß Sie dem kaiserlichen Hofe sich damit mißfällig machen werden, weil der Reichshofrath so sehr erniedriget, als das Cammergericht erhöhet wird. Damit schlägt man zu Wien das Kalb in die Augen, weil der Reichshofrath in effectu noch die einzige Stütze und das Ueber­ bleibsel der kaiserlichen Auctorität ist.“

Dieses Urteil beschrieb kurz und zutreffend die Ursache der Pütter zuteil gewordenen Empörung. Dass es Protest gegeben hatte, konnte Pütter nicht vergessen. Er berichtete, es habe sich „unter andern“ der uns Heutigen durch seine „Reichsabschiede“ unvergessliche Reichshofrat Heinrich Christian von Senckenberg22 protestierend an von Münchhausen gewandt. Dass sich der Reichshofrat nicht unmittelbar an Pütter wandte, sondern an seinen Standeskollegen und Pütters Obrigkeit, war nicht allein ein Gebot der ständischen Rangordnung, sondern brachte den aus kaiserlicher Sicht politischen, das Reich „tangierenden“ Charakter der Angelegenheit zum Ausdruck. Senckenberg scheint den Minister in Hannover im Interesse und womöglich auch im Auftrag von Kaiser und Reich aufgefordert zu haben, den entstandenen Skandal aus der Welt zu schaffen und seinen jungen Mann zur Ordnung zu rufen. Von Münchhausen handelte prompt. Dem erfahrenen Politiker hatte womöglich bereits die Antrittsvorlesung bedenklich erscheinen können, falls er deren Inhalt erfahren hatte. Doch war diese noch ein lokales Ereignis gewesen, das sich schwerlich bis nach Wien herumgesprochen haben dürfte. Nun aber musste der Minister gemeinsam mit Pütter für diesen Fehltritt haften. Er wählte, diplomatisch geschickt, eine Form der Satisfaktion, mit der man Wien etwas beruhigen konnte, ohne selbst das Gesicht zu verlieren, und verfasste selbst die fällige Anzeige der Schrift in den „Göttingischen Zeitungen“. Seinen Namen als den des Verfassers nannte er nicht in der Besprechung und verschwieg auch die Namen des Autors und des Verlegers der Schrift sowie deren Erscheinungsort. Seinen Text wird er dem Reichshofrat vermutlich mit einem beruhigenden Begleitbrief mitgeteilt haben. Über dessen Erfolg in Wien wissen wir nichts. Die Empörung, welche Pütter in Wien und im Reich hervorgerufen hatte, scheint nachhaltig gewesen zu sein. Pütter berichtete, dass davon noch Jahre später geredet wurde:23 21 Pütter (Fn. 1), S. 208, Anmerkung. 22 Gschliesser (Fn. 11), S. 432–434. 23 Pütter (Fn. 1), S. 209.

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„Ein paar Jahre nachher sagte mir ein in Geschäfften grau gewordener Mann, da er das Buch gelesen hatte: ‚Reichshofrath werden Sie nie werden‘. So weit hatte sich aber auch meine Eitelkeit nicht verstiegen; am wenigsten seitdem ich selbst zu Wien gewesen war, und die dortigen Verhältnisse näher kennen gelernt hatte.“

Dass Protest nicht allein in Wien laut geworden war, verschwieg Pütter nicht und bot davon eine Kostprobe. Im Jahre 1753 veröffentlichte zu Duisburg der doctor iuris und spätere Wirkliche Geheime Rat der Herzogtümer Jülich und Berg zu Düsseldorf Goswin Joseph Arnold von Buininck24 seine „Anfangs-Gründe des Reichs-Cammer-Gerichts-Processes“. Den katholischen Juristen verband nicht allein seine konfessionelle Sympathie mit Wien und dem Reichshofrat. Als Untertan eines der kleinen Fürstentümer des Reiches wusste er zu gut, dass sein Ländchen gegen die wachsende Macht der beiden großen Monarchien Österreich und Preußen allein beim Kaiser und dem Reichshofrat Schutz finden konnte. War es ein Beweis von Pütters nobler Haltung dem wissenschaftlichen Kollegen gegenüber oder war es Ausdruck seiner auch nach 35 Jahren nicht vernarbten Verletzung? Jedenfalls zitierte er Buinincks Kritik wörtlich. Dieser hatte Pütters Schrift in der Literaturübersicht seines Buches mit den Worten erwähnt:25 „Bereits ist überall erschollen, daß der Göttingische Professor Herr Joh. Steph. Pütter der unglückselige Vater dieser so abscheulichen Mißgeburth seye. Oeffentlich hat er sich, als Vater des Kindes darzustellen nicht getrauet, fürchtend: daß, wessen er sich nicht entblö­ det, die Reichs-Stände, und derer Räthe in einer so garstigen Figur zu entwerfen, er, als ein ohnberufener Beurtheiler über die Handlungen grosser Herren, und ihrer Minister öffentlich erkläret werden mögte.“

Womöglich teilte Pütter diesen Verriss auch deshalb mit, um anzudeuten, wie wenig der Mann in Duisburg damals seine Botschaft verstanden hatte. Er konnte sich immerhin rühmen, dass andere sie begriffen hatten, denn man hatte seine „Mißgeburth“ nach deren Erstauflage in den Jahren 1756 und 1770 noch zweimal ohne sein Wissen in Frankfurt nachgedruckt. Andererseits ist hier das Urteil seines Schülers Gustav Hugo zu beachten, Pütter habe sich in seinen Urteilen zu Fragen des Reichsrechts auch durch eine „gewisse Partheilichkeit gegen die Catholi­ ken“26 und zugunsten der politischen Interessen der Reichsstände leiten lassen. Dazu gehörte sicher auch die einer gründlichen Reichsreform feindliche Politik 24 ADB 3 (1876), S. 511–512. 25 Zitiert nach Pütter (Fn. 1), S. 209. 26 Gustav Hugo (Fn. 1), S. 78.

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seines englisch-hannoverschen Landesherrn. Ob Letzteres bei dem damals politisch noch unerfahrenen Pütter der Fall war, ist aber nicht sicher. Immerhin war er mit dem Zustand der beiden Reichsgerichte so vertraut, dass er sich dazu ein Urteil erlauben konnte. Dass er die Tatsachen verfälscht habe, konnte man ihm nicht vorwerfen. Bei den daraus zu ziehenden Konsequenzen hatte ihn seine Prägung aber so geleitet, dass er für seine Kritiker angreifbar war. Die Skepsis Pütters beim Einbringen von Reformvorschlägen für den Reichshofrat bewegte auch Johann Jacob Moser 1774 in seinem Neue(n) Teutsche(n) Staatsrecht:27 „So gewiß es auch ist, daß, wann das Cammer-Gericht die Reichs-Justizsachen allein be­ halten hätte, das Kayserliche Ansehen in Teutschland um die Helffte gefallen wäre; so unzweifentlich ist es auch, daß noch jezo ein sehr grosser Theil des Kayserlichen Respects und Autorität auf dem Reichs-Hofrath beruhet, und er des Kaysers rechter Arm ist. Es wäre schon genug, wann er mit dem Cammergericht bloß gleich stünde.“

Pütter wusste wie Moser, welchen Schatz Deutschland in Kaiser und Reich besaß. Er liebte es als Patriot und dies wohl mehr als andere und bekannte offen seine patriotische Liebe als das tragende Motiv seiner Schrift. Letztlich ging es ihm um mehr als die Klärung der Frage, was Kaiser und Reich in Zukunft sein sollten, wenn sie eine Zukunft haben wollten. Er wollte die Gerichtsverfassung des Reiches so erneuern, dass das Reich den künftigen Herausforderungen gewachsen war. Dass dies letztlich nicht ohne Eingriff in die Vorrechte des Kaisers und eine neue Definition seines Amtes möglich war, wusste er und musste dennoch resignierend zugeben, dass man den Reichshofrat in seiner derzeitigen Verfassung unangetastet lassen müsse. Vierzig Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage von Pütters Streitschrift, unmittelbar nach dem Ausbruch der Französischen Revolution in Paris, erntete Pütter endlich doch öffentliches Lob. Es kam von Benjamin Ferdinand von Mohl (1766–1845),28 Professor an der Karlsakademie in Stuttgart. Dieser stellte, ­gestützt auf seine eigenen im Praktikum bei den Reichsgerichten gemachten Erfahrungen, in seiner „Historisch-politische(n) Vergleichung der beyden höchsten Reichsgerichte in ihren wichtigsten Verhältnissen“ fest,29 die Zeiten hätten sich geändert. Man müsse die Verfassung des Reichshofrats jener des Reichskammer­ 27 Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 8, 2 (Fn. 7), S. 11. 28 ADB 22 (1885), S. 54 f. 29 B.  F.  Mohl, Historisch-politische Vergleichung der beyden höchsten Reichsgerichte in ihren wichtigsten Verhältnissen, 1789, Vorrede, S. X.

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gerichts angleichen. Geschehe dies nicht, so werde das gesamte gute alte Gebäude zusammenfallen. In einer ausführlichen Erörterung von Pütters Schrift lobte er diese als noch immer wieder neu lesenswert:30 „Selbst die vortrefliche patriotische Abbildung der beyden höchsten Reichgerichte vom Herrn geheimen Justizrath Pütter, zu deren Lob man gar nichts sagen darf, als daß sie, die doch eigentlich eine Zeitschrift war, nach vierzig Jahren eben so sehr für Meisterstük gehalten wird, als bey ihrer Erscheinung, kann man nicht ganz hieher rechnen. Nur ein­ mal darf man sie gelesen haben, unerachtet sie es öfters verdient, um zu finden, daß sie eigentlich keine Parallele zwischen den beyden Reichsgerichten ziehen sollte. Die genauere Entwiklung ihres Verfalls, patriotische Wünsche, wie dieser, zu unterdrüken, und mehr Schnellkraft in das Maschinenwerk dieser deutschen Richterstühle gebracht werden könnte, diß war vielmehr ihr Zwek, ihr vorzüglichster Gegenstand. […] Schande aber auch demjenigen, der sich durch Vorurtheile blenden läßt, und indem er die Werke ande­ rer tief bewundert, völlig vergißt, daß Zeit und Umstände sich ändern, und Etwas gut gewesen seyn kann, was es unter andern Umständen nicht mehr ist.“

Dieses Lob erwies sich nach wenigen Jahren bereits als ein Nachruf auf Pütters Schrift. Siebzehn Jahre später sollte sich zeigen, dass sie ihren Zweck verfehlt hatte. Sie geriet bald in Vergessenheit. Für die Verfassungsrechtler war sie unwichtig geworden und auch die Rechtshistoriker nahmen sie nicht wahr. Rudolf Smend widmete ihr in seinem „Reichskammergericht“31 noch den Satz, sie habe beim kaiserlichen Hof großen Anstoß erregt, ergänzte diesen aber mit dem nicht weiter erläuterten Hinweis, nach ihr habe sich die weitere Literatur orientiert. Wilhelm Ebel (Fn. 1) erwähnte sie 1975 nur im Literaturverzeichnis.

IV  Pütters Urteil nach fünfzig Jahren Mit diesem Blick auf das spätere Schicksal von Pütters Schrift ist noch nicht die Frage beantwortet, ob und wie sich dessen Urteil über das Reich im Verlauf seines Lebens gewandelt hat. Auf sie gab er die Antwort in seiner „Historische(n) Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs“. Als dieses Spätwerk 1799 in der dritten Auflage erschien, war bereits die Zeit gekommen, in der im Reich die Hoffnung auf eine Niederringung der aus Frankreich drohenden Gefahr einer gründlichen Ernüchterung gewichen war. Napoleon war im Begriff, 30 Mohl (Fn. 29), S. XIV f. u. XVIII. 31 Rudolf Smend, Das Reichskammergericht, 1911, S. 230.

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in Frankreich die Konsularverfassung zu proklamieren und sich den Kontinent zu unterwerfen. Im Reich hatte sich nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1763) die Überzeugung von der Notwendigkeit einer grundlegenden Reichs­ reform verbreitet. Der junge Kaiser Joseph II. (1741–1790) hatte 1767 die Initiative zur Visitation des Reichskammergerichts32 ergriffen. War das Unternehmen infolge des unüberwindlichen Widerstandes der großen Reichsstände vom Kaiser 1776 auch abgebrochen worden, so hatte die Einleitung der Visitation dennoch wohltätige Folgen für das Reichskammergericht gehabt. Alsbald nach dem Beginn des Unternehmens hatten die Stände ihre fälligen Kammerzieler gezahlt und das Gericht finanziell so ausgestattet, dass man dort nun 25 Assessoren hatte einstellen können. Während das Reich im Konflikt mit Napoleon um sein Über­ leben kämpfte, verlief der Geschäftsgang in Wetzlar wieder so zufriedenstellend wie seit Langem nicht mehr. Über die segensreichen Folgen der Visitation des Reichskammergerichts verlor Pütter kein Wort mehr, als er 1799 in seiner „Historischen Entwickelung“33 „Einige allgemeine Bemerkungen über die Verfassung des Teutschen Reichs, wie sie jetzt würklich ist“ machte. Seine alte Sorge um den drohenden Untergang des ­Reiches bestimmte sein Denken nun mehr denn je. Er war erstaunt, dass es die „noch immer fortwährende Einheit des Teutschen Reiches“ überhaupt noch gab, ­obwohl sich die Länder des Reiches wie alle anderen europäischen Staaten verhielten. Man habe mehrmals Ursache gehabt, um den Bestand des Reiches besorgt zu sein. Diese Besorgnis dürfe „jedem deutschen Biedermann“ nicht gleichgültig sein. Trotz alledem sei das Reich immer noch an drei Orten zu sehen: in Wien, Regensburg und Wetzlar. Im Übrigen sei es schwer, die Einheit des Reiches überhaupt noch wahrzunehmen. Am kaiserlichen Hof in Wien sei es der Reichshofrat,34 der das Reich sichtbar darstelle. Vergleiche man dessen Erscheinung aber mit der großen Menge der erbländisch-österreichischen Kollegien und Staats-, Hof- und Landesbedienten, so sei der Reichshofrat neben jenen kaum wahrzunehmen. Es komme hinzu, dass die Reichsstände inzwischen dazu übergegangen seien, am Hof zu Wien wie die anderen europäischen Staaten eigene Gesandtschaften zu unterhalten und nicht in 32 Karl Otmar von Aretin, Kaiser Joseph II. und die Reichskammergerichtsvisitation 1767– 1776, 1991; Alexander Denzler, Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776. Ein mediales Großereignis und seine Bedeutung für die Kommunikations- und Rechtsgemeinschaft des Alten Reiches, 2008. 33 Johann Stephan Pütter, Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs. Dritter und letzter Theil von 1740 bis 1786, 3. Aufl., 1799, 14. Buch, S. 214– 300. 34 Pütter (Fn. 33), S. 215–229.

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ihrer Eigenschaft als Stände des Reiches, sondern ohne Inanspruchnahme des Reichshofrats und der Reichshofkanzlei als souveräne Staaten unmittelbar mit dem Kaiser zu verhandeln. Am sichtbarsten sei das Fortbestehen des Reiches dort noch bei den feierlichen Belehnungen der Reichsstände durch den Kaiser. Während die Reichsfürsten zu ihrer Belehnung durch den Kaiser aber eigentlich zur Ablegung des Lehnseides und zum Kniefall vor dem Kaiser zu persönlichem Erscheinen verpflichtet seien, hätten sie aus einer rechtlich vorgesehenen Ausnahme, der Verhinderung aus persönlichen Gründen, die Regel gemacht. Sie kämen nicht mehr selbst zur Belehnung, sondern ließen diese Formalie durch bevollmächtigte Vertreter erledigen. Auch komme es wegen der von ihnen an das beteiligte kaiserliche Personal zu zahlenden Honorare, der sogenannten Laudemien, zwischen dem Reichshofrat und der Reichshofkanzlei ständig zu Streit. Über den Reichstag in Regensburg35 verlor Pütter nur wenige Worte. Bei der allgemeinen Reichsversammlung zu Regensburg sei das fortwährende gemeinsame Band der Reichsverfassung am meisten noch insoweit sichtbar, als dort das dazu gehörige Personal noch vor allem anderen auffalle und nicht wie in Wien unter einer Menge anderer sich verliere. Zwar habe der Reichstag den Vorzug, dass er nicht mehr wie früher nur gelegentlich, sondern dauernd tage. Dagegen habe der Umfang seiner zur Beratung anstehenden Gegenstände merklich abgenommen. Während früher die Reichsfürsten und sogar der Kaiser dort persönlich erschienen seien, verhandelten nun nur noch Bevollmächtigte miteinander. Doch auch deren Zahl habe sich verringert, weil mehrere Stimmberechtigte gemeinsam einen Bevollmächtigten entsendeten. Das ganze reichsständische Kollegium bestehe gelegentlich nur noch aus einigen Regensburger Ratsherren, die zugleich die Stimmführer von Reichsstädten seien. Die wirklich wichtigen Gegenstände ­würden dagegen unmittelbar in Verhandlungen einzelner Reichsstände mit dem Kaiser entschieden. Daher fehle es in Regensburg zunehmend an Gegenständen, über die zu verhandeln es sich lohne. Ungleich lebendiger sei das Reich dagegen beim Reichskammergericht36 in Wetzlar zu sehen. Über dieses verlor Pütter nun weniger und andere Worte als 50 Jahre zuvor. Er hatte nach der nun bereits zwei Jahrzehnte zurück liegenden Visitation und Reform keine Klagen mehr vorzutragen. In Wetzlar sei eine beständig fortschreitende Tätigkeit zu sehen. Dort leuchte nicht nur das Personal des Gerichts vor allen übrigen Einwohnern dieser sonst mittelmäßigen Stadt hervor. Die ganze Maschine sei jahraus, jahrein in beständig gleicher Tätigkeit. Dabei beträfen die dort zu entscheidenden Gegenstände zwar ungleich mehr Streitigkeiten Priva35 Pütter (Fn. 33), S. 229–231. 36 Pütter (Fn. 33), S. 232 f.

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ter als Konflikte der Reichsstände untereinander, die ihrer Art nach als „Staatssa­ chen“ angesehen werden könnten. Doch auch über solche werde in Wetzlar entschieden. Das sei beim Reichshofrat zwar häufiger der Fall als in Wetzlar, doch gebe es auch dort oft „häkeliche“ Fragen, wo bald Kaiser und Reich, bald Fürsten und Kurfürsten, bald beide Religionsparteien, bald selbst die Mitglieder des Kammergerichts untereinander nicht gleiche Grundsätze hegten. In solchen Fällen müssten die Sachen am Ende dem Reichstag zur Entscheidung überlassen werden, die aber auch dort nicht immer erfolge. Pütter war nicht der Einzige, der noch in den letzten Jahren des Reiches seine Zufriedenheit mit dem Reichskammergericht zum Ausdruck brachte. Auch in Wien hatte man selbst im Jahr der Abdankung des Kaisers nicht vergessen, welchen Schatz man am Kammergericht besaß. So notierte im Mai des Jahres 1806, ein Vierteljahr vor Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. im August 1806, der Direktor der Prinzipalkommission, der Vertretung des Kaisers am Reichstag, Josef Haas in einer „Skizze über die dermalige Lage des deutschen Reiches“:37 „Die richterliche Gewalt war bisher der schönste Theil unserer Verfassung. Zwey Reichsge­ richte, deren Räthe mit großer Vorsicht angestellt und von fremden Einfluß unabhängig gemacht waren, wetteiferten miteinander in unpartheyischer Verwaltung der Gerechtig­ keit und sprachen auch dem geringsten Untertan gegen mächtige Fürsten Recht. Selbst die Rekurse beförderten das Ansehen dieser Gerichte, da sie einer Seits die Gerechtigkeit ihrer Entscheidungen in ein desto helleres Licht setzten. Fehlte es auch wegen übler Organisa­ tion der exekutiven Gewalt einem großen Theile ihrer Entscheidungen an der Vollzie­ hung: so brandmarkten sie doch den Übertreter der Gesetze mit dem Zeichen der Unge­ rechtigkeit, dienten der öffentlichen Stimme zur Leitung, und erhielten in der Nation ein reges Gefühl für Recht. Ihrem Beispiele sowohl als ihrer Aufsicht ist auch vorzüglich die gute Organisation der Landesgerichte zuzuschreiben, und die männliche Standhaftigkeit ihrer Räthe, welche man noch hie und da selbst unter despotischen Regierungen antrifft. Mit schmerzlichem Gefühle muß daher ein jeder Deutsche das Grab dieser wohlthätigen Anstalten sehen.“

Angesichts der allgemeinen Zufriedenheit mit dem Reichskammergericht ließ Pütter es nicht mit dem eingangs gezeichneten pessimistischen Bild der Lage des Reichs sein Bewenden haben. Er hatte noch immer Hoffnung für dessen Fortbestand und wollte auch seinen Lesern Hoffnung machen. Im folgenden zweiten 37 Zitiert nach: Gero Walter, Der Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation und die Probleme seiner Restauration in den Jahren 1814/15, 1980, Anhang, S. 131–141, 137.

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Kapitel des vierzehnten Buchs bekräftigte er seine Überzeugung, dass der Hauptzweck der Reichsverfassung, die Garantie der allgemeinen Sicherheit und Wohlfahrt, noch immer erreicht werde:38 „In dem allgemeinen Bande, das ganz Teutschland, ungeachtet seiner Ab­theilung in so viele besondere Staaten, unter Kaiser und Reich und den beiden höchsten Reichsgerichten doch noch immer auf die bisher beschriebene Art zusammen erhält, wird allemal ein Hauptzweck der ganzen Reichsverfassung noch dadurch erreicht, daß unter so vielerley Staaten und Mitgliedern des Teutschen Reichs, unter denen sonst das Recht der Selbsthülfe bald den Mindermächtigen dem Stärkern Preis geben würde, dennoch keine Selbsthülfe statt findet, sondern einem jeden ohne Unterschied hier noch Mittel und Wege angewiesen sind, durch richterliche Hülfe im Seinigen gesichert zu seyn, oder, wo es ihm vorenthalten wird, zu seinem Rechte zu gelangen.“

Indem Pütter außer Kaiser und Reich auch die beiden Reichsgerichte ausdrücklich erwähnte, bekräftigte er nochmals seine Botschaft vom Reich als einem durch die Arbeit der Reichsgerichte garantierten Rechtsorganismus. Angesichts der blutigen Wirren jenseits des Rheins fragte man damals im Reich, warum die Revolution hier nicht ebenso Fuß gefasst habe. Pütter gab neben anderen auf diese Frage die Antwort, während im Verhältnis der anderen Mächte zueinander zur Lösung von Konflikten nichts als Macht und Gewalt entschieden und den Untertanen in Fällen von Machtmissbrauch ihrer Obrigkeit nichts als geduldiges Ertragen übrig bleibe, genössen im Reich die Untertanen Rechtssicherheit und fänden Schutz bei den Reichsgerichten. Es sei eine Besonderheit der deutschen Reichsverfassung, dass auch gegenwärtig selbst den mächtigsten Reichsständen fühlbar gemacht werden könne, dass sie nicht völlig unabhängig seien. So sei dies jüngst seitens des Reichshofrats gegenüber Mecklenburg und Württemberg und seitens des Reichskammergerichts gegenüber Nassau-Weilburg und Lippe-Detmold geschehen. Nachdrücklich ging Pütter außerdem auf das Amt des Kaisers als dem in ­Fällen überschuldeter Reichsstände berufenen Konkursverwalter ein.39 Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte die Zahl der Bankrotte von Reichsständen dramatisch zugenommen. Moser40 füllte mit deren Aufzählung und Beschreibung 1774 und 1775 zwei stattliche Bände. Der Kaiser übernahm in solchen Fällen 38 Pütter (Fn. 33), S. 234 f. 39 Pütter (Fn. 33), S. 239 f.; Hans Hattenhauer, Das Reich als Konkursverwalter, 1998. 40 Johann Jacob Moser, Von dem Reichs-ständischen Schuldenwesen: so vil derer weltlichen Churfürsten, auch regierender Reichsfürsten und Grafen, Cameral-Schulden, und die Art selbige abzustossen und zu bezahlen betrifft, 1774–1775.

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Hans Hattenhauer †

nicht etwa die Schulden der hilfesuchend bei ihm anklopfenden Bankrotteure oder ordnete eine solidarische Haftung aller Reichsstände an. Er bestellte vielmehr zur Abwicklung der Konkurse den Schuldnern ihnen ebenbürtige Reichsstände und „Debitcommissionen“ als Konkursverwalter, deren Arbeit er überwachte. Pütter fasste diesen Teil seiner Ausführungen in den Satz zusammen: „Immer bleibt es ein Glück, daß sie [die Reichsuntertanen] doch noch immer einen Richter über sich haben.“ Allein das Problem der Rekurse bedürfe weiterhin einer eingrenzenden gesetzlichen Regelung. Pütters Liebe zum Reich war auch 50 Jahre nach Erscheinen seiner „Abbildung“ nicht erkaltet. Sein jugendlicher Patriotismus war inzwischen durch rationale Argumente und politische Erfahrungen bestärkt worden. Das Reich hatte für ihn trotz aller politischen Konflikte noch immer einen Daseinszweck, der seinen Fortbestand sichern konnte. Aber es herrschte Endzeitstimmung. Als Pütter im Jahre 1795 vom preußischen König gefragt worden sei, was wohl aus seinem Staatsrecht im Falle einer Auflösung des Reiches werde, soll er geantwortet ­haben:41 „Wenn ich diesen Umsturz erlebte, müsste ich darauf denken, auf die Rui­ nen des Alten ein Neues zu bauen.“ Er hat den Umsturz wegen Altersdemenz nicht mehr bewusst erleben müssen. Es fällt nach alledem schwer, Kleinheyers42 Urteil zu bestätigen, man würde Pütter heute einen „unpolitischen Rechtsanwender“ ­nennen. Diese Ansicht stammt aus dem 19.  Jahrhundert, in dem das Heilige ­Römische Reich verachtet war und kaum Fürsprecher besaß. So urteilte auch der hannoversche Jurist, Literat und Politiker Heinrich Albert Oppermann (1817– 1870)43 im Jahre 1870. In seinem aus Göttinger Quellen schöpfenden Werk „Hundert Jahre“44 kommentierte er Pütters Jugendschrift mit dem Satz, Pütter habe seitdem „solche nicht nutzbringende Schreibereien“ beiseitegelegt. Die unzähligen Gutachten, welche er für Fürsten, reichsunmittelbare Städte und Ritter habe anfertigen müssen, hätten ihm stattdessen klingende Goldstücke in den Säckel gebracht. Er habe nicht begriffen, dass das  – von Oppermann so genannte  – ­„Heilige Deutsche Reich“ schon aus allen Fugen gerissen, nur noch ein Gespenst gewesen sei. Was in der Zeit entsteht, muss mit der Zeit wieder vergehen. Die Reiche dieser Welt45 kommen und gehen. Die Gründe und Umstände ihres Entstehens wie ihres 41 42 43 44

Kleinheyer (Fn. 1), S. 347. Kleinheyer (Fn. 1), S. 348. ADB 24 (1887), S. 400–404; NDB 19 (1999), S. 567 f. Albert Oppermann, Hundert Jahre: 1770–1870. Zeit- und Lebensbilder aus drei Generationen, 1.–2. Theil, 1870, NeuDr. 1982, 2. Theil, S. 14 f. 45 Michael Gehler und Robert Rollinger (Hrsg.), Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche, 2014.

Johann Stephan Pütters Reichsbegriff

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Bestehens und Vergehens sind unterschiedlich und müssen bei jedem Reich einzeln erforscht werden. Zu den Paradoxien der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gehört es, dass es im Jahre 1806 nicht an der 1749 von Pütter beschworenen Gefahr scheiterte, weil seine Gerichtsverfassung nicht zufriedenstellend gearbeitet hätte. Es scheiterte trotz deren guter Arbeit zwar unter den Schlägen Napoleons, vor allem aber, weil die großen Reichsstände Österreich und Preußen des Reiches überdrüssig geworden waren und dessen Wert nicht mehr zu schätzen wussten, vielmehr wie die anderen europäischen Staaten als Nationalstaaten regieren wollten. Um den Rang von Nationalstaaten zu erlangen, opferten sie das Reich und dessen Rechtsschutz. So hatte bereits der Kanzleidirektor Haas alle Hoffnung für den Fortbestand des Reiches aufgegeben und für dessen Untergang „der deutschen Fürsten unbezähmbaren Geist nach übel­ verstandener Freyheit“46 verantwortlich gemacht. Die Rheinbundstaaten hatten in der Rheinbundakte vom 22. Juli 1805 zuvor bereits den Schlussstrich gezogen und sich mit Napoleon und miteinander verbündet,47 im „[…] Wunsch […], durch eine angemessene Übereinkunft den inneren und äußeren Frie­ den dem mittägigen Deutschland zu versichern, welchem, wie die Erfahrung seit langem und noch ganz neuerlich lehrte, die deutsche Reichsverfassung keine Art von Gewähr mehr leisten konnte.“

Dass die Großen sich von den Verbindlichkeiten der Reichsverfassung ohne Rücksicht auf den Protest der kleineren Reichsstände endgültig befreien wollten, brauchten sie auf dem Wiener Kongress nur noch zu bestätigen. An die Stelle des Reichs trat die europäische Pentarchie und mit ihr die Epoche der europäischen Nationalstaaten mit deren Glanz und Elend.

46 Bei Walter (Fn. 37), S. 132. 47 Auszug aus der Präambel, deutsche Fassung „mit diplomatischer Genauigkeit abgedruckt“ in Frankfurt am Main unter Fürstprimas Dalberg von P. A. Winkopp, Die Rheinische Konföderations-Akte, 1808, ND in: Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte, hrsg. von Günter Dürig/Walter Rudolf, 3. Aufl. 1996, S. 1.

Selbständigkeit und Abhängigkeit der Gerichtsbarkeit im Alten Reich Von Dietmar Willoweit

I  Forschungsstand und offene Fragen Die geläufige Formel, mit deren Hilfe die Wissenschaft das hier angesprochene Thema bisher zu erschließen versuchte, ist die „Unabhängigkeit des Richters“. Dies ist die Perspektive des liberalen Bürgertums, das im 19. und weiterhin auch im 20. Jahrhundert auf die Zeiten absoluter Fürstenherrschaft zurückblickte, um die Erfolgsgeschichte des modernen Rechtsstaates zu schreiben. Dabei fiel der Blick zunächst auf die „englische Praxis“ und „französische Idee“,1 während es in Deutschland notwendig war, sich „gegen die Justizhoheit des absolutistischen Regenten und seine ‚Machtsprüche‘“ zu wenden.2 Machtsprüche aber sind danach per se vom Teufel: Entweder weil sie „außerhalb des gesetzten Rechts“ gelegen seien oder weil sie „die zum Schutz gegen Willkür eingeführten Verfahrensformen“ verletzten oder „den ‚stracken Lauf ‘ der Justiz“ störten.3 Das so konstruierte Schreckgespenst hat freilich mit der historischen Realität, soweit sie erkennbar ist, nur am Rande etwas zu tun.4 Das ergibt sich auch aus einer neueren rechtshistorischen 1 Christian Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 97, Rn. 6 ff. 2 Hellmuth Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2000, Art. 97, Rn. 1 f., der wie Hillgruber ebenfalls mit England und Frankreich beginnt. Zur tatsächlichen Machtspruchkritik des 18. Jahrhunderts vgl. Ulrike Müßig, Recht und Justizhoheit. Der gesetzliche Richter im historischen Vergleich von der Kanonistik bis zur Europäischen Menschenrechtskonvention, unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsentwicklung in Deutschland, England und Frankreich, 2. Aufl., 2009, S. 226 ff. 3 Dieter Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, 1975, S. 2. Generell zur geschichtlichen Dimension des Themas: Wolfgang Sellert, Unabhängigkeit des Richters (der Justiz), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 1. Aufl. 1998, Sp. 443–451 m. w. Nachw.; nur zur neueren Geschichte des Themas in der Epoche der Aufklärung Günther Plathner, Der Kampf um die richterliche Unabhängigkeit bis zum Jahre 1848 unter besonderer Berücksichtigung Preußens, 1935. 4 Vgl. dazu schon Eberhard Schmidt, Rechtssprüche und Machtsprüche der preußischen ­Könige des 18. Jahrhunderts (1943), in: ders., Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaates, 1980, S. 210–246; ferner u. Abschnitt V und die differenzierte Sicht von Regina Ogorek, Das Machtspruchmysterium, in: Rechtshistorisches Journal 3 (1984), S. 82–107.

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Dietmar Willoweit

Untersuchung über die Genese und die Erscheinungsformen von „Machtsprüchen“, obwohl die dabei verwandte retrospektive Methode nur einen schmalen Ausschnitt jener historischen Verhältnisse in den Blick nehmen kann, die in diesem Zusammenhang insgesamt relevant sind.5 Denn es geht dabei ganz grundsätzlich um die „Selbständigkeit und Abhängigkeit“ der Rechtsprechung überhaupt, weil „Machtsprüche“ in der ungemein breiten Gerichtspraxis des Mittelalters und der frühen Neuzeit keineswegs eine zentrale Rolle spielen. Zudem besteht die Gefahr, dass sich ex post jene berüchtigten Skandalfälle in den Vordergrund drängen, die aus der Sicht des modernen Juristen den Aufbau des Rechtsstaates verhinderten. Eine rechtshistorische Untersuchung muss methodisch aber offenbar den umgekehrten Weg von der Genese zu den späteren Ergebnissen einschlagen, wenn die Geschichte des Verhältnisses von richterlicher Unabhängigkeit und landesherrlichen „Machtsprüchen“ verstanden werden soll. Dabei empfiehlt es sich, den begrifflichen Ballast der herrschenden Meinung abzulegen, „Selbständigkeit und Abhängigkeit“ des Gerichtswesens umfassender zu thematisieren und als Teil des größeren Problemfeldes „Rechtsprechung und Justizhoheit“ zu begreifen.6 Zum gesicherten Forschungsstand gehört natürlich die grundsätzliche Verantwortlichkeit und auch Wahrnehmung des Justizwesens durch den frühneuzeitlichen Landesherrn. Als zeitgenössischer Kronzeuge mag hier der damals und heute viel gelesene Veit Ludwig von Seckendorff mit einem Zitat aus seinem „Teutschen Fürstenstaat“ auftreten. Nach ihm ist ein „Haupt-Punct der Regierungs-Geschäffte, welcher bestehet in der höchsten Gerichtsbarkeit des Landes-Fürsten oder Herrn, in Ertheilung der Justitz, und gebührlicher Aufsicht über die andern Gerichte in seinem Lande“.7 Seckendorff hat auch kein Problem damit, dass „der Landes-Fürst oder 5 Holger Erwin, Machtsprüche. Das herrscherliche Gestaltungsrecht „ex plenitudo potestatis“ in der Frühen Neuzeit, 2009. Sein methodischer Ansatz zwingt den Verfasser zu einer „Arbeitsdefinition“, nach welcher ein Machtspruch einen „absoluten Machttitel“ in Anspruch nehmen und dabei „anerkannte Rechtsregeln außer Kraft“ setzen könne, vgl. S. 23 und schon S. XXVII. Damit wird ein den Quellen fremder und fragwürdiger Begriff eingeführt. Der Verfasser zeigt im Verlauf seiner Arbeit selbst, dass die Wahrnehmung solcher angeblichen „Machttitel“ vielfach rechtlich begrenzt gewesen ist, vgl. z. B. S. 77: „[…] plenitudo potestatis (meinte) im 13. Jahrhundert nicht herrscherliche Willkür.“ Vgl. dazu a. u. Abschnitt IV. 6 Vgl. a. die informative Abhandlung von Gustav Siegel, Zur Entwicklung der Unabhängigkeit der Rechtsprechung, in: Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik, 1898, S. 221–305, die den Zeitraum von der mittelalterlichen Schöffenverfassung bis zur Rechtslage im Deutschen Reich umfasst, dies aber ohne jeden Quellennachweis und aus dem schon angedeuteten Blickwinkel. 7 Veit Ludwig von Seckendorff, Teutscher Fürstenstaat (1656),7.  Aufl. 1737, ND  1972, S. 232; zu diesem Autor Michael Stolleis, Veit Ludwig von Seckendorff, in: ders. (Hrsg.),

Selbständigkeit und Abhängigkeit der Gerichtsbarkeit im Alten Reich

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Herr […] alle wichtige Sachen […] sich selbst vortragen läst“ und zwar in seinem Ratskollegium, dem er selbst vorsitzen kann, aber wo ihn sonst ein Kanzler, Präsident, Direktor, Land- oder Hofrichter „in allen Sachen, denen er selbst nicht bey­ wohnen mag“ vertritt.8 Auf der höchsten Ebene dieser Gerichtsverfassung gab es also sowohl selbständige Entscheidungen der damit betrauten Räte wie auch das letzte Wort des Landesherrn,9 mit Wurzeln dieser Praxis im Rat und in den Hofgerichten des späten Mittelalters.10 Parallel entwickelte sich das mehrfach gut ­erforschte Bestätigungsrecht des Landesherrn in Strafsachen mit der Möglichkeit des Gnadenerweises.11 Obwohl gerne mit dem Etikett der „Kabinettsjustiz“ versehen und daher schon sprachlich dem Verdacht unkontrollierter Willkür ausgesetzt,12 kann der skizzierten Organisation der höchstgerichtlichen Rechtsprechung in den deutschen Territorien, so wie sie Seckendorff schildert und auch sonst zu belegen ist, eine ihr eigene Rationalität nicht abgesprochen werden.13 Kann sie dann einfach Konsequenz absolutistischer Machtstaatlichkeit sein? Und

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Staatsdenker in der frühen Neuzeit, 2. Aufl. 1995, S. 148–171; ders., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I, 1988, S. 52 ff. Seckendorff (Fn. 7), S. 238 f. Zur landesherrlichen Justizhoheit Müßig (Fn. 2), S. 220 ff., 225 ff. Dietmar Willoweit, Allgemeine Merkmale der Verwaltungsorganisation in den Territorien, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl, GeorgChristoph von Unruh, Bd.  I, 1983, S.  289–346, 307 ff.; Eduard Kern, Geschichte des ­Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 12 ff. Dietmar Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte (Fn. 9), Bd. I, S. 66–143, 126 f. Michael Kotulla, Machtsprüche, strafgerichtliche Bestätigungsvorbehalte und die richter­ liche Unabhängigkeit, in: Rechtsstaat und Grundrechte. Festschrift für Detlev Merten, hrsg. v. Ferdinand Kirchhof, Hans-Jürgen Papier, Heinz Schäffer, 2007, S. 199–221; Helga Schnabel-Schüle, Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg, 1997, S. 76 ff.; grundlegend schon Jürgen Regge, Kabinettsjustiz in Brandenburg-Preußen. Eine Studie zur Geschichte des landesherrlichen Bestätigungsrechts in der Strafrechtspflege des 17. und 18.  Jahrhunderts, 1977; Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. A., 1965, S. 246 ff. Obwohl Willkür mit dem Begriff „Kabinettsjustiz“ ursprünglich „keineswegs“ verbunden war, vgl. Werner Ogris, Kabinettsjustiz, in: HRG, 2. Aufl., Bd. II, Sp. 1487–1492, 1487. Zum mutmaßlichen Ursprung des Begriffs „Kabinettsjustiz“ vgl. u. Abschnitt III am Ende. Weil die Arbeit von Erwin über die Machtsprüche (Fn. 5) aufgrund ihres methodischen Zuschnitts von den realen Gegebenheiten der Gerichtsverfassung in den deutschen Territorien kaum Kenntnis nehmen kann, gelangt sie auch zu der höchst fragwürdigen Behauptung, es habe „die Rechtsprechung von Rechtsfällen […] fast beliebig durch den Herrscher organisiert und eine vorhandene Organisation von ihm durchbrochen werden“ können, vgl. ebda. S. 116. Erwin übersieht dabei, dass es spätestens seit dem Beginn des 16. Jahrhun-

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sollten daran Zweifel erlaubt sein, wie hat man sich dann die Überwindung der mittelalterlichen Trennung von Richteramt und Urteilertätigkeit und die ­Gerichtsbarkeit des Landesherrn unter dem Aspekt der „Unabhängigkeit“ vorzustellen? Drei offene Fragen wollen die folgenden Nachforschungen und Überlegungen beantworten. Erstens, ob die Selbständigkeit rechtsprechender Tätigkeit mit dem Postulat unbeeinflusster Entscheidung durch die damit betrauten Personen wirklich erst eine Errungenschaft aufgeklärter Rechtsstaatlichkeit ist – wie die Behauptung, erst „mit dem Kampf gegen die Machtsprüche [...] beginnt die Geschichte der sachlichen Unabhängigkeit der Justiz“,14 nahelegt. Zweitens, ob die landesherrliche Gerichtsbarkeit als Ausdruck absolutistischer Machtstaatlichkeit außerhalb eines ordentlichen Gerichtswesens zu verstehen oder worauf sie sonst zurückzuführen ist. Und drittens, warum die Wahrnehmung der Gerichtsbarkeit durch den Landesherrn  – obwohl Manifestation einer „plenitudo potestatis“  – nicht frei von allen rechtlichen Bindungen gewesen ist.15

II  Rechtsprechung unter mittelalterlicher Gerichtsherrschaft im Spiegel der Urteiler- und Richtereide Zweifel an der modernen Überzeugung, richterliche Unabhängigkeit sei eine ­Errungenschaft der Aufklärung, ergeben sich schon aus der seit seinen ersten Anfängen friedenstiftenden Funktion des Gerichts, gewalttätige Selbsthilfe im Wege

derts normativ festgelegte Organisationsstrukturen für die Wahrnehmung der Rechtsprechungsaufgaben auch am Hofe gegeben hat. 14 Simon (Fn. 3), S. 2 f. 15 Ob die Vermutung von Erwin (Fn. 5), S. 27 f., der Begriff „Machtspruch“ sei „Produkt eines Eindeutschungsprozesses“ von plenitudo potestatis, zutrifft, darf mit Rücksicht auf die auch ihm bekannten Belege aus dem Deutschen Rechtswörterbuch dahinstehen, weil dort der „Machtspruch“ auch als schiedsrichterliche Entscheidung nachgewiesen ist, vgl. DRW, Bd. VIII, Sp. 1560 f. Zudem ist das Wort „Macht“ seit althochdeutscher Zeit während des ganzen Mittelalters vielfach und mit mehreren Komposita wie „Machtbrief “ oder „Macht­ mann“ nachgewiesen, vgl. DRW, Bd. VIII, Sp. 1540 ff., 1548 f., 1560. Daher sind die umfangreichen Darlegungen von Erwin, S. 35 ff., zur „plenitudo potestatis“ von Papst und Kaiser im Mittelalter zwar informativ; ihr kausaler Zusammenhang mit der späteren Machtspruchproblematik bleibt aber vage. – Zum frühesten Gebrauch des Wortes „Machtspruch“ in der gelehrten Literatur – erst seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts – Erwin, S. 10 ff., 24 f. und ebenda S. 27 f. zur „Wandlung zum Justizeingriff mit negativen Konnotationen“.

Selbständigkeit und Abhängigkeit der Gerichtsbarkeit im Alten Reich

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der Rache zu unterbinden.16 Diese Aufgabe, Gewalt in einer vorstaatlichen Gesellschaft ohne Gewaltmonopol zu verhindern, legt die Hypothese zwingend nahe, man habe von Anbeginn für die Akzeptanz der gerichtlichen Entscheidung durch die Beauftragung möglichst unbeeinflussbarer Urteiler Sorge tragen müssen. Und das konnte wohl nur gelingen, wenn selbständiges, „unabhängiges“ Handeln des Gerichts in Gegenwart des dabei stets anwesenden Gerichtsvolkes zu erwarten war. Längst bekannte Zeugnisse solcher Bemühungen aus dem Mittelalter sind die nicht überall, aber doch oft überlieferten Eide von Schöffen und Richtern.17 Schon der älteste bekannte Text dieser Art für Schöffen aus Andernach von 1171 enthält jene Merkmale, die bis in die Neuzeit hinein für die Eidesformeln charakteristisch sind. Der Schöffe schwört mit der Hand auf einem Reliquiar, „quod nec partium nec pretii respectu, non favoris vel odio intuitu, non timore territi vel proprio emolumento illecti, in quenquam sententiam dicerent, nisi quam omni dolo excluso iustam crederent […].“18

In Cröv an der Mosel klingt das im 15. Jahrhundert muttersprachlich etwa so: „[…] urtheil zu sprechen und zu weisen […] und das nit lassen umb lief noch umb leid, noch umb freundtschaft noch umb machschaft, noch umb gold, noch umb silver, noch ­keinerlei myde oder mede […].“19

oder leicht abweichend in Alflen in der Eifel: rechtes Urteilen „nicht zu lassen, umb lieb und leid, umb hass oder neid, noch einicherley muthe, arge list ausgenom­

16 Jürgen Weitzel, Gericht, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde, 2.  Aufl., Bd. XI, S. 153–171; Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, 13. Aufl. 2008, Kap. 4: „Selbsthilfe, Sühne und Gericht“; Heiner Lück, Gerichtsverfassung, in: HRG, 2. Aufl., Bd. II, Sp. 192–219, 198. 17 Robert Scheyhing, Eide, Amtsgewalt und Bannleihe, 1960, S. 150 ff.; nur zu den Richtereiden auch Hubert Drüppel, Iudex Civitatis, 1981, S. 249 ff. 18 F. Keutgen, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte, 1899, S. 12. 19 Jacob Grimm, Weistümer, Bd. II, 1840, ND 1957, S. 371. „Machschaft“ meint die Magschaft, also die Verwandten. „Myde“ ist als „Miete“ zu lesen, was im frühen Neuhochdeutsch den Sinn von Lohn, Gabe, Geschenk hat, vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 2175 ff., http://dwb.uni-trier.de/de/ (04.08.2015); irrig insofern Adalbert Erler (Hrsg.), Die älteren Urteile des Ingelheimer Oberhofs, Bd. I, 1952, S. 179 zum ähnlichen Ingelheimer Schöffeneid („Müdigkeit“). „Mede“: eine auf Grundstücken haftende Abgabe, Grimm, Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 1838.

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men [...].“20 Arglistig wäre, unter dem Mantel der geforderten Objektivität eigene Interessen zu verfolgen. Die ausschließliche Bindung der Schöffen an das Recht sollen gelegentlich auch Hinweise auf gewisse normative Rechtsvorstellungen ­sicherstellen. Die Andernacher Schöffen haben nach dem Willen des erzbischöf­ lichen Stadtherrn „matris Colonie aliarumque civitatum nostrarum consuetudines imitantes“ Urteil zu finden, in Köln soll das 1375 gemäß „dem heiligen reiche seines rechts“ geschehen21 und in Erpel bei Remagen lautet 1388 die Verpflichtung der Schöffen, die Rechte der Herren zu respektieren und „etiam antiquas consuetudi­ nes et iura ipsius parochie et ville in Erpele“ zu beobachten.22 Die hier herangezogenen Texte lassen auch ahnen, wie man sich den Prozess der Urteilsfindung als eine von äußeren Einflüssen freie Hervorbringung des Spruches vorgestellt hat. In Alflen heißt es vor dem oben wiedergegebenen Zitat, der Schöffe solle beschwören, „[…] forth seinen aidgesellen den scheffen getrew und hold zu sein, scheffenrath nit zu melden, scheffenheimlichkeiten zu halten, recht urkundt zu empfangen, die urkundt recht zu behalten, recht zu tragen und recht zu besagen […], und das nit zu lassen […].“23

Die in dieser Ausführlichkeit eher seltene Beschreibung der Urteilsfindung erschließt sich mit einem Blick auf die Wort- und Begriffsgeschichte von „urkundt“, das noch im 16. Jahrhundert auch als „urkunft“ gebraucht und selbst nach dem Verlust des „f “ im Sinne von Herkunft und Ursprung verstanden wurde.24 Wer diese Formulierungen erdacht hat, begriff das Recht als eine aus der ursprüng­ lichen Wurzel des Wissens der Schöffen zu empfangende, zu behaltende, weiterzutragende und zu verkündende Botschaft. Der Schöffe hat die Pflicht, sich dieser Überlieferung anzuschließen und zu unterwerfen. Diese Art der Abhängigkeit von dem als vorgegeben gedachten Recht verträgt sich gedanklich mit einer gleichzeitigen Weisungsabhängigkeit von der Gerichtsherrschaft nicht. Dafür fehlt auch jeder Anhaltspunkt. Im Gegenteil gibt es im Mittelalter spektakuläre Vorgänge, die wohl den Anspruch der Herrschaft auf die Handhabung der Gerichtsgewalt, zugleich aber ihr begrenztes Interesse am Inhalt der Urteilertätigkeit erkennen lassen. Hingewiesen sei nur auf die Kulmer Handfeste von 1233 als Gründungsurkunde eines mittelalterlichen Staates, welche für die in 20 21 22 23 24

Grimm, Weistümer (Fn. 19), Bd. II, S. 409. Grimm, Weistümer (Fn. 19), Bd. II, S. 748. Grimm, Weistümer (Fn. 19), Bd. V, 1866, ND 1957, S. 335. Grimm, Weistümer (Fn. 19), Bd. II, S. 409. Grimm, Wörterbuch (Fn. 19), Bd. 24, Sp. 2454 ff.

Selbständigkeit und Abhängigkeit der Gerichtsbarkeit im Alten Reich

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Preußen zu errichtende Herrschaft des Deutschen Ordens das Magdeburger Recht für verbindlich erklärte, also eine ganz außerhalb des Einflusses der Ordensbrüder liegende Rechtsmaterie.25 Den Grund dieser auch anderswo oft zu beo­b­achtenden Erscheinung, die zur Entstehung der herrschaftsübergreifenden Oberhofzüge führte,26 hat Jürgen Weitzel als dinggenossenschaftliche Rechtsfindung umfassend analysiert. Sie beruht auf der Trennung von Urteilsfindung und Rechtszwang27 mit der Folge, dass im Hoch- und Spätmittelalter „der Richter … grundsätzlich nicht am Zustandekommen der Urteile beteiligt“ ist.28 Noch viel weniger als für den Richter gilt das für den Inhaber der Gerichtsherrschaft, der allenfalls in kleineren Herrschaften, Grafschaften insbesondere, selbst zu Gericht sitzt, im Übrigen aber mit dieser Aufgabe je nach Art der örtlichen Gerichtsverfassung einen Schultheißen, Zentgrafen oder anderen Amtsträger betraut. So bieten auch die Eidesformeln für das hier besonders interessierende Verhältnis zur Gerichtsherrschaft nur Belege für deren Anerkennung durch die Schöffen und den durch sie auch den Herren zu gewährenden Rechtsschutz, nicht für die Abhängigkeit des Urteilens vom Willen der Herrschaft. Das schon erörterte Weistum von Alflen verlangt vom Schöffen, wenn er „gehorsam wird, so soll er gereden und geloben, dem gerichtsherren getrew und hold zu seyn, sein best zu werben, und seinen schaden zu warnen“.29 Das ist eine allgemein verbreitete Huldigungsformel, aus der sich ein besonderer Bezug zum Schöffenamt nicht herauslesen lässt. Auch wenn das zur Gerichtsversammlung mitgeführte Kanzleipersonal die Beziehung zur Herrschaft wesentlich drastischer betont, bleibt es bei um­ fassend formulierten Schwüren, unbeeinflusst richten zu wollen. Der folgende etwas längere Text aus Heppenheim von 1494 spiegelt anschaulich wider, wie sich die Zeitgenossen das Nebeneinander von Herrschaft und Genossenschaft im Gerichtswesen dachten. In Gegenwart hoher kurpfälzischer Beamter schwören die Schöffen,

25 Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, hrsg. von Lorenz Weinrich, 1977 (Ausgew. Quellen z. deutschen Gesch. des Mittelalters, Bd. XXXII), Nr. 115, Ziff. 4; dazu Dietmar Willoweit, Die Kulmer Handfeste und das Herrschaftsverständnis der Stauferzeit, in: Beiträge zur Geschichte Westpreußens 9 (1985), S. 5 ff., ND in: ders., Staatsbildung und Jurisprudenz. Spätmittelalter und frühe Neuzeit. Gesammelte Aufsätze 1974–2002, Bd. I–II, 2009, Bd. I, S. 255–274, 271. 26 Jürgen Weitzel, Über Oberhöfe, Recht und Rechtszug, 1981. 27 Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht, Teilbd. I–II, 1985, Teilbd. I, S. 89 ff. 28 Weitzel (Fn. 27), Teilbd. II, S. 941 ff.; Drüppel (Fn. 17), S. 306 f. 29 Grimm, Weistümer (Fn. 19), Bd. II, S. 409.

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Dietmar Willoweit

„unserm gn. h. pfaltzgrave Philipsen […] getreu, holt, gehorsam und gewertig zue sein, allen geboten und verboten von wegen seiner f. gn. zu thun, seiner f. gn. obrigkeit und ge­ rechtigkeit zu beschetzen und beschützen und beschirmen, die mehren und mindern nach irem vermögen, schaden warnen, fromen und bestes getreuwlich werben […].“30

Auch in diesem ersten Teil der Eidesformel geht es vor allem um den gerichtlichen Schutz der herrschaftlichen Rechte, doch nach dem „vermögen“ der Schöffen, während die Gebote und Verbote hier mit Rücksicht auf den Kontext wie in ähnlichen Aufzeichnungen in erster Linie gerichtstypische Anordnungen meinen.31 Die Schwurformel fährt dann nahtlos anschließend fort: „[…] dem armen als dem reichen, dem frembden als dem heimbschen uf ihr begehren […] rechts zu zue verschaffen nach irer besten verstandnus und das nit zu underlassen umb keinerlei geschenke, gaben, miete oder mit wohne, umb lieb und laide, umb freundschaft, feindschaft, sippschaft, gevatterschaft, noch umb nichte das die gerechtigkeit verkehren oder verhindern und die ungerechtigkeit vortragen mag […].“32

Wie stets beschließt eine religiöse Bekräftigung den Eid, hier sogar mit einem Hinweis auf die Rechenschaftspflicht im Jüngsten Gericht. Dieses Verständnis des Schöffenamtes dürfte auch den zahlreichen Weistümern, die nur eine Huldigungsformel der Schöffen überliefern, zugrunde gelegen haben. Eide von Richtern, denen ja nur der Vorsitz, nicht die Urteilsfindung übertragen ist, begegnen später und wohl auch seltener, vermutlich deswegen, weil es sich häufig um ihrem Herrn ohnehin schon eidlich verpflichtete Amtsträger oder eben um den Gerichtsherrn selbst gehandelt haben dürfte. Darauf deutet auch der einzige im Schwabenspiegel mitgeteilte Eid einer Gerichtsperson hin, nämlich der des Fronboten  – eines für Ladungen und die Vollstreckung unverzichtbaren ­Helfers,33 der schwören musste, „dasz er reht sterke und das unreht krenke“, während diese prominente Rechtsquelle einen Richtereid nicht aufgezeichnet hat. 34 War aber der Richter besonders zu bestellen, so hatte er einen Schwur zu leisten,

30 Grimm, Weistümer (Fn. 19), Bd. V, S. 629. 31 Dietmar Willoweit, Gebot und Verbot im Spätmittelalter. Vornehmlich nach südhessischen und mainfränkischen Weistümern, in: Hess. Jb. f. Landesgesch. 30 (1980), S. 94– 130, ND in: ders., Staatsbildung (Fn. 25), Bd. II, S. 23–59, 33 ff. 32 Grimm, Weistümer (Fn. 19), Bd. V, S. 629. 33 Heiner Lück, Fronbote, in: HRG, 2. Aufl., Bd. I, Sp. 1856–1859. 34 Friedrich Leonhard Anton Laßberg, Der Schwabenspiegel oder schwäbisches Land- und Lehenrechtbuch, 1840, cap. 127.

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der jenem der Schöffen ähnelte.35 Als ältestes Zeugnis eines Richtereides gilt die im Mainzer Reichslandfrieden für den königlichen Hofrichter vorgesehene Formel: „Et idem iurabit, quod nichil accipiet pro iuditio, quod nec amore nec odio, nec prece nec precio, nec timore nec gratia, nec alia quacumque de causa iudicabit aliter quam iustam sciat vel credat secundum conscienciam suam bona fide sine omni fraude et dolo.“ 36

Ein Richter, dem wohl immer ein Amtseid abverlangt wurde, war der fränkische und hessische Zentgraf. Das leuchtet besonders ein, wenn er, wie zum Beispiel während des 15.  Jahrhunderts mehrfach in der Wetterau, sein Amt durch die Wahl der Schöffen oder anderer Honoratioren erhielt.37 Hier begegnen auch Texte, die sogar ausdrücklich das in manchen Fällen gewiss prekäre Verhältnis zur Gerichtsherrschaft ansprechen. In der alten Grafschaft Keichen soll der für ein Jahr aus der Ritterschaft gewählte „oberste greve daz jar keins herren rad sin, noch keines herren cleidere tragen, oder kein eigen fehede han“.38

Die Herrschaft Rieneck kann zwar einen Zentgrafen „nach irem wolgefallen […] bestellen“, doch „so der zentgraf den richterstab hinleget unnd das gericht verlawbt, ist er furtter den genanten hern nicht verwant oder verpflicht“.39

Erst recht muss das dann für die Gerichtssitzung selbst gegolten haben. Diese Texte zeigen, dass man sich schon im Mittelalter des hier interessierenden Pro­ blems bewusst war. Dann aber dürften auch die älteren Eide der Schöffen unter der Voraussetzung geleistet worden sein, dass dieser Personenkreis ohnehin von herrschaftlicher Einflussnahme freibleiben sollte. Freilich sind Verletzungen der 35 Scheyhing (Fn. 17), S. 155. 36 Quellen (Fn. 25), Nr. 119, Ziff. 28. Zum Vorbild des Wortlauts in den Konstitutionen von Melfi Drüppel (Fn. 17), S. 249. Da sprachliche Verwandtschaft aber schon mit dem älteren Andernacher Schöffeneid festzustellen ist (s. o.), darf vermutet werden, dass es sich um ein in der okzidentalen Welt längst verbreitetes Stereotyp für die an ein Gericht herangetragenen Erwartungen gehandelt hat. 37 Grimm, Weistümer, Bd. III, 1842, ND 1957, S. 415 (Altenhaslau), S. 450 (Assenheim), S. 458 (Gericht Keuchen, jetzt Keichen, bei Friedberg). 38 Grimm, Weistümer (Fn. 37), Bd. III, S. 458. 39 Grimm, Weistümer (Fn. 37), Bd. III, S. 523.

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Regeln eines selbständig urteilenden und handelnden Gerichtswesens stets mitzudenken. An dem zugrunde liegenden Prinzip aber ändern sie nichts. Es waren schon die Strukturen des mittelalterlichen Gerichtswesens, die eine weitgehende sachliche Selbständigkeit der mit Urteilsfindung und gerichtlichem Rechtszwang betrauten Personen zu sichern suchten, auch ohne dass ausdrücklich von der „Unabhängigkeit“ des Gerichts die Rede sein musste. Daher kann es nicht überraschen, dass „des Richters und der Beysitzer Ayde“ in der ersten Reichskammergerichtsordnung von 1495 jene Grundsätze aufnehmen, die in älteren Quellen so oft festgehalten wurden. Auch dieses Gerichtspersonal soll natürlich „dem Hohen und dem Nidern […] gleich […] richten […] kain Gab, Schenck oder aini­ chen Nutz […] nehmen […] und kainer Parthey raten oder warnen […]“,

wie in umständlichen Formulierungen dargelegt40 und in der Reichskammergerichtsordnung von 1555 wiederholt wird.41 Auch die Tatsache, dass 1495 diesem Gericht ein – viel zitierter – Maßstab für seine Urteile vorgegeben wurde, die hier „nach des Reichs gemainen Rechten, auch nach redlichen, erbern und leidlichen Ord­ nungen, Statuten und Gewonhaiten“ der deutschen Fürstentümer, Herrschaften und Gerichte ergehen sollen, war, wie wir gesehen haben, nicht gänzlich neu. Die Bindung an gewisse normative Vorstellungen beschränkt die Selbständigkeit des Urteilens, sichert sie aber auch zugleich gegenüber obrigkeitlichen Versuchungen, auf das Gericht Einfluss zu nehmen.42 Dass sich im 16. Jahrhundert auch in territorialen Gerichtsordnungen Richtereide finden, die denen des am Reichskammergericht tätigen Personals ähneln, sei nur am Rande erwähnt.43

40 Karl Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 1913, S. 285. 41 Adolf Laufs (Hrsg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, S. 151; vgl. a. Sellert (Fn. 3), Sp. 443 f. 42 Ob das auch galt, wenn die Richter an ein landesherrliches Gesetz gebunden wurden, ist zweifelhaft, weil der mündlich geäußerte Wille des Landesherrn das gleiche Gewicht gehabt haben dürfte und ein solches Gesetz selbst noch als „Rechtsspruch“ des Herrschers galt, vgl. u. Abschnitt III zur brandenburgischen Joachimica. Doch sind solche Gesetze im Mittelalter nördlich der Alpen sehr selten, vgl. insbesondere: Das Rechtsbuch Kaiser Ludwigs des Bayern von 1346, hrsg. von Wilhelm Volkert, 2010, Vorrede, S. 268; Oberbayerisches Landrecht Kaiser Ludwigs des Bayern von 1346, 2000, Edition, Übersetzung und juristischer Kommentar von Hans Schlosser und Ingo Schwab, Vorrede, S. 67. 43 Z. B. das württembergische Landrecht von 1555, vgl. die Eidesformel bei Siegfried Frey, Das württembergische Hofgericht (1469–1618), 1989, S.  42; Churfürstlicher Pfaltz Landrecht, 1582, IV. Titel.

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III  Entstehungsbedingungen des landesherrlichen Richteramtes Die Erklärung gerichtlicher oder anstelle eines Gerichts getroffener Entscheidungen der Landesherren als Ausdruck des „Absolutismus“ unterstellt, es sei für diese gegenüber dem Mittelalter tiefgreifende Veränderung gewissermaßen die verfassungspolitische Großwetterlage verantwortlich gewesen – und damit letztlich der Bruch des überkommenen Rechts durch die in der frühen Neuzeit machtbewusster auftretenden Fürsten. Eine derart vergröbernde Sicht der historischen Entwicklung verzichtet darauf, geschichtlichen Wandel aus den zuvor gegebenen Bedingungen zu verstehen. Zu diesen aber gehören längst bekannte Vorgänge, deren Bedeutung für unser Thema auf der Hand liegt, wenngleich in diesem Zusammenhang bisher noch wenig erörtert. Das landesherrliche Richteramt ist zunächst nicht Ausdruck eines ungezügelten Machtwillens, sondern mit geradezu zwingender Notwendigkeit aus der großen intellektuellen Umwälzung des Hochmittelalters hervorgegangen, die durch die Begegnung mit der Antike ausgelöst worden ist und im Blick auf die Rechtsgeschichte als die Rezeption der gelehrten Rechte charakterisiert wird. Dieser geistesgeschichtliche Prozess mit alsbald schwerwiegenden Rückwirkungen auf das mittelalterliche Rechtswesen rief die spätantike Staatlichkeit des Römischen Reichs in Erinnerung, deren Aufbau und Entwicklungsstand sich erheblich von dem des deutschen Mittelalters unterschied. Der römische Kaiser war auch Gesetzgeber gewesen und nicht nur selbst Richter und dabei in gewissen Fällen erstinstanzlich tätig, sondern hatte zunehmend auch über Appellationen zu entscheiden.44 Seitdem dieses Vorbild über die oberitalienischen Rechtsschulen im „Römischen“ Reich des Mittelalters bekannt geworden war, versuchte sich die staufische Verfassungspolitik daran zu orientieren: „Omnis iurisdictio et omnis dis­ trictus apud principem est […].“45 Nach dem Ende der Stauferzeit begann sich dann auch, mit einer zeitlichen Verzögerung von rund einem Jahrhundert, in den deutschen Fürstentümern das Verständnis der landesherrlichen Gerichtsherrschaft allmählich zu wandeln. Denn die Belehnung mit den königlichen Regalien verlieh den Fürsten in ihrem Herrschaftsbereich eine Stellung, die sie als Vertreter des Reichsoberhaupts legitimierte. Dazu gehörte eine eigene höchste Gerichtsbarkeit, 44 Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, Zweiter Abschnitt, hrsg. von Joseph Georg Wolf, 2006, S.  26 ff., 72 ff.; Wolfgang Waldstein/Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 10. Aufl. 2005, § 32 Rn. 14 ff.; Frank M. Ausbüttel, Die Verwaltung des römischen Kaiserreiches, 2005, S. 7 ff., 61 ff. 45 Reichstag von Roncaglia 1158, vgl. Quellen (Fn. 25), Nr. 64b. Zusammenfassend m. w. Nachw. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 7. Aufl. 2013, § 9 Rn. 6, 8 ff., § 10 Rn. 9 ff.

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die sich in Gestalt landesherrlicher Hofgerichte etwa in dem Maße ausbreitete,46 wie gelehrte Juristen in der Umgebung des Fürsten in Erscheinung traten.47 Denn diese hatten im Studium eine auf Bartolus zurückgehende und in der gelehrten Rechtsliteratur weiterhin tradierte Auslegung des Digestentitels „De iurisdictione omnium iudicum“ erlernt, wonach als „princeps“ nicht nur der Kaiser, sondern jeder Herrscher zu verstehen war. Als Inhaber der Gerichtsbarkeit aber gehörte danach die Rechtsprechung zu seinen eigenen Aufgaben.48 Die Unterscheidung eines vorsitzenden Richters von den Urteilern war dem römischen Recht fremd. An den deutschen Fürstenhöfen ist nun ein Umdenken zu beobachten, das sich von dem bisherigen Glauben verabschiedet, für jeden Rechtsfall gebe es an verschiedenen Orten ihres Landes ein dafür allein zuständiges Gericht, das notfalls Rechtsauskünfte bei einem irgendwo, oft außerhalb ihres Herrschaftsbereiches gelegenen Oberhof einholt. Aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts sind die ersten Nachrichten über die Unterbindung solcher grenzüberschreitenden Rechtszüge bekannt.49 Parallel bahnt sich in dieser Zeit – sehr zögerlich – ein neues Verständnis der Königsgerichtsbarkeit an, die in Fällen der Rechtsverweigerung angerufen wird und in der Mitte des 15. Jahrhunderts in die Aufgaben einer Appellationsinstanz hineinwächst.50 Seit etwa 1450 entstehen an den landesherrlichen Residenzen in dichter Folge territoriale Hofgerichte.51 Die dort wie auch an dem sich allmählich herausbildenden königlichen Kammergericht tätigen Juristen verfügten mit ihren autoritativen Rechtstexten über Maßstäbe, mit denen sich die Urteile anderer, nun „unterer“ Gerichte korrigieren ließen.52 Trotz dieser Bindung an eine vorgegebene und zudem schriftlich fixierte Rechtsmaterie, blieb nach der Logik des skizzierten Entstehungsprozesses dieser höchsten territorialen Gerichtsbarkeit die jetzt anerkannte generelle Zuständigkeit des Landesherrn für das Gerichtswesen bestehen. Die brandenburgische Joachimica von 1527 weiß die Verantwortung des Kurfürsten für das Recht mit dem gelehrten Rechtswissen zu verbinden: 46 Peter Oestmann, Hofgerichte, in: HRG, 2. Aufl., Bd. II, Sp. 1087–1091. 47 Das war in größerem Umfang erst mit der seit Heidelberg 1386 beginnenden Gründungswelle deutscher Juristenfakultäten der Fall, vgl. Willoweit (Fn. 45), § 13 Rn. 27, § 18 Rn. 1. 48 Ausführlich Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, 1975, S. 18 ff., 24. 49 Jürgen Weitzel, Wege zu einer hierarchisch strukturierten Gerichtsverfassung im 15. und 16.  Jahrhundert, in: Akten des 26.  Deutschen Rechtshistorikertages, hrsg. von Dieter Simon, 1987, S. 333–345, 334. 50 Grundlegend jetzt Bernhard Diestelkamp, Vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz. Die deutsche Königsgerichtsbarkeit und die Verdichtung der Reichsverfassung im Spätmittelalter, 2014, S. 36 ff., 55 ff. 51 Weitzel (Fn. 49), S. 335 ff. 52 Diestelkamp (Fn. 50), S. 147 f.

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„[...] derhalben wir mit manigfeltiger Unruwe zum öftern Male beladen, ersucht und angeloffen werden, einem yglichen des Seinen zu verhelfen und Recht zu sprechen, darzu wir uns wiewol schuldig erkennen, auch unsers höchsten Verstands mit Rat der Rechts­ verstendigen, unserer Rete und andern, gern befleißigen.“53

Es ist auch daran zu erinnern, dass sich im ausgehenden Mittelalter das Selbstverständnis der Führungsschicht im Reiche wandelt. Die vordem besonders um ihre einzelnen Rechte besorgte Landesherrschaft wird – begrifflich und inhaltlich – zur neu verstandenen „Obrigkeit“, die außerdem um das zeitige und ewige Wohl ihrer Untertanen bemüht ist. Als im frühen 17. Jahrhundert die ersten Werke der sich bald stürmisch entwickelnden Reichspublizistik erschienen, war für deren Autoren im Anschluss an die gelehrte Rechtsliteratur des Mittelalters die iurisdictio Inbegriff der Rechtsstellung des Landesherrn und schon deshalb unbezweifelbar eines seiner Herrschaftsrechte, für mehrere Autoren das wichtigste überhaupt. Dominicus Arumaeus interpretiert sie „latissime pro summa potestate“, Tobias Paurmeister als „potestatis politicae pars“. Andere Autoren beginnen, iurisdictio als Gerichtsbarkeit im engeren Sinne vom umfassenderen imperium des Herrschers zu unterscheiden.54 An der Zugehörigkeit der jetzigen Justiz mit studiertem Fachpersonal zum landesherrlichen Verantwortungsbereich änderte sich nichts mehr. In der entwickelten Systematik des Territorialstaatsrechts im Alten Reich nimmt die Gerichtsbarkeit weiterhin einen zentralen Platz ein, obwohl der Herrschaftsbegriff jetzt nicht mehr als iurisdictio, sondern durch maiestas/souverainité definiert wird.55 Da es im 17. und 18. Jahrhundert jedenfalls auf der höchsten Ebene der Justiz keine Unterscheidung von Richtern und Urteilern mehr gab, eröffnete die Wahrnehmung des höchsten Richteramtes im Staate durch den Landesherrn diesem die Möglichkeit, auf die in seinen Ratskollegien zu treffenden Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Das war nicht Rechtsbruch, sondern entsprach der seit dem Spätmittelalter infolge der Rezeption entstandenen Rechtslage, also dem „objektiven“ Recht, war demnach legal, nicht schon per se illegaler „Machtspruch“. Die Problematik dieser Art von Gerichtsverfassung bestand darin, dass sie dem Landesherrn im Kreise seiner Räte ein Votum von unvergleichlichem Gewicht ermöglichte und im Prinzip auch nicht einsame Entscheidungen außerhalb des Rates ausschloss. In den Ratskollegien waren zwar ohnehin nicht gleichzeitige Abstim53 Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, hrsg. von Wolfgang Kunkel und Hans Thieme, Bd. I, 1938, S. 71. 54 Willoweit (Fn. 48), S. 43 ff. 55 Willoweit (Fn. 48), S. 173 ff., 121 ff.

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mungen aller üblich, sondern Umfragen durch den Vorsitzenden, deren Reihenfolge dem unterschiedlichen Stand der Ratsmitglieder Rechnung trug.56 Kam danach bei der Beratung der Stellungnahme des Würdigeren und Älteren ohnehin größeres Gewicht zu, so erst recht dem ersten Mann im Staate. Es lässt sich daher leicht denken, dass schon aus diesen Gründen die Übergänge zwischen der noch „normalen“ Erledigung der eingegangenen Appellationen wie auch sonstiger ­Sachen und eigenwilligen Entscheidungen des Landesherrn fließend gewesen sind. Aktuelle Bedeutung dürfte diese Problematik erlangt haben, als die Fürsten in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts dazu übergingen, gewisse Beratungen nicht mehr in den Hofrats- und Geheimen Ratskollegien nach deren Verfahrensregeln durchzuführen, sondern im „Kabinett“ mit flexibel ausgewählten Beratern.57 Jetzt erst dürfte der Begriff „Kabinettsjustiz“ aufgekommen sein. Willkür war in diesem System nicht angelegt, aber von nun an schwerlich zu verhindern, weil jetzt auch die beschränkte „Öffentlichkeit“ des beamteten Beraterkreises ausgeschlossen war.

IV  Die rechtliche Gebundenheit landesherrlicher Judikatur Die landesherrliche Verantwortung für das Gerichtswesen und das daraus abgeleitete höchste Richteramt hatten ihren Platz nicht in einem rechtsleeren Raum. Die Forschung hat im gemeinen Recht an der Schwelle zur Neuzeit längst Rechtsschranken entdeckt, die einer nur von Machtinteressen geleiteten Rechtsprechung des Landesherrn entgegenstanden: der Schutz der iura quaesita und vertraglich begründeter Rechte, die nur aufgrund einer iusta causa, insbesondere wegen des Vorrangs des bonum commune, entzogen werden durften.58 Dieser Rechtsgrundsatz ist in der gemeinrechtlichen wie auch in der naturrechtlichen Jurisprudenz der frühen Neuzeit vielfach zu belegen.59

56 Willoweit (Fn. 9), S. 321 ff. 57 Willoweit (Fn. 9), S. 321. 58 Zuletzt Erwin (Fn. 5), S. 91 ff., 121 ff. Dieser sehr alte Grundsatz hat mit der späteren Machtspruchproblematik noch nichts zu tun, vgl. z. B. Ulrich Zasius, Opera omnia, Vol. I– VI, 1550, ND 1964–1966, Vol. VI Consilia, Cons. 10, n. 7: „Princeps nec ex plenitudo po­ testatis, nec ex certa scientia ius alteri quaesitum, tollere vel infirmare potest, nisi hoc urgens publica utilitatio causa impediat.“ 59 Wilhelm Kotulla, Enteignung, in: HRG, 2. Aufl., Bd. I Sp. 1348–1350; Dietmar Willoweit, Rechtsprobleme der absoluten Monarchie (1999), in: ders., Staatsbildung (Fn. 25), Bd. II, S. 333–349, 338 ff.

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Um die rechtliche Verbindlichkeit und die Gründe dieser im Prinzip auch g­ egenüber fürstlichen Rechtssprüchen eingreifenden Schutznorm einzusehen, ist eine Verständigung über die methodischen Voraussetzungen eines solchen Versuchs erforderlich. Denn wir haben es zum Teil mit Vorstellungen zu tun, die u­ nserer Gegenwart durchaus fremd sind. Die Rechtslage einer Epoche bestimmt sich aber allein nach deren normativen Regelungen und Überzeugungen, also nach ihren Gesetzen, Urteilen, Rechtslehren, amtlichen Rechtsakten und Stellungnahmen. Das ist ein zwingendes methodisches Prinzip, dessen Missachtung und Ersetzung durch modernes Rechtsdenken nur in anachronistische Verfälschungen einmünden kann. Die Vergangenheit liegt hinter uns und kann nur aus sich selbst heraus begriffen werden. Recht im objektiven Sinne ist gewesen, was also damals als Recht angesehen wurde und daher deshalb in Geltung war. Hinsichtlich einzelner aus der alten Rechtsliteratur herauszufilternder Regeln mögen sich Zweifel ergeben. Die allgemein anerkannten Grundlagen des Rechtsdenkens früherer Zeiten dürfen jedoch nicht ignoriert werden. In dem relativ kurzen Zeitalter zwischen dem Ende des Mittelalters und dem Höhepunkt der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren es unterschiedliche Varianten des Naturrechts, deren Konkretisierung in verbindlichen Normensystemen allgemein akzeptiert worden ist. Die kritische Philosophie Immanuel Kants hat der modernen Wissenschaft den gedanklichen Zugang zu den ehemals anerkannten Formen des Vernunftgebrauchs versperrt.60 Seit der Rezeption der aristotelischen Philosophie im Hochmittelalter galten Ethik, Ökonomie und Politik als ihre rational eindeutig erfassbaren und daher „praktisch“ anwendbaren Erscheinungsformen. Der christliche Glaube mit seinen Fundamenten im Judentum hat die dabei zu beachtenden Regeln präzisiert, nach Überzeugung der Juristen des 16. Jahrhunderts auch für die richterlichen Aktivitäten des Herrschers: „Princeps a Deo constitutus est, ut faciat justitiam et judicium, 3. Reg. 10. Proinde, si fines et terminos justitiae excedat, peccat contra ordinationem Dei, et Principis nomine indig­ nus est [...].“61

Dass der Fürst seine Stellung und Aufgabe, für Gerechtigkeit und Recht zu sorgen, Gott verdankt, folgt aus dem Buch der Könige. Die Heilige Schrift ist Rechts60 Vgl. dazu u. Fn. 75. 61 Andreas Gail, Practicarum observationem tam ad processum iudiciarum, praesertim imperialis camerae, quam causarum dicisiones pertinentium, libri duo, (1578), 1668, Lib. II, Obs. 56, n. 11. Zum Autor vgl. Anja Amend, Gail, Andreas (1526–1587), in: HRG, Bd. I, 2. Aufl., Sp. 1913 f.

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quelle und daher auch Rechtsgrund des Fürstenamtes. Wenn daher hier die missbräuchliche Überschreitung der dem Fürsten anvertrauten Judikatur als „Sünde“ bezeichnet wird, dann handelt es sich nicht „nur“ um einen moralischen Verstoß gegen die göttliche Weltordnung, der die Rechtswirksamkeit des fürstlichen Exzesses nicht berühren könnte. Wer des fürstlichen Namens „unwürdig“ ist, kann auch nicht mit diesem Amt verbundene Rechtsakte gültig setzen. Da den Zeit­ genossen eine unterschiedliche Qualität rechtlicher und ethischer Normen fremd gewesen ist, entbehrte ein sündhafter Akt rechtlicher Wirksamkeit. Die normative Komponente dieses Denkens tritt schärfer im christlichen Naturrecht dieser Epoche hervor. Dessen Verbindlichkeit als „objektive Norm“ schon vor dem gewöhnlich mit Hugo Grotius datierten Beginn des neueren Naturrechtszeitalters, etwa für Philipp Melanchthon und das von ihm beeinflusste Schrifttum, ist für die jüngere Forschung nicht mehr zweifelhaft. Auch die naturrechtlichen Vorgaben des römischen Rechts haben dazu beigetragen.62 Verstöße gegen das Naturrecht können sowohl Nichtigkeit eines Rechtsaktes zur Folge haben wie auch Widerstandsrechte auslösen.63 Der Gebrauch des Verbums „peccare“ für Rechtsverstöße des Fürsten ist auch im 17. Jahrhundert üblich, zum Beispiel bei Dominicus Arumaeus, dem Mitbegründer des neueren ius publicum, der als „Sünden“ des Fürsten die Verurteilung auf bloße Anzeige, also ohne gerichtliches Verfahren, den Entzug wohlerworbenen Eigentums und die Nichterfüllung von Verträgen nennt, also eindeutige Rechtsverstöße.64 1674 veröffentlichte der schwarzburg-rudolstädtische Kanzleidirektor Ahasver Fritsch – ein fleißiger Verfasser juristischer Erörterungen – einen Traktat über die Sünden des Fürsten, der annähernd 40 derartige Rechtsverstöße, teils sehr ausführlich, abhandelt.65 Darin finden nicht nur die gewöhnlich anzuprangernden Verfehlungen Erwähnung, nämlich solche in Sachen Religion66 wie auch der unzulässige Eingriff in wohlerworbene Rechte und in die mit den Untertanen geschlossenen Verträge.67 Der Autor bringt auch mehrere Themen zur ­Sprache, die unmittelbar die hier interessierende Problematik berühren. Der Fürst sündigt, wenn er als „debitor ac defensor […] justitiae“ die Annahme von Supplika62 D. 1,1,3; 1,1,6 pr.; 1,1,9. 63 Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des „ius naturae“ im 16. Jahrhundert, 1999, S. 37 ff., 55; Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933), 2. Aufl., 2012, S. 20 f. 64 Dominicus Arumaeus, Discursus academici de iure publico, Vol. I, Jena 1615, n. 19 und 20; dazu Willoweit (Fn. 59), S. 335 ff. 65 Ahasver Fritsch, Princeps peccans sive de peccatis principum, Jena 1674. 66 Fritsch (Fn. 65), Concl. 1–6 67 Fritsch (Fn. 65), Concl. 14, 15.

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tionen verweigert68, den Rat seiner Diener verweigert69, nach eigener Willkür statt nach Recht und Billigkeit entscheidet,70 das göttliche Recht nicht respektiert71 und daher unter dessen Missachtung Begnadigungen ausspricht.72 Es ist einzuräumen, dass diese außerhalb des akademischen Betriebes entstandene Schrift eine nachhaltige Publikationswelle, wie sie für manche andere Themen jener Zeit zu beobachten ist, nicht ausgelöst hat. Der nächste Autor, der sich nur ein Jahrzehnt später zu vergleichbaren Fragen an dem Satz „an princeps solutus sit legibus“ ab­ gearbeitet hat, war gleichfalls ein Außenseiter, zuletzt in reichsritterschaftlichen Diensten.73 Doch an der Notwendigkeit, einen Landesherrn des Heiligen Römischen Reiches wegen begangener Verbrechen notfalls sogar zu bestrafen, konnte es keinen Zweifel geben.74 Diese auf dem Boden des gemeinen Rechts mit Unterstützung biblizistischer und einzelner naturrechtlicher Argumente entstandene Literatur überholte bald der große Modernisierungsschub des neuzeitlichen Naturrechts. Es darf an dieser Stelle genügen, auf das monumentale Werk Christian Wolffs hinzuweisen, dessen „Philosophia practica universalis“ natürliche und zugleich notwendige und unveränderliche Pflichten kennt, die im Wesen des Menschen und seiner Verhältnisse verankert sind und ihren hinreichenden Grund in der Natur haben. 75 Die Verbindlichkeit der daraus hervorgehenden lex naturalis76 zieht rechtliche Konsequenzen nach sich. Die Obrigkeit darf gesetzlich vorgesehene Strafen „sine ratione sufficiente“ nicht mildern,77 und sie kann weder vom Naturgesetz noch vom positi68 69 70 71 72 73 74

75

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Ebd.Fritsch (Fn. 65), Concl. 9. Fritsch (Fn. 65), Concl. 12. Fritsch (Fn. 65), Concl. 13. Fritsch (Fn. 65), Concl. 19. Fritsch (Fn. 65), Concl. 20. Anton Wilhelm Ertel, Palaestra aulico-iuridica de iuribus principum, Augsburg 1686; dazu Willoweit (Fn. 59), S. 646 ff. Philipp Franz von Bellmont, Diss. Jur. publ. et gentium inauguralis de Jure puniendi principem, in proprio, vel alterius territorio, deliquentem, Erfurt 1717, insbes. Sect. II, § 14, wo die Zuständigkeit für die Bestrafung eines Landesherrn als kontroverses Thema der Reichs­ publizistik erörtert wird. Christian Wolff, Philosophia practica universalis methodo scientifica pertractata, Frankfurt und Leipzig 1738, ND Gesammelte Werke, 1971, P. I, Cap. II, § 129: „Obligatio naturalis est, quae in ipsa hominis rerumque essentia atque natura rationem sufficientem habet […]“; § 130: „[…] necessaria et immutabilis“. Vgl. dazu Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788 u. ö. Wolff (Fn. 75), P. I, Cap. II, § 135; Christian Wolff, Jus naturae methodo scientifica pertractatum, Halle und Magdeburg 1748, ND Gesammelte Werke 1968, Prolegomena §§ 2 ff. Wolff (Fn. 76), P. VIII, Cap. III, § 658.

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ven göttlichen Recht dispensieren.78 Zwar steht ihr die Strafgewalt als eines der iura maiestatica zu.79 Doch die Verletzung des Naturgesetzes durch die Obrigkeit, etwa durch den Befehl, einen unschuldigen Menschen totzuschlagen, zwingt zur Verweigerung des Gehorsams.80 Kehren wir nach diesem Gang durch eine zwar beeindruckende, aber uns rechtstheoretisch fremd gewordene Rechtsordnung zur Frage nach dem Verhältnis von Rechtsprechung und Justizhoheit zurück, dann fällt eine eindimensionale Beschreibung dieser Beziehung, wie sie die Schlagworte „Machtspruch“ und ­„Unabhängigkeit“ nahelegen, schwer. Zweifellos ist dem Amt eines Urteilers und damit auch einem selbsturteilenden Richter seit jeher die Erwartung einer selbständigen, unbeeinflussten, „gerechten“ Entscheidung im Rahmen der Rechtsordnung entgegengebracht worden. Aber diese Erwartung erstreckte sich auch auf den Landesherrn selbst, seitdem dieser als Garant des Rechts in seinem Lande angesehen wurde. Diese Funktion ließ sich der zeitgenössischen gelehrten Literatur entnehmen, die zugleich die rechtlichen Schranken dieses Amtsverständnisses thematisierte. De iure hat es die Legitimation einer von allen rechtlichen Bindungen gelösten Machtspruchpraxis nicht gegeben. Anders wäre auch der veränderte Erwartungshorizont der Untertanen nicht zu verstehen. Sie befürchteten von ihrem höchsten Herrn viel weniger Willkür, als sie Gerechtigkeit erhofften. Abzulesen ist dieser Wandel am Anschwellen der an das Staatsoberhaupt gerichteten Suppliken in der frühen Neuzeit.81 Aus der mittelalterlichen Gerichtsherrschaft, die sich mit der Wahrnehmung des notwendigen Rechtszwanges begnügte, war eine Justizhoheit hervorgegangen, mit der ein Landesherr eigene Rechtsüberzeugungen und Gerechtigkeitsvorstellungen verbinden durfte. Was dem Mittelalter nicht ganz unbekannt gewesen ist, aber im Prinzip nur auf der Ebene des Königsgerichts zum Politikum werden konnte, schien nunmehr als Normalfall möglich: Einflussnahme auf ein Urteil nach Maßgabe der Rechtsüberzeugungen des gerade herrschenden Dynasten – mit der Gefahr, politischen Erwägungen und persön­ lichen Emotionen hemmungslos Raum zu geben. Dass diese Gefahr nicht zum Zusammenbruch einer geordneten Rechtspflege geführt hat, beruht vor allem auf den bereits angedeuteten Ratsstrukturen, die sich der Obrigkeitsstaat seit dem 78 Wolff (Fn. 76), P. VIII, Cap. IV, §§ 825 ff. 79 Wolff (Fn. 76), P. VIII, Cap. IV, §§ 832 ff. 80 Christian Wolff, Vernünfftige Gedanken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen, Franckfurt und Leipzig 1736 („Deutsche Politik“), ND 2004, bearb, eingel. und hrsg. von Hasso Hofmann, 2. Teil, 5. Kap. § 434 a. E. 81 Karl Härter, Das Aushandeln von Sanktionen und Normen. Zu Funktion und Bedeutung von Supplikationen in der frühneuzeitlichen Strafjustiz, in: Bittschriften und Gravamina, hrsg. von Cecilia Nubola/Andreas Würgler, 2005, S. 243–274.

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Ausgang des Mittelalters geschaffen hatte und die weiterhin für die Präsenz des Rechts Sorge trugen.

V  Offene Fragen und Perspektiven der Forschung Dieser trotz aller rechtstheoretischen und institutionellen Hürden tiefgreifende Wandel höchstrichterlichen Urteilens zwingt zu einer differenzierenden Beurteilung der „Machtsprüche“. Entscheidungen des Landesherrn als eines höchsten Justizorgans, deren Rechtsfolgen sich im Rahmen des damals rechtlich Zulässigen bewegten, müssen von puren Willkürakten unterschieden werden. Der Begriff des „Machtspruchs“ verdunkelt diese Differenz. Er passt ebenso auf landesherrliche Judikate, denen uns fremd gewordene rechtliche Erwägungen zugrunde lagen, wie auch auf rechtsirrige Eingriffe und endlich schiere Gewaltexzesse ohne jede Rechtsgrundlage. Mustert man die bekannten Skandalfälle durch82, dann wird rasch ein großes Forschungsdefizit sichtbar. Wir besitzen keinen zuverlässigen Überblick über solche „Machtsprüche“, die sich keiner – wie auch immer gearteten – juristischen Rationalität mehr zuordnen lassen. Dazu gehören sicher die von dem württembergischen Herzog Carl Eugen veranlassten willkürlichen Inhaftierungen, von denen die des Reichspublizisten Johann Jacob Moser und des Dichters Christian Friedrich Daniel Schubart nur die bekanntesten sind.83 Mehrere der aufsehenerregendsten Prozesse in Preußen zeichnen sich dagegen durch komplexe Rechtsfragen aus, deren autoritative Lösung durch eine harte Entscheidung des Landesherrn uns verfehlt erscheinen mag, aber jedenfalls nicht völlig außerhalb des Koordinatensystems der damaligen Rechtsordnung lag. Das gilt jedenfalls für das Todesurteil gegen den Fluchthelfer des preußischen Kronprinzen Hans Herrmann von Katte,84 in Grenzen auch für den Müller-Arnold-Prozess, dessen subtile juristische Problematik der König nicht begriff und ihn zu rechtswidrigen Maßnahmen gegen die verantwortlichen Richter verführte,85 und nicht zuletzt für das von seinem Nach82 Siegel (Fn. 6), S. 238. 83 Gerhard Storz, Herzog Carl Eugen (1737–1793), in: 900 Jahre Haus Württemberg, hrsg. von Robert Uhland, 1984, S. 237–266; Erwin Schömbs, Das Staatsrecht Johann Jacob Mosers (1701–1785), 1968, S. 140 ff.; Fritz Streitberger, Der Freiheit eine Gasse. Die Lebensgeschichte des Christian Friedrich Daniel Schubart, 2001, S. 76 ff. 84 Jürgen Kloosterhuis, Katte. Ordre und Kriegsartikel. Aktenanalytische und militärhistorische Aspekte einer „facheusen“ Geschichte, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 15 (2005), S. 1–26, 161–232, 179 ff. 85 Tilman Repgen, Müller-Arnold-Prozess, in: HRG, 2. Aufl., Bd. III, Lfg. 23 (i. E.) m. w. Nachw.

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folger angestrengte Verfahren gegen den Prediger Johann Heinrich Schultz, einem unter dem Namen „Zopfschultze“ bekannt gewordenen, eigenwilligen Theologen, der uns sympathisch sein mag, in Hinblick auf das damals geltende Religionsedikt aber einer amtlichen Untersuchung nicht entgehen konnte.86 Im Blick auf die preußischen Könige bestätigt sich rasch der Verdacht, es müsse in erster Linie der Regierungsstil des Herrschers gewesen sein, der zur Produktion von „Machtsprüchen“ innerhalb und außerhalb der Grenzen des Rechts geführt hat. Friedrich Wilhelm I. gehörte zu den vermutlich eher seltenen Exemplaren seiner Gattung, die ohne Kollegien und Räte mit Hilfe mehrerer Sekretäre alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen versuchte.87 Dieser Regierungsstil musste eine Kette von Machtsprüchen nach sich ziehen. Und unter diesen finden sich schon bei oberflächlicher Suche bald Vorgänge, in denen der Monarch seine Gerichtsgewalt zur Verhängung drakonischer, so nirgendwo vorgesehener Strafen missbrauchte. Beamte, die mit einer Versetzung nicht einverstanden waren, steckt der König für ein Jahr in die Festung.88 Einen wegen Unterschlagung öffentlicher, für das Retablissement Ostpreußens vorgesehener Gelder vom Kriminalgericht zu einer mehrjährigen Festungsstrafe verurteilten Kriegs- und Domänenrat namens von Schlubuth ließ er nach persönlicher Belehrung aufhängen, als er selbst in Königsberg anwesend war.89 Es drängt sich die Frage auf, welchen Umfang solche allerhöchsten Gewaltakte dieses Königs im Verhältnis zu seiner sonstigen Entscheidungspraxis gehabt haben.90 Dieselbe Frage ist natürlich an alle die zahlreichen Repräsentanten des Absolutismus auf deutschen Thronen zu richten. Die quantitativen Dimensionen willkürlicher Machtsprüche in den Territorien des Alten Reiches sind noch gänzlich unbekannt. Deren Kenntnis aber wäre eine wesentliche Voraussetzung für wirkliche wissenschaftliche Fortschritte auf diesem Forschungsfeld.

86 Vortrag aus den Akten auf geführte weitere Vertheidigung in Untersuchungssachen wider den Prediger Johann Heinrich Schultz zu Gielsdorf, Wilkendorf und Hirschfelde, in: Neue Beiträge zur Kenntniß der Justizverfassung und juristischen Literatur der Preußischen Staaten, Halle 1801, S. 1 ff.; Johannes Tradt, Der Religionsprozeß gegen den Zopfschulzen, 1997. 87 Kloosterhuis ( Fn. 84), S. 33 ff.; Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Der Baumeister des preußischen Staates. Leben und Wirken des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelms I., 1934, S. 173 f. 88 Von Oppeln-Bronikowski (Fn. 87), S. 73 f. 89 Friedrich Christoph Förster, Friedrich Wilhelm I. König von Preußen, Bd. 1–3, 1834– 1835, Bd. 1, S. 323 f. 90 Förster (Fn. 89), Bd. 1, S. 322: „Zuweilen pflegte der König die Unterzeichnung und Vollziehung der Urteilssprüche zu verschieben, bis ihn seine Reisen an den Ort des begangenen Verbrechens führten.“

„In puncto der Gerichts=Freyheit“. Eine Fallstudie des 17./18. Jahrhunderts aus den Herzogtümern Bremen und Verden Von Volker Friedrich Drecktrah

I Einleitung 1 Vorbemerkung Im Niedersächsischen Landesarchiv  – Standort Stade  – liegen drei Akten zu einem Rechtsstreit des Bauern Claus Aders aus Oberndorf gegen das Königliche Amt zu Neuhaus, beide Orte an der Oste gelegen.1 Aders bestritt die Zuständigkeit des Amtes in einem gegen ihn anhängigen Zivilrechtsstreit mit der Begründung, dass er ein freies Gut besitze und deshalb nicht vor das örtlich zuständige Amt bzw. Untergericht geladen werden könne, sondern nur vor die Königliche Justizkanzlei in Stade. Im Mittelpunkt des Verfahrens steht die Frage des privilegierten Gerichtsstandes für einen „Untertan“ in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft, letztlich geht es um die Frage, ob dieser „Untertan“ durch den Erwerb und Besitz privilegierten Grundbesitzes Inhaber dieser Privilegien geworden ist und sie im politischen Wandel der Zeiten bewahren kann.

2  Die Quellen Die Akte 301/9, Nr. 73, betrifft „die von Geven Erben prätendierte Gerichtsfrei­ heit“; die Laufzeit dieser Akte umfasst die Jahre 1663 bis 1712. 1 Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Stade – (im Folgenden: NLA-ST), Rep. 301/9, Nr. 73, Nr. 74 und Nr. 79. Das Zitat im Titel stammt aus der Akte 301/9, Nr. 79, Bl. 32. – Der Fall, der im Folgenden behandelt wird, ereignete sich in der Elbe-Weser-Region an der Niederelbe zwischen Hamburg und der Elbmündung, Neuhaus und Oberndorf liegen heute im Landkreis Cuxhaven.

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In der Akte 301/9, Nr. 74, geht es um „die Gevenschen Erben zu Oberndorf und deren Exemtions-Prätensionen“; die Laufzeit dieser Akte reicht von 1662 bis 1692. Die Akte 301/9, Nr. 79, schließlich enthält das Verfahren des Amtes Neuhaus gegen Claus Aders aus Oberndorf wegen unentschuldigten Ausbleibens bei einem Gerichtstermin am 24. Dezember 1739 und Aders’ Einwände gegen die Zuständigkeit des Amtes Neuhaus. In diesem Verfahren werden von Aders Abschriften von Urkunden und Zeugnissen aus den beiden vorgenannten Akten zum Beweis seiner Gerichtsfreiheit beigezogen. Die Akte endet mit der Entscheidung des Oberappellationsgerichts Celle vom 4. Juni 1740. Auch wenn die beiden erstgenannten Akten die Familie Geven als Eigentümer und Kläger betreffen, so ist unstreitig, dass Claus Aders die früheren Geven’schen Güter besaß und bewohnte und er damit die behauptete Gerichtsfreiheit auch für sich reklamieren konnte.

3  Der historische Zusammenhang Das Verfahren fand in einem Bezirk statt, der während der Dauer des Rechtsstreits mehrere Herrschaftswechsel erlebte. Seit dem Hochmittelalter gehörte das Gebiet zwischen Elbe und Weser jahrhundertelang zum Erzstift Bremen, dessen Verwaltungssitz sich am Ende dieser Periode in Vörde, später Bremervörde genannt, befand. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges, im Jahr 1645, eroberten schwedische Truppen das Erzstift Bremen und das Stift Verden, beide geistlichen Territorien wurden gemäß Osnabrücker Friedensvertrag von 16482 säkularisiert. Als Herzogtümer Bremen und Verden blieben sie Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, standen jedoch unter schwedischer Verwaltung mit dem Regierungssitz in Stade.3 Mit der Säkularisierung der beiden Stifte übernahm die schwedische Krone die Güter und Rechte des Erzbischofs, der Domkapitel und Klöster.4 Um verdiente Offiziere und Beamte zu entlohnen, verteilte die schwedische Regierung an diese groß2 Instrumentum Pacis Osnabrugensis: Artikel X, der die Entschädigung des Königreiches Schweden regelte. 3 Hierzu allgemein: Beate-Christine Fiedler, Die Verwaltung der Herzogtümer Bremen und Verden in der Schwedenzeit 1652–1712. Organisation und Wesen der Verwaltung, Einzelschriften des Stader Geschichts- und Heimatvereins, Band 7, 1987; dies., Bremen und Verden als schwedische Provinz (1633/45–1712), in: Geschichte des Landes zwischen Elbe und Weser, Band  III: Neuzeit, hrsg. von Hans-Eckhard Dannenberg/Heinz-Joachim Schulze, 2008 (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer ­Bremen und Verden, Band 9), S. 173–253. 4 Fiedler, Verwaltung (Fn. 3), S. 43 ff.

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zügig ganze ehemals geistliche Besitzrechte, Ämter, Güter und die dazu gehörigen Einnahmen: die sogenannte Donationspolitik.5 Das Amt Neuhaus gehörte seit 1645 dem schwedischen Gouverneur der Herzogtümer Bremen und Verden Hans Christoph Graf Königsmarck, es handelte sich mithin um Donationsbesitz. Nach der Verbindung Schwedens mit Frankreich und den kriegerischen Aus­ einandersetzungen Schwedens gegen Brandenburg 1675 wurde das Königreich Schweden in die Reichsacht gesetzt. Braunschweig-Lüneburg, Münster und ­Dänemark wurden mit der Reichsexekution beauftragt und die schwedischen Herzogtümer Bremen und Verden erobert. Die Besetzung der Elbe-Weser-Region dauerte von 1676 bis 1679/80, die Exekutive für das Herzogtum Bremen lag bei einer Interimsregierung mit Sitz in Stade. Im Anschluss übernahm die schwedische Krone zwar wieder ihre deutschen Provinzen, aber sie war durch die kriegerischen Auseinandersetzungen finanziell derart geschwächt, dass alle Güter und Privilegien, die zuvor insbesondere an Beamte und Offiziere verteilt worden waren, wieder zugunsten der Krone eingezogen wurden, bekannt als die Reduktionspolitik.6 In einer weiteren kriegerischen Auseinandersetzung, dem Großen Nordischen Krieg (1700–1721), besetzte das Königreich Dänemark im Jahr 1712 die Herzogtümer Bremen und Verden; nach dem Ende dieses Krieges war die schwedische Krone materiell nicht mehr in der Lage, eine Rückeroberung der verlorenen Territorien auch nur anzustreben. Vielmehr erwarb das Kurfürstentum Hannover bereits im Jahr 17157 die Herzogtümer Bremen und Verden. Der Verwaltungssitz blieb zu hannoverscher Zeit in Stade, ebenso blieb die von den Schweden eingerichtete Verwaltungs- und Gerichtsstruktur im Kern unverändert.8 Vor diesem wechselvollen historischen Hintergrund ist der hier zu untersuchende Rechtsstreit zu sehen.

4  Die örtlichen Gegebenheiten Das frühere Amt Neuhaus, in dem die strittigen Ländereien lagen, um die es im Folgenden gehen wird, bestand zu beinahe zwei Dritteln aus Marschland. Das Gebiet war ständig durch Sturmfluten gefährdet, diese Region definiert sich „über den 5 Fiedler, Bremen (Fn. 3), S. 188. 6 Michael Ehrhardt, Die schwedischen Donationen und Reduktionen und ihre Wirkung im ländlichen Raum, Stader Jahrbuch 2010, S. 75 ff. 7 Volker Friedrich Drecktrah, Die Gerichtsbarkeit in den Herzogtümern Bremen und Verden und in der preußischen Landdrostei Stade von 1715 bis 1879, 2002 (Rechtshistorische Reihe, Band 259), S. 51 ff. 8 Hierzu allgemein Drecktrah (Fn. 7), S. 56 ff.

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Fluss“9 und damit auch über die den Grundbesitzern obliegenden Pflichten zum Schutz des fruchtbaren Landes vor dem Eindringen des Wassers. Insbesondere im 17. Jahrhundert kam es an der Oste zu immer wiederkehrenden Überschwemmungen ganzer Landstriche mit großen Opfern an Menschen, Vieh und Ernten. So war in Folge der Januarflut 1643 das Kirchspiel Oberndorf für vier Wochen überschwemmt.10 In den Jahrzehnten danach wurden die Oste-Marschen immer wieder von Flutkatastrophen getroffen, beispielsweise in den Jahren 1648, 1661, 1663, 1664 und 1685, so dass das 17. Jahrhundert als „Jahrhundert der Sturmflutkatastro­ phen“ in die Chroniken eingegangen ist.11 Die meisten Marschbauern waren „weder grund- noch leibherrlichen Bindungen unterworfen. In ihrer Wirtschaftsordnung waren sie daher völlig unabhängig und konnten ihren Hof frei vererben. Im Gegensatz zu den Geestbewohnern waren die Grundeigentümer in der Marsch jedoch der belas­ tenden Deichpflicht unterworfen.“12 Hieraus resultiert nicht nur ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein gegenüber der „Obrigkeit“, sondern auch eine Vermögenslage, die durchaus kostspielige Prozesse über mehrere Generationen erlaubte. Zudem lebten die Menschen in der benachbarten Elbmarsch, dem Land Kehdingen, als freie Bauern mit einem hohen Maß an politischer und rechtlicher Selbstständigkeit. Geprägt wurden die einheimischen Marschbewohner mithin nicht nur durch das Bewusstsein der beständigen Gefährdung, sondern auch durch erhebliche Lasten, die sie als Flussanrainer bei der Wiederherstellung gebrochener Deiche finanziell und durch Arbeitseinsatz zu tragen hatten. Die Gefahr der Überschwemmungen bestand bis in die neueste Zeit, erst seit der Fertigstellung des Oste-Sperrwerkes im Jahr 1968 scheint der Fluss gebändigt zu sein.

II  Das Verfahren 1 Allgemeines Das hier näher darzustellende Verfahren begann zwar erst im Dezember 1739, also zu hannoverscher Zeit, mit der Klage des Claus Aders, und es endete schon im Juni 1740 mit einer Entscheidung des Oberappellationsgerichts Celle, das   9 Vgl. Norbert Fischer, Der wilde und der gezähmte Fluss. Zur Geschichte der Deiche an der Oste, 2011, S. 28. 10 Fischer (Fn. 9), S. 90. 11 Fischer (Fn. 9), S. 91. 12 Michael Ehrhardt, Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im 17.  Jahrhundert, in: Geschichte des Landes zwischen Elbe und Weser (Fn. 3), S. 260 f.

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Aders’ Ansprüche für nicht begründet hielt. Aber der Prozessstoff greift mehr als einhundert Jahre zurück. Vor der Celler Entscheidung waren richterlich tätig das Königliche Amt in Neuhaus an der Oste und die Justizkanzlei in Stade. Die Ausgangslage der Klage stellt sich folgendermaßen dar: Claus Aders und Martten Katte sollten im Dezember 1739 vor dem Königlichen Amt in Neuhaus in der Rechtssache des Legationsrates von Roden gegen beide wegen einer Forderung erscheinen. Weil Aders beim Termin vom 24. Dezember 1739 nicht erschienen war, setzte das Gericht zur Förderung des Verfahrens Zwangsmittel ein, zum einen wurde in seinem Haus eine Wache mit zwei Landgeschworenen einquartiert, und zum anderen wurde gegen ihn ein Bruchgeld über 24 Schilling verhängt.

2  Das Klägervorbringen Gegen diese Vollstreckungsmaßnahme wandte sich Aders mit seinem Antrag vom 18. Januar 1740 an die Justizkanzlei in Stade mit dem Argument, dass er als Be­ sitzer eines freien Hofes nicht vor dem Amt, sondern allein vor der Königlichen Justizkanzlei zu erscheinen habe. Zum Beweis seiner (Nieder-)Gerichtsfreiheit legte Aders Abschriften diverser seinen Vorfahren und den Vorbesitzern seines Hofes erteilten Befreiungen vor. a. Die älteste von ihm abschriftlich vorgelegte Urkunde stammte aus dem Jahr 1614. Am 19. September dieses Jahres hatte die Bremische Erzbischöfliche Kanzlei in Vörde für den Besitz, auf dem der Kläger jetzt lebte, bescheinigt, dass der damalige Hofbesitzer, also der Rechtsvorgänger des Klägers, im Erzstift Rossdienst zu leisten verpflichtet sei.13 Dieser Dienst entstammte der mittelalterlichen Pflicht, dem Lehnsherrn auf Anforderung eine bestimmte Zahl Bewaffneter zur Verfügung zu stellen.14 Rossdienstpflichtig waren grundsätzlich Personen von Adel mit Grundbesitz; es konnten aber auch solche Personen rossdienstpflichtig sein, die z. B. eine Hofstelle als Eigentümer besaßen.15 Ob dieses Privileg allerdings, wenn es mit dem Grundbesitz untrennbar verbunden war, auch die Gerichtsfreiheit bedingte, ist die Frage, die dieses Verfahren beherrscht. 13 NLA-ST Rep.  301/9, Nr.  79, Bl.  10; ursprünglich in NLA-ST Rep.  301/9, Nr.  74, Bl. 7/7r. – In den drei oben unter I. 2 genannten Akten sind die im Beitrag zitierten Quellen jeweils mehrfach vorhanden, sie werden im Folgenden nur einmal belegt. – Ich danke meiner Ehefrau, der Historikerin Dr. Beate-Christine Fiedler, für Hilfe bei der Transkription der Quellentexte. 14 Michael Ehrhardt, Die Börde Selsingen. Herrschaft und Leben in einem Landbezirk auf der Stader Geest im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, 1999, S. 137. 15 Ehrhardt (Fn. 14), S. 137.

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b. Am 4. Dezember 1614 bezeugte der Richter Marcus Schröder aus Oberndorf, dass er seit nunmehr 38 Jahren das entsprechende Richteramt ausübe, weiter heißt es: „[...] und auch von meinen Voreltern ist glaubwürdig berichtet worden, was für Leuthe und Geschlechter von alters hero Recht freye Leuthe gewesen seyn, undt nicht zu Rechte gegangen haben, derowegen haben mir die Geven, Schoten und Katten bittlich angelan­ get, daß Ich Ihnen derenthalben unter meiner Handt undt Pittschafft ein Testimonium mittheilen möchte, wie es mit Ihnen undt Ihren Voreltern von alters hero gehalten ­worden.“

Er bekundete weiter, dass die Geven „ein und alle wege für recht freye Leuthe gehalten und gerechnet worden [...], undt nie­ mahls zu rechte gegangen“

seien. Schließlich fügte er einen von ihm wohl praktizierten Rechtssatz hinzu: „[...] undt ist erkandt worden, daß ein freyman kan woll bauermäßig gutt freyen, aber kein gutt kann einen bauermäßigen Mann freyen. Daßelbe ist ein warheits grunde bey meiner Zeit im Carspell [= Kirchspiel] Oberndorf also gehalten worden.“16

Hier wird deutlich, was „das Herkommen“17 an der Schwelle vom 16. zum 17. Jahrhundert bedeutete. Der Richter berief sich nicht allein auf eigenes Wissen, sondern zog zur Unterstützung seiner Auffassung noch das behauptete Wissen seiner Vorfahren heran. Zudem stellte er einen nach seiner Ansicht wohl allgemein ­g ültigen Rechtssatz zum „bauermäßigen Mann“ auf. c. Am 3.  Januar 1621 forderte der Bremer Erzbischof Johann Friedrich in einem Schreiben an Otto Gevens Erben, dass es ihnen obliege, „wegen vielfältiger Kriegsempörungen und Aufstände im Römischen Reich zur Abwen­ dung künftiger Gefahr sich in guter Bereitschaft zu halten [...], zu dem Ende sind wir entschlossen, fürterlichst eine gemeine Musterung unserer Bremischen Ritterschaft Lehen­ 16 NLA-ST Rep. 301/9, Nr. 74, Bl. 9f., dort alle Zitate dieses Abschnitts. 17 Dazu näher bei Hermann Krause/Gerhard Köbler, Artikel „Gewohnheitsrecht“, in: HRG, 2. Aufl., Sp. 364 ff. Dort wird der Begriff des Herkommens allein im Zusammenhang mit dem Badischen Landrecht von 1809 verwendet, Sp. 372; es besteht jedoch eine Übereinstimmung der beiden Begriffe.

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leute und die Unß und Unserm Ertzstift sonst mit Roßdiensten verwandt, zu halten, so wollen wir euch deswegen hiemit avisiert und auferlegt haben, daß Ihr euch gegen die Zeit mit einem Saht an tauglichen Knechten, Pferden, Rüstung und Wehren gefaßt macht, damit, wann und zu welcher Zeit Ihr von uns gefordert werden, Ihr untadelhaft erscheinen könnt.“ 18

Mit diesem Schreiben beabsichtigte der Kläger zu beweisen, dass ihm eine besondere Stellung in der Ständegesellschaft zukam, ohne „von Stand“ zu sein. Er wollte sich damit von seinen rein bäuerlichen Nachbarn abheben und sich damit auch über deren Pflichten stellen. d. Am 4. Juni 1662 wandten sich die Geven’schen Erben an die schwedische Regierung in Stade, um ihre behauptete, jedoch streitige Gerichtsfreiheit wiederzuerlangen. Dazu führten sie aus: „Wir und unsere Vorfahren im Kirchspiel Oberndorf sind jederzeit Rechtfreie Leute gewe­ sen, haben unsere Güter, Höfe und Ländereien frei besessen und besonders die Ländereien bis zur Gegenwart beständig gefreit. Bei den vorgewesenen Kriegstroublen, die alle gute Ordnungen zu turbieren pflegen, haben uns unsere Kirchspielleute de facto dahin genö­ tigt, dass wir – unserer hergebrachten Freiheit zuwider – von unserem lebendigen Gute, auch Dach und Fach, zu ihrer monatlichen Kontribution zu Hilfe und sonsten andere onera personalia [= persönliche Lasten] mit ihnen verrichten müssen, dagegen wir uns bei unserer althergebrachten Freiheit zu schützen und dazu die obrigkeitliche Hilfe zu erbitten, bei den unruhigen und hochbeschwerlichen Zeiten keine Mittel in Händen ge­ habt, und deswegen solchen unbilligen Zwang in Geduld bis zu anderer besserer Zeit und Gelegenheit leiden müssen.“ 19

Die Kläger stellten hier durchaus plausibel dar, warum sie überhaupt in diesen Konflikt wegen der gerichtlichen Zuständigkeit geraten waren. Offensichtlich hatten die Zeiten und „Kriegstroublen“ des Dreißigjährigen Krieges und des nachfolgenden Nordischen Krieges (1665–1660) sie daran gehindert, sich um Rechte der behaupteten Art zu kümmern, weil im Vordergrund wohl die Mühen des reinen Überlebens gestanden hatten. e. Am 23. Oktober 1677 befahl die braunschweig-lüneburgische Interims-Regierung in Stade dem damaligen Richter Wolff in Oberndorf, dass er in der Sache

18 NLA-ST Rep. 301/9, Nr. 74, Bl. 13/13r. 19 NLA-ST Rep. 301/9, Nr. 74, Bl. 2 ff.

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„Barthold Geven Erben“ die Antragsteller „in ihrem privilegio fori nicht turbiret, sondern ihre Kläger anhero verweiset“.20 Dieses im Jahr der Interims-Regierung erlassene Dekret schrieb lediglich den vorgefundenen Zustand fort, eine eigene Meinung zum Rechtsstreit kam darin nicht zum Ausdruck. f. Die Ritterschaft des Herzogtums Bremen nahm am 18. Januar 1740 gut­ achterlich Stellung zugunsten des Aders mit dem Inhalt, dass dieser in der Rossdienstrolle der Ritterschaft verzeichnet sei und er diese Lasten durchweg getragen habe. So sei Aders im November 1738 von der Ritterschaft veranlagt worden, und aus dem Quittungsbuch ergebe sich, dass er am 11. Juni 1739 seinen Rossdienst mit drei Reichstalern geleistet habe.21 Diese Bescheinigung ist die einzige des ­Klägers, die aus dem Jahr des Prozessbeginns stammt. Gleichwohl ist ihre Beweiskraft eher gering, denn zur Rossdienstrolle konnten auch freiwillig Beiträge geleistet werden. g. Die Argumente des Klägers gründeten sich primär auf behauptete Gewohnheitsrechte. Hierzu stellte er Erklärungen und Urkunden zusammen. Fortwährend betonte er, dass er und seine Vorfahren seit Jahrzehnten ein freies Gut besessen hätten und nicht kontributions-, sondern allein rossdienstpflichtig gewesen seien. Auch wenn er zudem einen kontributionspflichtigen Meierhof besitze, so folge daraus nicht seine Pflicht zum Erscheinen vor dem Amt, weil er auf diesem nicht wohne, sondern nur auf dem gerichtsfreien Anwesen. Vor dem Hintergrund der regionalen Geschichte ist diese Einlassung durchaus plausibel. Der Ort Oberndorf liegt in der Marsch, die etwa im 12. Jahrhundert besiedelt wurde und die, wie auch das benachbarte Land Kehdingen, viele freie Bauern kannte mit einem hohen Grad an politischer und rechtlicher Selbstverwaltung. So wählten die Oberndorfer Einwohner ihre „Richter, Bürgermeister und Schulzen aus der Mitte der Eingesessenen“,22 zudem führte Georg Kunhardt23 in seiner „Oberndorfer Chronik“24 aus, dass 20 NLA-ST Rep. 301/9, Nr. 79, Bl. 84. 21 NLA-ST Rep. 301/9, Nr. 79, Bl. 38. 22 Gustav Stüben, Die Ostemarsch im Wandel der Zeiten. Bilder aus der Geschichte unserer engeren Heimat, 1949, S. 159. 23 Georg Kunhardt, geb. 1642 in Rochlitz bei Leipzig, 1698 gestorben in Oberndorf, war von 1681 bis zu seinem Tod Richter in Oberndorf, vgl. Stüben (Fn. 22), S. 159. – Den Richtern in Oberndorf standen vor Kunhardts Wahl als „Gehalt“ 27 Morgen Land zur Verfügung, das frei von jedweden Lasten war. Im Februar 1682 schloss Kunhardt mit der Gemeinde einen Vertrag dahin, dass er das Land zurückgab und stattdessen monatlich zehn Reichstaler Gehalt beziehen sollte, vgl. Stüben ebda., S. 168. 24 Abgedruckt bei Stüben (Fn. 22), S. 161–175.

