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German Pages 1034 [1037] Year 1974
FESTSCHRIFT FÜR WERNER WEBER
I m Dienst an Recht u n d Staat Festschrift für Werner Weber zum 70. Geburtstag dargebracht von Freunden, Schülern und Kollegen
herausgegeben von
Hans Schneider und Volkmar Götz
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Ubersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1974 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1974 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 03182 2
Zueignung Diese Festschrift ist einem Juristen gewidmet, der in mehr als vierzigjähriger Tätigkeit als Ministerialbeamter und akademischer Lehrer eine vielfältige und fruchtbare Wirksamkeit entfaltet hat: immer i m Dienst an Recht und Staat. Werner Weber begann nach seiner Bonner Promotion als Gerichtsassessor 1930 seine Tätigkeit i m Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Dort wurde er i n die hohe Schule der Verwaltungsfkunst eingeführt, die er selbst so vorzüglich zu beherrschen gelernt hat. M i t seinen ministeriellen Aufgaben verband er seit 1931 die Wahrnehmung eines Lehrauftrags an der Handelshochschule Berlin. Senat und Kuratorium dieser Hochschule beriefen den inzwischen zum Oberregierungsrat avancierten Ministerialreferenten i m Jahre 1935 auf den öffentlich-rechtlichen Lehrstuhl, den vordem Hugo Preuss, Walther Schücking und Carl Schmitt innegehalten hatten. Einige Jahre lang konnte Professor Weber noch seine akademischen Aufgaben mit der Referententätigkeit im Reichs- und Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Erziehung -und Volksbildung verbinden. Aus dieser Doppelarbeit entstanden zunächst die Kommentare Webers zum Naturschutzgesetz von 1935 und zur Naturschutzverordnung von 1936, zu Vorschriften, an deren Gestaltung Weber selbst wesentlichen Anteil hatte und die übrigens bis heute weithin maßgeblich geblieben sind. Auch die Schriften zu staatskirchenrechtlichen Fragen verdanken ihre Entstehung der Bekanntschaft, die Werner Weber m i t diesem Gebiet in der Verwaltungspraxis gewonnen hat. Diese Tätigkeit hat Webers spätere wissenschaftliche Veröffentlichungen insofern geprägt, als ihr Verfasser stets die praktische Relevanz und Wirksamkeit rechtswissenschaftlicher Arbeit vor spekulative juristische Theorie gestellt hat. Daraus erklärt sich der bedeutende Einfluß, den Werner Weber mit seinen Veröffentlichungen auf die Rechtspraxis ausülbt. A n der dafür notwendigen Klarheit der Gedankenführung und der Treffsicherheit des sprachlichen Ausdrucks hat es Weber nie gefehlt. Die Bestimmtheit und Prägnanz der juristischen Aussage, mit der Werner Weber sich während des Krieges zu aktuellen Rechtsfragen zu äußern pflegte, haben ihn freilich dem damaligen Regime verdächtigt gemacht und konkreten Drohungen ausgesetzt.
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Zueignung
I m Jahre 1942 an die Juristische Fakultät der Universität Leipzig berufen, hat Werner Weber auch dort unter den schwierigen Umständen der Kriegs- und Nachkriegszeit Schüler und Freunde zu gewinnen vermocht und trotz der Widrigkeiten der Jahre 1945 - 48 bedeutende wissenschaftliche Beiträge veröffentlicht. I n den Schriften über den Verwaltungsaufbau Deutschlands i m Jahre 1947 und über „die Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften" (1948) sowie i n den erschöpfenden Sammlungen der Verwaltungsgesetze i n den ehemals preußischen Gebieten und des Ortsrechts der Stadt Leipzig drückt sich ein weiterer Charakterizug Webers als juristischer Schriftsteller und Forscher aus: das Bestreben, sich eine verläßliche Übersicht über die Vielfalt der Verhältnisse und ihre Widersprüchlichkeit zu verschaffen und i n jeden W i r r w a r r des Befunds ein Stück Ordnung zu bringen. Alle Veröffentlichungen Webers basieren auf einer gediegenen Bestandsaufnahme der einschlägigen Rechtsvorschriften, darüber hinaus beziehen sie die lebendige Wirklichkeit und tatsächliche Wirksamkeit der Rechtserscheinungen stets ein. Nach seiner Berufung an die Universität Göttingen (1949), deren Rektonamt er i n den Jahren 1956 - 1958 inne hatte, ist sein staatsrechtliches Bemühen darauf gerichtet gewesen, den Gedanken der deutschen Einheit und Staatlichkeit wachzuhalten. Von seiner Göttinger Antrittsvorlesung über „Weimarer Verfassung und Grundgesetz" über seine A n sprache am Tag der Deutschen Einheit i m Plenarsaal des Deutschen Bundestags am 17. Juni 1966 bis zu dem berühmt gewordenen Aufsatz über den deutschen Bürger und seinen Staat zieht sich dieser Grundgedanke wie ein A u f r u f zu Staatsbewußtheit und Nationalbewußtsein durch seine staatsrechtlichen Veröffentlichungen. Von seiner beständigen A k t i v i t ä t i m Dienste des Wiedervereinigungsgedankens zeugt seine große "Synopse zur Deutschlandpolitik" (1973). Werner Weber ist auch als Göttinger Universitätsprofessor den Fragen des Staats- und Verwaltungslebens i n praktischer Mitarbeit ständig und eng verbunden geblieben. I n zahlreichen Ausschüssen zu Problemen der Raumordnung und des Städtebaus, zu hochschulrechtlichen Planungen, zu Rechtsfragen des Eisenbahnwesens, zur kommunalen Neuordnung u n d anderen aktuellen Reformvorhaben hat er seine Stimme erhoben: immer fachkundig, ganz der Sache zugewandt, dem gemeinen Besten dienend und der Gerechtigkeit verpflichtet. Er war langjähriges Mitglied des Staatsgerichtähofs der Freien Hansestadt Bremen und ist noch heute Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs. Die Sachverständigenkommission für die Verwaltungs- und Gebietsreform i n Niedersachsen (1965 - 68) hat i n Professor Weber einen tatkräftigen Vorsitzenden gefunden. Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer hatte ihn zuvor (1964 und 1965) zu ihrem Sprecher gewählt.
Zueignung
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Neben dieser rastlosen Tätigkeit als Forscher und sachverständiger Berater und Gutachter hat Werner Weber seine akademische Lehrtätigkeit mit Passion wahrgenommen und i n seinen Seminaren einen sich immer erneuernden und erweiternden Kreis von jungen Juristen versammelt. Die menschliche Hochachtung und die wissenschaftliche Wertschätzung, deren sich der unermüdlich tätige Meister des öffentlichen Rechts bei seinen Schülern, bei seinen Freunden und seinen Kollegen erfreut, kommt i n dieser Festschrift zum Ausdruck. Sie vereint Aufsätze verschiedener A r t und Thematik i n dem Bemühen, einen Beitrag zu dem zu bieten, was der Jubilar uns vorgelebt hat: den Dienst an Recht und Staat. I m Namen aller Mitarbeiter w i r d sie dem Julbilar überreicht i n Verehrung, Verbundenheit und Dankbarkeit. Hans Schneider
Volkmar Götz
Inhaltsverzeichnis I . Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Dr. iur., Professor an der Universität Heidelberg: Die juristische Bewältigung der Vergangenheit. Betrachtungen über die Behandlung Unrechter Herrschafts-Akte
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Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: Z u r Lehre v o m Verfassungsnotstand i n der Staatstheorie der Weimarer Zeit
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Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: Verräterei und Majestätsdelikt i n der gemeinrechtlichen Strafrechtsdoktrin
53
Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: Z u r rechtlichen Bedeutung der Amtsbücher v o m 16. bis 18. Jahrhundert
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HANS SCHNEIDER,
ERNST R U D O L F H U B E R ,
F R I E D R I C H SCHAFFSTEIN,
K A R L KROESCHELL,
I I . Deutschlands Rechtslage Dr. iur., Professor an der Universität Münster ( f a m 25. März 1974): Zur Anwendbarkeit der Gemeinsamen Entschließung v o m 17. M a i 1972 auf den Grundlagenvertrag
105
Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: Zwei Staaten i n Deutschland. Eine Betrachtung zur Rechtslage Deutschlands nach dem Grund vertrag
127
Dr. iur., Professor an der Freien Universität Berlin: Die Bindung Berlins an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
157
FRIEDRICH K L E I N ,
GOTTFRIED ZIEGER,
R E I N H A R D MUSSGNUG,
I I I . Grundrechte Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: H e r k u n f t und Entwicklung der Klausel „allgemeine Gesetze" als Schranke der Kommunikationsfreiheiten i n A r t i k e l 5 Abs. 2 des Grundgesetzes
189
N O R D E M A N N , Rechtsanwalt, Dr. iur., Honorarprofessor Freien Universität B e r l i n : Kunst und Subvention
217
C H R I S T I A N STARCK,
WILHELM
an der
Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: D r i t t w i r k u n g der Grundrechte durch völkerrechtliche Verpflichtung?
JOST D E L B R Ü C K ,
223
Inhaltsverzeichnis
10
I V . Staatsrecht Dr. iur., Professor an der Universität Hamburg: Verfassunggebung i n Hinblick auf die Auswärtige Lage
241
Dr. iur., Akademischer Rat, Universität Göttingen: Verfassungsreform und Parlamentsauflösung
269
HERBERT KRÜGER,
HANS-JÜRGEN TOEWS,
T H E O D O R M A U N Z , Dr. iur. utr., Professor an der Universität Staatsminister a. D.: Unverrückbarkeit parlamentarischer Beschlüsse
München, 299
Dr. iur., Abteilungsleiter bei der Europäischen K o m mission, Brüssel: Die verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze bei der Aufstellung von Parteikandidaten für Bundestagswahlen
311
Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: Die Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen
325
Dr. iur., Professor an der Universität Marburg: Z u r Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen
345
Dr. iur., em. Professor an der Universität Bonn: Z u r Entwicklung der politischen Planung i n der Bundesrepublik Deutschland
369
M. H E T T L A G E , Dr. iur., Professor an der Universität Mainz, Staatssekretär a. D., Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung: Z u r Rechtsnatur des Haushaltsplanes
391
Dr. iur., Präsident des Bundesrechnungshofes, F r a n k f u r t am M a i n : Die Rechnungsprüfung der sogenannten Geheimfonds
405
K L A U S O T T O NASS,
ANDREAS SATTLER,
HARTMUT MAURER,
U L R I C H SCHEUNER,
KARL
H A N S SCHÄFER,
Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen : Über strengere u n d unstrenge Verfahren der Rechtsfindung
FRANZ WIEACKER,
421
V. Staat und Kirche Dr. iur., Professor an der Universität Freiburg i. Br.: Grundrechtsbindung der Kirchen?
K O N R A D HESSE,
447
Dr. iur., Professor an der Hochschule f ü r Verwaltungswissenschaften, Speyer, Ministerialdirektor a. D. : Lehrerbildung nach dem Reichskonkordat. Eine Nachlese
463
A X E L FREIHERR VON CAMPENHAUSEN, Dr. iur., Professor an der Universität München: Staat u n d Kirche i m Meldewesen
477
H E L M U T QUARITSCH,
V I . Allgemeines Verwaltungsrecht WILHELM HENKE, Dr. iur., Professor an der Universität Nürnberg: Z u r Lehre v o m subjektiven öffentlichen Recht
Erlangen495
Inhaltsverzeichnis Dr. iur., Dr. h. c., Professor an der Universität Tübingen: Satzungsgenehmigung und Satzungsoktroi : Verwaltungsakte m i t Doppelnatur? 515
OTTO BACHOF,
N A U M A N N , Dr. iur., Professor an der Universität Hamburg, Präsident des O V G a. D., Stellvertreter des Präsidenten des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes i. R.: öffentlichrechtlicher Vertrag i m Strafverfahren? 527 RICHARD
Dr. iur., Professor an der Universität Bielefeld : Masseneinwendungen i m Verwaltungsverfahren
539
Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen : Der Amtshaftungstatbestand i m Gesamt-System des Staatshaftungsrechts. Bemerkungen zum geplanten u n d zum bisherigen Recht
567
Dr. iur., Professor an der Universität Bochum Z u r Dogmengeschichte und jüngeren Entwicklung der Enteignungsentschädigung
589
W I L L I BLÜMEL,
K A R L MICHAELIS,
EBERHARD S C H M I D T - A S S M A N N ,
V I I . öffentlicher Dienst Dr. iur., Professor an der Hochschule für V e r w a l tungswissenschaften, Speyer: Rechtsdogmatische und rechtspolitische Bemerkungen zum Nebentätigkeitsrecht CARL HERMANN U L E ,
Dr. iur., Professor an der Universität Hamburg: Die Pflicht zur Ablieferung der Nebentätigkeitsvergütung
609
WERNER THIEME,
625
V I I I . Umweltschutz Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen, M d B : E i n Grundrecht auf saubere Umwelt?
643
Dr. iur., Professor an der Universität Freiburg i. Br.: Umweltrechtliches Verursacherprinzip u n d Raumordnung
663
Dr. iur., Professor an der Universität Trier-Kaiserslautern: Der heutige Stand des Rechts der Landschaft u n d seines Vollzugs . . .
681
Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: öffentliche Leistungspflichten als Instrumente der Umweltgestaltung
703
Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: E i n internationales Menschenrecht auf Schutz der Umwelt?
719
HANS H . KLEIN,
MARTIN BULLINGER,
RUDOLF STICH,
HARRY EBERSBACH,
D I E T R I C H RAUSCHNING,
I X . Wirtschaftsverwaltung Dr. iur., Professor an der Universität Hamburg: Verschmelzung freier Sparkassen. Eine körperschaftsrechtliche H a m burgensie
737
Dr. iur., Professor an der Universität Hamburg: Versicherungsaufsichtsrecht i n der Europäischen Gemeinschaft
753
H A N S P E T E R IPSEN,
HANS MÖLLER,
Inhaltsverzeichnis
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G O T T F R I E D M A T T H E S , Dr. iur., Ministerialrat a. D., Generaldirektor i. R. der Versicherungsgruppe Hannover, Rechtsanwalt: Liberale Anlagebestimmungen i n der Europäischen Gemeinschaft f ü r Versicherungsunternehmen — ein Postulat 771
X . Arbeits- und Sozialrecht Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: Der Abschluß des Arbeitsvertrages i m neuen Arbeitsvertragsgesetz
FRANZ GAMILLSCHEG,
GEORG WANNAGAT,
Kassel:
793
Dr. iur., Professor, Präsident des Bundessozialgerichts,
Rechtsstaatliche u n d sozialstaatliche Aspekte der Sozialversicherung
819
Dr. iur., Professor an der Universität Würzburg: Gemeinsame Selbstgestaltung (Autonomie) i m Kassenarztrecht
833
GÜNTHER KÜCHENHOFF,
X I . Kommunalverwaltung, Verwaltungsund Gebietsreform, Raumordnung Dr. iur., Universitätsdozent an der Universität Göttingen: Die E n t w i c k l u n g des kommunalen Selbstverwaltungsgedankens u n d seine Bedeutung in der Gegenwart
851
G Ü N T E R S E E L E , Dr. iur., Beigeordneter des Deutschen Landkreistages, Bonn: Positionen der kommunalen Selbstverwaltung bei der Neuformulierung von Grundsätzen des kooperativen Föderalismus i n der Bundesverfassung
873
Dr. iur., Stadtdirektor i n Bergneustadt: Gibt es noch eine gemeindliche Planungshoheit? Das Beispiel Nordrhein-Westfalens
893
Dr. iur., Professor an der Universität München : Entwicklungsplanung u n d gemeindliche Selbstverwaltung
911
Dr. iur., Professor an der Universität Regensburg: Fragen der Kommunalisierung auf der Mittelstufe der öffentlichen Verwaltung
935
Dr. iur., Professor an der Hochschule f ü r Verwaltungswissenschaften Speyer: Modelle der S t a d t - U m l a n d - V e r w a l t u n g
957
KLAUS LANGE,
K A R L - H E I N Z ROTHE,
PETER BADURA,
FRANZ MAYER,
FRIDO WAGENER,
Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen: Staat u n d Kommunalkörperschaften i n der Regionalplänung
VOLKMAR GÖTZ,
979
X I I . Bibliographie W E B E R , Dr. iur., Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer f ü r Ostfriesland u n d Papenburg, Emden : Bibliographie Werner Weber 1005
ECKART
I . Verfassungsund Verwaltungsgeschichte
Die juristische Bewältigung der Vergangenheit Betrachtungen über die Behandlung Unrechter Herrschaf ts-Akte Von Hans Schneider
Dem Juristen w i r d ein konservativer Grundzug nachgesagt. Für den Richter, der i n den Augen des Publikums das B i l d vom Juristen bestimmt, mag diese Kennzeichnung eher zutreffen als für den Juristen i n der Verwaltung und i n wirtschaftlichen oder politischen Führungsstäben. Denn die Gerichte pflegen Vorgänge zu beurteilen, die der Vergangenheit angehören; die Justiz hinkt bekanntlich den Ereignissen nach. Auch sind i m allgemeinen die Maßstäbe, deren sich der Richter bedienen muß, vorgegeben, nicht neu zu entwickeln: der Richter ist an das geltende Gesetz gebunden. Gibt es zu wenig her, so entspricht es der Natur der richterlichen Aufgabe, an das vorgegebene Gesetz anzuknüpfen und i n seiner Sinnhaftigkeit und Logik fortzudenken, ein Prozeß, der wegen der Konsequenzen bedachtsam, daher i n kleinen Schritten vollzogen wird. Das Recht kann seine ordnende (Konflikte begrenzende, kanalisierende und befriedende) Funktion nur erfüllen, wenn es auf Beständigkeit und Dauer angelegt ist und auch so gehandhabt wird. Dem auf Beständigkeit angelegten Wesen des Rechts entspricht das Bemühen des Juristen, den jähen Bruch zu vermeiden und eine kontinuierliche Entwicklung zu bevorzugen. W i r d aber die Rechtsordnung durch eine neue verdrängt und geschieht dies abrupt — etwa durch eine revolutionäre Umwälzung —, so t r i t t das Bedürfnis nach Anpassung und Überleitung des alten Rechtszustandes auf. I m Folgenden möchte ich diese Erfahrung an einigen Beispielen erläutern. Sie betreffen zunächst die juristische Behandlung von Rechtsakten, die eine falsche oder abgesetzte Autorität gesetzt hatte. I. Die Notwendigkeit, die Folgen ungültiger Akte einzugrenzen, hat sich i m Laufe der Geschichte zuerst i n Fällen ergeben, i n denen dauerhafte Status-Verhältnisse eine Rolle spielen. Die Katholische Kirche
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Hans Schneider
hat sich m i t diesem Fragenkreis schon i m Mittelalter lebhaft und lange beschäftigen müssen. Den i m 9. Jahrhundert i m karolinischen Reich auftretenden Chorbischöfen wurde aus verschiedenen Gründen bischöfliche Weihegewalt strittig gemacht 1 . Es wurden Bedenken gegen die Gültigkeit der von den fränkischen Chorbischöfen vollzogenen Weihehandlungen geltend gemacht, und insbesondere die Frage aufgeworfen, ob auch die Weihe von Priestern und Diakonen und die Konsekrationen von Kirchen, die von Chorbischöfen vorgenommen waren, gültig seien. Der i n dieser Sache angegangene Papst N i k o l a u s ! antwortete (864), Unschuldige dürfe man nicht zerschmettern, für die Zukunft solle jedoch nach den Kanones verfahren werden. Die Gültigkeit der von den Chorbischöfen schon vollzogenen Weihehandlungen sollte auch oder schon deswegen nicht i n Zweifel gezogen werden, w e i l die Empfänger den möglichen Mangel der Jurisdiktion nicht geahnt hatten. Die Frage nach den Sekundärwirkungen, die eine Vernichtung des Basisaktes auslöst, hat bald darauf erneut die Kanonisten i n einem spektakulären Fall beschäftigt. Rudolph Sohm berichtet i n seinem K i r chenrecht 2 von dem berüchtigten Leichengericht an Papst Formosus, eine gruselige Geschichte, die von den Kirchenhistorikern regelmäßig angeführt wird, ohne daß sie freilich auf die von Sohm entfaltete j u r i stische Bedeutung des Vorgangs eingehen. Formosus war Bischof von Porto, als er i m Jahr 891 auf den päpstlichen Stuhl gelangte. Er stand unter dem Druck der Herzöge von Spoleto und mußte sich dazu verstehen, Wido von Spoleto (nochmals) als Kaiser und dessen Sohn Lambert als Mitregenten zu salben. Später richtete Formosus ein Gesuch u m Hilfe gegen die Spoletiner an den ostfränkischen König Arnulf, der nach einem ersten vergeblichen Zug i m Winter 895/96 m i t einer Streitmacht i n Rom erschien und die von den Spoletinern verteidigte Stadt einnahm. Er wurde i m Februar 896 vom Papst zum Kaiser gek r ö n t Den beabsichtigten Rachefeldzug gegen Spoleto konnte A r n u l f nicht mehr ausführen, er mußte sich krankheitshalber schon i m A p r i l von Rom aus nach Norden zurückziehen. Formosus selbst starb zu dieser Zeit (4.4. 896). 1 R, Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht u n d das Dekret Gratians, i n der Festschrift der Lpz. Juristenfakultät für A. Wach (1918); ders., Kirchenrecht Bd. 2 (1932) S. 296 f.; Alois Schebler, Die Reordination i n der „ a l t k a t h o lischen Kirche", Bd. 10 der Kanonistischen Studien u n d Texte (1936) S. 189 f. Dort i n Fußnote 1 u n d bei W. Jannasch i n R G G Bd. 1 (3. Aufl. 1957) S. 1678 weitere L i t . zu den Chorbischöfen. 2 Bd. 2 (1923) S. 303 f. Eine zusammenhängende Darstellung der folgenden w i r r e n Vorgänge bietet Franz Xaver Seppelt, Geschichte des Papsttums Bd. 2 (1934) S. 321 f. u n d knapper E. Ewig i n dem von Jedin herausgegebenen Hdb. d. Kirchengeschichte 1. Halbbd. (1966) S. 176 f.
Die juristische Bewältigung der Vergangenheit
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Das hinderte nicht die Rache seiner alten Gegner, die dank der A b wesenheit des Kaisers wieder Oberhand gewannen. Der neue Papst 3 Stephan V I . (896 - 97), der selbst von Formosus zum Bischof von Agnani geweiht war, ließ nachträglich Gericht über seinen Vorgänger abhalten. Die Begründung war, Formosus sei entgegen einer alten Regel, daß kein Bischof von seinem Bistum auf ein anderes übergehen dürfe, von Porto nach Rom übergewechselt, übrigens ein Vorwurf, dem auch der amtierende Papst ausgesetzt war. Man hob i m Januar 897 — neun Monate nach dem Tode — die Leiche des Formosus aus dem Grabe und brachte sie vor eine Synode. Sohm berichtet darüber: „Der Leichnam des Formosus ward auf den päpstlichen Stuhl gesetzt, angeklagt, verurteilt, der beiden Vorderfinger an der rechten Hand beraubt und endlich i n den Tiber geworfen. Damit ward die Handlung der Degradation an dem toten Papst vollzogen. Es ward zu feierlichem Ausdruck gebracht, nicht daß er jetzt des römischen Stuhls für die Zukunft entsetzt werde (er war ja bereits nicht mehr Papst), sondern daß er niemals römischer Bischof, sondern einfacher Laie gewesen sei . . . Alle seine priesterlichen Handlungen, die er vollzogen hatte, waren nunmehr als nichtig zu beurteilen, wie wenn ein Laie sie vorgenommen hätte. Diese Rückwirkung war die einzige Wirkung, welche die Absetzung des toten Formosus haben konnte, und nur u m dieser ihrer Rückwirkung w i l l e n war die Deposition vorgenommen. Sie vernichtete die kurz zuvor (896) von Formosus vollzogene Krönung Arnulfs zum Kaiser. Das war die Hauptsache." Aber die beabsichtigte Annullierung der Kaiserkrönung (genauer: der Salbung), die Formosus an A r n u l f von Kärnten vollzogen hatte, warf natürlich die Frage auf, ob alle von Formosus während seines fünfjährigen Pontifikats vorgenommenen Weihehandlungen ungültig waren. Papst Stephan VI., der das Leichengericht veranlaßt hatte, zögerte nicht, dies zu bejahen. Zwar wurde damit auch seine eigene, von Formosus vorgenommene Bischofsweihe hinfällig, er war gar nicht gültig zum Bischof von Agnani geweiht worden, hatte also, als er Papst und damit Bischof von Rom wurde, die erwähnte Regel nicht verletzt, die einen Übergang von einem Bistum auf ein anderes — (schlechthin oder jedenfalls eine solche aus Ehrgeiz) — verbot: eine Translation lag gar nicht vor 4 . Dem Papst Stephan gereichten also die Konsequenzen aus der Deposition des Formosus nur zum Vorteil. Alle anderen von 3 Der zunächst durch einen Volksaufstand auf den päpstlichen Stuhl gelangte BonifazVI., ein Geistlicher, dem früher die Weihen aberkannt waren, starb schon nach vierzehn Tagen. Er ist 1913 aus der amtlichen Reihe der Päpste gestrichen worden. 4 Franz Xaver Seppelt, Geschichte des Papsttums, Bd. 2 (1934) S. 332.
2 Festschrift für Werner Weber
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Hans Schneider
Formosus geweihten Bischöfe galten als abgesetzt und als i m Priesterstand verblieben. Noch schlimmer erging es denjenigen Geistlichen, die von Formosus die Priesterweihe empfangen hatten; darunter befand sich auch der spätere Papst Benedikt IV. (900 - 905). I h r Bemühen war natürlich darauf gerichtet, die Gültigkeit ihrer Priesterweihe nicht i n Frage gestellt zu sehen, wären sie doch sonst i n den Laienstand zurückgefallen und ihrer Pfründen verlustig gegangen. Zu praktischen Konsequenzen scheint es insofern gekommen zu sein, als einige Bischöfe Absetzungsurkunden erhielten oder Verzichtserklärungen abgeben mußten. Die unvermeidliche juristische Kettenreaktion wurde jedoch gestoppt durch den Tod Stephans VI. „Die Volkswut über das Verbrechen, genährt durch Gerüchte über Wunder, die an dem Leichnam des Formosus geschehen sein sollten, und die Empörung der zahlreichen Gegner, die er sich durch die Nichtigkeitserklärung der Weihen des Formosus gemacht, führten den Sturz des Stephans herbei; er wurde eingekerkert und erdrosselt (Juli 897)5." Nachdem zunächst Papst Romanus für vier Monate den päpstlichen Stuhl innegehalten hatte, folgte i h m Theodor II. (897). I n seiner nur 20 Tage währenden Amtszeit ließ dieser Papst die Beschlüsse des Leichengerichts auf einer römischen Synode rückgängig machen, die Weihen des Formosus als rechtsgültig anerkennen und die Urkunden verbrennen, die Stephan über die Absetzung der von Formosus Geweihten ausgestellt oder e r w i r k t hatte 6 . Auch der Leichnam des Formosus fand erneut seine Bestattung i n der Gruft von St. Peter 7 . Die gestörte Ordnung schien also wieder hergestellt. Die Befriedung auf dem status quo ante wurde jedoch durch den plötzlichen Tod Theodors und die damit aufgeworfene Nachfolgerfrage sogleich erneut erschüttert. Die Anhänger des leichenschänderischen Stephan suchten den Diakon Sergius auf den päpstlichen Stuhl zu bringen. Formosus hatte seiner Zeit diesen durch adlige Verwandschaft einflußreichen Mann dadurch aus Rom entfernt, daß er ihn zum Bischof von Caere erhob. Doch verzichtete Sergius nach mehrjähriger Amtszeit nach der Depositio des Formosus auf seine Würde und trat i n den Stand eines Diakons zurück, u m sich für die Nachfolge als Papst frei zu halten; er wollte sich durch das Verbot des Übergangs von einem Bistum auf ein anderes nicht gehindert sehen, den päpstlichen Stuhl einzunehmen. Doch konnte sich Sergius nach dem To5
Seppelt, a.a.O., S. 332. Seppelt, S. 333. 7 „Wie i n solchen Fällen zu geschehen pflegt", — bemerkt Haller dazu spöttisch — „hatte die Leiche sich wiedergefunden, der Strom hatte sie an L a n d getragen u n d ein Mönch sie gerettet" (Das Papsttum, Bd. 2 der verb. u. erg. Ausgabe, herausgegeben von H. Dannenbauer, 1951 S. 192). β
Die juristische Bewältigung der Vergangenheit
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de Theodors nicht durchsetzen, er wurde zwar gewählt, aber nicht geweiht, weil i n Rom Straßenkämpfe ausbrachen. Ein Benediktiner nahm als Johannis I X . den päpstlichen Stuhl ein (898 - 900). Er hatte — wohl m i t Willen und Unterstützung des Kaisers Lambert von Spoleto — das Befriedungswerk seines Vorgängers fortgesetzt, indem er den Beschlüssen einer vorangegangenen römischen Bischofsversammlung durch eine größere Synode i n Ravenna allgemeine Anerkennung zu verschaffen suchte. Einmütig wurden auf dieser von 70 italienischen Bischöfen besuchten Versammlung die Beschlüsse der Leichensynode für nichtig erklärt, deren A k t e n verbrannt; die anwesenden Teilnehmer der Leichensynode wurden verhört (sie stritten ihre M i t w i r k u n g ab oder beteuerten, nur gezwungenermaßen teilgenommen zu haben) und erlangten schließlich Verzeihung. Nur über Sergius und einige seiner Helfer wurde der Bann verhängt. Die Synode stellte fest, daß alle Weihen des Formosus gültig seien und die von i h m Geweihten ihre Ämter behielten. Auch die an Lambert vollzogene Salbung war daher gültig, was feierlich festgestellt wurde, denn er bot der Versammlung seinen Schutz. Nur die Salbung Arnulfs von Kärnten hielt die Synode für ungültig, wofür eine neue Begründung gefunden wurde: w e i l sie durch Schliche erpreßt worden sei. Das war natürlich eine Kränkung des A r nulf, aber ohne Risiko für die Synodalen, w e i l jeder wußte, daß die Tage des gelähmten Kaisers i n Deutschland gezählt waren (gestorben 899). Das Wohlwollen, welches sich die Synode so und durch andere Zugeständnisse bei Lambert erkauft hatte, zahlte sich indessen nicht aus, weil der noch jugendliche Herrscher i m Oktober 898 nach einem Jagdunfall starb, und m i t i h m das Haus der Widonen i n Spoleto erlosch. Auch Papst Johannis I X . wurde einundeinhalbes Jahr danach durch den Tod hinweggerafft. Sein unmittelbarer Nachfolger Benedict I V . (900-903) hielt an dem i n Ravenna bekräftigten Kurs fest, er hatte ja selbst einst von Formosus die Priesterweihe empfangen. Nach Benedicts Tod und zwei kurzen Zwischenakten, die hier nicht interessieren, gelang es jedoch dem aus der Verbannung zurückgekehrten Sergius, auf den päpstlichen Stuhl zu kommen und die ganze Geschichte u m Formosus wieder zu revidieren. Wie es schon Stephanus getan, ließ Sergius I I I . die Wahl und Weihe des Formosus für ungültig erklären (nur blieb diesmal der Leichnam geschont); infolgedessen wurden alle von Formosus vorgenommenen Weihehandlungen für nichtig angesehen. Durch Gewalt und Drohungen sind damals entsprechende Beschlüsse einer römischen Synode zustande gekommen. Wer von den abgesetzten Klerikern i m A m t bleiben wollte, bedurfte der Reordination, d. h. er mußte sich aufs neue weihen
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Hans Schneider
lassen. Seppelt schreibt dazu (S. 333): „Man kann leicht ermessen, welche Unsicherheit und Verwirrung i n den kirchlichen Kreisen Roms und Italiens durch diese Maßnahmen verschuldet wurde: denn Formosus hatte zahlreiche Bischöfe geweiht, und diese wieder hatten einer großen Zahl von Presbytern die Weihe erteilt; alle diese Weihen waren nun für ungültig erklärt. Kein Geistlicher war sicher, daß nicht seine Weihe und sein A m t angefochten wurde; denn begreiflicherweise wollten sich nun die Anhänger des Sergius i n den Besitz der einträglichen Pfründen setzen." I n dieser verworrenen Lage sind verschiedene Streitschriften von Klerikern entstanden, die sich mit der Zulässigkeit und Gültigkeit der gegen die Formosianer getroffenen Maßnahmen beschäftigten. Einige dieser Manuskripte sind erhalten geblieben. Ihr Verfasser soll ein angeblich i n Neapel (also außerhalb von Rom) lebender fränkischer Geistlicher sein 8 . Sein überlieferter Name Auxilius klingt ebenso wie der eines anderen Schreibers (Eugenius Vulgarius) nach einer Tarnbezeichnung. Beide Autoren verteidigen m i t allerlei theologischen Gründen und Belegen aus der Bibelgeschichte die Gültigkeit der Weihen des Papstes Formosus und damit zugleich den eigenen Status 9 . Gegenüber dem von den Feinden des Formosus angeführten Argument, ein ungültig Geweihter könne selbst keine gültige Weihe vollziehen (quod non habuit, dare non potuit) macht Auxilius geltend: Christus ist's, der tauft; Christus ist's, der das Opfer vollzieht; so sei auch bei der Ordination Christus derjenige, der die Priesterwürde verleihe, nicht der Bischof, der sie vornehme. I n ähnlichen Sinne äußert sich Vulgarius, der scharf zwischen Können und Dürfen unterscheidet, m i t dem Hinweis auf den Verräter Judas, der doch gültig taufen konnte, obwohl er nicht vom Heiligen Geist erfüllt gewesen sei. Auch praktische Argumente macht Auxilius neben den theologischen geltend: wenn schon jemand zu bestrafen sei, dann jene, die bei der Wahl des Formosus mitwirkten, nicht aber Fremde, die nichtsahnend nach Rom gezogen sind und dort die Weihen aus der Hand des amtierenden Papstes empfangen haben. Sonst müßte daraus eine heillose Verwirrung entstehen. Der Gedanke eines Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit blitzt hier auf und legt Differenzierungen und Begrenzungen i n der Auswirkung fehlerhafter statusbegründender A k t e nahe. U m die sekundären Folgen der wiederholten Nichtigkeitserklärungen für Bischofsstühle und Pfründenbesitz ging es natürlich den sich streitenden Parteien, weil die ursprüngliche „Haupt-
8 9
Darüber Eugen Dümmler, A u x i l i u s u n d Vulgarius (Leipzig 1866). Dazu näher A. Schebler, S. 203 - 211.
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sache" (die Salbung Arnulfs) längst durch den Tod des Kaisers und den seines Widerparts Lambert ihre Bedeutung verloren hatte. I n der Folgezeit wurden Synoden und Provinzialsynoden immer wieder i n die Notwendigkeit versetzt, sich mit der Gültigkeit von Ordinationen auseinanderzusetzen, die — wie sich natürlich immer erst später herausstellte — von Ursupatoren, Invasoren, Simonisten und Häretikern vollzogen waren. Dabei mußte stets die Wirksamkeit der Folgeakte bedacht werden, wenn der Basis-Akt annulliert war. Den unverkennbar harten Konsequenzen, die ahnungslose, mißgeleitete oder reuemütige Priester traf, begegnete die Kirche — bei entsprechender Unterwerfung unter die Vorgesetzten — mit Rekonziliationen durch Handauflegung des Bischofs. Dispensationen kamen hier nicht i n Frage. Das Bild, welches Schebler von dieser Entwicklung gezeichnet hat, korrigiert i n vielen Punkten die Auffassung von Sohm und ergibt, daß nicht jede unkanonische Weihe zur vollständigen Ungültigkeit oder U n w i r k samkeit geführt hat, sondern daß von Fall zu Fall ihre Gültigkeit bzw. ihre Folgewirksamkeit anerkannt oder bestätigt worden ist. Daß sich dabei feste Grundsätze oder Regeln ausgebildet hätten, kann aber aus den Forschungen von Schebler nicht entnommen werden. Die damaligen Verhältnisse lassen dergleichen auch nicht vermuten. Man darf nicht übersehen, daß das Papsttum i m 9. und 10. Jahrhundert der Spielball mächtiger italienischer Adelsfamilien war und die Päpste nur unter dem Schutz bald der einen, bald der anderen Gruppierung laviert haben. Die formosianischen Wirren spiegeln diese abhängige und labile Lage wieder. A u f einem anderen Felde, nämlich dem Eherecht, hat später die K a tholische Kirche feste Nichtigkeits-Regeln auszubilden vermocht. Dies dürfte nicht zuletzt deswegen geglückt sein, weil die Kanonisten davon selbst nicht betroffen wurden, sie also gewissermaßen als Unparteiliche argumentieren konnten. Nach dem tridentinischen Ehedekret konnte eine Ehe nur gültig geschlossen werden „praesente parodio vel alio sacerdote de ipsius parochi seu ordinarli licentia". Zum Schutz des guten Glaubens der Brautleute wurde aber auch eine solche Trauung für gültig angesehen, die ein Geistlicher vorgenommen hatte, der weder Ortspfarrer noch bestellter oder ermächtigter Vertreter war, wenn er nur auf Grund seines Titels allgemein für den Pfarrer gehalten wurde 1 0 . Dieser „parochus putativus cum titulo colorato" ist ein Verwandter des falschen Standesbeamten
10 J. B. Sägmüller, S. 125.
Lehrbuch des kath. Kirchenrechts, Bd. 2 (3. Aufl. 1914)
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(§ 1319 BGB, jetzt § 11 Abs. 2 EheG) 1 1 und hat auch über das Eherecht hinaus Nachfolger gefunden: i m Codex iuris canonici und i m neueren deutschen Beamtenrecht. I n c. 209 ist der Mangel der Jurisdiktionsgewalt eines Klerikers für die vorgenommenen Amtshandlungen unschädlich bei „allgemeinem I r r t u m " , d. h. wenn die Allgemeinheit unter den gegebenen Umständen annimmt oder doch, falls eine Mehrheit von dem Amtieren wüßte, annehmen würde, daß er die erforderliche Jurisdiktion besitzt. I n einem solchen Fall w i r d der Mangel der Befugnis sozusagen durch eine eingreifende gesetzliche Delegation ausgefüllt (ecclesia supplet). Der unbefugt und eigentlich nichtbefähigt Amtierende kann also doch gültige Amtshandlungen vornehmen. Das erinnert an die zuerst i m Jahre 1937 i n § 34 DBG 1 2 , jetzt i n § 14 B B G 1 3 und i n den Landesbeamtengesetzen getroffene Regelung. Ist die Ernennung eines Beamten nichtig oder für nichtig erklärt (zurückgenommen) worden, so sind die inzwischen vorgenommenen Amtshandlungen des Ernannten i n gleicher Weise gültig, wie wenn sie ein Beamter ausgeführt hätte. Der Unterschied zu den erwähnten Fällen des kanonischen Rechts (c. 209) besteht freilich darin, daß dort die Fiktion nur eingreift, wenn der scheinbare Jurisdiktionsinhaber überhaupt Geistlicher ist, also jemand, der durch Besitz der notwendigen Weihen zur Ausstattung m i t entsprechender Jurisdiktion befähigt wäre. Das galt auch für den parochus putativus, er mußte überhaupt Geistlicher sein. Demgegenüber braucht der falsche Standesbeamte gar nicht Amtsträger sein. Ebenso setzt die erwähnte Regelung i n unseren Beamtengesetzen nicht voraus, daß der Ernannte wenigstens als Angestellter i m öffentlichen Dienst war. Freilich wären die Anordnungen des Hauptmanns von Köpenick auch von § 14 B B G nicht erfaßt, w e i l die Fiktion nur Platz greift, wenn der Rechtsschein sich auf eine — wenn auch nichtige — Ernennung zu stützen vermag. II. I m 19. Jahrhundert hat der Reichsdeputationshauptschluß von 1803 bei der Liquidation der ständischen und geistlichen Regime die Über11 G. Planck bezeichnete i n seinem Kommentar zu § 1319 B G B diese V o r schrift wegen der d a r i n angeordneten F i k t i o n „eine Nachbildung des parochus putativus des kanonischen Rechts". Auch i n den Protokollen (IV S. 44) findet sich ein Hinweis auf den vermeintlichen Ortspfarrer. 12 Deutsches Beamtengesetz. V o m 26.1.1937 (RGB1.1 S. 39). 13 Bundesbeamtengesetz. V o m 14. 7.1953 (BGBl. I S. 551).
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leitung auf die neuen Staaten i n geordnete Bahnen zu lenken gesucht. Die große Flurbereinigung wurde dabei m i t einem weitreichenden Lastenausgleich verbunden: der Verlust wurde den Depossedierten durch Abfindungen und Rentenleistungen erträglich gemacht und der Erwerb den Gewinnern durch Auferlegung von Unterhaltsleistungen und Schuldenübernahme geschmälert. Der gewaltige Umbruch wurde in vermögensrechtlicher Hinsicht beinahe schonlich vollzogen. Die Auflösung des Königreichs Westfalen hat hernach komplizierte Rechtsfragen aufgeworfen 14 . Die i n diesen französischen Satellitenstaat zwischen 1807 und 1813 einbezogenen Länder Hannover, Braunschweig und Kurhessen betrachteten nachträglich die Zwischenherrschaft Jérômes und die von ihr vorgenommenen Rechtsakte als n u l l und nichtig, weil sie auf Ursupation beruhten, während Preußen — weil es i m Tilsiter Friedensvertrag von 1807 die hernach zum Königreich Westfalen gelangten preußischen Gebiete abgetreten hatte — die Regierungsakte Jérômes und seines Ministeriums als wirksam hinnahm und — soweit dies noch möglich war — nur m i t Wirkung ex nunc aufhob. Das war zunächst von großer Bedeutung für die Ansprüche aus drei Zwangsanleihen, die das Königreich Westfalen aufgenommen hatte, und für die Gehaltsansprüche der westfälischen Staatsbeamten. Preußen hat zwar die Übernahme der Schulden aus den Zwangsanleihen von vornherein und wiederholt abgelehnt 15 , aber Ansprüche aus Verwaltungsrückständen und rückständige Gehalts- und Pensionsforderungen alsbald anerkannt und nach Maßgabe einer Kabinettsorder vom 31. Januar 1827 durch Ausgabe von Staatsschuldscheinen befriedigt, und zwar gegenüber preußischen Untertanen i n voller Höhe, gegenüber Fremden zu zwei Fünfteln (nämlich i m Hinblick auf den mutmaßlich auf Preußen entfallenden Anteil an der westfälischen Schuld). Über die Verteilung dieser Centrallasten wurde erst fast 30 Jahre später eine dürftige Einigung unter den vier Staaten erzielt 1 6 , an die das Gebiet des ehemaligen Königreichs Westfalen zurückgefallen war. Mager war das Ergebnis deswegen, weil eigentlich nur Zuständigkeitsfragen geregelt wurden, jedem der vertragschließenden Staaten aber freigestellt 14
55 f.
Darüber zusammenfassend R. Stammler,
Dt. Rechtsleben Bd. 2 (1932) S.
15 KabO. v. 31.1.1827 u n d KabO. v. 3. 3.1843 zur Ausführung des Staatsvertrages v o m 29.7.1842 (PrGS 1843, S. 78 - 90). Das Plenum der Zweiten K a m m e r v e r w a r f am 31.1.1852 eine Petition von Inhabern der westfälischen Zwangsanleihe (nach Debatte zwischen Nobiling u n d Göppert: „Übergang zur Tagesordnung"). Darüber bei Stammler, S. 66/67, Nachweise bei L. v. Rönne, Das StaatsR der Pr. Monarchie, Bd. 1 (4. A u f l . 1881) i n A n m . 2 zu § 45. Das Pr. AbgHaus hat sich danach noch 1860 m i t der Frage befaßt! 16 Näheres bei E. R. Huber, Dt. VerfGesch. Bd. 1 (1957) S. 759.
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blieb, nach welchen Grundsätzen er die erhobenen Ansprüche zu behandeln gedachte. Die erwähnte Nichtigkeits-These wurde vor allem den Erwerbern der von Jérôme und seinen Ministern für nahezu 17 Millionen Franken veräußerten Staatsdomänen i n Kurhessen entgegengehalten. Dort w u r den die Domänenkäufer i m Verwaltungsweg depossediert, während die Regierungen i n Hannover und Braunschweig sich damit begnügten, die Herausgabe der Grundstücke i m Klagewege vor den Gerichten zu verlangen. I n dem Streit u m die Nichtigkeit oder Wirksamkeit der westfälischen Domänen-Verkäufe sind alle Argumente privatrechtlicher, staatsrechtlicher und völkerrechtlicher A r t , die uns aus den Gutachten und Prozessen u m die Liquidation deutscher Auslandsvermögen vertraut sind, aufgetischt worden. Der Streit um die Domänen-Veräußerung, mit dem sich auch der Bundestag des Deutschen Bundes mehrfach beschäftigte 17 , hat schließlich durch Vergleiche oder Zeitablauf seine praktische Erledigung gefunden. I n Preußen sind die Domänen-Erwerber unangefochten in ihrem Besitz belassen worden. Die preußische Regierung hat die westfälische Vergangenheit der Jahre 1807 -1813 großzügig bewältigt; Freiherr vom Stein und Vincke haben sogar gewisse Reform-Maßnahmen der Zwischenregierung aufgegriffen und fortgeführt. Die kurhessische Nichtigkeits-These hat diesem Land staats- und verfassungspolitisch keinen Gewinn gebracht. III. Die Fragen, welche die Liquidation eines abgesetzten Regimes i n j u ristischer Hinsicht auf w i r f t , sind auch dem 20. Jahrhundert vertraut. Die Abwicklungs-Probleme stellen sich sogar noch schwieriger dar, weil die Zahl der Betroffenen viel größer und die Auswirkung von Kettenreaktionen unübersehbar geworden ist, weil die rechtliche Ordnung eines Flächenstaates i m Industriezeitalter ein kompliziertes Kunstwerk darstellt, das auf reibungsloses Funktionieren angelegt ist, und weil die internationalen Beziehungen und völkerrechtlichen Bindungen von Umwälzungen berührt werden. Eine totale Annullierung der Herrschaftsakte, die ein durch die politischen Ereignisse beseitigtes Regime vorgenommen hat, kann sich da keine neue Regierung leisten, wenn sie nicht gerade ein (ihr vielleicht aus politischen Gründen erwünschtes) Chaos herbeiführen w i l l . So haben wohl alle nach dem Zweiten Weltkrieg zur Selbständigkeit gelangten neuen Staaten der sogenannten Dritten Welt gut daran getan, die große Masse der Gesetze und Rechtsverhältnisse ihrer früheren Kolonialherren zunächst einmal unter ge17
Darüber E. R. Huber, S. 761 f.
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wissen Vorbehalten en bloc zu übernehmen und dann erst stufenweise nach eigenen Vorstellungen umzugestalten. Es ist lehrreich zu verfolgen, wie ein Land mit hoher Rechtskultur seine staatliche Vergangenheit juristisch bewältigt hat: Frankreich 1945. Die provisorische Regierung der französischen Republik erließ nach der Landung ihrer Alliierten i n Frankreich die Ordonnance vom 9. A u gust 194418, i n welcher der Fortbestand der republikanischen Regierung bekräftigt wurde („n'a pas cessé d'exister") und festgestellt w i r d : „Sont, en conséquence, nuls et de n u l effet tous les actes constitutionnels, législatifs ou réglementaires, ainsi que les arrêtés pris pour leur exécution, sous quelque dénomination que ce soit, promulgués sur le territoire continental postérieurement au 16 j u i n 1940 et jusqu' au rétablissement du Gouvernement provisoire de la République française." Trotz dieser kräftigen Eingangsworte („nuls et de nul effet") fegt die Ordonnance aber nicht alles vom Tisch, sondern liquidiert die Hinterlassenschaft i n vorsichtiger und differenzierender Weise, weil sich vier Jahre Legislation und Administration nicht mehr mit einem Federstrich hinwegwischen ließen. I n bezug auf die von oder i m Auftrage der Regierung Pétain seit dem 10. Juli 1940 vorgenommenen Hoheitsakte werden nämlich i n den folgenden A r t i k e l n der Ordonnance verschiedene Gruppen gebildet und diesen eine unterschiedliche Behandlung zuteil. a) Gewisse Akte von verfassungsrechtlichem Charakter (dits actes constitutionnels) und die hochpolitischen Gesetze über Ausnahmegerichte, Zwangsarbeit, Juden und das Verbot von Vereinigungen, Gesetze, die i n A r t i k e l 2 der Ordonnance und i n einem Anhang Nr. I i m einzelnen aufgeführt waren, sollten von Anfang an so betrachtet werden, als hätten sie niemals existiert (annulation avec effet rétroactif). b) Andere Texte, die i n einem Anhang Nr. I I aufgeführt waren, w u r den ebenfalls als nichtig festgestellt. Die Nichtigkeitserklärung sollte aber die Wirkungen, welche die annullierten Akte bis zum Zeitpunkt der Feststellung der Nichtigkeit geäußert hatten, nicht berühren. Der Annullation kam also keine Rückwirkung zu, sie bedeutete eine A u f hebung (abrogation). c) Eine dritte Kategorie von Akten sollten vorläufig i n Geltung bleiben („continueront à recevoir provisoirement application"). I n bezug auf die unübersehbare Masse der getroffenen Anordnungen war dies 18
Abgedr. D. A. 1944 S. 90, auch später wiedergegeben i n C. adm. ζ. B. 4. Ed. (1956) S. 532.
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eine ebenso dogmatisch korrekte wie praktikable Regelung. Da nach der Grundvorstellung der neuen Regierung das Regime von Vichy ein rechtliches Nichts darstellte, konnte es eigentlich gar nicht gültige Rechtsakte erlassen. Deswegen mußten die nun einmal getroffenen A n ordnungen nachträglich mit rechtlicher Geltung ausgestattet werden. Andererseits sollte dies nur vorläufig geschehen, um Zeit für die Sichtung i m Einzelnen zu gewinnen. Diese Akte wurden deswegen vorläufig i n die neue Ordnung eingegliedert. Vedel drückt dies so aus 19 : „intégrés rétroactivement à l'ordre juridique régulier sous réserve d'une décision définitive à intervenir." Dahin gehörten diejenigen Hoheitsakte, deren Nichtigkeit nicht ausdrücklich i n der Ordonnance festgestellt ist (validation tacite). Das war die Masse der Rechtsnormen. d) Alle Verwaltungsakte, die nach dem 16. Juni 1940 erlassen (und noch nicht verbraucht) waren, wurden rückwirkend mit vorläufiger Geltung ausgestattet („sont rétroactivement et provisoirement validés"). Obwohl also die Regierung von Vichy als von Rechts wegen nicht existent angesehen, sondern lediglich als „autorité de fait, se disant gouvernement de l'état français" bezeichnet wurde, sind doch viele ihrer „Pseudo"-Hoheitsakte ihrer Wirkung nach mindestens bis zum 16. Juni 1940 und die Masse der Regierungs- und Verwaltungsakte sogar darüber hinaus praktisch i n Geltung gelassen worden. Die provisorische Regierung ist also bei dem Erlaß der Ordonnance vom 9. August 1944 unbeschadet des Verdammungsurteils über das Vichy-Regime recht schonlich und überlegt m i t der Erbschaft der Vergangenheit umgegangen. Dieses Zeugnis von Rechtskultur und französischem Legalismus ist freilich alsbald i m Bewußtsein der Zeitgenossen verdunkelt worden durch spätere Ordonnancen, mit denen nachträglich von den Politikern ein neuer Diskriminierungs-Tatbestand eingeführt wurde (Dégradation nationale wegen Verletzung der nationalen Würde), was bekanntlich der Rachsucht, dem Konkurrentenneid und dem Klassenkampf ein Betätigungsfeld eröffnet hat. IV. Gegenüber der schonlichen Annullierung der Rechtslage und der Einbeziehung der administrativen Rechtsverhältnisse i n die neue staatliche Ordnung, wie sie i n der erwähnten Ordonnance i n Frankreich vorgenommen worden ist und bei uns auch zweimal bei den Rückgliederungen des Saargebietes i n den deutschen Staatsverband mit den vorgefundenen Rechtsvorschriften praktiziert wurde, fällt die vom Bundes19
Georges Vedel, Manuel élémentaire de droit constitutionnel (1949) S. 274.
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Verfassungsgericht mehr als acht Jahre nach den Ereignissen angenommene Liquidation aller deutschen Beamten- und Militärdienstverhältnisse 20 durch ihre Differenzierungslosigkeit und Plumpheit besonders kraß ab. Abgesehen davon, daß das Prozeßergebnis — die Zurückweisung von Verfassungsbeschwerden — sich viel einfacher, weniger aufwendig und weniger angreifbar aus Art. 131 und 139 GG hätte begründen lassen, besteht der schwerste Vorwurf, der gegen die These vom Erlöschen aller Beamtenverhältnisse und sogar — was heute unbegreiflich und schäbig erscheint — aller Militärdienst-Verhältnisse mit dem 8. Mai 1945 erhoben worden ist, darin, daß diese Richter die „konservierende Natur des Rechts und der Rechtsprechung" verkannt und verfehlt haben. A u f diesen Vorwurf, den das Gericht registriert hat 2 1 , bleibt die spätere Entscheidung 22 , i n deren Begründung der Senat seine alte Position gegen die laut gewordene K r i t i k verteidigt, jede A n t w o r t schuldig. Die Diskontinuitäts-These für die Beamten- und Militärverhältnisse steht übrigens herzlich wenig i n Einklang m i t der Annahme des Gerichts über die Fortgeltung des Reichskonkordats 23 und der Vorstellung vom Fortbestand der deutschen Staatlichkeit über das Jahr 1945 hinweg und der rechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland m i t dem Deutschen Reich 24 . Auch beweist die zwar bedingt, aber doch i m Grundsatz ausgesprochene Fortgeltung der früheren Gesetze und Verordnungen, also auch solcher aus der Zeit des nationalsozialistischen Staates (Art. 123 GG), daß der westdeutsche Verfassunggeber sich für die Rechtskontinuität entschieden hatte. Die Unrechtslagen, die das Dritte Reich hinterlassen hat, hat die Nachkriegs-Gesetzgebung i n differenzierter Weise zu beheben gesucht. Zur Wiedergutmachtung nationalsozialistischen Unrechts an Privaten haben die Besatzungsmächte zunächst den Versuch unternommen, eine restitutio i n integrum durchzuführen; aber die besatzungsrechtlichen Anordnungen mußten sich von vornherein auf die Rückerstattung „feststellbarer Vermögensbestände" (identifiable property) beschränken 2 5 . Da der Verbleib vieler den Eigentümern abgepreßten, wegge20 Urteile des Ersten Senats v o m 17.12. 1953 u n d 26. 2. 1954 BVerfGE 3 S. 58 f. (Beamte) u n d S. 290 f. (Soldaten). 21 BVerfGE 6 S. 141 m i t Hinweisen auf die K r i t i k von Herbert Krüger, Jerusalem, Forsthoff u n d Röttgen. 22 Beschluß des Ersten Senats v o m 19. 2.1957, BVerfGE 6 S. 132 f. 23 U r t e i l des Zweiten Senats v o m 26. 3.1957, BVerfGE 6 S. 309 f. 24 I m U r t e i l des Zweiten Senats v o m 31. 7.1973 (Grundvertrag) ist die Identitäts-These zu den die Entscheidung tragenden Gründen erhoben. 25 Gesetz Nr. 59 v o m 10.11.1947 der US MilGov.; Gesetz Nr. 59 v o m 12.5. 1949 der B r i t . MilGov. — Die Abgrenzung von feststellbaren u n d anderen Vermögensgegenständen hat zu neuen Ungerechtigkeiten geführt. Vgl. dazu Heinz Pinner i n der Festschrift f ü r Walter Schmidt (1959) S. 297 f.
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nommenen oder sonstwie entzogenen Vermögensgegenstände sich indessen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr klären ließ, konnte die große Masse der durch Gewaltmaßnahmen deutscher Stellen verursachten Vermögensschäden nur durch die Gewährung von besonderen gesetzlichen Entschädigungsansprüchen geregelt werden 2 6 . Dabei ist den Gläubigern vom deutschen Gesetzgeber nur ein Geldanspruch gewährt worden; die Herausgabe des Erlangten oder die Rückabtretung von Forderungen ist nicht vorgesehen. „Rückerstattungsrechtliche Schadensersatzansprüche sind auf Ersatzleistung i n Deutsche Mark gerichtet, auch wenn sie nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts auf Herstellung des Zustandes gerichtet sind, der bestehen würde, wenn der zu Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre 2 7 ." Diese Regelung beruht auf der Einsicht, daß hier das i n der Vergangenheit Geschehene nicht rückwärts abgewickelt werden kann, teils weil eine Naturalrestitution unmöglich war, teils v/eil die Wiederherstellung des ursprünglichen Rechtszustandes dem Gläubiger später — unter den veränderten Umständen — nicht mehr willkommen sein mußte, und schließlich, weil sonst i n jedem Fall eine Kettenreaktion von Folgestreitigkeiten zu befürchten stand. Der Gesetzgeber mußte von der nun einmal eingetretenen Lage ausgehen und von ihrem Boden aus den aus Gerechtigkeitsgründen gebotenen Ausgleich herbeizuführen suchen. Das Rad der Geschichte ließ sich auch mit juristischen Fiktionen nicht zurückdrehen. Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts an Angehörigen des öffentlichen Dienstes 28 geht ebenfalls davon aus, daß die Entlassung, Entfernung aus dem Dienst, vorzeitige Versetzung i n den Ruhestand u. ä. förmliche Maßnahmen, die während des „Dritten Reiches" auf Grund von verschiedenen Gesetzen aus politischen Gründen gegen Beamte getroffen worden sind, wirksam waren. Diese A k t e — z. B. Entlassungen nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" 29 — wurden auch nicht als ohne weiteres hinfällig oder als für die Zukunft nicht existent angesehen; dem betroffenen Beamten wurde vielmehr, wenn er die gesetzliche Altersgrenze noch nicht erreicht hatte und dienstfähig war, ein „Anspruch auf bevorzugte Wiederanstellung" gegeben. Der gesetzliche Anspruch auf Wiederanstel26 Zunächst i n der amerikanischen Besatzungszone durch gleichlautende Landesgesetze v o m August 1949, sodann für das ganze Bundesgebiet durch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) v o m 18. 9.1953 (BGBl. I S. 1387), später i n der Fassung des Gesetzes v o m 29. 6.1956 (BGBl. I S. 559), u n d Bundesrückerstattungsgesetz (BRüG) v o m 19. 7. 1957 (BGBl. I S. 734). 27 § 16 Abs. 1 BRüG. 28 Gesetz v o m 11. M a i 1951 (BGBl. I S. 291). 29 Gesetz v o m 7. A p r i l 1933 (RGBL I S. 175).
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lung geht davon aus, daß der Entlassungsakt von Bestand war und noch fortwirkt. Der Bundesgesetzgeber hat also die Vergangenheit nicht als juristisches N u l l u m angesehen, sondern gerade auf der Basis des Geschehenen eine Ausgleichsregelung angeordnet. I n entsprechender Weise ist m i t Unrechtsakten der nationalsozialistischen Regierung auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitswesens verfahren worden. Es handelte sich vor allem um den Widerruf von Einbürgerungen, die i n der Zeit zwischen dem 9.11.1918 und dem 30.1. 1933 vorgenommen waren, und um die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit bei Reichsangehörigen, die sich i m Ausland aufhielten. Diese sich auf das Gesetz vom 14. J u l i 1933 (RGBl. I S. 480) stützenden Maßnahmen waren eindeutig politisch motiviert und verstießen gegen elementare Rechtsprinzipien. I n den Ländern der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands ergingen i m Jahre 1948 besondere Gesetze, die solche Ausbürgerungen rückgängig machten 30 . Aber nicht generell, sondern i n jedem Einzelfall und nicht automatisch, sondern nur auf Antrag des Betroffenen war die Ausbürgerung rückwirkend für nichtig zu erklären. I n etwas anderer Weise hat hernach der Grundgesetzgeber den zwangsweisen Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit korrigiert. Nach A r t . 116 Abs. 2 S. 1 GG ist den Ausgebürgerten ein Anspruch auf Wiedereinbürgerung gewährt worden. Die auf Antrag auszusprechende Wiedereinbürgerung w i r k t ex nunc, läßt also das vordem Geschehene auf sich beruhen. Nur i n bezug auf jene Ausgebürgerten, die nach dem 8. M a i 1945 ihren Wohnsitz i n Deutschland genommen haben, greift eine juristische Fiktion Platz: nach Art. 116 Abs. 2 S. 2 GG gelten diese Personen als nicht ausgebürgert, sofern sie nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben. Abgesehen davon, daß die grundgesetzliche Fiktion gegenüber einem entgegengesetzten Willen des Betroffenen nicht durchschlägt, muß ihre Rückwirkung i m Interesse des Begünstigten begrenzt werden, darf sich ζ. B. nicht rückwirkend auf den privatrechtlichen Eheschließungsstatus erstrecken 31 . Bei der Wiedergutmachung geschehenen Unrechts in Staatsangehörigkeitsfragen mußte besonders schonlich verfahren werden, w e i l m i t einer pauschalen Annullierung aller i n der Vergangenheit vorgenommenen A k t e den davon Betroffenen ein neuer Zwang auferlegt würde. Wie schwierig es ist, eine i n der Vergangenheit eingetretene und damals anerkannte und jedenfalls wirksam gewesene Rechtslage, die hernach als Unrechtslage angesehen wird, zu annullieren, zeigen die langwierigen Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland 30 31
Abgedr. bei Α. N. Makarov, Dt. StAngRecht (1966) S. 276. Dazu Β G H Z 27, 375. Allgemein: Α. N. Makarov, a.a.O., S. 259.