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„von alters hero [in diesem Kirchspiel] ein Richter und vier Landgeschworene gewesen, welche solche Autorität und Gewalt gehabt, daß sie mit ihren Nachbarn des Landes ­Kedings Hauptleute [...] in anno 1502 und 1511 öffentliche Bundesbriefe aufgerichtet“.

hatten. Dies alles dürfte zum starken Selbstbewusstsein der Marschbauern, und damit auch der Familie Geven, beigetragen haben.

3  Das Beklagtenvorbringen Je nach historischem Kontext versuchten die Beklagten – geprägt vorrangig von ihren finanziellen Interessen – mit unterschiedlichen Gründen ihre Einbußen durch restriktive Handhabung der Kontributionsfreiheit einzugrenzen. Als die schwedische Regierung aufgrund ihres abnehmenden Kriegsglücks und der zerrütteten Staatsfinanzen die zuvor großzügig an verdiente Offiziere und Beamte vergebenen Ländereien und die damit verbundenen Einnahmen nach 1680 zurückforderte, stand offensichtlich auch jede Freiheit von der Kontribution auf dem Prüfstand und war damit gefährdet. a. Am 19. April 1665 schrieben die „Beamte, Richter und Schulzen der Herr­ schaft Neuhaus“ an den Gouverneur und die Regierung in Stade, nachdem der Kläger den Prozess fortzuführen beabsichtigte, sie hätten gehofft, „daß der alte Arend Geven nach geschehener Beantwortung und Demonstrierung seines wiewohl aus untadelhaften, doch Hausmannsgeschlecht herrührenden Ursprungs und Abkommens bei seinem jetzigen Alter die [… wegen seiner] Gerichtsbefreiung gemachten Gedanken lieber lassen gesunken als zu seiner selbsteigenen Beschwerung denselben so viel cargiret haben, daß er bei notorischer Bewandtnis und selbst geständiger Gewissheit, daß er solange er in dem Amt gewohnt, niemals desselben Jurisdiktion sich entzogen, sondern daselbsten dahin je und allerwege auf abgegangener citation gestellt und Ihn sein von den pro tempore da vorhanden gewesenen Beamten gleich andern seinesgleichen Hausmanns­ standes sein Recht geben und nehmen lassen, nunmehr, da er nicht einmal Ackerbau, sondern einen kleinen Handel [...] nebst seinem Sohne treibt, einige alte, schon verlo­ schene und praescripirte privilegia, die auf ihn und die seinigen, noch nicht einmal ge­ meint, herfur zu suchen und derentwegen das hochlöbl. kgl. Gouvernement unter dero wichtigern Affairen mit Anmutung eines so lächerlichen desiderii anzulaufen bemüht gewesen sein.“

Die Vertreter des Amtes argumentierten in diesem Fall durchaus mehrgleisig. Zum einen zogen sie die Gerichtsfreiheit generell in Zweifel, zum anderen stellten

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sie den Kläger als einen Händler dar, dem eine solche Gerichtsfreiheit ohnehin nicht zukommen könne. Schließlich führten sie an, dass es wohl einen Stamm der Familie gebe, der sich zu Recht auf bestehende Gerichtsfreiheit berufen könne: Zu diesem Stamm gehöre jedoch nicht der Kläger. Im selben Schreiben wurde auch noch das weitere Vorbringen des Klägers in Frage gestellt: „Was demnach das hiebevor producirte Attestat von Marcus Schröder25 betrifft, so lassen wir solchen in seinen Würden und Unwürden beruhen: daß aber die itzige Zeiten die heutige observance et praxis in contrarium selbigen weit derogiren ist so klar, daß es keiner Erläuterung bedarf. Zudem ist auch berührtes Attestat nicht generale und weiter nicht denn auf das Landgericht zu verstehen gewesen: welches ja dennoch gleichfalls jetzt eine andere Beschaffenheit gewonnen und sotane Freiheit, die sie von der Mannzahl zwar cum onere eximiret, aber von Ihnen nicht allemal beobachtet worden. Also daß Ihn den Geven beredtes Attestat so wenig frommet, als daß bei dem sogenannten Brobergischen und nun erloschenen Biergericht darüber auch habendes altes Protocollum. Und könnte man, da es ferner not sein würde, wohl beweisen, daß von den dergestalt gerichtsfreien Geven nicht einmal dieser sein Herkommen hätte. Nun aber ist am Tage, daß der sel. Landrichter Marcus Schröder selbst ein Amtsasse ge­ wesen, dannenhero auch derselbe nicht weiter als was er in seiner Function gehabt hat, testiren können, auch gewisse und wahrhaftig sein testimonium ferners nicht wollen ver­ standen haben. Kornkäufer oder Meltzer – solche commercia und artes mechanicae persuadiren bei einem Edelmann oder gerichtsfreien Personen nicht. Die alten Briefe können bei diesen ganz veränderten Zeiten nichts beweisen.“26

Nach diesem Vorbringen dürfte sich das Zeugnis des Richters Schröder allein auf die Freiheit von der Pflicht beziehen, vor dem Landgericht zu erscheinen.27 Dem widersprach der Kläger nicht, so dass dieses Vorbringen als zugestanden angesehen werden kann. Damit war die Argumentation des Klägers auch im Übrigen wohl kaum noch tragfähig. Es schien für das Amt selbstverständlich zu sein, dass eine gewerbliche Tätigkeit die Gerichtsfreiheit ausschloss. Zudem, so wurde ­weiter argumentiert, hätten sich die Zeiten geändert, so dass alte Rechte ohnehin 25 S. o. Abschnitt II.2.b. 26 NLA-ST Rep. 301/9, Nr. 73, Bl. 20. Dort alle Zitate dieses Abschnitts. 27 Drecktrah (Fn. 7), S. 68 f., zu den Landgerichten im Jahr der Übernahme der Herzogtümer Bremen und Verden durch das Kurfürstentum Hannover 1715. Allgemein zu den Landgerichten in hannoverscher Zeit Götz Landwehr, Die althannoverschen Landgerichte, 1964.

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keinen Bestand haben könnten. Dies scheint mir eine Behauptung zu sein, die sehr viel über die geänderten Zeiten aussagt, aber argumentativ eine denkbar schwache Position darstellt. Der Streit scheint die Beteiligten heftig emotionalisiert zu haben, er betraf letztlich die Ehre und den Rang in einer überschaubaren dörflichen Struktur. Der Sohn des Klägers, Jürgen Geven, hatte – fast geradezu zwangsläufig unter diesen Gesichtspunkten  – am Sonntag, den 28.  Oktober 1665, den Richter Johann Schröder in Oberndorf „auf dem Kirchgange erstochen“.28 Der Rechtsstreit sei dann „liegen geblieben, weil der Richter ums Leben gekommen“.29 Dies dürfte der Kulminationspunkt des Rechtsstreites gewesen sein. b. Deutlich wird die Auffassung der Regierung nach Wiederaufnahme des Verfahrens in einer Stellungnahme des kgl. schwedischen Regierungsrates Engelbert Johann von Bardenfleth vom 20. September 1710. Er war zuvor Amtmann zu Neuhaus an der Oste gewesen, also in dem Bezirk, zu dem der Ort Oberndorf gehörte: „[...] muß ich hiermit berichten, was gestalt Dieterich Bremer bei jüngster Mannschafts­ beschreibung einen Oberndorfer Einwohner namens Claus Geven unter anderen desfalls mit zu beschreiben Bedenken getragen, weil derselbe auch Roßdienst mit bezahlt: Wenn ich aber darin zu consentiren, und denselben aus der Matrikel der Landfolge zu lassen, unter andern daher von mir sehr unverantwortlich geachtet, weil (1) derselbe und dessen Antecessores 1682 und 1692 unter die Landfolge sind mit beschrieben, (2) er auch rati­ one personae kein Nobiles, sondern sein Vater und Großvater königl. Herren Meyer gewe­ sen, wie dann auch er selber jetzt noch ist, und von seinem königl. Meierhof den jährlichen Canon, Dienstgeld und Hofschwein an mich liefern muß, auch ist dessen Vaters Bruder nur ein Ewerführer, der andere ein Fährmann, und des Vaters Schwester an einen Zim­ mermann verehelicht gewesen. (3) Hat er und dessen Vorfahren jederzeit unter der Amts Jurisdiction gestanden, welcher er sich nach Bremers Bericht jetzt auch zu entziehen, ver­ nehmen lassen soll, ob wohl zu erweisen, daß (a) ein concursus creditorum 1672 und 1673 vom sel. Amtmann Biermann über Barthold Geven Erben Güter gehalten, (b) des­ sen Vater auch die Gefangenen von Oberndorf nach Neuhaus mit bringen, (c) und dessen Eltern und Großeltern alle Musterungen, Schanzen-Arbeit und dergleichen rusticas 28 Stüben (Fn. 22), S. 41. – Die Akte NLA-ST Rep. 301/9, Nr. 75 enthält das „Inquisitionsverfahren gegen Jürgen Geven zu Oberndorf wegen Entleibung des Oberndorfer Richters Johann Schröder“. Diese Akte endet mit dem zu Neuhaus gefertigten Gerichtsprotokoll vom 4. April 1666 und der Entscheidung, die Akte an die Juristenfakultäten in Kiel und Rinteln zu versenden. Der weitere Fortgang des Verfahrens ist in der Akte nicht überliefert, für diesen Beitrag auch nicht erforderlich. 29 Stüben (Fn. 22), S. 41.

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praestationes, ihren Nachbarn gleich, verrichten müssen, wie mit Rollen und Zeugen zu erweisen; zwar gibt er auch unleugbar mit zur Roßdienstes Anlagen, weil aber daßelbe sein freier Wille gewesen, und er sich damit von der Kirchspiels Contributions-Habselig­ keit, (welche doch er und seine Vorfahren vor Abtragung des Roßdienstes jederzeit laut den Kirchspielsrollen, mit ausgegeben, und die Einquartierungen gehalten)“ 30 befreit.

Bardenfleth begab sich in seiner Argumentation auf eine andere Ebene als die ­Kläger, indem er in geradezu diskriminierender Absicht die Berufe der Familie auflistete, um sie von jedweder Nobilität fernzuhalten und damit als selbstverständlich Gerichtsunterworfene darzustellen. Bemerkenswert hierbei ist, dass ­Bardenfleth selbst erst zu schwedischer Zeit seinen Namenszusatz „von“ erhielt und dass er zumindest als Amtsinhaber in Neuhaus auch ein finanzielles Interesse an der Amtspflichtigkeit der Kläger hatte. c. Weiter berichtete Bardenfleth im folgenden Jahr 1711, dass sich Claus Geven weder der Amtsjurisdiktion noch der Landfolge entziehen könne: „In Sachen Jurisdiktion ist das Amt seit 1637 im Besitz gewesen, auch den Konkurs über das jetzige Wohnhaus und Land des Klägers ohne kgl. Kanzleibefehl gehalten, auch alle actus jurisdictionalis exerciret. Laut Instruktion sind keine andere Hausmannsstandes von der Landfolge frei, als welche auf adel. freien Wohnhöfen oder auch auf anderen freien Gütern wohnen und ihnen die Häuser nicht eigen, sondern den Gutsherren zuge­ hören, item so als Bediente oder Gesinde von den Edelleuten gehalten werden. Unter alle diese aber kann sich Kl. nicht rechnen, denn er ist für seine Person von allen seinen Vor­ eltern her ein Hausmann, wohnt auf einem unter dieser Amtsjurisdiktion belegenen ­Meierhof, wovon er über den jährl. Canon freiwillig zum Roßdienst zu geben verwilliget, und nicht aber dessen Wohnhof als ein Rittersitz in der Ritterschaftsmatrikel befindlich, sondern prästiret alle Abgaben als andere zur Landfolge Kontribuierende kgl. Meyer und wohnt daneben in seinem eigentümlichen Haus, also kann ihn um da weniger der ausge­ benden Roßdienst von der Landfolge befreien, als andere Edelleute und Gutsherren gleichmäßig für ihre freien Meyer den Roßdienst entrichten, und nichtsdestoweniger die­ jenigen zur Landmiliz concurriren müssen, so ihre eigenen Häuser auf adeligen Gründen bewohnen.“ 31

Bardenfleth behauptete hier erstmals, dass der Kläger auf einem Meierhof wohne, was die Geven bislang bestritten hatten; auf den zweiten Hof ging er in seiner Argumentation nicht ein. 30 NLA-ST Rep. 301/9, Nr. 79, Bl. 50. 31 NLA-ST Rep. 301/9, Nr. 73, Bl. 126.

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d. In vergleichbarer Weise verfuhr die dänische Regierung in Stade im Jahr 1712 mit einem Vorfall, der sich ebenfalls in Oberndorf abspielte. Dort hatte der Landrat Katte von seinem „Gerichtssassen Hein Alef“,32 der auf einem Katte ge­ hörigen gerichtsfreien Hof saß, Abgaben in Form von Naturalien verlangt. Der damalige Oberndorfer Richter Johann Georg Pauli sah darin eine Verletzung der im Kirchspiel herrschenden Kontributionspflicht und zeigte den Vorfall der ­Regierung in Stade an. Diese erließ an Pauli am 22. Dezember 1712 ein Mandat mit folgendem Inhalt: „Wir haben aus Eurer geziemenden und pflichtmäßigen denunciation mißfällig vernom­ men, welcher gestalt der Landrat Katte durch die von Hein Alef bey anfänglich angedroh­ ter und demnegst gesteigerter poen gefordete Rauchhüner sich etwas solches anzumaßen beginne, welches wir ihm zu verstehen umso weniger gemeint sind, als aus dem von der vorigen schwedischen Regierung dieserhalben an den damaligen Amtmann von Barden­ fleth abgegangenes Rescript, daß er hiezu gar keine Befugnis habe, genügsam erhellet. ­Befehlen Euch also namens Ihro Königl. Majestät zu Dänemark Norwegen pp, [...] daß Ihr den Hein Alef [...] stracks injungiret, er solle in jurisdictionalibus sich von niemand etwas befehlen lassen, sondern sich lediglich an die von Ihrer Königl. Majestät gesetzte Beambte und Richter halten, und da mit Gewalt etwas wieder ihm vorgenommen werden sollte, solches sofort an Euch wißend machen, damit ihr es zu weiterer Verordnung anhero bringen könnt.“ 33

Bemerkenswert an dieser Anweisung ist insbesondere, dass eine Kontinuität in Rechtssachen zur vorherigen schwedischen Regierung bemüht wird, obwohl zu der Zeit die Königreiche Dänemark und Schweden in kriegerischen Auseinandersetzungen standen. Bemerkenswert ist aber auch, dass Auseinandersetzungen um die Gerichtsfreiheit offenbar nicht auf einen möglicherweise querulatorisch agierenden Kläger beschränkt waren.

4  Die gerichtlichen Entscheidungen a. Die Justizkanzlei in Stade entschied per Dekret vom 10. Februar 1740 wie folgt: „In Sachen Claus Aders, Imploranten, wider die Beambte zu Neuhaus, Imploraten, in puncto der Gerichts=Freyheit und zugelegter Wache, wird dem Imploranten, auf seine 32 NLA-ST Rep. 70, Nr. 2136. 33 NLA-ST Rep. 70, Nr. 2136.

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den 4ten dieses [Monats] eingereichte Widerlegung und Bitte zum Bescheide gegeben: daß das Gesuch keine Statt habe: Übrigens aber ist demselben, zu Fortsetzung seiner ­Appellation bey dem Königl. und Chur-Fürstl. Ober-Appellationsgericht zu Zelle dieses, an Statt des gebetenen Documenti requisitionis actorum ertheilet.“ 34

Dagegen appellierte Aders an das Oberappellationsgericht Celle, das am 4. Juni 1740 unter der laufenden Nummer 116 die Klage mit folgendem Tenor ­abwies:35 „Claus Aders aus Oberndorff, contra die Beamte zu Neuhaus, in pto der GerichtsFreyheit und zugelegter Wache: Deneg. Process.“36 Beide Entscheidungen liegen ­jeweils nur mit dem klagabweisenden Tenor vor. b. Die Entscheidungen waren im Ergebnis deutlich, gleichwohl war damit der grundsätzliche Streit weder in diesem Verfahren noch im Übrigen beigelegt. Denn aus den Akten ergibt sich, dass Aders bzw. dessen Nachfahren wohl noch weiter um ihre Gerichtsfreiheit prozessierten: So hat das Hofgericht die Akten im Jahr 1742 angefordert, ohne dass jedoch ein Verfahrensausgang zu erkennen ist. c. Zudem hat noch im Jahr 1789 die Königliche Kammer in Hannover in einer vergleichbaren Fallkonstellation beim Stader Amts-Advokaten Wehner ein Gutachten in Auftrag gegeben zu der Frage, „Ob ein Untergericht eine unter höheren Gerichte stehende Person in Bruchstrafe nehmen könne“.37 Hintergrund war, dass beim Goh-Gericht Achim der im Gerichtsbezirk wohnende pensionierte Leutnant v. Heimbruch gegen einen Bürger wegen einer Beleidigung geklagt hatte. In der Verhandlung stellte sich jedoch heraus, dass v. Heimbruch „der Anfänger des Streits“ gewesen war, worauf er zu einer Bruchstrafe von 18 Groten verurteilt wurde. Leutnant v. Heimbruch weigerte sich zu zahlen, die Richter v. Danckwerth und Kotzebue legten danach ihre Akten der Königlichen Kammer in Hannover vor, die das genannte Gutachten in Auftrag gab. Wehner kam am 5. Januar 1790 zu dem Schluss, dass ein Offizier, auch wenn er pensioniert sei, unter dem „Militair-Justiz-Reglement“38 stehe und daher das Goh-Gericht keine Entscheidungskompetenz gehabt habe. Weil aber v. Heimbruch das Urteil habe rechtskräftig werden lassen, bleibe die Bruchstrafe bestehen und wegen des Standes des Betroffenen sei die Königliche Kriegs-Commission zur Einziehung der Geldstrafe berechtigt.

34 35 36 37 38

NLA-ST Rep. 301/9, Nr. 79, Bl. 110. NLA-ST Rep. 301/9, Nr. 79, Bl. 125. Denegatio Processus = Verweigerung des Prozesses, mithin Abweisung der Klage. NLA-ST Rep. 71 a, Nr. 292, dort auch die weiteren Zitate dieses Abschnitts. Zur Militärgerichtsbarkeit s. Drecktrah (Fn. 7), S. 71.

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5  Weitere Eingriffe in die Justizhoheit Nicht nur die vermeintlich gerichtsfreien Bauern, sondern auch die Gerichtsherren der Niedergerichtsbarkeit mussten Eingriffe in ihre Justizhoheit hinnehmen, wie die folgenden Beispiele aus dem 19. Jahrhundert zeigen. a. Im Jahr 1827 appellierte ein Pächter gegen eine Erkenntnis des Burggerichts Horneburg, das einem Patrimonialgericht entsprach, in einer Bruchsache an das Königliche Hofgericht, das diesen Antrag wegen eigener Unzuständigkeit zurückwies. Auf den Antrag des Appellanten, die zuständige „Recurs-Instanz“ zu bezeichnen, ersuchte die Regierung in Hannover am 30. April 1827 die Landdrostei in Stade um Auskunft dahingehend, ob „vormahls die Recurse gegen die Erkennt­ nisse der Patrimonial-Gerichte in Wrogen-Sachen ohne allen Unterschied an die ­Königliche Regierung gegangen“ seien. Die Stader Landdrostei erwiderte, „daß die hiesige Regierung auch in älterer Zeit die Beschwerden der Unterthanen über die von den Patrimonialgerichten dictirten Bruchstrafen als zu ihrer Cognition gehörig betrachtet“ habe.39 b. Im Jahr 1835 bestimmte das hannoversche Ministerium des Inneren, dass das Recht zur Ermäßigung polizeilicher Strafen allein durch die Königliche Landdrostei auszuüben sei. Insoweit sei es unerheblich, dass den jeweiligen Patrimonialgerichtsherren dadurch Einnahmen entgingen, weil es sich bei der Strafermäßigung um ein landesherrliches Recht handele.40 c. Im Jahr 1851 schließlich – und im Hinblick auf die vorgenannte Ermäßigung der Strafen nur folgerichtig  – wies das Ministerium des Inneren eine ­Beschwerde des Rittmeisters v. der Decken als Inhaber des Patrimonialgerichts Nieder-Ochtenhausen gegen eine Gnadenentscheidung der Landdrostei zurück, weil ihm wegen einer landesherrlichen Begnadigung die Einnahme der Geldstrafe entgangen sei.41

III Fazit Gerichtsfreiheit und Justizhoheit sind in den vergangenen Jahrhunderten nicht immer unangetastet geblieben. Bei manchen Eingriffen ging es um die behauptete Hoheit über Einnahmen, bei manchen darum, dass die vermeintlich schon erzielten Einnahmen nicht an andere Stellen abgeführt werden oder gar ganz entfallen 39 NLA-ST Rep. 80, Nr. 1113, Bl. 1–6. 40 NLA-ST Rep. 80, Nr. 1113, Bl. 7–10. 41 NLA-ST Rep. 80, Nr. 1113, Bl. 11–13.

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sollten. In der frühen Neuzeit bestimmte zudem eine fast heillose Gemengelage die Gerichtsbarkeiten.42 Der „Fall Aders/Geven“ macht des Weiteren und vor allem deutlich, dass wechselnde Herrschaftsverhältnisse die Justiz zu beeinflussen oder gar für die Durchsetzung ihrer fiskalischen Interessen in die Pflicht zu nehmen versuchten. Er zeigt darüber hinaus, wie fragil Privilegien in einer Zeit waren, die sich trotz aller bereits vorhandenen Schriftlichkeit bei Beweisführungen doch in erster Linie auf das Herkommen stützte. Wenn für die Deichverbände galt: „Alles regelt sich nach ungeschriebenem, überlieferten Gewohnheitsrecht“, dann betraf dieser Satz ebenso die übrigen Rechtsbeziehungen der damaligen Zeit, was dem Selbstverständnis der Obrigkeit zunehmend missfiel, die im Zuge der verstärkten Schriftlichkeit und letztlich „eines tendenziell alle Bereiche normierenden und bürokratisierenden Staates“43 ein festes Regelwerk aller Lebensbereiche anstrebte und zunehmend erreichte. Deutlich kommt die neue Lage in einem Schreiben der Beamten des Amtes Neuhaus von 1665 in Bezug auf die vom Kläger vorgelegten Abschriften alter ­Urkunden und Zeugnisse, eher beiläufig und wie selbstverständlich, zum Ausdruck: „Die alten Briefe können bei diesen ganz veränderten Zeiten nichts beweisen.“

42 Bernhard Heile, Die Zeit von 1733–1866, in: Festschrift zum 275jährigen Bestehen des Oberlandesgerichts Celle, hrsg. vom Präsident des Oberlandesgerichts Celle, 1986, S. 75, der von einem „Wirrwarr der Gerichtsbarkeiten“ spricht, vgl. auch Drecktrah (Fn. 7), S. 27. 43 Beide Zitate bei Fischer (Fn. 9), S. 65.

Justizskandal in Schlitz. Zum Urteil des Jenaer Schöppenstuhls vom 30. August 1788 und zum Dekret des Reichskammergerichts vom 27. September 1791 in Sachen der Stadt Schlitz gegen den Grafen zu Schlitz und dessen Amtmann Von Lothar Weyhe

In mehreren Publikationen des 18. Jahrhunderts findet sich ein Dekret des Reichskammergerichts vom 27. September des Jahres 1791 „In Sachen Burgermeister und Rath, wie auch gesammter Bürgerschaft der Stadt Schlitz wider den Grafen zu Schlitz genannt Görz, und dessen Rath Bingel“ abgedruckt;1 auch in der staatsrechtlichen Literatur der Zeit hat es Niederschlag gefunden.2 Sein Tenor hat (auszugsweise) den folgenden Wortlaut: „Sind die gebettene Pleni Appellationis Processus cum prorogatione fatalium ad duos menses erkannt, dabey dem Grafen von Schlitz, genannt Görz, seinen Rath und Amt­ mann Bingel sofort von aller Justitz=Pflege, so wohl in der Stadt als auf dem Land, zu entfernen, und die Gerichte einem dazu qualificirten Mann anzuvertrauen, bey zehen Mark Goldes anbefohlen, und gegen gedachten Grafen, weilen derselbe solches nicht so­ gleich nach der von der Juristen=Facultaet zu Jena gefällten – den 30ten August 1788 publicirten Urthel, und nach der ihm darinnen gegebenen Anleitung gethan, vielmehr 1 In: Actenstücke in Sachen der Stadt Schlitz wider den Grafen zu Schlitz gen. Görz und dessen Rath Bingel, in: Journal von und für Franken III (1791), S. 631–638, 631–635; Stats-Anzeigen, hrsg. von August Ludwig v. Schlözer, XVII (1792), S. 40–42; Abdruck der Jenaer Zweifel= und Entscheidungsgründe zur Sache Burgermeister und Rath, wie auch gesamter Bürgerschaft der Stadt Schlitz wider den Herrn Grafen zu Schlitz genannt Görz, und dessen Rath Bingel, 1792, S. 18 (mit dem Vorwort eines nicht genannten Herausgebers versehen; im Folgenden: „Urteil“); Georg Christian Friedrich Seiler (Hrsg.), Vindiciae Potestatis Camerae Imperialis Supremae Decernendi Commissiones ad Integram Causam, 1793, No. VI. 2 Karl Friedrich Häberlin, Handbuch des teutschen Staatsrechts nach dem System des Herrn Geheimen Justizrath Pütter, 2. Bd., 2. Aufl. 1797, S. 12 f.

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den Rath Bingel durch das ihm nach dem 1ten Febr. a. c. ertheilte ganz unstatthafte Ab­ solutorium und die verweigerte Annehmung der – von den Appellanten so oft wiederhol­ ten, bestens gegründeten Recusation, dem ausdrücklichen Inhalt der §§ 108 et 109 des jüngsten Reichs=Abschieds zuwider, bey seinen den Unterthanen äusserst gefährlichen Amts=Verrichtungen zu schützen, sich hat angelegen seyn lassen, der Kayserliche Fiscal seines Amts sich zu gebrauchen, nachdrucksamst erinnert, zugleich dem Consulenten des zu dem Ritterort Rhön=Werra gehörigen Buchischen Quartiers, Schäfer den Inhalt des obenerwähnten Absolutorii, als wovon dem Commissario eine Abschrift beyzulegen ist, und dabey, ob die in der Facultäts=Urthel benannte  – wegen Diebstahls unschuldig ­condemnirte Leute in die Königlich Preußische Kriegsdienste unentgeltlich, oder gegen einige Vergeltung abgegeben worden, wer letztere empfangen, auch ob, und wer sich dem angeführten Rechtsspruch gemäs für ihre Befreyung verwendet habe, worinnen die in dem Absolutorio angezeigte Abfindung bestehe, wer solche erhalten und ob sie aus Vollmacht, und mit Wissen der Damnificatorum geschehen sei, gleich nach Insinuation des Commis­ sorii auf das genaueste und nach seiner bereits in der andern Untersuchungs Sache bewie­ senen Legalitaet auf Kosten des Grafen zu untersuchen, hiermit auctoritate Caesarea aufgetragen [...].“

Mit dieser Entscheidung wird tief in die Regierungs- und Justizhoheit eines Landesherrn eingegriffen, indem ihm verboten wird, die Regierungsgewalt über seine Herrschaft weiterhin von dem von ihm eingesetzten Amtmann ausüben zu lassen. Dieses Dekret des neben dem Reichshofrat obersten Gerichts des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation3 ist, obgleich in Schlözers Stats-Anzeigen4 unter der Rubrik „Urtel“ abgedruckt, nicht ein (ein Erkenntnisverfahren abschließendes) Urteil im Sinne des heutigen deutschen Prozessrechts, sondern eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung, durch die ein bereits bestehendes Urteil nunmehr umgesetzt werden sollte.5 Rechtliche Grundlage hierfür waren die §§ 87 und 160 des Jüngsten Reichsabschieds von 1654, wonach Urteile des Reichskammer3 Einen Überblick zur Tätigkeit des Reichskammergerichts gibt Georg Schmidt-v. Rhein, Das Reichskammergericht in Wetzlar, in: NJW 1990, S. 89–94. 4 Stats-Anzeigen (Fn. 1), S. 40: „Wetzlar, RCammerGerichtl. Urtel“. Die Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, Bestand RKG, Vernichteter Bestand Reichskammergericht, Stand 2006, S. 316 f., 316, umreißen den Inhalt des Dekrets mit „Bestrafung der Verklagten“. Allerdings spricht auch die heute geltende deutsche Zivilprozessordnung bei der Durchsetzung von Ansprüchen im Wege der Zwangsvollstreckung gelegentlich davon, dass der Schuldner zu „verurteilen“ sei, so z. B. in §§ 887 Abs. 2, 890 Abs. 1 ZPO. 5 Die Ausführungsverfügung ist abgedruckt in Actenstücke (Fn. 1), S. 634 f. – Zu den Formalien des Dekrets s. Ludwig August Würffel, Neueste Anleitung zu des kaiserlichen und des heiligen Römischen Reichs höchstpreißlichen Kammergerichts Extrajudicial-Proceß, 1775, S. 17 ff. (Cap. III).

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gerichts auf Ersuchen von dessen Fiskal von den Reichskreisen zu vollstrecken waren. Bei dem im Zeitpunkt des Vollstreckungsdekrets immerhin schon drei Jahre alten Urteil vom 30. August 1788, das vollstreckt werden soll, handelt es sich um ein von dem Spruchkollegium der Juristenfakultät der Universität Jena verfasstes Urteil, an die die Sache im Wege der Aktenversendung gelangt war. Das Urteil in einem verlässlichen Wortlaut6 zu finden, ist nicht ganz einfach; nur einer der Veröffentlichungen des Vollstreckungsdekrets ist sein Tenor als Anlage bei­ gegeben,7 ansonsten findet es sich in den periodisch erscheinenden Publikationsorganen des 18. Jahrhunderts nicht. Glücklicherweise aber hat ein Angehöriger der klagenden Partei, der Bürgerschaft der Stadt Schlitz, das Urteil drucken lassen, und auf diese Weise ist es der Öffentlichkeit in seinem vollen Wortlaut zugänglich. Sein Inhalt offenbart einen veritablen Justizskandal: Das Verfahren betrifft eine Klage wegen Justizwillkür. Schauplatz des Geschehens ist die Stadt Schlitz. Schlitz (heute der Fläche nach die drittgrößte Stadt Hessens) ist eine reichsunmittelbare Herrschaft. Im Zuge der Reformation hatten die Grafen von Schlitz, die sich „Schlitz, genannt Görz“ – außerhalb amtlicher Urkunden meist „Görtz“ geschrieben – nannten, ihre Herrschaft von der reichsfürstlichen Herrschaft der Äbte von Fulda erfolgreich gelöst und waren seit 1677 Reichsfreiherren und seit 1726 Reichsgrafen.8 Das Verhältnis zwischen Grafen und Untertanen war seit jeher angespannt. Auch in anderen Territorien mit „Kleinststaatenherrschaft“9 kommt es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen Landesherren und Untertanen, die bis vor dem Reichskammergericht ausgetragen werden,10 und so ist auch die Zahl solcher Verfahren der Herrschaft Schlitz – deren Untertanen wegen der Reichsunmittelbarkeit ihres Grafen unmittelbaren Zugang zum Reichskammergericht haben11 – über Jahrzehnte hinweg ungewöhnlich hoch. Als Grund mag hinzugekommen sein, dass es von Schlitz bis Wetzlar, seit 1689 Sitz des Gerichts, nicht weit ist.   6 Die von den Mitgliedern des Jenaer Schöppenstuhls selbst vorgenommenen Veröffentlichungen enden gegen 1750; sie gaben häufig zudem nicht die Urteile im Wortlaut wieder, sondern zum Zweck der Veröffentlichung überarbeitete Fassungen, s. z. B. Max Vollert, Der Schöppenstuhl zu Jena, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde XXXVI (1929), S. 202 ff.   7 Actenstücke (Fn. 1), S. 637 f.   8 Gerhard Köbler, Historisches Lexikon der deutschen Länder, 7. Aufl. 2007, S. 633 f.   9 Bernhard Diestelkamp, Rechtsfälle aus dem alten Reich, 1995, S. 126. 10 S. dazu Friedrich Thudichum, Das vormalige Reichskammergericht, in: Zeitschrift für Deutsches Recht und Deutsche Rechtswissenschaft XX (1861), S. 148–222, 209–214; Diestelkamp (Fn. 9), S. 126 ff. 11 S. dazu Thudichum (Fn. 10), S. 211.

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Seit 1747 ist Georg von Schlitz, genannt Görz, als Nachfolger seines Vaters Johann Inhaber der Reichsgrafenwürde12 und damit „Primogeniturpossessor und kaiserlicher Kämmerer, kaiserlicher Minister am fränkischen Kreis und Erbmarschall des Hochstifts Fulda“.13 Obwohl er als ältester Sohn Inhaber der Herrschaft wird, führt Graf Georg (1724–1794) ein Leben, aufgrund dessen er von Zeitgenossen und Nachwelt für weniger bedeutsam gehalten wird als seine jüngeren Brüder, von denen Johann Eustach (1737–1821) 1762 Prinzenerzieher in Weimar mit persönlichem Umgang mit Goethe und ab 1779 Diplomat in preußischen Diensten ist und Karl Friedrich Adam als Offizier, davon ab 1771 in preußischen Diensten mit unmittelbarem Zugang zum König, Karriere macht.14 Graf Georg ist selten vor Ort; die Regierungsgeschäfte führt ein Amtmann. Die Übernahme der Herrschaft fällt in eine ungünstige Zeit. Zwar gelingt es dem Grafen im Jahr 1754, alle zu dieser Zeit offenen Streitigkeiten mit der Stadt durch einen vor dem Reichskammergericht geschlossenen Generalvergleich zu beenden,15 es fallen dafür aber erhebliche Kosten an. Sie verschlimmern das schwerere Übel, das auf der Herrschaft Schlitz lastet, die völlige Überschuldung. Sie führt dazu, dass der Graf vor dem Reichskammergericht in Anspruch genommen und 1767 eine kaiserliche Debitkommission eingerichtet wird,16 die Einnahmen der Herrschaft Schlitz finanziell also gleichsam unter eine Zwangsverwaltung gestellt werden.17 12 Da er erst 23 Jahre alt ist und die Ausübung der Reichsgrafschaft ein Alter von 25 Jahren voraussetzt ( Johann Jacob Moser, Persönliches Staats-Recht derer Teutschen ReichsStände, 1. Teil, 1775, S. 589), bedarf es dazu einer venia aetatis des Reichshofrats, die am 6. Oktober 1747 erteilt wird: Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, Bestand B 8: Urkunden der Herrschaft Schlitz, bearb. v. Friedrich Battenberg, 1979 (Stand: Aug. 2006), S. 260. 13 Battenberg (Fn. 12), S. 279. 14 Nur den Brüdern des Grafen Georg sind Einträge in der Allgemeinen Deutschen Biographie gewidmet: ADB 9 (1879), S. 393–395 (Paul Bailleu) bzw. S. 395 (E. Graf zu Lippe-Weißenfels). 15 Battenberg (Fn. 12), S. 266. 16 Akten verzeichnet in: Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, Abteilung F 23 A, Kaiserliche Debitkommission 1767–1789, bearb. v. Helmut Klingelhöfer, 1978; ausführlich zum Verfahren vor dem Reichskammergericht in reichsständischen Schuldensachen: Johann Jacob Moser, Von dem Reichs-Ständischen Schuldenwesen, 1774, S. 659– 865. Von derartigen Verfahren können die gegenwärtigen Gläubiger Griechenlands – und vielleicht auch die Griechen selbst – nur träumen, s. dazu, unter Hinweis auf die Schlitzer Debit-Kommission, Wolfgang Burgdorf, Wege aus der Finanzkrise. Am Schuldenwesen kann man genesen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.02.2011, Feuilleton. 17 Zahlreiche Verfahren dieser Art nebst Wiedergabe der reichskammergerichtlichen Entscheidungen behandelt Johann Jacob Moser, Von dem Reichs-Ständischen Schuldenwesen, 2. Theil, 1775, passim.

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Die Debitkommission ist noch tätig, als 1777 ein neuer Amtmann seinen Dienst antritt:18 Heinrich Gottfried Bingel. Soviel sich über Bingel ermitteln lässt, stammt er – was eine eigenartige Koinzidenz ist in Anbetracht des Umstandes, dass sein Verhalten den Anlass für einen Prozess vor dem Reichskammergericht bilden wird – aus dem Kreis Wetzlar, in dessen Gemeinden über mehrere Generationen hinweg eine Vielzahl Verwandter von ihm Pastorenstellen einnimmt.19 Sein Vater Reinhard Gottfried Bingel (1749–1780) übt das Amt des Pastors von Kröffelbach aus, in das ihm (in bereits dritter Generation) 1780 sein Sohn Wilhelm Christian folgt,20 den  – wie die ­Kröffelbachsche Chronik vermeldet – Bingel 1790 anlässlich einer Kindstaufe b­ esucht.21 Bingel selbst studiert die Rechte.22 Nach seinem Amtsantritt erwirbt er rasch das Vertrauen seines Grafen, und das im Grundsatz wohl zu Recht: Er l­ aviert zwischen den Interessen der Landesherrschaft und der kaiserlichen Debitkommission, mit der er es als inzwischen dritter Amtmann zu tun bekommt, und das mit einigem Erfolg; denn die Kommission stellt 1789 ihre Arbeit faktisch ein, ohne dass das Verfahren zu einem förmlichen Abschluss gebracht worden wäre.23 Und wenn denn auch der Prozess, über den hier berichtet werden soll, dazu führen wird, dass ein Bürger Schlitz’ 1792 davon spricht, dass Stadt und Land Schlitz unter Bingels „Drucke [...] beinahe 14 Jahre lang geseufzet“ hätten, 24 und die Akten vermelden, er sei „wegen Unbrauchbarkeit und Dienst-Vergehen“ bzw. ­„Ignoranz“ aus seinem Amt entfernt worden,25 so scheint er doch ein tüchtiger Mann gewesen zu sein; Johann Stephan Pütter, der ihm einmal kurz begegnet, lobt 1798 „seine Rechtschaffenheit und Klugheit“.26 Heimatkundliche Forschun18 Klingelhöfer (Fn. 16), S. II; Volker Puthz, Brandschutz mal ganz anders, in: Schlitzer Bote, Beilage zur Fuldaer Zeitung vom 13.12.2011. 19 S. die Nachweise bei Friedrich Kilian Abicht, Der Kreis Wetzlar historisch, statistisch und topographisch dargestellt, 3. Theil, 1837, S. 427, 436, 440, 441 f., 442, 446, 448, 449, 461 (insbesondere Oberwetz, Kröffelbach und Burgsolms; offenbar heiraten sogar die Töchter der Familie in Pastorenfamilien ein, s. ebda.  S.  454); Hessische Familienkunde  VI (1962/63), Sp. 93–95 (Bingel). 20 S. Abicht (Fn. 19), S. 442. 21 Dorfgemeinschaft Kröffelbach (Hrsg.), Kröffelbach 1300–2000. Aus der Geschichte eines Dorfes im Solmser Land, Chronik unter 1790. 22 S. Urteil (Fn. 1), S. 11. 23 Klingelhöfer (Fn. 16), S. II f. 24 Urteil (Fn. 1), Vorwort des Herausgebers, S. 4. 25 Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt (Fn. 4), S. 316 bzw. 965. 26 Johann Stephan Pütter, Selbstbiographie, 1. Band, Göttingen 1798, S. 723; die Selbstbiographie gilt indessen als „schon von Senilität“ gezeichnet, so Kleinheyer, Art. „Johann Stephan Pütter“, in: Gerd Kleinheyer/Jan Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhun-

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gen zeigen, dass er sein Amt gegenüber der Bürgerschaft von Schlitz im Allgemeinen zuverlässig und unauffällig ausgeübt hat. So führt ihm etwa am 6. September 1783 der Torwächter einen Zwiebelhändler zu, der auf dem Schlitzer Jahrmarkt versucht hat, Zwiebeln mit auswärtigen Gewichten abzuwiegen, sich den Anordnungen des Torwächters widersetzte und sich schließlich damit verteidigte, er habe nicht gewusst, dass die von ihm benutzten Lauterbacher Gewichte mit den in Schlitz verwendeten nicht gleich seien. Bingel macht dem Händler den in Marktsachen üblichen kurzen Prozess und verordnet, dass „derselbe für diesesmal dieses Versehens halber in 30 Kreuzer Strafe condemnirt und schuldig erkannt“ werde, „an den Torwächter […] für FangGeld 20 Kreuzer abzugeben“;27 1784 wird er erneut in einer kleineren Strafsache, betreffend das Unterlassen der Anzeige eines Wein-Importes nach Schlitz, tätig.28 Aber an Bingel wie auch an seinen Vorgängern rieben sich die Bürger von Schlitz, die auch nach dem Generalvergleich von 1754 nicht davon abließen, Streit mit ihrer Obrigkeit zu suchen, für die dann jeweils der Amtmann einstand.29 Zum Eklat kommt es zu Beginn des Jahres 1783, als ein Vorgehen Bingels von der Bürgerschaft als höchst ungerecht empfunden wird und Bürgermeister und Bürgerschaft der Stadt Schlitz wieder einmal veranlasst, ihre Obrigkeit  – den Amtmann und den Grafen – vor dem Reichskammergericht zu verklagen. Und diesmal richtet sich der Zorn in erster Linie gegen die Person des Amtmanns, denn der Graf selbst weilt in den Niederlanden30 und bekommt von der ganzen Angelegenheit nur das mit, was Bingel ihm mitteilt.31 Aus den Gründen des Urteils von 1788, die den Vorgang leider nicht zusammenhängend schildern, lässt sich folgender Geschehensablauf erschließen: Am 2. Januar 1783 erscheint eine unbekannte und unbekannt bleibende Person bei dem Justizamtmann Bingel und zeigt an, dass bei dem Oberförster Hickmann im zur Herrschaft Schlitz gehörenden Rimbach eingebrochen worden sei. Die Tür eines Raumes sei erbrochen worden, eine Magd, die sich zu diesem Zeit-

27 28 29

30 31

derten, 3. Aufl., 1989, S. 219–222, 219; zu Pütter s. auch Dietmar Willoweit, Pütter Johann Stephan, in: HRG, 1. Aufl. Bd. 4 (1990), Sp. 114 ff. Schlitzer Bote, Beilage zur Fuldaer Zeitung vom 20.02.2009. Schlitzer Bote, Beilage zur Fuldaer Zeitung vom 18.03.2009. Grotesk ein Verfahren, über das berichtet wird in Schlitzer Bote, Beilage zur Fuldaer Zeitung vom 20.03.2009 und vom 31.03.2009: Seit 1786 prozessiert die Herrschaft, vertreten durch Bingel, gegen den Amtsschultheiß Weber, weil dieser beim Neubau seines Hauses eine steinerne Treppe auf öffentlichen Grund gesetzt habe. Der Streit überdauert das Leben von Graf Georg und die Amtszeit Bingels und geht bis 1803; die Treppe soll heute noch in Schlitz zu sehen sein. Urteil (Fn. 1), S. 8. Urteil (Fn. 1), Vorwort des Herausgebers, S. 4.

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punkt in dem Raum aufgehalten habe, sei bedroht worden und dadurch „in epi­ leptische Zufälle“ versetzt worden. Ob etwas entwendet worden ist, wird nicht gesagt. Kriminalfälle dieser Art sind in Schlitz selten; Jahre zuvor hatte es einmal einen gegeben, dessen Untersuchung, so Bingel, dem Grafen angeblich 1200 Gulden an Kosten verursacht und ihn schwer verärgert habe.32 Bingel selbst hält, wie er im Laufe des gegen ihn gerichteten Prozesses freimütig einräumt, von der Durchführung förmlicher kriminalprozessualer Untersuchungen ohnehin nichts: Für ihn sind sie gekennzeichnet durch „Advokatenstreiche“,33 und Überlegungen zur Anwendung der die Untersuchung regelnden Normen der Constitutio Criminalis Carolina, der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (CCC), sind ihm „Spitzfindigkeiten des peinlichen Prozesses“ und „scholastische Grillen“.34 Bingel nimmt daher weder Angaben zur Person des Anzeigeerstatters auf noch begibt er sich an den Tatort. Zu einem nicht genannten Zeitpunkt kurz nach der Anzeige wird zunächst ein seiner Mutter entlaufener Junge mit Namen Gutperl in Gewahrsam genommen, ein (so das übereinstimmende Urteil aller Beteiligten einschließlich des Amtmanns selbst) „dummer, mit Epilepsie behafteter, […] seinem […] eigenen Bekenntniß nach diebischer Junge“,35 den selbst Bingel für einen „nicht witzigen“, andere sogar für „einfältigen“ Burschen halten.36 Dieser sagt aus, er sei am Abend der Tat auf der Straße den Einwohnern Johann Valentin Vollgraf (manchmal auch Vollgraff oder Vollgrav geschrieben) und Andreas Eigenbrod begegnet. Sie hätten geschwärzte Gesichter gehabt und ihn eingeladen, mit ihnen zusammen bei Hickmann einzubrechen. Er sei mitgegangen, bei dem Einbruch aber draußen geblieben, von wo aus er das weitere Geschehen habe beobachten können. Es seien Würste gestohlen worden, Vollgraf und Eigenbrod hätten ihm davon aber nichts abgegeben. Obwohl beide bisher noch nie wegen Straftaten angezeigt worden sind, lässt Bingel Eigenbrod und Vollgraf sofort festnehmen und in das Schlitz’sche Gefängnis bringen; ist er doch der Auffassung, dass, wenn auf bloße, auch unglaubhafte Denunziationen hin Beschuldigte nicht in Haft genommen werden dürften, „man die Diebe ganz frei herum laufen lassen müste“.37 Die Beschuldigten beteuern ihre Unschuld. Im Gefängnis werden sie geschlagen, Vollgraf erhält 50 Schläge, Eigenbrod eine nicht genannte Anzahl Schläge. Daraufhin sagt Eigenbrod zwar nichts Konkretes zum Tatgeschehen, benennt aber Johann Heinrich Eichenauer und den erst 19 Jahre alten Johann Heinrich Schien32 33 34 35 36 37

Urteil (Fn. 1), S. 5. Urteil (Fn. 1), S. 5. Urteil (Fn. 1), S. 6. Urteil (Fn. 1), S. 6 Urteil (Fn. 1), S. 10. Urteil (Fn. 1), S. 7.

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bein als Mittäter. Später befragt, ob auch Johann Peter Oberhack dabei gewesen sei, benennt er auch diesen. Alle drei Personen lässt Bingel sofort ins Gefängnis setzen. Auch sie waren dem Amtmann bisher niemals wegen Straftaten angezeigt worden, nur von Schienbein heißt es, dass er einmal seinem Vater Gänse gestohlen habe. Alle bestreiten zunächst, etwas von dem Einbruch zu wissen. Oberhack erhält 75 Schläge, beteuert aber weiterhin seine Unschuld. Der kränkliche Eichenauer und der noch jugendliche Schienbein werden in ungeheizten Räumen des Gefängnisses untergebracht und dort festgehalten, bis – es ist Januar – ein Chirurgus Erfrierungen an ihren Füßen feststellt; Schienbein erhält zudem 50 Schläge „mit dem Ochsenziemer“. Daraufhin geben Eichenauer und Schienbein an, den Einbruch verübt zu haben. Zum Tatgeschehen im Einzelnen machen sie unkonkrete, einander widersprechende Angaben. Die einzige konkrete Angabe kommt von Eichenauer, der sagt, Hickmanns Hund habe ihn angefallen, aber da er das Tier gekannt habe, habe er ihn begütigen können. Angehörige der Beschuldigten erscheinen bei dem Amtmann und bieten an, einen Verteidiger – Defensor – zu stellen. Das lehnt Bingel energisch ab. Den Oberförster Hickmann oder die Magd vernimmt Bingel nicht, er nimmt auch den angeblichen Tatort nicht in Augenschein. Bis zum Schluss gibt es dafür, dass es überhaupt zu einem Einbruch bei Hickmann gekommen ist, keine weiteren Anzeichen als die Anzeige der nicht genannten und auch in den Akten nicht namentlich registrierten Person und die Aussagen von Gutperl, Eigenbrod, Eichenauer und Schienbein. Die letzte Vernehmung erfolgt am 14. Februar, und Bingel erstattet dem Grafen Bericht. Inzwischen verbreitet sich wegen dieses Geschehens Unruhe unter der Bürgerschaft von Schlitz; Bingel befürchtet einen Auflauf mit dem Ziel, die Gefangenen zu befreien. Ohne ein Urteil zu fällen oder das Verfahren durch eine förmliche Entscheidung zu beenden, lässt er Gutperl laufen und übergibt die übrigen Beschuldigten – Eigenbrod, Vollgraf, Oberhack, Eichenauer und Schienbein – einem preußischen Offizier, der als Werber Soldaten für preußische Kriegsdienste sucht. Als dieser den Sachverhalt erfährt und von den Angehörigen der Beschuldigten bedrängt wird, bietet er an, mit der Übernahme der Beschuldigten zu warten, bis für diese ein Defensor bestellt sei. Dies lehnt Bingel brüsk ab mit dem Bemerken, die peinliche Gerichtsbarkeit in Schlitz stehe dem Reichsgrafen zu und nicht einem preußischen Offizier. Daraufhin werden die Beschuldigten in preußische Kriegsdienste genommen. Die ersichtlich kranke und von dem Geschehen schwer mitgenommene Ehefrau Eichenauers stirbt acht Tage später. Durch dieses Geschehen aufgewühlt, erheben Bürgermeister und Bürgerschaft der Stadt Schlitz wegen des Vorfalls zum Reichskammergericht Klage gegen ihren Grafen und dessen Amtmann auf Nichtigerklärung des Verfahrens, Restitution und Bestrafung des Amtmanns. Das Gericht nimmt die Klage an und lässt die

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Beklagten  – Querelaten  – replizieren. Der Graf nimmt offenbar weitgehend Bezug auf das Vorbringen Bingels, und dieser lässt eine Reihe von Rechtsgründen zur Rechtfertigung seines Verhaltens vorbringen. Der Sachverhalt selbst ist unstreitig, lediglich in der Verteidigung der Beklagten finden sich unterschiedliche Angaben dazu, welchen Inhalt der Bericht von Bingel an den Grafen gehabt hat und ob dieser Bingel daraufhin instruiert hat. Dennoch füllen Klagevorbringen, Erwiderungen, die Berichte einer zur Untersuchung eingesetzten Kommission sowie die beigezogenen Akten des von Bingel geführten Strafverfahrens schließlich vier Bände Akten. Das Reichskammergericht fertigt sodann nicht selbst ein Urteil, sondern es gibt die Akten im Wege der Aktenversendung an das Spruchkollegium der Juristenfakultät der Universität Jena mit der Bitte um Abfassung eines Urteils.38 Dass auch das Reichskammergericht die Herbeiführung eines Urteils im Wege der Aktenversendung an eine Juristenfakultät praktizierte, wurde schon seit jeher als gewohnheitsrechtlich zulässig angesehen, bis in §  16 des Reichsdeputationsschlusses von 1600 hierfür eine gesonderte Rechtsgrundlage geschaffen wurde; hier war die Aktenversendung aber auch deshalb zulässig, weil das ihm zugrunde liegende Verfahren ein Verfahren auf eine Strafklage war und die Peinliche Gerichtsordnung von 1532 in Art. 219 für Strafverfahren die Aktenversendung ausdrücklich und sogar als Regelfall vorsah. Das Spruchkollegium der Universität Jena, das die Akten erhielt, führte, soweit es nicht als juristische Fakultät für den akademischen Gebrauch Rechtsgutachten erteilte, sondern auf übersandte Akten Urteile fertigte, die Bezeichnung Schöppenstuhl. Ihm gehörten, allerdings aufgrund erst gesonderter Ernennung durch den Landesherrn,39 die ordentlichen Angehörigen der juristischen Lehrstühle der Universität Jena an, Vorsitzender – Ordinarius – war regelmäßig der jeweils dienstälteste Inhaber einer ordentlichen Professur.40 Der Schöppenstuhl ist außerordentlich produktiv, seine Tätigkeit umfasst alle Rechtsbereiche des Privatrechts, des Staatsrechts und des Strafrechts; sogar in seehandelsrechtlichen Sachen werden Urteile erstellt, obwohl das Seehandelsrecht, wie schon seit jeher, so auch im 18. Jahrhundert eine Materie ist, die fast ausschließlich von Juristen gepflegt 38 Zum System der Urteilsfindung durch Aktenversendung an Juristenfakultäten s. Peter Oestmann, Aktenversendung, in: HRG, Bd. I, 2. Aufl. 2008, Sp. 128–132 m. w. N.; ferner Gerhard Köbler, Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte, 1997, S. 13. 39 Vollert (Fn. 6), S. 191. So gehörte kurz vor der Zeit, in der der Schöppenstuhl das hier behandelte Urteil fällte, der Staats- und Völkerrechtler Heinrich Gottfried Scheidemantel zwar der Juristischen Fakultät an, nicht aber dem Schöppenstuhl, weil dieser sich einer Ernennung Scheidemantels widersetzt, s. Angela Kriebisch, Die Spruchkörper Juristenfakultät und Schöppenstuhl zu Jena, 2008, S. 246. 40 Vollert (Fn. 6), S. 190 f.

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wird, die den seefahrenden Nationen angehören.41 In Strafsachen war ausschließlich der Ordinarius als Berichterstatter tätig,42 so dass er auch diese Sache übernimmt; sie gehört ihrer Art nach zu den typologisch nicht gesondert erfassbaren Verfahren vor dem Jenaer Schöppenstuhl.43 In der Zeit von 1783 bis 1789 ist Ordinarius – ausnahmsweise aufgrund besonderer Ernennung, da er nicht dienstältester Professor, sondern soeben erst an die Universität Jena berufen worden ist – Johann Ludwig Eckardt,44 neben ihm gehören die Professoren K.  F.  Walch,45 J. L. Schmidt, v. Schellwitz, Reichardt und Schnaubert dem Schöppenstuhl an.46 Das Urteil des Jenaer Schöppenstuhls wird vom Reichskammergericht am 30. August 1788 publiziert – in öffentlicher Audienz verkündet – und den Parteien zugestellt. Die Urteilsgründe beschäftigen sich, da der Schöppenstuhl die Klage als evident begründet ansieht, im Wesentlichen mit den Einwänden der Beklagten: Das Urteil referiert unter „Zweifels= und Entscheidungsgründe“ zunächst die Verteidigungspunkte aus der Replik der Beklagten, also im Wesentlichen die von Bingel vorgebrachten rechtlichen Einwände,47 gibt eine recht knappe Begründung des Urteilsausspruchs,48 setzt sich dann mit den vorgebrachten Verteidigungspunkten auseinander49 und endet in dem mit „Urtel“ überschriebenen und mit „Ordinarius, Decanus, Senior, und andere Doctores der Juristenfakultät in der Universität Jena“ unterschriebenen Tenor.50 Er lautet:

41 Vollert (Fn. 6), S. 215; s. dazu Götz Landwehr, Prinzipien der gemeinschaftlichen Kostenund Schadenstragung im Seerecht und außergewöhnliche Formen der Haverei im 18. Jahrhundert, in: Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, hrsg. von Peter Selmer/Ingo v. Münch, S. 619–636, insbes. S. 624 ff. sowie die Nachweise S. 619 in Anm. 1, S. 622 in Anm. 21, S. 624 in Anm. 33 und 34, S. 628 in Anm. 46. 42 Vollert (Fn. 6), S. 191. 43 Vgl. Kriebisch (Fn. 39), S. 257 f. 44 Kriebisch (Fn. 39), S. 245 f. Zu Eckard (1732–1800) s. Steffenhagen, Art. Johann Ludwig Eckardt, in: ADB V (1877), S. 608; er ist in seiner akademischen Laufbahn außer durch Veröffentlichung eines Werks zur Juristenausbildung (Compendium Artis Relatoriae in Usum Auditorum Concinnatum, 1785) nicht besonders hervorgetreten. 45 Er ist, berufen schon 1759, der dienstälteste ordentliche Inhaber eines juristischen Lehrstuhls in Jena und wird deshalb von Vollert (Fn. 6), S. 197, versehentlich als Ordinarius benannt. Und tatsächlich ist Walch gegenüber Eckard der sicherlich bedeutsamere Gelehrte; zu Walch s. Ernst Landsberg, Art.  Karl Friedrich Walch, in: ADB  XL (1896), S. 656. 46 Kriebisch (Fn. 39), S. 246. 47 Urteil (Fn. 1), S. 5–9. 48 Urteil (Fn. 1), S. 9–11. 49 Urteil (Fn. 1), S. 11–17. 50 Urteil (Fn. 1), S. 17 f.; dieser ist auch veröffentlicht in Actenstücke (Fn. 1), S. 637 f.

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„Als uns die wider Johann Henrich Schienbein, Johann Henrich Eichenauer, Johann Peter Oberhack, und Johann Valentin Vollgraf aus Rimbach puncto beschuldigter Diebe­ rei von dem gräflich Görzischen Amte zu Schlitz ergangene Inquisitiones, wie auch die für einer zur Untersuchung dieses Amts=Verfahrens irgends angeordneten Kommission zwi­ schen der Inquisiten nächsten Verwanden Johann Heinrich Schienbein und Konsorten Querulanten an einem = und dem Hochgräflichen Justitiario Herrn Rath und Amt­ mann Bingel zu Schlitz Querulatem andern Theil puncto nullitatum verhandelten Kom­ missions=Akten zusammen an vier Stücken nebst einer Frage zugeschickt, und darüber unser rechtliches Erkenntnis gebeten worden; demnach sprechen wir für Recht: daraus soviel zu befinden, dass das amtliche Verfahren gegen obgenannte vier Inquisiten null und nichtig, und daher dasselbe zu kassiren, und aufzuheben, auch Querulat sotane Inquisi­ ten aus den königlich Preussischen Kriegsdiensten wieder frei zu machen, ihnen eine schriftliche Ehren=Erklärung zu thun, und alle erlittene Schäden und Kosten zu erstat­ ten, weniger nicht die sämtlichen Kommissionskosten zu tragen schuldig. Und wird der­ selbe hierüber noch wegen seines tumultuarischen und durchaus rechtswidrigen Verfah­ ren, auch Missbrauchs der obrigkeitlichen Gewalt nicht unbillig mit ein hundert Reichsthaler zu Strafe genommen, und bleibt darneben des Herrn Grafen Exzellenz un­ benommen, durch Querulats Entlassung, oder auf sonstige schickliche Weise die Untert­ hanen gegen mehrere dergleichen barbarische Verhandlungen in erforderliche Sicherheit zu setzen. V. R. W.“

Der Schöppenstuhl hat – offenbar bedingt durch die erstaunlich hohe Zahl an zu treffenden Entscheidungen, die er bewältigt51 – in der Entscheidung der ihm zugesandten Sachen nicht immer eine glückliche Hand.52 Das deutet sich auch in dem hier behandelten Fall an, denn einem souveränen Umgang mit den Problemen des Falles steht eine etwas nachlässige Behandlung der Formalien gegenüber. Die eigentlichen Kläger kommen in den Urteilsgründen faktisch nicht vor, und auch bei der Angabe der von dem Verfahren in Schlitz betroffenen Personen kommt es zu der Unstimmigkeit, dass deren im Tenor nur vier genannt werden, obwohl es, wie die Gründe eindeutig ergeben, fünf waren: Eigenbrod fehlt eigenartigerweise. Die Urteilsgründe lassen es allerdings als möglich erscheinen, dass er tatsächlich an einem Diebstahl beteiligt war, denn bei der Aufzählung der Beschuldigten, deren Unschuld durch spätere Vernehmungen definitiv festgestellt werden konnte, fehlt sein Name.53 In dem Urteil wird insoweit zwar ausdrücklich ausgeführt, dass die grob fehlerhafte Führung des Verfahrens durch den Richter 51 S. dazu Kriebisch (Fn. 39), S. 238 ff.; Vollert (Fn. 6), S. 198 f. 52 Vollert (Fn. 6), S. 215 f. 53 Urteil (Fn. 1), S. 11.

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auch dann eine zu Wiedergutmachung und Strafe führende Verfehlung bildet, wenn der in dem fehlerhaften Verfahren verfolgte Vorwurf der Sache nach begründet war,54 doch wird dem hinzugesetzt, dass „dergleichen Behandlungen auf den Fall, da sich nachher noch die Schuldbarkeit desjenigen, welcher widerrechtlich behandelt worden, veroffenbaret, nicht scharf geahndet zu werden pflegen“. 55 Auf der Passivseite spricht das Urteil stets vom „Querelat“ (manchmal „Querulat“) im ­Singular, während die Klage sich gegen Graf und Amtmann gerichtet hat; und so, dass beide verurteilt sein sollen, ist das Urteil auch durchgängig verstanden worden, auch wenn zunächst der Amtmann es ist, der handeln soll. Dennoch hat das Reichskammergericht 1791 keine Bedenken gehabt, mit dem Vollstreckungs­ dekret auf Grundlage des Urteils gegen den Grafen – in dessen Eigenschaft als Landesherr – vorzugehen. Die rechtliche Durchdringung des Falles durch den Schöppenstuhl erscheint zunächst nicht tief gehend. An die – von ihm in anderem Zusammenhang angeführte – Spezialregelung des Art. 20 Abs. 1 Satz 2 CCC56 knüpft der Schöppenstuhl als Anspruchsgrundlage nicht an. Es ist vielmehr letztlich nur eine Norm, auf die es seine Verurteilung in rechtlicher Hinsicht stützt. Sie entstammt dem gemeinen Recht und ist dokumentiert in zwei Stellen des Corpus Juris Civilis – Dig. 50.13.6 und Inst. 4.5.pr. –, die inhaltlich fast identisch sind.57 In der Fassung der Digesten lautet die Stelle: „Si iudex litem suam fecerit, non proprie ex maleficio obligatus videtur: sed quia neque ex contractu obligatus est et utique peccasse aliquid intellegitur, licet per imprudentiam, ideo videtur quasi ex maleficio teneri in factum actione, et in quantum de ea re aequum reli­ gioni iudicantis visum fuerit, poenam sustinebit.“ 58 54 Urteil (Fn. 1), S. 9 f. 55 Urteil (Fn. 1), S. 10. Vielleicht hatte die Bürgerschaft ihre Klage auf die Verletzung von Rechten Eigenbrods nicht gestützt; Urteil (Fn. 1), Vorwort des Herausgebers, S. 4, wird des Schicksals Eigenbrods nach seiner Verurteilung aber ausdrücklich gedacht. 56 „Wo auch eyniche oberkeyt oder richter [...], die dem so [...] wider recht, on die bewisen anzeygung, gemartert wer, seiner schmach schmertzen, kosten und schaden, der gebüre ergetzung zuthun schuldig sein.“ 57 Beide beruhen auf einem Fragment aus dem 3. Buch der Res cottidianae des Gaius. 58 Übersetzung: „Wenn der Richter den Rechtsstreit nach eigenem Gutdünken geführt hat, ist er nicht eigentlich als aus einem Vergehen verpflichtet anzusehen; aber weil er auch nicht aus einem Vertrag verpflichtet ist und doch jedenfalls klar ist, dass er, und sei es aus fehlender Kenntnis, eine Verfehlung begangen hat, so wird die Sache so gesehen, dass er mit der Spezialklage (nur) gleichsam wegen eines Vergehens in Anspruch genommen wird, und er unterliegt einer Strafe, wie sie in dieser Sache dem Erwägen des Urteilenden angemessen erschienen sein wird.“

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Daraus, so der Schöppenstuhl, ergebe sich, dass schon ein in Zivilsachen tätiger Richter, der wegen verkehrten und ungerechten Verfahrens einen Schaden verursache oder jemanden rechts- und ordnungswidrig behandle, für den angerichteten Schaden einzustehen habe, gleichgültig ob er den Schaden vorsätzlich, durch Unvorsichtigkeit oder durch Unverstand verursacht habe; außerdem sei der Richter je nach Beschaffenheit seines Vergehens – also danach, ob er aus bösen Absichten, aus Fahrlässigkeit oder aus Unverstand gesetzwidrig verfahren sei und welchen Schaden er verursacht habe – zu bestrafen. Alles dies müsse im Hinblick auf die Regelung der CCC in den Artt. 1 (Aufgaben der Gerichte), 20 (Voraussetzungen der Folter) und 61 (Lossprechung der nicht überführten Verdächtigen) erst recht für den in Strafsachen tätigen Richter gelten, weil dieser durch sein Fehlverhalten nicht nur Vermögen, sondern Ehre, Leib und Leben der Betroffenen gefährde.59 Die Voraussetzungen für die Verurteilung zu Schadensersatz und Strafe lägen hier im Hinblick auf das von dem Amtmann geführte Verfahren vor. Und nun zählt der Schöppenstuhl die Zahl der Verfehlungen Bingels auf, wobei sich zeigt, dass der Schöppenstuhl sich mit dem Sachverhalt doch intensiv befasst hat, und jetzt folgt auch eine juristisch tiefergehende Begründung; es geht um die Haftungsvoraussetzung des „Si iudex litem suam fecerit“, der Verfahrensführung nicht nach dem Gesetz, sondern nach richterlicher Willkür. Dieses Merkmal füllt der Schöppenstuhl aus, indem er die zahlreichen Verfahrensfehler umreißt. Den Schwerpunkt legt der Schöppenstuhl darauf, dass Bingel eigentlich gar keinen Strafprozess geführt habe, und hält ihm insbesondere folgende Versäumnisse vor:60 Bingel hat schon die Anzeige der behaupteten Straftat nicht ordnungsgemäß aufnehmen und von dem Anzeigeerstatter beeiden lassen, ja, nicht einmal dessen Identität hat er in den Akten festgehalten; er hat den Ort des Geschehens nicht in Augenschein genommen; er hat in Betracht kommende Zeugen – den angeblich geschädigten Oberförster Hickmann und dessen bei dem angeblichen Überfall anwesende Magd, deren Epilepsie als eine „nur intermittirend“ wirkende Erkrankung einer Vernehmung keinesfalls entgegengestanden habe – nicht gehört, er hat die Beschuldigten sogleich auf jeweils erste Denunziation und ohne 59 Urteil (Fn. 1) S. 9; Art. 1 Abs. 1 Satz 3 CCC: „Inn dem allem eyn jede oberkeyt möglichen fleiß anwenden soll / damit die peinlichen gericht zuom besten verordnet / vnd niemandt vnrecht geschehe / alßdann zuo diser grossen sachen / welche des menschen ehr / leib / leben vnd guot belangen sein / dapffer vnd wol bedachter fleiß / gehorig / darumb dann inn solcher vberfarung niemants mit rechtmessigem vortreglichem grundt seine verlassung vnnd hinlessigkeyt entschuldigen mag / sonder billich derhalb vermoge diser vnser ordnung gestrafft / des also alle oberkeyt / so peinlich gericht haben / hiemit ernstlich gewarnt sein sollen.“ 60 Urteil (Fn. 1), S. 10 ff.

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Vorliegen hinreichender Verdachtsgründe in Haft genommen und nicht allgemein, sondern sogleich zum angeblichen konkreten Tatgeschehen befragt; er hat die Aussagen Gutperls und dann die Geständnisse nicht auf ihre Übereinstimmung mit den sonst vorliegenden Tatumständen geprüft, er hat die Beschuldigten ohne Beachtung der für die Anwendung einer peinlichen Befragung geltenden Normen der CCC misshandeln lassen; er hat Verhöre und Aussagen nicht protokollieren lassen; er hat kein ordnungsgemäß besetztes Gericht zusammentreten lassen, den Beschuldigten keinen Verteidiger bestellt und schließlich kein förmliches Urteil verkündet. Bingel habe vielmehr, so der Schöppenstuhl zusammenfassend, „ohne alle rechtmäßige Veranlassung, ohne glaubhafte Denunziation, ohne […] eidliche Vernehmung des angeblich Bestohlnen, ohne Vernehmung der mit Mord be­ droht sein sollenden Magd, ohne Besichtigung der Wohnung des Bestohlnen“ zum Zweck der Überprüfung, ob überhaupt Einbruchsspuren vorhanden seien, „ohne Angabe und Visitation des Standorts, wo Gutperl gestanden, und von aussen Alles, was innerhalb des Hauses […] vorgegangen, gehört, und gesehen haben will, sondern auf bloßes höchst unwahrscheinliches Angeben eines […] nach Querelats eignem Ge­ ständnis, nicht witzigen […] Jungens, dessen Alter nicht einmal in den Akten angege­ ben ist, gegen unbescholtene Leute […] nicht nur eine peinliche Untersuchung ver­ hängt“, sondern sie auch sogleich in Haft genommen, um sie mit konkreten, ausschließlich auf den von Gutperl geschilderten Sachverhalt beschränkten Fragen zu überziehen, sie zur Herbeiführung von Geständnissen zu prügeln, Eichenauer und Schienbein „in ein z u m E r f r i r e n k a l t e s G e f ä n g n i s61 schmei­ ßen“ und ebenfalls prügeln zu lassen, ohne nach entlastenden Momenten zu forschen, ohne von den Verwandten erhobenen Einwendungen nachzugehen und ohne von Amts wegen einen Verteidiger zu bestellen. Die Folgen des Fehlverhaltens seien ganz erheblich gewesen, seien doch nicht nur die Beschuldigten in die preußischen Kriegsdienste geraten, sondern auch die Ehefrau Eichenauers kurz darauf aus Gram verstorben. An den zu Eingang des Urteils zunächst wiedergegebenen Einwänden Bingels lässt der Schöppenstuhl sodann in dessen Schlussteil nicht ein gutes Haar.62 Bemerkenswert erscheint, dass der Schöppenstuhl sich hier nicht damit begnügt, Bingel die von ihm unbeachtet gelassenen Vorschriften vorzuhalten. Obwohl, so eingangs, seine „absonderlichen vermeinten Rechtfertigungen [...] kaum einer Wi­ derlegung bedürfen“, beschränkt der Schöppenstuhl sich nicht darauf, ihnen schlicht „die allerbekanntesten Lehrsätze des Kriminalprozesses“ 63 entgegenzuset61 Hervorhebung im Original. 62 Urteil (Fn. 1), S. 11 ff. 63 Urteil (Fn. 1), S. 12.

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zen, sondern er bemüht sich, den Sinn und Zweck der jeweiligen Normen darzulegen und aufzuzeigen, wie sehr gerade der vorliegende Fall belegt, zu welchem Unrecht deren Nichtbeachtung den Amtmann geführt hat. Einige Punkte seien im Folgenden beispielhaft genannt. Die These, die Peinliche Gerichtsordnung von 1532 könne schon ihres Alters wegen keine Geltung mehr beanspruchen, weist der Schöppenstuhl zurück: Es handle sich um ein wirksam erlassenes Reichsgesetz, das überall dort fortgelte, wo es nicht durch dazu berechtigte Stände durch „besondere Landesgesetze“ ersetzt worden sei, so auch in Schlitz. Das Gesetz sei auch keinesfalls veraltet, ganz im Gegenteil: Seine Regelungen garantierten den Beschuldigten ein gerechtes Verfahren, so dass die Obrigkeit sich strikt daran zu halten habe; sei es doch – in Umkehrung der von Bingel explizit geäußerten Auffassung – „bekannter= und billigermaßen besser [...], daß Diebe so lang, bis ihnen rechtmäßiger Weiße beizukommen, frei herumlaufen, als daß wegen leichter oder unbündiger Verdachtsursachen unschuldige Personen den Mishandlungen eines sich über die Gesetze hinaussetzenden unvorsichtigen und grausamen Richters blosgestel­ let werden“.64 Auch Bingels Einwand, die Verfahrensvorschriften der CCC regelten nur die Voraussetzungen, unter denen Verdächtige gefoltert werden dürften, nicht die Voraussetzungen strafrechtlicher Ermittlungsschritte überhaupt, lässt der Schöppenstuhl nicht gelten, und in der Widerlegung dieser Auffassung gelangt der Schöppenstuhl zu einem klaren Bekenntnis zur Unschuldsvermutung: Die Artt. 6 und 20 CCC regelten vordergründig zwar nur, unter welchen Voraussetzungen zur peinlichen Befragung geschritten werden dürfe, indessen sei es doch „schon der gesunden Vernunft gemäß“,65 dass die darin aufgestellten Kriterien auch erfüllt sein müssten, bevor ein Beschuldigter überhaupt in Haft genommen werden dürfe. Dafür reiche es eben nicht, dass eine von den Untersuchungsbeamten nicht überprüfte Beschuldigung erhoben werde. Die „glaubwirdige anzey­ gung“, der es nach Art. 6 CCC bedürfe, sei erst gegeben, wenn eine Strafanzeige aufgenommen, ordnungsgemäß protokolliert und der Anzeigeerstatter vereidigt worden sei, und da der Richter nach der genannten Norm „sich erkundigen, vnd fleissig nachfragens haben“ müsse, „ob die missethat darum der angenommen berüch­ tiget vnnd verdacht, auch beschehen sei oder nit“, seien vor der Inhaftierung und Befragung des Beschuldigten zunächst der Ort des Geschehens vom Richter selbst in Augenschein zu nehmen und etwaige Zeugen zu befragen. Das entspreche all64 Urteil (Fn. 1), S. 14 f. 65 Urteil (Fn. 1), S. 12; die Berufung auf Gründe des Vernunft- oder Naturrechts in den vom Jenaer Schöppenstuhl zu entscheidenden Sachen folgt einer in den Verfahren des ausgehenden 18. Jahrhunderts dort auch in den Eingaben der Parteien auszumachenden allgemeinen Tendenz: Kriebisch (Fn. 39), S. 262–267.

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gemeiner Auffassung der Strafrechtsliteratur. Diese, der Ermittlung gegen einen konkreten Beschuldigten vorausgehende Generalinquisition (in deren Rahmen, so Art. 25 CCC, zu prüfen war, wo und unter welchen Umständen die Tat begangen worden war, wer sich in der Nähe dieses Ortes aufgehalten hatte, welchen Leumund etwa als tatverdächtig in Betracht kommende Personen hatten, ob sie von anderen der Tat beschuldigt wurden, ob diese Beschuldigungen glaubhaft und die Zeugen glaubwürdig seien) sei auch keineswegs ein bloßer Formalismus; denn würde ein Tatverdächtiger zu frühzeitig inhaftiert und ihm die Tat in einem Verhör vorgeworfen, seien „Suggestionen unvermeidlich“, der Beschuldigte sei gar nicht in der Lage, sich über Möglichkeiten zu seiner Verteidigung klar zu werden, und die Untersuchungsbeamten ihrerseits sähen sich nicht mehr veranlasst, weiteren Anhaltspunkten zu Tatgeschehen und Täterschaft nachzugehen.66 Die Konfrontation der Beschuldigten mit einem Tatgeschehen, das ihnen in seinem konkreten Ablauf als gegeben vorgelegt werde, widerstreite der rechtlichen Anordnung in Artt. 47 und 56 CCC, wonach selbst ein Beschuldigter, der – aus Furcht vor Folter oder Verunsicherung – zu einem Geständnis geneigt erscheint, zunächst angehalten werden soll, von sich aus zu erzählen, was er getan habe.67 Deswegen sei das „von glaubhaften Umständen nicht unterstützte Geständniß eines Inquisiten“ kein Beweismittel68 und dürfe die Beschuldigung von angeblichen Mittätern durch einen Beschuldigten nur dann dazu führen, auch diese als Beschuldigte zu befragen und zu inhaftieren, wenn die Aussage des Gestehenden den vorgenannten Voraussetzungen genüge und sie ihrerseits zur Grundlage gemacht worden sei, weitere, außerhalb der beschuldigenden Aussage liegende Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Beschuldigung zu suchen. Auch das regle Art. 31 CCC seinem Wortlaut nach zwar wieder nur für die Voraussetzungen der Folter, aber eine solche Überprüfung sei schon „nach der gesunden Vernunft und den be­ kanntesten Rechtsgrundsätzen, zur Entkräftung der, für Jeden, der Regel nach, statt findenden guten Vermuthung [...] schon an sich nothwendig“.69 Höchst verwerflich sei es vor diesem Hintergrund, dass Bingel die Beschuldigten misshandelt habe, wozu der Schöppenstuhl auch die Unterbringung in dem eiskalten Gefängnis zählt. Bingels Einwand, dass Gefängnisse „einmal so seyen“ und unbequeme Gefängnisse die Bereitwilligkeit, ein Geständnis abzulegen, erhöhten,70 findet kein Verständnis: Gefängnisse, so Art.  11 CCC wie auch das gemeine Recht  – 66 67 68 69 70

Urteil (Fn. 1), S. 12 f. Urteil (Fn. 1), S. 15. Urteil (Fn. 1), S. 15 Urteil (Fn. 1), S. 14. Urteil (Fn. 1), S. 7.

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Cod. 9.4.1 (Constantius a. 320) –, seien ausschließlich dazu da, Tatverdächtige oder verurteilte Täter zu verwahren, und nicht dazu, ihnen über die Verwahrung hinaus Unbill oder gar Gesundheitsschäden zuzufügen.71 Aus allen diesen Gründen verbiete die CCC in Art. 218, die Untersuchung von Strafsachen irgendwelchen Einzelpersonen oder Institutionen zu überlassen, sondern statuiere gleich zu Beginn ausdrücklich, dass dies den nach den Vorgaben des Art. 1 CCC zu bildenden Gerichten und besonders verpflichteten Richtern und sonstigen Gerichtspersonen zu überlassen sei, die zwingend die verfahrensrechtlichen Vorschriften zu beachten hätten; dazu gehörten denn ebenso die Pflicht zur umfassenden Protokollierung aller Tätigkeiten des Gerichts (die Bingel, wie ihm in dem Urteil mehrfach vorgehalten wird, schmählich unterlassen hatte) wie auch das Verbot, solche Umstände, die keinen Eingang in die Akten gefunden haben (so der von Bingel zu seiner Verteidigung vorgebrachte Umstand, dass Schienbein schon deswegen verdächtig gewesen sei, weil er seinem Vater einmal Gänse gestohlen haben soll), gegen die Beschuldigten zu verwenden.72 Hier ist der Schöppenstuhl noch ganz dem Modell des Inquisitionsprozesses verhaftet (ohne das das System von Aktenversendung und Tätigkeit von Spruchkollegien auch kaum hätte funktionieren können)73, was seinen deutlichsten Ausdruck in der Ansicht findet, dass „ein Rich­ ter in Dingen, die er zu seiner Rechtfertigung ausser den Akten anführt, keinen Glauben verdient“.74 Bingels vordergründig scharfsinniges Vorbringen, die Beschuldigten hätten keinen Verteidiger begehrt, und der von ihren Angehörigen angebotene Verteidiger sei nicht zu hören gewesen, weil die Angehörigen doch gar nicht beschuldigt gewesen seien,75 sieht der Schöppenstuhl als eben die Art von „Wortklauberei“, die Bingel dem Strafprozessrecht vorwirft: Schon von Amts wegen habe das Gericht die entlastenden Umstände zu ermitteln und für eine angemessene Verteidigung des Beschuldigten Sorge zu tragen, und das kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung auch auf Bitten von Freunden oder Verwand-

71 72 73 74

Urteil (Fn. 1), S. 15. Urteil (Fn. 1), S. 14. Vollert (Fn. 6), S. 215. Urteil (Fn. 1) S. 14. Auch neuerdings wieder wird im Strafprozess eine umfassende Dokumentation richterlicher Tätigkeiten auch außerhalb der Hauptverhandlung als notwendig angesehen, s. z. B. zu §§ 243 Abs. 4, 273 Abs. 1a, 257 c StPO 2009 das BVerfG, Urt. v. 19.03.2013, Az. 2 BvR 2628/10 (u. a.), NStZ 2013, S. 295 ff., 297, wonach nur die vom Gesetzgeber verlangte Dokumentation des mit einer Verständigung im Strafverfahren verbundenen Geschehens eine effektive Kontrolle durch das Rechtsmittelgericht (heute aber eben auch: durch die Öffentlichkeit) gewährleiste. 75 Urteil (Fn. 1), S. 8 f.

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ten des Beschuldigten, so Art. 47 CCC, da „auch dem ärgsten Missethäter die rechtliche Vertheidigung nicht zu versagen ist“.76 In den Ausführungen des Schöppenstuhls scheint sich damit in eigentümlicher Weise eine in Gliederung und Diktion antiquierte Darstellungsweise mit einer fortschrittlich anmutenden und zukunftsweisenden Herangehensweise an die Rechtsanwendung zu verbinden. Allerdings ist bei dieser Beurteilung Vorsicht geboten; denn der Umstand, dass der Schöppenstuhl auf der Fortgeltung der CCC beharrt, hat auch zur Folge, dass er in anderen Urteilen noch aus dieser Zeit durchaus auf Folter erkennt77 – und dabei sogar gelegentlich übersieht, dass diese durch Landesrecht inzwischen abgeschafft ist.78 Die Empörung der Urteiler richtet sich nicht so sehr gegen die Gewaltandrohung und -anwendung, sondern dagegen, dass der Amtmann dazu geschritten ist, ohne die Vorgaben des Verfahrensrechts der CCC einzuhalten. In dieser Hinsicht war der Schöppenstuhl indessen sehr genau und hob auch in anderen Urteilen hervor, dass zur Folter erst dann geschritten werden dürfe, wenn ein dringender Verdacht besteht.79 Die Entscheidung des Schöppenstuhls beruht damit nicht auf der kritischen Betrachtung einer bisherigen, als zu hart empfundenen Gesetzgebung aus Gründen des Vernunftrechts, sondern auf dem althergebrachten Gedanken, dass nur das in einem den überlieferten gesetzlichen Bestimmungen entsprechenden Verfahren gefundene Recht wirklich Recht ist. Zur Auslegung dieses Rechts bedient sich der Schöppenstuhl dann aber durchaus der neueren Methoden einer an den Maßstäben der ­Vernunft orientierten Gesetzesanwendung.80 Das Urteil wird vom Reichskammergericht den Beklagten zugestellt. Was dann passiert, ist vermutlich schon aus der Perspektive der Zeit ebenso wenig überraschend, wie es dies in der Rückschau ist: Es geschieht im Wesentlichen z­ unächst nichts. Der Graf überlässt die Regulierung der Angelegenheit dem Amtmann, und dieser bleibt untätig. Das von Bingel gegen seine Anklage vorgebrachte finale Argument, das Übergeben von Bürgern aus Schlitz an preußische Militärwerber dürfe ihm schon deshalb nicht als eine ungerechte Bestrafung unbescholtener Bürger zugerechnet werden, weil es doch „in vielen Landen, wo die Unterthanen Soldaten­ dienste thun müssen, gar keine Strafe sey“,81 dürfte seinem Grafen als einem Angehörigen des Hochadels, dessen Bruder Generalleutnant in preußischen Militärdiensten ist und der selbst einmal Offizier war, auch unmittelbar eingeleuchtet haben. Soweit 76 Urteil (Fn. 1), S. 15 f., 16. 77 S. z. B. bei Kriebisch (Fn. 39), S. 265 f. 78 So noch 1808 in einem Fall aus Meiningen, wo die Folter 1786 abgeschafft worden war: Vollert (Fn. 6), S. 210. 79 Vollert (Fn. 6), S. 210 f. 80 S. weitere Beispiele bei Kriebisch (Fn. 39), S. 266 f. 81 Urteil (Fn. 1), S. 9.

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die in Kriegsdienste gegebenen Bürger überhaupt noch leben, unternehmen weder Bingel noch der Graf Anstrengungen irgendwelcher Art, sie freizubekommen, und auch eine Entschädigung der Angehörigen erfolgt nicht.82 Die Kläger schreiten daraufhin in mehreren Anläufen zur Vollstreckung des Urteils. Vollstreckt werden gegen reichsunmittelbare Herrschaften ergehende Entscheidungen in der Weise, dass der zuständige Reichskreis beauftragt wird, Maßnahmen zur Durchsetzung der Entscheidung zu ergreifen.83 Das Reichskammergericht stellt zunächst Ermittlungen an, in deren Zuge der Amtmann eine auf den 11. Februar 1791 datierte Bescheinigung des Grafen84 vorlegt, worin dieser beteuert, die „schon geraumer Zeit vorge­ waltete Irrungen“ seien ihm „bisher äußerst unangenehm gewesen, und aus eben dieser Ursache“ habe er dem Rat Bingel „genießtenst befohlen, die mir sehr verdriesliche Sache unverlängt mit den Interessenten auf eine gütliche Art beyzulegen“; darauf habe sich der Amtmann mit den Betroffenen mit einer Ausnahme „in Gemäsheit dies Befehls [...] wie die mir vorgelegte Vergleiche und Quittungen ansagen, wirklich abge­ funden, und selbige bezahlet“, weshalb er „bey den vorliegenden Umständen nunmehr kein weiteres Bedenken“ trage, „dem Herrn Rath Bingel das dieser Sache halber gebet­ tene Absolutorium zu ertheilen“. Was nun geschieht, dürfte für die Zeitgenossen dann allerdings doch überraschend gewesen sein: Das von dem Rat Bingel vorgelegte Absolutorium des Grafen beeindruckt das Reichskammergericht nicht. Es schreitet (gegen eine unter dem 6. Oktober 1791 eingeforderte Gebühr von 13 Reichstalern und 69 Kreuzern)85 nunmehr mit dem eingangs wiedergegebenen Dekret alsbald zur Tat. Dabei beschränkt es sich nicht darauf, lediglich auf die vorliegende Verurteilung Bezug zu nehmen; es befasst sich vielmehr auch noch einmal mit der Sache selbst; denn in dem im September 1791 ergehenden Vollstreckungsdekret wird – wenn auch knapp – eine weitere rechtliche Begründung für den zu vollstreckenden Urteilsspruch gegeben. Das Reichskammergericht verweist auf die §§ 108 und 109 des Jüngsten Reichsabschieds von 1654. Damit holt es nach, was der Schöppenstuhl in seiner Begründung versäumt – oder in seiner Beschränkung auf einen Hinweis auf Art. 1 CCC jedenfalls nur gestreift hatte, nämlich bei Ausfüllen des Merkmals des „Si iudex litem suam fecerit“ nicht allein auf die Person des das Verfahren führenden Richters abzustellen, sondern auch den Gerichtsherrn in die Pflicht zu nehmen und die auch ihn treffende Verpflichtung zu statuieren, dass die Gerichtsverfahren gesetzmäßig 82 83 84 85

Urteil (Fn. 1), Vorwort des Herausgebers, S. 3 f. S. dazu Thudichum (Fn. 10), S. 214 f. Abgedruckt in: Actenstücke (Fn. 1), S. 636 f. Actenstücke (Fn. 1), S. 631; kritisch zur abschreckenden Wirkung der hohen Prozesskosten auf die Kläger Häberlin (Fn. 2), S. 12.

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durch dafür geeignete Richter geführt werden. Dem Reichskammergericht sind diese Bestimmungen freilich geläufiger als dem Jenaer Schöppenstuhl,86 dienen sie doch gerade dem Schutz des Gerichts vor einer Überflutung mit Verfahren: § 108. „[...] ist [...] Unser verordneter Will und Meynung [...], daß Churfürsten und Stände dero Gericht mit qualificirten Leuten also bestellen sollen und wollen, damit sich niemand darwider zu beschweren oder doch um soviel weniger zu beklagen dahero ­Ursach nehme, als wären dieselbe im Reich hin und wieder dermaßen übel besetzet, daß man sich bey ihnen in rechtlichen und andern wichtigen Sachen einer gleichmäßigen Billichkeit jeweilen nicht zu versehen habe und dahero ans Cammer-Gericht zu appel­liren getrungen werde.“ § 109. „Wann sich auch aus denen an bemeldtem Unserm Kayserlichen und des Heil. Reichs Cammer-Gericht durch Appellation oder sonsten eingebrachten Rechtfertigungen entweder von wegen Ersetzung der Gerichten oder Administrirung der Justitien einiger Mangel oder sonsten in facto gnugsam verificirt befinden würde, daß aus des Richters Unge­ schicklichkeit oder Unerfahrenheit, auch Versäumnis, Corruption oder Boßheit zu jemands Präjuditz, Nachtheil und Schaden geurtheilt und gesprochen, das Recht versagt oder verzo­ gen worden wäre, so solle gegen der schuldhafften Obrigkeit so wohl, als deren geordneten Unter-Richtern gebührende Bestraffung fürgenommen und durch Unsern Kayserlichen Fiscal zu Einbringung solcher Straff, wie sich gebührt, verfahren werden.“

Es ist allerdings auffällig – und wird denn auch in der zeitgenössischen Literatur hervorgehoben87 –, dass das Reichskammergericht trotz der Beteuerungen des Grafen, wonach die Angelegenheit doch fast schon erledigt sei, nicht die Beklagten nur zur Erfüllung ermahnt, sondern sogleich den weit reichenden Schritt unternimmt, dem Grafen konkrete Maßnahmen zur Ausübung der Regierungsgewalt über seine Herrschaft vorzuschreiben, und eine Überprüfung seines Verteidigungsvorbringens nur neben der bereits eingeleiteten Vollstreckung vornehmen lässt. Immerhin stand hier des Grafen Wort gegen das der Angehörigen der Beschuldigten des Ausgangsverfahrens, bei denen es sich um schlichte, für sich genommen einflusslose Personen handelte, so dass durchaus die Möglichkeit ­bestanden hätte, dem Ansinnen des Grafen zu folgen und die Sache in der Hoffnung, der Amtmann komme den ausgeurteilten Verpflichtungen doch noch nach, dilatorisch zu behandeln. Hinzu kommt, dass es Belege der in dem Absolutorium angesprochenen Art durchaus gab. 86 Dieser tendierte ohnehin dazu, nach gemeinem Recht – dem römischen Recht des Corpus Juris Civilis oder der CCC – unter Außerachtlassung von örtlichen oder bereichsbezogenen Spezialnormen zu urteilen, was ihm gelegentlich Schelte eintrug, s. Vollert (Fn. 6), S. 210, 215. 87 Häberlin (Fn. 2), S. 12 f. in Fußnote **.

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Das leugnete die die Vollstreckung betreibende Bürgerschaft nicht, brachte dazu aber vor, dass sie „zum Theil durch List erschlichen, zum Theil von den kurzsich­ tig= und unerfahrenen Unterthanen durch täuschende verführerische Worte abge­ drungen worden“ seien.88 Das energische Vorgehen des Gerichts widerspricht auch seiner allgemeinen Tendenz, sich in Verfahren, in denen Untertanen gegen ihre Herrschaft klagten, in der Verurteilung,89 insbesondere aber in der Durchsetzung von Verurteilungen90 zurückzuhalten. Hier haben indessen wahrscheinlich zugunsten der Kläger die Eindrücke eines Verfahrenskomplexes auf das Reichskammergericht eingewirkt, der zeitgleich betrieben wurde und dazu führte, dem Gericht unter Hintanstellung etwaiger Bedenken ein rasches und energisches Eintreten für die Belange der Bürgerschaft als angezeigt erscheinen zu lassen: die Lütticher Revolution, die das Gericht 1789 und 1790 in erheblichem Ausmaß beschäftigte.91 Das Hochstift Lüttich92 gehörte dem Deutschen Reich an und war wie Schlitz reichsunmittelbar, und auch die Lütticher Bürger hatten häufig mit ihrem Herrn, dem jeweiligen Fürstbischof, prozessiert und die Sachen bis vor das Reichskammergericht gebracht.93 1785 gelangte nun ein Verfahren an das Reichskammergericht, in dem es – wenig spektakulär – um den Streit eines Unternehmers mit dem Fürstbischof um die Erteilung einer Lizenz für den Betrieb eines Spielkasinos ging. Dieser Streit indessen eskalierte alsbald vor Ort, indem große Teile der Bürgerschaft und sogar des Adels sich mit dem Unternehmer solidarisierten und die Auseinandersetzung zum Anlass nahmen, vom Landesherrn die Wiedergewährung alter Freiheiten und Mitbestimmungsrechte zu fordern. Die Sache wuchs sich zu einer echten Revolution94 aus, die an Radikalität zunahm, als im Juli 1789 mit dem Sturm auf die Bastille die Französische Revolution zum vollständigen Ausbruch kam. Im August 1789 wird aus dem Prozess vor dem Reichskammergericht ein Verfahren wegen Landfriedensbruch gegen die Bürgerschaft, gegen die das Reichskammergericht unter dem 17. August 1789 ein Mandat erlässt,95 dem 88 Urteil (Fn. 1), Vorwort des Herausgebers, S. 4. 89 S. dazu Thudichum (Fn. 10), S. 211. 90 S. dazu Thudichum (Fn. 10), S. 214 f. 91 Darstellungen: Paul L. Nève, Die Lütticher Revolution vor dem Reichskammergericht, 1990, passim; aus zeitgenössischer Sicht: August Ludwig v. Schlözer, Lüttich, in: Stats-Anzeigen XIV (1790), S. 314–382, insbes. S. 365 ff. 92 Köbler (Fn. 8), S. 399. 93 Nève (Fn. 91), S. 8: Danach soll es rund 3000 Gerichtsakten gegeben haben. 94 Als solche wurden die Vorgänge von den Zeitgenossen schon von Anfang an bezeichnet, s. z. B. „Revolution in Lüttich“, in: Historisch-politisches Magazin nebst litterarischen Nachrichten VI (1789), S. 314–326. 95 Veröffentlicht z. B. in: Journal von und für Deutschland VI (1789), S. 177–180. Zu den „Mandatssachen“ s. Thudichum (Fn. 10), S. 213 f.

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schon am 27. August 1789 – dem Tag der Flucht des Fürstbischofs nach Trier – ein vollstreckungsrechtliches Dekret96 folgt, mit dem dem Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis aufgegeben wird, die Ruhe im Hochstift wieder herzustellen. Da aber die Lütticher nicht klein beigaben und die mit der Exekution befassten Direktoren des Reichskreises – der Vertreter Preußens sympathisierte zunächst offen mit den Aufständischen – den Aufruhr nicht sogleich unterdrückten, war das Reichskammergericht noch über ein Jahr lang damit befasst, der Niederschlagung des Aufstands eine rechtliche Grundlage zu geben. Wirkung zeitigte das indessen erst, als die Österreichischen Niederlande durch Dekret vom 20. Dezember 179097 zum Eingreifen mandatiert wurden und die Rebellion dann auch tatsächlich niederschlugen. Die Aktivität des Reichskammergerichts in dieser Sache zeigt, wie tief beunruhigt die Richter von den Vorgängen in Lüttich waren: Das Aufflammen revolutionärer Vorgänge empfand das Reichskammergericht – angesichts der folgenden Ereignisse: zu Recht – als den Bestand des Reiches (und damit seiner selbst) hoch gefährdenden Akt. Und in eben diese Zeit fällt der Streit zwischen Bürgerschaft und Obrigkeit in Schlitz, bei dem es  – wie der Jenaer Schöppenstuhl in seinem 1788 dem Reichskammergericht übermittelten Urteil referierte – schon 1783 zu einem „besorglich gewesenen Auflaufe“98 von Bürgern gekommen war. Auch über das Verfahren aus Schlitz war zeitlich der Ausbruch der Revolution von 1789 gekommen, und es stand zu besorgen, dass auch die Bürgerschaft von Schlitz sich radikalisieren und organisieren würde, um sich gegen eine sich durch Akte der Willkür verhasst machende Obrigkeit aufzulehnen, wenn auf andere Art keine Abhilfe zu erlangen war. So klein Schlitz war – einen weiteren Herd revolutionärer Aktivitäten wollte das Gericht auf dem Boden des Deutschen Reiches auf keinen Fall sehen, und das schon gar nicht in einem weiteren Territorium, das aus Mangel an eigenen militärischen Kräften nicht in der Lage sein würde, einen gewaltsamen Aufruhr mit eigenen Mitteln zu unterdrücken, so dass auch hier im Fall einer Revolution erst eine militärische Intervention des Reichskreises hätte organisiert werden müssen. Den deutschen Untertanen sollte signalisiert werden, dass sie denn doch lieber – wie insbesondere in den kleinen Landesherrschaften seit jeher99 – gegen ihre Obrigkeit prozessieren und aus Urteilen vollstrecken möchten, als das Recht in die eigenen Hände zu nehmen und die bestehende Ordnung umzuwerfen. Sollte das der Hintergrund für das 96 Veröffentlicht in: Magazin für Geschichte, Statistick, Litteratur und Topographie der sämtlichen deutschen geistlichen Staaten I (1790), S. 273–275. 97 Veröffentlicht in: Journal von und für Deutschland VIII (1791), S. 39. 98 Urteil (Fn. 1), S. 8. 99 S. dazu B. Diestelkamp (Fn. 9), S. 126 m. w. N.

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energische Handeln des Gerichts gewesen sein, hätte das von Bingel zu seiner ­Verteidigung vorgebrachte Argument, er habe rasch handeln müssen, um einem drohenden Auflauf zu begegnen,100 sich an dieser Stelle gegen ihn gewandt. Was weiter geschehen ist, lässt sich heute nicht mehr vollständig aufklären. Immerhin scheint der Reichskreis tatsächlich zur Vollstreckung geschritten zu sein und den Grafen gezwungen zu haben, Bingel als Amtmann abzusetzen; denn in der Urteilsveröffentlichung wird Bingel „der gewesene Amtmann“ genannt und in der Vergangenheitsform von seiner Amtszeit gesprochen.101 In den Akten der Grafen von Schlitz wird Bingel dagegen noch bis 1794, bis zum Tode des Grafen Georg,102 als Amtmann geführt.103 Bingel scheint sich gegen die Vollstreckung ­publizistisch gewehrt zu haben, jedenfalls aber sind die Betroffenen und ihre ­Angehörigen bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Urteils im Jahre 1792 nicht zu ihrem Recht gelangt: Eichenauer, dessen Ehefrau acht Tage nach seiner Übergabe an den preußischen Werber verstorben war, stirbt in preußischem Kriegsdienst 1785, Eigenbrod (dessen Ehefrau hochschwanger war) 1789;104 Vollgraf wird während des Kriegsdienstes „schwach im Kopf “ und deshalb entlassen, Schienbein und Oberhack waren 1792 noch im preußischen Kriegsdienst.105 Was aus ihnen geworden ist, ist unbekannt; da aber 1792 die kriegerischen Auseinandersetzungen Preußens mit dem revolutionären Frankreich beginnen und Preußen von diesem Zeitpunkt ab keinen Soldaten mehr anders denn als auf dem Schlachtfeld gefallenen Leichnam freizugeben bereit sein wird, ist als sicher davon auszugehen, dass keiner von ihnen lebend nach Hause gekommen ist. – Ein Ziel aber erreicht die Bürgerschaft immerhin: Bingel verlässt zumindest faktisch den Dienst des Grafen. Das Verhältnis der Grafen von Schlitz zu ihren Untertanen bleibt indessen auch künftig angespannt, auch nachdem ihre herrschaftlichen Befugnisse bald darauf beschränkt, aber nicht aufgehoben werden,106 als Schlitz 1806 100 Urteil (Fn. 1), S. 8, 16 f. 101 Urteil (Fn. 1), S. 4. 102 Nachfolger in der Stellung des Reichsgrafen wird Georgs Sohn Karl: Battenberg (Fn. 12), S. 282. 103 Schlitzer Bote, Beilage zur Fuldaer Zeitung vom 13.12.2011. 104 Jahrzehnte später, 1861, steht dann immerhin ein „E. Eigenbrod“ der Gräflich Görtzischen Rentkammer vor, für die er unter dem 10. November 1861 eine – harsche – Hausordnung für das Gesinde, welches bei der Gräflich Görtzischen Burggüterverwaltung zu Schlitz und auf dem Vorwerk Carlshof dient, erlässt; diese ist, hrsg. v. Heinrich Sippel, unter „Görtzische Gesinderegeln“ nachzulesen auf der Website von Beate Guder, „Zeit in Schlitz“ (www.in-schlitz.de [05.08.2015]), unter „Zeit zum Schmunzeln“. 105 Urteil (Fn. 1), Vorwort des Herausgebers, S. 4. 106 S. z. B. Erhebung des Grafen Schlitz genannt Görz zum Standesherrn des Großherzogtums Hessen am 30.12.1808, veröffentlicht in: Der Rheinische Bund X (1809), S. 247 f.

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an das Großherzogtum Hessen-Darmstadt fällt.107 Der Rat Bingel indessen verliert zwar sein Amt, doch verliert er es weniger, als dass er es wechselt; denn er tritt als Hof- und Legationsrat in die Dienste des Fürstentums Anhalt-Bernburg, und auch hier erringt er rasch und nachhaltig das Vertrauen seiner Herrschaft – und nicht nur dieser: Auf der außerordentlichen Reichsdeputation in Regensburg 1802/1803 tritt er als Abgeordneter des Fürstlichen Gesamthauses Anhalt auf, legitimiert sich in der Folgezeit auch als Vertreter Leiningens, Lippe-Detmolds, Bentheims108 und macht sich in der Frage der Entschädigung der deutschen Kleinstaaten bei der Vorbereitung des Reichsdeputationshauptschlusses für deren In­teressen stark.109 Er ist noch 1813 aktiv, als er zum Vorsitzenden der für die Er­haltung der Gesundheit der Untertanen eingerichteten Medizinalkommission in Ballenstedt bestellt wird.110 Der Amtmann Bingel scheint, wie bereits erwähnt, eigentlich sehr tüchtig gewesen zu sein. Das Vertrauen und der Schutz, den ihm sein Graf zuteilwerden lässt, belegen das ebenso wie sein späteres Wirken. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, was ihn 1783 bewogen haben mag, in so harter und auffallend gesetzwidriger Weise gegen die Beschuldigten vorzugehen. Dass der Graf ihn hierzu angewiesen habe, hat schon der Schöppenstuhl nicht geglaubt. Hinweise darauf, dass es darum gegangen sei, Untertanen, die sich in früheren Jahren durch Beteiligung an den Auflehnungen gegen die Obrigkeit in Schlitz missliebig gemacht hätten, abzustrafen, sind keine vorhanden, hat es sich bei den Beschuldigten doch um einfache Leute der unteren Schicht gehandelt. Naheliegend ist zunächst der Verdacht, Bingel habe einen Vorwand gesucht, Untertanen in Kriegsdienste zu verkaufen, um sich oder seinem Grafen dadurch Einnahmen zu verschaffen, besteht doch – noch unterliegen die herrschaftlichen Einnahmen der Zwangsverwaltung durch die kaiserliche Debitkommission  – erheblicher ­Finanzbedarf und kommt es im 18. Jahrhundert doch häufiger zu einer Generierung von Staatseinkünften durch den Verkauf eigener Untertanen in fremde 107 Köbler (Fn. 8), S. 634. 108 Protokoll der ausserordentlichen Reichsdeputation zu Regensburg, 2. Band (26.–50. Sitzung), Regensburg 1803, S. XV, XVI, 140, 535, 734, 944. 109 Ihm wird die anonym erschienene Schrift „Versuch einer doctrinellen Auslegung des siebenten Friedensartikels von Luneville“, 1801, zugeschrieben, so in der Rezension der Gegenschrift „Ueber die sogenannte Rechtfertigung des Versuches einer doktrinellen Auslegung des siebenten Friedensartikels von Luneville“, 1801, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek LXVIII (1801), S. 127; dazu Hermann Uhrig, Die Vereinbarkeit von Art. VII des Friedens von Lunéville mit der Reichsverfassung, Jur. Diss., Tübingen 2011, S. 8 f., 23 f., 161, 318 u. ö. 110 Instruction für die Medicinal=Commission in Ballenstedt vom 18. März 1813, in: Gesetzsammlung für das Herzogthum Anhalt-Bernburg, 3. Band, 2. Abteilung (1800–1832), S. 271–275, 271 f.

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Kriegsdienste. Die gerade zu dieser Zeit daran laut werdende publizistische K ­ ritik111 hätte es angezeigt erscheinen lassen können, den Verkauf als eine für Vergehen verhängte Strafe zu deklarieren, sei es (formal) zu Recht112 oder zu Unrecht. Dass dies der Hintergrund für Bingels Verhalten war, scheint das Reichskammergericht zu vermuten, gibt es doch in seinem Dekret dem Konsulenten des Buchischen Quartiers auf, diese Frage zu untersuchen. Der Verdacht dürfte indessen unbegründet gewesen sein, denn die Kläger haben einen solchen Vorwurf weder gegen Bingel noch gegen den Grafen erhoben, was sicherlich geschehen wäre, wenn es hierfür Anhaltspunkte gegeben hätte. Auch eine Überforderung Bingels mit der Angelegenheit erscheint als Grund für sein Verhalten angesichts seiner juristischen Ausbildung und langjährigen Erfahrung als Amtmann ebenso als ­ausgeschlossen wie eine bloße Bösartigkeit seines Charakters. So bleibt letztlich nur eine Erklärung: Bingel ist deshalb so rigide gegen die Beschuldigten vorgegangen, weil er tatsächlich felsenfest davon überzeugt war, es mit einer gefährlichen Räuberbande zu tun zu haben, und er sich der aus seiner Sicht gefährlichen Subjekte möglichst rasch und effizient zu entledigen suchte. Dass wohl dies der Grund für sein Verhalten war, wird daraus ersichtlich, dass er den ersten Verdächtigen, Gutperl, nicht weiter verfolgte, denn dieser – der ja auch behauptete, zum Mitkommen nur überredet und dann auch noch nicht einmal an der Beute beteiligt worden zu sein – mag zwar ein Dieb gewesen sein, war aber noch ein Kind und stellte offensichtlich keine Gefahr dar. Auch die völlig unverstellte Art, in der Bingel in dem gegen ihn immerhin vor dem Reichskammergericht geführten Verfahren verlauten lässt, dass jede Rücksichtnahme auf gesetzliche Vorschriften hier einen unnötigen Formalismus dargestellt hätte, lässt erkennen, dass er so sehr von der Schuld der Verdächtigen überzeugt war, dass er gar nicht zu verstehen vermochte, weshalb er irgendwelche Rücksicht gegen sie hätte walten lassen sollen. Von dieser Warte aus ist auch sein beharrlicher Widerstand gegen das Urteil erklärlich: Aus seiner Sicht war seine und des Grafen Verurteilung eben ein solcher „Advokatenstreich“, mit dem der Hüter des Gesetzes zum Täter und der Täter zum Ankläger gemacht werden soll, etwas, das er durch sein rasches und energisches Vorgehen gegen die Beschuldigten gerade zu verhindern gesucht hatte. Es 111 Übersicht bei Friedrich Rapp, Der Soldatenhandel deutscher Fürsten nach Amerika (1775– 1783), 1864, S.  185–201, s. insbes. Friedrich Schiller, Kabale und Liebe, 1784, 2.  Akt, 2. Szene; s. außerdem: Johann Gottfried Seume, Schreiben aus America nach Deutschland, in: Neue Litteratur und Völkerkunde III (1789), S. 362–381, 363 f., und, satirisch, [Gottfried August Bürger,] Wunderbare Reisen ... des Freiherrn von Münchhausen, 2. Ausgabe 1788, Erstes Seeabentheuer (Geschichte von dem „Kaziken im Land der Gurkenbäume“). 112 So wohl in Sachsen-Weimar, s. Marcus Ventzke, Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach 1775–1783, 2004, S. 416.

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besteht daher wenig Anlass daran zu zweifeln, dass, als Bingel den Dienst der Grafen von Schlitz in Vollzug der vom Reichskammergericht dekretierten Vollstreckung verlassen musste, er davon überzeugt war, dass in dieser Angelegenheit nicht die von ihm in preußische Dienste gegebenen und damit dem Tod überantworteten Beschuldigten die Opfer gewesen seien, sondern er selbst. Die Gefahr, dass die zum Handeln berufenen Justizorgane aufgrund eines ­ersten Eindrucks so von der Richtigkeit einer bestimmten Auffassung überzeugt sind, dass sie es nicht vermögen, sich bei ihrem weiteren Vorgehen von diesem ersten Eindruck zu lösen, ist – so sehr sie der einer rechtsstaatlich verpflichteten Justiz obliegenden Aufgabe, unvoreingenommen an ihre Aufgaben heranzugehen, widerspricht – naturgemäß groß, und Fälle dieser Art kommen daher immer wieder vor. Ein zum Problemkreis „Folter“ gehörendes, gleichwohl aus jüngerer Zeit stammendes Beispiel mag hier angeführt sein: Es betrifft einen Fall, der die Gemüter erregt hat, in dem die Öffentlichkeit diesmal allerdings eher im Lager der Justiz stand als desjenigen, der Ansprüche erhob. Ein Kind war, um Lösegeld zu erpressen, entführt und von dem Entführer getötet worden. Der Polizei gelang es, einen Tatverdächtigen zu fassen. Dieser gestand, an der Entführung beteiligt gewesen zu sein. In der Annahme, das entführte Kind lebe noch, drohte ein Polizeibeamter dem Entführer an, ihm „Schmerzen, wie er sie noch nie erlebt habe“, zuzufügen, wenn er nicht verrate, wo sich das Kind befinde. Daraufhin machte der Entführer Angaben, die das Auffinden der Leiche ermöglichten. Nach seiner strafgerichtlichen Verurteilung wegen Mordes beabsichtigte der Entführer, aus Amtshaftung (Art. 34 GG in Verbindung mit § 839 BGB) Ansprüche gegen das Bundesland unter anderem auf Schmerzensgeld (§ 253 Abs. 2 BGB) wegen psychischer Gesundheitsschäden als Folge der Folterandrohung und auf Zahlung einer Entschädigung in Geld wegen Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts geltend zu machen. Einen solchen Anspruch leitet die Rechtsprechung unmittelbar aus den Artt. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG her, wenn das allgemeine Persönlichkeitsrecht einer Person durch Verwirklichung eines Tatbestands des Deliktsrechts in schwer wiegender Weise verletzt wird, und ein solcher Tatbestand kann auch eine Amtspflichtverletzung sein.113 Der Antrag des Mörders, ihm für die Durchführung einer entsprechenden Klage Prozesskostenhilfe zu gewähren, scheiterte in zwei Instanzen. Landgericht und Oberlandesgericht114 verneinten die für die Gewährung von Prozesskostenhilfe erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg einer solchen Klage (§ 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Daran, dass eine Amtspflichtverletzung gegeben war, führte allerdings kein Weg vorbei; denn dass die Androhung von Folter strafbar ist 113 BGH, Urt. v. 04.11.2004, Az. III ZR 361/03, NJW 2005, S. 58 ff. 114 OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 28.02.2007, Az. 1 W 47/06, NJW 2007, S. 2494 ff.

Justizskandal in Schlitz

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(§ 240 Abs. 1, 2, 4 Nr. 3 StGB) und jeglichem rechtsstaatlichen Denken der Gegenwart widerspricht, liegt auf der Hand, so dass es darauf, dass die Folter selbst durch Gesetz (§ 136 a StPO) und internationale Verträge (Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention) noch einmal ausdrücklich verboten ist, kaum ankommt. Verneint wurde die hinreichende Erfolgsaussicht mit einer anderen Begründung: Schmerzensgeld für psychische Schäden in Folge der unstreitigen Androhung von Schmerzen werde dem Antragsteller deshalb nicht zugesprochen werden können, weil die Gerichte aus eigener Sachkunde beurteilen könnten, dass die Bedrohung wegen der Belastung des Antragstellers durch seine „eigene schwere Schuld eine zu vernachlässigende Größe“ sei, so dass es der ­erstrebten Erhebung von Beweisen durch ein Sachverständigengutachten nicht bedürfe; und der Zuerkennung einer Geldentschädigung wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts stehe die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs115 entgegen, wonach eine durch eine Amtspflichtverletzung herbeigeführte Menschenrechtsverletzung „nicht in jedem Fall eine zusätzliche Wiedergutmachung durch Geldentschädigung“ fordere. Dass diese Argumente nicht tragfähig sind, liegt auf der Hand: Keines Beweises bedürfen nach dem Gesetz streitige ­Tatsachen nur dann nicht, wenn sie „bei dem Gericht offenkundig sind“ (§ 291 ZPO); ob aber überhaupt ein Gesundheitsschaden psychischer Art vorlag und, dies bejaht, ob er nach Kausalität und den sonstigen Zurechnungskriterien auf die Folterandrohung zurückgeführt werden konnte, ließ sich schon deshalb nicht aus eigener Sachkunde der Richter feststellen, weil ein solcher Fall in der bundesdeutschen Justizgeschichte noch nicht vorgekommen war und es daher an jeglichen Erfahrungswerten fehlte, auf die die Richter ihre Überzeugung hätten stützen können. Und bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht eines Anspruchs auf ­Zahlung einer Geldentschädigung war zu beachten, dass in verfassungsrechtlich gebotener Auslegung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozess­kostenhilfe diese schon dann nicht verweigert werden darf, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt.116 Das war hier aus dem schon eben genannten Grund, dem erstmaligen Vorkommen eines solchen Geschehens, evident der Fall, so dass das Begehren des Antragstellers mit einem Hinweis darauf, dass es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht bei jeder die Menschenwürde tangierenden Amtspflichtverletzung einen Anspruch auf Zahlung einer Geldentschädigung gebe, sicherlich nicht abgetan werden durfte. Die Entscheidungen können bei dieser – aus der Sicht zeitlicher und emotionaler Distanz beurteilten – Eindeutigkeit der Rechtslage daher eigentlich 115 BGH (Fn. 113), S. 59. 116 BVerfG, Beschl. v. 29.05.2006, Az. 1 BvR 430/03, FamRZ 2007, S. 1876.

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nur damit erklärt werden, dass die mit dem Fall befassten Richter so sehr über die ungeheuerliche Tat des Antragstellers empört waren, dass in ihren Augen die Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht in Betracht kam, hätte dies doch – und an dieser Stelle schließt sich der Kreis zum Fehlschluss des Amtmanns in unserem Ausgangsfall – bedeutet, den Hüter des Gesetzes zum Täter und den Täter zum Ankläger zu machen. Auch der in dem Urteil von 1788 ventilierte Gedanke, dass „dergleichen Behandlungen auf den Fall, da sich nachher noch die Schuldbarkeit des­ jenigen, welcher widerrechtlich behandelt worden, veroffenbaret, nicht scharf geahn­ det zu werden pflegen“, mag eine Rolle gespielt haben.117 Das Bundesverfassungsgericht hat dies ebenso wenig gelten lassen wie seinerzeit der Jenaer Schöppenstuhl und das Reichtskammergericht die Einwände des Amtmanns; es hat die Entscheidungen aus den genannten Gründen wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG (die darin lag, dass der Antragsteller gegenüber einer Partei, die in der Lage wäre, ihre Prozesskosten selbst zu tragen, benachteiligt worden war) aufgehoben und die Gerichte zu erneuter Bescheidung der Anträge des Antragstellers verpflichtet.118 Nach darauf erfolgter Gewährung von Prozesskostenhilfe hat das Landgericht den Sachverhalt aufgeklärt, den Schmerzensgeldanspruch nach Beweiserhebung aus tatsächlichen Gründen abgewiesen, dem Antragsteller wegen der Folterandrohung aber eine Geldentschädigung zugesprochen.119 Dies zeigt, dass ein funktionierendes Justizsystem in der Lage ist, auch derartige Fallkonstellationen zu bewältigen.120

117 Urteil (Fn. 1), S. 10; s. dazu oben bei Fn. 55. 118 BVerfG, Beschl. v. 19.02.2008, Az. 1 BvR 1807/07, NJW 2008, S. 1060 ff. 119 LG Frankfurt a. M., Urt. v. 04.08.2011, Az. 2-04 O 521/05; Höhe der Geldentschädigung: 3000 Euro. 120 Das Bundesverfassungsgericht seinerseits hat allerdings unbewusst dem Antragsteller ein Bein gestellt, indem es den Beschluss vom 19.02.2008 ohne Anonymisierung des Antragstellers zur Veröffentlichung gegeben hat, und so ist der Beschluss in der Fachpresse und im Internet veröffentlicht worden. Dadurch ist das Entstehen eines etwaigen Anspruchs des Antragstellers darauf, in der Zukunft einmal nicht mehr unter Nennung seines Namens mit der von ihm begangenen Tat öffentlich konfrontiert zu werden (zu diesem Anspruch s. BVerfG, Urt. v. 05.06.1973, Az. 1 BvR 536/72, BVerfGE 35, S. 202 ff. – „Lebach“), wohl vereitelt worden; denn nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung soll ein Anspruch der namentlich genannten Person darauf, dass einmal rechtmäßig unanonymisiert in das Internet gestellte Beiträge nachträglich anonymisiert werden, nicht bestehen (so der BGH, Urt. v. 09.02.2010, Az. VI ZR 243/08, NJW 2010, S. 2432 ff.; die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen).