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und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik über die Ungültigkeit des Münchener Abkommens. I n dem am 11. Dezember 1973 unterzeichneten Prager Vertrag heißt es dazu, beide Staaten „betrachten das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 i m Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses (neuen) Vertrages als nichtig". Die rechtliche Qualifikation der ursprünglichen Lage bleibt damit dahingestellt. Die Unabsehbarkeit der Konsequenzen, die sich aus der rückwirkenden Annullierung einer jedenfalls i n der Vergangenheit wirksam gewesenen Rechtslage ergeben, hat i n diesem Falle auch die versöhnungswillige und opferbereite Bundesregierung vor der Anerkennung der tschechoslowakischen These von der ursprünglichen Nichtigkeit des Münchner Abkommens zurückschrecken lassen. Der Jurist w i r d dafür am meisten Verständnis haben, weil er durch Erfahrung darüber belehrt ist, daß die Bewältigung des Vergangenen m i t Hilfe juristischer Fiktionen nur einen begrenzten Wert besitzt. Die angeblich konservative Neigung des Juristen 3 2 besteht nicht darin, dem Hergebrachten gegenüber ein politisches Vorurteil zu hegen oder i h m als einem Faktum einen Vorsprung einzuräumen, sondern darin, den jähen Bruch zu vermeiden, zu glätten oder doch erträglich zu gestalten. Wie Vorschriften zur zeitlichen Anpassung an neue Gesetze und Übergangsbestimmungen für die räumliche Geltungserstreckung von fremden Gesetzen zur schonlichen Überleitung der Rechtsverhältnisse üblich, ja unentbehrlich geworden sind, so bemüht sich auch der Jurist darum, das i n der Rechtswirklichkeit vorhandene Rechtsgeschäft oder Gesetz tunlichst vor den strengen Folgen absoluter Nichtigkeit zu bewahren (Teilnichtigkeit, Konversion, Dispensation, Konvalidation sind dabei die üblichen juristischen Hilfsmittel). Es ist weniger eine konservative als vielmehr eine vorausblickende Erkenntnis, die zu einem Verzicht auf die Feststellung der Nichtigkeit von Rechtsakten ex tunc rät. Dahinter steht die Erfahrung, daß eine unterschiedslose Annullierung i n radice neue Ungerechtigkeiten und neuen Unfrieden zu bringen pflegt. Die vorstehenden Betrachtungen beweisen zwar nicht, aber sie i l l u strieren die These: Die Bewältigung der Vergangenheit besteht für den Juristen seit eh und je darin, alte Rechtsverhältnisse nach Möglichkeit dem geltenden Recht einzuordnen und anzupassen, kranke Rechtsakte tunlichst zu sanieren und so den Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft herzustellen. Der Jurist bewältigt die Vergangenheit, indem er die Gegenwart zu befrieden sucht. 32
Dazu Herbert Krüger i n Staatsverfassung u n d Kirchenordnung, Festg. f. R. Smend (1962) S. 164/165.
Zur Lehre vom Verfassungsnotstand in der Staatetheorie der Weimarer Zeit Von Ernst Rudolf Huber I. I n der Verfassungspraxis wie i n der Verfassungstheorie der Weimarer Zeit besaß das Notstandsrecht eine zentrale Funktion. Die demokratische Legitimität des Ausnahmerechts als eines Mittels zur Bewältigung extremer Gefahren, die dem Staat und seiner Verfassung drohten, war unbestritten. Auch war außer Zweifel, daß der Notstand die „Stunde der Exekutive" sei. Die Legislative war nicht der Träger der Notstandsgewalt; sie war ein bloßes Kontrollorgan. Ungeachtet ihrer scharfen K r i t i k am überlieferten Notstandssystem des konstitutionellen Staats zögerten die durch die Revolution zur Macht gekommenen Kräfte nicht, i n der Übergangszeit bis zum Inkrafttreten der neuen Reichsverfassung die bisherigen Notstandskompetenzen zu übernehmen, zunächst i m Januar 1919 noch ohne gesetzliche Überleitung, dann seit dem Februar 1919 durch die Übertragung der kaiserlichen Notstandsgewalt auf den Reichspräsidenten. Schließlich gaben sie i m A r t . 48 der neuen Reichsverfassung dem Reichspräsidenten eine Ausnahmegewalt, deren Ausmaß die überlieferten kaiserlichen Rechte i n wesentlichen Momenten übertraf 1 . So bewirkte der A r t . 48 Abs. 2 insbesondere die Entformalisierung des alten Ausnahmerechts. Der Verzicht auf die Formalakte der Verhängung und der Aufhebung des Kriegszustands und ebenso der Ver1
Aus der umfangreichen L i t e r a t u r zum A r t . 48 Abs. 2 W R V seien hier n u r angegeben: R. Grau, Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten u n d der L a n desregierungen (1922); ders., Diktaturgewalt u n d Reichsverfassung (Gedächtnisschrift für E. Seckel, 1927, S. 430ff.); ders., Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten (Hb. d. dt. StR. Bd. 2, 1932, S. 274 ff.); C. Schmitt - E. Jacobi, Die D i k t a t u r des Reichspräsidenten (Veröff. d. Vgg. d. dt. S t R L 1, 1924, S. 63 ff. 105 ff.); H. Preuß, Reichsverfassungsmäßige D i k t a t u r (Z. f. Pol. 13, 1924, S. 77ff.); R. Thoma, Die Regelung der Diktaturgewalt (DJZ 29, 1924, Sp. 654ff.); H. Nawiasky, Die Auslegung des A r t . 48 R V (AöR N F 9, 1925, S. I f f . ) ; E. Forsthoff, Der Ausnahmezustand der Länder (AnnDR Jg. 1923/25, erschienen 1926, S. 138 ff.).
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zieht auf die gesetzliche Fixierung der mit dem Kriegszustand automatisch eintretenden Rechtsfolgen beseitigten die bisherige strenge A b grenzung der rechtlichen Ausnahmelage von dem Normalzustand. Diese Entformalisierung bedeutet zugleich die Entgrenzung des Ausnahmerechts: die Inhaber der Diktaturgewalt, der Reichspräsident und die Landesregierungen 2 , konnten jederzeit nach freiem Ermessen ausnahmerechtliche Maßnahmen ohne formelle Vorankündigung verfügen; sie konnten diese Maßnahmen je nach dem Grad der Notwendigkeit von verhältnismäßig unauffälligen und wenig fühlbaren bis zu den schärfsten Eingriffen abstufen. Die Entformalisierung führte damit zugleich die Mobilität und die Flexibilität des Notstandsrechts herbei; sie bewirkte sowohl die jederzeitige freie Verfügbarkeit der Notstandsgewalt wie die freie Gestaltungsmacht i n der Bestimmung und Handhabung der Notstandsmittel. Dieser fundamentale Wandel hatte seinen Grund i n der Erfahrung, daß unter den Gegebenheiten der Zeit die Notlage sich von der Normallage, anders als früher, nicht mehr zeitlich und örtlich genau abmarken ließ. Ein Staat, der, wie die Weimarer Republik, aus der Krise entstanden war und i n fast permanenter K r i senlage existierte, bedurfte eines permanent verfügbaren wie eines an die wechselnden Krisenverhältnisse ständig anpassungsfähigen Krisenrechts. Hugo Preuß, der Schöpfer des neuen Ausnahmerechts, hat diese Verfassungslage des erneuerten Staats und die daraus folgenden Notwendigkeiten frühzeitig erkannt. Er griff bei der Gestaltung des A r t . 48 Abs. 2 daher nicht auf das Vorbild des A r t . 68 BismRV m i t seiner Bezugnahme auf die umständliche und schwerfällige Apparatur des preußischen Belagerungszustandsgesetzes vom 4. Juni 1851, sondern auf den lapidaren elsaß-lothringischen D i k t a t u r - A r t i k e l zurück. Dieser ermächtigte nach dem Muster der preußischen Instruktion für die Oberpräsidenten vom 31. Dezember 1825 (GS 1826 S. 1) den elsaß-lothringischen Oberpräsidenten (seit 1879: den kaiserlichen Statthalter): „bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit . . . alle Maßregeln ungesäumt zu treffen, welche er zur Abwendung der Gefahr für erforderlich erachtet" 3 . Es war, i n gewissem Sinn, eine vorkonstitutionelle Ausnahme-Vollmacht an nachgeordnete Mittelbehörden, die i n A r t . 48 Abs.
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A u f die Behandlung der Diktaturgewalt der Landesregierungen (Art. 48 Abs. 4 WRV) u n d des damit verbundenen Problems eines landesrechtlichen Verfassungsnotstands muß i m Folgenden verzichtet werden, so wichtig gerade auch diese Seite der Sache für eine systematische Untersuchung wäre. 3 § 10 des Verwaltungsgesetzes f ü r Elsaß-Lothringen v o m 30. Dezember 1871 (Text; E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 1964, Nr. 240).
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2 als Ermächtigung an das höchste Organ der Reichsexekutive konstitutionalisiert, damit aber auch i n eine gewandelte Funktion und eine gesteigerte Dimension erhoben wurde 3 a . II. Das alte Recht des Belagerungszustands („Kriegszustands") und das neue Recht der permanent mobilen Diktaturgewalt waren vielfältig unterschiedene Erscheinungsformen des Notstandsrechts. Gemeinsam aber war beiden Systemen, daß sie institutionalisierte Elemente der positiven Rechtsordnung waren. Auch die Weimarer Diktaturgewalt war, trotz ihrer Entformalisierung, kraft der positivrechtlichen Regelung ihrer Voraussetzungen, ihrer Schranken und ihrer Kontrollen, einer rechtlichen Begrenzung unterworfen. A u f der anderen Seite waren beide Erscheinungsformen der institutionalisierten Notstandsgewalt kein bloßes Produkt der positiven Rechtsordnung; sie waren vielmehr zugleich der Ausdruck eines überpositiven Prinzips, nämlich des dem Staat kraft seines Wesens zukommenden, dem Staatsbegriff immanenten Rechts wie der Pflicht zur Selbstbehauptung. I n der positivrechtlichen Regelung der Notstandsgewalt prägte sich nach dem Staats- und Verfassungsverständnis der Weimarer Zeit die überpositive Rechtsmaxime aus, daß der Staat i m Fall der existentiellen Gefährdung befugt wie gehalten sei, seinen Bestand wie seine Verfassung m i t den geeigneten Mitteln zu verteidigen, und zwar soweit notwendig auch m i t außerordentlichen Mitteln unter vorübergehender Abweichung von dem für die gefährdungsfreie Lage geltenden Normalsystem. Wie der Art. 48 Abs. 2 so waren übrigens auch die beiden Republikschutzgesetze4 spezifische Konkretisierungen des allgemeinen überpositiven Rechtsgrundsatzes, daß zur Behebung existentieller Gefahrenlagen die Durchbrechung der Normalordnung durch außerordentliche Maßnahmen geboten und gerechtfertigt sei. Ebenso waren auch die acht Ermächtigungsgesetze, die zwischen dem 1. März 1919 und dem 8. Dezember 1923 ergingen 5 , verfassungsrechtliche Notstandsgesetze, mit 3a Eine dem A r t . 48 Abs. 2 entsprechende N o r m fand sich i n allen vorausgegangenen Entwürfen der Reichsverfassung, so i n § 63 des Entwurfs v o m 20. Januar 1919 (Text: H. Triepel, Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht, 3. Aufl. 1922, Nr. 10). 4 (Erstes) Gesetz zum Schutze der Republik v o m 21. J u l i 1922; Zweites Gesetz zum Schutze der Republik v o m 25. März 1930 (Texte: E. R. Huber, D o k u mente, Bd. 3, 1966, Nr. 190, 191). 5 Das erste dieser Ermächtigungsgesetze w a r das Notgesetz f ü r elsaßlothringische Angelegenheiten v o m 1. März 1919 (RGBl. 257); die Texte der sieben weiteren Ermächtigungsgesetze der Jahre 1919- 1923: ebd. Bd. 3 Nr. 177 - 183.
3 Festschrift für Werner Weber
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denen die Legislative eine konkrete Notlage, sei es auf einem begrenzten Sachgebiet, sei es i n umfassendem Rahmen, dadurch zu überwinden suchte, daß sie ihre Rechtsetzungsmacht an die Exekutive delegierte. Der Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung wurde mit dieser i n der Reichsverfassung nicht vorgesehenen Delegation der gesetzgebenden Gewalt an die Regierung um der staatlichen Selbsterhaltung willen durchbrochen; auch insoweit galt der konkrete Notzustand als legitimer Aufgabenbereich der exekutiven Gewalt. Die beiden ersten Ermächtigungsgesetze ergingen unter der Übergangsverfassung vom 10. Februar/4. März 1919, die übrigen sechs unter der endgültigen Reichsverfassung. Es ist bezeichnend, daß die Weimarer Staatspraxis unter der Übergangsverfassung wie unter der endgültigen Reichsverfassung das gleiche M i t t e l der Not-Ermächtigung wie das frühere System m i t dem Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914, jeweils ungeachtet der andersartigen Verfassungslage, anwandte. Auch ist bemerkenswert, daß zwei der Weimarer Ermächtigungsgesetze ausdrücklich als „Notgesetze" bezeichnet sind, und daß ein drittes, das Gesetz vom 8. Dezember 1923, i n seinem Text den Ermächtigungstatbestand bereits m i t der Formel „Not von Volk und Reich" umschreibt. Die Weimarer Diktaturgewalt kann nicht als ein isoliertes M i t t e l der Staatsschutzgewalt betrachtet und gewürdigt, sie kann vielmehr nur i m engen Zusammenhang mit anderen M i t t e l n des Staats- und Verfassungsschutzes, so vor allem m i t den Republikschutzgesetzen und den Ermächtigungsgesetzen, aber auch m i t dem Notverordnungsrecht der Landesverfassungen 6 , verstanden werden. Die verschiedenen Erscheinungsformen des Ausnahmerechts der Weimarer Zeit wurden i m Wechsel der Zeit und der Umstände von unterschiedlichen politischen Richtungen befürwortet, gestützt und gehandhabt, von der Linken und der Mitte öfter als von der Rechten, die zunächst von der Teilhabe an der Staatsgewalt, insbesondere an der Ausnahmegewalt der Exekutive, ausgeschlossen war. Nur i n der Verkürzung des Blickfeldes auf die Weimarer Endzeit kann der täuschende Eindruck entstehen, als ob die Rechte der wesentliche Nutznießer der Weimarer Ausnahmegewalt gewesen sei. Aber wie auch immer: i n ihrem Grundverständnis des Staats — nämlich i n der Überzeugung, daß der Staat ein für die Gesellschaft, für das Volk, für das Recht, für die K u l t u r und für die Sittlichkeit i n gleicher Weise elementar notwendiges Gebilde, daß i h m daher ein Urrecht auf Selbstbehauptung eingeboren sei — waren die großen politischen Richtungen der Weimarer
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Dazu U. Nesemann, Notverordnungsrecht und -praxis i n den Ländern der Weimarer Republik (Diss. Göttingen 1973).
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Zeit, einschließlich der Sozialdemokratie, sich einig, ungeachtet der scharfen Gegensätze, durch die sie i m übrigen geschieden sein mochten. III. Während die Herleitung der Diktaturgewalt aus der dem Staat wesensimmanenten Obliegenheit der Selbsterhaltung außer Zweifel war, bestand lebhafter Streit über die Frage, ob die positivrechtliche Institutionalisierung der Ausnahmegewalt i n der Reichsverfassung den Sinn einer erschöpfenden Regelung habe oder ob neben ihr Raum für ein fortgeltendes überpositives Staatsnotrecht geblieben sei, so daß i n extremen Notlagen, i n denen die normierte Diktaturkompetenz sich als unzulänglich erweise, das überpositive Staatsnotrecht als eine ultima ratio der Staats- und Verfassungserhaltung und damit als eine „Legalitätsreserve" zur Rettung des Staats und seiner Verfassung aus extremen Gefahrenlagen zur Verfügung stehe. Die Weimarer Staatstheorie war i n dieser fundamentalen Verfassungsfrage gespalten. Die liberaldemokratische Richtung, auch sonst dem entschiedenen Rechtspositivismus zugewandt, verfocht die These, daß der A r t . 48 Abs. 2 eine erschöpfende Regelung des Ausnahmerechts enthalte; jeder Rückgriff auf ein ungeschriebenes, überpositives „verfassungsüberschreitendes Staatsnotrecht" sei ausgeschlossen7. Die konservative Richtung, auch sonst i n der Abkehr vom Rechtspositivismus begriffen und einem geistesgeschichtlichen Verständnis des Staats und seiner Verfassung geöffnet, zeigte sich, ohne daß sie i n dieser wie i n anderen Fragen zu einer einhelligen Meinung gekommen wäre, doch eher der These zugänglich, daß das Staatsnotrecht, ungeachtet aller Positivierung und Institutionalisierung, ein i n seiner Substanz unaufhebbares Rechtsprinzip sei, so daß i m Grenzfall einer anders nicht abwendbaren Not der Rückgriff auf eine den Regeln, Grenzen und Kontrollen des A r t . 48 Abs. 2 enthobene, überpositive Notstandsgewalt möglich bleibe. Diese von der Maxime der Staatserhaltung als höchstem Verfassungsgebot ausgehende und daher m i t Grund als „konservativ" zu bezeichnende These hat C. Schmitt wie folgt umschrieben: „Es wäre denkbar, daß i n einem extremen F a l l selbständig neben der Befugnis aus A r t . 48 ein Staatsnotrecht geltend gemacht würde u n d je nach Lage der Sache die Reichsregierung f ü r sich allein u n d nicht der Reichspräsident als Träger des Notrechts aufstände, ja, daß es sogar, etwa bei 7 So G. Anschütz, Komm.z.RV., A n m . 6 zu A r t . 48; H. Nawiasky, Z u r A u s legung des A r t . 48 R V (AöR N F 9, 1925, S. 55); R. Thoma, Der Vorbehalt der Legislative (Hb. d. dt. StR. Bd. 2, 1932, S. 231 f.); R. Grau, Die D i k t a t u r g e w a l t des Reichspräsidenten (ebd., S. 276).
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feindlicher Besetzung des größten Teils des Reiches oder angesichts eines Staatsstreiches, u m die Verfassung zu retten, gegen einen Reichspräsidenten ausgeübt würde, vielleicht w e i l dieser sich weigert, den Ausnahmezustand zu verhängen 8 ."
Die staatspolitische Ambivalenz der Lehre vom ungeschriebenen Staatsnotrecht t r i t t i n dieser knappen Formel voll ins Licht. So unbestreitbar es ist, daß das überpositive Staatsnotrecht i n der Gefahr steht, ein M i t t e l des Mißbrauchs der Staatsgewalt m i t dem Ziel des Staatsstreichs zu werden, so offenkundig ergibt sich aus der zitierten Stelle, daß es hier als ein M i t t e l gedacht ist, u m einem Mißbrauch der institutionalisierten Diktaturgewalt mit dem Ziel der Abwehr des drohenden Staatsstreichs entgegenzutreten oder um bei einem fehlsamen Nichtgebrauch der Diktaturgewalt durch den Reichspräsidenten das Reich und seine Verfassung m i t Hilfe einer i m überpositiven Recht gegründeten Notstandsaktion zu retten. Ein naheliegender Hinweis mag dies erläutern. Wer, wie die meisten neueren Autoren 9 , i m „Preußenschlag" des Reichspräsidenten vom 20. J u l i 1932 einen Staatsstreich sieht und die preußische Regierung tadelt, weil sie nicht den Weg des aktiven Widerstands gewählt hat, statt „der Gewalt zu weichen", bekennt sich implicite zu einem solchen ungeschriebenen Staatsnotrecht der verantwortlichen Staatsorgane gegenüber einem des verfassungswidrigen Handelns beschuldigten Reichspräsidenten. Denn ein positivrechtlich normiertes Abwehrrecht stand der Landesregierung gegen den Reichspräsidenten nicht zur Verfügung. Auch hätte es sich bei einer solchen Gegenaktion nicht u m die Ausübung des eigentlichen Widerstandsrechts, nämlich des Rechts der Einzelnen zum Widerstand gegen die rechtlos vorgehende Obrigkeit gehandelt 10 . Der Widerstand, dessen Unterlassung der preußischen Regierung zum Vorwurf gemacht wird, wäre, vom Standpunkt der Verfechter der erwähnten Staatsstreich-These aus geurteilt, i n der gegebenen Lage ein auf das überpositve Recht der Staats- und Verfassungserhaltung gestützter Abwehrakt eines staatsleitenden Organs gewesen. Der rechtlichen Konstruktion nach hätte es sich um einen der Fälle gehandelt, die sich, wenn überhaupt, nur aus dem Begriff des ungeschriebenen Staatsnotrechts hätten begründen lassen.
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C. Schmitt, Die D i k t a t u r des Reichspräsidenten (S. 83). Vgl. statt Vieler: Jürgen Bay, Der Preußenkonflikt 1932/33 (Diss. Erlangen 1965); Juliane Krüger, Die Absetzung der preußischen Regierung v o m 20. J u l i 1932 (Magister-Arbeit Göttingen 1969; MSchr.). 10 Dazu H. Schneider, Widerstand i m Rechtsstaat (1969), der das Widerstandsrecht als „staatsbürgerliche Verfassungshilfe" definiert u n d es dadurch von staatsorganschaftlichen Rechten deutlich unterscheidet. 9
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IV. I n der staatsrechtlichen Diskussion der Weimarer Zeit war die Kontroverse um das überpositive Staatsnotrecht zwar staatstheoretisch von großer grundsätzlicher Bedeutung. I n der Staatspraxis dagegen war dieser Meinungsstreit von geringerem Gewicht. Denn die weite Fassung des A r t . 48 Abs. 2 und das Ausbleiben des vorgesehenen Ausführungsgesetzes eröffneten die Möglichkeit, der Diktaturgewalt i m Weg der Verfassungsauslegung einen so ausgedehnten Umfang zu geben, daß ein konkreter Fall, i n dem die positivrechtliche Ermächtigung zu den erforderlichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr nicht ausgereicht hätte, kaum eintreten konnte. Die ausweitende Auslegung und Handhabung des A r t . 48 Abs. 2 sicherte der reichsverfassungsmäßigen Diktaturgewalt einen solchen Aktionsbereich, daß für ein über das positive Recht hinausgehendes Staatsnotrecht zunächst kein praktisches Bedürfnis bestand. Es war insbesondere die aus der Praxis des Ersten Weltkriegs übernommene Lehre von der Ermächtigung des Inhabers der Diktaturgewalt zum Erlaß gesetzvertretender Notverordnungen 11, die den Rückgriff auf ein überpositives Staatsnotrecht überflüssig machte. Denn m i t der Zulassung gesetzvertretender Notverordnungen auf der Grundlage der Diktaturgewalt war i n den ersten zehn Jahren des Bestehens der Weimarer Republik allen Anforderungen, die an eine umfassende Ausnahmegewalt gestellt werden konnten, vollauf genügt. Der Reichspräsident als Inhaber der Reichsdiktaturgewalt war vermöge dieses ihm durch ausdehnende Auslegung zur Verfügung gestellten Mittels zu Regelungen weit über den engen Bereich konkreter Aktionen der äußeren Gefahrenabwehr hinaus befugt. So konnte der Reichspräsident nach der sich entwickelnden Lehre auf der Grundlage des A r t . 48 Abs. 2 erstens statt konkreter, zeit11 Weder der A r t . 68 BismRV noch das dort i n Bezug genommene preußische Belagerungszustandsgesetz gab dem Inhaber der Ausnahmegewalt ausdrücklich ein Notverordnungsrecht. I n der Praxis des Ersten Weltkrieges leiteten die Militärbefehlshaber jedoch aus dessen § 9 Ziff. 6, der ihnen die Ermächtigung gab, die von ihnen erlassenen Verbote m i t Strafandrohungen zu bewehren, ein gesetzvertretendes Verordnungsrecht ab, das i n der reichsgerichtlichen J u d i k a t u r volle Anerkennung fand (dazu E. R. Hub er, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 2. Aufl. 1970, S. 1050). Aus diesem Notverordnungsrecht der Militärbefehlshaber ging das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten i n entsprechender extensiver Auslegung des A r t . 48 Abs. 2 hervor. Die Ableitung des Notverordnungsrechts aus der Diktaturgewalt w a r also ein R e l i k t des Kriegszustandsrechts des Ersten Weltkrieges. Neu an der Weimarer Lehre w a r nur, daß das formale Erfordernis der strafrechtlichen Sanktion der Notverordnungen preisgegeben wurde.
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lieh befristeter Maßnahmen auch generelle, dauernde Anordnungen mit voller Gesetzeskraft erlassen. Er konnte zweitens diese Anordnungen kraft der i n der Diktaturgewalt enthaltenen Befugnis zur „Zuständigkeitsverschiebung" 113 ' auch auf Sachgebiete erstrecken, die an sich i n die Landeszuständigkeit fielen. Er konnte drittens diese Anordnungen nicht nur auf dem Gebiet der äußeren Sicherheit, sondern auch i m Bereich der sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Ordnung treffen, so daß sich das System des „wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustands" entwickelte 1 2 . Er konnte viertens diese Anordnungen auch auf Gebiete ausdehen, deren Regelung nach ausdrücklicher Verfassungsvorschrift einem Reichsgesetz vorbehalten war. Daraus ergab sich fünftens insbesondere, daß der Gesetzesvorbehalt, dem die meisten Grundrechtsgewährleistungen unterworfen waren, durch gesetzvertretende DiktaturverOrdnungen ausgefüllt werden konnte. Schließlich setzte sich sechstens i n der Krise 1930/32 die Auffassung durch, daß i m Haushaltsnotstand, d. h. beim Scheitern des Haushaltsgesetzes, der Reichspräsident befugt sei, das verfassungsrechtlich erforderliche formelle Reichsgesetz durch die Feststellung des Haushaltsplans i m Weg der Diktaturverordnung zu ersetzen 13 . Ebenso konnten siebentens nach der herrschenden Lehre die nach A r t . 87 WRV zur Geldbeschaffung erforderlichen Kreditermächtigungen i m Kreditnotstand, d. h. beim Scheitern unumgänglich notwendiger Kreditvorlagen i m Reichstag, statt durch formelles Reichsgesetz durch Diktaturverordnung erteilt werden 1 4 . Die lange i m Mittelpunkt der staatsrechtlichen Diskussion stehende Frage, ob die Befugnis der Diktaturgewalt zur Außerkraftsetzung der i n A r t . 48 Abs. 2 ausdrücklich genannten sieben Grundrechte l i m i t a t i v gemeint sei oder ob i m Notstandsfall darüber hinaus auch Eingriffe i n andere Grundrechte statthaft seien, verlor durch die These, daß die „diktatorische Verordnungsgewalt . . . sich grundsätzlich auf das ganze
" a So die herrschende Lehre: G. Anschiitz, K o m m . z. RV, A n m . 16 zu A r t . 48; R. Grau, a.a.O., S. 277, 281; K . Loewenstein, Z u r Verfassungsmäßigkeit der Notverordnungen v o m J u l i u n d August 1931 (AöR N F 21, 1932, S. 147 ff.). Dort auch der Hinweis auf die entsprechende Stellungnahme der Reichsregierung (Frankf. Ztg. v o m 27. August 1931). 12 Z u diesem schon i n der Reparations- u n d Inflationskrise 1922/23 hervorgetretenen, i n der Wirtschaftskrise 1930/32 verschärften Sachverhalt: C. Schmitt, Der H ü t e r der Verfassung (1931), S. 119 ff. 13 So geschehen i n den Notverordnungen v o m 29. März 1932 u n d v o m 30. J u n i 1932 (RGBl. I I 97, 153). 14 Unter Brüning ergingen fünf Kredit-Notverordnungen dieser A r t . F ü r ihre Verfassungsmäßigkeit insbesondere G. Anschütz - W. Jellinek, Reichskredite u n d D i k t a t u r (1932).
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Vorbehaltsgebiet der einfachen Gesetzgebung" erstrecke 15 , seine praktische Bedeutung. So konnte z.B. auch die Garantie des gesetzlichen Richters und das Verbot von Ausnahmegerichten auf Grund des i n A r t . 105 WRV enthaltenen Gesetzesvorbehalts für die Einsetzung von Kriegs- und Standgerichten i m Weg der Diktaturverordnung durchbrochen werden, obwohl der A r t . 105 nicht zu den sieben nach A r t . 48 Abs. 2 i m Notstandsfall suspendierbaren Verfassungsnormen gehörte. Die wenigen reichsgesetzkräftigen und damit auch „diktaturfesten" Grundrechte, die kraft dieser Konstruktion übrig blieben, waren durchweg so geartet, daß sich auch i m Notstandsfall zu ihrer Einschränkung kein Anlaß ergeben konnte. Die insoweit m i t Hilfe der Auslegungsmaxime „enumeratio, ergo limitatio" theoretisch gewonnene Einschränkung der Diktaturgewalt war daher praktisch irrelevant. V. Daß die Lehre von der Zulässigkeit gesetzvertretender Diktaturverordnungen den Rückgriff auf ein überverfassungsmäßiges Staatshoheitsrecht praktisch weithin überflüssig erscheinen ließ, w i r d durch die entsprechende Frontenbildung i n der Staatsrechtslehre bestätigt: Die Verfechter der Lehre von der Zulässigkeit gesetzvertretender Diktaturverordnungen 1 6 waren zugleich Gegner des überpositiven Staatsnotrechts, eben weil bei ihrer extensiven Auslegung des A r t . 48 Abs. 2 ein Bedürfnis nach einem selbständig neben der Diktaturgewalt stehenden Staatsnotrecht nicht vorhanden schien. Die Gegner der Lehre von der Zulässigkeit gesetzvertretender Diktaturverordnungen 1 7 aber waren zugleich Verfechter gesonderter, neben der Diktaturgewalt stehender Notbefugnisse, eben u m die aus der restriktiven Auslegung des A r t . 48 Abs. 2 resultierende Verfassungslücke zu schließen. Als C. Schmitt sich i n der Staatskrise 1931 entschloß, die Zulässigkeit gesetzvertretender Notverordnungen des Reichspräsidenten entgegen seiner früheren Meinung anzuerkennen, hielt er ausdrücklich daran fest, daß diese Notverordnungsmacht nicht i n der ursprünglichen Diktaturkompetenz enthalten sei; vielmehr sei erst kraft „der Entwicklung des letzten Jahrzehnts" zu der ursprünglichen „Maßnahme-Befugnis" des Reichspräsidenten ein „reichsgesetz ver tretendes Rechts15
So G. Anschütz, Komm. z. RV, Anm. 14 zu A r t . 48. Unter ihnen vor allem: G. Anschütz, A n m . 3 zu A r t . 48; H. Nawiasky, Z u r Auslegung des A r t . 48 R V (AöR N F 9, 1925, S. 55); R. Thoma, Der V o r behalt der Leigslative (Hb. d. dt. StR Bd. 2, 1932, S. 231 f.); R. Grau, Die D i k taturgewalt des Reichspräsidenten (ebd., S. 276, 278). 17 C. Schmitt, Die D i k t a t u r des Reichspräsidenten (S. 95 ff.) ; J. Heckel, D i k tatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand (AöR N F 22, 1932, S. 304 ff.). 16
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verordnungsrecht" hinzugetreten 18 . Ebenso erneuerte J. Hechel auf dem Höhepunkt der Staatskrise 1932 m i t scharfer Pointierung den Widerspruch gegen die Herleitung eines Notverordnungsrechts aus der D i k taturgewalt; doch glich er diese Beschränkung der Diktaturgewalt alsbald aus, indem er für den Fall des Gesetzgebungsnotstands, d. h. der mangelnden Aktionsfähigkeit oder Aktionsbereitschaft des ordentlichen Gesetzgebers, ein selbständig neben der Diktaturgewalt stehendes Notverordnungsrecht der Reichsexekutive konstruierte 1 9 . Beide Verfechter des von der Diktaturgewalt unterschiedenen, selbständigen Notverordnungsrechts vermieden es, sich dabei auf die weithin i n Mißkredit geratene Lehre vom Staatsnotrecht zu beziehen. Schmitts Berufung auf die „Entwicklung des letzten Jahrzehnts" war der Sache nach eine Bezugnahme auf die Theorie des Verfassungswandels 20 . Bei Hechel stand das selbständige Notverordnungsrecht i n unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Lehre vom Verfassungsnotstand. Zwar stellte Hechel das gesetzvertretende Notverordnungsrecht dem Verfassungsnotstand als eine gleichgeordnete Institution zur Seite, so daß sich scheinbar ein Trialismus von Diktaturgewalt, Notverordnungsrecht und Verfassungsnotstand ergab 21 . Doch war i m Sinnzusammenhang des Heckeischen Systems das Notverordnungsrecht, soweit es seine Grundlage nicht — wie das der Landesregierungen — i m positiven Recht besaß, ein Unterfall des Verfassungsnotstands. Denn es war nach seinen Voraussetzungen wie nach seinem Ziel in Hecheis Sicht eines der rechtlichen Mittel, die der Exekutivgewalt des Reichs zur Bewältigung einer Funktionsstörung i m Verfassungsorganismus, nämlich zur Abhilfe mangelnder Aktionsfähigkeit oder Aktionsbereitschaft der Legislative des Reichs, zur Verfügung stehen sollten. Doch wie immer man dieses überpositive Recht heißen mochte, es ist außer Zweifel, daß es sich bei der außerhalb der positivrechtlich geregelten Diktaturgewalt entwickelten Notverordnungsmacht der Exekutive wie bei allen sonstigen überpositiven Notstandsbefugnissen um eine Ableitung aus dem umfassenden, vielschichtigen, gewiß auch unscharfen Begriffskomplex des Staatsnotrechts handelte. Wie auch solche außerhalb der verfassungsmäßigen Diktaturgewalt stehenden Notstandsbefugnisse i m Einzelfall benannt und begründet sein mochten, sie entstammten i n allen Erscheinungsformen dem unmittelbaren 18
C. Schmitt, Die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung (in: N o t verordnung u n d öffentliche Verwaltung, 1931, S. 17); ders., Der Hüter der Verfassung (1931), S. 118 f.; ders., Legalität u n d Legitimität (1932), S. 79. 19 J. Hechel, S. 305, 309. 20 Hsü Dau-Lin, Die Verfassungswandlung (1932). 21 J. Hechel, S. 261, 304, 310.
Lehre vom Verfassungsnotstand i n der Staatstheorie der Weimarer Zeit 41
Durchgriff auf ein nicht normiertes und institutionalisiertes, erst i n extremen Notlagen aktualisiertes und konkretisiertes, i n diesem Sinn überpositives Ausnahmerecht. VI. Die Bezeichnung von Störungen und Lähmungen des Verfassungsorganismus als Verfassungsnotstand war gewiß ein zutreffendes und zupackendes Wort. Insbesondere die kritische Verfassungslage, die sich mit dem Eintritt der Aktionsunfähigkeit des zur Regierungsbildung, Gesetzgebung und Haushaltsfeststellung berufenen Parlaments ergab, konnte nicht besser umschrieben werden als mit diesem eine äußerste Gefahrenstufe anzeigenden Begriff. Der „Gesetzgebungsnotstand" und der „Haushaltsnotstand" — Worte, die Hechel selbst noch nicht benutzte — ergaben sich von selbst als Bezeichnungen für einzelne Sektoren aus dem umfassenderen Begriff. Eine andere Frage war, wie der als Verfassungsnotstand bezeichnete Sachverhalt einer äußersten Gefährdung des Verfassungsstaats rechtlich zu qualifizieren war. Gehörte er gleichsam als Grenz-Tatbestand unter den Begriff der „Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung", also unter den Tatbestandskomplex, der der Diktaturkompetenz des Art. 48 Abs. 2 unterworfen war? Oder war der Verfassungsnotstand gegenüber der Gefährdung der „Sicherheit und Ordnung", wie Hechel meinte, etwas von Grund auf Anderes, so daß Maßnahmen zu seiner Überwindung nicht auf die Diktaturkompetenz des A r t . 48 Abs. 2 gestützt, sondern nur unter unmittelbarem Durchgriff auf eine überpositive Notstandsgewalt getroffen werden konnten? U m den Ausschluß des Verfassungsnotstands aus dem Regelungsbereich des A r t . 48 Abs. 2 zu begründen und zugleich den Ansatzpunkt für die Konstruktion einer überpositiven Notstandsgewalt, der dann auch das Notverordnungsrecht zuzurechnen war, zu gewinnen, bediente Hechel sich der restriktiven Interpretation des Begriffs „öffentliche Sicherheit und Ordnung". Zwar bekannte er sich nachdrücklich zu dem Satz, daß diese tatbestandliche Voraussetzung der Diktaturkompetenz in einem nicht der Verwaltungs-, sondern der Verfassungssphäre des Staats zugeordneten Sinn zu verstehen sei. Gleichwohl beharrte er darauf, daß die Formel „Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung" in A r t . 48 Abs. 2 nur eine „äußere Notlage des Staats", nur eine Störung „ i n der Außensphäre des Staatslebens", nur eine Bedrohung der „äußeren Lebens Verhältnisse" bezeichne 22 . Gestützt auf dieses nicht 22
Ebenda, S. 269 ff.
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weiter begründete A x i o m verwarf Heckel jede Anwendung der D i k taturkompetenz zur Überwindung von Verfassungstörungen, nämlich von Störungen, die sich i m Innenbereich des Staatslebens, vor allem i m Funktionssystem des Staatsorganismus, ergaben 23 . Dafür aber räumte er i m Fall der Verfassungsstörung, wie sie insbesondere mit dem Verlust der Aktionsfähigkeit eines obersten Reichsorgans eintrat, den aktionsfähig gebliebenen obersten Reichsorganen das aus ihrer „Treupflicht gegenüber der Verfassung" folgende Recht zur Notstandsaktion ein. Er sprach ihnen damit die Befugnis zu, „die ihnen anvertraute Staatsgewalt so auszuüben, daß der politische Gesamtzweck der Verfassung trotz der abnormen Lage und i n Anpassung an sie erreicht w i r d " 2 4 . A u f die konkreten Verfassungsverhältnisse der Weimarer Krisen jähre 1930 - 1932 bezogen, bedeutete dies: i m Fall der Aktionsunfähigkeit des Reichstags, nämlich i m Fall des Verlusts seiner Mehrheitsfähigkeit, wie er in dem am 14. September 1930 gewählten Reichstag eingetreten war, insbesondere aber in dem extremen Fall der Lähmung der parlamentarischen Willensbildung, wie er sich i n den beiden am 31. J u l i und am 6. November 1932 gewählten Reichstagen ergeben hatte 2 5 , sollte den „übrigen obersten Reichsorganen", d. h. dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung gemeinsam, aus ihrer Verfassungstreupflicht das Recht wie die Pflicht erwachsen, die für die Erfüllung der Staatsaufgaben notwendigen Maßnahmen in Abweichung von den durch die Verfassungsstörung außer Funktion gesetzten Normen der Reichsverfassung zu treffen. Dazu mußte logischerweise auch das Recht zum Erlaß gesetzvertretender Notverordnungen gehören. I n der praktischen Konsequenz führte diese Lehre dazu, daß die Notstandsaktionen, die nicht auf der Diktaturgewalt, sondern auf der i m ungeschriebenen Recht gegründeten Notstandskompetenz beruhten, dem Kontrollrecht des Reichstags entzogen waren. Denn die Kontrollnorm des A r t . 48 Abs. 3 war rechtstechnisch nur i m Zusammenhang mit der Diktaturnorm des A r t . 48 Abs. 2 anwendbar. Das zu positiven Entscheidungen unfähig gewordene Parlament sollte auch seines Rechts zur Ausübung einer negativen Kontrollgewalt verlustig gehen: „Ein Parlament, das nicht zur Approbation eines positiven Regierungsprogramms fähig ist, ist auch nicht nur Reprobation legitimiert" — also insbesondere nicht zum Verlangen der Außerkraftsetzung von Notstandsmaßnahmen 26 . Die Beschränkung der Diktaturkompetenz auf die 23
Ebenda, S. 275 ff. Ebenda, S. 311. 25 Über die Mehrheitsverhältnisse i n den drei Reichstagen von 1930- 1932: unten Anm. 27 - 30. 26 J. Heckel, S. 313, Anm. 211. 24
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Abwehr von Störungen i n der „Außensphäre des Staatslebens" führte daher nicht, wie es auf den ersten Blick hätte scheinen können, zur Eingrenzung der Ausnahmegewalt. Vielmehr bewirkte die restriktive Auslegung der Diktaturkompetenz i n Wahrheit die Entgrenzung der Ausnahmegewalt, nämlich den Übergang der Abwehr von Verfassungsstörungen an die der parlamentarischen Kontrollgewalt schlechthin enthobene überpositiv legitimierte Notstandsgewalt der Exekutive.
VII. Auch bei vollem Sinn für die Schärfe juristischer Begriffsbildung, für die Kühnheit juristischer Konstruktionstechnik und für die Kunst verfassungspolitischer Strategie, die auch hier ein „System von Aushilfen" genannt werden darf, w i r d man nicht umhin können, die Heckelsche Lehre i n der Ausgangsbasis wie i m Resultat als fragwürdig zu bezeichnen. Gerade wenn das Schutzobjekt der Diktaturgewalt, wie Hechel so nachdrücklich betonte, die Verfassung, und zwar die „materielle Verfassung" des Gemeinwesens war, war es unmöglich, den m i t der Formel „öffentliche Sicherheit und Ordnung" umschriebenen Schutzbereich des A r t . 48 Abs. 2 auf die „Außensphäre" des Staatslebens" zu beschränken. Zur materiellen Verfassung, d. h. zur politischen Grundordnung, i n der die zur Selbstbestimmung, Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung aufgerufene Nation den Raum ihrer Willensbildung und Handlungsmacht findet, gehört vielmehr entscheidend der „Innenbereich des Staatslebens": die Funktionsfähigkeit der obersten Staatsorgane wie ihr funktionelles Zusammenspiel. Wenn die Willens- und Handlungsfähigkeit der einzelnen Verfassungsorgane und damit zugleich das Zusammenwirken der Glieder des Verfassungsorganismus gestört oder gelähmt war, dann war das Schutzobjekt der Diktaturgewalt i n seinem wesenhaften Kern betroffen. Vom alten Kriegszustandsrecht des A r t . 68 BismRV, das nur vom Schutz der staatlichen „Sicherheit" sprach, das an äußere Störungen, nämlich den Kriegs- und den Aufruhrfall, anknüpfte und das wesentlich als m i l i tärischer Ausnahmezustand entwickelt war, ließ sich allenfalls sagen, daß sein Schutzobjekt die „Außensphäre des Staatslebens" sei. Indem der Weimarer D i k t a t u r - A r t i k e l neben der öffentlichen Sicherheit auch die öffentliche Ordnung zum Schutzgegenstand des Ausnahmerechts erklärte, erhob er den Ordnungszusammenhang der Verfassungskräfte und damit die Funktionsfähigkeit des politischen Gesamtsystems zu dem durch das Ausnahmerecht geschützten Rechtsgut. Der Verfassungsnotstand fiel daher unter den i n Art. 48 Abs. 2 umschriebenen Störungs-Tatbestand.
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Wenn durch äußere Eingriffe oder durch eigenes Versagen oder auch durch die Destruktion des organbildenden Volkswillens eines der Hauptorgane der Verfassung, insbesondere der Reichstag, außer Funktion gesetzt war oder seine Funktionsfähigkeit verlor, war es die Sache des mit der verfassungsmäßigen Diktaturkompetenz ausgestatteten Verfassungsorgans, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, u m die Aktionskraft des Staats im Ganzen zu erhalten und die erforderlichen Einzelakte ins Werk zu setzen. Da die Diktaturgewalt geschaffen war, um die materielle Verfassung beim E i n t r i t t einer Gefahrenlage nicht nur i m äußeren Bestand, sondern in ihrer permanenten Selbstverwirklichung zu erhalten, war es auch und gerade ihre Aufgabe, m i t den notwendigen Maßnahmen einzugreifen, wenn eine eingetretene Störung diejenigen Faktoren der öffentlichen Ordnung betraf, denen die Teilhabe der Nation an der staatlichen Willensbildung und Entscheidungsmacht anvertraut war. Wenn die Funktionsunfähgikeit eines der staatlichen Organe nicht unmittelbar behoben werden konnte (die des Reichstags etwa durch Auflösung und Neuwahl), gebot das Prinzip der staatlichen Selbsterhaltung, daß der Inhaber der Diktaturgewalt als Ersatzorgan vorübergehend i n die Kompetenzen des funktionsgestörten Organs eintrat. Wenn der Verfassungsnotstand i n der Form des Gesetzgebungsnotstands, also als Funktionsstörung der ordentlichen Reichs-Legislative, hervortrat, war die notwendige Folge der Übergang der gesetzvertretenden Rechtsetzungsmacht an den für diesen Fall durch den Art. 48 Abs. 2 zum Ersatz-Legislativorgan bestellten Träger der Diktaturkompetenz. Das war, wie i n Übereinstimmung m i t der herrschenden Lehre festzustellen ist, von Anfang an der Sinn des Art. 48 Abs. 2. Der Hilfskonstruktion eines überpositiven Verfassungsnotstands bedurfte es, um dieses Resultat zu erzielen, nicht. Daß es der verfassungsrechtlichen Vorsorge für diesen Fall des Gesetzgebungsnotstands bedarf, hat auch das Bonner Grundgesetz durch die Regelung des Art. 81 anerkannt. Ebenso hat es i n Art. 111 Vorkehrungen zur Behebung des Haushaltsnotstands getroffen. War also der Reichstag am Zusammentreten durch äußere Einwirkung gehindert oder ergab sich zwischen seiner Auflösung und dem Zusammentritt der neugewählten Volksvertretung eine parlamentslose Zeit, so konnten gesetzgeberische Maßnahmen, die keinen Aufschub duldeten, unter der Weimarer Reichsverfassung, obwohl diese das in den älteren wie den damaligen deutschen Landesverfassungen vorgesehene Institut der „klassischen Notverordnung" nicht ausdrücklich übernommen hatte, i m Weg der Diktatur-Notverordnung getroffen werden. Das gleiche galt, wenn der Reichstag durch innere parteipolitische Gegensätze so zerrissen war, daß er die Fähigkeit zur Erfüllung seiner Aufgaben verlor. Denn die Verfassung i m Ganzen und damit das Grundelement der
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öffentlichen Ordnung war i m Wesenskern gefährdet, wenn das Hauptorgan demokratischer Staatsgestaltung auf Grund innerer Destruktion zur Erfüllung seiner Obliegenheiten nicht mehr imstande war. VIII. Schon i n dem am 14. September 1930 gewählten V. Reichstag trat dieser Zustand ein. Denn i n ihm war keine Mehrheit vorhanden, die sich zur gemeinsamen Regierungsbildung oder auch nur zur gemeinsamen Gesetzgebung hätte vereinigen können 2 7 . Keine Aktionsmehrheit, sondern nur noch eine Tolerierungsmehrheit fand sich i n i h m von Fall zu Fall zusammen. Die außerhalb der Regierung stehende SPD ermöglichte dem Kabinett Brünnig die ersatzweise Ausübung der legislativen Funktionen, indem sie i n taktisch bedingtem Zusammenspiel m i t i h m die Notverordnungspraxis durch langfristige Parlamentsvertagungen, durch die Ablehnung von Mißtrauensanträgen, vor allem aber durch die Ablehnung von Anträgen auf die Außerkraftsetzung der erlassenen Diktaturmaßnahmen gegen die Opposition abschirmte. I n dem am 31. J u l i 1932 gewählten V I . Reichstag 28 und dem am 6. November 1932 gewählten V I I . Reichstag 29 war selbst an eine derartige „Tolerierungsmehrheit" nicht zu denken; auch andere Kanzler der Mitte als Papen und Schleicher hätten sie nicht gefunden. Denn in beiden Reichstagen besaßen die verfassungsfeindlichen Parteien der extremen Rechten und Linken die Majorität. Die Mehrheit der Extremen konnte jeden positiven Gesetzgebungsakt verhindern; sie konnte die Notverordnungspraxis der Regierung durch Außerkraftsetzungsbeschlüsse lähmen; ja, sie konnte die Gesetzgebungsgewalt benutzen, um, wenn auch aus gegensätzlichen Motiven, gemeinsame verfassungsdestruktive Beschlüsse durchzusetzen. Die eingetretene Verfassungsstörung war i n dieser Lage zum permanenten und totalen Verfassungsnotstand gesteigert. 27
I m V. Reichstag (577 Mitglieder) besaßen die NSDAP 107, die K P D 77 Mandate, die beiden extremen Parteien zusammen also 184 Mandate ( = 31,9 °/o). Die radikale Opposition der extremen Parteien w a r durch die 41 Mandate der DNVP, die damals m i t der N S D A P i n der „Harzburger F r o n t " verbündet war, auf insgesamt 225 Mandate verstärkt ( = 39 %>). Der verbleibende Rest von 61 °/o w a r durch den unüberwindlichen Gegensatz zwischen der rechten M i t t e (DVP, WP, ChrSozVD, Landvolk-Partei usw.) u n d der SPD aktionsunfähig. 28 I m V I . Reichstag (608 Mitglieder) besaßen die N S D A P 230, die K P D 89, beide Parteien zusammen 319 Mandate ( = 52,5 °/o). 29 I m V I I . Reichstag (584 Mitglieder) fiel die N S D A P auf 196 Mandate zurück; die K P D stieg auf 100 Mandate an; beide Parteien zusammen verfügten über 296 Mandate ( = 50,7 °/o).
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Aus diesem Verfassungsnotstand gab es keinen Ausweg i n eine verfassungskonforme Lage. Insbesondere war der Versuch, die Verfassungsstörung unter Anwendung parlamentarisch-demokratischer Methoden zu überwinden, nur denkbar durch die Aufnahme der einen oder der anderen der beiden verfassungsfeindlichen Parteien i n eine Regierungskoalition 30 . I n jeder Koalition der verfassungstreuen Mitte mit der einen oder der anderen extremen Partei aber mußte der verfassungsfeindliche Koalitionspartner alsbald zum dominierenden Teil werden. Die scheinbar parlamentarisch-demokratische Methode mußte notwendig zur Zerstörung der parlamentarisch-demokratischen Verfassung führen. Das Dilemma der Republik i m extremen Verfassungsnotstand lag darin, daß jeder Verzicht auf die Anwendung der Notstandsgewalt die Selbstzerstörung der Verfassung bewirken mußte.
IX. Die Heckeische Lehre vom Verfassungsnotstand war v o l l entwickelt, noch bevor die Verfassungsstörung der Weimarer Krisenzeit i m zweiten Halbjahr 1932 zur Verfassungslähmung geführt hatte. Aber die neue Theorie hielt auch für diesen Fall des extremen Verfassungsnotstands ein Rezept bereit. Zwar ging sie davon aus, daß die Reichsverfassung eine feste Grenze
n i c h t n u r f ü r die D i k t a t u r g e w a l t des A r t . 48 A b s . 2,
sondern auch für die selbständige, überpositive Notstandsgewalt sei. Aber ebenso wie die Heckeische Lehre die Konstruktion einer von der Diktaturgewalt unterschiedenen selbständigen Notstandsgewalt zu deren Entbindung von der i n Art. 48 Abs. 3 institutionalisierten parlamentarischen Kontrollgewalt benutzte, fand sie i n dieser Konstruktion die Handhabe, u m den auch für die Notstandsgewalt zunächst postulierten Satz von der Unantastbarkeit der Verfassung zu durchbrechen. Denn als äußerste Konsequenz ergab sich aus Heckeis Lehre i m Fall einer permanenten und totalen Verfassungslähmung das Recht der aktionsfähig gebliebenen Reichsorgane zur Verfassungsreform: „Die Notstandsaktion muß jetzt zur Verfassungsrevision eingesetzt werden" 3 1 . 30 Praktisch bestand nur die Möglichkeit einer K o a l i t i o n der M i t t e m i t der NSDAP, über die denn auch ständig verhandelt wurde; insbesondere das Z e n t r u m w a r darum bemüht. Eine „Volksfront-Regierung" v o n SPD u n d K P D wäre schon aus sachlichen Gründen v o m beiderseitigen Standpunkt aus unmöglich gewesen; aber auch rechnerisch wäre sie i n beiden Reichstagen von 1932 (zusammen 222 bzw. 221 Mandate = r u n d 37 °/o) von einer Mehrheit weit entfernt gewesen. 31 J. Heckel, S. 314.
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Die einzige Grenze dieser i m extremen Verfassungsnotstand hervortretenden Verfassungsrevisionsgewalt der Exekutive sah Heckel i n der ihrem Inhaber auferlegten „Achtung vor der verfassungsgebenden Kompetenz des Volkes und damit des Prinzips der Volkssouveränität" 3 2 . Die außerhalb des Verfahrens der verfassungsmäßigen Verfassungsänderung (Art. 76 WRV) i m Weg des überverfassungsmäßigen Notstandsakts verfügte Verfassungsreform bedurfte daher i n der Sicht der Lehre vom Verfassungsnotstand zur Wahrung des demokratischen Legitimitätsprinzips der nachträglichen plebiszitären Sanktion, sei es i n der Form der Volksabstimmung, sei es i n der Form der Wahl einer verfassungsrevidierenden Nationalversammlung 3 3 . I n der Tat hätte praktisch nach allen Erfahrungen bereits die Durchführung einer solchen Wahl den Charakter einer Verfassungsakklamation gehabt.
X. Die Bedenken, die dieser Kombination von Verfassungsnotstand, Verfassungsrevision und Volksakklamation entgegenstehen, lagen schon i m Zeitpunkt der Heckeischen Publikation zutage. Auch bei der sorgfältigen Beachtung des vorgeschlagenen Modus hätte es sich der Sache nach bei jeder unter solchen Umständen bewirkten Verfassungsrevision um einen außerhalb der Verfassung vollzogenen A k t diktatorischer Verfassungsänderung, d. h. u m einen Staatsstreich, gehandelt. Die plebiszitäre Akklamation konnte, i n welchen Formen auch immer sie zum Ausdruck kam, allenfalls als nachträgliche demokratische Legitimation des zunächst begangenen Verfassungsbruchs, nicht aber als Manifestation einer von Anfang an vorhandenen demokratischen Legitimität verstanden werden. M i t anderen Worten: für die plebiszitäre Anerkennung einer i n der Form des Notstandsakts vollzogenen Verfassungsreform gilt nichts anderes als für die plebiszitäre Anerkennung einer i n der Form des offenen Verfassungsbruchs vollzogenen Revolution. I m einen wie i m anderen Fall ist die plebiszitäre Anerkennung der staatlichen Neuordnung eine demokratische Sanktion mit Wirkung ex nunc, nicht mit Wirkung ex tunc. Damit aber ist zugleich evident, daß das Erfordernis der nachträglichen demokratischen Anerkennung der durch Notstandsakt bewirkten Verfassungsreform i m Grund doch nur das Faktum des Erfolgs zum K r i t e r i u m der Legitimation erhob. Denn erfolgreich ist ein verfassungsrevidierenden Notstandsakt nur, wenn er auf Dauer die Anerkennung der Mehrheit findet. Dieser Satz ist allerdings ebensogut um32 33
Ebenda, S. 317. Ebenda, S. 318.
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kehrbar: dem auf Dauer faktisch erfolgreichen verfassungsrevidierenden Notstandsakt wächst die Anerkennung der Mehrheit über kurz oder lang zu, sei es in der Form der spontanen Akklamation, sei es in der Form der gewohnheitsmäßigen Anpassung an die zur festen Realität gewordene Machtlage. Der Erfolg ist so gut die Ursache wie das Resultat der Anerkennung. Das heißt aber, da Anerkennung ein konstituierendes Moment des originär geschaffenen Rechts ist: der Erfolg ist die Ursache wie das Resultat des Rechts, i n dem die durch eine Notstandsaktion durchgesetzte Verfassungsrevision dauernden Bestand gewinnt. I n dieser Abhängigkeit der legitimierenden Anerkennung vom effektiven Erfolg werden die Fragwürdigkeiten deutlich, die der Lehre vom Verfassungsnotstand als eines i m Grenzfall auch den verfassungsrevidierenden Notstandsakt rechtfertigenden Sachverhalts anhafteten. Ob sich der Erfolg und damit die Anerkennung (oder umgekehrt die Anerkennung und damit der Erfolg) einstellen, kann immer nur ex eventu festgestellt werden. Die Frage der Rechtmäßigkeit einer Handlung, auch die einer Notstandsaktion, aber muß ab initio entschieden werden. Gewiß kann eine unrechtmäßige Notstandsaktion durch Erfolg und Anerkennung die nachträgliche Heilung ihres rechtlichen Mangels erfahren; anfängliches Unrecht kann sich i n Recht wandeln. Das gilt für die Revolution wie für den Staatsstreich. Bei der Lehre vom Verfassungsnotstand aber ging es nicht um die Frage der nachträglichen Heilung des Verfassungsbruchs durch Erfolg und Anerkennung. I h r Ziel war vielmehr, ein K r i t e r i u m für die von Anfang an gegebene Rechtmäßigkeit eines verfassungsrevidierenden Notstandsakts zu gewinnen. Das aber konnte unter den Grundbedingungen des Verfassungsstaats nicht gelingen. XI. Daß die Heckeische Lehre vom Verfassungsnotstand ihr Ziel auch unter den konkreten Gegebenheiten der Weimarer Krisenzeit nicht erreicht hat, w i r d daran anschaulich, daß sie in der Verfassungslage von 1932/33, die so deutlich die Züge einer extremen Verfassungsstörung trug, nicht benutzt worden ist, um die teils ins Werk gesetzten, teils i n Planung und Vorbereitung begriffenen Aktionen einer verfassungsrevidierenden Notstandspolitik zu rechtfertigen. Um die strittigen Fragen der Rechtmäßigkeit dieser Notstandsaktionen oder Notstandspläne zu entscheiden, konnte man nicht auf die der Heckeischen Anerkennungslehre immanente Beurteilung ex eventu warten. Vielmehr kam es, schon i m Hinblick auf den Widerstand des Reichspräsidenten gegen alle verfassungsrechtlich bedenklichen Diktaturmaßnahmen, ebenso
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aber i n Anbetracht der möglichen Einschaltung des Staatsgerichtshofs, auf die verfassungsrechtliche Legitimität von Notstandsaktionen ab initio an. Deshalb kann es auch nur auf den ersten Blick wundern, daß Heckel selbst, als er zur Frage der Rechtmäßigkeit des Einschreitens des Reichs gegen Preußen (20. J u l i 1932) Stellung nahm 3 4 , m i t keinem Wort auf seine kurz zuvor entwickelte Lehre vom Verfassungsnotstand Bezug nahm, so sehr die damalige Lage nicht nur i m Reich, sondern auch i n Preußen die Züge der Verfassungsstörung trug. Die Unfähigkeit des am 24. A p r i l 1932 gewählten preußischen Landtags, eine Mehrheit zur Wahl einer neuen Regierung an Stelle des zurückgetretenen und nur noch als „Geschäftsregierung" fungierenden Ministeriums Braun - Severing zu bilden 3 5 , war gewiß der Ausdruck einer tiefgreifenden Störung des demokratisch-parlamentarischen Verfassungsorganismus 36 . Zu ihrer Behebung war nach der Heckeischen Theorie angesichts des funktionellen Zusammenhangs von Reichsverfassung und Landesverfassung gerade auch die Reichsgewalt befugt und verpflichtet. Aber Heckel trug offenbar Bedenken gegen die unmittelbare Anwendung seiner Lehre vom Verfassungsnotstand auf den preußischen Fall. I n seiner großen kritischen Auseinandersetzung mit dem Urteil des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932 erwähnte er seine Lehre nur mit einem andeutenden Wort, indem er die i n Preußen vor dem Eingreifen des Reichs gegebene Lage als „Landesverfassungsstörung" bezeichnete 37 . Die zur Behebung dieser Verfassungsstörung gegebenen M i t t e l aber leitete er nicht aus der Lehre vom Verfassungsnotstand ab. Der unmittelbare Grund dafür mag gewesen sein, daß Heckel i m Gegensatz zur herrschenden Meinung und auch zum Urteil des Staatsgerichtshofs der Diktaturgewalt (Art. 48 Abs. 2) jeden Eingriff i n die Sphäre der Landesverfassungen verwehrt wissen wollte: „Die Landesverfassung (ist) für den Diktator unantastbar" 3 8 . Offenbar lag es nahe, diese These auch auf den Verfassungsnotstand zu erstrecken, da dieser eine erweiterte Diktaturgewalt war, obwohl gerade Heckel diese Kennzeichnung sorgfältig vermied. U m aber trotz dieser behaupteten Unantastbarkeit des Landesverfassungsbereichs für die (engere oder 34 J. Heckel, Das U r t e i l des Staatsgerichtshofs v o m 25. Oktober 1932 i n dem Verfassungsstreit Reich-Preußen (AöR N F 23, 1933, S. 183 ff.). 35 I m I V . preußischen Landtag (423 Mitglieder) besaßen die N S D A P 162, die K P D 57 Mandate, zusammen 219 Mandate ( = 51,8%). Auch hier Schloß die absolute Mehrheit der verfassungsfeindlichen Parteien eine verfassungskonforme Aktionsfähigkeit der Volksvertretung aus. 36 J. Heckel, AöR N F 23, S. 229. 37 Derselbe, AöR N F 23, S. 217. 38 Derselbe, AöR N F 22, S. 303.
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erweiterte) Diktaturgewalt die Möglichkeit für ein Einschreiten der Reichsgewalt gegen Verfassungsstörungen i n der Landessphäre zu gewinnen, konstruierte Heckel auch hier einen Ausweich-Tatbestand, und zwar durch die Lehre von der Verfassungsaufsicht 3Ö. Die Lehre von der Zuständigkeit des Reichs zur Verfassungsaufsicht bedeutete i n ihrem Kern: Das Reich sollte von Verfassungs wegen nicht nur die Befugnis besitzen, gegen das verfassungsfeindliche Verhalten eines Landes, also gegen die schuldhafte Verletzung seiner Reichspflichten m i t der Reichsexekution vorzugehen (Art. 48 Abs. 1). Vielmehr sollte i h m auch die Befugnis zustehen, gegen die verfassungsfeindliche Lage in einem Land, die ohne schuldhaft-pflichtwidriges Verhalten der Landesorgane entstanden war, m i t der Reichsintervention einzugreifen 4 0 . M i t der „verfassungsfeindlichen Lage" war offenbar etwas anderes als die bloße Verfassungswidrigkeit eines Zustands gemeint. Es sollte damit bezeichnet sein ein über die bloße Normwidrigkeit einer Situation hinausgehender, gesteigerter Widerspruch der konkreten Lage i n einem Land zur materiellen Verfassung des Reichs, ein existentielles Spannungsverhältnis zwischen Situation und Konstitution, das einer Konfliktslage, ja einer Kampflage gleichkam. Der Begriff sollte den Verfassungskonflikt treffen, der nicht aus feindselig-pflichtwidrigem Verhalten, sondern aus dem Antagonismus der realen Gegebenheiten hervorgeht. I n der Tat war i m strukturellen Dualismus zwischen dem Reich und Preußen i n der Weimarer Republik ein solcher Antagonismus latent gegeben; er konnte jederzeit i n die offene Konfliktslage umschlagen, ohne daß dabei die Voraussetzungen für ein Eingreifen m i t der Reichsexekution, nämlich ein konkretes pflichtwidriges Verhalten des Landes, gegeben waren. Zur Bewältigung dieser Konfliktslage sollte die Institution der Verfassungsaufsicht dienen. Aber wie für den Verfassungsnotstand gab es für diesen selbständigen Tatbestand der Verfassungsaufsicht und die aus i h m abgeleitete besondere Kompetenz des Reichs zur Verfassungsintervention i m geschriebenen Verfassungsrecht keinen Anhalt 4 1 . Auch hier ging es bei Heckel vielmehr u m die Ableitung einer dem positiven Verfassungs39
Derselbe, AöR N F 23, S. 202. Ebenda, S. 225. 41 Das Recht des Deutschen Bundes hatte (von Heckel nicht beachtet) die Bundesintervention als ein den damaligen Zeitverhältnissen gemäß gestaltetes Recht der Bundesgewalt gekannt (Art. 26 WSchlA). I m Bismarckschen Reich w a r dieses Interventionsrecht nicht i n der Reichsexekution, sondern i m Kriegszustandsrecht (Art. 68 BismRV) aufgegangen (vgl. E. R. Hub er, Verfassungsgeschichte Bd. I S. 631 ff., Bd. I I I S. 1043). Entsprechend w a r das Interventionsrecht i n der Weimarer Republik (entgegen Heckeis Lehre) i n der D i k t a t u r g e w a l t enthalten. 40
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recht unbekannten, zusätzlichen Machtbefugnis des Reichs aus überpositiven Rechtserwägungen, vereinfacht gesagt: aus ungeschriebenem Staatsnotrecht. Die Konsequenz der Heckeischen Lehre war auch hier, daß die Reichsgewalt gerade vermöge der einengenden Auslegung des Diktaturbegriffs die Freiheit erlangen sollte, i n den Aktionsraum einer unbegrenzten Interventionsgewalt gegen ein ihr i n einer Konfliktslage entgegenstehendes Land auszuweichen. Insbesondere sollte die Reichsgewalt bei der Anwendung ihrer Verfassungsaufsichtskompetenz aller Begrenzungen enthoben sein, die der Staatsgerichtshof i n dem Urteil vom 25. Oktober 1932 für die Anwendung des A r t . 48 Abs. 2 i m Landesverfassungsbereich aufgestellt hatte. XII. Die kritische Auseinandersetzung mit der Lehre von der Verfassungsaufsicht liegt außerhalb des Rahmens dieser Betrachtung. I m Hinblick auf ihren systematischen Zusammenhang mit der Lehre vom Verfassungsnotstand sei nur Folgendes angemerkt. Die Verfassungsintervention der Reichsgewalt i n Preußen hatte nicht nur das vordergründige Ziel, einerseits die ihrer parlamentarischen Mehrheit verlustig gegangene alte Koalition ihrer Macht über den preußischen Staatsapparat zu entheben und andererseits eine mögliche neue Koalition (NSDAP-Zentrum) an der Machtergreifung i n Preußen zu hindern. Das Hauptziel war vielmehr, unter Benutzung des eingetretenen preußischen Verfassungsnotstands die nach allen Erfahrungen auf verfassungsmäßigem Weg nicht mögliche Beseitigung des Dualismus zwischen dem Reich und Preußen zu bewirken 4 2 . Die Intention des „Preußenschlags" war nicht nur die vorübergehende Sequestration der preußischen Staatsgewalt, um das Land zur Erfüllung angeblich verletzter Reichspflichten anzuhalten, sondern die Wiederherstellung einer dauerhaften Verbindung der Reichsleitung und der preußischen Staatsleitung, wie sie i m konstitutionellen Reichssystem bestanden hatte und wie sie das Ziel aller neueren Reichsreformbestrebungen, insbesondere auch der Regierung Papen w a r 4 3 . I n dieser tieferen Schicht war der Preußenschlag eine Maßnahme der Reichsreform, d. h. aber eine Maßnahme, die staatsrechtlich nicht i m Weg der Reichsexekution, aber auch nicht durch einen A k t der ihr systematisch benachbarten „Verfassungs42 Dazu H. Trumpp, Franz v. Papen, der preußisch-deutsche Dualismus u n d die N S D A P i n Preußen (Diss. Tübingen 1964). 48 Dazu H. J. Toews, Die Verfassungspläne der Regierung Papen (1973). F ü r die Überlassung u n d freundliche W i d m u n g des bisher unveröffentlichten Manuskripts sage ich dem Verfasser aufrichtigen Dank.
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aufsieht" getroffen werden konnte. Vielmehr handelte es sich i n dieser wesentlichen Intention um einen aus dem Fehlschlag aller Bemühungen um eine legale Verfassungsänderung zu erklärenden verfassungsrevidierenden Notstandsakt, der für sich keine ab initio gegebene Legalität beanspruchen konnte, über dessen Legitimität daher nur ex eventu, d. h. unter Vorwegnahme des erhofften Resultats der Rettung des Reichs und seiner Verfassung geurteilt werden konnte 4 4 . Zur Methode der Heckeischen Verfassungsauslegung aber ist zu sagen, daß auch sie, ungeachtet ihrer begriff lieh-juristischen Strenge, vom teleologischen Prinzip bestimmt war. Sie war i m begrifflichen Ausgangspunkt auf die Einengung der verfassungsmäßigen Diktaturgewalt gerichtet; die verfassungsrechtlich institutionalisierte, begrenzte und kontrollierte Diktaturkompetenz sollte auf den Schutz der äußeren Staatsordnung beschränkt und von der Einwirkung auf den inneren Staatsorganismus ausgeschlossen sein. Aber der Innenbereich des Verfassungslebens wurde damit nicht „eingriffsfest" i m Sinn der Unantastbarkeit gegenüber jedweder Ausnahmegewalt. Vielmehr rückte die restriktive Auslegung der verfassungsmäßig institutionalisierten D i k taturkompetenz den inneren Staatsorganismus für den Fall seiner funktionellen Störung m i t voller Absicht i n das Aktionsfeld der überpositiven, d. h. nicht institutionalisierten, nicht kontrollierten und i m Grenzfall sogar m i t dem Recht zur Verfassungsrevision ausgestatteten Notstandsmacht. Obwohl dieser der Name „Diktaturgewalt" vorenthalten wurde, war m i t ihr i n weit höherem Maß als m i t der verfassungsrechtlich begrenzten Ausnahmekompetenz ein volles Diktaturrecht proklamiert — ein Diktaturrecht allerdings, dessen Telos nicht die Zerstörung der Demokratie, sondern ihre Rettung vor der Selbstzerstörung war.
44 Meine Streitschrift „Reichsgewalt u n d Staatsgerichtshof" (1932) w a r u m die Rechtfertigung des Reichsvorgehens gegen die preußische Regierung u n ter den damals i m Vordergrund der staatsrechtlichen Auseinandersetzung stehenden Aspekten der Reichsexekution u n d der Diktaturkompetenz bemüht. Den wesentlichen Mangel der Schrift sehe ich seit langem darin, daß sie das Kernproblem des Konflikts, die Verbindung des Reichseingriffs m i t dem Ziel der Reichsreform, nicht i n den M i t t e l p u n k t der Erörterung gerückt hat.
Verräterei und Majestätsdelikt in der gemeinrechtlichen Strafrechtedoktrin Von Friedrich Schaffstein Die dogmengeschichtliche Entwicklung der einzelnen Tatbestände i n der Periode des Gemeinen Strafrechts, also etwa von der Carolina bis zu den Aufklärungskodifikationen am Ende des 18. Jahrhunderts, ist i n ihren Einzelheiten meist noch wenig erforscht. Zu den Ausnahmen gehört die Geschichte des strafrechtlichen Schutzes von Staat und Verfassung. Denn auf diesem Gebiet sind w i r durch zwei sorgfältige neuere Untersuchungen, die Arbeiten von J. M. Ritter und Fr. Chr. Schroeder 1, besser über die gemeinrechtliche Entwicklung unterrichtet als bei den meisten anderen Delikten. Wenn ich gleichwohl das Thema, i n dem sich Strafrecht und Staatsrecht berühren, i n einem Beitrag zur Ehrung eines hervorragenden Staatsrechtlers noch einmal aufgreife, so deshalb, weil ich hoffe, durch einige allgemeine Überlegungen zur gemeinrechtlichen Tatbestandsbildung und durch Untersuchungen zu zwei speziellen Fragen, zu der Entwicklung des Verrätereidelikts und zur Lehre von den Singularia bei Majestätsdelikten, das von Ritter und Schroeder gezeichnete B i l d noch etwas ergänzen zu können. Schon der oben gebrauchte Ausdruck des Staatsschutzes als Oberbegriff für die hier i n Frage kommenden Delikte führt uns i n die Problematik ein. Wie schon i m späten Mittelalter und sodann i n Schwar1
Johannes Martin Ritter J Verrat und Untreue an Volk, Reich u n d Staat, Ideengeschichtliche Entwicklung der Rechtsgestaltung der politischen Delikte i n Deutschland bis zum Erlaß des RStGB, 1942; Friedrich Christian Schweder, Der Schutz von Staat u n d Verfassung i m Strafrecht, Münchener U n i v e r sitätsschriften, Jur. Fak. Bd. 9, 1970. — Die während des Krieges erschienene zum Unterschied von dem auch das geltende Staatschutzrecht einbeziehende Buch Schroeders rein rechtshistorische Monographie Ritters gibt einen auf gründlicher Kenntnis der mittelalterlichen u n d gemeinrechtlichen Quellen beruhenden Abriß der Entwicklung. Sie hat w o h l wegen des Erscheinens des Buches m i t t e n i m Kriege leider nicht die Beachtung gefunden, welche die n u r durch gelegentliche Floskeln dem Zeitgeist T r i b u t zollende, i h m aber i n seiner Gesamttendenz keineswegs verhaftete Habilitationsschrift des i m Kriege gefallenen Autors aus der Schule Naglers verdient.
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zenbergs Bambergensis (Art. 132, 133 und 149) und i n der Carolina (Art. 124, aber auch 218 CCC) stehen noch i m 17. und 18. Jahrhundert zwei i n ihrer begrifflichen Struktur und historischen Herkunft völlig verschiedenartige Vorläufer der modernen „Staatsschutzdelikte" nebeneinander: Die Verräterei und das schon früh mit der perduellio verschmolzene crimen laesae majestatis. Von den beiden läßt sich die aus der fränkischen Infidelität hervorgegangene Verräterei nur m i t erheblichen Vorbehalten und allenfalls zu einem Teil als „Staatsverbrechen" i m Sinne eines auf Rechtsgüterschutz angelegten und nach i h m differenzierenden Strafrechts bezeichnen. Schon Ritter 2, obgleich der weitergehenden Auffassung Dohms3 abgeneigt, hat die Verräterei als einen durch die verwerfliche Begehungsweise (Hinterlist, Feindkomplott) charakterisierten Treubruch bezeichnet. Das einigende Band sehr unterschiedlicher Tatmodalitäten und sehr verschiedener Angriffsobjekte stellt hier die das Delikt prägende Treueverletzung dar, damit aber — m i t einem modernen Ausdruck Welzels und anderer — der „betätigte Abfall von den Grundwerten rechtlicher Gesinnung". Einer dieser Grundwerte, ja der die ganze mittelalterliche Gesellschaft durchziehende und zusammenhaltende, damit aber auch alle politischen Beziehungen tragende Wert war die Treue. Diese Auffassung w i r k t noch literarisch bis an den Anfang des 17. Jahrhunderts nach, wenn etwa Ludwig Gilhausen i n seinem „Arbor iudiciaria criminalis" (1606) den Abschnitt über den sodann an 14 Begehungsformen exemplifizierten Verrat einleitet m i t den Sätzen: „ M a x i m u m et atrocissimum est hoc proditionis crimen. Nam cum n i h i l magis homini conveniat quam fidem servare. Consequens est, ut fidem frangere Jus gentium laedet ac Vinculum , quo humana societas continetur, disrumpat". Die hier eindeutig zum Ausdruck kommende Auffassung der Treue als Grundwert des sozialen Lebens erklärt auch, daß Bambergensis und Carolina i n ihren gleichlautenden A r t i k e l n 149 bzw. 124 ebenso wie zahlreiche ältere Rechtsquellen 4 die Verräterei m i t der schwersten Form der Todesstrafe, der Vierteilung, bedrohten und darüber hinaus die Strafschärfung des Zangenreißens vorsahen, „wo solche Verrätherei großen Schaden und Ärgernis bringen möchte, als die, so ein land, stadt, sein eigenen Herren, betgenossen, oder nahe gesippten Freund betreffe". Während die beiden Gesetze auf eine Definition der Verräterei verzichten, zeigt doch die i n ihnen enthaltene Aufzählung sehr unterschiedlicher Opfer eines sehr deutlich: die Verräterei richtete sich zwar auch „gegen land 2
Ritter, S. 174 ff., insbes. S. 179. Dahm, Verrat u n d Verbrechen, Zeitschr. f. d. ges. Staatswissenschaft, Bd. 95 (1935), S. 283 ff. 4 Vgl. dazu Ritter, S. 126 ff.; zum Sachsenspiegel u n d anderen Rechtsbüchern, S. 162 ff. 3
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und Stadt" und mag insofern als Vorläufer der Staatsverbrechen angesehen werden. I h r eigentliches Wesen aber wird, wie die Fortsetzung der Aufzählung „seinen eigenen Herren, betgenossen oder nahe gesippten Freund" zeigt, nicht durch die Homogenität der Opfer und der bei ihnen verletzten „Rechtsgüter" gekennzeichnet, sondern durch die Verletzung der für den Täter ihnen gegenüber bestehenden Treupflichten. Viel besser als die altertümliche deutschrechtliche Verräterei paßt sich das römische crimen laesae majestatis und die schon von den italienischen Juristen i n jenes als schwerster Fall eingegliederte perduellio (D 48, 4, 1 und 11) i n die modernen Vorstellungen eines Rechtsgüterstrafrechts ein. Die Linie, die sich i n ihren Hauptstationen von den ersten Einflüssen der byzantinisch-absolutistischen lex quisquis des A r kadius (C 9, 8, 5) auf das frühmittelalterliche Recht über das kürzlich von Schmink untersuchte politische Strafrecht Friedrichs II. i n den I n stitutionen von Melfi 5 , das Edictum de Crimine Majestatis Kaiser Heinrichs V I I . von 13126, die Übernahme der lex quisquis i n die Goldene Bulle (1356, Tit. 24 §§ 1 bis 17) bis zu den A r t . 132, 133 der Bambergensis hinzieht, zeigt, daß die Rezeption des römischen Strafrechts auf dem Gebiet des Staatsschutzes bereits weit früher begonnen hat, als das bei den meisten anderen Delikten der Fall war. Angriffsobjekt, das man modern auch „Rechtsgut" bezeichnen mag, ist hier die maiestas. Sie wurde später i n A b - und Umwandlung des ursprünglichen römischen Begriffs schon vor dem sich zuerst bei Carpzov und Matthaeus zeigenden Einfluß der Souveränitätslehre Bodins, aber durch die Übernahme dieser Lehre unterstützt, als oberste, vom Gesetz gelöste und niemandem mehr unterworfene Herrschergewalt verstanden. Die schon i n der italienischen und auch i n der deutschen gemeinrechtlichen Literatur am meisten erörterte Frage war die, ob außer dem Kaiser, dem Papst und den i n der Goldenen Bulle ausdrücklich einbezogenen Kurfürsten auch anderen Fürsten die ma j estas zuzuerkennen sei, so daß der Angriff gegen sie unter das Majestätsdelikt zu subsumieren sei. Die verfassungsrechtlich-politische Bedeutung dieser strafrechtlichen Frage ist offenkundig. Da sowohl Ritter wie Schroeder bereits eine ausführliche Darstellung des Meinungsstandes gegeben haben 7 , w i l l ich mich hier dar5
Schmink, Crimen Laesae Majestatis, Untersuchungen zur deutschen Staats- u n d Rechtsgeschichte N. F., Bd. 14 (1970). β Dazu besonders Ritter, S. 137, der vor allem auch auf den f ü r die A u s legung des Edikts maßgebenden T r a k t a t des Bartolus (In partem I I Digesti Commentarla, Basilea 1588, T. I I p. 457) hinweist. Bartolus ist m i t seinem Bemühen, den Staatsschutz des Majestätsdelikts m i t dem der Infidelität zu verschmelzen und i n Übereinstimmung zu bringen, für die italienische D o k t r i n des 15. u n d 16. Jahrhunderts vorbildlich geworden. 7 Ritter, S. 215 ff.; Schroeder, S. 29 ff.
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auf beschränken, eine von ihnen nicht erwähnte einzelne Meinung, nämlich die des Tübinger Professor Johannes Harpprecht besonders hervorzuheben. Harpprecht, wohl der früheste deutsche Kriminalist von wissenschaftlichem Rang, lehnt i n seinem Tractatus criminalis von 16028 eine Ausdehnung auf andere Fürsten ab, obwohl sich so viele und bedeutende italienische und deutsche Autoritäten für sie ausgesprochen hätten. Denn die lex quisquis, so meint Harpprecht, spreche nur vom Kaiser und seinen Räten. Daraus folge durch Umkehrschluß, daß anderen der Majestätsschutz nicht zukomme. „Proindeque ad alios cum odiosa et poenalis fit, porrigenda (auszudehnen) non est." Diese Begründung verdient deshalb unsere besondere Aufmerksamkeit, weil sie m. W. die wohl früheste Berufung auf das Verbot strafausdehnender Analogie i n der deutschen Strafrechtsdoktrin darstellt. A u f die Dauer hat sich diese schon damals nur von einer Minderheit vertretene Ablehnung der maiestas der Landesherren natürlich nicht aufrecht erhalten lassen. Entsprechend der Entwicklung der verfassungsrechtlichen Zustände nach dem Westfälischen Frieden w i r d deren Anerkennung i m 18. Jahrhundert allgemein. Weil die Frage, ob außer dem Kaiser und den Kurfürsten auch noch anderen Fürsten und Reichsständen das Majestätsrecht zuzuerkennen sei, ein so heißes Eisen für die Politik war, ist dies vermutlich der Grund dafür gewesen, daß i m Gegensatz zu den A r t . 132, 133, der Bambergensis die Carolina Begriff und Bestrafung des Majestätsdelikts nicht geregelt hat 9 . Dagegen hat die Carolina i n ihren Art. 42 und 124 über die Indizien bzw. die Bestrafung der „Verrätherei" die Regelung der Bambergensis wörtlich übernommen, wobei beide Gesetze sich jeder Begriffsbestimmung dieses Delikts enthalten. Die Folge war eine eigentümliche Schizophrenie der gemeinrechtlichen Literatur: soweit diese Literatur i n Carolina-Kommentaren bestand, wurde nur die Verrätherei, nicht aber das Majestätsdelikt kommentiert. Umgekehrt behandelten die Kommentare zu den Strafrechtlichen Teilen des Corpus iuris nur crimen laesae majestatis und perduellio, nicht aber die Ver8
Pag. 344 Nr. 9 bis 12. Es handelt sich bei dem W e r k noch nicht u m eine systematische Darstellung des Strafrechts, sondern u m eine Kommentierung des strafrechtlichen Teils der Institutionen. 9 Vgl. dazu Ritter, S. 159; Schroeder, S. 23 f. Die vereinzelt vertretene H y pothese, die Regelung sei als überflüssig deshalb unterblieben, w e i l j a schon die Goldene Bulle das Majestätsdelikt enthält, ist nicht überzeugend. Indessen ist zu beachten, daß das Fehlen einer Strafandrohung gegen das M a j e stätsdelikt i n der CCC keineswegs dessen durch die Goldene Bulle ohnehin gesicherte Fortgeltung i n Frage stellen sollte. Denn A r t . 218 CCC erwähnt das Majestätsdelikt ausdrücklich, w e n n auch n u r beiläufig, indem er bei i h m die Vermögenskonfiskation für zulässig erklärt.
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rätherei. Nur i n den wenigen systematischen Traktaten der Zeit vor Carpzov wurden sowohl Majestätsdelikt wie Verrätherei erwähnt, während die letztere i n der Folgezeit dann auch aus den Systemen verschwindet. Den Endpunkt dieser doppelgleisigen Entwicklung bezeichnet Boehmer, von dem w i r sowohl ein kurzes systematisches Lehrbuch, die Elementa iuris criminalis (1738) und die Observationen zu Carpzovs Practica nova (1759), wie auch den letzten und bedeutendsten Carolina-Kommentar (1770) besitzen. I n den beiden erstgenannten Werken w i r d bezeichnenderweise nur das Majestätsdelikt, nicht aber die Verrätherei erwähnt, während diese i n den Meditationes zu Art. 124 CCC eine ausführliche historische und dogmatische Erörterung erfährt. Das Ergebnis dieser i n den Meditationes gipfelnden 250jährigen Entwicklung des Verräthereibegriffs von Schwarzenberg bis Boehmer hat Ritter 10 zutreffend dargestellt: die ursprüngliche einheitliche Verrätherei wurde allmählich aufgespalten i n Boehmers proditio publica und proditio privata. Die erste ging, nunmehr als echtes Staatsschutzdelikt aufgefaßt, i n der römischrechtlichen perduellio auf, während man mit der proditio privata an „Betgenossen, nahe gesippten Freunden" u. a., denen der Täter zu Treue verpflichtet war, nichts mehr anzufangen wußte und dieser Teil der Verräterei in der Praxis offenbar ungeachtet Boehmers historisierendem Wiederbelebungsversuch obsolet wurde, sofern man sie nicht mit dem i n der CCC ohnehin besonders geregelten homicidium proditorium, der heimtückischen Tötung, gleichsetzte. I m größeren Zusammenhang spiegelt dieses Schicksal des alten Verrätereibegriffes nicht nur den Rückzug des ethisierenden Gesinnungsstrafrechts wider, sondern auch jenen eigentümlichen Vorgang der „NachRezeption" i m Bereich des Besonderen Teils des Straf rechts, auf den ich vor vielen Jahren bereits am Beispiel anderer Deliktstatbestände hingewiesen habe 11 . Überall, wo die Carolina keine ausdrückliche Regelung traf oder zwar, wie bei Verräterei, deutschrechtliche Begriffe übernahm, auf eine genaue inhaltliche Bestimmung aber verzichtete, f ü l l t die vom italienisch-römischen Vorbild geprägte deutsche gemeinrechtliche Doktrin gleichsam die leeren Hülsen des Gesetzes mit dem Inhalt des fremden Rechts aus. Die Umwandlung der Verräterei i n die perduellio ist nicht das einzige, aber doch ein recht charakteristisches Beispiel dafür, wie die Verdrängung deutscher durch römische Begriffe bis weit über die Carolina hinaus sich bis i n die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein fortgesetzt hat. Natürlich ist speziell i m Fall der Verräterei einer der Gründe dieser Post-Rezeption und letztlich wohl der entscheidende der Umstand, daß 10 11
Ritter, S. 159 ff. Vgl. Schaffstein ZStW 52 (1932), S. 797.
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jene auf eine Vielzahl von Treueverhältnissen gegründete Sozialstruktur des mittelalterlichen Gemeinwesens, deren negativer Ausdruck das Delikt der Verräterei war, schon zur Zeit Schwarzenbergs i n voller Auflösung begriffen war und spätestens i m 17. Jahrhundert einer neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit Platz gemacht hatte. Von den einstigen mannigfachen Treuverhältnissen erwies sich i n der neuen Gesellschaft als rechtlich relevant nur noch die Gehorsamspflicht des Untertanen gegenüber der i m Herrscher repräsentierten absoluten Staatsgewalt. I h r entsprach das nur vom „subditus", dem Gewaltunterworfenen, begehbare crimen laesae majestatis des spätrömisch-absolutistischen Rechts. Aber ein anderer Grund, den man nicht übersehen sollte, ist doch wohl auch die Unfähigkeit sowohl Schwarzenbergs und seiner italienischen Vorbilder wie auch seiner deutschen und ausländischen Nachfolger bis i n das 18. Jahrhundert hinein, einen leitbildhaften Unrechtstyp wie den der Verräterei begrifflich scharf zu definieren und damit zum „Tatbestand" zu formen. Das bedeutet kein abfälliges Werturteil über den großen Gesetzgeber, sondern eine bloße Feststellung, die sich auf die legislativen und wissenschaftlichen Möglichkeiten des 16. und 17. Jahrhunderts bezieht. Nun hat freilich Ritter behauptet 12 , daß gerade die Verräterei „ein dogmatisch scharf umrissener Verbrechenstatbestand" gewesen sei, und er selbst hat sich anheischig gemacht, die sowohl i n der Carolina wie i n der gemeinrechtlichen Doktrin fehlenden Tatbestandsdefinition zu geben: Verräterei ist „die treulose und hinterlistige Feindbegünstigung" 13 . Aber selbst wenn diese Begriffsbestimmung auf alle Fälle, die i n den gemeinrechtlichen Quellen als solche der Verräterei angeführt werden, zutreffen würde 1 4 , so ist doch jene Definition Ritters eine Tatbestandsbildung des 20. Jahrhunderts, nachträglich abstrahiert aus einer Vielzahl von Beispielen und aus den unvollständigen und lückenhaften Begriffsbildungsversuchen der italienischen und deutschen gemeinrechtlichen Autoren. Da Ritter dieses Schrifttum nur unvollständig angeführt und insbesondere die Carolina-Kommentare nur teilweise aus12
Ritter, S. 182 ff. Ritter, S. 160 ff. 14 Ritter selbst gibt S. 186 f. zu, daß „jedes der drei Verbrechensmerkmale (Hinterlist, Feindbegünstigung u n d Treubruch) i n Gefahr gerate, n u r als T e i l für das ganze genommen zu werden. S. 185 bemerkt er m i t Recht, daß insbesondere Boehmer, der letzte u n d scharfsinnigste Dogmatiker dieses Tatbestandes „das eigentümlichste M e r k m a l der Verräterei, den Treubruch, nicht i n jene Definition aufgenommen" habe. Boehmer (Meditationes, A r t . 124, § 1 definiert nämlich: „proditio est clancularia et perniciosa hominis expositio, tertio facta, ut ab hoc ei vis fiat." 13
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gewertet hat, S ehr oeder aber die Verräterei, die ja allenfalls bloß zu einem Teil Staatsschutzdelikt war, nur am Rande berührt, so sollen hier zur Ergänzung einige Hinweise aus dem weiteren Quellenmaterial gegeben werden. Bei Tiberius Decianus, dem größten der italienischen Kriminalisten des 16. Jahrhunderts, der auf die deutsche Doktrin der Folgezeit wie überall so auch auf diesem Gebiet einen besonders großen Einfluß ausgeübt hat, erscheint die proditio, die nicht eigentlich definiert wird, bereits neben seditio, rebellio, conjuratio und dergl. als eine der vielen Unterarten des Majestätsdelikts 15 . Das hindert Decian jedoch nicht, neben der Verräterei an Gott (Häresie) und am Vaterland (MajestätsVerletzung) als dritte Gruppe auch die „proditio i n privatos homines" anzuführen, für die als Beispiel neben der verräterischen Tötung besonders die Prävarikation des Advokaten, der seinen Klienten verrät, und der Verrat der Gerechtigkeit durch den Richter, der einen Unschuldigen verurteilt, angeführt werden. Unter den deutschen Autoren ist vor allem Theodoricus durch Decian beeinflußt 16 . Er zählt die proditio unter die „modi perduellionis" i m A n schluß an seditio und rebellio auf als „hostium in rem publicam concitatio vel adjutio" und erläutert sie durch die Anführung einer Reihe von Beispielen aus dem militärischen Bereich, der Ausspähung von Geheimnissen und anderen Fällen des Kriegsverrats. Etwas anderes aber sei es, wenn jemand die Geheimnisse irgendeines Privatmannes ausspähe und dessen Feinden hinterlistig verrate. Auch dieser werde „proditor" genannt, sei aber nicht Täter einer perduellio. Von Decian und Theodoricus unterscheidet sich der schon erwähnte Gühausen 17 dadurch i n bemerkenswerter Weise, daß er die proditio nicht als Unterfall des Majestätsdelikts auffaßt, sondern jener, von diesem durch das Meineidskapitel getrennt, einen völlig selbständigen A b schnitt einräumt. Eine Definition fehlt auch bei ihm. Vielmehr folgt auf die oben angeführten allgemeinen Sätze über die Treue als Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens eine Aufzählung von 14 Beispielen der Verräterei, von denen nur wenige den Verrat am Staat und Fürsten, die meisten aber teilweise i n recht allgemeiner und abstrakter Weise verräterische Handlungen gegenüber Einzelpersonen beschreiben 1 8 . Mehr als bei allen anderen gemeinrechtlichen Autoren fehlt also 15
Tib. Decianus, Tractatus criminalis (1591), Tom. II., lib. V I I , Cap. 29. Petrus Theodoricus, Collegium criminale 1618, zitiert nach der 2. Aufl. (1671) Cap. V. Aphor. I I I f. 17 Gilhausen, Cap. I I T i t . V. is ^ i r lesen dort z.B.: „Primo is proditor dicitur, qui alterius crimen sibi soli n o t u m malitiose detegit. Secundo proditor dicitur, qui p r o x i m u m circum18
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bei Gilhausen die Verknüpfung m i t dem Staatsschutz. Vielmehr treten die ursprünglichen Elemente der treulosen und hinterlistigen Gesinnung noch einmal in der Vordergrund. Bei Carpzov dagegen, dessen Gewährsmann für das Majestätsdelikt wieder vor allem Dedan ist, ist die proditio fast ganz verschwunden, obwohl er doch die Carolina sonst mehr als alle seine Vorgänger zu berücksichtigen pflegt. Carpzov behandelt die Verräterei als selbständigen Verbrechenstatbestand überhaupt nicht, erwähnt aber i n Quaestio 122 19 , wo die zur Tortur berechtigenden Indizien einzelner Delikte zusammengestellt werden, i n Nr. 83 unter wörtlicher Wiedergabe des A r t . 42 CCC auch die Indizien der Verräterei. Ferner beruft er sich i n der das Majestätsdelikt behandelnden Quaestio 51 (Nr. 94) für seine Auffassung, daß die Perduellio m i t der besonders schweren Strafe der Vierteilung zu bestrafen sei, auf ein argumentum a minore ad majus aus Art. 124 CCC: „si enim haec poena locum habet i n proditoribus, qui perduelles non sunt, multo magis, ex paritate rationis, obstinebit ea in iis, qui hostili animo adversus totam rem publicam Romanam vel ipsum Imperatorem aut Principes Electores quid moliti sunt." Da nach diesen letzten Spuren bei Carpzov die Verräterei fast gänzlich auch aus den systematischen Traktaten verschwindet 20 , wenden w i r uns nunmehr den Carolina-Kommentaren zu, die die Erläuterung des Verräterei-Begriffs noch mehr als 100 Jahre länger fortsetzen. Diese Kommentare zeigen uns die unlösbaren Schwierigkeiten, die sich für die Doktrin des 17. und 18. Jahrhunderts hinsichtlich der Tatbestandsfixierung eines Delikts ergaben, das sowohl nach seinem Unrechtsgehalt, dem Treubruch, wie nach seiner barbarisch harten Strafe, der Vierteilung, mit der Zeit als immer anachronistischer empfunden werden mußte. Von den Carolina-Kommentatoren nach Carpzov begnügt sich Christoph Blumlacher (1670) bei A r t . 124 auf eine Wiedergabe des Gesetzestextes ohne Erläuterung. Jakob Otto (1696) verzichtet auf einen Definitionsversuch und gibt eine Aufzählung der drei nach Opfern un-
venit et eum callide seducit, ut eum i n periculum salutis trahat." Neben der schon von Decian erwähnten Rechtsbeugung des Richters, der damit die Gerechtigkeit verrät, w i r d auch der heimtückische G i f t m o r d als F a l l der V e r räterei angeführt. 19 Carpzov, Practica nova imperialis etc. zitiert nach der Ed. I I 1646. 20 Eine kurze Erwähnung findet sich noch bei dem stark von Theodoricus abhängigen Georg Adam Struve, Dissertationes criminalis, X V I (1671) i n Diss. I V , wo Struve die Perduellion unterteilt i n „perduellio i n specie" u n d „proditio". Bei letzterer w i r d die fehlende Definition wie i n den CarolinaKommentaren jener Zeit, die proditio durch A n f ü h r u n g einiger Beispiele ersetzt und auf die A r t . 42 und 124 CCC hingewiesen.
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terschiedlichen Hauptarten der Verräterei, i n der neben Landesfürsten oder „gemeinen Wesen" auch die „Amtsgenossen, Gemeinder oder Freunde" sowie 3. die „Schutz- und Schirmesverwandten (Vasallen)" genannt werden, zumindesten bei der 2. Gruppe aber nur die verräterische Mißhandlung i m Sinne des Tötens oder Blessierens als Verräterei bezeichnet werden. Wesentlich ergiebiger ist der Kommentar von Daniel Clasen (1685)21, der i n den Erläuterungen zu dem die Indizien behandelnden A r t . 42, also nicht zu A r t . 124, als erster eine Definition der Verräterei versucht: „Proditio est, qui alterius personam, bona aut ejus Consilia i n ipsius perniciem animo doloso detegit et manifestât." Je nach der Herkunft der Treupflicht unterscheidet Clasen sodann 3 jeweils durch einige Beispiele erläuterte Modalitäten der Verräterei: Ratione superiores, worunter der Verrat des Untergebenen gegenüber seinem Fürsten, insbesondere der militärische Verrat (Übergabe einer Festung und dergl.) und die Offenbarung von Staatsgeheimnissen fällt; ratione amicitiae, wobei beachtenswert ist, daß hier Clasen ebenso wie schon Otto die Einschränkung macht, daß für den verratenen Freund ein „pericul u m vitae et salutis" entstehe; ratione fidei specialiter promissae seu clientelae". Der Carolina Kommentator Georg Beyer (1714)22 beklagt i n seinen Erläuterungen zu A r t . 42 lebhaft, daß nicht nur i m Gesetz eine Definition fehle, sondern daß auch seine Vorgänger und sogar Carpzov, statt die Verräterei zu definieren, nur „et vel generalia vel allotria ad hunc articulum congerunt." Was Beyer selbst zu bieten hat, führt freilich auch nicht wesentlich weiter. Nach historischen Reminiszenzen über den Verrätereibegriff i n germanischer Zeit weiß er in den Erläuterungen zu A r t . 124 doch wieder nur einige „hodierna exempla" zu liefern: Verräterei sei es, wenn jemand einen Mitbürger dem Feind, dem Straßenräuber, dem Piraten oder einem Fürsten, der jenen unverdient verfolge, ausliefere oder, wie Judas, zu seiner Ergreifung beitrage. Ferner seien Verräter „si Principis sui Consilia explorunt atque ad hostem referunt", also die landesverräterischen Ausspäher von Staatsgeheimnissen. Obwohl Beyers Verratsvorstellung, wie seine Beispiele zeigen, auch die Privatverräterei umfaßt, scheint i h m die harte Strafe des A r t . 124 doch nur für die Fälle der Perduellio sowie dann, wenn die Tat zur Vernichtung der Existenz des Verratenen führt, angemessen zu sein. I n den anderen Fällen sei die Strafe zu mildern. 21
Clasen, Commentarius i n constitut c r i m i n a l Caroli V. Beyer, Delineatio j u r . crim. sec. Constitut. Carolinam, benutzt Editio I V , 1737. 22
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I. P. Kress 23 knüpft an Beyers Bemerkung, daß der Kaiser die Definition der Verräterei vergessen habe, an und meint dazu: Ex mente Caesaris hic proditor est, qui principis domini et concivis salutem prodit hosti illorum." Die Tautologie dieser Definition, die immerhin das K r i t e r i u m der Feindbegünstigung deutlich hervorhebt, bemerkt Kress nicht. Seine Beispiele betreffen vornehmlich die militärische Verräterei sowie den landesverräterischen Geheimnisverrat. Immerhin w i r d als schwerer Fall auch der Verrat genannt, bei dem der Herr des Täters getötet oder seine Güter von Plünderern und Brandstiftern verwüstet werden 2 4 . W i r versagen uns, nochmals auf die schon von Ritter ausführlich dargestellte Verräterei-Lehre i n Boehmers Carolina-Commentar einzugehen 25 , die wie schon erwähnt, den Abschluß der Entwicklung bildet. Worauf es uns ankam, war, zu zeigen, daß die Kommentare trotz ausführlicher Beschäftigung m i t dem A r t . 42 und 124 CCC nicht zu einer eigentlichen Tatbestandsbildung für die Verräterei gelangt sind, sondern m i t ihrem mehr oder minder unvollkommenen Ansätzen dazu trotz deren Ergänzung durch die Beispieltechnik einen weiten, ungeklärten Randbereich ließen. Beachtenswert ist, daß nicht erst bei Boehmer, sondern schon bei seinen Vorgängern Clasen, Beyer und Kress das die mittelalterliche Verräterei bestimmende K r i t e r i u m des Treubruchs, das doch noch bei Decianus und Gilhausen stark betont wurde, nicht mehr ausdrücklich erscheint. Aber auch davon abgesehen erweisen sich Ritters Merkmale des angeblich so scharf umrissenen Tatbestandes der „hinterlistigen und treulosen Feindbegünstigung" als für das 17. und 18. Jahrhundert teils als zu weit, teils als zu eng: Nur die Begünstigung des Staatsfeindes wurde, wie die immer wiederkehrenden Beispiele des militärischen Landesverrats und der Ausspähung zeigen, noch unangefochten unter A r t . 124 subsumiert. Die privaten heimtückischen Feindbegünstigungen, deren A r t und Zahl sich überhaupt nicht begrenzen ließ, wurden schon von den Vorgängern Boehmers auf 23
Johann Paul Kress , Commentatio i n Constitut. Criminal. Caroli V, 1736, ad A r t . 8, 124 § 6. 24 Nr. 4 von dem selbständigen nach A r t . 124 zu bestrafenden Tatbestand der Verräterei seien die Fälle zu unterscheiden, indem das Zusammenwirken des Verräters m i t anderen Verbrechern eine F o r m der Beihilfe sei u n d als solche (nämlich nach A r t . 177 CCC) zu bestrafen sei. Ohne daß es v ö l l i g deutlich zum Ausdruck kommt, w i l l auch Kress anscheinend offenbar n u r noch die besonders folgenschweren Fälle der Verräterei, insbesondere die der Perduellio nach A r t . 124 bestrafen, während er ebenso w i e schon Clasen und Beyer für alle anderen nach Möglichkeiten der Strafmilderung sucht. 25 Ritter, S. 172 f., 183 f. Wenn Ritter dort von einer „dogmatischen W i e derentdeckung" der Verräterei durch Boehmer spricht, so ist das freilich i m Verhältnis zu den früheren Carolina-Kommentaren seit Clasen übertrieben.
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die schwersten existenzgefährdenden Fälle beschränkt, wobei die Probleme einer Abgrenzung des A r t . 124 gegenüber den „homicidium proditorium" des Art. 137 und gegenüber der allgemeinen Teilnahmebestimmung des A r t . 177 zwar dunkel geahnt, aber niemals exakt gelöst wurden. M i t Boehmers Meditationes i n C.C.C, hört die Kommentierung eines Gesetzes auf, das damals bereits seine Bedeutung für die W i r k lichkeit der Strafrechtspflege i m Aufklärungszeitalter verloren hatte. Das gilt auch für die Verräterei des A r t . 124. Sie ging nunmehr endgültig i m Majestätsdelikt auf, das in der Folge allein das Feld behauptete. Anders als bei der Verräterei finden sich beim crimen laesae majestatis und bei der Perduellio relativ konstante wie auch weit gefaßte und dem richterlichen Ermessen erheblichen Spielraum lassende Definitionen und Einteilungen. Da Ritter und Schroeder über sie bereits ausführlich berichtet haben 26 , w i l l ich mich hier mit der Wiedergabe der von beiden nicht erwähnten Definitonen des Theodoricus begnügen, der sich, wenn auch stark von Decianus beeinflußt, vor allen seinen Zeitgenossen durch das Bemühen um strenge Begriffsbestimmungen und damit um Tatbestandsbildungen auszeichnet. Theodoricus 27 definiert zunächst das Majestätsdelikt i m allgemeinen als „delictum publicum facto vel Consilio adversus supremae rei publicae statum e jus ve qui ei praestat majestatem a subditis commissum." Es folgt dann die Unterscheidung von zwei Arten des Majestätsdelikts. Die schwere Form ist die perduellio: „cum quis animo plane hostili affectus vel i n salutem principis quid machinatur vel rei publicae formam labefactare aut evertere nititur." Die leichtere Form, das simplex laesae majestatis crimen ist das sonstige „factum decus aut dignitatem principis minuens vel securitatem publicam quovis modo laedens." Mag auch insbesondere die Bezeichnung der Handlungsmodalitäten, namentlich bei der Perduellio, modernen Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit nicht genügen, so haben w i r doch m i t diesen Definitionen schon am Anfang der deutschen gemeinrechtlichen Doktrin echte Tatbestandsbildungen bei den Staatsschutzdelikten vor uns und damit ein Stadium juristischer Begriffsbestimmung erreicht, bis zu den die Verräterei auch später niemals gelangt ist. Weder bei Carpzov noch ein Jahrhundert später bei Boehmer finden w i r wesentlich andere Definitionen, wie denn überhaupt eine Fortentwicklung bei den Majestätsdelikten i n der gemeinrechtlichen Periode kaum stattgefunden hat 2 8 . Nur die ursprüng26 27 28
§ 72.
Ritter, S. 206 ff.; Schroeder, S. 29 ff. Cap. V. Aphor. I u n d I I . Vgl. Carpzov, Practica nova Qu. 41; Boehmer, Elementa Sect. I I , Cap. V.,
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liehe Todesstrafe auch für das einfache Majestätsdelikt wurde i m 18. Jahrhundert zur „poena extraordinaria" gemildert. Eine echte Entwicklung m i t der Tendenz zur Abschwächung und Strafmilderung bemerken w i r dagegen auf dem Gebiet der für die praktische Abwicklung der Majestätsprozesse entscheidend wichtigen Singularien, der w i r uns nunmehr zum Schluß noch zuwenden wollen. Bei den Singularien handelt es sich u m Abweichungen von den allgemeinen Verbrechenslehren, vor allem aber vom Strafprozeßrecht, welche die auch dem Inquisitionsprozeß eigenen Schutzvorschriften gegen nicht hinreichned abgesicherte Verfolgung und Verurteilung für den Bereich der Majestätsdelikte außer K r a f t setzten. Erst durch die Singularien wurden diese Deliktstatbestände zu jenem scharfen Schwert, m i t dem der Inhaber der Herrschergewalt ebenso wirkungsvoll wie rücksichtslos, nämlich auch auf die Gefahr hin, Unschuldige zu treffen, u m sich schlagen konnte. Diese Ausnahmeregelungen zu Lasten der Majestätsverbrecher hatten weit über ihre schon i n den römischen Quellen enthaltenen Ansätze hinaus eine weitere Ausdehnung i n dem erwähnten Edikt Heinrichs V I I . und sodann i n der italienischen spätmittelalterlichen D o k t r i n erhalten. I n ihren Einzelheiten ist diese Entwicklung noch wenig erforscht. Auch Ritter und Schroeder erwähnen i n ihren Darstellungen die Singularien nur am Rande 2 9 . Ich kann hier dazu nur einige Ergänzungen aus der deutschen gemeinrechtlichen Literatur geben i n der Hoffnung, daß dieses interessante und bis heute nicht nur historisch aktuelle Thema, i n dem sich das jeweilige Verhältnis von Staatsmacht und I n d i v i d u u m besonders klar widerspiegelt, eines Tages eine monographische strafrechtshistorische Darstellung finden möge. Die Herausarbeitung und weitere Vermehrung der Singularia durch die italienische D o k t r i n des 14. und 15. Jahrhunderts ist erklärlich aus der besonderen verfassungshistorischen Situation der italienischen Staaten des Spätmittelalters und der Frührenaissance, i n denen die A u toren als juristische Consiliatoren tätig waren. Guelfen und Ghibellinen, aristokratische und demokratische Stadtregimente und auf rücksichtslose Gewaltausübung gestützte Tyrannenherrschaften standen i n einem ständigen wechselvollen Kampf u m ihre Existenz. I n diesem Kampf gab die Verfolgung der zum Majestätsverbrecher deklarierten Gegner nur den rechtlichen Vorwand für eine Selbstbehauptung m i t allen M i t t e l n ab. Wenn die deutsche D o k t r i n sogar i m Zeitalter des aufsteigenden Absolutismus nicht alle Singularien von den Italienern 29
Ritter, S. 265 ff.; Schroeder, S. 26 f.; ferner P. Bisoukides, rat, Berlin 1903, S. 57.
Der Hochver-
Verräterei u n d M a j estätsdelikt i n der Strafrechtsdoktrin
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ü b e r n o m m e n h a t , so w o h l n u r deshalb, w e i l d i e deutschen Staatswesen des 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s n i c h t i n g l e i c h e m M a ß e i n e i n e m Z u s t a n d s t ä n d i g e r i n n e r e r u n d äußerer G e f ä h r d u n g l e b t e n . I m m e r h i n h a t m a n auch b e i u n s zunächst zahlreiche u n d w i c h t i g e S i n g u l a r i e n
rezipiert
u n d b e i b e h a l t e n , bis d a n n erst i n d e r M i t t e der g e m e i n r e c h t l i c h e n P e riode, also e t w a i n d e r Z e i t nach Carpzov,
eine W e n d u n g e i n t r a t , d i e
sowohl durch die zunehmende Konsolidierung der
Machtverhältnisse
nach d e m Westfälischen F r i e d e n w i e auch v o r a l l e m d u r c h d i e n u n m e h r einsetzenden
naturrechtlichen
und
aufklärerischen
Strömungen
be-
w i r k t sein m a g . A u s der V i e l z a h l d e r A u t o r e n j e n e r ersten Periode, d i e sich m i t d e n Singularien Carpzov
d e r M a j e s t ä t s d e l i k t e befassen, h e b e n w i r s t a t t a l l e r
nur
heraus. E r f ü h r t u n t e r B e r u f u n g a u f d i e besondere Schwere
des D e l i k t s 11 S i n g u l a r i a a n 3 0 : 1. Die Söhne können für Delikte des Vaters bestraft w e r d e n 3 1 ; 2. affectus u n d conatus können trotz Ausbleiben des Erfolges m i t der poena ordinaria bestraft werden; 3. Es w i r d , was sonst unzulässig wäre, auch der Aussage des socius c r i m i nis gegen einen anderen Tatbeteiligten Glauben geschenkt, eine Singularität, die bei anderen Autoren meist dahin verallgemeinert w i r d , daß auch die testes inhabiles zur Zeugenschaft (im Rahmen des formellen Beweisverfahrens) zugelassen sind 3 2 . 4. Eine Appellation ist beim Majestätsdelikt nicht möglich. 5. Es k a n n auch ein U r t e i l gegen einen Abwesenden ergehen. 6. Es k a n n zur Folter geschritten werden, auch w e n n die Indizien dafür bei einem anderen D e l i k t nicht ausreichen würden. 7. Auch eine universitas (Gemeinschaft) k a n n bestraft werden, was sonst unzulässig wäre, da auch Unschuldige davon betroffen werden könnten. 8. Es k a n n bei diesem D e l i k t unter Außerachtlassung aller förmlichen V e r fahrensregeln prozediert werden „summarie et de piano, sine strepitu et figura j u d i c i i " . 9. Die sonst übliche V e r j ä h r u n g nach 20 Jahren t r i t t nicht ein. 10. Während bei anderen Delikten Minderjährige, Offiziere, Doktoren u n d bestimmte sonstige Personen nicht gefoltert werden durften, so gilt das hier wegen der Schwere des Majestätsdelikts nicht. 30
Carpzov, Practica nova, Q. 41 Nr. 3 - 6 . Interessant ist, daß auch an dieser Stelle sich wieder Harpprecht, S. 353 Nr. 44 u n d 45 für eine restriktive Interpretation der römischen Quellenstellen eingesetzt hatte: „ A t t a m e n haud nobis liceret tarn graves poenas i n filios, q u i n i h i l peccaverunt constitutas interpretatione extendere atque ampliare, sed potius eas restringere et coactare deberemus." Einschränkend unter Berufung auf Clarus, Decianus u n d Harpprecht, auch Gilhausen, Cap. I I , Tit. I I Nr. 8. 32 Vgl. statt aller Theodoricus, Cap. V Aphor. V I I . 31
5 Festschrift für Werner Weber
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11. Aus dem gleichen Grunde ergeht nicht nur stets Todesstrafe, sondern es werden auch die „arma et insignia" des Täters vernichtet, sein Haus bis auf den G r u n d zerstört u n d alle seine Güter zugunsten des Fiskus eingezogen.
Carpzov erweist sich, wie so oft, auch auf diesem Gebiet als ein konservativer Überlieferer des Vergangenen, der dank seines ungeheuren Sammelfleißes und seiner darauf gegründeten Autorität den Lehren seiner Vorgänger noch für weitere Jahrzehnte Anwendung i n der Praxis sicherte. A u f diesem düsteren Hintergrund erheben sich um so leuchtender die Ausführungen seines großen Zeitgenossen, des in Deutschland geborenen, i n Utrecht wirkenden Antonius Matthaeus. Daß man ihn nach seiner Wirkungsstätte der holländischen Rechtswissenschaft zurechnen muß, ist gerade für seine Lehre vom Majestätsdelikt und den Singularien nicht unwesentlich. Denn es liegt nahe, daß i n ihr der freiheitliche Geist und die bitteren Erfahrungen seiner Wahlheimat zum Ausdruck kommen, die sich soeben erst i m Kampf gegen den spanischen Absolutismus behauptet hatte. Dieser eigenständigste und wohl bedeutendste unter den K r i m i n a l i sten des 17. Jahrhunderts war nicht nur ein großer Dogmatiker, er war auch wohl der erste, der mehr als ein halbes Jahrhundert vor Thomasius i n eindringlichen Sätzen auf die Gefahren der Folter und die Problematik des durch sie erpreßten Geständnisses hingewiesen hat. 3 3 Von derselben zugleich skeptischen und liberalen Gesinnung zeugen seine Ausführungen zu den prozessualen Singularien, deren Existenz er i m wesentlichen leugnet, weil sie entweder keine Besonderheiten der Majestätsdelikte seien oder aber, wie die Verurteilung i n absentia, die angebliche Zulässigkeit von testes inhabiles und die Behauptung, daß entweder ganz ohne Indizien oder nur auf Grund einer einzigen Zeugenaussage gefoltert werden dürfe, i m römischen Recht keine Stütze fänden. „ I n quaestionibus majestatis" sei nicht auf das Edikt Heinrichs VII., sondern auf die Justinianischen Bücher zu achten: „nec temere admittenda esse singularia, nisi certis legum capitibus adductis probentur." A u f längere Sicht hat sich die Autorität des Matthaeus gegen die des Carpzov durchgesetzt, denn das 18. Jahrhundert war wie allenthalben i m Strafrecht auch hier auf Milderung der harten Sanktionen bedacht. A u f Matthaeus beruft sich vor allem Boehmer, wenn er in seinem Lehrbuch 3 4 die Aufzählung der üblichen Singularien beschließt mit dessen 33 Vgl. dazu die beachtenswerte A r b e i t v o n Bernhard Heitsch, Beweis und Verurteilung i m Inquisitionsprozeß Benedict Carpzovs, Diss. Göttingen 1964, S. 24 f.
Verräterei und Majestätsdelikt i n der Strafrechtsdoktrin
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Lehre, daß diese Ausnahmen „nec i n legibus nec ratione iuris fundata esse"; i n seinen „Observationen" zu Carpzovs Practica führt er in einer genauen Umkehrung der Argumentation Carpzovs aus, gerade wegen der Schwere der Strafe müsse beim Majestätsdelikt besonders darauf geachtet werden, daß keinem Unschuldigen Unrecht geschehe: „Quod facillime fieri posset, si tradita Doctorum vulgaria ex vitiosis potius quam solidis iuris principiis petita locum habeant." Daher seien nur diejenigen Singularitäten anzuerkennen, die auf das Gesetz selbst gegründet seien 35 . Ähnlich wie Boehmer und meist unter Berufung auf i h n und Matthaeus äußern sich dann auch die anderen Verfasser systematischer Strafrechtstraktate i n der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, von denen hier nur noch als Beispiel Quistorp zitiert sei, der erste, der i n seinem deutsch geschriebenen Lehrbuch das Wort perduellio m i t „Hochverrath oder Staatsverrätherei" übersetzt. Als Singularia führt er auf, daß die Tortur ohne Indizien möglich sei, daß Abwesende verurteilt werden können, daß jeder den Verräter, wo er i h n treffe, töten könne, daß keine Verjährung das Verbrechen tilge. Aber i n einer Fußnote dazu heißt es dann, daß „diese Singularien, die bloß i n den Meinungen einiger Rechtslehrer ihren Grund haben, und durch Gesetz nicht bestätigt werden, billig als unstatthaft zu verwerfen" seien 36 . Immerhin glaubten dann später selbst die aufgeklärten Verfasser des Preußischen A. L. R auf eine allerdings abgeschwächte Sippenhaftung beim Hochverrat nicht verzichten zu dürfen ( I I 20 § 95), was ihnen schon damals den harten Tadel des jungen Wilhelm v. Humboldt eingetragen hat 3 7 . Manche anderen Singularien, so die Bestrafung der Vorbereitungshandlungen und der Mitwisser (in der Form der unterlassenen Verbrechensanzeige) sowie die Unzulässigkeit der Appellation, haben sich, worauf Schroeder mit Recht hingewiesen hat 3 8 , bis i n unsere liberale Gegenwart erhalten, während seither i n totalitären Herrschaftsformen, gleich welcher Farbe, fast alle Singularien des gemeinen Rechts wieder auferstanden sind. Über diesen die Gegenwart streifenden Hinweis hinaus, der uns zu zurückhaltendem Urteil mahnt, w i r d mit der Singularien-Lehre die Grenze berührt, die nach den Lehren der Geschichte zwischen Straf34
Elementa iuris criminalis Sect. I I , § 87. Observationes ad Qu. 41, Nr. 15. 36 von Quistorp, Grundsätze des deutschen peinlichen Rechts, 3. Aufl. 1783, Bd. 1 § 149 ff., § 155. 37 W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, Akademie-Ausgabe, Bd. 1, S. 210; dazu Schaff stein, Festschrift für E. R. Huber (1973) S. 134. 38 Schroeder, S. 27. 35
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rechtspflege und Staatsräson besteht. Das hat niemand klarer erkannt als der große Antonius Matthaeus. Z u den Singularien, m i t denen er sich zu befassen hatte, gehörte auch das angebliche Recht des Fürsten, die Cognition bei Majestätsverbrechen selbst an sich zu ziehen, also, u m diese Singularität m i t einem fatalen Ausdruck aus unserer jüngsten Vergangenheit zu umschreiben, unmittelbar als Oberster Gerichtsherr zu fungieren. Matthaeus lehnt das ab, bemerkt aber dazu, daß seine Ausführungen ja nur für den Richter i m Rahmen eines rechtlich geordneten Verfahrens bestimmt seien. A m Schluß des Abschnitts kommt er dann auf dies Thema noch einmal zurück mit der ebenso weisen wie skeptischen Bemerkung, mit deren Wiedergabe auch w i r unsere Betrachtungen schließen möchten: „Si princeps i n extremo sit, frustra legum auxilium expectari remque ferro ac solida v i aut qua alia ratione sine strepitu ac figura judicii expediendam esse." Beweise dafür findet der humanistisch gebildete A u tor nicht nur i n großer Zahl in der antiken Geschichte, sondern auch i n seiner jüngsten Vergangenheit. Denn wie einst Alexander dem Parme-* nion, so habe erst vor wenigen Jahren Kaiser Ferdinand II. dem Wallenstein die Mörder gesandt: „Plenae denique sunt historiae exemplorum: quorum pleraque etsi iniqua ex parte videantur, utilitate tarnen publica defenduntur, secundum i l l u d Taciti: habet aliquid ex iniquo omne magnum exemplum, quod contra singulos utilitate publica rependitur."
Zur rechtlichen Bedeutung der Amtsbücher vom 16. bis 18. Jahrhundert Von K a r l Kroeschell I. Aus der Entwicklungsgeschichte der deutschen Territorialstaaten sind A m t und Amtmann nicht hinwegzudenken. Als Verwalter sämtlicher Hoheitsrechte seines Landesherrn wurde der Amtmann, das U r b i l d modernen Beamtentums, zum wichtigsten Repräsentanten der Obrigkeit, und das feste Haus, auf dem er seit dem hohen Mittelalter seinen Sitz hatte, zum bedeutsamsten Kraftzentrum des werdenden Staates. Von diesen Amtssitzen aus wurden allmählich die Amtsbezirke gebildet, die schließlich wie ein Netz das gesamte Territorium überzogen. Grundeinheit von Verwaltung und Rechtspflege zugleich, war das A m t für Jahrhunderte ein charakteristisches Bauelement des institutionellen Flächenstaates. Erst die Reformen des 19. Jahrhunderts, insbesondere die Trennung von Justiz und Verwaltung, führten sein Ende herbei. Angesichts der außerordentlichen Bedeutung von A m t und Amtmann ist es verwunderlich genug, daß sich die Rechts- und Verfassungshistoriker nur selten m i t ihnen beschäftigt haben. Zwar gibt es eine reiche landesgeschichtliche Literatur zur Entwicklung der Ämtereinteilung, insbesondere i n den Vorarbeiten zu den historischen Atlanten der deutschen Landschaften. Eingehende Untersuchungen über Struktur und Funktion des landesherrlichen Amts fehlen jedoch bis heute 1 , und auch die Figur des Amtmanns hat bisher noch nicht das Interesse gefunden, das sie verdienen würde 2 . Nicht anders steht es mit den Amtsbüchern, den typischen Hilfsmitteln der Amtsverwaltung. Für Landeshistoriker, Heimatforscher oder Genealogen sind sie zwar unerschöpfliche Fundgruben und gehö1
Noch immer ist deshalb zu verweisen auf R. Schröder / E. Frh. v. Künßberg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte (7. Aufl. 1932), S. 663 f., u n d F. Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte (8. Aufl. 1950), S. 49 f., 79 f. 2 Eine Ausnahme bildet bisher n u r die Arbeit von C. A. Agena, Der A m t mann i m 17. u n d 18. Jh. E i n Beitrag zur Geschichte des Richter- u n d Beamtentums (Jur. Diss. Göttingen 1972).
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ren deshalb zu den meistbenutzten Quellen der Archive. Ihre rechtshistorische Bedeutung hingegen ist so gut wie unerforscht. Auch die nachfolgende kleine Skizze vermag an dieser Lage kaum etwas zu ändern. Einmal befaßt sie sich nur m i t einem — freilich nicht unwichtigen — Teilaspekt, nämlich m i t der Urkundenqualität und damit der Beweiskraft der Amtsbücher. Zum anderen verdankt sie ihre Entstehung nicht allein dem wissenschaftlichen Interesse des Rechtshistorikers, sondern zugleich und vor allem einem praktischen Anlaß, nämlich einem Prozeß, der i n den Jahren 1969 - 1972 die niedersächsischen Gerichte beschäftigte. Gerade dieser konkrete Fall m i t seinen besonderen Umständen und seiner Vorgeschichte läßt aber das Problem der rechtlichen Bedeutung der Amtsbücher so klar hervortreten, daß auch die folgenden Darlegungen von i h m ausgehen sollen. I m Anschluß an die Schilderung des Ausgangsfalles (II) ist die geschichtliche Rolle der Amtsbücher, vor allem ihres wichtigsten Typus, der Salbücher oder Lagerbücher, zu umreißen (III). M i t Hilfe der zeitgenössischen Literatur soll dann die Frage der Beweiskraft der Amtsbücher erörtert werden (IV). Sie hängt, wie sich zeigen wird, von der A r t und Weise ihrer Errichtung ab, die deshalb näher betrachtet werden soll (V). Die Ergebnisse dieser Überlegungen sollen daraufhin noch einmal an dem Ausgangsfall überprüft werden (VI). Eine kurze Schlußbemerkung (VII) versucht die Aufgaben der weiteren Forschung zu formulieren. II. Bei dem niedersächsischen Landgericht i n Verden erhob der Mechaniker Erich Drebbermüller i m Dezember 1969 gegen das Land Niedersachsen Klage auf Feststellung des Bestehens eines ausschließlichen Fischereirechts, das zwischen i h m und dem Lande streitig war. Der Kläger war Eigentümer der Hofstelle Jacobidrebber Nr. 55, auf welcher seit dem Mittelalter m i t dem Wasser der vorbeifließenden Hunte eine Mühle, die Drebbermühle, betrieben worden war, deren Betrieb erst infolge der Hunteregulierung zwischen den beiden Weltkriegen eingestellt wurde. I n dem nach dem preußischen Wassergesetz von 1913 angelegten Wasserbuch der Hunte, Bd. I I Abt. D, lfd. Nr. 8, war zugunsten des Eigentümers dieser Hofstelle folgendes Fischereirecht eingetragen: Dem Jagd- u n d Reitemeier August Drebbermüller auf Drebbermühle, Gemeinde Jacobidrebber, steht auf G r u n d der Rechtsvermutung nach § 8 Abs. 2 des Fischereigesetzes v o m 11. M a i 1916 u n d nach Maßgabe der auf Grund des § 188 Abs. 1 des Wassergesetzes v o m 7. 4.1913 erfolgten amtlichen Bekanntmachung das Recht zu, die ausschließliche Fischerei m i t allen gesetzlich
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zulässigen Fangmitteln i n dem K o l k der Hengemühle abwärts bis zum K o l k der Drebbermühle einschließlich innerhalb der Gemeinden Heede, Aschen, Jacobidrebber u n d Mariendrebber auszuüben.
Gegen dieses Fischereirecht waren i m Wasserbuch Widersprüche eingetragen. I m Zusammenhang m i t der Anlage eines neuen Wasserbuches auf Grund des Niedersächsischen Wassergesetzes vom 7. J u l i 1960 wurde dieses Fischereirecht unter Anpassung seiner Beschreibung an die durch die Hunteregulierung verändern örtlichen Verhältnisse am 15. A p r i l 1965 i m Wasserbuch des Niederschlagsgebietes Nr. 71 (Hunte), Blatt L 39, folgendermaßen eingetragen: H e r r n Erich Drebbermüller i n Jacobidrebber Nr. 55 steht auf G r u n d der Hechtsvermutung nach § 8 Abs. 2 des Fischereigesetzes v o m 11. 5.1916 u n d nach Maßgabe der auf G r u n d des § 188 Abs. 1 des Preußischen Wassergesetzes v o m 7.4.1913 erfolgten amtlichen Bekanntmachung das Recht zu, die ausschließliche Fischerei m i t allen gesetzlich zulässigen Fangmitteln i n der Hunte von 150 Meter unterhalb des Stauwehres I, Hengemühle, bis 300 Meter oberhalb der Huntebrücke bei Jacobidrebber/Mariendrebber i m Zuge der Kreisstraße 30 Drebber-Aschen auszuüben.
Diese veränderte Beschreibung des Rechtes beruht darauf, daß durch die Huntebegradigung die Mühlenkolke sowohl der Hengemühle als auch der Drebbermühle vom Flußlauf abgeschnitten und zu Binnengewässern gemacht wurden. Auch gegen diese neue Eintragung wurden Widersprüche eingetragen, und zwar insbesondere zugunsten des Domänenfiskus, welcher i n der i n Betracht kommenden Strecke des Huntelaufes selbst das alleinige Fischereirecht i n Anspruch nimmt. Da sich das Land Niedersachsen weigerte, eine Löschung dieses Widerspruches zu bewilligen, erhob der Drebbermüller schließlich Feststellungsklage mit dem Antrage, das Bestehen des für ihn i m Wasserbuch eingetragenen Fischereirechts festzustellen. Zur Begründung ließ er u. a. vortragen, daß das von i h m i n Anspruch genommene Fischereirecht den Inhabern der Drebbermühle vermutlich von den Ende des 16. Jh. ausgestorbenen Grafen von Diepholz verliehen worden sei und legte zum Beweise dafür, daß dieses Recht bereits i m 17. Jh. bestanden habe, zwei amtliche Auszüge aus dem „Amts-Diepholzschen Lagerbuche de Anno 1670" vor, i n welchen das Fischereirecht folgendermaßen beschrieben w i r d : H a t die Fißkerey und Ahlfang bis an des Hengelmüllers K o l k privative.