Die Ernennung der Richter in Hamburg seit der Trennung von Justiz und Verwaltung Von Heiko Morisse

Art. 63 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 6. Juni 19521 bestimmt, dass die Berufsrichter vom Senat auf Vorschlag eines Richterwahlausschusses ernannt werden, der aus drei Mitgliedern des Senats oder Senatssyndici, sechs bürgerlichen Mitgliedern, drei Richtern und zwei Rechtsanwälten besteht.2 Der Vorschlag kommt dadurch zustande, dass der Richterwahlausschuss den zu ernennenden Richter mit Mehrheit wählt.3 Als Ernennung gelten gleichermaßen die Einstellung und die Beförderung. In der Verfassungsgeschichte Hamburgs ist die Richterwahl ohne Vorbild. Die Ansicht, dass bereits die Verfassung von 1860 in Art. 1014 eine Richterwahl vorgesehen habe,5 übersieht, dass es in dieser Bestimmung nicht um die Berufsrichter ging, sondern um die „sachkundigen“ (Laien-)Richter, die „in Sachen besonderer Berufserfahrung“ an der Rechtspflege mitwirken und dafür von ihren „Berufsgenossen“ gewählt werden sollten.6 Gleichwohl kann die Richterwahl in Hamburg auf eine lange Tradition zurückblicken.7

1 Sammlung des bereinigten hamburgischen Landesrechts 100-a. 2 Zum Auswahlverfahren siehe die §§  15–18 des Hamburgischen Richtergesetzes (HmbRiG) v. 02.05.1991, Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt (HmbGVBl.), S. 169. 3 § 26 Abs. 2 HmbRiG. 4 Verfassung der freien und Hansestadt Hamburg vom 28.09.1860, Sammlung der Verordnungen der freien Hanse-Stadt Hamburg seit 1814, Bd. 29, 1860, S. 79, 116. 5 Wilhelm Drexelius/Renatus Weber, Die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, 2. Aufl., 1972, Art. 63, Anm. 2; Jürgen Gündisch, Der Richterwahlausschuß, in: Recht und Juristen in Hamburg, hrsg. von Jan Albers u. a., 1994, S. 116; Heinzgeorg Neumann, Die Verfassung der freien Hansestadt Bremen, 1996, Art. 136, Rdnr. 2; Axel Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S. 363. 6 So auch Günter Hoog, Hamburgs Verfassung. Aufriss, Entwicklung, Vergleich, 2004, S. 203. – Bestätigt wird dieser Befund durch den nachfolgenden Art. 102 der Verfassung von 1860: „Auch bei den übrigen collegialisch besetzten Gerichten nehmen an der Entschei­ dung nichtrechtsgelehrte Mitglieder Theil.“ 7 Instruktiv zur Geschichte des Hamburger Justizwesens Alfred Bertram, Hamburgs Zivilrechtspflege im neunzehnten Jahrhundert, 1929.

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Eingeführt wurde sie 1815 für das in erster Instanz für Zivil- und Strafsachen zuständige Niedergericht sowie für das neu eingerichtete Handelsgericht.8 Beide Gerichte waren unabhängig und bestanden aus permanenten rechtsgelehrten Richtern sowie aus Laienrichtern, die auf Zeit von der Bürgerschaft bzw. der Kaufmannschaft gewählt wurden. Die Wahl der Berufsrichter erfolgte durch den Senat aufgrund eines Wahlaufsatzes, den – abgesehen von der ersten Wahl – die jeweiligen Gerichte selbst aufstellten und der anschließend von den Kämmereiverordneten und den Oberalten bzw. dem Ehrbaren Kaufmann auf jeweils zwei Personen verkleinert wurde.9 Aufgrund der durch die Verfassung von 1860 vollzogenen Trennung von Justiz und Verwaltung endete auch in den für Bagatellsachen zuständigen Präturen10 und in dem als Berufungsinstanz für das Niedergericht und das Handelsgericht amtierenden Obergericht die Jurisdiktion des Senats. Während die Präturen in das Niedergericht eingegliedert wurden,11 bestand das Obergericht künftig aus einem permanenten rechtsgelehrten Präsidenten, sechs permanenten rechts­ gelehrten Räten und sechs auf Zeit gewählten nicht juristischen Mitgliedern. Für die Bestellung der Berufsrichter stellte das Obergericht einen Wahlaufsatz von drei Personen auf, aus dem der Senat einen Richter wählte.12 Auch das Wahlverfahren für die rechtsgelehrten Mitglieder des Niedergerichts und des Handels­ gerichts erfuhr eine Änderung: Die Verkleinerung des von diesen Gerichten zu bildenden Wahlaufsatzes lag nicht mehr bei den Kämmereiverordneten und den Oberalten bzw. dem Ehrbaren Kaufmann, sondern fiel dem Obergericht zu. 13 Durch dieses Wahlsystem hatten die Gerichte maßgeblichen Einfluss auf ihre Ergänzung. Man kannte die Kandidaten, die für eine Bestellung beim Nieder- und Handelsgericht, insbesondere aus dem Kreis der Advokaten,14 oder für einen Wechsel von diesen Gerichten zum Obergericht in Betracht kamen. Idealiter gewährleistete das Verfahren das Prinzip der Bestenauslese.   8 Vgl. Martin Ewald, Das Hamburgische Niedergericht. Tradition und Ende, in: Veröffentlichungen der Gesellschaft Hamburger Juristen, Heft 12, 1980, S. 36; August Sutor, Die Errichtung des Handels-Gerichts in Hamburg, 1866.   9 Art.  1–3, 5 der Handels-Gerichts-Ordnung vom 15.12.1815, Verordnungssammlung, Bd. 2, 1815, S. 207; Art. 6–8 der Verordnung wegen veränderter Organisation der Justiz-Behörden und Gerichte vom 29.12.1815, ebda. S. 270. 10 Vgl. J. H. Steinhagen, Über die Hamburgischen Präturen, 1832. 11 § 33 des Provisorischen Gesetzes, betr. Veränderungen in der Organisation der Justiz vom 28.09.1860, Verordnungssammlung, Bd. 29, 1860, S. 139. 12 §§ 1, 2 des Provisorischen Gesetzes (Fn. 11). 13 § 9 Abs. 1 des Provisorischen Gesetzes (Fn. 11). 14 Vgl. dazu Geert Seelig, Die „Matrikel der bei den hamburgischen Gerichten admittierten Herren Advokaten“ und die rechtsgelehrten Hamburger Richter, in: Aus dem Hamburger Rechts­ leben. Walter Reimers zum 65. Geburtstag, hrsg. von Heinrich Ackermann u. a., 1979, S. 40 ff.

Die Ernennung der Richter in Hamburg seit der Trennung von Justiz und Verwaltung 245

Eine grundlegende Neugestaltung erfuhr das Hamburger Gerichtswesen durch die Reichsjustizgesetze von 1877. Das Nieder-, Handels- und Obergericht entfielen, an ihre Stelle traten auf Grund des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) vom 27. Januar 187715 das Amts- und das Landgericht. Da die Reichsjustizgesetze zum 1. Oktober 1879 in Kraft treten sollten, setzten Senat und Bürgerschaft Ende Juni 1877 eine Kommission zur Beratung der gesetzgeberischen Maßregeln ein, die die Reichsjustizgesetze ausführen sollten. Am 19. Oktober 1878 legte die Kommission einen Entwurf für ein Ausführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz vor, dessen zweiter Abschnitt von der Wahl und den Amtsverhältnissen der Richter handelte.16 Gemäß § 14 Abs. 2 des Entwurfs sollte die Wahl der von Hamburg zu stellenden Räte des Oberlandesgerichts17 sowie der Land- und Amtsrichter durch eine Kommission aus fünf Senatsmitgliedern und fünf vom Bürgerausschuss, einem ständigen Organ der Bürgerschaft, gewählten Mitgliedern erfolgen; der mit absoluter Stimmenmehrheit Gewählte war sodann vom Senat als Richter zu berufen (§ 17). Der Entwurf war ein Kompromiss aus den sehr divergierenden Vorschlägen, die in der Kommission erörtert worden waren. Einig war man sich noch darin, dass die bisher geübte Wahl der Richter aufgrund eines von den Gerichten vorgelegten Wahlaufsatzes nicht beizubehalten sei, da sie als eine nach § 15 Abs. 2 Satz 2 GVG unzulässige Präsentation aufgefasst werden könnte.18 Überhaupt könne „den künftigen, nur aus rechtsgelehrten Justizbeamten zusammengesetzten Gerichten ein [...] Selbstergänzungsrecht staatsrechtlich nicht eingeräumt werden, sondern [müsse die Wahl] in die Hände der Träger der Staatshoheit gelegt werden“.

Damit unvereinbar waren alle Überlegungen, die Richter allein oder gemeinsam mit Senatsmitgliedern oder zusätzlich mit bürgerlichen Mitgliedern wählen zu las15 RGBl., S. 41. 16 Mittheilung des Senats an die Bürgerschaft Nr. 119 vom 23.10.1878 – Erster Bericht der von Senat und Bürgerschaft eingesetzten Commission zur Berathung der für Ausführung der Deutschen Justizgesetze erforderlich werdenden gesetzgeberischen Maaßregeln, in: Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft im Jahre 1878, S. 647, 650 ff. 17 Das Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg war eine gemeinschaftliche Einrichtung der Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck; das Ernennungsrecht für die Oberlandesgerichtsräte stand jeder einzelnen Stadt entsprechend ihrem Anteil an der Kostentragung zu; vgl. Art. 12 der Übereinkunft der drei freien Hansestädte, betreffend die Errichtung eines gemeinschaftlichen Oberlandesgerichts vom 30.06.1878, Gesetzsammlung der freien und Hansestadt Hamburg (Ges.S.), S. 105. 18 Allerdings unzutreffend, da die Präsentation sich auf eine einzige Person bezieht. Zur Beseitigung der teils patrimonialen, teils staatsrechtlichen Präsentationsrechte siehe Carl Hahn (Hrsg.), Die gesammten Materialien zu dem Gerichtsverfassungsgesetz, 2. Aufl., 1883, S. 61 f.

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sen. Aber auch die vorgeschlagene Auswahl der Richter ausschließlich durch den Senat wurde verworfen, da Träger der Souveränität Senat und Bürgerschaft gemeinsam waren. Der Befürchtung, dass bei einer Wahl der Richter durch diese beiden Organe politische Gesichtspunkte verfolgt würden, glaubte die Kommission durch die letztlich vorgeschlagene Zusammensetzung aus Senatsmitgliedern und bürgerlichen Mitgliedern, die nicht der Bürgerschaft angehören müssten, namentlich auch Mitglieder der Gerichte sein könnten, begegnen zu können.19 Dem hielt der Senat entgegen, dass bei einem wie auch immer zusammengesetzten Wahlkollegium die erforderliche Objektivität nicht gewährleistet sei, politische Erwägungen stattfinden und schließlich Kompromisswahlen erfolgen könnten, die im Interesse einer guten Besetzung der Gerichte zu vermeiden seien. Er beantragte daher, ihm die Richterernennung, die ohnehin Sache der Regierung sei, allein zu überlassen.20 Dies hielt zwar auch die Bürgerschaft im Grundsatz für das beste Modell. Wegen des in Art. 30 Nr. 2 der Verfassung von 1860 festgelegten Rechts der Gerichte, Mitglieder in die Bürgerschaft zu deputieren,21 wurde aber die Gefahr gesehen, dass der Senat über die von ihm ernannten Richter künftig mittelbar Abgeordnetensitze besetzen würde. Nachdem der Senat gegenüber der Bürgerschaft seine Bereitschaft erklärt hatte, eine entsprechende Änderung der Verfassung zu beantragen,22 erhielt § 14 des Hamburgischen Gesetzes, betreffend Ausführung des Gerichtsverfassungsgesetzes (HmbAGGVG) vom 23. April 1879, die vom Senat gewünschte Fassung: „Die Ernennung der Richter erfolgt durch den Senat.“23 Die Ernennungsentscheidungen des Senats wurden vorbereitet durch die von einem Senator geleitete Verwaltungs-Abteilung für das Justizwesen bzw. seit 1896 von der aus drei Mitgliedern des Senats oder Senatssyndici bestehenden Senatskommission für die Justizverwaltung. Deren Auswahlverfahren – an dem, wenn es um eine Beförderungsstelle ging, die jeweiligen Gerichtspräsidenten beratend teilnahmen – mündete in einen Vorschlag an den Senat, den dieser in der Regel, aber 19 Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft im Jahre 1878, S. 695 ff. 20 Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft im Jahre 1879, S. 53 ff. 21 Nach Frank-Michael Wiegand, Die Notabeln. Untersuchungen zur Geschichte des Wahlrechts und der gewählten Bürgerschaft in Hamburg 1859–1919, 1987, S. 65, 67, 145, hatten die Gerichte 1878 14 Abgeordnete entsandt, darunter zehn rechtsgelehrte Richter. 22 Protokolle und Ausschuß-Berichte der Bürgerschaft 1879, S. 29 ff., 34 f. – Zur Neuordnung der Notabelnwahlen siehe Geert Seelig, Die geschichtliche Entwicklung der Hamburgischen Bürgerschaft und die hamburgischen Notabeln, 1900, S. 164 ff.; Wiegand (Fn. 21), S.  144 ff. 23 Ges.S., S. 83. – In das revidierte Ausführungsgesetz zum GVG vom 25.02.1910 (Ges.S., S. 32) wurde die Bestimmung nicht übernommen, da sich das Ernennungsrecht des Senats bereits aus Art. 25 der Verfassung vom 13.10.1879 (Ges.S., S. 353) ergab, vgl. Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft im Jahre 1907, S. 541.

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keineswegs immer übernahm. Der hamburgischen Tradition entsprechend wurden zwar auch weiterhin Rechtsanwälte zu Richtern ernannt, weit überwiegend wurden sie aber aus dem Kreis der nach erfolgreicher Ableistung der zweiten juristischen Prüfung zum Richteramt Befähigten ausgesucht. Deren Rechtsstellung hatte das GVG nicht geregelt. In Hamburg wurden sie auf ihren Antrag zu Assessoren ernannt. Als solche standen sie in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis, aufgrund dessen sie außerplanmäßige Beamte waren, hatten aber keinen Anspruch auf Beschäftigung. Nur wenn sie nach ihren Zeugnissen und den Prüfungsarbeiten für den Justizdienst geeignet erschienen, wurden sie „je nach Bedürfniß bei den Ge­ richten oder mit ihrer Zustimmung bei der Staatsanwaltschaft und der Verwaltung beschäftigt“.24 Auch auswärtige Bewerber wurden als Assessoren übernommen, wenn sie „wirklich Hervorragendes zu leisten imstande wären“.25 War der Bedarf ­größer als die Zahl der vorhandenen geeigneten Assessoren, wurden Auswärtige sogar gezielt angesprochen.26 Für die Besetzung einer Richterstelle, die im Schnitt nach ungefähr drei Jahren erfolgte, war nicht die Anciennität, sondern in erster Linie die „Tüchtigkeit“ entscheidend.27 Als Folge des starken Zulaufs jüdischer Abiturienten zum juristischen Studium war die Anzahl jüdischer Assessoren sehr hoch. 1909 sah sich deshalb der Vorstand der Senatskommission für die Justiz­ verwaltung veranlasst, sie auf die geringen Aussichten für eine Anstellung hinzuweisen.28 Zwar hätten – so der Standpunkt der Kommission – jüdische Juristen ein gleiches Anrecht auf die Beförderung in Richterstellen, 24 Siehe §§ 8, 9 HmbAGGVG von 1879. – Das von den meisten Bundesstaaten befolgte Assessorensystem kannte weitere Varianten: Während in Preußen sämtliche Referendare nach Bestehen der großen Staatsprüfung zu Gerichtsassessoren ernannt und einem Gericht zur unentgeltlichen Beschäftigung überwiesen wurden,vgl. §  3 des Preuß. AGGVG vom 24.04.1878, Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten, S. 230, übernahm z. B. Mecklenburg-Schwerin nur diejenigen als Gerichtsassessor, die nach Bedarf und Eignung für eine Richterstelle in Frage kamen, vgl. § 45 der Verordnung betreffend die juristischen Prüfungen, die Vorbereitung zum Justizdienste und die Verwendung der Gerichtsassessoren vom 21.04.1879, Regierungsblatt Nr. 9. 25 Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 241-1 I, 1794, vol. 24. 26 StAHH, 241-1 I, 1370. – Dies führte 1913 zur Einsetzung eines bürgerschaftlichen Untersuchungsausschusses „zwecks Prüfung der Frage, ob die Aufnahme auswärtiger Assessoren in den hamburgischen Justizdienst notwendig gewesen ist“, StAHH, 241-1 I, 1371. 27 StAHH, 241-1 I, 1795, vol. 86. – Demgegenüber wurden die frei werdenden Richterstellen in Mecklenburg-Schwerin als Folge des dortigen Kontingentierungssystems an den jeweils dienstältesten Gerichtsassessor vergeben. 28 StAHH, 131-15, C 512 – Zum Ganzen näher Heiko Morisse, Ausgrenzung und Verfolgung der Hamburger jüdischen Juristen im Nationalsozialismus, Bd. 2: Beamtete Juristen, 2013, S. 8 f.

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„im allgemeinen [müsse aber] die Gesamtzahl der jüdischen Familien entstammenden Richter in einem angemessenen Verhältnis zu der Zahl der jüdischen Bevölkerung stehen“, [da andernfalls] „zweifellos Einwendungen aus der christlichen Bevölkerung erhoben [würden]“.29

Tatsächlich aber wurden deutlich mehr jüdische Richter eingestellt, als es der Quote entsprochen hätte. Während 1910 Hamburger Juden 1,87 Prozent der Gesamtbevölkerung stellten,30 betrug der Anteil der jüdischen Richter an der Hamburger Richterschaft rund 5,5 Prozent. Auch während der von Anfang November 1918 bis Ende März 1919 dauernden Herrschaft des Arbeiter- und Soldatenrats31 wurde die Ernennung von Richtern unverändert nach dem bisherigen Verfahren durchgeführt. Nachdem der Arbeiter- und Soldatenrat die politische Gewalt in Hamburg übernommen und Senat und Bürgerschaft für nicht mehr bestehend erklärt hatte, erkannte er sehr schnell, dass er auf die Mitarbeit der Verwaltungsbürokratie angewiesen war. Er ließ deshalb die Verwaltungsbehörden und Verwaltungskommissionen fortbestehen und setzte auch Senat und Bürgerschaft für alle administrativen Aufgaben wieder ein.32 So blieb es dabei, dass die Senatskommission für die Justizverwaltung für die Ernennung von Richtern Vorschläge erarbeitete, über die dann der Senat entschied.33 Weder Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenrats noch der von ihm eingesetzten Justizkommission suchten auf die Personalien Einfluss zu nehmen. Dabei hatte es anfänglich sogar Forderungen gegeben, amtierende Richter wegen ihrer als unsozial und reaktionär empfundenen Entscheidungen aus dem Dienst zu entfernen.34 Mittlerweile wurde die Reorganisation des Gerichtswesens im Sinne einer „Ersetzung der gegenwärtigen Gerichte durch eine volkstümliche Justiz“ aber als Aufgabe der künftigen Reichsgesetzgebung angesehen.35 Zentrale Aufgabe der am 16. März 1919 gewählten Bürgerschaft war die Ausarbeitung einer neuen, demokratischen Verfassung für Hamburg.36 Grundlage war 29 StAHH, 241-1 I, 264. 30 Ina Lorenz, Identität und Assimilation. Hamburgs Juden in der Weimarer Republik, 1989, S. XLII. 31 Vgl. dazu zuletzt Volker Stalmann, Die Revolution von 1918/19 in Hamburg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62 (2014), S. 5–24, und die von ihm eingeleitete und bearbeitete Edition: Der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat 1918/19, 2013. 32 Stalmann (Fn. 31), Dokument Nr. 22 und Nr. 29. 33 So z. B. am 23.12.1918 über die Besetzung von fünf Richterstellen, StAHH, 241-1 I, 1550. 34 StAHH, 241-1 I, 264. 35 Stalmann (Fn. 31), Dokument Nr. 37. 36 Zu den Verfassungsberatungen siehe Ursula Büttner, Politische Gerechtigkeit und Sozialer Geist. Hamburg zur Zeit der Weimarer Republik, 1985, S. 67 ff.

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ein vom Senat vorgelegter Entwurf. Im Hinblick darauf, dass die (höherrangige) Weimarer Reichsverfassung einen Abschnitt über die Rechtspflege enthielt,37 verzichtete der Entwurf auf eigene Regelungen hierzu. Auch die Ernennung der Richter war in dem Entwurf nicht besonders geregelt. Da Richter nach damaliger Auffassung Beamte waren, waren sie von Art. 47 des Entwurfs miterfasst, wonach der Senat die Beamten ernennen sollte. In die Beratungen der Bürgerschaft wurden zwei Vorschläge eingebracht, die Ernennung der Richter abweichend von der der Beamten zu regeln: Nach dem ersten sollten die Richter ein – gesetzlich näher auszugestaltendes – Mitwirkungsrecht erhalten. Der zweite sah in Anlehnung an die in Bremen praktizierte Richterwahl38 die Einführung eines Richterwahl­ ausschusses vor, dem Mitglieder der Bürgerschaft, des Senats, der Gerichte und der Anwaltschaft angehören sollten. Gegen das alleinige Ernennungsrecht des Senats wurde eingewandt, dass der Chef der Justizverwaltung, der dem Senat gegenüber ein Vorschlagsrecht habe, einer bestimmten Partei angehöre, so dass parteipolitische Gesichtspunkte nicht auszuschließen seien. Andererseits sei diese Gefahr auch gegeben, wenn in dem vorgeschlagenen Wahlausschuss Mitglieder der Bürgerschaft vertreten wären. Noch am ehesten Zustimmung fand die Mitwirkung der Richter. Schließlich wurden beide Vorschläge zurückgezogen, die Art und Weise der Richterernennung einem künftigen Gesetz überlassen und der S­ enatsentwurf angenommen.39 Damit stand die Ernennung der Richter auch nach der Hamburgischen Verfassung vom 7. Januar 192140 allein dem Senat zu. Hierbei verblieb es bis zum Ende der Weimarer Republik. Richter wie auch Rechtsanwälte waren aber – wenn auch nicht gesetzlich, so doch faktisch – in das Verfahren über die Ernennung der Richter eingebunden. Nachdem Justizpolitiker des Arbeiter- und Soldatenrats einschneidende Änderungen auf dem Gebiet des Strafrechts, wie die Abschaffung der Strafkammern und ihre Ersetzung durch ­Laiengerichte, angekündigt hatten, hatte sich eine  – aus je drei Mitgliedern be­ stehende – gemeinsame Kommission der hamburgischen Richter und Anwälte gebildet. Auf ihr Ersuchen erklärte der Arbeiter- und Soldatenrat sich bereit, die Kommission anzuhören, „bevor Aenderungen in dem hamburgischen Richter­zustande oder in der Ordnung des Rechtspflegewesens beschlossen werden“. Außerdem sicherte ihr die 37 Art. 102–108 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.08.1919, RGBl., S. 1383. 38 Siehe dazu §§ 20 ff. des Bremischen Gerichtsverfassungsgesetzes vom 17.05.1879, Gesetzblatt der freien Hansestadt Bremen, S. 107; § 69 der Verfassung der freien Hansestadt Bremen vom 18.05.1920, Gesetzblatt, S. 183; zur Geschichte der Bremer Richterwahl [Wilhelm] Töwe, Der bremische Richter, in: DRiZ 1921, S. 299 ff. 39 Vgl. Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg 1920, S. 1584 ff., 1686 ff., 1831. 40 HmbGVBl., S. 20, das Ernennungsrecht des Senats in Art. 48.

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Senatskommission für die Justizverwaltung zu, ihr „bei allen wichtigeren Angelegen­ ­ uziehung zu den Sitzun­ heiten der Justizverwaltung […], insbesondere auch durch Z gen, Gelegenheit zur Ansichtsäußerung zu geben“.41 Infolgedessen beschloss die Senatskommission für die Justizverwaltung am 23. Dezember 1918, künftig bei der Wahl höherer Richter den gemeinsamen Rechtsanwalts- und Richterausschuss zu hören.42 Die drei- bis viermal im Jahr stattfindenden Besprechungen wurden von dem der Justizverwaltung vorstehenden Senator ­geleitet. Ihm zur Seite stand der für Personalangelegenheiten zuständige leitende Beamte der Justizverwaltung. Wegen der Auflösung des gemeinsamen Ausschusses wurden die richterlichen und anwaltlichen Teilnehmer seit Ende 1920 vom Hamburgischen Richterverein und vom Hamburgischen Anwaltverein nominiert. Die ausgewählten Rechtsanwälte gehörten angesehenen Sozietäten an und waren langjährig forensisch tätig, als richterliche Teilnehmer delegierte der Richter­verein erfahrene Berufungsrichter, zeitweise auch Gerichtspräsidenten. In den B ­ esprechungen äußerten sich die richterlichen und anwaltlichen Vertreter in großer Offenheit über die Qualifikation der Richter, die für eine Besetzung der freien Beförderungsstellen in Frage kamen. Neben der fachlichen Eignung kamen auch charakterliche Eigenschaften zur Sprache. Größere Divergenzen in den Beurteilungen waren eher selten; im Allgemeinen zeigte sich eine breite Übereinstimmung.43 Der Meinungsaustausch war für beide daran beteiligte Seiten vorteilhaft: Richter und Anwälte wurden in das Auswahlverfahren institutionell einbezogen, und der Chef der Justizverwaltung erhielt ein genaues Bild von der Eignung der Richter für Beförderungsstellen, das er in die anstehenden Beratungen der Senatskommission für die Justizverwaltung einbringen konnte. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Hamburg endete diese Einrichtung. Der nun amtierende Justizsenator hatte an einer Anhörung der Richter und Rechtsanwälte keinen Bedarf. Kurze Zeit später ging die Befugnis zur Ernennung der Richter vom Senat auf den Reichsstatthalter über,44 und nach der am 1. April 1935 abgeschlossenen Überleitung der Rechtspflege auf das Reich lag die Personalhoheit für die Justiz nicht mehr bei Hamburg, sondern dem Reich.45 41 StAHH, 213-1, 2009. 42 StAHH, 241-1 I, 1795, vol. 88. – Entgegen Herbert Ruscheweyh, Die Berufung in das Richteramt, in: Justiz und Verfassung, hrsg. vom Zentral-Justizamt für die Britische Zone, 1948, S. 11, 16, gab es keine entsprechende Kommission von Justizverwaltung, Richtern und Anwälten für die Auswahl von Richterkandidaten. 43 Vgl. die Sammlung der sehr instruktiven Besprechungsprotokolle in: StAHH, 241-1 I, 264. 44 § 1 Abs. 1 Ziffer 4 des Zweiten Gesetzes zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich (Reichsstatthaltergesetz) vom 07.04.1933, RGBl. I, S. 173. 45 Zur „Verreichlichung“ der Justiz grundlegend Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, 1988, S. 84 ff.

Die Ernennung der Richter in Hamburg seit der Trennung von Justiz und Verwaltung 251

Nach der Kapitulation hatte die britische Militärregierung die Justizhoheit in Hamburg als Teil ihrer Besatzungshoheit inne.46 Sie übertrug die Befugnisse des ehemaligen Reichsjustizministers zunächst auf den von ihr eingesetzten Ham­ burger Bürgermeister, sodann am 3. September 1945 – zur Herbeiführung einer klaren Trennung von Justiz und Verwaltung – auf den Oberlandesgerichtspräsidenten. Damit ging das dem Bürgermeister zustehende Recht, Richter zu ernennen, auf den Oberlandesgerichtspräsidenten über.47 Wie zuvor war die Ausübung dieser Befugnis dadurch eingeschränkt, dass – wegen der Entnazifizierung der Justiz – die Genehmigung der Militärregierung erforderlich war.48 Während die Justizhoheit den übrigen in der Britischen Zone gebildeten Ländern (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein) bereits am 1. Dezember 1946 von der Militärregierung übertragen wurde, geschah dies in Hamburg erst im September 1947. Seitdem erfolgte die Ernennung der Richter durch den Senat als „oberste Justizverwaltungsbehörde“ auf Vorschlag der ihm unterstellten Senatskommission für die Justizverwaltung.49 Der Oberlandesgerichtspräsident, der an den Sitzungen der Senatskommission teilnahm, ließ sich, soweit es um die Besetzung von Beförderungsstellen ging, von einem Ausschuss beraten, dem die Gerichtspräsidenten sowie Vertreter des Hamburgischen Richtervereins und des Hamburgischen Anwaltvereins angehörten. Dieser „Beförderungsausschuss“ ging auf eine Initiative des Richtervereins zurück, der sich nach seiner Neugründung am 25. Januar 194650 an den – damals noch für die Richterernennung zuständigen – Oberlandesgerichtspräsidenten mit dem Wunsch gewandt hatte, wie zur Zeit der Weimarer Republik „bei der Beförderung von Richtern in gehobene Stellungen“ ge-

46 Vgl. zum Folgenden Herbert Ruscheweyh, Die Entwicklung der hanseatischen Justiz nach der Kapitulation bis zur Errichtung des Zentral-Justizamtes, in: Wilhelm Kiesselbach zum achtzigsten Geburtstag, hrsg. von seinen Mitarbeitern im Zentral-Justizamt der Britischen Zone, 1947, S. 37 ff.; Joachim Reinhold Wenzlau, Der Wiederaufbau der Justiz in Nordwestdeutschland 1945 bis 1949, 1979, S. 83 ff., 121 ff., 156 ff. 47 Vgl. auch die Allgemeine Anweisung an die Oberlandesgerichtspräsidenten Nr.  1 vom 10.09.1945, Hanseatisches Justizverwaltungsblatt 1946, S. 72. 48 Nach dem Gesetz Nr. 2 der Militärregierung Deutschland, Amtsblatt der Militärregierung Deutschland – Britisches Kontrollgebiet – Nr. 3, S. 4, durfte niemand ohne Genehmigung der Militärregierung als Richter, Staatsanwalt, Notar oder Rechtsanwalt tätig werden. 49 Verordnung Nr.  100 der Britischen Militärregierung vom 01.09.1947, Amtsblatt Nr.  21, S. 592 – Ausgenommen war die Besetzung der richterlichen und staatsanwaltlichen Spitzenämter, die seit seiner Errichtung am 01.10.1946 dem Zentraljustizamt für die Britische Zone vorbehalten war, vgl. Verordnung Nr. 41 der Britischen Militärregierung, Amtsblatt Nr. 13, S. 299. 50 Vgl. Mitteilungen des Hamburgischen Richtervereins 4/2011, S. 7.

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hört zu werden.51 Der damalige Oberlandesgerichtspräsident Wilhelm Kiesselbach hatte sich für das Anliegen zwar aufgeschlossen gezeigt, „sobald die Zeitum­ stände es erlauben,“52 verwirklicht wurde es aber erst von seinem seit dem 2. Oktober 1946 amtierenden Nachfolger Herbert Ruscheweyh,53 der „eine offene Aussprache [in dem Beförderungsausschuss] für eines der besten Mittel [hielt], sich ein möglichst genaues Bild von den einzelnen Richtern zu machen“.54 Der Verfassungsentwurf, den der Senat der ersten gewählten Bürgerschaft im Januar 1948 vorlegte, sah zwar erstmals eine eigenständige Statusregelung für die Richter vor, ihre Ernennung sollte aber weiterhin allein durch den Senat erfolgen.55 Hieran hielt auch der zweite Entwurf fest, mit dem der Senat die nach ­Inkrafttreten des Grundgesetzes veränderte verfassungsrechtliche Lage berücksichtigte.56 Im Verfassungsausschuss der Bürgerschaft setzte sich dann aber der ­Gedanke der Mitwirkung eines Richterwahlausschusses durch, wie ihn das Grundgesetz für die Berufung der Richter der ober(st)en Bundesgerichte bestimmt und für „die Anstellung“ der Richter in den Ländern freigestellt hat.57 Dem folgte der Senat in seinem dritten Entwurf.58 Nach weiterer Überarbeitung durch den Verfassungsausschuss59 erhielt Art. 63 Abs. 1 Satz 1 der Hamburgischen Verfassung die endgültige Fassung: „Die Berufsrichter werden vom Senat auf Vorschlag eines Richterwahlausschusses ernannt.“

51 StAHH, 213-1, Abl. 12, 2200-1b/5. – Verfasser des Schreibens vom 23.02.1946 war Johannes Meyer, der von 1921 bis zu seiner Ernennung zum Landgerichtspräsidenten im Jahre 1931 als leitender Beamter der Justizverwaltung an den Sitzungen des damaligen Richter- und Anwaltsausschusses teilgenommen hatte. 52 Ebda., Antwort vom 04.03.1946. 53 So Ruscheweyh am 18.10.1948 in der Zusammenkunft von Oberlandesgerichtspräsidenten aus den drei Westzonen Deutschlands in Frankfurt a. M., StAHH, 213-1, Abl. 2001/1, 100-4a/1. 54 StAHH, 213-1, Abl. 12, 2200-1b/5. 55 Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft Nr. 6 vom 13.01.1948 – Entwurf einer Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, in: Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft im Jahre 1948, S. 4. 56 Mitteilung Nr. 170 vom 19.07.1949 – Entwurf einer Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, in: Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft im Jahre 1949, S. 303. 57 Art. 95 Abs. 2, Art. 98 Abs. 4 GG. – Auf die streitigen Fragen, ob und in welchem Umfang Art. 98 Abs. 4 GG den Ländern bindende Vorgaben macht, ist hier nicht einzugehen; vgl. dazu m. w. N. Fabian Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 403 ff. 58 Mitteilung Nr. 16 vom 20.01.1950 – Entwurf einer Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, in: Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft im Jahre 1950, S. 13. 59 2. Bericht des Verfassungsausschusses über den Senatsantrag Nr. 16/50, in: Stenographische Berichte 1952, S. 645, 657.

Schutz der rechtlichen Markenfunktionen in den deutschen Markengesetzen und in der Rechtsprechung seit 1874 Von Andreas Ebert-Weidenfeller

Nach einigen Vorläufern in einzelstaatlichen Regelungen lag nach der Reichsgründung mit dem Gesetz über Markenschutz vom 30. November 18741 (MarkenSchG 1874) schon bald ein umfassendes Gesetzeswerk zu durch Registereintragung erlangten Marken vor.2 Nach heftiger Kritik wurde dieses bereits 20 Jahre später durch das Gesetz zum Schutz der Waarenbezeichnungen vom 12. Mai 18943 (WZG 1894) abgelöst, das ein zentrales Register für Markeneintragungen vorsah. Das WZG 1894 hatte Bestand bis zur Ablösung durch das Warenzeichengesetz vom 5. Mai 19364 (WZG 1936), das wiederum – insbesondere aufgrund der unionsrechtlichen Harmonisierungsvorgaben – durch das Gesetz über den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen vom 25. Oktober 19945 (MarkenG) ersetzt wurde. In der geschichtlichen Entwicklung hatte sich das Warenzeichen als Hinweis auf die Herkunftsstätte etabliert. Die Verknüpfung der Marke mit dem Gewerbetreibenden fand auch Eingang in die ersten Reichsgesetze und behielt sie seither bei. Das MarkenSchG 1874 sieht für im Handelsregister eingetragene Gewerbetreibende eine Registrierungsmöglichkeit von Marken im örtlichen Handelsregister vor und erstreckt sich gemäß § 1 auf „Zeichen, welche zur Unterscheidung ihrer Waaren von den Waaren anderer Gewerbe­ treibenden auf den Waaren selbst oder auf deren Verpackung angebracht werden sollen“.

1 RGBl., S. 143; hierzu Elmar Wadle, Entwicklungslinien des deutschen Markenschutzes im 19. Jahrhundert, in: GRUR 1979, 383, 388 f.; ders., Das Markenschutzgesetz von 1874, in: JuS 1974, 761 ff. 2 Der Begriff „Warenzeichen“ wurde durchgehend bis zum Inkrafttreten des MarkenG verwendet und danach durch den synonymen Begriff der „Marke“ ersetzt, der auch hier benutzt wird. 3 RGBl., S. 441. 4 RGBl. II, S. 134. 5 BGBl. I, S. 3082.

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Damit rückt die Unterscheidungsfunktion der Marke in den Mittelpunkt und wird zur Grundfunktion der Marke erkoren. Im Zusammenwirken mit dem positiven Benutzungsrecht des Gewerbetreibenden als Ausschließlichkeitsrecht (§ 8) sowie dessen negativem Verbietungsrecht gegenüber Dritten (§ 13) ist damit bereits im Ansatz die Identifizierungsfunktion der Marke angesprochen. Dies bedeutet einerseits die Zuordnung zum Rechtsinhaber, weist ihm andererseits auch die Aufgabe der Produktverantwortlichkeit zu, also für die Identifizierbarkeit zu sorgen. Auch in den Nachfolgegesetzen steht die Unterscheidungsfunktion der Marke im Mittelpunkt, nämlich in der Definition einer schutzfähigen Marke als ein Zeichen, das geeignet ist, die Waren eines Unternehmens von denen anderer Unternehmen zu unterscheiden (§ 1 WZG 1894, § 1 Abs. 1 WZG 1936, § 3 Abs. 1 MarkenG).6 Die Rechtsprechungspraxis zum MarkenSchG 1874 rückte deutlich das Prinzip der Registereintragung in den Vordergrund, so dass der Formalschutz der Marke zum Tragen kam.7 Damit wurde auch die Motivation des Markenanmelders zum Zeitpunkt der Anmeldung unbeachtlich. So hatte das Reichsgericht in der Entscheidung „van Houten“ vom 4. Dezember 1886 über einen Fall zu entscheiden, der modern gesprochen als Fall der Agentenmarke anzusehen wäre. Alleine die Tatsache, dass der Anmelder quasi als ungetreuer Agent dem Geschäftsherrn mit der Anmeldung der Marke zuvorkam, könne keine Unwirksamkeit des Rechtserwerbs begründen. Das Gericht verweist primär auf die in § 1 MarkenSchG 1874 geregelte Unterscheidungsfunktion und hält es für ausgeschlossen, dass die Registerbehörde die Interessenlage des Anmelders prüft. Für die Geltendmachung der Rechte aus der Eintragung sei es nicht erforderlich, „[...] daß der Berechtigte selbst zur Zeit das Zeichen anwendet, noch für den Erfolg der Anmeldung, daß er schon die Veranstaltungen zum Geschäftsbetriebe gerade mit den ­Warengattungen, für welche das Zeichen dienen soll, getroffen hat, sofern er nur Gewer­ betreibender mit eingetragener Firma ist.“ 8

So sei es unbeachtlich, ob der Anmelder „den Willen, es sich für eine zukünftige Bezeichnung seiner Waren zu reservieren“, gehabt habe.9 Auch den Versuch des 6 Die Dienstleistungsmarke wurde erst durch das Gesetz über die Eintragung von Dienstleis­ tungsmarken vom 29. Januar 1979 (BGBl. I, S. 125) anerkannt. Dieser Beitrag erwähnt daher nur die Warenmarke. 7 RGZ 17, 101, 102. 8 RGZ 18, 93, 96 – van Houten; lediglich die Ausübung der Rechte aus einer „Sperrmarke“ wurde als rechtsmissbräuchlich eingestuft: RGZ 13, 157, 159 – W. & J. C. Flint’s Blau­ sternmarke. 9 RGZ 18, 93, 98 – van Houten.

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Markenanmelders, sein Zeichen in täuschender Weise im Rechtsverkehr einzusetzen, sieht das Gericht nicht als Unwirksamkeitsgrund der Registermarke an.10 Das Reichsgericht führt aus: „Die Ignorierung dieses materiellen Unrechtes gegenüber dem formellen Rechtserwerbe seitens des Gesetzes hat auch nichts Auffallendes. Da [...] der Gesetzgeber sich einem Rechtszustande in großen Teilen Deutschlands gegenüber fand, nach welchem die An­ bringung solcher Kennzeichen trotz ihrer Wirkung auf das Publikum als etwas rechtlich durchaus Indifferentes galt, war er eben nicht gehindert, das von ihm erst zu schaffende Recht von einem rein formalen Prinzipe aus mit den Vorzügen größter Präzision und Si­ cherheit zu begründen.“ 11

Bezogen auf den Markeninhaber führt das Formalprinzip zwar zur Bindung der Marke an den Geschäftsbetrieb, also den Ausschluss der Übertragbarkeit der Marke ohne den jeweiligen Geschäftsbetrieb („Leerübertragung“).12 Weitergehende Anforderungen wie der Nachweis, dass der Anmelder auch tatsächlich Waren, für die er Schutz nachsucht, in den Verkehr bringen will, werden nicht gestellt.13 Der Geschäftsbetrieb des Markeninhabers wird im Rahmen der Individualisierungseignung der Marke geschützt: Der Individualmarke des Gewerbetreibenden kommt der Schutz vor Täuschung zugute: 10 Ebenso RGZ 25, 114, 120 – Lowendall. Josef Kohler hatte insoweit gefordert, dass die Marke nicht „deceptiv“ sein dürfe: „[…] sie darf nicht das Bestreben in sich tragen, Betrug zu üben, Täuschung zu verbreiten und das Publikum zu hintergehen.“ Vgl. Josef Kohler, Das Recht des Markenschutzes, 1884, S. 170. Kohler versucht, diesen Aspekt hilfsweise auch unter den Schutzausschluss der Ärgernis erregenden Darstellung nach § 3 Abs. 2 MarkenSchG 1874 zu subsumieren. Diesen Aspekt verwirft das Gericht. Ein markenrechtlicher Löschungsgrund für täuschende Zeichen wurde erst in § 9 Abs. 1 Nr. 3 WZG 1894 aufgenommen. In der frühen Entscheidungspraxis wurde das MarkenSchG als einheitliche und erschöpfende Regelung angesehen (RGZ 3, 67, 69 – Apollinarisbrunnen; RGZ 18, 28, 30). Außermarkenrechtliche Verstöße wurden erst in der späteren Rechtsprechungspraxis berücksichtigt, indem zugelassen wurde, dass der Verstoß gegen die guten Sinne nach den Vorschriften zum später erlassenen Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 7. Juni 1909 (RGBl., S. 499, UWG 1909) zu einer Einschränkung der Ausübung des formalen Zeichenrechts führen konnte (vgl. RGZ 48, 233, 237 ff. – Zwillingszeichen). 11 RGZ 18, 93, 101 – van Houten. Auch Kohler (Fn. 10) verwendet die Begrifflichkeit „Si­ cherheit und Präzision“, S. 261. 12 RGZ 11, 140, 141; RGZ 15, 102, 107 – Deutsche Globe, Hufnagelfabrik; RGZ 20, 167, 170 – kein Besitz eines Zeichens unter Loslösung von der Firma; kritisch Hermann Isay, Die Selbständigkeit des Rechts an der Marke, in: GRUR 1929, 23, 33 f., 49. 13 RGZ 15, 102, 105 f. – Deutsche Globe, Hufnagelfabrik.

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„Das Warenzeichen vertritt für das kaufende Publikum den Namen des Verfertigers der Ware; das Zeichen erspart ihm die Prüfung der Ware, solange es ein wahres Zeichen ist. Der gesetzliche Schutz des Warenzeichens bezweckt den Schutz des Publikums gegen Täuschung durch Ware, welche mit dem Zeichen eines nicht wahren Verfertigers versehen ist, nicht nur den Schutz des wahren Verfertigers gegen illoyale Konkurrenz.“14 So verstanden ist die Individualmarke das Unterscheidungsmerkmal eines einzelnen (bestimmten) Gewerbetreibenden und lässt sich so von dem Gattungsund Qualitätszeichen abgrenzen.15 Die Garantiefunktion ist insoweit als Vertrauensschutz zu werten, als Schutz vor Täuschung, „[…] denn der Gewerbetreibende, welchem es darum zu thun ist, sein Warenzeichen von anderen zu unterscheiden (wie dies ja der Zweck jedes Warenzeichens sein soll), wird nie um die Mittel verlegen sein, dies zu bewirken“.16 Der besondere Schutz gilt der Marke, weil das Publikum mehr auf diese als auf die Firma achtet.17 In seinem Urteil vom 3. November 1886 hatte sich der I. Senat des Reichs­ gerichts mit einem Fall auseinanderzusetzen, in dem das streitgegenständliche Zeichen nach heutiger Diktion die erforderliche Unterscheidungskraft als Kennzeichen nicht besaß, weil es nämlich als längere schriftliche Ausführung und nicht als Unterscheidungszeichen aufgefasst werden musste. Hinsichtlich der Begriffsbestimmung einer Marke verweist das Gericht auf den allgemeinen Sprachgebrauch und hebt hervor, dass es sich bei einer Marke „[...] nicht um eine die Ware charakterisierende Eigenschaft beliebigen Ursprunges, nicht um ein aus irgend einem Grunde vorhandenes Kennzeichen, sondern um ein gerade in der Absicht, eine Ware als von anderen verschieden deutlich und sicher erscheinen zu ­lassen, willkürliches angebrachtes Zeichen, um ein Merkzeichen handelt“.18

Die Unterscheidungsfunktion im Sinne von § 1 MarkenSchG 1874 wurde damit in Gestalt der vorrangigen Identifizierungsfunktion verstanden. Der Wortlaut der Vorschrift bezieht sich sowohl auf die Waren als das Objekt der Kennzeichnung als auch auf die Abgrenzung der Waren von denen der Mitbewerber. Die beiden Aspekte, nämlich einerseits die Warenunterscheidung und andererseits die Aus14 15 16 17 18

RGZ 24, 74, 81 – stählerne Sensen. RGZ 24, 78, 78 – stählerne Sensen. RGZ 3, 69, 73 – Löwenwappen. RGZ 3, 69, 74 – Löwenwappen. RGZ 18, 85, 86. Nach Grimm ist das „Merkzeichen“ das Zeichen, durch das man etwas merkt oder erkennt, Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 1854 ff., Bd. 12, Art. „Merkzeichen“.

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richtung auf den Markeninhaber, dem die Unterscheidbarkeit zugewiesen wird, lassen sich rechtlich indes unterschiedlich ausgestalten. Soweit das Reichsgericht die Unterscheidungsfunktion nach Art eines „Merkzeichens“ ausfüllt, wird der Blick mehr auf die Ware selbst und nicht auf ihre eigentliche betriebliche Herkunft gerichtet. Die Unterscheidung findet zwischen verschiedenen Waren statt, und diese werden untereinander unterschieden. Die Marke dient somit zur Individualisierung der Ware19, um ihre Bezeichnung (im Sinne von „Zeichen“).20 So werden die Kriterien der Schutzfähigkeit erfüllt, wenn die Marke nicht bloß Produkteigenschaften beschreibt, sondern als arbiträres Zeichen eine Produktidentifikation gewährleistet, sich also das Produkt quasi aus einer anonymen Masse „namenloser“ Produkte hervorhebt. Die betriebliche Herkunft ist bei diesem Verständnis auf eine Ware zu beziehen, die sich im Allgemeinen von einer beliebigen Herkunft unterscheidet. Dieser Aspekt leitet über auf den wichtigen Begriff der Herkunftsfunktion, die in der ­Auslegung zum WZG 1894 und den Folgegesetzen die markenrechtliche Rechtsprechung durchzogen hat. Sie ist auch aufgrund des gesetzgeberischen Wortlautes sicherlich Teil der Unterscheidungsfunktion, doch fortan quasi mit einem „Eigenleben“ ausgestattet worden. So richtete sich der Blick nicht mehr primär auf die Warenbenennung im Sinne eines Kennzeichens, sondern auf die Gewährleistung der Ursprungsidentität und die innige Verknüpfung mit dem Geschäftsbetrieb des Inhabers selbst. Unter der Geltung des WZG 1894 kristallisierte sich die Tendenz heraus, es als vorrangigen Zweck einer eingetragenen Marke anzusehen, „die Waren, für die es eingetragen steht, als aus einem bestimmten Betriebe herrührend zu kennzeichnen“.21 Die ständige Spruchpraxis sowohl des Reichsgericht als auch des Bundesgerichtshofes betonte die Herkunftsfunktion als das das Wesen der Marke ausmachende Moment.22 In diesem Sinne besteht die Herkunftsfunktion darin, dass die 19 RGZ 18, 28, 31, 34 – Joh. Hoff („Individualitätsbethätigung“). Das Gericht spricht vom „eigentlichen Warenzeichen“. 20 RGZ 25, 114, 120 – Lowendall. In der Konsequenz ist deshalb bei der Prüfung der Markenkollision nur der bildliche Eindruck der Vergleichszeichen maßgeblich, nicht aber der klangliche. 21 OLG Düsseldorf, Urteil vom 26. Februar 1909, Rheinisches Archiv für Zivil- und Strafrecht, N. F. 6 = 108 (1912), S. 228, 230 – Germania; s. auch RGZ 95, 292, 295 – Birresborner Sprudel. 22 Dies wurde vielfach kritisiert, vgl. Isay (Fn.  12), GRUR 1929, 23, 25; Ludwig Heydt, Wider die herrschende Lehre vom Erfordernis der warenzeichenmäßigen Benutzung, in: GRUR 1976, 7, 13; Walter Oppenhoff, Wandel der Markenrechtskonzeption?, in: GRUR Int. 1973, 433, 435; Gerda Krüger-Nieland, Neue Beurteilungsmaßstäbe für die Verwechslungsgefahr im Warenzeichenrecht?, in: GRUR 1980, 425, 427 f.

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Marke zur Unterscheidung der damit gekennzeichneten Waren von gleichen oder gleichartigen Waren anderer Herkunft diene.23 So verstanden wird die Herkunftsfunktion verletzt, wenn ein Dritter ein verwechslungsfähiges Zeichen verwendet, wenn der unbefangene Durchschnittsbeschauer daraus auf den Ursprung der Ware aus dem Geschäftsbetrieb des Markeninhabers schließen kann.24 Dem markenrechtlichen Ausschließlichkeitsrecht nach § 15 WZG 1936 wurde damit aufgrund der Qualifikation der Herkunftsfunktion auch das Erfordernis des „warenzeichenmäßigen Gebrauchs“ hinzugestellt, auch wenn dieses Merkmal lediglich negativ in der Schutzschranke des § 16 WZG 1936 einbezogen war.25 Die Bindung an den Geschäftsbetrieb des Inhabers wurde sehr starr. Verlangte die Rechtsprechungspraxis unter der Geltung des MarkenSchG nur einen kaufmännischen Betrieb an sich, musste unter der späteren Praxis nachgewiesen werden, dass ein Geschäftsbetrieb auch konkret mit den beanspruchten Waren ausgeübt wurde.26 Der BGH hielt fest: „Die Funktion des Hinweises auf einen bestimmten Geschäftsbetrieb […] ist nach dem deutschen Recht auch weiterhin die wesentlichste Aufgabe des Warenzeichens, an deren zentraler Rolle auch das Hinzutreten zusätzlicher Funktionen wie beispielsweise der der Warenunterscheidung [...] nichts geändert hat.“ 27

Die absolute rechtliche Bindung der Marke an den Geschäftsbetrieb ist indes erst durch das Erstreckungsgesetz vom 23. April 1992 aufgehoben worden.28 Aus der Herkunftsfunktion heraus wurde unter dem Gesichtspunkt der Verbürgung der Gleichmäßigkeit der Herkunftsstätte auch die Garantiefunktion verstanden, wobei ihr indes zunehmend eine eigenständige Funktion abgesprochen wurde. Die Garantiefunktion bedeutet die Gewährleistung einer gleichbleibenden Güte der Ware im Vergleich zu den bisher vom Markeninhaber in den Verkehr gebrachten Waren.29 In diesem Sinne wurde argumentiert, dass die gleichmäßige Herkunftsstätte auch eine Gewähr durch die Marke verbürge, wenn nämlich 23 BGH, GRUR 1953, 175, 176 – Kabel-Kennzeichnung. 24 RGZ 149, 335, 342 f. – Kaisers Kaffeegeschäft; RG, GRUR 1927, 706 , 707 – Lysol; BGH, GRUR 1953, 175, 176 – Kabel-Kennzeichnung; BGH, GRUR 1961, 280, 281 – Tosca. 25 Kritisch Heydt (Fn. 22), in: GRUR 1976, 7, 11 ff. 26 Kritisch Isay (Fn. 12), GRUR 1929, 23, 28. 27 BGH, NJW 1987, 2164, 2165 – Litaflex. 28 Gesetz über die Erstreckung von gewerblichen Schutzrechten, BGBl. I, S. 938 (§ 47). 29 RGZ 103, 359, 363 – Singer Nähmaschinen; RGZ 161, 29, 37 – SSW; BGH, GRUR 1953, 175, 176 – Kabel-Kennzeichnung; BGH, GRUR 1964, 372, 375 f. – Maja: „Die Garantiefunktion des Zeichens ist Inhalt seiner Herkunftsfunktion“.

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die Qualitätsbezeichnung als Marke im Sinne eines Unterscheidungszeichens ­geschützt ist und die vom Verletzer in den Verkehr gebrachte Ware diese Qualität nicht bietet.30 Das 1913 gesetzlich anerkannte Verbandszeichen (heute: Kollek­ tivmarke) bezog sich schon nicht mehr auf die Herkunft aus einem einzigen ­Geschäftsbetrieb, so dass insoweit statt auf der Herkunftsfunktion auf deren Garantiefunktion abgestellt wurde.31 Die Garantiefunktion ist insoweit auf das angesprochene Publikum gerichtet und unterstellt eine Verkehrserwartung im Sinne einer bestimmten retrospektiv bekannten Marke. Allerdings kam die Herkunftsfunktion insoweit auch als begrenzender Faktor in Betracht, wenn die Einhaltung einer bestimmten Güte der Waren nicht mehr als verbürgt galt.32 Auch die Werbefunktion wurde als Ausfluss der Herkunftsfunktion angesehen, die somit nur verletzt sein konnte, wenn werbliche Ankündigungen auch als warenzeichenmäßiger Gebrauch angesehen werden konnten.33 Gerade in Bezug auf die Werbefunktion ist dieser Ansatz stark kritisiert worden.34 Bereits Isay versuchte, eine Lanze für die Werbefunktion zu brechen, indem er sie – insbesondere mit Blick auf dem im Wirtschaftsleben wichtiger werdenden Markenartikel – als mit der Herkunfts- und Garantiefunktion als gleichwertig betrachtete und auch bereits dort einsetzen ließ, wo die Garantiefunktion noch nicht zum Tragen kam.35 Für ihn ist die Marke ein selbständiges Wirtschaftsgut. Diese Konzeption deckt sich mit dem tatsächlichen Befund des Wirtschaftslebens. Das Kriterium der „Herkunft aus einem bestimmten Unternehmen“ ist in einer zunehmend globalisierten Welt eher fragwürdig. Unternehmen haben eine Vielzahl von Marken, die sie hüten können wie einen Schatz, die sie aber auch ebenso weiterverkaufen oder zukaufen können. Die Marke ist damit eher eine Handelsware geworden. Soweit Marken vielfach mit dem Hersteller assoziiert werden, besteht doch die Gefahr, dass damit Tradition bzw. die Herkunft aus einem Traditionsunternehmen vorgespiegelt werden, ohne dass eine solche Qualität tatsächlich verbürgt werden kann. So dienen Marken eher der Vernebelung der Herkunft aus einem bestimmten Geschäftsbetrieb. 30 31 32 33

RGZ 40, 91, 96 – Direktorskie. Vgl. auch Isay (Fn. 12), GRUR 1929, 23, 25. BGH, GRUR 1967, 100, 104 – Edeka-Schloss-Export. RGZ 149, 335, 343 – Kaisers Kaffeegeschäft; RG, GRUR 1938, 348, 349 – Wein – eingefangener Sonnenschein; BGH, GRUR 1961, 280, 281 – Tosca. 34 Für eine stärkere Betonung der Werbefunktion Alfons Kraft, Zum Erfordernis eines verstärkten gesetzlichen Schutzes der Marke, in: GRUR 1989, 79, 82; Oppenhoff (Fn. 22), GRUR Int. 1973, 433, 435 f. 35 Isay (Fn. 12), GRUR 1929, 23, 25 ff.; s. auch bereits Kastl, Die Bedeutung des Warenzeichens in der Weltwirtschaft, in: GRUR 1927, 557, 559.

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Die Rechtsprechungspraxis zum MarkenSchG 1874 hob das „Merkzeichen“ hervor, das das Wesen der Marke ausmache. Dies ist im Grunde genommen sehr modern und zielt darauf ab, die Identität der Marke mit sich selbst zu betonen. ­Insoweit entfaltet die Marke Unterscheidungskraft. Die Marke identifiziert und kommuniziert.36 Es geht darum, die Identität der Marke mit sich selbst im Unterschied zu anderen Marken zu behaupten. Sie ist nur dann sinn- und wertvoll, wenn die angesprochenen Verkehrskreise bestimmte Eigenschaften mit ihr ­verknüpfen. Dann sind allerdings Vertrauen und Werbekraft gleichberechtigte Steuerimpulse. Die Verabsolutierung der Herkunftsfunktion, wie sie die spätere Rechtsprechungspraxis hervorgebracht hat, erweist sich somit als Fehlentwicklung.

36 Ebenso Karl-Heinz Fezer, Markenrecht, 4. Aufl. 2009, Einl. Rdn. 29.

Unbegrenztes Eigentum? Ein Nachbarschaftsstreit nach Gesetz, Rechtslehre und Rechtsprechung Von Pirmin Spiess

„Wir befinden uns in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Der ganze östliche mit Weinbergen bestandene Karlsberg der Stadt Neustadt an der Haardt ist von dem steinreichen Deutsch-Amerikaner Georg Schiffer besetzt! […] Der ganze östliche Karls­berg? Nein! 500 qm nennt der unbeugsame Oberamtsrichter August Schmahl sein Eigen. Darauf baut er eine neugotische Villa und leistet dem homo novus Wider­ stand. Schmahl verbaut dem Schiffer die Sicht auf die Stadt. Daraufhin mauert Schiffer seinen Nachbarn rigoros bis zur Dachtraufe hufeisenförmig zu.“1 Die Gründerzeit belebt das „lange 19. Jahrhundert“, in dem sich der Bürger – der citoyen wie der bourgeois – seine rechtliche Welt und Werteordnung schafft, die insbesondere das nachfolgende Jahrhundert bis heute nachhaltig prägt. Der Sachverhaltsdarstellung (I) folgt ein Blick auf das Kreuzbergurteil (II) und die Klärung der Vorfragen: Verwaltungsrechtsweg (III) und anwendbares Recht (IV). Es folgt die Erörterung der Rechtslage nach französischem Recht (V) und nach Badischem Landrecht (VI). Ein Blick auf die Rechtslage in Bayern (VII) und die Einbeziehung der Rechtsprechung des II. Senats des RG (VIII) beschließen den Beitrag (IX).

I  Der Tatbestand2 1  Die Villa Schiffer „Stadtbildprägende Villa von architektonischem Anspruch in beherrschender Hanglage“, so beschreibt die Denkmaltopographie das 1880 für Georg Schiffer als 1 Asterix lässt grüßen. 2 Die archivalische Aufhellung steht noch am Anfang, allein das Stadtarchiv Neustadt wurde ausgewertet. Die Akten des bayerischen Justizministeriums gelten als Kriegsverlust. Die jüngste Äußerung zum Sachverhalt entstammt der Feder von Hans-Jochen Kretzer, der beide Villen, die eine dienstlich, die andere privat kennt: Ein kurioser Nachbarschaftsstreit: Das umbaute Haus in der Villenstraße – heute „befreit“, in: ’s Haardter Blätt’l, H. 20/21 (2008), S. 16 und S. 17. Kretzer veranschaulicht seinen Beitrag mit Bildern.

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ersten Wohnbau errichtete Gebäude:3 die „Villa Schiffer“ oder nach seiner Frau benannt: „Villa Mathilde“. Sie wird als stattliche Gründerzeitvilla über unregelmäßigem Grundriss mit seitlichem Belvedereturm, Schieferwalmdach und großer vorgelagerter Südterrasse über Arkaden beschrieben, es handelt sich um einen zweigeschossigen Putzbau mit Aussichtsplattform.4 Das gesamte Ensemble ist amerikanischer Vorstellung einer Burganlage mit Sandsteingliederung nachempfunden, der Aussichtsturm (Bergfried) innen gerundet, mit einer Wendeltreppe und einem Verlies ausgestattet. Ein Hauch von „Burgenherrlichkeit“ umweht das Haus. Georg Schiffer (geb. 1822) ist Deutsch-Amerikaner und kehrt nach seinem Berufsleben als Brauereibesitzer in St. Louis (Missouri) in der Neuen Welt wieder in die Heimat zurück.5 Die Villa liegt circa 40 Meter von der Straße zurück und gewährt von der erhöhten Nordostecke des Grundstücks her einen ungestörten Blick auf und über die Stadt.6 Die Villa steht am „Alten Weg“, der von der Brauerei Geissel „bis zum verlassenen Leichenhof “ Richtung Gimmeldingen führt und infolge der seit 1930 einsetzenden regen Wohnbebauung in „Villenstraße“ umbenannt wurde.7

2  Die Villa Schmahl Dreigiebelige  – Mittelgiebel, zwei Seitengiebel  – Villa Schmahl: „Früher und ­exponierter Bau der in Neustadt seltenen reinen Neugotik mit bemerkenswerter De­ tailgestaltung und Ausstattung“.8 1883 nach Plan von Thomas Brug, Mannheim, für August Schmahl errichtet als traufständiger, zweifarbiger Sandstein­quaderbau 3 Stadt Neustadt an der Weinstraße, Kernstadt, bearb. v. Michael Huyer (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland: Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz, Bd. 19.1), 2008, S. 275, Sp. 1: Villenstraße 15 (Bild). Huyer beschreibt die Lage mit „am Klausenberg“, i. e. ein Teil des östlichen Karlsberges. 4 So Huyer (Fn. 3), S. 274 f. 5 Er erscheint im Census von 1860 als Bierbrauer in St. Louis/Missouri. In seinem Haushalt lebten seine Frau und Tochter Auguste, zwei Dienstmägde, ein Küfer, ein Angestellter und 12 Bierbrauer. Er besaß eine große Brauerei und war ein sehr vermögender Mann. 1864 wird in Neustadt sein Sohn Georg geboren, der 1881 über Bremen nach New Orleans auswandert (New Orleans Passenger Lists, 1813–1963). Diese Hinweise verdanke ich Roland Paul, dem Leiter des Instituts für pfälzische Geschichte und Volkskunde/Kaiserslautern. – Die Bremer Brauerei Beck’s braut ein Pilsner seit 2012 in St. Louis mit dem Aufdruck „stammt aus Bremen, Deutschland“. 6 Zur Stadt vgl. Pirmin Spieß, Kleine Geschichte der Stadt Neustadt an der Weinstraße, 2009. 7 Die Villa diente 1958–1988 als Schule des Deutschen Wetterdienstes, heute ist sie in Einzelwohnungen aufgeteilt. 8 Hierzu und zum Folgenden: Huyer (Fn. 3), S. 274.

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von zwei Geschossen und Satteldach. Beherrschender Mittelrisalit mit pfeilerbesetztem Stufengiebel, reich dekorierter Kantenerker, profilierte Fenstergewände, gekuppelte Fenster, aufwendig gerahmte Loggia mit Maßwerkbrüstung, umlaufende Gesimse, bemerkenswerte Schiebeläden der Fenster. An den Schmalseiten funktional unterschiedene Fenster. Die städtebauliche Perle nimmt dem Rentner Schiffer die schöne Sicht!9 August Schmahl aus Frankenthal amtierte als königlicher Landrichter in Edenkoben, am 8. Februar 1873 wurde er nach Neustadt versetzt.10 Die Reformen infolge der Reichsjustizgesetze von 1877 trugen ihm den Titel „Oberamtsrichter“ ein; 1886 stirbt er im Alter von 62 Jahren.11

3  Die Umbauung der Villa Schmahl Präzise auf den drei Grundstücksgrenzen zur Villa Schmahl zog Schiffer hufeisenförmige Bauten bis zur Traufhöhe hoch, die geschlossen die Villa ummanteln.Die Dachneigung lässt das Regenwasser auf das Schiffer’sche Grundstück ablaufen. Der Manschettenbau bringt der Villa die Bezeichnung „Mantelkragenhaus“ oder „Schachtel“ oder „das gefangene Haus“ ein. Den gesamten Umbau lässt Schiffer unterkellern und für eine Weinhandlung einrichten, der hintere Sandsteinkeller wurde mit einem Tonnengewölbe ausgestattet. Alle Keller können von der Straße her begangen werden. Der westseitige Bau misst 5 Meter in der Breite, der ostseitige Bau geringfügig weniger, das breitere nördliche Hinterhaus wurde als geräumiges Kelterhaus und Fassschmiede ausgebaut. In beiden seitlichen von außen mit Treppen zugänglichen Flügeln installierte Schiffer Werkstätten und Wohnungen mietfrei mit der Auflage, ab morgens 5 Uhr Krach zu machen, zu klopfen und zu hämmern.12 Heute noch kann das „Hufeisen“ im Keller umgangen werden.13   9 Die Eigentümer nach Kretzer (Fn. 2), S. 17: August Schmahl; 1897 Weinhändler Goldmann; 1902 Kielhöfer (Direktor der Fa. Wayss & Freytag); 1963 Familie Kelly; 1971 Ria Kretzer geb. Kelly. 10 Friedrich Jakob Dochnahl/Karl Tavernier/Wolfgang Werner Krapp, Chronik von Neustadt an der Haardt (Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung, Reihe D: Nachdrucke Bd. 6), 2010, S. 338. Schmahl wird Nachfolger des kgl. Landrichters Wilhelm Vogt, der am 23. November 1872 verstorben war. 11 Dochnahl u. a. (Fn. 10), S. 366: gest. am 17. November 1886. 12 Der Westflügel wurde im Zusammenhang mit einem Neubau des Carl Michael Seitz um 2000 abgerissen, der Ostflügel wenig später wegen Baufälligkeit niedergelegt. Der Hinterbau steht noch, der Keller indes wurde mit doppelstöckigen Zementfässern für ca. ½ Mio. Liter Lagerkapazität verbaut. 13 Kretzer (Fn. 2), S. 17: „Da die Keller von Ost- und Westflügel noch erhalten sind, ist es aber nach wie vor möglich, an einer Seite den Keller zu betreten, um das umbaute Haus herum-

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Plan-Nr. 4633a – Villa Schiffer Plan-Nr. 4633b – Garten der Villa Schiffer Plan-Nr. 4633c – Grundbesitz Schiffer Plan-Nr. 4631 – Villa Schmahl Plan-Nr. 4632 – Hufeisenbau Schiffer

Die Nordwestecke des „Mauerringwalls“ ließ Schiffer anschneiden, um für seine Villa die Sicht auf die Stadt von seinem Aussichtsturm her zu behalten. Schiffer ließ an den Seitenflügeln ausklappbare Scheunentore anbringen, die er wieder entzugehen und an der anderen Seite wieder zur Straße zu gelangen.“ Kretzer nennt die Umbauten „Hassbauten“.

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fernen mußte. Zudem verhandelte er mit dem der Villa Schmahl gegenüberliegenden Grundstückseigentümer Cullmann über Geländeankauf, um die Villa Schmahl auch nach Süden hin zuzumauern. Cullmann lehnte aber ab. Bislang gibt es keinen Nachweis für einen Rechtsstreit zwischen den Parteien. Im Vorfeld soll Schiffer dem Schmahl ein Grundstück auf gleicher Höhe seiner Villa westlich am Karlsberg zum Tausch angeboten haben, um seine Aussicht freihalten zu können. Schmahl lehnte ab, sein Grundstück entstamme dem Erbe seiner Frau, das er festhalten wolle. Weitere Angebote Schiffers bis zur dreimaligen Größe des Schmahlschen Grundstücks lehnte der Richter ebenfalls ab mit der Begründung, er könne mit seinem Grundstück machen, was er wolle. Der Richter folgte dem Gesetzgeber. „Well! Dann mache ich mit meinem Grundstück auch, was ich will. Ich werde Sie einmauern“, soll Schiffers warnende Antwort gewesen sein. Unbeirrt ließ Schmahl seine Villa bauen. Danach ging Schiffer auf Reisen und ließ während seiner Abwesenheit dreiseitig unterkellerte Bauwerke mit Pultdach hochziehen.

II  Das Kreuzbergurteil Die Annäherung an den Fall lässt an das Kreuzbergurteil des OVG Berlin denken: Hätte Schiffer den Bau der Villa Schmahl, die ihm ein Dorn im Auge war, verhindern können, um seinen Blick, seine schöne Aussicht – „Belvedere“ – auf die Stadt und die umliegende Landschaft zu erhalten? Zu den Aufgaben der Polizei zählen seit dem Kreuzbergurteil (1882) des OVG Berlin14 ästhetische Gesichtspunkte nicht mehr. Die Verordnung des Polizeipräsidiums Berlin mit dem Verbot an die Grundstückseigentümer rund um den Berliner Kreuzberg, Gebäude von einer bestimmten Höhe zu errichten, um die Sicht auf das 1821 errichtete Nationaldenkmal für die Befreiungskriege frei­ zuhalten, stach nicht mehr.15 Die Baupolizei sei nur für die Gefahrenabwehr, nicht für ästhetische Interessen, nicht für das gemeine Beste und das Allgemeinwohl

14 OVG Berlin 9, 353 ff. Vgl. zur Eliminierung des Wohlfahrtszwecks aus dem Rechtsinhalt der Polizei – cura promovendae salutis: Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland (Politica, Bd. 13), 1966, S. 244 ff.; Peter Preu, Polizeibegriff und Staatszwecklehre. Die Entwicklung des Polizeibegriffs durch die Rechts- und Staatswissenschaften des 18. Jahrhunderts (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 124), 1983. 15 Vgl. auch Uwe Wesel, Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart, 3. Auflage 2006, Rdz. 280.

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zuständig. Diese Sichtweise hatte der preußische Gesetzgeber bereits 1794 im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten § 10 II 17 festgeschrieben: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehen­ den Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey.“

Die preußische Rechtswirklichkeit holte aber erst 1882 den Gedanken des § 10 II 17 ein. Öffentliche Ordnung heißt nicht, für das öffentliche Wohl zu sorgen; die Polizei hat drohenden Schaden abzuwenden, Gefahren abzuwehren und nicht die Aufgabe, für allgemeine „Glückseligkeit“ und „gutes Leben“ Sorge zu tragen und die Wohlfahrt zu fördern. Im 19. Jahrhundert gewinnt die Eliminierung des Wohlfahrtszwecks aus dem Rechtsinhalt der Polizei zentrale Bedeutung. Die Literatur hält sich zurück, die Reduktion der Aufgaben der Polizei auf die Gefahrenabwehr scheint mit dem ALR anzusetzen,16 der Abschichtungsprozess ist aber 1882 vollzogen. Für die rechtliche Situation am Neustadter Karlsberg hieß dies, Georg Schiffer hatte keinerlei Chancen, den ihn störenden Neubau des Oberamtsrichters August Schmahl zu verhindern.

III  Eine Verwaltungsstreitsache? Die rechtliche Auseinandersetzung mit dem Fall lässt aus heutiger Sicht zuerst an das Baurecht denken. Im Neustadt bis zur Französischen Revolution dürfen die Bürger grundsätzlich nach ihrem Dafürhalten bauen. Das innerstädtische Baubild erscheint festgefügt. Der Rat achtet auf die Grenzen zum Gemeindegrund, den allgemeinen Nutzen und die Beeinträchtigung des Nachbarn.17 Es bestehen durchaus administrative Vorstellungen, insbesondere innerhalb der Stadtmauern.18 Der Fall Schiffer./.Schmahl spielt im ungeregelten Außenbereich. Die bisherige Bebauung endet am Haardter Treppenweg. Schiffer stellt seine Villa auf den anschließenden Karlsberg. Doch gibt es in den 80er Jahren des 19. Jahrhun16 Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Auflage 1980, S. 200–207. 17 Pirmin Spieß, Verfassungsentwicklung der Stadt Neustadt an der Weinstraße von den Anfängen bis zur französischen Revolution (Veröffentlichungen zur Geschichte von Stadt und Kreis Neustadt an der Weinstraße, Bd. 6), 1970, S. 139. 18 Pirmin Spieß, Die Stadtordnung Philipps des Aufrichtigen für Neustadt aus dem Jahre 1493, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz, Bd. 66 (1968), S. 197–305. Für die öffentlichen Bauwerke amtierte ein Baumeister.

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derts wenige öffentlich-rechtliche städtische Normen. Bauen in der Innenstadt richtet sich nach der vorhandenen Bebauung, Bauen im Außenbereich ist ungeregelt. Schiffer hat mit seiner 1880 errichteten Villa das erste Wohnhaus in den Weinbergen des östlichen Karlsbergs erbaut. Da Schmahl daneben baut, handelt es sich letztlich um eine Nachbarstreitigkeit im Wohngebiet. Läge eine industrielle Nachbarimmission vor, hätte jedenfalls in Frankreich der Streit einen öffentlich-rechtlichen Charakter und es käme der Verwaltungsrechtsweg in Frage. Die Abwehr der Immissionen von Gewerbe und Industrie hat das Dekret vom 15. Oktober 1810 der Verwaltung überantwortet.19 Vorliegend dreht sich der Streit zweier Nachbarn um eine Beeinträchtigung nebeneinander liegender Grund­ stücke infolge eines Ringgebäudes (Würgegebäudes). Daher liegt eine rein privatrechtliche Streitigkeit vor. An öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften für die Bebauung des östlichen Karls­berges gibt es zweierlei, das Alignement und das Niveau. Beide rechnen zu öffentlich-rechtlichen Normen. Streitigkeiten werden von der Verwaltung selbst entschieden, gegebenenfalls von der Administrativjustiz. Das Alignement meint die Bauflucht, die Baulinie zur Straße hin. Sie begrenzt die Breite einer Straße und verpflichtet den Grundstückseigentümer, diese Linie nicht zu überschreiten. Das „Alignement des s.g. Alten Wegs“20 zeigt die Anlage der Straße auf 10 Meter Breite. In den Akten erscheint die Baulinie mit roter Farbe eingezeichnet: es handelt sich beim Grundstück Schmahls beispielsweise um zwei parallel verlaufende Linien, die nördlich und südlich der Straße eingezogen sind.21 Nach Osten hin verläuft das Alignement jedoch nicht in gerader Linie, sondern in Schlangenlinien: „[…] dabei soll die Verbreiterung theilweise aus dem Bergterrain herausgeschnitten werden, während auf der anderen Seite der Straße ebenes Terrain liegt, wie z. B. an den Grundstücken von Schmahl, Schiffer, Witter, Dacqué, Alwens u. a.“ Schmahl hat die Baulinie eingehalten, Schiffer mit dem östlichen Bauflügel nicht. Am 17.  Oktober 1884 gibt Schiffer eine Beschwerde zu Protokoll wegen Feststellung „der Grenze seines Anwesens durch die Feldgeschworenen mit einem unrichtigen Maße“. Es stellt sich aber die Überschrei-

19 Alfons Bürge, Das Selbstverständnis des Gesetzgebers im Spannungsfeld zur Rechtsprechung und Lehre. Diachronische und synchronische Überlegungen zur Entwicklung des französischen Nachbarrechts im Zeitalter der Industrialisierung, in: Liber Memorialis François Laurent 1810–1887, ed. Johan Erauw, Boudewijn Bouckaert, Hubert Bocken, Helmut Gaus, Marcel Storme, 1989, S. 265–300, hier S. 274. Dennoch finden die Prozesse vor den Appellationsgerichten statt. 20 Stadtarchiv Neustadt (StAN), Akte Villenstraße. 21 StAN, Bl. 12.

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tung der Baulinie durch Schiffer heraus. Daher wird er mit 10 Mark, ersatzweise zwei Tage Haft, bestraft.22 Die andere einzuhaltende Baunorm ist das Niveau. Für die Einhaltung des ­Niveaus werden für das Schmahl’sche Grundstück drei Querschnitte gelegt mit genauen Messangaben. Danach steigt das Grundstück Schmahl auf 10 Meter um 0,525 Meter nach Norden an.23 Einen Grund zu Beanstandungen ergaben die Messungen nicht. Schmahl hat die städtischen Vorgaben eingehalten. Da es zu keiner Auseinandersetzung mit der öffentlichen Hand kommt und die Feldpolizei den Überbau Schiffers – den Ostflügel hatte er zu weit nach Süden gebaut – entscheidet, ist der Verwaltungsrechtsweg nicht angesagt. Auch zu weiteren verwaltungsrechtlichen Auffälligkeiten geben die Verhältnisse nichts her, so dass eine verwaltungsrechtliche Streitigkeit nicht vorliegt. Folglich kommt es auch nicht darauf an, dass ein verwaltungsgerichtliches Verfahren in den 1880er Jahren noch nicht existiert oder erst im Werden begriffen ist.24 Vorliegend handelt es sich um einen zivilrechtlich auszutragenden Nachbarschaftsstreit.

IV  Anzuwendendes Recht Die rechtliche Beurteilung erfolgt nach französischem Recht, es galt im bayerischen Rheinkreis, der Pfalz – auch Rheinbayern, Rheinpfalz genannt – der Code civil (Cc). Die linksrheinische Kurpfalz (Pfalz) gehörte bis März 1814 zu Frankreich und war französisches Staatsgebiet. Das linke Rheinufer wurde schon 1795 de facto mit Frankreich vereinigt, 1798 erfolgte die Einteilung in die Departements Rhin-et-Moselle – Roer – Sarre – Mont-du-Tonnerre. Dieser Gebiets­erwerb Frankreichs wurde durch den Frieden von Lunéville 1802 bestätigt. Der Cc galt in der Pfalz seit seiner Publikation am 31. März 1804 bis zum Inkrafttreten des BGB. Infolge der Beschlüsse des Wiener Kongresses wurde die Pfalz zunächst von einer österreich-bayerischen Landes-Administrationskommission (LAK) ab 16.06.1814 in Kreuznach, später in Worms (05.06.1815–01.05.1816), verwaltet. Nach der Einigung Bayerns und Österreichs am 14.04.1816 über die Verteilung der Gebiete 22 StAN am 13. Januar 1885; die Baulinie knickt auf dem Grundstück Schiffer leicht nach Norden ab. 23 StAN: Distriktsbauschaffner Lingenfelder 16. Februar 1882. 24 Als erstes Land des Deutschen Reiches hatte Baden die Administrativjustiz durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit der Errichtung des Verwaltungsgerichtshofes in seiner Hauptstadt Karlsruhe schon 1863 abgelöst. Preußen folgte 1872 mit der Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Errichtung des Oberverwaltungsgerichts Berlin 1875. Bayern, zu dem die Pfalz gehörte, gründete 1878 in München den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof.

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konnten die neuen Landesherrn ihre Provinzen regieren; Bayern nahm mit dem Inbesitznahmepatent vom 30.04.1816 die Pfalz am 01.05.1816 in Besitz mit der umständlichen Titulierung „k.  bayerische Landes­administration am linken Rheinufer“ und sicherte dem neuerworbenen Gebiet die Erhaltung der französischen Institutionen zu.25 Der bayerische Kommissar und spätere erste pfälzische Regierungspräsident26 stellte fest, dass „die abgeschafften Zehnten, und Feudalrechte nie mehr zurückgeführt werden, sondern für immer und unwiederbringlich abge­ schafft bleiben sollen“.27 Vor Erlass der Verfassung vom 26.05.1818, welche die rheinischen Institutionen nicht garantierte,28 verlangte die Presse die Beibehaltung der französischen Errungenschaften, u. a. „Befreiung des Eigenthums von Fesseln, Frei­ heit des Erwerbs, Abschaffung der Zehnten, gleiche ­Besteuerung, gleiches Gesez und gleiche Gerichtsbarkeit für Jeden“.29 Die bayerische Verfassung forderte ein allgemeines Zivilgesetzbuch für das gesamte Bayern. Indes stellte das Zusatzdekret vom 17.10.1818 fest, dass sich diese Bestimmung – Titel VIII § 7 – nicht auf die Einführung der in Altbayern geltenden Gesetze in der Pfalz bezog, vor allem nicht auf den Codex Maximilianeaus Bavaricus Civilis, sondern auf das noch zu „erlassende allgemeine Gesetzbuch“, wobei „die Verhältnisse des Rheinkreises auch gehörig gewür­ digt werden sollen“.30 Eine formelle Zusicherung war dies nicht, gleichwohl die Pfälzer das Zusatzdekret als „magna charta, eine Rechtebill“ feierten.31 Bayern hat niemals versucht, das französische Recht in der Pfalz zu ändern. Allerdings machte es auch die Novellierungen des Cc in Frankreich im Regelfall nicht mit und ließ die Gesetzeslage isoliert wie eine Zeitkapsel stehen. 25 Zum Ganzen: Werner Schubert, Das französische Recht in Deutschland zu Beginn der Restaurationszeit (1814–1820), in: ZRG GA Bd. 94 (1977), S. 129–184, hier S. 172. Vgl. ferner: Werner Schubert, Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Forschungen zur Neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 24), 1977; Werner Schineller, Die Regierungspräsidenten der Pfalz. Festgabe zum 60. Geburtstag des Regierungspräsidenten Hans Keller am 6. Mai 1980 (Schriftenreihe der Bezirksgruppe Neustadt im Historischen Verein der Pfalz), 1980, S. 12 ff. 26 Franz Xaver von Zwackh zu Holzhausen (1756–1843) amtierte 1816/1817 als Regierungspräsident in Speyer. 27 Philipp Jakob Siebenpfeiffer, Handbuch der Verfassung, Gerichtsordnung und gesamten Verwaltung Rheinbayerns, 1831, Bd. 1, S. 4; Merve Finke, Siebenpfeiffers Verwaltungshandbuch (1831–1833) (Südwestdeutsche Schriften, H. 22), 1997 (Diss. Mannheim). 28 Barbara Dölemeyer, Kodifikationen und Projekte, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 3, 2. Teilbd., hrsg. von Helmut Coing, S. 1442 f. 29 Neue Speyerer Zeitung, 1817, Nr. 17. 30 Siebenpfeiffer (Fn. 27), S. 120. 31 Neue Speyerer Zeitung, 1818, Nr. 143.

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V  Die Rechtslage nach französischem Recht Eine Beurteilung der Rechtslage auf der Grundlage des Code civil hat vor allem die Tragfähigkeit des Eigentums, die actio negatoria, das Nachbarrecht, die Schikane, den möglichen Rechtsmissbrauch und die deliktische Generalklausel abzuklopfen.

1  Das Eigentum Die Freiheit des Eigentums32 zählt zu den wichtigen Errungenschaften der französischen Revolution. Die Eigentumsgarantie gründet sich auf die Déclaration des droits et des devoirs de l’homme et du citoyen von 1789.33 Die Eindeutigkeit und ausschließlich positive Besetzung des Eigentums mag auch in der Abschaffung der Lasten und der Beschränkung des Eigentums durch Servituten, Lehen und Grundherrschaften gründen. Eine gewisse Radikalität zeigt darin das droit intermédiaire. In den Code civil findet diese Fassung Eingang: „De la propriété [Art.] 544. La propriété est le droit de jouir et disposer des choses de la manière la plus absolue, pourvu qu’on n’en fasse pas un usage prohibé par les lois ou par les réglements.“ 34

32 Ist aus dem Cc beispielsweise in das ABGB Österreichs übergegangen: § 362. 33 Art. V: „La propriété est le droit de jouir et de disposer de ses biens, de ses revenus, du fruit de son travail et de son industrie“ – „Das Eigenthum ist das Recht, dass ein jeder seine Güter, seine Einkünfte, die Früchte seiner Arbeit und seines Kunstfleißes genießen und damit nach eigenem Belieben schalten und walten darf “, Andreas Imhoff und Michael Martin (Bearb.), Die Landauer Jakobinerprotokolle (Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichsforschung, Reihe A: Pfälzische Geschichtsquellen, Bd. 3), 2001, S. 524 f. 34 Frankreichs Code civil, hrsg. v. Karl Heinsheimer, Martin Wolff, Erich-Hans Kaden, Walther Merk u. a. (Die Zivilgesetze der Gegenwart, Bd. I: Frankreich), 1932.

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Da der Code civil in allen Ländern, die rheinisches Recht angenommen haben, galt, gab es viele Übersetzungen.35 Die erste pfälzische36 Übersetzung 180437 lautete: „Von dem Eigenthume [Art.] 544. Das Eigenthum ist das Recht, auf eine ganz unbe­ dingte Weiße Dinge zu genießen und darüber zu verfügen, vorbehaltlich keinen Gebrauch davon zu machen, der durch Gesetze oder Verordnungen verbothen ist.“

Bestandteile des Eigentums sind die weitgehende Verfügungsfreiheit, wobei Verfügung nicht die heutige Bedeutung im geltenden deutschen Recht als dingliche Verfügung aufweist, sondern Gebrauchsfreiheit meint und zudem die Genussvorteile beinhaltet. Das Eigentum steht unter Gesetzesvorbehalt. Die Übersetzung einer von Ritter/Zweibrücken gedruckten Ausgabe der dreißiger Jahre des 19. Jahrhundert interpretiert: „[Art.] 544. Eigenthum ist das Recht, eine Sache auf die unumschränkteste Weise zu ­benutzen, und darüber zu schalten, vorausgesetzt daß man keinen durch Gesetze oder Verordnungen untersagten Gebrauch davon mache.“ 38

35 Eine ausführliche Zusammenstellung bietet Barbara Dölemeyer im Anhang an ihren Aufsatz: „C’est toujours le français qui fait la loi“ – Originaltext und Übersetzung. Anhang: Übersetzungen des Code civil und Code Napoléon, in: Richterliche Anwendung des Code civil in seinen europäischen Geltungsbereichen außerhalb Frankreichs, hrsg. v. Barbara Dölemeyer, Heinz Mohnhaupt, Alessandro Somma (Rechtsprechung. Materialien und Studien. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, Bd. 21), S. 21–29. 36 Stammt von Johann Peter Ackermann; Ackermann startet als katholischer Priester – Priesterweihe 1783 –, wird Mitglied des Landauer Jakobinerclubs, heiratet 1795, amtiert 1810– 1814 als Direktor der Neustadter Sekundärschule und wird Mitglied der Freimaurerloge, so Michael Martin, Revolution in der Provinz. Die Auswirkungen der Französischen Revolution in Landau und in der Südpfalz bis 1795 (Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung, Reihe B: Abhandlungen zur Geschichte der Pfalz, Bd. 3), 2001, S. 36 f. (Biogramm). 37 Das bürgerliche Gesetzbuch der Franzosen. Nach der stereotypischen Ausgabe von Firmin Didot. Ganz neu übersetzt von J[ohann] P[eter] Ackermann, Jahr 13 [1804/5]. Landau bei Georges und Prinz Jahr 13, Vorwort: Landau den 1. Thermidor [19.7.–17.8.] 13.ten Jahres. 38 Die drei französischen Zivilgesetzbücher von 1804–1807. Nachdruck hrsg. v. Pirmin Spieß und Karl Richard Weintz (Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung, Reihe D: Nachdrucke, Bd. 3), 2007, S. 84. Die Originalausgabe ist als „achter Stereotypen-Abdruck“ in Zweibrücken 1844 bei G. Ritter erschienen: „Die fünf französischen Gesetzbücher in deutscher Sprache nach den besten Übersetzungen“.

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Die Übersetzung betont nicht nur die unumschränkte Nutzung, sie wählt den Superlativ der Unbeschränktheit und kann damit in seiner Unbegrenztheit nicht mehr gesteigert werden. Noch 1932 interpretiert Heinsheimer den von ihm herausgegebenen Cc: „Vom Eigentum Art. 544: Eigentum ist das Recht, Sachen auf die unbeschränkteste Weise zu benutzen und darüber zu verfügen, vorausgesetzt, daß man davon keinen durch ­Gesetze und Verordnungen untersagten Gebrauch mache.“

Der Code civil hat unmittelbar nach seinem Erscheinen eine erste Lehrbuchbearbeitung durch Carl Salomo Zachariae von Lingenthal,39 Inhaber der Professur für Staatsrecht (!) an der Ruperto-Carola in Heidelberg erfahren.40 Die Straßburger Professoren Charles Aubry und Frédéric Charles Rau haben eine Übersetzung des Werkes ins Französische vorgelegt,41 die bis in die heutige Zeit intensiviert, weitergeführt und zwischenzeitlich auf 12 Bände angewachsen ist; es führte bis in den Zweiten Weltkrieg hinein auf dem Titelblatt den Zusatz: „d’après la méthode de M.  Zachariae“. Zachariae hatte die 1.  Auflage seines Handbuchs nach der ­Methode der Pandektenwissenschaft aufgebaut.42 In der 1. Auflage schreibt er zu dem „Eigenthumsrechte“:43

39 Klaus-Peter Schroeder, Karl Salomo Zachariae von Lingenthal (1761–1843) – Lehrer des französischen Rechts an der Ruperto Carola, in: 200 Jahre Badisches Landrecht von 1809/1810. Jubiläumssymposium des Instituts für geschichtliche Rechtswissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der Heidelberger Rechtshistorischen Gesellschaft vom 23. bis 26.  September 2009, hrsg. von Christian Hattenhauer/Klaus-Peter Schroeder (Rechtshistorische Reihe, Bd. 415), 2011, S. 201–216. 40 Das Lehrbuch entsprach offenbar einem nachhaltigen Bedarf. Es erlebte in Deutschland 8 Auflagen und wurde ins Französische übersetzt. Bis 1837 wurde es von Zachariae selbst bearbeitet, dann 1843 von A. Anschütz, 1875 von Sigismud Puchelt, 1886 von Heinrich Dreyer und 1894/95 von Carl Crome. 1842 wurde Zachariae durch den Badischen Großherzog der Beiname von Lingenthal verliehen und in den Adelsstand erhoben. 41 Cours de droit civil français de M. C. S. Zachariae traduit de l—allmand, revu et augmenté, avec l’agrément de l’auteur, par Charles Aubry et Charles-Frédéric Rau, t. 1–5, 1839–1846. 42 Hierzu Klaus-Peter Schroeder, „Eine Universität für Juristen und von Juristen“. Die Heidelberger Juristische Fakultät im 19. und 20. Jahrhundert (Heidelberger rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 1), 2010, S. 30–38. 43 Carl Sal[omo] Zachariae v. Lingenthal, Handbuch des Französischen Civilrechts, Bd. 1, Heidelberg 1808, S. 106. Die Vorrede zur 1. Auflage beginnt mit dem Satz: „Hier, wo ich Frankreichs Berge liegen sehe, musste der Gedanke, auch Frankreichs Rechte kennen zu lernen, von selbst in mir entstehn.“

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„1. das Recht, die Sache zu besitzen und zu gebrauchen, 2. das Recht, über die Sache zu verfügen. In dem lezteren Rechte ist wiederum begriffen: das Recht, eine jede mögliche Veränderung mit der Sache vorzunehmen, in so fern nicht das Gesetz unmittelbar oder mittelbar eine Ausnahme von der Regel macht. So kann er sein Gebäude beliebig erhöhen, in so fern nicht ein Anderer, vermöge einer Dienstbarkeit an dem Grundstücke, ein Verbiethungsrecht erworben hat. So kann z. B. ein Jeder auf seinem Grundstücke graben bauen und pflanzen, was und wie er will.“

Die 2. Auflage hat er vollkommen umgearbeitet.44 An seiner Eigentumsauffassung ändert sich nichts.45 „Das Eigenthumsrecht an einer Sache, ist das Recht einer Person, eine gewisse Sache schlechthin als einen Gegenstand ihrer Willkühr zu behandeln, in so fern nicht das Gesetz eine Ausnahme von dieser Regel macht.“ 46

Dazu bemerkt er in der Fußnote: der Code Napoleon nennt das Eigentum an einer Sache: „La propriété, d. i. bei Pothier das vollkommene Eigenthum in Gegensatz des dominii directi und utilis.“ „Der Eigenthümer kann z. B. einen jeden Bau auf seinem Grundstücke vornehmen, die stehenden Gebäude einreissen, oder ausbessern, oder höher bauen, oder einfallen lassen, oder ihnen eine Bestimmung geben, welche er will, in so fern er nur nicht auf diese Weise die Rechte Anderer, oder die bestehenden Polizeyverordnungen verletzt.“ 47

44 Karl Salomo Zachariae, 1. Bd. (Fn. 44), 2. „gänzlich umgearbeitete Auflage“, Heidelberg 1814. Die Umarbeitung beruht in der Ersetzung des Pandektensystems und durch Übernahme der Gliederung des Code civil. Zachariae schreibt selbst in seiner Vorrede S. IV f.: „Eine auch nur flüchtige Vergleichung zwischen der ersten und zweyten Auflage des Werkes wird zeigen, dass die neue Auflage den Nahmen einer gänzlich umgearbeiteten Auflage nicht mit Unrecht führt. Sie könnte selbst ein ganz neues Werk genannt werden. Kein Paragraph der ersten Auflage ist ganz unverändert geblieben. Die meisten Lehren sind völlig umgearbeitet worden; einige sind ganz neu hinzugekommen. Manches, was zu der Zeit, als die erste Auflage erschien, auf Nachsicht Anspruch machen konnte, würde jetzt einen strengen Tadel verdienen. Der Verfasser muss daher zugleich die erste Ausgabe dieses Handbuches hiermit für gänzlich unbrauchbar erklären.“ 45 Zachariae (Fn. 44), § 142. 46 Zachariae (Fn. 44), § 142. 47 Zachariae, (Fn. 44), § 145.

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So kann der Eigentümer mit Grund und Boden eines Grundstückes eine jede ihm beliebige Veränderung vornehmen. Folglich darf und kann Schiffer sein Grundstück beliebig bebauen! Kurz vor dem vorliegenden Baugeschehen erschien die 6. Auflage des Handbuchs, besorgt von Sigismund Puchelt.48 Das Eigentum wird inhaltlich unver­ ändert angesetzt, begrifflich noch schärfer gefasst und die Herrschaftsbefugnis geradezu überhöht: „Das Eigenthum ist das Recht, kraft dessen eine Person einen gewissen Gegenstand als ihrer Willkür schlechthin unterworfen behandeln darf. Der Eigenthümer ist in Bezie­ hung auf den Gegenstand seines Rechts ein Souverän.“ 49

In der Fußnote 1 bezieht Puchelt die Begriffe propriété des Art. 711 und dominium des römischen Rechts mit ein, ohne daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.50 An anderer Stelle hellt der Verfasser die im Eigentum enthaltenen Rechte auf, es habe seinem Wesen nach keine anderen Grenzen als die, welche ihm die Natur gesetzt habe. Er sei berechtigt, über seine Sache „eine jede Herrschaft, Macht und Gewalt“ zu üben, wie sie nach den Naturgesetzen geübt zu werden vermag. Nach Gutdünken könne er von seiner Herrschaftsbefugnis Gebrauch machen oder auch nicht, sie sei „eine unbeschränkte Alleinherrschaft“. In der Fußnote 1 merkt Puchelt an, man könne das Eigentum „als die möglich höchste Steigerung (Potenz) eines Rechts überhaupt betrachten“.51 Allgemein wird die Konzeption des Eigentums des Code civil verstanden als „absolutistisch, individualistisch und liberalistisch“, so Bürge.52 Ausführlich, inten-

48 Carl Sal[omo] Zachariä v. Lingenthal, Handbuch des Französischen Civilrechts, 6. Auflage hrsg. v. Sigismund Puchelt, Heidelberg 1875, S. 491. 49 „Im geistigen Mittelpunkt der Bodin’schen Begrifflichkeit steht der auf eine neue Inhaltsebene gehobene Begriff der Souveränität. […] Unter der Souveränität ist die dem Staat [...] eignende, absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen“, so nach Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Buch I–III übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Bernd Wimmer, hrsg. v. P. C. Mayer-Tasch, 1981, S. 26, 205. Der staatsrechtliche Begriff der Souveränität eignet sich nicht für die Beschreibung des privatrechtlichen Eigentums. 50 Vgl. Dietmar Willoweit, Dominium und proprietas. Zur Entwicklung des Eigentumsbegriffs in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechtswissenschaft, in: Historisches Jahrbuch 94 (1974), S. 131–156. 51 Zachariae (Fn. 48), S. 495 f. 52 Bürge (Fn. 19), S. 266, der dieser h. A. vielfach entgegentreten will.

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siv, material- und kenntnisreich setzt sich Bürge mit der französischen Privatrechtsauffassung zum Eigentum auseinander.53 Zwei Grundsätze treten in der Diskussion um das Eigentum immer wieder zutage: Nullus videtur dolo facere, qui suo jure utitur54 – Niemand scheint dolos zu handeln, der sein Recht gebraucht! Da Schiffer aber nicht nur dolos zu handeln scheint, sondern tatsächlich arglistig und absichtlich auf üble Weise dem Nachbarn zusetzt, steht sein doloses Handeln fest. Der andere Grundsatz: qui jure suo utitur, nemini injuriam facit.55 – Wer von seinem Recht Gebrauch macht, tut niemandem Unrecht! Sein Recht wird von Schiffer „grenzwertig“ eingesetzt. In einem obiter dictum eines Urteils über ein Fensterrecht nach Code civil schreibt das bayerische Oberste Landesgericht, nichts stehe dem unbeschränkten Rechte des Nachbarn entgegen, „auf seinem Grundstücke bis an die äußerste Grenze zu bauen“.56 Dennoch liegt im kompletten Entzug des Tageslichts, des Luftzuges und Windes und in der totalen Finsternis und im weitgehenden Entzug des Ausblicks eine (rechtswidrige) Eigentumsverletzung. Was folgt daraus?

2  Die actio negatoria Wie die rei vindicatio des Eigentümers gegeben ist beim Verlust der Sache, so komplettiert die actio negatoria den dinglichen Rechtsschutz des Eigentümers. Sie gibt dem Betroffenen ein Abwehrrecht als Schutzfunktion des Eigentums: dem Schmahl stehen dieselben Befugnisse als Eigentümer zu wie Schiffer. Schmahl hat anständigerweise sein Haus mitten in sein ohnehin nicht sehr großes Grundstück hineingestellt. Er hat nachbarschonend gebaut. Coing spricht von der in­ härenten Grenze des Eigentums57, es lassen sich immanente Schranken58 im Ge53 Alfons Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert. Zwischen Tradition und Pandektenwissenschaft, Liberalismus und Etatismus (Ius Commune, Sonderhefte  52), 2. Auflage 1995. 54 Zachariae (Fn. 48), S. 496, Fn. 3. 55 Zachariae (Fn. 44) Bd. 2, S. 700. 56 Bayr. OG, Bd. 5, S. 88 ff. Urteil vom 23. Juni 1875. Einen Bauwich braucht er sonach nicht einzuhalten. 57 Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 2 1989, S. 385. Coing meint allerdings, in den nationalen Rechten des 19. Jahrhunderts sei der Rechtsschutz des Eigentums durchweg nach dem Vorbild des römischen (gemeinen) Rechts gestaltet und dem Eigentümer stehe die negatorische Klage gegen Störungen und Rechtsanmaßungen zu, vgl. S. 387. 58 Andreas Thier, Actio negatoria, Nachbarrecht und Industrialisierung in der deutschen Rechtsprechung zum Code civil, in: Richterliche Anwendung (Fn. 35), S. 217–237, hier S. 219.

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gensatz zur Beschränkung von außen denken. Doch wie kann sich der Grundeigentümer verhalten, wenn sein Gegenüber bösartig handelt und ihn rabiat ­zubaut? Was kann die Rechtsordnung dem abenteuerlichen Pioniergeist eines ­zurückgekehrten Auswanderers entgegensetzen? Aus der Servitutenklage wird eine Eigentumsschutzklage, die der Code civil noch nicht in sein Regelungsrepertoire aufgenommen hat. Gleichwohl haben die französischen Gerichte in der Folgezeit eine Rechtsprechung zum Schutz des Nachbarn von immittierenden Anlagen ausgeformt, in der die faute eine untergeordnete Rolle spielte. Thier stellt sorgfältige Überlegungen zum französischen Nachbarrecht vor, die aber unseren Fall nicht erfassen.59 Der Eigentumsschutz ist im Code civil nicht nur unterentwickelt,60 der Code schweigt zu diesem Thema überhaupt.61 Das Gesetzbuch verzichtet auf die ausdrückliche Einführung der actio negatoria, das Abwehrrecht – mit oder ohne Verschulden – ist noch nicht ausgeformt. Ogorek62 meint, der Code civil enthalte keine speziellen Regeln darüber, doch gebe „die in den linksrheinischen Gebieten ausgeübte Praxis […] die action négatoire in engster Anlehnung an das römische Recht gegen jeden, der sich eine Grund- oder persönliche Dienstbarkeit an dem Grundstück eines anderen anmaßt“. Eine Dienstbarkeit indes maßt sich Schiffer vorliegend nicht an. Zum Durchbruch der actio negatoria fehlt der Entwicklung noch ein Schritt.

3 Immission Auch die Immissionen sind als Rechtsinstitut dem französischen Recht fremd.63 Immittere liegt in unserem Fall auch nicht vor. Schiffer mauert zu und hoch, doch schickt er nichts hinüber ins Nachbargrundstück. Er verhindert nur das Eindringen von Licht und Wind. Begrifflich darf das deutsche Recht herangezogen wer59

Thier (Fn. 58), S. 224: Lösungsansätze für nachbarliche Nutzungskonflikte in der französischen Regelungstradition des 19. Jahrhunderts, S. 228: Zur Rezeption französischer Regelungselemente in der deutschen Judikatur und S. 234: Integration durch Umformung.

59

60 Zachariae (Fn. 44), Bd. 5, § 219. 61 Heimsheimer (Fn. 34), 1932; Schroeder (Fn. 42), S. 30–38. 62 Regina Ogorek, Actio negatoria und industrielle Beeinträchtigung des Grundeigentums, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert. Eigentum und industrielle Entwicklung, Wettbewerbsordnung und Wettbewerbsrecht, hrsg. v. Helmut Coing und Walter Wilhelm (Studien zur Rechtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 4), 1979, S. 40–78, hier S. 41, Fn. 2. 63 Murad Ferid/Hans Jürgen Sonnenberger, Das Französische Zivilrecht, Bd. 2, 2. Auflage 1986, 3 C 139.

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den, wonach eine Einwirkung bei Grundstücken ein unmittelbares und positives Eingreifen in das Gebiet des Grundstücks ist; die Entziehung von Licht, Luft, Wind, Aussicht u. ä. fällt nicht darunter.64 Dennoch liegt eine erhebliche Störung und Beeinträchtigung des Eigentums vor – auch wenn sie nicht als „Einwirkung“ begriffen werden kann.

4 Nachbarrecht Keineswegs auch kennt der Code civil ein allgemeines Nachbarrecht. Indes enthält der Code civil einen eindeutigen Hinweis auf das Nachbarrecht in Art. 1763 Abs. 3 Cc: „Die ersteren [Verbindlichkeiten, die durch gesetzliche Bestimmungen entstehen] ­bestehen in den unwillkürlich eintretenden Verpflichtungen, welche, zum Beyspiele, ­zwischen benachbarten Eigentümern […] stattfinden.“

Viel gibt der Gesetzestext zwar nicht her, doch erhellt aus dem systematischen Zusammenhang: das Verhältnis der aneinandergrenzenden Nachbarn kann als Quasi-Kontrakt, als eine vertragsähnliche Handlung, modern gefasst vielleicht gar als gesetzliches Schuldverhältnis, festgemacht werden. Die Lehre entwickelt es zur obligation du voisinage.65 Doch bleibt es noch rudimentär und bedarf noch seiner Entwicklung, der Literatur ist das Nachbarrecht bekannt.66 Im deutschen Recht haben sich die Beziehungen unter den Nachbarn erst in den dreißiger ­Jahren des 20. Jahrhunderts zum „nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis“ entwickelt.67 Beispielhaft für Rechtsmissbrauch im Nachbarschaftsverhältnis sei Pardessus erwähnt:68

64 Planck’s Kommentar zum BGB, 3. Bd., 1. Hälfte, 5. Auflage 1933 § 903 Ziff. 2 b α oder Säcker, Münchner Kommentar zum BGB, 6. Aufl., 1997, § 906 Ziff. 28. 65 Ferid/Sonnenberger (Fn. 63), 3 C 139. Zu dulden seien die obligations ordinaires du voisinage, so Bürge (Fn. 18), S. 282 f. 66 Aubry et Rau (Fn. 41), t. 1, S. 394; Pothier kennzeichnete die Beziehungen zwischen Nachbarn als „quasi-contrat, qui forme des obligations réciproques entre les voisins“, und integrierte den römisch-rechtlichen Immissionsschutz in dieses Pflichtengefüge, Thier (Fn. 58), S. 223. 67 Vgl. Hans-Peter Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens? (Berliner Juristische Universitätsschriften, Zivilrecht 1), 1995. 68 Bei Bürge (Fn. 53), S. 94.

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Ein Grundstückseigentümer habe das Recht, die Fassade eines fremden, auf der gegenüberliegenden Seite der Straße gelegenen Hauses zu weißeln, um sich so mehr Licht zu verschaffen; umgekehrt soll der andere in der Wahl seines Hausanstrichs eingeschränkt sein. Er habe nämlich jene Farbe zu wählen, die dem Nachbarn nicht das Licht raube! Pardessus begründet seine Auffassung mit einer Art Gesellschaftsvertrag mit gegenseitigen und umgekehrten Anspruchsverbindlichkeiten: „[...] sont fondées sur l’obligation imposée à tous les hommes qui vivent en société, de se faire réciproquement du bien, siuvant que les circonstance l’exigent.“69 Die Judikatur nennt zwei einschlägige Urteile des Appellationsgerichts Metz. Im Jahre 1820 wärmte der Backofen eines Bäckers den Vorratskeller des Nachbarn sehr auf. Der Bäckermeister argumentierte, er halte sich im Rahmen der Gesetze und der Sicherheitsmaßnahmen. Das Gericht spricht die Grenzen des Eigentums an und stellt fest, dies genüge nicht. Beide Vorschriften dienten gerade der Vermeidung der eingetretenen Unannehmlichkeiten und zeigten damit ihre Unzulänglichkeit. Daher müsse zusätzlich Abhilfe geschaffen werden. Im Nachbarschaftsverhältnis käme es darauf an, die gleichen Rechte der Parteien miteinander in Einklang zu bringen. Der eine Eigentümer habe das Eigentum des anderen zu respektieren.70 Bereits früher hatte das Gericht eine Hutfabrik, die unangenehmen Gestank verbreitete, verpflichtet, Maßnahmen zur Abhilfe zu ergreifen.71 Der Grundsatz der schonenden Rechtsausübung zeichnet sich hier schon ab, der mit abus du droit de propriété auch eingefangen werden kann.72 Alle Rubrizierungen im Einzelnen meinen das allgemeine Nachbarrecht. Die Judikatur zum Code civil nimmt auch gemeinrechtliche Vorstellungen auf, wie sie in den Digesten, D. 8.5.8.5, zum Ausdruck kommen. Aristo wird im Rahmen einer Servitutenklage gefragt, ob man bei einer Käseräucherung den Rauch in höher gelegene Gebäude abziehen lassen dürfe. Aristo verneint, erlaubt sei, quatenus nihil in alienum immittat – und weiter: ius illi non esse id ita f­ acere.73 Zur weiteren Begründung zieht er eine Entscheidung des Alfenus heran, ­wonach ein Grundstückeigentümer zwar auf seinem Grundstück Steine behauen dürfe, doch der Nachbar verbieten könne, dass Steinabfall auf sein Grundstück falle.74 69 70 71 72 73 74

Bei Bürge (Fn. 53), S. 94, Fn. 492. Metz 16 aôut 1820, S. 21.2.154. Metz 10 nov. 1808, C.-N. 2.2.438. Zum Ganzen Bürge (Fn. 53), S. 95 f. Zitiert nach: Ogorek (Fn. 62), S. 40. Ogorek (Fn. 62), S. 40.

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5 Schikane Das Schikaneverbot wendet sich gegen eine Rechtsausübung, die nur den Zweck verfolgt, einen anderen zu schädigen. Die Befriedigung von Rachegefühlen duldet die Rechtsordnung nicht, wenn daneben kein anderes schützenswertes Interesse besteht. Als schikanös angesehen wurden etwa nutzlose Bauten direkt an der nachbarlichen Grundstücksgrenze.75 Schiffer konnte mit den Kellern und den Seitengebäuden und dem nördlichen Aufbau des Kelterhauses einen Weinbaubetrieb/Weinhandel begründen, indes entbehrten die Flügelbauten einer jeden sachlichen Begründung. Doch der Code civil normiert das Schikaneverbot nicht als Regelungstatbestand. Die Schikane geht auf im abus du droit.

6  Abus du droit de propriété Damit sollten die Rechtssphären der Nachbarn abgegrenzt werden. Art. 618 Cc kennt den Rechtsmissbrauch, wenn auch in anderem Zusammenhang. In Ackermanns erster pfälzischen Übersetzung von 1804 (s. o.) lautete der Artikel: „Die Nutznießung kann auch durch den Mißbrauch, welcher der Nutznießer von seinem Genusse gemacht hat, aufhören, wenn er nämlich auf dem Grundstücke sich Beschädigungen zu Last kommen oder selbes aus Mangel an Unterhaltung gänzlich zu Grunde gehen läßt.“

Der Rechtsmissbrauchsgedanke bei der Ausübung des Nießbrauchs lässt sich verallgemeinern, trägt indes eher subsidiär anzuwendenden Charakter als Notnagel. Eine dem § 242 BGB vergleichbare Generalklausel weist der Code civil nicht auf, dennoch können sich in vergleichbaren Gesellschaften vergleichbare Rechtsregeln und –grundsätze entwickeln. Die Analogiemöglichkeit zu Art. 618 beispielsweise wird durch die normierte Missbrauchsmöglichkeit bei der Leihe unterstützt. Ein Grundstück muss nicht wie bei der Dienstbarkeit als herrschendes oder dienendes Grundstück gekennzeichnet werden. Die Grundstückseigentümer befinden sich auf Augenhöhe. Jeder hat exakt die gleiche Rechtsposition inne. Auch der Gedanke der préoccupation überzeugt nicht. Ein früher bebautes Grundstück wird allein dadurch nicht zu einem herrschenden gegenüber einem später bebauten Grundstück. Bei neu hinzukommenden Industrieanlagen, die an ein Wohngebiet angebaut werden, könnte die Gewichtung durchaus anders ausfallen. 75 Historisch-kritischer Kommentar zum BGB hrsg. von Mathias Schmoeckel, Joachim ­Rückert, Reinhard Zimmermann, 2003, Bem. 3 zu §§ 226–231 (Haferkamp).

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7  Delikt gem. Art. 1382, 1383 Die Diskussion um die Notwendigkeit des Verschuldens bei der deliktischen ­Generalklausel des französischen Rechts bedarf vorliegend keiner Auseinandersetzung, da absichtliches, gar bösartiges Handeln Schiffers vorliegt. Fraglich kann allenfalls der Schadensersatz sein. Da Schiffer durch die Einmauerung das Haus Schmahls nahezu unbewohnbar gemacht hat, ist die Wertminderung zu ersetzen. Schaden meint aber allein dommage matériel, den reinen Vermögensschaden. Die Wertminderung kann nur als dommage immatériel begriffen werden, der grundsätzlich nicht ersatzfähig ist. Dommage moral, wie der immaterielle Schaden genannt wird, trägt der Geschädigte. Auch die mit der Ummauerung verbundene mögliche Gesundheitsschädigung seiner Bewohner wird schwerlich ersetzbar sein. Die psychischen Schäden, die heute mit der Persönlichkeitsrechtsverletzung oder dem normativen Schaden eingefangen werden können, sind (noch) nicht ­ersatzfähig. Auch insoweit zeigt die französische Rechtsentwicklung, dass sich ihr dieselben rechtlichen Probleme stellen: Das BGB begriff im Zeitpunkt seiner Entstehung mit Schaden ausschließlich den Vermögensschaden und kannte den immateriellen Schaden nur in den dafür vorgesehenen Fällen wie Schmerzensgeld.

VI  Badisches Landrecht Zu dem voranstehenden Fragenkomplex kann auch das Badische Landrecht befragt werden. Baden hat zum 1.  Januar 1810 den Code civil als Badisches Landrecht übernommen76 und bietet daher eine geeignete Plattform für die Anwendung französischen Rechts. Gegenüber der unmittelbaren Geltung des Code civil zeigen sich drei Verschiedenheiten: Baden lebt nach dem übersetzten Code civil, verbindlich war die amtliche Ausgabe mit dem deutschen Text.77 Johann Nikolaus Friedrich Brauer78 hat den

76 Adolf Laufs, Das Großherzogtum Baden und sein Bürgerliches Gesetzbuch, in: 200 Jahre Badisches Landrecht (Fn. 39), S. 1–16. 77 Dölemeyer (Fn. 28), S. 1445. 78 Christian Würtz, Johann Niklas Friedrich Brauer (1754–1813): Badischer Reformer in napoleonischer Zeit (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Bd. 159), 2005 (Diss. Heidelberg); ders., Johann Niklas Friedrich Brauer (1754–1813), der Schöpfer des Badischen Landrechts, in: 200 Jahre Badisches Landrecht (Fn. 39), S. 37–50.

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Code übersetzt. Diese Fassung wird 1810 als „Code Napoléon79 mit Zusäzen80 und Handelsgesezen als Land-Recht für das Großherzogthum Baden in Kraft gesetzt“.81 Großherzog Karl Friedrich hat 1809 zwei Druckereien (C. F. Müller und Macklot) das Druckprivileg erteilt.82 Indes ist bei Braun noch eine dritte Ausgabe erschienen.83 Den deutschen Text des Code hat Brauer mit 500 Zusätzen versehen, die mit Kleinbuchstaben dem jeweiligen Artikel angehängt wurden. Die Zusätze beinhalteten das bisherige in Baden-Baden seit 1588 und in Baden-Durlach seit 1654 geltende Landrecht, um die Kontinuität des alten badischen Rechts84 zu wahren. Schließlich konnte der Richter zur Überprüfung seines Ergebnisses das römische Recht subsidiär anwenden. Landrechtssatz (LRS)  4  b lautete: „Der Richter darf das römische Recht in vergleichende Rücksicht nehmen.“ Diese Konstellation war geeignet, im Landrecht Anpassungen und Veränderungen vorzunehmen und durchzusetzen85 und damit zur Rezeption des Code civil und Weiterentwicklung des Zivilrechts beizutragen. Es lässt sich in Baden von einer sich entwickelnden eigenen badischen Zivilrechtswissenschaft sprechen.86 Schubert87 nennt außer Zachariae, die Darstellungen des französischen Rechts von Bauer, 79 Napoleon wird als Zusatz 1815 entfernt, in der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder eingefügt und seit 1871 auf Dauer weggelassen. 80 Die Zusätze wurden dem geltenden baden-badischen und baden-durlachischen Recht entnommen und unter Kleinbuchstaben den jeweiligen Sätzen (Artikeln) hinzugefügt. 81 Laufs (Fn. 76), S. 3. 82 Die C. F. Müller’sche Hofbuchdruckerey und Macklot, beide Hofdrucker und Hofbuchhändler, erhalten am 24. November 1808 auf zehn Jahre das Privileg zum Druck einer offiziellen seitengleichen Ausgabe des Cc, so Martin Cramer, Der Verlag C. F. Müller und das Badische Landrecht, in: 200 Jahre Badisches Landrecht (Fn. 39), S. 285–291, hier S. 288 f. Beide Ausgaben erscheinen im Spätjahr 1809. Die Ausgabe von C. F. Müller wurde mehrmals nachgedruckt, letztmals anlässlich des Symposiums des Instituts 2009. Hinzu kommt noch eine dritte, der Macklot’schen Ausgabe gleiche und privilegierte Publikation in Karlsruhe im Verlag Gottlieb Braun. Bei ihm soll es sich um einen Angestellten der Buchhandlung Schwan und Götz in Mannheim handeln. 1811 wird er als Buchhändler in Heidelberg zugelassen. 83 3. Ausgabe: Land-Recht des Großherzogthums Baden. Nebst Handels-Gesetzen, Karlsruhe bey Gottlieb Braun 1809. 84 Seit 1771 waren beide Landesteile vereinigt. 85 Cramer (Fn. 82), S. 288. 86 Laufs, (Fn. 76), S. 4 und Cramer, C. F. Müller (Fn. 82), S. 288: „Einzig Baden vermag mit dem Badischen Landrecht wesentliche Anpassungen und Veränderungen des französischen Zi­ vilrechts vorzunehmen und durchzusetzen. Wie es zu diesem Sonderweg kommt, scheint indes­ sen nicht geklärt zu sein.“ 87 Werner Schubert, Der Code civil (Code Napoléon) in Deutschland und das Reichsgericht, in: 125 Jahre Reichsgericht, hrsg. von Bernd-Rüdiger Kern und Adrian Schmidt-Recla (Schriften zur Rechtsgeschichte, Bd. 126), 2006, S. 125–149, hier S. 133.

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Bauerband, Dreyer, Frey und Thibaut, ferner Barazetti und Josef Kohler; hinzufügen ließen sich Andreas, Bingner, Federer, Kah, Hachenburg, Heinsheimer und Platenius. Badisches Landrecht: „544. Eigenthum ist die Befugniß über Bestand und Wesen einer Sache, so wie über den Genuß derselben nach Belieben zu schalten und zu walten, so lang man nur keine durch Geseze oder Verordnungen des Staates untersagte Verfügung darü­ ber trifft.“ 88

Die Zusätze a–e zum Badischen Landrecht bringen für die vorliegende Thematik keine weiteren Erhellungen. Die Erläuterungen89 Brauers90 haben neben der Übersetzung in ihren Erklärungen und der Einarbeitung des genuinen badischen Landrechts ihr Auge auf das römische Recht gerichtet. Er hat sich nicht in aller Tiefe mit dem römischen Recht auseinandergesetzt und das gesamte Werk innerhalb eines Jahres erstellt. Aber er hat das römische Recht ins Visier genommen. Dem Titelblatt seiner Erläuterungen hat er daher einen weiteren Titel vorangestellt: „Eigenthümlichkeiten des Napoleonischen gegen dem Justinianischen mit Rücksicht auf das Badische Landrecht dargestellt von Dr. J. N. Fr. Brauer, Karlsruhe 1811“. Er hat regelrecht eine Kollation gefertigt. In der Vorrede des 5. Bandes91 nimmt Brauer darauf Bezug, schränkt aber die Bezugnahme auf seine Vorgehensweise en passant ein: „Hauptzweck, der auf wissenschaftliche Darstellung der Napoleonischen bürgerlichen ­Gesetzgebung geht, kommen die Abweichungen vom römischen Recht nur in ihren Grundstrichen im Vorbeygehen jedesmal vor: in dieser Gestalt genügen sie vollkommen.“ 88 Code Napoléon mit Zusäzen und Handelsgesezen als Land-Recht für das Großherzogthum Baden, Karlsruhe 1809, Nachdr. 1986, S. 143. Zugrunde liegt die Ausgabe des Verlages Christian Friedrich Müller. 89 J. N. Fr. Brauer, Erläuterungen über den Code Napoleon und die Großherzoglich Badische bürgerliche Gesezgebung, 6 Bde. Karlsruhe 1811 bei Christian Friedrich Müller: Vierter Theil Sachenrechte, Abschnitt Eigenthum § 456–§ 602 (S. 208 ff.). Brauer könnte Kreittmayrs Anmerkungen zum Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis vor Augen gehabt haben. 90 Der Biograph Brauers, Würtz, würdigt seine „rechtswissenschaftliche[n] wie auch rechtsprak­ tische[n] Tätigkeiten“, und er erkennt „seine schier unerschöpfliche Schaffenskraft, sein[en] Fleiß, seine umfassenden juristischen Kenntnisse sowie seine Lauterkeit, aber auch seine ­Pedanterie, eine gewisse geistige Enge und seine Biederkeit“, Würtz, Brauer … der Schöpfer (Fn. 78), S. 49 und 50. 91 Brauer (Fn. 89), S. IV.

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Seine Erläuterungen zu LRS 544 nehmen neben den Gesetzesvorbehalt auch mögliche Beschränkungen durch einen anderen Eigentümer auf92: Das Eigentum sei die Befugnis, über Bestand und Wesen einer Sache sowie über den Genuss derselben nach Belieben alle jene Verfügungen zu treffen, welche die Staats-Verfassung nicht untersage „und ein Eigenthümer nicht begeben habe“. Alle übrigen unverbotenen Verfügungsarten müssen in dem Eigentum liegen. Ein Klagerecht räumt Brauer dem Nachbareigentümer dann ein, wenn ein „bleibender unabwend­ licher Schaden für das Eigenthum anderer“ aus der Natur des Gebrauchs, den jemand von seiner eigenen Sache machen will, „allgemein und aller Orthen hervor­ geht, mithin der Geist der Sätze 640, 671 und 674 anschlägt“. Vorliegend hat diesen Nachbarschaftsgeist Schiffer grundlegend verletzt! Er schnürt dem Nachbarn Luft und Licht ab,93 er kann von seinem Gebäude keinen ungestörten Wohngebrauch mehr machen. Grundsätzlich verfügt der Richter über die Befugnis, polizeiliche Hilfe für die Wegschaffung des Hindernisses aufzurufen.94 Erschwerend mag im vorliegenden Fall dazukommen, dass Schmahl selbst als Richter in Neustadt amtiert und nicht Richter in eigener Sache sein kann. Stabel, späterer badischer Justizminister, sieht eine Beseitigung der Nachteile und Entschädigung für den Minderwert dann, wenn die Eigentumsverfügung schädlich auf das Nachbargut hinüberwirkt. Hier verfügt nämlich der Eigentümer zugleich über das Eigentum eines anderen. Wann liegt solches „widerrechtliches Hinübergreifen“ vor? Im Regelfall bei Entziehung von Vorteilen, welche der Nachbar gehabt hat, wenn Schiffer gewisse Eigentumsverfügungen unterlassen hätte. Indes führen gewöhnliche Belästigungen nicht weiter: sed est modus in rebus. Sofern aber derartige Belästigungen ins Ungewöhnliche ausarten und den Aufenthalt in der Nachbarschaft „unerträglich und ungesund“ machen, soll der Richter in Ermessensausübung verbietend einschreiten und eine Entschädigung bestimmen können.95 Feste Regeln gäbe es keine. Auch bei Neubauten bestehe eine „handgreifliche Billigkeit“. Schiffer versagt dem Schmahl die Achtung, die er für sein Eigentum in Anspruch nehmen würde; er handelt rücksichtslos. Dem Schmahl würde daher nach badischem Landrecht ein Klagrecht zustehen.

92 Brauer (Fn. 89), § 559. 93 Wie hoch die Wertschätzung der natürlichen Gegebenheiten ist, erhellt aus der Namensführung eines Neustadter Bades: „Licht-, Luft- und Sonnenbad“. 94 Brauer (Fn. 89), § 561, S. 212 f. 95 [Stabel], Nachbarrecht und Nachbarunrecht, in: Jahrbücher für Badisches Recht als erweiterte Fortsetzung der oberhofgerichtlichen Jahrbücher, hrsg. von Stabel, Mannheim 1867, S. 72–79, hier S. 73 f.

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Im Code civil sei der Grundsatz nicht so klar ausgesprochen wie in der badischen Judikatur96 – jedes Gebäude hat an einer Straße und an einem öffentlichen Platz durch die bloße Tatsache seiner Lage „ein wohlerworbenes Recht auf fortdauernden Genuß des Aus- und Einganges, des Lichtes und der weiteren Vortheile, welche aus der freien Communication mit der öffentlichen Straße entspringen. Dieses Genußrecht bildet einen integrierenden Bestandteil des ­Eigenthums am Gebäude und muß daher ungeschmälert erhalten bleiben.“ 97

Obwohl es das höchste private Recht darstellt, ist das Eigentum nicht unbegrenzt und hat auch im Rahmen des Privatrechts inhärente Grenzen.98 Das „kollidierende“ Nebeneinander und Gegeneinander, wie es Thier99 für das deutsche Recht sieht,100 besteht selbstverständlich auch im französischen Recht. Grundlegend hat sich Jhering101 mit dem Nachbarrecht befasst und den Parameter das gewöhnliche Maß des Erträglichen eingeführt. Diese Kategorie bestimmt sich nach ihm allein „danach, was im gewönlichen Leben nothwendig und üblich ist“. Dazu zählte er auf keinen Fall die Industriebetriebe. Das Nachbarrecht ist der geradezu klassische Typus einer Rechtsmaterie, die in besonders starkem Maß von Veränderungen ihrer sozialen und wirtschaftlichen  96 Landrecht Entscheidung 1842 I. p. 178 (öffentlicher Platz).  97 So Stabel, Nachbarrecht (Fn. 95), S. 73 ff.  98 Neben öffentlich-rechtlichen Beschränkungen, „le pouvoir juridique le plus complet d’une personne sur une chose“, Coing (Fn. 57), S. 383 f.; Aubry et Rau, (Fn. 41), t. II, § 190, p. 169.  99 Andreas Thier, Zwischen actio negatoria und Aufopferungsanspruch: Nachbarliche Nutzungskonflikte in der Rechtsprechung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter. Zur Reaktion der Rechtsprechung auf die Kodifikation des deutschen Privatrechts (1896–1914) (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 114), 2000, S. 407–449. 100 Thier (Fn. 99), S. 407: „Das räumliche Nebeneinander verschiedener Grundstückseigentümer ist nach der Eigentumskonzeption des BGB grundsätzlich ein rechtliches Gegeneinander. Zwar kann der Eigentümer nach § 903 prinzipiell nach Belieben auf sein Grundstück einwirken, die Nutzungsbefugnis findet aber ihre Grenze im Eigentumsrecht der anderen Grundstückseigen­ tümer. Sie haben Anspruch auf Unterlassung von Eigentumsbeeinträchtigungen. Grundstücks­ nutzungen mit grenzüberschreitenden Auswirkungen führen damit zu einem latenten Konflikt zwischen eigentumsrechtlichen Nutzungs- und Abwehransprüchen.“ § 1004 BGB. 101 Rudolf von Jhering, Zur Lehre von den Beschränkungen des Grundeigenthümers im Interesse der Nachbarn, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 6 (1862), S. 81–130, wieder abgedruckt bei Rudolf von Jhering, Gesammelte Aufsätze aus den Jahrbüchern für Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts, Bd. 2: Abhandlungen aus Bd. 5–15 der Jahrbücher, 1882 (Nachdr. 1981), S. 22–66, hier S. 64.

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Umwelt und nicht zuletzt durch den säkularen staatlichen Funktionswandel beeinflusst wird. Da sich die Literatur aber vorwiegend mit den industriellen Immissionen beschäftigt, lassen sich die Maßstäbe für reine Wohngebiete nur bedingt oder nur modifiziert anwenden.

VII  Die Rechtslage in Bayern Die Pfalz war mit ihrer Hauptstadt Speyer ein Regierungsbezirk Bayerns. In den altbayerischen Gebieten des früheren Kurfürstentums galt im 19. Jahrhundert weiterhin der von Wiguläus Xaverius Aloysius Freiherr von Kreittmayr verfasste Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis (CMBC) des Jahres 1756.102 Er war in der Pfalz wegen des dort fortgeltenden Code civil nicht unmittelbar anwendbar. Aber die Revisionen gegen die Urteile des Appellationsgerichtes gingen nach München, wo kaum jemand das französische Recht beherrschte; pfälzische Amtsleiter wurden deshalb ab und zu nach München beordert. Daher lohnt es sich auch in unserem Falle, einen Blick auf die Rechtslage nach bayerischem Landrecht zu werfen. Zum CMBC hatte Kreittmayer einen umfassenden Kommentar für die praktische Rechtspflege verfasst. Der Kommentar umgreift 5 Bände und titelte sich „Anmerkungen“.103 Kraft der höchstrichterlichen Judikate erhielten die Anmerkungen gesetzesgleiche Autorität. Ergänzende subsidiäre Quellen waren nicht ausgeschlossen.104 Der zweite Teil des Privatrechts befasst sich mit dem Eigentum. Gleichwohl Kreittmayr als grundsätzlicher Gegner des römischen Rechts auftrat, baut er seinen Codex weitgehend auf den Grundsätzen des römischen Rechts auf:105 II. Teil, 2. Kapitel § 1: „Das Eigenthum ist eine Macht und Gewalt, mit dem Seinigen nach eigenem Belieben frei und ungehindert zu disponiren, als Gesetz und Ordnung zuläßt.“ 106

102 Das Bayerische Landrecht (Codex Maximilianeus Bavaricus civilis – zitiert: CMBC) vom Jahre 1756 in seiner heutigen Fassung. Text mit Anmerkungen und Sachregister, hrsg. von Max Danzer, 1894. 103 Wiguläus Xaver Aloys von Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem: worinn derselbe sowol mit dem gemein als ehemalig Chur-Bayrischen Land-Recht genau collationirt […] wird, 5 Bde. 1758–1768. 104 So Hans Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgechichte, 4. Auflage, 1982, S. 63 f. 105 Ludwig Hammermayer, Das Kreittmayrsche Gesetzeswerk, in: Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 2 hrsg. von Max Spindler, 2. Nd. 1977, S. 1073–1077, hier S. 1076. 106 CMBC (Fn. 102).

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Kreittmayr versteht das Eigentum als dominium plenum und merkt dazu in seinem Kommentar an: „[…] wann alles beisammen ist, was die Natur des Eigenthums erfordert.“107 Anselm von Feuerbach lieferte bereits 1809 einen auf französischem Recht ­basierenden Entwurf eines neuen bayerischen Zivilgesetzbuches, der, vielfach überarbeitet, 1811 publiziert wurde.108 Der Entwurf wurde, wie auch vielfache weitere gesetzgeberische Bemühungen,109 nicht Gesetz. Im 2. Teil, 2. Kapitel § 1 definiert der Entwurf das Eigentum: „Das Eigenthum (dominium, proprietas), ist das Recht, mit der Substanz und den Nut­ zungen einer Sache frei zu schalten, und jeden Andern davon auszuschließen, soweit nicht dadurch Gesetze, Verordnungen oder Rechte eines Dritten verletzt werden.“

Die actio negatoria kommt ausschließlich als Servitutenklage bei den Dienstbarkeiten vor.110 Die Rechtsliteratur teilt dieses Verständnis des Eigentums, entwickelt es aber inhaltlich weiter. Roth111 erkennt „die Unterscheidung des Inhalts des Eigentums nach der positiven und negativen Seite von Wichtigkeit. Während die positive Seite dem Eigenthümer die Befugnis garantiert, über sein Eigenthum willkürlich zu verfügen, gewährt ihm die negative Seite das Recht, jede Einwirkung eines Dritten auszuschließen und daher gegen jede Entziehung und ­Beschränkung des Eigenthums die gesetzlichen Schutzmittel geltend zu machen. Folglich

107 Kreittmayr (Fn. 103), Bd. II, 2,2 (1761). 108 Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Bayern von 1811. Revidierter Codex Maximilianeus Bavaricus civilis eingel. u. hrsg. von Walter Demel und Werner Schubert (Münchener Universitätsschriften – Juristische Fakultät, Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. 63), 1986, S. 136. 109 Ein Entwurf von 1834 wurde auf der Basis des bayerischen Landrechts und des österreichischen Gesetzbuchs erarbeitet. Eine Verordnung vom 10. März 1844 bestellte erneut eine Gesetzgebungskommission. Ein neuer Anlauf 1854 führte zu einem „Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches des Königreichs Bayern“, veröffentlicht 1861/62. Dieser Entwurf beruhte im Wesentlichen auf den Grundsätzen des gemeinen Rechts. 110 Entwurf (Fn. 109), 2. Teil, Kapitel 3, S. 207. 111 Paul Roth, Bayrisches Civilrecht, 2. Theil, 1872, S. 39. Roth legte sein Lehrbuch in drei Bänden vor, die in Tübingen 1871–1875 erschienen. Er legt nicht kommentierend den CMBC aus, sondern versucht, das zersplitterte bayerische Recht (ALR in den ehemals preußischen Gebieten der Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth, Cc in der Rheinpfalz, verschiedene Stadtrechte) in Richtung eines einheitlichen Zivilgesetzbuchs zu würdigen.

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darf das Eigenthum nicht in der Art ausgeübt werden, dass mit der Überschreitung der Grenzen des Eigenthums das Eigenthum eines anderen beeinträchtigt wird.“ 112

So versteht er den Satz: qui jure suo utitur, neminem laedit. Die römischrechtliche Injurienklage hat sich zur Eigentumsklage, zur Abwehr von Einwirkungen entwickelt. Bauwerke dürfen nicht in die Luftsäule des Nachbarn ragen. „Bei Zuwiderhandlung steht diesem die actio negatoria zu.“113 Diese Auffassung stelle keine Beschränkung des Eigentums dar und werde als natürliche Konsequenz des jedem Eigentümer zustehenden „Verbietungsrechts“ begriffen. Es mache zugleich die „Beobachtung der dem Eigenthum bestimmten Grenzen zur Pflicht“. Die actio negatoria nennt er auch „Eigenthumsfreiheitsklage“, die Rechtsfolgen sind offen und so verschieden, wie sie nur verschieden sein können: Be­seitigung des beeinträchtigten Zustandes, Wiederherstellung der früheren Verhältnisse, Ersatzleistung für allen aus dem Eingriff erwachsenen Schaden, Sicherstellung gegen künftige Störungen.114 Daneben sieht Roth das Nachbarrecht als zulässige Beschränkung des Eigentums. Bauwerke, Zweige, auch ausgestoßene Stoffe in die Luftsäule des Nachbarn werden erfasst von des Nachbarn Verbietungsrecht, das die gewöhnliche Benutzungsweise dauernd (causa perpetua) hindert und erheblichen Schaden zufügt.115 Wenn auch bei Roth nicht vom Entzug des Lichtes und der Luft und der freien Sicht die Rede ist, haben sie m. E. doch der angeführten gegenständlichen Betroffenheit gleichzustehen. Der Schaden ist materiellrechtlich schwer zu messen, schlägt sich indes im Wohlbefinden und in der Gesundheitsschädigung nieder. Auch der Schadensbegriff erscheint noch rudimentär und begreift wohl nur den faktischen Schaden. Der Eigentümer muss nicht positiv beschädigt sein.116 Dagegen muss es sich um eine Belästigung handeln, welche die gewöhnliche, von jedem Eigentümer zu tragende überschreitet und die daher erhebliche Nachteile bringt. Diskutiert wird im bayerischen Recht insbesondere der Neidbau,117 der im vorliegenden Fall besser mit „Rachebau“ wiedergegeben wird. Die Bauordnung Memmingens z. B. führt dazu aus:

112 Roth (Fn. 111), S. 39 ff. 113 Roth (Fn. 111), S. 40. 114 Roth (Fn. 111), S. 227. 115 Roth (Fn. 111), S. 44. 116 Roth (Fn. 111), S. 44, Fn. 75. 117 Roth (Fn. 111), S. 88, Fn. 5, Memmingen. Ferner BO XXI, S. 243 (1873).

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„Und demnach sich vielmals bei dieser bösen und neidischen Welt zuträgt und begibt, daß einer seinem Nachbar zum Trotz und aus Neid einen unnöthigen Bau vornimmt, ­dadurch er seinem Nachbarn einen großen Schaden an Licht und Luft zufügt, also ist unser ernstlicher Befelch, daß unsere verordnete Baugeschworne fleißige Achtung darauf geben, und solchen Neidbau nicht zulasen sondern diselbigen allerdings abschaffen sollen. Und soll fürnemblich für einen Neidbau erkannt und gehalten werden, wann einer aus solchem seinem Bau einen schlechten Nutzen sein Nachbar aber dagegen an Luft und Licht einen großen Schaden hat oder was dergleichen unnöthig Gebäu mehr wären.“

Dem ist für den vorliegenden Fall nichts hinzuzufügen. „Item Neydpau, die ainem schaden prächten, sollen verpoten sein“, formuliert eine Münchener Bauordnung von 1489 in Art.  27,118 die 1631 neu aufgelegt wird.119 Roth berichtet von zwei Judikaten, die das Verbauen der Aussicht auf das Meer und die Behinderung des Luftzuges durch eine Tenne beim Dreschen zum Gegenstand haben und verbieten! 120

VIII  Die Rechtsprechung des Reichsgerichts Eine Rechtsvereinheitlichung der letztinstanzlichen Judikatur zum französischen Zivilrecht erfolgte durch das Reichsgericht, das am 01.10.1879 eröffnet und durch kaiserliche Verordnung vom 28.09.1879 die revisionsrechtliche Zuständigkeit erhielt.121 „Jeder Grundeigentümer hat das gleiche absolute Recht der Benutzung, aber die Rück­ sicht auf den Nachbar legt dem Eigentümer gewisse Beschränkungen bei der Ausübung seines Rechtes auf (Nachbarrecht).“ 122

In derselben Entscheidung steht: „Das Nachbarrecht, wie es im römischen Recht ausgebildet ist, gilt auch im Gebiet des französischen Rechts.“ Immission von Wasser

118 Ruth Schmidt-Wiegand, Art. Neid, Neidbau, in: HRG, Bd. 3, 1. Auflage, Sp. 943. 119 Roth (Fn. 111), S. 72. 120 Roth (Fn. 111), S. 73. 121 Schubert (Fn. 87), S. 133; Bernd Kannowski, Das Badische Landrecht in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, in: 200 Jahre Badische Landrecht (Fn. 39), S. 217–244, hier S. 220. 122 RGZ 11, 341–345 vom 13.12.1883. M. Scherer, Die Entscheidungen des Reichsgerichts und des obersten Bayrischen Landesgerichts zum Code civil, 1892, S. 22, 89 f.

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kann mit der negatorischen Klage verfolgt werden. Außerdem greift die Schadensersatzklage bei Verschulden. Der Entscheidung liegt ein Fall des LG und OLG Karlsruhe zugrunde, in dem ein Eigentümer sein Haus an die Giebelmauer des Nachbarn anbaute. Aus dem Neubau drang infolge seiner Feuchtigkeit Wasser in die Giebelmauer ein und ­verursachte Schimmelbildung. Der II. Zivilsenat wies mangels Verschuldens die Schadensersatzklage ab  – nur die Unterlassungsklage bedürfe keines Veschuldens  – machte aber grundlegende Ausführungen zum Nachbarrecht. Dieses ­entnimmt er zunächst dem badischen Recht, rekurriert dann aber wegen seiner subsidiären Geltung auf das gemeine Recht und kehrt letztlich wieder zum französischen Recht zurück (actio negatoria), auch mit Ausführungen zu LRS 1382; das mögliche Verschulden bezieht das RG auf die Vorhersehbarkeit des Schadens. Der Senat sah in dem Fall einen rechtswidrigen Eingriff in das Eigentum des Nachbarn. Zu diesem Fall nimmt auch Kannowski Stellung: „In diesem Fall betrieb das Reichsgericht Rechtsfortbildung über das französische Recht hinaus.“123 Der Senat unternimmt den Spagat zwischen französischem und römischem Recht, wie es Brauer formuliert hat „zur Überprüfung des Gefundenen“. Adrian Bingner124 ist es gelungen, das Nachbarrecht weiterzuentwickeln. Es griff auf die im gemeinen Recht gefundenen Grundsätze zurück und bildete damit zugleich das französische Recht Badens weiter.125 In demselben Entscheidungsband bekräftigt er die actio negatoria auf Beseitigung oder Unterlassung und auch den Schadensersatzanspruch bei Immissionen.126

123 Kannowski (Fn. 121), S. 226 ff. 124 Auf Vorschlag Badens erhielt Bingner den Vorsitz im 2. Senat, den er 1879 bis zu seinem Tode 1902, also 23 Jahre, leitete. Julius Federer beschreibt Bingner so: Er leitete den Senat „mit vollendeter Rechtskenntnis und Lebenserfahrung, vornehmer Würde und unbestechlicher Objektivität, aber auch mit ausgleichender Liebenswürdigkeit und menschlichem Wohlwollen“, NDB, Bd. 2, 1955, S. 248. In Heidelberg amtierte Bingner 1861 als Amtsrichter. 125 Hierzu Cosima Möller, Das römische Recht in der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Geltendes Recht und ratio scripta, in: 200 Jahres Badisches Landrecht (Fn. 39), S. 119– 123. 126 RGZ 11, 345 ff. Zum Ganzen: Detlev Schumacher, Das Rheinische Recht in der Gerichts­ praxis des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Auslegung rezipierter Rechtsnormen (Schriftenreihe des Instituts für europäisches Recht der Universität des Saarlandes, Bd. 9), 1969, S. 77–82.

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IX Ausblick „Wohin Napoleons Gesezbuch kommt, da entsteht eine neue Zeit, eine neue Welt, ein neuer Staat“, hat Paul Johann Anselm Feuerbach bemerkt, als er von der bayerischen Regierung mit der Neubearbeitung des Code civil für Bayern beauftragt wurde.127 Der in der Pfalz geltende Code civil führte keineswegs ein isoliertes Rechtsleben.128 Er war in die Rechtsprechung der Mittel- und Obergerichte ein­ gebunden. 1815 in Kaiserslautern,129 seit 1816 in Zweibrücken wurde der Kassa­ tionsgerichtshof mit dem Appellationsgericht vereinigt. Das pfälzische OLG Zweibrücken kann auf 200 Jahre seines Bestehens zurückblicken. Jetzt konnte in Abänderung des französischen Kassationsrechts das Gericht in der Sache selbst entscheiden. Zum Dezember 1832 wurde der Kassationshof nach München verlegt und an das Münchener Oberappellationsgericht angebunden. Dies hielt bis 1879 an; seitdem gab es die Revision zum Reichsgericht mit dem verständigen Rheinischen Senat. Befruchtend konnte sich die rechtsrheinische Entwicklung in Baden auswirken, das in toto den Code civil übernommen und mit altem badischen Landrecht „angereichert“ hatte. Vor allem in Baden konnte sich eine eigenständige Beschäftigung mit dem französischen Recht entwickeln. Der rheinische Senat am Reichsgericht wurde mit badischen Richtern besetzt. Nach Adrian Bingner folgte im Vorsitz 1902 Richard Förtsch, der aus dem badisch-landrechtlichen Gebiet kam, 1871 in den Justizdienst von Elsaß-Lothringen versetzt, am LG Metz und OLG Colmar tätig war, bis er ins Ministerium Elsaß-Lothringen und 1890 an das RG wechselte.130 Der Code civil hat in der Pfalz und in Baden auch mit Hilfe des Reichsgerichts die deutsche Rechtsentwicklung angestoßen und weitergebracht. Noch im Jahr 1939 hat das Reichsgericht in einer Entscheidung über das Fenster127 Zitiert nach Barbara Dölemeyer, Nachwort zum Faksimile-Nachdruck der Originalausgabe des Code Napoléon von 1808, 2001, S. 1056. 128 Vgl. Alfons Bürge, Neue Quellen zur Begegnung der deutschen und französischen Rechtswissenschaft, in: ZRG GA 110 (1993), S. 546–570. 129 Zu Beginn der französischen Zeit war das Appellationsgericht in Trier eingerichtet worden. Zur Rolle des römischen Rechts meint Grilli, es komme in unterschiedlichen Formen zum Zuge und bahne „den Weg für eine Anwendung des französischen Rechts“. Auch nach 1804 wurde es vielfältig weiterverwendet, „wobei, wann immer möglich, eine concordantia mit den französischen Vorschriften versucht wurde“. Antonio Grilli, Das linksrheinische Partikularrecht und das römische Recht in der Rechtsprechung des Cour d’Appel/Cour Impérial de Trèves nach 1804, in: Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Reiner Schulze (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 12), 1994, S. 67–105, hier S. 104. 130 Schubert (Fn. 87), S. 136.

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recht bei fortgeltendem Code civil in Wuppertal am französischen Nachbarrecht – „nachbarlichem Gemeinschaftsverhältnis“ – festgehalten.131 Offenbleiben muss die Frage, warum Schmahl – soweit augenblicklich festzustellen – bei den zahlreichen juristischen Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen, nicht die Justiz in Anspruch genommen hat. War die actio negatoria für den Berufsrichter noch eine nascitura und Schadensersatz kein Trostpflaster? Hätte ein Prozess Klarheit schaffen können? Oder fällt die Baumaßnahme Schiffers in eine Rechtsfuge zwischen aktueller Anwendung des Code civil in der Pfalz und dem bayerischen Rechtsverständnis in München? Könnte auch die bayerische Men­ talität, zuzuwarten, die den Pfälzern ihren Code civil gelassen hat, hereinspielen, um zu beurteilen, wie weit die Pfälzer mit ihrem so verehrten neuen Gesetzbuch kommen? Da Schiffer Ende Dezember 1884 den Überbau des Ostflügels fertiggestellt und am 13. Januar 1885 in der mündlichen Verhandlung bereits der Oberamtsrichter – Tisch – „gerichtet“ hatte132 und Schmahl 1886 verstarb, könnte auch eine Krankheit – Herzattacke? – Schmahls vorgelegen haben, die ihm keine Zeit mehr zum prozessieren ließ. Die rechtshistorische Einmaligkeit des Falles bedarf nach dem ersten Zugriff noch der Aufhellung.

131 RG 162, 209: Leitsatz „Über die Fortgeltung des Art. 675 des Rheinischen Bürgerlichen Ge­ setzbuchs (Code civil) über die Grenzen, die seiner Anwendung mit Rücksicht auf das nach­ barliche Gemeinschaftsverhältnis zu ziehen sind.“ [Es gab in Wuppertal noch partikulares Sonderrecht.] S. 216: „Die Parteien leben in einem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis und haben aufeinander Rücksicht zu nehmen.“ 132 Vgl. o. Abschnitt III.

Die Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit im Strafrecht des Dritten Reiches Von Ingo Müller

Die Justiz der Weimarer Republik mag rechtslastig gewesen sein1, aber es gab auch Gegenkräfte zur Justiz. Die Parteien der Weimarer Koalition (SPD, DDP, Zentrum), die linksliberale Presse der Reichshauptstadt, eine Vielzahl sozialdemokratischer Zeitungen und pazifistisch orientierter Gazetten wie „Das Tagebuch“, „Das Andere Deutschland“, „Die Weltbühne“ und die „Justiz, Monatsschrift für Erneuerung des Deutschen Rechtswesens“, machten Justizskandale öffentlich. ­Engagierte republikanische Anwälte kämpften nicht nur in den Gerichtssälen für ihre Mandanten, sondern machten die Rechtsprechung auch zum Gegenstand von Parlamentsdebatten, Kampagnen der Menschenrechtsorganisationen und der Presse. Der Rechtsanwalt Rudolf Olden war stellvertretender Chefredakteur beim „Berliner Tageblatt“, sein Kollege Erich Eyck hatte die gleiche Stellung bei der „Vossischen Zeitung“. Auch der bekannteste Anwalt der Weimarer Zeit, Max ­Alsberg, wirkte auf viele Arten außerhalb der Justiz, als Wissenschaftler, er war seit 1931 Honorarprofessor an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, bedeutender Fachautor2 und Dramatiker.3 Zu keiner Zeit hat es in Deutschland so lebhafte Diskussionen über das ­Strafrecht gegeben wie in den vierzehn Weimarer Jahren. Die Zulassung von Frauen zum Richteramt, die Bestrafung des „publizistischen“ Landesverrats, die poli­tische Justiz gegen rechts und links orientierte Täter, die sogenannten Fememordprozesse und neue Strafrechtsentwürfe, insbesondere das rechtspolitische Programm der SPD mit der geplanten Sicherungsverwahrung, all dies war Gegen1 Vgl. Gotthard Jasper, Justiz und Politik in der Weimarer Republik, VfZ 1982, S. 167 ff.; Emil Julius Gumbel, Zur Justizstatistik, Die Justiz, Bd. I, 1925/26, S. 219 ff.; ders., Vier Jahre politischer Mord, 1923, Reprint 1980; W. Hoegner, Der politische Radikalismus in Deutschland 1919–1933, 1966; H. und E. Hannover, Politische Justiz 1908–1933, 1966. 2 Siehe: Justizirrtum und Wiederaufnahme, 1913; Der Beweisantrag im Strafprozess, 1930; unzählige Aufsätze in der Juristischen Wochenschrift sowie die drei bis heute unübertroffenen Vorträge „Das Weltbild des Strafrichters“, „Die Philosophie der Verteidigung“ und „Plädoyer“. 3 Sein 1930 in Berlin uraufgeführtes Theaterstück wurde 1931 von Robert Siodmak verfilmt, das Drama „Konflikt“ hatte noch am 6. März 1933 in Bremen Premiere.

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stand nicht nur der juristischen Publizistik, sondern auch der öffentlichen Auseinandersetzung. Schlagartig waren diese Kontroversen beendet mit den Zeitungsverboten und Massenverhaftungen nach dem Reichstagsbrand, der Entlassung jüdischer und ­republikanisch engagierter Richter und Hochschullehrer sowie dem Ausschluss jüdischer Rechtsanwälte nach den Gesetzen „zur Wiederherstellung des Berufs­ beamtentums“ und „über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ vom 7. April 19334 sowie mit der Gleichschaltung der Presse  – auch der juristischen Fachpresse – und dem Verbot der juristischen Standesorganisationen. Nach dem Hinausdrängen des jüdischen und demokratischen Elements aus Rechtswissenschaft, Anwaltschaft und Publizistik herrschte eine geradezu gespenstische Einigkeit in juristischen, insbesondere strafrechtlichen und strafprozessualen Fragen. Das Ergebnis des vom Konsens aller Beteiligten getragenen „Neuen Strafrechts“ – die von Strafkammern, Sondergerichten, Feldgerichten, dem Volksgerichtshof, dem Reichskriegsgericht und zuletzt den fliegenden Standgerichten verhängten 80.000 Todesurteile – können sich Rechtslehre, Gesetzgebung und Rechtsprechung gemeinsam zurechnen, denn alle drei zogen am gleichen Strang und leisteten jeweils ihren Beitrag zum Strafunrecht des Dritten Reichs.

I  Die Rechtswissenschaft Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Niedergang des Rechts im Dritten Reich hatte die Strafrechtswissenschaft, deren Bedeutung weniger darin bestand, junge Juristen „im neuen Geist“ zu erziehen. Die Studentenjahrgänge 1933–1939 wurden, kaum fertig ausgebildet, für die Front gebraucht; sie entfalteten ihre ­Tätigkeit erst in der Nachkriegszeit. Die nationalsozialistische Jurisprudenz hatte vor allem propagandistische Funktion. Nachdem die Errungenschaften liberaler Rechtsstaatlichkeit – Gesetzesgebundenheit staatlicher Machtausübung, Gleichheit aller vor dem Gesetz, Unabhängigkeit der Rechtspflege und unantastbare ­Bereiche individueller Freiheit – größtenteils schon während der „Nationalsozialistischen Revolution“ liquidiert worden waren, sah die Jurisprudenz, voran die Strafrechtswissenschaft, ihre Aufgabe darin, Reste rechtsstaatlichen Denkens aus der juristischen Argumentation zu tilgen. Da die Machthaber trotz reger Gesetzgebungstätigkeit nicht schlagartig alle Gesetze umformulieren konnten, galt es, die Richterschaft auf eine neue Einstel4 RGBl I, S. 175 sowie 188.

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lung zum Gesetz festzulegen und den nach Säuberung der Justiz im Amt Verbliebenen klarzumachen, dass der richterlichen Unabhängigkeit „im Interesse einer einheitlichen Staatsführung gewisse Grenzen gesetzt werden müssen“ und es nun galt, „sich darüber klar zu sein, dass die Regel von der alleinigen Bindung des Rich­ ters an das Gesetz heute etwas anderes besagt als früher“5, denn „wir suchen eine Bindung, die zuverlässiger, lebendiger und tiefer ist als die trügerische Bindung an die verdrehbaren Buchstaben von tausend Paragraphen“.6 Nach der Entlassung der jüdischen und demokratischen Richter sollte Recht nur noch sprechen, wer „in seiner seinsmäßigen, artbestimmten Weise an der rechtsschöpferischen Gemeinschaft Teil hat und existentiell zu ihr gehört“ (Carl Schmitt)7, „wer in seinem Volke lebt, mit seinem Volke fühlt und das Recht da sucht, wo es entspringt, im gesunden Empfinden des Volkes“ (Reichsgerichtsrat Niethammer),8 und wer in „gesinnungsmäßiger Übereinstimmung des Fühlens und Wollens aller Rechtsgenossen“ (Erik Wolf )9 handelt. Seine Arbeit sollte „nicht durch ein formalistisch-abstraktes Rechtssicherheitsprinzip beengt (sein), vielmehr […] durch die im Gesetz zutage getretene, vom Führer verkörperte Rechtsanschauung des Volkes feste Linie und […], wo nötig, ihre Schranke finden“. Das Ideal des nüchtern-distanzierten Richters war dieser Art von Rechts­ wissenschaft suspekt, sein „abstrakt normativistisches Denken“ erschien ihr als „Ausdruck einer Hilflosigkeit, einer Entwurzelung und Verweichlichung“ (Wolfgang Siebert)10. Der neue Richter sollte seine Entscheidungen „nicht aufgrund einer analytischen Untersuchung ihrer Elemente, sondern nur aufgrund einer ­Wesensschau ganzheitlich und konkret erfassen“. Juristischer Scharfsinn und vorurteilslose Betrachtung des Falles lehnte man als „rationalistische Zergliederung“ des Sachverhalts und als „Entwesung“ (Georg Dahm)11 ab, an deren Stelle sollten eine „emotional-wertfühlende, ganzheitliche Betrachtungsweise“ (Hans Welzel)12 und „wesenhaftes, ganzheitliches Rechtsdenken“ (Georg Dahm)13 treten. Die schönsten Worte für das neue Verhältnis des Richters zur Rationalität fand der   5 Erik Wolf, Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates, in: ARSP XXVIII (1935), S. 349.   6 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, 1933, S. 46.   7 Schmitt (Fn. 6), ebda.   8 DStR 1937, S. 135.   9 Wolf (Fn. 5), S. 351. 10 Vom Wesen des Rechtsmissbrauchs, in: Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, hrsg. von Georg Dahm u. a., 1935, S. 209. 11 Der Methodenstreit in der Rechtswissenschaft, ZStW 57 (1938), S. 248. 12 Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, 1935, S. 73. 13 Verbrechen und Tatbestand, in: Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft (Fn. 10), S. 73.

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Rechtsphilosoph Justus Hedemann in seinem Essay über „Die Wahrheit im Recht“:14 „Und kein deutscher Rechtswahrer, den nicht mindestens in hohen Augenblicken jener Ernst ergriffe, den keine Mühe bleichen darf, und der nicht über den Strom der Mühe hinweg, bald fern, bald nah den Born der Wahrheit rauschen hörte“.

Der gewaltige Aufwand an ideologischen Floskeln diente offenbar dazu, das Legitimationsdefizit auszugleichen, welches dadurch entstand, dass alle in dreitausendjähriger Geschichte abendländischer Zivilisation entwickelten rechtlichen Standards außer Kraft gesetzt waren: Freiheit, Menschenwürde, Gleichheit vor dem Gesetz sowie die entsprechenden rechtlichen Verbürgungen und Verfahrensregeln. Formeln, die nüchterne Betrachter mit fünfzig Jahren Abstand am Verstand einer ganzen Juristengeneration zweifeln lassen, dienten dazu, den Brutalitäten des Nazi-Regimes eine scheinrechtliche Legitimität zu verleihen. Die Arbeit am Gesetzeswortlaut mit dem Ziel, dessen Anwendungsbereich zu bestimmen, also klassische Juristentätigkeit, diffamierte die Jurisprudenz als „Normativismus“, wie auch wissenschaftliche Methoden der Gesetzesauslegung als „positivistisch“ oder „jüdisch-liberalistisch“ abqualifiziert wurden. Erklärtes Ziel dieser „Rechtswissenschaftler“ war gerade, „die Erkennbarkeit des Gesetzes und die Berechenbar­ keit der Rechtsfolgen aufzuheben“.15 Die Polemik nationalsozialistischer Rechtswissenschaft richtete sich nicht nur gegen jede Humanisierung des Strafrechts, sondern ebenso gegen seine rechtsstaatlichen Grundlagen, vor allem gegen den Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ (nulla poena sine lege) und all seine Konkretisierungen: Rückwirkungsverbot (nur eine Tat, die schon zum Zeitpunkt ihrer Begehung strafbar war, darf bestraft werden), Analogieverbot (nur was der Wortlaut des Gesetzes ausdrücklich für strafbar erklärt, ist strafbar), Gebot der Gesetzesbestimmtheit (Gesetze müssen präzise formuliert sein und erkennen lassen, was strafbar ist und was nicht) sowie das Strafmonopol einer unabhängigen Justiz, denn ein Sanktionensystem neben der Strafjustiz würde jedes Justizgrundrecht unterlaufen. Sämtliche dieser Komponenten waren im Dritten Reich bald zerstört. Das Rückwirkungsverbot wurde erstmals mit dem Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe (lex van der Lubbe)16 aufgehoben und mehr als 20 Gesetze und Verordnun-

14 In: Franz Gürtner/Roland Freisler (Hrsg.), Das neue Strafrecht, 1936, S. 143. 15 Heinrich Henkel, Strafrichter und Gesetz im neuen Staat, 1934, S. 37. 16 Vom 29.03.1933, RGBl I, S. 151.

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gen der Nazizeit sahen eine rückwirkende Bestrafung vor.17 Mit der „Schutzhaft“, über die allein die Polizei zu entscheiden hatte, wurde eine Sanktionsmöglichkeit neben der Strafjustiz geschaffen. Das Analogieverbot, das bereits mit der von der Rechtswissenschaft propagierten „kreativen Gesetzesauslegung“ ausgehöhlt war, hob man im Juni 1935 auch formell auf. Seither hieß es in § 2 des Strafgesetz­ buches: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdient.“ 18

Seit den Zeiten der Aufklärung hatte sich die Strafrechtswissenschaft zur Aufgabe gesetzt, die Grenze zwischen strafbarem und straflosem Tun klar herauszuarbeiten. Die Strafrechtsprofessoren des Dritten Reichs bemühten sich dagegen, diese Grenze zu verwischen: „Heute wird jeder den Satz ‚Kein Verbrechen ohne Strafe‘ […] gegenüber dem Satz: ‚Keine Strafe ohne Gesetz‘ […] als die höhere und stärkere Rechtswahrheit empfinden“ (Carl Schmitt).19

II  Die Gesetzgebung So wenig die beflissene Legitimationsbeschaffung für das System der Rechtlosigkeit den Namen Rechtswissenschaft verdiente, so wenig waren die Strafrechtsverordnungen Gesetze. Im formellen Sinn waren sie es nicht, sondern bloße Verwaltungsdekrete. Auch materiell waren sie es nicht, denn sie ließen die Grenze zwischen straflos und strafbar meist bewusst im Unklaren. Sie waren im Grunde „antinormative Normen“, die den Gerichten eine ungefähre Richtung geben und ihren Urteilen den Schein der Legitimation verleihen sollten, selbst wenn diese sich mit dem Wortlaut der „Gesetze“ längst nicht mehr vereinbaren ließen. Formell ging die Gesetzgebung zwar erst mit dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, dem sog. Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933,20 17 Wolfgang Naucke, Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935, in: NSRecht in historischer Perspektive, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, 1981, S. 71 ff. 18 RGBl I, S. 839. 19 Der Weg des deutschen Juristen, DJZ 1934, Sp. 693. 20 RGBl I, S. 141.

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auf die Regierung über, aber schon seit Auflösung des Reichstags zwei Tage nach der „Machtergreifung“ bestimmte die Exekutive allein über den Inhalt des Reichsgesetzblatts. Die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat, die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933,21 setzte nicht nur die Grundrechte außer Kraft, sondern enthielt auch einige Strafvorschriften. Für diese wurde am 21. März eine Sondergerichtsbarkeit geschaffen, die in den Folgejahren immer größere Bedeutung bekam. Die 26 Sondergerichte – pro OLG-Bezirk eines – waren mit drei meist vom Landgericht abgeordneten Berufsrichtern besetzt. Das Verfahren entsprach weitgehend konservativen Reformwünschen nach radikaler Beschneidung der Angeklagtenrechte und erheblicher Stärkung der Staatsanwaltschaft. Es kannte weder Eröffnungsbeschluss noch gerichtliche Voruntersuchung. Haftbefehle hatten die Richter auf Antrag der Staatsanwaltschaft ohne Prüfung zu erlassen, die Verteidigung konnte keine Beweisanträge stellen, den Umfang der Beweis­ aufnahme bestimmte das Gericht nach eigenem Gutdünken. Gegen das Urteil hatte der Angeklagte keine Rechtsmittel, es war sofort rechtskräftig. Der kurze Prozess, der dadurch ermöglicht wurde, erfüllte den allseits geäußerten Wunsch nach „Beseitigung des Formalismus“ im Strafverfahren und entsprach dem vom Reichsgerichtsrat Otto Schwarz aufgestellten Ideal des „guten Strafprozesses“,22 der „zum Zwecke der Aburteilung einer Straftat möglichst gründlich, möglichst schnell und mit geringstem Kostenaufwand […] der Untat die Sühne“ folgen lässt. Bei Kriegsbeginn wurden die Sondergerichte, ihre Zahl hatte sich inzwischen vervielfacht, zur Regelinstanz für Strafsachen. Alle seit 1938 neu gefassten Strafvorschriften sahen ihre Zuständigkeit vor: das „Verbrechen des absichtlichen Abhö­ rens ausländischer Sender“ ebenso wie die in der Volksschädlingsverordnung und der Kriegssonderstrafrechtsverordnung aufgeführten Straftaten, die Delikte nach der Gewaltverbrecherverordnung, diverse Wirtschaftsstraftaten und sog. „Gangs­ ter-Verbrechen“. Nach den Worten des Abteilungsleiters im Justizministerium Wilhelm Crohne war das „Sondergericht das schnellste und schwerste Werkzeug, um Gangsternaturen blitzartig aus der Volksgemeinschaft für immer oder auf Zeit auszumerzen“.23 Strafvorschriften, welche die Zuständigkeit der Sondergerichte vorsahen, enthielten statt genauer Tatbestandsbeschreibung diffamierende Typisierungen der Straftäter. Eine halbamtliche Kommentierung der Berliner Justiz-Pressestelle teilte 1940 die Klientel der Sondergerichte in fünf Gruppen: 21 RGBl I, S. 63. 22 Der nationalsozialistische Strafprozeß, in: Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, hrsg. von Hans Frank, 2. Aufl. 1937, S. 1470. 23 Zit. n. Werner Johe, Die gleichgeschaltete Justiz, 1967, S. 91.

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„1. Der politische und militärische Staatsfeind, 2. Der Wirtschaftsparasit, 3. Der Volks­ schädling, 4. Der destruktive Außenseiter, 5. Der Schmarotzer im Alltagsleben“. 24

Die Staatsanwaltschaft bekam das Recht, den Personenkreis nach Gutdünken zu erweitern. Grundtatbestand der gesamten Kriegsgesetzgebung war die mangelnde Rücksichtnahme auf die Erfordernisse des totalen Krieges: „Wer abseits steht, während andere Blut und Leben für Deutschlands Größe und für die Freiheit ihrer Nachkommen einsetzen, ist ein Parasit. Ihn trifft die Verachtung der Nation und die verdiente Strafe unserer Gerichte.“ 25

Zentralvorschrift für die Sondergerichtsrechtsprechung war daher seit 1939 die Volksschädlingsverordnung. Neben der Todesstrafe für Plünderung sah sie Zuchthaus und Todesstrafe für im Schutz von Verdunkelung begangene Straftaten sowie Zuchthaus und Todesstrafe für jemanden vor, der „unter Ausnutzung der durch den Kriegszustand verursachten außergewöhnlichen Verhältnisse eine sonstige Straf­ tat“ begangen hatte. Größere Bedeutung noch als in Deutschland hatten die Sondergerichte in den besetzten Gebieten, insbesondere im Osten. Hier erhielten sie mit der Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den angegliederten Gebieten vom 4. Dezember 194126 eine ganz eigene Rechtsgrundlage. Regelstrafe war die Todesstrafe, sie sollte gegen Juden und Polen grundsätzlich bei allen Verstößen gegen die Verordnung verhängt werden. Nur in „minderschweren Fällen“ war die Strafe „Straflager“, das heißt KZ. Die einzelnen Straftatbestände waren generalklauselartig gefasst, Polen und Juden konnten auch bestraft werden, wenn ihre Tat „nach den in den eingegliederten Ostgebieten bestehenden Staatsnotwendigkeiten Strafe verdient“. Das Strafverfahren gestalteten Gericht und Staatsanwaltschaft „nach pflichtgemä­ ßem Ermessen“, sie konnten von allen Verfahrensvorschriften abweichen, „wo dies zur schnellen und nachdrücklichen Durchführung des Verfahrens zweckmäßig ist“.

III  Die Gerichte Vor derart unbestimmten Gesetzen hätten die Gerichte kapitulieren müssen, es sei denn, sie nutzten die ihnen eröffneten Freiheiten zu Lasten der Angeklagten. 24 Volksschädlinge am Pranger, 1940, S. 13. 25 Ebda., S. 12. 26 RGBl I, S. 759.

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1  Die Sondergerichte Für die Praxis der Sondergerichte bietet der von Christoph Schminck-Gustavus dokumentierte Fall des polnischen Jugendlichen Walerian Wróbel ein gutes Beispiel:27 Nachdem der Hof seiner Familie dem Erdboden gleichgemacht und seine ­Eltern und Geschwister verschollen waren, wurde der 15-jährige Walerian Wróbel von der deutschen Polizei aufgegriffen und meldete sich angeblich freiwillig zum Arbeitseinsatz in Deutschland. Als Landarbeiter in Bremen-Lesum eingesetzt, litt er unter der harten Arbeit, der schlechten Behandlung, der Isolation – er konnte zunächst kein Wort Deutsch – und vor allem litt er an Heimweh. Er machte sich zu Fuß auf den 900 Kilometer langen Rückweg, wurde aber bald gefasst, verwarnt und zu seiner Arbeitsstelle zurückgeschickt. Dort kam er auf die Idee, eine Scheune anzuzünden, dann werde man ihn bestimmt „zur Strafe“ nach Polen zurückschicken. Er war selbst für einen Fünfzehnjährigen noch sehr kindlich. Das Feuer wurde bald entdeckt, bevor es irgendwelche Schäden anrichten konnte. ­Walerian Wróbel half auch noch beim Löschen. Natürlich wurde er nicht zurückgeschickt, sondern als „Volksschädling und Pole“ vor dem Sondergericht Bremen nach der Volksschädlingsverordnung in Verbindung mit der Polen-Strafrechtsverordnung angeklagt. Das Urteil zeigt, wie die Gerichte mit den verschiedenen Rechtsvorschriften jonglierten, um am Ende alle fallen zu lassen: Zunächst war die Kombination der beiden Gesetze von ihrem Sinn her ausgeschlossen. Die Volksschädlingsverordnung war für deutsche Volksgenossen erlassen worden, die ihre Treuepflicht zum deutschen Volk verletzt hatten, nicht für Polen. Nach dieser Verordnung war die „schwere Brandstiftung“, also die Inbrandsetzung eines Wohnhauses, mit der Todesstrafe bedroht, aber auch nur wenn sie „die Widerstandskraft des deutschen Vol­ kes schädigt“. Wróbel war nicht deutscher Volksgenosse, sondern Pole. Er hatte auch kein Wohnhaus, sondern nur eine Scheune in Brand gesetzt, also eine einfache Brandstiftung begangen. Das Gericht folgerte jedoch allein aus seiner Annahme, man werde ihn zur Strafe wegschicken, er sei davon ausgegangen, dass auch das Wohnhaus abbrennen werde. Hätte er das tatsächlich gewollt, wäre es beim Versuch der schweren Brandstiftung geblieben, aber im Urteil heißt es lapidar: Wróbel habe „ein Gebäude, welches zur Wohnung von Menschen dient, vor­ sätzlich in Brand gesetzt“. Das hatte er gerade nicht getan und der kleine Brand hatte auch nicht die Widerstandskraft des deutschen Volkes schädigen können, aber diese ist laut Urteil vom 8. Juli 1942 auch schon „dann geschädigt, wenn sie 27 Das Heimweh des Walerian Wróbel, 1986.

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nur gefährdet ist“. Dass die Polen-Strafrechtsverordnung zur Zeit der Tat noch nicht galt und eine rückwirkende Anwendung auch nicht vorsah, stand nach Auffassung des Gerichts ihrer Geltung nicht entgegen. Schließlich verbot das Jugendgerichtsgesetz die Verhängung der Todesstrafe gegen Jugendliche (Wróbel war während des Verfahrens gerade erst 16 Jahre geworden), aber auch darin sah das Gericht kein Hindernis: „Der Angeklagte ist zwar noch jugendlich im Sinne des JGG […], aber (dies) findet auf ihn als Polen keine Anwendung. Die Bestimmungen des Jugendgerichtsgesetzes sind lediglich für den jungen Deutschen geschaffen, um ihn durch Erziehungsmaßnahmen zu einem ordentlichen Volksgenossen zu formen.“ Dieser Gedanke war neu und hatte weder im JGG noch in der Polen-Strafrechtsverordnung eine Grundlage. Walerian Wróbel starb am 25. August 1942 unter dem Fallbeil in Hamburg. Wer in dieser Entscheidung fünf Rechtsbeugungen feststellt, ohne die das Gericht nicht hätte zur Todesstrafe kommen können, bewertet es nach rechtlichen Maßstäben, welche die beteiligten Richter als „normativistisch“ oder „jüdisch-­ liberalistisch“ ablehnten. Die zitierten Gesetze waren nicht dazu gemacht, ihrem Wortlaut gemäß ausgelegt zu werden. Ihrem Sinn entsprach es vielmehr, Wróbel aus Abschreckungsgründen umzubringen, und dass bei diesem Anlass Gesetze ­zitiert wurden, geschah mehr zur Bemäntelung des Vorgangs.

2  Die ordentlichen Gerichte Diese Rechtspraxis war nicht auf die Sondergerichte beschränkt. Auch die ordentlichen Gerichte erfüllten ihr weltanschauliches Übersoll, so lange sie noch in nennenswertem Umfang an der Strafjustiz beteiligt waren. Nachdem im September 1935 auf dem „Reichsparteitag der Freiheit“ die Nürnberger Gesetze, das Reichsbürgergesetz, das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (Blutschutzgesetz)28 sowie das Reichs­ flaggengesetz, verabschiedet worden waren, stürzte sich die Justiz mit Feuereifer auf die Strafvorschriften des „Blutschutzgesetzes“. Dieses im Ausland nicht zu Unrecht „Streichersche Pornografie in Gesetzesform“29 genannte Regelwerk untersagte Eheschließungen zwischen Juden und „Deutschblütigen“ und drohte für die verbotenen Eheschließungen sowie für „außerehelichen Verkehr“ zwischen Juden und Deutschblütigen Zuchthaus an. Für Verstöße gegen das Gesetz bürgerte sich im Juristenjargon die Bezeichnung „Rassenschande“ ein. Obwohl die erste Durch28 RGBl I, S. 1146. 29 Deutschland-Berichte der Sopade, Jg. 1935, S. 997.

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führungsverordnung zu dem Gesetz feststellte: „Außerehelicher Verkehr im Sinne des § 2 ist nur der Geschlechtsverkehr“,30 verurteilten die Gerichte – zuständig war das Landgericht und als Revisionsinstanz das Reichsgericht – reihenweise Personen wegen „vollendeter Rassenschande“, die nur irgendeine Handlung mit sexueller Tendenz begangen hatten. Das Reichsgericht hatte nämlich am 9. Dezember 1933, keine drei Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes, definiert: „Der Begriff Geschlechtsverkehr i. S. d. Blutschutzgesetzes ist nicht auf den Beischlaf be­ schränkt“, sondern umfasst „alle geschlechtlichen Betätigungen mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts, die nach der Art ihrer Vornahme bestimmt sind, anstelle des Beischlafs der Befriedigung des Geschlechtstriebes zumindest des einen Teils zu dienen.“ 31

Wie gering diese Anforderungen in der Folge wurden, zeigt ein vom Landgericht Hamburg entschiedener Fall:32 Der 57-jährige Kaufmann Leon Abel hatte sich von einer „deutschblütigen“ medizinischen Masseurin den Magen massieren lassen. Bei der ersten Behandlung lag er auf der Massagebank, um den Unterleib ein Handtuch geschlagen. Zu einer weiteren Behandlungsstunde kam es nicht mehr, als Abel auf diese wartete, drangen Polizeibeamte in die Praxis ein und nahmen ihn fest. Bei sämtlichen Verhören blieb die Masseuse dabei, dass sie nichts von einem sexuellen Erregungszustand des Patienten bemerkt habe. Abel hatte jedoch bei den Verhören „gestanden“, bei der Massage erregt gewesen zu sein. Wie es zu derlei Geständnissen kam, war auch dem Gericht bewusst. In der Regel drohten die Gestapobeamten damit, dass der Beschuldigte, wenn ihm nichts nachzuweisen sei, ins Konzentrationslager überwiesen würde. Folter war bei solchen Verhören an der Tagesordnung und, später befragt, warum sie denn die Protokolle unterschrieben hätten, antworteten Verhörte, in dieser Situation hätten sie alles, selbst ihr eigenes Todesurteil unterzeichnet. Auch Abel widerrief in der Hauptverhandlung sein bei der Gestapo abgelegtes Geständnis, während die einzige Zeugin ihre Aussage aufrechterhielt. Das Gericht bewertete das Geständnis bei der Gestapo höher als Abels Aussage in der Hauptverhandlung. Es verurteilte ihn zu zwei Jahren Zuchthaus, weil er „sichtliche geschlechtliche Befriedigung bei der M. verschafft“ und damit „das Verbrechen der Rassenschande […] vollendet [habe], gleichgültig ob die Zeugin davon Kenntnis“ hatte oder nicht. Nach Überzeugung des Gerichts hatte sich Abel der Massage 30 RGBl I, S. 1534. 31 RGSt 70, 375. 32 Der Fall ist dokumentiert bei Hans Robinsohn, Justiz als politische Verfolgung, 1977, S. 23 f.

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nämlich nur unterzogen, „um sich auf diese Weise aufzugeilen und die Frauen, gleichgültig ob diese es merkten oder nicht, als Objekt seiner Sinneslust zu missbrau­ chen […]. Es stellt eine ganz außerordentliche Frechheit dar, dass der Angeklagte es um diese Zeit (1938) noch gewagt hat, die Zeugin als Objekt seiner Geschlechtslust zu missbrauchen.“ Verschiedentlich nahmen sich auch Sondergerichte der „Rassenschande“ an, obwohl sie dafür gar nicht zuständig waren. Durch geschicktes Kombinieren des Vorwurfs mit Strafverschärfungen nach der Verordnung gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher (wenn jemand mehrere Liebschaften unterhalten hatte) oder mit der Volksschädlingsverordnung (wenn die Verdunkelung zum Treffen des Liebespaars „missbraucht“ wurde) begründeten sie ihre Zuständigkeit und kamen obendrein zu der im Blutschutzgesetz nicht vorgesehenen Todesstrafe. Ohnehin endete jedes Rassenschande-Verfahren mit dem Tode des Verurteilten. Nach einer Übereinkunft zwischen Justizministerium und Geheimen Staatspolizeiamt wurde die Gestapo stets von der bevorstehenden Haftentlassung des Verurteilten informiert. Nach Verbüßung der Strafe wurde er ins Konzentrationslager verschleppt und später von dort in eines der Vernichtungslager im Osten.

3  Die Kriegsgerichte Jahrzehntelang galt die Wehrmacht als immun gegen NS-Gedankengut, und unter den Juristen des Dritten Reichs hatten sich die Kriegsrichter das beste ­Gewissen bewahrt. Zwar war nach den Röhm-Morden die Parteimitgliedschaft unvereinbar mit dem Soldatenberuf, aber erstaunlicherweise war die Über­ einstimmung der Militärgerichte mit den Nazi-Doktrinen besonders groß. Allen deutsch-völkischen Stilisierungen des Krieges als Bestenauslese zum Trotz war Hitler überzeugt, dass der Krieg zur genetischen Minderung eines ­Volkes führe, da die Besten an der Front fielen und Wehruntaugliche, Wehrunwürdige, Drückeberger sowie einsitzende Straftäter der Heimat „konserviert“ würden. „Wenn an der Front die Besten fielen“, schrieb er in „Mein Kampf “, müsse man „zu Hause wenigstens das Ungeziefer vertilgen“.33 Tausendfach wird dieser ­Gedanke in Urteilen und Memoranden der Kriegsjustiz variiert. In seinen „Erfahrungsberichten in Bestätigungsschreiben“ appelliert z. B. der oberste Heeresrichter Karl Sack, kurz vor Schluss selbst noch Opfer der Militärjustiz:

33 Bd. 1, 1933, S. 186.

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„Der Krieg fordert harte Opfer der besten Männer; rafft volksbiologisch wertvolle Men­ schen hinweg [...]. Daher kommt ein besonderer Schutz minderwertiger Menschen nicht in Frage.“ 34

Der Strafrechtsprofessor Erich Schwinge warnte in einem vielbeachteten Vortrag über das Problem der Psychopathen beim Militär: „Es darf nicht noch einmal vorkommen, dass der Krieg zu einseitiger Gegenauslese gegen die guten und wertvollen Elemente unseres Volkes wird, Darwinsche Zuchtwahl im ent­ gegengesetzten Sinne treibt […]. Es geht nicht an, dass an der Front die Besten ihr Leben dahingeben müssen, während die körperlich und geistig Minderwertigen die Heimat un­ terwühlen.“ 35

Insbesondere in Urteilen gegenüber Wehrkraftzersetzern werden Behinderungen und Krankheiten nicht strafmildernd, sondern erschwerend gewertet, denn die entsprechende Strafvorschrift – § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung – beabsichtigte nach einem Grundsatzurteil des Reichskriegsgerichts36 „den Schutz der Wehrkraft in ihren physischen und seelischen Grundlagen“, was das „Ausmerzen“ physisch und seelisch „Minderwertiger“ einschließt. In einem Gutachten zur Selbstverstümmelung eines Soldaten, der wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit zu „nur“ 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, plädierte Kriegsgerichtsrat Plaßmann vom Armeeoberkommando 18 für die Todesstrafe: „Die kämpfende Truppe würde es nicht verstehen, wenn ein […] völlig wertloser Mensch am Leben erhalten bliebe, nur deshalb, weil er ein wertloser Mensch ist […]. Die Auf­ rechterhaltung der Disziplin macht es erforderlich, dass auch bei Vorliegen des § 51 Abs. 2 auf Todesstrafe erkannt wird.“ 37

Nachdem ein Marineartillerist gegenüber Kameraden Freude über die Schwierigkeiten der Wehrmacht bei Stalingrad und Woronesch gezeigt hatte, verurteilte ihn

34 Zit. n. Manfred Messerschmidt, Deserteure im Zweiten Weltkrieg, in: Deserteure der Wehrmacht, hrsg. von Wolfgang Wette, 1995, S. 63. 35 Die Behandlung der Psychopathen im Militärstrafrecht, in: Zeitschrift für Wehrrecht 1939/40, S. 121 f. 36 Entscheidungen des Reichskriegsgerichts und des Wehrmachtdienststrafhofs, Bd.  2, 1940/43 (?), S. 45. 37 Zit. n. Manfred Messerschmidt/Fritz Wüllner, Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus, 1987, S. 238 f.

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ein Kriegsgericht zum Tode, und Marinekriegsgerichtsrat Kay Nieschling schrieb in sein Gutachten zum Urteil vom 2. März 1943: „Das Todesurteil wird ohne Gnade zu vollstrecken sein. Das Bronchialasthma, unter dem der Verurteilte leidet, bietet keinen Grund zur Begnadigung. Die psychosomatische Ver­ anlagung bietet keinen Milderungs- sondern nur einen Strafschärfungsgrund [...]. Im übrigen würde der Verurteilte bei einer Begnadigung nur fortlaufend weiter der Volks­ gemeinschaft zur Last fallen. Die Ausmerzung dieses Übeltäters ist zur Verhütung einer schädlichen Gegenauslese dringend geboten.“ 38

So führte der Auslesegedanke dazu, dass das Schuldprinzip, angeblich Richtschnur des gesamten Strafrechts, auch des Militärstrafrechts, außer Kraft gesetzt wurde.

4  Justiz und Polizei Nachdem die Reichstagsbrand-Verordnung,39 keine vier Wochen nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, die Einschränkung aller Grundrechte der Reichsverfassung zuließ, waren die Juristen schnell einig, dass über die Freiheit des Einzelnen die Polizei entscheide, „und zwar in der Form der Schutzhaft, die an keine gesetzliche Voraussetzung und keine zeitlichen Grenzen gebunden ist und die keiner Nachprüfung eines Richters unterliegt“.40 Die Polizei behielt sich auch vor, von Gerichten Verurteilte nach Verbüßung der Strafhaft ins Konzentrationslager zu verschleppen und von Gerichten Freigesprochene noch im Gerichtssaal festzunehmen. Selbst in dem unter starker internationaler Beobachtung stehenden Reichstagsbrandprozess wurden die vier Freigesprochenen sofort ins KZ abgeführt. Die Gerichte sahen durch diese Praxis ihre Autorität geschwächt und das Justizministerium protestierte des Öfteren, aber weniger wegen der Sache, sondern mehr wegen ihrer Form. Den Primat der Polizei erkannte die Justiz durchaus an. Bereits im Mai 1933 ordnete der Justizminister an, alle wegen politischer Straftaten einsitzenden Häftlinge vier Wochen vor ihrer Entlassung der Gestapo zu melden,41 damit diese sie ins KZ sperren könne. In der Folgezeit wurde die 38 Messerschmidt/Wüllner (Fn. 37), S. 256. 39 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.02.1933, RGBl I, S. 83. 40 Eduard Kern, Die Grenzen der richterlichen Unabhängigkeit, ARSP XXVII (1933/34), S. 309. 41 Zit. n. Diemut Majer, Fremdvölkische im Dritten Reich (1981), S. 649.

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Meldepflicht auf zu entlassende Zeugen Jehovas, nach dem Blutschutzgesetz Verurteilte und sogenannte „Asoziale“ ausgeweitet.42 Nach Kriegsbeginn und spätestens nachdem der Präsident des Volksgerichtshofs Otto Thierack Justizminister geworden war, erkannte die Justiz auch ganz formell das Recht der Polizei und der SS an, Gerichtsurteile, die ihnen zu milde erschienen, „durch polizeiliche Sonderbehandlung“ zu „korrigieren“.43 Die Gerichtspraxis der Sondergerichte im besetzten Polen ließ ohnehin bei Anwendung der Polen-Strafrechtsverordnung die Unterschiede zwischen einer angeblich auf Recht und Gesetz verpflichteten Justiz und dem Besatzungsterror von Gestapo und Sicherheitsdienst der SS immer mehr verschwinden. Von einer Konkurrenz konnte keine Rede mehr sein, zumal sie beide offenbar das gleiche Ziel verfolgten. Bei einer Besprechung des Justizministeriums mit dem „Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei“ Heinrich Himmler am 18.  September 1942 trat ­Justizminister Thierack die Strafverfolgungskompetenz über Polen, Sowjetrussen, Juden und Zigeuner an den RFSS ab.44 In einem Brief an Martin Bormann begründete er diesen Schritt: „Ich gehe hierbei davon aus, dass die Justiz nur in kleinem Umfang dazu beitragen kann, Angehörige dieses Volkstums auszurotten. Zweifellos fällt die Justiz jetzt sehr harte Urteile gegen solche Personen, aber das reicht nicht aus.“ 45

Wenig später wurde mit der 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz ins Gesetz geschrieben, was schon lange Praxis war: „Strafbare Handlungen von Juden werden durch die Polizei geahndet. Die Polen-Straf­ rechtsverordnung vom 04.12.1941 gilt nicht mehr für Juden.“ 46

Hätte das Dritte Reich länger existiert, wären gleichlautende Vorschriften auch für Polen, Russen und andere sogenannte „Fremdvölkische“ ergangen. Ein vom ­Innenministerium ausgearbeitetes „Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder“, ein allumfassendes Gesetz zur Behandlung von Asozialen, Arbeitsverweigerern, Kleinkriminellen und Systemgegnern, das die Zuständigkeit für die 42 Vgl. das bei Ilse Staff, Justiz im Dritten Reich, 2. Aufl., 1978, S. 106 f. abgedruckte Schreiben, zit. nach Diemut Majer (Fn. 41), ebda. 43 Vgl. Majer, (Fn. 41), ebda. 44 Bundes-Archiv, R 3001/24064, Bl. 35a–37. 45 Institut für Zeitgeschichte, MA 1563/7 (NG 558). 46 VO vom 01.07.1943, RGBl. I, S. 372.

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Verhängung von Strafen neben der Justiz auch der Polizei übertrug, stand kurz vor seiner Inkraftsetzung.47 Einen großen Unterschied hätte es aber auch nicht gemacht, denn eine Strafjustiz, die diesen Namen verdient hätte, gab es nicht mehr. Sie war in den 12 NaziJahren Schritt für Schritt durch ein Ritual ersetzt worden, das mit Anklage, ­Richterbank, Juristensprache und Paragraphenzitiererei nur von Ferne einem ­Gerichtsverfahren ähnelte. Das sollte den Eindruck erwecken, alles ginge mit rechten Dingen zu, um gegenüber dem Ausland den Schein zu wahren sowie den Beteiligten ein gutes Gewissen zu verschaffen.

5  Späte Einsicht Rund fünfzig Jahre hat es gedauert, bis der Bundesgerichtshof schließlich am 16. November 199548 von einer „Perversion der Rechtsordnung, wie sie schlimmer kaum vorzustellen“ sei, sprach. Er scheute sich auch nicht, die Strafrichter des Dritten Reichs, die der ordentlichen Gerichte, der Militärjustiz und der Sondergerichte, als „Blutrichter“ zu bezeichnen. Warum dieses Verdikt ein halbes Jahrhundert auf sich warten ließ, das ist eine weitere Geschichte.

47 Der Entwurf ist abgedruckt bei Sarah Schädler, „Justizkrise“ und „Justizreform“ im Nationalsozialismus 2009, S. 343–345. 48 NJW 1996 S. 857 mit Anmerkung O. Gritschneder, NJW 1996, S. 1239.

Die kurze Geschichte der Friedensgerichtsbarkeit in Württemberg-Baden von 1949 bis 1959 Von Carolin O’Sullivan

Gemeindliche Friedensgerichte mit judikativer Zuständigkeit auch für Straf­ sachen bestanden in der Bundesrepublik Deutschland ausschließlich ab 1949 in Württemberg-Baden und nach der Gründung des Landes Baden-Württemberg im April 1952 weiterhin in den beiden nördlichen Regierungsbezirken dieses Landes. Im Jahre 1959 erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) diese Gerichte für grundgesetzwidrig.1 Die Friedensgerichte hatten geschichtliche Wurzeln in der südwestdeutschen Tradition der – auf Zivilsachen beschränkten – Gemeindegerichte. Außerdem wurden sie des Öfteren, auch in dem Verfahren vor dem BVerfG, mit der Behauptung verteidigt, die US-amerikanische Besatzungsmacht habe nach 1945 eine Friedensgerichtsbarkeit mit weitreichenden Zuständigkeiten angeregt.2 Dieses Argument wurde allerdings auch ins Negative gewendet: Den Friedensgerichten hafte „das Odium amerikanischer Geburtshilfe“ an.3 In Wirklichkeit hatten bei der amerikanischen Militärregierung eher Vorbehalte bestanden: Die Einführung der Friedensgerichte wurde überwiegend von deutscher Seite gefördert. Und Interesse an ihnen hatte überhaupt nur in Württemberg-­ Baden bestanden, nicht aber in den anderen amerikanisch besetzten Ländern. Welche Hintergründe dieses Interesse hatte, ergibt sich aus den Unterlagen zu den Gesetzgebungsverfahren im Länderrat der amerikanischen Besatzungszone4,5 und

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Ich danke meinem Mann, Daniel O’Sullivan, für die Unterstützung bei der Recherche und der Anfertigung dieses Aufsatzes. BVerfG, Beschl. v. 17.11.1959, 1 BvR 88/56 u. a., BVerfGE 10, 200 ff. BVerfGE 10, 200, 203. Steiger, Friedensrichter sind erprobt, DIE ZEIT Nr. 34 v. 26.08.1954, S. 3, http://www. zeit.de/1954/34/friedensrichter-sind-erprobt (04.08.2015). „Friedensgerichte sowie Gesetz über das Wiederaufnahmeverfahren gegenüber Urteilen nicht mehr bestehender Gerichte“, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA 1/014 Bü 278, http:// www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-462313 (04.08.2015). „Abänderungsgesetze zum Gerichts- und Strafgerichtsverfassungsgesetz“, Hauptstaats­ archiv Stuttgart, EA 1/014 Bü 276, http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-462311 (04.08.2015).

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in Württemberg-Baden.6 Und wie sich die Beurteilung der Friedensgerichte dann auch im Norden Baden-Württembergs zum Negativen veränderte, zeigen Stellungnahmen in der Literatur und auch Presseberichte aus den 1950er Jahren.7

I  Die Gemeindegerichte in den alten Ländern Baden und Württemberg und weitere Wurzeln der Friedensgerichtsbarkeit „Die alten Länder Baden und Württemberg haben von lang her ein besonderes Rechtsklima. Die Rechtspflege ist hier formloser als anderswo, aber sachhaltiger und volksnäher.“ Insbesondere sei sie „nie ganz den akademischen Juristen überlassen“ worden.8 Dieses Zitat findet sich in nahezu allen Abhandlungen über die württemberg-badischen Friedensgerichte, auch in dem Beschluss des BVerfG. In der Tat bestanden im Südwesten in der Rechtspflege einige Besonderheiten,9 zum Teil bis heute.10 Zu diesen Besonderheiten gehörten die Gemeindegerichte mit ihren auf geringfügige Zivilsachen beschränkten Zuständigkeiten.11 Sie hatten nach dem Ende der napoleonischen Besetzung in beiden alten Ländern bestanden. Württemberg hatte den Ortsvorstehern und Gemeinderäten auch eine geringfügige Bestrafungskompetenz zugestanden, die höchstens  – in großen Gemeinden  – 48 Stunden Gefängnis umfasste und die vor allem nur Verstöße gegen „Poli­ zei-Vergehungen“ betraf.12 Erst 1839 wurde diese um eine echte Strafgewalt zur Aburteilung einiger Übertretungen wie Störung der öffentlichen Ruhe oder der Bettelei erweitert.13

  6 Vgl. „Friedensgerichtsbarkeit“, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA  1/920 Bü  309, http:// www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-806626 (04.08.2015).   7 „Gemeindegerichtsbarkeit, Abschaffung der Friedensgerichte in Nordbaden und Nordwürttemberg“, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA  1/106 Bü  1093, http://www.landes­ archiv-bw.de/plink/?f=1-789487 (04.08.2015).   8 Küster, Die Friedensgerichtsbarkeit in Württemberg-Baden, Stuttgart 1949, S. 1.   9 Vgl. Art. 138 Grundgesetz (GG). 10 So werden die staatlichen Notariate in beiden Landesteilen und der nichtakademische ­Vormundschafts- und Nachlassrichter in Württemberg erst bis zum Jahre 2018 abgeschafft, vgl. Gesetz zur Änderung der Bundesnotarordnung und anderer Gesetze (BNotOuaÄndG) v. 15.07.2009 (BGBl. I, S. 1798). 11 Vgl. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 331. 12 §§ 15, 16 Verwaltungsedikt für die Gemeinden, Oberämter und Stiftungen v. 01.03.1822, Königlich Württembergisches Staats- und Regierungsblatt, S. 131, 136 f. 13 Art. 92 Polizei-Strafgesetzbuch v. 02.10.1839, RegBl., S. 611, 644.

Friedensgerichtsbarkeit in Württemberg-Baden von 1949 bis 1959

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Auf die für Zivilsachen zuständigen Gemeindegerichte nahmen die Reichsjustizgesetze des Jahres 1877 Rücksicht. Nach § 14 Nr. 3 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) in der ursprünglichen Fassung14 konnten die Bundesstaaten weiterhin solche Gerichte vorsehen, wenn ihre Zuständigkeit auf vermögensrechtliche ­Streitigkeiten zwischen Ortsansässigen bis zu sechzig Mark (M) beschränkt blieb und den betroffenen Parteien die Berufung auf den ordentlichen Rechtsweg offen gehalten wurde. Von dieser Möglichkeit machten weiterhin nur Baden15 und Württemberg16 Gebrauch. Die Ausübung der Gemeindegerichtsbarkeit übertrug Baden dem Bürgermeister und Württemberg dem Gemeinderat.17 Gemeind­ liche Strafgewalt ließ das Reichsrecht nicht mehr zu. Dem Namen nach hatte es bereits nach dem Ersten Weltkrieg in Württemberg „Friedensrichter“ gegeben. Mit der „Verfügung des (württembergischen) Justizministers über den Sprech- und Schlichtungstag“18 wurde im Jahre 1919 bei den Amtsgerichten der Friedensrichter eingeführt. Er war allerdings nur für die unentgeltliche Rechtsauskunft an unbemittelte Bürger und für die gütliche Streitbeilegung zuständig. Mit dieser Aufgabe wurden einzelne Amtsrichter betraut.19 Ähnliche Institutionen wurden in der Weimarer Zeit in mehreren deutschen ­Ländern gegründet.20 Dieser württembergische Friedensrichter wurde nach der Übernahme der Justizhoheit durch das Reich unter der nationalsozialistischen Regierung nach 1934 abgeschafft.21

II  Die Änderung des GVG in der amerikanischen Zone auf Betreiben Württemberg-Badens 1946/1947 Erstmals im Jahre 1946 war der Länderrat der amerikanischen Besatzungszone, der aus den Regierungschefs der vier Länder Hessen, Württemberg-Baden, Bayern und – später – Bremen bestand, mit der Einrichtung von Friedensgerichten be14 Gerichtsverfassungsgesetz v. 27.01.1877, RGBl., S. 41. 15 Badisches Gesetz über die Einführung der Reichsjustizgesetze v. 03.03.1879, GVBl., S. 91. 16 Württembergisches Gesetz zur Ausführung der Reichs-Civilprozeßordnung v. 18.08.1879, RegBl., S. 173. 17 Vgl. im Einzelnen BVerfG, Beschl. v. 09.05.1962, 2 BvL 13/60, BVerfGE 14, 56, 57 f. 18 Verfügung v. 31.07.1919, Amtsblatt des Justizministeriums 1919, S. 91. 19 Setz, Der württembergische Amtsrichter als Friedensrichter, DRiZ 1931, S. 244 ff. 20 Z.B. in Hamburg die Öffentliche Rechtsauskunfts- und Gütestelle (heute: Öffentliche Rechtsauskunfts- und Vergleichsstelle), vgl. Bek. v. 13.09.1924, GVBl., S. 563. 21 Verordnung zur einheitlichen Regelung der Gerichtsverfassung (GVVO) v. 20.03.1935, RGBl. I, S. 403.

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fasst. Am 04.10.1946 beschloss der Rechtsausschuss des Parlamentarischen Rates des Länderrats, die Militärregierung zu bitten, bei der geplanten Neufassung der Strafprozessordnung (StPO) den Ländern die Möglichkeit zu geben, auch Strafsachen auf gemeindliche Friedensrichter oder Friedensgerichte zu übertragen. Nach einer Zurückstellung der Angelegenheit durch das Direktorium des Länderrats im Dezember hatte dieser am 08.01.1947 dem Antrag zugestimmt.22 Während der Beratungen hatte allerdings Bayern deutliche Einwände gegen die Übertragung jeglicher richterlicher Tätigkeit, insbesondere von Strafgewalt, auf Laien geäußert.23 Die Verwaltung der amerikanischen Militärregierung (Office of Military Government U. S. – OMGUS) teilte jedoch über ihr Stuttgarter Regional Government Coordinating Office24 unter dem 10.03.1947 mit, eine Genehmigung sei nicht erforderlich, da für die vorgeschlagene Regelung eine einheitliche Gesetzgebung innerhalb der Länder der US-Zone nicht notwendig sei und die Länder darüber unter Beachtung der Vorgaben der Besatzungsmächte selbst entscheiden könnten.25 Bereits hier zeigt sich, dass ein stärkeres Interesse der Militärregierung an Friedensgerichten nicht bestand. Die deutsche Seite hielt diese Einschätzung der Militärregierung für ein Missverständnis. Eine zonenweite Änderung des GVG sei nötig, um einzelnen Ländern überhaupt die Möglichkeit zu geben, Friedensgerichte einzuführen.26 Ebenso hielt vor allem Württemberg-Baden an seinem Ziel fest, diese Möglichkeit auch zu erhalten. Entsprechend beschloss der Länderrat am 04.11.194727 den Entwurf eines Gesetzes zur Abänderung des Gerichtsverfassungsgesetzes (im ­Folgenden ÄndGGVG). Mit diesem sollte in einem neuen § 13a GVG – für das Gebiet der US-Zone – geregelt werden: „Die Verhandlung und Entscheidung von bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und von Strafsachen, die zur Zuständigkeit der Amtsgerichte gehören, kann durch Landesgesetzgebung auf Friedensgerichte oder Friedensrichter übertragen werden.“ 22 Prot. v. 08.01.1947, vgl. EA 1/014 Bü 278 (Fn. 4), Qu. 4. 23 Schreiben des Bayerischen Staatsministers der Justiz an den Generalsekretär des Länderrats v. 31.10.1946, EA 1/014 Bü 278 (Fn. 4), Qu. 1. 24 Zur Struktur der US-amerikanischen Militärregierung Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, 1990, S. 165 f. 25 Schreiben des Generalsekretärs des Länderrats an die Justizminister Bayerns, Hessens und Württemberg-Badens sowie den Bevollmächtigten Bremens v. 17.03.1947, EA  1/014 Bü 278 (Fn. 4), Qu. 5. 26 Antrag DY 46-6 des Rechtsausschusses an den Länderrat vom 21.10.1947, EA  1/014 Bü 276 (Fn. 5). 27 Kurzprotokoll des Länderrats v. 04.11.1947, EA 1/014 Bü 276 (Fn. 5).

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Materiell weiter eingeschränkt waren die erfassten Rechtsmaterien nicht. Zur Begründung war angegeben, „einige Länder“ hielten Friedensgerichte, die aus gewählten Laien bestehen sollten, für wünschenswert. Eine Friedensgerichtsbarkeit, wie sie im Ausland, besonders in der Schweiz, seit Langem bestehe, sei ein wertvoller Beitrag zur Demokratisierung der Rechtspflege sowie zur Entlastung der ordentlichen Justiz.28 Auch hier findet sich kein Hinweis auf Einflüsse der Militärregierung oder auf die „Justices of the Peace“ im angelsächsischen Bereich als etwaige Vorbilder der geplanten Friedensgerichte. Der Hinweis auf die Schweiz deutet eher auf ein Vorhaben der deutschen Seite.29 Und es bleibt unklar, welche Länder außer Württemberg-Baden hinter dem genannten Wunsch standen. OMGUS genehmigte das beschlossene Gesetz mit Schreiben des Coordinating Office vom 14.01.1948, allerdings unter der Voraussetzung, dass die dem Friedensrichter zu übertragenden Aufgaben „spezifiziert“ würden. Die Militär­ regierung schlug dabei konkret vor, die Zuständigkeit auf „geringfügige“ Streit­ sachen, nämlich bürgerliche Rechtsstreitigkeiten mit einem Streitwert bis zu 150,– Reichsmark (RM), zu beschränken und bei den Strafsachen einen Klammerzusatz „einschließlich Beleidigungen“ aufzunehmen.30 Diese Formulierung sei erforderlich, damit das Gesetz mit den Gesetzen des Kontrollrats und der Militärregierung über die Wiedereröffnung der Gerichte in Einklang stehe. Der Parlamentarische Rat des Länderrats stimmte daraufhin am 02.03.1948 einem geänderten Entwurf mit dem Wortlaut zu: „Die Verhandlung und Entscheidung von bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, deren Streit­ wert 150  RM nicht übersteigt, und von Strafsachen einschließlich Privatklagesachen kann, soweit die Sachen zur Zuständigkeit der Amtsgerichte gehören, durch die Landes­ gesetzgebung auf Friedensrichter oder Friedensgerichte übertragen werden.“

Nachdem noch eine Vorschrift über das In-Kraft-Treten hinzugefügt worden war, beschloss der Länderrat das ÄndGGVG in der genannten Fassung am 08.04.1948 als zoneneinheitliches Gesetz.31 Nachdem OMGUS den abgeänderten Beschluss 28 Begründung des ÄndGGVG in der Tagesordnung des Länderrats v. 04.11.1947, EA 1/014 Bü 276 (Fn. 5). 29 Anzumerken ist, dass dieser Verweis ohnehin nicht zutrifft, da die Schweizer Friedensrichter bzw. Vermittler keine Strafgewalt hatten oder haben, vgl. Art. 197 ff. Schweizerische Zivilprozessordnung v. 19.12.2008, AS 2010, 1744. 30 Schreiben des Generalsekretärs an die Justizminister der Länder v. 19.01.1947, EA 1/014 Bü 276 (Fn. 5). 31 Vgl. zu allem Tagesordnung des Länderrats v. 08.04.1948, Anlage 3, EA 1/014 Bü 276 (Fn. 5), Bl. 220/5.

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am 29.09.1948 genehmigt hatte – nach Aktenlage telefonisch –, wurde er in den vier Ländern als Gesetz bekanntgemacht. Württemberg-Baden verkündete das ÄndGGVG als Gesetz Nr. 930 vom 21.10.1948.32 Dass der Militärregierung eher an Einschränkungen der Friedensgerichts­ barkeit gelegen war, zeigt sich auch in einem Vorgang nach der Verkündung des Gesetzes. Im April oder Anfang Mai 1949 beanstandete OMGUS gegenüber dem Länderrat die verkündete Fassung des ÄndGGVG. Entgegen den Vorgaben aus der Genehmigung vom 14.01.1948 fehle der Zusatz „geringfügig“ sowohl vor den bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten wie vor den Strafsachen. Diese Beanstandung hatte jedoch keine Folgen. Am 17.06.1949 beschloss das Direktorium des Länderrats, keine Änderung des neuen § 13a GVG vorzuschlagen, da die Regelung den von der Militärregierung aufgestellten Gesichtspunkt der Geringfügigkeit in ­beiden Rechtsbereichen berücksichtige und OMGUS die letztlich beschlossene Fassung fernmündlich genehmigt habe.33

III  Einführung der Friedensgerichte in Württemberg-Baden Noch vor der Verabschiedung des ÄndGGVG hatte Württemberg-Baden mit den Vorbereitungen zur Einführung der Friedensgerichte begonnen. Nach dem Gesetzesentwurf des damaligen Justizministers Josef Beyerle vom 07.02.194834 waren von Anfang an gemeindliche Friedensgerichte als Kollegium (bestehend aus dem Bürgermeister und zwei vom Gemeinderat gewählten Einwohnern) oder als Einzelrichter (einem vom Gemeinderat gewählten Gemeindebeamten, der auch der Bürgermeister sein konnte) vorgesehen. In den Orten mit Sitz eines Amtsgerichts sollten in Abweichung hiervon staatliche Friedensgerichte (besetzt mit einem Rechtspfleger) entscheiden. Ferner waren Friedensobergerichte vorgesehen, die mit Richtern besetzt werden sollten. Den gemeindlichen Friedensgerichten sollte in zivilrechtlichen Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 100,- RM Entscheidungsbefugnis gegeben werden, in Strafsachen sollten sie grundsätzlich nur für die Abrügung von Übertretungen durch Strafverfügung und für den Sühneversuch in Privatklagesachen zuständig sein. Zur Begründung führte das Justizministerium aus, es solle an die Tradition der Gemeindegerichte in beiden Landesteilen sowie an die württembergischen „Frie­ densrichter“ der 1920er Jahre angeknüpft werden. Am Rande wies es hier auch auf 32 RegBl., S. 153. 33 Schreiben des Generalsekretärs des Länderrats an die Landesregierungen. 34 Gesetzesentwurf des Justizministeriums, EA 1/920 Bü 309 (Fn. 6).

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die angelsächsischen Friedensrichter hin. Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens ergänzte das Justizministerium seine Begründung noch um den bereits erwähnten Umstand der Entlastung der ordentlichen Gerichte: Die auf Grund der „früheren Gesetze“ bestehende Strafgewalt der Polizei sei auf Anordnung der Militärregierung vom Staatsministerium mit dem Überleitungsgesetz35 aufgehoben worden.36 Seitdem werde die ordentliche Gerichtsbarkeit mit einer Fülle von Übertretungsverfahren überflutet. Ferner findet sich – nur – in dieser erweiterten Gesetzesbegründung auch die – nicht näher dargelegte – Behauptung, die Militärregierung wolle die Vorlage „haben“ und dränge zur Eile.37 Während des Gesetzgebungsverfahrens im Land teilte auf Anfrage des Justizministeriums der Länderrat am 10.11.1948 mit, die württembergisch-badische Vorlage komme für eine zoneneinheitliche Regelung nicht in Betracht.38 In der Tat hat auch später keines der anderen drei Länder in der amerikanischen Besatzungszone eine entsprechende Regelung eingeführt.39 In Württemberg-Baden beschloss der Landtag am 10.03.1949 eine geänderte Fassung als „Gesetz Nr. 241 über die Friedensgerichtsbarkeit“ (GFG).40 Abweichend vom ursprünglichen Entwurf wurden nun auch in Städten mit Sitz eines Amtsgerichts gemeindliche statt staatlicher Friedensgerichte errichtet (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 GFG). Die Zuständigkeit des weiterhin vorgesehenen staatlichen Friedensgerichts wurde daher erheblich eingeschränkt, z. B. auf Verfahren, an denen die Gemeinde selbst beteiligt war. Ferner wurde den Gemeinden ermöglicht, ihren Friedensgerichten in Strafsachen eine erweiterte Zuständigkeit zu verschaffen: Gemeindefriedensgerichte, die mit einem Gemeindebeamten als Einzelrichter besetzt waren, der zum gehobenen Justiz- oder Verwaltungsdienst befähigt war oder seine Eignung anderweit erwiesen hatte (§ 2 Abs. 3 GFG), waren nun auch für den Einspruch gegen eine Strafverfügung und Verurteilungen in Privatklage­ sachen zuständig (§ 5 Abs. 2 Satz 1 GFG). Für diese Privatklagesachen wurde mit § 6 GFG den Friedensgerichten die Möglichkeit gegeben, statt auf Strafe auch auf Verwarnung, Friedensbuße und „Friedensbürgschaft“ – Letzteres eher eine präventive Maßnahme denn eine Bestrafung – zu erkennen und in diesen Fällen eines 35 Gesetz Nr. 20 zur Überleitung des Strafverfügungsrechts der Polizeibehörden auf die Gerichte, RegBl. 1946, S. 1. 36 Begründung des Gesetzentwurfs in der Fassung v. 24.08.1948, EA 1/920 Bü 309 (Fn. 6). 37 Schreiben des Justizministeriums an den Ministerrat v. 14.07.1948, EA 1/920 Bü 309 (Fn. 6). 38 Schreiben des Direktoriums des Länderrats an die Landesdienststellen, EA 1/014 Bü 278 (Fn. 4), Qu. 6. 39 Die hessischen „Ortsgerichte“ hatten keine judikativen Entscheidungsbefugnisse. 40 RegBl., S. 49.

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„Friedensspruchs“ ohne Bindung an die StPO zu verhandeln. Für die spätere Entscheidung des BVerfG zu den Friedensgerichten ist noch relevant, dass alle Entscheidungen der Friedensgerichte mit den für die Amtsgerichte vorgesehenen Rechtsmitteln angegriffen werden konnten (§ 11 Abs. 1 GFG) und auch der Friedensspruch nach § 6 Abs. 1 GFG berufungsfähig war. Die Entscheidungen des Friedensobergerichts im Rechtsmittelverfahren waren allerdings endgültig (§ 11 Abs. 3 GFG). Ferner verblieb es für nicht berufungsfähige Zivilsachen entsprechend den allgemeinen Regelungen der Zivilprozessordnung (ZPO) bei der Entscheidung des Friedensgerichts.

IV  Der Wandel in der Bewertung der Gemeindefriedensgerichte und das Problem der Rechtseinheit in Baden-Württemberg Die ersten Stellungnahmen in der Öffentlichkeit und wissenschaftlichen Literatur nach Verabschiedung des GFG waren positiv. Dies galt insbesondere für die neuen strafrechtlichen Zuständigkeiten der Laiengerichte. Immer schon sei es als misslich empfunden worden, dass das Gewicht von Übertretungen, sobald sie vor den Richter kämen, ungebührlich gesteigert werde. Sie und auch die Privatklagedelikte würden nun mehr als Friedens- denn als Rechtsbrüche geahndet.41 In der Praxis ernannten in nahezu allen Gemeinden Württemberg-Badens die Gemeinderäte den Bürgermeister zum Einzelfriedensrichter, der seine von § 2 Abs. 3 GFG geforderte Erfahrung durch sein Amt nachweisen konnte:42 1959 waren von 1472 Gemeindefriedensgerichten 1428 mit dem Bürgermeister b­ esetzt.43 Aber ab der Gründung des neuen Landes Baden-Württemberg am 25.04.1952 erwuchs den Friedensgerichten mit dem Argument der Rechtseinheit in dem neuen Land ein wichtiger Gegner: Mit dem Rechtsvereinheitlichungsgesetz44 hatte der Bund § 13a GVG in der – nur – in der früheren amerikanischen Zone geltenden Fassung wieder aufgehoben. Auf das Drängen Württemberg-Badens hin war zwar in Art.  8 Abs.  3 Nr.  93 des Gesetzes bestimmt, dass geltende Landesgesetze unberührt blieben, dass aber die Länder die Zuständigkeit solcher ­Friedensgerichte nicht erweitern konnten. Daher war das neue Land gehindert, ­Friedensgerichte auch in den Gebieten der früheren Länder Württemberg-­ 41 42 43 44

Küster (Fn. 8), S. 2 f. Steiger (Fn. 3), S. 3. BVerfGE 10, 200, 216. Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts v. 12.09.1950, BGBl., S. 455.

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Hohenzollern und Baden, also in den neuen Regierungsbezirken Südwürttemberg und Südbaden, einzuführen. Die Friedensgerichte blieben auf die Regierungsbezirke Nordbaden und Nordwürttemberg beschränkt.45 Baden-Württembergs Landesregierung verfolgte daher ab 1953 das Ziel, die Friedensgerichtsbarkeit wieder abzuschaffen und landeseinheitlich wieder eine auf Zivilsachen ­beschränkte Gemeindegerichtsbarkeit einzuführen. Eine Abschaffung war aber zunächst nicht durchsetzbar. Der Widerstand vor allem aus der Öffentlichkeit war groß. Es wurde sogar gefordert, die Friedens­ gerichtsbarkeit auf eine noch „breitere, volksnähere Basis“ zu stellen. Die kommunalen Spitzenverbände sprachen sich für die Gemeindefriedensgerichte aus.46 In der Presse wurde positiv berichtet, zum Beispiel, dass nur gegen einen kleinen Teil der Entscheidungen der Friedensgerichte – unter anderem immerhin 225.000 Strafverfügungssachen und 14.000 Privatklagesachen im Jahre 1953 – Rechtsmittel eingelegt würden, von denen nur wenige erfolgreich seien.47 Der Landtag hielt an den Friedensgerichten in den nördlichen Landesbezirken fest und verlängerte sogar mehrfach die Amtsperioden der gewählten Friedensrichter.48 Nach einiger Zeit veränderte sich aber auch die inhaltliche Bewertung der Friedensgerichte in der Bevölkerung und in Fachkreisen. Zunächst wurde kritisch bemerkt, dass manche Gemeinde zunehmend ihren Haushalt durch Strafver­fügungen ihres eigenen Friedensrichters finanzierte. So erließ der Bürgermeister einer Gemeinde im ehemaligen Landkreis Bruchsal als Friedensrichter zahlreiche vorformulierte Strafverfügungen gegen Autofahrer, die auf der durch die Gemeinde laufenden Autobahn A5 gehalten hatten.49 Später wurde über einen Friedensrichter berichtet, der Kämmerer seiner Gemeinde war und womöglich einnahmeorientiert entschied.50 Nach und nach gerieten auch die Eignung und die Neutralität der Friedensrichter in die Kritik. Ende der 1950er Jahre erhoben Staatsanwaltschaften mehrere Anklagen wegen Rechtsbeugung. In einem solchen Prozess gegen einen Friedensrichter und Bürgermeister aus dem Kreis Schwäbisch Hall wurde festgestellt, dass der Angeklagte – nach einer Zeugenaussage des zuständigen Landrats „so wie Hun­ derte andere auch“ – das GFG und die dazu ergangene Ausführungsverordnung weder gelesen hatte noch kannte, dass aus dem Bauchgefühl heraus entschieden 45 46 47 48

Vgl. BVerfGE 10, 200, 203 f. Vgl. EA 1/106 Bü 1093 (Fn. 7). Steiger (Fn. 3), S. 3. Zuletzt durch das Gesetz über die Amtsperiode der Friedensrichter v. 09.03.1959, GBl., S. 20. 49 Die Park-Falle, in: DER SPIEGEL v. 14.07.1954, S. 15, http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-28956960.html (04.08.2015). 50 Badische Zeitung v. 02./03.01.1960, zit. n. EA 1/106 Bü 1093 (Fn. 7).

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werde, dass keine Neutralität gegenüber den ja ortsangehörigen Parteien herrsche und dass viele Verfahren gar nicht bearbeitet würden.51 Ministerpräsident Gebhard Müller äußerte sich öffentlich dahin, dass Strafsachen nicht vor ein Friedensgericht gehörten. Vor dem Hintergrund der ­Gewaltenteilung wurde auch bemängelt, dass die Bürgermeister – nach baden-württembergischem Polizeirecht waren und sind sie auch die Ortspolizei­behörde – Polizeiverfügungen und gegebenenfalls Polizeiverordnungen erlassen konnten und als Friedensrichter die Verstöße dagegen selbst ahndeten.52 Und nachdem das BVerfG das GFG 1959 für nichtig erklärt hatte, fanden sich in der Presse nahezu nur noch kritische Anmerkungen. Es wurde sogar von einer „Erleichterung“ in der Bevölkerung berichtet, dass man „nun wieder den ordent­ lichen Richter anrufen konnte“.53 Bezeichnend für diesen Wandel in der Beurteilung war vielleicht ein Artikel des vormaligen württembergisch-badischen Justizministers Josef Beyerle, der die von ihm mit geplanten Friedensgerichte – allein – aus dem praktischen Bedürfnis nach einer Entlastung der ordentlichen Justiz von Bagatellsachen nach der Abschaffung der polizeilichen Strafverfügungen verteidigte.54 Dieses Bedürfnis war aber nach der Einführung des Ordnungswidrigkeitenrechts 195255 langsam ins Schwinden geraten. Und der Hinweis des Ministers im Ruhestand zeigt ein weiteres Mal, dass ein fördernder Einfluss der amerikanischen M ­ ilitärregierung auf die Friedensgerichtsbarkeit nicht bestanden hatte.

V  Die Entscheidung des BVerfG In seinem Beschluss vom 17.11.1959 stellte das BVerfG, dessen Präsident inzwischen der vormalige baden-württembergische Ministerpräsident Gebhard Müller war, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) fest, der zu einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG56 führe.57 51 Kann man Hennen anbinden?, in: DER SPIEGEL v. 08.01.1958, S. 20 f., http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41760382.html (04.08.2015). 52 Weniger Geld ins Staatssäckel, in: DIE ZEIT v. 08.01.1960, S.  2, http://www.zeit. de/1960/02/weniger-geld-ins-staatssaeckel (04.08.2015). 53 Fritz Baur, Laienrichter – heute? in: Tübinger Festschrift für Eduard Kern, 1968 (Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 24), S. 49, 52. 54 Beyerle, in: Deutsches Volksblatt v. 08.01.1960, zit. n. EA 1/106 Bü 1093 (Fn. 7). 55 Gesetz über Ordnungswidrigkeiten v. 25.03.1952, BGBl. I, S. 177. 56 Diese Anbindung an ein grundrechtsgleiches Recht war notwendig, weil das BVerfG über Verfassungsbeschwerden zu entscheiden hatte und die Beschwerdeführer sonst nicht beschwerdebefugt gewesen wären. 57 BVerfGE 10, 200, 213 ff.

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Grundsätzlich sei es zwar zulässig, so das BVerfG, wenn der Staat judikative Aufgaben an Gemeinden übertrage. Das staatliche Rechtsprechungsmonopol (Art. 92 Hs. 2 GG) verlange nur eine maßgebliche staatliche Kontrolle. Diese sei bei den Friedensgerichten im Norden Baden-Würtembergs gewährleistet, sie seien letztlich staatliche Behörden. Aber die personelle Verflechtung der Gemeindefriedensgerichte mit der Gemeindeverwaltung sei eine unzulässige Vermischung exekutiver und judikativer Kompetenzen. Zulässig wäre allenfalls, solche Gerichte mit Gemeindebürgern zu besetzen, die nicht auch für die Gemeindeverwaltung tätig seien, insbesondere nicht als Bürgermeister oder Gemeinderäte. Diese Verletzung der Gewaltenteilung habe auch materielle Bedeutung, vor allem in der Abrügung von Übertretungen. Hier gerieten die Kompetenzen des Bürgermeisters als Leiter der Ortspolizeibehörde und als Friedensrichter unweigerlich in Konflikt, vor allem, wenn er eine von ihm selbst erlassene Anordnung objektiv auslegen oder überprüfen müsse.58 Weitere Bedenken gegen die Gemeindefriedensgerichte, die in Öffentlichkeit und Fachkreisen vorgebracht worden waren, ließ das BVerfG dagegen dahinstehen. So wurde nicht entschieden, ob die Besetzung mit Laien – wegen „Überforderung“ – verfassungswidrig sei, ob die „enge strukturelle Verflechtung dieser Ge­ richte in örtliche Verhältnisse und damit zwangsläufig auch in örtliche Interessen nicht geradezu institutionell“ die gebotene innere Unabhängigkeit der Richter ­ausschließe und ob es Art. 3 Abs. 1 GG verletze, dass die (bürgerlichrechtliche) Zuständigkeit der Friedensgerichte auf Ortsansässige beschränkt sei, sodass sich je nach Wohnort andere Zuständigkeiten und andere Instanzenzüge ergäben.59 In der Rechtsfolge erklärte das BVerfG das gesamte GFG für nichtig, was dazu führte, dass landesweit alle Gemeindefriedensgerichte nach einem Erlass des baden-württembergischen Justizministers vom 28.12.1959 von einem Tag auf den anderen ihre Tätigkeit einzustellen hatten. Alle anhängigen Verfahren gingen an die Amtsgerichte über. Von einer Überlastung dort trotz dieser schlagartigen Zunahme der Verfahrenszahl ist nichts berichtet worden.

VI  Die baden-württembergischen Gemeindegerichte 1960 bis 1972 Die Landesregierung nutzte die Entscheidung des BVerfG und verfolgte ­weiter ihr Ziel der Rechtseinheit in Baden-Württemberg auf dem Gebiet der kommuna58 BVerfGE 10, 200, 215 f. 59 BVerfGE 10, 200, 219.

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len Justiz. Mit dem Gesetz über die Gemeindegerichtsbarkeit (GGG) 60 kehrte Baden-Württemberg zu dem Rechtszustand in den alten Ländern zurück und ­installierte landesweit wieder Gemeindegerichte mit einer Zuständigkeit nur für geringfügige Zivilstreitigkeiten (bis zu 100,- DM) zwischen Ortsansässigen und für den Sühneversuch vor Erhebung von Privatklagen nach der StPO. In jedem Falle stand den Beteiligten der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten offen. Zu Gemeinderichtern wählen konnte der Gemeinderat jeden Bürger mit bestimmter Vorbildung. Es bestand keine zwingende Verknüpfung mit der Gemeindeverwaltung mehr. Jedoch war ausdrücklich vorgesehen, dass der Bürgermeister immer zum Gemeinderichter gewählt werden konnte (§ 2 Abs. 2 GGG). Diese Regelung hat das BVerfG in seinem Beschluss vom 09.05.1962 dann nicht als Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip gewertet. Die neuen Gemeindegerichte seien auf Zivilstreitigkeiten zwischen natürlichen Personen beschränkt, sodass die Gemeinde selbst nicht Partei sein könne. Für die übrigen Fälle reichten die allgemeinen Befangenheitsvorschriften aus. Ein Pflichtenwiderstreit zwischen den Aufgaben als Ortspolizeibehörde und Gemeindegericht ­bestehe nicht, da keine strafrechtliche Entscheidungskompetenz mehr bestehe. 61 Ebenso sah das BVerfG eine ausreichende innere (persönliche) Unabhängigkeit der Gemeinderichter nach Art. 97 Abs. 1 GG: Auch wenn diese zugleich Vertreter einer politischen Partei seien und auf ihre künftigen Wähler Rücksicht nehmen müssten, sei ihre Objektivität nicht ernsthaft gefährdet, zumal sie durch ihren Amtseid verpflichtet seien.62 Trotz der Billigung durch das BVerfG ging die Zeit der Gemeindegerichte zu Ende. Im Vordergrund der öffentlichen Diskussion standen nicht mehr recht­ liche, sondern praktische Einwände: unterschiedliche Zuständigkeiten je nach Wohnort, ggf. doppelter Aufwand vor den Gemeinde- und im anschließenden Rechtsbehelfsverfahren vor den Amtsgerichten. Auch aus diesen Gründen schaffte Baden-Württemberg die Gemeindegerichte dann 1972 ab.63 In der Folge hob auch der Bund die nach wie vor – grundsätzlich seit 1877 – bestehende Grundlage der Gemeindegerichtsbarkeiten, nunmehr §  14 Abs.  2 GVG,64 im Jahre 1974 auf. Seitdem ist eine kommunale Gerichtsbarkeit in Deutschland insgesamt ausgeschlossen. 60 61 62 63

Gesetz v. 07.03.1960, GBl., S. 73. BVerfGE 14, 56, 68 f. BVerfGE 14, 56, 69 f. Gesetz zur Aufhebung der Gemeindegerichtsbarkeit und zur Regelung des Sühneversuchs in Privatklagesachen v. 19.10.1971 (GBl., S. 397). 64 Gesetz zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes v. 25.03.1974 (BGBl. I, S. 761).

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VII Fazit Die gemeindlichen Friedensgerichte, die es ab 1949 in Württemberg-Baden gab, waren trotz ihrer Vorläufer in den Gemeindegerichten der alten Länder Baden und Württemberg besondere Gerichte, denn eine strafrechtliche Rechtsprechungsgewalt der Gemeinden hat es in der Bundesrepublik sonst nicht gegeben. Entgegen späteren Behauptungen waren jene Gerichte nicht auf Betreiben der US-amerikanischen Militärverwaltung errichtet worden, sondern vor allem zur Entlastung der Amtsgerichte von Strafverfügungsverfahren wegen Übertretungen. Dass die Gemeindefriedensgerichte 1959 vom BVerfG wegen Verstößen gegen die Gewaltenteilung für verfassungswidrig erklärt wurden, beruhte nicht in erster Linie auf der zwingenden personellen Verflechtung mit der Gemeindeverwaltung, die man hätte beheben können. Vor allem sind jene Gerichte an ihren strafrechtlichen Zuständigkeiten gescheitert. In diesem Bereich gab es eine materielle Interessenkollision, weil die Gemeinden in Baden-Württemberg zugleich Ortspolizeibehörden waren und sind. Allerdings bestand der darin liegende Verstoß gegen die Gewaltenteilung nur so lange, wie die abgeurteilten Sachen Strafsachen waren. Nachdem der Gesetzgeber – verstärkt ab 1968 – große Teile der vormaligen Übertretungen zu Ordnungswidrigkeiten umgestaltet hatte, ist es wieder verfassungsgemäß, dass Exekutivbehörden Sanktionen – nunmehr Bußgeldbescheide – gegen von ihnen selbst gesetzte Regelungen verhängen, solange nur der Rechtsweg zu einem unabhängigen Gericht offen bleibt.

Die Macht des Richters beim Indizienbeweis – eine Hamburgensie1 Von A. W. Heinrich Langhein

I  Grundlagen des Indizienbeweises Im Indizienbeweis wird die unmittelbar entscheidungserhebliche Tatsache aus ­anderen Tatsachen (Beweisanzeichen oder mittelbare Tatsachen) geschlossen. Der hierbei anzuwendende logische Schluss wird in Literatur und Rechtsprechung nicht in allgemein nachvollziehbarer Art beschrieben, sondern auf den Einzelfall – aus „Beispielen“ – beschränkt.2 Der Indizienbeweis soll ein „Schluss auf ein nicht unmittelbar Erfahrenes oder Erfahrbares durch empirische Hinweise“ sein. „Solange der erschlossene Gegenstand oder Sachverhalt noch als Wirklichkeitsbestandsteil gedacht ist, kann von einem Indizienbeweis im eigentlichen Sinne gesprochen werden; ist er nur ein Gedacht-Seiendes“, so liege „eine Hypothesenbildung im Sinne der induktiven Metaphysik vor“.3

Als „Obersatz“ fungiere in der Regel ein so genannter „Erfahrungssatz, ein Naturgesetz oder eine Wahrscheinlichkeitsregel, als Unter­satz die indizierende Tatsache, die ihrerseits entweder im Prozess zugestanden oder durch Augen­ schein oder durch glaubwürdiges Zeugnis gesichert ist. Nur wenn der Obersatz ein Natur­ gesetz oder eine Folgerung aus den Naturgesetzen ist, ist der Schluss auf die zu beweisende 1 LG Hamburg 608 KLs 3/07 Urteil vom 23.11.2007; BGH, in: NJW 2009, S. 3248 Urteil vom 09.07.2009 – 5 StR 263/2008. 2 A. Nack, in: NJW 1983, S. 1035 Indizienbeweis und Denkgesetze, beruft sich für die Beantwortung „der Frage, wie ein Indizienbeweis funktioniert – wie es kommt, dass der Richter aus der Summe mehrerer Wahrscheinlichkeiten die Gewissheit erlangt –“ auf Rechtsprechungsbeispiele; Paul  J. A. Feuerbach, in: Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, hrsg. von Carl J. A. Mittermaier, 14. Aufl. 1847 (1. Aufl. 1801) § 48 ff. spricht von mittelbaren „Anzeigungen“, und zählt aus Beispielen Erfahrungssätze über menschliches Verhalten auf, die auf die Tat bzw. den Täter schließen lassen. 3 Johannes Hoffmeister, Indizienbeweis, in: Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, Hamburg 2. Aufl. 1955.