Das Lagerbuch sei ein amtliches Register, eine A r t Grundbuch gewesen, i n das nur solche Eigentums- und sonstige Rechte sowie Verpflichtungen eingetragen worden seien, deren Existenz entweder nachgewie-
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sen oder aber amtlich bekannt und anerkannt war. Die beiden vorgelegten „Extrakte" seien als amtlich gefertigte und beglaubigte Auszüge aus dem Lagerbuch öffentliche Urkunden und begründeten damit vollen Beweis des darin bezeugten Inhaltes. Das beklagte Land Niedersachsen bestritt die Beweiskraft der vorgelegten Auszüge und den Charakter des Lagerbuches als eines amtlichen Registers. Das Landgericht Verden erbat daraufhin ein rechtshistorisches Gutachten über die folgenden Fragen: Welche Bedeutung hatte das „ A m t s Diepholzsche Lagerbuch de Anno 1670"? War es insbesondere ein amtliches Register, i n das n u r solche Eigentumsu n d sonstige Rechte sowie Verpflichtungen eingetragen wurden, die vorher nachgewiesen oder amtlich bekannt u n d anerkannt waren? Wurden auch streitige Rechte aufgenommen; wenn ja, wurde ein Widerspruch oder etwas Ähnliches bei dem streitigen Recht vermerkt? Oder beruhten die Eintragungen auf ungeprüften Angaben der angeblich Berechtigten?
Die Erstattung dieses Gutachtens machte wiederholte Nachforschungen i m Staatsarchiv Hannover erforderlich, bei denen sich ergab, daß das Original des „Lagerbuches der früheren Vogtei Drebber" von 1652 (nicht 1670, wie i n den Extrakten angegeben) dort noch vorhanden ist 3 . Es enthält auf Seite 1571 tatsächlich den in den Auszügen mitgeteilten Eintrag über das ausschließliche Fischereirecht des Drebbermüllers bis an den Mühlenkolk der Hengemühle. Außerdem fand sich i n Hannover aber auch noch ein älteres Lagerbuch, das „Schloßbuch der Vogtei Drebber" von 15704. Dieses Amtsbuch enthält (in Bd. I, Blatt 106 verso) gleichfalls einen Vermerk über das Fischereirecht des Drebbermüllers, welcher lautet: gif f t den heren alle jare 15 Ale (am Rande von gleicher H a n d ergänzt): davor vordedingeth he de Hunte, so viele der Vyscherie belangen thuet, bys an de Hopenspeckenn, darinne darff keimants anders vischen m i t h geinerlei Instrumente.
Erschien das bestrittene Fischereirecht nach alledem i n den Amtsbüchern wohlbezeugt, so vermittelten doch andere Quellen geradezu den entgegengesetzten Eindruck. I m Staatsarchiv Hannover fanden sich nämlich Akten über einen Prozeß, den der Drebbermüller i n den Jahren 1766 -1769 auf Grund seines angeblichen ausschließlichen Fischereirechts gegen Johann Heinrich Ridder aus Aschen führte, der s 4
Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 74 Diepholz I C Nr. 10. Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 74 Diepholz I C Nr. 3.
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ohne seine Erlaubnis i n der Hunte gefischt hatte 5 . Diesen Prozeß aber hatte der Drebbermüller nicht, wie man nun erwarten würde, gewonnen, sondern verloren! Und was noch mehr ist: ein Diepholzer Oberamtmann des 18. Jh. weiß i n seiner großen Amtsbeschreibung des Amtes Diepholz, i n der er über diesen Prozeß nach den A k t e n eingehend referiert, sogar zu berichten, der Drebbermüller habe „sich bei diesem Erkenntnis beruhiget" 6 ! Angesichts dieses widerspruchsvollen Quellenbefundes war es erforderlich, die Frage nach dem rechtlichen Charakter und der Beweiskraft von Amtsbüchern nicht nur i m Hinblick auf die beiden Diepholzer Lagerbücher von 1570 und 1652 zu stellen. Die Quellengattung der Amtsbücher mußte vielmehr i m Zusammenhang betrachtet werden, um eine zutreffende Würdigung zu ermöglichen.
III. 1. Unter Amtsbüchern versteht die historische Hilfswissenschaft der Quellenkunde i n einem weiteren Sinne alle diejenigen Verwaltungsakten, die i n Buchform angelegt und geführt wurden 7 . Dabei fanden i n der neueren Forschung vor allem diejenigen Bücher Beachtung, die i n den landesfürstlichen Verwaltungszentren seit dem 14. Jh. geschaffen wurden, also Urbarien wie das große, von Kaiser K a r l IV. angelegte „Landbuch der Mark Brandenburg" von 1375, aber auch Lehenbücher, Urkundenregister und endlich Kopiare, i n denen alle urkundlichen Rechtstitel des Landesherrn abschriftlich zusammengefaßt waren 8 . Es ist gewiß richtig, daß die Anlage solcher Bücher kennzeichnend ist für eine bestimmte Entwicklungsstufe der deutschen Territorien — nicht anders als Jahrhunderte zuvor die Urbare oder Kopiare der klösterlichen Grundherrschaften. Alle derartigen Bücher als „Amtsbücher" zu bezeichnen, verdunkelt jedoch mehr als es erhellt. Dies zeigt sich am deutlichsten bei den sog. „städtischen Amtsbüchern", also der Quellengruppe, für die i n der Rechtsgeschichte seit langem die
5 Hauptstaatsarchiv Hannover, A k t e n betr. die Fischereigerechtigkeit der Drebbermühle (Hann. 74 Diepholz V I I I Β 6, c Nr. 10). 6 Hauptstaatsarchiv Hannover, Die v o m weil. Oberamtmann Partz gesammelte . . . Registratur u n d andere Nachrichten zur Kenntnis der Beschaffenheit und Verfassung des Amtes Diepholz von 1783, (Hann. 74 Diepholz I C Nr. 19) Bd. I I § 515 „Fischerei des Drebbermüllers", S. 263 - 265. 7 A. v. Brandt, Werkzeug des Historikers (Urban-Buch Nr. 33, 1958), S. 128. 8 Vgl. H. Patze, Neue Typen des Geschäftsschriftgutes i m 14. Jh., i n : Der deutsche Territorialstaat i m 14. Jh., Bd. I (Vorträge und Forschungen X I I I , 1970) bes. S. 27 - 53.
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Bezeichnung „Stadtbücher" üblich ist 9 . Aus dem umfassenden städtischen „Liber memorialis" erwuchsen nämlich durch fortschreitende Spezialisierung die wichtigsten Stadtbücher überhaupt, die Erbebücher oder Grundbücher. Gerade sie entziehen sich aber infolge der konstitutiven Wirkung des Bucheintrags der geläufigen Definition der Amtsbücher, denn sie sind nicht mehr buchförmige Akten, sondern Urkunden 1 0 . Es empfiehlt sich deshalb ein weniger allgemeiner Sprachgebrauch. Unter Amtsbüchern könnte man dann diejenigen Bücher verstehen, welche seit dem ausgehenden Mittelalter beim „ A m t " als dem typischen Lokalverwaltungsbezirk der meisten deutschen Territorien als Verwaltungshilfsmittel angelegt wurden 1 1 . Freilich umfaßt auch dieser Begriff des Amtsbuchs noch eine ganze Anzahl verschiedenartiger Aufzeichnungen, deren Inhalt den mannigfaltigen Kompetenzen des A m t manns entsprach. Diesem oblag innerhalb seines Amtsbezirkes die Wahrnehmung und Verwaltung sämtlicher landesherrlicher Gerechtsame. Dazu gehörten insbesondere die Einnahmen, die dem Landesherrn als Grundherrn von den auf seinem Boden wirtschaftenden Bauern zu zahlen waren, ferner die Erhebung von Steuern und Zehnten, die Aufforderung zu Hand- und Spanndiensten und die Einberufung der wehrfähigen Mannschaft zur Verteidigung und zur Verfolgung von Verbrechern. M i t der allgemeinen Wahrung des Friedens betraut, erlangte der Amtmann auch Vorsitz oder Aufsicht in den dem Landesherrn unterstehenden Gerichten und zog den Großteil der unteren Gerichtsbarkeit endlich ganz an sich, so daß Verwaltung und Gerichtsbarkeit i n seiner Hand vereinigt waren 1 2 .
9 Vgl. hierzu Patze, S. 54 - 58, der sich gegenüber dem Begriff „Stadtbuch" kritisch äußert. F ü r eine Beibehaltung dieses Terminus dagegen K . Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte 2 (rororo-studium 9, 1973), S. 60 ff.; dort auch die grundlegende Literatur. 10 Entsprechend trennte bereits O. Redlich, Die Privaturkunden des M i t telalters (1909) die landesfürstlichen Amtsbücher (S. 165 ff.) von den „ p r i v a t rechtlichen Stadtbüchern", die er unter die städtischen Urkunden (S. 181 ff.) einreihte. Z u den Grundbüchern neuerdings H. Nehlsen, A r t . Grundbuch, i n : Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte I (1971), Sp. 1817 - 1821. 11 Z u diesem Sprachgebrauch von „Amtsbuch" vgl. Deutsches Rechtswörterbuch I (1914- 1932), Sp. 561. Ferner P. M. Wehner, Practicae Juris Observ a t i o n s , ed. J. Schilter (Straßburg 1701), S. 15: „Amptsbücher . . . Scripturae et l i b r i officialium publicorum". 12 Vgl. hierzu die eingehende Darstellung der Aufgaben des Amtmanns bei Agena, S. 30 - 142. Über die Aufgaben von A m t m a n n und Amtsschreiber i n den weifischen Landen vgl. E. von Meier, Hannoversche Verfassungs- u n d Verwaltungsgeschichte I I (1899), S. 311 ff.
Z u r rechtlichen Bedeutung der Amtsbücher v o m 16. bis 18. Jahrhundert
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Entsprechend konnten daher die Amtsbücher einen ganz unterschiedlichen Zweck und Inhalt haben 13 . I n Mannschaftsregistern verzeichnete man etwa die wehrfähige Mannschaft 14 , i n Kontributions- oder Schatzregistern die steuerpflichtigen Personen oder Ländereien 15 , und i n Zehntregistern die geschuldeten Zehntleistungen und die Grundstücke, auf denen die Leistungspflicht lastete. Die wichtigsten Amtsbücher waren jedoch diejenigen, welche die aus der landesherrlichen Grundherrschaft herrührenden Einkünfte verzeichneten. Die Amtsbücher dieser Gruppe begegnen unter den verschiedensten Namen, von denen Salbuch, Erbbuch, Erbregister und Lagerbuch die häufigsten sind. Gerade sie heißen jedoch nicht selten auch einfach „Amtsbücher" 1 6 . Inhaltlich sind sie durch eine Verbindung zweier Elemente gekennzeichnet: Sie geben einmal eine mehr oder weniger eingehende Beschreibung des abgabepflichtigen Grundbesitzes und sind damit die Vorläufer der Kataster, welche zumeist erst i m 18. Jh. auf der Grundlage einer durchgängigen Landesvermessung errichtet wurden. Zum anderen boten diese Amtsbücher ein möglichst genaues Verzeichnis der von dem Grundbesitz zu erbringenden Leistungen. Endlich fanden aber auch die Rechte fremder Grund-, Gerichts- oder Zehntherrschaften Erwähnung, sofern sie für das Verhältnis zwischen dem Landesherrn und dem auf seinem Grunde sitzenden Bauern von Bedeutung
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Eine vortreffliche Gesamtübersicht über alle diese Amtsbücher gibt es neuerdings für das Hochstift Hildesheim: M. Hamann, Wirtschafts- u n d sozialgeschichtlich auswertbare Archivaliengruppen für den Raum des Hochstifts Hildesheim. Schatzregister — Erbregister — L a n d - u n d Personenbeschreibungen — Vermessungswesen, i n : Niedersächs. Jb. f. Landesgesch. 43 (1971), S. 1 - 36. 14 E i n Beispiel hierfür ist das „Hessische Mannschaftsregister von 1639", hrsg. von ff. Mübradt (1959). 15 Beispiele hierfür sind aus den weifischen Territorien: Das Schatzregister der Großvogtei Celle von 1438, hrsg. v. R. Grieser (Quellen u. Darst. z. Gesch. Niedersachsens 41, 1934); Schatz- u n d Zinsverzeichnisse des 15. Jh., hrsg. v. R. Grieser (ebd. 50, 1942); Winsener Schatzregister von 1450, hrsg. v. P. Meyer (1891). E i n späteres Gegenstück ist die „Kopfsteuerbeschreibung der Fürstentümer Calenberg-Göttingen u n d Grubenhagen von 1689", hrsg. v. M. Bur chard u n d ff. Mundhenke, Bd. I - X I (1943 - 1969). 16 Vgl. J. A. Hellfeld, Repertorium reale practicum I (Jena 1753), S. 192: „Ampts-Bücher werden die bey einem A m p t sich findende öffentliche Schriften genennet, i n welchen die Herrschaftlichen Gefalle, Lagen der Güther, Landwehre etc. pflichtmäßig eingezeichnet und insonderheit die Besitzer u n d Eigenthums-Herren jedes Stückes Güther angemerket zu finden".
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waren. Aus den Amtsbüchern vom Typ des Lagerbuchs oder Salbuchs konnte daher eine nahezu vollständige Amtsbeschreibung erwachsen 17 . Aufgabe dieser Bücher war es demnach nicht, den Erwerb oder Verlust von Rechten oder die Entstehung und den Untergang von Verpflichtungen i m Privatrechtsverkehr zu verlautbaren. Den Eintragungen kam deshalb, anders als bei den städtischen Grundbüchern, i m rechtsgeschäftlichen Verkehr keine konstitutive Wirkung zu. Vielmehr waren die Amtsbücher ausschließlich dazu bestimmt, für die Verwaltung der landesherrlichen Gerechtsame innerhalb des Amtes eine zuverlässige Grundlage zu bieten. 2. Diese vorläufige Charakterisierung der Amtsbücher findet ihre Stütze i n dem, was man über das Aufkommen und die historische Rolle dieser speziellen Form von Verwaltungsschriftgut bisher weiß. Die Anfänge der Amtsbücher liegen i m ausgehenden Mittelalter; i m 16. Jh. erleben sie i n allen wichtigen deutschen Territorien eine erste Blütezeit, um i m 17. Jh. immer weiter ausgebaut und verfeinert zu werden. So läßt sich an ihnen geradezu ablesen, wie die Verwaltung der deutschen Territorialstaaten auf der Ebene der Ämter zu immer größerer Gleichmäßigkeit und Stetigkeit fortschreitet. Mittelalterliche Vorläufer der Amtsbücher vom Typus des Lagerbuchs oder Salbuchs waren die Urbarien der Grundherrschaften, welche bei den geistlichen Grundherrschaften auf einer bis i n die Karolingerzeit zurückreichenden Tradition beruhten 1 8 . Wegen des Mangels an 17
Bei P. M. Wehner, Practicae Juris Observationes ed. J. Schilter (Straßburg 1701), S. 15, werden für ein solches Amtsbuch die folgenden R u b r i k e n vorgeschlagen: 1) A n k u n f t , 2) Eingehörige Dorf fer, 3) Geistliche Jurisdiction, 4) Landgericht, 5) Gelayd, 6) Gülten-Zoll, K l e i n - u n d Weg-Zoll, 7) Forst, W a l d u n d gemeine Höltzer, 8) Wildbann, Vogelherd, u n d k l e i n Weidwerks Gerechtigkeit, 9) Vogteyliche Obrigkeit, 10) Einzuggeldt, 11) Nachsteuer, 12) Volgen, Reysen, 13) Beth und Steuer, 14) Türcken-Anlag u n d gemeine Landschatzung, 15) Frohn und Dienst, 16) Atzung u n d Läger, 17) Verspruch, Schutzgeldt, Schutzkorn, Weitz u n d Habern, 18) Schenckstadt, Schenkrecht, 19) Bannwein, Kirchweyhwein, 20) Ungeldt, 21) Zehend, 22) Zins, Gült, Lehnschaft, Besthaubt, Handlohn, Wein-Zins, bekandt-Pfennig, 23) See, Fischwasser u n d gemeine Bäch, 24) Schäfereyen, 25) Leibeigenschaft, 26) Angießung, Besichtigung, Maß, Elen und Gewicht, 27) Mühlordnung i m A m p t , 28) Scholler, 29) Sauschneider i m A m p t , 30) Stadt-, Dorf-, Etter-, M a h l - oder Helffgericht, 31) Bestellung gemeiner Dorffsampter, oder Annemung der Diener, 32) Dorfsgemein, gemeine Höltzer, 33) Gemein-Einkommens an Zinß, Gülten u n d anderem, 34) Gemeine Rieth u n d Wasen, 35) Gemeine See u n d Fischwasser, 36) A n h ö r u n g Gotteshauß- und gemeine Rechnung, 37) Gemeind-Häuser, 38) Marckung, 39) Trieb, 40) Erhaltung, Weg u n d Stege. 18 Z u den Urbaren vgl. den Forschungsbericht von H. Ott, Probleme u n d Stand der Urbarinterpretation, i n : Zeitschr. für Agrargesch. u. Agrarsoziologie 18 (1970), S. 159 ff.
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schriftkundigen Personen i n der Verwaltung weltlicher Herrschaften setzen die Besitz- und Einkünfteverzeichnisse hier erst wesentlich später ein. Ein berühmtes frühes Beispiel ist das habsburgische Urbar von 1303/1308, welches Grundbesitz und Einkünfte der Habsburger in ihren schweizerischen Stammlanden verzeichnet. Das gleiche 14. Jh. bringt aber bereits Beispiele dafür, daß diese Technik der Aufzeichnung i n den Dienst der sich allmählich konsolidierenden Territorialstaaten gestellt wurde. War das meißnische Registrum der Jahre 1349/1350 noch eine Sammlung einzelner Lehnsverzeichnisse, Steuer- und Einnahmeregister sowie sonstiger Urkunden gewesen, so handelte es sich bei dem „Landbuch der Mark Brandenburg", welches Kaiser K a r l IV. 1375 für die damals seinem luxemburgischen Hause unterstehende Kurmark anlegen ließ, bereits u m ein systematisches Generalurbar, welches A m t für A m t und Dorf für Dorf nach einem genauen Fragenkatalog die Besitzungen, Rechte und Einkünfte verzeichnete 19 . Solche großen Werke blieben allerdings zunächst vereinzelt. Dafür läßt sich aber i m Verlauf des 14. und 15. Jh. eine ständige Zunahme der für einzelne Ämter angelegten Amtsbücher feststellen. Ein qualitativer Unterschied gegenüber den entsprechenden älteren grundherrschaftlichen Aufzeichnungen ist daran abzulesen, daß es i n diesen Salbüchern oder Lagerbüchern immer mehr darum geht, die Einkünfte aus dem landesherrlichen Grundbesitz i n den Dienst einer Territorialhoheit zu stellen, welche sich auch über andere Grundherren und Gerichtsherren erstreckt. Einzelne Territorien sollten sich hierbei als vorbildlich für viele andere erweisen, insbesondere das Herzogtum Württemberg und die Landgrafschaft Hessen. I n Württemberg waren bereits 1370 bis 1380 umfangreiche landesherrliche Urbaraufzeichnungen veranlaßt worden. A u f ihrer Grundlage kam es i n der Zeit der Vertreibung des Herzogs Ulrich, als das Land unter österreichischer Herrschaft stand, zu einer umfassenden Neuverzeichnung der landesherrlichen Besitzungen und Rechte i n den Jahren 1520 - 153420. Insbesondere der tüchtige Herzog Christoph (seit 1550) hat auf dieser Grundlage aufbauen können. Das württembergische Beispiel war möglicherweise auch für die Entwicklung i n Hessen maßgebend. Auch hier gab es zwar seit dem 14. Jh. sorgfältig angelegte Salbücher 21 . Erst unter Landgraf Philipp dem 19 Vgl. zu diesen großen landesherrlichen Urbarien die oben Anm. 8 genannte Studie von H. Patze. 20 Vgl. hierzu: Altwürttembergische Lagerbücher aus der österreichischen Zeit 1520- 1534, T e i l I (Veröff. d. Komm. f. geschichtl. Landeskunde i n Baden-Württemberg, Reihe A, 1. Bd. 1958).
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Großmütigen aber, dem Verbündeten des Herzogs Ulrich, der diesem i m Jahre 1534 half, sein Herzogtum zurückzugewinnen, kam es auch i n Hessen zu einem großen Versuch, die landesherrlichen Besitzungen und Rechte i n gleichmäßig angelegten Salbüchern verzeichnen zu lassen 22 . Vollendet wurde dieses Unternehmen allerdings erst unter Philipps tüchtigem Sohn Wilhelm IV., i n dessen Regierungszeit (1567 - 1592) nicht weniger als 70 Salbücher angelegt wurden — ein Werk, welches 1585 in der für ihre Zeit einzigartigen Gesamtstatistik des „ ö k o n o m i schen Staats" ihren Abschluß fand 2 3 . Das württembergische und hessische Vorbild fand jedoch auch i m nördlichen Deutschland Nachfolge. Auch hier hatte es freilich an A u f zeichnungen vom Typ des Urbars, Salbuchs oder Registers nicht gefehlt. Es sei lediglich auf das oldenburgische Salbuch von 1428/50 oder auf das erzbischöflich-bremische Register des Amtes Bremervörde von 1500 hingewiesen 24 . Aus den weifischen Territorien weiß man freilich vor dem 16. Jh. über derartige Amtsbücher nichts. Dann allerdings erscheinen sie beinahe gleichzeitig i n drei von den vier Teilfürstentümern. I m wolfenbüttelschen Herzogtum entstanden 1524 die Erbregister der Ämter Bilderlahe und Gandersheim, das grubenhagensche A m t Katlenburg erhielt 1525 ein Lagerbuch, und i m calenbergischen Landesteil wurde 1534 ein Lagerbuch für das A m t Lauenstein errichtet 2 5 . I m Fürstentum Lüneburg scheint man zunächst nichts derartiges unternommen zu haben. Ohnehin ist nur i n einem der weifischen Territorien aus diesen Ansätzen ein funktionierendes Amtsbuchwesen entwickelt worden, nämlich i m Herzogtum Wolfenbüttel. Herzog Heinrich der Jüngere, unter dessen Regierung schon die beiden Erbregister von 1524 entstanden waren, scheint bewußt das württembergische Vorbild aufgegriffen 21
Vgl. das Marburger Salbuch von 1374, hrsg. v. F. Küch, i n : Z H G 39 (1905), S. 145 ff.; Ziegenberger Salbuch von 1456, hrsg. v. K . H. Eckhardt (Germanenrechte NF., Deutschrechtliches Archiv, H. 6, 1957). 22 Die hessischen Salbücher sind vorzüglich inventarisiert i n : Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Marburg, Hauptabt. I I I Amtsbücher, 4. Salbücher (S) 1360 - 1805, bearb. v. K . E. Demandt (1969). 23 Vgl. hierzu L. Zimmermann, Der „ökonomische Staat" Landgraf W i l helms IV., I. Bd. Der hessische Territorialstaat i m Jahrhundert der Reformation (Veröff. d. hist. K o m m . f. Hessen u n d Waldeck X V I I 1, 1933, S. 113 ff., 134. 24 Oldenburger Salbuch u m 1428/50, hrsg. v. H. Lübbing (Oldenburger Geschichtsquellen 4, 1965); Das Vöhrder Register . . . 1500, hrsg. v. W. v. Hodenberg (Bremer Geschichtsquellen 2, 1856). 25 Vgl. die Angaben i n der oben, A n m . 13, zitierten Studie von Hamann, S. 7.
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zu haben 26 , als er i m Jahre 1541 die durchgängige Anlage von „Erbhufenregistern" anordnete. Als Ergebnis dieser Weisung liegt aus den Jahren 1547 und 1548 eine ganze Serie solcher Amtsbücher vor, und zwar sowohl aus dem alten wolfenbüttelschen Gebiet wie aus dem wolfenbüttelschen A n t e i l am sog. „Großen Stift" Hildesheim 2 7 . I n gewissen Abständen wurden diese ersten umfassenden Erbregister „renoviert", also durch Neubearbeitungen ersetzt. Dies geschah i n den Jahren 1566/67 und noch einmal i n den Jahren von 1577/78 an. Die letztgenannte Serie von Erbregistern erfaßte auch schon einige Ämter des 1584 m i t Wolfenbüttel vereinigten Herzogtums Calenberg; sie wurde i n den Jahren 1593 - 1595 durch die Erfassung weiterer Ämter i n Calenberg und i m calenbergischen Anteil am „Großen Stift" abgerundet 2 8 . Inzwischen waren auch die lüneburgischen Weifen dem Beispiel ihrer Vettern i n Wolfenbüttel gefolgt — allerdings noch nicht für ihr eigentliches Stammgebiet. Zuerst war es die Grafschaft Diepholz, wo die lüneburgische vormundschaftliche Regierung seit 1560 die Anlage von Amtsbüchern veranlaßte. Zu ihnen gehört auch das 1570 errichtete Lagerbuch oder „Schloßbuch" für die Vogtei Drebber. Als 1582 die Grafschaft Hoya lüneburgisch wurde, begann man auch hier mit der Anlage von Lagerbüchern. I m Fürstentum Lüneburg selbst wurden erst i n den Jahren 1664 - 1671 Lagerbücher errichtet — zu einer Zeit also, als man anderswo schon zu neuen Formen überging 2 9 . Dieser großen Serie der lüneburgischen Lagerbücher gingen die erneuerten Lagerbücher der seit 1585 gleichfalls lüneburgischen Grafschaft Diepholz u m ein gutes Jahrzehnt vorauf. So entstand schon 1652 das zweite Lager26
Dies ist die Vermutung von E. Pitz, Landeskulturtechnik, Markscheideund Vermessungwesen i m Herzogtum Braunschweig bis zum Ende des 18. Jh. (Veröff. d. Niedersächs. A r c h i v v e r w a l t u n g 23, 1967), S. 41 ff. 27 I n der Hildesheimer Stiftsfehde verlor der Bischof von Hildesheim 1523 den größeren Teil seines Territoriums an die weifischen Herzöge von Calenberg u n d Wolfenbüttel, i h m verblieb damals n u r das sog. „ K l e i n e Stift". A u f G r u n d eines Urteils des Reichshof rats mußte dem Bischof jedoch 1643 das „Große S t i f t " wieder zurückgegeben werden. 28 Vgl. hierzu vorerst die Angaben bei Pitz, S. 42 u n d Hamann, S. 12. F ü r die Einzelbelege ist k ü n f t i g heranzuziehen: Quellen zur Hof- u n d Familienforschung i m Niedersächs. Hauptstaatsarchiv Hannover, bearb. v. M. Hamann u. a. (Veröff. d. Niedersächs. Archivverwaltung 34, erscheint 1974). Dank dem Entgegenkommen von H e r r n Oberarchivrat Dr. Hamann konnte ich diese nach Ä m t e r n gegliederte Übersicht bereits nach den K o r r e k t u r e n bzw. i m Manuskript benutzen. — Die Erbregister des wolfenbüttelschen Kerngebiets befinden sich freilich i m Staatsarchiv Wolfenbüttel; vgl. Übersicht über die Bestände des Niedersächs. Staatsarchivs i n Wolfenbüttel, bearb. v. H. Kleinau, T e i l I (Veröff. d. Niedersächs. A r c h i v v e r w a l t u n g Heft 17, 1963), S. 71 ff. 29 Vgl. hierzu die oben Anm. 13 zitierte Studie von Hamann, bes. S. 13 f.
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buch der Vogtei Drebber. Das dritte derartige Werk, nach der ersten durchgehenden Vermessung 1710-1714 errichtet, hat bereits den Charakter eines bloßen Katasters und zeigt damit an, daß die Zeit der Amtsbücher vom Typus des Salbuchs, Lagerbuchs oder Erbregisters in den weifischen Ländern vorbei w a r 8 0 . Entstanden sind diese Amtsbücher also vor allem i m 16. und 17. Jahrhundert. Dennoch waren sie auch i n der Folgezeit noch lange ein unentbehrliches Hilfsmittel für Verwaltung und Rechtspflege i n den Ämtern. Nach der zusammenfassenden Charakterisierung i n einem Anleitungsbuche der Z e i t 3 1 war es ihr Zweck, „herrschaftlichen Offiziaten, Räthen, Beamten, Verwaltern etc. zur N o r m der Verwaltung, J u d i k a t u r u n d Verfügung zu dienen, die darinn beschriebenen herrschaftlichen Gerechtsame auf ewige Zeiten i m Andenken zu erhalten u n d daraus erforderlichen Falls einen augenblicklichen rechtsgültigen Beweis darlegen zu können."
Der letztgenannte Zweck der Lagerbücher soll uns nun näher beschäftigen. IV. I n der Zeit vor der Einführung einer freien Beweiswürdigung war die Beweiswirkung der einzelnen Beweismittel: des Parteieides, der Zeugenaussagen und der Urkunde, wesentlich strenger fixiert als gegenwärtig 3 2 . Auch die Beweiskraft der Amtsbücher als öffentlicher Urkunden wurde daher i m Schrifttum vor allem i m 17. und 18. Jh. lebhaft erörtert. Erst i m 19. Jh. verlor dieses Thema an Bedeutung, weil die Amtsbücher allmählich abkamen und die Neuordnung vieler Rechtsverhältnisse die Fälle seltener werden ließ, i n welchen sich eine Partei auf ein Amtsbuch berief. Ein auf höchstrichterlichen Urteilen beruhendes einflußreiches hannoversches Sammelwerk faßte das Ergebnis der älteren Diskussion folgendermaßen zusammen: I n den Lagerbüchern, welche h i n und wieder auch Urbarien, Erbbücher, Erbregister, Saalbücher usw. genannt werden, sind nicht bloß die Gefälle, Dienste, Zinsen, Zehnten usf., welche die Untertanen zu entrichten haben, 30 Auch für Diepholz, Hoya und Lüneburg ist wegen der Einzelbelege auf die demnächst erscheinende Quellenübersicht aus dem Hauptstaatsarchiv Hannover (oben Anm. 28) zu verweisen. 31 F. J. Bodmann, Praktischer E n t w u r f eines gründlichen und vollständigen Amtsjurisdiktionalbuches (Nürnberg 1796), S. 6. 32 Klassische Gesamtdarstellung hierzu: G. W. Wetzell, System des ordentlichen Civilprozesses (3. Aufl. 1878), S. 176 ff., zum Urkundenbeweis, S. 220 ff.
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sondern auch die Hechte, Befugnisse u n d Freiheiten derselben verzeichnet. Nach ihrem Zwecke u n d ihrer Errichtung werden sie sowohl zum Vorteil u n d Nutzen der Herrschaft als der Untertanen errichtet. Sie sind daher gemeinschaftliche U r k u n d e n ; sie machen einen T e i l der Gerichtsregistratur aus; verdienen als öffentliche Urkunden, w e n n sie auf legale A r t verfaßt sind, vollen Glauben, u n d müssen auf Verlangen der Untertanen, „sub fide j u r a m e n t i " edirt werden 3 3 . N o c h k ü r z e r h e i ß t es a n a n d e r e r S t e l l e i n diesem W e r k : Daß die Erbregister, Saal- u n d Lagerbücher, w e n n sie die rechtlichen Eigenschaften haben, beweistüchtig sind und Glauben verdienen, ist nicht zweifelhaft 3 4 . E n t s p r e c h e n d h a t t e schon e i n v e r b r e i t e t e s L e x i k o n des 18. J h . g e sagt: „ W e n n e i n L a g e r - B u c h g e h ö r i g g e f e r t i g e t , f ü h r e t es e i n e n v ö l l i g e n Beweis"35. U n t e r d e r „ g e h ö r i g e n E r r i c h t u n g " eines A m t s b u c h s , w e l c h e i h m d i e B e w e i s k r a f t e i n e r ö f f e n t l i c h e n U r k u n d e v e r l i e h , w i r d m a n sich g e w i ß v o r n e h m l i c h d i e n o t a r i e l l e B e u r k u n d u n g z u d e n k e n haben. A u s
den
w e i f i s c h e n T e r r i t o r i e n w i r d beispielsweise v o n e i n e m i m 18. J h . e r richteten
„Haubt-
und Erben-Zins-Korn-Register
oder
Beschreibung
d e r L ä n d e r e y des C h u r f ü r s t l . A m t s C a t l e n b u r g " b e r i c h t e t , daß es u n t e r Z u z i e h u n g d e r b e t r e f f e n d e n I n t e r e s s e n t e n a u f g e s t e l l t u n d v o n diesen v o r N o t a r u n d Z e u g e n g e n e h m i g t w o r d e n s e i 3 6 . V o r a l l e m aber sehen die i m
18. J h . v e r b r e i t e t e n A n l e i t u n g e n z u r A b f a s s u n g
büchern w i e von Zins- u n d Lagerbüchern privater
von
Amts-
Grundherrschaften
z u m e i s t eine abschließende n o t a r i e l l e B e u r k u n d u n g v o r 3 7 . I n höchst-
33 F. v. Bülow / Th. Hagemann, Practische Erörterungen V (1809), Nr. X X X V I I I „öffentliche Lagerbücher u n d Dienstregister", S. 193. 34 v. Bülow / Hagemann, ebd. I (2. A u f l . 1806), Nr. X I V „ E r b - , Saal- u n d Lagerbücher müssen ediret werden", S. 99 f. 35 J. H. Zedier, Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften u n d Künste X V I (1737), Sp. 234 s. v. Lager-Buch. 38 J. G. F. Kleinschmidt, Sammlung von Landtags-Abschieden, Reversen, Versicherungen usw. der Fürstentümer Calenberg, Grubenhagen u n d Göttingen I I (1832), S. 27 f. 37 (v. Trützschler), Anweisung zur vorsichtigen u n d förmlichen Abfassung rechtlicher Aufsätze über Handlungen der w i l l k ü h r l i c h e n Gerichtsbarkeit I (Leipzig 1783), S. 643 ff. (Erbzinsregister), 669 ff. (Erbregister): notarielle Beurkundung; J. B. Roppelt, Praktischer E n t w u r f eines neu zu errichtenden Urbariums, Saal- oder Lagerbuches (Nürnberg 1792): n u r Befragung u n d Publikation; F. J. Bodmann, Praktischer E n t w u r f (vgl. oben A n m . 31), S. 324 ff.: Verlesung vor versammelter Gemeinde, notarielle Beurkundung, Das W e r k v o n J. D. A. Höck, Abhandlung von F l u r - , Lager- usw. -Büchern (Frankfurt 1798) w a r m i r nicht zugänglich.
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richterlichen Entscheidungen wurde die notarielle Beurkundung bisweilen sogar für grundsätzlich erforderlich erklärt 3 8 . Freilich war dies nicht die allgemeine Auffassung. Vielmehr war man vorwiegend der Ansicht, daß die landesherrlichen Amtsbücher schon deshalb öffentliche Urkunden seien, weil sie von Beamten i m öffentlichen Interesse errichtet seien 39 , und daß ihnen Beweiskraft gegenüber Privatpersonen immer schon dann zukomme, wenn ihr Inhalt auf Angaben der Beteiligten beruhe und nach Verlesung des Buches alle Betroffenen sich m i t seinem Inhalt einverstanden erklärt hätten — selbst wenn diese Erklärung nicht notariell beurkundet worden sei 40 . Darüber hinaus hat sich der bedeutende Pandektist Augustin Leyser sogar dafür ausgesprochen, bei solchen Amtsbüchern einen weniger strengen Maßstab anzulegen als bei privaten Urkunden, da i h m in seiner Praxis nur wenige begegnet seien, an welchen ein akkurater und strenger Richter nicht irgendetwas auszusetzen haben würde 4 1 . Die Beweiskraft von Erbregistern oder Lagerbüchern beruht also keineswegs nur auf ihrer notariellen Beurkundung, sondern kann auch i n der amtlichen Vernehmung der Beteiligten über ihre Leistungspflichten ihren Grund haben. Hier gilt es nun freilich noch näher zuzusehen. Das schon zitierte Zedlersche Lexikon etwa führt hierzu folgendes aus: Übrigens haben dieselben i n den Rechten die K r a f f t öffentlicher Urkunden, u n d dienen daher auch zu einem völligen Beweise, wie hoch eines jeden liegendes Vermögen angeschlagen worden, und was er davon an jährlichen Zinsen oder anderen Gefällen abzutragen schuldig ist. Jedoch n u r i n soweit es den Ober-Herrn u n d seine Unterthanen, nicht aber eines dritten Interesse anbetrifft, als welchem daraus an seinen sonst daran habenden Gerechtsamen kein Nachtheil erwachsen kan 4 2 .
38 Vgl. hierzu das U r t e i l des Oberappellationsgerichts Dresden, angeführt bei J. R. Engau, Tractatus juridicus i n quo de l i b r o r u m quos Gräntz-LagerBücher, Fluhrläufer, Erb-Bücher u n d Hebe-Register dicere solemus, forma, continuatione, renovatione fideque varia disseritur (Jena 1756), S. 31 f. 39 J. A. Hellfeld, Repertorium reale practicum (Jena 1753 - 1762) I I , S. 1452 s. v. Erb-Bücher; F. v. Bülow / Th. Hagemann, Practische Erörterungen I (2. Aufl. 1806), S. 99 f., V (1809), S. 193 f. 40 Hellfeld (vgl. vor. Anm.); D. G. Struben, Rechtliche Bedenken I I (1763), S. 325 ff. 41 A. Leyser, Meditationes ad Pandectas I (Leipzig / Wolfenbüttel 1717), S. 366 ff., besonders S. 374: „Nec dissimulamus, paucissimos nobis obvenisse hujusmodi libros, i n quibus accuratus rigidusque j u d e x aliquid non desideraret". 42 Zedier, Bd. X X X I I I (1742), Sp. 16 f. s. v. Saal-Buch.
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Hier w i r d dem Amtsbuch volle Beweiskraft also nur i m Verhältnis zwischen der Obrigkeit und dem Untertanen zuerkannt. Die Begründung hierfür ergibt sich aus dem römischen Recht, und zwar aus L. 7 Cod. de probationibus (nach heutiger Zitierweise: Cod. 4, 19, 7). Hier w i r d einer schriftlichen Aufzeichnung die Beweiskraft abgesprochen, durch welche jemand einseitig einen anderen zu seinem Schuldner zu machen versucht. U m es m i t den Worten Justus Mosers zu sagen: „ K e i n Mensch soll den anderen zu seinem Schuldner schreiben dürfen" 4 3 . Nach dem Wortlaut der Vorschrift gilt dies auch für den Fiskus, dessen A u f zeichnungen also ebenso wie diejenigen privater Herren nur dann Beweiskraft haben, wenn ihr Inhalt vom Verpflichteten ausdrücklich anerkannt worden ist. Die Angaben, welche ein Untertan bei der Errichtung eines Amtsbuches unter Eid gemacht hat, können also gegen Dritte nur dann Beweiskraft haben, wenn diese vom Inhalt des Amtsbuches Kenntnis erlangt und seine Richtigkeit bestätigt haben 44 . Dies ist zweifellos dann der Fall, wenn das gesamte Amtsbuch vor den versammelten Untertanen verlesen worden ist, und wenn sie sodann seine Richtigkeit ausdrücklich anerkannt haben — m i t oder ohne notarielle Beurkundung! Ist dagegen hierüber nichts ersichtlich, so vermag das Amtsbuch gegenüber Dritten keinen Beweis zu liefern. Auch die Beweiswirkung i m Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen hängt jedoch davon ab, daß durch die Cod. 4, 19, 7 bezeichnete Grenze eingehalten ist. I n der Praxis des 17. Jahrhunderts stand dies bereits außer Zweifel: Wann aber Erb-Bücher n u r einseitig von dem H e r r n oder dessen Justitiario sind verfertiget worden; so können sie zu einem Beweise gegen die Bauren nicht dienen 4 5 .
I m Bistum Osnabrück zog man aus diesem Grundsatz sogar die Folgerung, den dortigen Lagerbüchern alle Beweiskraft abzusprechen, 43 J. Moser, Patriotische Phantasien I I (Sämtliche Werke 5, 1945), Nr. L X X X I V , S. 306 A n m . 44 Die adligen Grundherren i n den Territorien beharrten deshalb stets nachdrücklich darauf, daß die ohne ihre M i t w i r k u n g errichteten landesherrlichen Amtsbücher i n Bezug auf ihre Rechte keine W i r k u n g haben dürften. Eine entsprechende Zusage gab schon 1459 Herzog W i l h e l m I. von Calenberg seinen Landständen (J. G. F. Kleinschmidt, Sammlung von Landtags-Abschieden usw. I, 1832, S. 181). I n Kursachsen wurde den A m t m ä n n e r n 1609 aus dem gleichen Grunde sogar verboten, ohne Wissen des Landesherrn neue Amtsbücher anzulegen (J. A. Hellfeld, Repertorium reale practicum I, 1753, S. 192 s. v. Amts-Bücher). 45 J. A. Hellfeld, Repertorium reale practicum (1753 - 1762) I I , S. 1452 s. v. Erb-Bücher. I m gleichen Sinne auch J. H. v. Ber g er, Oeconomia j u r i s (3. Aufl. 1728), S. 1076.
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w e i l sie „ n i c h t p r a e s e n t i b u s iis, q u o r u m i n t e r e s t , a u f g e n o m m e n " seien u n d auch „ k e i n e B e k e n n t n i s s e d e r P f l i c h t i g e n " e n t h i e l t e n 4 6 . A u c h h i e r k o m m t es also entscheidend a u f d i e V e r l e s u n g u n d G e n e h m i g u n g des A m t s b u c h e s an. D e r b e d e u t e n d e hannoversche J u r i s t D a v i d G e o r g S t r u b e n , P r ä s i d e n t d e r J u s t i z k a n z l e i (des h e u t i g e n L a n d g e r i c h t s ) i n H a n n o v e r , sagte v o n d e n L a g e r b ü c h e r n u n d E r b r e g i s t e r n das gleiche: Sie verdienen also nicht jedesmahl, sondern n u r alsden Glauben, wenn die Requisita fürhanden sind, welche die Rechte erfordern, u n d insonderheit, w e n n m a n die Interessenten zuförderst m i t ihrer Nothdurft darüber v e r nommen h a t 4 7 . Das B e s t r e b e n d e r h a n n o v e r s c h e n P r a x i s
g i n g deshalb schon
im
17. J h . d a h i n , f ü r e i n solches o r d n u n g s m ä ß i g e s Z u s t a n d e k o m m e n d e r A m t s b ü c h e r Sorge z u t r a g e n u n d es z u g l e i c h d e n B e h ö r d e n z u r P f l i c h t z u machen, d i e A m t s b ü c h e r v o r z u l e g e n oder daraus b e g l a u b i g t e A u s züge z u e r t e i l e n , u m a u f diese Weise d e n U n t e r t a n e n d i e B e w e i s v o r t e i l e z u e r h a l t e n , d i e sich f ü r sie aus e i n e m o r d n u n g s g e m ä ß e r r i c h t e t e n A m t s b u c h ergaben. E i n hoyascher L a n d t a g s a b s c h i e d des J a h r e s 1697 4 8 v e r f ü g t e d a h e r i n s e i n e m A r t . 12: Wegen der Erb-Saal- u n d Lagerbücher lassen w i r es gnädig dabey, daß denenselben derjenige „fides", welcher solchen Büchern, nach ihren „requis i t i s i i n Rechten beygeleget wird, allerdings verbleibe, u n d sind überdem unsere Beamte, w e n n sie solche f ü r sich allegieren, dieselbe auch gegen sich gelten zu lassen, u n d auf rechtliches Erfordern zu produciren schuldig. Es soll auch „ i n judicando" darnach gesprochen werden, u n d der „passus", so darin f ü r die Untertanen, deren A b g i f t u n d Gerechtigkeiten halber sowohl eine vollkommene Probation als wegen dessen, was die Beamte f ü r sich daraus anziehen, operiren, es wäre denn, daß es an ein oder andern Ort m i t der Untertanen Abgiften u n d Gerechtigkeiten so fort erweislich anders, als i n den A m t - u n d Lagerbüchern erhalten, unstreitig hergebracht, solchenfalls es dabey b i l l i g sein ungeändertes Bewenden hat. Sollte es aber nötig befunden werden, neue Erb-Saal- u n d Lager-Bücher verfertigen zu lassen, wollen w i r die Interessenten zuförderst m i t ihrer Nothdurft dabey vernehmen, auch die sonst bey Errichtung dergleichen Lagerbuchs i n den Rechten zu beobachtende vorgeschriebene „requisita" observiren lassen. B e r u h t e also e i n L a g e r b u c h a u f d e r e i d l i c h e n V e r n e h m u n g d e r U n t e r t a n e n , so h a t t e es i m V e r h ä l t n i s z w i s c h e n d e r O b r i g k e i t u n d d e m Untertanen volle Beweiskraft. 46
J. Ä. Klöntrup, Alphabet. Handbuch der besonderen Rechte u. Gewohnheiten des Hochstifts Osnabrück, Bd. I I (1799), S. 161 s. v. „Herkommen", S. 234 s. v. „Lagerbücher". 47 D. G. Struben, Rechtliche Bedenken I I (1763), Nr. L X X X V I „ V o m Beweis durch die Erb-Register", S. 327. 48 Z i t i e r t bei Struben, S. 327. Z u r Pflicht der Beamten, die Amtsbücher vorzulegen vgl. auch v. Biilow / Hagemann, Praktische Erörterungen I (2. A u f l . 1806), X I V „ E r b - Saal- u n d Lagerbücher müssen ediret werden", S. 99 f.
Z u r rechtlichen Bedeutung der Amtsbücher v o m 16. bis 18. Jahrhundert
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Angesichts des reichen Inhalts der Amtsbücher hat man sich oftmals die Frage gestellt, ob sie nicht bei Hinzutritt weiterer Argumente auch i n den Fällen Beweiskraft erlangen könnten, wo es ihnen an den eigentlichen Erfordernissen fehlte. Ein solches zusätzliches Argument war außer dem Alter vor allem die Aufbewahrung i n einer amtlichen Registratur oder einem amtlichen Archiv 4 9 . Auch die Frage, ob der Inhalt des Amtsbuches durch die Observanz bestätigt und seine sonst zweifelhafte Richtigkeit damit bestätigt werde, hat man sich bisweilen vorgelegt 50 . I n diesem Zusammenhang mag es von Wert sein, zeitgenössische Urteile über die Glaubwürdigkeit der Amtsbücher kennen zu lernen. I m Jahre 1759 richtete das Domkapitel von Hildesheim an die dortige Hofkammer die Anfrage, ob den hildesheimischen Erbregistern oder den Rotermundschen und Heckenbergschen Landbeschreibungen „ein völliger Glaube beygemeßen werde und selbige einen vollständigen Beweiß i n zweifelhaften Fällen ausmachen". Die A n t w o r t lautete, daß die „tempore restitutae Dioceseos" v o n den Herren Herzogen zu B r a u n schweig m i t außgeantworteten Erbregister allerdings „ v i m probandi" m i t sich führen, obberührten beyden Beschreibungen aber eine solche darum nicht zugestanden werden könne, w e i l . . . bey . . . deren Anfertigung einige derer Gutsherren darzu gahr nicht, oder aber nicht selten die ohnrechten . . . (zugezogen) 51 .
Die von den braunschweigischen Herzögen i n der Zeit ihrer Herrschaft über große Teile des Bistums Hildesheim (1523 - 1642) errichteten Erbregister galten also i m 18. Jh. als beweiskräftig, ohne daß die Umstände ihrer Errichtung noch i m einzelnen erörtert zu werden brauchten. Für eines dieser Erbregister, das des Amtes Koldingen, welches 1642 unter hildesheimische Herrschaft zurückgekehrt war, aber 1643 an Calenberg-Hannover abgetreten wurde, vertrat man sogar i m 19. Jh. amtlich die Ansicht, man müsse i h m die Urkundenqualität ab-
49
F. v. Bülow I Th. Hagemann, Practische Erörterungen V (1809), Nr. X X X V I I I , S. 193. Z u diesem „ius archivi" vgl. A. Fritsch, De iure archivi (1664), E. W. G. Schlüter, Commentar zur Allg. Bürg. Proceß-Ordnung f ü r das Königreich Hannover. Bd. I (1858), S. 478, u n d neuerdings E. Pitz, Beiträge zur Geschichte des „ius archivi", i n : Der Archivar 16 (1963), S. 279 ff. 50 D. G. Struben, Rechtliche Bedenken I I (1763), Nr. L X X X V I „ V o m Beweiß durch die Erb-Register", S. 326 f. 51 Hann. 76 a, I L A Nr. 66 (Die Glaubwürdigkeit der Erbregister u n d L a n desbeschreibungen, 1759). Z u der Rotermund-Heckenbergischen Landbeschreibung u n d ihrem Verhältnis zu den älteren Erbregistern vgl. jetzt eingehend Hamann, S. 20 - 24.
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sprechen. Gleichwohl wurde i h m seine inhaltliche Glaubwürdigkeit bestätigt: I n der Tat sind auch alle darin enthaltene Stücke des Alters wegen u n d w e i l sie sich i n hiesiger Registratur sonst nirgends finden, von aller größter Wichtigkeit, selbst w e n n man denselben alle Authentizität absprechen muß . . . Soweit als w i r dies Erbregister haben vergleichen können, haben w i r es stets übereinstimmend m i t der Observanz gefunden, u n d daß es von jeher stark gebraucht sein muß, ergibt dessen jetzige äußere Gestalt, besonders die vielen, v o m Nachschlagen beschmutzten u n d abgegriffenen Ecken der B l ä t t e r 5 2 .
Abschließend darf festgehalten werden, daß Amtsbücher, deren Inhalt auf Angaben der Verpflichteten selbst beruhte, i m Verhältnis zwischen diesen und ihrer Obrigkeit vollen Beweis begründeten. War sie aus allgemeinen Erwägungen ungewiß, so konnte die Beweiskraft durch den Nachweis wiederhergestellt werden, daß das Buch einer amtlichen Registratur entstammte oder daß sein Inhalt m i t der Observanz übereinstimme 53 . V. Für die Beweiskraft der Amtsbücher vom Typ des Salbuchs, Erbregister oder Lagerbuchs kommt es also entscheidend darauf an, i n welcher Weise sie errichtet wurden, und insbesondere darauf, ob sie durch Befragung der Beteiligten zustandekamen und ob der Inhalt des Buches nach Verlesung von den Betroffenen gebilligt worden war. Da sich das befolgte Verfahren nicht bei jedem einzelnen Amtsbuch w i r d nachweisen lassen, muß die Frage gestellt werden, ob es für die Errichtung von Amtsbüchern ein anerkanntes und herkömmliches, allgemein verbreitetes Muster gab. Diese Frage läßt sich eindeutig bejahen. Bedeutsam ist hierbei zunächst der geschichtliche Zusammenhang der Salbücher oder Lagerbücher m i t den grundherrlichen Urbarien des Mittelalters. Diese kamen nämlich zumeist durch Befragung der Bau52
Bericht des Amtes Hannover v o m 26.2.1831, zitiert i n dem V o r w o r t v o n M. Hamann zur Edition des Koldinger Erbregisters: Das Erbregister der Ä m t e r Ruthe u n d Koldingen 1593, hrsg. v. d. Histor. Kommission für Niedersachsen (Quellen zur Wirtschafts- u. Sozialgeschichte Niedersachsens i n der Neuzeit, Bd. 1, 1973). 53 Die so charakterisierte Beweiskraft der Amtsbücher als „archivalischer U r k u n d e n " w u r d e noch von der Allgemeinen Bürgerlichen Proceß-Ordnung f ü r das Königreich Hannover von 1850 (der wichtigsten Vorläuferin der heutigen ZPO) i n § 341 aufrechterhalten. Vgl. hierzu E. W. G. Schlüter, Commentar zur Allg. Bürgerl. Proceß-Ordnung f ü r das Königr. Hannover, Bd. I 1858), S. 474 ff.
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ern zustande, also i n der Form des Weistums 54 — i n der gleichen Form also, deren man sich auch für die ländlichen Rechtsaufzeichnungen zu bedienen pflegte. Bisweilen erscheinen Urbar und Rechtsweistum m i t einander verschmolzen 55 . Das Vordringen römisch-rechtlicher Vorstellungen führte dann immer mehr zur Umdeutung dieser Weisung i n einen Inquisitionszeugenbeweis; auch hierbei blieb aber die maßgebliche Beteiligung der betroffenen Bauern selbst oder ihrer berufenen Sprecher gewahrt. Die Befragung erfolgte nach einem vorher festgelegten Fragenkatalog. Die Antworten wurden protokolliert und auf der Grundlage dieser Protokolle dann die Urbarien errichtet. Die gleiche Entstehungsweise läßt sich auch bei einer großen Zahl Amtsbücher noch unmittelbar nachweisen — entweder weil sie selbst diesen Vorgang beschreiben, oder weil die Instruktionen an die A m t männer erhalten sind, i n welchen das Verfahren festgelegt wurde. So beginnt etwa das Salbuch des hessischen Amtes Ziegenberg von 1456 mit folgenden Worten: „ I m Jahre des H e r r n 1456 am Donnerstag nach St. Michaelistag habe ich Johannes Kaufungen von Grebenstein, Schreiber u n d Kanonikus zu Rothenburg, auf besonders Geheiß u n d Befehl des hochgeborenen durchlauchtigsten Fürsten u n d H e r r n L u d w i g Landgraf zu Hessen usw., meines gnädigen lieben Herrn, i n Gegenwart der gestrengen und ehrbaren Berld von Dörnberg A m t m a n n zu Bilstein, Jürgen von B u t t l a r A m t m a n n zum Ziegenberg, W i l l e k i n von Bischofshausen A m t m a n n zu Berlepsch, H e r r n Jakob von Bischoferode Rentmeister zu Bilstein, u n d dazu i n Gegenwart vieler frommer Leute u n d insgemein der Männer aus allen Dörfern, die n u n i n das A m t zum Ziegenberg gehören, welche sodann alle beeidet u n d verpflichtet wurden, w i e gebührlich ist, dasselbe A m t zum Ziegenberg m i t aller seiner Zubehörung, Herrlichkeit, Gerechtigkeit, Zinsen, Gefällen, Fischweiden, nichts ausgenommen, ausdrücklich u n d gründlich bezeichnet u n d klärlich beschrieben, i n Maßen D u hiernach beschrieben findest 5 6 ."
Bei der Errichtung der württembergischen Lagerbücher seit 1523 wurden von den beauftragten Amtmännern zunächst i n jedem Dorf oder Flecken einige Personen beeidigt, die dem ganzen Vorgang als amtliche Zeugen beizuwohnen hatten. Sodann wurden alle Zins- und 54 Vgl. hierzu die grundlegenden Ausführungen von K . Lamprecht, D e u t sches Wirtschaftsleben i m Mittelalter I I (1886), S. 623-675 über Weistum und Urbar. 55 Z u diesem Zusammenhang vgl. K. Kollnig, Probleme der Weistumsforschung, i n : Heidelberger Jahrbücher I (1957), S. 13 - 30, bes. S. 18, wo als Beispiel auf die Urbarweistümer der Vogtei Heidelberg v o m Jahre 1369 hingewiesen wird. 56 Neuhochdeutsche Übertragung und Urtext, i n : Das Ziegenberger Salbuch von 1456, hrsg. ν. Κ. A. Eckhardt, (Germanenrechte N. F., Deutschrechtliches Archiv H. 6 (1957), S. 10/11.
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Dienstpflichtigen bzw. ihre Vertreter, Vormünder usw. vorgeladen und über ihre Leistungspflichten vernommen. Endlich wurde dann das so erstellte Verzeichnis vor der durch Glockengeläut zusammengerufenen Dorfgemeinde verlesen und abschließend festgestellt, daß sich dagegen kein Einspruch erhoben habe 5 7 . Ganz ähnlich w a r das Verfahren, welches Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen i m Jahre 1537 für die Erneuerung der hessischen Salbücher vorschrieb. I n der erhaltenen Instruktion für die Schultheißen von Homberg und von Hersfeld, die m i t dieser Aufgabe betraut wurden, heißt es, sie sollten überall i n die Ämter reisen, die Beamten, Bürgermeister und Ratsherren nebst Schöffen vor sich fordern u n d unter Eid ihren Bericht über die Grenzen und über die landesherrlichen Rechte entgegennehmen. Sie sollten die Feld-, Forst-, Wasser- und Weidegerechtsame erkunden, besonders aber die Zehnten und die Eigen-, Zins- und Pachtgüter feststellen. Nach Einsichtnahme i n die etwa vorhandenen alten Register sollten dann neue Salbücher angefertigt werden, wobei die Güter einzeln aufzuführen und ihre Inhaber und die Nutzungen spezialisiert zu verzeichnen seien 58 . Die entsprechende Instruktion Herzogs Heinrich des Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel aus dem Jahre 1541 richtete sich nicht an eine zentrale Kommission für die Errichtung von Amtsbüchern, sondern an die einzelnen Amtmänner 5 0 . Ihnen wurde aufgetragen, i n dem Erbhufenregister die Dörfer einzeln zu beschreiben: welches die bebauten und wüsten Ackerhöfe und Kothöfe m i t Wortstätten und Gärten wären und wieviel Acker dazugehörte, welcher Acker zehntfrei wäre oder nicht, was jeder Bauer davon zu Zins und Malter gäbe und wer der Gutsherr wäre. Die Bauern wurden ausdrücklich verpflichtet, dem A m t m a n n die nötigen Auskünfte zu geben; auch hier fand also die übliche Befragung statt. I m Jahre 1548 verordnete der Herzog ergänzend, daß i n die Erbregister auch die bei den Vögten und A l t e n der Dörfer zu erkundenden besonderen Rechtsgewohnheiten der Ämter einzutragen seien. Hier deutete sich also noch einmal der Zusammenhang an, der i m Mittelalter zwischen Urbaren und Rechtsweistümern bestanden hatte. 67 Vgl. hierzu das Beispiel des Lagerbuchs von Nagold von 1523, i n : Altwürttembergische Lagerbücher aus der österreichischen Zeit 1520 -1534, T. I (Veröff. d. K o m m . f. geschichtl. Landesk. i n Baden-Württemberg Reihe A , 1. Bd., 1958), S. 9 f. 58 L . Zimmermann, Der hessische Territorialstaat i m Jahrhundert der Reformation (Veröff. d. histor. K o m m . f. Hessen u n d Waldeck X V I I 1, 1933), S. 121 f. 59 Pitz, S. 41 ff.
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Als letztes Beispiel sei endlich die Errichtung der lippischen Salbücher von 1614 -1620 angeführt. Hier wurden Drost, Amtmann, Vögte und andere Diener des Amtes zusammengerufen. Vor diesem Gremium wurden den Untertanen — bauerschaftsweise vorgeladen — die festgelegten Fragen gestellt. Ihre Antworten wurden protokolliert und danach die Salbücher errichtet. Das Verfahren erinnert hier also bis i n alle Einzelheiten an das württembergische 60 . Als Ergebnis darf also festgehalten werden, daß bei der Errichtung von Amtsbüchern ein bestimmtes Verfahren befolgt zu werden pflegte. Amtmann und Amtsschreiber befragten die Untertanen zunächst vor Zeugen unter Eid über ihren Besitz, ihre Pflichten und Rechte; dieser Befragung lag ein zuvor festgelegter Fragenkatalog zugrunde. Die Aussagen wurden niedergeschrieben; die Niederschrift (oder das danach redigierte Amtsbuch) wurde verlesen und genehmigt. Damit waren i n aller Regel die Voraussetzungen für die Beweiskraft des Amtsbuches i m Verhältnis zwischen Herrschaft und Untertan gegeben. Vielfach erfolgte die Verlesung vor versammelter Gemeinde; bisweilen wurden auch Verlesung und Genehmigung notariell beurkundet. I n diesen Fällen bewies das Amtsbuch sogar für und gegen jedermann.
VI. Wenden w i r uns nunmehr wieder unserem Ausgangsfall zu, so gilt es zunächst festzustellen, ob die diepholzischen Lagerbücher nach den Umständen ihrer Entstehung als beweiskräftig angesehen werden können. Sodann bedarf es einer näheren Untersuchung des Prozesses von 1766 - 69, dessen Ergebnis den Aussagen der Amtsbücher so deutlich zu widersprechen scheint. 1. a) Das Schloßbuch der Vogtei Drebber von 1570, aus zwei starken Foliobänden bestehend, geht ebenso wie die anderen diepholzischen Amtsbücher dieser Zeit auf Maßnahmen der damaligen vormundschaftlichen Regierung der Grafschaft Diepholz zurück 61 . Den Anstoß 60 Salbücher der Grafschaft Lippe von 1614 bis etwa 1620, hrsg. v. H. Stöwer / F. Verdenhalven (1969), S. X I I I . 61 Der i m Jahre 1560 verstorbene Graf Rudolf von Diepholz hatte n u r einen minderjährigen Sohn Friedrich hinterlassen, für den eine v o r m u n d schaftliche Regierung eingerichtet wurde. Neben der M u t t e r des jungen Grafen, der Gräfin Margarete von Diepholz, geb. Gräfin von Hoya, hatten i n ihr die Herzöge Heinrich u n d W i l h e l m von Braunschweig-Lüneburg den entscheidenden Einfluß. Ihre Beamten spielten von diesem Zeitpunkt an i n der V e r w a l t u n g der Grafschaft eine wesentliche Rolle. Der nach dem Aussterben der Grafen von Diepholz i m Jahre 1585 erfolgende H e i m f a l l der Grafschaft
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z u r E r r i c h t u n g der L a g e r b ü c h e r oder, w i e m a n i n D i e p h o l z m e i s t sagte, Schloßbücher, h a t t e die R e g i e r u n g s o r d n u n g
von
1560 gegeben.
Hier
w i r d zunächst eine a l l g e m e i n e Schätzung a n g e o r d n e t u n d d a z u d e n Amtsschreibern
befohlen,
ein
Schatzungsregister
anzulegen.
Ferner
erhalten die Amtsschreiber Anweisung, ein Einkünfteregister zu f ü h ren. H i e r z u h e i ß t es w ö r t l i c h : Damit auch die Amptschreiber I h r A m p t desto besser verrichten u n d ordentliche ampt Register haben mugen, So sollenn sie ein ordentlich haupt A m p t Register machen u n d da denselbigen gleichförmich alle Jar i n Jahr Register, darzu m i t ersamen Zeugen, waß u n d wieviel ein jeder zu Zinse, bete, Dienstgelt, an Rinderen, Schweinen, schaffen, hueneren, Eigeren, an Korn, Roggen, Weitzen, gersten, habern u n d sunst nichtz ausgenommen gibt, waß die Zehenden, muelen, Insaet unnd anderß thuit, . . . E n d l i c h ergehen V o r s c h r i f t e n ü b e r d i e E i n s c h r ä n k u n g der H u t e u n d der H o l z n u t z u n g , gegen d i e U m w a n d l u n g v o n H ö l z e r n u n d B r ü c h e n z u W i e s e n - u n d A c k e r l a n d , u n d ü b e r d i e V e r z e i c h n u n g d e r Wiesen, d i e n e u angelegt w o r d e n u n d b i s h e r z i n s f r e i g e b l i e b e n w a r e n 6 2 . D i e E r r i c h t u n g der Schloßbücher v o n 1567 a n h a t t e sicherlich d e n Z w e c k , f ü r a l l e diese M a ß n a h m e n eine v e r l ä ß l i c h e G r u n d l a g e z u schaffen. Ü b e r die E n t s t e h u n g des Schloßbuches v o n 1570 g i b t v o r a l l e m seine E i n l e i t u n g A u s k u n f t , d i e i n neuhochdeutscher Ü b e r s e t z u n g f o l g e n d e r maßen lautet: I n diesem Buche sind verzeichnet des Hauses Diepholz eigene u n d freie Leute wie Meyer, K ö t t e r u n d Brinksitzer, was ein jeder besonders an Gebäuden, Gärten, Kämpen, Acker, Wiesenland, Weiden, Holzungen und Fischereien hat, was sie davon seit Menschengedenken besessen oder nach der Erinnerung der Leute aus der Gemeinde neu erlangt u n d erweitert haben, zu welches Herren u n d Drosten Regierung oder Amtszeit, auch durch w e n ihnen dies erlaubt u n d angewiesen worden sei, auch was sie unerlaubt erlangt haben, wie bei jedem Garten, Kamp, Acker, Wiesenland, Weiden, Holzung u n d Fischereien des nächsten Anliegers Zaun u n d Berechtigung sei, was von jedem Stück der Gärten, Kämpe und Äcker jeweils zur Einsaat falle, was die Wiesen als höchsten oder niedrigsten Heuertrag zum F u t t e r n erbracht haben, wieviel Schweinemast die Wälder an ganzer u n d halber Mast erbracht haben, was ein jeder den Herren als Hof dienst, auch an R i n dern, Schweinen, Schafen, Gänsen, Hühnern, Korn, Wachs u n d Geld jährlich als erledigtes Lehen an die Celler L i n i e des Weifenhauses bereitete sich hier also schon vor. Vgl. hierzu W. Kinghorst, Die Grafschaft Diepholz zur Zeit ihres Uberganges an das Haus Braunschweig-Lüneburg (Phil. Diss. Münster 1912); W. Moormeyer, Die Grafschaft Diepholz (Studien u n d V o r arbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsens 17, 1938). 62 Hauptstaatsarchiv Hannover, Ordnung der Vormünder des Grafen Friedrich für die Vormundschaftsregierung 1560 (in: Celle 73 I I I Nr. 1). Z u r Schätzung ebd., S. 23 ff., zum Hauptamtsregister, S. 31 f. (dort das oben wiedergegebene Zitat), Z u r Hute usw., S. 35 ff.
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leiste u n d gebe, aus welchem Acker jeweils der Zehnt gegeben werde u n d was sie zehntfrei haben, was sie Pastoren, Küstern, Geistlichen, und den Vögten, auch anderen, denen sie verpfändet sind, zu jährlicher Pacht geben, was f ü r Pacht sie von Alters geben, was ihnen nach Erinnerung der Leute erlassen oder erhöht worden sei, u n d aus welchen Gründen u n d vor wieviel Jahren dieses ungefähr geschehen sei, was sie von den oben genannten G ü tern jeweils verpfändet haben, wie hoch, wieviele Jahre u n d an wen, auch m i t wessen Zustimmung es verpfändet sei, ob von diesen allen etwas v e r kauft, verbessert oder zu Erbkauf angekauft oder als Pfandschaft dazugebracht worden sei, u n d auf welche Weise das geschehen sei, desgleichen was die Herren sonst an jedem Gut für Gerechtigkeit zur Unterhaltung ihrer u n d ihrer Diener Hunde, Windhunde u n d Roßdienste haben, i n welchem K i r c h spiel, Gericht, Stadt, Dorf u n d Bauerschaft ein jeder gesessen u n d die Güter gelegen seien, auch i n welchem Felde und Flurstück jeder Acker u n d Wiese liegen usw. Was es für G r u n d und Wachstum sei 63 .
Dieser Wortlaut weist einmal deutliche Anklänge an die Regierungsordnung von 1560 auf, obgleich diese nicht unmittelbar von den Lagerbüchern, sondern von den Einkünfteregistern spricht. Vor allem aber spiegelt er offenbar den Fragenkatalog wieder, auf Grund dessen das Amtsbuch angelegt ist und der auch i m gleichförmigen Aufbau der einzelnen Einträge nach Gebäuden, Äckern, Wiesen, Folge, Dienst usw. noch durchscheint. Obgleich eine eingehende Schilderung des Verfahrens bei der Errichtung des Amtsbuches fehlt, zeigt sich aber auch, daß diese Fragen nicht nur, wie bei anderen Salbüchern bisweilen, an die Vögte, Bauermeister oder andere Vertreter der bäuerlichen Bevölkerung gerichtet worden sind, sondern, wie es ohnehin die Regel war, an die Bauern selbst. A n zwei Stellen w i r d nämlich in dieser Einleitung unterschieden zwischen einem Zustand, wie er „seit Menschengedenken", also seit unvordenklicher Zeit, bestanden habe, und einem solchen, der „nach der Erinnerung der Leute aus der Gemeinde" eingetreten sei, also zu einem Zeitpunkt, der den noch lebenden Gemeindegenossen noch i n Erinnerung ist. Dies setzt voraus, daß man die Angehörigen der Gemeinde hierüber befragt hat. Daß dies geschehen ist, ergibt sich aber auch aus den Eintragungen i m Schloßbuch selbst. I n dem Abschnitt über die Drebbermühle 6 4 findet sich folgender Satz über einen der aufgeführten Kämpe: hefft noch 1 kamp by des Richters Huße . . . hefft Iheme Grave Rudolff k o r t h vor s. g. thode q u i t unnd f r i g tho thomaken vorloveth . . .
Diese Angabe ist offenbar auf Befragen gemacht worden, und zwar wahrscheinlich vom Drebbermüller selbst; dies würde durchaus dem 63 Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 74 Diepholz I C Nr. 3, Bd. I B l a t t 2 recto et verso. 64 Bd. I B l a t t 106 recto.
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üblichen Verfahren bei der Errichtung von Amtsbüchern entsprechen 65 . Wenige Zeilen weiter findet sich eine gleiche Bemerkung i n bezug auf eine Wiese des Drebbermüllers: hefft 1 wisch vor deme Vechter moere (am Rand von gleicher H a n d ergänzt: hefft Graff Friderich sinen zeligen vadere gegeven).
Hier ist dem Befragten offenbar erst nachträglich eingefallen, daß für diesen Besitz ein besonderer Rechtstitel bestand, und der Schreiber hat diese Angabe dann am Rande ergänzt. Man hat hier wiederum den bestimmten Eindruck, daß der Befragte der Drebbermüller selbst gewesen ist, dem daran liegen mußte, den Rechtstitel für den Neuerwerb von Ländereien, die ursprünglich nicht zu seiner Stelle gehört hatten, fixiert zu sehen, u m nicht später Einwendungen seitens des Amtmannes ausgesetzt zu sein. Ähnlich möchte man sich den Hergang schließlich insbesondere bei den Eintragungen denken, die sich auf die Mühle und das wirtschaftlich hiermit eng zusammenhängende Fischereirecht beziehen 66 . Der Text des Schloßbuches lautet hier folgendermaßen: Wen de Graven daer eynenn w i n t h schickenn, moeth he densulvenn u p theen (am Rand von gleicher Hand ergänzt: hefft eyne moele up der hunte). Es sin de herenn vann Diepholte by X X jarenn zu iehme ingezogenn, het alle zeith, synes vormoegens nach, dat beste vorgewendet, gifft einen teigdenn, moeth den Jegern m i t h H u n d t und Winden, sulff ander, i n den Fasten I I Dage holden, gifft den heren alle jare 15 Ale (am Rand von gleicher H a n d ergänzt: davor vordedingeth he de Hunte, so viele der Vyscherie belangen thuet, bys an de Hopenspeckenn, darinne darff keimants anders vischen m i t geinerlei instrumente).
Der vornehmlichsten Aufgabe des Amtsbuches entsprechend, war hier offenbar zunächst nur nach den Leistungspflichten des Drebbermüllers gefragt worden, die bis h i n zu der jährlichen Abgabe von 15 Aalen verzeichnet worden sind. Erst auf eine zusätzliche Mitteilung hin sind dann die Angaben über das Fischereirecht des Drebbermüllers nachgetragen worden, welches der jährlichen Abgabe von 15 Aalen zugrundeliege. Man w i r d auch hier annehmen müssen, daß es der Drebbermüller selbst war, der auf die Verzeichnung dieses Rechtes Wert 65
Übrigens hat diese Angabe eine beträchtliche historische Wahrscheinlichkeit für sich. Gerade von Graf Rudolf von Diepholz (1545 - 1560) ist eine große Anzahl solcher Güterverleihungen urkundlich überliefert; vgl. den Druck des Urkundenverzeichnisses („Rationarium"), welches die v o r m u n d schaftliche Regierung 1560 anlegen ließ, bei C. H. Nieberding, Geschichte des ehem. Niederstifts Münster u. d. angrenz. Grafsch. Diepholz usw. I (1840) Beil. Nr. 10, S. X X I I I - X L V , bes. die Nrn. 161 ff., S. L X X V I I I f f . aus den J r h r e n 1550 ff. ·· Bd. I B l a t t 106 verso.
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legte. Da hier i m Gegensatz zu den oben wiedergegebenen Vermerken nicht auf eine in jüngerer Zeit erfolgte Verleihung Bezug genommen wird, handelt es sich bei dem Fischereirecht offenbar u m ein Recht, welches seit unvordenklicher Zeit bestand. Diese Beobachtungen zum Verfahren bei der Errichtung des Schloßbuches von 1570 werden durch den Umstand bestätigt, daß sogar die Mühle, der wirtschaftliche Mittelpunkt der Stelle des Drebbermüllers, erst nachträglich ergänzt wurde. Offenbar hat der Amtsschreiber oder der die Verhandlung leitende Amtmann seine Anweisung dahin interpretiert, daß die Mühle und die m i t ihr zusammenhängenden besonderen Rechte und Pflichten nicht ausdrücklich i n das Amtsbuch aufzunehmen seien. A n anderer Stelle ist diese Auffassung sogar ausdrücklich ausgesprochen worden. I n dem die Hengemühle betreffenden Eintrag 6 7 heißt es nämlich am Schluß: wes der moelen belangen thuet, davon ist mich kein befehel gedan.
I m ganzen w i r d man sich also die Entstehung des Schloßbuches von 1570 so vorstellen müssen, daß die Beamten zunächst nach einem auf Grund ihrer Anweisungen aufgestellten Fragenkatalog die Befragung der Bauern vorgenommen und ihre Angaben niedergeschrieben haben, und daß sie sodann beim Verlesen des Eintrages dasjenige ergänzten, was von den befragten Bauern noch nachgetragen wurde. Entsprechend der durchgängigen Praxis w i r d die Befragung vermutlich unter Eid vorgenommen worden sein. Es ist deshalb nicht daran zu zweifeln, daß dem Schloßbuch nach der Anschauung der Zeit volle Beweiskraft i m Verhältnis zwischen Herrschaft und Untertan zukam. b) Das Lagerbuch der Vogtei Drebber von 1652 entstand unter ganz anderen historischen Voraussetzungen, nämlich i n der Zeit der Zugehörigkeit der Grafschaft Diepholz zum lüneburgischen Territorium 6 8 . 67
Bd. I B l a t t 65 verso. I m Jahre 1585 w a r die Grafschaft Diepholz der i n Celle residierenden lüneburgischen L i n i e des Weifenhauses als erledigtes Lehen heimgefallen. Bis zu ihrem Tode 1596 blieb sie zur Nutzung der v e r w i t w e t e n Gräfin M a r garete von Diepholz überlassen, u m dann vollständig m i t dem lüneburgischen T e r r i t o r i u m vereinigt zu werden. Eine Trennung trat erst i m Jahre 1665 ein, als die Grafschaft zur Ausstattung des Herzogs Ernst-August diente, der gemäß den Vorschriften des Westfälischen Friedens seit 1661 als protestantischer Bischof das B i s t u m Osnabrück innehatte. Nach dem Tode seines Bruders erhielt Ernst-August 1679 das seinem Hause schon 1634 angefallene Herzogtum Calenberg m i t der Residenz Hannover hinzu, welches unter seiner Regierung 1692 zum K u r f ü r s t e n t u m erhoben wurde. Diese Ereignisse führten dazu, daß die Grafschaft Diepholz fortan stärker dem hannoverschen als dem lüneburgischen T e i l des weifischen Territoriums verbunden w a r ; der Kreis gehört daher heute zum Regierungsbezirk Hannover. Die cellisch68
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Es ist deshalb i m Zusammenhang mit den entsprechenden Maßnahmen i m übrigen lüneburgischen Gebiet zu sehen, die freilich zum größten Teil erst zur Durchführung kamen, nachdem Diepholz 1665 an den nachmaligen Herzog von Calenberg und Kurfürsten von Hannover abgetreten worden war. Über die Anweisungen, die der Anlage der lüneburgischen Lagerbücher vorangegangen sein müssen, war bisher nichts zu ermitteln. Insbesondere fehlt auch dem Lagerbuch der Vogtei Drebber von 1652 eine Vorrede, welche auf den Inhalt dieser Anweisung und auf das von ihr vorgeschriebene Verfahren Rückschlüsse zuließe. Hier würde sich nur durch eine eingehendere wissenschaftliche Untersuchung der lüneburgischen Amtsbücher des 17. Jh. Abhilfe schaffen lassen. Als Auskunftsmittel bleiben zunächst also nur Aufbau und Inhalt des Lagerbuches selbst, die immerhin einige Folgerungen erlauben. I n seiner Anlage richtet sich das Lagerbuch wie sein Vorgänger von 1570 nach der Gliederung i n Kirchspiele und Bauerschaften. Bei den einzelnen Stellen geht es nach der Bezeichnung der Stelle selbst und der Anführung ihres derzeitigen Inhabers nach folgendem Schema vor: Gebäude, Gärten, Länderei, Wiesen, Kuhweiden, Mast und Gehölze „ i n privato", Mast und Gehölze „ i n Communion", Torf, gemeine Weide, Heidemahd, Fischerei, Schäferei, Leibzucht, verlicitierte Güter, Herrenpächte und andere Praestanda, Schuld, ausstehend Geld. Dieser A u f bau hat gegenüber demjenigen des Schloßbuches von 1570 eine Reihe von Verfeinerungen und Änderungen erfahren. So ist z. B. i n dem die Drebbermühle betreffenden Eintrag 6 0 i m Jahre 1652 bei den Gebäuden auch die Mühle von vornherein mit aufgeführt worden. Auch das Lagerbuch von 1652 enthält allerdings Ergänzungen, welche ähnlich wie bei dem älteren Buche bei der Verlesung auf Verlangen der einvernommenen Bauern selbst nachgetragen sein dürften. So ist bei einem Kamp am Rande vermerkt: Ist Coloni Vorfahren von Graf Rudolph frey gegeben.
Bei der unter den Wiesen als erste aufgeführten Wiese vor dem Vechtermoor heißt es am Rande: Die Wiesen sollen von Graff Rudolph frey bei die Stette gegeben seyn 7 0 .
lüneburgischen Territorien standen noch bis 1705 unter der Regierung von Ernst Augusts Bruder, Herzog Georg Wilhelm, u n d fielen dann Ernst Augusts Sohn, Georg I. von Hannover, zu, welcher i m Jahre 1714 K ö n i g von England wurde. Z u r Verfassungsgeschichte der Grafschaft Diepholz seit i h r e m A n f a l l an das Weifenhaus vgl. E. v. Meier, Hannov. Verfassungs- u. Verwaltungsgesch. I (1898), S. 84 f. 89 Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 74 Diepholz I C Nr. 10, S. 1569 - 1571. 70 Beide Einträge auf S. 1570.
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Daß es sich hier nicht einfach u m die Übernahme der Randbemerkungen aus dem älteren Schloßbuch handeln kann, zeigen schon die inhaltlichen Abweichungen. I m Jahre 1570 hatte der Drebbermüller angegeben, daß sein Vater die Wiese vor dem Vechtermoor von Graf Friedrich (Friedrich I., 1510 - 1529) erhalten hatte, während 1652 i n der Erinnerung daraus Graf Rudolf (Rudolf III., 1545 - 1560) geworden ist, welchem man ja auch den angeführten Kamp verdankte. Offenbar beruhten also die Angaben von 1652 auf neuer Vernehmung, wie sich auch aus dem Vermerk wegen des Fischereirechts erkennen läßt 7 1 . Wie schon angeführt, hat er den folgenden Wortlaut: Hat die Fißkerey und Ahlfang bis an des Hengelmüllers Kolck privative.
Das Fischereirecht erstreckt sich hier weiter hunteaufwärts als nach dem Schloßbuch von 157072. Diese Eintragung kann nur auf der Aussage des Drebbermüllers selbst beruhen und dürfte den 1652 bestehenden Zustand wiedergeben, da sie schwerlich i n dieser Form aufgenommen worden wäre, wenn ihre Unrichtigkeit amtsbekannt gewesen wäre. Es ist anzunehmen, daß der Amtmann i n diesem Falle auf die Umschreibung des Rechtes i m Schloßbuch von 1570 zurückgegriffen hätte, welches bis ins 18. Jh. beim A m t verwahrt wurde 7 3 . Gegebenenfalls hätte er auch wie bei dem einen der nachträglichen Randvermerke durch die Formulierung ( „ . . . sollen . . . " ) zum Ausdruck gebracht, daß es sich lediglich um eine Angabe des Inhabers der Stelle selbst handele, welche sich durch amtlich bekannte Tatsachen nicht bestätigen lasse. I n der Tat beruht die Angabe von 1652, daß die Wiese vor dem Vechtermoore abgabenfrei verliehen worden sei, auf einer dem damaligen Drebbermüller unterlaufenen Verwechslung. I m Jahre 1570 hatte sein Vorfahr nichts derartiges erklärt; allerdings war damals i m Schloßbuch vermerkt worden, daß der von Graf Rudolph verliehene Kamp abgabefrei habe angelegt werden dürfen. Danach läßt sich also folgendes sagen: Sofern die Amtsuntertanen 1652 Rechte nicht i n Anspruch nahmen, die ein Jahrhundert zuvor i m Schloßbuch vermerkt worden waren, hatte es dabei sein Bewenden, 71
S. 1571. Wie i n meinem Gutachten v o m Februar 1971 näher dargelegt, ist unter dem „Hopenspecken" des Schloßbuchs von 1570 ein Bohlenweg (niederdt. „specken") zu verstehen, der die Hunte i n der Nähe der Bauerschaft Hoopen überquerte. Bis zu dieser Stelle, also nicht einmal halbwegs zur Hengemühle, reichte demnach i m Jahre 1570 das Fischereirecht des Drebbermüllers. 73 Vgl. hierzu den v o m A m t Diepholz i m Jahre 1738 gefertigten Auszug aus dem Schloßbuch von 1570 i n den Prozeßakten betr. das Fischereirecht der Hengelmühle, Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 74 Diepholz V I I I Β 6 c Nr. 8. 72
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ohne daß man auf das ältere Buch zurückgriff. Behaupteten sie dagegen Rechte, welche m i t dem älteren Buche oder den sonstigen amtlichen Nachrichten i n Widerspruch standen, so wurden ihre Angaben als bloße Behauptungen gekennzeichnet. Es kann nach alledem keinem Zweifel unterliegen, daß auch das Lagerbuch von 1652 jedenfalls auf Grund einer Befragung der Amtsuntertanen zustande gekommen ist und daß i h m damit Beweiskraft i m Verhältnis zwischen Herrschaft und Untertanen zukam. 2. Wie verhält sich dieses Resultat zum Ausgang des Prozesses, der i n den Jahren 1766 - 69 beim A m t Diepholz über das Fischereirecht des Drebbermüllers geführt wurde 7 4 ? Diesem Prozeß lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Johann Heinrich Ridder aus Aschen hatte i n der Hunte oberhalb der Drebbermühle m i t einem Hamen 7 4 i l gefischt, also an einer Stelle, an welcher der Drebbermüller das ausschließliche Fischereirecht für sich i n Anspruch nahm. Der Drebbermüller hatte i h m den Hamen abgenommen, und das A m t Diepholz wies i h n auf Antrag des Johann Heinrich Ridder an, diesem den Hamen wieder zurückzugeben. A u f seine Weigerung h i n erhob Ridder beim A m t Diepholz Klage auf Herausgabe. Der Drebbermüller machte hiergegen unter Vorlage eines amtlichen Auszugs aus dem Lagerbuch von 1652 (irrtümlich auf 1670 datiert) geltend, daß i h m bis hinauf zum K o l k der Hengelmühle das ausschließliche Fischereirecht zustehe. Dieser Behauptung widersprach der Kläger i n der mündlichen Verhandlung vom 19. 4.1766 und behauptete unter Berufung auf einen Auszug aus dem Amts-Korn-Register, daß die Fischerei i n dieser Strecke der Hunte gemein sei, also von jedermann ausgeübt werden könne. Der beklagte Drebbermüller ersuchte i n der Folgezeit mehrfach um Zustellung eines Auszuges aus dem Amts-Korn-Register; erst aus seinem Schriftsatz vom 24.11.1768 ergibt sich jedoch, daß er diesen Auszug kurz vorher erhalten hatte. I n diesem Schriftsatz beruft sich der Drebbermüller darauf, daß das Lagerbuch von 1652 als öffentliche Urkunde vollen Glauben verdiene, während das Korn-Register, welches ohne Befragung der Verpflichteten einseitig vom Amte angelegt werde, und auf Berechtigungen wie das Fischereirecht nur beiläufig eingehe, keine solche Beweiskraft be74
Vgl. hierzu: Hauptstaatsarchiv Hannover, A k t e n betr. die Fischereigerechtigkeit der Drebbermühle (Hann. 74 Diepholz V I I I Β 6, c Nr. 10). 74a E i n Hamen ist ein über einen Rahmen gespanntes Handnetz, welches an einem Stiel befestigt ist; vgl. E. Cahn, Das Recht der Binnenfischerei (1956), S. 68.
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anspruchen könne. Wörtlich heißt es hier, das Lagerbuch sei als Beweis vorzuziehen, da es „publica auctoritate" schon gedachtermaßen, bey einer angestellten f ö r m l i chen Untersuchung vor bey nahe 100 Jahren verfertiget ist u n d die Gerechtsamen der Unterthanen, „data opera", darin verzeichnet sind, dahingegen aber die „ j u r a p r i v a t o r u m " n u r blos zur notiz Königl. K a m m e r i n das K o r n Register kommen, u n d nicht „citatis iis quorum interest" eingetragen w e r den, m i t h i n einen 3ten so wenig praejudiciren, als sie i n Ansehung dieser Gerechtsamen, i n so fern sie öffentlichen Acten wiedersprechen, die m i n deste K r a f t behalten, vielmehr solches ein sicheres Zeichen ist, das der zeitige Rechnungs Führer, oder allenfalls deßen Schreiber, sothane öffentliche acten nicht sattsam nachgesehen . . , 7 5 .
Hier w i r d nicht nur geltend gemacht, das Amts-Lagerbuch sei unter Vorladung der Betroffenen i n einem Verfahren formeller Inquisition, also eidlicher Einvernahme, errichtet worden, sondern es w i r d hieraus auch die Folgerung gezogen, dem Buche komme i m Gegensatz zum Kornregister insofern öffentlicher Glaube zu, als es die Privatrechte der Beteiligten m i t Wirkung gegen Dritte verbindlich feststelle. Diese Rechtsansicht stimmt i m Prinzip mit der oben dargestellten Auffassung der Juristen jener Zeit überein. Dennoch wurde der Drebbermüller vom A m t Diepholz durch Urteil vom 20.4.1769 verurteilt, dem Johann Heinrich Ridder seinen Hamen wieder herauszugeben und i h n i n der Ausübung seines Fischereirechts nicht länger zu beeinträchtigen, und zwar unter ausdrücklicher Berufung darauf, daß das Lagerbuch von 1652 „nicht mit den i n Rechten erforderlichen ,requisitis' versehen" sei. Der Oberamtmann Partz, welcher das Urteil i m Jahre 1783 i m vollen Wortlaut i n sein handschriftliches Sammelwerk aufnahm, bemerkt hierzu, daß der Drebbermüller „sich bei diesem Erkenntnis beruhiget" habe 76 . Hiermit scheint es freilich i m Widerspruch zu stehen, daß der Drebbermüller nach Ausweis der Prozeßakten mit Schriftsatz vom 4. 5.1769 seine Absicht ankündigte, an die Justizkanzlei i n Hannover zu appellieren und daß diese Appellation nur deshalb unterblieb, weil i h m das A m t Diepholz die Erteilung der hierfür erforderlichen Dokumente m i t der Begründung abschlug, daß die Appellationsfrist bereits verstrichen sei. Ein Gesuch des Anwalts des Drebbermüllers u m Verlänge75
Schriftsatz des Johann Drebbermüller v o m 24.11.1768 i n den A k t e n des Prozesses des Johann Heinrich Ridder zu Aschen et. Cons, gegen Johann Drebbermüller (Hann. 74 Diepholz V I I I Β 6 c Nr. 10). 76 Registratur u n d andere Nachrichten zur Kenntnis der Beschaffenheit u n d Verfassung des Amtes Diepholz (1783) I I § 515 „Fischerei des Drebbermüllers", S. 263 - 265 (Hann. 74 Diepholz I C Nr. 19). 7 Festschrift für Werner Weber
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rung der Frist (des sogenannten „fatale") blieb ohne Erfolg. Gerade dieser letztere Vorgang zeigt aber, daß die Interpretation des Oberamtmanns Partz zutrifft, denn nach dem Zeugnis eines bedeutenden hannoverschen Juristen jener Zeit, Friedrich Esajas Pufendorf, des damaligen Vizepräsidenten des Oberappellationsgerichts i n Celle, dienten die Bemühungen u m Verlängerung der Fatalien oft nur dazu, das Eingeständnis der Niederlage zu verschleiern. I n seinem „Entwurf eines hannoverschen Landrechts" führt Pufendorf aus: W a n n w i r auch vernehmen, daß die procuratores vielfältig ohne daß es ihnen v o n der Partei aufgegeben worden, bloß u m ihren Fleiß u n d Sorgfalt bezeigen zu wollen, u m Verlängerung der fatalien und andere Termine bitten, u n d denn vielmehr i n solchen Fällen zu schließen ist, daß die Partei die Sache nicht fortsetzen wollen, so soll solches durchaus weiter nicht gestattet, sondern das Gesuch abgeschlagen werden 7 7 .
Nur auf den ersten Blick steht also diese Prozeßniederlage des Drebbermüllers und sein verschleierter Verzicht auf Appellation i m Widerspruch zu den oben begründeten Ergebnissen. I n Wahrheit stimmt sie m i t ihnen vollkommen überein: die Niederlage des Drebbermüllers gegenüber Johann Heinrich Ridder, der sich auf ein gemeines Fischereirecht berief, beruht nämlich eben darauf, daß die Beweiswirkung des Amtsbuches auf das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen beschränkt ist und sich nicht auf die Rechte Dritter erstreckt. U m solche aber ging es i n diesem Prozesse ebenso wie in dem ähnlichen Prozeß über das Fischereirecht der Hengemühle 78 . Eine Beweiswirkung gegen Dritte könnte das Lagerbuch nur dann haben, wenn aus ihm hervorginge, daß der Inhalt des gesamten Buches von allen Beteiligten nach Verlesung gebilligt worden sei — unabhängig davon, ob diese Zustimmung nur von Amtmann und Amtschreiber oder auch von einem Notar beurkundet wurde. Über einen solchen Vorgang aber läßt sich weder dem Schloßbuch von 1570 noch dem Lagerbuch von 1652 etwas entnehmen. Zwar ergab die Untersuchung beider Amtsbücher unzweideutig, daß sie auf Angaben der Beteiligten selbst beruhten und daß sie verlesen und gelegentlich dieser Verlesung auf Grund ergänzender Angaben der Beteiligten vervollständigt wurden. Hieraus läßt sich jedoch nur entnehmen, daß jeder der einvernommenen Untertanen den i h n selbst betreffenden Eintrag gebilligt hat, nicht dagegen, daß diese Kenntnisnahme und Billigung sich auch auf die i m 77
Friedrich Esaias Pufendorfs E n t w u r f eines hannoverschen Landrechts (v. Jahre 1772), hrsg. v. W. Ebel (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens Bd. 78, 1970, Tit. X V § 2), S. 42. 78 Vgl. Hauptstaatsarchiv Hannover, A k t e n betr. das Fischereirecht der H e n g e m ü h l e von 1738 u n d 1772/73 (Hann. 74 Diepholz V I I I Β 6 c Nr. 8).
Z u r rechtlichen Bedeutung der Amtsbücher v o m 16. bis 18. Jahrhundert
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Amtsbuch vermerkten Pflichten und Berechtigungen der übrigen Untertanen bezog. I m Hinblick auf die Rechte Dritter wies das Lagerbuch von 1652 also i n der Tat nicht die „ i m Rechten erforderlichen Requisita" auf. Der Klage des Johann Heinrich Ridder mußte deshalb folgerichtig stattgegeben werden, während eine entsprechende Klage des Fiskus sicherlich hätte abgewiesen werden müssen. Der Prozeßausgang von 1769 steht demnach nicht i n Widerspruch zu der Feststellung, daß die Amtsbücher i m Verhältnis zwischen Herrschaft und Untertan volle Beweiskraft besaßen. 3. Nach alledem steht außer Zweifel, daß ein ausschließliches Fischereirecht des Drebbermüllers i n der Hunte seit dem Jahre 1570 durch Beweismittel von solcher Beweiskraft belegt ist, daß es nach der i n Rechtsprechung und Schrifttum einhelligen Auffassung der Zeit gegenüber der Obrigkeit jederzeit durchgesetzt werden konnte. Dem Lande Niedersachsen standen demgegenüber keine besseren Beweismittel zur Verfügung als allen seinen Rechtsvorgängern bis hinauf zu den Grafen von Diepholz. Deshalb ist es nur folgerichtig, daß zunächst das Landgericht Verden und sodann das Oberlandesgericht Celle der Feststellungsklage des Drebbermüllers stattgaben 79 . Das letztgenannte Urteil ist rechtskräftig; das Land Niedersachsen kann den Drebbermüllern also das Fischereirecht, das sie seit 400 Jahren behauptet und verteidigt haben, künftig nicht mehr streitig machen. Freilich ist damit noch nichts über den eigentlichen Entstehungstatbestand dieses Rechtes gesagt, also darüber, wann und von wem die Drebbermüller dieses Recht erlangt haben. Es ist hier nicht der Ort, auch dieser Frage näher nachzugehen 80 . Zusammenfassend kann jedoch gesagt werden, daß der diepholzische Besitz i n Drebber aus zwei Komplexen besteht: einmal aus uraltem Hausbesitz, und zum anderen aus zwei grundherrschaftlichen Hofverbänden, welche die Diepholzer zunächst pfandweise 1278, und dann endgültig 1331 von den Bischöfen von Osnabrück erworben hatten. Zu diesem ehemals osnabrückischen Besitz gehörte auch die Drebbermühle. Schon bei der frühesten Erwähnung dieses Güterkomplexes i n einer Urkunde Kaiser Ottos II. i m Jahre 980 werden als Zubehör ausdrücklich auch Mühlen und Fischereirechte genannt. So liegt der Schluß nahe, daß das Fischereirecht der Drebbermühle durch Verleihung seitens der Grundherren erlangt wurde, und dies läßt sich durch viele Einzelbeobachtungen stützen. 79
U r t e i l des L G Verden v o m 10. 6.1971 (4 Ο 328/69); U r t e i l des O L G Celle v o m 9.3.1972 (7 U 149/71). Beide Entscheidungen stützten sich wesentlich auf das i m Februar 1971 erstattete rechtshistorische Gutachten. 80 M e i n Gutachten v o m Februar 1971 sucht die i m Text angedeuteten Thesen eingehend zu begründen. *
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So waren es vermutlich die Grafen von Diepholz oder gar schon (vor 1278 bzw. 1331) die Bischöfe von Osnabrück, die den Drebbermüllern dieses Recht übertragen haben. Die Amtsbücher des 16. und 17. Jh. überliefern also, wenn dies richtig ist, einen Rechtszustand, der noch Jahrhunderte weiter zurückreicht.
VII. Die Amtsbücher des 16. und 17. Jh. waren eine systematische Bestandsaufnahme der mannigfaltigen landesherrlichen Rechte, aus denen allmählich die einheitliche Staatsgewalt hervorwuchs. Sie bezeichnen damit eine entscheidende Entwicklungsstufe der deutschen Territorialstaaten, für deren Verwaltung sie ein wichtiges Hilfsmittel darstellen. Allerdings waren sie zugleich mehr als das. Die Amtsbücher umschrieben nämlich auch die Rechtsstellung der Untertanen und sicherten i h m damit deren gerichtliche Verteidigung gegenüber der Obrigkeit. Wegen ihrer anerkannten Beweiskraft kam den Amtsbüchern i m „Rechtsbewahrstaat" des Ancien Régime eine hohe rechtsstaatliche Bedeutung zu. Wie weit die Beweiskraft der Erbregister, Salbücher oder Lagerbücher reichte und wie sie rechtlich begründet ist, bedarf freilich noch der näheren Untersuchung. Wie sich aus der Literatur ergibt, bezieht sich die Beweiswirkung der Einträge nämlich nicht nur auf die vom Untertanen abgegebene Erklärung über den Umfang seiner Pflichten und die i n der amtlichen Niederschrift zum Ausdruck kommende korrespondierende Erklärung der Obrigkeit. Sie erstreckt sich vielmehr auch auf deren Inhalt, also auf die einzelnen Berechtigungen und Leistungspflichten 81 , und damit auf das Rechtsverhältnis zwischen Herrschaft und Untertan selbst. Da von einem möglichen Gegenbeweis kaum jemals die Rede ist 8 2 , reicht diese Wirkung der Amtsbucheinträge i m Grunde schon über eine bloße Beweiswirkung hinaus und läßt sich nur aus einer dispositiven Natur des Amtsbuches erklären 8 3 .
81 Dies ergibt sich aus nahezu dem ganzen oben angeführten Schrifttum. Vgl. als weiteres Beispiel J. Rudinger, Singulares Observationes j u r i s Cameralis, Saxonici, Civilis et Feudalis (an: P. M. Wehner, Practicae Juris Observationes, ed. J. Schilter, Straßburg 1701), S. 686, Cent. I V Obs. X L I . Saalbuch (Schätzung oder Steuer-Register . . . v i m publici instrumenti habent. N a m piene probant quantitatem collectarum . . . solvendarum, non autem quoad tertii praeiudicium...). 82 Eine Ausnahme bildet n u r der i n vor. Anm. zitierte J. Rudinger, der die Bedeutung des Amtsbucheintrages i n einer Verschiebung des onus probandi sieht.
Zur rechtlichen Bedeutung der Amtsbücher v o m 16. bis 18. Jahrhundert 101
T r i f f t dies schon für die Fälle zu, i n denen das Amtsbuch lediglich zwischen Herrschaft und Untertan beweist, so g i l t es u m so mehr dort, wo dem Amtsbuch infolge seiner öffentlichen Verlesung, Beeidigung und notariellen Beurkundung Beweiskraft für und gegen jedermann zukommt. Hier hat das Amtsbuch i m Grunde den Charakter einer vereinbarten Norm; es „ g i l t " , wie man bisweilen ausdrücklich sagt 84 . Besonders aufschlußreich ist i n dieser Hinsicht, was Friedrich Esaias Pufendorf 1772 i n seinem Entwurf eines hannoverschen Landrechts ausführte. Hier heißt es wörtlich: I n Ansehung der A m t s - Lager- u n d Salbücher ist Uns vorgetragen, daß solche aus denen alten Weisthümern zusammen getragen seyn, welche ehedem bey gehegtem Gericht von denen beeidigten Schoppen oder FindungsLeuten eingebracht worden. W i r finden es demnach für billig, daß diese Bücher i n demselben A m t e und Gerichte unter denen Gerichts-Unterthanen so lange gelten, bis das Gegentheil erwiesen werde 8 5 .
Es geht also i n Wahrheit nicht u m das Problem der Beweiskraft von Urkunden, sondern u m die Geltung eines örtlichen Gewohnheitsrechtes, einer Observanz. Allerdings beruht es nicht auf naturrechtlichem Vertragsdenken, wenn man sich die gegen-seitigen Rechte und Pflichten i m Verhältnis zwischen Herrschaft und Untertan als auf objektives Recht gegründet vorstellte 8 6 . Vielmehr t r i t t hier eine eindrucksvolle Beharrungskraft alter Rechtsvorstellungen zutage: Weil es i n der Rechtsweisung wurzelt, hat das Amtsbuch Wirkungen, die denen einer gewohnheitsrechtlichen Observanz nahekommen. Der geschichtliche Zusammenhang von Weistum, Urbar und Amtsbuch 8 7 , der hierin deutlich zum Ausdruck kommt, würde eine gründlichere Untersuchung verdienen.
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Vgl. zur Beweiskraft der U r k u n d e n nach gemeinem Prozeßrecht die sehr klaren Darlegungen von Heimbach, A r t . „ U r k u n d e n " , i n : (Weiskes) Rechtslexikon Bd. X I (1857), S. 655 ff. 84 Vgl. etwa P. M. Wehner, Practicae Juris Observationes, ed. J. Schilter (Straßburg 1701), S. 63 s. v. „Bücher". 85 Tit. L X V I I I § 6 (auf S. 139 der oben A n m . 77 zitierten Ausgabe von Ebel). 86 Wie schwer es das naturrechtliche Vertragsdenken hatte, sich i m V e r hältnis zwischen Bauer u n d Herrschaft durchzusetzen, zeigte eindrucksvoll K. Bader, D o r f und Dorfgemeinde i m Zeitalter von Naturrecht u n d A u f k l ä rung, i n : Festschrift für K . G. Hugelmann I (1959), bes. S. 25 ff. 87 Außer den oben i n Anm. 54 zitierten grundlegenden Ausführungen von K. Lamprecht, vgl. neuerdings K. S. Bader, Rechtsformen u n d Schichten der Liegenschaftsnutzung i m mittelalterl. Dorf (Studien zur Rechtsgesch. des mitt. Dorfes I I I , 1973), S. 240 ff.
I I . Deutschlands Rechtslage
Zur Anwendbarkeit der Gemeineamen Entschließung vom 17. 5. 1972 auf den Grundlagenvertrag Von Friedrich Klein A. Die Gemeinsame Entschließung vom 17. Mai 1972 I. I n der 183. Sitzung der 6. Wahlperiode des Deutschen Bundestages am 27. A p r i l 1972 unternahm es die Opposition, die Regierung Brandt! Scheel durch ein konstruktives Mißtrauensvotum gemäß A r t . 67 GG. zu stürzen 1 . Nachdem dieser Versuch infolge des Fehlens von zwei Stimmen für den Oppositionsführer Rainer Barzel gescheitert war 2 , galt es i n Bonn als denkbar — und dies wurde auch in Regierungskreisen bestätigt —, daß eine bestimmte „Anreicherung" der beiden Ostverträge vom 12. August bzw. 7. Dezember 1970 i m parlamentarischen Verfahren schließlich doch zu einer gemeinsamen Linie von Koalition und Opposition führen könnte. Schon zu der Zeit, als die Ostverträge noch i m Auswärtigen Ausschuß des Bundestages beraten wurden, hatte der FDP-Abgeordnete Freiherr von Kühlmann-Stumm den Entwurf einer gemeinsamen Entschließung zur Deutschland-Politik vorgelegt. Für die Opposition war von Anfang an entscheidend, daß eine solche Entschließung, die kein Bestandteil der Verträge, ja nicht einmal eine Vertragspräambel sein konnte, von den Vertragspartnern offiziell zur Kenntnis genommen werden müsse; eine einseitige Bonner Entschließung, von welcher der Vertragspartner nicht einmal Kenntnis nähme, wurde für ungenügend gehalten. Nach über vierzehntägigen intensiven Überlegungen, Besprechungen und Verhandlungen zwischen Bundeskanzler W i l l y Brandt und Oppositionsführer Rainer Barzel, i n drei interfraktionellen Verhandlungskommissionen, i n den Fraktionen und zwischen ihnen wurde i n der 187. Sitzung des V I . Deutschen Bundestages am 17. Mai 1972 nach der Annahme der Vertragsgesetze zu den beiden Ostverträgen ein Entschließung santrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP vom 1 2
Vgl. StenBer. S. 10 697 A/B. StenBer. S. 10 714 D.
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Friedrich
ein
10. Mai 1972 s in namentlicher Abstimmung mit 490 Ja-Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen der 496 uneingeschränkt stimmberechtigten Abgeordneten angenommen 4 . Der Bundesrat machte sich diese Entschließung am 19. Mai 1972 einstimmig zu eigen 5 . II. Aus dieser Bundestagsresolution (üblicherweise als „Gemeinsame Entschließung" — GE. — bezeichnet), deren Wortlaut i n der sog. „Bonner Vierergruppe" m i t Diplomaten aus den drei westlichen Botschaften und dem sowjetischen Botschafter i n Bonn, Valentin Falin, sowie dem Auswärtigen A m t abgestimmt worden war, kommt den Nrn. 1 bis 3 i n den folgenden Formulierungen besondere Bedeutung zu: „Die Verträge m i t Moskau und Warschau . . . sind wichtige Elemente des Modus vivendi, den die Bundesrepublik Deutschland m i t ihren östlichen Nachbarn herstellen w i l l . . . Die Verträge nehmen eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland nicht vorweg u n d schaffen keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen . . . M i t der Forderung auf V e r w i r k l i chung des Selbstbestimmungsrechts erhebt die Bundesregierung Deutschland keinen Gebiets- oder Grenzänderungsanspruch."
I I I . Für die Lösung des gestellten Problems, nämlich die Bedeutung der — ausdrücklich nur auf die beiden Ostverträge des Jahres 1970 bezüglichen — GE. für die Auslegung des Grundlagenvertrages mit der DDR aus dem Jahre 1972 aufzuzeigen, kommt dem sog. Bahr-Papier i m allgemeinen und in einem seiner Punkte i m besonderen entscheidende Bedeutung zu. B. Das Bahr- oder Bahr-Gromyko-Papier I. Bei dem sog. Bahr-Papier oder auch Bahr-Gromyko-Papier handelt es sich u m den Text eines i n Aussicht genommenen Gewaltverzichtsabkommens zwischen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Bundesrepublik Deutschland, den der damalige Staatssekretär i m Bundeskanzleramt Egon Bahr und der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko vor der Aufnahme der offiziellen Verhandlungen über den Moskauer Vertrag i n Sondierungsgesprächen i n Moskau ausgehandelt haben 6 . Dieses Papier war i n der ersten Hälfte des 3
StenBer. S. 10 960 Β - 10 961 Β ; Umdruck 287 StenBer. S. 10 943 C; vgl. auch Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen: Texte zur Deutschlandpolitik Band 10, J u n i 1972, S. 582; B u l l e t i n des Presse- u n d Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 72 v o m 19. M a i 1972, S. 1 047/48. — Von den Berliner Abgeordneten übten alle i h r Stimmrecht aus; es stimmten 22 m i t ja, keine Enthaltung, keine Nein-Stimme. 5 Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, a.a.O., S. 603. 6 Vgl. die Text-Wiedergabe i n F A Z Nr. 134 und „Die W e l t " Nr. 135, jeweils v o m 13. J u n i 1970. 4
Gemeinsame Entschließung u n d Grundlagenvertrag
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Jahres 1970 unautorisiert und i n peinlicher Indiskretion zunächst von zwei Presseorganen — der „Bild-Zeitung" und der Illustrierten „Quick" — veröffentlicht worden; späterhin wurde es auch von der Bundesregierung offiziell bekanntgegeben 7 . II. Das Bahr-Papier 7 besteht aus zehn Punkten, die sich aufbaumäßig und inhaltlich-sachlich i n zwei Teile gliedern lassen: die Punkte 1 bis 4, die schon fast wörtlich den Inhalt des späteren Moskauer Vertrages wiedergeben und m i t nur geringfügigen Abweichungen i n diesen Vertrag eingegangen sind, und die Punkte 5 bis 10, die nicht Bestandteil des Moskauer Vertrages geworden sind, mit denen es aber immerhin die folgende Bewandtnis hat: Sie enthalten nichts, was die Bundesregierung nicht schon vorher als ihre Absichten dargelegt hat; sie stellen nur Absichterklärungen der Bonner, aber auch der Moskauer Regierung dar. Da sie nur zwischen den beiden Regierungen ausgehandelt und vereinbart wurden und m i t dem Vertragstext selbst nichts zu tun haben sollten, sollten sie auch nicht veröffentlicht werden 8 . Sie kennzeichnen die politische Linie, an die sich Bonn und Moskau zu halten gedenken. I I I . Für die hier anzustellenden Betrachtungen ist der Punkt 5 des Bahr-Papiers bzw. der entsprechende Punkt 6 der Aufzeichnungen Gromykos entscheidend. Punkt 5 des Bahr-Papiers
hat den folgenden Wortlaut:
„Zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland u n d der Regierung der U n i o n der Sozialistischen Sowjetrepubliken besteht Einvernehmen darüber, daß das von ihnen zu schließende A b k o m m e n über . . . (einzusetzen die offizielle Bezeichnung des Abkommens) u n d entsprechende A b k o m m e n (Verträge) der Bundesrepublik Deutschland m i t anderen sozialistischen L ä n dern, insbesondere die A b k o m m e n (Verträge) m i t der Deutschen Demokratischen Republik (vgl. Ziffer 6), der Volksrepublik Polen und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (vgl. Ziffer 8), ein einheitliches Ganzes bilden."
Nach den Aufzeichnungen Gromykos, wie sie durch die Bundestagsabgeordneten K a r l Freiherr von und zu Guttenberg (CSU) und Werner Marx (CDU) bekanntgeworden sind, lautet der entsprechende Punkt 69: „Zwischen der UdSSR u n d der B R D besteht Einvernehmen darüber, daß das von ihnen geschlossene A b k o m m e n und entsprechende Abkommen der 7
Vgl. B u l l e t i n des Presse- u n d Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 109 v o m 17. August 1970, S. 1 096 - 1 098. 8 Vgl. F A Z Nr. 149 v o m 2. J u l i 1970 („Neuer Streit wegen des Bahr-Papiers"). 9 Vgl. F A Z Nr. 168 v o m 20. J u l i 1970.
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Friedrich
ein
B R D m i t anderen sozialistischen Ländern, insbesondere m i t der DDR, der PVR u n d der CSSR, ein einheitliches Ganzes bilden."
I n der Sache stimmen das Bahr-Papier nungen offensichtlich überein.
und die GromyJco-Aufzeich-
IV. A m 2. J u l i 1970 nahm der SPD-Pressedienst i n Bonn unter der Überschrift „Sensationen, die keine sind" zu der Veröffentlichung der Punkte 5 bis 10 des Bahr-Papiers Stellung 1 0 . Es heißt dort zu den Absichtserklärungen i n den Sondierungsgesprächen zwischen Bahr und Gromyko: „ E i n Vertrag mit der Sowjetunion, ein Vertrag m i t Polen, ein Vertrag m i t der CSSR und die Regelung der Beziehungen mit der DDR sind als ein einheitliches Ganzes zu betrachten. So steht es i m ,Bahr-Papier'. Aber das hat doch der Bundeskanzler schon i m Januar und i m Februar und i m März gesagt! Sollten die ,geheimen' Punkte etwa darin bestehen, daß dort die bekannte Politik der Bundesregierung formuliert ist?" Ergänzend dazu wurde i n Bonn darauf hingewiesen, daß es tatsächlich der Auffassung der Bundesregierung entspreche, die Verträge als ein einheitliches Ganzes zu betrachten. Wer die Entspannung i n Europa wolle, könne dies eben nicht nur durch einen Vertrag zwischen Bonn und Moskau erreichen. Wie diplomatische Kreise ergänzend erklärten, bedürfe es hierfür eines ganzen Paketes von Vereinbarungen. I m übrigen wurde daran erinnert, daß der Zusammenhang aller dieser einzelnen Verträge Bonns m i t Moskau, Warschau, Prag und Ost-Berlin zugleich der Hebel sei, u m Ost-Berlin, das bisher vor jeder derartigen Regelung die volle völkerrechtliche Anerkennung durch Bonn verlangt hätte, dazu zu zwingen, von dieser extremen Position abzulassen. Da dies erstmals offensichtlich auch m i t sowjetischem Einverständnis geschehe, sei i n der Formulierung in Punkt 5 des Bahr-Papiers ein Fortschritt zu sehen. I n der Tat hat die Bundesregierung immer erklärt, Verträge mit Moskau, Warschau und Ost-Berlin würden von ihr als Ganzes angesehen 1 1 . Noch i m letzten Drittel des Monats J u l i 1970 wurde auf Grund des Punktes 5 des Bahr-Papiers in Bonn damit gerechnet, daß die Bundesregierung den deutsch-sowjetischen Vertrag zusammen m i t den angestrebten Abkommen m i t Polen, der Tschechoslowakei und der DDR dem Parlament zur gleichzeitigen Beschlußfassung über die Vertragsgesetze vorlegen werde 1 2 . 10
Vgl. F A Z Nr. 150 v o m 3. J u l i 1970. Vgl. F A Z Nr. 149 v o m 2. J u l i 1970 („Neuer Streit wegen des Bahr-Papiers"). 12 „Die W e l t " Nr. 168 v o m 23. J u l i 1970. 11
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Unter A I I I ihrer Denkschrift vom 22. Dezember 1972 12a zum Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik hat die Bundesregierung nachzuweisen versucht, daß der Grundlagenvertrag der Nr. 10 der GE. „Rechnung trägt". Dies ist wohl dahin zu verstehen, daß die GE. nach ihrer Meinung auch für den Grundlagenvertrag maßgebend ist. I m Zuge der parlamentarischen Beratung des Grundlagenvertrages wies die FDP darauf hin, die Haltung Bayerns, wie sie i n seinen zweimaligen Anträgen an das Bundesverfassungsgericht auf Erlaß einstweiliger Anordnungen zum Ausdruck gekommen sei, widerspreche der GE., i n der übereinstimmend festgestellt worden sei, daß die Ostverträge einer friedlichen Wiedervereinigung i m europäischen Rahmen nicht entgegenständen 13 . I n diesem Hinweis ist die Auffassung erkennbar, die GE. erfasse auch den Grundlagenvertrag.
C. Der Rechtscharakter der Gemeinsamen Entschließung vom 17. Mai 1972 Bedeutsam könnte die GE. für den Grundlagenvertrag nicht nur i n faktisch-politischer Hinsicht, sondern auch mit rechtlicher Wirkung dann sein, wenn ihr juristische Erheblichkeit und rechtliche Verbindlichkeit zukämen. I n dieser Hinsicht müssen ihre innerstaatliche und ihre völkerrechtliche Seite auseinandergehalten und klar voneinander unterschieden werden. Da sowohl die beiden Ostverträge als auch der Grundlagenvertrag völkerrechtlich wirksam geworden sind — und zwar die ersten beiden Verträge durch regelrechte Ratifikation i m Wege des Austausches von Ratifikationsurkunden auf Grund Vollmacht des Bundespräsidenten (vgl. A r t . 5 bzw. A r t . V), der Grundlagenvertrag durch Austausch seitens der beiden Regierungen ausgefertigter „entsprechender Noten" (vgl. A r t . 10) —, hat die GE. i n völkerrechtlicher Sicht nur diese Bedeutung: Der Auslegung und Handhabung der beiden Ostverträge und des Grundlagenvertrages durch die Bundesrepublik Deutschland i m Sinne der GE. kann von den Vertragspartnern Sowjetunion und Polen sowie DDR nicht mit völkerrechtlicher Wirkung widersprochen werden, obwohl die deutsche Auslegung der Vertragspartner ihrerseits rechtlich nicht bindet. Demgemäß kommen für die folgende Untersuchung nur die innerstaatsrechtliche Seite der GE. und 12a
Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, a.a.O., Band 11, Januar 1973, S. 397 - 406, S. 399 - 401. 13 Vgl. F A Z Nr. 121 v o m 25. M a i 1973.
Friedrich
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d i e sich daraus ergebende Frage lichkeit i n B e t r a c h t . I. Die
GE. g e h ö r t
zur
ein
nach ihrer
Kategorie
staatsrechtlichen
derjenigen
Verbind-
Willens-(Meinungs-)-
k u n d g e b u n g e n (-äußerungen) des P a r l a m e n t s , d i e h e r k ö m m l i c h der B e z e i c h n u n g „schlichte Parlamentsbeschlüsse" parlamentarische
Beschlüsse"
unter
oder auch „einfache
zusammengefaßt w e r d e n . Solche Beschlüs-
se k ö n n e n „ W e i s u n g e n " oder „ E r s u c h e n " des P a r l a m e n t s a n d i e Regier u n g oder „ E n t s c h l i e ß u n g e n " ( „ R e s o l u t i o n e n " ) des P a r l a m e n t s — ohne oder m i t A d r e s s a t e n — s e i n 1 4 . Sie s t e l l e n eine z w e i t e A r t u n d F o r m d e r 14
Die Terminologie ist uneinheitlich u n d w i r d m i t u n t e r selbst von ein u n d demselben A u t o r nicht eingehalten. Max Obermeier stellt i n seiner Dissertation über „Die schlichten Parlamentsbeschlüsse nach dem Bonner Grundgesetz, insbesondere ihre Zulässigkeit u n d Rechtsnatur" (1965) solchen Beschlüssen als „Entscheidungen des Bundestages" die Gruppe der „sog. »Weisungen4 des Bundestages an die B u n desregierung" gegenüber (S. 2/3). Dabei nennt er auf S. 2 i n A n m . 5 als „ a n dere Bezeichnungen" f ü r Weisungen: „Entschließungen, Resolutionen, E r suchen". Jürgen Criegee verwendet i n seiner Dissertation über „Ersuchen des Parlaments an die Regierung" (1965) zwar den Ausdruck „Ersuchen" als „Sammelbezeichnung" für alle „einfachen Beschlüsse" (S. 1), spricht jedoch von dem „Begriff des Ersuchens u n d der Entschließung" (S. 90) u n d meint insbesondere — dabei gegen Ernst Friesenhahn polemisierend —, daß sich „beide Begriffe — schlichter Parlamentsbeschluß u n d Ersuchen — k a u m decken" dürften (S. 6). Gleichwohl versteht er defini torisch unter einem Ersuchen „ e i nen einfachen Parlamentsbeschluß (!), der die Regierung zu einem bestimmten Verhalten auffordert" (S. 10), bzw. unter Ersuchen „schlichte Parlamentsbeschlüsse (!), welche die Regierung zu einem bestimmten Verhalten auffordern" (S. 123). Den „Ersuchen i m engeren Sinn", deren Text m i t der Formel „Die Regierung w i r d ersucht" oder ähnlichen sinnverwandten E i n leitungen (etwa: „Die Regierung w i r d aufgefordert" oder „Die Regierung w i r d beauftragt") stellt er jene Beschlüsse als v o m Begriff des Ersuchens umfaßt gegenüber, die der Regierung eine an die Volksvertretung gerichtete B i t t e oder Beschwerde „zur Berücksichtigung" überweisen (S. 9). E r unterscheidet die Ersuchen i n solche i n Gesetzgebungsangelegenheiten (S. 32 - 36 u n d 61) — u n d zwar Ersuchen u m Vorlage eines Gesetzentwurfs (S. 33/34), Ersuchen u m Einstellung eines bestimmten Betrages i n den Haushaltsplan (S. 34/35), Ersuchen u m Erlaß, Aufhebung oder Abänderung einer Rechtsverordnung (S. 35/36) —, Ersuchen i n Regierungsangelegenheiten (S. 36 - 40 u n d 61 - 70) — u n d zwar außenpolitische Ersuchen (S. 36/37), Ersuchen i n Bundesangelegenheiten (S. 37/38), innenpolitische Ersuchen anderer, mehrfacher A r t (S. 38 - 40) —, Ersuchen i n Verwaltungsangelegenheiten (S. 40 - 42 u n d 71-79) sowie Ersuchen u m A u s k u n f t (S. 42/43). Als „Entschließungen" werden i n § 30 Abs. 1 Satz 1 der Geschäftsordnung der Bremischen Bürgerschaft v o m 17. Oktober 1956 (BG1. S. 135) „Meinungsäußerungen der Bürgerschaft" bezeichnet. Geschäftsordnungen anderer L a n desparlamente gebrauchen den Begriff „Entschließung", ohne i h n jedoch zu erläutern (vgl. etwa § 89 GeschO. BT., § 47 Abs. 2 u n d § 52 Abs. 1 GeschO.
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p a r l a m e n t a r i s c h e n W i l l e n s k u n d g e b u n g e n d a r , da d e m P a r l a m e n t g r u n d sätzlich z w e i A r t e n u n d F o r m e n f ü r seine W i l l e n s ä u ß e r u n g e n z u r V e r f ü g u n g stehen: das Gesetz u n d der schlichte P a r l a m e n t s b e s c h l u ß 1 5 . Daß einfache p a r l a m e n t a r i s c h e Beschlüsse zulässig sind, w i r d v o n der w e i t aus ü b e r w i e g e n d e n M e i n u n g i m F a c h s c h r i f t t u m b e j a h t 1 6 . D a r ü b e r , w i e i h r e Z u l ä s s i g k e i t z u b e g r ü n d e n sei, gehen die M e i n u n g e n
allerdings
e r h e b l i c h a u s e i n a n d e r 1 7 — e i n P r o b l e m , d e m h i e r n i c h t nachgegangen werden kann. 1. Für
die begriffliche
Erfassung
des schlichten
Parlamentsbeschlus-
ses u n d seine U n t e r s c h e i d u n g u n d A b g r e n z u n g gegenüber d e m Gesetz 1 8 s i n d drei
Kriterien
d e n k b a r : d i e A r t u n d Weise seines Z u s t a n d e k o m -
mens (a), seine R e c h t s v e r b i n d l i c h k e i t (b) u n d seine A d r e s s a t e n (c). a) I n d e r Regel w i r d d e r schlichte P a r l a m e n t s b e s c h l u ß grenzung
vom
förmlichen
durch
Ab-
Gesetz gekennzeichnet u n d i n seinem r e c h t -
des Landtages Baden-Württemberg v o m 21. Oktober 1965). Criegee stellt u n ter den von i h m unterschiedenen vier Vorgängen i m parlamentarischen Bereich u. a. die schlichten oder einfachen Parlamentsbeschlüsse einerseits u n d die Entschließungen andererseits als je selbständige Kategorie h i n und bestimmt die Entschließungen als „Beschlüsse . . . , welche sich als M e i n u n g s äußerungen der Volksvertretung' definieren lassen und gemeinhin als ,Resolutionen 4 oder ,Entschließungen' bezeichnet werden, und zwar insbesondere jene, die keinen Adressaten auf weisen oder sich doch jedenfalls nicht an die eigene Regierung richten" (S. 7/8). — I n der letztgenannten Hinsicht habe ich selbst „nicht-adressierte" und „adressierte" Entschließungen unterschieden (Friedrich Klein: Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen — B V e r w G 12, 16, Juristische Schulung 1964, S. 181 -190, S. 184). — I n Übereinstimmung m i t der — soweit ersichtlich — einhelligen Meinung i m Fachschrifttum spricht auch Criegee den Entschließungen des Deutschen Bundestages die Qualität eines Beschlusses i. S. des A r t . 42 Abs. 2 GG. ab (S. 15; vgl. i n diesem Sinn etwa auch Hamann - Lenz, GG. 3 A n m . Β 2 Abs. 2 u n d 3 zu A r t . 42, S. 463; Klein, S. 183; von Mangoldt - Klein, GG Anm. I V 2 Abs. 2 zu A r t . 42, S. 930; Maunz i n Maunz - Dürig - Herzog, GG RN. 14 zu A r t . 42. 15 Vgl. Richard Thoma: Der Vorbehalt der Legislative u n d das Prinzip der Gesetzmäßigkeit von V e r w a l t u n g und Rechtsprechung, HdbDStR. I I , S. 221 236, S. 221. 16 Vgl. die umfangreichen Nachweisungen bei Obermeier, S. 100 Anm. 1. — Bei Criegee für parlamentarische Ersuchen i n Gesetzgebungs-, Regierungs-, Verwaltungs- u n d Rechtspflegeangelegenheiten i m besonderen eine NuancenAbstufung von „zulässig" über „begrenzt zulässig" bis „unzulässig". 17 Vgl. etwa Obermeier (für schlichte Parlamentsbeschlüsse schlechthin): kraft ungeschriebener Zuständigkeit zufolge des parlamentarischen Regierungssystems (S. 138, 139 und 156); Criegee (für parlamentarische Ersuchen i n Gesetzgebungs-, Regierungs-, Verwaltungs- und Rechtspflegeangelegenheiten i m besonderen): k r a f t Verfassungsgewohnheitsrechts (S. 50), k r a f t Gewohnheitsrechts i m Rahmen des parlamentarischen Systems (S. 53). 18 Criegee meint, es sei „schwierig, wenn nicht gar unmöglich", „Gesetz u n d Ersuchen nach materiellen K r i t e r i e n voneinander abzugrenzen" (S. 5/6).