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Tatsache zwingend. […] Meist ist der Obersatz aber nur eine Wahrscheinlichkeitsregel, die oft noch nicht einmal hinreichend gesichert ist“,

so dass im Indizienbeweis nur eine mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit vorliege.4 Das Indiz verliert stets seine Kraft, „wenn die Gegengründe das Indicium vollkommen überwiegen“.5 Verwertet der Tatrichter Indizien, so heißt es, müssten sie lückenlos zusammengefügt sein und ihre Beweisbeziehung zur Tatsache darlegen, die den gesetzlichen Tatbestand begründen. Mehrere Beweisanzeichen könnten einander nur stützen, wenn sie sich auf dasselbe Glied der Beweiskette beziehen.6 Der Indizienbeweis soll  – wie jede Beweisführung  – von richterlicher Überzeugung getragen sein, das heißt eine bestimmte, aus dem Inbegriff der Verhandlung erwachsene innere Stellungnahme des Richters zum Gegenstand der Untersuchung, die nicht nur vom logisch geschulten Verstand getragen, sondern auch vom Gefühl beeinflusst sein soll. Sie soll subjektive Gewissheit des Richters von der objektiven Wahrheit sein. Bleibe bei diesem inneren Vorgang des Richters auch nur ein leiser Zweifel, fehlte es an der zur Verurteilung erforderlichen Überzeugung.7 Dieser Vorgang bzw. die Richtigkeit der Aussagen des Richters über das 4 Karl Larenz, in: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, München 6. Aufl. 1991 (1. Aufl. 1960), S. 305 f. m. w. N., dürfte auf die mittelbaren (syllogistischen) Schlüsse Bezug nehmen. Hierzu wird verwiesen auf Friedrich A. Trendelenburg, Logische Untersuchungen, Bd. 2, 3. Aufl. 1870 (1. Aufl. 1840), S. 341 ff. 5 Feuerbach (Fn. 2), „§ 565: Ein Indicium verliert alle Kraft: A. wenn eine Thatsache erwiesen ist, aus welcher die Unmöglichkeit der Begehung des Verbrechens durch die verdächtige Person erkannt wird; B. wenn durch eine Thatsache der ganze Grund der Anzeigung aufgehoben wird; C. wenn die Gegengründe das Indicium vollkommen überwiegen; die Wahrscheinlichkeit also auf der Seite des Gegentheils tritt; D. wenn die Unwahrheit der verdächtigenden Thatsache selbst erwiesen ist; E. wenn unter verschiedenen Indicien das eine dem anderen widerspricht, in welchem Falle sie sich wechselseitig zerstören.“ 6 MaxAlsberg/Karl-Heinz Nüse/Karlheinz Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess, 5. Aufl. 1983, S. 577 ff. meinen, jeder Beweis, ausgenommen der Augenschein, sei Indizienbeweis, da die Beweismittel Zeugen, Sachverständige, Augenscheingegenstände und Urkunden ihrerseits nur Träger und Produzenten von Indizien seien; Nack (Fn. 2), S. 1035 ff., ders., Der Indizienbeweis, in: MDR 1986, S.  366 ff., 368 f.; Karlsruher Kommentar (KK) StPO, 6. Aufl. 2008, KK-Schoreit § 261 Rn. 64, KK-Engelhardt, § 267 Rn. 18 jeweils m. w. N. 7 Dies folgt bei jeder Beweisführung in einem Rechtsstreit aus Gesetz, so §§  261 StPO, 286 ZPO, vgl. KK-Schoreit (Fn. 6), § 261 Rn. 2 m. w. N.; Gerhard Herdegen, Die Eingriffe des Revisionsgerichts in die tatrichterliche Beweiswürdigung, in: Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen, hrsg. von Otto Lagodny 2000, S. 27 ff., 31 ff. gibt den sich widersprechenden Meinungsstand über die „Objektive Wahrheit“ in der höchstrichterlichen Rechtsprechung wieder und belegt auf S. 34 ff., „dass die Judikatur des BGH den Erforder­ nissen, die an die angemessene Begründung des Geltungsanspruchs der tatrichterlichen Sach­

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von ihm selbst Wahrgenommene soll in der Revision nicht überprüfbar sein. Dies betreffe vor allem Angriffe gegen die Wahrheit solcher Urteilsdarlegungen, die von ihm selbst wahrgenommen sind, da ihre Prüfung eine Rekonstruktion der tatrichterlichen Beweisaufnahme erfordern würde.8 Der wahre9 Sachverhalt,10 so die hier vertretene These, ist das Ziel, um eine darauf sich verhaltende Norm zur Anwendung zu bringen. Was der wahre Sachverhalt ist oder was überhaupt als Wahrheit gilt, soll Gegenstand jeder Beweisführung sein. In den Prozessordnungen der Gegenwart werden die Mittel zum Herausfinden der Wahrheit den Prozessbeteiligten zum Zweck der Sicherung der Gerechtigkeit durch Aufklärung des wahren Sachverhalts an die Hand gegeben.11 Wahrheit dürfte im Bereich der Rechtsanwendung den Begriff der objektiven Wirklichkeit in der gemeinsamen Welt umfassen. „‚Wirklich‘ nennen wir etwas nur, wenn es eine […] Art von Subjektivität hat, und wenn diese Subjektivität einen objektiven Gehalt hat, wenn sie etwas ‚erlebt‘“. 12 Auf den Men­

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verhaltsannahmen und Beweiswert-Einschätzungen zu stellen sind, auffällige und schwerwie­ gende Disparitäten aufweist“. KK-Fischer (Fn. 6), § 244 Rn. 5 m. w. N.; KK-Krehl (Fn. 6), 7. Aufl. 2013, lässt Ausnahmen hiervon unter Bezugnahme auf Gerhard Herdegen, Die Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen durch das Revisionsgericht auf Grund der Verfahrensrüge, in: Strafverteidiger 1992, S. 590; ders., Urteilsanmerkung, in: JZ 1998, S. 54, 55, sowie in: Lagodny (Fn. 7), 27 ff., zu, „wenn die Darlegungen des Tatrichters sich widersprechen oder wenn ohne Rekonst­ ruktion fassbarer und in seinem Inhalt von einer Würdigung nichtabhängiger Beweisstoff, der Gegenstand der Hauptverhandlung war, beweist, dass vom Tatrichter Wahrgenommenes in den Urteilsgründen unzutreffend wiedergegeben ist“. Herdegen, Überprüfung, S. 595 verlangt, „den gesamten (indiziellen und kontraindiziellen, Beweisgründe liefernden) Beweisstoff zu berücksichtigen, der Gegenstand der Verhandlung war und verwertet werden darf “. Hoffmeister (Fn. 3) definiert unter Bezugnahme auf Aristoteles „die Wahrheit als Übereinstimmung des Denkens oder Vorstellens mit seinem Gegenstand“. Hoffmeister (Fn. 3) definiert „Sachverhalt“ unter Bezugnahme auf Brentano und Husserl als „das geurteilte Was, der Korrelat-Sinn des Urteilserlebnisses“; Larenz (Fn. 4), S. 278 f., 308, bezeichnet den Sachverhalt „als Aussage“ darüber, dass die tatsächlichen Vorgänge zutreffend wiedergegeben sind, als „Etwas“, das „in irgendeiner Weise beschrieben werden kann“. KK-Pfeiffer/Hannich (Fn. 6), Einl. Rn. 7; KK-Fischer (Fn. 6), 7. Aufl. 2013, Einl. Rn. 12, beruft sich auf die Untersuchungsmaxime „als Prinzip der materiellen Wahrheit“, ohne ­näheres Eingehen auf den Begriff Wahrheit; KK-Schmidt (Fn. 6) 7. Aufl., vor § 359 Rn. 1 auf die „objektive Wahrheit“, die „nur gedanklich vorstellbar“ sei, weshalb die richterliche Überzeugung nach Maßgabe einer „an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“ gelte; Zöller/ Vollkommer, Zivilprozessordnung, Kommentar, 30. Aufl. 2014, Einl. Rn. 55 jew. m. w. N. Robert Spaemann, Sein und Gewordensein, Wirklichkeit als Anthropomorphismus, in: ders., Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 2, 2011, S. 191 ff., 210, unter Bezugnahme auf Whitehead und Heraklit.

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schen bezogen heißt dies, „nur durch den Blick anderer werden wir uns selbst sichtbar und wirklich. […] Jede Person ist für sich wirklich, weil sie für sich das Ganze der Beziehung realisiert, in der sie a priori zu allen anderen Personen steht: die Beziehung der Anerken­ nung. Die Beziehung selbst ist das Wirkliche. […] Und sie ist das Wirkliche, also Wirk­ lichkeit als Wirklichkeit erfassen zu können, ist das eigentümliche des Menschen.“ 13

Die richterliche Überzeugung ist damit begrenzt auf die Wirklichkeit, die über die Anerkennung der eigenen Person in Beziehung zur Anderen steht. Der wirkliche vom Richter erfasste Sachverhalt muss also von jeder dritten Person, die die richterliche Entscheidung über die Wirklichkeit nachvollziehen soll, in Beziehung zum Anderen anerkannt werden können. Damit wird die einzelsubjektive Sicht des Richters über einen wirklichen Sachverhalt, der über das von ihm selbst Wahrgenommene berichtet, ausgeschlossen. Entgegen der h. M. muss daher die Wirklichkeit für jeden rekonstruierbar sein, um sie in Beziehung zu Anderen ­verständlich machen zu können, was den Akt der Anerkennung ausmacht. Denn Urteilsdarlegungen ohne Anerkennung haben keinen allgemeinen Wert, sie wären nur für sich und den einzelnen Richter da und dürften nicht mehr als „im Namen des Volkes“ ergangen angesehen werden. Wird die unmittelbar entscheidungserhebliche Tatsache aus anderen Tat­ sachen über das vom Richter selbst Wahrgenommene „geschlossen“, hat dieses ­subjektiv Wahrgenommene von jedem Dritten anerkannt zu sein. Ansonsten bliebe die Wirklichkeit allein beim Tatrichter, was nicht die Wirklichkeit als Wirklichkeit aller ist. Dies bedeutet aber, dass die vom Richter subjektiv aus einer anderen als der unmittelbar herauszufindenden und zu erschließenden Wirklichkeit für Dritte rekonstruierbar, mithin ableitbar ist. Die Indizienbeweisführung ist aufgrund ihres anerkannten Wahrscheinlichkeitscharakters ein sehr unsicheres Feld, sie bedarf daher der allgemeinen Anerkennung, wenn sie in der Rechtsanwendung gebraucht wird. Diese Anerkennung wissenschaftlich zu untermauern muss das Ziel sein, um dem Willkürargument der richterlichen Entscheidung aus Indizien entgegnen zu können. Daher soll ­gelten, dass nur solche Tatsachen (Beweisanzeichen) einer Verurteilung zu Grunde gelegt werden dürfen, die erwiesen seien, ansonsten könne der Tatrichter aus ­mehreren „Verdachtsgründen“ keine Überzeugung von der Schuld des Täters gewinnen. Allerdings soll sich diese Sicherungsbremse nur auf das einzelne sicher festgestellte Indiz beschränken. Falle dieses weg, komme der Zweifelssatz „in dubio pro reo“ zum Tragen.14 Dem Richter wäre es hiernach indessen unbenom13 Spaemann, (Fn. 12), S. 210 f., 213 f. 14 KK-Schoreit (Fn. 6), § 261 Rn. 65 m. w. N.

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men, andere von ihm willkürlich – aus seinem Gefühl heraus – ausgesuchte Tat­ sachen als Indizien heranzuziehen, um „seine“ Wirklichkeitsthese einzuführen. Aus belanglosen Einzeltatsachen könnte dann eine Schuldtatsache „konstruiert“, also Wirklichkeit gemacht werden. Eine solche Argumentation kann aber keine allgemeine Überzeugung mehr sein, weil sie nur einen wahrscheinlichen Sachverhalt wiedergibt. Übrig bliebe die subjektive Richterüberzeugung von einer bloß wahrscheinlichen Wirklichkeit, die revisionsrechtlich nicht überprüfbar sein soll. Der Richter dürfte sich hiernach seine eigene subjektive Wirklichkeit vorstellen, um ein Urteil zu fällen. Welche Auswirkung das hätte, zeigte sich nur im einzelnen, nach h. M. nicht rekonstruierbaren Fall. Wenn aber die Wirklichkeit des wahrscheinlichen Einzelfalles dem Richter überlassen ist, ohne dass diese für Dritte rekonstruierbar ist, bedeutete dies eine einzigartige Macht, die, so die zweite These, sich nur aus der Wirklichkeit als Wirklichkeit aller rechtfertigen ließe oder aus einer rechtsbegründenden Norm legitimiert sein muss. Sofern die Wirklichkeit als Wirklichkeit aller beim Indi­ zienbeweis aber nur im Einzelfall dargestellt werden kann, fehlte eine allgemein gültige Methode, die das, was der Richter als Wahrheit solcher Urteilsdarlegungen, die nur von ihm selbst wahrgenommen sind, überprüft. Die Rechtsprechung wäre hiernach zunächst konsequent, wenn sie die nur subjektiv dargelegte Wahrheit des Richters in der Revision nicht überprüft. Sie ist aber inkonsequent insofern, als sie den vom Richter falsch wiedergegebenen Sachverhalt zu bestrafen hat,15 dies aber nicht kann, weil sie die von ihm selbst wahrgenommenen Urteilsdarlegungen einer Überprüfung entzieht. Die Richterschaft könnte zu ihrer Rechtfertigung nun sagen, es gäbe ja keine falsche Wirklichkeit, weil Wahrheit nur das ist, was der eingesetzte Richter selbst wahrnimmt bzw. konstruiert. Dies ist indessen eine Zirkeldefinition,16 die für den vernünftigen Rechtsanwender ­keinen Schutz der Richterschaft rechtfertigte.

15 Die Sachverhaltsverfälschung inklusive unvollständiger, fehlerhafter oder verfälschender Ermittlungen steht als Hauptfall der Rechtsbeugung gemäß §  339 StGB unter Strafe, SSW-Kudlich, StGB, 1. Aufl. 2009, § 339 Rn. 20 ff., 23, mit Verweis auf BGH, in: NJW 1960, S. 253; Gerhard Strate, in: Der Fall Mollath, 2014, S. 15 f. führt hierzu aus: „Begeht ein guter Jurist einen Gesetzesbruch, so ist das für ihn stets eine Vorsatztat: nämlich die der Rechtsbeugung und – wenn der Gesetzesbruch Gefängnis oder Unterbringung bewirkt – die der schweren Freiheitsberaubung.“ 16 Hoffmeister (Fn. 3), Zirkeldefinition, „bei der der zu definierende Begriff in der Definition selbst wieder auftritt, also dasselbe (lat. idem per idem) durch dasselbe definiert wird (circulus vitiosus = ein Beweis, der das zu beweisende schon in seinen Voraussetzungen enthält)“.

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In der jüngsten Vergangenheit sind zwei Indizienurteile in Hamburg öffentlich geworden, von denen eines bereits durch ein anderes Landgericht aufgehoben und das andere bis heute Rätsel aufgibt, die durch die Gerichte noch keiner Lösung zugeführt sind.17 Eines dieser Beispiele soll Gegenstand dieses noch nicht abgeschlossenen rechtsgeschichtlichen Beitrages sein. 17 Udo Jacob, Der Fall Mounir El Motassadeq. Ein fragwürdiges Indizienverfahren (nicht veröffentlicht): „Durch Urteil des 3. Strafsenates des Hanseatischen OLG 2 StE 4/02-5 vom 19.02.2003 wurde Mounir El Motassadeq anklagegemäß wegen Beihilfe zum Mord in 3066 Fällen in Tateinheit mit Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Im Urteil heißt es, die Anschläge vom 11.09.2001 seien von einer Hamburger Zelle unter Mitwirkung El Motassadeqs geplant worden. Schon damals den Ermittlungsbehörden bekannte Angaben Ramzi Binalshibhs, des wichtigsten Zeugen in diesem Verfahren, blieben dem Gericht vorenthalten, was den 3.  Strafsenat zu folgenden Satz im schriftlichen Urteil veranlasste: ‚Den sich aus einer Anwendung des § 244 Abs. 3 StPO möglicherweise ergebenden Unzuträglichkeiten steht im Übrigen das poten­ tielle Korrektiv des Wiederaufnahmeverfahrens gegenüber, wobei es derzeit keine Anhalts­ punkte dafür gibt, dass Aussagen Binalshibhs vorhanden oder zu erwarten sind, die zu einer Wiederaufnahme des vorliegenden Verfahrens führen könnten.‘ Auf die Revision der Verteidigung wurde dieses Urteil vom BGH 3 StR 218/03 durch Urteil vom 04.03.2004 mit den Feststellungen aufgehoben und an einen anderen Strafsenat des Hanseatischen OLG zurückverwiesen, wobei die unterbliebene Berücksichtigung schon damals den deutschen Ermittlungsbehörden bekannter Angaben des Ramzi Binalshibh, der sich in einem CIA-Gefangenenlager an einem unbekannten Ort aufhielt, maßgeblich war. Zu Beginn der erneuten Hauptverhandlung erhielt der nunmehr zuständige 4. Strafsenat dann sog. summeries über den Angeklagten entlastende Angaben des Ramzi Binalshibh durch den CIA, die trotz schon damals bestehendem gravierendem Folterverdacht für verwertbar erklärt, aber unter Bezugnahme auf negative Anmerkungen des CIA als unglaubwürdig bewertet wurden. El Motassadeq wurde durch Urteil des Hanseatischen OLG IV-1/04 vom 19.08.2005 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren verurteilt. Auch in diesem Urteil heißt es, die Hamburger Zelle habe – spätestens am 01.11.1999, vor der Abreise Attas, Alshis, Jarrahs und Binalshibhs nach ­Afghanistan – Selbstmordanschläge mit Flugzeugen gegen Amerikaner und Juden geplant. Demgegenüber heißt es im 9/11-commission report des FBI: ‚Der vorhandene Beweis indi­ ziert, dass im Jahr 1999 Atta, Binalshibh, Shehhi und Jarah sich entschieden, für Tschetsche­ nien gegen die Russen zu kämpfen.‘ Sie seien dann von der Al Qaida für deren Pläne angeworben worden. Die hiervon abweichenden Feststellungen im Urteil vom 19.08.2005 beruhten auf einer fragwürdigen Indizienbeweisführung und ‚etwas Phantasie‘, wie es in der mündlichen Urteilsfeststellung hieß. Es war gewissermaßen ein Kompromissurteil zwischen den Vorstellungen der Verteidigung (Freispruch) und jenen der Bundesanwaltschaft (15 Jahre für Beihilfe zu den Anschlägen vom 11.09.2001), welches von beiden Seiten mit der Revision angefochten wurde. Die Revision der Verteidigung wurde diesmal leider verworfen. Auf die Revision der Bundesanwaltschaft wurde durch Urteil des BGH  3 StR  139/06 vom 16.11.2006 das Urteil des Hanseatischen OLG vom 19.08.2005 im Schuldspruch dahin geändert, dass El Motassadeq der Beihilfe zu den Anschlägen vom

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II  Die „Hamburgensie“ 1  Der „Einzelfall“ Der Angeklagte war als stellvertretender Vorsitzender des Verwaltungsausschusses eines Versorgungswerkes (V.), einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, für die Geldanlage der Mitgliedsbeiträge verantwortlich und hatte in dieser Funktion Vermögen des V. bei der P.-Versicherung angelegt, deren Bezirksdirektor D. ihm eine Vermittlungsprovision gewährte, die auf das Konto einer von der Ehefrau des Angeklagten beherrschten Gesellschaft bürgerlichen Rechts gezahlt wurde. 11.09.2001 für schuldig erachtet wurde. Durch Urteil des Hanseatischen OLG 7-1/06 vom 08.01.2007 wurde er daraufhin zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Die gegen dieses Urteil erhobene Revision wurde verworfen, ebenfalls die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde. Im diesbezüglichen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 2 BvR 1232/07 vom 17.07.2007 findet sich folgender denkwürdige Satz: ‚Um ihrer – der Rechtssicherheit – willen darf die Rechtsordnung über das Institut der Rechtskraft sogar in Kauf nehmen, dass unrichtige Gerichtsentscheidungen für den Einzelfall endgültig verbind­ lich werden.‘ Spätestens mit Eintritt der Rechtskraft des OLG-Urteils sei es aber möglich, einen Wiederaufnahmeantrag zu stellen. Das schließlich am 01.07.2013 von der Verteidigung eingereichte Wiederaufnahmegesuch wurde im Wesentlichen auf zwei neue Zeugen gestützt: 1) Abdelghani Mzoudi , der bei gleicher Beweislage und gleich gelagerten Vorwürfen durch Urteil des 2.  Strafsenates des Hanseatischen OLG  2  StE  5/03-5 vom 05.02.2004 freigesprochen worden war, und 2) auf Ramzi Binalshibh, dessen Verteidiger im auf Guantanamo anhängigen Militärprozess erstmalig rechtsgültige, El Motassadeq klar entlastende Aussagen ihres Mandanten übersandt hatten. Durch Beschluss des Hanseatischen OLG 3 – 3/13 vom 28.10.2013 wurde das Wiederaufnahmegesuch zurückgewiesen. Den früheren Angaben Binalshibhs sei im angefochtenen Urteil nicht geglaubt worden, hieran sei die Justiz trotz inzwischen nachgewiesener Folter gebunden. Aus der Sicht der Verteidigung handelte es sich bei den Folteraussagen gegenüber der CIA um ein rechtliches Nullum, welches nicht zur Ablehnung des Wiederaufnahmegesuches mit erstmalig rechtsgültigen Angaben des Zeugen Binalshibh herangezogen werden durfte. Hätte der 4. Strafsenat die Folteraussagen Binalshibhs für unverwertbar erklärt, hätte das Wiederaufnahmeverfahren auf jeden Fall durchgeführt werden müssen. Dies durfte durch eine gegen Art. 6 MRK verstoßende Verwertung dieser Angaben nicht verhindert werden. Der vom 3. Strafsenat des Hanseatischen OLG in nahezu gleicher Besetzung freigesprochene Zeuge Mzoudi wurde nicht als neuer Zeuge anerkannt, obgleich von ihm bislang keine Zeugenaussage vorlag, weil der 4. Strafsenat ihn trotz des in eigener Sache erfolgten Freispruches im El-Motassadeq-Urteil vom 19.08.2005 für schuldig erachtet hatte. Die gegen den Beschluss vom 28.10.2013 erhobene Beschwerde wurde durch Beschluss des BGH StB 22/13 vom 10.04.2014 verworfen und die gegen diese Beschlüsse erhobene Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Eine Klage gegen diese Entscheidungen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wird derzeit vorbereitet.“

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Mit Urteil des LG Hamburg 608 KLs 3/07 vom 23.11.2007 ist der Betroffene wegen Bestechlichkeit in Tateinheit mit Untreue gemäß §§ 332 I, 266 I StGB zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Aus Indizien sei eine Bestechung des Betroffenen auf Urteilsausfertigung (fortan: UA) S. 67 f. „in Ermangelung unmittelbarer Beweismittel“ aus einer „sicheren Über­ zeugung“ der nachträglich wegen einzelner Urteilswendungen mit Beschluss des LG Hamburg 618 KLs 8/09 vom 23.09.2009 inhabil erklärten Berufsrichter dieses Urteils gewonnen worden, weil diese sich die festgestellten Umstände „nicht ohne dezidierte Absprache zwischen dem Angeklagten […] und D. vorzustellen“ vermochten. Der dadurch bei V. eingetretene Vermögensnachteil ist auf UA S. 114 mit 1 € festgestellt worden. Im Einzelnen ist dem Betroffenen auf UA LG Hamburg S. 13 f., 111, 113, 114 der Tatbestand der Untreue und Bestechlichkeit zur Last gelegt worden, weil es eine „kollusive(n) Absprache zwischen dem Angeklagten und D. zur Schädigung des V. durch Vereinbarung schlichter Tarifprodukte unter Nichtausschöpfung des gegebenen Verhand­ lungsspielraum(s)“ (UA S. 111) gegeben habe, und weil er die „pflichtwidrig unterlassene Realisierung wirtschaftlich günstigerer Verträge“ (UA S. 113) zu verantworten habe, denn „aufgrund der trotz des hohen Prämienvolumens geringen Verwaltungskosten konnte die P.-Versicherung auf der Grundlage der dann für diesen Einzelfall vorzu­ nehmenden versicherungsmathematischen Berechnungen und Kalkulationen unter ­Berücksichtigung insbesondere des Wirtschaftlichkeitsgebotes und des Verbots der Quer­ subventionierung unter Abweichung von (genehmigten) Tarifprodukt(en) trotz Provisions­ zahlungen einen rechtlich zulässigen individuell begünstigenden Vertrag“ (UA S. 113) für V. herbeiführen.

Im Urteil ist indessen auf UA S. 114 davon abgesehen worden, „unter Hinzuziehung eines versicherungsmathematischen Sachverständigen den exakten Wert der vorteilhafteren Vertragsgestaltung und damit des dem V. zugefügten Nachteils zu berechnen. Angesichts der tateinheitlich begangenen Bestechungsdelikte kommt der Höhe des Nachteils, der die Höhe der Schmiergeldzahlungen ersichtlich nicht erreichen oder gar übersteigen würde, auf der Ebene der Strafzumessung keine Bedeutung zu. Die Kammer geht sicher davon aus, dass der vom Vorsatz des Angeklagten und D. umfasste Nachteil mindestens € 1,00 betragen hat, was den Schuldspruch trägt.“ 18 18 Zur Unrechtsvereinbarung heißt es in der Urteilsausfertigung (UA) auf S. 13 f.: „Zu einem nicht mehr aufklärbaren Zeitpunkt, als der Angeklagte – seinem Plan entsprechend – zunächst in den Gründungsausschuss und sodann in den Verwaltungsausschuss des V. ge-

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Diese Nachteilberechnung hat der BGH 5 StR 263/08 mit Urteil vom 09.07.2009 als eine „ersichtlich nicht ernst gemeinte“ unseriöse „Sachverhaltsvariante“ bezeichnet. Bei einem solchen Verständnis der landgerichtlichen Urteilsbegründung stehe „der Umstand, dass es das Tatgericht nicht wenigstens unternommen hat, die ungefähre Schadenshöhe auf der ihm zu Gebote stehenden, wenngleich konkret als unvollkommen erachteten Grundlage mit aller gebotenen Vorsicht zu schätzen, die Möglichkeit der Auf­ rechterhaltung des Schuldspruchs wegen tateinheitlicher Untreue nicht in Frage“.19

Das neue Tatgericht habe vor diesem Hintergrund den Vermögensnachteil neu festzustellen, was in der Literatur wegen objektiven Fehlens eines Vermögensnachteils auf Ablehnung stieß.20 Den in der Revision geltend gemachten Einwand, wählt war, konnte der Pakt zwischen dem Angeklagten und D. endlich konkretisiert und endgültig besiegelt werden. Der Angeklagte schlug D. daher folgendes vor: Er werde seine Stellung im Verwaltungsausschuss sowie sein Ansehen als Wirtschaftsprüfer pflichtwidrig dazu ausnutzen, um eine oder mehrere Geldanlagen des V. bei der P.-Versicherung zu arrangieren. Im Interesse der P. werde er unter Außerachtlassung seiner Pflichten als Mitglied des Verwaltungsausschusses nach Möglichkeit für günstige Konditionen der Versicherung sorgen. Im Gegenzug erhalte er die normalerweise einem Vermittler zustehende ‚Provision‘. D. war hiermit einverstanden.“ Im Zivilgerichtsverfahren vor dem LG Hamburg 606 O 673/05 hat in einer Beweisaufnahme der auch im Erkenntnisverfahren als Zeuge aussagende Chefversicherungsmathematiker und Aktuar der P.-Versicherung auf die Frage, ob seinerzeit, nämlich bei Abschluss der ursprünglichen Verträge zwischen V. und der P.-Versicherung es möglich gewesen wäre, für einen Kunden ein anderes, für ihn günstigeres Tarifprodukt auszuwählen geantwortet: „Ein solches anderes Tarifprodukt hat es nicht gegeben. […] Wenn ich einen Tarif kalkuliere, setze ich einen Standardsatz für Vermittlung pp. an. Von daher ist es für meine Kalkulation unerheblich, ob eine Provision tatsächlich fließt oder nicht fließt.“ Der Vorstandsvorsitzende der P.-Versicherung hat bekundet: „Es ist so, dass unabhängig davon, ob Provisionen fließen oder nicht, in die Tarife der P.-Versicherung Verwaltungskosten von den Versicherungsmathematikern einkalkuliert sind. Mit anderen Worten: Ein tatsächliches Fließen oder Nichtfließen einer Provision ist hinsichtlich des Tarifs ohne Bedeutung. […] Wenn eine Provision nicht gezahlt wird, entsteht daraus kein Spielraum für das Kalkulieren eines neuen Tarifs. Dies liefe letztlich darauf hinaus, eine Umgehung der fixen Vorgaben für die Tarifkalkulation vorzunehmen – jedenfalls wenn man den Blick auf die bloßen Abschlusskosten wirft.“ 19 BGH, in: NJW 2009, S. 3248 ff., 3252 Rn. 62. 20 Anmerkung Mehle BGH, in: NJW 2009, S.  3248 ff. Gegen die Urteile des LG Hamburg 608 KLs 3/07 vom 23.11.2007 und des BGH 5 StR 263/08 vom 09.07.2009 ist eine Verfassungsbeschwerde erhoben worden, die mit Beschluss 2 BvR 2092/09, verbunden mit 2 BvR2523/09, vom 24.03.2010 nicht zur Entscheidung angenommen worden ist. Der BVerfG-Beschluss ist in seinen Gründen nur auf die erhobene Beschwerde zur Verletzung

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dass ein Schaden von 1 € gar keinen Straftatbestand erfülle, ließ der BGH ohne Angabe von Gründen nicht gelten.21 Nach Zurückverweisung der Sache ist im Zweiturteil des LG Hamburg 618 KLs 8/09 vom 21.01.2010 unter Berufung auf das Ersturteil des LG Hamburg vom 23.11.2007 erneut eine Nachteilschätzung ohne versicherungsmathematides Rechts auf ein faires Verfahren durch den wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnten Vorsitzenden Dr. T., hier aufgrund einer der Verteidigung und dem Betroffenen gesetzten Frist von 23 Stunden zur Anbringung von Beweisanträgen am neunten Hauptverhandlungstag vor Abarbeitung des gerichtlichen Beweisprogrammes, eingegangen. Auf eine Befangenheit des Vorsitzenden ist das BVerfG nicht eingegangen. Dieser Richter ist indessen zusammen mit den weiteren Berufsrichtern dieses Urteils nachträglich mit Beschluss des LG Hamburg 618 KLs 8/09 vom 23.09.2009 wegen „einiger Wendungen der schriftli­ chen Urteilsgründe des Urteils der Großen Strafkammer 8“ vom 23.11.2007 für befangen erklärt worden. 21 Michael Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S. 35, 611 ff., weist auf das fehlende Strafunrecht bei Bagatellen hin, bei denen ein Unrechtsverhalten den Begriff des Verbrechens nicht erfüllt, „wenn es dem Maß nach so minimal ist, dass es die konkrete rechtliche Selbstständigkeit praktisch nicht tangiert“. Eine Straftat sei dann „qualitativ-material ausge­ schlossen“; Gerhard Herdegen hat in einer Stellungnahme zu den Urteilen des LG Hamburg vom 23.01.2007, 21.01.2010 und des BGH vom 09.07.2009 an den Verteidiger Udo Jacob vom 08.05.2010 hierzu ausgeführt: „Der Tatbestand ist Ausdruck des Gesetzlichkeitsprinzips (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB). Dieses Prinzip besagt auch und vor allem: Mag für morali­ sierende Betrachtungen ein Verhalten für noch so verwerflich, für noch so sozialschädlich zu bewerten sein, so kann es dennoch als Straftat nicht verfolgt werden, falls es den Erfüllungsbe­ dingungen des Tatbestands nicht genügt, wenn von ihm nicht mit zweifelausschließenden Gründen gesagt werden kann, es sei ‚tatbestandsmäßig‘. Die Erfüllungsbedingungen der Tat­ bestandsmerkmale vertragen keine Abstriche, keine Abschwächung, keine Schätzung. Sie ver­ langen eine akribische, der Garantiefunktion des Tatbestands gerecht werdende Beweisfüh­ rung; sie verlangen Sachverhaltsannahmen (‚Feststellungen‘), deren Begründung in der Sache und nicht nur für den Begründenden überzeugend ist. Ist die auf nicht zu beanstandende Sachverhaltsannahmen gestützte Gewissheit nicht zu erlangen, können bloße Verbalisierun­ gen – Fiktionen, Vermutungen, rhetorische Camouflagen – die vom Tatbestand geforderte Be­ gründung nicht ersetzen. Dann gilt stets und nur: in dubio pro reo. Dieser aus der tatbestand­ lichen Garantiefunktion folgenden Konsequenz ist der Senat in seinem Urteil vom 9. Juli 2009 - 5 StR 263/08 - nicht gerecht geworden. […] Er hat auch die Annahme des Tatgerichts, dass der skurrile Ein-Euro-Nachteil den Schuldspruch trägt, nicht gebilligt. Aber er hat aus der Bemessung des Mindestnachteils mit einer nullité die gebotene Folgerung nicht gezogen. Weil diese nullité das Tatbestandsmerkmal des Nachteils nicht erfüllt, hätte die Verurteilung wegen Untreue aufgehoben werden müssen.“ Gegen die Urteile des LG Hamburg 608 KLs 3/07 vom 23.11.2007 und des BGH 5 StR 263/08 vom 09.07.2009 263/08 ist wegen der Verurteilung aufgrund eines Gefährdungsschadens von 1,00 € am 23.09.2010 eine Beschwerde gemäß § 34 EMRK zum Europäischen Gerichtshof Nr. 56354/10 erhoben worden, über die noch nicht entschieden worden ist.

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sche Grundlage vorgenommen worden. Hiernach sei der Nachteil in Verknüpfung mit der Unrechtsvereinbarung, den der Betroffene „im Interesse der P. […] unter Außerachtlassung“ (seiner) „Pflichten als Mitglied des V. (herbeigeführt habe, um) nach Möglichkeit für günstige Konditionen der Versicherung (zu) sorgen“, (damit er) […] „im Gegenzug […] die normalerweise einem Vermittler ­zustehende Provision“ erhalte, mit „gerundet € 224.000,- für den ersten Vertrag vom ­November 2001 und […] € 274.000,- für den zweiten Vertrag vom Juli 2002“ geschätzt worden. „D. […] (sei) hiermit einverstanden“ gewesen.22

Im Verfahren vor dem LG Hamburg 618 KLs 8/09 sind sämtliche Beweisanträge zur Höhe des Schadens unter Berufung auf das Ersturteil abgelehnt worden. Im Urteil des LG Hamburg vom 21.01.2010 ist der Betroffene zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt worden. Gegen dieses Urteil hat der Betroffene Revision zum BGH eingelegt und diese mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 2 BvR 2559/98 vom 23.06.201023 zur eigenständigen sowie nachvollziehbaren Ermittlung des Vermögensnachteils begründet. Mit Beschluss des BGH 5 StR 307/10 vom 25.11.2010 ist die Revision des Betroffenen ohne Begründung als unbegründet gemäß § 349 II StPO verworfen worden.24 Mit Urteil des LG Berlin WiL 6/11 vom 25.11.201125 ist der auch als Wirtschaftsprüfer zugelassene Betroffene nach einer erneuten Beweisaufnahme rechtskräftig von allen Straffeststellungen in den Urteilen des LG Hamburg vom 23.11.2007 und 21.01.2010, insbesondere von der vorstehend wiedergegebenen Unrechtsvereinbarung, freigesprochen worden. Das LG Berlin hat zur Annahme einer Unrechtsvereinbarung auf UA LG Hamburg 608 KLs 3/07 vom 23.11.2007 S. 13 f. den nachstehend wiedergegebenen Sachverhalt festgestellt: Zur Vermittlungsleistung (Unrechtsvereinbarung) für die Rentenversicherungsverträge ist festgestellt worden, dass diese entsprechend dem Urteil des LG Hamburg 608 KLs 3/07 vom 09.70.2007 gegen den Mitangeklagten D. am 30.10.2000 und nicht wie auf UA LG Hamburg vom 23.11.2007 S. 13 „zu einem nicht mehr auf­ klärbaren Zeitpunkt“ erfolgt ist, mithin vor Beschlussfassung der Hamburgischen Bürgerschaft über das HmbRAVersG am 21.11.2000 und damit vor Gründung des V. am 02.04.2004. Daher entfalle die Amtsträgereigenschaft des Betroffenen: 22 Ersturteil LG Hamburg 608 KLs 3/07 vom 23.11.2007 UA, S. 14, Zweiturteil LG Hamburg 618 KLs 8/09 vom 21.01.2010 UA, S. 22. 23 BVerfG, in: NJW 2010, S. 3209 ff. 24 Die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung angenommen worden. 25 LG Berlin WiL 6/11 Urteil vom 25.11.2011, in: WPK Magazin 2012, S. 50 ff.

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„Er [sic. D.] sei sicher, dass er diesen Hinweis vor der Gründung des V. erhalten habe, denn […] er wisse auch noch, dass bei dem Treffen auch der Vater des Berufsangehörigen […] zugegen gewesen sei. Dies spreche dafür, dass dies anlässlich dessen Geburtstag im Oktober 2000 geschehen sei, denn an diesen Tagen habe er [sic. den Vater] r­ egelmäßig zu dessen Geburtstag besucht […]. Es sei für ihn [sic. D.] auch nicht außergewöhnlich, son­ dern üblich gewesen, dass […] im ganzen Verlauf bis zur von ihm aus eigenem Antrieb vorgenommenen Anweisung der Provision nie mit dem Berufsangehörigen [sic. Betroffenen] über (eine) Provisionszahlung gesprochen wurde. Ohnehin sei es zunächst so gewe­ sen, dass es zunächst um das Vollverwaltungsmodell gegangen sei, für das sich der Be­ rufsangehörige [sic. Betroffener] besonders eingesetzt habe, aber letztlich keine Mehrheit gefunden habe. Bei diesem Modell hätte der Berufsange­hörige [sic. Betroffener], davon sei er überzeugt gewesen und sei es noch bis heute, ohnehin keinen Anspruch auf Provision gehabt. Denn dies habe aus Sicht von D. vorausgesetzt, dass Versicherungsverträge ­geschlossen worden wären, und das Vollverwaltungsmodell wäre ohne Versicherungsver­ träge gelaufen: ‚wir hätten ja alles gemacht, Gelder eingenommen, verwaltet, angelegt, die Rentenvoraussetzungen geprüft und die Renten ausgezahlt, wie ein Rententräger.‘ Er ­jedenfalls hätte dann keine Provisionszahlung an den Berufsangehörigen angewiesen […]. Nach seiner festen Überzeugung hätte das V. keine günstigeren Tarife erhalten, wenn keine Provision fällig gewesen wäre, schon weil die Tarife aus seiner Sicht wegen des Ge­ nehmigungserfordernisses durch das BAFin festgelegt seien. In seiner damals über 20-jäh­ rigen Tätigkeit als Bezirksdirektor der P. habe er nie erlebt, dass eine ausgebliebene Provi­ sionierung dem Kunden gut gebracht worden wäre. Aus seiner Sicht hätte ohne Provision im Fall des V. dann eben die Versicherung die ca. 2 Mio. € gespart.“ 26 „Nach dieser Schil­ 26 UA LG Berlin WiL 6/11 vom 25.11.2011 S. 28 f. In einer Beweisaufnahme vor dem LG Itzehoe 7 O 226/08 am 07.01.2011 hatte der dortige Zeuge D. bekundet: „Für mich war das sozusagen eine ganz normale Vermittlung. Ob ich mich zu Unrecht verurteilt fühle, steht hier ja nicht zur Debatte. Es gab keine Absprachen mit dem […] [Betroffenen], dass die Pro­ vision fließen sollte, weil die Verträge nicht modifiziert worden seien“ (Seite 17 f. des Protokolls des LG Itzehoe 7 O 226/08 vom 07.01.2010). In einem Verfahren des V. gegen den Betroffenen und die P.-Versicherung vor dem LG Hamburg 303 O 673/05 auf Zahlung von Schadensersatz und einem Zinsvorteil der P.-Versicherung ist im nicht rechtskräftig gewordenen Urteil vom 22.03.2013 keine Unrechtsvereinbarung angenommen worden. Vielmehr ist das Strafverfahren selbst als Haftungsgrund aus c. i. c. herangezogen worden, was „zu einer großen Empörung geführt“ habe. Es sei für das V. von Bedeutung, „ob die jewei­ lige Anlageentscheidung den Verdacht strafrechtlich relevanten Handelns in sich birgt“. Die persönliche Verflechtung zum Empfänger der Provision sei „der strafrechtlich relevante, je­ denfalls aber ‚anrüchige‘ Umstand, über den aufzuklären war“. Die unterbliebene Aufklärung des V. sei „ursächlich für einen entgangenen Gewinn des“ V. Das V. hätte, so die zentrale Spekulation des Gerichts, keine Verträge mit der P.-Versicherung geschlossen, „wenn V. über die für diesen Fall zu erwartende Provisionszahlung […] informiert gewesen wäre“. Gegen das Urteil des LG Hamburg 303 O 673/05 vom 22.03.2013 haben alle Beteiligten des Verfah-

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derung ist dem Zeugen D. die Passage aus dem Strafurteil gegen den Berufsangehörigen über die Unrechtsvereinbarung27 vorgehalten worden, und er hat spontan geäußert, diese Feststellungen seien ‚absoluter Quatsch‘.“ 28

Aufgrund der Urteile des LG Hamburg vom 23.11.2007 und 21.01.2010 ist gegen den Betroffenen mit Beschluss des Hamburgischen Anwaltsgerichts II 6/11 EV 9/08 vom 25.09.2012 ein berufsgerichtliches Verfahren zur Aberkennung der Berufszulassung als Rechtsbeistand eröffnet worden. Das Hamburgische Anwaltsgericht II 6/11 EV 9/08 hat sich mit Beschluss vom 04.01.2013 und nach einer Beweisaufnahme vom 25.01.2013 mit Beschluss vom 01.03.201329 von den Straffeststellungen in den Urteilen des LG Hamburg 608 KLs 3/07 vom 23.11.2007 und 618 KLs 8/09 vom 21.01.2010 gelöst: Die „insoweit vom Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 9. Juli 2009, 5 StR 263/08 aufrechterhaltenen Feststellung rens Berufung zum Hanseatischen OLG 1 U 57/13 eingelegt, die aufgrund von rechtlich abweichenden Hinweisen des Gerichts zum Urteil und einem Vergleich zwischen dem ­Betroffenen und der P.-Versicherung nicht durchgeführt wurde. 27 Siehe Fn. 18. 28 UA LG Berlin WiL 6/11 vom 25.11.2011 S. 30. 29 Die Schadenskonstruktionen der Urteile des LG Hamburg 608 KLs 3/07 vom 23.11.2007 und 618 KLs 8/09 vom 21.01.2010 sind „nicht geeignet, um den angenommenen Schaden nachvollziehbar zu belegen. Das landgerichtliche Urteil lässt jegliche Ausführungen dazu, was Grundlage der vorgenommenen Schätzung war, vermissen; die Schätzung bewegt sich gleichsam im ‚luftleeren Raum‘. Beweiserhebungen zur Höhe eines eventuellen Schadens hat das Landgericht nicht für erforderlich gehalten, obgleich es sich bei seinen Schätzungen nicht auf das Vorliegen eigener Sachkunde berufen hat, sondern die Auffassung vertrat, unter Zugrundelegung der als Bestechungsgeld bewerteten Zahlungen und Vornahme eines pauschalen, der Höhe nach gar nicht begründeten Abzugs, der als ‚Sicherheitsabschlag‘ bezeichnet wurde, eine Schadensschätzung vornehmen zu können. Das Anwaltsgericht hat gegen die Aufrechterhaltung dergestalt getroffener Feststellungen Bedenken, weil die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich eigenständige Feststellungen zum Vorliegen eines Vermögensschadens verlangt. Hiernach ist die Höhe eines Schadens nachvollziehbar zu beziffern, dessen Ermittlung ist in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise darzulegen. Eine gebotene konkrete Ermittlung des Nachteils darf insbesondere nicht aus der Erwägung heraus unterbleiben, dass sie mit praktischen Schwierigkeiten verbunden ist, vgl. BVerfG 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010 (zit. nach www.bverfg.de/ Entscheidungen Rz 113., BVerfG NStZ 2011, 626). Jedenfalls muss sich das erkennende Gericht – ggf. durch Hinzuziehung eines Sachverständigen – vergewissern, ob eine hinreichend sichere Grundlage für die Feststellung eines Vermögensnachteils existiert und ob und wie dieser zahlenmäßig erfassbar ist. Eine Schätzung ist (nur) insoweit zulässig, wie Unsicherheiten verbleiben, BVerfG a. a. O. Hierbei – so hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betont – haben normative Gesichtspunkte außer Acht zu bleiben, es sei zu prüfen, ob das fragliche Geschäft wirtschaftlich betrachtet nachteilhaft bleibe.“

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des Urteils des Landgerichts Hamburg vom 30.11.2007, 608 KLs 3/07“ zur angeblichen Unrechtsvereinbarung auf UA S.  13 f. werde „gemäß §  118 Abs.  3 S.  2 BRAO erneut überprüft“. „Das Landgericht Hamburg hat den Inhalt der Einlassung des rechtskräftig Verurteilten D. weder, soweit sie im Rahmen des Ermittlungsverfahrens noch im Rahmen der Hauptver­ handlung erfolgt sind, über den Umstand hinaus, dass (letztlich) eine geständige Einlas­ sung erfolgt sei, mitgeteilt. Wenn aber der ehemalige Mitangeklagte D. ein Geständnis ab­ gelegt hat, so hätte es jedenfalls nahe gelegen, den Inhalt des Geständnisses, soweit er die (geständige) Schilderung einer Unrechtsvereinbarung umfasst, in den Urteilsgründen wie­ derzugeben. Damit hätte der Kammer nämlich im Hinblick auf den angeschuldigten Rechtsbeistand ein unmittelbares Beweismittel – sei es auch in Form einer besonders kritisch zu würdigenden Angabe eines Mitangeklagten  – zur Verfügung gestanden. Indem die Kammer jedoch darauf hinweist, sie habe sich die festgestellten Umstände ohne eine dezi­ dierte Absprache zwischen dem angeschuldigten Rechtsbeistand und dessen früherem Mit­ angeklagten D. ‚nicht vorstellen‘ können, legt dies nahe, dass jedenfalls der geständige D. gerade die für die Verurteilung zentrale Unrechtsvereinbarung nicht geschildert hat. Dann aber stellt sich die Frage, welchen Inhalt das von der Kammer besonders kritisch hinter­ fragte (S. 70 UA) Geständnis hatte. Den Urteilsfeststellungen lässt sich dies nicht entneh­ men. Ebenso wenig lässt sich den Urteilsfeststellungen entnehmen, ob und ggf. wie sich der verurteilte D. im Ermittlungsverfahren oder vor der getroffenen Verständigung im Rahmen der Hauptverhandlung geäußert hat, ob die früheren Einlassungen mit derjenigen in der Hauptverhandlung nach Herbeiführung der Verständigung übereinstimmen, insbesondere soweit sie Grundlage der Verurteilung des angeschuldigten Rechtsbeistandes geworden sind. […] Dazu gehören die festgestellten Umstände, die dem rechtskräftigen Schuldspruch zu Grunde liegen. Neben den Tatumständen, die die gesetzlichen Merkmale der Tat ausfüllen, gehören hierzu insbesondere auch die Bestandteile der Sachverhaltsschilderung, aus denen der Strafrichter seine Überzeugung von der Schuld des Betroffenen abgeleitet hat und sol­ che, die das Tatgeschehen im Sinne des geschilderten Vorgangs näher umschreiben und die­ sem das entscheidende Gepräge geben (BGH 4 StR 642/81, BGHSt 30, 344). In diesem Sinne kommt der zwischen dem abgeurteilten D. und dem angeschuldigten Rechtsbeistand angeblich getroffenen Unrechtsabrede entscheidende Bedeutung zu. Die hierzu getroffenen Feststellungen müssen daher umfassend, schlüssig und widerspruchsfrei sein, um eine Bin­ dungswirkung zu entfalten. Die Feststellungen des Landgerichts sind unter Zugrundele­ gung dieser Anforderungen insoweit unzureichend, so dass sich das Anwaltsgericht auf die­ ser Grundlage keine sichere Überzeugung von ihrer Richtigkeit, insbesondere der Richtigkeit der Einlassung des Verurteilten D. verschaffen kann. Unzureichende Feststellungen eines strafgerichtlichen Urteils entfalten jedoch keine Bindungswirkung (Feuerich, 8.  Aufl. Rdnr. 37), weil sie nicht geeignet sind, den Urteilsspruch zu tragen.“

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In der Beweisaufnahme vor dem Hamburgischen Anwaltsgerichtshof II 6/11 EV 9/08 am 25.01.2013 hat der Zeuge D. zur Frage, ob es zwischen ihm und dem Betroffenen eine Unrechtsvereinbarung, wie sie auf UA LG Hamburg 608 KLs 3/07 vom 23.11.2007 S. 13 f. festgestellt worden ist, gegeben habe, dies in Abrede gestellt. Darüber hinaus hat der Zeuge D. bekundet, dass er nur aus dem Grunde, weil ihm eine hohe Haftstrafe konkret angedroht worden sei, das unrichtige Geständnis vom 06.07.2007 abgegeben habe. Er sei zu diesem unrichtigen Geständnis von der Staatsanwaltschaft und dem LG Hamburg genötigt worden. Hätte er nicht das geforderte Geständnis gegeben, wäre eine zu verbüßende Gefängnisstrafe gegen ihn ergangen. Dem Dealgeständnis des Zeugen D. vom 06.07.2007 war das Folgende vorangegangen: Am 05.07.2007 erhielt Rechtsanwalt Jacob einen Anruf von Rechtsanwalt Dr. S., dem Verteidiger des Zeugen D., der mitteilte, dass er mit dem Vorsitzenden Dr. T. und der Staatsanwältin Dr. D. sog. Dealgespräche geführt habe. Er habe bereits eine Erklärung vorbereitet, die er am nächsten Verhandlungstag für seinen Mandanten verlesen werde. Dr. S. teilte zur Erläuterung seiner Vorgehensweise mit, sein Mandant habe panische Angst vor einer Inhaftierung, auch wegen seiner behinderten Tochter, seit dem letzten Verhandlungstag sei er mit den Nerven völlig am Ende. Dr. S. bezog sich hierbei auf die Geschehnisse in der Hauptverhandlung am 02.07.2007. Der Vorsitzende Dr. T. hatte am Schluss dieser Sitzung zu verstehen gegeben, dass aus Sicht der Kammer nach der bis dahin durchgeführten Beweisaufnahme die Anklagevorwürfe hinsichtlich des Vorwurfes der Bestechung bzw. Bestechlichkeit sowie der Untreue Bestätigung gefunden hätten und eine „Verschlankung des Verfahrens“ angeregt. Sodann hatte der Vorsitzende Dr. T. in martialischem Ton an die Staatsanwältin Dr. D. die Frage gerichtet, „in welcher Oktave“ sich ihre Strafanträge bewegen würden, worauf diese erwiderte, hinsichtlich des Betroffenen bei fünf Jahren, bei dem Zeugen D. nicht weit davon ab. Durch diese Strafmaßankündigung war der Zeuge D. in derartige Panik versetzt worden, dass er seinen Kampf um einen Freispruch – jedenfalls in dieser Instanz – aufgegeben habe. Deshalb habe er ihn gebeten, auf einen entsprechenden Deal mit Gericht und Staatsanwaltschaft hinzuwirken, wie es nunmehr geschehen sei. Nach Versendung des Dealgeständnisses vom 05.07.2007 fiel Rechtsanwalt Jacob sofort auf, dass dort gerade keine Unrechtsvereinbarung bestätigt worden ist, weil der erste Teil der Einlassung im zweiten Teil widerrufen worden ist. Dr. S. wollte seinen Mandanten nicht einer falschen Verdächtigung schuldig machen lassen, weshalb er im ersten Teil des Deal­g eständnisses die Anklagevorwürfe einräumte, diese aber im zweiten Teil substantiiert widerrief. In einer Verhandlungspause gestand Dr. S. Rechtsanwalt Jacob auf Vorhalt ein, dass es sich bei dem Schreiben vom 05.07.2007 um kein wirkliches Geständnis handelte. Dr.  S. räumte ein, dass ihm diese Umstände

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durchaus bewusst seien und in der Revision angegriffen werden sollten. Am letzten Verhandlungstag im Verfahren vor dem LG Hamburg 608 KLs 3/07 am 23.11.2007 hatte Rechtsanwalt Jacob einen Hilfsbeweisantrag gestellt, in dem die vorstehend wiedergegebenen Umstände unter Beweis gestellt wurden. Der Be­ weis­antrag ist im Urteil des LG Hamburg 608 KLs 3/07 vom 23.11.2007 und des BGH 5 StR 362/08 vom 09.07.2009 als dortige Verfahrensrüge ohne Begründung abgelehnt worden.

2  Die „Indizien“ des Einzelfalles als Vollbeweismittel Die wesentlichen Indizien im Urteil des LG Hamburg 608 KLs 3/07 vom 23.11.2007, die die dezidierte Unrechtsvereinbarungswiedergabe30 als nicht rekonstruierbare Tatsachenfeststellung wiedergibt, sind die Nachstehenden: Auf UA S. 53 wird festgestellt, dass der Betroffene „Tippgeber“ und das Bindeglied ­zwischen der P.-Versicherung und V. war. Auf UA S. 54 wird dargelegt, dass das Gericht davon ausgehe, die Vermittler-Nr. der P. sei dem Betroffenen bekannt ­gewesen. Auf UA S. 54 und 55 wird festgestellt, dass es keine ernsten Bemühungen des Betroffenen gab, die erste Zahlung der P. zu spenden: Bei den Gesprächen mit deren Verantwortlichen habe es sich „um eine weitere Maßnahme zur Camouf­ lage der Schmiergeldzahlungen gehandelt“, der Betroffene habe „den hochrangigen P.-Versicherungs-Vertreter […] als ‚Alibi-Zeugen‘ für seine vermeint­ lich ernsthaften Bemühungen zur Anwendung der gleichsam schicksalhaft aufgedrängten Provision vorgesehen, […] falls seine kriminellen Machenschaften wider Erwarten doch aufliegen würden. Die Zeugen […] haben übereinstimmend bekundet, dass für sie der Ausgang des Gesprächs von vornherein feststand und eine Spende durch die P. nicht in Betracht kam und dass dies auch dem Angeklagten bekannt war.“ Der Zeuge habe „um­ fassend die Situation mit Blick auf eine mögliche Spende erläutert und deutlich gemacht, dass eine andere Entscheidung sicher nicht zu erwarten sei. […] Da es sich aber um einen guten Kunden gehandelt habe, sei er dem Begehren des Angeklagten nach einem Treffen nachgekommen. Sowohl der Zeuge H.-V. als auch der Zeuge F. haben bekundet, dass von der G.-GbR nicht die Rede gewesen sei, sondern der Angeklagte als Provisionsempfänger aufgetreten sei.“

Auf UA S. 55 und 56 wird erörtert, dass es einen Grundsatzbeschluss des V. bezüglich des Verbots einer entgeltlichen Geschäftsbesorgung zwischen den Mitgliedern 30 Siehe Fn. 18.

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des Verwaltungsausschusses des V. gegeben habe. Auf UA S. 56, 57, 16 f. wird festgestellt, dass die übrigen Verwaltungsausschussmitglieder mit einer Ausnahme keine Kenntnis davon hatten, dass Standard-Tarifverträge geschlossen wurden und für diese – trotz eines Hinweises auf die Rückkaufswerte im Vertragsangebot – Provisionen anfallen würden. Weiterhin habe der Verwaltungsausschuss den Abschluss eines Individualvertrages nicht abgelehnt. Der Verwaltungsausschuss hätte – trotz Fachkenntnissen der übrigen Mitglieder als Rechtsanwälte, Steuerberater und vereidigter Buchprüfer – bei Kenntnis der Verhandelbarkeit der Konditionen den Willen gehabt, auf bessere Konditionen hinzuwirken. „Die Verwaltungsausschussmit­ glieder haben – wie sie glaubhaft und übereinstimmend bekundet haben – lediglich den Gruppenversicherungsvertrag aus Datenschutzgründen mit Mehrheit abgelehnt.“ Ebenso hätten sie das Vollverwaltungsmodell aus diesem Grunde abgelehnt. Es bestand insoweit Einigkeit, dass eine maximale Rendite erzielt werden sollte. Auf UA S. 58 führt das Gericht aus, dass der Betroffene aufgrund seiner langjährigen engen Zusammenarbeit mit der P. die Produkte und Gepflogenheiten des Versicherungsgewerbes kannte und daher auch die Verhandelbarkeit der Vertragsbedingungen abschätzen konnte. Auf UA S. 58 bis 62 wird geschildert, dass der Betroffene insbesondere in der Verwaltungsausschusssitzung vom 16.07.2002 und D. im Rahmen eines Telefonats mit Dr. C. versuchten, die Provisionszahlungen zu verheimlichen. Auf UA S. 62 und 63 wird erörtert, dass auch bei dem ursprünglich vom Betroffenen favorisierten Gruppenversicherungskonzept im Rahmen einer „Vollverwaltung“ Provisionszahlungen möglich gewesen wären. Auf UA S. 63 und 64 stellt das Gericht dar, dass der Betroffene die Verhandlungen mit der P. geführt und sich für diese stark gemacht habe. Auf UA S. 64 und 65 wird bezüglich der Verhandelbarkeit der Vertragskonditionen festgestellt, dass bei großvolumigen Verträgen ein Verhandlungsspielraum „bei der Kalkulation von Sondertarifen“ bestehe, wobei es allerdings auf die wirtschaftliche Vertretbarkeit aus Sicht der P. ankäme. Die P. habe jedoch grundsätzlich das Ziel, Tarifprodukte zu verkaufen, und lebe von Vermittlern. Auf UA S. 65 bis 67 wird die Stellung des Betroffenen im Verwaltungsausschuss und sein Zuständigkeitsbereich beschrieben und herausgestellt, dass dieser für die Vermögensanlage bei der P. primär zuständig war. Die besonders hervor­ gehobenen Zeugen aus dem Verwaltungsausschuss des V. sowie die vorstehend ­wiedergegebenen Feststellungen konnten zum Thema Unrechtsvereinbarung oder Vermögensschaden indessen überhaupt nichts beitragen. Bei genauer Betrachtung der Beweisführung und Argumentation des Gerichts wird klar, dass für die Unrechtsvereinbarung keine objektiven Anhaltspunkte vorliegen und sich das Gericht „nur ein Gedacht-Seiendes“ vorgestellt hat. Das LG Berlin spricht daher von „im Übrigen im Strafurteil angeführten ver­ meintlichen Indizien“, die keine Unrechtsvereinbarung belegen, da

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„das zentrale Beweismittel für das Zustandekommen oder Nicht-Zustandekommen eines Pakts zwischen seinem damaligen Angeklagten, dem Berufsangehörigen, und D. nicht zur Verfügung stand […]. Dieses Fehlen eines zentralen Beweismittels stellte die Zuverläs­ sigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Urteils des Landgerichts Hamburg in diesem Punkt umso mehr infrage, als – wie sich aus der weiteren Beweiswürdigung des Landge­ richts Hamburg ergab – es auch keine mittelbaren Zeugen zu dem Pakt gab […]. Gerade vor diesem Hintergrund, dass das Landgericht Hamburg für seine Annahme einer Un­ rechtsvereinbarung auf eigene Rückschlüsse aus tatsächlichen oder vermeintlichen In­ diztatsachen für einen solchen Pakt angewiesen war, waren Formulierungen in dem Ur­ teil, die ohne erkennbar zwingende Notwendigkeit den Berufsangehörigen und dessen Verhalten mit abwertenden Begriffen belegten, problematisch“, was auch der BGH bean­ standet habe.31 Anknüpfend hieran „musste sich die erkennende Kammer die Frage stel­ len, ob die ganz ungewöhnliche Vielzahl dieser und weiterer abwertender Begriffe im Urteil der Strafkammer nicht nur bei der vom Bundesgerichtshof hierzu konkret ange­ sprochenen Feststellung des Schadens im Sinne von § 266 StGB Zweifel erwecken konnte: Zweifel, ob die Richter der Hamburger Strafkammer innerlich bei der Urteilsfindung so disponiert waren, dass sie in kritischen Punkten, in denen die Beweislage dünn war, dem damaligen Angeklagten wirklich nur das anlasteten, was unter strenger Berücksichtigung des Grundsatzes ‚in dubio pro reo‘ tatsachenfundiert belegbar war. Die zusätzliche, die vermeintliche Unrechtsvereinbarung betreffende Formulierung der Strafkammer, sie habe ‚die festgestellten Umstände […] sich nicht ohne dezidierte Absprache zwischen dem Ange­ klagten […] und D. vorzustellen (vermocht)‘ (UA LG Hamburg vom 23.11.2007, S. 67), bekräftigt diese Zweifel. Sie belegt, auch im Zusammenhang mit den ihr nach­ folgenden Darlegungen, dass es der Strafkammer objektiv nicht gelungen war, ihre Hypo­ these über die Absprachen zwischen D. und dem Berufsangehörigen einer anderen gegen­ überzustellen und mit ihr abzugleichen – dies obwohl, wie nachfolgend darzustellen sein wird, eine solche andere Interpretationsmöglichkeit durchaus bestand.“ 32

Damit ist die mögliche andere Interpretationsmöglichkeit als Maßstab der Unbrauchbarkeit von Indizien herangezogen, die das LG Berlin auf UA S. 33 ff. ausführt.33 31 BGH, in: NJW 2009, S. 3253 Rn. 73. 32 UA LG Berlin WiL 6/11 vom 25.11.2011 S. 25 ff. 33 „Dass die Möglichkeit einer Provision bei einer Vollverwaltung jedenfalls nicht einfach zu beurteilen war, erschließt sich schon aus der entsprechenden Beweiswürdigung im Strafurteil vom 23.11.2007 (UA S. 63): Diese berichtet von einer Aussage des Aktuars S. der P., wonach beim Vollverwaltungskonzept Provisionszahlungen möglich gewesen seien, man dies jedoch infolge des Scheiterns des Konzepts mangels Mehrheit im Verwaltungsausschuss nicht abschließend erörtert habe. Sie berichtet aber auch von der Aussage des seiner-

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Tatsächlich belegen die geschilderten Indizien die Provisionszahlungen und deren nicht erfolgte Offenlegung, und dass der Betroffene als Tippgeber fungiert hat, allerdings in einem anderen Kontext als im Urteil des LG Hamburg unterstellt. Dass der Betroffene auch die Verhandelbarkeit von Tarifrentenversicherungen gekannt habe, ist eine unbewiesene Hypothese des Gerichts. Selbst Kenntnisse über die Gestaltungsmöglichkeiten in einem neuen Tarifvertrag, die der Vorstandsvorsitzende der P.-Versicherung hatte, sind nicht zwangsläufig für den nur gelegentlich als sog. Tippgeber fungierenden Betroffenen. Nach den Richt­ linien des BAFin gilt bei Rententarifverträgen der Gleichbehandlungsgrundsatz für alle Kunden. Auch das Provisionsweitergabeverbot ist nach wie vor geltendes Recht.34 Insbesondere lässt der Umstand, dass der Betroffene die Provisionen verzeitigen Vorstandsvorsitzenden der P., dass eine Vollverwaltung Tarifprodukte nicht ausschließe, die bei der ‚Vollverwaltung‘ erbrachte Dienstleistung aber neben den Tarifprodukten stehe und eine separate Kalkulation der Verwaltungskosten erfolge, die mit dem Produkt als solchem nichts zu tun habe – mithin eine im Ergebnis gleiche, aber von der Begründung her schon aus sich heraus schwer verständliche und damit keinesfalls als unzweifelhaft ins Auge springende Begründung, von der man annehmen müsste, der Angeschuldigte, der bei aller Erfahrung nicht als Versicherungsrechtsexperte bekannt ist, habe sie sich bilden müssen. Die Strafkammer selbst hatte sich schließlich auf Ziff. 1.2.7 der auch im vorliegenden Rechtsstreit im Wege der Selbstlesung eingeführten, dem Angeklagten bekannten ‚Allgemeinen Provisionsbestimmungen‘ der P. gestützt, in der für Kollektivversicherungen, wozu auch Gruppeneinzel- und Gruppensonderversicherungen zählen, Provisionen aufgeführt sind – ob allerdings das Vollverwaltungskonzept die tatbestandlichen Voraussetzungen solcher Gruppeneinzel- und Gruppensonderversicherungen erfüllt hätte, kann keinesfalls als selbsterklärend angesehen werden. Nach alledem musste sich jedenfalls eine Annahme, der Berufsangehörige sei sicher davon ausgegangen, bei einer Vollverwaltung Provision zu erhalten und es handelte sich nicht etwa, wie D. als Praktiker angenommen habe, aus Sicht der Provinzial um ‚etwas anderes‘ als einen Versicherungsvertrag, als unwahrscheinlich, ja spekulativ erscheinen. Wenn der Berufsangehörige sich gleichwohl vorrangig für dieses Konzept und nicht für das potenziell deutlich einfacher zu einem Provisionsanspruch führende Konzept einer Versicherung als Kapitalanlage eingesetzt hat, wertet die Kammer dies umgekehrt als ein Zeichen dafür, dass der Berufsangehörige zu dieser Zeit keine Provisionserwartungen hatte und sich somit von solchen auch nicht hat leiten lassen.“ 34 Lebensversicherungsunternehmen stehen über die §§ 11 II, 65, 81 II VAG, 4, 5 DeckRV, 341 f HGB als einmalige Abschlusskosten einzelvertraglich 40 vom Tausend der Summe aller Vertragsprämien eines dem BAFin gemeldeten und genehmigten Lebensversicherungstarifs zu. Aus dem so ermittelten Betrag der Abschlusskosten werden u. a. Provisionen, vorliegend 32 vom Tausend, vergütet, die gemäß Nr. 1 und 2 Anordnung des Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherungen vom 8.  März 1934 über das Verbot von Sondervergütungen und Begünstigungsverträgen in der Lebensversicherung nicht an Versicherungskunden weitergeleitet werden dürfen. Wird hiergegen verstoßen, machen sich die insoweit verantwortlichen Personen gemäß §§ 140, 111 b Abs. 1 S. 2 oder 3 VAG straf-

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bar und begehen darüber hinaus, soweit die Provisionen an Versicherungskunden teilweise oder vollständig weitergeleitet werden, gemäß §§ 144 a Abs. 1, 81 Abs. 2 VAG eine Ordnungswidrigkeit. Für Versicherungsvermittler gilt das Abkommen zur „Wiesbadener Vereinigung“, worauf sich der Mitangeklagte und spätere Zeuge D. in seiner Einlassung vom 18.10.2005 in seiner gültigen Fassung vom 11.10.1978 bezogen hat. Danach ist gemäß 3.5.2 I A. 1 „dem Versicherungsunternehmen und den Versicherungsvermittlern es verboten, den Versicherungsnehmern oder versicherten Personen in irgendeiner Form unmittelbar oder mittelbar Sondervergütungen zu gewähren. 2. Unter Sondervergütungen sind u. a. die Ge­ währung von Vermittlervergütungen oder von dem Geschäftsplan nicht vorgesehenen Vorteilen irgendwelcher Art zu verstehen. […] 5. Weitergehende aufsichtsrechtliche Bestimmungen blei­ ben unberührt; das Abkommen erstreckt sich auch auf sie.“ Damit wird zugleich auf die Rechtmäßigkeit der Provisionszahlungen auf die mit V. geschlossenen Rentenversicherungsverträge hingewiesen, die gemäß §§ 11 II, 65, 81 II VAG i. V. m. Nr. 1 und 2 Anordnung des Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherungen vom 8. März 1934 über das Verbot von Sondervergütungen und Begünstigungsverträgen in der Lebensversicherung (Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger Nr. 58 vom 9. März 1934, S. 3) das Folgende regeln: „I. Dem Versicherungsunternehmen und dem Vermittler von Versiche­ rungsverträgen wird untersagt, dem Versicherungsnehmer in irgendeiner Form Sondervergü­ tungen zu gewähren. II. Dem Versicherungsunternehmen wird untersagt, Begünstigungsver­ träge abzuschließen oder zu verlängern, soweit die Aufsichtsbehörde keine Ausnahme zulässt“; BGH, in: NStZ 2001, S. 545 f.: „Das LG hat ferner rechtlich zutreffend eine Pflicht des An­ gekl. verneint, im Rahmen seiner Geschäftsführertätigkeit auf den Abschluss eines Agenturver­ trages unmittelbar zwischen dem Landeskuratorium und der Württembergischen Feuerversi­ cherung AG hinzuwirken, so dass Provisionsansprüche des Landeskuratoriums hätten entstehen können. Von einem pflichtwidrigen Unterlassen kann dann nicht die Rede sein, wenn die Realisierung eines für das Kuratorium wirtschaftlich günstigen Geschäfts wie hier im Widerspruch zur Rechtsordnung gestanden hätte (vgl. BGH bei Holtz MDR 1979, 456; S/S-Lenckner 26. Aufl., § 266 Rn. 35 a). Auch unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt stand das Sondervergütungsverbot einem solchen Vertragsschluss entgegen. Danach sind Provisions­ zahlungen aus Vermittlerverträgen untersagt, mit denen die Vertragsparteien nur den Zweck verfolgen, Provisionsansprüche beim Abschluss eigener Versicherungsverträge des Vermittlers zu begründen“; BGH, in: MDR 1997, S. 456 Beschluss 3 StR 347/78 vom 10.01.1979: „Eine Treuepflichtverletzung mag zwar nahe liegen, wenn der Geschäftsführer, ohne sich von wirtschaftlichen Erwägungen im Interesse der Gesellschaft leiten zu lassen, den Vertrag zu einem höheren Preis nur abschließt, um die Kaufpreisdifferenz zu der günstigeren Einkaufs­ möglichkeit einem Angehörigen oder sich selbst zukommen zu lassen. […] Eine Pflichtwidrig­ keit scheidet jedoch aus, wenn die Rechtsordnung die Realisierung der günstigeren Möglichkeit in irgendeiner Form, sei es als strafbare Handlung, sei es als bloß wettbewerbswidriges Verhal­ ten, missbilligt. […] Der Verlust einer nur mehr oder minder gesicherten Aussicht eines Ge­ schäftsabschlusses kann noch nicht als Vermögensschaden beurteilt werden (BGH a. a. O.). Darüber hinaus ist eine unterlassene Vermögensvermehrung jedenfalls dann kein Schaden im Rechtssinne, wenn sie sich – wie möglicherweise hier – lediglich über ein verbotenes oder wett­ bewerbswidriges Geschäft erreichen ließe“; OLG Hamburg, in: VersR 1995, S. 817 ff.; OLG Hamburg, Urt. vom 15.02.2000 zum Az.: 9 U 174/98, in: VerBAV 2000, S. 163, 165: „Sinn und Zweck des § 81 Abs. 2 S. 4 VAG ist es, die sachlich nicht gerechtfertigte Begünsti­ gung einzelner Versicherungsnehmer oder einzelner Gruppen von Versicherungsnehmern im

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schwiegen hatte, nicht den Schluss zu, dass diese als Gegenleistung für eine pflichtwidrige Nichtmodifikation der Verträge erfolgte. Tatsächlich gibt es starke nicht berücksichtigte Indizien für die Annahme, dass es sich bei den von der P. geleisteten Provisionen tatsächlich um Provisionen gehandelt hat und nicht um Schmiergelder. Als der Zeuge D. von V. schriftlich aufgefordert wurde, ein Angebot für einen Rentenversicherungsvertrag anlässlich des sog. Beauty-Contests vorzulegen, einer Art Casting von Anlageunternehmen, nahm er das Interesse der P. wahr, das darin lag, ein vom Chefmathematiker der P. erarbeitetes Angebot vorzulegen, welches denen der Wettbewerber überlegen war. Er musste daher ein möglichst attraktives Angebot für das V. im Rahmen der wirtschaftlichen Möglichkeiten der P. unterbreiten. Im Zusammenhang mit dem von der Mehrheit des Verwaltungsausschusses des V. abgelehnten Konzept der Vollverwaltung und des Gruppenversicherungsvertrages war D. vor Augen geführt worden, dass Vorschläge des Betroffenen nicht zwangsläufig angenommen würden. Ein unbedingtes Festhalten an den Tarifbedingungen, obgleich diese womöglich in Anbetracht des Vertragsvolumens über eine besondere Genehmigung des BAFin für einen zu kalkulierenden Sondertarif ohne Benachteiligung der übrigen Versichertengemeinschaft verhandelbar waren, dürfte für D. im Vorfeld des Beauty-Contests angesichts des Risikos, durch Abgabe eines zu ungünstigen Angebotes gegenüber der Konkurrenz das Nachsehen zu haben, keine Rolle gespielt haben. Die Zahlung einer Summe von ca. 1,9 Mio. € als „Schmiergeld“ und Gegenleistung für die Nichtmodifikation der Tarifverträge ist völlig unplausibel und unlogisch. Denn niemand würde diese Summe für einen Vorteil von „mindestens € 1,-“ (Urteil vom 23.11.2007) bzw. knapp 500.000 € als geschätztem Gefährdungsschaden (Urteil LG Hamburg vom 21.10.2010) zahlen. Diese Handlungsweise hätte nämlich tatsächlich zu einem Verlust der P.-Versicherung, im ersten Fall in Höhe von 1.999.000 €, im zweiten Fall in Höhe von 1.400.000,- € geführt. Die geleisteten Provisionen entsprachen exakt den Vertragsbedingungen der RentenversicheVerhältnis zur Gesamtheit der Versicherungsnehmer und Versicherten zu verbieten. Zudem soll verhindert werden, dass die Versicherungsprämien als Folge von hohen Provisionszahlun­ gen unangemessen hoch werden, die Versichertengemeinschaft diese Vergünstigung wieder aus­ gleichen muss und der Versicherungsmarkt seine Transparenz verliert. Um die Belange der Versicherungen insgesamt vor Gefahren aus einer übermäßigen Belastung der Versicherungs­ unternehmen mit Provisions- und Folgekosten infolge Sondervergütungen an Einzelne und vor Gefahren aus einer sich daraus ergebenden Nichterfüllbarkeit der Absprache der Versiche­ rungsnehmer zu schützen, soll der einzelne Versicherungsnehmer nicht durch Gewährung von Sondervergütungen auf Kosten der übrigen Versicherungsnehmer bevorzugt werden (vgl. Köln VersR 91, 1373, 1347)“; BGHZ 118, S. 142, 145: „Das in der Anordnung bestimmte Verbot, Sondervergütungen zu gewähren, richtet sich … einseitig an die Versicherungsunternehmer und Vermittler.“

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rungsverträge, nämlich 32 Promille der Versicherungssummen. Hinsichtlich der gescheiterten Bemühungen des Betroffenen, die Provisionen über P. zu spenden, hat das Ersturteil vom 23.11.2007 lediglich mit Spekulationen zum Nachteil des Betroffenen argumentiert. Diese Indizien sprechen deutlich gegen die unterstellte Unrechtsvereinbarung. Die Entscheider des Urteils vom 23.11.2007 hatten zudem positive Kenntnis davon, dass das „Dealgeständnis“ des D. im 2. Teil widerrufen wurde, erwähnten dies aber nicht. Auf UA LG Hamburg vom 23.11.2007 S. 53, 64, 70, 116 haben die Entscheider dieses Urteils dennoch auf ein nicht wiedergegebenes Geständnis des D. vom 05.07.2007 unter Bezugnahme auf die ebenso nicht wiedergegebene Einlassung des D. vom 18.10.2005 als nur vermeintlich objektive Beweisanzeichen abgehoben, was in einem tatsächlichen Widerspruch zu dem auf UA LG Hamburg vom 23.11.2007 S. 13 f. festgestellten Unrechtspakt steht. Weil weder die Einlassung vom 18.10.2005 noch das „Dealgeständnis“ vom 05.07.2007 im Urteil des LG Hamburg vom 23.11.2007 vollständig wiedergegeben sind, handelt es sich bei dem auf UA S. 13 f. vorgestellten Unrechtspakt um eine – subjektiv erkennbare und vom BGH objektiv auch erkannte – Erfindung.

III  Rechtspolitischer Ausblick Zwei Gerichte sind dem Einzelfall dieser Hamburgensie bisher nicht gefolgt, weil sie die subjektive Wirklichkeit der Tatrichter nicht als Wirklichkeit aller in der Indizienbeweisführung des LG Hamburg nachvollziehen konnten. Das nicht wirkliche Geständnis des Mitangeklagten vom 06.07.2007 blieb mit den übrigen Feststellungen ohne Wirklichkeit für eine Unrechtsvereinbarungshypothese, weil es der Hamburgensie „objektiv nicht gelungen war, ihre Hypothese über die Absprachen zwischen D. und dem Berufsangehörigen einer anderen [Hypothese] gegenüberzustellen und mit ihr abzuglei­ chen – dies obwohl […] eine solche andere Interpretationsmöglichkeit durchaus bestand“.

Die Indizienbeweisführung als Hypothese bricht also in sich zusammen, wenn andere Hypothesen zu den Feststellungen möglich sind. Die Hamburgensie hat keinen „Obersatz“ als „Erfahrungssatz“, kein „Naturgesetz oder eine Wahrscheinlichkeits­ regel“ herangezogen, um „als Untersatz die indizierende Tatsache, die ihrerseits entweder im Prozess zugestanden oder durch Augenschein oder durch glaubwürdiges Zeugnis gesichert ist“, zu subsumieren. Zugleich hat sie in ihrer Beweisführung außer Acht gelassen, dass der Indizienbeweis nur geführt ist, „wenn der Obersatz ein Na­ turgesetz oder eine Folgerung aus den Naturgesetzen ist“, weil nur dann „der Schluss

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auf die zu beweisende Tatsache zwingend“ ist. „Meist ist der Obersatz aber nur eine Wahrscheinlichkeitsregel, die oft noch nicht einmal hinreichend gesichert ist“, was in dieser Hamburgensie zwar klar erkennbar ist, aber vom BGH über ein vorgeschobenes Rekonstruktionsverbot ausgeblendet wurde. Bei vernünftiger Rechtsanwendung hätte der verfassungsgleiche Grundsatz „in dubio pro reo“ greifen müssen, dem sich der BGH aber entzog. Aus diesem Grunde konnte die im Geiste der Entscheider bloß vorgestellte und zudem in Abweichung des 2. Teils des Geständnisses vom 06.07.2007 falsche Feststellung auf UA LG Hamburg vom 23.11.2007 S. 13 f. zur Unrechtsvereinbarung bleiben, was für den BGH in einer Verfahrensrüge zwar erkennbar gemacht wurde, aber um den Vorteil einer Grundsatzentscheidung zur Amtsträgereigenschaft verdrängt wurde. Dem BGH ging es nicht um die Wirklichkeit als Wirklichkeit aller, er ließ den Schuldspruch wegen eines Bagatellnachteils von mindestens 1 € und der tatrichterlich konstruierten Falschvorstellung einer Unrechtsvereinbarung mit Hilfe des Rekonstruktionsverbotes stehen. Die Hamburgensie, so könnte man meinen, spiegelte die Macht des Richters beim Indizienbeweis in einem Maße wieder, das bei vernünftiger Rechtsanwendung ausgeblieben wäre. Andererseits bliebe, so die andere Meinung, bei der über das Rekonstruktionsverbot gestatteten unvernünftigen Rechtsanwendung die Verurteilungsmacht des Richters im Indizienbeweis sanktionslos bestehen. Keine Institution könnte dem unvernünftigen Indizienanwendungsrichter Einhalt ­gebieten. Das Rekonstruktionsverbot kann aber nicht, so die hier vertretene Ansicht, eine Rechtsbeugung decken, wenn das ergebnisrelevante Übergehen oder Verfälschen fundierender Tatsachen erkennbar erfolgt.35 In der mündlichen Urteilsbegründung zum Urteil des LG Berlin WiL II/11 vom 25.11.2011 hat dann auch der Präsident des LG Berlin die Feststellung getroffen, dass sich die Justiz mit einem Urteil, wie dem des LG Hamburg vom 23.11.2007, nichts Gutes tut, weil sie dadurch ihre Glaubwürdigkeit insgesamt verlieren kann. Schon nach geltendem Recht vertragen „die Erfüllungsbedingungen der Tatbestandsmerkmale […] keine Abstriche, keine Ab­ schwächung, keine Schätzung. Sie verlangen eine akribische, der Garantiefunktion des Tatbestands gerecht werdende Beweisführung; sie verlangen Sachverhaltsannahmen (‚Feststellungen‘), deren Begründung in der Sache und nicht nur für den Begründenden überzeugend ist. Ist die auf nicht zu beanstandende Sachverhaltsannahmen gestützte Ge­ wissheit nicht zu erlangen, können bloße Verbalisierungen – Fiktionen, Vermutungen, rhetorische Camouflagen – die vom Tatbestand geforderte Begründung nicht ersetzen. Dann gilt stets und nur: In dubio pro reo“.36 35 Herdegen (Fn. 7), S. 29. 36 Herdegen (Fn. 21).

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Fehlurteile, so die These, ließen sich bei der Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz und der Einschränkung des Rekonstruktionsverbotes verringern. Ohnehin liegt ein Systembruch vor, wenn es bei geringeren Straftatbeständen, die das Amtsgericht als Eingangsinstanz haben, zwei Tatsacheninstanzen, bei den schwereren Straftatbeständen, die das Landgericht als Eingangsinstanz haben, aber nur eine Tatsacheninstanz besteht. Wollte man auf eine zweite Tatsacheninstanz v­ erzichten, was eine schwere Fehlentwicklung wäre, kann im Strafprozess der Z ­ ukunft die Einführung des Tonbandprotokolls und/oder die protokollierte ­Zeugen- und Sachverständigenaussage entsprechend der Zivilprozesspraxis die faktischen Voraussetzungen der Revisibilität schaffen.37 Nötigungen zur Herbeiführung eines Geständnisses müssen über Protokollerklärungen der Prozessbeteiligten, die auch im Nachhinein abgegeben werden können, ein Revisionsrecht begründen. Die Angleichung des Strafprozesses an den Zivil- oder Verwaltungsprozess aber führte den Strafrichter aus der Rolle des Anklägers in die des neutralen Richters. Die klare Rolle des Anklägers bei der Staatsanwaltschaft und des Verteidigers bei der Rechtsanwaltschaft verringerte das Streitverhältnis zwischen Richter und Angeklagtem bzw. seiner Verteidigung. Die Kampfrichtung zwischen Verteidigung und Richterschaft, die sich u. a. in Befangenheitsanträgen als zu schaffenden Revisionsgründen artikuliert, verschöbe sich auf die Exekutive als o­ bjektivitätsverpflichtete Partei des Prozesses.38 Dem kann nicht entgegen gehalten werden, dass der formell gleichrangige, materiell aber bei Weitem überlegene, Staatsanwaltschaft gegenüberstehende Bürger das Nachsehen habe und die Belange des Angeklagten deshalb im Zweifel besser beim Richter aufgehoben wären.39 Die Verurteilungen des nur ideologisch denkbar „fürsorglichen“ inquisitorischen Richters überwiegen gegenüber gebotenen Freisprüchen ganz erheblich. Revisionen sind bisher einer „Karlsruher Lotterie“ ausgesetzt und haben je nach Stimmung des Entscheiders, die zumeist nur nachteilhaft für den Angeklagten ist, Erfolgsaussichten zwischen 0,5 Prozent und 9 Prozent.40 Was schlechte Rechts- oder Staatsanwälte anrichten können, entspricht schlechten Richterurteilen, wie nicht

37 Herdegen (Fn. 7), S. 40 ff. (46). 38 Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 409 ff., 427 ff., legt eine beeindruckende Untersuchung zur Funktionsweise des historisch gewachsenen Strafprozessverfahrens in seiner heutigen dem Grundgesetz widerstreitenden inquisitorischen Form vor, die es Wert ist, bei einer Neuausrichtung eines Strafprozessverfahrens mit zwei Tatsacheninstanzen berücksichtigt zu werden. 39 Michael Pawlik, Der Strafrichter als moderner Inquisitor, in: FAZ 3. 8. 2009, S.  8; a. A. Haas (Fn. 38), S. 420. 40 D. Hipp, Karlruher Lotterie, in: DER SPIEGEL 31/2013, S. 44 f.

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nur diese Hamburgensie zeigt.41 Die Garantie einer neutralen Entscheidung ist weit höher, wenn die Rollenverteilung zwischen Anklage und Verteidigung ­gegenüber einer neutralen Richterinstanz aufgeteilt ist.42 Der zukünftige Strafprozess sollte sich auch einer Diskussion über die Neuausrichtung der Laienrichterbeteiligung stellen. Dies betrifft insbesondere die Entkoppelung von Laien- und Berufsrichtern, die jeweils ihre Entscheidungen eigenständig ohne  – zumeist berufsrichterlich ausgeübte – Einflussnahme finden sollten. Untersuchungen haben ergeben, dass Normalbürger denselben Vorurteilen und Willküranwendungen von Gesetzen wie Richter ausgesetzt sind. Die ideologisch geprägte Prangerberichterstattung, veranlasst durch Staatsanwaltschaft, Berufsrichter und Verteidigung, hinterlässt Eindrücke bei Entscheidern und Angeklagten. In etwa 80 Prozent der Fälle kommen bzw. kämen Geschworene und Fachrichter aber zum gleichen Grundurteil (schuldig oder nicht schuldig).43 Auch eine zeitliche Beschränkung im Richteramt, ein Verbot des stetigen Wechsels zwischen Richter- und Staatsanwaltsamt sowie die parlamentarisch legitimierte Richterwahl auf Zeit nach öffentlicher Anhörung könnte ein höheres Maß an Neutralität in der Entscheidung herbeiführen.44 Die Umformung der bisherigen inquisitorischen Strafprozesspraxis in einer dem Grundgesetz gerecht werdenden Form ist ein wesentlicher Teil, um Gerechtigkeit zu schaffen – nicht nur, weil die Form das Sein als Wirklichkeit gibt, sondern wegen der Gefahren einer inquisitorischen Entgleisung, die jedem Entscheider genommen werden sollte.45 41 W. Grasnick, Das Hoeneß-Urteil ist voller Widersprüche, in: FAZ 12.11. 2014, S. 16, merkt an, es sei beunruhigend, „mit welcher Chuzpe die Richter in München mit der ihnen grundgesetzlich anvertrauten Gewalt umgehen“, indem sie widersprüchlich argumentieren. Derartige Richtersprüche „lassen auch den gebildeten Bürger am Rechtsstaat zweifeln. […] Der Fall des Formel-1-Managers Bernie Ecclestone gehört auch hierher“; Strate (Fn. 15), S. 16 bemängelt, dass von der Strafjustiz „verübte Rechtsbrüche, wenn sie geschehen, […] nie Gegen­ stand kriminalrechtlicher Betrachtung“ sind. 42 Haas (Fn. 38), S. 421 ff. schlägt in Anlehnung an Roxin das Eingriffs- und Rechtsschutzverfahren vor. 43 NZZ 16.10.2014, Wenn Volkes Stimme das Urteil spricht, S. 23. 44 R. Lamprecht, Klammheimlich, in: DIE ZEIT 27.11.2014, S. 13, verlangt die Einhaltung von Art. 94 Abs. 1 GG, wonach die Bundesverfassungsrichter von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Entsprechend müssten alle Richter im Bund und den Ländern von den Parlamenten nur auf Zeit gewählt werden. 45 Spaemann, (Fn. 12.), S. 132 f., weist auf die Erkenntnisse der mittelalterlichen Aristotelik hin, die das Sein als Wirklichkeit über „forma dat esse“ begründet hat; H. Bubrowski, Eine eindrückliche Mahnung, in: FAZ 29.12.2014, S. 10, verlangt zur Beseitigung von systembedingtem Justizunheil nach Auswegen, wie man dem Justiz- und Psychiatrieversagen begegnen kann, die mit den vorstehenden Ausführungen gewiesen werden. Die praktische Philosophie, so die hier vertretene These, kann für die Rechtsanwendung begründete Wege weisen.

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Zu bedenken ist aber, jede auch noch so ausgefeilte Rollendifferenzierung und zeitlich beschränkte Rechtsprechungsmacht führte nicht zu gerechteren, der Wahrheit verpflichtenden Urteilen, wenn die Entscheider des Falles nicht das Maß an Anerkennung aufbringen, was in der gebotenen Selbstrelativierung liegt. Erst diese ergibt die eigene und die Würde des anderen, „die jede Instrumentalisie­ rung von außen verbietet“.46 Der Kampf um die richtige Sachverhaltsaufklärung und eine darauf aufbauende gerechte Entscheidung wird immer zu führen sein: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuiqe tribunes.“ 47

46 Spaemann (Fn. 12), Hirnforschung und Willensfreiheit, S. 139, 148, weist darauf hin, dass erst die Erkenntnis der Relativität der eigenen Perspektive die Wahrheitsfähigkeit des Menschen zeigt. 47 Corpus Iuris Civilis, Text und Übersetzung, I. Institutionen, hrsg. von Okko Behrends/ Rolf Knütel/Berthold Kupisch/ Hans H. Seiler, 1997, S. 1: „Gerechtigkeit ist der unwandel­ bare und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu gewähren“ mit Verweis auf Aristoteles, Nikomachische Ethik V 6 (1131 a–b); Cicero, De officiis 2, 21, 73; 2, 22, 78.

Der Syndikusanwalt als Rechtsanwalt – verkannt von den Gerichten. Wie BGH und BSG mit der Doppelberufstheorie Berufs- und Sozialpolitik betreiben Von Nicolas Lührig1*

I  Einleitung: Rechtsprechung und Justizhoheit Legislative, Exekutive und Judikative stehen im deutschen Verfassungsstaat in einem Spannungsverhältnis. Keine der drei Gewalten kann ohne die anderen. Das System ist miteinander verwoben. Es geht um Kompetenzzuweisungen, gegenseitige Kontrolle und letztlich die Schaffung eines austarierten Systems. Das Begriffspaar „Rechtsprechung und Justizhoheit“ aus dem Titel dieser Festschrift beleuchtet einen Teilaspekt. Gemeinhin werden die Gefahren für die Rechtsprechung eher in der möglichen Einflussnahme der Politik auf die Justiz gesehen – und seien es nur die faktischen Einflüsse durch eine Begrenzung der finanziellen Mittel und der Ausstattung der Gerichte. Nicht umsonst gilt die Unabhängigkeit der Gerichte als eine zentrale Errungenschaft des Rechtsstaats, ist sie doch auch Voraussetzung für den gleichen Zugang zum Recht für alle Bürgerinnen und Bürger. Dieser Beitrag zeigt anhand des konkreten Beispiels der Rechtsprechung des BGH und des BSG zum Syndikusanwalt, dass auch Gerichte der Versuchung erliegen können, Rechtspolitik zu betreiben. Das BSG hat am 3. April 2014 den Syndikusanwälten das Recht abgesprochen, sich von der gesetzlichen Renten­ versicherungspflicht zugunsten der anwaltlichen Versorgungswerke befreien zu lassen. Für das BSG kann es keine Anwaltstätigkeit in einem abhängigen Beschäf* Der Beitrag ist Götz Landwehr zum 80. Geburtstag gewidmet. Damit verbunden ist der Dank, dass er den Verfasser bereits in seinem Studium ermuntert hat, sich für die juristische Zeitgeschichte zu interessieren. Der Beitrag befindet sich auf dem Stand von Anfang Mai 2015. 1 BSG, Urt. v. 3. April 2014 – B 5 RE 13/14 R, AnwBl 2014, S. 855 = NJW 2014, S. 2743; parallele Entscheidungen sind BSG, Urt. v. 3. April 2014 – B 5 RE 3/14 R, AnwBl Online 2014, S. 265 und BSG, Urt. v. 3. April 2014 – B5 RE 9/14 R, AnwBl Online 2014, S. 276; BGH, Beschluss vom 7. Februar 2011 – AnwZ (B) 20/10, AnwBl 2011, S. 494 = NJW 2011, S. 1517.

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tigungsverhältnis bei einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber geben. Damit beendete das BSG eine jahrzehntelange Praxis. Was vordergründig nur Auswirkungen auf die Art und Weise des Aufbaus der Altersversorgung von Syndikusanwältinnen und -anwälten hat, wirkt gleichwohl viel weiter: Die BSG-Urteile haben die Kraft, die Anwaltschaft und den Rechtsdienstleistungsmarkt umzugestalten. Es wird in diesem Beitrag vor allem um die drei Urteile des BSG vom 3. April 2014 zum Syndikusanwalt und einen Syndikusanwalt-Beschluss des Anwaltssenats des BGH vom 7. Februar 2011 gehen, den das BSG für sich fruchtbar gemacht hat.2

II  Die Entdeckung des Anwaltsrechts: Von den „Bastille-Entscheidungen“ 1987 zu den Syndikusurteilen 2014 Das Anwaltsrecht gehört zu den Rechtsmaterien, die in der Juristenausbildung und in der Rechtspraxis lange keine relevante Rolle gespielt haben. Das Berufs-, Haftungs- und Vergütungsrecht der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ist als wissenschaftliche Materie überhaupt erst in den 1980er-Jahren erkannt worden. Für eine kritische Einordnung der Rechtsprechung des BGH und des BSG zum Syndikusanwalt ist ein Blick auf die Geschichte des Anwaltsrechts unverzichtbar.

1  Geschichte des Anwaltsrechts seit 1878 Mit den Reichsjustizgesetzen von 1877, vorneweg das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), die Zivilprozessordnung (ZPO) sowie die Strafprozessordnung (StPO), kam auch die Rechtsanwaltsordnung für das Deutsche Reich (RAO), die am 1. Juli 1878 in Kraft trat. Doch für eine wissenschaftliche Durchdringung bot der Stoff wenig. Das galt auch für die Rechtsprechung der Ehrengerichtsbarkeit. Das anwaltliche Berufsrecht und erst recht das Vergütungsrecht ließ die Rechtswissenschaft gerne in der Verantwortung der Berufsträger, bestens organisiert im Deutschen Anwaltverein (DAV) sowie in den regionalen Rechtsanwaltskammern als Berufsaufsicht. Daran änderten auch das Ende des Kaiserreichs und die Weimarer Republik (mit der ersten Zulassung einer Rechtsanwältin 1922) nichts. Die Nazi-Zeit war dann auch für die Anwaltschaft ein Tiefpunkt, wie auch dieser Beitrag weiter unten noch zeigen wird.

2 Hinrich Rüping, Die Freiheit der Advokatur im politischen Umbruch 1945, in: AnwBl 2011, S. 434 ff., 439.

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Das Ende des Zweiten Weltkriegs erscheint uns heute als die Zäsur. Tatsächlich wurde der Tag der Befreiung mit dem Ende der Nazi-Zeit von den Anwälten und wenigen Anwältinnen nicht als Aufbruch empfunden. Die Kontinuitäten überwogen nach 1945, auch weil die Entnazifizierung des Anwaltsberufs um keinen Deut besser gelang als bei Richtern, Staatsanwälten oder anderen staatlichen Elitegruppen.3 Das Festhalten am überkommenen Standesdenken prägte dann auch die rund zehnjährige Entstehungsgeschichte der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO). Die am 1. Oktober 1959 in Kraft getretene BRAO war eher rückwärtsgewandt.4 Die Vertreter der Anwaltschaft taten sich mit der Berufsfreiheit schwer. Die Standesrichtlinien der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) ließen den Anwaltsvertretern große Spielräume, die sie vor allem dazu nutzen, den Wettbewerb zu beschränken und den Vorteil der etablierten Kanzleien zu sichern. Manches davon lief unter dem Schlagwort, die „Würde des Berufsstands“ zu bewahren. Diese Phase der Anwaltsgeschichte ging erst 1987 zu Ende. Die Modernisierung des Anwaltsrechts lösten zwei Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts aus diesem Jahr aus. Beide ergangen am 14. Juli, wurden sie später in der Anwaltschaft als „Bastille-Entscheidungen“ bezeichnet.5 Die Parallele zur Französischen Revo­ lution scheint gewagt, zumindest aus Sicht der BRAK und der Rechtsanwaltskammern war es aber in der Tat eine Revolution. Danach war alles anders.6 Das Bundesverfassungsgericht hatte entschieden, dass die BRAK-Standesrichtlinien verfassungswidrig seien. Es fehle an einer formellen Gesetzesgrundlage und auch sonst zeigten die ehrengerichtlichen Entscheidungen zu Werbe- und Äußerungsverboten von Anwälten, dass es im Anwaltsrecht nicht um die Sicherung des Gemeinwohls gehe. Erst die „Bastille-Entscheidungen“ rückten die Berufsfreiheit als schützenswertes Grundrecht in den Mittelpunkt des anwaltlichen Berufsrechts. 3 Felix Busse, Standesinteressen und Berufsfreiheit: 50 Jahre Bundesrechtsanwaltsordnung, in: AnwBl 2009, S. 663 ff., 667. 4 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 14. Juli 1987 – 1 BvR 537/81, 1 BvR 195/87, AnwBl 1987, S. 598 = NJW 1988, S. 191; BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 14. Juli 1987 – 1 BvR 362/79, AnwBl 1987, S. 603 = NJW 1988, S. 194. 5 Siehe zur Vorgeschichte der Entscheidungen: Christian Rath, Kleine-Cosacks Sturm auf die Bastille vor 25 Jahren, in: AnwBl 2012, S. 610. 6 Siehe nur Kleine-Cosack, Antiquierte Standesrichtlinien, AnwBl 1986, S. 505 (der Beitrag war von den BRAK-Mitteilungen und der NJW abgelehnt worden) sowie die Zukunftsstudie des Deutschen Anwaltvereins vom März 1987 „Zukunft der Anwaltschaft. Inanspruchnahme anwaltlicher Leistungen“ (erstellt vor den „Bastille-Entscheidungen“ des Bundesverfassungsgerichts), abrufbar online im Print-Archiv des Anwaltsblatts unter www. anwaltsblatt.de (05.08.2015).

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Die Entscheidungen waren – im Rückblick lässt sich das zumindest erkennen7 – nicht völlig überraschend gekommen. Für eine kleine Gruppe unternehmerisch orientierter Anwälte war damals absehbar, dass die Anwaltschaft drohte, an den Interessen der Mandanten vorbeizuarbeiten. Dienstleistungsorientierung und Spezialisierung waren in den kleinteiligen, lokal ausgerichteten deutschen Anwaltsstrukturen mit rigidem Werbeverbot nur schwerlich möglich. Während in Deutschland über die Größe von Kanzleischildern gestritten wurde, bildeten sich in London damals dank eines reformierten Berufsrechts erste internationale größere Sozietäten. In dieser Phase wurde das Anwaltsrecht von der Wissenschaft entdeckt. 1988 wurde das erste Institut für Anwaltsrecht gegründet. Die Idee war von der Uni­ versität zu Köln ausgegangen und beim Deutschen Anwaltverein auf Zustimmung gestoßen, der sich vor allem im Förderverein engagierte.8 Es war die Zeit des Aufbruchs und der Professionalisierung des Berufsrechts. 1989 beseitigte der BGH das Verbot der überörtlichen Sozietät.9 Das war der Startschuss für die Bildung überörtlicher Sozietäten in Deutschland. 1994 wurde dann nach intensiven Diskussionen die BRAO grundlegend reformiert.10 1995 trat die erste Satzungsversammlung zusammen, die dann der Anwaltschaft eine Berufsordnung (BORA) und eine Fachanwaltsordnung (FAO) gab.11 Auch die Gerichte modernisierten das Recht. Das Bayerische Oberste Landesgericht ließ 1994 die Anwalts-GmbH zu.12 Die Reformen der 1990er-Jahre waren aber keineswegs eine Phase der Konsolidierung, auch wenn mancher älterer Anwalt darauf gehofft haben sollte. 2002 fiel die Singularzulassung vor den Oberlandesgerichten.13 Das Bundesverfas  7 Peter Hamacher, Die erste Adresse der Anwaltschaft an der Universität. 20 Jahre Institut für Anwaltsrecht an der Universität zu Köln, in: AnwBl 2009, S. 14; lesenswert aus den Anfängen des Instituts: Hanns Prütting, Die Rechtsanwaltschaft im Umbruch?, in: AnwBl 1990, S. 346.   8 BGH, Beschl. v. 18. September 1989 – AnwZ (B) 30/89, AnwBl 1989, S. 563 = NJW 1989, S. 2890.   9 Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte vom 2. September 1994, BGBl I 1994, S. 2278. 10 Zur Geschichte der Satzungsversammlung: Wolfgang Hartung, Satzungsversammlung: Ein kritischer Parforceritt durch 20 Jahre, in: AnwBl 2014, S. 703. 11 Bayerisches Oberstes Landgericht, Beschl. v. 24.  November 1994  – 3Z BR 115/94, AnwBl 1995, S. 35 = NJW 1995, S. 199. 12 Durch das Gesetz zur Änderung des Rechts der Vertretung durch Rechtsanwälte vor den Oberlandesgerichten v. 23. Juli 2002, BGBl I, S. 2850. 13 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 13. Dezember 2000 – 1 BvR 335/97, AnwBl 2001, 54 = NJW 2001, S. 353.

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sungsgericht hatte sie 2000 für verfassungswidrig erklärt und nur eine kurze Übergangszeit zugelassen.14 Überhaupt entdeckten jetzt auch Anwaltsgerichte und Anwaltsgerichtshöfe die Berufsfreiheit des Art. 12 GG. Motor der Liberalisierung war aber immer wieder das Bundesverfassungsgericht: 2004 wurde die Werbung als Spezialist für Verkehrsrecht freigeben.15 2006 fiel das uneingeschränkte Verbot des Erfolgshonorars.16 2008 wurde die Versteigerung von Rechtsrat über E-Bay nicht beanstandet.17 Zuletzt erklärte das Bundesverfassungsgericht Beschränkungen bei der Anwalts-GmbH für verfassungswidrig und ließ eine Patentanwalts-/ Rechtsanwalts-GmbH zu, in der die Patentanwälte die Mehrheit haben können.18 Noch im Laufe des Jahres 2015 könnte auch das bisher vom Gesetzgeber nur leicht gelockerte Verbot der interprofessionellen Sozietät in § 59a Abs. 1 BRAO fallen oder zumindest für die Bildung einer Partnerschaftsgesellschaft mit Ärzten und Apothekern aufgehoben werden.19 Die Befreiung des deutschen Anwaltsrechts von Restriktionen, die nicht mit Gemeinwohlinteressen gerechtfertigt werden können, hat zumindest im kontinentaleuropäischen Vergleich dazu geführt, dass die deutsche Anwaltschaft heute besser für den internationalen Wettbewerb gerüstet ist als in den 1980er-Jahren und vergleichsweise modern, innovativ und leistungsfähig ist. Profitiert davon haben vor allem die Rechtssuchenden, egal ob es Unternehmen, öffentliche Hand oder private Personen sind. Sie können heute eine ungeahnte Vielfalt und Spe­ zialisierung in der Anwaltschaft vorfinden und auf Kanzleien nahezu jeden Zuschnitts zurückgreifen.

14 BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 28. Juli 2004 – 1 BvR 159/04, AnwBl 2004, S. 586 = NJW 2004, S. 2656. 15 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 12. Dezember 2006 – 1 BvR 2576/04, AnwBl 2007, S. 297 = NJW 2007, S. 979. 16 BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 19. Februar 2008 – 1 BvR 1886/06, AnwBl 2008, S. 292 = NJW 2008, S. 533. 17 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 14. Januar 2014 – 1 BvR 2998/11 und 1 BvR 236/12, AnwBl 2014, S. 270 = NJW 2014, S. 613. 18 Siehe dazu den Vorlagebeschluss nach Art. 100 GG des BGH, Beschl. v. 16. Mai 2013 – II ZB 7/11, AnwBl 2013, S. 660 = NJW 2013, S. 2674. Der für das Gesellschaftsrecht zuständige II. Zivilsenat des BGH hält das Verbot in § 59a Abs. 1 BRAO mit Blick auf eine Partnerschaftsgesellschaft zwischen einem Rechtsanwalt und einer Ärztin, die zugleich Apothekerin ist, für verfassungswidrig. 19 Michael Kleine-Cosack, Der Syndikusanwalt – ein lebendiges Nullum, in: Anwaltsblatt Karriere, Heft 1/2008 (Sommersemester 2008), S. 54.

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2  Der Syndikusanwalt im Anwaltsrecht seit 1987 In den fast dreißig Jahren seit den beiden „Bastille-Entscheidungen“ von 1987 gab es allerdings eine Gruppe in der Anwaltschaft, für die sich bis vor kurzem nur wenige Anwaltsrechtler interessierten – und die sich auch angesichts ihres nicht eindeutig geklärten Status gerne im Verborgenen hielt. Die Rede ist von den ­Syndikusanwältinnen und Syndikusanwälten. Michael Kleine-Cosack hat 2008 vom „lebendigen Nullum“ gesprochen.20 Für den BGH und die Rechtsanwaltskammern sowie eine Reihe von Autoren war der Syndikusanwalt nach der Doppelberufstheorie immer ein freier, selbständiger Anwalt, der daneben einen nichtanwaltlichen Zweitberuf als Arbeitnehmer eines nicht-anwaltlichen Dienst­ herrn ausübt, 21 für viele andere war der Syndikusanwalt ein vollwertiger Rechtsanwalt.22 Oder wie es Peter Hamacher in seinem lesenswerten Abriss zur ­Geschichte des Syndikusanwalts 2011 zusammengefasst hat: „Wegen der Beson­ derheiten der Berufsausübung konnten sich die Anwaltschaft und die sonstige Justiz­ öffentlichkeit, die freilich insgesamt der Anwaltschaft eher uninteressiert gegenüber­ steht, nie vollends mit dem Syndikusanwalt versöhnen.“23 Die Situation war vor allem in der Kammerwelt über Jahrzehnte von Heu­ chelei gekennzeichnet. Zugelassen wurde der Syndikusanwalt für seine private 20 Michael Henssler, in: Henssler/Prütting, Bundesrechtsanwaltsordnung, 4. Auflage 2014, § 46 BRAO Rn. 11 ff.; Gregor Böhnlein, in: Feurich/Weyland, Bundesrechtsanwaltsordnung, 8. Auflage 2012, § 46 BRAO Rn. 3; Wolfgang Hartung, in: Berufs- und Fachanwaltsordnung, 5. Auflage 2012, § 46 BRAO Rn. 6; pointiert zuletzt ein Rechtsanwalt, der als anwaltlicher Vertreter Mitglied des Anwaltssenats des BGH ist: Michael Quaas, Die Rechtsprechung des Senats für Anwaltssachen des BGH unter seinem Präsidenten Klaus Tolksdorf, in: BRAK-Mitteil. 2015, S. 2 ff., 5: „So gesehen ist der Begriff ‚Syndikus-Anwalt‘ ein Widerspruch in sich.“ 21 Hanns Prütting, Die Ausgrenzung des Syndikusanwalts – ein Schritt in die falsche Richtung, in: AnwBl 2013, S. 78; ders., Die Unabhängigkeit des Syndikusanwalts, in: AnwBl 2009, S.  402; ders., Das Anstellungsverhältnis des Syndikusanwalts, in: AnwBl 2001, S. 312; Konrad Redeker, Der Syndikusanwalt als Rechtsanwalt, in: NJW 2004, S. 889; Michael Kleine-Cosack, Syndikusanwälte zwischen Tabuisierung und Legalisierung, in: BB 2005, S. 2309; ders., Abschied vom freiberuflichen Anwaltsideal, in: AnwBl 2005, S. 442 (446); ders., Vom Syndikusanwalt zum Unternehmensjuristen – dient das der Anwaltschaft?, in: AnwBl 2012, S. 947; Susanne Offermann-Burckart, Die Systemrelevanz von Syndikusanwälten, in: AnwBl 2012, S. 778; Martin Huff, in: Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 2. Auflage 2014, § 46 BRAO Rn. 13 ff. 22 Peter Hamacher, Der Syndikusanwalt, in: Anwälte und ihre Geschichte, hrsg. v. Deutschen Anwaltverein, wissenschaftlicher Beirat: Barbara Dölemeyer, Norbert Gross, Hinrich Rüping, 2011, S. 913. 23 Siehe dazu Michael Kleine-Cosack (Fn. 19), S. 54.

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Feierabendkanzlei, die er – meist schon aus Zeitnot – kaum wirklich betreiben konnte. Michael Kleine-Cosack hat die Syndikusanwälte daher berufsrechtlich „als uneheliche Kinder der deutschen Anwaltschaft“ bezeichnet. Er beschrieb 2008 das Paradoxon so: „Die Zwangskörperschaften der Berufskammern nehmen sie zwar gerne als zahlende Mitglieder in ihren Reihen auf. Gleiches gilt für die Versorgungs­ werke der Anwälte. Ansonsten jedoch bekämpfen die Kammern die Syndikusanwälte mit allen nur erdenklichen Mitteln.“24 Klar war eigentlich immer nur, dass die Syndikusanwälte – welchen Status sie auch immer haben mögen – im Unternehmen unter der Bezeichnung „Rechtsanwalt“ agieren konnten und dass das von den Rechtsanwaltskammern nie in Frage gestellt wurde und die Deutsche Rentenversicherung Syndikusanwälte bis zum 3. April 2014 von der Rentenversicherungspflicht befreit hat. Inzwischen ist auch bekannt, wie lebendig das Nullum tatsächlich geworden ist: Die Gruppe der Syndikusanwälte macht von den mehr als 160.000 Anwältinnen und Anwälten nach Schätzungen rund 40.000 Anwältinnen und Anwälte aus.25 Sie sind auf dem Rechtsdienstleistungsmarkt keine vernachlässigbare Gruppe. Ganz im Gegenteil: In der Unternehmenswelt sind sie ein nicht mehr wegzudenkender Teil, der vor allem angesichts des Bedeutungszuwachs der Compliance-Themen das Recht im Unternehmen durchsetzt. Als Teil der volljuristischen Berufswelt haben sich bei den Syndikusanwältinnen und -anwälten auch über Jahrzehnte keine strukturellen Auffälligkeiten oder Qualitätsdefizite gezeigt, die ein Eingreifen des Gesetzgebers nötig werden ließen.

III  Bundesrechtsanwaltsordnung und Rechtsdienstleistungsgesetz Der Markt für Rechtsdienstleistungen wird heute in Deutschland durch zwei ­Gesetze reguliert. Soweit das Anwaltsmonopol greift, ist es die Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO). Für nicht-anwaltliche Dienstleister ist es das 2008 in Kraft ­getretene Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG). Auch dieses Regelungskonzept ist beim Syndikusanwalt ohne einen Blick in die Rechtsgeschichte nicht zu verstehen. 24 Siehe dazu die rechtstatsächlichen Angaben in dem Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zur Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte (Bearbeitungsstand 26. März 2015, 22:01 Uhr), S. 1, versandt mit Schreiben vom 30. April 2015 an die Landesjustizverwaltungen und die beteiligten Verbände. 25 Der Absatz 2 und 3 sind mit der BRAO-Reform 1994 dazugekommen. Der § 46 BRAO lautete bis dahin: „Der Rechtsanwalt darf für einen Auftraggeber, dem er auf Grund eines ständigen Dienst- oder ähnlichen Beschäftigungsverhältnisses seine Arbeitszeit und -kraft überwiegend zur Verfügung stellen muß, vor Gerichten oder Schiedsgerichten nicht in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt tätig werden.“ Gestrichen wurde 1994 das „überwiegend“.

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1  Anwälte in Anstellung: § 46 BRAO und der Status quo Der Begriff des Syndikusanwalts als Schlagwort der Praxis findet sich bis heute nicht in der BRAO, genauso wenig wie es eine Vorschrift für angestellte Anwälte in Kanzleien gibt. Die einzige syndikusspezifische Vorschrift ist der § 46 BRAO. Sie spricht von „Rechtsanwälten in ständigen Dienstverhältnissen“. Die Norm lautet seit der BRAO-Reform von 1994:26 (1) Der Rechtsanwalt darf für einen Auftraggeber, dem er aufgrund eines ständigen Dienst- oder ähnlichen Beschäftigungsverhältnisses seine Arbeitszeit und -kraft zur Verfü­ gung stellen muß, vor Gerichten oder Schiedsgerichten nicht in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt tätig werden. (2) Der Rechtsanwalt darf nicht tätig werden: 1. wenn er in derselben Angelegenheit als sonstiger Berater, der in einem ständigen Dienst- oder ähnlichen Beschäftigungsverhältnis Rechtsrat erteilt, bereits rechtsbesorgend tätig geworden ist; 2. als sonstiger Berater, der in einem ständigen Dienst- oder ähnlichen Beschäftigungsver­ hältnis Rechtsrat erteilt, wenn er mit derselben Angelegenheit bereits als Rechtsanwalt befaßt war. (3) Die Verbote des Absatzes 2 gelten auch für die mit dem Rechtsanwalt in Sozietät oder in sonstiger Weise zur gemeinschaftlichen Berufsausübung verbundenen oder verbunden gewesenen Rechtsanwälte und Angehörigen anderer Berufe und auch insoweit einer von diesen im Sinne des Absatzes 2 befaßt war.

Aus diesen Tätigkeitsverboten haben die Befürworter des Syndikusanwalts immer geschlossen, dass die BRAO den Syndikusanwalt voraussetzen müsse. Denn wenn der Syndikusanwalt nicht in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt tätig werden darf, setzt das voraus, dass er zumindest auch als Rechtsanwalt im Unternehmen tätig ist.27 Die Anhänger der Doppelberufstheorie hat das nicht angefochten. Ihre ­Argumentation lief darauf hinaus, dass ein solches Tätigkeitsverbot verfassungswidrig wäre, wäre der Syndikusanwalt im Unternehmen ein Anwalt. Daher könne

26 Siehe nur Hanns Prütting (Fn.  21), AnwBl 2013, S.  78 (79), sowie Peter Hamacher (Fn. 22), S. 924. 27 So im Ergebnis Martin Henssler (Fn. 20), § 46 Rn. 19f.

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er nur Nicht-Anwalt sein. Die Vorschrift verbiete ihm lediglich, in seinem Beruf als freier Anwalt seinen Arbeitgeber zu vertreten.28 In der Praxis führte dieses Tätigkeitsverbot zu keinem Streit und ist von den Syndikusanwälten auch nie auf den (verfassungs-)rechtlichen Prüfstand gestellt worden. Denn soweit kein Anwaltszwang herrscht, konnten und können Syndikusanwälte sehr wohl als „gewöhnliche“ Mitarbeiter ihren Arbeitgeber vertreten. Das ist auch völlig unproblematisch. Wenn jede beliebige natürliche Person vertretungsberechtigt ist, kann die Zulassung als Rechtsanwalt (wofür auch immer) nicht schädlich sein. Und für die Syndikusanwälte sind die fehlenden Anwaltsrechte wenig schädlich, werden sie doch nur bei der seltenen Einsichtnahme in Gerichtsakten oder beim Tragen der Robe vor Gericht relevant. Soweit Anwaltszwang herrscht, haben sich in der Vergangenheit auch keine Konflikte ergeben, denn sobald die Gegenstandswerte steigen und die Verfahren aufwändiger werden, hat sich ohnehin eine Arbeitsteilung herausgebildet: Komplexere Verfahren werden längst nicht nur in Rechtsabteilungen und Kanzleien in rechtsgebietsübergreifenden Teams betreut, sondern auch in gemischten Teams zwischen Syndikus- und Kanzleianwälten, um die besondere forensische Erfahrung von Prozessanwälten zu nutzen.

2  Das Rechtsdienstleistungsgesetz – was ist mit den „Nicht-Anwälten“? Für die Frage, ob Syndikusanwälte „echte“ Anwälte sind, ist aber auch ein Blick auf das am 1. Juli 2008 in Kraft getretene RDG hilfreich,29 das das auf die Nazis zurückgehende Rechtsberatungsgesetz (RBerG) abgelöst hat.30 Nach § 2 Abs. 1 RDG ist Rechtsdienstleistung jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegen­ heiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert. Außergerichtliche Rechtsdienstleistungen dürfen Nicht-Anwälte nur im engen Rahmen der Ermächtigungen des RDG erbringen. Den Vorbehalt der Anwälte für gerichtliche Rechtsdienstleistungen sehen die Prozessrechte vor.31 28 Instruktiv zum RDG der Überblicksbeitrag: Oliver Sabel, Das Gesetz zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts, in: AnwBl 2007, S. 816. 29 Zur Geschichte des RBerG siehe umfassend Simone Rücker, Rechtsberatung. Das Rechtsberatungswesen von 1919–1945 und die Entstehung des Rechtsberatungsmissbrauchsgesetzes, 2007, sowie den daraus entstandenen Beitrag Simone Rücker, Das Ende der Rechtsberatung durch jüdische Juristen, in: AnwBl 2007, S. 801. 30 Instruktiv für den Zivilprozess: Oliver Sabel, Die Vertretung im Zivilprozess, in: AnwBl 2008, S. 390. 31 Siehe Christian Deckenbrock/Martin Henssler, Rechtsdienstleistungsgesetz: RDG, 4. Auflage 2015, § 2 RDG Rn. 140 ff.