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ein
liehen Charakter bestimmt 1 0 . Das gemeinsame und entscheidende Merkmal aller einschlägigen Begriffsbestimmungen besteht darin, daß sie für den einfachen parlamentarischen Beschluß die Art des Verfahrens, das bei seinem Zustandekommen beachtet wird, als maßgebend ansehen 2 0 . I n der Tat läßt sich der einfache parlamentarische Beschluß unter dem Blickpunkte der A r t und Weise seines Zustandekommens nur m i t tels eines negativen Kriteriums begrifflich erfassen: Ein schlichter Parlamentsbeschluß ist eine Willenskundgebung des Parlaments, die nicht das förmliche Gesetzgebungsverfahren durchläuft 2 1 . Entscheidendes Moment für das Vorliegen eines solchen Beschlusses ist also sein Ergehen außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens 22 . Auch die Bezeichnung „schlichter" Parlamentsbeschluß stellt nur auf das Verfahren bei seinem Zustandekommen ab, indem das Beiwort „schlicht" ausdrücken soll, daß hier nicht die „umständliche Solennität des Gesetzgebungsverfahrens" 23 erforderlich ist. „Schlicht" bedeutet nicht etwa rechtlich unverbindlich; gibt es doch zahlreiche parlamentarische Willensäußerungen, die herkömmlich als einfache parlamentarische Beschlüsse bezeichnet werden 2 4 , die aber zweifellos ihren Adressaten rechtlich binden 2 5 . 19 Vgl. Karlheinz Arendt: Der parlamentarische Vorbehalt i n der Praxis des Wirtschaftsrates. E i n Beitrag zur Frage des schlichten Parlamentsbeschlusses, DRZ 1949, S. 2 9 - 3 2 , S. 30; Ernst Kern: Bundestag u n d Bundesregierung, MDR. 1950, S. 655 -657, S. 656; W. Kratzer: „Der Staatsregierung u n d den einzelnen Staatsministerien obliegt der Vollzug . . . der Beschlüsse des Landtags" (Art. 55 Abs. 2 Satz 1 Bay. Verf.), Diss. München 1954, S. 14; W. Schröder: Die schlichten Parlamentsbeschlüsse i m deutschen Staatsleben der Vergangenheit u n d Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der parlamentarischen Vorbehalte, Diss. M a r b u r g 1953, S. I f f . ; Klaus-Albrecht Sellmann: Der schlichte Parlamentsbeschluß. Eine Studie zum Parlamentsakt außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens. Dargestellt an Beschlüssen des Bundestages u n d des Bayerischen Landtages, 1966, S. 15. 20 Zutreffend Obermeier, S. 2. — Vgl. auch Klaus Obermayer i n : Johann Mang - Theodor Maunz - Franz Mayer - Klaus Obermayer; Staats- u n d V e r waltungsrecht i n Bayern, 1962 S. 113/14, der zwischen Gesetzgebungsverfahren u n d parlamentarischem Beschlußverfahren unterscheidet. 21 Ä h n l i c h Obermeier, S. 2: „eine Entscheidung des Bundestages, die bei ihrem Erlaß nicht das formelle Gesetzgebungsverfahren — also die i n den A r t . 76 bis 82 GG. festgelegte Stufenfolge — durchläuft". 22 Obermeier, S. 7. 23 Obermeier, S. 114. 24 Vgl. die Aufzählung bei Thoma. 25 Beispiele f ü r rechtsverbindliche schlichte Parlamentsbeschlüsse: a) Mißtrauensvotum (Art. 67 GG.), b) W a h l des Bundeskanzlers (Art. 63 GG.), c) Aufstellung einer Geschäftsordnung des Bundestages (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG.),
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b) A u f andere Art als mittels des Verfahrenskriteriums, nämlich m i t Hilfe des Merkmals der Rechtsverbindlichkeit, werden mitunter die schlichten Parlamentsbeschlüsse vom Gesetz abgegrenzt. Die Vertreter dieser Konstruktion 2 6 meinen, daß Gesetze eine „verfassungsrechtliche, justitiable Pflicht zur Befolgung durch die Regierung auslösen", schlichte Parlamentsbeschlüsse dagegen als „Manifestationen des politischen Willens des Parlaments" nur eine nicht einklagbare politische Pflicht. Damit w i r d also der Rechtsbindung der Gesetze die — „ n u r " — politische Bindung der einfachen parlamentarischen Beschlüsse gegenübergestellt 27 . Dieser Meinung kann deshalb nicht gefolgt werden, weil bei der Betrachtung der Willenskundgebungen des Parlaments einmal — beim Gesetz — vom rechtlichen, zum andern — beim schlichten Parlamentsbeschluß — dagegen vom politischen Standpunkt her geurteilt w i r d 2 8 . Damit w i r d aber die Ebene, auf der verglichen wird, gewechselt, so daß sich die Begriffe nicht mehr gegenseitig ausschließen. Politik und Recht sind keine kontradiktorischen Gegensätze; auch ein Gesetz, das rechtlich bindet, kann wegen seiner Bedeutung die Adressaten zugleich politisch verpflichten, und ein politisch bedeutsamer einfacher parlamentarischer Beschluß schließt eine rechtliche Bindung jedenfalls nicht von vornherein aus. Bei Verwendung des Merkmals der Rechtsverbindlichkeit kann der Gegensatz von Gesetz und schlichtem Parlamentsbeschluß nur negativ dadurch ausgedrückt werden, daß den nichtgesetzlichen Beschlüssen des Parlaments jede Rechtsverbindlichkeit abgesprochen w i r d 2 9 . „Damit aber ist i m Sinne einer genaueren Charakterisierung einer staatlichen Äußerung gar nichts gesagt, ganz abgesehen von den mittelbaren Rechtswirkungen, die die einfachen Beschlüsse entfalten" 3 0 . Das Merkd) Aufhebung der I m m u n i t ä t eines Abgeordneten (Art. 46 Abs. 3 und 4 GG.), e) Entlastung nach Rechnungsprüfung (Art. 114 Abs. 1 GG.). 26 Beispielsweise u n d vor allem Ernst Friesenhahn: Parlament u n d Regierung i m modernen Staat, Bericht auf der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zu B e r l i n am 10. Oktober 1957, V V D S t R L Heft 16 (1958) S. 9 - 73, S. 36 A n m . 70. — Obermeier, S. 2/3 gibt Friesenhahns Auffassung insofern nicht genau wieder, als er behauptet, Friesenhahn meine m i t seiner Abgrenzung n u r „die Gruppe der sog. »Weisungen4 des Bundestages an die Bundesregierung"; i n Wahrheit spricht Friesenhahn an der hier i n Rede stehenden Stelle seines Berichts aber nicht n u r von „Weisungen", sondern von „schlichten Parlamentsbeschlüssen" schlechthin. 27 Insoweit zutreffend Obermeier, S. 3. 28 Vgl. Obermeier, S. 3. 20 Zutreffend Obermeier ebenda. 8 Festschrift für Werner Weber
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mal der Rechtsverbindlichkeit scheidet daher als untaugliches Kriter i u m zur Charakterisierung des schlichten Parlamentsbeschlusses aus 31 . c) Schließlich kann der schlichte Parlamentsbeschluß auch nicht dadurch vom förmlichen Gesetz abgegrenzt werden, daß auf seinen (seine) Adressaten abgestellt wird. Abgesehen davon, daß dieses K r i t e r i u m gar nicht für alle einfachen parlamentarischen Beschlüsse, sondern nur für die Gruppe von Weisungen und Ersuchen des Parlaments an die Regierung i n Betracht kommen kann, bleibt zu bedenken: Die einschlägigen schlichten Parlamentsbeschlüsse sind zwar i n aller Regel an die Regierung gerichtet, wohingegen die Gesetze grundsätzlich allgemein (generell) sind, also eine Regelung für einen unbestimmten Kreis von Betroffenen enthalten 3 2 ; doch hat die zunehmende „Aufweichung des Gesetzesbegriffs" dazu geführt, daß mitunter Gesetze erlassen werden, die sich ebenfalls nur an die Regierung richten 3 3 . Damit entfällt die Möglichkeit, den Adressaten einer Willenskundgebung des Parlaments zum einwandfreien Unterscheidungsmerkmal zwischen förmlichem Gesetz und schlichtem Parlamentsbeschluß zu machen. 2. Was den Rechtscharakter der schlichten Parlamentsbeschlüsse angeht, so läßt sich dazu sowohl i n negativer (a) als auch i n positiver (b) Hinsicht einiges sagen. a) I n negativer Hinsicht sei nur kurz zweierlei hervorgehoben: 1. Die i m GG. vorgesehenen einfachen parlamentarischen Beschlüsse haben nicht durchgängig den gleichen Rechtscharakter 34 . 2. Die schlichten Parlamentsbeschlüsse sind weder Verwaltungsakte 3 5 , noch innerdienstliche Weisungen 36 , noch formelle Gesetze 37 . I n aller Regel sind sie auch nicht materielle Gesetze 38 und deshalb — we30 Obermeier ebd. — Beispiele f ü r die Rechtserheblichkeit bei Peter Lerche: Bundestagsbeschlüsse ohne Gesetzesbefehl über Subventionen, NJW. 1961, S. 1 758 - 1 760. 31 So auch Obermeier, S. 7. 32 Zutreffend Obermeier, S. 3. 33 Beispiele f ü r solche Gesetze finden sich bei Dietrich Jesch: Gesetz u n d Verwaltung. Eine Problemstudie zum Wandel des Gesetzmäßigkeitsprinzipes, 1961, S. 179/80 A n m . 29. — Vgl. auch Friesenhahn, S. 33 A n m . 61 ( „ . . . führt die Aufweichung des Gesetzesbegriffs dazu, daß auch i n der F o r m des Gesetzes Richtlinien gegeben, Pläne aufgestellt werden") ; Criegee, S. 5 („sei . . . darauf hingewiesen, daß auch das Gesetz einen ,Auftrag', eine ,Weisung' an die Exekutive enthalten kann"). — Problem des sog. Maßnahmegesetzes! 34 Vgl. Obermeier, S. 27 - 33 u n d 108. 35 Vgl. Obermeier, S. 33 - 37 u n d 98. 36 Vgl. Obermeier, S. 37 - 39 u n d 99. 37 Vgl. Obermeier, S. 40 - 55 u n d 99. 38 Vgl. Obermeier, S. 55 - 75 u n d 99, der den Beschlüssen schlechthin den Rechtsnorm- bzw. Rechtssatzcharakter abspricht. — Vgl. dazu oben unter I I .
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gen der Gleichsetzung von materiellem Gesetz und Rechtssatz durch die herrschende Lehre 3 9 — nicht Rechtsnormen und Rechtssätze 38 . Aus der Verneinung des Rechtssatzcharakters lassen sich Folgerungen betreffend die Rechtsverbindlichkeit und die Zulässigkeit der einfachen parlamentarischen Beschlüsse ziehen: Da diese weder formelle Gesetze noch Rechtsnormen sind, haben sie keine allgemeine Verbindlichkeit 4 0 ; da sie keine formellen Gesetze sind, kann ihre Zulässigkeit nicht auf die Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments gestützt werden 4 0 . b) In positiver Hinsicht führt eine Untersuchung des Rechtscharakters der schlichten Parlamentsbeschlüsse zu den folgenden Ergebnissen: 1. Als Willensäußerung der Volksvertretung stellt der einfache parlamentarische Beschluß ein Gesetz i m politischen, genauer i m demokratischen Sinne dar 4 1 . 2. Der einfache parlamentarische Beschluß erfüllt außerdem die Voraussetzungen des Begriffs des Regierungsaktes i m materiellen Sinn 4 2 . Damit ist ausgedrückt, daß der schlichte Parlamentsbeschluß schon auf Grund des i h m innewohnenden staatspolitischen Elementes bedeutsam ist. Diese Eigenschaft bedingt indessen nur ein tatsächliches, kein rechtliches Gewicht. Ein solcher Beschluß erzeugt Wirkungen wie A n bahnung neuer Entwicklungen, Einflußnahmen auf Regierungsentscheidungen, Vermehrung der parlamentarischen Macht 4 3 . Er zeigt dam i t „ein gewisses tatsächliches, aber abstrakt nicht näher bestimmbares, politisch-strukturelles Gewicht" 44. Insofern kann er jedenfalls moralische Bindungen der Regierung erzeugen 45 . II. Es stellt sich gerade angesichts der GE. jedoch die Frage, ob nicht zumindest gewissen schlichten Parlamentsbeschlüssen eine stärkere als nur politisch-moralische Bindung der Regierung zukommt, ob gewisse einfache parlamentarische Beschlüsse nicht doch Rechtswirkungen erzeugen. 39
Vgl. die Nachweise bei Obermeier, S. 55 A n m . 4. So m i t Recht Obermeier, S. 99. 41 Vgl. Obermeier, S. 76 - 78 u n d 98. 42 Vgl. Obermeier, S. 78 - 94 u n d 98. 43 Obermeier, S. 98. 44 Klein, S. 186; vgl. auch Lerche, S. 1 758/59; auch BayVerfGH, U r t e i l v o m 30. September 1959 — Vf. 86 — V I - 58, AS 12, 119 - 127 (S. 126) = JZ 1960, S. 57/58 (S. 58) = DVB1. 1959, S. 816 - 818, S. 818: „ . . . können den Bereich der Exekutive berührende Beschlüsse des Landtags für die Staatsregierung i m Rahmen ihrer politischen Verantwortlichkeit gegenüber dem Landtag bedeutsam sein. Eine rechtliche Verpflichtung aber, sie auszuführen, w i r d . . . für die Staatsregierung nicht begründet". 45 Ebenso Obermeier, S. 18. 40
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1. I n einer i m Jahre 1966 i m Buchdruck erschienenen Studie zum Parlamentsakt außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens von Klaus-Albrecht Sellmann 46, der eine Dissertation der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität zu München über das Thema „Der schlichte Parlamentsbeschluß" zugrundeliegt, werden die nicht gesetzlich geregelten schlichten Parlamentsbeschlüsse i n zweifacher Weise unterschieden und nach den beiden folgenden Merkmalen i n zwei Gruppen eingeteilt 4 7 : 1. nach ihrem Inhalt und ihren rechtlichen Wirkungen für die Exekutive, 2. nach den einzelnen staatlichen Tätigkeitsbereichen, denen sie zuzuordnen sind. Die Beschlüsse der 1. Gruppe lassen sich wiederum in zwei Arten einteilen, nämlich i n a) verbindlich oder unverbindlich gewollte, b) objektiv verbindliche oder unverbindliche. Anders ausgedrückt, handelt es sich dabei u m Beschlüsse, die entweder nach dem Willen des Parlaments — subjektiv — oder nach der Verfassung — objektiv — verbindlich oder unverbindlich sein sollen. Die verbindlich gewollten Beschlüsse lassen sich weiter untergliedern i n „Weisungen" und „Richtlinien", die unverbindlich gewollten i n bloße „Empfehlungen" und „Stellungnahmen" des Parlaments. Die Entscheidungen und Maßnahmen des Staates, auf die sich ein schlichter Parlamentsbeschluß beziehen kann, lassen sich jeweils einem staatlichen Tätigkeitsbereich zuordnen. Die schlichten Parlamentsbeschlüsse können daher auch von ihrem Inhalt her eingeteilt und nach den verschiedenen staatlichen Tätigkeitsbereichen unterschieden werden, die sie zum Gegenstand haben. I m einzelnen kommen hierbei nach Sellmann schlüssen i n Betracht:
vier Arten
von Be-
a) Beschlüsse, die staatliche (politische) Grund- oder Gestaltungsentscheidungen zum Gegenstand haben, b) Beschlüsse m i t außenpolitischem Gegenstand, c) Beschlüsse m i t innenpolitischem Gegenstand, 46 47
Vgl. oben A n m . 19. S. 38 - 40.
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d) Beschlüsse eines Landesparlaments, die das Verhalten einer Landesregierung gegenüber dem Bund i m Bundesrat betreffen. Zu dieser Einteilung ist zu bemerken, daß insbesondere die beiden erstgenannten Beschlußarten sich nicht gegenseitig ausschließen, da ein eine Grundentscheidung darstellender Beschluß einen außenpolitischen Gegenstand betreffen kann und umgekehrt. I n diesem Sellmannschen Schema kann die GE. wie folgt ihren Platz finden: unter dem Blickpunkte der Einteilung schlichter Parlamentsbeschlüsse nach ihrem Inhalt und ihren rechtlichen Wirkungen auf die Exekutive als vom Parlament verbindlich gewollter Beschluß und unter dem Blickpunkte der Einteilung schlichter Parlamentsbeschlüsse nach den einzelnen staatlichen Tätigkeitsbereichen entweder als Beschluß, der eine staatliche (politische) Grund- oder Gestaltungsentscheidung enthält, oder als Beschluß mit außenpolitischem Gegenstand. Da von diesen beiden letztgenannten Möglichkeiten der ersten — die Entschließung als staatliche (politische) Grund- oder Gestaltungsentscheidung — die übergreifende Fragestellung zugrundeliegt und da ihr auch sachlich das größere Gewicht zukommt, soll die weitere Untersuchung unter diesem Blickpunkt geführt werden. 2. Bei der Festlegung einer politischen Grund- oder Gestaltungsentscheidung handelt es sich — wie K a r l Löwenstein i n seiner i m Jahre 1959 erschienenen „Verfassungslehre" 48 bemerkt — „ u m die Auswahl einer von mehreren grundlegenden politischen Alternativen, vor die sich die staatliche Gemeinschaft gestellt sieht" 4 9 . Demgemäß gelten für ihn als politische Grundentscheidungen „solche Entschlüsse des Gemeinwesens . . . , welche für die Gemeinschaftsgestaltung i n der Gegenwart und oft auch i n der Zukunft richtungsweisend und grundlegend sind" 5 0 . I n ähnlicher Weise versteht Sellmann unter Grundentscheidungen eines Staates „alle die Entscheidungen . . . , die für seine Gestaltung und Zielsetzung i n Gegenwart und Zukunft richtungweisend und grundlegend sind" 5 1 . a) Der Begriff „Grundentscheidung" geht i n dem hier verwendeten Sinn auf Löwenstein zurück, der i n seiner „Verfassungslehre" eine „neue Dreiteilung der Staatsfunktionen" vorgeschlagen und dabei zwischen der politischen Gestaltungs- oder Grundentscheidung (policy determination), der Ausführung oder Durchführung der Grundentschei-
48 49 50 51
1. Aufl. 1959, 2. A u f l . 1969. S. 40. S. 40. S. 63.
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dung (policy execution) und der politischen Kontrolle (policy control) unterscheidet 52 . Hinsichtlich ihres Inhalts lassen sich die Grundentscheidungen mit den „konkreten politischen Entscheidungen" eines Volkes vergleichen, die Carl Schmitt i n seiner i m Jahre 1928 erschienenen „Verfassungslehre" 5 3 herausgestellt hat und die nach seiner Begriffsbestimmung „die politische Daseinsform des . . . Volkes angeben" 54 oder auch m i t Hans J. Wolffs 55 „verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen", d. h. den „ziel- und richtungweisenden Entscheidungen, die politische Fundamentalnormen enthalten", etwa der Entscheidung für den Bundesstaat, für die parlamentarische Demokratie, für eine bestimmte Kultur-, Wirtschafts- und Sozialverfassung 56 oder auch m i t Hans Nawiaskys „Staatsfundamentalnormen" 57 . b) Die staatlichen (politischen) Grund- oder Gestaltungsentscheidungen betreffen sowohl auswärtige als auch innere Angelegenheiten; sachlich können sie politischer, sozio-ökonomischer oder sogar moralischer Natur sein, beispielsweise wenn sie sich auf religiöse Fragen beziehen 58 . c) Die wichtigste Gestaltungsentscheidung, der sich ein Volk gegenübergestellt sieht, ist die Wahl seines politischen Systems und innerhalb dieses Systems der spezifischen Regierungsform, unter welcher es zu leben wünscht — vorausgesetzt, daß dem konstituierenden Willen des Volkes eine solche Wahl überhaupt offensteht und i h m nicht ein Regime m i t Gewalt aufgezwungen w i r d 5 9 . Somit stellen alle Verfassungen grundlegende politische Entscheidungen, politische Grund- oder Gestaltungsentscheidungen dar: ob Monarchie oder Republik, ob Parlamentarismus oder Präsidentialismus. Unser geltendes deutsches Verfassungsrecht enthält i n mehreren Bestimmungen des GG. spezielle Aussagen über Grundentscheidungen des Staates 60 : A r t . 20 Abs. 1 GG., wonach die BRD ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist, manifestiert ζ. B. die Grundentscheidung für einen föderalen Staatsaufbau; i n dem Verbot von Angriffskriegen gemäß A r t . 26 GG. w i r d die Grund52
S. 39 ff. Neudruck 1954. 54 S. 20 ff. (S. 24). 55 Rechtsgrundätze u n d verfassungsgestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquellen, Jellinek-Gedächtnisschrift 1955, S. 33 -52, S. 47 - 5 2 ; V e r w a l tungsrecht I. E i n Studienbuch, 8. A u f l . 1971, S. 120 - 122. 56 S. 49. 57 Allgemeine Staatslehre. D r i t t e r Teil: Staatsrechtslehre, 1956, S. 95/96. 58 Löwenstein, S. 40. 59 Löwenstein, S. 40. 80 Vgl. dazu Otto Bachof: Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, 1951, S. 25 A n m . 42. 53
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entscheidung der Bundesrepublik für ein friedliches Zusammenleben der Völker erkennbar 6 1 . d) Als Beispiele für politische Grundentscheidungen, die i n aller Regel nicht in Ausübung der konstituierenden Gewalt gefällt werden und i n der Verfassung selbst nicht ausdrücklich niedergelegt sind, nennt Löwenstein 62 : aa) auf Gebieten, die nicht die auswärtigen Beziehungen betreffen: die Wahl zwischen Freihandel und Protektionismus; die Einstellung des Staates gegenüber religiösen Einrichtungen wie die Trennung von Staat und Kirche oder die Konfessionsschule; die Richtung, die dem Erziehungswesen gegeben werden soll, ob humanistisch oder realistisch oder ob ein Ausgleich zwischen diesen beiden geschaffen werden soll; die wirtschaftspolitischen Alternativen zwischen einem von der Staatsaufsicht befreiten Unternehmertum und der gelenkten Wirtschaft; den Übergang zum Wohlfahrtsstaat; die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern i m Produktionsprozeß; die Verfügung über die Bodenschätze; die Sozialisierung und Verstaatlichung von Teilen oder der gesamten nationalen Wirtschaft; die Subvention der Landwirtschaft; die Verlagerung des Schwergewichts von der landwirtschaftlichen zur industriellen Wirtschaft; die fiskalischen und monetären Entscheidungen; das Besteuerungssystem und sein Einfluß auf die Wohlstandsverteilung. Als ein weiteres hierher gehörendes Beispiel nennt Sellmann** Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht.
die
bb) auf dem Gebiete der auswärtigen Beziehungen: den E i n t r i t t i n eine Allianz oder den Austritt aus ihr; die Neutralität gegenüber internationalen Verbindungen; die Eindämmung des Kommunismus oder den Entschluß zur Ko-Existenz m i t ihm; die Unterstützung unterentwickelter Länder; die Anerkennung einer ausländischen Regierung; Probleme der nationalen Sicherheit; Abrüstung; die Haltung gegenüber dem, was als Kolonialismus und Imperialismus gilt. e) 64 Der Deutsche Bundestag hat mehrfach i n schlichten Beschlüssen seinen Willen zu Fragen geäußert, die für die Gestaltung und Zielsetzung der BRD i n Gegenwart und Zukunft richtungsweisend und grundlegend sind. Beispiele sind die Beschlüsse zu einem Europäischen Bundespakt, zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Saarfrage. Es sei jeweils ein Beschluß herausgegriffen und seinem wesentlichen Inhalt nach wiedergegeben. 61 62 63 64
Sellmann, S. 63/64. Ebenda S. 41. Ebenda S. 63. Z u diesem Abschnitt vgl. Sellmann,
S. 18 u n d 66/67.
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aa) I n einem Beschluß vom 26. J u l i 1950 hat sich der Bundestag für einen „Europäischen Bundespakt" eingesetzt. I n dem Beschluß heißt es 65 : „ I n der Überzeugung, daß die gegenwärtige Zersplitterung Europas i n souveräne Einzelstaaten die europäischen Völker von Tag zu Tag mehr i n Elend u n d Unfreiheit führen muß, t r i t t der i n freien Wahlen berufene B u n destag der Bundesrepublik Deutschland f ü r einen Europäischen Bundespakt ein, wie i h n die Präambel u n d der A r t i k e l 24 des Grundgesetzes für die B u n desrepublik Deutschland vorsehen."
Er hat dieses „Bekenntnis zum Abschluß eines Europäischen Bündnispaktes" danach noch mehrfach wiederholt, so ζ. B. i n den Beschlüssen vom 8. Februar 195266 und vom 30. A p r i l 195467. bb) I n mehreren Beschlüssen hat der Bundestag als ein vordringliches politisches Ziel die „Wiedervereinigung Deutschlands i n Freiheit m i t friedlichen M i t t e l n " genannt und sich „gegen die Spaltung Deutschlands" ausgesprochen 68. Beispielsweise lautet der erste Absatz des entsprechenden Beschlusses vom 3. A p r i l 1952 69 : „Der Bundestag erklärt erneut i n Übereinstimmung m i t der E r k l ä r u n g der Bundesregierung v o m 27. September 1951 die Wiederherstellung der deutschen Einheit i n einem freien u n d geeinten Europa als das oberste Ziel der deutschen P o l i t i k . "
cc) I n mehreren Beschlüssen hat der Bundestag erklärt, daß das Saargebiet deutsches Staatsgebiet ist, und sich bei dieser Gelegenheit fast immer auch zu einer „Einigung Europas" bekannt 7 0 . Beispielsweise beginnt der entsprechende Beschluß vom 23. A p r i l 1952 71 : „Das Saargebiet ist nach Völkerrecht deutsches Staatsgebiet". 65 StenBer. der 1. Wahlperiode S. 2 8 3 6 B - 2 837B (S. 2 837B); B T . - D S . 1/ 1 193. 88 StenBer. der 1. Wahlperiode S. 8 243 C; BT. - DS. 1/3 074. 67 StenBer. der 2. Wahlperiode S. 1181 Β ; BT. - DS. U/501. 88 Vgl. StenBer. der 1. Wahlperiode S. 6 712 A ; BT. - DS. 1/2 596. — StenBer. der 1. Wahlperiode S. 8 799 B/C; BT. - DS. 1/3 277. — StenBer. der 2. W a h l periode S. 796 A ; BT. - DS. II/452. — StenBer. der 2. Wahlperiode S. 2 320 C; BT. - DS. II/864. — StenBer. der 2. Wahlperiode S. 3 858 C; BT. - DS. I I / l 201. 89 StenBer. der 1. Wahlperiode S. 8 799 B/C; BT. - DS. 1/3 277. 70 Vgl. StenBer. der 1. Wahlperiode S. 8 872 A - 8 875 D (S. 8 875 D); B T . DS. 1/3 315. — StenBer. der 1. Wahlperiode, S. 13 938 B ; BT. - DS. 1/4 436 (Der W i l l e zur Einigung Europas w i r d hier bekundet i m Rahmen einer Aufzählung v o n „Grundsätzen, von denen die Bundesregierung bei der weiteren Behandlung der Saarfrage auszugehen" aufgefordert wird). — StenBer. der 2. Wahlperiode, S. 1181 B ; BT. - DS. II/501. — StenBer. der 2. Wahlperiode S. 3 932 Β ; Umdruck 297 neu. 71 StenBer. der 1. Wahlperiode S. 8 872 A - 8 875 (S. 8 875 D); B T . - D S . 1/ 3 315.
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dd) Diese Beschlüsse des Bundestages zu einem Europäischen Bundespakt, zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Saarfrage dekken sich ihrem Gegenstande nach mit den Grundentscheidungen des Grundgesetzes für ein Bündnissystem zur Einigung Europas, für die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands und für den Beitritt anderer Teile Deutschlands zum Geltungsbereich des Grundgesetzes wie des Saargebietes. Diese Grundentscheidungen kommem i m einzelnen i n der Präambel des Grundgesetzes, i n dessen A r t . 24 und 26 sowie Art. 23 Satz 2 zum Ausdruck. Nach der Präambel ist das Deutsche Volk von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied i n einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen; das gesamte Deutsche Volk w i r d aufgefordert, i n freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Nach A r t . 24 Abs. 2 GG. kann sich der Bund zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; A r t . 26 Abs. 1 GG. verbietet die Vorbereitung von Angriffskriegen; nach A r t . 23 Satz 2 GG. schließlich ist das Grundgesetz in anderen Teilen Deutschlands nach deren Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes i n K r a f t zu setzen. Die i n Rede stehenden Beschlüsse zeichnen sich vor anderen schlichten Parlamentsbeschlüssen ferner durch ihren Wortlaut aus. Es heißt i n ihnen nicht etwa, die Bundesregierung werde „ersucht", „aufgefordert" „beauftragt" o. ä., sondern lapidar und definitiv „Der Bundestag tritt ein", „Der Bundestag erklärt die Wiederherstellung der deutschen Einheit als das oberste Ziel der deutschen Politik", „Das Saargebiet ist deutsches Staatsgebiet". Diese Formulierungen bekunden den Willen der Volksvertretung, das Handeln des Staates i n dem von ihr gewünschten Sinne festzulegen. Die Beschlüsse können deshalb nicht als nur unverbindlich gewollte Stellungnahmen oder mehr oder minder feierliche Erklärungen des Parlaments zu aktuellen Fragen der (Außen-) Politik angesehen werden; sie müssen vielmehr als für die Exekutive verbindlich gewollte Beschlüsse des Parlaments mit zumindest Richtliniengehalt (nicht i m Sinne von A r t . 65 Satz 1 GG.) gewertet werden. 3. Anhand der bisher aufgezeigten Kriterien stellt sich die GE. als ein Beschluß des Bundestages dar, der eine staatliche (politische) Grundoder Gestaltungsentscheidung zum Gegenstand hat. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß die „neue Ostpolitik", wie sie insbesondere i n den als ein einheitliches Ganzes zu sehenden einschlägigen Verträgen ihren Niederschlag und Ausdruck gefunden hat, als eine solche Entscheidung anzusehen ist. Handelt es sich bei der GE. weiterhin u m einen verbindlich gewollten Beschluß des Parlaments mit zumindest Richtliniengehalt und nicht nur u m eine feierliche Erklärung oder unverbindliche
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Stellungnahme des Bundestages, so ist damit aber noch nicht entschieden, ob diese Entschließung nicht nur subjektiv — kraft des Willens des Bundestages —, sondern auch objektiv — von Verfassungs und dam i t von Rechts wegen — verbindlich ist. Bevor diese Frage geprüft und beantwortet wird, seien einige der bisher zu ihrer innerstaatlichen Bedeutung bekanntgewordene Äußerungen wiedergegeben. Die GE. wurde von dem Parlamentarischen Staatssekretär i m Bundesministerium des Auswärtigen, K a r l Moersch, i n seiner A n t w o r t auf eine Kleine Anfrage von 46 Abgeordneten der CDU/CSU vom 31. Mai 197272 am 12. Juni 1972 als „politische Grundsatzerklärung" bezeichnet und gewertet 7 3 . Ihr kommt nach dem Wortlaut der Kleinen Anfrage „für die deutsche Außenpolitik grundlegende Bedeutung" zu 7 4 . Sie ist „die bindende Interpretationsgrundlage für die Ostverträge" 7 5 ; sie „trägt . . . den Charakter der verbindlichen deutschen Interpretation der Ostverträge und läßt andere, m i t ihr nicht übereinstimmende Interpretationen als für die Bundesrepublik Deutschland unverbindlich erscheinen" 75 . Politisch gesehen, ist sie Grundlage und Richtschnur der Deutschland- und der Ostpolitik einer jeden Bundesregierung. Damit ist aber die Frage noch nicht beantwortet, ob sie jede Bundesregierung und damit die Exekutive i n ihrem politischen Handeln rechtlich bindet. Es stellt sich somit nunmehr die Frage nach der innerstaatsrechtlichen Erheblichkeit und Verbindlichkeit der GE.
D. Die innerstaatsrechtliche Verbindlichkeit der Gemeinsamen Entschließung von 17. Mai 1972 I . 7 6 I n der Frage nach der „Verbindlichkeit" schlichter Parlamentsbeschlüsse — und damit auch der GE. — handelt es sich einmal u m das Problem, ob die Regierung (staats-)rechtlich verpflichtet ist, einem solchen Beschluß Rechnung zu tragen, sei es, ihm (insbesondere einem Ersuchen) inhaltlich nachzukommen — also etwa einen vom Parlament gewünschten Gesetzentwurf vorzulegen oder eine geforderte Auskunft zu erteilen (materielle Verbindlichkeit) —, sei es auch nur, den Be-
72
BT. - DS. VI/3 465. BT. - DS. VI/3 540, S. 3. Ebenda S. 1. 75 So Herbert Kremp: Die Resolution u n d das Völkerrecht, „Die W e l t " Nr. 111 v o m 15. M a i 1972. 76 Das Folgende i m Anschluß an Criegee, S. 82. Z u seiner Unterscheidung von materieller u n d formeller Verbindlichkeit vgl. auch S. 11. 73 74
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schluß (insbesondere e i n Ersuchen) z u p r ü f e n u n d ü b e r seine A u s f ü h r u n g dem Parlament zu berichten (formelle Verbindlichkeit) 77. U n t e r „ V e r b i n d l i c h k e i t " w i r d w e i t e r h i n das politische
Gebundensein
d e r E x e k u t i v e v e r s t a n d e n , u n d z w a r auch h i e r w i e d e r i n einer z w e i fachen B e d e u t u n g : e i n m a l als p o l i t i s c h e P f l i c h t i m S i n n e i n e r S p i e l r e gel, a n d i e sich j e d e R e g i e r u n g , f a l l s k e i n e s c h w e r w i e g e n d e n B e d e n k e n bestehen, h a l t e n s o l l t e ( „ p o l i t i s c h e E t h i k " ) , z u m a n d e r n als tatsächlicher Z w a n g , d e m die R e g i e r u n g u n t e r w o r f e n ist, oder — anders ausgedrückt — als M ö g l i c h k e i t d e r V o l k s v e r t r e t u n g , i h r e n W i l l e n gegenüber der R e g i e r u n g durchzusetzen. I I . H a t d i e GE., d i e eine staatliche (politische) G r u n d - oder G e s t a l t u n g s e n t s c h e i d u n g b e t r i f f t , als v o m D e u t s c h e n B u n d e s t a g
verbindlich
g e w o l l t z u gelten, so s t e l l t sich d i e w e i t e r e , n u n m e h r so z u f o r m u l i e r e n de Frage,
ob sie d i e v o m P a r l a m e n t e r s t r e b t e R e c h t w i r k u n g auch nach
d e r V e r f a s s u n g e n t f a l t e n k a n n , ob sie auch verbindlich
staatsrechtlich-
objektiv
ist. Z u r E n t s c h e i d u n g dieser F r a g e ist d a v o n auszugehen,
daß n a c h d e r g r u n d g e s e t z l i c h e n O r d n u n g R e g i e r u n g u n d
Parlament
sich i n d i e A u f g a b e t e i l e n , d i e G r u n d e n t s c h e i d u n g e n z u f ä l l e n 7 8 . 1. Solche E n t s c h e i d u n g e n s i n d w e g e n i h r e r f ü r die G e g e n w a r t die Z u k u n f t
des Staates r i c h t u n g w e i s e n d e n
u n d grundlegenden
und Be-
77 Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung der Regierung, einem schlichten Parlamentsbeschluß, insbesondere einem Ersuchen der Volksvertretung an die Exekutive, Rechnung zu tragen, w i r d von der überwiegenden, w e n n nicht gar durchaus herrschenden Meinung verneint; vgl. die umfangreichen Belege bei Criegee, S. 29/30 A n m . 3 u n d seine eigene, ebenfalls dahingehende Meinung auf S. 65, 104 ( „ M a n w i r d . . . aus den politischen Befugnissen der Exekutive folgern müssen, daß Ersuchen, die Fragen der Staatsleitung betreffen, die Regierung staatsrechtlich nicht verpflichten"), 106 („Ergebnis, daß politische Ersuchen nach den Regelungen der meisten deutschen Verfassungen keine materielle staatrechtliche Verbindlichkeit begründen"), 114 („hat die Regierung Ersuchen i n Gesetzgebungs-, Regierungs- u n d Verwaltungsangelegenheiten lediglich zu prüfen u n d zu beantworten; einer weitergehenden staatsrechtlichen Pflicht ist sie nicht unterworfen. Darüber hinaus erzeugen Ersuchen gewisse politische Pflichten. Der politische Druck, der auf die Regierung ausgeübt w i r d , erreicht w o h l nie den Grad eines u n ü b e r w i n d lichen Zwangs u n d sollte daher nicht überschätzt werden") u n d 124 („Die Exek u t i v e ist i n der Regel staatsrechtlich nicht verpflichtet, parlamentarischen Ersuchen i n Gesetzgebungs-, Regierungs- und Verwaltungsangelegenheiten nachzukommen"). — Vgl. auch die Angaben bei Obermeier, S. 3 A n m . 2 u n d seine ebenfalls dahingehende Meinung auf S. 146/47, 150, 156 u n d 157 („Die einfachen Beschlüsse haben i n keinem Falle rechtsverbindlichen Charakter . . . Sie beruhen zwar auf der Verfassung, weisen aber keinen Rechtscharakter auf, sondern verbleiben i m Bereich des Politischen"). Obermeier w i d e r spricht sich jedoch selbst (vgl. S. 150: „ i n der Regel [!] keine Rechtsverbindlichkeit", S. 156: „ i n keinem Falle [!] rechtsverbindlichen Charakter"). 78 Sellmann, S. 65 unter Bezugnahme auf Löwenstein, S. 42/43.
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d e u t u n g A k t e d e r obersten Z i e l s e t z u n g u n d der S e l b s t b e s t i m m u n g , m . a. W . d e r O b e r l e i t u n g des Staates i m Ganzen. Sie g e h ö r e n d a m i t z u r R e g i e r u n g i m f u n k t i o n e l l e n S i n n 7 9 , d i e als „ G e s a m t f ü h r u n g des Staat e s " 8 0 z u b e g r e i f e n i s t 8 1 . D i e Oberleitung, d i e Gesamtführung des Staates steht n i c h t n u r d e r R e g i e r u n g i m i n s t i t u t i o n e l l e n Sinne, s o n d e r n auch dem Parlament z u 8 2 . Dies e r g i b t sich aus m e h r e r e n V o r s c h r i f t e n des Grundgesetzes, nach d e n e n das P a r l a m e n t i n d e r F o r m eines Gesetzes oder sogar n u r eines schlichten Beschlusses staatsleitende E n t s c h e i d u n g e n z u t r e f f e n h a t . B e i s p i e l e h i e r f ü r s i n d einerseits die E n t s c h e i d u n g e n ü b e r d e n Friedensschluß d u r c h Bundesgesetz gemäß A r t . 1151 A b s . 3 GG., andererseits d i e W a h l ( u n d die A b b e r u f u n g ) des B u n d e s k a n z l e r s 79 Von der Regierung als F u n k t i o n ist die Regierung als I n s t i t u t i o n zu unterscheiden, worunter das Staatsorgan zu verstehen ist, das sich aus dem Regierungschef u n d den Ministern zusammensetzt. Vgl. Friesenhahn, S. 33 A n m . 60; Günther u n d Erich Küchenhoff: Allgemeine Staatslehre, 7. Aufl. 1971, S. 158/59, 168; 149, 166/67, 213. 80 Georg Dahm: Deutsches Recht. Die geschichtlichen und dogmatischen Grundlagen des geltenden Rechts, 2. Aufl. 1963, S. 307; vgl. auch von Mangoldt - Klein A n m . I I 2 b Abs. 4 zu A r t . 65, S. 1 251 („die F ü h r u n g der gesamten Staatspolitik"). 81 Vgl. Dahm, S. 307/8; Ulrich Scheuner: Der Bereich der Regierung, i n : „Rechtsprobleme i n Staat u n d Kirche", Festschrift für Rudolf Smend zum 70. Geburtstag, 15. Januar 1952, 1952 S. 253-301, S. 268 u n d 276 ff. (Festgabe I); Ulrich Scheuner: Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen i n der neueren Staatslehre, i n : „Staatsverfassung u n d Kirchenordnung", Festgabe f ü r Rudolf Smend zum 80. Geburtstag am 15. Januar 1962, 1962, S. 225 - 260, S. 259/60. 82 Vgl. Scheuner, Smend-Festgabe I, S. 267/68 u n d Smend-Festgabe I I , S. 260. — Auch Friesenhahn hat i n seinem Referat auf der Berliner Staatsrechtslehrertagung die Auffassung vertreten, daß die Staatsleitung Regierung und Parlament „gewissermaßen zur gesamten H a n d " zustehe (S. 37/38). Bestimmungen des GG., die eine M i t w i r k u n g des Parlaments bei Regierungsakten vorsehen, wie ζ. B. bei Vertragsabschluß, bei Entscheidungen über K r i e g u n d Frieden, beim Haushaltsplan, bei Organisationsgesetzen, „ b r a u chen nicht notwendig als Ausnahme angesehen zu werden, sondern können ebensogut als Ausflüsse eines allgemeinen Prinzips gelten" (S. 38 A n m . 73). Z w a r sei die Rechtsetzung ein „Reservat des Parlaments", doch gebe es „nicht ein gleichermaßen verfassungskräftiges Vorbehaltsgebiet der Regier u n g " (S. 37). Als eine Folgerung aus diesen Erkenntnissen zieht Friesenhahn den Schluß, daß das Parlament befugt ist, „die Regierung durch Entschließungen Weisungen f ü r die Führung der Regierungsgeschäfte zu erteilen" (S. 70, Leitsatz I I 2) u n d somit durch Beschlüsse außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens Einfluß auf die Staatsleitung auszuüben. Der Gewaltenteilungsgrundsatz w i r d als Kompetenzverteilungsnorm für den Bereich zwischen Parlament u n d Regierung von i h m verworfen (S. 37). — Vgl. dazu kritisch Obermeier, S. 110-113 u n d S. 156: „Die neuerdings vertretene Ansicht, die Staatsleitung stehe Parlament und Regierung ,zur gesamten Hand' zu, ist aus grundsätzlichen Erwägungen [?] abzulehnen. I m übrigen ist zweifelhaft, ob sich aus i h r die gesuchte Zuständigkeit deduzieren ließe".
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gemäß A r t . 63 GG. sowie die Feststellung des Eintrittes des Verteidigungsfalles gemäß A r t . 115 a Abs. 1 GG. 2. Schlichte Beschlüsse, die vom Parlament verbindlich gewollt sind und staatliche (politische) Grund- oder Gestaltungsentscheidungen zum Gegenstand haben, sind Ausdruck von Entscheidungen, die auch das Parlament zu treffen hat und für die es m i t die Verantwortung trägt 8 3 . Damit ist der für die rechtliche Beurteilung solcher Beschlüsse maßgebende Gesichtspunkt angesprochen; Die Beschlüsse sind Aussagen über Grundentscheidungen, die zu fällen Aufgabe und Befugnis auch des Parlaments ist 8 4 . Es kommt hinzu, daß nach dem Grundgesetz i m Prinzip auch ein schlichter Parlamentsbeschluß als solcher geeignet ist, eine bindende Wirkung für die Exekutive zu entfalten, die Exekutive rechtlich zu verpflichten, wie ζ. B. die Regelung i n A r t . 43 Abs. 1 GG. (Recht des Bundestages, durch Beschluß jederzeit die Anwesenheit jedes M i t gliedes der Bundesregierung zu verlangen) beweist 85 . Daher sind verbindlich gewollte Bundestagsbeschlüsse, die Grundentscheidungen zum Gegenstand haben, als rechtmäßig und rechtswirksam, als für die Exekutive, insbesondere die Bundesregierung, juristisch verbindlich anzusehen 86 . Diese Verbindlichkeit w i r k t auch gegenüber späteren Bundesregierungen 87 . 3. I m einzelnen bedeutet die Verbindlichkeit z.B. der früher erwähnten 8 8 Bundestagsbeschlüsse zu einem Europäischen Bundespakt folgendes: Die Bundesregierung hat m i t den Staaten Europas Verhandlungen zu führen m i t dem Ziel, eine europäische Einigung herbeizuführen. Sie ist ferner verpflichtet, Verträge auszuarbeiten und abzuschließen, die für den Aufbau eines solchen Bündnissystems notwendig sind. Sie hat schließlich alles zu unterlassen, was zu einer Isolierung der Bundesregierung führen könnte. I I I . Dementsprechend bedeutet etwa die Verbindlichkeit des m i t den Bundestagsbeschlüssen zu einem Europäischen Bundespakt vergleichbaren Punktes 8 der GE., wo es heißt: „Die Bundesrepublik Deutschland w i r d die Politik der Europäischen Einigung zusammen mit ihren 83
Ebenso Sellmann, S. 68 i. V. m. S. 56 - 58. Übereinstimmend Sellmann, S. 68. — Vgl. auch oben unter I. 85 Vgl. Sellmann, S. 68 i. V. m. S. 53. 86 So auch Sellmann, S. 68 u n d 69; w o h l auch Kratzer i n seiner Besprechung der Selimannschen Schrift (BayVerwBl. 1966 S. 179/80), der diese M e i nung — i m Gegensatze zu sonstigen Ausführungen Seilmanns — ohne K r i t i k u n d damit sie offenbar billigend wiedergibt. 87 Einer besonderen Untersuchung bedarf die Frage, ob auch das Parlament selbst an seine schlichten Beschlüsse i n irgendeiner A r t gebunden ist (vgl. dazu die kurze Bemerkung von Obermeier, S. 155). 88 Vgl. oben unter C I I 2 e. 84
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Partnern i n der Gemeinschaft unbeirrt fortsetzen m i t dem Ziel, die Gemeinschaft stufenweise zu einer Politischen Union fortzusetzen", folgendes: Die Bundesregierung hat m i t den Staaten Europas Verhandlungen zu führen m i t dem Ziel, die Politik der europäischen Einigung fortzusetzen und die Gemeinschaft stufenweise zu einer Politischen Union fortzuentwickeln. Sie ist ferner verpflichtet, die entsprechenden vertraglichen und sonstigen Maßnahmen zu treffen und alles zu unterlassen, was die Erreichung des angegebenen Ziels gefährden oder gar unmöglich machen könnte. Zusammengefaßt ergibt sich: Die GE. hat eine staatliche (politische) Grund- oder Gestaltungsentscheidung zum Gegenstande, die i n der „neuen Ostpolitik" und insbesondere i n den einschlägigen, ein einheitliches Ganzes bildenden Verträgen m i t Moskau, Warschau und Ost-Berlin enthalten ist. Sie ist vom Deutschen Bundestag als verbindlich gewollt anzusehen. Damit ist sie aber nicht nur subjektiv und i m nichtjuristischen Sinn verbindlich, sondern darüber hinaus, weil nicht nur vom Parlament, sondern auch von der Verfassung gewollt, auch objektiv und rechtlich bindend 8 9 . Sie ist rechtmäßig, rechts wirksam und für die Exekutive, insbesondere die jeweilige Bundesregierung, juristisch verbindlich. Dies gilt i n dieser Weise nicht nur hinsichtlich der Verträge m i t der UdSSR und Polen, die von der GE. ausdrücklich i n bezug genommen werden, sondern auch hinsichtlich des Grundlagenvertrages m i t der DDR, der erst zeitlich nach den beiden Ostverträgen zustandegekommen ist.
89 Ob der Tatsache, daß die GE nicht n u r v o m Bundestag, sondern auch v o m Bundesrat gebilligt wurde, verfassungsrechtliche Bedeutung hinsichtlich der Rechtsverbindlichkeit der GE zukommt, bedarf einer gesonderten U n t e r suchung. Dabei könnte auch die Feststellung wichtig werden, ob jemals zuvor Entschließungen von beiden gesetzgebenden Körperschaften verabschiedet wurden.
Zwei Staaten in Deutschland Eine Betrachtung zur Rechtslage Deutschlands nach dem Grundvertrag Von Gottfried Zieger I. Die Formel von den „Zwei Staaten i n Deutschland" ist durch die Regierungserklärung vom 28. Oktober 19691 geprägt worden. Sie muß verstanden werden als Signal einer Neuorientierung der Deutschlandpolitik. Die neu etablierte SPD/FDP-Bundesregierung war gewillt, u m eines neuen Anlaufs i n der Deutschlandfrage willen mit der Staatsführung der DDR i n Verhandlungen einzutreten, und sie mußte deshalb bereit sein, die Existenz der DDR als „Staat" zur Kenntnis zu nehmen. Damit trennte sie sich von den zuvor von allen Bundesregierungen zäh verteidigten Positionen einer strikten Nichtanerkennung der DDR als Staat. 1. Noch Ende 1966 hatte es i n der Erklärung der Regierung der großen Koalition geheißen: „Auch diese Bundesregierung betrachtet sich als die einzige deutsche Regierung, die frei, rechtmäßig und demokratisch gewählt und daher berechtigt ist, für das ganze deutsche Volk zu sprechen . . . Wir wollen . . . die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen m i t unseren Landsleuten i m anderen Teil Deutschlands mit allen Kräften fördern. Wo dazu die Aufnahme von Kontakten zwischen Behörden der Bundesrepublik und solchen i m anderen Teil Deutschlands notwendig ist, bedeutet dies keine Anerkennung eines zweiten deutschen Staates" 2 . Den verfassungsrechtlichen Standort dafür hatte das Grundgesetz geliefert. Schon durch die Wahl der Bezeichnung „Grundgesetz" statt „Verfassung" hatte es auf den „räumlich und zeitlich vorläufigen Charakter", auf das Provisorische seines Geltungsanspruchs hingewiesen 3 . I n seiner den eigentlichen Verfassungs1 B u l l e t i n des Presse- u n d Informationsamtes der Bundesregierung (Bulletin), 1969, S. 1121. 2 V o m 13. Dezember 1966, Bulletin, S. 1265 (1270). 3 Vgl. hierzu die E r k l ä r u n g der deutschen Ministerpräsidenten zu den Frankfurter Dokumenten v o m 10. J u l i 1948, Dennewitz, Einleitung zum Bonner
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aussagen vorangestellten Präambel hatte es den Willen i n den Mittelpunkt gestellt, die „nationale und staatliche Einheit zu wahren", und „auch für jene Deutschen (zu handeln), denen mitzuwirken versagt war", verbunden m i t dem Aufruf an „das gesamte Deutsche V o l k . . . , in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". I m Deutschlandvertrag 4 hatten sich die drei Westmächte der Bundesrepublik gegenüber verpflichtet, „bis zum Abschluß der friedensvertraglichen Regelung . . . zusammenzuwirken, u m m i t friedlichen Mitteln i h r gemeinsames Ziel zu verwirklichen: Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das i n die europäische Gemeinschaft integriert ist" 5 . Schon auf der New Yorker Außenministerkonferenz hatten die Regierungen der drei Westmächte am 19. September 1950 notifiziert, daß sie „die Regierung der Bundesrepublik als die einzige frei und gesetzlich konstituierte deutsche Regierung (ansehen), die infolgedessen befugt ist, i n internationalen Angelegenheiten als Vertreter des deutschen Volkes für Deutschland zu sprechen" 6 . 2. Hinter diesen Erklärungen auf verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Ebene steht die Aussage über den Fortbestand des deutschen Staates. Darauf hatten sich alle Siegermächte geeinigt, entgegen früheren Plänen, Deutschland i n eine Pluralität von Staaten aufzuteilen 7 . I n der Deklaration vom 5. Juni 1945 hatten sie die oberste Regierungsgewalt i n Deutschland übernommen und dabei ausdrücklich erklärt, die Übernahme bewirke „nicht die Annektierung Deutschlands" 8 . Diese Entscheidung, Deutschland „innerhalb seiner Grenzen, wie sie am 31. DeKommentar, S. 44; von Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. A u f l . Bd. 1. 1957, S. 23, 47; Giese, Grundgesetz. Kommentar, 4. Aufl. 1955, S. 7. Vgl. hierzu auch den diesbezüglichen Hinweis i n der Präambel auf die neue Ordnung „ f ü r eine Übergangszeit". 4 V o m 26. M a i 1952, i n der Fassung v o m 23. Oktober 1954, i n K r a f t seit dem 5. M a i 1955, BGBl. I I , S. 213 ff., 303 ff. 5 A r t . 7 Abs. 2. 6 Europa-Archiv 1950, S. 3406. Diese E r k l ä r u n g ist später mehrfach wiederholt worden, vgl. Schuster, Deutschlands staatliche Existenz i m Widerstreit politischer u n d rechtlicher Gesichtspunkte 1945 - 1963. 1963, S. 185. — Diese E r k l ä r u n g findet sich beispielsweise auch gegenüber dem am 28. Februar 1966 bereits einmal abgegebenen A n t r a g der DDR auf Erlangung der M i t g l i e d schaft i n den Vereinten Nationen, Europa-Archiv 1966, D 189. 7 Vgl. hierzu Zieger, Die Teheran-Konferenz 1943. 1967, S. 95 ff. 8 Amtsblatt des Kontrollrats. Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 7 ff. Hierzu Michael Arndt, Völkerrechtliche u n d staatsrechtliche Bedeutung der Berliner E r k l ä rung v o m 5. J u n i 1945. Diss. Göttingen 1970.
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zember 1937 bestanden, für Besatzungszwecke i n vier Zonen" aufzuteilen, das Gebiet von Groß-Berlin gemeinsam zu besetzen9 und Deutschland auch als wirtschaftliche Einheit zu betrachten 10 , basierte auf der Vorstellung von der Kontinuität des deutschen Staates, d. h. der Identität des Rechtssubjektes „Deutschland nach 1945" m i t dem Rechtssubj e k t „Deutschland vor 1945". Eine solche Entscheidung mußte sich um so mehr von selbst verstehen, als den Alliierten bei ihrer Herrschaftsausübung i m besetzten Deutschland unmittelbar daran gelegen war, die Verantwortlichkeit von Staat und Volk für die Geschehnisse der NSZeit geltendzumachen. Es wäre damals und i n der Folgezeit international weder verstanden noch gebilligt worden, wenn sich das zur Wiedergutmachung und Sühne i n Pflicht genommene, staatlich reorganisierte deutsche Volk mit dem juristischen Argument einer Diskontinuität der Verantwortung hätte entziehen wollen. Die Auffassung vom Fortbestand des deutschen Staates ist darum ganz überwiegend i m Inland und Ausland vertreten worden 1 1 . Die i n den alliierten Besatzungsdokumenten anzutreffende Formulierung der gemeinsamen Zuständigkeit für alle „Deutschland als Ganzes" betreffenden Fragen 1 2 ist seitdem zu einem „Schlüsselbegriff" 13 für die alliierten Rechtspositionen geworden 14 . Auf diese Terminologie w i r d 9
Ziff. 1 u n d 2 der Feststellung über die Besatzungszonen i n Deutschland v o m 5. J u n i 1945, Amtsblatt des Kontrollrats, Erg. S. 10. 10 T e i l I I I Β Ziff. 14 des sog. Potsdamer Abkommens v o m 2. August 1945, a.a.O., S. 13 ff. 11 Stödter, Deutschlands Rechtslage. 1948, S. 60 ff.; Grewe, E i n Besatzungsstatut f ü r Deutschland. 1948, S. 74ff.; Friedrich Klein, Neues Deutsches Verfassungsrecht. 1949, S. 25 ff.; Weber, Die Frage der gesamtdeutschen V e r fassung. 1950, S. 7; Scheuner, Die staatsrechtliche K o n t i n u i t ä t i n Deutschland, DVB1. 1950, S. 481 ff., 514 ff.; Schuster, S. 42 ff., 184 ff.; Blumenwitz, Die Grundlagen eines Friedens Vertrages m i t Deutschland. 1966, S. 76 Fn. 6; F. A . Mann, Deutschlands Rechtslage 1947- 1967, J Z 1967, S. 585 ff., 617 ff.; von Schenck, Rudolf von L a u n u n d die Rechtslage Deutschlands nach 1945, I n t e r nationales Recht u n d Diplomatie, 1972, S. 157 f. — Auch Frankreich, das sich zunächst die Untergangsthese zu eigen gemacht hatte, ist später von den Konsequenzen dieser Auffassung abgerückt und hat sich den von den beiden anderen Westmächten vertretenen Grundpositionen angeschlossen, vgl. Schuster, S. 189; Blumenwitz, Friedensvertrag, S. 78. 12 Beispielsweise i n den Ziff. 1 u n d 2 der Feststellung über das K o n t r o l l verfahren i n Deutschland v o m 5. J u n i 1945, A m t s b l a t t des Kontrollrats, Erg. S. 11; T e i l I I I A Ziff. 1 a m Ende Potsdamer Abkommen. 13 So formuliert Oppermann, „Deutschland als Ganzes". Sinnwandel eines völkervertraglichsrechtlichen Begriffes, Festschrift Berber. 1973, S. 377 (378). 14 Erst i n den letzten Jahren, vor allem i m Zuge der Ostverträge, ist die Formulierung „Deutschland als Ganzes" i n den H i n t e r g r u n d getreten u n d durch allgemeinere Verweise auf „früher abgeschlossene zwei- u n d m e h r seitige Verträge" u n d dergl. ersetzt worden. Hierzu Oppermann, Deutschland als Ganzes, S. 385. Vgl. auch unten Fn. 35. 9 Festschrift für Werner Weber
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es letztlich zurückzuführen sein, daß man sich angewöhnt hat, das Völkerrechtssubjekt „Deutsches Reich", das 1867 i n Gestalt des Norddeutschen Bundes konstituiert und 1871 i m Bismarck'schen Reorganisationsakt zum „Deutschen Reich" geworden war, schlicht nur noch als „Deutschland" zu bezeichnen 15 — offenbar, u m damit Ressentiments gegen den i n der NS-Zeit ideologisch mißbrauchten „Reichs"begriff Rechnung zu tragen. A u f dieser festgefügten Grundlage hat sich die gemeinsame Deutschlandpolitik — von Regierungs- und Oppositionsparteien getragen — entfaltet und dahin gewirkt, daß nur ein Staat, die Bundesrepublik Deutschland, i m internationalen Leben i n Erscheinung treten sollte, und zwar i n rechtlicher Identität m i t dem Völkerrechtssubjekt „Deutschland". Die Bundesrepublik hat es ohne nennenswerte Schwierigkeiten durchsetzen können, i n fast allen Internationalen Organisationen aus der Zeit vor 1945 den Platz des Deutschen Reiches einzunehmen und i n den vom Reich geschlossenen Verträgen als Vertragspartner anerkannt zu werden 1 6 . Neben diesen Rechten und Pflichten aus bi- und multilateralen Verträgen der Vorkriegszeit hat die Bundesrepublik Deutschland konsequenterweise Wert darauf gelegt, den Schuldendienst des Reiches fortzuführen. I n dem Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 w i r d nicht von einer „Übernahme", sondern lediglich von einer „Bestätigung" der Schulden gesprochen 17 , m i t h i n klargestellt, daß auch insoweit die Kontinuität der Rechtssubjektivität des Schuldners vorauszusetzen ist. Die Erstarkung ihrer internationalen Position hat die Bundesrepub l i k i n den Stand gesetzt, die Anerkennung der DDR als zweiten Staat i n Deutschland seitens anderer Länder durch die sog. Hallstein-Dokt r i n i n weitem Umfang zu verhindern 1 8 . 3. Diese Identitäts-Politik der Bundesregierung sah sich freilich der Tatsache gegenüber, daß die Sowjetunion mit der am 7. Oktober 1949 vollzogenen Umwandlung ihrer Besatzungszone i n eine Deutsche Demokratische Republik gleichfalls m i t der Errichtung eines deutschen Staates begonnen hatte. 15 Berber, Lehrbuch des Völkerrechts. B a n d 1. 1960, S. 243. Ferner Kimminich, Deutschland als Rechtsbegriff u n d die Anerkennung der DDR, DVB1. 1970, S. 437. 16 Das ist i m einzelnen i n der Göttinger Diss, von Hoenicke, Die F o r t geltung von Verträgen des Deutschen Reiches i n der B R D u n d der DDR, 1972 untersucht worden. 17 BGBl. I I , S. 333; Hoenicke, S. 134 f. 18 Vgl. hierzu Schuster, S. 272 ff.; Frh. von Wrede, Der Rechtsanspruch der Deutschen Bundesregierung auf völkerrechtliche Alleinvertretung Gesamtdeutschlands u n d die Hallstein-Doktrin. Diss. Freiburg i. Br. 1966.
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Bemerkenswert ist dabei, daß sie zunächst den Anspruch angemeldet hatte, das Rechtssubjekt (Gesamt-)Deutschland nach ihren Vorstellungen zu reorganisieren. Wie schon aus dem Ende 1946 von der SED vorgelegten Entwurf einer gesamtdeutschen Verfassung (für eine „Deutsche Demokratische Republik") deutlich geworden war, sollte die DDR alle Besatzungsgebiete Deutschlands umfassen. I n dieser Konsequenz lag es, daß die „Gesamtdeutsche Demokratische Republik durch eine genau zum 100jährigen Jubiläum des Zusammentritts der deutschen Einheitsbewegung i n der Paulskirche am 18. März 1848/1948 von der UdSSR ins Leben gerufene Volkskongreßbewegung für Einheit und gerechten Frieden gefordert und am 7. Oktober 1949 errichtet worden ist 1 9 . Freilich war sie räumlich auf das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone beschränkt. Deshalb konnte die für ganz Deutschland gedachte Verfassung von Anfang an nicht recht nur für einen Teil Deutschlands passen 20 . I n dieser Verfassung steckte weitaus offener als i n dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ein verfassungsrechtlicher Alleinvertretungsanspruch und zugleich der Gedanke an das Provisorische wegen ihrer Geltung nur i n einem Teile Deutschlands. Erst ihre Erstreckung auf die übrigen Besatzungszonen hätte den Namen einer Deutschen Demokratischen Republik rechtfertigen können. I n dieser ersten Phase der Deutschlandpolitik stoßen w i r also auf eine Konkurrenzsituation zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Beide streben danach, das völkerrechtlich weiterbestehende Rechtssubjekt „Deutschland" nach ihrem Modell zu rekonstruieren. Beide anerkennen auch das rechtliche Kontinuitätsband zu dem Völkerrechtssubjekt „Deutschland". Statt „zweier Staaten i n Deutschland" begegnen uns hier also zwei Teilordnungen, die dazu angetreten sind, durch Verdrängung der konkurrierenden anderen Ordnung selbst zum Ganzen zu werden. Die Sowjetunion hat i n den Jahren 1954/55 ihr Deutschlandkonzept revidiert. A u f der Berliner Außenministerkonferenz vom 25. Januar
19 § 1 des Gesetzes über die Verfassung der DDR v o m 7. Oktober 1949, GBl. DDR, S. 4 spricht davon, daß die „unter Beteiligung des gesamten deutschen Volkes geschaffene, v o m Deutschen Volksrat am 19. März 1949 beschlossene u n d v o m 3. Deutschen Volkskongreß am 30. M a i 1949 bestätigte Verfassung der Deutschen Demokratischen R e p u b l i k " i n K r a f t gesetzt w i r d . 20 M a n vergleiche etwa die i n der Verfassung enthaltenen Aussagen über eine bundesstaatliche Ordnung, das Bestehen einer einzigen deutschen Staatsangehörigkeit bis h i n zu dem Anspruch, daß die Farben Schwarz-RotGold (ohne Hammer u n d Zirkel) die Staatsflagge dieser gesamtdeutschen Republik u n d ganz B e r l i n seine Hauptstadt sein sollte.
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bis 18. Februar 1954 sprach der sowjetische Außenminister Molotow erstmals offiziell davon, daß auf dem Territorium Deutschland zwei Staaten existierten, die Vereinigung Deutschlands erfordere deshalb ein Übereinkommen beider Teile Deutschlands 21 . A m 25. März desselben Jahres folgte die einseitige Souveränitätserklärung der Sowjetregierung gegenüber der DDR 2 2 , die am 20. September 1955 i n Vertragsform bekräftigt worden ist 2 3 . Das Völkerrechtssubjekt Deutschland wurde nunmehr rückwirkend für untergegangen erklärt 2 4 , so daß DDR und Bundesrepublik jetzt als Rechtsnachfolge-Staaten i n Erscheinung treten 2 5 . Durch eine Vielzahl politischer und normativer Akte ist i n den folgenden Jahren alles zur Ausstattung der DDR m i t den für erforderlich gehaltenen Attributen eigener Staatlichkeit unternommen worden, von der Aufstellung Nationaler Streitkräfte über eine neue, eigene Staatsflagge, eine separate Staatsbürgerschaft bis hin zur Inkraftsetzung einer neuen Verfassung, i n welcher der Eingangssatz der Gründungsverfassung von 1949: „Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik" 2 6 durch das Bekenntnis ersetzt worden ist: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation 2 7 ." I n dieser Verfassung w i r d nunmehr die Zwei-StaatenDoktrin i n das politische Programm des A r t . 8 Abs. 2 gekleidet: „Die Herstellung und Pflege normaler Beziehungen und die Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten auf der Grundlage der Gleichberechtigung sind nationales Anliegen der Deutschen Demokratischen Republik. Die Deutsche Demokratische Republik und ihre Bürger erstreben darüber hinaus die Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung Deutschlands, die schrittweise A n näherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus."
21 Jäckel, Die deutsche Frage 1952 - 1956. Notenwechsel u n d Konferenzdokumente der vier Mächte. 1957, S. 63. 22 Europa-Archiv 1954, S. 6534. 23 GBl. DDR 1955 I, S. 918. 24 Schuster, S. 191 ff.; ausführlich ist das (unter parteilichem Gesichtspunkt) von Peck , Die Völkerrechtssubjektivität der DDR. B e r l i n (Ost) 1960, S. 9 ff., 57 ff. begründet worden. Allerdings hat die Sowjetregierung auch noch nach dem Adenauer-Besuch die Bundesrepublik u n d die DDR als „Teile Deutschlands" betrachtet, Archiv der Gegenwart, 15. September 1955, S. 5363 D. 25 Blumenwitz, Friedensvertrag, S. 90 ff. (93, Fn. 95) hat m i t Recht darauf hingewiesen, daß m a n i n der DDR i n einer Zwischenphase eine Neustaatstheorie vertreten habe, unter Ablehnung jedes Gedankens an eine partielle Rechtsnachfolge. So schon Schuster, S. 166. 26 A r t . 1 Abs. 1. 27 A r t . 1 Abs. 1, S. 1 der Verfassung v o m 6. A p r i l 1968, GBl. DDR I, S. 199.
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Damit ist der Anspruch, die DDR als den eigentlichen Kernstaat i n Deutschland zu begreifen 28 , zu den Akten gelegt und eine rechtlich paritätische Lösung ins Visier genommen. Aus dieser Verfassungsbestimmung ist aber auch jetzt noch der Überlegenheitsanspruch des eigenen Verfassungskonzepts zu spüren; denn allein „auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus" w i r d die Zusammenführung beider deutscher Staaten für möglich erklärt, d. h. der i m eigenen Gebiet unter diesen Parolen durchgeführte gesellschaftliche und staatliche Strukturwandel w i r d auch der Bundesrepublik nahegelegt 29 . M i t dieser empfohlenen Lösung werden bewußt die Kontakte zu dem anderen deutschen Staat auf die Ebene des Völkerrechts verlagert. Das bedeutet die Ablehnung einer staatsrechtlichen Entscheidung des deutschen Volkes i n Wahlen oder Abstimmungen, wie sie noch 1955 von allen Beteiligten auf der Genfer Konferenz erörtert worden war 3 0 . Immerhin läßt sich aus dieser und aus weiteren Verfassungsbestimmungen 3 1 ablesen, daß die Tür zur Lösung der deutschen Frage jedenfalls i m Zeitpunkt der Verfassungsgebung offengehalten werden sollte, obschon die DDR-Staatsführung neuerdings daran geht, ihre eigenen Verfassungsaussagen über die gemeinsame Nation abzuleugnen 82 . Nicht aus der Verfassungsurkunde selbst zu erkennen ist eine zweite Verbindungslinie zwischen den beiden deutschen Staaten, die auch für die DDR maßgebend geblieben ist. Sie folgt aus dem der Verfassung vorgegebenen Besatzungsrecht. Mittelbar kann ein solcher Hinweis nur dem A r t . 6 Abs. 1 entnommen werden, i n dem betont wird, daß die DDR „getreu den Interessen des deutschen Volkes und der internatio28
I n einer Erklärung nach seiner W a h l am 11. Oktober 1949 hatte der erste Präsident der DDR, Pieck, noch gesagt: „nicht eher werden w i r ruhen, bis die widerrechtlich von Deutschland losgerissenen u n d dem Besatzungsstatut unterworfenen Teile Deutschlands m i t dem deutschen Kerngebiet, m i t der Deutschen Demokratischen Republik i n einem einheitlichen, demokratischen Deutschland vereinigt sind". Dokumente zur Außenpolitik der DDR. Band 1. 1954, S. 16. 29 Hierzu Mampel, Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Text u n d Kommentar. 1972, S. 257; Sorgenicht u.a., V e r fassung der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente. Kommentar. B e r l i n (Ost). 2. Aufl. 1969, Bd. 1, S. 313; Zieger, Die Möglichkeiten u n d Grenzen innerdeutscher Beziehungen aufgrund der Verfassungslage der DDR, Ostverträge — B e r l i n Status — Münchener A b k o m m e n — Beziehungen z w i schen der B R D u n d der DDR. 1971, S. 285 (286). 30 Jäckel, S. 111 (116). 31 Zieger, Innerdeutsche Beziehungen, S. 287 ff. 32 Ludz, Z u m Begriff der „ N a t i o n " i n der Sicht der SED. Wandlungen u n d politische Bedeutung, Deutschland-Archiv 1972, S. 17 ff.; A l b e r t Norden zum Begriff Nation, ebd., S. 1223 ff.; von Rosenbladt, Die Einheit der Nation — ein obsoletes Thema?, ebd., 1971, S. 578 ff. Vgl. auch unten Fn. 123.
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nalen Verpflichtungen aller Deutschen auf ihrem Gebiet den deutschen Militarismus und Nazismus ausgerottet" habe. Damit ist offensichtlich das „Potsdamer Abkommen" gemeint. Dies i n der Verfassungsurkunde 1968 lesen zu können, ist insofern interessant, als die damit ausgesprochene Anerkennung einer solchen Deutschland betreffenden internationalen Verpflichtung aus dem Jahre 1945 mit dem behaupteten Untergang des Völkerrechtssubjekts Deutschland i n Widerspruch steht. Eine weitere Unstimmigkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß die DDR ihre „Souveränität" von der sowjetischen Besatzungsmacht (ebenso wie die Bundesrepublik Deutschland bezüglich der westlichen Alliierten) nicht vorbehaltlos zurückerlangt hat: alle vier Besatzungsmächte haben sich ihrer originären Befugnisse aufgrund der occupatio bellica nicht völlig begeben. Sie dauern fort i n Gestalt ihrer gemeinsamen Verantwortung gegenüber „Deutschland als Ganzem", die erst durch einen Friedensvertrag m i t Deutschland ihr Ende finden würde. Diese auch gegenüber der DDR bestehengebliebenen alliierten Vorbehaltsrechte ziehen sich durch alle zwischen UdSSR und DDR ergangenen Rechtsakte wie ein roter Faden, auch wenn sie aus Gründen der Optik bisweilen nur aus begleitenden Briefwechseln oder allgemeineren Formeln erschlossen werden können 3 3 . I n dem Viermächte-Abkommen über Berl i n vom 3. September 197134 sind sie jüngst wieder bestätigt worden 3 5 . 4. Dieser auf Seiten der DDR zu beobachtende Entwicklungsprozeß von der ursprünglich eingenommenen Position eines Allöinvertretungsanspruchs für ganz Deutschland zu der Zwei-Staaten-Doktrin m i t einem Restbestand gesamtdeutscher Verantwortung — auf dem Hintergrund der „Deutschland als Ganzes" umfassenden weiteren Klammer der alliierten Vorbehaltsrechte — hat die Bundesregierung zu einer damit vergleichbaren Bewegung inspiriert. Pointiert ließe sich sagen, die Bundesregierung habe m i t ihrer Formel von den „zwei Staaten i n Deutschland" ihrerseits eine ähnliche Rechtsposition bezogen, u m damit eine gemeinsame Plattform für Verhandlungen m i t der DDR zu gewinnen. Sie wollte damit der Gefahr entgegenwirken, daß auch diese gemeinsame Basis noch verlorengehen könne. Dieses Aufgreifen recht33 Briefwechsel Bolz/Sorin v o m 20. September 1955 anläßlich der U n t e r zeichnung des Vertrages v o m selben Tage zwischen der UdSSR u n d DDR, der i m GBl. D D R nicht abgedruckt worden ist. Dokumente zur Außenpolitik der DDR. Bd. 3. 1956, S. 283. 34 Bulletin, S. 1360; Beilage zum BAnz. Nr. 174 v o m 15. 9.1972, S. 50. 35 Allerdings i n einer das W o r t „Deutschland" aussparenden Formulierung. I n der Präambel des alliierten Abkommens heißt es, man habe gehandelt „auf der Grundlage ihrer Viermächte-Rechte u n d -Verantwortlichkeiten u n d der entsprechenden Vereinbarungen u n d Beschlüsse der Vier Mächte aus der Kriegs- u n d Nachkriegszeit".
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licher Elemente aus dem Arsenal der DDR zeigt sich einprägsam i n dem Begriff der „deutschen Nation", der von der Bundesregierung i n das Zentrum ihres neuen Konzepts gerückt worden ist. Er besitzt i n der deutschen Rechtstradition keine ohne weiteres bestimmbare dogmatische Relevanz. Von Mangoldt-Klein deuten die adjektivische Form i n der Präambel des Grundgesetzes („von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren") als ein Bekenntnis zur „inneren" (nationalen) Einheit gegenüber der „äußeren" (staatlichen) Einheit 3 6 . I m westlichen Sprachgebrauch reicht die Bandbreite der inhaltlichen Aussage dessen, was „Nation" begrifflich darstellen soll, von der Deutung als kulturell-sprachliche Einheit bis zu einer politischen Sinngebung, die Nation m i t Staatsvolk oder Staat weithin gleichsetzt 37 ; so ist etwa von Carl Schmitt die Nation dem politisch bewußt gewordenen Volk gleichgeachtet worden 3 8 . I m sowjetischen Bereich hingegen kommt dem „Nation"-Begriff ein ausgesprochen politischer und rechtlicher Stellenwert zu. Die Nation ist Träger des Selbstbestimmungsrechts 39 , abgeleitet aus dem leninistischen Dogma von der nationalen Frage. Ganz offensichtlich liegt diese Deutung des Nation-Begriffs auch der A u f nahme i n die DDR-Verfassung zugrunde. Für den Versuch eines B r ü k kenschlages zwischen den beiden konträren staatlichen Ordnungen i m deutschen Raum bietet gerade diese begriffliche Elastizität einen besonderen Anreiz, ihn zum Ausgangspunkt bei der Suche nach festeren Gemeinsamkeiten zu nehmen. K a u m zufälligerweise beginnt das Programm von Kassel i n Punkt 1 m i t dem Satz: „Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, die i n ihren Verfassungen auf die Einheit der Nation ausgerichtet sind, vereinbaren i m Interesse des Friedens sowie der Zukunft und des Zusammenhalts der Nation einen Vertrag, der die Beziehungen zwischen den beiden Staaten i n Deutschland regelt 4 0 ." A u f dieses Ziel hin orientiert, bedeutet die Formel der „zwei Staaten i n Deutschland" eine einschneidende Revision der gesamten bisherigen Deutschlandpolitik der Bundesrepublik. Denn die Formel von den „zwei Staaten i n Deutschland" enthält den Verzicht auf den bisher geltendgemachten politischen Alleinvertretungsanspruch 41 i n den 38
S. 42. Mampel, S. 106. Verfassungslehre. 1928. Unveränderter Nachdruck 1954, S. 79. 39 Völkerrecht. Lehrbuch. Gesamtredaktion L e w i n u n d Kaljushnaja. B e r l i n (Ost). 1967 (Deutsche Übersetzung), S. 140 ff., 146 ff.; Mahnke, Die Nation als Völkerrechtssubjekt. Sowjetische Auffassungen, Jahrbuch f ü r Ostrecht 1967, S. 7. 40 Die 20 Punkte von Kassel. B u l l e t i n 1970, S. 669 (670). 41 Vgl. oben Fn. 18. Dieser politisch gemeinte Anspruch i. S. der oben (Fn. 6) berichteten alliierten Vorstellungen ist v i e l mißverstanden worden. Die 37
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Gottfried Zieger
136 Deutschland
betreffenden
Angelegenheiten
und
damit
zugleich
das
A n g e b o t a n d i e D D R , d e n P l a t z als z w e i t e r „ S t a a t i n D e u t s c h l a n d " n e ben der Bundesrepublik
e i n z u n e h m e n 4 2 . Das i m p l i z i e r t e
die
Bereit-
schaft d e r B u n d e s r e g i e r u n g , i h r e n b i s h e r i g e n W i d e r s t a n d gegen eine völkerrechtliche A n e r k e n n u n g der D D R durch Drittstaaten
einzustel-
len, also d e n W e g z u r A u f n a h m e des z w e i t e n deutschen Staates i n d i e i n t e r n a t i o n a l e G e m e i n s c h a f t „ f r e i z u g e b e n " . N a c h Z i f f . 7 des sog. B a h r p a p i e r s 4 3 s o l l t e als f ü r B e r l i n (Ost) w o h l interessanteste
Perspektive
d e r n e u e n O s t p o l i t i k d e r B u n d e s r e g i e r u n g i m Z u g e des E n t s p a n n u n g s u n d Annäherungsprozesses
im
Herzen
Europas
die A u f n a h m e
von
B u n d e s r e p u b l i k u n d D D R i n d i e V e r e i n t e n N a t i o n e n stehen. I m d i p l o m a t i s c h e n R i n g e n u m d i e K o n k r e t i s i e r u n g dieser P o l i t i k i s t dieser H a b e n - P o s t e n d a n n doch vorgezogen u n d schneller v e r a u s g a b t
worden;
d e r d a b e i v o n der B u n d e s r e g i e r u n g a l l g e m e i n a n d e n T a g gelegten Eile
sind
in
der
Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts
zum
G r u n d v e r t r a g 4 4 kritische W o r t e g e w i d m e t worden. B e i der Skizzierung dieses K u r s w e c h s e l s d e r B u n d e s r e g i e r u n g
muß
auf
die
Darstellung
Klarstellung der Westmächte (Interpretative M i n u t e v o m 19. September 1950), daß die Anerkennung der Bundesregierung, aufgrund ihrer demokratischen Legitimation als „Vertreter des deutschen Volkes für Deutschland" zu sprechen, keine Zuständigkeit einschließe, sich als „de jure-Regierung ganz Deutschlands" zu gerieren, ist nicht erst von Menzel (Wie souverän ist die Bundesrepublik? ZRP 1971, S. 178 (188)) i n die deutschlandrechtliche Diskussion eingebracht worden, wie Schmidt - Jortzig, Die Interpretative M i n u t e v o m 19. 9.1950, JZ 1973, S. 771 meint. Diese Klarstellung ist bereits 1956 von Bathurst u n d Simpson, Germany and the N o r t h A t l a n t i c Community, 1956, S. 188 inhaltlich wiedergegeben worden (Menzel, Fn. 46), worauf bereits 1967 von F. A. Mann, S. 622 hingewiesen worden ist. Sie ist v o m Verfasser 1969 den Überlegungen über die deutsche Staatsangehörigkeit (Das Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR. Seine A u s w i r k u n g e n auf die Rechtsordnung der Bundesrepublik. 1969, S. 45) m i t zugrundegelegt worden. 42 Es k a n n darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Westmächte noch i m Jahre 1966 bei der Bewerbung der DDR u m die Mitgliedschaft i n den Vereinten Nationen der Bundesregierung das bezeichnete politische Vertretungsrecht f ü r „Deutschland" ausdrücklich zuerkannt hatten (oben Fn. 6). I m Zeitpunkt der Regierungserklärung v o m Oktober 1969 hatte die DDR n u r i n 18 Fällen i n i h r e m zähen Ringen u m internationale Anerkennung einen Erfolg verzeichnen können; überwiegend handelte es sich u m Staaten des sowjetisch dominierten Lagers. I m Januar 1974 bestanden diplomatische Beziehungen zu 101 Staaten. 43 Archiv der Gegenwart, 1. J u l i 1970, S. 15.575 C. 44 Das U r t e i l v o m 31. J u l i 1973 ist abgedruckt i n der von desiar u. a. besorgten Dokumentation, Der Streit u m den Grundvertrag. 1973, S. 283 ff. (nach dieser Veröffentlichung w i r d das U r t e i l i m folgenden zitiert). Vgl. ferner den Urteilstext i n N J W 1973, S. 1539 ff.; JZ 1973, S. 588 ff. m i t A n m . Oppermann; D Ö V 1973, S. 606 ff.; DVB1. 1973, S. 685 ff.; ROW 1973, S. 226 ff.; BayVBl. 1973, S. 490 ff.
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eines Umstandes besonderes Gewicht gelegt werden: Die Präsentierung der Formel von den „zwei Staaten i n Deutschland" ist in eine weitläufigere Formulierung eingebaut, die erst i n ihrer Geschlossenheit das politische Gewicht dieser neuen Aussage und ihre rechtlichen Folgerungen zum Ausdruck bringt. Die entsprechende Passage i n der Regierungserklärung lautet wie folgt: „Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung kann nicht i n Betracht kommen. Auch wenn zwei Staaten i n Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland, ihre Beziehungen zueinander können nur besonderer A r t sein." M i t der Formel von den „zwei Staaten i n Deutschland" soll also nicht eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR von Seiten der Bundesrepublik verbunden sein, sondern nur die ZurKenntnisnahme als „zweiter Staat i n Deutschland", d. h. die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten sollen enger und näher miteinander verknüpft sein als üblicherweise zwischen fremden Ländern. Aus dieser Perspektive ergibt sich ein gewichtiger Unterschied gegenüber der inhaltlichen Deutung der Zwei-Staaten-Doktrin der DDRStaatsführung. Während dieser die Zwei-Staaten-These zur völkerrechtlichen Anerkennung ihres Staates und völkerrechtlichen Absicherung gegenüber der Bundesrepublik — also zur Gewährleistung rechtlicher Distanz — dienen sollte, ist das Konzept der Bundesregierung gerade darauf angelegt, Distanz abzubauen und durch die Anerkennung der DDR-Staatsführung als Partner „ i n Deutschland" zu einem einverständlichen Miteinander und Nebeneinander zu kommen 4 5 .
II. Der Versuch einer dogmatischen Ausdeutung dieses aus dem Signum der „zwei Staaten i n Deutschland" abzuleitenden politischen Standortes unter Würdigung der i m Zuge dieser Politik zustande gebrachten Rechtsakte — also der Fortschreibung des Deutschlandproblems, mit dem sich der Jubilar selbst immer wieder befaßt hat 4 6 — muß sich i n
45 „20 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR müssen w i r ein weiteres Auseinanderleben der deutschen Nation v e r h i n dern, also versuchen, über ein geregeltes Nebeneinander zu einem M i t e i n a n der zu kommen", heißt es i n der erwähnten Regierungserklärung v o m 28. Oktober 1969. 46 Die Z a h l der gesamtdeutschen Fragen gewidmeten Veröffentlichungen reicht von der 1949 erschienenen Schrift: Weimarer Verfassung u n d Bonner Grundgesetz, Göttingen, bis zu der jüngst herausgekommenen voluminösen Veröffentlichung Weber - Jahn, Synopse zur Deutschlandpolitik 1941 - 1973. Göttingen 1973, X V , 1070 S.
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dem zur Verfügung stehenden Rahmen m i t einigen skizzierenden Bemerkungen begnügen 4 7 . Der von der Bundesregierung bei ihrer Deutschlandpolitik i n A n spruch genommene Handlungsspielraum ist ebenso w i e das rechtliche Produkt, der Grundvertrag vom 21. Dezember 1972 48 , nach dem U r t e i l des B V e r f G vom 31. J u l i 1973 als noch innerhalb der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes befindlich erachtet worden. D a m i t hat das Gericht dem deutschlandpolitischen Wollen der Bundesregierung die verfassungsrechtliche Kontinuität attestiert. Es wäre deshalb i m dogmatischen Ansatz nicht richtig, bei einer rechtlichen Analyse die früher, bis zu der Regierungserklärung vom Oktober 1969 diskutierten Denkmodelle als p r i n z i p i e l l überholt beiseitezulassen u n d n u r nach neuen Ufern Ausschau zu halten. Wenn das Deutschlandkonzept der Bundesregierung m i t der K u r z formel der „zwei Staaten i n Deutschland" n u r die K o r r e k t u r des bisherigen Weges, nicht aber die Aufgabe des seit der Errichtung der Bundesrepublik anvisierten deutschlandpolitischen Zieles sein soll, dann muß dem der Versuch entsprechen, die bisherigen dogmatischen Vorstellungen dem neuen L e i t b i l d anzupassen. Freilich ergeben sich dabei sogleich neue Schwierigkeiten. W a r es schon recht diffizil, das klare politische Programm der früheren B u n desregierungen i n eine hinreichend tragfähige Theorie zu überführen, so müssen sich die Hindernisse für eine rechtliche Analyse i n dem M a ße vermehren, i n dem die K o n t u r e n des neuen Programms an Schärfe verlieren. Das gilt bereits für die Deutschland betreffenden Passagen der Regierungserklärung Brandt/Scheel vom Januar 1973 49 . Hier finden w i r die eingängige Formel von den „zwei Staaten i n Deutschland" nicht mehr zentral i n den M i t t e l p u n k t der Programmformulierungen zur Deutschlandfrage gestellt; es w i r d jetzt — wenn auch ohne erkennbare Wertabstufung — allgemeiner u n d unverbindlicher von den „zwei deutschen Staaten" oder „den Teilen Deutschlands" gesprochen. V o r wiegend diese Formeln finden sich i n der Folgezeit i n offiziellen K u n d gaben. N u r die Fassung von den „beiden deutschen Staaten" ist von der DDR i m Grundvertrag konzediert worden, offenbar w e i l auch A r t . 8 Abs. 2 DDR-Verfassung eben diese Formulierung kennt. I m Grundvertrag selbst t r i t t das W o r t „Deutschland" n u r als Namensbestandteil der Bundesrepublik Deutschland, sonst nicht mehr i n Erscheinung. Ä h n 47 Deshalb können aus der kaum noch übersehbaren Fülle von Meinungsäußerungen i m folgenden n u r einige herausgegriffen werden. 48 BGBl. 1973 I I , S. 421, i n K r a f t seit dem 21. J u n i 1973, BGBl. I I , S. 559. 49 Bulletin, S. 45.
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lieh steht es mit der klaren Aussage i n der Regierungserklärung 1969, daß eine völkerrechtliche Anerkennung durch die Bundesregierung nicht i n Betracht kommen könne; sie ist weder beim Abschluß noch bei der Ratifikation des Grundvertrages der DDR gegenüber bekräftigt worden. Ebensowenig ist sie i n der letzten Regierungserklärung vom Januar 1973 anzutreffen. Gleichwohl kann an der Beibehaltung dieses Anerkennungsvorbehaltes als nach wie vor wirksamer politischer Entscheidung nicht gezweifelt werden, wenngleich er aus dem Grundvertrag und manchen offiziellen Verlautbarungen nur i m Wege bisweilen verschlungener juristischer Deutung herausgefiltert werden muß. Eine allzu große Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeit des anderen Staates in Deutschland droht diese entscheidende Grundposition der Bundesregierung aus dem öffentlichen Bewußtsein entschwinden zu lassen 50 . Es ist dem Urteil der Karlsruher Richter zugutezuhalten, daß es sich um die Hervorhebung dieses Vorbehalts und um die Klärung weiterer rechtlicher Grundfragen der durch die Formel der „zwei Staaten i n Deutschland" signalisierten neuen Deutschlandpolitik bemüht hat. 1. I m ersten Abschnitt seiner eigentlichen Urteilsbegründung 5 1 hat sich das Gericht der Frage nach dem Rechtsstatus Deutschlands zugewandt. Das BVerfG greift damit ein Problem auf, das über die grundgesetzliche Ordnung hinaus in das Völkerrecht reicht. Die vom Gericht zum Maßstab seiner Prüfung herangezogenen „Aussagen des Grundgesetzes über den Rechtsstatus Deutschlands" müssen deshalb auch auf dem völkerrechtlichen Hintergrund gesehen werden. Der Kernsatz des Urteils: „Das Grundgesetz — nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! — geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder m i t der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt i n Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist", muß nach der völkerrechtlichen Seite hin ergänzt werden. Die Aussage über Untergang oder Nicht-Untergang des Völkerrechtssubjekts Deutschland kann nicht allein von der innerstaatlichen Rechtsordnung entschieden werden, sondern erfordert zustimmende Aufnahme 50 Vgl. hierzu Kewenig, Die Bedeutung des Grundverträges f ü r das V e r hältnis der beiden deutschen Staaten, Europa-Archiv 1973, S. 37 (38). Z u denken muß es deshalb geben, wenn bei einer „Spiegel"-Umfrage festgestellt werden mußte, daß 79 °/o der vermutlichen SPD-Wähler u n d 74 °/o der v e r mutlichen FDP-Wähler (gegenüber 4 4 % vermutlicher CDU/CSU-Wähler) sich für die völkerrechtliche Anerkennung der DDR ausgesprochen haben, „Spiegel" Nr. 44 v o m 23. Oktober 1972, S. 70. 51 Teil I I I , Ziff. 1, a.a.O., S. 293.
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in der Völkerrechtsgemeinschaft 52 . Deren Interessen werden unmittelbar durch Fortbestand oder Untergang eines ihrer Mitglieder berührt. Da das Völkerrecht nicht den Grundsatz der Universalsukzession kennt 5 3 , wäre i m Falle des Untergangs eines Staates nicht ipso jure gewährleistet, daß ein oder mehrere Rechtsnachfolge-Staaten zur Sicherung des völkerrechtlichen Ordnungsgefüges ohne weiteres i n die Rechte und Pflichten des untergegangenen Rechtssubjektes eintreten. Es läge vielmehr weithin i m Ermessen eines Rechtsnachfolgestaates, welche Stellung er insbesondere zu den aus Verträgen begründeten Rechten und Pflichten des Vorgängerstaates bezieht. Das erklärt die auf rechtliche Kontinuität tendierende Haltung der Völkerrechtsgemeinschaft 54 , die nicht daran interessiert sein kann, den Partner aus biund multilateralen Verträgen ersatzlos einzubüßen. Regierungswechsel, Staatsstreich, Verfassungsänderung und Revolution sind darum vom Völkerrecht her gesehen staatsinterne Vorgänge ohne unmittelbare Auswirkungen auf die rechtliche Kontinuität des Völkerrechtssubjektes Staat. I m Falle des Völkerrechtssubjektes Deutschland stimmt die vom BVerfG festgestellte Entscheidung des Grundgesetzes über den NichtUntergang mit der eingangs erwähnten Grundentscheidung der A l l i i e r ten des Jahres 1945 überein; aufgrund des Selbstbestimmungsrechts hätte sie wohl auch nicht anders ausfallen können. Das hinzutretende Votum der Staatengemeinschaft ist in dieselbe Richtung gegangen. Es läßt sich am besten aus der Praxis ablesen, das vor 1945 mit Deutschland geknüpfte engmaschige Vertragsnetz durch einfache Wiederanwendungserklärungen gegenüber der Bundesrepublik fortgelten zu lassen. Ohne Anerkennung rechtlicher Kontinuität wäre das i n dieser Geschlossenheit nicht vorstellbar gewesen. Diese Entscheidungen des Grundgesetzes, der Vier Mächte und der Staatengemeinschaft sind bis heute nicht durch eine gegenteilige Entschließung revidiert worden. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage zur Deutschland- und Außenpolitik am 11. November 197155 die Wahrung der Kontinuität zum Deutschen Reich abermals bekräftigt. A u f der alliierten Ebene hat sich — wie erwähnt — die Sowjetunion 1954/55 von der Kontinuitätsthese der Diskontinuitätsmeinung zugewandt, freilich ohne allenthalben daraus die rechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Wesentlich ist, daß auch die östliche 52
Dahm, Völkerrecht. Bd. 1. 1958, S. 90 (91); Stödter, S. 91; Fiedler, Staatskontinuität u n d Verfassungsrechtsprechung. 1970, S. 59 ff. 53 S. 101 ff.; Berber, S. 248. 64 Berber, S. 246 ff.; zurückhaltender Fiedler, Staatskontinuität, S. 150. 55 BT-Drucksache VI/2828.
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Besatzungsmacht unverrückbar auf ihren ganz Deutschland betreffenden Vorbehaltsrechten beharrt. Es war schon festgestellt worden, daß die Sowjetunion i n dem Viermächte-Abkommen über Berlin die auf das Rechtssubjekt „Deutsches Reich" bezogenen Rechtspositionen gemeinsam mit den drei anderen Alliierten bestätigt hat. Berlin, einst die Hauptstadt des Reiches, hat damit eine ganz wesentliche Bewahrungsfunktion auch gegenwärtig in der Frage der Kontinuität des deutschen Staates zu erfüllen. I n dem sonstigen internationalen Bereich hat gleichfalls keine dem bisherigen Verhalten entgegengesetzte Auffassung vom Untergang des Völkerrechtssubjekts Deutschland um sich gegriffen. Der vom BVerfG für das innerstaatliche Verfassungsrecht ausgesprochene Kontinuitätsgedanke steht deshalb auch heute nicht i m Gegensatz zum Völkerrecht. Deutlicher Widerspruch gegen die Fortbestandslehre w i r d indessen nachdrücklich und lautstark von der DDR angemeldet. Ihre heutige Auffassung widerspricht ihrer eigenen, bis 1952 vertretenen Kontinuitätsbehauptung, auf jeden Fall ist die DDR nicht imstande, die von den Alliierten und der Bundesrepublik gefällte Kontinuitätsentscheidung mit Wirkung für „Deutschland als Ganzes" zu konterkarieren. I h r Standpunkt muß aber für ihren eigenen Jurisdiktionsbereich zur Kenntnis genommen werden. Wegen des Fortbestands der alliierten Rechtspositionen weist er dieselbe Unstimmigkeit auf, die für die sowjetische Rechtsauffassung konstatiert werden mußte. Aufmerksam gemacht werden kann gerade in diesem Zusammenhang darauf, daß der Grundvertrag seinerseits Kontinuitätselemente enthält: das gilt nicht nur für den Dissens über die „nationale Frage" 5 6 und die deutsche Staatsangehörigkeit 57 , sondern noch mehr für die vereinbarte Entwicklung des „Handels zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR . . . auf der Grundlage der bestehenden A b kommen" 5 8 , d. h. des Berliner Interzonenabkommens vom 20. September 195159, vor allem aber für A r t . 9 des Grundvertrages, i n dem die Partner ihre Übereinstimmung darüber erklären, „daß durch diesen Vertrag die von ihnen früher abgeschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen und mehrseitigen internationalen Verträge und Vereinbarungen nicht berührt werden". Diese Vertragsklausel ist insofern ungewöhnlich, als i n ihr zwei Vertragspartner sich gegenseitig versichern, daß nicht nur von ihnen selbst abgeschlossene Verträge, son56
Präambel zum Grundvertrag. Protokollvermerk zum Vertrag, S. 426. 58 Zusatzprotokoll, T e i l I I (zu A r t . 7), S. 426. 59 I n der Fassung der Vereinbarung v o m 15. August 1960. Beilage zum BAnz. Nr. 32 v o m 15. Februar 1961. 57
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dern auch „sie betreffende", d.h. von dritten Mächten über ihre Rechtspositionen kontrahierte Verträge nicht berührt werden. Darin liegt das gemeinsame Eingeständnis, daß es (höherrangige) völkerrechtliche Normen gibt, denen sich der Grundvertrag einfügen muß. Ganz klar unterstrichen w i r d diese Einbettung des Grundvertrages i n das alliierte Recht durch den zwischen den Vertragspartnern vorgenommenen Austausch von Briefen zu diesem A r t . 9, der den Text gleichlautender Noten an die Westmächte bzw. die UdSSR m i t der Feststellung enthält, daß nach Auffassung der Vertragsparteien „die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte und die entsprechenden diesbezüglichen vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken durch diesen Vertrag nicht berührt werden können" 6 0 . Nach Lage der Dinge kann es sich hierbei nur um die alliierten Absprachen über „Deutschland als Ganzes" handeln, also u m die Rechtsakte, die oben als die nach wie vor aufrechterhaltenen alliierten Vorbehaltspositionen bezeichnet worden sind. Da diese fortbestehenden alliierten Rechte begriffsnotwendig ein Völkerrechtssubjekt Deutschland zum Bezugspunkt haben müssen, ergibt sich daraus der Schluß, daß dieses Rechtssubjekt Deutschland i n den Grundvertrag mit einbezogen worden ist 6 1 . Das Eingebundensein der beiden Staaten i n Deutschland war bereits i n Gestalt ihrer Mitwirkungspflicht bei der vorausgegangenen Ausfüllung des Berliner Viermächte-Abkommens 62 hinreichend deutlich zum Ausdruck gelangt. Die vom BVerfG bestätigte Kontinuitätsbehauptung der Bundesregierung verletzt nach alledem auch nicht den Grundvertrag 6 3 . 2. Weitaus schwieriger ist die sich hieran anschließende Frage nach dem Verhältnis der beiden Staaten in Deutschland zu dem fortbestehenden Völkerrechtssubjekt Deutschland. Das BVerfG hat es vermieden, sich i n seiner Entscheidung m i t dem wissenschaftlichen Disput u m die theoretische Deutung dieses Problems zu befassen; es hat damit nur eine Praxis fortgesetzt, die sich i n seinen früheren Entscheidungen beobachten läßt. 60 BGBl. 1973 I I , S. 429. Vgl. hierzu Blumenwitz, Die Unberührtheitsklausel i n der Deutschlandpolitik, Festschrift Berber. 1973, S. 83 ff. 61 Dem Vernehmen nach ist eine zeitlang von den Partnern die Aufnahme eines Friedensvertragsvorbehalts i n den Grundvertrag erwogen worden. 62 I n dem A b k o m m e n ist gemäß T e i l I I I das I n k r a f t t r e t e n der alliierten Absprachen von dem Abschluß „zwischen den zuständigen deutschen Behörden" — so Ziff. 2 des Viermächte-Schlußprotokolls v o m 3. J u n i 1972, a.a.O., — abhängig gemacht worden. Diese Formulierung erinnert an den S t i l des früheren Besatzungsrechts. 63 Unzutreffend deshalb die Behauptung des sowjetischen Journalisten Rshewski, i n : Neues Deutschland v o m 3. Januar 1973, die festgestellte K o n t i n u i t ä t verletze das Völkerrecht.
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Aus der Vielzahl der theoretischen Konzepte 64 zu Deutschlands Rechtslage haben sich zwei Gruppen von Theorien i n den Vordergrund geschoben, die i m Spiegel des Karlsruher Urteils aufgegriffen werden müssen: die Identitätstheorien einerseits und die Teilordnungslehre andererseits. Die Identitätstheorien 65 nehmen ihren Ausgangspunkt — wie schon der Name besagt — von der Feststellung her, daß das Völkerrechtssubjekt Deutschland m i t einer der beiden staatlichen Ordnungen auf dem deutschen Rumpfterritorium 6 6 identisch ist. Besonderes Interesse verdienen die Auffassungen, die die Identität des Reichs m i t der Bundesrepublik verknüpfen, d. h. i n ihr die derzeitige Erscheinungsform des deutschen Staates von 1867 erblicken 67 . Streitig ist innerhalb dieser Gruppe, i n welcher Weise i n diese Theorie der außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes belegene Raum des deutschen Staatsgebiets nach dem Stande vom 31. Dezember 193768 einzubeziehen ist. Es genügt, aus den verschiedenen Spielarten dieser Identitätstheorien die beiden wesentlichen herauszugreifen: Nach der Schrumpf staatstheorie 69 ist der deutsche Staat territorial auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes zusammengeschrumpft und i n diesem Gebietszustand m i t der Bundesrepublik identisch. Die DDR ist nach dieser Auffassung durch Abspaltung (Sezession) zu einem zweiten Staat und damit zum Ausland geworden. Diese Ansicht w i r d deshalb auch als „Sezessionstheorie" bezeichnet. Die andere Variante, die Staatskerntheorie, ist der Auffassung, daß die Bundesrepublik Deutschland wesensgleich sei m i t dem deutschen Staat von 1867. Deshalb seien ihr alle deutschen Staatsangehörigen rechtlich weiterhin zugeordnet. Der Geltungsbereich des Grundgesetzes bilde den Kern des gesamtdeutschen Staates; das übrige deutsche Gebiet könne derzeit nicht von der Hoheitsgewalt der Bundesrepublik ausgefüllt werden, es sei aber als inländisches, nicht als ausländisches Staatsgebiet anzusehen 70 . Die Teilordnungslehre 71 pflegt eine hierarchische Betrachtung der Deutschlandfrage. Sie geht von der Existenz eines fortbestehenden 64
Hierüber orientiert Schuster (Fn. 6). S. 76 ff.; Fiedler, Staatskontinuität, S. 145 ff. ββ A u f die m i t den Ostgebieten zusammenhängenden Fragen kann i m Rahmen dieser Betrachtung nicht eingegangen werden. 67 Schuster, S. 78. ω Oben S. 128 f. 69 Schuster, S. 89 ff. 70 S. 84 ff. 71 Sie ist vor allem von Klein i m Kommentar von von Mangoldt - Klein, 2. Aufl. Bd. 1, 1957, S. 35 entwickelt worden. Vgl. auch von der Heydte, Der deutsche Staat i m Jahre 1945 und seither, W d S t R L 13 (1955), S. 6 (20). 65
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Völkerrechtssubjektes Deutsches Reich — als „Dach" — aus, unter dem sich die zwei Teilordnungen Bundesrepublik und DDR — zum Teil unter Hereinnahme einer weiteren Teilordnung Berlin 7 2 — gebildet haben. Daher auch die Bezeichnung Dachtheorie. Sie w i r d gleichfalls i n verschiedenen Modifikationen vertreten 7 3 , die sich darin unterscheiden, ob völlige Gleichordnung zwischen den Teilordnungen oder eine — zumeist der Bundesrepublik zugutegehaltene — Privilegierung der einen bestehen soll. Das wesentliche der Teilordnungslehre ist darin zu erblicken, daß sie unterhalb des Reichsdaches nicht von der Existenz vollgültiger Staaten, sondern nur von „Teilordnungen", d. h. nur partiell völkerrechtsfähigen Einheiten ausgeht 74 . Die Auffassung der Bundesregierung ist seit der Errichtung der Bundesrepublik nicht konstant geblieben. Bis zum Oktober 1969 hat man die amtliche Ansicht der Gruppe der Identitätslehren zugerechnet, und zwar zumeist i n der Form der Staatskerntheorie 75 . M i t dem Regierungswechsel 1969 hat offensichtlich auch eine Auswechselung i m theoretischen Deutschlandbild stattgefunden: die Ablösung durch die Teilordnungslehre. Die Formel der „zwei Staaten i n Deutschland" ist i n der Tat eine prägnante Kurzfassung dieser Theorie, derzufolge Bundesrepublik und DDR als die zwei Staaten zu gelten haben, die sich unter dem „Reichsdach" Deutschland i n besonderer Nähe zusammenfinden. Das i m Verfolg des veränderten Kurses i n der Deutschlandpolitik vom Bundeskanzler aufgestellte Programm der 20 Punkte von Kassel 76 geht ebenso wie der daraufhin abgeschlossene Grundvertrag von der diesem theoretischen Modell entsprechenden vollen Parität der DDR aus. Der in diesem Deutschland-Konzept angelegte Verzicht auf den sog. Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung kann als Beleg für die bewußte Aufgabe der Identitätstheorie genommen werden. Möglicherweise läßt sich sogar ein Zusammenhang herstellen zwischen dieser sehr späten Anerkennung der Dachtheorie und den spärlicher gewordenen offiziellen Aussagen zur Identität des deutschen Völkerrechtssubjektes überhaupt. Es möchte fast scheinen, als ob mit der Entthronung der Identitätstheorie (die nur etwas über das Verhältnis des deutschen Völkerrechtssubjektes zur Bundesrepublik aussagen will) sogar 72
So etwa Schuster, S. 107 ff.; Blumenwitz, Friedensvertrag, S. 123 (125). Vgl. etwa S. 86 ff. 74 So S. 86 („BRD und D D R genießen n u r soweit Völkerrechtssubjektivität, als dies der fortbestehende Gesamtstaat zuläßt") m i t K r i t i k an Schuster, da dieser die Dachtheorie i n die Gruppe der Drei-Staaten-Theorien aufgenommen habe; ferner S. 130 („Teilordnungen B R D u n d DDR als partielle V ö l k e r rechtssubjekte"). 75 Schuster, S. 84 ff., 152. 76 Oben Fn. 40. 73
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der Identitätsgedanke überhaupt wieder zweifelhaft geworden wäre. Denn vom Jahre 1969 an haben sich i m westdeutschen Schrifttum erstmals seit Jahrzehnten wieder Stimmen geäußert, die sich dafür aussprechen, erneut den Untergang des Völkerrechtssubjektes Deutschland zu diskutieren 7 7 , also meinen, die Identitätsaussage nicht mehr aufrechterhalten zu können. Dabei w i r d grundlegend verkannt, daß auch die Dachtheorie niemals Zweifel daran gelassen hat, daß i n ihrem Gedankengebäude eine Identität des „Reichsdachs" m i t dem Rechtssubjekt „Deutschland" besteht 78 . Es erscheint zudem ausgeschlossen, die 1945 und i n den Jahren unmittelbar danach getroffene Kontinuitätsentscheidung nach so langem Zeitablauf rückwirkend umzustoßen 79 . Es müßte auch i m übrigen bedacht werden, daß die jahrzehntelange Praxis der Wiederanwendungserklärungen hinsichtlich der deutschen Vorkriegsverträge i m nachhinein i n der L u f t hängen würde. Ein Versuch zur Umdeutung i n den Abschluß neuer, inhaltsgleicher Verträge stieße an die unübersteigbare Schranke des Grundgesetzes; denn die gesetzgebenden Körperschaften der Bundesrepublik wären i n diesem Falle zwingend nach A r t . 59 Abs. 2 des Grundgesetzes m i t Vertragsgesetzen zu beteiligen gewesen 80 . Die Wiederanwendungserklärungen sind jedoch nur i m Wege einer einfachen Bekanntmachung erfolgt 8 1 . Das BVerfG hat sich — wie schon bemerkt wurde — i n seinem Urteil vom 31. J u l i 1973 für keine der Theorien zur Rechtslage Deutschlands entschieden. Es hat seine Rechtsauffassung eher pragmatisch darzustellen gesucht. Gleichwohl ließen sich manche Passagen für die Dachtheorie i n Anspruch nehmen. Beispielsweise, wenn dem fortexistierenden Reich attestiert wird, es sei „als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfähig" 8 2 . Das ließe sich sehr gut als „Dach"-Element dieser Theorie 77 Vgl. etwa Rumpf, L a n d ohne Souveränität. 1. Aufl. 1969, 2. A u f l . 1973, hier S. 86 ff. (98) ; Gascard, Z u r Frage der besonderen innerdeutschen Beziehungen zwischen der B R D u n d der DDR, Ostverträge usw., S. 263. W o h l auch Menzel, Wie souverän ist die Bundesrepublik?, S. 186 ff. u n d Oppermann, Das Ende der Bundesrepublik Deutschland?, Internationales Recht u n d Diplomatie. 1972, S. 153 (155 f.). Eine neuere, speziell auf die deutsche Situation bezogene Untersuchung stammt von Fiedler, Staats- u n d v ö l k e r rechtliche Probleme des Staatsuntergangs. Z u m rechtlichen Selbstverständnis der Bundesrepublik nach dem Grundvertrag, Zeitschr. f. P o l i t i k 1973, S. 150. 78 Etwa Blumenwitz, Friedensvertrag, S. 79, 86, wenngleich dieser (S. 87) eine Identitätsaussage bezüglich der Teilordnungen nicht für möglich hält. 79 Rauschning, Die Endgültigkeit der i n dem Vertrag m i t Polen getroffenen Gebietsregelung, Ostverträge usw., S. 164 (165). 80 Hoenicke, S. 133 f. 81 S. 137 (143). 82 Der Streit u m den Grundvertrag, S. 293 f.
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begreifen. Für die Anerkennung von „Teilordnungen" könnte auch der unmittelbar anschließende Satz herangezogen werden, i n dem es heißt: „ M i t der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert." Nicht minder könnte die von vielen Seiten angegriffene Bemerkimg des Gerichts zu der Grenze zwischen den beiden Staaten i n Deutschland 83 , die eine „staatsrechtliche Grenze, . . . ähnlich denen, die zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland verlaufen", darstelle, als ein Indiz für die Teilordnungslehre empfunden werden. Dies umsomehr, als diese Feststellung i n den Ausspruch eingekleidet wird, die „Besonderheit" dieser staatsrechtlich zu qualifizierenden Grenze bestehe darin, „daß sie auf dem Fundament des noch existierenden Staates Deutschland als Ganzes' existiere" 8 4 . Nur i n dieser Qualifizierung seien die Grenzbestimmungen des Grundvertrages mit dem Grundgesetz vereinbar 8 5 . Hieraus ließe sich die Frage ableiten, ob es nicht überhaupt angezeigt sein könnte, die „Dachtheorie" i n eine „Fundament"-Theorie umzubenennen, wodurch diese Lehrmeinung i n der Optik nur gewinnen könnte. Die gerade hier ansetzende Kritik kann sich auf den klaren Wortlaut des Grundvertrages (Art. 3) stützen, i n dem „die Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenze" vorbehaltlos bekräftigt worden ist, und zwar i n unmittelbarem Zusammenhang mit dem Bekenntnis zu den elementaren Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen. Dies spricht dafür, daß nach dem Inkrafttreten des Grundvertrages die Teilordnungslehre i n der bisherigen Form nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Das muß nicht zuletzt auch für die rechtliche Konstruktion eines über den „Teilordnungen" schwebenden „Daches" gelten. Unzweifelhaft bedient sich diese Theorie hierbei eines bundesstaatlichen Elements, das i n der deutschen Rechtstradition stets die Überordnung des Gesamtstaates über die Gliedstaaten bedeutet hat. I n dem B i l d eines gesamtdeutschen „Daches" kommt diese hierarchische Sicht ganz klar zum Ausdruck. Die Lehre von den „,Teilordnungen i m gesamtdeutschen Rahmen 4 oder kurz ,Dachtheorie'" 8e ist zu einer Zeit entwickelt worden, i n der man 83
Beispielsweise von Scheuner, Die staatsrechtliche Stellung der Bundesrepublik. Z u m Karlsruher U r t e i l über den Grundvertrag, DÖV 1973, S. 581 (583); Kewenig, A u f der Suche nach einer neuen Deutschland-Theorie, DÖV 1973, S. 79 (799). 84 Der Streit u m den Grundvertrag, S. 300. 85 S. 301. 86 So die Formulierung bei von Mangoldt - Klein, S. 35.
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noch davon ausgehen konnte, daß sich Bundesrepublik und DDR als einem gesamtdeutschen Staate zugehörig empfinden 87 , so daß die Deutung ihrer Stellung als Teilordnungen unter einem „Dach" des gesamtdeutschen Staates damals durchaus einen Realitätsbezug aufgewiesen hat. Die seit der Mitte der 50er Jahre von der DDR immer schärfer akzentuierte Doktrin der zwei Staaten i n Deutschland und die Betonung der eigenen Souveränität bedeuten indessen die entschiedene Verwerfung eines die beiden Staaten verbindenden und sie zudem noch überwölbenden „Daches". Die Vertreter der Dachtheorie haben dem insoweit Rechnung zu tragen versucht, indem sie eine Entwicklung der „Teilordnungen" und „Staatsfragmente" zu „Teilstaaten" und schließlich „Staaten" haben einräumen müssen 88 . Der Kommentar von Mangoldt - K l e i n 8 9 war schon von vornherein der Ansicht, eine „bloße Teilordnung unter dem Dach des Reiches" könne nicht nur „Staatsfragment", sondern auch ein „echter" Staat sein, „da sowohl i m Staatenbund als auch selbst i m Bundesstaat die staatlichen Teilordnungen „echte" Staaten, nicht nur „Staatsfragmente"" seien 90 . Nun besteht aber zwischen den beiden Staaten in Deutschland weder das Band eines Staatenbundes noch eines Bundesstaates; es mangelt selbst an einem irgendwie gearteten Konsens über einen nexus zwischen den beiden Staaten, den man auch nur ersatzweise als eine solche staatsrechtliche oder völkerrechtliche Klammer deuten könnte. Vielmehr bescheinigen sich die Partner i m Grundvertrag gegenseitig die Qualifikation als „Staaten". Das Urteil des BVerfG bezeichnet deshalb zutreffend sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR als Staat und fügt zur Verdeutlichung hinzu: „Die DDR ist i m Sinne des Völkerrechts ein Staat und als solcher Völkerrechtssubjekt" 9 1 . Das ist nur eine juristisch präzisiertere Umschreibung für die hier zu behandelnde Formel, durch welche die DDR als ein „Staat i n Deutschland" zur Kenntnis genommen worden ist 9 2 . Wie erwähnt, w i r d neuerdings sogar das Bindeglied der die beiden Staaten zusammenhaltenden gemeinsamen Nation von der DDR m i t Vehemenz geleugnet.
87 Von Münch, Dokumente des geteilten Deutschland. 1968, bemerkt (S. X X V I I u n d X X X V ) , die DDR habe bis 1952 die Identitätsbeziehung zu Deutschland anerkannt. Vgl. hierzu auch die Hinweise bei Böckenförde, Die Teilung Deutschlands u n d die deutsche Staatsangehörigkeit, EPIRRHOSIS, Festgabe f ü r Carl Schmitt, Bd. 2. 1968, S. 423 (442 Fn. 61, 447 Fn. 72). 88 Beispielsweise Böckenförde, S. 444 ff. 89 S. 35. 90 Zustimmend von der Heydte, Deutschlands Rechtslage, Die Friedenswarte 1950/51, S. 323 (334 Fn. 15). 91 Der Streit u m den Grundvertrag, S. 298. 92 Vgl. so Kriele, Ostverträge usw., S. 277.
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Hinzukommt, daß es stets ein entscheidender Punkt der Teilordnungslehre gewesen ist, die Rechts- und Handlungsfähigkeit zwischen dem „Dach"staat und den „Teilstaaten" aufzuteilen, mit der Folge, daß die Teilordnungen — auch nicht i n ihrem Zusammenwirken — über Rechte des Gesamtstaates nicht verfügen können; deshalb sei beispielsweise der Abschluß eines Friedensvertrages m i t der Übernahme neuer Verpflichtungen für den Gesamtstaat weder für die Bundesrepublik noch für die DDR möglich 9 3 . Diese Schlußfolgerung entsprach i n der Tat weitgehend den politischen und rechtlichen Auffassungen, die sich noch auf der Berliner Konferenz der vier Außenminister vom 25. Januar bis zum 13. Februar 195494 feststellen lassen. Sowohl der damals behandelte sowjetische Entwurf eines Friedensvertrages m i t Deutschland 95 als auch der EdenPlan 9 6 gingen davon aus, den Friedensvertrag mit einer aus gesamtdeutschen Wahlen entstandenen Gesamtdeutschen Regierung für Deutschland abzuschließen. Noch auf der Genfer Gipfelkonferenz i m Sommer 195597 war das die übereinstimmende Auffassung der vier Regierungschefs. Doch der dreieinhalb Jahre später von der UdSSR abermals vorgebrachte Gedanke, einen Friedensvertrag, jetzt aber mit der BRD und DDR, abzuschließen 98 , zeigt bereits die radikale Veränderung auf der politischen Bühne und zugleich das Ins-Spiel-Bringen der sowjetischen Zwei-Staaten-Doktrin. Sofern heute, nach Abschluß des Grundvertrages und der Ostverträge, überhaupt ernstlich noch der Abschluß eines Friedensvertrages erwogen werden sollte, wäre er durchaus i n der Person der zwei Staaten i n Deutschland vorstellbar. Blumenwitz hält das vom Standpunkt der von i h m vertretenen Teilordnungslehre nicht für angängig 99 . Das ist folgerichtig, zeigt aber erneut, daß die tragende Idee dieser Lehrmeinung — das über Teilordnungen schwebende „Dach" — den Wirklichkeitsbezug eingebüßt hat. Wenn sich die beiden Staaten i n Deutschland i m Grundvertrag — vorbehaltlich der alliierten Rechte — gegenseitig attestieren, daß sie „die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten i n seinen inneren und äußeren Angelegenheiten" respektieren (Art. 6 S. 2), dann 93
von Mangoldt - Klein, S. 38 m. w. N.; Blumenwitz, Friedensvertrag, S. 94. Hierzu Jäckel, S. 61 ff. 95 S. 67. 96 S. 65. 97 S. 111 ff. 98 Sowjetischer E n t w u r f eines Friedensvertrages m i t Deutschland v o m 10. Januar 1959, Europa-Archiv 1959, D 21. I m Februar 1959 folgte der sowjetische Plan des Abschlusses eines Separatfriedensvertrages m i t der DDR, vgl. Blumenwitz, Friedensvertrag, S. 132. 99 Friedensvertrag, S. 131, 146; derselbe, Rechtliche Probleme bei der A b grenzung der beiden deutschen Staaten, Jahrbuch für Ostrecht, 1971, S. 7 (14). 94
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verdeutlicht dies einen Szenenwechsel von dem ursprünglich möglichen B i l d der Teilordnungslehre m i t einem gesamtdeutschen „Dach" und darunter befindlichen kompetenzbeschränkten Gliedern zu dem B i l d zweier sich paritätisch und selbstbewußt begegnender Staaten, die sich nicht gescheut haben, auch das Wort von „der souveränen Gleichheit aller Staaten" (Art. 2) in den Ver trägst ext m i t aufzunehmen. Die Meinung, bei einem derartigen Tätigwerden der beiden Staaten in Deutschland i n gesamtdeutscher Funktion sei i n Wahrheit der Fall der „Teilrechtsnachfolge" gegeben, es müsse also von einem „Untergang des gesamtdeutschen Völkerrechtssubjektes" ausgegangen werden — der dann aber einen Friedensvertrag gegenstandslos mache — 1 0 °, weist auf einen weiteren Mangel der Teilordnungslehre hin. Sie fixiert nämlich die Identitätsbeziehung ausschließlich auf das „Dach" des gesamtdeutschen Staates und nicht auch auf die Ebene der „Gliedstaaten". Darum hat das BVerfG das Identitätsmoment m i t i n die offensichtlich verwendeten Elemente der Teilordnungslehre einbezogen. Dafür ist i h m verschiedentlich der Vorwurf gemacht worden, es habe die beiden hier behandelten Theorien i n unzulässiger Weise vermischt. Es könne nicht nach der Teilordnungslehre auf der einen Seite von dem mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfähigen Gesamtstaat („Dach") sprechen, andererseits aber feststellen, die Bundesrepublik sei „als Staat identisch mit dem Staat,Deutsches Reich', — in bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ,teilidentisch 4 , so daß insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht" 1 0 1 . Hinsichtlich des Begriffs einer „Teilidentität" ist dem Gericht sogar ein Verstoß gegen die Logik vorgeworfen worden 1 0 2 . Wenn das Völkerrechtssubjekt Deutschland nicht untergegangen, ein gesamtdeutsches „Dach" aber nicht mehr darstellbar ist, muß sich das Identitätsband auf die zwei Staaten beziehen, die nach der Formel der Bundesregierung „Deutschland" darstellen. Das liegt um so näher, als die völkerrechtliche Identitätsaussage, wie festgestellt wurde, ungeachtet des Szenenwechsels auf der innerdeutschen Bühne — von den zwei Teilordnungen zu den zwei Staaten i n Deutschland — unverändert geblieben ist. Die 100
Berber, S. 243; Blumenwitz, Friedensvertrag, S. 121 und 132. Der Streit u m den Grundvertrag, S. 293 f. 102 Kewenig, Deutschland-Theorie, S. 798; Lcwald, Die verfassungsrechtliche Lage Deutschlands, N J W 1973, S. 2265 (2266). Die Lehre von den T e i l identitäten ist schon früher von Krüger, Bundesrepublik Deutschland u n d Deutsches Reich, SJZ 1950, Sp. 113 ff. vertreten worden. Hierzu Schuster, S. 91 f. ; Kimminich, Das U r t e i l über die Grundlagen der staatsrechtlichen K o n struktion der Bundesrepublik Deutschland, DVB1. 1973, S. 657 (660) macht zutreffend darauf aufmerksam, daß es sich bei der Identität u m eine rechtliche, nicht u m eine geographische Größe handele. 101
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Identität muß folglich dem (oder den) Subjekt(en) zugebilligt werden, das (oder die) sich i n dem oben umrissenen Sinne als das Völkerrechtssubjekt Deutschland verstehen, ohne daß von Rechtsnachfolge gesprochen werden müßte. Das ist freilich nur schwer begreiflich zu machen. Denn aus der Logik folgte die Forderung, daß die Identität nur bei einem der Staaten i n Deutschland liegen darf; i n Betracht käme dabei die Bundesrepublik Deutschland, weil nur sie aufgrund ihres mit Erfolg international geltendgemachten Selbstverständnisses diese Identität ihrerseits bejaht. Es müßte geradezu widersinnig erscheinen, auch dem anderen Staate, der DDR, einen solchen Identitätsbezug zuzuerkennen, den sie für ihre Person heute strikt ablehnt. Diese Schlußfolgerungen wären aber nur zwingend, wenn es darum ginge, eine völkerrechtliche Lage zu dogmatisieren, die sich i m „Normalzustand" befindet. Die Komplexität der Rechtslage Deutschlands ist weder durch die Modifizierung der Deutschlandpolitik der Bundesregierung noch durch den Abschluß des Grundvertrages einem solchen „Normalzustand" nähergerückt worden; die Sicht hat vielmehr an Komplexität zugenommen. Der Versuch einer behutsam folgenden theoretischen Deutung w i r d dieser nach wie vor bestehenden Dialektik der deutschen Situation Rechnung tragen müssen. Komplex ist bereits der Standpunkt der Bundesregierung, die sich i n der Formel der „zwei Staaten i n Deutschland" der rechtlichen Vorstellungswelt der Dachtheorie genähert hat, andererseits die Identitätsbeziehung zu dem Völkerrechtssubjekt Deutschland nicht hat aufgeben können. Würde die Bundesregierung die Identität nur auf die Bundesrepublik Deutschland beschränken wollen 1 0 3 , wie die Schrumpfstaatstheorie das schlußfolgert, so müßte sie die DDR als außerhalb dieser Identität liegend ansehen, d. h. sie als eigenständiges Völkerrechtssubjekt und damit als Ausland anerkennen. Das aber würde der Grundrichtung der Politik der Bundesregierung widersprechen. Ihre Dialekt i k zeigt sich am besten i n der Formulierung, daß die DDR für die Bundesrepublik Deutschland nicht Ausland, aber auch nicht mehr Inland sein könne, wie letzteres die Staatskerntheorie fordert 1 0 4 . I n dieser Situation bietet sich eine dualistische Betrachtungsweise an: Da nach der Auffassung der Bundesregierung die DDR noch i m gesamt103 Von dem noch kurz zu streifenden B e r l i n - K o m p l e x abgesehen. 104 Schuster, S. 84 f.; vgl. auch Wengler, Deutschland als Rechtsbegriff, Festschrift Nawiasky, 1956, S. 49 (69). Hierzu auch Rumpf, I n l a n d u n d Ausland als Rechtsbegriff i n ihrer Bedeutung für Deutschland, Der Staat 1970, S. 289 ff.; Gascard, Inland/Ausland — Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland u n d der Deutschen Demokratischen Republik, Jahrbuch für Internationales Recht 15 (1971), S. 339 ff.