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Während § 2 Abs. 2 RDG die Inkassodienstleistungen ausdrücklich in den Anwendungsbereich des RDG aufnimmt, werden in § 2 Abs. 3 RDG eine ganze Reihe von juristischen Tätigkeiten (wie wissenschaftliche Gutachten, Schlichtungs- und Schiedsrichtertätigkeit) freigestellt. Zu den freigestellten Tätigkeiten gehört auch gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 6 RDG die Erledigung von Rechtsangelegenheiten innerhalb verbundener Unternehmen (§ 15 AktG).32 Damit erweitert er den Grundsatz, dass die Vorschriften des RDG nicht bei der Erledigung eigener Rechtsangelegenheiten gelten. Eine Rechtsabteilung darf daher ohne weiteres auch andere juristische Personen beraten, sofern § 15 AktG greift. Oder anders formuliert: Bei der rechtlichen Prüfung eines Einzelfalles gibt es für natürliche wie für juristische Personen keine Pflicht, Anwältinnen und Anwälte oder nach dem RDG ermächtige Personen als Rechtsdienstleister einzuschalten. Für Rechtsfragen dürfen sich Unternehmen intern, aber auch innerhalb verbundener Unternehmen beliebiger eigener Personen bedienen. Das müssen keine Juristen sein. Die konzerninterne Rechtsberatung eines anderen Unternehmens ist daher im Rechtssinne keine Rechtsdienstleistung, auch wenn sie beim Syndikusanwalt selbstverständlich alle Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 RDG der Sache nach erfüllt. Das zu Ende gedacht, würde – folgt man BGH, BSG und Rechtsanwaltskammern bei der Doppelberufstheorie – bedeuten, dass der Syndikus ein eigener volljuristischer Rechtsdienstleistungsberuf in Deutschland wäre, der keiner Regulierung (zum Beispiel zur Vermeidung von Interessenkollisionen) unterliegen würde. Dafür spricht dann auch, dass das RDG ebenso Rechtsdienstleitungen der Mitgliederberatung durch Syndikusanwälte bei Berufsverbänden, Gewerkschaften und Genossenschaften freistellt.33 Gleiches gilt übrigens auch für Rechtsdienstleistungen durch Syndikusanwälte bei öffentlich anerkannten Stellen nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 RDG.34 Dieses Ergebnis ist selbst für die Gegner des Syndikusanwalts überraschend, denn der Syndikusanwalt wäre dann nicht mehr nur ein „lebendiges Nullum“, sondern ein höchst freier Rechtsdienstleister. Das RDG-Verbot für eine Rechtsabteilung, nicht im Sinne von §  15 AktG verbundene Unternehmen zu beraten (zum Beispiel spezielles Know-how der markenrechtlichen Produktpiraterie-­ Bekämpfung auch anderen Branchenunternehmen zur Verfügung zu stellen), wäre im Licht von Art. 12 GG kaum noch zu rechtfertigen. Das alles spricht 32 Dux, in: Deckenbrock/ Henssler (Fn. 31), § 7 RDG Rn. 27. 33 Dux, in: Deckenbrock/ Henssler (Fn. 31), § 8 RDG Rn. 4 ff. 34 Hans-Jürgen Hellwig, Der Syndikusanwalt – neue Denkansätze, in: AnwBl 2015, S. 2; im größeren historischen Kontext hat die Geschichte des Syndikusanwalts und die Quellen in der Literatur umfassend dargestellt: Peter Hamacher (Fn. 22), S. 915.

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dafür, den Syndikusanwalt als „echten“ Anwalt zu sehen. Denn wenn der nichtanwaltliche Arbeitgeber einen Rechtsanwalt als Syndikusanwalt einstellt, dann will er dessen Anwaltskompetenz für das Unternehmen sichern und von einem nur ihm verpflichteten Interessenvertreter profitieren, der keine widerstreitenden Interessen vertritt. Wer der Doppelberufstheorie folgt, stellt die Einheit der Anwaltschaft in Frage und bereitet den Boden für einen nichtregulierten volljuristischen Beratungsberuf.

3  Die historische Betrachtung: Rechtsanwaltsordnung und Bundesrechtsanwaltsordnung Dass der Syndikusanwalt ursprünglich als integraler Bestandteil der Anwaltschaft gesehen wurde, ist lange nicht im Bewusstsein der Anwaltschaft gewesen.35 Der Syndikusanwalt als angestellter Anwalt eines nichtanwaltlichen Arbeitgebers wurde in der Weimarer Republik von der Ehrengerichtsbarkeit ohne weiteres zur Anwaltschaft zugelassen und seine Tätigkeit im Unternehmen als anwaltlicher Dienst gesehen. Auch durfte der Syndikusanwalt für sein Unternehmen vor Gericht auftreten. Die Beratung und Vertretung durch unternehmenseigene Syndizi war vor allem eine Entwicklung gewesen, die nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hatte.36 Mit dieser Modernisierung der Anwaltschaft war dann sehr schnell unter den Nazis Schluss. Der neue, seit Juli 1934 bei der Reichsrechtsanwaltskammer eingerichtete Ehrengerichtshof entschied am 18. und 19. September 1934, dass für eine Anwaltszulassung eine hauptberufliche Tätigkeit erforderlich sei, so dass Syndikusanwälte keine Zulassung mehr erhielten.37 Die zugelassenen Syndikusanwälte blieben jedoch Anwälte. Mit Gesetz vom 20. Dezember 1934 wurde dann in § 31 Abs. 2 RAO ein Vertretungsverbot angeordnet: Der Syndikusanwalt durfte nicht mehr seinen Arbeitgeber vor Gericht vertreten. Die Nazis sprachen 1934 von einer „Weihnachtsgabe“ für die deutsche Anwaltschaft. Ziel des Gesetzes war es vor allem, die niedergelassene Anwaltschaft vor unliebsamer Konkurrenz zu bewahren. Das Anwaltsgeschäft war damals vor allem stark forensisch getrieben. Als Konkurrenzschutznorm ist § 31 Abs. 2 RAO, der bis heute in § 46 BRAO fortlebt, schon immer gesehen worden. Hans-Jürgen Hellwig gebührt das Verdienst, 35 Peter Hamacher (Fn. 22), S. 921 f. 36 Hellwig (Fn. 34), S. 5, mit Verweis auf EGH 28, 125 und 127. 37 Siehe ausführlich auch mit den Parallelen zum Rechtsberatungsmissbrauchsgesetz Hellwig (Fn. 34), S. 4.

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nun im Detail herausgearbeitet zu haben, dass das Vertretungsverbot auch eine antijüdische Zielsetzung und Wirkung hatte. Ein allgemeines Berufsverbot für jüdische Anwälte ordneten die Nazis erst 1938 an, aber ab 1933 wurden jüdische Anwälte – so sie denn in der Anwaltschaft verbleiben konnten – systematisch behindert. Dazu gehört auch, dass ihnen sehr früh eine selbständige Berufsausübung so erschwert wurde, dass viele ihre Kanzleien aufgeben mussten. Das Vertretungsverbot traf daher in besonderer Weise jüdische Anwälte, die nach Verlust ihrer Kanzleien in Unternehmen Unterschlupf gefunden hatten.38 Die Konkurrenzschutznorm aus der Nazi-Zeit hat dann nach dem Kriegsende den Weg in die BRAO wieder gefunden. Im Regierungsentwurf (RegE) von 1958 wird das Vertretungsverbot mit gewissen Missständen gerechtfertigt und vor einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zum Dienstherrn gewarnt. In seiner Analyse kommt Hellwig zu dem Ergebnis: „Betrachtet man den RegE von 1958 im Ganzen, so kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, als sei es dem Gesetzge­ ber verdeckt und gezielt darum gegangen, die rechtliche Stellung der Syndizi abzu­ werten.“ Die Syndikusanwalts-Feindlichkeit des Gesetzgebers hielt auch bei der BRAO-Novelle in Folge der „Bastille-Entscheidungen“ 1994 an. Die Streichung des kleines Wortes „überwiegend“ (siehe oben Fußnote 25) führte zu einer Verschärfung des Vertretungsverbots, weil jetzt auch eine Syndikustätigkeit in Teilzeit erfasst wurde. Zugleich wurde in §  46 Abs.  2 BRAO ein verfassungsrechtlich zweifelhaftes Vor- und Nachbefassungsverbot für Kanzleianwälte eingeführt, die nach einer Kanzleitätigkeit Syndikusanwalt werden oder nach einer Syndikusanwaltstätigkeit in eine Kanzlei wechseln.39 Und als ob das nicht als Konkurrenzschutz bei Wechseln von der Unternehmens- zur Kanzleiseite und umgekehrt reichte, wurde in § 46 Abs. 3 BRAO die ebenfalls verfassungsrechtlich zweifelhafte Sozietätserstreckung des Vor- und Nachbefassungsverbots angeordnet. 40 Im Ergebnis konnte sich der DAV mit seinen Zielen zu einer ausdrücklichen Anerkennung des Syndikusanwalts in § 46 BRAO nicht durchsetzen. Die Konkurrenzschutzinteressen wogen im Bundestag stärker. Der damalige BRAK-Präsident Eberhard Haas warnte in den BRAK-Mitteilungen 1993 vor einer Gleichstellung 38 Dieses Verbot legt die Rechtsprechung verfassungskonform so aus, dass es nur bei der Gefahr einer Interessenkollision angewendet werden soll: BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 5. November 2001 – 1 BvR 1523/00, AnwBl 2002, S. 404 = NJW 2002, S. 503; OLG Frankfurt, Urt. v. 16. April 2009 – 2 U 243/08, AnwBl 2009, S. 452. 39 Zur Verfassungswidrigkeit der pauschalen Sozietätserstreckung beim Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen: BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 3. Juli 2003 – 1 BvR 238/01, AnwBl 2003, S. 521 = NJW 2003, S. 2520. 40 Eberhard Haas, in: BRAK-Mitt. 1993, 181.

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der Syndikusanwälte. Seine Überschrift: „Tellermine. DAV-Vorschlag zu §  46 BRAO kann für die freiberufliche Anwaltschaft zu Einkommensverlusten in Milliar­ denhöhe führen.“41 Für Hellwig heute: „Konkurrenzschutz pur“.42

IV  BGH und BSG Die vom BGH und BSG heute vertretene Doppelberufstheorie hat eine lange Geschichte, wobei aller Wandel der Doppelberufstheorie wenig anhaben konnte.

1  Die BGH-Rechtsprechung Nach Inkrafttreten der BRAO 1959 bekam der Anwaltssenat des BGH schnell Gelegenheit, sich mit dem Syndikusanwalt und seiner Zulassung zu beschäftigen. Die Tatbestände der drei ersten Entscheidungen vom 7. November 1960 belegen, dass die Rechtsanwaltskammern sich zum Teil schlicht weigerten, Syndikusanwälte selbst für die Tätigkeit als niedergelassener Anwalt zuzulassen.43 Der BGH lehnte die Zulassung für die Syndikusanwaltstätigkeit ab. Aus § 46 BRAO zog er allerdings den Schluss, dass die Ausübung des Anwaltsberufs als selbständiger Anwalt auch im Nebenberuf zulässig sein müsse, wenn denn der Syndikus rechtlich und tatsächlich in der Lage sei, den Anwaltsberuf in einem nicht unerheblichen Maße auszuüben.44 In einer zweiten Entscheidung betonte er im Leitsatz: „Der Syndikusanwalt entspricht bei seiner Tätigkeit als Syndikus für seinen Dienstherrn nicht dem allgemeinen anwaltlichen Berufsbild, wie es in der Vorstellung der Allgemein­ heit besteht.“ 45

Zugelassen werden konnte nur, wer in gehobener Position im Unternehmen ju­ ristisch tätig war. Eine kaufmännisch-erwerbswirtschaftliche Tätigkeit wie die Schadensregulierung bei einem Versicherer war schädlich. Aus der juristischen ­Tätigkeit des Syndikusanwalts folgerte der BGH damals aber auch, dass ein S­ yndikusanwalt 41 42 43 44 45

Hellwig (Fn. 34), S. 9, Anm. 76. Hinweise zur Nachkriegszeit: Peter Hamacher (Fn. 22), S. 922 f. BGH, Beschluss vom 7. November 1960 – AnwZ (B) 2/60, BGHZ 33, 266. BGH, Beschluss vom 7. November 1960 – AnwZ (B) 4/60, BGHZ 33, 276. BGH, Beschluss vom 7. November 1960 – AnwZ (B) 3/60, BGHZ 33, 272.

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„den Willen haben müsse, die Pflichten eines Rechtsanwalts sowohl bei der Ausübung des freien Berufs als Rechtsanwalt wie in seiner abhängigen Stellung zu erfüllen“, so der Leitsatz.46

Die Entscheidungen zeigen, wie eng das Denken in der jungen Bundesrepublik Deutschland war. Der BGH fühlte sich einerseits fortschrittlich, weil er den Syndikusanwälten überhaupt den Weg zur Anwaltszulassung bahnte, obwohl die Kammern in den Zulassungsverfahren auf die Kollisionen mit Weisungen im Arbeitsverhältnis oder die „Gefahr des Werbens für die Praxis“ (sprich die Möglichkeit der anwaltlichen Mandatswerbung im Unternehmen oder Verband) hingewiesen hatten. Insoweit brach der BGH mit der nationalsozialistischen Zulassungspraxis und stellte das auch in einer Entscheidung heraus.47 Auf der anderen Seite war er nicht bereit, die vollen Konsequenzen aus dem § 46 BRAO zu ziehen und zu der liberalen Zulassungspraxis der Weimarer Republik zurückzukehren. Die Angst der niedergelassenen Anwaltschaft vor Konkurrenz war so groß, dass die Ausgrenzung des Syndikusanwalts festhaltenswert erschien. Der BGH folgte dem. Das macht auch eine Entscheidung des BGH vom 11. November 1963 deutlich, nach der mit der Anwaltszulassung unvereinbar die Tätigkeit eines Syndikus sei, der die Verbandsmitglieder seines Arbeitsgebers berate.48 So wurden Syndikusanwälten, wenn sie denn zugelassen wurden, für die Tätigkeit im Unternehmen die Rechte eines Anwalts vorenthalten, gleichzeitig aber die Pflichten eines Anwalts auferlegt. Der in den 1960er-Jahren entwickelten Rechtsprechung ist der BGH im Grunde treu geblieben. Seine Doppelberufstheorie musste er dann mit der „Zweitberufsentscheidung“ des BVerfG vom 4. November 199249 modifizieren, denn von nun an waren praktisch alle Zweitberufe mit dem Anwaltsberuf vereinbar. Spätestens damit war aber dem § 46 BRAO der „alte“ Anwendungsbereich als Zulassung einer Nebentätigkeit genommen worden. Ab der Jahrtausendwende gab es dann eine Phase, in der der BGH zwar nie davon abrückte, dass der Syndikusanwalt kein Anwalt sei, vorsichtige Schritte zur Gleichstellung aber vornahm. Dabei ging es vor allem – wie Hanns Prütting hervorhebt – um die Anerkennung

46 BGH, Beschluss vom 7. November 1960 – AnwZ (B) 2/60, BGHZ 33, 266. 47 BGH, Beschluss vom 11. November 1963 – AnwZ (B) 14/63, BGHZ 40, 282. 48 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 4. November 1992 – 1 BvR 79/85, 1 BvR 643/87, 1 BvR 442/89, 1 BvR 238/90, 1 BvR 1258/90, 1 BvR 772/91, 1 BvR 909/91, BVerfGE 87, 287 = AnwBl 1993, S. 120 = NJW 1993, S. 317. 49 Prütting, Unabhängigkeit (Fn. 21), S. 403.

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der Syndikustätigkeit beim Erwerb von Fachanwaltstiteln.50 Damals sah Prütting die Chance, dass die Doppelberufstheorie vom BGH aufgegeben werden könne. Ein Beschluss des Anwaltssenats des BGH vom 7. Februar 2011 machte dann klar, dass der Anwaltssenat des BGH an den überkommenen Auffassungen festhalten wollte. Randnummer 6 fasst die Essenz zusammen:51 „Nach gefestigter Rechtsprechung zu dem Tätigkeitsbild des Rechtsanwalts nach der Bun­ desrechtsanwaltsordnung wird derjenige, der als ständiger Rechtsberater in einem festen Dienst- oder Anstellungsverhältnis zu einem bestimmten Arbeitgeber steht (Syndikus), in dieser Eigenschaft nicht als Rechtsanwalt tätig (BVerfGE 87, 287; BGH, Beschluss vom 18.  Juni 2001  – AnwZ (B) 41/00, NJW 2001, 3130; Beschluss vom 4.  November 2009 – AnwZ (B) 16/09, NJW 2010, 377 Rn. 17). Die mit dem Dienst- oder Anstel­ lungsverhältnis verbundenen Bindungen und Abhängigkeiten stehen nicht im Einklang mit dem in §§ 1 bis 3 BRAO normierten Berufsbild des Rechtsanwalts als freiem und unabhängigem Berater und Vertreter aller Rechtsuchenden. Die Unterscheidung zwi­ schen der freien anwaltlichen Berufsausübung und der Tätigkeit als Syndikus kommt auch in den Berufsausübungsregelungen des § 46 BRAO zum Ausdruck, der seine heutige Fassung durch das Gesetz über die Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte vom 2. September 1994 (BGBl. I S. 2278) erhalten hat. In diesem Gesetzgebungsverfahren konnten sich Bestrebungen, durch eine Änderung des § 46 BRAO dem Syndikusanwalt einzuräumen, dass er auch im Angestelltenverhältnis als Rechtsan­ walt tätig wird, nicht durchsetzen. Der Rechtsausschuss hat dies in Anlehnung an die Zweitberufsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 87, 287) mit der Er­ wägung verworfen, das von der freien und unreglementierten Selbstbestimmung geprägte Bild des Rechtsanwalts stehe einer Änderung des § 46 BRAO in diesem Sinne entgegen (BT-Drucks. 12/7656, S. 49). So ist es bei der im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Trennung der beiden Bereiche geblieben (BT-Drucks. 12/4993, S. 30).“

Wobei die Zweitberufsentscheidung des BVerfG (siehe Fußnote 48) in diesem Zitat zu Unrecht vom BGH reklamiert wird, denn in Wirklichkeit hat das BVerfG nicht die Doppelberufstheorie des BGH bestätigt. Vielmehr ist sehr differenziert und in sieben Einzelfällen untersucht worden, wie die Berufsfreiheit eines jeden Berufsträgers möglichst umfassend hergestellt werden kann. Das Bundesver­ fassungsgericht hat sich durchaus kritisch zum tradierten Berufsbild des BGH 50 BGH, Beschluss vom 7. Februar 2011 – AnwZ (B) 20/10, AnwBl 2011, S. 494 = NJW 2011, S. 1517. 51 Siehe im Einzelnen Hellwig (Fn. 34), S. 7.

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geäußert.52 Doch alle diffizilen Erwägungen tatsächlicher oder verfassungsrechtlicher Art kümmern den Anwaltssenat in dieser Entscheidung nicht weiter, die eigentlich zum europäischen Rechtsanwalt ergangen ist (es ging um einen österreichischen Rechtsanwalt, der durch eine Syndikustätigkeit deutscher Rechtsanwalt werden wollte). Als Fazit bleibt: Im Jahr 2011 hat der BGH noch schlichter als in den Begründungen 1960 allen Syndikusanwälten die Tür zur Anwaltschaft zugeschlagen.53 Der Ertrag einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Anwaltsrecht seit 1987, die Eroberung der Berufsfreiheit für die freien Berufe und der Aufgabenzuwachs der Syndikusanwälte in den Unternehmen sind an dem Anwaltssenat weitgehend ohne Spuren vorbeigegangen. Vielleicht hat ihn auch der EuGH beflügelt, der im Jahr zuvor in einer Kartellsache entschieden hatte, dass der Syndikusanwalt im europäischen Kartellverfahren kein „legal privilege“ hat.54

2  Die BSG-Urteile vom 3. April 2014 Die Entscheidung des BGH von 2011 wurde dann 2014 die Steilvorlage für das BSG. Die ersten beiden Sätze von Randnummer 6 des BGH werden ausdrücklich vom BSG zitiert.55 Doch die BSG-Urteile vom 3. April 2014 haben auch eine sozialrechtliche Vorgeschichte: Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) als Vorgängerin der Deutschen Rentenversicherung Bund hatte zu Beginn des Jahrtausends festgestellt, dass das Recht zur Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht für Syndikusanwältinnen und -anwälte zunehmend dazu führte, dass auch Personen befreit wurden, bei denen eine anwaltliche Tätigkeit zweifelhaft war. Deshalb wurden vier Kriterien zur Prüfung der Befreiungsanträge entwickelt. Die Vier-Kriterien-Theorie wurde dann ab 2005 in ständiger Praxis angewendet, um zu beurteilen, welcher zugelassene Anwalt im Unternehmen auch anwaltlich tätig war. Entscheidend wurde auf die rechtsberatende, rechtsgestaltende, rechtsentscheidende und rechtsvermittelnde Tätigkeit abgestellt.56 Die Abgrenzung gelang anfangs durchaus, doch mit der Zeit musste sich 52 Zur Kritik siehe Michael Kleine-Cosack, Syndikusanwalt ante Portas?, in: AnwBl 2011, S. 467. 53 EuGH, Urteil vom 14. September 2010 – C-550/07 P, AnwBl 2010, S. 796. 54 BSG, Urt. v. 3. April 2014 - B 5 RE 13/14 R, Rn. 37, AnwBl 2014, 855 = NJW 2014, S. 2743. 55 Zur „Einführung“ der Vier-Kriterien-Theorie in die Praxis siehe Ulrich Kirchhoff, Der Syndikusanwalt ist Rechtsanwalt – er wird von der gesetzglichen Rentenversicherung befreit, in: AnwBl 2005, S. 618 (Anwaltsblattgespräch). 56 BSG, Urt. v. 31. Oktober 2012 – B 12 R 3/11 R, AnwBl 2013, S. 467 = NJW 2013, S. 1624; BSG, Urt. v. 31. Oktober 2012 – B 12 R 5/10 R, AnwBl Online 2013, S. 193 = NJW 2013, S. 1628.

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die Deutsche Rentenversicherung Bund immer wieder mit Grenzfällen beschäftigen. Dazu trug auch bei, dass die anwaltliche Tätigkeit im Unternehmen (wie in der niedergelassenen Anwaltschaft) immer bunter wurde. Vor allem kam ab 2009/2010 der schnell wachsende Bereich der Compliance hinzu, eines Bereichs, der gleichsam an der Grenze zwischen interner Revision und Rechtsabteilung die Durchsetzung (sprich Beachtung) des Rechts im Unternehmen sichern sollte. Es war daher nur eine Frage der Zeit, dass Anwendungs- und Auslegungsfragen bei der Befreiung auch die Sozialgerichte und dann die Landessozialgerichte beschäftigen sollten. Das ging einher mit einer zunehmend rigideren Verwaltungspraxis der Deutschen Rentenversicherung Bund, die vor allem fragte, ob ein Syndikusanwalt rechtsentscheidend tätig wurde. Dieses Merkmal warf regelmäßig schwierige Fragen auf. Die Befreiungsmöglichkeit als solche hat die Behörde aber nie in Frage gestellt. Die Anwendung der Vier-Kriterien-Theorie war das eine Problemfeld, das sich immer stärker auftat. Hinzu kam, dass über viele Jahre die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte generelle Befreiungsbescheide erteilt hatte, die von den Erläuterungen her auch Arbeitgeberwechsel umfassten. Die Deutsche Rentenversicherung Bund war erst in den letzten Jahren dazu übergegangen, die Befreiungen nur noch für eine konkrete Stelle in einem konkreten Unternehmen oder Verband zu erteilen (so dass bei einem Arbeitgeberwechsel eine erneute Befreiung zu beantragen war). Mit Entscheidungen vom 31. Oktober 2012 und 3. April 2014 hat das BSG dann das Befreiungsrecht grundlegend neugeordnet. Die ersten beiden Entscheidungen vom 31. Oktober 2012 sind in ihrer Tragweite erst 2014 von der Anwaltschaft voll überblickt worden. In den Urteilen vom 31. Oktober 2012 (übrigens nicht zu Anwälten ergangen) entschied das BSG, dass Alt-Befreiungsbescheide stets nur Wirkung für die erste Stelle und den ersten Arbeitgeber entfalteten, also bei jedem Arbeitgeberwechsel stets ein neuer Befreiungsantrag zu stellen sei, und dass das für alle befreiungsfähigen angestellten Berufsträger gelte.57 Es ist also völlig egal, ob eine Anwältin oder ein Anwalt bei einer Kanzlei, einem Unternehmen oder einem Verband beschäftigt ist. Damit hatten auf einen Schlag tausende von Anwältinnen und Anwälte keinen gültigen Befreiungsbescheid mehr. Doch während angestellte Kanzleianwälte nach wie vor befreit werden und für die Vergangenheit Vertrauensschutz erhalten, konnten nur wenige der betroffenen Syndikusanwältinnen und -anwälte ihre Befreiung bis zum 3. April 2014 nachholen. 57 Siehe Meldung zum Terminbericht: AnwBl 2015, M 156. In den fünf Monate später abgesetzten Entscheidungsgründen finden sich allerdings keine Ausführungen mehr zu diesem Punkt.

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An diesem Tag verkündete das BSG seine drei überraschenden Urteile zum Syndikusanwalt im Anschluss an die mündliche Verhandlung. Für die Beobachter war klar, dass das BSG eher zu einer engen als zu einer weiten Auslegung des Befreiungsrechts kommen würde. Mit einer vollständigen Absage an jegliche Befreiungsmöglichkeit hatte ernsthaft aber kaum jemand gerechnet. Und im amtlichen Terminbericht, den die Senate des BSG nach mündlichen Verhandlungen veröffentlichen, wurde sogar erwähnt, dass selbst die Befreiung von angestellten Anwälten in Kanzleien nicht ohne weiteres möglich wäre. Für diese Angestellten könne der Verpflichtung zur unabhängigen und weisungsfreien Ausübung des Anwaltsberufs jedoch mit einer entsprechenden Ausgestaltung des Anstellungsverhältnisses genügt werden.58 Die Radikalität der Urteile, mit der eine jahrzehntelange Praxis beendet wurde, war den BSG-Richtern durchaus bewusst: Im Terminbericht (und auch in den Entscheidungsgründen) führten sie in einem obiter dictum aus, dass für früher befreite Syndikusanwältinnen und -anwälte ein über das übliche Maß hinausgehender Vertrauensschutz gelte. Dabei erwähnten die Richter nicht, dass durch die Urteile vom 31. Oktober 2012 bereits tausenden Syndikusanwältinnen und -anwälten ein Bescheid genommen worden war, der Vertrauensschutz gewähren hätte können und die wenigsten einen neuen Befreiungsbescheid erhalten hatten. Der Grund: Die Deutsche Rentenversicherung Bund hatte erst am 10. Januar 2014 ihre Pressemitteilung zur Umsetzung der Urteile vom 31. Oktober 2012 veröffentlicht.59 Den betroffenen Syndikusanwälten blieben keine drei Monate Zeit. Die drei BSG-Urteile vom 3. April 2014 sind lang und ausführlich begründet.60 Die Richter stützen sich vor allem auf die berufsrechtliche Rechtsprechung des BGH, die sie sich ohne eigene Reflexion zu eigen machen. Die Entscheidungs58 Siehe Meldung „Rentenversicherung ändert Praxis bei der Befreiung von Syndikusanwälten“, AnwBl 2014, M 72; zu den ersten Reaktionen gehörte Matthias Kilian, Die Zukunft der Syndikusanwaltschaft nach den BSG-Urteilen, in: AnwBl 2014, S. 468. 59 BSG, Urt. v. 3. April 2014 – B 5 RE 13/14 R, AnwBl 2014, S. 855 = NJW 2014, S. 2743; parallele Entscheidungen sind BSG, Urt. v. 3. April 2014 – B 5 RE 3/14 R, AnwBl Online 2014, S. 265 und BSG, Urt. v. 3. April 2014 – B5 RE 9/14 R, AnwBl Online 2014, S. 276; aus der Besprechungsliteratur sei hingewiesen auf: Hanns Prütting, Die Folgen der BSG-Urteile: Berufsverbot für die deutschen Syndikusanwälte?, in: AnwBl 2014, S. 788; Michael Kleine-Cosack, Versorgungswerk-Aus für Syndikus: BSG unterliegt Unabhängigkeitsmythos, in: AnwBl 2014, S. 891; Richard Giesen, Rentenversicherungspflicht angestellter Freiberufler, in: NZA 2014, S. 1297; Nicolas Lührig, BSG, Urt. v. 3. April 2014 – B 5 RE 13/14 R, Anmerkung der Redaktion, in: AnwBl 2014, S. 863. 60 Mit der Neuregelung im Achten Gesetz zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes vom 8. April 2008 ist erstmals explizit eine solche Tätigkeit erlaubt worden, siehe Michael Kleine-Cosack (Fn. 52), AnwBl 2011, S. 467 (471).

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gründe zeichnet ein Rechtspositivismus aus, der die Historie der Norm, die Konkurrenzschutzziele des Gesetzgebers, die Entwicklungen auf dem Rechtsdienstleistungsmarkt sowie die Folgen und Auswirkungen der Entscheidung in den Gründen weitgehend (wie auch schon der Anwaltssenat des BGH) ausblendet. Insbesondere zieht das BSG auch keine Parallelen zum Syndikussteuerberater, den das StBerG seit 2008 in § 58 Abs. 4 Nr. 5a StBerG kennt61 und den der BFH am 9. August 2011 rund sechs Monate nach dem BGH-Syndikusanwaltsbeschluss als Syndikussteuerberater ohne freiberufliche Kanzlei anerkannte.62 Eine Berücksichtigung dieses BFH-Urteils hätte für das BSG auf jeden Fall eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes (GemS OGB) nahegelegt.63 Der Syndikussteuerberater ist dem Syndikusanwalt vergleichbar und wird bis heute von der Rentenversicherungspflicht befreit. Doch um die Rechtsfortbildung ging es dem BSG vermutlich auch gar nicht. Das BSG vollstreckt am Ende die Ausgrenzung des Syndikusanwalts aus der Anwaltschaft, die vor allem vom Anwaltssenat des BGH 2011 auf den Weg gebracht worden ist. Zugleich wird damit der Deutschen Rentenversicherung Bund eine Gruppe von eher besser verdienenden Beitragszahlern für die Zukunft beschert und werden viele einstmals befreite Syndikusanwältinnen und -anwälte in Folge der Urteile vom 31. Oktober 2012 gezwungen, nun in die Rentenversicherung einzuzahlen.

V  Die Initiative des Gesetzgebers Die Folgen der BSG-Urteile sind sehr schnell in ihrer ganzen Tragweite deutlich geworden, obwohl die Entscheidungsgründe erst im August 2014 veröffentlicht wurden. Angesichts der Radikalität der Urteile reichte die Lektüre des Terminberichts. Auch wenn anfangs mancher Gegner des Syndikusanwalts in der Anwaltschaft im Stillen gejubelt haben mag, bekamen auch diese bald ein mulmiges Gefühl. Denn ähnlich wie die „Bastille-Entscheidungen“ von 1987 haben die BSG-Urteile von 2014 – ohne Korrektur durch den Gesetzgeber – die Kraft, die Anwaltschaft und den Rechtsdienstleistungsmarkt in den nächsten Jahren grundlegend umzugestalten. 61 BFH, Urt. v. 9. August 2011 – VII R 2/11, AnwBl 2011, S. 955 = NJW 2012, S. 479. 62 Schon dem BFH war vorgeworfen worden, dass er in Abweichung von der BGH-Rechtsprechung zum Syndikusanwalt den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes hätte anrufen müssen, Prütting, Ausgrenzung (Fn. 21), S. 79. 63 Gregor Thüsing/Johannes Fütterer, Alterversorgung von Syndikusanwälten: Lösung liegt im Berufsrecht, in: AnwBl 2015, S. 13.

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Wenn der Syndikusanwalt nie von der Rentenversicherungspflicht befreit werden kann, ist jeder Wechsel zwischen Kanzlei und Unternehmen zwingend mit einem Bruch in der Versorgungsbiografie verbunden.64 Die gelebte Praxis des Wechsels gerade bei jüngeren Anwältinnen und Anwälten, aber auch zunehmend bei älteren Anwälten zum Ende ihrer Karriere, war damit von einem Tag auf den anderen quasi obsolet, mit allen Folgen für die Nachwuchsgewinnung in Unternehmen und Kanzleien. Damit einher ging die Frage, wie mit den tausenden Altfällen umgangen werden soll. Auf den ersten Blick auf der sicheren Seite sind nur die, die über einen aktuellen Befreiungsbescheid für ihre konkrete Stelle bei ihrem Arbeitgeber verfügen. Doch auch hier war die Erleichterung nicht von langer Dauer. Sehr schnell war klar, dass der Befreiungsbescheid wie eine Fessel für den Rest des Berufslebens wirkt. Und dann gibt es tausende Syndikusanwältinnen und -anwälte, die nun ohne Vertrauensschutz dastehen und in der Rentenversicherung eine zweite Altersversorgung aufbauen müssen.65 Hinzu kam, dass vor allem Arbeitgeberanwälten in Kanzleien nun aufgrund der Bemerkung im Terminbericht des BSG klar wurde, dass der angestellte Kanzleianwalt in der BRAO ebenso nicht geregelt ist wie der Syndikusanwalt. Und natürlich haben auch die Versorgungswerke der Anwaltschaft66 (mit der Arbeitsgemeinschaft der Berufsständischen Versorgungseinrichtungen) und die Arbeitgeber (mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände) geprüft, was die Neuordnung des Befreiungsrechts für Auswirkungen auf sie hat. Die BSG-Urteile haben so viel Verunsicherung ausgelöst. Das SPD-geführte Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat – anfangs noch zögernd, dann sehr zügig – geprüft, ob der Gesetzgeber handeln muss. In der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion regte sich angesichts der BSG-Urteile Widerstand dagegen, dass das Altersversorgungssystem im Zusammenspiel von Rentenversicherung und Versorgungswerken vom BSG neu ausgerichtet wurde. Angesichts der Auswirkungen der Urteile war dem Gesetzgeber schnell klar, dass die BSG-Urteile politisch nicht gewollt und zu korrigieren seien. Im Oktober 2014 kündigte Bundesjustizminister Heiko Maas eine Gesetzesinitiative für eine berufsrechtliche Regelung an.67 Während der DAV das begrüßte, lehnte die BRAK das im Dezem64 Zur im Dezember 2014 von der Deutschen Rentenversicherung Bund veröffentlichten Altfallregelung siehe: Michael Kleine-Cosack, Vertrauensschutz und Rentenversicherungspflicht von Syndikusanwälten, in: AnwBl 2015, S. 115. 65 Jochim Thietz-Bartram, Friedenssicherung in der Anwaltschaft – ein Appell, in: AnwBl 2014, S. 791, der vor einer „schleichenden Mitgliederaustrocknung“ warnt. 66 Meldung AnwBl 2014, M 342. 67 Meldung AnwBl 2015, M 34; zum Eckpunktepapier siehe Hanns Prütting, Das Eckpunktepapier des Bundesministeriums zu den Syndikusanwälten, in: AnwBl 2015, S. 199 sowie

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ber 2014 ab. Am 13.  Januar 2015 legte das Bundesjustizministerium dann Eckpunkte für die Neuregelung des Rechts der Syndikusanwälte vor.68 Kernidee des Konzepts ist es, dass sowohl angestellte Anwälte in Kanzleien wie auch Unternehmen in der BRAO geregelt werden und die BRAO definiert, was anwaltliche Tätigkeit im Unternehmen ist. Die Doppelberufstheorie soll aufgegeben werden. Darüber hinaus versuchen die Eckpunkte, es möglichst vielen recht zu machen. Der vom Bundesjustizministerium vorgeschlagene Kompromiss sieht auf der einen Seite vor, dass der Syndikusanwalt kein strafprozessuales Zeugnisverweigerungsrecht und damit keine Beschlagnahmefreiheit seiner Akten erhält. Das freut die Kritiker einer Gleichstellung von Syndikusanwalt und Kanzleianwalt. Auf der anderen Seite wird das starre Vertretungsverbot des § 46 Abs. 1 BRAO so gelockert, dass es einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten könnte. Das geht den Kritikern des Syndikusanwalts zu weit, auch wenn es in der Praxis kaum Auswirkungen haben wird. Für die Befürworter der Syndikusanwälte zählt vor allem, dass wie früher die Arbeit im Unternehmen im vollen Umfang als anwaltliche Tätigkeit anerkannt werden soll und damit die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht wieder möglich wird. Das Prozessvertretungsrecht haben sie nie gefordert. Ende März wurde ein Referentenentwurf zur Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte bekannt, der zwischen Bundesjustizministerium und Bundessozialministerium abgestimmt worden ist. Die beiden SPD-geführten Ministerien liegen damit auf einer Linie. Auch für das Bundessozialministerium kommt es darauf an, den früheren Status quo wieder zu erreichen. Dieser Referentenentwurf ist am 30. April 2015 zur Stellungnahme an die Landesjustizverwaltungen und die beteiligten Verbände übermittelt worden.69 Vorrangiges Ziel des Gesetzentwurfs ist es, die Durchlässigkeit zwischen Kanzleien und Unternehmen für Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen wieder zu erreichen. Der Gesetzentwurf sieht vor, den Syndikusanwalt als Rechtsanwalt statusrechtlich anzuerkennen. Zugleich wird auch der kanzleiangestellte Rechtsanwalt geregelt. Da die Vorbehalte gegenüber dem Syndikusanwalt aber immer noch groß sind, will der Gesetzgeber jetzt anders als in dem Eckpunktepapier eher das Trennende als das Gemeinsame betonen. Der bisherige § 46 BRAO soll durch vier Paragraphen ersetzt werden. Für den Syndikusanwalt wird eine neue Berufsbezeichnung „Syndikusrechtsanwalt“ Susanne Offermann-Burckart, Neuregelung des Rechts der Syndikusanwälte: Fast die Quadratur des Kreises, in: AnwBl 2015, S. 202. 68 Der Referentenentwurf ist abrufbar unter http://anwaltverein.de/files/anwaltverein.de/ downloads/Sonstiges/Referentenentwurf.pdf (Stand 11. Mai 2015). 69 Christian Deckenbrock, Der Gesetzentwurf zum Syndikusanwalt: ein „Bürokratiemonster“, in: AnwBl 2015, S. 469 (erscheint im Juni-Heft).

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und eine eigene Zulassung durch die Rechtsanwaltskammern (nach Anhörung der Deutschen Rentenversicherung Bund) vorgeschlagen. Das Doppelzulassungsmodell des Gesetzentwurfs als „Syndikusrechtsanwalt“ und/oder „Rechtsanwalt“ schafft einen neuen Anwalt anderer Güte (wenn nicht gar 2. Klasse), ist ein „Büro­ kratiemonster“70 und sieht eher nach einer kreativen Fortschreibung der Doppelberufstheorie aus, obwohl laut Entwurfsbegründung die Doppelberufstheorie aufgegeben werden soll. Im Gegensatz zu den Eckpunkten ist auch das Vertretungsverbot unklarer geworden, weil nach der Begründung der „Syndikusrechtsan­ walt“ bei Anwaltszwang vor den Zivil- und Arbeitsgerichten zwar seinen Arbeitgeber nicht vertreten darf, das aber als zusätzlich zugelassener „Rechtsanwalt“ auf RVG-Abrechnungsbasis sehr wohl darf.71 Von der klaren Linie des Eckpunkte­ papiers bleibt in dem Gesetzentwurf nicht viel. Gleichwohl sind die Pläne ein Schritt in die richtige Richtung, zumal es er­ fahrungsgemäß in jedem Gesetzgebungsverfahren noch die eine oder andere ­Änderung gibt. Das „lebendige Nullum“ soll nun doch ein Teil der Anwaltschaft werden. Zugleich wird damit das Rechtsdienstleistungsmonopol für Anwälte ­bewahrt, in das die Syndikusanwälte in diesen Kreis – je nach Sicht: wieder – aufgenommen werden.

VI  Wie es weitergeht – statt einer Zusammenfassung Das Jahr 2014 könnte ein Schicksalsjahr für die Syndikusanwälte werden, es könnte aber auch das Ende einer unberechtigten Ausgrenzung markieren. Letztlich wird es vor allem vom Ausgang des Gesetzgebungsverfahrens zur Neuregelung des Rechts der Syndikusanwälte abhängen, wie die BSG-Urteile im Nachhinein zu werten sein werden. Zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Beitrags Anfang Mai sah es nach einer zügigen Reparatur der BSG-Urteile durch den Gesetzgeber aus. Weder in der Großen Koalition noch in den Oppositionsfraktionen gibt es erklärten Widerstand gegen eine BRAO-Regelung zum Syndikusanwalt. Doch sicher ist das nie. Erst wenn das in dritter Lesung beschlossene Gesetz den Bundesrat passiert und im Gesetzblatt steht, ist ein Gesetzgebungsverfahren zu Ende. 70 Zu den Widersprüchen in der Begründung des Vertretungsverbots im Referentenentwurf: Dirk Michel/Oliver Arentz, Die gerichtliche Vertretung von Unternehmen durch ihre Syndikusanwälte, in: AnwBl 2015, S. 471 (erscheint im Juni-Heft).x 71 Zu den Widersprüchen in der Begründung des Vertretungsverbots im Referentenentwurf: Dirk Michel/Oliver Arentz, Die gerichtliche Vertretung von Unternehmen durch ihre Syndikusanwälte, in: AnwBl 2015, S. 471 (erscheint im Juni-Heft).

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In diesem Fall ist zu wünschen, dass der Gesetzgeber die offene Syndikusanwalt-Frage tatsächlich selbst löst. Für ein Handeln des Gesetzgebers spricht auch, dass zwei der drei BSG-Urteile mit (inzwischen zugestellten) Verfassungsbeschwerden angegriffen worden sind und weitere Syndikus-Verfahren vor allem auch mit Fragen des Vertrauensschutzes bei den Sozialgerichten anhängig sind. Wenn der Gesetzgeber nicht handelt, wird nicht nur das weitere „Aufräumen“ der Altfälle in den Händen der Gerichte liegen: Vor allem das Bundesverfassungsgericht – das sich längst als sehr munteres Verfassungsorgan versteht – wäre aufgerufen, die berufs- und sozialpolitischen Fragen verfassungsrechtlich zu klären, die das BSG letztendlich aufgerissen hat. Um das Leitmotto „Rechtsprechung und Justizhoheit“ der Festschrift noch einmal aufzugreifen: Das Primat der Politik gibt der Politik ein Vorrangrecht gegenüber der Rechtsprechung, aber auch die Pflicht, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Die Legislative bleibt aufgefordert, die Lücke so zu füllen, dass vor allem die Grundrechte und mit ihnen die Verfassung zum Leben erwacht.

Grenzen des Rechtsfortbildungsauftrages des BGH. Am Beispiel der Kick-Back-Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Lehman-Insolvenz Von Sabine Scholz-Fröhling

I Einleitung Zwischen 2006 und 2014 hat der Bundesgerichtshof in mehreren Entscheidungen seine sogenannte Kick-Back-Rechtsprechung ausgebildet, unter anderem auch in einigen Fällen, in denen als Partei des Rechtsstreits Anleger auftraten, die infolge des Zusammenbruchs des Lehman-Bankhauses einen Totalverlust aus ihren Lehman-Anlagen erlitten hatten. In diesen Fällen war wiederholt zu beobachten, dass die als Anspruchsgegner im Rechtsstreit involvierten Banken/Finanzdienstleister die Revision kurz vor oder sogar noch in der mündlichen Revisionsverhandlung durch Rücknahme oder Anerkenntnis beendeten. Rechtsprechung, Verbraucherschutzverbände und Gesetzgeber sahen in diesem Vorgehen den Versuch, den BGH an der Ausführung seines Rechtsfortbildungsauftrages i. S. d. § 543 Abs. 2 ZPO zu hindern. Aus diesem Anlass wurden noch 2014 die §§ 555, 565 ZPO neu gefasst, so dass nunmehr die Rücknahme der Revision zumindest dann an die Einwilligung des Revisionsbeklagten gebunden ist, wenn dieser sich in der mündlichen Verhandlung bereits zur Hauptsache eingelassen hat. Der vorliegende Beitrag setzt sich kritisch mit der beabsichtigten Wirkung ­dieser Neuregelung, nämlich dem Ziel, einen Rückgang der beobachteten Revisionsrücknahmen zu erreichen, auseinander. Daneben wird die weitergehende Frage, ob der Rechtsfortbildungsauftrag des BGH in Fällen wie dem Zusammenbruch des Lehman-Bankhauses generell an seine Grenzen stößt, kritisch beleuchtet.

II  Bewertung der Neufassung der §§ 555, 565 ZPO in Hinblick auf den Normzweck, Revisionsrücknahmen zu verhindern Dem BGH kommt als Revisionsinstanz gemäß § 543 Abs. 2 ZPO die Aufgabe zu, in Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung das Recht fortzubilden und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern. Nach inzwischen allgemeiner

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Meinung ist eine Rechtssache dann von grundsätzlicher Bedeutung in diesem Sinne, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann.1 Auch die tatsächliche oder wirtschaftliche Bedeutung einer Sache kann grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 543 Abs. 2 ZPO begründen, wenn in besonderem Maße die Interessen der Allgemeinheit berührt werden – was insbesondere bei Rechtsfragen mit erheblicher gesamtwirtschaftlicher Bedeutung der Fall ist, wie sie vor allem im Bereich des Kapitalgesellschaftsund des Produkthaftungsrechtes auftreten.2 Die Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung muss klärungsbedürftig sein, damit der BGH seinen Rechtsfortbildungsauftrag wahrnehmen kann, was entweder der Fall ist, wenn sich in Rechtsprechung und Literatur noch keine oder insbesondere in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte widersprechende Meinungen gebildet haben.3 Regelmäßig dürfte dieses Phänomen dann auftreten, wenn Gesetzeslücken zu füllen sind.4 Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ist aber auch dann klärungsbedürftig, wenn infolge einer BGH-Entscheidung eine Diskussion auf Ebene der Instanzgerichte entsteht, die neue Argumente vorbringt, die wiederum danach verlangen, dass der BGH sich mit ihnen auseinandersetzt.5 Erstmals im Jahr 20066 und zuletzt 20147 waren die genannten Kriterien für den Rechtsfortbildungsauftrag aus § 543 Abs. 2 ZPO in einer Reihe von Anlegerschutzklagen erfüllt, die zur sogenannten Kick-Back-Rechtsprechung des BGH8 führten. Diese Anlegerschutzfälle, die vereinzelt bereits vor der Insolvenz des ­Lehman-Bankhauses aufgetreten waren, wurden durch den Zusammenbruch des Lehman-Bankhauses am 17. September 2008 zu einem Mengenphänomen9, da sich hierdurch für eine erhebliche Anzahl von Kleinanlegern in Lehman-Papieren das Risiko des Ausfalls des Emittenten realisiert hatte. Die Zahl der betroffenen 1 2 3 4 5 6

Krüger in Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Auflage 2013, § 543, Rz. 6,8. Krüger (Fn. 1), Rz. 10 m. w. Hinw. Krüger, (Fn. 1), Rz. 7. Krüger, (Fn. 1), Rz. 7 m. w. Hinw. Krüger, (Fn. 1), Rz. 7 m. w. Hinw. Beginn der Kick-Back-Rechtsprechung in Anlageberatungs-Sachverhalten in 2006 mit BGH XI ZR 56/05; zuvor bereits Beschluss vom 18.  September 2001, BGH XI ZR 377/00. 7 XI ZR 418/13. 8 Insgesamt 7 Leitsatzentscheidungen des XI. Zivilsenates zum Stichwort „Kick-Back“, XI ZR 418/13; XI ZR 247/13; XI ZR 147/12; XI ZR 332/12; XI ZR 316/11; XI ZR 308/09; XI ZR 56/05. 9 Alleine 7 Leitsatzentscheidungen des BGH im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Lehman-Bankhauses zwischen 2011 und 2014, XI ZR 182/10; XI ZR 178/10; XI ZR 316/11; XI ZR 368/11; XI ZR 439/11; XI ZR 332/12; XI ZR 169/13.

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Kleinanleger wurde etwa auf rund 50.000 geschätzt.10 Neben dem Merkmal der Vielzahl waren zusätzlich weitere die Grundsätzlichkeit i. S. d. § 543 Abs. 2 ZPO begründende Kriterien erfüllt wie z.  B. Allgemeininteresse 11 und gesamtwirtschaftliche Bedeutung.12 Unter anderem im Zusammenhang mit dieser Lehman-Kick-Back-Rechtsprechung zeigte sich ein Phänomen, das im weiteren Verlauf gemeinsam mit weiteren ähnlichen Phänomenen im Bereich der Versicherungs-Rechtsprechung Anlass für einen Gesetzgebungsakt, nämlich die Neufassung des §§ 555, 565 ZPO wurde.13 Es war wiederholt zu beobachten, dass die als Parteien involvierten Banken und Finanzdienstleister das Revisionsverfahren teilweise noch in der mündlichen Verhandlung durch Rücknahme oder Anerkenntnis beendeten.14 Das beschriebene Phänomen tauchte zudem nicht nur im Rahmen der Kick-Back-Verfahren vor dem BGH auf. Vielmehr beobachtete die Rechtsprechung insgesamt einen Trend, den sie als Verhinderung von Leitsatzentscheidungen verstand, die vor allem Verbrauchern zugute gekommen wären.15 Von Verbraucherschutzverbänden, aber auch der Rechtsprechung wurde daher gefordert, 10 http://www.welt.de/regionales/hamburg/article3983726/Lehman-Urteil-oeffnet-Tuer-fuerKlagewelle.html (04.08.2015). 11 Vgl. beispielhaft die noch anhaltende Berichterstattung im Spiegel, http://www.spiegel.de/ thema/lehman_brothers/ (29.05.2015), oder im Handelsblatt, http://www.handelsblatt. com/themen/lehman-brothers (29.05.2015). 12 Unbestätigten Presseangaben zufolge bis zu 800 Millionen Euro, vgl. Bild vom 9. April 2010, http://www.bild.de/politik/wirtschaft/diese-frau-will-unter-den-bankenrettungsschirm-7613028.bild.html (04.08.2015). 13 Raphael Koch, Alexander Scheuch, „Bundestag erschwert Revisionsrücknahmen, Keine Flucht mehr in letzter Sekunde“, http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/revisionsruecknahme-reform-zpo-grundsatzurteil-bank-versicherung/ (17.05.2015). 14 Vgl. beispielhaft Pressemitteilung des BGH Nr. 58/2011 vom 08.04.2011, in der der BGH mitteilt, dass der XI.  Zivilsenat des Bundesgerichtshofs die in der Pressemitteilung Nr. 22/2011 für den 12. April 2011 angekündigten Verhandlungstermine zum Erwerb von „Lehman-Zertifikaten“ aufgehoben habe, weil die beklagte Sparkasse in beiden Fällen ihre Revision zurückgenommen habe; betroffen waren die angekündigten Entscheidungen XI ZR 85/10 (OLG Frankfurt Am Main, Urteil vom 17. Februar 2010 – 17 U 207/09, veröffentlicht WM 2010, S. 613) und XI ZR 294/10 (OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 14. Juli 2010 – 17 U 11/10). 15 Vgl. Beispiele in Fn. 11 und Darstellung in der Gesetzesbegründung zur Neuregelung der §§ 555, 565 ZPO, Deutscher Bundestag, Drucksache 17/13948, S. 52; vgl. zu ähnlich gelagerten Fällen im Versicherungsbereich Hirsch in „Missbrauch des Revisionsrechtes in Versicherungssachen“, Beitrag zur 22. Wissenschaftstagung des Bundes der Versicherten (BdV) am 16. April 2012 in Hamburg, http://www.versicherungsombudsmann.de/Navigationsbaum/Presse/Sonstige_Veroeffentlichungen/Missbrauch_des_Revisionsverfahrens.html (17.05.2015).

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die Rolle des BGH zu stärken, damit er seinem in § 543 Abs. 2 ZPO festgeschriebenen Rechtsfortbildungsauftrag nachkommen könne.16 Die Legislative nahm diese Forderung auf17 und reagierte mit einer Neufassung der §§ 555, 565 ZPO, die nunmehr seit 01.01.2014 die Rücknahme der Revision zumindest dann an die Einwilligung des Revisionsbeklagten bindet, wenn dieser sich in der mündlichen Verhandlung bereits zur Hauptsache eingelassen hat.18 Diese Neuregelung bewirkt, dass der Kläger nach einem Anerkenntnis des Beklagten in der Revisionsinstanz wählen kann, ob der Rechtsstreit durch Anerkenntnisurteil oder durch streitiges Urteil mit Begründung beendet wird.19 In der Gesetzesbegründung wird in diesem Zusammenhang die Annahme formuliert, dass der Kläger „insbesondere, wenn er Gemeinwohlinteressen wahrnimmt, ein Interesse an einer Leitentscheidung des BGH haben und den Antrag auf Erlass eines Anerkenntnisurteils nicht stellen“20 dürfe. Annahme des Gesetzgebers ist also, dass durch die Neuregelung der §§ 555, 565 ZPO die Zahl der Revisionsrücknahmen aufgrund eines entsprechenden Verhaltens von Verbrauchern, die einen Gemeinwohlauftrag wahrnehmen, zurückgehen wird. Vorliegend wird ausdrücklich die dargelegte Bewertung von Seiten Verbraucherschutzverbänden, Rechtsprechung und Gesetzgeber geteilt, dass mit Blick auf dieses im Zusammenhang mit der Lehman-Rechtsprechung auftretende Phänomen der Revisionsrücknahmen ein Bedarf für ein Eingreifen des Gesetzgebers gegeben war. Das zeigt schon das überwältigende öffentliche Interesse an der Kick-Back-Rechtsprechung des BGH insbesondere im Hinblick auf die Anlegerschutzklagen in Folge des Zusammenbruchs des Lehman-Bankhauses.21 Insofern ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung der §§ 555, 565 ZPO so außergewöhnlich schnell reagiert hat. Auch der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck, mit dieser Neuregelung das Gemeinwohlinteresse an einer 16 17 18 19 20 21

Vgl. Darstellung bei Hirsch zu Revisionsrücknahmen in Versicherungssachen (Fn. 15). Vgl. Begründung in Deutscher Bundestag, Drucksache 17/13948, S. 53. Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/13948, S. 52. Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/13948, S. 53. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/13948, S. 52. Vgl. nur beispielhaft zu den Entscheidungen XI ZR 183/10 und XI ZR 178/10 in Spiegel Online vom 24. März 2009, http://www.spiegel.de/wirtschaft/lehman-prozess-hohe-huerde-fuer-den-klaeger-a-615175.html; Manager Magazin vom 23. Juni 2009, http://www. manager-magazin.de/finanzen/artikel/a-631996.html; Sueddeutsche vom 27. September 2011, http://www.sueddeutsche.de/geld/bgh-entscheidet-ueber-lehman-klagen-geschaedigt-aber-nicht-entschaedigt-1.1149886; Welt vom 27. September 2011, http://www.welt. de/finanzen/article13629349/Bundesgerichtshof-entscheidet-gegen-Lehman-Opfer.html; Tagesspiegel vom 27.  September 2011, http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/bgh-urteil-kein-schadensersatz-fuer-lehman-anleger/4666068.html (alle 04.08.2015)

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Klärung von Grundsatzfragen zu bedienen, wird vorliegend ausdrücklich begrüßt. Allein, die gesetzgeberische Annahme hinter der Neuregelung, dass der Kläger aus Gründen des Gemeinwohlinteresses ein Interesse an einem BGH-Grundsatzurteil haben dürfte, überzeugt aus folgendem Grund nicht. Typischerweise stehen in den Fallkonstellationen, die Anlass für die Neuregelung der §§ 555, 565 ZPO war, dass ein einzelner Anleger/Bankkunde einem zumindest wirtschaftlich mächtigeren Gegner (Bank, Finanzdienstleister) gegenübersteht. Ebenso typischerweise waren es immer die Banken/Finanzdienstleister, die kurz vor der Revisionsentscheidung des BGH noch versucht haben, die Revisionsurteile zu verhindern. In diesen Fallkonstellationen geht nun die Annahme des Gesetzgebers dahin, dass der einzelne Anleger in dieser Situation aus Gründen des Gemeinwohlinteresses doch auf einem BGH-Urteil bestehen würde, selbst wenn der Gegner anerkennt oder zurücknimmt. Das scheint eine arg idealisierende Sicht auf den einzelnen Anleger zu sein, die lebensfremd sein dürfte. Es ist vielmehr anzunehmen, dass die wenigsten Anleger mit ihrer Klage einen Zweck verfolgen, der über den hinausgeht, ihre persönlichen monetären Ansprüche zu befriedigen. Eine Ausnahme dürften die zwei namentlich in den Medien aufgetretenen Anleger Ingrid Deutsch und Bernd Krupsky22 darstellen. Beide Anleger haben die Presse genutzt, um stellvertretend für eine Vielzahl von Lehman-Anlegern als Sprachrohr aufzutreten.23 Herr Krupsky hat insbesondere seine Klage gegen die Hamburger Sparkasse AG zum Anlass für öffentliche Mahnwachen, Zeitungsinterviews etc. genommen. Gerade der Umstand, dass das Vorgehen dieser beiden medial so beachtet wurde, zeigt, dass es eher außergewöhnlich und einzigartig war – jedenfalls ist kein anderer vergleichbarer Fall bekannt. Diese beiden Fälle belegen daher eindrücklich, wie wenig die anderen hinter den Lehman-Entscheidungen stehenden Anleger der Ansicht gewesen sein dürften, einen öffentlichen Auftrag zu erfüllen. Der ganz überwiegenden Mehrzahl aller Anleger dürfte es also vor allem um ihre individuelle Gerechtigkeit und ihr persönliches Geld gegangen sein. Hinzu kommt, dass alle diese Anleger und wohl auch alle Verbraucher in vergleichbarer Situation in der Revisionsinstanz bereits einen langen, anstrengenden Weg durch die Instanzen bis zum BGH, der noch einmal extra Geld und Nerven gekostet haben dürfte, hinter sich haben. Es ist schwer vorzustellen, dass sie in 22 BGH XI ZR 178/10. 23 Frau Deutsch hat Verfassungsbeschwerde eingelegt und für sich als Kleinanlegerin verlangt, auch unter den Rettungsschirm der Bundesregierung im Sinne des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes gestellt zu werden. Die Verfassungsbeschwerde wurde mit Beschluss vom 23. Juni 2009 zurückgewiesen (1 BvR 927/09).

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dieser Situation, alleine um ein abstraktes Gemeinwohlinteresse zu befriedigen, einer sofortigen Beendigung der gerichtlichen Auseinandersetzung, bei der ihre geltend gemachten Ansprüche sofort und ohne weiteres „Tamtam“ vollumfänglich bestätigt werden, nicht zustimmen, nur um aus Gründen des Gemeinwohls auch noch eine Urteilsbegründung in Händen zu halten – denn das ist aus ihrer Sicht der einzige relevante Unterschied zum Anerkenntnis. Der angenommene Sachverhalt ist daher wenig überzeugend. Die der Neuregelung zugrunde liegende Annahme des Gesetzgebers, die als Partei involvierten Verbraucher hätten ein Interesse an einer Leitentscheidung, insbesondere wenn sie Gemeinwohlinteressen wahrnehmen würden, darf folglich in ihrer Richtigkeit stark bezweifelt werden. Es scheint im Gegenteil sogar möglich, dass die Neuregelung geeignet ist, den gesetzgeberisch verfolgten Zweck ad absurdum zu führen, weil sie den Banken/ Finanzdienstleistern die Kontrolle über den weiteren Verlauf des Verfahrens frühzeitiger als bisher aus der Hand nimmt. Es ist offenkundig, dass es in den Revisionsverfahren der hier betrachteten Art aus Sicht der Bank/des Finanzdienstleisters vor allem darum ging, ein BGH-Grundsatzurteil zu verhindern, das zu einer weiteren Zahl von Anlegerbeschwerden und -klagen gegen die Bank/den Finanzdienstleister führen konnte.24 Motive der Bank/des Finanzdienstleisters dürften dabei zum einen regelmäßig wirtschaftliche Gründe gewesen sein und zum anderen aber auch der Aspekt der Reputation und damit wiederum in Zusammenhang stehende wirtschaftliche Einbußen im Neugeschäft. Die Reputation war ein ­großes Thema, weil insbesondere alle im Zusammenhang mit der Lehman-Insolvenz stehenden BGH-Urteile eine große öffentliche Beachtung fanden. 25 Die damit im Zusammenhang stehenden BGH-Entscheidungen wurden insbesondere von den Medien und Verbraucherschutzverbänden über Jahre hinweg verfolgt und äußerst kontrovers diskutiert.26 Vor diesem Hintergrund galt es für die Bank/den Finanzdienstleister aus den folgenden zwei Gründen Revisionsurteile als solche, aber insbesondere auch eine Urteilsbegründung zu verhindern: Durch die zu erwartende Medienresonanz wäre ein Unterliegen beim BGH in jedem Fall öffentlich gemacht worden. Damit drohte bereits ein Schaden für die Reputation der Bank/des Finanzdienstleisters und eine Zahl potenzieller Folgebeschwerden und -klagen. Eine besondere Gefährlichkeit lag darüber hinaus in der Urteils­ 24 Dieselbe Beobachtung macht Hirsch in vergleichbaren Fallkonstellationen, die zu Revisionen in Versicherungssachen mit Rücknahme/Anerkenntnis unmittelbar vor dem Revisionsurteil geführt haben, vgl. Hirsch (Fn. 15). 25 Vgl. dazu bereits die Darstellung in Fn. 21. 26 Vgl. zu Beispielen in der Berichterstattung 2011 (Fn. 21) und noch am 26. November 2012 in http://www.focus.de/finanzen/news/wirtschaftsticker/unternehmen-bgh-entscheidet-erneut-ueber-lehman-klagen_aid_868673.html (04.08.2015).

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begründung des BGH im Falle eines echten Revisionsurteils, da es erst durch die Gründe als eine Art Blaupause von weiteren Anlegern für ihre eigenen Klagen herangezogen werden konnte – was gerade der Erfüllung des Rechtsfortbildungsauftrags des BGH aus § 543 Abs. 2 ZPO entsprechen würde.27 Zusätzlich konnten die Urteilsgründe einen noch weiter gehenden Schaden an der Reputation der Bank/des Finanzdienstleisters anrichten, je nachdem wie pflichtwidrig das Verhalten der Bank/des Finanzdienstleisters vom BGH in den Urteilsgründen dargestellt wurde. Diese Situation galt es unbedingt zu verhindern. Diese Motivlage zeigt, dass gerade der Zweck des Rechtsfortbildungsauftrages des BGH, über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung mit dem Ziel zu entscheiden, eine befriedende und rechtsvereinheitlichende Wirkung für eine Vielzahl von Fällen zu erreichen, aus Sicht der Banken/der Finanzdienstleister eine Bedrohung darstellte28 und dazu führte, dass sie – im Einklang mit dem Grundsatz der Parteiautonomie – den Streit lieber beendeten, bevor der Rechtsfortbildungsauftrag erfüllt werden konnte. Die Betrachtung dieser Motivlage und des angestrebten Ziels – um jeden Preis ein BGH-Urteil und ganz besonders eines mit Begründung zu verhindern 29 – legt darüber hinaus den Gedanken nahe, dass die Revisionsverfahren in der Vergangenheit überhaupt nur deshalb bis in das Stadium der mündlichen Revisionsverhandlung geführt wurden, weil die Parteien – und zwar beide und jede für sich unabhängig vom Verhalten der anderen – es auch in diesem Verfahrensstadium immer noch in der Hand hatten, ob es zu einem Revisionsurteil mit Begründung und damit zu der gefürchteten Blaupause kommen würde. Mit der Neuregelung der §§ 555, 565 ZPO geht ein Verlust dieser Kontrolle einher. Es ist daher davon auszugehen, dass die Revisionsrücknahmen künftig als Folge dieses drohenden Kontrollverlustes bereits vorher, also bereits vor Beginn der mündlichen Verhandlung, erfolgen werden. Dagegen erscheint es eher unwahrscheinlich, dass es zu mehr Urteilen kommt, denn dazu wäre auf Seiten der Banken/Finanzdienstleister eine Änderung in der Motivlage und des oben beschriebenen Ziels erforderlich – was nicht anzunehmen ist. Noch ist es zu früh, diese hier beschriebene Wirkung der Neuregelung der §§ 555, 565 ZPO auch empirisch zu belegen. Es bleibt daher abzuwarten, ob die nächsten Jahre bestätigen werden, was hier vorhergesagt wird. 27 Ähnlich Hirsch (Fn. 15). 28 Ähnlich Hirsch (Fn. 15). 29 Hirsch erkennt als vorherrschendes Motiv hierfür die Angst vor der Rückwirkung des BGH-Urteils, während in den von ihm beobachteten Fällen die beteiligten Versicherer kein Problem mit der Umsetzung von Neuregelungen für die Zukunft hätten (Fn. 15), S. 6.

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III  Erfüllung des Rechtsfortbildungsauftrages des BGH in den Lehman-Kick-Back-Entscheidungen – oder: „Wurde die entscheidende Rechtsfrage geklärt?“ Unterstellt, die oben unter II beschriebene Annahme trifft zu und die Neure­ gelung der §§ 555, 565 führt nicht zu den gewünschten Grundsatzurteilen des BGH, sondern nur zu einem frühzeitigeren Anerkenntnis bzw. einer Rücknahme, so bleibt dennoch das ohne Zweifel zu erkennende Regelungsbedürfnis, dem mit der Neufassung der §§ 555, 565 ZPO Rechnung getragen werden sollte. Insbesondere war in Folge der Lehman-Insolvenz ohne Zweifel ein Gemeinwohlinteresse an einer Klärung von Grundsatzfragen gegeben und damit der Raum für die Rechtsfortbildung durch den BGH i. S. d. § 543 Abs. 2 ZPG grundsätzlich eröffnet. Es mussten also die Folgefragen aus der Lehman-Insolvenz schon deshalb vom BGH aufgegriffen werden, weil sie intensiv, aber nicht immer einheitlich in der Rechtsprechung der Instanzgerichte diskutiert wurden.30 Es wird daher nicht bestritten, dass der gesetzgeberische Zweck hinter der Neuregelung der §§ 555, 565 ZPO absolut seine Berechtigung hat. Alleine das gewählte Mittel scheint zweifelhaft. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob bei Phänomenen wie denen der Lehman-Insolvenz der Rechtsprechungsauftrag des BGH überhaupt noch erfüllbar ist oder ob die Einzelfallrechtsprechung des BGH in derartigen Konstellationen an ihre Grenzen stößt und die Notwendigkeit, das Recht einheitlich fortzubilden, anders erfüllt werden muss. Dazu soll zunächst mit Blick auf die Lehman-Rechtsprechung des BGH genauer betrachtet werden, ob der durch die Lehman-Insolvenz erkennbar gewordene Regelungsbedarf als Abbild des zugrunde liegenden Gemeinwohlinteresses und damit also der Rechtsfortbildungsauftrag des BGH tatsächlich über entsprechende Leitentscheidungen bedient werden konnte. Zur Bewertung dieser Frage ist es zunächst erforderlich, die Gesamtgemengelage nach der Lehman-Insolvenz und die daran anknüpfende öffentliche Diskussion zu betrachten, denn hieraus lässt sich am ehesten das Gemeinwohlinteresse ableiten. Die öffentliche Diskussion war zunächst von der volkswirtschaftlichen Bedeutung des Ereignisses, insbesondere dem zu verteilenden Gesamtschaden aus dem 30 Vgl. die teilweise unterschiedlichen Ansätze in OLG Frankfurt 19 U 02/10; OLG Stuttgart 9 U 58/09; OLG Düsseldorf I-6 U 136/09 jeweils auf eine weitgehende Haftung der Banken/Finanzdienstleister erkennend, wogegen die den BGH-Entscheidungen XI ZR 178/10 und XI ZR 182/10 zugrunde liegenden Entscheidungen des OLG Hamburg die Haftung der Banken/Finanzdienstleister eher begrenzt haben.

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Ereignis geprägt. Alleine mit Blick auf die im Umlauf befindlichen Lehman-Papiere wurde die Zahl der Betroffenen, insbesondere Verbraucher, die als Anleger auf einmal mit dem Emittentenausfallrisiko konfrontiert waren, in der Presse auf bis zu 50.000 Anleger31 geschätzt. Von den beteiligten Vertretern des Finanzdienstleistungssektors nahm man an, dass alle in Deutschland tätigen Banken/Finanzdienstleister involviert waren. Allein der Schaden aus dem Ausfall sämtlicher Lehman-Anlagen wurde im Bereich eines oberen dreistelligen Millionen-Euro-Betrages geschätzt,32 obwohl genaue Zahlen nicht bekannt wurden. Weiteres Thema in der öffentlichen Diskussion war der Umstand, dass so viele Kleinanleger (Verbraucher) betroffen waren.33 Hier reflektierte die öffentliche Diskussion eine Entwicklung im Tatsächlichen: Es war erst wenige Jahre zuvor möglich geworden, dass Kleinanleger in strukturierte Papiere anlegen konnten.34 Dann war natürlich ein wesentlicher Gegenstand der öffentlichen Diskussion der Zusammenbruch des Lehman-Bankhauses als einer systemrelevanten Bank als solches – ein bis dahin im Tatsächlichen im laufenden Kapitalmarktzeitalter noch nicht aufgetretenes Phänomen.35 Aus der öffentlichen Diskussion wird dabei deutlich, dass die Insolvenz des Lehman-Bankhauses wohl zweifellos als Ereignis betrachtet werden kann, das zumindest zu dem Zeitpunkt, zu dem die Banken/ Finanzdienstleister die Anleger beraten hatten, von keiner der beteiligten Parteien auch nur ansatzweise als wahrscheinliches Szenario betrachtet werden konnte. Das Ereignis war in der breiten Öffentlichkeit und wohl auch hinter den Kulissen der Banken und Teilnehmer am Kapitalmarkt als so unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich eingestuft worden, dass sein Eintritt wie eine Schockwelle durch die öffentliche Wahrnehmung raste. Diese wohl von allen Beteiligten, – Anlegern wie Anlageberatern und -vermittlern, in diesem Punkt nicht bezweifelte 31 http://www.welt.de/regionales/hamburg/article3983726/Lehman-Urteil-oeffnet-Tuer-fuer-Klagewelle.html (04.08.2015). 32 Unbestätigten Presseangaben zufolge bis zu 800 Millionen Euro, vgl. Bild vom 9. April 2010, http://www.bild.de/politik/wirtschaft/diese-frau-will-unter-den-bankenrettungsschirm-7613028.bild.html (04.08.2015). 33 Vgl. z. B. http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/finanzkrise-bundesgerichtshof-verhandelt-ueber-klagen-der-lehman-omas-a-788519.html, in denen die sogenannten Lehman-Omas als Symbol für die betroffenen Kleinanleger aufgeführt wurden, oder http:// www.stern.de/familie/finanzkrise-wie-kleinanleger-ihr-geld-verloren-641878.html (beide 04.08.2015). 34 Strukturierte Anlageformen für Kleinanleger wurden erst seit ca. Anfang des 21. Jahrhunderts angeboten und mit Umsetzung der MiFiD 1 Richtlinie (Finanzmarktrichtlinie, Richtlinie 2004/39/EG) 2007 erstmals umfassend geregelt. 35 Vgl. beispielhaft die Darstellung der Handelsblatt-Artikel zum Lehman-Zusammenbruch unter http://www.handelsblatt.com/themen/lehman-brothers (07.06.2015).

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Tatsachenlage war zuvor überhaupt Grundlage für die breite Streuung der Lehman-Papiere auch unter Verbrauchern gewesen – unter Anlageberatungsgesichtspunkten daher grundsätzlich beanstandungsfrei, wie unter anderem auch die BGH-Entscheidungen XI ZR 182/10 und XI ZR 178/10 zeigen. Die Betrachtung dieser Lage wie auch der öffentlichen Diskussion zeigt, dass Gegenstand des darin zum Ausdruck kommenden Gemeinwohlinteresses eigentlich die sich in der Lehman-Insolvenz kristallisierende Entwicklung im Tatsäch­ lichen war: Zum einen war es erst wenige Jahre zuvor möglich geworden, dass Kleinanleger in strukturierte Papiere anlegen konnten. 36 Auf diese Entwicklung traf dann zum anderen der Zusammenbruch einer systemrelevanten Bank – ein bis dahin im laufenden Kapitalmarktzeitalter noch nicht aufgetretenes Phänomen.37 Hinzu kam der Umstand, dass der hierdurch eingetretene volkswirtschaftliche Gesamtschaden als hoch eingeschätzt wurde und die angenommene Zahl Betroffener als groß. Letztlich stand damit nach dem Lehman-Zusammenbruch als Frage, die die Öffentlichkeit umtrieb, eigentlich im Raum, wer den volkswirtschaftlichen Schaden aus diesem bis dahin unbekannten Phänomen der Moderne tragen soll – die Banken, die Anleger, die Rating-Agenturen, die den Eindruck der Unwahrscheinlichkeit des Ereignisses wenn nicht geschürt, so doch lange unterstützt hatten, die Allgemeinheit – oder wer? Diesen Diskussions- und Regelungsbedarf am deutlichsten zum Ausdruck gebracht hat die oben bereits genannte Anlegerin Ingrid Deutsch mit ihrem öffentlich vorgetragenen Anliegen, auch als Kleinanlegerin unter einen dem Rettungsschirm für Banken gemäß Finanzmarktstabilisierungsgesetz entsprechenden Rettungsschirm der Bundesregierung schlüpfen zu dürfen.38 36 S. Fn. 34. 37 Vgl. beispielhaft Brinkbäumer, Klaus; Goos, Hauke; Hornig, Frank; Ludwig, Udo; Pauly, Christoph, „Gorillas Spiel“ in Spiegel 11/2009, http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-64497194.html (17.05.2015), die die Ansicht äußern, dass mit dem Lehman-Zusammenbruch „die Finanzwelt, wie wir sie kannten“, verschwand; vgl. Veröffentlichung der Deutschen Bundesbank, Rede Dr. Andreas Dombret vom 18. September 2013, https:// www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Themen/2013/2013_09_18_fuenf_jahre_nach_ lehman_wie_eine_insolvenz_die_bankenwelt_veraendert.html?view=render%5BDruckversion%5D (04.08.2015), in der von einem erstmaligen Verlust des Vertrauens in die Solvenz der Mitspieler am Kapitalmarkt die Rede ist. 38 Zur Verfassungsbeschwerde von Frau Deutsch vgl. die Darstellung in Fn. 23. Das Anliegen von Frau Deutsch wurde aber von einer Reihe von Presseorganen aufgegriffen, vgl. beispielhaft: Manager Magazin online vom 8. März 2009, http://www.manager-magazin.de/finanzen/artikel/a-612017.html; Bild vom 9.  April 2010, http://www.bild.de/politik/wirtschaft/diese-frau-will-unter-den-bankenrettungsschirm-7613028.bild.html; Der Spiegel, 11/2009, Gorillas Spiel, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-64497194.html (alle 04.08.2015).

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Allein diese Frage war einer höchstrichterlichen Klärung in dieser Form schon deshalb nicht zugänglich, da es sich nicht um eine Rechtsfrage handelte. Sie ist vielmehr Ausdruck eines Wunsches der Allgemeinheit nach einer politischen Lösung der Situation. Genauso wäre die Frage, ob die Lehman-Insolvenz tatsächlich so unwahrscheinlich gewesen ist und zu welchem Zeitpunkt möglicherweise doch andere Anzeichen im Raum standen, einer höchstrichterlichen Klärung ebenfalls nicht zugänglich gewesen, da es sich insoweit um eine Tatsachenfrage handelte. Die richtige, zur Situation passende und möglicherweise für eine Rechts­ fortbildung des BGH geeignete, weil einer höchstrichterlichen Entscheidung zugängliche Rechtsfrage wäre daher wohl eher die gewesen, ob die in der Natur der Lehman-Papiere (Schuldverschreibungen) begründete Verlagerung des Emittentenausfallrisikos auf den Anleger39 bei einem quasi mit einem Null-Ausfallrisiko „gerateten“ Emittenten, wie hier dem Lehman-Bankhaus,40 im völlig unwahrscheinlichen Fall eines Eintritts dieses Risikos bei am Kapitalmarkt unerfahrenen, weil überhaupt erst seit kurzem auftretenden Kleinanlegern als interessengerecht betrachtet werden kann. Oder ob nicht vielmehr eine hälftige Verteilung des Risikos zwischen beratender Bank/Finanzdienstleister (Anlageberater) und Anleger in der vorliegenden Fallkonstellation interessengerecht wäre. Immerhin hatten beide Parteien in der Anlageberatungssituation auf die Unmöglichkeit dieses Ereignisses gleichermaßen vertraut. Das Vertrauen war auch durchaus vernünftig und angemessen, wie schon aus der Einzigartigkeit der Lehman-Insolvenz und der beschriebenen öffentlichen Wahrnehmung des Ereignisses deutlich wird. Ansatzpunkte für eine derartige Auflösung der Fallkonstellationen hätte der BGH im Wege der Auslegung des Anlageberatungsvertrages41 finden können oder gegebenenfalls über die Anwendung des Grundsatzes zum Wegfall der Geschäftsgrundlage. Bemerkenswert und diskussionswürdig ist, dass diese zentrale Frage überhaupt nicht Gegenstand der Revisionsverfahren beim BGH war. Statt einer grundsätzli39 Dem Grunde nach handelte es sich bei allen Papieren um Schuldverschreibungen; vgl. die bei der BaFin hinterlegten Bedingungen, http://www.bafin.de/DE/DatenDokumente/ Datenbanken/LehmanBrothers/lehmanbrothers_node.html (29.05.2015). 40 Das Rating des Lehman-Bankhauses lag laut Presseangaben z. B. bei Standard and Poors noch im August 2008, also einen Monat vor der Insolvenz, bei A+, http://www.welt.de/ welt_print/finanzen/article7950092/Anleger-verklagt-Ratingagentur-S-amp-P-wegen-Lehman-Bonitaetsnote.html (29.05.2015). 41 Bei dem Anlageberatungsvertrag handelt es sich regelmäßig um einen Dienstvertrag mit Geschäftsbesorgungscharakter gem. §§ 611, 675 BGB, aus dem sich die Pflicht der Bank zur anleger- und objektgerechten Beratung ergibt, vgl. Fullenkamp, „Kick Back – Haftung ohne Ende“ in: NJW 2001, S. 421 (423) mit Verweis auf BGH, NJW 1993, S. 2433.

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chen Debatte zu der Frage, ob und wie die Interessen der von der Lehman-Insolvenz betroffenen Parteien ausgewogen gewahrt sind, hat sich der BGH mit fehlender Aufklärung des Anlegers über das Emittentenrisiko, über Kick-Backs und über die Qualität des Verkaufs der Lehman-Papiere als Eigengeschäft befasst,42 um darin einen möglichen Anknüpfungspunkt für eine Verletzung von Pflichten aus dem zwischen Anleger und beratender Bank bestehenden Anlageberatungsvertrag zu erkennen, durch den wiederum ein möglicher Rückabwicklungs- oder Schadensersatzanspruch des Anlegers ausgelöst worden sein könnte. Bemerkenswert ist dabei insbesondere, dass die in Bezug genommene Kick-Back-Rechtsprechung ursprünglich zur Verhinderung von Schmiergeldzahlungen gedacht war. Nachdem also nun in den Lehman-Fällen insbesondere die bis dahin bereits vom BGH entwickelten Grundsätze zu Kick-Backs von den Anlegerschutzanwälten faktisch als Mittel zum Zweck eingesetzt wurden, das durch die Lehman-­ Insolvenz eingetretene Emittenten-Ausfall-Risiko wieder auf die Banken/Finanzdienstleister zurückzuverlagern,43 begrenzte der BGH diesen Trend mit einer Entscheidung zu sogenannten Festpreisgeschäften.44 Danach waren Ansprüche der Anleger auf Rückabwicklung ihrer Lehman-Anlage jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn die Bank die an den Anleger verkauften Lehman-Papiere im eigenen Handelsbuch gehalten hatte. Der BGH verglich die Situation in diesen Fällen 42 Vgl. etwa Auszug aus BGH XI ZR 182/10: „[…] a) Zur Aufklärungspflicht der beratenden Bank über ein konkret bestehendes Insolvenzrisiko der Emittentin (hier: Lehman Brothers) beim Erwerb von Indexzertifikaten durch ihren Kunden. b) Die beratende Bank ist beim Vertrieb von Indexzertifikaten auch dann, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für eine drohende Zahlungsunfähigkeit der Emittentin bestehen, verpflichtet, den Anleger darüber aufzuklären, dass er im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Emittentin bzw. Garantiegeberin das angelegte Kapital vollständig verliert (allgemeines Emittentenrisiko). c) Hat die Bank ordnungsgemäß über das allgemeine Emittentenrisiko belehrt, bedarf es daneben keines zusätzlichen Hinweises auf das Nichteingreifen von Einlagensicherungs­ systemen. d) Bei dem Verkauf von Indexzertifikaten im Wege des Eigengeschäfts (§ 2 Abs. 3 Satz 2 WpHG) besteht keine Aufklärungspflicht der beratenden Bank über ihre Gewinnspanne. Dem steht weder die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Offenlegung verdeckter Innenprovisionen noch diejenige zur Aufklärungsbedürftigkeit von Rückvergütungen ­entgegen […]. e) Die beratende Bank ist aufgrund des Beratungsvertrages mit ihrem Kunden nicht verpflichtet, diesen darüber zu informieren, dass der Zertifikaterwerb im Wege des Eigen­ geschäfts der Bank erfolgt […].y“ 43 Vgl. Einleitungssatz bei Fullenkamp (Fn. 41), S. 421 ff. 44 BGH XI ZR 182/10.

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mit der eines Verkaufs, bei der das Verkaufs- und damit Verdienstinteresse der Bank für den Anleger hätte offensichtlich sein müssen. Es ist offensichtlich, dass weder die Kick-Back-Rechtsprechung noch die Festpreisgeschäfts-Entscheidung des BGH geeignet gewesen sind, die zentrale Frage nach der interessenausgewogenen Verteilung der Folgen der Lehman-Insolvenz zu klären. Vielmehr wird deutlich, dass es diese zentrale Frage gar nicht erst von den Instanzgerichten bis zum BGH geschafft hat. Stattdessen wurde hilfsweise auf ­Nebenschauplätze wie das Thema Kick-Back ausgewichen, während nach richtiger Ansicht bei einem grundsätzlich neuen Ereignis, wie dem der Lehman-Insolvenz, eine grundsätzliche Debatte nach der interessengerechten Verteilung des Schadens nicht nur zu erwarten, sondern wohl auch geboten gewesen wäre.

IV  Grenzen des Rechtsfortbildungsauftrages in Konstellationen wie dem Zusammenbruch des Lehman-Bankhauses und Lösungsansätze Die dargestellte Beobachtung, wonach die entscheidende Rechtsfrage gar nicht erst vom BGH diskutiert wurde, wirft die Frage nach dem „Warum“ auf. Die Suche nach einer Antwort führt schnell zu dem einer BGH-Entscheidung zugrunde liegenden Verfahrensgrundsatz, nämlich dem der Dispositionsmaxime, die dem im Zivilrecht geltenden Prinzip der Parteiautonomie nachfolgt.45 Danach ist der Zivilprozess gekennzeichnet von der Freiheit der Parteien, über den Streitgegenstand und damit über Gang und Inhalt des Verfahrens zu verfügen. Das bedeutet im Ergebnis, dass zwei Einzelpersonen bzw. in den Lehman-Verfahren regelmäßig eine Bank/ein Finanzdienstleister und ein Verbraucher es in der Hand hatten, die Rechtsfrage zu bestimmen, die dem BGH zur Entscheidung vorgelegt werden sollte. Mit dieser Befugnis ausgestattet, haben sich die Parteien in den Lehman-Kick-Back-Verfahren, wie gezeigt, u. a. der bereits existierenden Grundsätze der Kick-Back-Rechtsprechung bedient und damit letztlich verhindert, dass die entscheidende Frage nach der Interessenausgewogenheit bei der Verteilung des Schadens aus dem Lehman-Ereignis zum Gegenstand der Rechtsprechung werden konnte. Der BGH hätte sich im Revisionsverfahren vom Parteivortrag lösen und die entscheidende Rechtsfrage selbst entwickeln müssen, um sie anschließend lösen zu können. 45 Vgl. zur Dispositionsmaxime insbesondere die Darstellung bei Rauscher in Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Auflage 2013, Einleitung, Rn. 290 ff.

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Ein solches Vorgehen widerspräche aber eben grundlegenden Prinzipien des zivilrechtlichen Verfahrens, nämlich der bereits genannten Parteiautonomie46 und der darauf fußenden Dispositionsmaxime.47 Danach wird der Streitgegenstand und damit der Gegenstand der höchstrichterlichen Entscheidung einerseits durch den zugrunde liegenden Sachverhalt und andererseits durch den Antrag der Parteien festgelegt (zweigliedriger Streitgegenstandsbegriff ).48 Das Gericht ist an diesen Parteiantrag gebunden und nur die im Urteil enthaltenen Regelungen zum Streitgegenstand (ratio decidendi) erwachsen in Rechtskraft. Damit geht einher, dass auch die Bindungswirkung des BGH-Urteils auf die Parteien beschränkt49 ist. Eine Bindung an Präjudizien wie im Fallrecht des Common Law besteht auch dann, wenn der BGH seinem Rechtsfortbildungsauftrag nach § 543 Abs. 2 ZPO nachkommt, nicht.50 Eine gesetzesgleiche Bindung können nur Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erzeugen.51 Zwar hat der BGH auch durchaus die Möglichkeit, in seinen Urteilsgründen Stellung zu Rechtsfragen jenseits der Rechtsfragen, die von den Parteien zur Entscheidung gestellt werden, zu nehmen. Diese Möglichkeit besteht jedoch nur im Rahmen eines sogenannten obiter dictum. Als solches erwächst es gerade nicht in Rechtskraft, anders als die den Streitgegenstand regelnden ratio decidendi und kann daher nicht die mit dem Rechtsfortbildungsauftrag grundsätzlich angestrebte klärende und befriedende Wirkung erzeugen. In der Literatur wird dem obiter dictum gar die gegenteilige Wirkung, nämlich eine Verwirrung stiftende, zuerkannt.52 Das obiter dictum scheint damit auch keine Lösung für die dargestellten Fallkonstellationen zu bieten. Damit zeigt sich, dass grundlegende Prinzipien des Zivilprozessrechts, inbesondere die Parteiautonomie und die Dispositionsmaxime, es dem BGH mit Blick auf die vorliegenden Lehman-Fallkonstellationen nicht ermöglicht haben, sich vom durch die Parteien definierten Streitgegenstand zu lösen und den daneben liegenden Bedarf nach einer Entscheidung im Gemeinwohlinteresse zu bedienen. Damit wird gleichzeitig deutlich, dass, damit der Rechtsfortbildungsauftrag des BGH für die Auflösung von mit den Lehman-Sachverhalten vergleichbaren 46 Musielak in Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Auflage 2013, § 308, Rz. 1. 47 Elzer, in Beck’scher Online Kommentar ZPO, Stand 01.01.2015, § 308, Rz. 1, der die Dispositionsmaxime als zivilprozessualen Kerngedanken beschreibt. 48 Gruber, in Beck’scher Online Kommentar ZPO, Stand 01.01.2015, § 322 ZPO, Rz. 20 ff. 49 Rauscher in Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Auflage 2013, Einleitung, Rz. 10. 50 Rauscher (Fn. 49), Rz. 10. 51 Rauscher (Fn. 49), Rz. 10. 52 Vgl. beispielhaft die Auseinandersetzung mit obiter dicta bei Lamprecht, „Obiter dictum – Arabeske oder Ballast?“, in: NJW 1998, S. 1039 ff.

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Fallkonstellationen zielführend eingesetzt werden könnte, wesentliche, den Zivilprozess determinierende Prinzipien erst deutlich modifiziert, wenn nicht gar außer Kraft gesetzt werden müssten. Anders ist es dem BGH nicht möglich, wie aber hier verlangt, auch Fragen neben dem durch den Streitgegenstand festgelegten Fragen zu beantworten – und zwar unabhängig von dem Interesse der Parteien des Rechtsstreits an ihrer Beantwortung. Hinzu käme noch eine ganz praktische Herausforderung: Im Einklang mit Parteiautonomie und Dispositionsmaxime gilt im Zivilprozess zudem der Beibringungsgrundsatz,53 der es den Parteien auferlegt, die Faktenlage darzustellen und damit erst den BGH in die Lage zu versetzen, bei vollständig dargestellter und geklärter Faktenlage die offene Rechtsfrage zu klären. Dieser Mechanismus ist außer Kraft gesetzt, wenn sich der BGH mit Rechtsfragen jenseits des Streitgegenstandes beschäftigt. In der Folge einer solchen Öffnung der bestehenden Verfahrensgrundsätze wäre daher dann also zusätzlich zu klären, wie der BGH an die erforderlichen Fakten herankommt. Es ist nicht vorstellbar, dass eine mögliche Lösung zu dieser Frage unter Beachtung des Beibringungsgrundsatzes gefunden werden könnte. Vielmehr ist anzunehmen, dass auch hier eine Lösung nur unter Außerachtlassung, oder völliger Veränderung des Beibringungsgrundsatzes möglich wäre. Das alles zeigt, dass der Rechtsfortbildungsauftrag des BGH in Fallkonstella­ tionen wie den dargestellten Lehman-Fällen an seine Grenzen stößt und die Grenzen nur unter Abweichung von oder Neuregelung der grundlegenden Prinzipien des Zivilverfahrensrechts überwunden werden könnten. Das scheint ein zu großer und nicht sinnvoller Schritt.

V  Lösungsansätze und ihre Bewertung Nach dem bisher Gesagten ist zum einen deutlich und im Übrigen auch völlig unbestritten, dass in Fallkonstellationen wie den hier im Zusammenhang mit der Lehman-Insolvenz beschriebenen ein Gemeinwohlinteresse an einer Rechtsfortbildung besteht. Es ist jedoch auch transparent geworden, dass der Rechtsfortbildungsauftrag des BGH in diesen Fällen an seine Grenzen stößt. Insbesondere der Grundsatz der Parteiautonomie und die Dispositionsmaxime führen dazu, dass die Parteien des Rechtsstreits die vom BGH zu diskutierenden Rechtsfragen grundsätzlich bestimmen und zudem im Zweifel in der Lage sind, die Diskussion durch den BGH auch vorzeitig und ohne dass es zu einer Rechtsfortbildung durch 53 Vgl. Bacher in Beck’scher Online Kommentar zur ZPO, Stand 01.03.2015, § 284, Rn. 34.

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eine entsprechende Leitsatzentscheidung kommt, zu beenden. Die Neuregelung der §§ 555, 565 ZPO, die diesen letzten Punkt verändern sollte, wird nach vorliegender Einschätzung ihre Wirkung verfehlen. Sie ist ohnehin nicht wirkungsvoll in allen anderen Fällen, in denen, wie im Zusammenhang mit der Lehman-KickBack-Rechtsprechung ebenfalls dargestellt, die Parteien des Rechtsstreits unter Ausnutzung der Dispositionsmaxime verhindern, dass die Rechtsfragen, die im Sinne des Gemeinwohlinteresses zu klären wären, überhaupt zum BGH gelangen oder wenn diese Rechtsfragen den Parteien überhaupt nicht transparent sind. In allen diesen Fällen ist aber eben der Bedarf für eine Rechtsfortbildung im ­Gemeinwohlinteresse dennoch gegeben. Damit stellt sich die Frage nach einer ­adäquaten Lösung, die die dargestellten Grenzen des Rechtsfortbildungsauftrages überwinden kann. In der Literatur wird als mögliche Lösung für derartige Fallkonstellationen diskutiert, dass der Gesetzgeber dem Erreichen des Revisionszieles, nämlich der Erfüllung des Rechtsfortbildungsauftrages, Vorrang vor der Parteiherrschaft zumessen und damit dem Revisionsgericht die Möglichkeit geben solle, rechtsgrundsätzliche Fragen im Interesse des Rechts auch dann zu klären, wenn ein Interesse der Parteien entfallen sei.54 Als Voraussetzung könne darauf abgestellt werden, dass die Sache entscheidungsreif sei und über den Einzelfall hinaus Bedeutung für eine Vielzahl von Fällen habe. Die Vertreter dieser Ansicht sind der Meinung, dass dieser Ansatz kein Fremdkörper in der deutschen Rechtsordnung sei. Das zeige sich etwa darin, dass das Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck gebracht habe, dass es eine Verfassungsbeschwerde auch nach dem Tod des ­Beschwerdeführers dann nicht für erledigt halte, wenn das Verfahren entscheidungsreif sei und ihm Präjudizwirkung für die Interessen zahlreicher Betroffener zukomme.55 Dieser Lösungsansatz kann nach hier vertretener Ansicht nur in den Konstellationen herangezogen werden, in denen dem BGH eine Rechtsfrage vorgelegt wird, deren Beantwortung – weil es sich um die „richtige“ Rechtsfrage handelt – ohne Zweifel zu der erwünschten befriedenden Wirkung führen würde. Der BGH wäre dann in diesen Fällen mit dieser Lösung in der Lage, auch trotz Rücknahme oder Anerkenntnis von Seiten einer der Parteien eine höchstrichterliche Entscheidung zu treffen und damit seinen Rechtsfortbildungsauftrag zu erfüllen. Im vorliegenden Falle ist allerdings kein Vorteil zur Neuregelung der §§ 555, 565 ZPO zu erkennen, denn auch bei dem hier dargestellten Lösungsansatz aus der 54 Hirsch (Fn. 15), S. 9. 55 Vgl. Darstellung bei Hirsch (Fn. 15), S. 9, Anm. 29, mit Verweis auf BVerfG, 2 BvC 4/04, Urteil vom 23.01.2009.

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Literatur besteht die Gefahr, dass Banken/Finanzdienstleister aus Sorge vor einem Kontrollverlust einfach einen früheren Zeitpunkt für eine Rücknahme oder ein Anerkenntnis wählen und damit die Rechtsfortbildung durch den BGH doch noch verhindern. In den anderen Fall-Konstellationen, in denen die dem BGH vorgetragene Rechtsfrage als solche schon gar nicht die wirklich relevante ist oder es möglicherweise gar keine Regelungslücke im bestehenden Rechtssystem gibt, sondern die dem BGH zur Entscheidung vorliegenden Sachverhalte vielmehr eine gesellschaftliche Entwicklung oder grundlegende Neuordnung der Verhältnisse im Tatsächlichen abbilden, hilft der dargestellte Lösungsansatz nicht, da er dem BGH gerade nicht Möglichkeit an die Hand gibt, sich von dem von den Parteien vorgetragenen Rechtsfragen zu lösen und die entscheidende Rechtsfrage selbst zu entwickeln. Es bleibt daher in den dargestellten Lehman- oder vergleichbaren Konstellationen dabei, dass eine Erfüllung des Rechtsfortbildungsauftrages des BGH nur dann möglich wäre, wenn sich der BGH vom Streitgegenstand, jedenfalls soweit er durch den Antrag der Parteien festgelegt wurde, lösen könnte. Das wiederum stellt eine weitgehende Lösung von den den Zivilprozess determinierenden Verfahrensgrundsätzen Parteiautonomie und Dispositionsmaxime dar. Da es sich insoweit um grundlegende Prinzipien handelt, scheint dieses Vorgehen als Lösungsansatz nicht wirklich geeignet, da sonst eine grundsätzliche Neuordnung des bestehenden Zivilverfahrensrechtes erforderlich würde. Der Schritt erscheint aber auch nicht notwendig, da es auf der Hand liegt, dass ein Ereignis wie das der Lehman-Insolvenz, das einen historischen Meilenstein in der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung darstellt und das zudem noch eine solche Vielzahl von Bürgern betrifft sowie einen erheblichen volkswirtschaftlichen Gesamtschaden mit sich bringt, nach einer Lösung durch den Gesetzgeber verlangt. Im Rahmen der vorliegend betrachteten Konstellationen wäre es allenfalls notwendig sicherzustellen, dass Entwicklungen im Tatsächlichen, wenn sie denn einen Regelungsbedarf erkennen lassen, der über den streitgegenständlichen hinausgeht, auch von Seiten der Rechtsprechung an den Gesetzgeber herangetragen werden. Daher wäre es sinnvoll, in den Mechanismus der Gesetzgebung als anerkannten Gesetzgebungsanlass Phänomene aufzunehmen, die zwar Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten sind, von den Gerichten aber eben wegen der sie bindenden Verfahrensgrundsätze nicht umfassend genug geregelt werden können und daher nach einer grundsätzlichen Neuordnung der Verhältnisse im Wege eines Gesetzes verlangen. Die Vereinbarkeit eines solchen Vorgehens mit verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere dem Prinzip der Gewaltenteilung, wäre im Detail noch zu prü-

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fen. Es besteht aber kein Anlass anzunehmen, dass Verfassungswidrigkeit besteht. Vielmehr ist der Grundsatz der Gewaltenteilung bei einem solchen Vorgehen wohl eher gewahrt. Zu diesem Punkt, genauso wie zu der Frage, wie genau ein solcher Mechanismus ausgestaltet sein könnte, bedürfte es einer weitergehenden Betrachtung, die den Rahmen des vorliegenden Beitrages sprengen würde.

VI  Zusammenfassende Schlussbemerkung Es hat sich herausgestellt, dass der Rechtsfortbildungsauftrag des BGH aus § 543 Abs. 2 ZPO in Fallkonstellationen wie dem Zusammenbruch des Lehman-Bankhauses, in denen ein Gemeinwohlinteresse an einer Rechtsfortbildung als Abbild einer grundlegenden gesellschaftlichen Entwicklung oder sonstigen Änderung im Tatsächlichen zu Tage tritt, an seine Grenzen stößt. Der BGH ist in diesen Fällen insbesondere wegen der das Zivilverfahren determinierenden Dispositions­ maxime nicht in der Lage, sich dem Regelungsbedarf mit der erforderlichen Grundsätzlichkeit zu nähern, sondern ist an den von den Parteien bestimmten Streitgegenstand gebunden. Die Neuregelung der §§ 555, 565 ZPO hilft über diesen Punkt nicht hinweg. Ihre Wirkung wird im Übrigen grundsätzlich bezweifelt. Um das Gemeinwohlinteresse in diesen Fällen ausreichend zu bedienen, bedarf es daher eines Gesetzgebungsaktes.

Die Judikative zwischen Justizhoheit und Justizstaat: En quelque facon nulle. Zur Legitimation der Rechtsprechung im rechtsstaatlichen Funktionengefüge Von Michael Köhler

Der Richter steht für die grundlegendste Rechtfriedensleistung menschlicher ­Gemeinschaftsbildung.1 Historisch konstituiert sich die erste Form der „Herrschaft“ in größeren Verbänden, neben der Führung als Häuptling, Heerkönig im Krieg, als Gerichtshoheit. Die Landfriedensbewegung in Reich und Territorien seit dem hohen Mittelalter war, wie der Verfasser von Götz Landwehr lernen durfte, mit der Organisation des „Weges Rechtens“ eng verbunden. Rechtsbegrifflich zugrunde liegt eine durch die Erfahrung existentieller Rechtsunsicherheit des „Naturzustandes“ angetriebene gemeinsame Vernunftleistung: die subjektive Rechtsanmaßung, „Richter in eigener Sache“ zu sein, aufzuheben und sich im Streitfall der Entscheidung eines unparteilichen Dritten unterzuordnen.2 Weiter verallgemeinert gebietet die ursprüngliche Grundpflicht, aus dem Naturzustand herauszutreten (exeundum e statu naturali) und zugleich die selbständige Rechtsorganisation Staat mit höchster Rechtsmacht (Souveränität) zum Zweck allgemeiner Rechtsverwirklichung zu gründen. Im entfalteten Gefüge der grundlegenden Rechtsfunktionen (Legislative, Exekutive, Judikative) kommt dem Richter im gesetzesbezogenen Auslegungs- und Anwendungsstreit die Stelle der letztgültigen conclusio zu. Für den Bürger ist die Justiz daher die Personifikation der Rechtsverwirklichung – eben „die Gerechtigkeit“, und das Vertrauen in sie ist nahezu

1 S. exemplarisch zur Gerichtshoheit des fränkischen Königtums Hans Planitz/Karl August Eckhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1961, S. 82 f. sowie 134 ff. zur Landfriedensbewegung; herrschaftssoziologisch s. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921/22, 5. Aufl. 1980, S. 670. 2 Zum Begründungszusammenhang (empiristisch) Thomas Hobbes, De Cive/Vom Bürger, Kap. I ff., V, 6 ff. , dt. Ausg. Günter Gawlick, 1959, S. 75 ff., 128 ff.; (kategorisch-freiheitsgesetzlich) Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1. Teil Rechtslehre, Einteil. Rechtspflichten und §§ 41 ff., 44, in: Gesammelte Schriften (Ausgabe der Akademie der Wissenschaften) Bd. VI , AA VI, S. 237 f., 307 ff., 312.

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unerschütterlich. Aristoteles, sonst eher lakonisch, beschreibt mit Emphase den Richter als Verkörperung der Gerechtigkeit: „Der Weg zum Richter ist der Weg zum Recht, denn das Wesen des Richters will gleich­ sam verkörpertes Recht sein. Und man sucht den Richter als den Mann, der in der Mitte steht und mancherorts nennt man ihn „Mittler“ (gr. mesidios), um die Erwartung auszu­ drücken, daß man sein Recht bekommt, wenn man die Mitte bekommt […].“ 3

Von hier führt eine Verbindungslinie über 2000 Jahre hinweg zur Verortung der Judikative in der freiheitlichen (republikanischen) Verfassung. Montesquieu er­ örtert im berühmten sechsten Kapitel des elften Buches des „Esprit des Lois“ – „Über die Verfassung Englands“  – die sogenannte Gewaltenteilung unter dem ­Aspekt der Freiheitsgewährleistung gegen die Gefahr despotischer Machtkonzentration.4 In einer erhellenden Kritik an der Verfassung der Republik Venedig ­plädiert er zunächst dafür, die richterliche Gewalt nicht dauerhaft einer Behörde zu attachieren, sondern Gerichte für anstehende Fälle regelhaft aus der Mitte des Volkes zu bestellen, und erläutert: „Auf diese Weise wird die unter den Menschen so Schrecken erregende Macht zu urteilen weder mit einem bestimmten Stand, noch mit einem bestimmten Beruf verbunden, ­sondern wird sozusagen unsichtbar und inexistent (pour ainsi dire invisible et nulle).“ 5

Im Unterschied zu den beiden anderen Gewalten (Legislative, Exekutive) sei die richterliche Gewalt „in gewisser Weise inexistent (en quelque facon nulle)“. Seine umschreibende Wortwahl bezeichnet nicht eine Machtlosigkeit der Judikative, sondern die absolute gesellschaftliche und politische Neutralität ihrer Macht, die der Objektivität der conclusio entspricht – freilich im systematischen Kontext eines anspruchsvollen, als Freiheitsausprägung bestimmten Gesetzesbegriffs. 3 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 7 /1132a, in: Werke Bd. 6, übersetzt und kommentiert v. Franz Dirlmeier, 6. Aufl. 1974, S. 103 f. 4 Vgl. Montesquieu, Esprit des Lois, L. XI, Chap. 6, in: Oeuvres Complètes, Ed. Roger Caillois (Bd. II 1951), S. 396 ff., 398, 401 – hiesige Übersetzung von Verf.; aufgenommen in der amerikanischen Verfassungsdebatte von Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Federalist Papers, dt. Ausg. Barbara Zehnpfennig, 2007, Art. Nr. 78, S. 454 ff. (Hamilton): relative Machtlosigkeit der Judikative; zur Auslegung s. Wilfried Küper, Die Richter­ idee der Strafprozessordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen, 1967, S.  44 ff.; als ­politisch neutral s. Werner Weber, in: Heinz Rausch (Hrsg.), Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, 1969, S. 189 f. m. w. N. 5 Vgl. Petit Robert, Dictionnaire de la Langue Française, 1993, S. 1507: nul, nulle als nachgestelltes qualifizierendes Adjektiv mit der ersten Bedeutung: ohne Existenz, inexistent.

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Unter den Bedingungen einer differenzierten, in Stände eingeteilten Gesellschaft konkretisiert er die „Mittler“-Stellung des Richters neu: nur ohne ständische, professionelle oder sonstigen Interessen zugeneigte Bindung kann die Judikative die „Mitte“ sein. Es ist zu zeigen, dass diese institutionelle Bestimmung als „neutrale Mitte“ im Rechtsanwendungsstreit prinzipiell zutrifft – aus dem Kern der Richterfunktion, im praktischen Vernunftschluss der Rechtsverwirklichung die conclusio zu leisten, allerdings in Bezogenheit auf einen freiheitsrechtlich gehaltvollen Begriff des all­ gemeinen Gesetzes und eine darauf hin angemessen verfasste, souveräne Legislative. Weiter ist zu zeigen, dass die Justiz einer in der gesellschaftlichen Grundstruktur wurzelnden Deformation des staatlichen Funktionengefüges ausgesetzt ist, aus der „Mitte“ herauszurücken.6 Zwar sind die Bindung der Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) und ihre funktionale Eigenart in der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit der Richter (Art. 92, 97 Grundgesetz) an sich anerkannt. Ihre durch die Rechtsweggarantie (Art.  19 Abs.  4 Grundgesetz) ohnehin ausgeprägte Funktion der Letztentscheidung über die Normanwendung dehnt die Justiz aber auf die Gesetzesebene aus – in methodologisch kaum gebundener richterlicher „Rechtsfortbildung“, letztlich extensiv gehandhabter verfassungsrechtlicher Normenkontrolle durch das BVerfG. Aber andererseits macht sich dominanter Einfluss der beiden anderen im parlamentarischen Regierungssystem miteinander verbundenen Funktionen auf die Berufung der Richter in Organisationsmaßnahmen und Einzelfallinterventionen nach justizfremden Gesichtspunkten bemerkbar. Beide Befunde indizieren Instabilität, die Verschiebung der Justiz in das Feld „politischer“ Machtinteressen. Dagegen verdienen die Logik der rechtsstaatlichen Funktionenunterscheidung und die bestimmte Stellung der Justiz darin durchgesetzt zu werden.

I  Die Gewaltenteilung in der republikanischen (rechtsstaatlichen) Verfassung Der Grundsatz der Gewaltenteilung, oder besser: des schlüssigen Zusammenwirkens der nach ihrer Eigenart sachlich, organisatorisch und in der Repräsentationsstruktur zu unterscheidenden Rechtsfunktionen der Gesetzgebung (Legislative), Rechtsanwendung (Exekutive), urteilenden Rechtskonfliktentscheidung ( Judika6 S. bereits Michael Köhler, Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung, in: Schleswig-Holsteinische Anzeigen (SchlHA) 2001, S. 201 (hier weiterführend akzentuiert); zu jüngeren Entwicklungen Carsten Schütz, Der ökonomisierte Richter, 2005.

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tive), ist das organisationsrechtlich grundlegende Element, das in der Verfassung des Rechtsstaates dessen Prinzipiengehalt – die ursprüngliche allgemeine, gleiche menschen- und grundrechtliche Freiheit ( John Locke formuliert: „perfect free­ dom“)7 – nach allgemeinen Gesetzen verwirklicht. Methodologisch ist dies eine vorpositiv-rechtsbegriffliche Annahme, die sich, sofern sie begründet ist, kritisch auf die schon positivrechtlich relativierte Gewaltenteilungskonzeption des geltenden Verfassungsrechts bezieht. Den normativen Gegensatz zur republikanischen Staatsform bildet die Despo­ tie, in der sich ein privates Interesse an die Stelle des Allgemeinen setzt.8 Dieser Begriff umfasst nicht nur dramatische Formen herrscherlicher Willkür, sondern ganz allgemein die nach partikularem Gutdünken erfolgende Bestimmung des „Gesetzes“, im Weiteren dann die übergriffig-verformende Durchbrechung der Gewaltenteilung. Besonders in der modernen säkularisierten Gesellschaft, die das Recht der subjektiven Selbstverwirklichung in eigenen Vorstellungen vom Guten und vom Lebensglück grundrechtlich freisetzt und in den Systemen der Arbeitsund Konsumgesellschaft die Interessenverfolgung institutionalisiert, wird es zum Problem zu gewährleisten, dass dies mit allen legitimen Differenzen strikt nur in der Form allgemeiner, gleicher Rechtsgesetze geschieht – dass nicht etwa ein Partikularinteresse zum Rechtsgrundsatz wird.9 Zur Gefahr der Despotie in neuerer Zeit gehört die autokratische oder mehrheitsdemokratische Bevormundungsintention, wofür auch ein rechtsbegrifflich diffuser „Interventionsstaat“ (auch als „Sozialstaat“) anfällig ist.10 Die Verwirklichung des Rechtsstaates hat zunächst inhaltlich-prinzipielle ­Voraussetzungen in den Begriffen des Rechts und der Gerechtigkeit, die auf allgemeiner menschenrechtlicher Selbstbestimmung und Privat- und Erwerbsrechts 7 Vgl. John Locke, Second Treatise of Government, Chap. II, § 4, ed. Peter Laslett (1988), S. 269.   8 Zur Begriffsableitung aus der einseitig privatrechtlichen Herrschaft über Sklaven vgl. Aristoteles, Politik, III, 6, Ausg. Eugen Rolfes, 1958, S. 88 f.; s. sodann Kant (Fn. 2), § 49, AA VI, S. 316: „Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein“; ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII, S. 291: die paternalistische Behandlung von Bürgern wie „unmün­ dige Kinder“ als der „größte denkbare Despotismus“.   9 Beispiel: Das „Geldschöpfungs“-Privileg der Banken unter Verwendung von Giroeinlagen; vgl. früher schon die ökonomische Kritik Ludwig Mises, Theorie des Geldes und der Umlaufmittel, 2. Aufl. 1924, S. 264 ff.; rechtsbegrifflich Michael Köhler, Humes Dilemma – oder: Das Geld und die Verfassung, 2015. 10 Zur spezifischen Despotie-Gefahr in der modernen Demokratie s. schon Alexis von Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, IV,  6, Ausg. Zbinden, Bd.  2, 1840/1987, S. 460 ff.

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grundsätzen beruhen, wodurch die Gesellschaft sich nach den Formen der ausgleichenden, austauschenden, teilhabenden Gerechtigkeit gestaltet. In den geltenden Staatsverfassungen spiegelt sich dies vor allem in den Menschen- und Grundrechten, besonders auch in den die gesellschaftliche Privatrechtsordnung betreffenden, wider. Die politische Verfassung des demokratischen Rechtsstaates engeren Sinnes regelt die Formbedingungen dafür, dass sich der allgemeine Rechtswille der Bürger als höchste (legislative) Rechtsmacht (Souveränität) im öffentlichen Gesetzesrecht prinzipienorientiert allgemeingültig verwirklicht. Die fundamentale Organisationsstruktur des sich stetig verwirklichenden Rechtsstaates formuliert der Grundsatz der Gewaltenteilung11 – und zwar zunächst mit seinem vorpositiv-idealen, also auch produktiv reformierenden Gehalt, nicht schon in der methodologischen Einschränkung auf eine bestimmte geltende Verfassung (und deren möglichen Deformationen).12 Der Grundsatz wurzelt in der praktischen Logik der Verwirklichung freiheitlich-republikanischen Rechts und gewinnt dadurch seine alles andere als karge Systematik: Jedes Handeln freier Personen unter dem Rechtsgesetz vollzieht sich zumindest implizit in der Form eines praktischen Schlusses (Syllogismus) der Rechtsvernunft13 – allgemeiner Grundsatz (Gesetz – Obersatz), Beurteilung der einzelnen Verhältnisse nach der Bedingung (Untersatz), Subsumtion/Nichtsubsumtion des Einzelfallhandelns unter das Gesetz (Schlusssatz). Daher gliedern 11 Grundlegend Aristoteles (Fn. 8), IV, S. 14 ff., 153 ff.; Locke (Fn. 7), Chap. 9, §§ 124 ff., Chap. 10, § 132; Chap. 11, 12, 13, S. 350 ff., 354 ff.; Montesquieu (Fn. 4), L. XI, Ch. 6, S. 397 ff.; Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social , L. I, 2, L. III, 1, in: Œuvres complètes, Bd. III, ed. Bernard Gagnebin et al., 1964, S. 369 f., 395 ff.; Kant (Fn. 2), §§ 45 ff., AA VI, S. 313 ff.; G. F. W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts – nachfolgend zit. RPh – , Ausg. Johannes Hoffmeister, 4. Aufl. 1955, §§ 270 ff. – S. auch Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 29 ff.; Weber (Fn. 4), S. 185 ff.; Albert Bleckmann, Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips, 1998, S. 181 ff. – Verf. verdankt zum Folgenden wesentliche Präzisierungen dem früheren wiss. Mitarbeiter am Hamburger ­Seminar für Rechtsphilosophie, Herrn RA David Hössl. 12 In letzterem Sinne Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, 1974, S. 61 ff., in positiv verfassungsrechtlicher Sicht die funktionale und personelle Teilung der Gewalten von Fragen des unmittelbaren oder mittelbaren Einflusses auf die Funktionswahrnehmung unterscheidend; zur mangelnden Bedeutung angesichts vieler konzedierter Durchbrechungen Schütz (Fn. 6), S. 126 ff.; s. a. Peter Lerche, Gewaltenteilung – Deutsche Sicht, in: Gewaltenteilung heute, hrsg. von Josef Isensee, 2000, S. 75 ff., 87 (ironisierend: „stille Reinheit und Aussageschwäche“, „Kargheit“). 13 Erhellend Kant (Fn. 2), § 45, AA VI, S. 313 f., unter Bezugnahme auf die Logik des Vernunftschlusses; s. Kant, Logik, §§ 56 ff., AA IX, S. 120 ff.: „Ein Vernunftschluss ist das Er­ kenntnis der Notwendigkeit eines Satzes durch die Subsumtion seiner Bedingung unter eine gegebene allgemeine Regel“.

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sich auch die objektiven öffentlichen Rechtsfunktionen sachlogisch in Legislative, Exekutive (Regierung), streitentscheidende Judikative. Um deren Sachgemäßheit zu gewährleisten, muss das je eigene Prinzip gewahrt werden, das im gesamten Vernunftschluss der Rechtsverwirklichung den Funktionen zukommt. Darin liegt zwar auch ein Element der Effizienz und der Optimierung in der Aufgabenwahrnehmung,14 entscheidend ist aber der Gesichtspunkt der Legitimation der Funk­ tionen gemäß dem allgemeinen Rechtsgesetzeswillen der Bürger. Der Gedanke reduziert sich (anders in der heute theoriegeschichtlich kupierten Version des Grundsatzes) auch nicht auf negatorische Freiheitssicherung und Machtbalance, die angeblich auch hinreichend durch die Grundrechtsbindung und die Rechtsschutzgarantie (Art.  1 Abs.  3; 19 Abs.  4 Grundgesetz) gewährleistet werden ­könnten.15 Vielmehr ergänzt der Struktur- und Organisationsgrundsatz den grundrechtlich-rechtsstaatlichen Prinzipiengehalt in seinem produktiven Potential – eine „Optimierung“ nicht bloß als Effizienzsteigerung, sondern hinsichtlich der Konkretisierung „perfekter Freiheit“. Ist diese doch definiert als (rechtsgesetzliche) Selbstbestimmung, daher vom Selbstvollzug nicht zu lösen. Die gegenüber den Bürgern um der objektiven Rechtsverwirklichung willen relativ verselbständigten, wenngleich auf ihren Rechtswillen zurückgehenden Grundfunktionen müssen daher auch im internen Verhältnis zueinander auf ihr je eigenes Sach­ prinzip verpflichtend festgelegt werden: die objektive Prinzipienentfaltung in allgemeinen Gesetzen – unabhängig von verformenden Interessen, die machtvolle Regelung konkreter Verhältnisse nach dem Gesetz – unabhängig von Machtkontingenzen, also auch gegenüber Starken und zugunsten Schwacher, die objektive Gesetzesauslegung und -anwendung im Streitfall – unabhängig von parteilicher Befangenheit. Die Funktionen müssen sich also zur objektiven Rechtsverwirklichung ergänzen, dürfen deshalb aber einander im jeweiligen Sachprinzip jedenfalls nicht konterkarieren. So muss vor allem die Legislative die wirkliche Gesetzesallgemeinheit in repräsentierender Distanz von partikularen Konzepten formen und darf daher nicht konstitutiv von eingeschränkten Regelungsgesichtspunkten, namentlich besonderen Interessen dominiert werden. Das fordert ihre hinreichende Selbständigkeit gegenüber der Regierung, die es in der Regelung ­besonderer Verhältnisse permanent mit Einflüssen mächtiger Interessenten, ­typischerweise in verbandsförmiger Organisation zu tun hat. Besteht doch die ty14 Dazu in Auseinandersetzung mit Ossenbühl und der Rspr. des BVerfG s. Lerche (Fn. 12), S. 75 ff. 15 So eine verbreitete Sicht zusammenfassend Schütz (Fn. 6), S.127: Ob dies „wirkungsvoller“ ist, erscheint fraglich, geht es doch zusätzlich um die repräsentationslogisch schlüssige Rechtswillensverwirklichung der Bürger.

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pische Gefahr des autokratischen Gesetzgebers und Regierungsoberhauptes in einer Person darin, in der Verengung auf bestimmte partikulare Gesichtspunkte das Gesetz zu verformen. Die Konfusion der Funktionen insbesondere der Gesetzgebung und der Regierung in einer Repräsentationsform (Person) kennzeichnet daher den Despotismus.16 Der Grundsatz der Gewaltenteilung fordert mithin im engsten funktionalen Sinne zunächst, dass die Grundfunktionen entsprechend ihrem Sachprinzip selbständig ausgeübt werden müssen, um in der praxislogischen Auseinandersetzung ihren Beitrag zur systematischen Einheit aller unter dem Rechtsprinzip zu gewährleisten. Die Kernkompetenz der einen Grundfunktion darf weder unmittelbar noch mittelbar konstitutiv von der anderen abhängen, im Extrem von ihr über­ utokraten nommen („usurpiert“) werden17 wie etwa bei einem Machtspruch eines A in einer Justizsache. Montesquieu18 weist deshalb in der alten Ständegesellschaft die unterschiedenen Gewalten verschiedenen Ständen zu. Vor allem wird die Gesetzgebung als Zusammenwirken von bürgerlicher und aristokra­tischer Kammer sowie des Monarchen organisiert. Die Teilung wird also wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Machtbalance gesehen, und zwar zum Schutze der (ständischen) Freiheiten gegen den monarchischen Absolutismus.19 Diese ­defensive Sicht („checks and balances“) ist methodologisch bis heute vorherrschend und trifft auch ein an sich legitimes Element. Reduziert man den Grundsatz aber darauf, so resultiert eine gewisse Beliebigkeit in der abwägenden Einschätzung von wechselseitigen Einwirkungen; der „Grundsatz“ steht dann unversehens auf allen Seiten und für nichts wirklich. Für Durchbrechungen des Grundsatzes durch „Einflussgeflechte“ lässt sich so immer ein Gesichtspunkt finden. Die Reduktion auf Machtbalance führt schließlich auch dazu, andere gesellschaftlich-politische Faktoren einzubezie16 Herausgestellt von Montesquieu (Fn. 4), XI, 6, S. 396 ff.; Locke (Fn. 7), Chap. 7, §§ 90 ff., S. 326 ff.; Kant (Fn. 2), §§ 47, 48, 49, AA VI, S. 315, 316; vgl. auch Kant, Zum Ewigen Frieden, AA VIII, S. 352; eingehend Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, S. 198 ff; s. auch Bleckmann (Fn. 11), S. 181 ff. mit Auswertung der Rechtsprechung des BVerfG. 17 Vgl. Kant (Fn. 2), § 48, AA VI, S. 316: „[...] daß eine nicht sogleich die Funktion der anderen, der sie zur Hand geht, ursurpieren kann, sondern ihr eigenes Prinzip hat [...]“. 18 S. Esprit des lois (Fn. 4), XI, 6, S. 396 ff.; dazu Oscar Werner Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 1937, S.  41 ff.; Weber (Fn.  4), S. 185 ff.; darauf bezogen auch die amerikanische Verfassungstradition, vgl. Federalist Papers (Fn. 4), Art. Nr. 47 ff. – Madison –, S. 291 ff. 19 Vgl. Montesquieu (Fn. 4); s. auch BVerfGE 67, 100, 130; charakteristisch für diese (verkürzende) Sicht zusammenfassend Schütz (Fn. 6), S.125 ff., der dann folgerichtig den Einfluss der Justizverwaltung auf die Justiz als balancierendes Element gegen deren starke Machtstellung in der Rechtskontrolle behauptet.

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hen, etwa die freie Presse als „vierte Gewalt“ zu apostrophieren. Aber der Hauptgesichtspunkt ist die produktive, sich aus sachgemäß bestimmten, begrenzten und repräsentierten Teilfunktionen vermittelnde Einheit gerechter Rechtsverwirklichung,20 wie sie logisch bereits im praktischen Syllogismus angelegt ist. In dieser vorpositiven Auslegung gewinnt der Grundsatz Kontur und richtet sich reformierend auf praktische Optimierung allgemeiner rechtsgesetzlicher Freiheit. Für die entwickelte Republik freier, gleicher Bürger – die repräsentativ-demokratische Verfassung – ist die sachlogische Differenzierung in der Einheit daher funktional-organisatorisch und personal-repräsentationslogisch weiter zu entfalten. Der erste Kerninhalt des Grundsatzes, die von den unterschiedlichen Prinzipien gebotene funktionale Trennung und das Verbot des Übergriffs der anderen, gilt allgemein im Verhältnis der Gewalten zueinander. Praktisch geht es vor allem um die Prinzipienorientierung der Legislative und nächst ihrem Prinzip um die Wahrung der objektiv gesetzesgemäßen Konfliktentscheidungsfunktion der Judikative. Dieses Grundelement der Funktionentrennung könnte freilich auch bei autokratischer Gewaltenkonzentration geleistet werden, wenn sie sich intern ­differenziert  – der „aufgeklärte“ Monarch sich etwa entschließt, künftig auf „Machtsprüche“ in Justizsachen zu verzichten.21 Institutionell gesichert wird dies indessen – zweitens – durch eine organisationsrechtliche Trennung nach dem Sachprinzip der Funktionen und deren Wahrnehmung durch verschiedene Amtspersonen. In der entwickelten Republik vollendet sich diese Rechtswillens­ struktur – drittens – in entsprechend unterschiedenen Repräsentationszusammenhängen. Ihrem Sachprinzip gemäß müssen also die Funktionen eigens repräsentiert, d. h. auf den vereinigten Rechtswillen des Volkes in verantwortlichen und verpflichtenden Akten der Selbstrepräsentation zurückgehen. Das folgt aus dem schlüssigen Rechtsverfassungswillen des Volkes, dem je eigenen Prinzip der zusammenwirkenden Gewalten eine verantwortliche personale Wirklichkeit zu verschaffen; diese kann aber die auf ihr Sachprinzip verpflichtete Stellung konstitutiv nur vom sich selbst organisierenden Allgemeinwillen ableiten und nicht etwa mediatisiert von einer anderen Rechtsfunktion.22 Dieser dreifach personale repräsentationslogische Zusammenhang zwischen dem „Volk“ und den drei 20 Kritisch zusammenfassend Hegel (Fn. 11), § 272 Anm., S. 234 f.: gegen „Zertrümmerung“. 21 So Friedrich II. von Preußen in seinen politischen Testamenten vor dem Konflikt mit der Justiz im Fall „Müller Arnold“; s. Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 274; zur Ausdifferenzierung der Gerichtsbarkeit im Rahmen der Landeshoheit (am Beispiel des Kammergerichts in Brandenburg), s. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 101. 22 Grundlegend Kant (Fn. 2), § 45, AA VI, S. 313: „den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person“.

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Rechtsfunktionen klingt in Art. 20 Absatz 2 Grundgesetz deutlich an. Denn die Wahrung des eigenen Sachprinzips der Rechtsfunktionen muss nicht nur den unmittelbaren Übergriff der einen Funktion in den ureigenen Bereich der anderen ausschließen, sondern auch den möglicherweise mittelbar verformenden Einfluss der einen Funktion auf den konstitutiven Bestellungsakt (die personelle Besetzung) der anderen. Wenn beispielsweise Einstellung und Beförderung der Richter wesentlich von einer der Exekutive/Regierung zugeordneten Justizverwaltung gesteuert werden, so liegt darin die Gefahr einer nicht „neutralen“, nicht dem Sachprinzip der Justiz entsprechend repräsentativen Personalrekrutierung.23 Wenn etwa ein besonderer Zweig der Gerichtsbarkeit maßgebend von der Exekutive (Regierung) und vorherrschend aus den eigenen Reihen der Beamten des höheren Dienstes besetzt würde, so stünde bei solcher „Hausgerichtsbarkeit“ die strukturelle Gewähr für unparteiliche Entscheidung von Streitsachen zwischen Bürgern und Exekutive ernstlich in Frage. Verallgemeinernd wird in den Federalist Papers der Schluss gezogen, dass von den drei Gewalten „jeder Zweig so eingerichtet sein (sollte), daß seine Mitglieder bei der Ernennung der Mit­ glieder der anderen Zweige so wenig beteiligt sind wie möglich“.24

Grundsätzlich müssen sich also die Repräsentanten aller Grundfunktionen in ihrer Amtsstellung relativ selbständig auf den allgemeinen Rechtswillen des Staatsvolkes zurückführen lassen. Der so entwickelte Grundsatz republikanischer Funktionendifferenzierung läuft also auch für die Judikative auf eine relativ eigenständig konstituierte Repräsentationsform, getrennt von der staatlichen Exekutive, hinaus.

II  Die Stellung der Legislative im Funktionengefüge des demokratischen Staates der modernen Gesellschaft Klärungsbedürftig ist indessen zunächst eine systematische Voraussetzung, wovon die Justizfunktion abhängt: die Verfasstheit der Legislative. Für diese gilt nämlich in hervorragender Weise, dass sie als höchste Repräsentantin der Volkssouveräni23 Zu den weiteren Abhängigkeiten von der Exekutive eingehend Schütz (Fn 6), S. 68 ff., 431 ff.: Eine institutionelle oder organisatorische Unabhängigkeit der Gerichte existiert (derzeit) nicht. 24 Vgl. Federalist Papers (Fn. 4), Art. Nr. 51 – Madison –, S. 319, mit nachfolgenden Relativierungen, die aber der grundsätzlichen Einsicht nichts nehmen. Der erinnerten Grundsätzlichkeit bedarf die gegenwärtige Debatte etwa zur Richterwahl; vgl. Bestandsaufnahme von Helge Sodan, Staat und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2010, S. 32 ff.

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tät verpflichtend auf die kategorische Gesetzesallgemeinheit nach einem anspruchsvollen freiheitlichen Begriff des Gesetzes ausgerichtet sein muss und in dieser Konzentration nicht durch Einwirkung anderer Funktionen deformiert werden darf. In dem Maße nämlich, in dem das allgemeine Gesetz prinzipienorientiert in verantwortlichen Repräsentationsverhältnissen zwischen Bürgern und Abgeordneten wurzelt, vermag es seinen formellen Rang, Ausdruck der höchsten Rechtsmacht des Volkes zu sein, auch in der Sache zu bewähren. Irritierend in den Blick tritt aber die Vermengung dieser Aufgabe mit der Bestellung der Regierung und deren Verantwortlichkeit. Dies ist der Konzentration auf die Gesetzgebung und ihrer inhaltlichen Qualität nicht günstig, gewinnt jene doch mittels der Rücksicht auf gesellschaftliche Partikularinteressen und im Eigeninteresse an Machtbesitz bestimmenden Einfluss auf die Gesetzgebung. Im sogenannten par­ lamentarischen Regierungssystem verbinden sich Legislativmehrheit und Regierung, auf der Basis der sie tragenden Parteien und ihres Führungspersonals, zu einer Einheit. Bereits Montesquieu hat kritisiert, die Gesetzgebung liege dann faktisch in der Hand eines Zirkels, der von Regierungspersonen dominiert wird. Die Wahl der Legislative, zumal unter einem die persönlichen Verantwortungszusammenhänge zwischen Volk und Abgeordneten auflösenden Verhältniswahlsystem nach Parteilisten, wird durch die damit real verbundene Auswahl der Regierungsspitze denaturiert, wird abgelenkt von ihrem eigentlichen Sachprinzip. Das Problem der Selbständigkeit und der angemessenen Repräsentationsform der Legislative und ihrer Deformation – mit noch zu erörternden Folgewirkungen für die Justiz – liegt indessen tiefer. Es gründet in der besonderen Schwierigkeit der allgemeingültigen Rechtsverwirklichung unter Bedingungen hoch differenzierter Gesellschaften von Individuen, die aus dem Recht gleicher Freiheit ihre besonderen Guts- und Wohlvorstellungen und Interessen zu realisieren trachten. Recht kann hier ohnehin nicht mehr auf teleologische Vorannahmen – eine Einheit in ethisch-religiösen, lebensweltlich-ökonomischen Orientierungen  – gestützt werden. Das Problem der „Einheit in der Verschiedenheit“ (Aristoteles) besteht in spezifisch neuzeitlicher Wendung darin, allgemeingültige Gesetze zu unterschiedlicher subjektiver Freiheitsverwirklichung systematisch zu organisieren –, und zwar im Gegensatz zur Neigung der gesellschaftlichen Individuen und Verbände, interessegeleitetes Handeln zur Regel zu machen und dafür auch die Staatsfunktionen zu instrumentalisieren.25 Die Problemlösung muss zwar eine 25 Gültige Problemformulierung von Hegel, (Fn. 11), §§ 260, 273 ff. – Anzuknüpfen ist an einen freiheitlichen Rechts- und Privatrechtsbegriff (mit immanent-„sozialem“ Element), wie er der gedanklichen Entfaltung seit Thomas Hobbes über John Locke und Jean-Jacques Rousseau bis zu Immanuel Kants „Rechtslehre“ (Fn. 2) und besonders durch ihn sich ver-

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vor-positiv inhaltliche Prinzipiensystematik richtigen Rechts und Formen der ­Gemeinschafts- oder Institutionenbildung bis hin zum umfassend allgemeinen Gesetzeswillen im Staat umfassen. Dies impliziert eine umfassende kritische Abgrenzung – des Rechts von der Ethik, von altnaturrechtlichen und utilitaristischen Ansätzen. Vorausgesetzt ist deshalb dem republikanischen Staatsrecht ein idealer Begriff von inhaltlich-kategorischer Gesetzesallgemeinheit, der nicht nur eine ­fragile Interessenübereinkunft umfasst, sondern konkret allgemeine Bedingungen selbst bestimmter Existenz in Gemeinschaftsformen, beginnend mit den Menschen- und Persönlichkeitsgrundrechten bis hin zu Konkretisierungen privat- und erwerbsrechtlicher Gehalte, auch zu Bestimmungen der Teilhabegerechtigkeit in Bezug auf das System des gesellschaftlichen Erwerbs (z. B. hier nur vorläufig und problematisch genannte Rechte auf Bildung, auf Arbeit). Ohne solche kategorial-rechtsinhaltliche Orientierungen (wie sie beispielsweise im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes in wesentlichen Momenten, aber nicht abschließend positiviert sind) blieben Gesetzgebungsverfahren und ihre Ergebnisse leere Formalismen. Nur komplementär dazu vermag also die politische Verfassung die ­Legislative so zu organisieren, dass die Bürger, die zugleich interessegeleitete gesellschaftliche Subjekte sind, gleichwohl ihrer Grundpflicht zu folgen vermögen, in Selbstrepräsentation die objektive Gesetzesallgemeinheit zu formen. Diese Seite hat vor allen Rousseau im Begriff des Allgemeinwillens (volonté générale) zu formulieren versucht, aber nur mit der – Kant zu verdankenden – Fundierung in einem freiheitsprinzipiierten Rechtsbegriff, nicht also mit dem Rekurs auf fragile Nutzeninteressen oder einem Verfahrenstotalitarismus (wie ihn die Diskurstheorie vorschlägt), fügt sich das System zum Ganzen.26 Dieses hat aber privatrechtlich-gesellschaftliche Voraussetzungen, die in Gesellschaften nicht ohne weiteres dankt; vgl. dazu grundlegend Ernst-Amadeus Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: Strafrechtspolitik, hrsg. von Winfried Hassemer 1987, S. 137 ff.; Michael Köhler, Freiheitliches Rechtsprinzip und Teilhabegerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, in: Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit. Zur Aktualität der Rechtsphilosophie Kants für die Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, hrsg. von Götz Landwehr 1999, S. 103 ff.; ders., Das ursprüngliche Recht auf gesellschaftlichen Vermögenserwerb, in: Festschrift für Ernst-Joachim Mestmäcker zum 80. Geburtstag 2006, S. 315 ff. je m. w. N.; s. a. Rainer Zaczyk, Selbstsein und Recht, 2014. 26 Kants Identifizierung des Staates durch (inhaltlich nicht beliebige) Rechtsgesetze, fundiert im subjekt-menschenrechtlichen Prinzipiengehalt; Gewaltenteilung, Volkssouveränität, die Form der repräsentativen Republik bilden also einen Begründungszusammenhang, s. Kant, (Fn. 2), §§ 45, 46, 52 Anm., AA VI, S. 313 ff., 340 f., wohl unterbestimmt in der sehr verdienstvollen Arbeit von André Wiegand/Benno Zabel, Der demokratische Verfassungsstaat zwischen Ideal und Wirklichkeit, in: Der Staat 50 (2011), S. 73, 94, s. noch nachfolgend.

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angenommen werden können, in denen eigensüchtige Interessenverfolgung dominiert, grundlegende Ungleichheiten, gesellschaftliche Spaltungen existieren (insbesondere massenhafte Erwerbslosigkeit und Angewiesenheit auf Sozialhilfe). Hegel hat deshalb die Möglichkeit der demokratischen Republik bezweifelt und zeitweise Recht behalten.27 Der gegenwärtige Stand ist der aus den Revolutionen und krisenhaften Entwicklungen der beiden vergangenen Jahrhunderte hervorgegangene europäische Rechts- und Sozialstaat (oder auch Interventionsstaat). Er weist in der Grundstruktur eine rechtsprinzipielle Ambivalenz auf, die hier unter dem Aspekt der politischen Verfassung in Betracht kommt. Einesteils ist der Rechtspflege- und Verwaltungsstaat zu eindrucksvoller Systematik verwirklichten Rechts und Wohlstands entwickelt, wozu auch „sozialstaatliche“ Teillösungen wie die kollektiven Arbeitsbeziehungen, die Integration der organisierten Arbeiterschaft in Gesellschaft und Staat gehören. Anderenteils bleibt aber die besitzrechtliche Grundspaltung der Gesellschaft mit massenhaftem Rechts- und Wohlverlust erhalten. Das gilt besonders unter den Bedingungen wachsender internationaler Austausch­ beziehungen („Globalisierung“), zurückwirkend auf die westlichen Industriegesellschaften, vor allem aber im weltweiten Verhältnis. Deshalb bleibt das Rechtsverhältnis aufs Ganze labil. Insoweit agiert der Staat als Interventionsstaat, der nach unklaren Topoi der „sozialen Gerechtigkeit“, der „Stabilität“, eine umfassende Wirtschaftsinterventions-, Sozialgestaltungs-, Umverteilungskompetenz in Anspruch nimmt. Freiheitsrechtlich unzureichend vermittelt, erfolgen Interventionen in die Besitzverhältnisse nach Gutdünken im Interesse innerer Stabilität. Charakteristisch dafür ist das nahezu unbegrenzt gehandhabte Besteuerungsrecht. Das „Sozialstaatsprinzip“ wird unabgeleitet definiert als umfassende Leistungs-, Gestaltungs-, Ordnungsermächtigung bezüglich sozialer Sicherheit, gerechter Sozialordnung und sozialer Gerechtigkeit.28 Das Dickicht des allenthalben eingreifenden und umverteilenden Steuer-, Subventions-, Wirtschaftsinterventions-, Sozialstaates (mit einer Fülle von Interessenten am Bestand einer umfassenden Bevormundung und Abhängigsetzung der Bürger) ist kaum mehr durchschaubar; mit der Transposition auf die Ebene der Europäischen Gemeinschaft hat er eine weitere enorme Dimension erhalten. Die unmittelbar auf Interessen27 Vgl. Hegel (Fn. 11), § 273 Anm., S. 238, sowie §§ 275 ff. (konstitutionelle Monarchie mit erbmonarchischer Souveränität, aber durchaus freiheitlich rechtsstaatlichen Verfassungsgehalten). 28 Vgl. etwa Rupert Scholz, in: Soziale Grundrechte, hrsg. von Ernst-Wolfgang Böckenförde u. a.,1981, S. 75 ff.; zur Kritik früher schon Ernst Forsthoff, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 165, 177 ff.; s. auch Michael Köhler, in: Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung? Hrsg. von Karsten Schmidt, 1994, S. 62, 79 ff.

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ausgleich zielende Intervention steht in der Hobbes’schen Tradition. 29 Als liberal-utilitaristische Variante kann Rawls’ Differenzprinzip gelten, zieht man die sehr unbestimmten Folgerungen für staatliche Umverteilungsinstanzen in Betracht.30 In der ökonomischen Theorie gehört in diesen Zusammenhang das Konzept von Keynes, bei wirtschaftlichen Krisen mit anhaltender Unterbeschäftigung solle der Staat direkt die Nachfragebedingungen beeinflussen.31 Hervorzuheben ist, dass das im weitesten Sinne polizeilich-wohlfahrtsstaatliche Interventionsund Krisenbekämpfungsparadigma auch die grundrechtlichen Gewährleistungen nicht unberührt lässt, sondern sie mitunter schwerwiegend in Anspruch nimmt. Faktisch hat der utilitaristische Grundsatz, dass der Zweck der „überwiegenden“ Interessen das Mittel heilige, beträchtlich an Terrain gewonnen – nicht nur in Grenzbereichen des Kriminal- und Gefahrenabwehrrechts und der zugehörigen Verfahrensrechte, wo etwa „Vorfeldermittlungen“ und verdachtslose Kontrolleingriffe (z. B. in das Fernmeldegeheimnis) auch Massen Unverdächtiger treffen, sondern auch in Feldern wie dem Medizinforschungsrecht bei der Inanspruchnahme von Patienten zu Erprobungszwecken. Im Ganzen wird also der Grundwiderspruch zwischen grundrechtlich-rechtsstaatlichem Abwehrstatus und interven­ tionsstaatlichem Zweckdenken manifest. Diese rechtsprinzipiell zweideutige Struktur übersetzt sich in die politische Verfassung. Der Realität und den bezeichneten Ansätzen gemeinsam ist, dass sie sich nicht durchgängig auf ein konkretisierungsfähiges Rechtsprinzip stützen können und insoweit einer republikanischen Willensbildung unzugänglich sind. Die interventionsstaatliche Regelung ist genuin dem Interessenstreit, der entsprechenden Instrumentalisierung der staatlichen Willensbildung bis hin zur Korruption ausgesetzt. Die politische Verfassung tendiert dann zur Schwäche, zur Fassade eines Naturzustandes, zum Despotismus mächtiger Interessen, zur Legitimitätskrise. Die Parlamentarismuskritik Carl Schmitts kennzeichnet diesen Verfall,32 der Autor tendiert allerdings im Unterschied zu Hegel zu einer unfreiheit­ lichen Alternative. In der Tat begünstigt die Notwendigkeit einer hinlänglichen Rechts- und Wohlsicherung („Systemstabilität“) eine Entwicklung des Interventionsstaates hin zu autoritären Formen mit plebiszitär-charismatischer Partei- und 29 In dieser Richtung („egalitär-demokratischer Ansatz“) ausdrücklich Horst Hegmann, Rekonstruktion einer Sozialtheorie, 1994, zusammenfassend S. 371 ff. 30 John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 81 ff. 31 Vgl. John M. Keynes, General theory of employment, interest and money, 1936, dt. von Fritz Waeger 11.  Aufl. 2009; dazu Don Patinkin, Lord Keynes  – vita und opus heute (1989), S. 71 ff. 32 Vgl. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. 1926.

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Staatsführung. In der Typologie der Staatsformen seit den freiheitlichen Revolutionen33 existierte zunächst noch die konstitutionelle Monarchie, welche die Gesetzgebung dem Zusammenwirken aller Stände (monarchische Regierung, zweite Kammer, erste Kammer) vorbehielt. In den heutigen Demokratien mit fortgeschrittener gesellschaftlicher Entwicklung wird die Legislative durch alle Bürger konstituiert. Die Regierung wird teils vom Parlament bestellt, wodurch sich Exekutive und Legislative verschränken (das parlamentarische System engeren Sinnes, z. B. in England und verbreitet auf dem Kontinent), teils existiert ein Präsidialsystem auf der Grundlage eines eigenen Wahlaktes durch das Volk (USA, Frankreich). Die europäische Verfassungsgeschichte zeigt eine Tendenz der Absorption der Legislative durch eine autoritäre bis autokratische Regierungsform. Zunächst kann auch die konstitutionelle Monarchie mit dominierender Regierungsgewalt hier eingeordnet werden, und zwar auch im Hinblick auf die autoritäre Regelung gesellschaftlicher Krisen (die „soziale Frage“). Eindrucksvolle Belege bieten sodann nach dem Ersten Weltkrieg das Scheitern der parlamentarischen Demokratie in mehreren europäischen Staaten und die autoritären und totalitären Lösungsversuche im Zuge der gesellschaftlichen Krise (Weltwirtschaftskrise); dies führte zur Aufhebung der Gewaltenteilung durch eine teilweise von revolutionären Gruppen (Parteien) und charismatischen, plebiszitär gestützten „Führern“ gehandhabte Regierungsform. Das parlamentarische Legislativ- und Regierungssystem begünstigte freilich diese Aufhebung durch die in ihm selbst angelegte Einheit von parlamentarischer Mehrheit und Regierung, getragen von allerdings wechselnden Parteioligarchien und ihren Führern bzw. Koalitionen.34 Am stabilsten erscheint bis heute die republikanische Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika.35 In der schon von Alexis von Tocqueville36 analysierten Gründungstradition bürgerlicher Selbständigkeit zeichnet sie sich aus durch den bundesstaatlichen Aufbau, die auch nach der Repräsentationsform gewährleistete Trennung zwischen der Regierung in Gestalt des direkt gewählten Präsidenten einerseits 33 Vgl. zum Folgenden Löwenstein, in: Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, hrsg. von Heinz Rausch, 1969, S. 210 ff. (insb. zur Vermengung der Legislative und Exekutive im parlamentarischen System), S. 230 ff.; s. auch Friedrich (Fn. 16), S. 196 ff.; Ernst Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und der Repräsentativverfassung, hrsg. von Heinz Rausch, 1968, S. 330, 337 ff. 34 In Bezug auf das parlamentarische System Englands mit Mehrheitswahlrecht, starker Parlamentsmehrheit, Parteiführung, Partei- und Fraktionsdisziplin spricht Löwenstein (Fn. 33), S. 251 f., von „konstitutioneller Diktatur“, Friedrich (Fn. 16), S. 204, von „relativem Absolu­ tismus“. 35 Grundlegend die Federalist Papers (Fn. 4).; s. a. Friedrich (Fn. 16), S. 202 ff. 36 Tocqueville (Fn. 10), Bd. 1, S. 49 ff.; s. a. Fraenkel (Fn. 33), S. 344 ff.

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und der Legislative (Kongress) andererseits. Zwar kann die Trennung im Falle gleicher Parteienorientierung von Präsident und Kongressmehrheit ähnlich dem parlamentarischen System überbrückt werden und, zumal in Krisensituationen wie zur Zeit der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts („New deal“), zur Dominanz eines starken Präsidenten changieren. Aber gleichwohl bewahrt Montesquieus Typik die ihr überhaupt mögliche Trennkraft. Die moderne Demokratie scheint indessen rechtsprinzipiell und in ihrer politischen Verfassung auf einem „toten Punkt“ zu verharren. Bürgerliche Freiheit und Gleichheit, gesellschaftliche Kräfte, Interessenverbände und politische Parteien als „quer-vermittelnde“ Vereinigungen liegen dem Staat und seinen Funktionen voraus. Unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Differenzierung nach Partikularinteressen und ihren Verbänden, letztlich der besitzrechtlichen Grundspaltung, bleibt aber das Problem bestehen, die Gesetzgebung am kategorisch Allgemeinen zu orientieren und nicht durch die Macht partikularer Interessen zu deformieren; das bedeutet vor allem auch grundlegende Reformen in Richtung auf Teilhabegerechtigkeit zu ermöglichen. Es ist in der Sache und hinsichtlich der korrespondierenden Staatsform ungelöst. Die privatrechtlich-ökonomische Gespaltenheit der Gesellschaft, die entsprechende Zusammenstellung, nicht sys­ tematische Prinzipienkoordination von Rechtsstaat und (Wirtschafts-, Sozial-) Interventionsstaat wirken wie zementiert. Staatsrechtlich wirkt diese Lage sich zunächst am Gesetzesbegriff aus. Neben das kategorisch-allgemeine, die Grund­ lagen der Rechtsgesellschaft (etwa im Zivilrecht) ordnende Gesetz tritt dominierend die Wirtschafts- und Sozialintervention in Form von Lenkungsgesetzen (auch Maßnahmegesetzen). Die Schwäche einer grundsätzlichen, systematischen Gesetzgebung wird durch das gegenwärtige parlamentarische Regierungssystem begünstigt. Die institutionelle und personelle Konfusion von Gesetzgebung und Regelung besonderer Verhältnisse, die Verknüpfung mit Verbands- und Parteiinteressen bleibt einem Denken in durchzusetzenden Partikularinteressen oder Interessenkompromissen verhaftet. Die von Parteiorganisationen und -koalitionen getragene Funktionenverbindung von Legislativmehrheit (Regierungsmehrheit) und Regierung betreibt typischerweise eine an partikularen Gesichtspunkten ­orientierte Gesetzgebung.37 Diese wird zur Mehrheitsmachtfrage. Substantielle Gesetzesallgemeinheit hat in der Fülle von Einzelprojekten kaum mehr eine Stelle. Es herrscht insofern geschäftiger Stillstand. 37 Initiiert ganz überwiegend von der Regierung, s. aufschlussreich (auch hinsichtlich des mangelnden Problembewusstseins) und affirmativ Wolfgang Zeh, Regierung und Parlament, in: Gewaltenteilung im Verfassungsstaat, hrsg. von Siegfried Magiera/Karl-Peter Sommermann, 2014, S. 39 ff., 41 ff.

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Das Defizit der demokratischen Legislative in der dringend geforderten Hinsicht, substantiell-allgemeine Gesetze mit Sachautorität zu beraten und zu beschließen, die den Grundproblemen der modernen Gesellschaft gerecht werden, liegt wesentlich an der unzulänglichen Repräsentationsstruktur des parlamentarischen Regierungssystems selbst. Dass der Gewaltenteilungsgrundsatz nicht konsequent in der selbständigen Repräsentation der Gewalten durchgeführt wird, ist für sich schon dem Sachprinzip der Legislative, der systematischen Gesetzesallgemeinheit abträglich. Hinzu kommt eine fundamentale Schwäche der Repräsentation des Volkes (so Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz), das freilich in herrschender Terminologie zur „Bevölkerung“ herabgesetzt wird, durch die Abgeordneten der Legislative. Sie ist nach herrschendem Verständnis kein Rechts-Pflicht-Verhältnis38 und wird durch die Parteien und das ihre Vormacht begünstigende Verhältniswahlsystem entscheidend mediatisiert. Die Abgeordneten sind faktisch eher dem Bürger fernstehende, berufsmäßige Parteipolitiker, denn selbst gewählte, abgeordnete Bürger, die sich eine Zeit lang dem Allgemeinwohl durch politische Tätigkeit widmen. Repräsentation wird als Fremdrepräsentation („par un au­ tre“),39 nicht als (vermittelte) Selbstrepräsentation begriffen, der ein persönliches Rechts-Pflicht-Verhältnis zwischen den Bürgern und „ihren Abgeordneten“ (Kant) entsprechen müsste.40 Das eigentlich vorhandene Vernunft- und Reformpotential der Gesellschaft zu wirklich allgemeiner Gesetzgebung spiegelt sich daher in der politischen Repräsentation der Legislative nicht wider. Der daraus resultierende Qualitäts- und Autoritätsverfall ist offensichtlich. Dieser fundamentale Mangel an repräsentierter Gesetzesallgemeinheit wird durch die Veräußerung des Souveränitäts-, das heißt: ureigenen Selbstbestimmungsrechts der Gesetzgebung an die europäische Regierungsebene komplettiert – was teils für unproblematisch gehalten, teils mit unabgeleiteten „Substanz“-Vorbehalten vergeblich einzuhegen versucht wird.41 Dagegen benennen die Sätze von Locke: „The Legislative cannot 38 Zusammenfassend Hasso Hofmann, Repräsentation, 1974, S. 13 ff., 29 ff. („Nach deut­ schem Verfassungsrechtsverständnis (besteht) zwischen Volk und Parlament kein Rechtsver­ hältnis“) – ein Repräsentationsbegriff, der demjenigen der Fremdrepräsentation von Hobbes und Sièyes nahe steht, dem kein kontinuierliches Rechts-Pflicht-Verhältnis entsprechen, sondern sich auf eine bloß moralische Gewissensbindung (s. a. Art. 38 GG) reduzieren soll. 39 Kritisch besonders Rousseau (Fn. 11), III, 15, S. 429 f., jedoch gegen Repräsentation überhaupt. 40 Kant, (Fn. 2), § 52, AA VI, S. 341: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anderes sein, als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen.“ Dazu noch nachfolgend. 41 Vgl. BVerfGE 89, 155 ff. – Maastrichtvertrag –; zur Veräußerung der Legislative unter diffusem „Substanz“-Vorbehalt s. BVerGE 123, 267 ff. – Lissabonvertrag –; dazu kritisch Mi-

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transfer the Power of Making Laws to any other hands“, und Rousseau: „La Souver­ aineté est inaliénable“, Unverfügbares.42 Die Verfassungsidee der wirklichen Republik ist daher kritisch auf die vorhandene Deformation des Funktionengefüges zu beziehen. Sowohl der Verlust der Legislative an einen Regierungsmehrheitsdespotismus als auch die prinzipienund verfassungswidrige Selbstveräußerung an eine international-europäische Regierungsebene sind aufzuheben.

III  Die Judikative nach der Idee der Republik – und in ihrer Verformung In diesen Grundriss der Idee freiheitlichen Rechts, der seiner Allgemeingesetzlichkeit angemessenen, gewaltenteilenden Staatsform mit repräsentativ-demokratischer Legislative und deren Verformung im parlamentarischen System unter ­Bedingungen der Interventionsstaatlichkeit lässt sich nun die Judikative einordnen. Zu bestimmen ist also ihr Verhältnis zu den anderen Rechtsfunktionen nach der Idee der Republik und davon abzuheben die Deformationstendenz, die mit der gegenwärtigen Grundstruktur verbunden ist. Die Judikative ist nach der Idee der Republik der souveränen Legislative untergeordnet – sie hat einen Streit über die Anwendung des Gesetzes in dessen objektiv-unparteilicher Auslegung zu entscheiden. Dadurch bildet sich in der conclusio die gebotene Objektivität des gesamten Rechtskonkretisierungsvorgangs nach ­republikanischen Prinzipien in Gänze ab. Dass historisch der Übergang zum Rechtsstaat mit einem Herauslösen der Justizfunktion aus der zunächst noch absolutistischen (monarchischen) Regierung verbunden war, ist bezeichnend. Diese Unterscheidung von der Exekutive ist zuerst herauszustellen. Auch sie hat zwar Gesetzesanwendungsfunktion und sogar (als Regierung) untergesetzliche Regelungsfunktion (in Verordnungen, Dekreten), insofern die Gesetzgebung sich legitimerweise auf die freiheitsgesetzlich allgemeinen Regelungsgrundsätze beschränken sollte. Die Einzelfallregelung durch die Exekutive, etwa in Verfügungen, Verwaltungsakten, steht rechtslogisch ohnehin eher in Parallele zum gesetzlichen Handeln von Privatpersonen. Aber im Konfliktfall bedarf die Rechtsanwendung chael Köhler, Die Verfassungsstruktur des Europäischen Rechts, in: Festschrift für Ingeborg Puppe, 2011, S. 1461 ff., 1473 ff.; kritisch auch Florian Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung, 2005, S. 588 ff. 42 Vgl. Locke, (Fn. 7), Chap. 11, § 141, sanktioniert durch das Widerstandsrecht, Chap. 12, § 149, S. 362 f., 366 f.; Rousseau (Fn. 11), II, 1, S. 368; zum Begründungszusammenhang Köhler (Fn. 41), S. 1473 ff.

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auch hier, wie zwischen Privatpersonen, der richterlichen Streitentscheidung. Die objektive Allgemeingültigkeit des Gesetzes ist in der Fallentscheidung zu bewähren. In dieser Hinsicht rückt die Judikative der souveränen Legislative des Volkes am nächsten – unter dem Gesetz, über der Exekutive. Die Judikative verbindet in der Konkretisierung des Gesetzes sowohl das Moment der Besonderheit als auch den Gesetzeswillen aller, verknüpft also schlüssig Gesetzes- und Exekutivprinzipien. Sie hat im Interessenkonflikt zwischen Privatpersonen, im Gegensatz von exekutivischen Gestaltungsintentionen und betroffenem Bürger, im Fundamentalkonflikt zwischen Straftatverdacht verfolgendem Staat und verdächtigem Bürger, zwischen Anspruch auf Strafe und Täter die unparteiliche „Mitte“ zu halten. Darauf beruht ihre selbständige Legitimation und folglich das Erfordernis einer eigenständigen Repräsentationsform unter dem allgemeinen Rechtswillen des Volkes im Unterschied vor allem zur Exekutive (Regierung). Die entwickelte Stellung der Judikative ist mit „Unabhängigkeit“ umrissen, aber noch bestimmungsbedürftig. Nach geltendem Verfassungsrecht ist damit zunächst nur die persönliche und sachlich-funktionale Freiheit des gesetzlich zur Fallentscheidung berufenen Richters gemeint, im Letzteren gegen unmittelbare Eingriffe seitens anderer Funktionen („Machtsprüche“ der Regierung, „Lenkung“ der Rechtsprechung in totalitären Staaten, Interventionen seitens der Justizverwaltung, des Gerichtspräsidenten). Weitere Gehalte werden aus dem Grundsatz nicht abgeleitet, was dem methodologischen Reduktionismus entspricht: Die ­organisatorische Abhängigkeit von der Exekutive kann dann sogar als Element der „checks and balances“ eingeordnet werden.43 Indessen zwingt die entwickelte ­produktive repräsentationslogische Auslegung des Prinzips zu anderen kritischsystematischen Folgerungen. Die Selbständigkeit gegenüber den anderen Ge­ walten, insbesondere der Regierung, bezieht sich dann, unter dem Aspekt der ­Bewahrung vor prinzipwidrigen Deformationen, nicht nur auf die persönliche Amtsstellung und Fallbefassung der berufenen Richterpersonen. Vielmehr muss auch ihre Bestellung/Berufung in das Richteramt im Blick auf die Regelungsalternativen möglichst prinzipiengemäß geordnet werden. Institutionell muss also die Auswahl der Richterpersonen auf eine Weise repräsentativ sein, die der Nähe zur Gesetzesobjektivität möglichst entspricht, also nächst der Legislative selbständig auf den souveränen Rechtswillen der Bürger zurückgeht; sie darf also nicht durch eine der anderen abgeleiteten Rechtsfunktionen, vor allem nicht die Exekutive, mediatisiert sein. Montesquieus Option für die gesetzlich geregelte Ad-hoc-Berufung von Laien ist zwar angesichts der Differenzierung und Professionalisierung des modernen Rechts nicht verallgemeinerungsfähig, wenn auch für schwere 43 S. Schütz (Fn. 12), S. 126.

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­ riminalsachen durchaus noch gültig. Aber vor allem der Grundgedanke der K gänzlichen Objektivierung, Neutralisierung in Ausschöpfung des Rechtswillens aller Bürger ist alles andere als überholt. Die Federalist Papers haben Recht. Der Idee der repräsentativen Republik nach muss also auch die Berufung in das Richteramt nach einem eigenen Repräsentationsstrang auf den vereinten Rechtswillen des Volkes zurückgehen. Diese ideal entwickelte „Unabhängigkeit“/Selbständigkeit der Justiz steht freilich im systematischen Zusammenhang mit einer entsprechenden Repräsenta­ tionslogik der anderen Funktionen, vor allem mit einer wirklichen Souveränität und überlegenen Sachautorität der Legislative. Setzt doch die entfaltete, auch ­organisatorische und repräsentative Unabhängigkeit der Judikative ihre strikte Unterordnung unter die Legislative und das von ihr gegebene Gesetz voraus. Funktional oder methodologisch bleibt der Richter daher ganz auf seine Aufgabe unparteilich Streit entscheidender Konklusion verwiesen. Das Verbot der „Usurpation“ der anderen, legislativen Funktion hindert ihn daran, auf der praxislogischen Stufe der gesetzlichen Obersatzbildung zu agieren. Das ist durch die Sou­veränität der Legislative, ihr Sachprinzip und die sie darin allein legitimierende umfassend allgemeine Repräsentation der Bürger ausgeschlossen. Dagegen sind Repräsentationsform, Organisation und Verfahren der Justiz dem Sachprinzip der Gesetzgebung – der repräsentativen Bildung des allgemeinen Rechtswillens des Volkes – nicht angemessen. Dem umfassenden, gestuften Verfahren der Bildung des gesetzlichen Allgemeinwillens in „refining and enlarging“ (Madison) der praktischen Urteile kommt das richterliche Erkenntnisverfahren nicht gleich, insbesondere nicht in seiner Repräsentationsform. Auch insofern hat Montesquieu – auf dem Hintergrund eines anspruchsvollen, vorpositiv legitimierten Gesetzesbegriffs – grundsätzlich Recht. Zwar ist richtig, dass die Gesetzesauslegung methodologisch ein normatives Verfahren ist, das – im Hinblick auf die Fallbesonderheiten – den normativen Sinn des Obersatzes im Abgleich mit seiner bisherigen Auslegung konkretisierend ermittelt: ob beispielsweise das Einsteigen in ein Kraftfahrzeug und Einschalten der Beleuchtung schon als „Führen“ des Fahrzeugs anzusehen sind oder nicht. Aber dies geschieht bei Gebundenheit an das Gesetz auf der Ebene der gesetzlich bestimmten Begriffe (logisch: der Bedingung des Obersatzes) – im grundsätzlich klaren Unterschied zur Gesetzes- oder Rechtsanalogie: Hierbei tritt der „Rechtsanwender“ gleichsam neben das Gesetz und auf dieselbe normlogische Stufe, um in einem weiter gespannten Prinzipien- und Normkonkretisierungs­ verfahren über einen gesetzgebenden Schluss zu entscheiden.44 Dieser steht aber 44 Vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 241 ff. (zu Methoden der „Rechtsfortbildung“), 287 ff. („gesetzesübersteigende“, im Bemühen um Begren-

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grundsätzlich nur dem Gesetzgeber zu. Dass die Gesetzesanwendung kein „mechanisch“-formallogisches, sondern ein praktische Obersätze auslegendes, insofern normproduktives Schlussverfahren ist, bedeutet also nicht die Suspendierung der strikten Gesetzesgebundenheit. Montesquieu behält auch hier Recht, wenn er den Richter auf das (freiheitlich-republikanische) Gesetz als dessen „Mund“ festlegt. Gleiches gilt übrigens auch für die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit, soweit das Verfassungsgesetz selbst hinreichend bestimmte, auslegungsfähige Grundsätze enthält.45 Eine Methodenlehre, die zwischen Gesetzesauslegung und „übersteigenden“ analogen Verfahren der Obersatzbildung keinen wesentlichen Unterschied erkennen möchte oder wie die „Freirechtsschule“ die dogmatische oder richterliche „Entscheidung“ normativ auf dieselbe Stufe mit dem Gesetz stellt,46 geht fehl in der Sache: Sie hat als Normalfall schon akzeptiert, was nach der Idee der Republik und der Gewaltenunterscheidung allenfalls ein methodologischer Notfall sein dürfte oder aber die Faktizität einer die Funktionen konfundierenden Verfallsform der Republik widerspiegelt. Das Gesetz sinkt dann zu einer Rechtsquelle neben dem „Richterrecht“ herab; seine Begrenzungen werden nach Gutdünken des Rechtsanwenders überschritten. Dies muss als Stand der gegenwärtig herrschenden juristischen Methodenlehre konstatiert werden. „Richterliche Rechtsfortbildung“ wird zu einem eigenen Methodenzweig mit diffusen „Grenzen“. Dies ist freilich keine zufällige Entwicklung, sondern korrespondiert der Deformation der Legislative. Faktisch hat die analysierte widersprüchliche Struktur des Rechtsund Interventionsstaates der Justiz nicht nur in spektakulären Einzelfällen der Untätigkeit des Gesetzgebers (wie z. B. der Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Preisanpassung nach galoppierender Geldwertinflation), sondern in weiten Bereizung, aber diffus); weit gespannt in Auflösung der Gesetzesbindung Hans-Martin Paw­lows­ki, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, S. 207 ff.; kritisch zur juristischen Analogie und zu Rechtsfortbildungsmethoden unter Gesetzesvorbehalt s. A. W. Heinrich Langhein, Das Prinzip der Analogie als juristische Methode, 1992, S. 215 ff.; gründlichste Auseinandersetzung und Kritik, zentriert auf die Verfassungsrechtsmethodik von Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik I, 11. Aufl. 2013, bes. S. 115 ff., zur Bindung an den Normtext S. 132 ff., 142 ff., zur Kritik von „Richterrecht“ unter Verweis auf Art. 20 Abs. 3 GG, Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip. 45 Zu dieser Parallele für die richterliche Gesetzeskontrolle anhand der Verfassung vgl. Federalist Papers (Fn. 4), Art. Nr. 78 – Hamilton – , S. 457 ff.: „Eine Verfassung ist faktisch ein grundlegendes Gesetz und muß von den Richtern auch als solches betrachtet werden.“ S. noch nachfolgend; insbes. zur Gesetzesform der Verfassung Müller/Christensen (Fn. 44), S. 132. 46 Vgl. die kritische Darstellung bei Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 59 ff.; unkritisch mit dezisionistischer Tendenz hingegen Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 129 ff.

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chen eine „Selbständigkeit“ zugetragen, welche die eigentliche Funktion der Judikative überschreitet. Teils handelt es sich um Felder struktureller gesellschaftlicher Konflikte wie im Recht der Arbeitsverhältnisse und der kollektiven Arbeitsbeziehungen, in denen die Legislative (sich) „versagt“ und die Rechtsentwicklung den Konfliktparteien und der Gerichtsbarkeit „überlässt“, teils ist es auch anhaltende Säumnis und/oder Unfähigkeit zur ausgeglichenen Regelung von regelungsbedürftigen Fragen, welche es den Gerichten geboten erscheinen lassen oder sie veranlassen, die gesetzesgleiche Regelung im Wege des „Richterrechts“ zu übernehmen. Selbst im Strafprozessrecht, das der Gesetzes- und Formenstrenge besonders bedürftig ist, haben die Gerichte die Funktion des Gesetzgebers usurpiert: So haben sie neue Erledigungsformen wie die „Urteilsabsprache“ (deal), übrigens im krassen Widerspruch zu fundamentalen gesetzlichen Maximen des Strafverfahrens, selbst erfunden47 oder Verfahrensrechte über die gesetzlichen Voraussetzungen hinaus beschnitten (z.  B. mit der Befristung des Beweisantragsrechtes).48 Nicht in erster Linie in Frage steht, ob es dafür Sachgründe gibt, sondern welche der Gewalten nach der Idee der Republik und nach geltendem Verfassungsrecht zur Gesetzgebung berufen ist – mit Gewissheit nicht die Judikative. Diese „Usurpation“ verbindet sich nicht selten mit einem bloß noch „selbstreferentiellen“ „Begründungs“-Stil, der einem Machtspruch ähnlich ist. Die unbedingt geforderte Unterordnung unter das Gesetz als legitimierende Bedingung der Objektivität richterlicher Entscheidung und ihrer vom Gewaltenteilungsgrundsatz an sich gebotenen „unabhängigen“ Stellung ist also gegenwärtig nicht gewahrt. Insofern handelt es sich um eine veritable „Usurpation“ von Legislativfunktionen durch die „Judikative“. Dass dieser Verselbständigungsprozess der Judikative im Ausgriff auf die Gesetzgebung mit der Grundstrukturkrise, mit der zu Partikularkonzepten tendierenden Verknüpfung von Legislative und Regierung, mit dem Verlust prinzipienorientierter Gesetzesallgemeinheit zusammenhängt, dafür gibt es Anhaltspunkte, ohne dass hier indessen ein empirisch breit angelegter Aufweis erfolgen könnte. So sind die kritisierten Beispiele aus dem Strafprozessrecht auf dem Hintergrund einer krisenhaften Kriminalitätsentwick47 Zur Geschichte und Kritik eingehend und vorzüglich Michael Hettinger, Die Absprache im Strafverfahren als rechtsstaatliches Problem, in: JZ 2011, S. 292 ff.; seit dem Jahre 2009 ist der deal gesetzlich geregelt (§ 257c StPO), was die Sache nicht besser macht: Der Gesetzgeber sanktioniert einen schweren Rechtsbruch der Strafjustiz, die weithin das unverfügbare Gebot gleichmäßiger Straftatklärung und -aburteilung zugunsten einer „Zwei-Klassen-Justiz“ aufgegeben hat. Das BVerfG (E 133, 168 ff.) reagiert unentschlossen; treffend kritische Anm. von Fezer HRRS 2013, S. 117 ff. 48 Vgl. gegen § 246 StPO BGHSt 52, 355 ff.; zwingende methodologische Kritik von Fezer HRRS 2009, S. 17 ff.

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lung besonders auch mit großem und wachsendem Verfahrensaufwand (z. B. im Felde der sog. Wirtschaftskriminalität) zu sehen, was eigentlich eine gründliche Verfahrensreform erfordert, der sich aber die Legislative seit langem versagt. Der „Aufstieg der richterlichen Gewalt“49 gipfelt in der Institution des Bundesverfassungsgerichts mit seinen weit reichenden und weit interpretierten Kompetenzen der verfassungsrechtlichen Gesetzeskontrolle insbesondere auf Richtervorlage und Verfassungsbeschwerde hin. Er ist selbst ambivalent. Einesteils erscheint er als notwendiges Gegengewicht gegen den „Übermut der Ämter“, namentlich eines durch das parlamentarische Regierungssystem, Verhältniswahlrecht und Parteienmediatisierung der Abgeordneten vom eigentlichen Souverän abgekoppelten Gesetzgebungsverfahrens, dessen analysierte interventionsstaatliche Interessen- und Zweckparadigmen nicht selten die grundrechtlichen Gewährleistungen zur Disposition stellen. Insofern kann von einem Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und demokratischer Mehrheitsherrschaft die Rede sein,50 aber eigentlich nur zu deren Deformation im geltenden Regierungssystem. Dagegen insbesondere mittels Verfassungsbeschwerde als Bürger sich wenden und in „Karlsruhe“ gehört werden zu können, ist eine Teilrückerstattung des in der deformierten Republik weitgehend entzogenen Bürgerstatus. Methodologisch handelt es sich insoweit auch um Rechtsprechung ihrem Begriff nach, als die Verfassung (das „Grundgesetz“) auslegungsfähige Grundsätze, z. B. grundrechtliche Zuweisungsgehalte regelt, deren Einhaltung/Verletzung durch ein Gesetz bestimmt beurteilt werden kann. Freilich bleibt das Gericht strikt auf die negatorische Feststellung (Verwerfung) der Prinzipienverletzung beschränkt. Anderenteils wird aber diese Grenze nicht selten überschritten. Es realisiert sich die Gefahr der „Usurpation“ der Legislativfunktion durch die „Judikative“ – mit den Elementen einer methodologisch ungebundenen Kontrolldichte, weiterer Schwächung der Legislative, einer systemischen Überforderung darin, was die Judikative zu leisten vermag und berufen ist. Dies gipfelt in der Anmaßung, der „Legislative“ Gesetzgebungsprogramme vorzuschreiben und dabei nicht selten nach methodologisch ungesichertem Gutdünken zu entscheiden (um nicht zu sagen: Gesetzesregeln 49 Weber (Fn. 4), S. 189 ff.; vgl. zur Analyse Forsthoff (Fn. 46), S. 126, 134 ff.; Lerche (Fn. 12), S. 87 ff.; Fritz Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, hrsg. von Peter Badura und Horst Dreier, Bd. 1, 2001, S. 33 ff.; Soldan (Fn. 24); Horst Risse, Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Magiera/Sommermann (Fn.  37), S.  15 ff.; gründlichste Kritik von Müller/Christensen (Fn. 44), bes. S. 138 ff. (Richterrecht). 50 Wiegand/Zabel (Fn. 27), S. 99; zutreffend Ossenbühl (Fn. 49), S. 33: „Logik des Verfassungsstaates“; s. a. theoriegeschichtlich zur Kontroverse C. Schmitt – Hans Kelsen, Soldan (Fn. 24), S. 9 ff.

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einfach zu erfinden).51 Das geschieht etwa bei konkretisierungsoffenen Grundrechtsmomenten institutioneller Art, auch bei der gesetzesbezogenen Konkretisierung des Gleichheitsgrundsatzes, dessen Maßstäbe im jeweiligen Normanwendungsfeld erst zu bestimmen sind. Das Verfassungsgesetz ist nicht ein in der Weise systematisch geschlossenes Obersatzgefüge, dass die Beurteilung der Gesetze der gesamten sich komplex entwickelnden Gesellschaft im Wege hermeneutischer Auslegung umfassend möglich wäre. Vielmehr erfordert es hochstufige, produktive Prinzipienkonkretisierung freiheitlichen Rechts, namentlich recht offener grundrechtlicher Gewährleistungen nach Bestimmungs-, Erwerbs-, Eingriffsrechtfertigungsgründen. So sind etwa der allgemeine Gleichheitssatz und der sog. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Bestimmung von konfligierenden Grundrechtsansprüchen offene Topoi der erst zu leistenden prinzipiellen Regelung auf der Ebene allgemeiner Gesetze. Um Judikative eigentlichen Sinnes handelt es sich dabei nicht mehr; es ist vielmehr Sache des Gesetzgebers. Dass die Normenkon­ trollentscheidung des Verfassungsgerichts von der Feststellung der Prinzipien­ verletzung in die eigentliche Bestimmungsaufgabe der Gesetzgebung übergeht, ist schon wiederholt kritisiert worden. In der Tat vollzieht sich eine Verkehrung: Die Judikative erlässt Gesetzesbestimmungen als „Machtsprüche“ unter dem Schirm „richterlicher Unabhängigkeit“. Zieht man die ganze Breite der hoch differenzierten modernen Rechtsordnung in Betracht, welche die an sich legitime Normenkontrollfunktion umfasst, so übernimmt sich das Gericht mit jenem Übergriff heillos. Die Kritik an der „richterlichen Rechtsfortbildung“ als weithin üblicher Methode, an einer offene Verfassungsprinzipien zu Gesetzesprogrammen verdichtenden Verfassungsgerichtsbarkeit darf die im Verhältnis zur Legislative liegenden Gründe nicht aus dem Auge verlieren. Repräsentationslogisch gibt es keinen Grund, die eigentlich gesetzgebende Entscheidung von acht Richterpersonen im Verhältnis der verfassungsmäßigen Legislative als legitim anzuerkennen. Ein konsistent entwickelter Gewaltenteilungsgrundsatz, bezogen auf die Staatsform der repräsentativen Demokratie, steht dem entgegen. Einerseits ist herauszustellen, dass es sich um eine in der gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Grundstruktur liegende Verwerfung im Funktionengefüge handelt, die sich vor allem an der Legislative im parlamentarischen System, verbunden mit einem dramatischen Autoritätsverfall, vollzogen hat. Insofern mag man, was das Einrücken der Justiz in die „Leerstelle“ angeht, von einer systemischen Dauer-„Notkompetenz“ spre51 Beispiele bei Ossenbühl (Fn. 49), S. 42 ff.: Praeceptor legislatoris, Ersatzgesetzgeber insbes. bei verfassungskonformer Auslegung, vorgreifende Rechtsfortbildung, Schaffung von Kontrollmaßstäben; s. auch Risse (Fn. 49); zu großzügig Lerche (Fn. 12).

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chen. Andererseits legt der zugleich auf der Grundstrukturanalyse beruhende Befund eine systemische (Selbst-)Überforderung der Judikative nahe, die nicht allzu lange „gut gehen“ kann. Denn der Logik der republikanischen Gewaltenteilung ist auch in ihrer gravierenden Deformation, wie sie mit dem parlamentarischen Legislativ- und Regierungssystem anhebt, nicht zu entgehen. Richtigerweise ist die wirklich-repräsentative, die Freiheitsverhältnisse gerecht regelnde Allgemeinheit des Gesetzes die Voraussetzung des gerichtlichen Rechtsschutzes, institutionell: der richterlichen Unabhängigkeit in der entfalteten Repräsentationsform gegenüber den an Partikularzwecken orientierten Teilregelungen. Deshalb gilt aber auch der gegensätzliche Strukturzusammenhang der Deformation. Der repräsentationsbegriffliche und funktional-organisatorische Absolutismus der funktional, personell und institutionell miteinander verflochtenen Legislative und der Regierung hebt in der Grundtendenz auch die Judikative auf. Der optimistische Verweis auf die verbleibende Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung52 überzeugt letztlich nicht. Er setzt unausgesprochen eine ebenso totale Gerichtsbarkeit nach dem Vorbild des Bundesverfassungsgerichts voraus. Sachlich verliert diese aber ihren Halt, wenn die Behauptung zutrifft, kategorisch allgemeine Prinzipien – die Gesetzesallgemeinheit – seien obsolet. Jedenfalls aber bleibt in institutioneller Hinsicht ein wesentlicher Zusammenhang zu bedenken. Die Gerichtsbarkeit ist eigentlich kein Machtfaktor, sondern beruht auf der Autorität des Gesetzes, über dessen Auslegung und Anwendung sie in unparteilich-objektiver conclusio entscheidet. Je mehr sie aber in Gefahr gerät, nicht bloß als neutrale ­Instanz die Geltung allgemeiner Verfassungsprinzipien und Gesetze einzufordern, sondern in komplexen Verhältniserwägungen gestaltend/anweisend analoge ­Gesetzesbestimmungen oder gar Gesetzesprogramme selbst zu entwerfen – wie dies an der Praxis des BVerfGs besonders hervortritt – desto mehr wird sie als politische Macht begriffen und in den machtpolitischen Prozess (insbesondere vermittels der Auswahl der Richterpersonen) hineingezogen. Was die Justiz insgesamt angeht, kommt dem ihre traditionell ungesichert-prekäre organisatorische Stellung, ihre Abhängigkeit besonders von der Regierung entgegen. Der Prozess könnte sich verstärken, zumal unter den repräsentationslogisch fragwürdigen, undurchsichtigen Verfahren der Richterernennung. Die Parteinähe wird bei der Besetzung hoher Richterämter zunehmend eine Rolle spielen. Die versuchte und vollzogene Berufung von (aus Regierungsämtern abgedankten) Parteipolitikern zu Richtern am BVerfG, deren besondere Amtswürdigkeit sonst kein Kundiger 52 Vgl. Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Die Allgemeinheit des Gesetzes, hrsg. von Christian Starck, 1987, S. 9 ff. („vollparlamentarisiertes System mit Grundrechtsschutz“).

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annehmen würde, ist ein Menetekel.53 A la longue könnte auch die Judikative dadurch den eigentlichen Boden der Gerichtsbarkeit  – das allgemeine Gesetz  – immer mehr unter den Füßen verlieren.

IV  Stichworte zur Reform der republikanischen Gewalteneinteilung Die Frage betrifft die Justiz nicht isoliert. Das Hauptproblem ist die Stellung der Legislative im parlamentarischen Regierungssystem, deren Mediatisierung durch Parteioligarchien den Repräsentationszusammenhang mit dem eigentlichen Souverän – dem Volk (nicht: der Bevölkerung) – entscheidend schwächt und zu einer Deformation führt, die sich in mangelnder Qualität und Problemlösungskompetenz mit entsprechendem Autoritätsverlust niederschlägt. Durch einen zum Absolutismus tendierenden Gewaltenverbund Regierung/Legislativmehrheit wird die rechtsstaatliche Kontrollfunktion der Judikative zwar besonders gefordert, zugleich aber überfordert; letztlich wird auch die Stellung der Judikative in der republikanischen Gewaltenteilung deformiert und instabil. Folglich ist die Gesamtarchitektur der Rechtsfunktionen neu zu ordnen. Dazu können hier nur – resümierend – Ansätze benannt werden. In der gegenwärtigen Problemlage ist die Alternative der „wahren Republik“ offen. Wie kann wirkliche Gesetzesallgemeinheit – gegen die Fragmentierung ­gesellschaftlicher Interessen, gegen den „Absolutismus“ von Verbands- und Parteigruppierungen in ihrem Einfluss auf Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung – organisiert werden? Wie kann sie gegen die Usurpation durch Parteien- und Regierungsübermacht, durch das Verfassungsgericht und gegen Veräußerung an Dritte behauptet werden? Die Berufung auf die rechtsstaatliche Justizkontrolle wurde bereits als zu kurz gegriffen kritisiert.54 Der Begriff des allgemeinen Rechtsgesetzes, der Gewaltenteilungsgrundsatz und die Repräsentationsform insbesondere der Legislative stehen vielmehr im Begründungszusammenhang. Entscheidend bleibt die Form der Legislative  – ihre repräsentative Ausrichtung auf 53 Vgl. zu dieser Gefahr Soldan (Fn. 24), S. 12 ff., 32 ff. – Im Fallbezug verbinden sich damit unterscheidende persönliche Einschätzungen, die hier nicht entwickelt und mit Namen verbunden werden können. Was den Maßstab angeht, sei positiv beispielhaft nur herausgestellt die von unzweifelhaft hervorragender Amtswürdigkeit beglaubigte Berufung von Ernst Benda (der zuvor Anwalt, aber auch profilierter Abgeordneter und Minister war) zum Richter am BVerfG, dann auch zu seinem Präsidenten. 54 Vgl. die zutreffende Einforderung des Demokratieprinzips bei Wiegand/Zabel (Fn. 26), S. 99 ff.

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kategorisch-inhaltliche Gesetzesallgemeinheit. Inhaltlich ist damit freilich auf eine Reform verwiesen, welche die Gründe für die Dominanz des Interventions­ staates behebt, also die privat- und erwerbsrechtlich gespaltene Gesellschaft in Gerechtigkeitsprinzipien aufhebt. Beides verhält sich komplementär zueinander. „Theoriestrategisch“ formuliert: dem Parlamentarismusdefätismus eines Teils der Staatsrechtsdoktrin kann man nur begegnen, wenn man sich einer freiheitlichen Institutionentheorie (in der Linie Locke, Rousseau, Kant, the Federalists) und ihrer erwerbsrechtlich-gesellschaftlichen Bedingungen gegenüber einer – unfreiheitlichen – Teleologik, Systemtheorie, Diskurstotalität bewusst ist. Dem Gewaltenteilungsgrundsatz bleibt die grundlegende Bedeutung, die selbständige Funktion und Verfasstheit der Gewalten um ihres Sachprinzips ­willen zu wahren. So legt er vor allem die Legislative, als in der Handlungs- und Repräsentationsform unterschieden von der Regierung, auf ihr Prinzip  – das ­kategorisch allgemeine Gesetz – fest. Das spricht entscheidend gegen die Deformation der Legislative durch das parlamentarische Regierungssystem. Die selbständige Repräsentationsform (Auswahl) der Legislative einerseits und der Regierungsspitze andererseits entspricht der Wahrung des jeweiligen Sachprinzips besser als die Vermengung von Regierung und Legislativmehrheit. Die notwendige institutionelle Trennung kann auf Dauer weder durch eine die Exekutive prägende Beamtentugend55 noch durch die vom „Juristenstand“ und seinem fach­ lichen Ethos getragene Judikative ersetzt werden. Die analysierte „Aufhebung“ des Demokratieprinzips durch Rechtsstaat und Verfassungsgerichtsbarkeit56 ist in der jetzigen Lage des parlamentarischen Regierungssystems einer gespaltenen Gesellschaft nur eine Notlösung – und nicht einmal eine aussichtsreiche, bedenkt man die systemische Destabilisierung auch der Justiz. Sub specie der vorausgesetzten Verknüpfung des Rechts menschenrechtlicher und privatrechtlich-gesellschaftlicher Freiheit (die Elemente der Teilhabe einschließt) und des allgemeinen Gesetzes muss sodann das repräsentativ-demokratische Element der republikanischen Verfassung restituiert werden. Es bedarf der klar durchgeführten Gewaltenrepräsentation und wirksamen Rückbindung der Repräsentanten (Abgeordneten) an das Allgemeininteresse – unverzichtbar, um die konkrete Freiheit in der Besonderheit, mithin wirkliche Gesetzesallgemeinheit zu gewährleisten. Aufzunehmen ist also der Grundbegriff rechtspflichtiger Selbstrepräsentation im Gegensatz zur Fremdrepräsentation. Er impliziert eine pflichtige Selbstdistanzierung – von sich als empirisch-interessegeleitetem Subjekt, wodurch eine erweiternde Verbindung mit den anderen Bürgern gelingen kann. 55 In dieser Richtung Weber (Fn. 4). 56 Vgl. Wiegand/Zabel (Fn. 26), S. 73 ff., 99 ff.

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Auf die Konkretisierung des freiheitlichen Rechtsprinzips bezogen, liegt darin zugleich eine Leistung der bestimmenden wie der reflektierenden, die umfassendere Gesetzesallgemeinheit aufsuchenden praktischen Urteilskraft.57 Dem entspricht der Repräsentationsbegriff der amerikanischen Verfassung, wie ihn James Madison in den Federalist Papers formulierte.58 Gegenüber der zirkulären Hoffnung auf aufgeklärte Staatsmänner und gegen die an gewisse traditionelle Voraussetzungen eines überschaubaren Staates gebundene unmittelbare Demokratie begründet dieser Repräsentationsbegriff auch die parlamentarische Repräsentation durch persönlich verantwortliche Abgeordnete des Volkes als Rechts-Pflicht-Verhältnis. Das normative Moment einer Abklärung und Erweiterung („refining and enlar­ ging“) der praktisch-politischen Urteile in der pluralen Gesellschaft lässt deren Interessenvielfalt (insofern gegen Montesquieu und Rousseau) nicht etwa zum Hinderungsgrund für eine Republik, sondern zur Stärke des politischen Systems werden.59 Ausgeschlossen ist daher zwar ein imperatives Mandat. Aber im Gegensatz zur teleologischen Vorstellung von („virtueller“) Repräsentation, die sich als bloß moralisch gebunden versteht – und ganz andere Verbindlichkeiten zu Interessenten, Verbänden, Parteien verschleiern mag – wird die mittelbare Repräsentation als treuhänderische Delegation aufgefasst, die in kontrollierter Verantwortlichkeit stetig an die Bürger-Gesellschaft rückgebunden bleibt. Das begründet schon bei den Federalists Überlegungen zur Präferenz der Persönlichkeitswahl, zur Größe von Wahlkreisen, zur relativen Kürze der Wahlperiode und zur bundesstaatlichen Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen – all dies Legitimitätsmomente, deren Entferntheit vom gegenwärtigen verfassungspolitischen Diskurs dem analysierten Verfall entspricht.60 Die republikanische Verfassung beruht aber 57 S. Kant, Kritik der Urteilskraft, Einl. IV, AA V, S. 178 ff.; §§ 40, 60, AA V, S. 292 ff., 355: Gemeinsinn, „Erweiterung und Verfeinerung“ praktisch-politischen Urteilens; zur vermittelten Repräsentationsstruktur s. Kant (Fn. 2), § 52, AA VI, S. 341; ders., Frieden (Fn. 16), AA VIII, S. 351 f.; eingehend Benedikt Haller, Repräsentation. Von der hierarchischen Gesellschaft zum demokratischen Verfassungsstaat, 1987, S.  193 ff. (Verbindungslinie zu Hume und den Federalists). 58 Vgl. Federalist Papers (Fn. 4) Art. Nr. 10, 52 – Madison –, S. 93 ff., 323 ff.; dazu Haller (Fn. 57), S. 128 ff.; verfassungspolitisch Fraenkel (Fn. 33), S. 330, 348 ff. 59 Vgl. bereits David Hume, Idee einer vollkommenen Republik, in: ders., Politische und ökonomische Essays, Teilbd. 2, 1988, S. 339, 355; dort bereits auch die von Madison verwendete „Erweiterungs“-Formel. 60 Für den gegensätzlichen Willen der Parteien, sich vom eigentlichen Souverän unabhängig zu machen, spricht auch die selbst ermächtigende Verlängerung der Wahlperioden von 4  auf 5 Jahre, für die Nichternstnahme des Bürgerrechts seine Verleihung an 16-Jährige, trotz deren mangelnder Reife (und im Widerspruch zur mangelnden privatrechtlichen ­Geschäftsfähigkeit).

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auf der Wirklichkeit einer bürgerlichen Selbständigkeit, die sich ihrer reflektierenden praktischen Urteilskraft gewiss ist, aus den besonderen Verhältnissen das Allgemeingültige zu konkretisieren.61 Eine eigentliche Reform müsste also primär das parlamentarische Regierungssystem betreffen, mithin die Legislative institutionell und im Repräsentationsweg von der Regierung (Exekutive) trennen. Substantiell zu verändern ist vor allem die Berufung (Wahl) der Abgeordneten nach einem gehaltvollen Begriff bürgerlicher Selbstrepräsentation mittels Abgeordneter, die in persönlicher ­Verantwortungsbeziehung zu den Bürgern stehen. Zurückzukehren ist also zu einem Modus der Abgeordnetenwahl in nicht zu großen Wahlkreisen ausschließlich nach dem Mehrheitswahlsystem, für eine nicht zu lange Wahlperiode (höchstens 4 Jahre), mit der Möglichkeit einer qualifizierten Abberufung (recall) und ansonsten freiem Mandat – verbunden mit einer Organisation der Legislative, die sich auf materiell-allgemeine Gesetze substantiell allgemeiner Interessen im dargelegten Sinne beschränkt, daher auch einen nicht beruflichen Abgeordnetenstatus parallel zu einer beibehaltenen gesellschaftlichen Tätigkeit ermöglicht. Die Qualität einer durch die selbständig legitimierte (gewählte) Regierung mit-initiierten und beratenen Gesetzgebung, getragen von unabhängigen Persönlichkeiten und Qualitäten, geschöpft aus dem gesamten gesellschaftlichen Potential, wird unter diesen Voraussetzungen beträchtlich zunehmen und der der Legislative zustehenden Souveränität (höchsten Rechtsmacht) inhaltliches Gewicht geben. Die Souveränität in der Gesetzgebung eigentlichen Sinnes, nach unverfügbaren vorpositiven Grundsätzen unveräußerlich wie die rechtliche Freiheit selbst, ist auch im Verhältnis zur europäischen Union der Republiken wiederzugewinnen.62 Dies müsste geschehen weniger durch Rückführung von Kompetenzen als vielmehr durch europäisch-verfassungsrechtliche Regularien, die in Fragen der Rechtskoordination mit substantiell-allgemeingesetzlicher Freiheitsbedeutung generell eine Majorisierung ausschließen – zumindest müssen schon geltende Normen, die bei erklärter Grundsatzbetroffenheit eines Mitgliedstaates den Mehrheitsgrundsatz suspendieren (Art. 83 Abs. 3 AEUV), verallgemeinert werden.63 Die Justiz wird sich dann wieder auf ihre ureigene Grundfunktion beschränken können – die Objektivität des gesetzlichen, auch verfassungsrechtlichen All61 Vgl. Tocqueville (Fn. 10), Bd. 1, S. 73 ff. 62 Vgl. Friedrich Schiller: Wilhelm Tell, II/2: „Kein Kaiser kann was unser ist verschenken. Und wird uns Recht versagt vom Reich, wir können in unsern Bergen auch des Reichs entbehren.“ 63 Vgl. methodisch Köhler (Fn. 41), S. 1483 ff.

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gemeinwillens im konkreten Streitfall zur Geltung zu bringen. Was dies methodologisch erfordert, wurde bereits umrissen. Ein „Richterrecht“ neben dem Gesetz gehört jedenfalls nicht dazu. Richterliche Rechtsfortbildung praeter legem darf nur der extreme, methodisch strikt begrenzte Ausnahmefall unter Entscheidungsnotwendigkeit sein. Die Stellung des Verfassungsgerichts, das mit seiner ausgedehnten Kompetenz zur Normenkontrolle in besonderer Gefahr der Grenzüberschreitung zu Gesetzesprogrammen nach methodologisch ungesichertem Gutdünken steht, ist gesondert zu bedenken. Gewiss wird es wieder strikt auf die (negatorische) Verwerfungskompetenz bei eindeutigen Prinzipienverletzungen und die dafür tragenden Verfassungsgesetzesgründe zu beschränken sein. Eigene Gesetzeskonkretisierung ist ihm, abgesehen von vorläufig notwendigen Anordnungen, verboten. – Die „Unabhängigkeit“ der Justiz gilt nur unter dem Gesetz. So aber muss sie gesichert werden durch eine ihrer eigenen repräsentativen Legitimation angemessene Teilverfassung und eine relativ eigenständige Justizorganisation. Insofern besteht eine Konstitutionalisierungspflicht, die den Gesetzgeber trifft. Grundelemente könnten sein: Der Grundidee Montesquieus sollte man sich (gelöst von zeitgebundenen Formen) wieder annähern, teils durch eine Rückkehr zu weiter ausgedehnter Laienbeteiligung jedenfalls in schweren Kriminalsachen, teils durch begrenzte Amtsperioden der Berufsrichter und durch regelmäßigen Wechsel in der Verwendungsweise quer durch das Gesamtfeld der Gerichtsbar­ keiten (Rotation). Das Auswahlverfahren muss die Erfordernisse der fachlichen Befähigung und der persönlichen Amtswürdigkeit als Repräsentantinnen und ­Repräsentanten des konkreten, objektiv-gesetzlichen Allgemeinwillens nächst der Legislative gewährleisten. Die erforderliche Integration von Gesichtspunkten fachlicher Qualifikation und der Repräsentation des Rechtswillens der Gesamtheit widerstreitet einer Dominanz zumal der Regierung in der Richterauswahl; aber auch eine Selbstergänzung der Richterschaft verbietet sich, würde sich damit doch die dritte Gewalt zu einer Art von „Stand“ verfestigen. Da eine Wahl durch das Volk unpraktikabel ist, müsste die möglichste Unabhängigkeit der Richter­ berufung von den anderen Gewalten durch deren Zusammenwirken gesichert werden. Das ist hier nicht weiter zu konkretisieren.64 Montesquieus Grund­ gedanke sollte sich auch hier fortsetzen in regelhaften Vorkehrungen gegen jede 64 Zur Möglichkeit von Richterwahlausschüssen s. Art. 98 Abs. 4 GG; die Federalist Papers (Fn. 4), Art. Nr. 76 ff. – Hamilton –, S. 454 ff., enthalten auch hier sachnahe Überlegungen insbes. zur Ernennung der Richter durch die Regierungsspitze (Präsident) mit Bestätigung durch die Legislativkörperschaft (Senat); dazu Beatrice Brunhöber, Die Erfindung „demokratischer Repräsentation“ in den Federalist Papers, 2010, S. 181 ff. Zum Problem der Verfassungsrichter-Auswahl s. Sodan (Fn. 24), S. 12 ff., 32 ff.

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Form der Partikularisierung, zwingt doch das Objektivitätsprinzip der Justiz zur Aufhebung aller Schranken des Standes, der „Klassen“, Schichten – nicht zuletzt der mangelnden Lebenserfahrung.65

65 Es ist unhaltbar, dass lebensunerfahrene Jungjuristen über andere Bürger zu Gericht sitzen. Das Richteramt sollte zwingend eine gewisse Lebenserfahrung in gesellschaftlichen Zusammenhängen, jedenfalls ein höheres Lebensalter voraussetzen. – Dazu: Verf. stellte sich nach bestandenem 2. Staatsexamen und vor dem anstehenden Rigorosum im Promotionsverfahren an der Heidelberger Juristenfakultät (Betreuer der Diss. Götz Landwehr) dem Mitglied der Prüfungskommission, dem hoch verehrten Strafrechtslehrer Wilhelm Gallas, vor. Verf. war damals 27 Jahre alt und wusste nicht viel vom wirklichen Leben. In seiner wohlwollenden, aber zurückhaltenden Gesprächsführung fragte Gallas schließlich, was denn Verf. beruflich werden wolle. Verf. antwortete: „Richter“. Gallas schaute kurz auf und bemerkte trocken: „Sie haben aber Mut“. Die darin liegende, auch institutionelle Kritik hat Verf. ­damals nicht verstanden, was ihre Richtigkeit nur bestätigt.

Rechtsstaat – Richterstaat Von Evelyn Haas

I Rechtsstaatlichkeit 1  Rechtsstaatselemente im Grundgesetz Ein Blick ins Gesetz erleichtert bekanntlich die Rechtsfindung. Ein alter Juristenspruch. Aber was zeigt der Blick ins Grundgesetz, wenn wir nach dem Strukturprinzip Rechtsstaat im Text suchen? Art. 20 Abs. 1 GG, der die Aufzählung der den Staat bestimmenden Strukturprinzipien enthält, schweigt sich dazu aus. Dort heißt es kurz und bündig: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Kein Wort vom Rechtsstaat. Und doch: Das Grundgesetz ist von der Rechtsstaatlichkeit des mit der Verfassung geschaffenen ganzen Staatswesens durchdrungen. Denn aus der Tatsache, dass der Begriff sich immerhin in Art. 28 Abs. 1 GG findet, der die Länderstruktur, maßgeblich aber die Rechte der Gemeinden formuliert, lässt sich keineswegs der Schluss ziehen, dass Rechtsstaatlichkeit ein allein die Länder der Bundesrepublik Deutschland bestimmendes Strukturprinzip ist. Sieht man die Einzelbestimmungen rechtsstaatlicher Anforderungen, die sich im Grundgesetz verstreut finden, im Zusammenhang, so vollenden sich diese zu einem den Bundesstaat beherrschenden Element von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung. So nimmt bereits Art. 20 Abs. 3 GG mit seiner Bestimmung, dass die Gesetzgebung an die verfassungsgemäße Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind, Kernelemente des Rechtsstaats­ prinzips auf. Zum Urgestein des Rechtsstaats rechnen wir die Rechtsbindung allen staatlichen Tuns. Die Pflicht des Staates zur Justizgewährung in zivilrechtlichen Streitigkeiten binden wir in diese Vorschrift ein. Art. 19 Abs. 4 GG regelt hingegen mit deutlichen Worten die Justizgewährung im Falle, dass jemand von der öffentlichen Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Dem Rechtsunterworfenen steht der Rechtsweg offen; fehlt es an einer besonderen Zuständigkeit im gegebenen Falle, so ist die Zivilgerichtsbarkeit zuständig. Niemand soll ohne Rechtsschutz bleiben. Rechtsschutz soll durch unabhängige, nur an das Gesetz gebundene Richter gewährt werden (Art. 97 Abs. 1 GG). Zu den hier zu nennenden Essentialia ist auch das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht auf den gesetzlichen Richter

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(Art. 101 Abs. 1 GG) hervorzuheben, das Verbot der Sondergerichte. Zu den elementaren Rechten der in einem Prozess Verfahrensbeteiligten – ein Recht mit langer Tradition – gehört auch der verfassungsrechtlich verbürgte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Das Rechtstaatsprinzip erfährt durch eine Vielzahl weiterer Einzelbestimmungen seine Arrondierung; darauf soll hier jedoch nicht eingegangen werden. Grundsätze wie der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs oder das Recht auf den gesetzlichen Richter haben, wie andere rechtsstaatliche Grundsätze auch, durch die Rechtsprechung der Fachgerichte, in Sonderheit aber durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ihren ganz eigenen Gehalt erhalten. Beide grundrechtsähnliche Verfahrensrechte sind in hohem Maße ausdifferenziert worden. Nur wer die Rechtsprechung kennt, kann noch das Maß des verfassungsrechtlich gewährten oder von Verfassungswegen zu gewährenden Schutzes erkennen. So ist beispielsweise der gesetzliche Richter nicht etwa nur der Richter einer bestimmten Fachgerichtsbarkeit. Nein, er ist der Richter einer örtlich und sachlich vorgegebenen Fachgerichtsbarkeit, ein Richter eines vor Eingang des Falles zur Behandlung desselben vorbestimmten Spruchkörpers; auf weitere Feinheiten soll hier verzichtet werden. Deutlich wird dadurch bereits, was Rechtsstaatlichkeit alles zu bewirken vermag.

2  Historische Wurzeln Nicht von ungefähr liegt ein Schwergewicht der rechtsstaatlichen Gewährleistungen auf den judiziellen Bestimmungen. Dies ist der Kernbestand der hergebrachten Idee der Rechtsstaatlichkeit. In Ansätzen finden wir sie in vielen alten Kulturen. Für das erste deutsche Reich finden sich schon früh erste entsprechende Regelungen; von Gneist meinte, rechtsstaatliche Bestrebungen sogar schon in karolingischer Zeit erkennen zu können.1 Der Blick auf eine lange Tradition rechtsstaatlichen Gedankenguts, ohne dass der Begriff als solcher schon Verwendung gefunden hätte, erklärt wohl auch, weshalb der Verfassungsgeber letztlich dann doch keine Notwendigkeit für eine schriftliche Fixierung des Prinzips in Art. 20 Abs. 1 GG, wie zeitweilig beabsichtigt, gesehen hat.2

1 Rudolf von Gneist, Der Rechtsstaat, 1872, S. 39 ff. 2 Anders als im Erstentwurf des Abgeordneten v. Mangoldt (Text eines Art. 21) wurde der Begriff Rechtsstaat in den Text des Art. 20 des Grundgesetzes nicht eingefügt; JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 195.

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Die Idee des Rechtsstaats ist, worauf oben bereits hingewiesen wurde, sehr viel älter als der Begriff. Auch war der Gehalt je nach der Zeit, die wir in den Blick nehmen, ein unterschiedlicher. Lebensnotwendigkeiten und Lebensgegeben­ heiten, das Verständnis von Recht und Gerechtigkeit wandeln sich im Laufe der Zeiten. So genoss in vergangenen Zeiten die Notwendigkeit der Erhaltung des inneren Friedens für die Untertanen oberste Priorität. Staatliche Friedensdurchsetzung, Gewährleistung innerer Sicherheit statt Selbsthilfe – das waren die drängendsten Probleme, die einer staatlichen Lösung harrten. Nun mögen zwar uns Zeitgenossen die der Neuzeit vorausliegenden Jahrhunderte in Deutschland dunkel erscheinen. Rechtlich ungeregelt waren die Verhältnisse jedoch nicht. Im Gegenteil. Das Leben der Stände war durch eine Vielzahl von Regeln geordnet, mit Weistümern, Dorfgerichten, Stadtrechten, Oberhöfen. Die Könige bestätigten die Rechte der Kaufleute, regelten die Abgabenpflichten, um nur einiges hier beispielhaft aufscheinen zu lassen. Eine Vielzahl von Quellen, wie der Sachsenspiegel oder der Schwabenspiegel, geben einen guten Einblick in die Regelungsdichte. Der Sachsenspiegel zählt auch die Friedensordnungen auf: Königsfrieden, Sonderfrieden, befriedete Orte, befriedete Zeiten, befriedete ­Personengruppen u. a. Der Frieden spielte eine große Rolle im Leben der Menschen in diesen nicht eben friedvollen Zeiten. Trotz der Vielzahl von territorialen Rechten und territorialen Gerichtsbarkeiten und Zuständigkeiten war der Frieden im Reich Ende des 15. Jahrhunderts gleichwohl notleidend. Den in den Jahren 1471 und 1474 ergangenen Landfrieden von Regensburg und Augsburg dürfte auch kein nachhaltiger Erfolg beschieden gewesen sein. Denn schon im Jahre 1495 wurde ein neuer Landfrieden auf dem Reichstag zu Worms verkündet. Der sog. Ewige Landfrieden dieses Jahres enthielt allerdings auch noch eine Vielzahl anderer Regelungen, die es ebenfalls durchzusetzen galt. Um dies zu gewährleisten, wurde das Reichskammergericht, den Ewigen Landfrieden gleichsam flankierend, aus der Taufe gehoben. In der Folge wurden eine Anzahl Reichskammergerichtsordnungen erlassen, die das Prozessgeschehen strukturierten. Landfriedensbruchsachen verhandelte das Reichskammergericht nach der Offizialmaxime. Das weist die Bedeutung aus, die der Wahrung der inneren Sicherheit zugemessen wurde. Für andere Verfahren, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, galt das nicht. In Verfahren wegen Besitzentzug kannte die Reichskammergerichtsordnung die Verfahrensweise im einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Hier konnte also rasch eine dem Recht entsprechende (wenn auch nur vorläufige) Rechtslage geschaffen werden, bis die territorialen Gerichte in der Hauptsache entschieden. Frieden durch Recht, Sicherheit durch Recht – Frieden und Sicherheit zu erlangen, war zu allen Zeiten ein dem Menschen und der Erhaltung seiner Existenz,

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seiner Prosperität, seiner wirtschaftlichen Beziehungen und Aktivitäten ureigenstes Bedürfnis. Dem musste die Obrigkeit schon im eigenen Interesse nachkommen. Sie musste das Gewaltmonopol realisieren. Der Staat erhält von hier seine Legitimität. Und so folgte auf den Ewigen Landfrieden, dem offensichtlich kein „ewiger“ Erfolg beschieden war, allzu bald die Verkündung weiterer Landfrieden.3 War noch der Begriff der Rechtsstaatlichkeit nicht erfunden,4 so kommt doch die verordnete Rechts- und Justizgewährung nicht nur für Reichsunmittelbare, sondern auch für reichsmittelbare Untertanen der Idee des Rechtsstaats sehr nahe. Erst im 19. Jahrhundert wandeln sich dem nunmehr gebräuchlichen Begriff „Rechtsstaat“ neue Aspekte an. Der Begriff ist jetzt auch Gegenstand intensiver Diskussion in der Staatsrechtslehre. Und wird es über die Jahrhundertgrenze hinaus bleiben.

3  Rechtsstaatsprinzip im 19. und 20. Jahrhundert – Inhaltserweiterungen Anknüpfend an den bestehenden überlieferten Inhalt der Rechtsstaatlichkeit wurde der Begriff um Weiteres erweitert, ohne zunächst über das Formale hinaus geformt zu werden. Von entscheidender Bedeutung im Inhaltswandel des Rechtsstaatsprinzips aber war, dass ihm nunmehr staatsmachteingrenzende Bedeutung zugewiesen wurde: die Begrenzung der Macht durch Recht. Das war eines der Hauptanliegen der Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts. Der Ruf nach einer Verfassung, nach Gewaltenteilung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Gesetzesbindung der Justiz waren Ausdruck dessen, also das, was wir heute dem Formalen des Rechtsstaatlichkeitsprinzips zuordnen. Der Diskussionsstand soll hier nicht nachvollzogen werden.5 Das Grundgesetz schließlich reicherte das Rechtsstaats­ prinzip um materielle Komponenten wie etwa die Freiheitsrechte oder die Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt an. Die Rechtsprechung des Bundesver­ fassungsgerichts sodann hat der Rechtsstaatlichkeit ihr Gepräge gegeben, indem sie eine Fülle von Aspekten eingeführt hat, die allerdings in ihrer Vielfältigkeit

3 Worms 1521, Augsburg 1548, in: Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, hrsg. von Ernst August Koch, 1747, Teil II, S. 194 ff., 574 ff. 4 Dies Verdienst kommt nach mehreren Vorläufern besonders Robert von Mohl zu, vgl. sein Werk: Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Teil 1 1829, S. 8, dazu auch Michael Stolleis, Rechtsstaat, in: HRG, Bd. IV, 1990, Sp. 367 ff., 370. 5 Zur Entwicklung vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. A. 1984, § 20; Eberhard Schmidt-Assmann in: Josef Isensee/Paul Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 1, 1987, § 24.

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und manchmal auch Detailverliebtheit geeignet sind, das Prinzip eher zu schwächen, als es zu stärken. Es steht in Gefahr, die Konturen zu verlieren. So sind aus dem Rechtsstaatsprinzip eine Reihe von Geboten erwachsen, die Gesetzgeber wie Verwaltung bei ihrem Tun gleichermaßen berücksichtigen müssen; etwa Gesetzesvorbehalt, Rechtssicherheit, Vertrauensschutz, unechte und echte Rückwirkung, Rechtsklarheit, Bestimmtheit der Norm und des Einzelakts, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, um nur einige zu nennen. Sie alle erfahren im Wege der Interpretation noch weitere Verfeinerungen. Nur ein Beispiel: Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden – ein aus der Rechtsstaatlichkeit fließender Grundsatz, der Eingang in das Grundgesetz gefunden hat (Art.  101 Abs.  1 S.  2). In anderen Staaten, deren Rechtsstaatlichkeit nicht in Frage steht und deren Rechtsordnung eine vergleichbare Vorschrift kennt, wird das Gebot des gesetzlichen Richters häufig lediglich dahin verstanden, dass das spezifische Fachgericht, also etwa ein Finanz-, Sozialoder Strafgericht, die Sache entscheidet. Nach deutschem Rechtsverständnis, das weit darüber hinausgeht, ist zusätzlich zu fordern, dass die örtliche und sachliche Zuständigkeit, der zuständige Richter, die Kammer bzw. der Senat schon vorab festgelegt sein müssen, die Richterbank also bekannt und die Festlegungen auch vor Beginn des Geschäftsjahres in einer Weise veröffentlicht werden müssen, die es den Parteien erlaubt, Kenntnis davon zu nehmen. Von der Darstellung weiterer Besonderheiten will ich absehen. Aber schon so: Wen wundert es, wenn dieses Verständnis im Ausland nicht selten auf Unverständnis stößt. Wenn dann aber andererseits das Bundesverfassungsgericht sich weigert, die Begründung für die bei Zweifeln an der Zuständigkeit eines Senats erforderliche Zuweisung des Verfahrens an einen der beiden Senate durch den sog. Sechserausschuss (§ 14 Abs. 5 BVerfGG) zu veröffentlichen oder jedenfalls auch nur den Verfahrensbeteiligten bekannt zu machen, so passt das nicht so recht ins Bild.

4  Gesetzesbindung und Rechtsfortbildung durch den Richter Die rechtsstaatlich gebotene Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht gewährleistet Sicherheit im Rechtsverkehr. Sie erfährt allerdings Ausnahmen. So begegnet die methodisch korrekte Vornahme der Rechtsfortbildung durch die Gerichte im Grundsatz keinen Bedenken. Die Zulässigkeit dieser Methodik ist entgegen häufig geäußerter Annahme nicht dem Grundsatz der Justizgewährung geschuldet. Es ist im Blick auf den Grundsatz der Justizgewährung völlig unbedenklich, wenn ein Gericht dem Begehren eines Klägers keine Folge gibt, weil es an einer Rechtsgrundlage fehlt. Dem Anspruch des Klägers auf Justizgewähr ist in vollem

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Umfang Rechnung getragen, wenn sein Begehren gerichtlich geprüft und entsprechend der Rechtslage beschieden wird. Die Notwendigkeit zur Rechtsfortbildung kann sich aber aus den spezifischen Besonderheiten des Falles ergeben. Geänderte Lebensverhältnisse, auf die der Gesetzgeber bisher nicht reagieren konnte, können eine Anpassung der vom Gesetzgeber getroffenen Regelung fordern. Die als situativ notwendig empfundene Anpassung des Rechts wird dem Richter dann als zulässig gestattet.6 Dabei muss der erkennbare Wille des Gesetzgebers aufgenommen und fortgeschrieben werden. Dem Richter als Normanwender im Prozess ist verboten, seine eigenen Wertvorstellungen zur Geltung zu bringen, gar seine eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen.7 Das gilt generell, aber naturgemäß gerade auch für die mit äußerster Sensibilität von ihm vorzunehmende Rechtsfortbildung. Die Befugnis zu „schöpferischer Rechtsfindung und Rechtsfortbildung“8 ist allerdings nicht grenzenlos. Die Gesetzesbindung wirkt sich dahin aus, dass der Richter die gesetzgeberische Grundentscheidung zu respektieren und den Willen des Gesetzgebers möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen hat. Es ist also ein äußerst sensibles Vorgehen erforderlich, soll nicht in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers eingegriffen werden. Ein für den Richter schwieriges Verfahren, das nicht durch die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts9 einfacher wird, wenn dort die folgende Anleitung dem Richter zuteil wird: Verhilft die im Wege der Rechtsfortbildung gefundene Lösung den verfassungsmäßigen Rechten des Einzelnen zum Durchbruch, sind die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung weiter, bei einer Verschlechterung der rechtlichen Situation des Einzelnen hingegen sind die Grenzen enger gesteckt. Und: Die Rechtsfindung muss sich umso stärker auf die Umsetzung bereits bestehender Vorgaben des einfachen Gesetzesrechts beschränken, je schwerer die beeinträchtigte Rechtsposition auch verfassungsrechtlich wiegt. Ob das wirklich eine praktikable Handreichung für den Amtsrichter ist? Im Zivilprozess werden regelmäßig Grundrechtspositionen der Parteien aufeinandertreffen. Mangels einer Hierarchie der Grundrechte steht der Richter vor der Frage der Gewichtung. Für die Klärung der sich ergebenden Gemengelage im Einzelfall wird es auf die im Einzelfall heranzuziehenden Kriterien ankommen.

6 Vgl. u. a. BVerfGE 128, 193 (210) m. w. N. 7 Ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 82,6 (12). 8 Die Anführungszeichen fallen in der späteren Entscheidung vom 24. Februar 2015 –1BvR 472/14 – weg. 9 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Februar 2015 –1BvR 472/14.

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5  Richterstaat als Folge des Rechtsstaats Wer den Rechtsstaat will, muss auch den Richterstaat wollen. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Denn wie ausgeführt, gehört zu den hergebrachten Grundsätzen des Rechtsstaatsprinzips der Justizgewährungsanspruch. Ein funktionierendes Gerichtswesen ist Fundament und „Rückgrat“ des Rechtsstaats zugleich. Nur eine funktionierende Gerichtsbarkeit im rechtsstaatlichen Sinne vermag dem Bürger die von diesem vom Staat erwartete Rechtssicherheit gewähren. Nur eine sich in den Grenzen ihrer Zuständigkeit haltende Gerichtsbarkeit wird auch die Akzeptanz der Bürger erfahren. Die Gerichtsbarkeit ihrerseits benötigt Autorität, um ihre Entscheidungen auch durchzusetzen. Hinzutreten muss aber auch die Akzeptanz der Rechtsunterworfenen. Geht sie verloren, wird sie von der Gerichtsbarkeit verspielt, so wird es problematisch. Gewiss, dem Staat steht das Gewaltmonopol zu. Aber auch dieses basiert letztlich auf dem Einverständnis aller. Gewalt ersetzt keine Akzeptanz. Um die Akzeptanz nicht zu gefährden, muss sich die Gerichtsbarkeit in den Grenzen ihrer Macht halten. Wo aber sind diese Grenzen richterlicher Macht zu verorten? Die Gesetzesbindung der Justiz hat schon Erwähnung gefunden. Doch diese Bindung ist nicht so strikt, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn der Judikative, wie insbesondere auch dem Bundesverfassungsgericht, steht mit der Interpretationsbefugnis eine gewisse Verfügungsgewalt über die seine Macht begrenzenden Schranken zu. Die Gewalten, die Legislative, die Exekutive und die Judikative, stehen idealiter einander in einem balancierten Verhältnis gegenüber. Diese Ausgewogenheit erleidet aber eine Einbuße, denn die im Grundgesetz vorgeschriebene Verfassungsgebundenheit der Legislative entrechtet in gewissem Umfang das Parlament. Das Grundgesetz bricht seine Allmacht. Hier liegt gegenüber dem traditionellen Modell eine Gewichtsverschiebung vor. Der Machtverlust der einen Gewalt hat den Machtzugewinn der anderen Gewalt im geschlossenen System der Gewaltenteilung notwendig zur Folge. Nunmehr bekommt Macht über das Parlament, wer die Befolgung der Verfassung durch das Parlament und andere staatliche Instanzen zu kontrollieren hat. Nach dem Grundgesetz ist das die Judikative, in Sonderheit das Bundesverfassungsgericht. Ihm als Kontrollorgan und letztentscheidenden Verfassungsinterpreten wächst diese Macht zu. Zwar ist auch die Judikative an die Verfassung gebunden. Allerdings ist derjenige, der die ihn bindenden Normen selbst interpretiert, ihnen also den ihn bindenden Sinn zuweist, im Maß der Bindung frei. Interpretationsmacht ist Macht über die Norm; das ist hinzunehmen, soweit der Interpret sich im Rahmen der anerkannten Auslegungsmethodik bewegt. Ver-

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lässt der Interpret den ihm von Wortlaut, Systematik, historischer Einbindung und Sinn und Zweck der vom Parlament beschlossenen Norm vorgegebenen Weg der Interpretation, so schwingt er sich zum Herrn des Gesetzes auf. Werden gar seine eigenen materiellen Wertvorstellungen, seine Gerechtigkeitsvorstellungen im Weg der „Interpretation“ Inhalt des Gesetzes,10 so wird das Parlament über die in der Verfassung angelegte Machteinschränkung hinaus entmachtet. ­Geschieht solches mit den Normen der Verfassung, so handelt es sich um einen gravierenden Übergriff in Parlamentsrechte und eine schwerwiegende Gewichtsverschiebung im System der Gewaltenteilung. Die vorgegebene Balance ist nicht mehr austariert. Im Blick auf das Bundesverfassungsgericht müsste dann eine ­gängige Sentenz, nämlich die vom Bundesverfassungsgericht als dem Hüter der Verfassung, umgewandelt werden in die eines Herrn der Verfassung.

II Richterstaat 1  Wirkungsweise des Bundesverfassungsgerichts Der Begriff Richterstaat insinuiert die Beherrschung des Staates oder das Management des Staatswesens, der Gesellschaft, durch den Richter. Wie gezeigt, fordert das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit eine das Recht durchsetzende Gerichtsbarkeit, damit jeder Art von staatlicher Willkür effektiv begegnet und Rechtssicherheit gewährleistet werden kann. Ob aber quasi im Gleichklang damit der Verfassungsstaat ebenfalls eines Gerichts als Kontrollorgan für die Einhaltung der Verfassung durch alle staatliche Gewalt bedarf, kann hier dahinstehen. Der deutsche Verfassungsgeber jedenfalls hat sich für die Einrichtung eines Verfassungsgerichts entschieden11 und dieses mit umfassenden Vollmachten ausgestattet. Der umfängliche Zuständigkeitskatalog12 des Bundesverfassungsgerichts sucht seinesgleichen. Zusätzlich erweiterte es im Laufe der Zeit seine Möglichkeiten nicht unerheblich. Denn als Letztinterpret der Verfassung hat das Bundesverfassungsgericht Mittel und Wege gefunden, durch Interpretation der Verfassung auch gestaltend und seine Befugnisse erweiternd zu wirken. Doch wie der Begriff des Rechtsstaatlichen durch die ständige Aufladung desselben in der staatsrechtlichen Literatur und in der Rechtsprechung an Inhalt gewonnen und an Kontur verloren hat, so ist 10 Vgl. BVerfGE 132, 99 (127) m. w. N. 11 Art. 94 GG. 12 Art. 93 GG.

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Ähnliches auch hinsichtlich der Richtermacht im Verfassungsstaat des Grundgesetzes zu beobachten. Der Gesetzesbindung gilt der Gehorsam. Die Einschätzungsprärogative, der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers – sie werden vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung beschworen. Und wie sieht die Rechtswirklichkeit aus? Verkommen diese Beschwörungen nicht gar zu oft zu Leerformeln? Wenn in einer Entscheidung eingangs eines Absatzes vom erheblichen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers die Rede ist und sodann dem Gesetzgeber eingehend vorgeschrieben wird, was er zu tun hat, dann verflüchtigt sich dieser Gestaltungsspielraum binnen weniger Zeilen. Im Rechtsstaat, im gewaltenteiligen Staat, ist Richtermacht nicht zuletzt auch deshalb gebunden, um die Funktion der anderen Gewalten zu schonen. Aber lässt es die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts daran nicht allzu häufig fehlen? Der Eingriff in den Machtbereich der anderen Gewalten birgt die Gefahr, dass die Judikative ihre ­eigentliche Kontur verliert. Mag auch die ihm überantwortete Rechtsprechungsmacht vom Bundesver­ fassungsgericht überwiegend mit Augenmaß ausgeübt worden sein, so sind gleichwohl immer wieder Übergriffe in den Machtbereich der anderen Gewalten, vornehmlich den des Gesetzgebers zu konstatieren. In dem Maße, wie sich derartige Übergriffe häufen, führt es im Ergebnis eine weitere, nicht unwesentliche Verschiebung der Gewichte im System der Gewaltenteilung herbei. Die Leichtigkeit des Zugriffs ist kaum überbietbar. Im Grunde ist dies schon in einer Konstruktion angelegt, die dem Bundesverfassungsgericht mit einer möglichen Mehrheit von nur fünf Richtern das letzte Wort zugesteht. Demgegenüber müsste das Par­ lament, wollte es die Verfassung ändern, den Verfassungstext mit einem Zusatz klarstellen, ein umständliches Verfahren (Zweidrittelmehrheit) durchführen; ein erschwertes Verfahren, das aber aus guten Gründen so gestaltet worden ist. Wenn nun aber die Mehrheit eines Senats von fünf Richtern mit parlamentarischer Mehrheit beschlossene Gesetze für ganz oder teilweise für verfassungswidrig und nichtig erklären und aus dem Verkehr ziehen kann, wenn Normen, gar Verfassungsrechtsnormen im Wege der Interpretation sinnentleert, den sie Ausführenden zugleich Handlungsanweisungen beigegeben werden, die die Normen in der Lebenswirklichkeit beabsichtigt unpraktikabel machen;13 wenn im Wege der Interpretation für verfassungsrechtlich geboten erachtet werden kann, was die Mehrheit des Parlaments nicht beschließen will, dann kann es keinem Zweifel unterliegen, wer die Steuerungsgewalt im Staate hat. Schon in der Frühzeit des Bundesverfassungsgerichts soll der erste Bundeskanzler Deutschlands, Konrad Ade-

13 Vgl. etwa BVerfG 109,279 ff.; 115, 320, dazu Sondervotum Haas, 371 (insbes. 381).

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nauer, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betroffen mit den Worten kommentiert haben, so hätten sie sich das nicht vorgestellt.

2  Interpretation und Lebenswirklichkeit Man muss allerdings zugestehen, dass Verfassungsinterpretation sich für das Bundesverfassungsgericht wegen der Gestaltung der Verfassung als einer Rechtsordnung mit offenen Normen nicht selten als eine Gratwanderung erweist. Diese ist einerseits schwierig, wie dies Gratwanderungen eigen ist. Andererseits ist auch zu konstatieren, dass eine geneigte und dem Bundesverfassungsgericht außerordentlich wohlwollend begegnende interessierte Öffentlichkeit sich schon an so manchen Fehltritt, den man als Übergriff qualifizieren könnte, gewöhnt, ja ihn begrüßt hat. Was bei den Medien und ihrer sonstigen Kritikfreudigkeit verwundern muss. Die Duldungsbereitschaft ist insbesondere in der Staatsrechtslehre bemerkenswert hoch. Aber auch seitens der am meisten betroffenen Gewalt, des Parlaments, zeigt sich kaum ein Ansatz von Gegenwehr. Da wundert es nicht, dass Richter des Bundesverfassungsgerichts wie selbstverständlich die Befugnis zur Rechtsschöpfung als zur Textexegese hinzutretend für sich in Anspruch nehmen.14 In dieser Allgemeinheit allerdings wäre die Jurisdiktionsbefugnis dann grenzenlos. Das wäre dann der Absturz vom bewussten Grat. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass bei der Interpretation der vielfach ­offenen Verfassungsnormen die Verfassungswirklichkeit Eingang finden muss. ­Allein, bei der Öffnung der Verfassung für die Lebens- und Verfassungswirklichkeit ist das Gericht zur Wahrung der von dem Verfassungsgeber vorgegebenen Wertordnung verpflichtet. Dies lässt nur in Grenzen richterliche Anpassungen des Verfassungstextes zu. Das hat insbesondere dort zu gelten, wo die Wertvorstellungen des Verfassungsgebers ihre besondere Ausprägung gefunden haben, nämlich für die Grundrechte. Auch ist zu beachten, dass der Zeitgeist ein gar flüchtiger Geselle und damit kein tauglicher Wegweiser für die Rechtsfindung des Bundesverfassungsgerichts ist. Auch in einer Demokratie lässt sich nicht so ohne weiteres feststellen, was sich nach vorherrschender Meinung als Lebenswirklichkeit darstellt. Wie soll denn auch die vorherrschende, die Mehrheitsmeinung im Volk mit einiger Gewissheit durch das Bundesverfassungsgericht ermittelt werden? So ist schon äußerst ungewiss, ob die veröffentlichte Meinung jeweils auch die in der Bevölkerung vorherrschende ist. Umfragen lassen einen gewissen Eindruck entstehen. Aber sich auf diese für Inhaltsanpassungen stützen zu wollen, 14 Vgl. etwa Jutta Limbach, „Im Namen des Volkes“, 1999, S. 177.

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erscheint doch sehr zweifelhaft, sind sie doch in den seltensten Fällen wirklich ­repräsentativ. Es ist deshalb nicht ohne Grund, dass es in der repräsentativen ­Demokratie das Parlament ist, dem in erster Linie die Aufgabe zukommt, auf ­Veränderungen in der Gesellschaft zu reagieren. Nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern der verfassungsändernde Gesetzgeber ist in der Demokratie dazu berufen, den geänderten Verhältnissen Rechnung zu tragen. Das gilt gerade auch für Änderungen im Kernbestand der Verfassung, die die Wertvorstellungen des Verfassungsgebers zum Ausdruck bringen. Das Parlament als verfassungsändernder Gesetzgeber wird tätig, wenn sich abzeichnet, dass eine bleibende Entwicklung von verfassungsrechtlich erheblicher Bedeutung dies fordert, um Verfassung und Gesellschaft in Einklang zu bringen. Denn auch für den Gesetzgeber wie für das Bundesverfassungsgericht gilt, dass derjenige, der sich mit dem Zeitgeist vermählt, allzu rasch Witwer wird. Handelt das Parlament nicht, so fällt die Aufgabe nicht dem Bundesverfassungsgericht zu. Insoweit besteht keine Zuständigkeit als Ersatzverfassungsgeber. Solange also die verfassungsgerichtliche Gestaltungsmacht und Steuerungsgewalt sich im Rahmen der von der Verfassung vorgegebenen Grenzen hält, ist dies vom Parlament hinzunehmen. Nicht hingegen hinzunehmen ist es vom Parlament, wenn dies mit einer Kompetenzentgrenzung einhergeht. Damit wird die Frage relevant, welche Bedeutung Entscheidungen zukommt, die in Überschreitung der Kompetenz oder anders ausgedrückt: ohne gesetzliche Zuständigkeit getroffen werden. Für die Fachgerichtsbarkeit ist diese Frage beantwortet.

III  Grenzen verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung Die Jurisdiktionsgewalt des Bundesverfassungsgerichts ist in mehrfacher Weise gebunden. Einmal durch das Prozessrecht,15 zum anderen durch Gesetz und Recht und die Verfassung.

1  Vorgaben des Prozessrechts Wie jedem Gericht auch, ist dem Bundesverfassungsgericht für die verschiedenen Verfahren das prozedurale Vorgehen vorgegeben. Auf diese soll hier nicht näher 15 Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) i. d. F. der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I, S. 1473), zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz vom 29. August 2013 (BGBl. I, S. 3463).

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eingegangen werden. Von Bedeutung in diesem Zusammenhang ist jedoch, dass das Bundesverfassungsgericht nicht von Amts wegen in das Geschehen eingreifen darf, sondern dass es – und das kann die Tätigkeit begrenzende Wirkung erlangen – wie jedes andere Gericht nur auf zulässigen Antrag hin in der Sache tätig werden darf. Darauf wird auch immer wieder hingewiesen, wenn die Grenzen der Zuständigkeit infrage stehen. Gleichwohl ist das Argument wenig hilfreich. Denn ein Antrag kann generiert werden. Und das geschieht durchaus und durchaus häufig. Nicht selten stehen Interessengruppen hinter einem Antragsteller, die offen nicht in Erscheinung treten. Auch pflegt in wichtigen Gesetzesvorhaben die unterlegene Minderheit in schöner Regelmäßigkeit den Gang nach Karlsruhe anzutreten. Die Drohung mit Karlsruhe gehört zum „rituellen Instrumentarium“16 der Beratungen im Gesetzgebungsverfahren. Nur ein zulässiger Antrag eröffnet die Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht. Das gilt für alle Verfahren, also auch für das Annahmeverfahren nach § 93 c BVerfGG, dessen Besonderheiten Bedeutung nur für die Sachprüfung erlangen. So weit, so gut. Das Erfordernis der Zulässigkeit entspricht der Rechtslage nach allen Prozessordnungen. Nichts aber ist damit über die Prüfungsintensität im Einzelfall gesagt, die das Bundesverfassungsgericht in nicht immer erkennbarer Weise praktiziert. So wird auch schon mal in Entscheidungen über die (Un-)Zulässigkeit des Antrags hinweggegangen. In ­Senatsentscheidungen ist auch dem kundigen Zeitgenossen beim Lesen von Sachbericht und Entscheidungsgründen nicht immer nachvollziehbar, wie die Zulässigkeit zu beurteilen war. Die Zulässigkeit des Antrags ist aber gleichermaßen aus Gründen der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) zu verlangen und strikt zu prüfen. Wird diese Frage des Zugangs zum Bundesverfassungsgericht, die allen unter denselben Voraussetzungen in gleicher Weise zu gewähren oder eben auch zu versagen ist, in einzelnen Fällen oberflächlich (Prüfung light) behandelt oder gar vernachlässigt, so stellt sich das Gericht nicht nur außerhalb des verpflichtenden Gesetzes, sondern verletzt damit zugleich auch die Verfassung. Allerdings wird diese Rechtsverletzung und Kompetenzüberschreitung regelmäßig nicht erkennbar sein. Einer dieser seltenen Fälle, in denen eine fehlerhafte Zulässigkeitsprüfung für den Leser erkennbar wird, ist die Kruzifixentscheidung,17 wo die Beschwerdeführer unter Berufung auf die Lehre Rudolf Steiners zur Begründung der negativen Religionsfreiheit vortrugen, Kreuz und Kruzifix als christliche Symbole wirkten auf ihre Kinder ein, was ihrer Weltanschauung als Anthroposophen zuwiderlaufe. Die Lehre Rudolf Steiners wendet sich jedoch nicht gegen das Kreuz. Und entspre16 Limbach (Fn. 14), S. 144 spricht von „rituelle(m) Waffenarsenal“. 17 BVerfGE 93,1 ff.

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chende Reaktionen der Anthroposophen auf die Entscheidung, die sich gegen die Darlegung der Beschwerdeführer verwahrten, konnte man dann der Presse entnehmen.

2  Umfang des Prüfungsrechts Erkennbar wird die ungemeine Leichtigkeit des interpretatorischen Umgangs der Bundesverfassungsrichter mit dem einfachen Recht auch in anderen Zusammenhängen. Einige Hinweise mögen genügen. Streitgegenstand und demgemäß auch Prüfungsgegenstand im Verfahren der Urteils-Verfassungsbeschwerde ist unter Berücksichtigung des Antrags die angegriffene fachgerichtliche Entscheidung sowie die mittelbar angegriffene Vorschrift, auf der die Entscheidung beruht. Andere Vorschriften desselben Gesetzes, die nicht angegriffen sind und auch nicht entscheidungserheblich waren, sind, selbst wenn deren Verfassungswidrigkeit mit Händen zu greifen sein sollte, nicht in das Verfahren einzubeziehen. Hier zieht das angegriffene fachgerichtliche Urteil dem Bundesverfassungsgericht die Grenzen seiner Prüfungs- und Verwerfungsbefugnis. Zwar eröffnet die Normenkontrollklagegemäß § 78 Abs. 1 Satz 2 BVerfG G dem Gericht die Möglichkeit, weitere Bestimmungen des gleichen Gesetzes aus denselben Gründen wie die für nichtig erklärte Vorschrift ebenfalls für nichtig zu erklären. Eine vergleichbare Vorschrift gibt es für das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht. Keine weitere prozessuale Ermächtigung zur Prüfung verschafft das Argument dem Gericht, eine bestimmte Norm, die in der fachgerichtlichen Entscheidung zwar keine entscheidungserhebliche Bedeutung erlangt habe, gehöre jedoch zum Konzept des Gesetzgebers.18 Dieses Argument eröffnet dem Gericht keinen weiteren Prüfungsrahmen; dies schon deshalb nicht, weil die herangezogene Norm im fachgerichtlichen Verfahren keine Anwendung gefunden und deshalb keine von der Verfahrensart Verfassungsbeschwerde vorausgesetzte Beschwer verursacht hat. Ungeachtet dessen ist die Anknüpfung an das Konzept des Gesetzgebers schon deshalb verfehlt, da letztendlich nahezu jedes größere Gesetzesvorhaben auf einem Konzept beruhen wird; es bestünde so die Gefahr eines Freibriefs für das Gericht, über diesen Weg statt nur die angegriffenen und entscheidungserheblichen Vorschriften ganze Gesetze oder Teile derselben zu prüfen und gegebenenfalls zu kassieren. Einen Grundsatz der Konzeptverbundenheit kennt das Prozessrecht deshalb nicht. 18 BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2015, 1 BvR 471/10; 1181/10.

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Mit dieser freischwebend sich zugewiesenen prozessualen Prüfungsermächtigung hat das Bundesverfassungsgericht im sog. Kopftuchstreit es sich ermöglicht, über den eigentlichen Prüfungsgegenstand – die Bekundung der Religionszugehörigkeit – hinaus die Vorschrift, die die religiöse Darstellung durch das äußere Erscheinungsbild regelt, ebenfalls in seine Prüfung einzubeziehen. 19 Zutreffend weist das Sondervotum20 auch darauf hin, dass selbst dann, wenn man die Konzeptverbundenheit als Prüfungsermächtigung im Grundsatz bejahte, vorliegend es an einem solchen Konzept, wie es die Mehrheit konstruiert, fehlt. Unter Hinweis auf den unterschiedlichen Gesetzeswortlaut – einerseits ist von einer „religi­ ösen Bekundung“, andererseits von der wesensverschiedenen „Darstellung von Bil­ dungs- und Kulturwerten oder Traditionen“ die Rede – und mit Rückgriff auf die Materialien verneinen die Dissentierenden ein beide Vorschriften verbindendes einheitliches Konzept. Resignierend resümieren sie, es sei nicht tragfähig, dem Gesetzgeber „etwas anderes zu unterstellen“. Man muss konzedieren, die Intensität des Willens der Richter, sich eine Entscheidungsgrundlage kompetenzwidrig zu verschaffen, ist bemerkenswert. Für ein mit geringerer Jurisdiktionsgewalt als eine Tatsacheninstanz oder ein Revisionsgericht ausgestattetes Gericht, wie es das Bundesverfassungsgericht nun einmal ist, hoch problematisches Verfahren ist die Prüfungsdichte bei Verfahren, die das Grundrecht der Meinungsfreiheit betreffen. Hier lässt das Bundesver­ fassungsgericht sowohl die von der prozessrechtlich geregelten Funktion des ­Gerichts vorgegebenen Bedingungen als auch die durch die Bindung an die Verfassung als Prüfungsmaßstab gegebenen Anforderungen hinter sich. Die Inanspruchnahme tatrichterlicher Prüfungsbefugnis liegt offenkundig jenseits dessen, was der verfassungsrichterlichen Zuständigkeitswahrnehmung entspricht.21 Das Ausgreifen der Rechtsprechung in diese Bereiche lässt sich auch nicht mit dem Hinweis rechtfertigen, dass ein fehlerhaftes Urteil der Fachgerichte sich nachteilig auf die Ausübung der grundrechtlich gesicherten Freiheit22 im Allgemeinen auswirken werde, weil die Bereitschaft, sich zu äußern, abnehme, wenn „Äußerungswillige selbst wegen fernliegender oder unhaltbarer Deutungen Sanktionen riskieren“. Ungeachtet dessen, dass Letzteres durch die Willkürrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vermieden werden kann, sieht das Bundesverfassungs19 Vgl. BVerfG (Fn. 17), S. 44 ff. des Umdrucks. 20 BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2015 – BvR 471/10, 1181/10; Sondervotum des Richters Schluckebier und der Richterin Hermanns. 21 Dazu Evelyn Haas, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichte, in: Verfassung als Verantwortung und Verpflichtung, hrsg. vom Bayer. Verfassungsgerichtshof, Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, 1997, S. 41 ff. 22 Vgl. u. a. BVerfGE 94,1 (9).

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gericht auch bei vermeintlichen oder tatsächlichen Fehlurteilen, die andere nicht weniger bedeutsame Grundrechte betreffen, keine Veranlassung zur tatrichter­ lichen Prüfung. Zu Recht! Es gilt der Grundsatz, dass nicht jede fehlerhafte Entscheidung auch eine verfassungswidrige ist. Die Tatsachenermittlung und -bewertung ist Sache der Fachgerichte und hier der Tatsacheninstanzen. Nur am Rande sei angemerkt, dass es keineswegs gesichert ist, dass die Erkenntnisfähigkeit der Richter des Bundesverfassungsgerichts derjenigen der Richter des Fachgerichts überlegen ist.23 Die immer wieder geäußerte Kritik in der staatsrechtlichen Literatur an dieser Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht nicht beeindruckt.

3  Interpretation einfachen Rechts Auch Begriffe des einfachen Rechts sind keineswegs sicher vor der Deutungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts. Das kann zu sehr merkwürdigen Ergebnissen führen, wenn es sich um Begriffe handelt, deren spezifischer Gehalt über die Jahrzehnte als gesichert gegolten hat. Stellt man die bis dahin unangefochten klare Bedeutung derjenigen gegenüber, die von dem Bundesverfassungsgericht dem Begriff nunmehr beigegeben wird, so wird deutlich, dass die Änderung vom Ergebnis her diktiert wird, das anders nicht zu erlangen gewesen wäre. Von den möglichen Beispielen sollen hier nur einige herausgegriffen werden. Die in den 70er und 80er Jahren überaus beliebten Sitzblockaden stellten nicht nur für die unmittelbar Betroffenen, gegen die sich die Demonstrationen richteten, sondern auch für unbeteiligte Dritte eine erhebliche Behinderung dar. Sie wurden in ihrer Bewegungsfreiheit beeinträchtigt und auch in ihrer grundrechtlich ebenfalls geschützten wirtschaftlichen Handlungsfreiheit teilweise nicht unerheblich tangiert. Die von den Sitzdemonstrationen ausgehenden Beeinträchtigungen wurden von den Strafgerichten als Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) gewürdigt, weil das Tatbestandsmerkmal der Gewalt gegenüber Dritten gegeben sei. So wie der Begriff Gewalt von den Strafgerichten in den von ihnen zu entscheidenden Fällen Anwendung fand, entsprach dies einer ständigen und gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung. Diese bestand auch nicht erst seit einigen Jahren, was für die Feststellung einer gefestigten Rechtsprechung vollkommen ausgereicht hätte. Vielmehr bestand hier eine bald hundertjährige Tradition, die noch in der Rechtsprechung des Reichsgerichts gründete. Das Tatbestandsmerkmal „Gewalt“ im Verständnis der Strafjustiz und der strafrechtlichen Kommentar23 Haas (Fn. 21), S. 42 m. w. N.

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literatur unterlag keinem Zweifel. Durch die langandauernde Rechtsprechung hatte der Begriff eine feste Konturierung gewonnen, mit anderen Worten, er war als hinreichend bestimmt im Sinne der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung zur Bestimmtheit von Rechtsnormen anzusehen. Wie bei dieser Rechtslage – die zahlreichen Judikate von Reichsgericht und BGH waren Gegenstand der Beratung im Senat, sonst hätten sie nicht Eingang in das Sondervotum24 finden können – der Senat mehrheitlich (mit einer Mehrheit von fünf Richtern) zu dem ­Ergebnis kommen konnte, der Begriff Gewalt sei nicht hinreichend bestimmt, bleibt jedenfalls für den interessierten Zeitgenossen unerfindlich. Wohl auch ­deshalb kursierte schon bald die Meinung, der Eingriff in die einfachrechtliche Gesetzlichkeit sei ergebnisgeleitet gewesen. Auch für die Verfassung lässt sich ein vergleichbarer Enthusiasmus für ­Begriffsnovellierung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts feststellen. Das gilt insbesondere für den Begriff der Familie. Was eine Familie ist, ist über Jahrzehnte, wenn nicht über Jahrhunderte in stets gleicher Weise verstanden worden. Im deutschen Recht wie im allgemeinen Bewusstsein und Sprachgebrauch der Rechtsgemeinschaft wurde Familie als eine rechtlich und biologisch verbundene und derart gesicherte Gemeinschaft von Vater, Mutter, Kind oder Teilen derselben25 verstanden. Mit diesem Inhalt ist der Begriff dann auch Gegenstand der Normierung in Art. 6 Abs. 1 GG geworden. Diese Gemeinschaft und nur sie sollte nach dem Verständnis des Verfassungsgebers von Verfassungswegen den besonderen Schutz des Staates genießen. Das Bundesverfassungsgericht ändert nun die Sinnbedeutung des Begriffs „Familie“, wenn es in seiner jüngeren Rechtsprechung das Wort „sozial“ hinzufügt und so den Begriff der „sozialen Familie“ einführt,26 der dem soziologischen Sprach­ gebrauch entlehnt ist. Die herausgehobene verfassungsrechtliche Gewährleistung wurde mit einem Schlag auf lediglich im Verbund lebende Gemeinschaften erstreckt, die weder eine biologische noch eine wie auch immer geartete rechtlich gesicherte Zusammengehörigkeit ausweisen. Teilen des Senats war bei der Entscheidung wohl auch nicht ganz deutlich, was sich hinter dem Begriff der „sozia­ len Familie“ verbarg, der bis dahin weitgehend nur von Soziologen und Familienrechtlern verwendet wurde. Denn keinesfalls handelt es sich hier um einen allgemeinen Bedeutungswandel des Begriffs, dem das Bundesverfassungsgericht meinte, Rechnung tragen zu müssen. Vielmehr war und ist das Rechtsverständnis 24 BVerfGE 92, 1 ff.; Sondervotum der Richter Seidl, Söllner und der Richterin Haas S. 20; Haas in: Malte Graßhof (Hrsg.), Die Sondervoten von Evelyn Haas, 2013, S. 20. 25 Vgl. BVerfGE 18, 97 (105 f.); 79, 256 (267). 26 BVerfGE 108, 82 (112 f.).

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unverändert. Der Wortlaut und der traditionell mit dem Begriff „Familie“ verbundene Sinngehalt stellten somit eine unüberwindliche Schranke der Interpretationsmöglichkeit dar.27 Dies übergeht das Bundesverfassungsgericht und erschließt sich somit durch Erweiterung des Schutzbereichs einen weiteren Prüfungsbereich. Zugleich büßt die spezifische Unterschutzstellung der Familie ihre herausgehobene Bedeutung ein. Das Gericht hat zwar keinen neuen Begriff eingeführt. Es hat diesen aber ­ergänzt und den eingeführten Begriff nunmehr mit einem anderen Inhalt aufge­ laden. Das ist einer Verfassungsänderung gleich zu erachten. Für solche „Inter­ pretationen“, die von gänzlich anderen Wertvorstellungen geleitet sind, als sie der Verfassungsgeber bei Erlass des Grundgesetzes gehabt hat, besitzt das Bundes­ verfassungsgericht kein Mandat. Verfassungsänderungen sind allein Sache des verfassungsändernden Gesetzgebers (Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG). Eine Art Verfassungsänderung light stellt sich wie folgt dar. Die Verfassungsnorm des Art. 13 Abs. 3 GG, der sog. Lauschangriff, wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht etwa für verfassungswidrig erklärt, sondern der unveränderte Text mit einer solchen Fülle von angeblich verfassungsrechtlich gebotenen Vorgaben befrachtet,28 dass die Möglichkeiten der Exekutive, einen „Lauschangriff “ durchzuführen, fortan gegen Null gehen. So bleibt die Verfasssungsnorm im Text erhalten, die Rechtsprechung hat sie jedoch ihrer Effektivität beraubt. Sie läuft in praxi leer. Die Entscheidung zur Rasterfahndung29 lässt ein ähnliches Muster ­erkennen.30

4  Neuschöpfung von Grundrechten Lenkt man den Blick zurück zu den Anfängen verfassungsrechtlicher Rechtsprechung, so ist erkennbar, dass das Bundesverfassungsgericht seit jeher sich nicht gescheut hat, Eingriffe in die Verfassung im Wege der Interpretation vorzunehmen. So hat es aus Art. 2 Abs. 1 GG, dem Persönlichkeitsrecht, das Grundrecht auf Handlungsfreiheit31 hervorgezaubert. Art. 2 Abs. 1 GG erwies sich auch in der Folgezeit als scheinbar unerschöpflicher Quell neuer Verfassungsgewährleis27 Vgl. dazu auch Evelyn Haas, Macht und Ohnmacht – Das Bundesverfassungsgericht und die Politik, in: Coexistence, Cooperation and Solidarity, Volume I, Festschrift für Rüdiger Wolfrum, hrsg. von Holger P. Hestermeyer/Doris König u. a., 2012, S. 1959, 1974. 28 BVerfGE 109, 279. 29 BVerfGE 115, 320 ff.; dazu Sondervotum der Richterin Haas, S. 371 ff. 30 Haas in: Graßhof (Fn. 24), S. 273. 31 BVerfGE 6, 36 ff.

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tungen. Man denke nur an das Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung32 oder an das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informeller Systeme.33 Das Besitzrecht des Mieters erfuhr richterrechtlich eine Einstufung als verfassungsrechtliches Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG)34 – eine dieser Aufwertungen zu Verfassungsrecht.

5  Verhältnismäßigkeit – Eröffnung eines weiten und dirigistischen Prüfungsmodus Breiten Spielraum gewährt sich das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit, die der Gesetzgeber und in Anwendung der Gesetze auch die Exekutive zu beachten hat. Auch hier stellt sich immer wieder die Frage, ob das Gericht bei der Prüfung nicht das richtige Maß verfehlt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört ohne Zweifel zum Kernbestand des Rechtsstaatsprinzips. Er hat im Rechtsleben nicht zuletzt auch als Folge der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erhebliche Bedeutung erlangt. Der Grundsatz eröffnet dem Bundesverfassungsgericht nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Einflussnahme auf Legislative und Exekutive. Im Blick auf den vom Bundesverfassungsgericht so viel beschworenen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und dessen Einschätzungsprärogative sollte man meinen, dass sich das Gericht darauf beschränkt zu prüfen, ob der Gesetzgeber den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet hat. Und so ist das Bundesverfassungsgericht in den Anfängen seiner Rechtsprechung auch vorgegangen. Aus heutiger Sicht nahezu rudimentär mutet es an, wenn es sich darauf beschränkt auszuführen: „Die Voraus­ setzung, die der Gesetzgeber in § 20 Abs.2 Satz 2 aufstellt, ist ein geeignetes Mittel, diesem Zweck zu dienen. Sie überschreitet auch nicht die Grenzen, die durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Zweck und Mittel gezogen sind.“35 Erfrischend knapp, das wünschte man sich auch heute. Noch im Jahre 1969 heißt es in einer Entscheidung36 zum Prüfungsmaßstab des Gerichts, es könne die vom Fachgericht vorgenommene Abwägung nicht in allen Einzelheiten, sondern nur darauf nachprüfen, ob eine Abwägung überhaupt stattgefunden habe und ob die hierbei zugrunde gelegten Bewertungsmaßstäbe der Verfassung entsprächen. Von 32 BVerfGE 65, 1 ff. 33 BVerfGE 120, 274 (313). 34 BVerfGE 89, 1 (7 ff.); dazu Otto Depenheuer, Der Mieter als Eigentümer? NJW 1993, S. 256 ff. 35 BVerfGE 3, 383 (399). 36 BVerfGE 27, 211 (219).

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dieser Vertretbarkeitskontrolle der frühen Jahre hat sich die Rechtsprechung längst entfernt. Das Gericht prüft inzwischen die Verhältnismäßigkeit mit zunehmender Intensität anhand der Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, also der Angemessenheit, nach. Die Kriterien lassen viel Raum. Insbesondere das Kriterium der Angemessenheit, das eine Abwägung fordert, ist methodisch und dogmatisch nicht zu fassen. Letztlich bleibt nur die Dezision. In der Praxis sieht das dann so aus, dass das Bundesverfassungsgericht sein oftmals auch im Senat heftig umstrittenes Abwägungsergebnis an die Stelle desjenigen des Gesetzgebers setzt. Dagegen versagt es sich zumeist, die Geeignetheit eines Gesetzes zu beanstanden, eher schon greift es bei der Erforderlichkeit des Mittels zu. Weitaus am häufigsten aber ist es die Prüfung der Angemessenheit, die das Bundesverfassungsgericht zu einem anderen Ergebnis als den Gesetzgeber kommen lässt. Dass die Verhältnismäßigkeit sehr unterschiedlich und doch mit jeweils nachvollziehbar guten Gründen gewürdigt werden kann, zeigt einmal mehr eine jüngst ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.37 Die beiden Richter Masing und Baer hatten vor ihrer Wahl zu Bundesverfassungsrichtern die Länder Bayern und Schleswig-Holstein im Gesetzgebungsverfahren zum Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen beraten und die Verhältnismäßigkeit einer an die abstrakte Gefahr anknüpfenden Regelung bejaht und eine entsprechende Regelung als verfassungsgemäß empfohlen38 – dies in Kenntnis aller dagegen sprechenden Argumente. Im verfassungsgerichtlichen Verfahren gehören sie nun zu der knappen Mehrheit, die dies verneint und das Gesetz insoweit für verfassungswidrig hält. Ein Beispiel für die Beliebigkeit der Argumentation im Rahmen der Verhältnismäßigkeit? Und weshalb sollte die Erkenntnis von nur fünf Richtern, was als angemessen anzusehen ist, richtiger sein, als mehrerer Hundert Volksvertreter? Geradezu als Paradebeispiel kann die eben zitierte Kopftuchentscheidung des 1. Senats dienen. Denn das Sondervotum39 des Richters Schluckebier und der Richterin Hermanns ermöglicht einen Vergleich der in die Abwägung einfließenden Argumente und ihre Gewichtung. Dem Grundrecht auf Religionsausübungsfreiheit der Pädagogin stehen eine Anzahl anderer Grundrechte gegenüber, das elterliche Erziehungsrecht und die negative Glaubensfreiheit der Schüler, die der

37 BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2015 –1 BvR 471/10; 1181/10. 38 BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2015 –1BvR 471/10 u. a., Sondervotum des Richters Schluckebier und der Richterin Hermanns, S. 4 des Umdrucks. 39 Sondervotum (Fn. 38).

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Senat noch in der sog. Kruzifixentscheidung40 so über alle Maßen hochstilisiert hatte. Auch der staatliche Erziehungsauftrag, der unter Wahrung der Pflicht zur weltanschaulich-religiösen Neutralität zu erfüllen ist, bedarf einer angemessenen Berücksichtigung im Abwägungsprozess. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne setzt die Mehrheitsmeinung des Senats die positive Glaubensfreiheit der Lehrerin ins Verhältnis zu der negativen Glaubensfreiheit der Schüler und führt sodann knapp und apodiktisch aus, die positive Glaubensfreiheit sei „nicht von vornherein dazu angetan, die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit zu beeinträchtigen“. Die Erkenntnis hätte man gern noch näher erläutert erhalten. Daran fehlt es wie so oft in diesem die Senatsentscheidung tragenden Abwägungsprozess. Die Mehrheitsmeinung teilt ihre Würdigung mit knappster Begründung dem Gesetzgeber mit. Und auch die ist durchaus anfechtbar. Die Auffassung etwa, die Konfrontierung der Schüler mit einer glaubensmäßigen Bekleidung werde durch das Auftreten anderer Lehrer mit anderem Glauben und anderer Weltanschauung (und damit anderer Bekleidung) relativiert werden, erscheint als Begründung – zurückhaltend formuliert – nicht gerade unproblematisch. Für andere Wertungen gilt Ähnliches. Der Senat hat keine andere Tatsachenbasis als der Gesetzgeber, der auf der Grundlage praktischer Erfahrungen und einem sorgfältigen Gesetzgebungsverfahren im Einklang mit anderen Landesgesetzgebern zu dem nunmehr verworfenen Ergebnis gekommen ist. Ganz offensichtlich ist hier die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers auf der Strecke geblieben. Dass man die Problemlage auch anders und weit eingehender und damit überzeugender erörtern kann, zeigt das lesenswerte Sondervotum. Es behandelt ebenfalls die ins Verhältnis zu setzenden Rechtsgüter. Die Abwägung erfolgt hier aber unter Heranziehung einer Vielzahl von Argumenten, unter Heranziehung auch der Materialien; das Sondervotum mit seinem gegenteiligen Ergebnis – es beanstandet die Bekleidungsregel nicht – vermag daher zu überzeugen. Es war ein schleichender Prozess von anfänglicher Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts bis hin zur eigenen vollständigen Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Ob hierbei der Erkenntnisstand des Gerichts dem des Gesetzgebers immer entspricht, mag hier dahinstehen. Das Ergebnis der richterlichen Abwägung muss – wie oben gezeigt – auch keineswegs überzeugender als das des Gesetzgebers sein. Im Blick auf die Funktion des Bundesverfassungsgerichts im Gefüge der Gewaltenteilung müsste es dem Gericht bei der gebotenen Zurückhaltung gegenüber der anderen Gewalt, der Legislative, eigentlich ausreichen, wenn die Abwägung des Gesetzgebers vertretbar ist. So wie es ursprünglich auch judiziert 40 BVerfGE 93, 1.

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hat. Bei einer Verfahrensweise wie der jetzt praktizierten lässt sich der Verdacht nicht ganz unterdrücken, das Gericht nutze ganz bewusst die Prüfung der Verhältnismäßigkeit als Einfallstor für eigene Gestaltung. Diese Art der Prüfung und der folgende, letztlich doch nur auf Dezision beruhende Rechtsspruch lädt förmlich zu der Frage ein, ob eine derartige Prüfungsintensität von Verfassungswegen überhaupt veranlasst ist.

6  Änderung des Verfassungsinhalts – am Beispiel des Art. 6 GG Nicht veranlasst, weil unzulässig, sind indessen solche interpretativen Erwägungen, die sich vom Konzept der Verfassungsnorm, in Sonderheit der sie tragenden Wertvorstellungen, lösen. Hatte das Gericht mit seiner Rechtsprechung zum ­Begriff der Familie in Art. 6 Abs. 1 GG erkennen lassen, dass es sich leichthin vom Bedeutungsgehalt einer Norm zu trennen vermag, so ist dies in noch weit höherem Maße in seiner Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 GG, dem Schutz und der Förderung der Ehe, der Fall.41 Dass der Begriff der Förderung entgegen seinem offensichtlichen Sinngehalt als einer verfassungsrechtlich gewährleisteten Privi­ legierung42 der rechtlich verbundenen Gemeinschaft von Mann und Frau nur unter dem Aspekt der Schlechterstellung derselben, der Nichtschädigung des Rechtsinstituts abgehandelt wird,43 erscheint im Blick auf die bemerkenswerte Verkennung des Umfangs seiner Jurisdiktionsgewalt zu Art. 6 Abs. 1 GG im Übrigen nahezu als lässliche Sünde. Wenn aber das Bundesverfassungsgericht meint – einer vermuteten Tendenz des Zeitgeistes44 folgend?  – die eingetragene Lebenspartnerschaft über Art.  3 Abs. 1 GG der Ehe gleichstellen zu müssen und in zahlreichen Entscheidungen dies vom Gesetzgeber einfordert, so ist das eine veritable Fehlleistung. Die Ehe ist eine rechtlich verbundene, auf Dauer angelegte Gemeinschaft zwischen Mann 41 Beginnend mit BVerfGE 105, 313 (346); vgl. zur Preisgabe des Privilegierungsgebots des Weiteren 124, 199 (225f.); 126, 400 (420f.); 131, 239 (360f.); 132, 179 (189ff.); 133, 377 (411). 42 Vgl. BVerfGE 6, 55 (76) „[…] der in Art. 6 Abs. 1 GG statuierte besondere Schutz […] umschließt hiernach zweierlei: positiv die Aufgabe für den Staat, Ehe und Familie nicht nur vor Beeinträchtigungen zu bewahren, sondern auch durch geeignete Maßnahmen zu fördern […].“ 43 BVerfGE 105, 313, 346 f.; dazu das Sondervotum der Richterin Haas, S. 361f. 44 Das Bundesverfassungsgericht ist nicht als Motor für gesellschaftlich erwünschte „Fortschritte“ eingerichtet worden; BVerfGE 133, 377; Sondervotum des Richters Landau und der Richterin Kessal-Wulff, S. 432 ff.; 437; vgl. auch Bernd Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat, 2014, S. 129.

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und Frau; die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner ist ein Wesensmerkmal der Ehe.45 Die Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet den Bestand, Schutz und Förderung dieser auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickenden zivilrechtlichen Einrichtung. Die Privilegierung dieser Lebensgemeinschaft wird von einer Fülle von Motiven getragen, von denen das der Versorgungs- und Verantwortungsgemeinschaft nur zwei sind. Entscheidende Bedeutung kommt hier der Tatsache zu, dass Mann und Frau ihrer biologischen Bestimmung und ihren sexuellen Möglichkeiten nach in aller Regel dafür prädestiniert sind, für Nachwuchs zu sorgen und so zum Erhalt und Fortbestand des Staates beizutragen. Die Ehe wird also gerade auch wegen der sexuellen Orientierung der Eheleute vom Staat geschützt und gefördert. So heißt es bereits in Art. 119 Abs. 1 WRV: “Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermeh­ rung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung.“46 Daran hat sich auch unter der Geltung des Grundgesetzes und dem über die Jahrzehnte erfolgten Wandel der Anschauungen in den verschiedensten Bereichen des Staatslebens nichts geändert. Art. 6 Abs. 1 GG ist gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 GG lex specialis. Die Ehe soll gerade wegen der sexuellen Orientierung der Eheleute eine bevorzugte Behandlung erfahren. Deshalb geht die auf Art. 3 Abs. 1 GG ­gestützte Argumentation des Bundesverfassungsgerichts fehl, wonach eingetragene Lebenspartnerschaften durch die alleinige staatliche Förderung der Ehe nicht (sexuell) diskriminiert werden dürfen. Art. 3 GG tritt hinter Art. 6 Abs. 1 GG zurück.47 Eine der Ehe vergleichbare Privilegierung von Lebensgemeinschaften kennt das Grundgesetz nicht. Gegenüber anderen Lebensgemeinschaften als der Ehe mag die Frage der Gleichbehandlung in Anwendung des Art. 3 GG erfolgen. Da Art. 3 GG keine Anwendung findet, ist auch der in jüngeren Entscheidungen zu findende Hinweis auf eine inzwischen einfachrechtlich weitgehend erfolgte Angleichung der Rechtslage der eingetragenen Lebenspartnerschaften an die der Ehe unbehelflich. Unerwähnt bleibt dabei übrigens, dass diese Angleichung erst auf Druck des Bundesverfassungsgerichts von einem (an sich unwilligen) Gesetzgeber herbeigeführt worden ist.48 45 BVerfGE 10, 59 (66); 105, 313, 342, 343 „[…] einer engen Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau eine personelle Exklusivität auszeichnet.“ 46 Vgl. auch Art. 16 Abschn. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948. 47 So auch BVerfGE, 45, 104 (125). 48 Kritisch dazu Bernd Rüthers, Trendwende im Bundesverfassungsgericht – Über die Grenzen des Richterstaates, NJW 2009, S. 1461; ders. (Fn. 44), S. 128 ff.; Volker Rieble, Richterliche Gesetzesbindung und Bundesverfassungsgericht, NJW 2011, S. 819 ff.

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Dass der Gesetzgeber die eingetragene Lebenspartnerschaft ebenso wie andere sexuell oder nicht sexuell begründete Gemeinschaften als einer Ehe nicht vergleichbar angesehen hat und dementsprechend auch nicht gleichbehandeln und vergleichbar ausgestalten wollte, zeigt schon die sehr zögerliche Gesetzgebung. Der Zeitgeist, den das Bundesverfassungsgericht bei seinen Entscheidungen verspürt haben mag, scheint nicht bis in den Bundestag hineingeweht zu haben. Auch im Verständnis der Bevölkerung ist Ehe ein fest konturiertes Institut hergebrachter Art, was sich im Sprachgebrauch niederschlägt. Selbst der gelegentlich verwendete Begriff der „Homoehe“ lässt durch die für notwendig erachtete Vorsilbe „homo“ erkennen, dass es sich nach dem allgemeinen Verständnis eben nicht um eine Ehe handelt. Der Begriff der Ehe lässt sich nicht durch die Rechtsprechung um andere Lebensgemeinschaften aufrüsten. Denn Wesensmerkmal des Art. 6 Abs. 1 GG ist es gerade, dass die Ehe „die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist“.49 Verfassungsänderungen, wenn sie denn mehrheitlich gewollt sind, sind allein Sache des verfassungsändernden Gesetzgebers. Nach Art. 79 Abs. 1 und 2 GG sind Verfassungsänderungen mit qualifizierter Mehrheit vom Parlament durch Änderung des Textes vorzunehmen. Dem Bundesverfassungsgericht ist es verwehrt, seine materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen unter Anwendung welcher Verfassungsnorm auch immer an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen. Das entspricht im Übrigen auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,50 etwa zur Rechtsfortbildung der Fachgerichte. Betrachtet man die Rechtsprechung zur eingetragenen Lebenspartnerschaft, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier die Judikative ein Projekt betreibt, für das ausschließlich der Gesetzgeber zuständig wäre. Der Eindruck, dass hier eine andere Wertvorstellung als diejenige, von der der Verfassungsgeber bei der Formulierung des Art.  6 Abs.  1 GG ausgegangen ist, durchgesetzt werden soll, verstärkt sich, wenn man auf die fatalen Folgen blickt, die diese Rechtsprechung zeitigt. Die Exklusivität51 der Ehe gemäß Art. 6 Abs. 1 GG, die ihren Ausdruck im besonderen Schutz- und Förderungsauftrag findet, läuft infolge dieser Rechtsprechung mittlerweile leer, wie der Gesetzgeber inzwischen auch zur Kenntnis nehmen musste. Hieß es noch in einer Entscheidung im Jahre 2002, „dem Gesetzgeber ist es wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht verwehrt, diese gegenüber anderen Lebensformen zu be­ günstigen“,52 so fordert die Rechtsprechung mittlerweile, dass es eines zusätz­lichen 49 50 51 52

Vgl. u. a. auch BVerfGE 105, 313 (345). Vgl. BVerfGE 128, 193 (209). BVerfGE 105, 313 (343). BVerfGE 105, 313 (348).

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„hinreichend gewichtigen“ Sachgrundes53 bedarf, damit der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen Schutz- und Förderauftrag erfüllen kann. Die Verknüpfung von Ehe und Lebenspartnerschaft bewirkt so, dass der verfassungsrechtlich gebotene Schutz- und Förderungsauftrag für die Ehe (allein) vom Staat, von der Gesellschaft nicht mehr erfüllt werden kann. Förderung, die nur für die Ehe und allein aus diesem Grunde, nämlich wegen des Bestehens einer ehelichen Lebensgemeinschaft erfolgt, kann es danach nicht mehr geben. Das ist einmal Folge des – wie oben ausgeführt – verfehlten dogmatischen Ansatzes der Rechtsprechung. Wenn überdies die Rechtsprechung in Art. 6 Abs. 1 GG das ungeschriebene Merkmal eines „hinreichend gewichtigen“ Sachgrundes hineinliest und so den Verfassungstext verändert, ist das kein Akt der Verfassungsinterpretation mehr. Es handelt sich um eine Verfassungsänderung. Eine Verfassungsänderung darf aber nur die Legislative vornehmen. Hierfür fehlt es der Judikative an Kompetenz. Hinzu kommt noch ein Weiteres: Mit der faktischen Eliminierung des Verfassungsauftrags im staatlichen Leben löst sich die Rechtsprechung von den Wertvorstellungen des Verfassungsgebers. Denn dieser wollte mit dem speziellen und für die Verfassung nahezu singulären54 Schutz- und Förderauftrag der hervorragenden Bedeutung der Ehe für die staatliche Gemeinschaft besonderen Nachdruck verleihen. Es war ihm ein Anliegen, dass sich der Staat gerade dieser Lebensgemeinschaft verpflichtet fühlen sollte. Die Rechtsprechung negiert dies. Gerade auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,55 aber in Einklang mit der juristischen Methodenlehre gilt, dass der richterliche Norminterpret sich bei der Interpretation von den im Gesetz oder der Verfassung zum Ausdruck gekommenen Wertvorstellungen leiten lassen muss, will er nicht seine Kompetenz überschreiten. Lässt der richterliche Interpret jedoch bei der Auslegung seine eigenen Wertvorstellungen einfließen und judiziert er danach, schafft er in Wirklichkeit neues Recht. Normgebung ist indessen im gewaltenteiligen Staat des Grundgesetzes allein der Legislative vorbehalten.

IV  Machterhalt im System der Gewaltenbalance Die wenigen Beispiele stehen für eine Entwicklung der Rechtsprechung des ­Bundesverfassungsgerichts, die im Ergebnis im System der Gewaltenteilung das Gewicht der Judikative gestärkt, das der anderen Gewalten, in Sonderheit des ­Parlaments, geschwächt hat. Der Begriff „Richterstaat“ erhält als Folge dieser 53 BVerfGE 124, 199 (226); 126, 400 (420); 131, 239 (260); 132, 179 (191 f.); 133, 377 (411). 54 Art. 1 Satz 2 GG enthält ebenfalls einen Schutzauftrag. 55 Vgl. BVerfGE 128, 193 (209 f.).

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raumgreifenden Rechtsprechung eine negative Konnotation. Die Schwächung der Funktion der Volksvertretung für die Gesellschaft, ihre Bedeutung für die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse geht einher mit einem Defizit an Demokratie. Das Parlament ist deshalb von Verfassungswegen gehalten, seine verfassungsmäßige Position im Gewaltenteilungssystem zu wahren. Damit stellt sich die Frage, wie die Volksvertretung der Machterosion wirkungsvoll begegnen kann. Dabei wird zu prüfen sein, ob und in welcher Weise die Rechtsordnung ein Instrumentarium bereithält, das es zu nutzen gilt. Denn wirkungsvoll ist die Gegenwehr der Volksvertretung nur dann, wenn die Reaktionen auch vielversprechend sind. Wo dies nicht der Fall ist, wäre zu prüfen, ob weitere Möglichkeiten gesetzlich zu schaffen sind. Keine Wirkung im Sinne einer Veränderung im gestörten Gefüge der Ge­ waltenbalance zeitigt naturgemäß die widerspruchslose Entgegennahme und ­Umsetzung auch solcher Judikate, die berechtigte Zweifel an der verfassungsgerichtlichen Korrektur der Rechtsakte nahelegen. Auch wenn hinter vorgehaltener Hand Missmut laut wird, so degeneriert das Parlament doch zum Vollstreckungsorgan des Bundesverfassungsgerichts. Wenig oder keinen Erfolg versprechen auch Lamentieren oder kritische Kommentare.56 Der Gesetzgeber könnte aber Regeln schaffen, die es ihm ermöglichen, ein verfassungsgerichtliches Verdikt zu überstimmen. Für eine erneute Beschlussfassung im Anschluss an die Verfassungsgerichtsentscheidung bedürfte es dann einer qualifizierten Mehrheit im Parlament, quasi einer einfachen Mehrheit plus. Das hätte der Gesetzgeber festzulegen. Eine besondere Herausforderung für die Volksvertretung dürften naturgemäß Grenz­ überschreitungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darstellen. Der Umgang mit solchen zunächst nur vermeintlich ausbrechenden Rechtsakten, die vom Parlament nicht hingenommen werden können, fordert eine besondere Sensibilität. Hier wird zu prüfen sein, in welcher Weise man zu der Feststellung gelangt. Für die Beantwortung der Frage, welche Folgerungen Grenzüberschreitungen, also Judikate, die ohne entsprechende Zuständigkeit ergehen, nach sich ziehen, kann auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts rekurriert werden. Zum Problemkreis des ausbrechenden Rechtsakts führt es aus, es müsse einen „Weg einer ultra-vires-Kontrolle“ geben, die „im Fall von Grenzdurchbre­ chungen bei Inanspruchnahme von Zuständigkeiten“ greift. Die Ultra-vires-Kon­ trolle könne dazu führen, dass das Recht für „unanwendbar“ erklärt werde.57 Das entspricht allgemeiner Rechtsauffassung. Das Parlament wird sehr sorgfältig prü56 Man erinnere sich an die ergebnislose Kritik an der Prüfungsintensität zur Meinungsfreiheit. 57 BVerfGE 123, 267 (353 f.).

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fen müssen, welche Instrumentarien es für optimal erfolgversprechend hält und diese dann implementieren. Es ist zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht seinerseits in Reaktion darauf in Verfolgung der verfassungsrechtlichen Anfor­ derungen sich in mehr Zurückhaltung üben wird. Mit der Wiederherstellung der vom Verfassungsgeber verordneten Gewaltenbalance wird auch die Bezeichnung des Staates als eines Richterstaats wieder zu einer allseits als positiv akzeptierten Begrifflichkeit, die zutreffend auf die Rechtsstaatlichkeit des Staatswesens hinweist.

Naturrecht im 21. Jahrhundert? Versuch einer Prognose Von Rainer Biskup

Uwe Wesel, emeritierter Rechtshistoriker der Freien Universität Berlin, schrieb kürzlich einen Beitrag über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.1 Die Architektur des Gebäudes verkörpert für ihn „Flexibilität und ­Offenheit, aber auch Erhabenheit und Erbauung“, ein sicher zutreffender Eindruck, der von dem Architekten, dem Briten Richard Rogers, durchaus gewollt war. 2 Auch inhaltlich lobt Wesel das Gericht: „Dies soll ein Ort der Klärung sein, der Hoffnung, der Aufklärung. Hier wird eine höhere Gerechtigkeit verkündet als die der Staaten: Naturrecht, Menschenrechte.“3 Wesel sieht das Gericht dem topischen Denken, dem Problemdenken verpflichtet, weniger dem Systemdenken der Begriffsjurisprudenz. Daraus schließt er, dass an die Stelle der Norm der Grundsatz trete, und führt aus: „Die Gesamtheit dieser Grundsätze, das ist der zweite wichtige Gedanke, ergibt ein überstaatliches Naturrecht. Das ist der Gedanke der Allgemein­ gültigkeit, das Universalitätsprinzip.“4 Rechtfertigt die bisherige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) diese Auffassung von Geltung und Wirksamkeit eines Naturrechts? Sind wir etwa am Beginn einer weiteren Renaissance des Naturrechts, so, wie das nach 1945 für einige Jahre der Fall war? Darüber hinaus: Wird das Naturrecht im 21. Jahrhundert in der rechtsprechenden Praxis noch von Bedeutung sein?

I  Zum Begriff des Naturrechts Der Begriff des Naturrechts weist zurück auf philosophische Bemühungen in der Antike, aus der ewigen Ordnung der Natur, also aus dem Sein, Normen des Sollens erkennen zu können. Ein so erkanntes Recht musste richtiges, gerechtes 1 Uwe Wesel, Strasbourg, Das jüngste Gericht, in: Mekkas der Moderne: Pilgerstätten der Wissensgesellschaft, hrsg. von Hilmar Schmundt, Miloš Vec, Hildegard Westphal, 2010, S. 194. 2 Dazu Sir Richard Rogers in der Broschüre anlässlich der Eröffnung des Gebäudes: The Human Rights Building, Juni 1995, S. 15. 3 Uwe Wesel (Fn. 1), S. 194. 4 Uwe Wesel (Fn. 1), S. 200.

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Recht sein. An ihm musste sich das von Menschen gesetzte Recht, das positive Recht messen lassen, wenn es Geltung beanspruchte. Die in der Folgezeit wechselnden naturrechtlichen Lehren verband die Überzeugung, dass ein so erkanntes Naturrecht über dem vom Herrscher gesetzten Recht stand und seiner Verfügungsgewalt entzogen war. In der Zeit der Aufklärung, im 18.  Jahrhundert, meinten die damaligen Rechtsgelehrten sogar, ganze Rechtssysteme aus dem Naturrecht entwickeln zu können, die sich zwar nicht mehr aus der Ordnung der Natur oder aus göttlichem Willen, wohl aber aus der Natur der Sache oder aus der Natur des Menschen ableiten ließen und die mit Hilfe der Vernunft zu erkennen waren. Die großen Kodifikationen vom Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts basierten dann auf diesen Arbeiten. Dazu gehörte beispielsweise das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Friedrich II. hatte bereits 1746 durch königliche Verordnung den Auftrag erteilt, ein deutsches allgemeines Landrecht, ein Gesetzbuch in deutscher Sprache zu entwerfen, „welches sich bloß auf die Vernunft und Landesverfassungen gründet“.5 Der so entstandene Entwurf wurde aber nie Gesetz; die Kriege Friedrich II. und ihre Folgen ließen andere Vorhaben wichtiger erscheinen. Erst in seinen späten Lebensjahren initiierte der König das Gesetzesvorhaben erneut.6 Den naturrechtlichen Ansätzen der Neuzeit lag die Überzeugung zugrunde, dass der Mensch von Natur aus frei sei und ihm individuelle, subjektive Rechte gleichsam a priori zuständen. Dies gipfelte in den Erklärungen der Menschenrechte, erstmals in der Virginia Declaration of Rights von 1776, in der in Art. 1 festgestellt wird: „Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und un­ abhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte […].“7 Sie wurde zum Vorbild für die aus der französischen Revolution 1789 hervorgegangene Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen, in der sich ähnliche Formulierungen finden.8 Im Naturrecht, genauer im Vernunftrecht der Aufklärung entwickelte Grundsätze erfuhren so eine Positivierung und wurden wiederum Vorbild für moderne demokratische Verfassungen, internationale Erklärungen und Verträge über Menschenrechte. Zugrunde lag und liegt die Vorstellung, dass mit diesen Menschenrechten nur elementare, vorgegebene Grundsätze positiviert wurden, die über dem von Men5 Königliche Verordnung vom 31.12.1746, erwähnt und abgedruckt bei Hans Hattenhauer, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 2. Aufl. 1994, Einleitung, S. 1. 6 Durch Königliche Kabinettsorder vom 14.04.1780, vgl. Hattenhauer (Fn. 5), S. 8. 7 „That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights [...].“ 8 Art. 1: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“

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schen gesetzten, über dem positiven Recht stehen und im Konfliktfall diesem vorgehen.9 Das positive einfache Recht muss diesen in den nationalstaatlichen Verfassungen,10 in der Europäischen Menschenrechtskonvention,11 in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union,12 in anderen völkerrechtlichen Verträgen13 und internationalen Deklarationen14 niedergelegten Menschenrechten entsprechen, wenn es Geltung beanspruchen will; anderenfalls ist es nicht anzuwenden. In Staaten mit einem vergleichbaren Rechtsstandard wie in Deutschland bedarf es keines Rückgriffs auf ein Naturrecht, auf ein überpositives Recht mehr, wenn es um die Geltung von Menschenrechten geht. In Deutschland sind die Menschenrechte als Grundrechte in der Verfassung dekretiert, sind also hochrangiges positives Recht, an dem sich anderes positive Recht messen lassen muss. Der früher unüberwindlich erscheinende Gegensatz zwischen Positivismus und Naturrecht könnte damit als aufgehoben gelten, das Naturrecht als Gegenstand der Rechtserkenntnis erledigt, der Positivismus als Sieger des vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgefochtenen Streits. Recht ist, was in einem dafür konstitutionell vorgesehenen Verfahren an Normen erlassen wird und den genannten positivierten Menschenrechten nicht widerspricht. Die Frage der Richtigkeit dieser Normen oder ihrer gerechten Ausgestaltung stellt sich für den Positivisten nicht oder nicht mehr, nur noch die Frage ihrer richtigen Anwendung.15   9 Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2010, § 8, Rdz. 2. 10 Art. 1 Abs. 2 GG. Die Grundrechte binden alle staatliche Gewalt als unmittelbar geltendes Recht, Art. 1 Abs. 3 GG. 11 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 (jetzt als völkerrechtlicher Vertrag von allen derzeitigen Mitgliedern des Europarats unterzeichnet und in den Heimatländern ratifiziert). 12 Als einer drei Verträge der Europäischen Union in Kraft zusammen mit dem Vertrag von Lissabon seit dem 01.12.2009. 13 Wie etwa dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) vom 16.12.1966. 14 Als erste die in der Resolution der Generalversammlung der UNO vom 10.12.1948 niedergelegte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte „als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“ (so am Schluss der Präambel). Ob sie nach wie vor nur deklaratorischen Charakter hat oder inzwischen ganz oder zumindest teilweise als Völkergewohnheitsrecht gilt oder bereits den Rang von völkerrechtlichem ius cogens besitzt, ist umstritten, vgl. Marcel Kau, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: Völkerrecht, hrsg. von Wolfgang Graf Vitzthum/Alexander Proelß, 6. Aufl. 2013, S. 131 ff. 15 Johann Baum, Rechtsrelativismus und Rechtsabsolutismus, JZ 2013, 265 ff. hat m. E. überzeugend dargelegt, dass bei der Anwendung der positiven Normen im Einzelnen oft eine nichtpositive, also im weitesten Sinne naturrechtliche Erkenntnis im Wege der Auslegung stattfindet. Das ist aber nicht Gegenstand dieser Betrachtung.

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Die kurzfristige Renaissance des Naturrechts nach dem Zweiten Weltkrieg gipfelte in der berühmten Radbruch’schen Formel.16 Gustav Radbruch stellte zum Umgang mit dem Recht des nationalsozialistischen Unrechtsstaates die Forderung auf, dass zwar – ganz positivistisch – auch (einfach) ungerechte Gesetze aus Gründen der Rechtssicherheit zu befolgen sind. Sind sie aber unerträglich ungerecht, muss der Gedanke der Rechtssicherheit der Gerechtigkeit weichen. Streben diese Gesetze nicht einmal Gerechtigkeit an, leugnen sie geradezu den Kern der Gerechtigkeit, die Gleichheit, sind sie gar kein Recht. In beiden letztgenannten Fällen ist solches Recht wegen des Verstoßes gegen überpositives Recht, also gegen Naturrecht nicht anzuwenden. Diese Formel fand Eingang in viele Gerichtsentscheidungen auch des Bundesgerichtshofs (BGH)17 und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG).18

II  Naturrecht und die Mauerschützenfälle Radbruchs Formel war nahezu vergessen, das Naturrecht kam in der Recht­ sprechung nicht mehr vor,19 als nach der deutschen Wiedervereinigung das in der früheren DDR begangene Unrecht zur justizförmigen Aufarbeitung anstand. Funktionäre, die für den sogenannten Schießbefehl verantwortlich waren, und Soldaten, die diesen Befehl befolgt und an der innerdeutschen Grenze den Übertritt von Bürgern der DDR von Ost nach West mit Waffengewalt verhindert ­hatten, wurden wegen der an diesen Bürgern begangenen vorsätzlichen Tötungsdelikte vor Gerichten der Bundesrepublik Deutschland angeklagt. Vereinfacht gesagt, hatten die Gerichte dem Argument zu begegnen, dass die unmittelbaren und mittelbaren Täter sich darauf beriefen, nach dem Recht ihres damaligen Staates, der DDR, nicht rechtswidrig gehandelt zu haben. Wenn man unterstellt, dass dies so richtig ist,20 läge kein Verstoß gegen positives, in der da16 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 ff. Die Radbruch’sche Formel wird hier nicht näher erläutert, vgl. dazu Horst Dreier, Gustav Radbruch und die Mauerschützen, JZ 1997, 421–434. 17 Etwa BGH, Urteil v. 12.02.1952, BGHSt 2, 173 (177). 18 Etwa BVerfG, Beschluss v. 14.02.1968, BVerfGE 23, 98 (106). 19 Hans Joachim Faller, Wiederkehr des Naturrechts?, JöR Bd. 43 (1995), 14. 20 So überzeugend Udo Ebert, Strafrechtliche Bewältigung des DDR-Unrechts zwischen Politik, Strafrecht und Verfassungsrecht, in: Festschrift für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag, 1999, S. 520. Diejenigen, die diese Tötungsdelikte nach dem eigenen Recht der DDR bei rechtsstaatlicher Interpretation für rechtswidrig halten, verkennen, dass die DDR gerade kein Rechtsstaat war und eine solche Auslegung nicht der staatlichen Realität der

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maligen Situation geltendes Recht vor.21 Man käme dann nur zur Rechtswidrigkeit der Tötungshandlungen, wenn man überpositives Recht heranziehen würde und den Tätern entgegenhalten könnte. Das DDR-Recht, das die Tötungen erlaubte, wäre wegen eines Verstoßes gegen dieses überpositive Recht nicht wirksam gewesen und käme infolgedessen als Rechtfertigungsgrund nicht in Betracht. Das Naturrecht und die Radbruch’sche Formel kämen zu einer erneuten Renaissance. Die Täter der sog. Mauerschützenfälle sind bestraft, ihre Rechtfertigungsgründe nicht anerkannt worden. Die grundsätzlichen Überlegungen, die die mit diesen Fällen befassten Gerichte, Landgerichte, Bundesgerichtshof, Bundesverfassungsgericht und Menschengerichtshof, angestellt haben, sollen hier nur insoweit kurz skizziert werden, als sie die Anwendung überpositiver Menschenrechte und Grundsätze der Gerechtigkeit betreffen.

1  Entscheidung der ersten Instanz Eine Strafkammer des Landgerichts Berlin hatte als erstes Gericht über Fälle zu entscheiden, in denen Soldaten der damaligen Grenztruppen der DDR in Befolgung des Schießbefehls einen Menschen erschossen hatten, der die innerdeutsche Grenze überwinden wollte. In seinem Urteil vom 20.01.199222 bezog sich das Gericht offen auf überpositives Recht und kam so zur Bestrafung der Soldaten. Die Strafkammer wies auf Entscheidungen des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts aus den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hin. Die Gerichte hatten die Radbruch’sche Formel angewandt und bei der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen den Tätern die Berufung auf Rechtsnormen des Dritten Reiches wegen eklatanter Verstöße gegen materielle Gerechtigkeit versagt. Entsprechend argumentierte die Kammer in dem von ihr zu entscheidenden Fall: Die im DDR-Grenzschutzgesetz enthaltene Order und DDR entspricht, vgl. Helmut Kreicker, Art.  7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, 2002, S. 42. 21 Hier interessiert nur dieser Aspekt der Mauerschützenfälle. Die Probleme im Übrigen sind breit und äußerst kontrovers diskutiert worden. Aus der umfangreichen Literatur soll hier nur auf Gerhard Dannecker/Kristian F. Stoffers, Rechtsstaatliche Grenzen für die strafrechtliche Aufarbeitung der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze, JZ 1996, 490 ff., und Dreier (Fn. 16), JZ 1997, 421, hingewiesen werden. 22 Az.: (523) 2 Js 48/90 KLs (9/91), JZ 1992, 691. Das vollständige Urteil ist abgedruckt in der Dokumentation „Strafjustiz und DDR-Unrecht“, Bd.  2, „Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze“, Teilband 1–2, 2002, Tbd. 1, S. 5 ff. (künftig zitiert: Gewalttaten).

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der von der Obrigkeit den Soldaten zusätzlich suggerierte Wunsch, Personen, die ohne Erlaubnis das Land hätten verlassen wollen, notfalls zu erschießen, sei rechtlich unbeachtlich gewesen, „weil der Anlaß für das Erschießen, nämlich der bloße Grenzübertritt ohne behördliche Erlaubnis, in einem solch unerträglichen Mißverhältnis zur möglicherweise eintretenden Folge, nämlich dem Tod eines Menschen, steht, daß eine solche Regelung keinen Respekt verdient und ihr der Gehorsam zu verweigern war“.23

Welches Naturrecht, welches überpositive Recht genau der Rechtfertigung aus dem positiven Recht, dem DDR-Grenzschutzgesetz, entgegenstand, führte die Kammer nicht im Einzelnen aus. Es ist aus den Gründen aber erkennbar, dass die Kammer der Meinung war, in das Recht jedes Einzelnen auf Leben dürfe ein Staat nur eingreifen, wenn dieser Einzelne schwerste Rechtsgutverletzungen begeht oder zu begehen droht. Das wiederum sei nach einem objektiven Maßstab zu bemessen; dass der Staat der DDR das unerlaubte Verlassen seines Staatsgebiets dazu zähle, reiche nicht aus.24

2  Entscheidung der Revisionsinstanz Der Bundesgerichtshof ging in der Beurteilung solcher Fälle einen ähnlichen Weg.25 Er stellte zunächst klar heraus, dass nach dem Recht der DDR und „nach der zur Tatzeit in der DDR geübten Staatspraxis die Anwendung von Dauerfeuer ohne vorgeschaltetes, auf die Beine [des Flüchtenden] gerichtetes Einzelfeuer nicht als rechtswidrig angesehen worden wäre“.26 23 Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1 (Fn. 22), S. 52. 24 Dazu die Argumentation der Kammer, wer aus politischen Gründen und um den Fortbestand eines totalitären Herrschaftssystem zu sichern, vorsätzlich einen Menschen töte, verstoße gegen fundamentale Grundsätze des Rechts und der Menschlichkeit: Gewalttaten, Bd. 2, Tbd.1 (Fn. 22), S. 53. 25 Das Urteil des BGH vom 03.11.1992 (5 StR 370/92) war die erste „Mauerschützenentscheidung“, BGHSt 39, 1; Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1 (Fn. 22), S. 135. Sie betraf nicht den soeben berichteten Fall des LG Berlin, sondern einen etwas später entschiedenen einer Jugendstrafkammer. Die Revision gegen das Urteil des LG Berlin vom 20.01.1992 entschied der BGH mit Urteil vom 25.03.1993, 5 StR 418/92, BGHSt 39, 168; Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1 (Fn. 22), S. 71, und nahm dabei zur Rechtslage auf das Urteil vom 03.11.1992 Bezug. 26 Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1 (Fn. 22), S. 141.

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Die sich daraus ergebene Frage, ob ein solcher Rechtfertigungsgrund „wegen Verletzung vorgeordneter, auch von der DDR zu beachtender allgemeiner Recht­ sprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip außer Betracht bleiben muß“,27

bejahte der Senat ausdrücklich. Solche Fälle müssten allerdings auf extreme Ausnahmen beschränkt bleiben. Diese lägen dann vor, wenn ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit in dem betreffenden positiven Recht zum Ausdruck käme. Dieser Verstoß müsse so schwer wiegen, dass er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletze. Im Anschluss daran zitierte der BGH die Radbruch’sche Formel, allerdings ohne deren Anwendung im Einzelnen näher zu begründen. Obwohl der BGH die Anwendung der Radbruch’schen Formel und damit des überpositiven Rechts in diesem Fall bereits bejaht hatte,28 ergänzte er seine Überlegungen positivrechtlich mit den Worten, dass konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen seien.29 Er bezog sich dazu auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 (IPbürgR), 30 dem auch die DDR im Jahr 1974 beigetreten war. Die DDR habe es zwar unterlassen, auch die Änderungen ihres innerstaatlichen Rechts vorzunehmen, zu denen sie der Pakt verpflichtet habe. Das habe aber nichts an der völkerrechtlichen Verpflichtung der DDR geändert, die Verpflichtungen aus dem Pakt zu erfüllen. Nach Art. 12 Abs. 2 IPbürgR stehe es jedermann frei, jedes Land, einschließlich seines eigenen zu verlassen. Dieses so bezeichnete Menschenrecht auf Ausreisefreiheit sowie das Lebensrecht aus Art. 6 IPbürgR seien durch das Grenzregime der DDR verletzt worden.31 Die Verletzung der beiden im Pakt garantierten Menschenrechte mache „es dem Senat unmöglich, bei der Rechtsanwendung die Vorschriften des § 27 des Grenz­ schutzgesetzes […] als Rechtfertigungsgrund zugrundezulegen“.32 Diese Formulierung des BGH ist ein wenig merkwürdig: War es nur dem Senat, also den erkennenden Richtern subjektiv unmöglich, die Rechtfertigungsgründe zu bejahen, 27 Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1 (Fn. 22), S. 142. 28 Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1 (Fn. 22), S. 142 Mitte. 29 Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1 (Fn. 22), S. 143. Lena Foljanty, Recht oder Gesetz, 2013, S. 367, meint zutreffend, der BGH habe so übergesetzliches Recht im Lichte positiven Rechts interpretiert und verdichtet. 30 BGBl. II 1973, S. 1543. 31 Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1 (Fn. 22), S. 145. 32 Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1 (Fn. 22), S. 147.

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oder war dies – wohl richtig – ein objektiver Hinderungsgrund? Mit der Frage, ob der IPbürgR, den die DDR zwar abgeschlossen, aber nicht in innerstaatliches Recht transformiert hatte, die Mauerschützen bei der Anwendung des §  27 DDR-Grenzgesetzes überhaupt binden konnte,33 er für sie geltendes Recht darstellte, setzte sich der BGH nicht auseinander.34 Das blieb – ungeachtet vielerorts erhobener Kritik – auch die Linie weiterer Entscheidungen des Bundesgerichtshofs.

3  Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Drei verurteilte ehemalige hohe Funktionsträger der DDR und ein Grenzsoldat sahen durch die Entscheidungen der ordentlichen Gerichte das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG als verletzt an. Sie wandten sich im Wege der Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das ihre Beschwerden mit Beschluss vom 24.10.199635 zurückwies. Auch das BVerfG verweigerte den Mauerschützen und den Verurteilten, die zwar nicht geschossen, aber den Schießbefehl als Inhaber hoher Ämter im Parteiund Staatsapparat der DDR zu verantworten hatten,36 den nach dem Recht der DDR aus deren § 27 Grenzgesetz ableitbaren Rechtfertigungsgrund. Dieser habe der Durchsetzung des Verbots, die DDR zu verlassen, Vorrang vor dem Lebensrecht des einzelnen Menschen eingeräumt. Das aber sei wegen eines offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unbeachtlich. Der Verstoß wiege so schwer, dass er die allen Völkern gemeinsame, auf Wert und Würde des einzelnen Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletze. Das BVerfG bezog sich dabei auf „ständige höchstrichterliche Rechtsprechung“ des BGH in Strafsachen. Eine Verletzung des Rückwirkungsverbotes von Strafgesetzen sah das BVerfG darin auch nicht: Das Rückwirkungsverbot habe seine rechtstaatliche Rechtfertigung in der Vertrauensgrundlage, die Strafgesetze eines an Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgebers tragen.37 An einer solchen Vertrau33 Verneinend Ebert (Fn. 20), S. 522. 34 Dreier (Fn. 16), 421–425. 35 BVerfGE 95, 96 ff., 2 BvR 1851, 1853, 1875, 1852/94, auch abgedruckt in: Gewalttaten (Fn. 22), Bd. 2, Tbd. 2, S. 609 ff. 36 Letztere hielt das BVerfG der Anstiftung zum Mord für schuldig, BVerfGE 95, 96 ff.; 271 f. 37 Dreier (Fn. 16), 421, 423, hält die Auffassung des BVerfG, den Schutz des Rückwirkungsverbots nur den unter einer rechtsstaatlichen Verfassungsordnung Lebenden zukommen zu lassen, für „eine schlichte Erfindung des Gerichts – und keine besonders gute“.

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ensgrundlage fehle es, wenn ein Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließe, indem er zu solchem Unrecht auffordere, es begünstige und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachte.38 Das ist alles, was das BVerfG in seiner Entscheidung zu den Fragen ausführt, die im Ergebnis allein für die Strafbarkeit der Grenzsoldaten und der Funktionäre maßgebend waren. Letztlich zitiert das Gericht nur die Radbruch’sche Formel und erwähnt dabei auch Radbruch ausdrücklich. Es äußert damit eine Rechtsansicht, die keineswegs evident ist und der näheren Begründung bedurft hätte. Es wird in dem Beschluss auch nicht ausgeführt, gegen welche elementaren Gebote der Gerechtigkeit die Bestimmung des § 27 DDR-Grenzschutzgesetz verstoßen haben könnte. Auch verliert das BVerfG kein Wort darüber, welche völkerrechtlich geschützten Menschenrechte es als verletzt ansieht. Handelt es sich um solche des Vertragsvölkerrechts, konkret etwa um den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dem – um in der DDR wirksam zu sein – die DDR nicht nur beigetreten sein, sondern den sie auch in ihr innerstaatliches Recht transformiert haben müsste, was nicht der Fall war? Oder erkennt das BVerfG bereits überpositive Menschenrechte, die global a priori gelten, auch ohne völkervertragliche Ausgestaltung, vielleicht als allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG, als zwingendes Völkergewohnheitsrecht? Diese und weitere Fragen werden nicht beantwortet. Kann aus dieser Entscheidung des BVerfG der Schluss gezogen werden, dass das Gericht auch künftig für vielleicht weniger spektakuläre Fälle auf überpositive Rechtssätze, also letztlich auf Naturrecht zurückgreifen könnte? Diese Frage, die der Beschluss vom 24.10.1996 nahe legt, ist wohl eindeutig zu verneinen. Die Entscheidungen zu den Mauerschützenfällen dürften Ausnahmen bleiben, die außergewöhnlichen Umständen geschuldet und vielleicht auch von der Überzeugung getragen waren, dass es für das Gerechtigkeitsempfinden und für legitime Bestrafungsinteressen unerträglich gewesen wäre, unmittelbare und mittelbare Täter der Tötungsdelikte an der deutsch-deutschen Grenze unbestraft zu lassen.39 38 BVerfGE 95, 96; 271 f. 39 Str.; Helmut Kreicker, Art.  7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, 2002, S. 107, begrüßt die Verurteilungen aus kriminalpolitischer Sicht; Udo Ebert (Fn. 20), S. 536, hätte nur die Bestrafung der Hintermänner für angemessen gehalten; die strafrechtliche Verantwortlichkeit wäre mit der moralisch-politischen in eine größere Deckung gebracht worden. Dreier (Fn. 16), S. 433 f. brachte – neben rechtlichen Zweifeln – den Gedanken einer einen strafrechtlichen Schlussstrich ziehenden Amnestie in die Diskussion ein.

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In einem Beschluss vom 26.02.200840 erteilte das Gericht in einem ganz anderen Fall41 dem Gedanken an überpositives Recht in einem Staatswesen wie Deutschland eine klare Absage: Von einem überpositiven Rechtsbegriff als ­Element des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs könne nicht ausgegangen werden. Nach der grundgesetzlichen Ordnung sei es Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, Strafzwecke und die mit den Mitteln des Strafrechts schützenswerten Rechtsgüter festzulegen. Diese Befugnis könne nicht unter Berufung auf angeblich vorfindliche oder durch Instanzen jenseits des Gesetzgebers „anerkannte“ Rechtsgüter eingeengt werden. In Widerspruch zum Mauerschützen-Beschluss vom 24.10.1996 setzt sich das BVerfG mit dieser Entscheidung aus dem Jahr 2008 allerdings nicht. Es schließt ja nur die Anwendung etwaiger überpositiver Rechtssätze für den Fall aus, dass ein unter dem Grundgesetz agierender, demokratisch legitimierter Gesetzgeber positives Recht erlassen hat. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen; dieses positive Recht muss sich an den Grundrechten und den Bestimmungen der Verfassung im Übrigen, also an positivem Recht messen lassen und wird notfalls in einem geordneten Verfahren vor dem BVerfG korrigiert. Einem überpositiven Recht im Sinne fundamentaler Gerechtigkeitsvorstellungen kann deshalb im Rahmen der von der Verfassung konstituierten Rechtsordnung keine eigenständige rechtliche Bindungswirkung zugebilligt werden.42 Ohne es ausdrücklich zu sagen, schließt das BVerfG aber nicht die Anwendung überpositiven Rechts für den Fall aus, dass positives Recht nicht in einem solchen Verfahren erlassen ist, also ohne einen ­demokratisch legitimierten Gesetzgeber und nicht unter der durchsetzbaren ­Geltung von Menschenrechten durch unabhängige Gerichte.

4  Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Einen anderen Weg als die deutschen Gerichte ging der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Er verneinte in zwei Urteilen vom 22.03.200143 einen Verstoß der deutschen Gerichte gegen Art. 7 Abs. 1 der Euro40 BVerfGE 120, 224, 2 BvR 392/07, Rdz. 39. 41 Über die Frage, ob die Strafbarkeit des Beischlafs leiblicher Geschwister (§ 173 Abs. 2 S. 2 StGB) verfassungsgemäß ist. 42 Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Lfg. 51, 2007, S. 32. 43 Die Große Kammer des EGMR über die Beschwerden Nr.  34044/96, 35532/97 und 44801/98  – im folgenden Urteil  1  – nahezu vollständig abgedruckt in Gewalttaten (Fn. 22), Bd. 2, Tbd. 2, S. 915 und über die Beschwerde Nr. 37201/97 – im folgenden Urteil 2 – in: Gewalttaten Bd. 2, Tbd. 1, S. 189.

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päischen Menschenrechtskonvention (EMRK), also gegen das Gebot des nulla crimen, nulla poena sine lege,44 argumentierte dabei aber streng positivistisch in Anwendung des nationalen Rechts und des Völkerrechts.45 Überpositives Recht und die sog. Radbruch’sche Formel zog der EGMR zur Begründung nicht heran. Den EGMR angerufen hatten gegen ihre Verurteilung durch deutsche Gerichte zum einen drei ehemalige hochrangige Mitglieder der DDR-Staatsführung46 und zum anderen einer von zwei Grenzsoldaten der DDR, die 1972 einen Flüchtling47 erschossen hatten, der in Berlin die Spree von Ost nach West durchschwimmen wollte. Zu den unterschiedlichen Erwägungen der deutschen Strafgerichte und des BVerfG zur Frage der Rechtfertigungsgründe wollte sich der EGMR ausdrücklich nicht äußern, weil Auslegung und Anwendung innerstaatlichen Rechts „vorran­ gig“ Sache der nationalen Gerichte sei. Er habe sich nur davon zu überzeugen, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und insbesondere mit deren Art. 7 Abs. 1 vereinbar seien.48 Vom EGMR war danach zur Anwendung überpositiven Rechts durch die deutschen Gerichte keine Stellungnahme zu erwarten. Tatsächlich begründete der EGMR die Strafbarkeit der unmittelbaren wie der mittelbaren Täter dann allein aus dem positiven Recht, dem geschriebenen Recht der DDR und dem Völkerrecht, ohne überpositives Recht heranzuziehen. Konkret prüfte der EGMR, ob die Handlungen der Beschwerdeführer Straftaten nach dem eigenen Recht der DDR oder nach internationalem Recht waren. Er bejahte bereits die erste Frage, was es eigentlich überflüssig gemacht hätte, sich dann noch der zweiten Frage, der nach dem internationalen Recht, zuzuwenden.49

44 Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EMRK: „Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war.“ 45 Hubertus-Emanuel Dieckmann, Überpositives Recht als Prüfungsmaßstab im Geltungsbereich des Grundgesetzes?, 2006, S. 108. 46 Urteil 1 (Fn. 43): Verurteilt worden waren der ehemalige Verteidigungsminister der DDR Heinz Keßler, der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister Fritz Strelitz und der letzte SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende Egon Krenz. 47 Urteil 2 (Fn. 43): Verurteilt worden war der ehemalige Grenzsoldat Karl-Heinz Winkler, der zusammen mit einem anderen Grenzsoldaten den damals 29jährigen Manfred Weylandt erschossen hatte. 48 Urteil 1 (Fn. 43), Rdz. 66, Gewalttaten (Fn. 22), Bd. 2, Tbd. 2, S. 921; Urteil 2 (Fn. 43), Rdz. 61, Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1, S. 195. 49 Kreicker (Fn. 39), S. 70.

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Der Gerichtshof ging zunächst auf die Vorschriften des DDR-Rechts ein, die den Beschwerdeführern zur Rechtfertigung ihres Handelns dienten, die §§ 17 Volkspolizeigesetz50 und § 27 DDR-Grenzgesetz.51 Er führte aus, dass diese Vorschriften, die selbst schon den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und des Schutzes von Menschenleben beinhalteten, im Lichte der Verfassung der DDR zu sehen seien.52 Den folgenden Ausführungen ist zu entnehmen, dass der EGMR meinte, danach rechtfertigten die genannten DDR-Normen nicht das Vorgehen der verurteilten Täter.53 Im Anschluss prüfte der Gerichtshof, ob sich Rechtfertigungsgründe aus der Staats­ praxis der DDR ergeben könnten, was er aber verneinte: Die Staatsräson der DDR hätte ihre Grenzen in der Verfassung der DDR und den eigenen Gesetzen finden müssen. Sie habe das unerlässliche Gebot beachten müssen, Menschenleben zu schützen. Dagegen und gegen die in der DDR-Verfassung verankerten Grundrechte habe die Staatspraxis der DDR verstoßen. Der EGMR maß deshalb der Staatspraxis keine rechtliche Bedeutung zu. So kam das Gericht zum Ergebnis, dass die Taten der Beschwerdeführer zur Tatzeit schon nach dem Recht der DDR eine Straftat darstellten, die hinreichend zugänglich und vorhersehbar bestimmt gewesen sei.54 Gegen diese Begründung ist vielfach Kritik laut geworden: Der EGMR habe damit das Prinzip der rechtsstaatlichen Auslegung des Rechts der DDR propagiert. Seine Argumentation laufe darauf hinaus, dass die DDR ihr prinzipiell rechtsstaatlichen Ansprüchen genügendes Recht nicht richtig angewendet habe. Bei richtiger Anwendung hätte sie die Täter auch bestrafen müssen. Das sei eine Argumentation, die an der Realität vorbeigehe, weil die DDR eben kein Rechtsstaat gewesen und ihr Recht stets im Sinne der Staatspraxis ausgelegt worden sei.55 Diese Kritik erscheint als zutreffend, ist aber für die Fragestellung hier ohne Belang. Festzuhalten ist, dass der EGMR jede naturrechtliche Argumentation strikt vermeidet und sich nur auf positives Recht beruft. Das gilt auch für die weitere, eigentlich überflüssige56 Argumentationslinie, ob die Handlungen der Beschwerdeführer auch Straftaten waren, die nach Völker50 Es galt 1972, als Manfred Weylandt erschossen wurde. 51 Die Vorschrift ersetzte die des Volkspolizeigesetzes. 52 Urteil 1 (Fn. 43), Rdz. 61, Gewalttaten (Fn. 22), Bd. 2, Tbd. 2, S. 920; Urteil 2 (Fn. 43), Rdz. 56, Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1, S. 194. 53 Urteil 1 (Fn. 43), Rdz. 64, Gewalttaten (Fn. 22), Bd. 2, Tbd. 2, S. 921; Urteil 2 (Fn. 43), Rdz. 59, Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1, S. 194. 54 Urteil 1 (Fn. 43), Rdz. 88, 89, Gewalttaten (Fn. 22), Bd. 2, Tbd. 2, S. 925; Urteil 2 (Fn. 43), Rdz. 90, 91, Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1, S. 199. 55 Kreicker (Fn. 39), S. 15 und 42. 56 Falls der EGMR diese Frage zugunsten der Beschwerdeführer verneint hätte, hätte dies am Ergebnis nichts mehr geändert.

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recht, insbesondere völkerrechtlichen Vorschriften über den Schutz der Menschenrechte, ausreichend zugänglich und vorhersehbar bestimmt waren.57 Die folgende Argumentation erscheint nicht als besonders stringent. Der Gerichtshof bejaht die von ihm gestellte Frage u. a. unter Bezug auf Art. 2 I EMRK, der das Recht jedes Menschen auf Leben schützt.58 Den Umstand, dass die DDR der Konvention nie beigetreten war und deshalb nicht an die sich aus ihr ergebenen völkerrechtlichen Verpflichtungen gebunden war,59 erörtert das Gericht nicht. Ungeachtet dessen ist aber auch hier wieder das Bestreben des Gerichtshofs zu erkennen, nur positivistisch zu argumentieren. Um auf das eingangs genannte Votum von Uwe Wesel zurückzukommen, der den EGMR als Ort bezeichnet hatte, an dem nach überstaatlichem Naturrecht geurteilt wird: Soweit erkennbar, argumentiert der EGMR nicht nur in diesem, sondern auch in anderen Fällen stets positivrechtlich und orientiert sich streng an geschriebenen Normen des Völkerrechts, der Menschenrechtskonvention des Europarats und anderem Vertragsvölkerrecht, oder am Völkergewohnheitsrecht. Ein Rückgriff auf vorgegebene, auf überpositive Normen findet nicht statt. Als Ort, an dem eine höhere Gerechtigkeit verkündet wird als die der Staaten, als Ort des überstaatlichen Naturrechts würde sich der EGMR selbst sicher nicht bezeichnen. Die Äußerung von Uwe Wesel mag als literarisch zu werten sein; als Rechtsansicht wäre sie nicht haltbar.

III  Naturrecht in der gerichtlichen Praxis im 21. Jahrhundert? Die Ausgangsfrage, ob Naturrecht in der gerichtlichen Praxis des 21. Jahrhunderts erneut eine Rolle spielen wird, ob die Rechtsprechung sich wie die deutschen Gerichte in den Fällen der Mauerschützen nochmals gezwungen sehen könnte, auf überpositives Recht zurückzugreifen, genauer auf überpositive Menschenrechte, die allein in Betracht kommen, dürfte nach allem bis auf wenige denkbare Ausnahmefälle zu verneinen sein.

57 Urteil 1 (Fn. 43), Rdz. 90, 91, Gewalttaten (Fn. 22), Bd. 2, Tbd. 2, S. 925; Urteil 2 (Fn. 43), Rdz. 92, 92, Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1, S. 199. 58 Urteil 1 (Fn. 43), Rdz. 95–97, 105, Gewalttaten (Fn. 22), Bd. 2, Tbd. 2, S. 926, 928; Urteil 2 (Fn. 43), Rdz. 96–99, 105, Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1, S. 200–201. 59 Kreicker (Fn. 39), S. 71.

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1  In Deutschland? In Deutschland gab es im 20. Jahrhundert zwei außergewöhnliche Konstellationen, die zum Rückgriff auf Naturrecht führten, der Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und das Ende des SED-Unrechtsregimes nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Es gibt jedenfalls derzeit keine An­ zeichen dafür, dass es im deutschen Rechtsraum erneut zu einer solchen oder ­vergleichbaren Situationen kommen könnte, in der ein Unrechtsregime rechtsstaatlich abzuwickeln ist. Unter der Geltung des Grundgesetzes ist nicht denkbar, dass Gesetze, die von dem demokratischen Gesetzgeber erlassen wurden, durch überpositives Recht eine Korrektur erfahren. Diese Gesetze müssen sich an der Verfassung und den in ihr garantierten Grundrechten messen lassen, was zu prüfen allein Sache des Bundesverfassungsgerichts ist. Naturrecht kann daneben keine Rechtsgeltung erlangen, kann nicht Rechtsquelle sein.

2  In anderen Nationalstaaten? Anders könnte dies in den vielen Staaten sein, die weder demokratisch noch rechtsstaatlich sind, in denen im 21. Jahrhundert zu hoffen ist, dass zumindest ­einige von ihnen den Übergang von einer Diktatur zu einem demokratischen Rechtsstaat vollziehen. Wenn das geschehen sollte, wäre nicht ausgeschlossen, dass bei der Verfolgung von groben Unrechtstaten der Diktatur, bei denen sich unmittelbare und mittelbare Täter auf geltendes positives Recht der Diktatur zur Rechtfertigung ihres Handelns berufen, auf überpositives Recht zurückgegriffen wird.60 Es wären dies Situationen, die jenen vergleichbar sind, wie sie Deutschland im letzten Jahrhundert zweimal erlebt hat. Allerdings sei die Prognose gewagt, dass dies von der Art des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie abhängen könnte. Sollte sich dieser Übergang im Wege des Ausgleichs und des Konsenses vollziehen, wird man möglicherweise den in der Diktatur herrschenden Kräften eine Amnestie61 versprechen, um den Übergang gewaltfrei zu gestalten und einer nationalen Versöhnung den Weg zu 60 Nach Kristian Kühl, Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Naturrechtsdenken des 20. Jahrhunderts, in: Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste, hrsg. von Karl Acham u. a., 1998, S. 605 ff., 613, lässt sich eine Kontinuität des Naturrechts immer dann erwarten, wenn ein Unrechtsregime rechtlich bewältigt werden muss. 61 Dreier (Fn. 16), S. 434, stellt in seinem Aufsatz abschließend die wohl von ihm befürwortete Frage, ob nicht auch in den Fällen der Mauerschützen besser ein Schlussstrich durch eine Amnestie hätte gezogen werden sollen.

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ebnen. So geschah es beispielsweise nach dem Tode Francos in Spanien im ­November 1975. Die noch herrschenden Franquisten vereinbarten mit der sich entwickelnden demokratischen Opposition eine Generalamnestie, die das neugewählte demokratische Parlament dann auch 1977 erließ.62 Die Frage einer gerichtlichen Aufarbeitung des Unrechts der Diktatur stellte sich deshalb nicht. Sollte sich dieser Übergang aber etwa gewaltsam vollziehen, eine demokratische Opposition sich im Wege des Sturzes des alten Regimes durchsetzen, wird es mit recht hoher Wahrscheinlichkeit in einem dann etablierten Rechtsstaat auch zur strafrechtlichen Aufarbeitung des Unrechts der Diktatur kommen. Der EGMR hat sich in seinem Urteil zu den Fällen der Mauerschützen dazu allgemein geäußert und ist so indirekt auch dem Vorwurf der bloßen Siegerjustiz durch deutsche Gerichte entgegengetreten. Er hat erklärt, er halte es für legitim, dass ein Rechtsstaat strafrechtliche Ermittlungen gegen Personen führe, die unter einem früheren Regime Straftaten begangen haben.63 Dem üblichen Einwand der Rechtfertigung aus dem positiven Recht der ­Diktatur könnte rechtsstaatlich auf zwei Wegen begegnet werden. Die Gerichte könnten sich – wie in Deutschland geschehen – auf naturrechtliche Grundsätze beziehen wie den Schutz des Lebens vor willkürlicher Tötung und den Schutz vor Folter und die dies rechtfertigenden Rechtsnormen der Diktatur wegen eines groben Verstoßes gegen dieses Naturrecht für nicht anwendbar erklären. Sie könnten aber auch positivrechtlich solche Menschenrechte heranziehen, deren gewohnheitsrechtliche Geltung inzwischen bereits weitgehend anerkannt ist. Soweit diese so elementar wie die soeben benannten beiden Menschenrechte sind, dürften sie in der Völkerrechtsgemeinschaft bereits den Rang von ius cogens, 64 von zwingendem Völkerrecht,65 haben und zwar unabhängig von der Frage, ob der betreffende Staat noch in den Zeiten der Diktatur irgendwelchen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte beigetreten war oder nicht. Allerdings ist umstritten, wie solch zwingendes Völkerrecht sich auswirkt, ob es unmittelbar zur Nichtigkeit

62 Zu den Geschehnissen in Spanien: Carsten Humblebaek, Die spanische Zeitgeschichtsforschung zur Franco-Ära seit 1975, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte  4 (2003), 161 ff., 164. 63 Urteil 1 (Fn. 43), Rdz. 80, 81, Gewalttaten (Fn. 22), Bd. 2, Tbd. 2, S. 923; Urteil 2 (Fn. 43), Rdz. 83, 84, Gewalttaten, Bd. 2, Tbd. 1, S. 198. 64 Zum ius cogens im Völkerrecht: Knut Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, S. 449 ff. 65 So Kreicker, (Fn. 39), S. 33; Torsten Stein/Christian von Buttler, Völkerrecht, 11. Aufl. 2005, S. 389; Knut Ipsen (Fn. 64), S. 455, der für „elementare Menschenrechte“, zu denen die beiden hier genannten zählen dürften, den Rang als völkerrechtliches ius cogens bejaht.

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entgegenstehenden nationalen Rechts führt66 oder ob das – wie die wohl herrschende Ansicht im Völkerrecht meint – (noch?) nicht der Fall ist.67 Im ersteren Fall wäre die rechtfertigende Norm der Diktatur wegen eines Verstoßes gegen zwingendes Völkerrecht unmittelbar jedenfalls in dem Umfang nichtig, in dem sie die Unrechtstaten rechtfertigen könnte. Im zweiten Fall bliebe wieder nur der Umweg über eine Berufung auf überpositives Recht.

3  Im internationalen Raum? Dass internationale Gerichte sich künftig zur Begründung ihrer Entscheidungen auf Naturrecht, auf irgendein überpositives Recht berufen werden, ist dagegen nicht zu erwarten. Der EGMR wird – wie aus seiner Rechtsprechung zu den Fällen der Mauerschützen zu schließen ist – auch künftig von seiner bisherigen, streng positivistischen Linie nicht abweichen. Soweit erkennbar, ist das auch bei anderen internationalen Gerichtshöfen nicht der Fall. Dafür gibt es auch gute Gründe. Die völkerrechtlichen Verträge, die zur Gründung internationaler Gerichtshöfe führten, bestimmen zugleich das Recht, das diese Gerichte anzuwenden haben. Für überpositives Recht, für Naturrecht ist da schlechterdings kein Raum. Internationale Gerichte müssen sich genau an die völkerrechtlichen Verträge ­halten, um Akzeptanz zu erzielen und zu behalten. Sie verdanken schließlich dem übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien, der Staaten, die sie tragen, ihre Existenz und riskieren, dass die Staaten die Verträge aufkündigen,68 wenn sie sich außerhalb der durch die Verträge vorgegebenen Aufträge und des darin festgelegten Rechts bewegen. Das aber würden diese Staaten möglicherweise bei Heranziehung vermeintlicher überpositiver Rechtsnormen machen, deren Anwendung die Spruchpraxis internationaler Gerichte weniger vorhersehbar gestalten würde.

66 So Stephan Hobe/Christian Tietje, Schießbefehl an der DDR-Grenze und ius cogens. Zur Nichtigkeit des § 27 Grenzgesetz unter völkerrechtlichen Aspekten, in: Archiv des Völkerrechts 32 (1994), 130 ff., 136; Marcel Krumm, Legislativer Völkervertragsbruch im demokratischen Rechtsstaat, AöR 138 (2013), S. 361 ff., 408. 67 Kreicker (Fn. 39), S. 33, Anm. 114 m. w. Nachw.; Ipsen (Fn. 64), S. 452. 68 So enthalten beispielsweise die EMRK in Art. 58 ein Kündigungsrecht und Art. 127 des Römischen Statuts des IStGH ein Rücktrittsrecht.

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Als ein Beispiel mag der Internationale Gerichtshof (IGH) im Friedenspalast in Den Haag dienen, das Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen.69 Der IGH kann nur dann entscheiden, wenn die Staaten, die allein Parteien eines Verfahrens sein können, seine Zuständigkeit allgemein70 oder konkret für dieses Verfahren anerkannt haben. Über das dann anzuwendende Recht enthält Art. 38 des Statuts des IGH71 klare Festlegungen, nämlich zum einen völkerrechtliche Verträge und zum anderen Völkergewohnheitsrecht, das durch lange Übung, longa consuetudo, und allgemeine Anerkennung als rechtliches Gebot, opionio iuris, den Rang von Rechtsnormen des ungeschriebenen positiven Rechts erhalten hat. Die „von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“, die als weitere Rechtsquelle in Betracht kommen, weisen nicht auf überpositive Normen, sondern gehören dem positiven Recht an. Es sind dies im Ursprung völkerrechtsfremde Normierungen, die sich wie das Prinzip von Treu und Glauben und das des Ausgleichs einer ungerechtfertigten Bereicherung übereinstimmend in allen oder doch den meisten nationalen Rechtsordnungen finden.72 Sie können rechtsvergleichend eruiert werden. Auch die mehr theoretische als praktische Befugnis des IGH, mit Zustimmung der Parteien „ex aequo et bono“ zu entscheiden, verweist nicht auf überpositives Recht. Dieser Begriff, der richtig mit „nach billigem Ermessen“ zu übersetzen ist, stellt das Gericht dann nur von der Verpflichtung frei, unter der Geltung von Rechtsnormen welcher Art immer zu entscheiden. Da eine solche Entscheidung dann außerhalb des Völkerrechts ergehen würde, ist der Anwendungsbereich dieser Vorschrift sehr begrenzt.73 69 Art. 1 Statut des Internationalen Gerichtshofs (deutsche Fassung: https://www.unric.org/ de/voelkerrecht/86 [04.08.2015]). 70 Durch völkerrechtlichen Vertrag oder Unterwerfungserklärung. 71 Art. 38 Statut des IGH: 1. Der Gerichtshof, dessen Aufgabe es ist, die ihm unterbreiteten Streitigkeiten nach dem Völkerrecht zu entscheiden, wendet an (a) internationale Übereinkünfte allgemeiner oder besonderer Natur, in denen von den streitenden Staaten ausdrücklich anerkannte Regeln festgelegt sind; (b) das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung; (c) die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze; (d) vorbehaltlich des Artikels 59 richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen als Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen. 2. Diese Bestimmung lässt die Befugnis des Gerichtshofs unberührt, mit Zustimmung der Parteien ex aequo et bono zu entscheiden. 72 Ipsen (Fn. 64), S. 488, 489. 73 Carmen Thiele, Der Schutz der Menschenrechte durch den IGH, in: Archiv des Völkerrechts 51 (2013), S. 6.

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Beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) mit Sitz in Den Haag ist die Rechtslage nicht anders. Das Römische Statut, dem er seine Gründung verdankt, enthält in Art. 5 einen abschließenden Katalog von Straftatbeständen, für die der IStGH zuständig ist, nämlich für Verbrechen des Völkermords und gegen die Menschlichkeit, für Kriegsverbrechen und solche der Aggression. Diese Verbrechen werden in den folgenden Bestimmungen des Statuts sehr genau tatbestandlich beschrieben. Zum sonst anwendbaren Recht enthält Art.  21 Römisches ­Statut Regeln, die denen des Art. 38 des Statuts des IGH vergleichbar sind: Zu berücksichtigen ist in erster Linie das Römische Statut selbst, dann anwendbare völkerrechtliche Verträge sowie die Grundsätze und Regeln des Völkerrechts, also Völkergewohnheitsrecht, und allgemeine Rechtsgrundsätze, die in der Definition denen des IGH entsprechen. All diese Rechtsquellen, die der IGStH anwenden darf, haben den Charakter positiven Rechts. Lediglich in Art. 21 Abs. 3 enthält das Römische Statut des IGStH eine Formulierung, die auf den ersten Blick auf überpositives Recht hindeuten könnte, wenn es dort heißt, dass die Anwendung und Auslegung des Rechts mit den international anerkannten Menschenrechten vereinbar sein müsse. Darunter dürften aber solche zu verstehen sein, wie sie in der UN-Erklärung der Menschenrechte von 1948 niedergelegt sowie in einer Reihe von völkerrechtlichen Verträgen vereinbart und so international anerkannt worden sind.

IV  Ende des Naturrechts? Es bleibt also kaum ein Anwendungsbereich in der künftigen Gerichtspraxis für das Naturrecht übrig. Lediglich in Ausnahmefällen erscheint es als möglich, dass nationale Gerichte bei ihren Entscheidungen erneut auf einige wenige fundamentale menschenrechtliche Sätze eines überpositiven Rechts zurückgreifen. Dafür sollte der Begriff des Naturrechts nicht mehr verwendet werden. Er ist in seiner geschichtlichen Dimension weiter, weist in die Vergangenheit und lenkt so von den Problemen ab, die sich der Welt im 21. Jahrhundert stellen. Es geht nicht mehr wie im 18. Jahrhundert um ganze Rechtssysteme, die die damalige Rechtslehre aus dem vermeintlich reinen Gebrauch der Vernunft entwickelt hatte und die Vorbild für große Kodifikationen waren. Es geht auch nicht mehr darum, einen Katalog von Menschenrechten als natürlich und vernünftig bewusst zu ­machen und zur Geltung zu bringen. Menschenrechte sind in völkerrechtlichen Erklärungen und Verträgen sowie in vielen modernen Staaten der Erde in den Verfassungen niedergeschrieben oder – zumindest die fundamentalen Menschen­ rechte – gewohnheitsrechtlich anerkannt. Es sind weniger Probleme der allgemei-

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nen Anerkennung dieser so positivierten Menschenrechte, sondern die ihres unterschiedlichen Verständnisses in den verschiedenen Kultur- und Religionskreisen sowie ihrer konkreten Durchsetzung insbesondere in den jeweiligen innerstaatlichen Rechten, die global im Vordergrund stehen.74 Treffender erscheint der Begriff überpositives Recht für die genannte begrenzte Anzahl höchster moralischer Werte, für die Gerechtigkeitsvorstellungen, die – wenn sie nicht anders zu gewährleisten sind – Anerkennung als vorrangige Normen des Rechts vor dem positiven, dem von Menschen gesetzten innerstaatlichen Recht beanspruchen. Welche überpositiven Normen im Einzelnen das sein könnten, lässt sich aus der Erklärung der Menschenrechte der UN aus dem Jahr 1948 sowie aus den völkerrechtlichen Verträgen, die zum Schutz von Menschenrechten geschlossen wurden, schon heute ableiten. Sicher gehören dazu nicht alle darin deklarierten Menschenrechte, wohl aber das Recht auf Schutz vor willkürlicher Tötung und das vor Folter, die schon erwähnt wurden. Solche Normen mögen dann als überpositives Recht oder bereits als zwingendes Völkergewohnheitsrecht75  – so jetzt schon nach h.  M. die beiden letztgenannten Menschenrechte – bezeichnet werden. Für die gerichtliche Praxis, die in irgendeinem Land der Erde, das zur rechtsstaatlichen Demokratie gefunden oder zurückgefunden hat, auf dergleichen zurückgreifen muss, um zwingenden Geboten der Gerechtigkeit zu entsprechen, mag die Unterscheidung von geringerer Bedeutung sein. So oder so werden diese Gerichte dann – wie zu hoffen ist – davon ausgehen, dass Rechtsnormen des positiven Rechts, die zu diesen Grundsätzen – seien sie nun als überpositives Recht oder als zwingendes, in nationale Rechtsordnungen hineinwirkendes Völkerrecht zu bewerten – in einem erheblichen und unerträglichen Widerspruch stehen, nicht zur Rechtfertigung von Taten dienen können, die eben diese Menschenrechte grob verletzt haben.

74 Kau (Fn. 14), S. 131 ff. 75 Niels Petersen (Der Wandel des ungeschriebenen Völkerrechts im Zuge der Konstitutionalisierung, AVR Bd. 46 (2008), S. 502–506) meint, wenn man erreichen wolle, dass Menschenrechte ernst genommen werden, müsse man ihnen den naturrechtlichen Beigeschmack nehmen, der ihnen immer noch anhefte, und eine dogmatisch fundierte Konzeption anbieten.

Lebenslauf und Schriftenverzeichnis Götz Landwehr, geb. am 24.11.1935 in Verden an der Aller, (heute) Land Niedersachsen. Vater: Wilhelm Landwehr, Leitender Oberstaatsanwalt in Verden (1946) und seit 1949 in Hannover. Ältester Sohn von sechs Kindern. Schulbesuch bis 1950 in Verden an der Aller am (staatlichen) humanistischen Domgymnasium und anschließend in Hannover am (staatlichen) humanistischen Kaiser-Wilhelms-Gymnasium. Nach dem Abitur (1956) von 1956–1958 Studium der Rechtswissenschaft an der Philipps-Universität in Marburg, sodann von 1958–1960 an der GeorgAugust-­Universität in Göttingen. Erste Juristische Staatsprüfung (Referendar­ examen) 1960 in Göttingen. Anschließend bis 1963 als Gerichtsreferendar im Juristischen Vorbereitungsdienst im Bezirk des Oberlandesgerichts Celle (Land Niedersachsen) in den Stationen am Amtsgericht in Springe am Deister, sodann in Göttingen am Amtsgericht (sog. großes Amtsgericht), bei der Staatsanwaltschaft und schließlich beim Landgericht. Gleichzeitig wissenschaftliche Hilfskraft bei Prof. Dr. Wilhelm Ebel an der Georg-August-Universität. Nach dem Ausscheiden aus dem Referendardienst seit 1963 Wissenschaftlicher Assistent an der Juristischen Fakultät in Göttingen bei Wilhelm Ebel. Promotion 1963 in Göttingen bei Wilhelm Ebel über „Die althannoverschen Landgerichte“ (über Rügegerichtswesen), 1964. Anschließend im Jahre 1965 ­Habilitation durch die Juristische Fakultät der Universität Göttingen mit der rechtshistorischen Arbeit über „Die Verpfändung der deutschen Reichsstädte im Mittelalter“ (1967). Erteilung der venia legendi (Lehrbefugnis) für die Fächer Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Handelsrecht. 1965 Berufung als ordentlicher Professor für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an die Juristische Fakultät in Heidelberg – als Nachfolger von Siegfried Reicke (1897–1972). 1969 Berufung als ordentlicher Professor für Deutsche und Nordische Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an die Rechtswissenschaftliche Fakultät in Hamburg – Nachfolger von Hermann Schultze von Lasaulx (1901–1999). Aktive Tätigkeit an der Universität Hamburg von 1969 bis 2001. Ablehnung von Rufen an die Universitäten in Bielefeld (1968: Neugründung), in München (1972: Nachfolge Hermann Krause), in Köln (1989) und in Erlangen (1990). Emeritierung: 31.3.2001.

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Lebenslauf und Schriftenverzeichnis

Forschungsschwerpunkte: Deutsche Verfassungsgeschichte, vornehmlich des Mittelalters (Monographien und Aufsätze): Verpfändung der deutschen Reichsstädte (1967); Rechtshistorische Einordnung der Reichspfandschaften (1970); Bedeutung der Reichs- und der Territorialpfandschaften (1968); Königtum und Landfriede (1968); Mobilisierung und Konsolidierung der Herrschaftsordnung (1971); „Nation“ und „Deutsche Nation“ (1979); Die Liten in den altsächsischen Rechtsquellen (1982); Staatszweck und Staatstätigkeit in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1987). Gerichtsverfassungs- und Prozeßrechtsgeschichte (Monographien und Aufsätze): Althannoversche Landgerichte (als Rügegerichte (1964); Gogericht und Rüge­ gericht (1966); Genossenschaftliche Rechtsverfolgung im Mittelalter (1975); „Urteilfragen“ und „Urteilfinden“ (1979); Rechtsstellung der Gutsherren, der Hofbesitzer und der Gläubiger in den Abäußerungsverfahren vor dem Gogericht auf dem Desum (2000); Gang des neuen und des alten Gerichtsverfahrens vor dem Gogericht auf dem Desum im Niederstift Münster (2004). Geschichte der Privat- und Handelsrechtswissenschaft (Aufsätze): Rechtspraxis und Rechtswissenschaft im Lübischen Recht (1980); Johann Georg Büsch und die Entwicklung des Handelsrechts im 18. Jahrhundert (1976);­ Johann Georg Büschs Plan einer Kreditversicherung von 1769 (1976); die ­Handelsrechtswissenschaft an der Universität Heidelberg im 19. Jahrhundert (1985); Die Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht (ZHR) als Organ der Handelsrechtswissenschaft (1986); Die Einheit der Rechtsordnung in der Rechts­ geschichte (1984). Geschichte des Privatrechts, einschließlich des Handelsrechts (Aufsätze): Die Verfassung der Aktiengesellschaften (1982); Organisationsstrukturen der ­Aktienunternehmen (1982); Das Allgemeine Landrecht (ALR) in der Rechts­praxis seiner ersten Jahre (1988); Abstrakte Rechtsgeschäfte in Wissenschaft und ­Gesetzgebung (1990); Übergabe (Traditio) und Eigentumserwerb beim Handelskauf im 19. Jahrhundert (1995); Eigentumserwerb an Seeschiffen im deutschen Recht während des 19. Jahrhunderts (1999); Vertrauensschutz des Dritten bei der gewillkürten Stellvertretung in der Gesetzgebung in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert (1999); das Fortwirken mittelalterlicher Rechtsübertragungen in der Gegenwart (2003); Erbfolgeordnung und Verwandtschaftszählung. Diskus­sionsbeitrag anhand des sächsisch-magdeburgischen und des lübischen Rechts (2005).

Lebenslauf und Schriftenverzeichnis

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Geschichte des Seerechts (Monographien und Aufsätze): Die Hanseatischen Seerechte des 16. und 17. Jahrhunderts (1984); Bedeutung des Lübischen Seerechts während des 18. Jahrhunderts (1986); Das Preußische Seerecht von 1727 (1986); Die Haverei in den mittelalterlichen deutschen Seerechtsquellen (1985); Prinzipien der gemeinschaftlichen Kosten- und Schadenstragung im Seerecht während des 18. Jahrhunderts (1987); Begriffsgeschichte der Haverei vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (1991); Prinzipien der Risikotragung beim ­Seefrachtvertrag vom 13. bis 17. Jahrhundert (1997); das Seerecht im Ostsee­raum vom Mittelalter bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (2002); Seerecht im ­Hanseraum im 15. Jahrhundert (2003); Das Seerecht der Hanse (1365–1614); Vom Schiffsordnungsrecht zum Seehandelsrecht (2003). Über Rechtsgelehrte (Aufsätze): Carl Joseph Anton Mittermaier, 1787–1867 (1968, 1986); Wilhelm Ebel, 1908– 1980 (1981); Hans Wüstendörfer, 1875–1951 (1987); Heinrich Mitteis, 1889– 1952 (1988); Max Kaser in Hamburg, 1959–1971 (1998); Hermann Schultze von Lasaulx, 1901–1999 (2010); Heidelberger Juristen in sechs Jahrhunderten (1986). Herausgeber von Buchpublikationen: Die nichteheliche Lebensgemeinschaft (1978); Studien zu den germanischen Volksrechten. Gedächtnisschrift für Wilhelm Ebel (1982); Das nachfriderizianische Preußen 1786–1806 (zusammen mit Hans Hattenhauer (1987); Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit. Zur Aktualität der Rechtsphilosophie Kants für die Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft (1999). Lehr- und Vorlesungstätigkeit: Deutsche Rechtsgeschichte; Deutsches Privatrecht im Mittelalter; Privatrechts­ geschichte der Neuzeit; Geschichte des Handelsrechts; Sachsenspiegelexegese; Seminare zu Problemen der deutschen Rechtsgeschichte. Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts; Allgemeines Schuldrecht; Sachenrecht (Mobiliarsachenrecht und Liegenschaftsrecht); Examenskurs im Bürger­ lichen Recht (Schuldrecht, Sachenrecht); Familienrecht; Erbrecht. Personenstand: Verheiratet seit 1964 mit Karin Landwehr, geb. Drescher, geboren 1941 im ­Su­detenland. Aus dieser Ehe ist ein 1966 in Hannover geborener Sohn hervorgegangen.

Doktoranden in Heidelberg (1970–1973) Karl Heinz Schnarr, Die Rechtsgüter von Ehebruch und Entführung Minderjähriger. Geschichtlicher Wandel und soziologische Strukturveränderungen Pirmin Spieß, Verfassungsentwicklung der Stadt Neustadt an der Weinstraße Michael Köhler, Die Lehre vom Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatsrechtstheorie der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts Günter Haas, Die Verwendungsersatzansprüche beim Eigentümer-Besitzer-­ Verhältnis und die aufgedrängte Bereicherung

Doktoranden in Hamburg (1973–2010) Henning Selk, Die Entwicklung der Kämmerei-Verwaltung in Bremen bis zum Jahre 1810 Gerd Lau, Das Hamburgische Seehandelsrecht im 18. Jahrhundert Dörte Willrodt-von Westernhagen, Recht und soziale Frage – Die Rechts- und Sozialphilosophie Anton Mengers Gerd Quast, Die Entstehungsgeschichte der hamburgischen Verwaltungsgerichtsbarkeit Jürgen Sievers, Staatliche Leistung und Förderung der Landwirtschaft im Regierungsbezirk Stade (1800–1900) Hans-Joachim Leupelt, Die Verfassung und Verwaltung der Vogtei des Amtes ­Segeberg und des Fleckens Bramstedt Gerd Frühauf, Die Austrägalgerichtsbarkeit im Deutschen Reich und im Deutschen Bund Karl-Joachim Dreyer, Hamburg als Mitglied des Deutschen Bundes (1815 bis 1848) Hans Poeschel, Von den Anfängen des Sparwesens in Hamburg und Altona nebst einer Edition der Bank-, Sparkassen- und sonstigen Statuten Rolf Stratmann, Die Scheinbußen im mittelalterlichen Recht Rolf Schulze, Die Bremische Bürgerschaft in den Jahren 1854–1867 Martin-Christoph Lockert, Die Stadtrechte in den hannoverschen und braunschweigischen Landen zwischen Aller und Weser – Vorkommen und Verflechtungen

Doktoranden in Heidelberg (1970–1973) Karl Heinz Schnarr, Die Rechtsgüter von Ehebruch und Entführung Minderjähriger. Geschichtlicher Wandel und soziologische Strukturveränderungen Pirmin Spieß, Verfassungsentwicklung der Stadt Neustadt an der Weinstraße Michael Köhler, Die Lehre vom Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatsrechtstheorie der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts Günter Haas, Die Verwendungsersatzansprüche beim Eigentümer-Besitzer-­ Verhältnis und die aufgedrängte Bereicherung

Doktoranden in Hamburg (1973–2010) Henning Selk, Die Entwicklung der Kämmerei-Verwaltung in Bremen bis zum Jahre 1810 Gerd Lau, Das Hamburgische Seehandelsrecht im 18. Jahrhundert Dörte Willrodt-von Westernhagen, Recht und soziale Frage – Die Rechts- und Sozialphilosophie Anton Mengers Gerd Quast, Die Entstehungsgeschichte der hamburgischen Verwaltungsgerichtsbarkeit Jürgen Sievers, Staatliche Leistung und Förderung der Landwirtschaft im Regierungsbezirk Stade (1800–1900) Hans-Joachim Leupelt, Die Verfassung und Verwaltung der Vogtei des Amtes ­Segeberg und des Fleckens Bramstedt Gerd Frühauf, Die Austrägalgerichtsbarkeit im Deutschen Reich und im Deutschen Bund Karl-Joachim Dreyer, Hamburg als Mitglied des Deutschen Bundes (1815 bis 1848) Hans Poeschel, Von den Anfängen des Sparwesens in Hamburg und Altona nebst einer Edition der Bank-, Sparkassen- und sonstigen Statuten Rolf Stratmann, Die Scheinbußen im mittelalterlichen Recht Rolf Schulze, Die Bremische Bürgerschaft in den Jahren 1854–1867 Martin-Christoph Lockert, Die Stadtrechte in den hannoverschen und braunschweigischen Landen zwischen Aller und Weser – Vorkommen und Verflechtungen

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Doktoranden in Hamburg (1973–2010)

Siegfried Pelz, Die preußischen und reichsdeutschen Kriegsartikel – Historische Entwicklung und rechtliche Einordnung Angelika Rendler, Außergerichtliche Rechtshilfe in Hamburg bis zur Errichtung der öffentlichen Rechtsauskunfts- und Vergleichsstelle Axel Weniger, Die Finanzverwaltung Lübecks im 19. Jahrhundert Gerd Augner, Die kaiserliche Kommission der Jahre 1708–1712. Hamburgs ­Beziehungen zu Kaiser und Reich Dagmar Bickelmann, geb. Cochanski, Präsidial- und Oberpräsidialverfassung in Altona 1664 bis 1746 Matthias Franz Klasen, Das Billwerder Landrecht – Landrecht und Landgericht in den Hamburger Elbmarschen Eva-Christine Frentz, Hamburgische Admiralitätsgerichte – Prozeß und Rechtsprechung Gunnar Jònsson, Die Friedlosigkeit (Waldgang und Lebensringzaun) im älteren isländischen Recht Liane Melzer, Die Gesetzgebung des Rats der Volksbeauftragten (1918/1919) Wolf-Rüdiger Osburg, Die Verwaltung Hamburgs während der Einverleibung in das Französische Kaiserreich Wilhelm Bringmann, Die braunschweigische Thronfolgefrage. Eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung der Rechtmäßigkeit des Ausschlusses der jüngeren Linie des Welfenhauses von der Thronfolge in Braunschweig 1884– 1913 Gerrit Schmidt, Die Geschichte der Hamburgischen Anwaltschaft von 1815 bis 1879 Diethard Bühler, Die Entstehung der allgemeinen Vertragsschluß-Vorschriften im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch von 1861 Thomas Dreyer, Die „Assecuranz- und Haverey-Ordnung“ der Freien und Hansestadt Hamburg Brunhilde Haack, Die Anwaltschaft in Hamburg während der Weimarer Republik A. W. Heinrich Langhein, Das Prinzip der Analogie als juristische Methode – Ein Beitrag zur Geschichte der methodologischen Grundlagenforschung vom ausgehenden 18. bis zum 20. Jahrhundert Elisabeth Chowaniec, Der Fall Dohnanyi (1943–1945). Hochverratsverfahren und Standgerichtsverfahren durch Gestapo und SS Kirsten Kraglund, Behandlung ehebedingter Zuwendungen bei Beendigung des gesetzlichen Güterstandes Andreas Ebert-Weidenfeller, Hamburgisches Kaufmannsrecht im 17. und 18. Jahrhundert in der Rechtsprechung des Rates und des Reichskammergerichts Wolfgang-P. Osten, Das Schwedische Seerecht von 1667

Doktoranden in Hamburg (1973–2010)

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Johannes Conradi, Das Unternehmen im Handelsrecht – Eine rechtshistorische Untersuchung vom Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) bis zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch (1861) Jutta v. der Decken, Das Seearbeitsrecht im Hamburger Stadtrecht von 1301 bis 1603 Lothar Weyhe, Levin Goldschmidt  – Ein Gelehrtenleben in Deutschland. Grundfragen des Handelsrechts und der Zivilrechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Heiko Morisse, Der Nationalsozialismus und die Ehrengerichtsbarkeit für Rechtsanwälte dargestellt am Beispiel des Oberlandesgerichtsbezirk Hamburg Stefanie Müller, Die Rechtsprechung des Hanseatischen Oberlandesgerichts zum persönlichen Eherecht in Hamburgischen Gerichtsfällen von 1879 bis 1900 F. Benedict Heyn, Die Entwicklung des Eisenbahnfrachtrechts von den Anfängen bis zur Einführung des ADHGB Claudia Hoppe, Die Bürgschaft im Rechtsleben Hamburgs von 1600–1900 Frank Bottenberg, Die Hamburgische Strafprozeßordnung von 1869 Nicolas Lührig, Die Diskussion über die Reform der Juristenausbildung von 1945–1995 Dörte Fouquet, Die Gründung der Hamburgischen Universität Carsten Engler, Die Kommanditgesellschaft (KG) und die stille Gesellschaft im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch (ADHGB) von 1861 Martin Maaß, Die Geschichte des Eigentumsvorbehalts insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert Michael Wrage, Der Staatsrat im Königreich Hannover 1839 bis 1866 Sven Möller, Die Entwicklung des Kreditwesens im ehemaligen Herzogtum Schleswig unter besonderer Berücksichtigung des Agrarkredits vom ausgehenden Mittelalter Kai-Michael Hingst, Die Societas leonina in der europäischen Privatrechtsgeschichte Volker Friedrich Drecktrah, Die Gerichtsbarkeit in den Herzogtümern Bremen und Verden und in der preußischen Landdrostei Stade von 1715 bis 1879 Alexandra Bruck, Der frühneuzeitliche Polizeibegriff im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg. Die Polizeiordnung Herzog Christian v. Braunschweig-Lüneburg vom 6. Oktober 1618 Othmar Erik Weinreich, Der Zivilprozeß nach der Münsterischen Landgerichtsordnung von 1571 sowie der Vechtischen Gerichtsordnung von 1578 in der Praxis des Gogerichtes auf dem Desum im oldenburgischen Münsterland in den Jahren 1578 bis 1652 Volker Rolf Gabriel, Rechts- und Gerichtswesen im Lande Wursten

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Doktoranden in Hamburg (1973–2010)

Heiko Lüpkes, Die Verbrechen der Diener des Staats im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 und ihre Entwicklung zu den Vergehen und Verbrechen im Amte im Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten von 1851 Carolin O’Sullivan, Die Ahndung von Rechtsbrüchen der Seeleute im hansischen Mittelalter Frank Eichler, Das Hamburger Ordeelbook von 1270 samt Schiffrecht Hermann Pathe, Judenschutzsteuern in Altona – Die Abgaben der Juden als Einwohner und als Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Altona (1641–1842) Rainer Biskup, Staatsrechtslehrer zwischen Republik und Diktatur: Rudolf Laun (1882–1975)

Die Autoren Biskup, Rainer, geb. 1939, Dr. iur., Präsident des Verwaltungsgerichts a. D., Promotion 2010 (Hamburg, bei Götz Landwehr), Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Kassel, Präses des Kollegiums der Oberalten und Vorsitzender des Verwaltungsrats des Hospitals zum Heiligen Geist Hamburg, stellv. Vorsitzender und Verwaltender Vorsteher des Kirchengemeinderats der Hauptkirche St. Jacobi zu Hamburg ([email protected]). Diestelkamp, Bernhard, geb. 1929, Dr. iur., Dr. iur. h. c. (Univ. Lund), Promotion 1960, Habilitation 1967 (jeweils Freiburg/Brsg.), o. Professor für Bürgerliches Recht und Deutsche Rechtsgeschichte an der Univ. Frankfurt/Main 1967 bis 1994; Ehrenmitglied der Internationalen Kommission für europäische Städtegeschichte; korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wiss. und der Literatur zu Mainz ([email protected]). Drecktrah, Volker Friedrich, geb 1948, Dr. iur., Promotion 2002 (Hamburg, bei Götz Landwehr), 1978 bis 2011 Richter in Niedersachsen (Amts- und Land­ gericht Stade, OLG Celle). Seit 2011 Rechtsanwalt in Bremen. Mitglied im Vorstand des Forum Justizgeschichte e. V.; Mitglied der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; Ombudsmann des Verbands der Insolvenzverwalter Deutschlands ([email protected]). Ebert-Weidenfeller, Andreas, geb. 1959, Dr. iur., Promotion 1992 (Hamburg, bei Götz Landwehr), seitdem Rechtsanwalt, spezialisiert auf Marken-, Design- und Wettbewerbsrecht. Bis 2009 Partner in der Kanzlei Boehmert & Boehmert, ­Bremen, anschließend Partner in der US-Kanzlei Jones Day, Frankfurt am Main, seit 2014 Partner in der Kanzlei Meissner Bolte & Partner, Bremen. 2014/2015 Vorsitzender des Unterausschusses Freihandelsabkommen der International ­Trademark Association ([email protected]). Haas, Evelyn, geb. 1949, Dr. iur., Promotion 1974 (Heidelberg), 1974 bis 1976 wiss. Assistentin bei Götz Landwehr an der Univ. Hamburg; Richterin seit 1977, 1990 am Bundesverwaltungsgericht, 1994–2006 Richterin am Bundesverfassungsgericht, Honorarprofessorin an der Univ. Tübingen 2002 ([email protected]).

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Die Autoren

Hattenhauer, Hans, geb. 1931, gest. 2015, Dr. iur., Promotion 1960, Habilitation 1964 (jeweils Marburg), o. Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Handelsrecht an der Univ. Kiel 1965 bis 1996; Rektor 1973/74; 1974 Mitglieder Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wiss.; Chevalier de Légion d’honneur 2003. Heyn, F.  Benedict, geb. 1966, Dr. iur., Promotion 1996 (Hamburg, bei Götz Landwehr), 1997 bis 2004 Tätigkeit in unterschiedlichen Funktionen im Bankhaus M. M. Warburg & CO, seit 2004 Geschäftsführer und Syndikusanwalt der M. M. Warburg Anlage-Kommanditgesellschaft mbH & CO. Hamburg (bheyn@ mmwarburg-anlage.de). Köhler, Michael Curt, geb. 1945, Prof. Dr. iur., Promotion 1972 (Heidelberg, bei Götz Landwehr mit einem rechtsgeschichtlichen Thema), Habilitation 1978 (Heidelberg) in den Fächern Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilo­ sophie. Professuren an den Univ. Heidelberg 1980, Köln 1982, von 1983 bis 2010 an der Univ. Hamburg für die genannten Fächer, Direktor des Seminars für Rechtsphilosophie, Mitglied der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wiss. in Hamburg und seit 2006 der Akademie der Wiss. in Hamburg; langjähriges Mitglied der Ethikkommission der Ärztekammer Hamburg (mc-koehler @t-online.de). Kriechbaum, Maximiliane, geb. 1954, Dr. iur., Promotion 1980, Habilitation 1993 (jeweils München), 1994 Professorin an der Univ. Bochum, seit 1998 o. Professorin für Europäische Rechtsgeschichte, Römisches Recht und Bürgerliches Recht an der Univ. Hamburg ([email protected]). Langhein, A. W. Heinrich, geb. 1962, Dr. iur., Promotion 1990 (Hamburg, bei Götz Landwehr), Rechtsanwalt in Hamburg, von 2004 bis 2011 Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, u. a. Vorsitzender des Verfassungsausschusses. Lührig, Nicolas, geb. 1967, Dr. iur., Promotion 1997 (Hamburg, bei Götz Landwehr), 1998 Rechtsanwalt, 1998 bis 2003 in der Sozietät Gleiss Lutz, seit 2003 Redaktionsleiter des Anwaltsblatts und Geschäftsführer des Deutschen Anwaltvereins, seit 2012 auch Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Deutschen ­Anwaltvereins, Berlin ([email protected]). Morisse, Heiko, geb. 1944, Dr. iur, 1969–1972 wiss. Mitarbeiter in Hamburg bei Claus-Wilhelm Canaris, 1972–1974 wiss. Assistent bei Jürgen F. Baur, 1974 Rich-

Die Autoren

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ter in Hamburg, 1976 bis 1980 Abordnung an die Justizbehörde Hamburg, 1980 Regierungsdirektor, 1980–1994 Referent für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht in der Justizbehörde Hamburg, Promotion 1995 (Hamburg, bei Götz Landwehr), 1995–2004 Richter am OLG Hamburg, 2004 bis 2009 Vorsitzender Richter am OLG Hamburg ([email protected]). Müller, Ingo, geb. 1942, Dr. iur., Dr. phil., Promotion 1974 u. 1987, 1974 bis 1986 wiss. Mitarbeiter an der Univ. Oldenburg, 1986 Verwaltungsjurist in Bonn, 1986 Regierungsdirektor in der Justizverwaltung Bremen, 1995 bis 2008 Professor für Straf- und Strafprozessrecht an der Hochschule der Polizei in Hamburg, 2006/2007 deren Rektor ([email protected]). O’Sullivan, Carolin, geb. 1970, Dr. iur., Promotion 2005 (Hamburg, bei Götz Landwehr), seit 2003 bei der Agentur für Arbeit, Geschäftsführerin Operativ in Ludwigsburg, Lehrbeauftragte an der Hochschule für Öffentliche Verwaltung Kehl ([email protected]). Repgen, Tilman, geb. 1964, Dr. iur. utr., Promotion 1993, Habilitation 2000 ­( jeweils Köln), seit 2002 Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Neuere Privatrechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Univ. Hamburg in der unmittelbaren Nachfolge von Götz Landwehr ([email protected]). Scholz-Fröhling, Sabine, geb. 1971, Dr. iur., Promotion 2001 (Münster/Oxford), wiss. Mitarbeiterin bei Götz Landwehr, Chief Compliance Officer/Leiterin Compliance der Fidor Bank Gruppe in München, zuvor Vice President, Comp­ liance Advisory Europe bei  Barclays/Barclaycard Hamburg. Davor Leiterin Comp­liance der HASPA Finanzholding Gruppe in Hamburg und Leiterin Recht der Hamburger Sparkasse AG ([email protected]). Sellert, Wolfgang, geb. 1935; Dr. iur., Promotion 1964, Habilitation 1970 (­ jeweils Frankfurt/M.); o. Professor an der Univ. Göttingen für Deutsche Rechts­ geschichte, Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht 1977 bis 2002; 1984 o. ­Mitglied der Göttinger Akademie der Wiss.; 2002 Fellowship der Japan Society for Promotion of Science (Tokyo); Gastprofessuren 1999 an der Univ. Nanjing (VR China), 2004 an der Doshisha-Univ. in Kyoto ([email protected]). Spieß, Pirmin, geb. 1940, Dr. iur. utr., Promotion 1969 (Heidelberg, bei Götz Landwehr), Habilitation 1978 (Mannheim), 1982 Professor an der Univ. Mannheim für Bürgerliches Recht, Deutsche Rechtsgeschichte und Neuere Privat-

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Die Autoren

rechtsgeschichte; 1990 bis 2002 Präsident der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte ([email protected]). Weyhe, Lothar, geb. 1961, Dr. iur., 1986 bis 1991 wiss. Mitarbeiter bei Götz Landwehr, Promotion 1995 (Hamburg, bei Götz Landwehr), 1993 bis 2007 Richter am Landgericht, seit 2007 Richter am OLG Hamburg ([email protected]). Willoweit, Dietmar, geb. 1936, Dr. iur., Dr. h. c., Promotion 1966 (Heidelberg), 1967 bis 1969 wiss. Assistent bei Götz Landwehr an der Univ. Heidelberg, Habi­ litation 1971 (Heidelberg, Erstgutachter Götz Landwehr), o. Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Kirchenrecht 1974 an der Freien Univ. Berlin, 1979 an der Univ. Tübingen, 1984 bis 2004 an der Univ. Würzburg, 1996 bis 2002 Präsident des J.-G.-Herder-Forschungsrates, 1988 o. Mitglied, 2006 bis 2010 Präsident der Bayer. Akademie der Wiss., seit 2000 Mitglied der Histor. Kommission bei der Bayer. Akademie ([email protected]).