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deutschen Staatsverband („Deutschland") — wenn auch nur lose — m i t verankert liegt, eine Abtrennung (Sezession) vom Völkerrechtssubjekt Deutschland also nicht als abgeschlossen angesehen werden kann, muß sie folgerichtig die DDR als an der Identität beteiligt betrachten. Ein solcher Gedanke der „Teilidentität", den das BVerfG entsprechend seiner verfassungsrechtlichen Funktion ausdrücklich nur der Bundesrepublik attestiert hat, ist i n der Deutschland-Diskussion nicht neuartig. Herbert Krüger hat in einer Betrachtung vor mehr als zwei Jahrzehnten dieses Denkmodell vertreten 1 0 5 . Er hat damals darauf aufmerksam gemacht, daß das juristische Identitätsurteil „etwas ganz anderes als etwa die mathematische Frage nach der Kongruenz zweier Figuren" sei. I n einer späteren Arbeit hat er den Gedanken des „dualistischen Staates" für die deutsche Situation fruchtbar zu machen gesucht 106 . Es ist an anderer Stelle 1 0 7 der Versuch unternommen worden, dieses vor 18 Jahren entworfene B i l d heute zu einem „Dualismus zweier Staaten i n Deutschland" fortzuentwickeln 1 0 8 , i n dem beide Staaten zusammen das fortbestehende Völkerrechtssubjekt Deutschland darstellen. Diese Komplexität zeigt sich juristisch i n dem Grundvertrag i n Gestalt des Dissensprinzips. Der Konsens über den Dissens ist i n den Deutschland betreffenden Grundsatzfragen das tragende Prinzip für das Vertragswerk. Das ist vom BVerfG klar ausgesprochen worden, wenn es dargelegt hat: „ A l l e Ausführungen zur verfassungskonformen Auslegung des Vertrages lassen sich zurückführen auf den einen Grunddissens, den der Vertrag selbst i n der Präambel offenlegt; die Vertragschließenden sind sich einig, daß sie über die ,nationale Frage' nicht einig sind", d. h. daß die beiderseitigen Vorstellungen über die Deutschlandfrage grundverschieden sind. Wie das BVerfG bemerkt hat 1 0 9 , gibt das der Bundesrepublik die Möglichkeit, ihren rechtlichen Standpunkt weiterhin geltendzumachen. Das Dissensprinzip schließt es zum anderen ein, daß von dem anderen Vertragspartner ein abweichendes rechtliches Konzept vertreten werden kann. Eine rechtlich umfassende Beurteilung des Deutschlandkomplexes läßt sich damit a priori nur i m Sinn einer R e l a t i v i t ä t anstellen, die auch aus der Vorrangklausel des A r t . 9 Grundvertrag abgeleitet werden kann 1 1 0 . 105
Bundesrepublik Deutschland u n d Deutsches Reich. Bundesrepublik Deutschland u n d Deutsche Demokratische Republik. 1956, S. 11 ff. 107 Zieger, Staatsangehörigkeit i m geteilten Deutschland. Versuch einer dualistischen Begründung, Deutschland-Archiv 1972, S. 249 ff. 108 S. 277. 109 Der Streit u m den Grundvertrag, S. 306. 110 So etwa Blumenwitz, Der Grundvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland u n d der DDR, Politische Studien 1973, Nr. 207, S. 3 (5) („Relati106
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Aus der Sicht der Bundesrepublik bilden beide Staaten zusammen „Deutschland", ihre Bevölkerung die gemeinsame Nation. Die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik „kann nicht i n Betracht k o m m e n " 1 1 1 ; denn andernfalls müßte die Sezession der DDR und deren Status als partieller Rechtsnachfolgestaat de jure zur Kenntnis genommen werden. So gesehen, besteht zwischen der völkerrechtlichen Nichtanerkennung und der Identitätsaussage ein unmittelbarer Zusammenhang. Die Einbeziehung beider Staaten i n das Identitätsverhältnis zum Völkerrechtssubjekt Deutschland widerspricht aufgrund des Dissensprinzips nicht dem Grundvertrag, soweit nicht das fast aus allen A r t i k e l n ersichtliche Paritätsprinzip verletzt wird. Der Identitätsgedanke bildet etwa die rechtliche Wurzel für die i n dem Protokollvermerk festgehaltene Erklärung der Bundesregierung, daß „Staatsangehörigkeitsfragen . . . durch den Vertrag nicht geregelt worden" sind 1 1 2 . Sie ist von dem BVerfG m i t i n das Zentrum seiner Vertragsauslegung gerückt worden 1 1 3 . Das von i h m für alle Organe der Bundesrepublik statuierte Gebot, „jeden Bürger der DDR, der i n den Schutzbereich der Bundesrepublik u n d ihrer Verfassung gerät, gemäß A r t . 116 Abs. 1 und 16 GG als Deutschen wie jeden Bürger der Bundesrepublik" zu behandeln 1 1 4 und i h m den vollen Grundrechtsschutz zu gewährleisten, ist nur aus dem Identitätsverständnis der Bundesrepublik zu begreifen, i n dem der Fortbestand der deutschen — nicht einer neu geschaffenen bundesrepublikanischen — Staatsangehörigkeit als notwendige Konsequenz aus der Fortbestandsthese des Völkerrechtssubjektes Deutschlands und einer einheitlichen Nation zu verstehen ist. Dieses Identitätsverständnis darf aber nicht soweit gehen wie bei der Staatskerntheorie, derzufolge es die Bundesrepublik allein ist, die über den Erwerb und Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit i n beiden Staaten entscheidet. Das würde gegen das Paritätsgebot des Grundvertrages verstoßen. Wenn das BVerfG fordert, „jeden Bürger der DDR" i m Schutzbereich des Grundgesetzes als „Deutschen i m Sinne des Grundgesetzes" anzusehen, dann bedeutet dies, daß die Organe der Bundesrepublik auch diejenigen Personen als Deutsche gemäß A r t . 116 Abs. 1 GG betrachten müssen, die nach abweichenden Bestimmungen des Staatsbürgerschaftsrechts der D D R 1 1 5 die deutsche Staatsangevierung der vertraglichen Verpflichtungen"); derselbe, Unberührtheitsklausel,
S. 84 ff. m Oben S. 137. Oben Fn. 57. Der Streit u m den Grundvertrag, S. 302 ff. 114 S. 303. 115 Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR v o m 20. Februar 1967, GBl. DDR I, S. 3. Hinsichtlich der materiellen Unterschiede zu der Regelung nach westdeutschem Recht, vgl. Zieger, Staatsangehörigkeit, S. 258 ff. 112
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hörigkeit erworben haben. Die Aufrechterhaltung einer gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit ist nur in der Weise möglich, daß jede der i m Grundvertrag gleichberechtigt nebeneinandergestellten Jurisdiktionssphären der zwei Staaten i n Deutschland selbst die Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts bestimmt 1 1 6 . Lediglich für den F a l l einer Aberkennung der Staatsangehörigkeit wäre, worauf das BVerfG m i t Recht aufmerksam gemacht hat, eine solche Anerkennung der Regelungszuständigkeit des anderen Staates aufgrund des strikten Verfassungsverbotes aus A r t . 16 Abs. 1 GG nicht möglich 1 1 7 . — Die Teilordnungslehre 118 käme nicht umhin, die DDR-Staatsbürgerschaft als separate zweite Staatsangehörigkeit i n Deutschland anzuerkennen, auch wenn sie diese i n einer zweiten Denkstufe mit einer — nicht bestehenden — bundesdeutschen Staatsangehörigkeit wieder zu einer (gesamt) deutschen Staatsangehörigkeit vereinigen w i l l . Ebenfalls nur aus dem Identitätsverständnis abzuleiten ist die i m Viermächte-Abkommen über Berlin enthaltene Aussage über die Aufrechterhaltung und Entwicklung der „Bindungen" (ties, liens, svjazi) der Westsektoren Berlins mit der Bundesrepublik, wenn sie etwas anderes sein sollen als eine der zwischen verschiedenen Rechtssubjekten üblichen Bindungen. Ist Berlin nach der Teilordnungslehre eine Teilordnung für sich neben den Teilordnungen Bundesrepublik und DDR 1 1 9 , dann ergibt sich aus dieser Konstruktion die latente Gefahr, Berlin dieselben staatlichen oder staatsähnlichen Qualitäten zuzuerkennen müssen, die sie für Bundesrepublik und DDR hat konzedieren müssen. Allein das vom BVerfG auch insoweit nachdrücklich bekräftigte Identitätsverständnis gibt der Formel von der Aufrechterhaltung und Entwicklung der „Bindungen" zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie dem folgenden Satz eine rechtlich haltbare Dimension, „daß diese Sektoren so wie bisher kein Bestandteil (konstitutiver Teil) der Bundesrepublik Deutschland sind und auch weiterhin nicht von ihr regiert werden". Denn ist die Bundesrepublik m i t den Worten des BVerfG ein neuorganisierter Teil Deutschlands, so kann auch Berlin nur als solcher Teil Deutschlands verstanden werden. Beide verbindet also, a priori gesehen, eine gemeinsame Zugehörigkeit zu dem Völkerrechtssubjekt Deutschland. Ein Unterschied besteht nur darin, daß Berlin durch alliierte Entscheidung nicht allenthalben an dem Reorganisationsprozeß nach der verfassungs116 Das ist i m Schrifttum schon früher aufgezeigt worden. S. 53 ff. ; Mampel, S. 539 ff., Schramm, Das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur DDR nach dem Grundvertrag. 1973, S. 12 ff. 117 Der Streit u m den Grundvertrag, S. 303. 118 Vgl. Böckenförde, S. 452 ff. 119 Oben Fn. 72.
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mäßigen Ordnung des Grundgesetzes hat teilnehmen können und deshalb in bezug auf die Bundesrepublik so wie bisher nicht als „konstitutiver Teil", d. h. nicht gleichermaßen verfassungsrechtlich mit reorganisierter Teil, i n dem Berlin-Abkommen bezeichnet werden konnte 1 2 0 . Wer will, könnte hier bereits von sog. Teilidentitäten sprechen. Die Teilordnungslehre würde wohl bei einem Entschwinden des „Daches" die Bundesrepublik und die DDR als Nachfolgestaaten klassifizieren müssen 121 , bezüglich der Teilordnung Berlin käme sie sehr in die Nähe des östlichen Postulats nach einer „selbständigen politischen Einheit" 1 2 2 . Aus der Sicht der DDR kann die Bundesrepublik den anderen deutschen Staat nicht daran hindern, die Bundesrepublik als Ausland und die hier domizilierten Deutschen unter Zerschneidung des Bandes einer gemeinsamen Staatsangehörigkeit als Fremde zu betrachten sowie die Einheit der Nation, die sie selbst noch 1968 in der plebiszitär verabschiedeten Verfassung i n den Mittelpunkt ihres Staatsverständnisses gestellt hatte 1 2 3 , zu verleugnen. Auch wenn sie sich damit über rechtliche Klammern hinwegsetzt, die i n Gestalt der sie ebenfalls betreffenden „Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte und (der) entsprechenden diesbezüglichen vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und P r a k t i k e n " 1 2 4 weiterhin vorhanden sind. Diese Dissens-Situation w i r d wenigstens solange ausgehalten werden können, wie das NichtEndgültig-Geregelt-Sein der Deutschlandfrage andauert. Das BVerfG hat zwar dem Grundvertrag nicht das Prädikat eines bloßen „modus vivendi" i m Rechtssinne zuerkannt 1 2 5 , wohl aber die Nicht-Endgültigkeit der Lösung mit dem transitorischen Charakter des Grundgesetzes 120
Die Aussage des BVerfG von dem „ L a n d B e r l i n " (Der Streit u m den Grundvertrag, S. 304) bezieht sich auf die Ebene des deutschen Verfassungsrechts, das insofern vom alliierten Recht überlagert wird. Vgl. hierzu Zivier, Der Rechtsstatus des Landes Berlin. 1973. 121 Vgl. Blumenwitz, Friedensvertrag, S. 121 ff. 122 ^ i e s i e etwa i n A r t . 6 des Vertrages über Freundschaft, gegenseitigen Beistand u n d Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR v o m 12. J u n i 1964, GBl. DDR I, S. 132 vereinbart worden ist. 123 Nach einem Bericht von Dettmar Cramer, Frankfurter Allgemeine Zeitung v o m 19. Januar 1974, S. 5 sei demnächst m i t der Streichung der gesamtdeutsch ausgerichteten Aussagen i n der Verfassung, insbes. A r t . 8 zu rechnen. 124 So die Formulierung i n dem oben S. 141 f. erwähnten Briefwechsel zu A r t . 9 des Grundvertrags. 125 Der Streit u m den Grundvertrag, S. 297. Das Gericht steht damit i n einem deutlichen Gegensatz zu der Bundesregierung, die wiederholt auf den modus-vivendi-Charakter der Regelung hingewiesen hat, vgl. Denkschrift zum Grundvertrag, BT-Drucksache 7/153, S. 12, Teil A, I. Hierzu Wagner, E i n Modus vivendi i n Deutschland, Europa-Archiv 1973, S. 1.
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selbst i n Beziehung gesetzt 126 . Solange alliierte Besatzungsrechte noch sehr direkt i n einem Gebietsteil Deutschlands — Berlin — ausgeübt werden und hinsichtlich der beiden Staaten i n Deutschland gleichfalls alliierte Vorbehaltsrechte verbindlich sind, kann nicht von einer endgültigen Lösung der deutschen Frage gesprochen werden. Dieser H i n weis auf das weitere Offensein der deutschen Frage gehört zu den ständigen Merkposten der Politik der Bundesregierung und muß zu den Rechtspositionen gezählt werden, die stets mit i n Rechnung gestellt werden müssen. Die Relativität der Rechtsstandpunkte ermöglicht den beiden deutschen Staaten m i t h i n auch nach der durch den Grundvertrag gesetzten Ordnung die Geltendmachung gegensätzlicher Standpunkte. Drittstaaten werden sich nach der einen oder anderen Seite hin orientieren oder den Versuch unternehmen, sich aus diesem Dissenskonflikt herauszuhalten. Die auf das gemeinsame deutsche Fundament beider Staaten i n Deutschland hinweisenden alliierten Vorbehaltsrechte werden dabei kaum allenthalben die Wirkung einer objektiven Schranke entfalten, da beide Staaten i n Deutschland i m Verein m i t ihren jeweils zugeordneten Alliierten nach Zuerkennung ihrer „Souveränit ä t " 1 2 7 allen Wert darauf gelegt haben, nach außen h i n als vollgültig handlungsfähige Staaten i n Erscheinung zu treten 1 2 8 . Die westdeutsche Diplomatie hat zudem nichts Ersichtliches getan, u m zu erreichen, daß wenigstens die befreundeten Länder bei der diplomatischen Anerkennung der DDR die alliierten Vorbehaltsrechte in Bezug nehmen. Das hätte dazu beitragen können, die Anomalität der deutschen Rechtslage i m internationalen Bewußtsein wachzuhalten 129 . Das durch den vertraglichen Dissens ermöglichte Offenhalten der deutschen Frage gibt der Bundesrepublik nach alledem das Recht, die von der Bundesregierung seit 1969 vertretene Deutschlandpolitik („Zwei Staaten i n Deutschland") auch nach dem Inkrafttreten des 126
Der Streit u m den Grundvertrag, S. 297. Hierzu Menzel, Wie souverän ist die Bundesrepublik? 128 Erst i m Zuge der Entfaltung der Ost- u n d Deutschlandpolitik seit 1969 ist gleichsam zur Gewinnung von Bewegungsspielraum das Argument einer „Souveränitätslücke" i n das politische Konzept der Bundesregierung aufgenommen worden, hierzu Kriele, Der Streit u m die Rechtslage Deutschlands u n d die völkerrechtliche Anerkennung der DDR, ZRP 1971, S. 261 ff. 129 Bei der Aufnahme beider deutscher Staaten i n die Vereinten Nationen sind die Vorbehaltsrechte der vier Siegermächte ausdrücklich geltendgemacht worden, vgl. Europa-Archiv 1973, D 667. Anders hingegen bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen u n d der Anerkennung der DDR durch Großbritannien u n d Frankreich, vgl. die entsprechenden Pressekomuniqués i m Archiv der Gegenwart, 16. Februar 1973, S. 17.678 B. 127
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Grundvertrages unbeirrt weiterzuführen. Die hier versuchte rechtliche Deutung w i r d in ihrer Komplexität solange aufrechterhalten werden können, wie es gelingt, das Offensein, die Nicht-Endgültigkeit der Lage i n Deutschland, bewußt zu erhalten. Das setzt voraus, daß die Bundesregierung ihre Positionen nach innen und nach außen deutlich zu machen versteht. Statt nach neuen, unverbindlichen Formulierungen Ausschau zu halten 1 3 0 , sollte die griffige Formel von den „Zwei Staaten i n Deutschland" zur Wahrung der vom BVerfG aufgezeigten Rechtspositionen beibehalten werden.
ι« 9 siehe oben S. 138.
Die Bindung Berline an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Von Reinhard Mußgnug
I. 1. M i t dem Bundesverfassungsgericht und dem Land Berlin verhält es sich ähnlich wie m i t Hero und Leander. Sie wollen zusammenkommen. Aber es trennt sie der Vorbehalt der Alliierten Militärgouverneure, nach dem Berlin „nicht durch den Bund regiert werden w i r d " 1 . Beide haben zwar verschiedentlich versucht, über alle juristischen und politischen 2 Hindernisse hinweg zueinander zu finden. Aber sie sind damit stets gescheitert. So mußte das Unterfangen des § 106 BVerfGG, Berlin kraft Bundesrechts wenigstens insoweit in die Jurisdiktionsgewalt des BVerfG miteinzubeziehen, als das GG auch dort gilt, von vornherein fehlschlagen. Es zielte auf ein „Regieren Berlins durch den Bund" ab. Denn i n diesem Zusammenhang übersetzt der Begriff des „Regierens" das englische „to govern" ins Deutsche, das auch die Tätigkeit der Gerichte erfaßt 3 . Auch der zweite von § 106 BVerfGG ins Auge gefaßte Weg — die Übernahme des BVerfGG durch den Berliner Landesgesetzgeber — führte nicht zum Ziel. I h n hat die Alliierte Kommandantur Berlin ab-
1 So das Genehmigungsschreiben zum GG vom 12. 5.1949. Das Viermächteabkommen v o m 3. 9.1971 (Beilage zum BAnz. Nr. 174 v. 15. 9.1971) hat diesen Vorbehalt erneut bekräftigt und perpetuiert. Es bestimmt unter I I B, daß die Westsektoren Berlins „so wie bisher kein Bestandteil (konstitutiver Teil) der Bundesrepublik Deutschland sind und auch weiterhin nicht von i h r regiert werden". 2 A u f die politischen Risiken des nach Karlsruhe strebenden Berliner „ H u n gers nach Grundrechtsgerechtigkeit" hat vor allem Wilhelm Wengler hingewiesen; vgl. seine Beiträge „Die Übernahme von Bundesgesetzen f ü r B e r l i n " i n der Festschrift für Gerhard Leibholz, Bd. 2, 1966, S. 939 f., 962 u n d „No end of a Lesson" i n N J W 1967, S. 1743. 3 Vgl. BVerfGE 1, S. 70f., 73 und 7, S. I f . , 14-15 sowie ferner Peter Hauck, Das richterliche Prüfungsrecht i n Berlin, Diss. Berlin, 1967, S. 62 f.
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geschnitten. Sie hat sich i n ihrer Anordnung vom 20. Dezember 19524 nicht nur außerstande erklärt, den ihr unterbreiteten Entwurf eines Berliner „Gesetzes zur Übernahme des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht" zu genehmigen, sondern darüber hinaus klarstellend hinzugefügt: „Dieser Beschluß ist als eine Entscheidung zu betrachten, die allen Bestimmungen anderer Berliner Rechtsvorschriften, gemäß welchen B e r l i n betreffende Streitfragen an das Bundesverfassungsgericht zu verweisen wären, vorgeht."
Diese Intervention der Kommandantur hat eine eigentümliche Situation geschaffen: Zwei Jahre zuvor konnte A r t . 87 Abs. 3 der Verfassung von Berlin (VvB) die Grundrechte 5 und alle übrigen Vorschriften des GG, die die Länder unabhängig von einem gouvernementalen Tätigwerden des Bundes i n Pflicht nehmen 6 , auch für Berlin zum u n m i t telbar geltenden Recht erklären 7 . Daher ist das Land Berlin einerseits (wie jedes andere Bundesland) an das gesamte materielle Verfassungsrecht des GG gebunden. Andererseits indessen wurde es von der Zuständigkeit des BVerfG ausgesperrt, so daß das GG in seinem Gebiet eine ungehütete lex imperfecta geblieben ist. Die Folgen sind allgemein bekannt: Berliner Landesgesetze können weder mit der Verfassungsbeschwerde angefochten, noch dem BVerfG i m Normenkontrollverfahren des A r t . 100 Abs. 1 GG zur Prüfung vorgelegt werden 8 . Auch Verfassungsbeschwerden gegen Verwaltungsakte von Berliner Behörden und Entscheidungen von Berliner Gerichten sind ausgeschlossen9. Ebenso haben Verfassungsklagen des Bundes gegen Berlin und Berlins gegen den B u n d 1 0 sowie berlin-interne Organ4 B K / O (52) 35, abgedr. i n „Dokumente zur Berlin-Frage 1944 - 1966" hrsg. v o m Forschungsinstitut für Auswärtige P o l i t i k e. V. Bonn, 3. Aufl. 1967, S. 127. 5 BVerfGE 1, S. 70 f. β Darüber näheres i n B V e r w G E 2, 118, sowie bei Maunz, Deutsches Staatsrecht, 19. Aufl. 1973, S. 410; Finkelnburg, Die Rechtsstellung Berlins i m Bund, JuS 1967, S. 542 f. u. 1968, S. 10 f., 11; Hauck (Fn. 3), S. 52 f. 7 Vgl. das Genehmigungsschreiben zur V v B , B K / O (50) 75 v o m 29. 8.1950, Dokumente (Fn. 4), S. 154. 8 BVerfGE 7, S. 1 f. 9 BVerfGE 7, S. 192 f. 10 F ü r Klagen des Bundes gegen B e r l i n versteht sich das von selbst. Aber auch f ü r Klagen Berlins gegen den B u n d hat das gleiche zu gelten. Insoweit a. A . Leibholz - Rupprecht, BVerfGG, Kommentar, 1968, S. 10 u n d Rudolph, DVB1. 1964, S. 251 f., 254, die freilich verkennen, daß der Einspruch der Kommandantur gegen die Übernahme des B V e r f G G auch den von B e r l i n selbst zu erhebenden Klagen die erforderliche gesetzliche Grundlage vorenthalten hat.
Bindung Berlins an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
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klagen 1 1 auszuscheiden. Für alle diese Fälle hat die Kommandantur dem Land Berlin ein Privilegium de non appellando zugeschoben, das dem BVerfG die Zuständigkeit jedenfalls für alle die Fälle vorenthält, „ i n denen Handlungen von Berliner Staatsorganen m i t Wirkung für den innerlandesrechtlichen Bereich zur Beurteilung stehen" 12 . 2. Trotz des Wegfalls aller Kontrollkompetenzen des BVerfG bestimmt das Land Berlin freilich nicht völlig autark darüber, i n welcher Auslegung das GG i n seinem Territorium Anwendung finden soll. Berl i n fällt immerhin i n den Zuständigkeitsbereich der Revisionsgerichte des Bundes. Diese machen zwischen „Berliner Sachen" und solchen Revisionen, die aus westdeutschen Verfahren hervorgegangen sind, keinen Unterschied. Sie wenden vielmehr das GG wie hier so auch dort als Prüfungsmaßstab an. Grundrechtswidrige Verwaltungsakte der Berliner Behörden verfallen deshalb spätestens i n der Revisionsinstanz der Aufhebung. Eventuellen Grundrechtsverstößen der Berliner Gerichte ergeht es ebenso; auch ihnen h i l f t das zuständige Bundesgericht ab, sofern der Rechtsweg nicht gerade bei den Berliner Vorinstanzen endet. Selbst der Berliner Landesgesetzgeber muß sich der Normenkontrolle durch Bundesgerichte stellen. Er kann zwar nicht vor das BVerfG gezogen werden. Aber daraus haben weder die Berliner Gerichte 13 noch die Bundesgerichte 14 gefolgert, daß das Berliner Landesrecht gegen jede richterliche Normenkontrolle gefeit sei. Wiewohl Art. 64 Abs. 2 V v B ihnen die Befugnis absprechen wollte, „Gesetze und Verordnungen, die das Abgeordnetenhaus beschlossen hat, auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen", haben sie ihr richterliches Prüfungsrecht gerade an dieser m i t dem Rechtsstaatsprinzip des A r t . 28 GG unvereinbaren Bestimmung erprobt und sich über sie hinweggesetzt 15 . Seither steht außer Zweifel, daß sowohl die Berliner Instanzgerichte als auch die Revisionsgerichte des Bundes das Berliner Landesrecht einer Inzidentkontrolle unterziehen und es i m Falle seiner Grundgesetzwidrigkeit als nichtig ansehen dürfen. Da die Vorlagepflicht des A r t . 100 GG die Berliner Gerichte nicht bindet, steht ihnen das Verwerfungsmonopol des BVerfG dabei nicht i m Wege 16 . 11
BVerfGE 7, S. 190 f. So die i n BVerfGE 7, S. 15 aufgestellte Regel. 13 Vgl. O V G Berlin, AS 9, S. 164 f. u n d K G , N J W 1966, S. 598. 14 B V e r w G E 9, S. 210 f., 213; 24, S. 235 f., 238; B G H Z 20, S. 113 f., 116 - 119. 15 Vgl. OVG Berlin, ebd. ; K G , ebd. ; Bettermann bei Bettermann - Nipperdey - Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/2, 1959, S. 900 f.; Stern, Probleme der Errichtung eines Verfassungsgerichts i n Berlin, DVB1. 1963, S. 696 f., 701; Hauck (Fn. 3), S. 59. 16 Wie es sich m i t der richterlichen Normenkontrolle über Bundesgesetze 12
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Reinhard Mußgnug
3. D i e obersten B u n d e s g e r i c h t e k ö n n e n das B V e r f G i n B e r l i n f r e i l i c h n u r l ü c k e n h a f t u n d u n v o l l k o m m e n ersetzen. Das l i e g t w e n i g e r a n d e r i n diesem Z u s a m m e n h a n g v o r
a l l e m b e k l a g t e n Tatsache, daß
ihren
R e v i s i o n s u r t e i l e n d i e g e n e r e l l e V e r b i n d l i c h k e i t abgeht, d i e § 31 B V e r f G G d e n E n t s c h e i d u n g e n des B V e r f G u n d i h r e n t r a g e n d e n
Gründen17
v e r l e i h t . D e n n dies b e g r ü n d e t e i n eher rechtsdogmatisch als p r a k t i s c h r e l e v a n t e s M a n k o . A u c h w e n n d i e O r g a n e B e r l i n s nichts d a r a n h i n d e r t , d i e verfassungsrechtlichen
E r k e n n t n i s s e der obersten
Bundesgerichte
l e d i g l i c h i m j e w e i l s entschiedenen E i n z e l f a l l z u beachten, i h n e n aber ansonsten d i e Gefolgschaft z u v e r w e i g e r n , so w ä r e es doch a l l z u w e i t h e r g e h o l t z u a r g w ö h n e n , daß sie i n i h r e m T e r r i t o r i u m e i n e i g e n w i l l i g e s
i n Berliner Sachen verhält, ist dagegen noch ungeklärt. Nach Auffassung der A l l i i e r t e n transponiert das Ubernahmeverfahren des § 13 3. Uberleitungsgesetz die Gesetze des Bundes f ü r B e r l i n zum Landesrecht herunter. Vgl. dazu Lush, The Relationship between B e r l i n and the Federal Republic of Germany, International and Comperative L a w Quaterly 14 (1965), S. 742 f., 759. Nach dieser Sicht der Dinge liegt auch i n der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle über das Berliner Bundesrecht ein unzulässiges „Regieren Berlins durch den Bund". Nach dem sog. Ni e kisch-Beschluß des BVerfG (BVerfGE 19, S. 377 f., 388) indessen bleiben die von B e r l i n übernommenen Bundesgesetze auch dort Bundesrecht. Daraus w i r d i n der deutschen L i t e r a t u r gefolgert, daß sie auch dann unter das Verwerfungsmonopol des BVerfG fallen, wenn sie i n einer Berliner Sache für grundgesetzwidrig gehalten werden; vgl. dazu Finkelnburg, JuS 1968, S. 13 f. m. w. Nachw. Das B V e r f G selbst hat bislang lediglich i n BVerfGE 15, S. 25 f. über eine „Berliner Vorlage" des B G H gemäß A r t . 100 Abs. 2 GG zur Sache entschieden. Aber dabei ging es nicht u m ein nach B e r l i n übernommenes Bundesgesetz, sondern u m die Erläuterung einer Regel des Völkerrechts. Außerdem ist das BVerfG auf die Berlin-Problematik der Sache m i t keinem W o r t eingegangen. Z w e i weitere Berliner Vorlagen, m i t denen der B F H (BStBl. 1962 I I I , S. 359) u n d das B V e r w G (DVB1. 1964, S. 753) u m die Prüfung von Bundesgesetzen ersuchten, haben ebenfalls keine K l ä r u n g herbeigeführt. Der B F H hat seinen Vorlagebeschluß auf Anregung des Vorsitzenden des I. Senats des BVerfG durch Beschluß v o m 22.1.1963 (BStBl. 1963, S. 189 f.) wieder zurückgezogen. Der Vorlagebeschluß des B V e r w G v o m 15. 7.1964 scheint sich dadurch außergerichtlich erledigt zu haben, daß der von i h m beanstandete § 10 Abs. 4 des JArbSchutzG i. d. F. v o m 9. 8.1960 (BGBl. I, S. 665) durch ein Änderungsgesetz v o m 15.1.1965 (BGBl. I, S. 11) von allen verfassungsrechtlichen Mängeln bereinigt wurde. Die von Finkelnburg, Fn. 51 angekündigte Entscheidung des B V e r f G über den Vorlagebeschluß des B V e r w G ist jedenfalls ausgeblieben. 17 Daß § 31 Abs. 1 BVerfGG nicht nur den Tenor der BVerfG-Entscheidungen, sondern auch die i h n tragenden Gründe f ü r verbindlich erklärt, entspricht der ständigen Rechtsprechung des BVerfG u n d auch der anderen Obergerichte. Von dieser (in der L i t e r a t u r noch immer lebhaft umstrittenen) Auffassung muß daher i m folgenden ausgegangen werden. Wegen der näheren Einzelheiten sei auf die Kommentare zum BVerfGG verwiesen.
B i n d u n g Berlins an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Berliner Verfassungsverständnis Bundesgebiet
herrschenden
e t a b l i e r e n k ö n n t e n , das v o n d e r
Grundgesetzinterpretation
abweicht.
161 im Das
w o l l e n d i e B e r l i n e r I n s t a n z e n n i c h t 1 8 , u n d selbst w e n n sie es w o l l t e n , so k ö n n t e n sie es n i c h t . D i e G e r i c h t e des B u n d e s sitzen als l e t z t e I n stanz a l l e M a l a m l ä n g e r e n A r m des Hebels. Sie h a b e n d i e M a c h t , d i e Rechtseinheit zwischen B e r l i n u n d d e r B u n d e s r e p u b l i k auch a u f d e m G e b i e t des Verfassungsrechts w i r k s a m z u v e r t e i d i g e n . D i e e i g e n t l i c h e n L ü c k e n , d i e i n B e r l i n d e r A u s f a l l des B V e r f G
als
H ü t e r des G G o f f e n l ä ß t , l i e g e n d a h e r i n a n d e r e n Bereichen. Sie t r e t e n v o r a l l e m d o r t zutage, w o d e r Rechtsweg ü b e r d i e B e r l i n e r I n s t a n z g e r i c h t e n i c h t h i n a u s f ü h r t 1 9 . Gerade diese Rechtssachen l i e f e r n i n ü b e r durchschnittlich
großer
Zahl Anlaß
zu begründeten
Verfassungsbe-
s c h w e r d e n 2 0 . Sie belasten das B V e r f G m i t d e r A u f g a b e , als E i n g r e i f r e serve f ü r d i e a n sich i n erster L i n i e m i t d e r K o n t r o l l e ü b e r d i e u n t e r e n G e r i c h t e b e t r a u t e n B e r u f u n g s - u n d Revisionsgerichte i n d i e Bresche s p r i n g e n z u müssen. I n B e r l i n indessen b l e i b t d e m B V e r f G d i e E r f ü l 18
Das hat der Regierende Bürgermeister von B e r l i n vor kurzem einmal mehr klargestellt. Er erklärte am 9. 6.1973 i m Berliner Regionalfernsehen, das U r t e i l des BVerfG v o m 29. 5.1973 zum nds. Vorschaltgesetz (BVerfGE 35, S. 79 f.) habe „gerade jetzt f ü r alle unsere Universitäten doch w o h l verbindliche Normen bestimmt". „Nicht zuletzt unsere enge Bindung an den B u n d " gebiete, „daß das U r t e i l i n jeder Beziehung i n B e r l i n respektiert u n d angewendet w i r d " . 19 Das ist ζ. B. der F a l l bei den Berufungsurteilen der Landgerichte i n Z i vilsachen, bei den Revisionsurteilen der Oberlandesgerichte i n Strafsachen, den Beschwerdesachen u n d denjenigen Zivilsachen, die wegen ihres Zurückbleibens hinter den Streitwertgrenzen von der Revision ausgeschlossen sind. 20 Vgl., u m n u r die jüngsten Bände der A m t l i c h e n Sammlung auszuwerten: BVerfGE 32, S. 87 f. (betr. einen m i t A r t . 2 Abs. 2 GG unvereinbaren, v o m O L G bestätigten Haftbefehl des L G München); BVerfGE 32, S. 98 f. (betr. ein m i t A r t . 4 G G unvereinbares Straf u r t e i l des L G U l m ; das O L G hatte die Revision als offensichtlich unbegründet verworfen) ; BVerfGE 33, S. 1 f. (betr. die A n h a l t u n g von Gefangenen-Post; das O L G Celle hatte die auf A r t . 5 Abs. 1 GG gestützten Einwände des BeschwF. zurückgewiesen); BVerfGE 33, S. 23 f. (betr. eine m i t A r t . 4 GG unvereinbare Beugestrafe wegen Eidesverweigerung; das O L G Düsseldorf hatte die Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen); BVerfGE 34, S. 205 f. (betr. einen m i t A r t . 2 Abs. 1 GG unvereinbaren Beschluß der Disziplinarkammer Düsseldorf über die Beiziehung der Ehescheidungsakten des BeschwF.); BVerfGE 34, S. 239 f. (betr. die Frage nach der Verwertbarkeit heimlicher Tonbandaufzeichnungen, die das L G Osnabrück f ü r unbedenklich zulässig erachtet hatte). Hätten sich diese Fälle i n B e r l i n ereignet, so hätten das K G bzw. die Disziplinarkammer über sie das letzte W o r t gesprochen. Die Betroffenen hätten am eigenen Leib zu spüren bekommen, daß Wenglers (NJW 1967, S. 1743) Schätzung, nach der sich das „politische Leben i n West-Berlin zu 99 °/o so abspielt, als ob dieser Stadtt e i l ein T e i l der Bundesrepublik wäre", vielleicht doch u m einige Prozent zu hoch greift. 11 Festschrift für Werner Weber
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Reinhard Mußgnug
lung dieser zwar etwas systemwidrigen 21 , jedoch recht gewichtigen A u f gabe versagt. Gegen die unanfechtbaren Entscheidungen der Berliner Justiz gibt es daher weder einen bundesverfassungsgerichtlichen, noch einen ersatzweise für ihn einspringenden Grundrechtsschutz durch andere Bundesgerichte. Auch die eng begrenzten Chancen, die das BVerfG i n seiner bisherigen Rechtsprechung den Berliner Verfassungsbeschwerden eingeräumt hat, können kaum als gesichert gelten. Sie beruhen auf dem bekannten von einer Verfassungsbeschwerde Ernst Niekischs ausgelösten Beschluß vom 20. Januar 196622, der auch Berliner Verfassungsbeschwerden wenigstens insoweit für zulässig erklärt hat, als m i t ihnen die Überprüfung von Bundesrecht und seine Anwendung durch Bundesbehörden und Bundesgerichte beantragt wird. Denn dabei gehe es nicht um die Kontrolle der Berliner Landesgewalt, sondern allein u m eine Überwachung des Bundes und seiner Organe 23 . Der Niekisch-Beschluß konnte sich bislang allerdings nicht zum zukunftsträchtigen Fundament der Berlin-Judikatur 2 4 des BVerfG entwickeln 2 5 . Stattdessen hat er die Kommandantur auf den Plan gerufen. 21 Das machen die zahlreichen Drei-Seiten-Beschlüsse deutlich, m i t denen das B V e r f G i n kurzangebundener Routine Verstöße gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs zurechtrücken muß, die den unteren Gerichten i m Drang ihrer Geschäftslast immer wieder unterlaufen. Vgl., u m auch hier n u r die jüngsten Beispiele zu nennen, BVerfGE 34, S. I f . ; S. 154 f.; 157 f. u n d 344 f. Ob es w i r k l i c h nötig ist, das BVerfG m i t dieser Kleinarbeit zu beschäftigen, läßt sich m i t Fug und Recht bezweifeln. Der Gesetzgeber könnte dem leicht abhelfen, w e n n er i n der ZPO, der StPO u n d dem F G G ganz generell Beschwerden zum nächsthöheren Gericht zulassen würde, sofern m i t ihnen die Verletzung des A r t . 103 Abs. 1 GG gerügt w i r d . Das würde dem B V e r f G A r b e i t abnehmen u n d nebenbei i n B e r l i n die Folgen der Unzuständigkeit des B V e r f G erheblich mildern. 22 BVerfGE 19, S. 377 f. 23 Sehr viel zurückhaltender noch BVerfGE 10, S. 229 f., wo das Gericht eine VerfBeschw., die sich unmittelbar n u r gegen das Revisionsurteil eines Bundesgerichts richtete, zurückwies, w e i l sie eben doch auf die vorausgegangenen Entscheidungen der Berliner Instanzgerichte einwirke. 24 Uber sie berichten zusammenfassend Finkelnburg, JuS 1968, S. 12 f.; ders., Die Rechtsprechung des BVerfG i n Berliner Sachen, AöR 95 (1970), S. 581 f. u n d Delbrück, Die staatsrechtliche Stellung Berlins i n der Rechtsprechung des B V e r f G u n d der Bundesgerichte, i n : „Ostverträge — Berlin-Status — Münchener A b k o m m e n — Beziehungen zwischen der B R D u n d der DDR", hrsg. v o m I n s t i t u t für Internationales Recht, K i e l 1971, S. 214 f. 25 Das B V e r f G konnte lediglich i n den beiden sog. „Kartellamts-Beschlüssen" v o m 11.10.1966 (BVerfGE 20, S. 257 f. und 271 f.) an den Niekisch-Beschluß anknüpfen. Hier ging es u m die m i t A r t . 80 Abs. 1 GG unvereinbare KartellgebührenVO u n d speziell u m Gebührenbescheide des Bundeskartell-
Bindung Berlins an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
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Sie h a t i n e i n e r E r k l ä r u n g v o m 24. M a i 1965 2 6 b e k a n n t gegeben, daß das B V e r f G nach i h r e r A n s i c h t „ i n Beziehung auf B e r l i n keine Gerichtsbarkeit hat, u n d daß es demzufolge nicht zuständig ist, (1) die Verfassungsmäßigkeit von Handlungen Berliner Behörden oder (2) die Verfassungsmäßigkeit von Berliner Gesetzen, einschließlich von Gesetzen zur Übernahme von Bestimmungen der Bundesgesetzgebung 27 zu überprüfen." Diese E r k l ä r u n g w u r d e z w a r n u r i n die z u r ü c k h a l t e n d e F o r m eines Schreibens (letter) a n d e n R e g i e r e n d e n B ü r g e r m e i s t e r u n d d e n P r ä s i d e n t e n des A b g e o r d n e t e n h a u s e s e i n g e k l e i d e t . D a h e r ist sie —
anders
als d i e f ö r m l i c h e n A n o r d n u n g e n (orders) d e r K o m m a n d a n t u r — n i c h t v e r b i n d l i c h . A b e r sie w u r d e e r s i c h t l i c h n i c h t n u r z u r B e r e i c h e r u n g d e r L i t e r a t u r ü b e r d i e Rechtslage B e r l i n s abgegeben. Daß sie d e m B V e r f G das F e s t h a l t e n a n d e m i m Niekisch-Beschluß
bezogenen
Standpunkt
n i c h t gerade e r l e i c h t e r n w i r d , l i e g t a u f der H a n d 2 8 . D e s h a l b i s t es r a t sam, a u f d e n Niekisch-Beschluß
k e i n e a l l z u hochgespannten E r w a r t u n -
g e n z u setzen. E r w a r m i t S i c h e r h e i t n i c h t das l e t z t e W o r t i n d e r F r a g e nach d e n B e r l i n - K o m p e t e n z e n des B V e r f G . M a n sollte sich d a h e r v o r -
amts, die das Beschwerdeverfahren vor dem K G u n d dem B G H unbeanstandet passiert hatten, dann aber v o m BVerfG aufgehoben wurden. Bei den BeschwF. handelte es sich freilich u m westdeutsche Unternehmen. Ihre Sache w a r n u r deshalb nach B e r l i n gekommen, w e i l das Bundeskartellamt dort seinen Sitz hat. Vgl. dazu unten Fn. 29. 28 B K / L (67) 10; abgedr. i n N J W 1967, S. 1742 f. 27 I n der Erwähnung der „Bestimmungen der Bundesgesetzgebung" kehrt der von der Kommandantur permanent vertretene Standpunkt wieder, daß die Bundesgesetze i n B e r l i n nur als Berliner Landesrecht gelten. Dies k o m m t auch darin zum Ausdruck, daß die Kommandantur sich hier (wie auch übera l l sonst) strikt davor hütet, schlechthin von den i n B e r l i n gültigen y,Bundesgesetzen" zu reden, sondern n u r von den „Bestimmungen der Bundesgesetzgebung" spricht. Das ist für die Kommandantur ein terminus technicus, der besagt: Es gelten i n B e r l i n nicht die Bundesgesetze als solche, sondern nur ihr Inhalt u n d dieser n u r k r a f t eines Legislativ-Beschlusses des Berliner Landesgesetzgebers. Das mag für deutsche Ohren spitzfindig klingen. Aber i n dieser Frage entscheiden nicht die Auslegungsregeln des deutschen Rechts. Finkelnburgs (JuS 1968, S. 14) Zuversicht, die E r k l ä r u n g v o m 24. 5.1967 stehe einer bundesverfassungsgerichtlichen Normenkontrolle von Bundesgesetzen auch i n Berlin-Sachen nicht entgegen, kann ich daher nicht teilen. I n den Augen der Kommandantur würde eine solche Vorlage eindeutig B V e r f G exemptes Berliner Landesrecht betreffen. 28 I m m e r h i n gehört die E r k l ä r u n g v o m 24. 5.1967 zum Umfeld dessen, was das Viermächte-Abkommen v o m 3. 9.1971 (s. o. Fn. 1) m i t seiner Zusicherung anspricht, B e r l i n werde „so wie bisher ... auch weiterhin" nicht v o m B u n d regiert. Die Frage ist nur, was hier den „bisher" gültigen Zustand prägt u n d damit „ w e i t e r h i n " g i l t : Der Niekisch-Beschluß oder die von der Kommandantur zu i h m abgegebene Stellungnahme? 11*
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sorglich darauf einrichten, daß die noch kaum begonnene bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle über die Rechtsprechung der Bundesgerichte i n Berliner Sachen künftig wieder wegfallen oder doch zumindest stark reduziert werden könnte 2 9 . Es zeichnet sich m i t anderen Worten ein weiteres Vacuum i m Grundrechtsschutz für Berlin ab. 4. Auch die Hoffnung, Berlin könne sein Defizit an verfassungsgerichtlichem Grundrechtsschutz durch die Errichtung eines eigenen Landesverfassungsgerichts 30 wenn nicht abbauen, so doch spürbar lindern, hat sich inzwischen zerschlagen. A r t . 72 V v B sieht ein solches Berliner Verfassungsgericht zwar ausdrücklich vor. Presseberichten 31 zufolge scheiterte seine Errichtung aber daran, daß der Berliner Senat die Normenkontrollbefugnis dieses Gerichts auf das Berliner Landesrecht begrenzen möchte, während die Kommandantur glaubt, einer Differenzierung zwischen den Berliner Landesgesetzen und den von Berlin übernommenen Bundesgesetzen nicht zustimmen zu können. Da sich eine Kompromißformel, die diese Meinungsverschiedenheit überbrükken könnte, nicht finden ließ, neigen die zuständigen Stellen Berlins neuerdings zur Resignation. Sie sehen sich gezwungen, den angesichts der politischen Verhältnisse unerfüllbaren Verfassungsauftrag des A r t . 72 V v B zu suspendieren.
29
V o n diesen Bedenken unberührt bleiben n u r zwei Fälle: a) Die VerfBeschw. westdeutscher BeschwF. gegen Hoheitsakte einer i n Berl i n belegenen Bundesbehörde (z.B. des Bundeskartellamts, der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte usw.). Ihnen fehlt jeder relevante personale öder territoriale Bezug zu Berlin. Daher handelt es sich nicht u m „Berliner Sachen" i m eigentlichen Sinne. Vgl. dazu (neben BVerfGE 20, S. 257 ff.) Lerche, „Berliner Sachen" als verfassungsprozessualer Begriff, Festschrift für Leibholz, Bd. 2, 1966, S. 465 ff., 477. b) VerfBeschw. gegen prozessuale Grundrechtsverstöße, die den obersten Bundesgerichten i n Berliner Sachen bei der Durchführung ihres Revisionsverfahrens unterlaufen. Denn die Bundesgerichte bleiben auch dort, wo sie über Revisionen gegen Urteile von Berliner Instanzgerichten entscheiden, Bundesgerichte u n d damit der Kontrolle durch das BVerfG jedenfalls insow e i t unterworfen, als es u m die Grundrechtskonformität ihres eigenen prozessualen Gebarens geht. I n diesem P u n k t steht die K o m m a n d a n t u r - E r k l ä rung v o m 24.5.1967 dem Niekisch-BeschluQ (S. 390) m. E. nicht i m Wege; a. A. allerdings Wengler, Festschrift für Leibholz, S. 956 - 957. A l l e übrigen v o m B V e r f G selbst i n Anspruch genommenen oder i h m von der L i t e r a t u r zugesprochenen Berlin-Kompetenzen beruhen indessen auf der These, das von B e r l i n übernommene Bundesrecht bleibe Bundesrecht. Damit stehen sie i n unausräumbarem Widerspruch zu der K o m m a n d a n t u r E r k l ä r u n g v o m 24. 5.1967. 30 Vgl. dazu Stern, Probleme der Errichtung eines Verfassungsgerichts i n Berlin, DVB1. 1963, S. 696 ff. 31 Z. B. des Berliner Tagesspiegel v o m 6.11.1973.
B i n d u n g Berlins an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
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Berlin w i r d sich also vorerst i m Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit auch nicht auf eigene Füße stellen können. Als letzter Ausweg bleibt i h m daher nur übrig, als stiller Teilhaber an der Rechtsprechung des BVerfG zu partizipieren, indem es die Entscheidungen, die das Gericht i n westdeutschen Verfahren fällt, mitsamt ihren tragenden Gründen als eine auch i n seinem Territorium verbindliche Erkenntnisquelle aufgreift. Daran haben es der Senat, das Abgeordnetenhaus, die Behörden und die Gerichte Berlins nicht fehlen lassen. Die Ansicht, was das BVerfG für Westdeutschland m i t verbindlicher Wirkung als verfassungswidrig gekennzeichnet habe, könne i n Berlin unverändert weitergelten, haben sie nie vertreten 3 2 . Die Entscheidungen des BVerfG prägen so die Verfassungswirklichkeit Berlins kaum minder nachhaltig als die der übrigen Bundesrepublik. Sie t u n das nur auf andere Weise. Während ihnen i m Bundesgebiet § 31 BVerfGG die nötige Anerkennung sichert, setzen sie sich i n Berlin i n erster Linie auf Grund der Autorität durch, die das BVerfG als das höchste deutsche Gericht und als berufener Interpret des GG auch dort genießt. Es bleibt jedoch die Frage, ob hinter der Gefolgschaft, die auch die Berliner Instanzen dem BVerfG leisten, nicht mehr steht als nur ein freiwillig gezollter, jederzeit auf kündbarer Respekt. Denn der Einspruch, m i t dem die Kommandantur die Übernahme des BVerfGG durch Berlin verhindert hat, schließt lediglich eine Bindung Berlins an die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung auf Grund des § 31 BVerfGG aus. Rechtlichen Bindungen, die sich aus anderen (von der Kommandantur gebilligten) Vorschriften des Landesrechts oder des von Berlin übernommenen Bundesrechts ergeben, steht dieser Einspruch jedoch nicht i m Wege. Er verbietet nur, Berliner Rechtssachen an das BVerfG zu verweisen 33. Bindungen an die Judikatur des BVerfG, die ohne direktes Eingreifen des Gerichts i n die inneren Angelegenheiten Berlins wirksam werden, hat die Kommandantur indessen nicht widersprochen. Es lohnt sich daher zu prüfen, ob das i n Berlin gültige Recht solche Bindungen vorsieht oder impliziert. 32
M i t derartigen A n w a n d l u n g e n sind bislang lediglich einige AußenseiterGruppen hervorgetreten, die es lieber gesehen hätten, w e n n B e r l i n von der Anpassung seines Universitätsgesetzes an das Karlsruher U r t e i l v o m 29. 5. 1973 abgesehen u n d dem Sondervotum der Richter Simon u n d Rupp v. Brünneck den Vorzug gegeben hätte. Der Regierende Bürgermeister hat diesen Entgleisungen jedoch i n seiner bereits erwähnten Stellungnahme v o m 9. 6.1973 (Fn. 18) eine klare Absage erteilt. 33 Vgl. den oben unter 1/1 wiedergegebenen Text der B K / O (52) 35 v. 20.12.1952.
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II. 1. Eine von § 31 BVerfGG unabhängige, aber dennoch automatisch eingreifende Bindung Berlins an die Rechtsprechung des BVerfG begründet vor allem das Dritte Überleitungsgesetz (ÜG) vom 4. Januar 195234. Sie w i r d akut, wenn das BVerfG i n westdeutschen Verfahren Vorschriften des Bundesrechts für nichtig erklärt, die Berlin gemäß den §§ 12 f. Ü G übernommen hat. Für diesen Fall hat der Berliner Senat seine sog. Nullum - oder Substrat-Theorie entwickelt und sie zur Grundlage seiner ständigen Praxis erhoben 35 . Nach ihr greifen Berliner Übernahmegesetze ins Leere, wenn sie bundesrechtliche Vorschriften zum Gegenstand haben, die das BVerfG gem. § 78 BVerfGG für das Bundesgebiet m i t Wirkung ex tunc für nichtig erklärt und damit klarstellt, daß sie von Anbeginn an unwirksam waren 3 6 . M i t verfassungswidrigem Bundesrecht übernimmt Berlin daher ein rechtliches Nullum, das bis zu seiner ausdrücklichen Kassation nur dem Schein nach gültig ist. Zerstört das BVerfG diesen Rechtsschein, so hebt es das Berliner Übernahmegesetz zwar nicht auf; denn damit würde es i n die Interna des Berliner Gesetzgebungsverfahrens hineinregieren. Aber es entzieht i h m sein Substrat. I n der Sicht der Nullum-Theorie führt das i n Berlin zum Wegfall der Geschäftsgrundlage, von der das Abgeordnetenhaus beim Erlaß seines Übernahmegesetzes ausgegangen ist. Diese Auffassung hält Berlin konsequent durch. Es geht davon aus, daß das vom BVerfG annullierte Bundesrecht i n Berlin nie gegolten habe 37 . Daher hebt das Abgeordnetenhaus Übernahmegesetze, die we34
BGBl. I, S. 1. Ihre offizielle Version gibt eine Stellungnahme des Berliner Finanzsenators an den B F H aus dem Jahre 1962 wieder, die der B F H m i t ihrem vollen T e x t i n seinen Beschluß v o m 22.1.1963 (s. oben Fn. 16) aufgenommen hat. 36 Vgl. Lechner, BVerfGG, Kommentar, 3. Aufl. 1973, § 78 A n m . 2. A u f die sowohl de lege lata als auch de lege ferenda geführten Auseinandersetzungen u m die v o m BVerfG i n ständiger Rechtsprechung vertretene Auffassung von der ex t u n c - W i r k u n g der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze k a n n hier nicht näher eingegangen werden. 37 Der Plan, dem B V e r f G i m 4. Ä n d G zum B V e r f G G v o m 21.12.1970 (BGBl. I, S. 1765) auch die Kassation von Rechtsnormen m i t W i r k u n g ex nunc zu gestatten, ist daher nicht zuletzt deshalb u n v e r w i r k l i c h t geblieben, w e i l er dieser Sicht der Dinge den Boden entzogen hätte. Das B V e r f G wäre durch i h n i n die Lage versetzt worden, auch Rechtsnormen aufzuheben, die nicht von Anfang an u n w i r k s a m sind u n d infolgedessen i n B e r l i n auch nicht einseitig von Bundes wegen aus der Welt geschafft werden können. Vgl. dazu Pestalozza, Die Geltung verfassungswidriger Gesetze, AöR 96 (1971), S. 27 f., 58 - 59. 35
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gen der Nichtigkeit ihres bundesrechtlichen Substrats fehlgeschlagen sind, nicht etwa auf. Es w i r d noch nicht einmal der Tenor der BVerfGEntscheidungen, die diese Rechtsfolge auslösen, i m Berliner Gesetzund Verordnungsblatt verkündet 3 8 . Da die Nullum-Theorie i m Ergebnis darauf hinausläuft, Berlin unmittelbar an bestimmte Entscheidungen des BVerfG zu binden, ist sie verschiedentlich auf K r i t i k gestoßen 39 . Ihr geht i n der Tat einiges an dogmatischer Sauberkeit ab 4 0 . Ihre K r i t i k e r übersehen jedoch, daß die Nullum-Theorie die Praxis des Berliner Senats beherrscht, seit das BVerfG seine verfassungsgerichtliche Kontrolle über die Gesetzgebung des Bundes aufgenommen hat 4 1 . Die Berliner Behörden und Gerichte haben sie stets befolgt 4 2 . Auch die Kommandantur hat nie an ihr A n stoß genommen. Das verleiht der Nullum-Theorie mitsamt den aus ihr abgeleiteten Konsequenzen den Rang eines zum Gewohnheitsrecht erstarkten Grundsatzes. Als solcher zählt sie trotz ihrer juristischen Mängel zum festen Bestand der Bindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik, die das Viermächteabkommen vom 3. September 197143 „aufrechterhalten und entwickeln" w i l l . I n einem Schreiben, i n dem die drei westlichen Botschafter der Bundesregierung „Klarstellungen und Interpretation" zum Viermächteabkommen übermittelt haben 44 , w i r d das zusätzlich bekräftigt. Es heißt dort: „Geltende Verfahren bezüglich der Anwendbarkeit der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland auf die Westsektoren Berlins bleiben unverändert."
Diese Erklärung sichert nicht nur dem Übernahmeverfahren der §§ 12 f. ÜG, sondern auch der Nullum-Theorie den nötigen Rückhalt. Denn es steht außer Frage, daß Berlin i n der Lage sein muß, auch die gesetzesaufhebenden Entscheidungen des BVerfG von einem nur auf seine 38 Die von der K o m m a n d a n t u r angeordnete Bekanntgabe der von BVerfGE 24, S. 75 f. konstatierten Teilnichtigkeit des § 30 Abs. 1 u n d 2 des Bundesrückerstattungsgesetzes i n GVB1. 1968, S. 1549, ist eine vereinzelte Ausnahme geblieben. Pestalozza (S. 76, Fn. 132) mißt diesem Sonderfall m. E. zu v i e l Gewicht bei; wie hier Zivier, Der Rechtsstatus des Landes Berlin, 2. A u f l . 1974, S. 102. 39 Vgl. insbesondere Pestalozza, S. 76 f. 40 Sie beruht nicht n u r auf den §§ 12 f. ÜG. Sie verknüpft vielmehr diese Vorschriften m i t § 78 B V e r f G G u n d steht so m i t einem Bein auf einer V o r schrift, die für B e r l i n nicht gilt. 41 Vgl. Pestalozza, S. 76 Fn. 132. 42 Der B F H ζ. B. hat seinen oben (Fn. 16) erwähnten Vorlagebeschluß v o m 3. 4.1962 ausdrücklich unter Berufung auf die Nullum-Theorie zurückgezogen. 43 S. o. Fn. 1. 44 Abgedr. bei Zivier (Fn. 38), S. 225.
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Überzeugungskraft angewiesenen Präjudiz zum rechtlich verbindlichen Derogationsakt umzusetzen. Ferner ist allgemein bekannt, daß sich Berlin zu diesem Zweck seit eh und je auf die Nullum-Theorie beruft. Daher liegt auf der Hand, daß auch sie eines der geltenden Verfahren darstellt, m i t der Berlin die Anwendbarkeit von Bundesrecht i n seinem Territorium reglementiert. Was § 31 BVerfGG i n Berlin nicht zu leisten vermag, bewerkstelligt also insoweit, als es u m BVerfG-Entscheidungen i. S. des § 78 BVerfGG geht, die Nullum-Theorie. Sie sorgt durch eine berlin-konforme Deutung des Übernahmeverfahrens der §§ 12 f. Ü G dafür, daß das vom BVerfG für von Anfang an nichtig erklärte Bundesrecht auch m i t Wirkung für Berlin automatisch i n Wegfall gerät. Damit hindert sie die Behörden und Gerichte Berlins daran, vom BVerfG als verfassungswidrig verworfene Vorschriften des Bundesrechts i n ihrem Zuständigkeitsbereich weiter anzuwenden. Sie sind dazu selbst dann nicht befugt, wenn das BVerfG nach ihrer Überzeugung falsch entschieden haben sollte 4 5 . 2. Die Nullum-Theorie bindet Berlin freilich nur an solche Entscheidungen, m i t denen das BVerfG Bundesgesetze für nichtig erklärt. Schon i m umgekehrten Fall, i n dem das Gericht Vorschriften des Bundesrechts als grundgesetzgemäß bestätigt, versagt sie ihren Dienst. Die gesetzesgleiche Verbindlichkeit, die dieses verfassungsgerichtliche Gültigkeitsattest gemäß § 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG entfaltet, bleibt jedenfalls auf das Bundesgebiet beschränkt. Die Berliner Übernahmegesetze und ihr Substrat dagegen werden von ihr nicht erfaßt. Das spricht auf den ersten Blick dafür, den Berliner Gerichten die Befugnis zur eigenständigen, gesetzesverwerfenden Normenkontrolle auch für solche Bundesgesetze zu belassen, die das BVerfG i m Bundesgebiet bereits abschließend geprüft und für gültig befunden hat. a) Das Blatt wendet sich jedoch sogleich, wenn die Urteile der Berliner Gerichte mit der Revision angefochten werden. Denn die Revisionsgerichte des Bundes sind an das BVerfGG gebunden. Sein § 31 Abs. 2 Satz 2 verpflichtet sie daher, Gesetze, die das BVerfG als verfassungskonform gekennzeichnet hat, ohne jede weitere eigene Prüfung als gültig hinzunehmen 46 . Ob sie diese Gefolgschaftspflicht auch bei ihren 45
Pestalozzi S. 79 ff., der dem Ü G lediglich eine Pflicht des Berliner Gesetzgebers entnimmt, das v o m B V e r f G verworfene Bundesrecht auch i n B e r l i n förmlich außer K r a f t zu setzen, zielt an der Rechtswirklichkeit vorbei. Denn der Berliner Gesetzgeber hat sich nie für verpflichtet gehalten, Übernahmegesetze allein deshalb aufzuheben, w e i l das ihnen zugrunde liegende Bundesgesetz v o m B V e r f G f ü r nichtig erklärt worden ist. 46 Vgl. B V e r w G E 24, S. 1 f.
B i n d u n g Berlins an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
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Entscheidungen i n Berliner Sachen trifft, hängt allerdings davon ab, i n welcher Eigenschaft sie ihre Jurisdiktionsgewalt über Berlin ausüben. Bleiben sie dabei Gerichte des Bundes, so bleiben sie als solche auch uneingeschränkt an § 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gebunden 47 . Verwandeln sie sich dagegen bei ihren Entscheidungen über Berliner Revisionen i n Gerichte des Landes Berlin, die m i t dem Bund nur organisatorisch verflochten, aber rechtlich von i h m abgespalten sind 4 8 , so würde sie das aus ihrer bundesrechtlichen Bindung an den für Berlin und seine Organe unwirksamen § 31 BVerfGG lösen. Die Bundesgerichte wären daher nur i n westdeutschen Sachen gezwungen, bundesverfassungsgerichtlich bestätigte Bundesgesetze auch gegen ihre Überzeugung anzuwenden; i n Berliner Sachen indessen könnten sie ihrer eigenen, vom BVerfG abweichenden Verfassungsinterpretation freien Lauf lassen. Ein derartiger (nach außen h i n durch nichts manifestierter) Rollentausch w i r k t allerdings recht ungewöhnlich. Daher fällt es schwer, ihn nachzuvollziehen. Es sind auch keine Rechtsquellen ersichtlich, die dabei Hilfestellung leisten könnten. Ausschlaggebende Bedeutung besitzen insbesondere die Parallel- und Mantelgesetze, mit denen sich Berl i n dem Revisionsrecht des Bundes unterworfen hat. Sie enthalten keine Andeutungen, die den Schluß nahelegen könnten, sie hätten das BVerwG, das BSozG, den B F H und die anderen obersten Bundesgerichte nur unter der Bedingung i n ihr A m t als Berliner Revisionsgericht eingesetzt, daß sie es als und wie ein Gericht des Landes Berlin wahrnehmen. Sie begnügen sich vielmehr damit, lediglich den Text der einschlägigen Bundesgesetze — also der VwGO, der BSozO, der FGO usw. — zu wiederholen. Nur A r t . 7 Ziff. 42 des als Parallelgesetz zum Bundesgesetz gleichen Namens erlassenen Berliner Rechtsvereinheitli47
So die v o m B V e r f G i m Niekisch-Beschluß (BVerfGE 19, S. 386 f.) vertretene Auffassung. Da m i t i h r die Entscheidung über die Zulässigkeit von V e r fassungsbeschwerden gegen Urteile der Bundesgerichte i n Berliner Sachen steht u n d fällt, gehört sie zu den tragenden Gründen dieses Beschlusses. BindungsWirkung entfaltet sie jedoch n u r insoweit, als sie den Entscheidungstenor trägt. Dieser aber besagt lediglich: „Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig." Das hat m i t der B i n d u n g der Bundesgerichte an die Präjudizien des B V e r f G i n Berliner Sachen allenfalls indirekt etwas zu tun. M i t i h r befaßt sich das B V e r f G so denn auch erst gegen Ende der Begründung (S. 391 392) u n d auch dort n u r i m Zusammenhang m i t der Frage nach den „weiteren Folgen" v o n BVerfG-Entscheidungen über Berliner VerfBeschw. Daher k ö n nen diese Ausführungen die bindende K r a f t des § 31 BVerfGG nicht f ü r sich i n Anspruch nehmen. Der einfachste Weg, die Bundesgerichte auch i n B e r l i ner Sachen an § 31 B V e r f G G zu binden, w e i l der Niekisch-Beschluß m i t seinerseits bindender K r a f t so entschieden habe, erweist sich daher als nicht gangbar. 48 So, w e n n auch i n etwas anderem Zusammenhang, Wengler, Festschrift für Leibholz, Bd. 2, S. 955 - 957.
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chungsgesetzes v o m 9. J a n u a r 1951 4 9 ist etwas aussagefreudiger
ausge-
f a l l e n . E r u n t e r s t e l l t B e r l i n d e r Z u s t ä n d i g k e i t des B G H „ m i t der Bundesgebiet
für
ihn geltenden
ob h i e r das W o r t „mit"
Verfassung".
im
Dabei bleibt i m Dunkeln,
b e w u ß t anstelle des W o r t e s ,yauf
Grund"
ge-
w ä h l t w u r d e . A b e r w i e d e m auch i m m e r sei — ob n u r „ m i t " oder d a r ü b e r h i n a u s auch „ a u f G r u n d " seiner i m B u n d e s g e b i e t g ü l t i g e n V e r f a s s u n g — d e r B G H a m t i e r t auch f ü r B e r l i n i n j e d e m F a l l i n g e n a u der gleichen Weise u n d m i t d e n gleichen r e c h t l i c h e n B i n d u n g e n , w i e
im
Bundesgebiet50. D i e A l l i i e r t e n Schutzmächte h a b e n ebenfalls k e i n e E i n w ä n d e dagegen erhoben, daß B e r l i n die B u n d e s g e r i c h t e auch f ü r sein T e r r i t o r i u m ins A m t gesetzt h a t , ohne sie a u s d r ü c k l i c h z u O r g a n e n der
Berliner
L a n d e s j u s t i z h e r a b z u s t u f e n . Sie h a b e n z w a r stets b e t o n t , daß d i e B e s t i m m u n g e n des Bundesrechts i n B e r l i n n i c h t „als solche",
sondern n u r
als B e r l i n e r L a n d e s r e c h t A n w e n d u n g f i n d e n 5 1 . F ü r das A m t i e r e n d e r obersten B u n d e s g e r i c h t e i n B e r l i n e r Sachen dagegen h a b e n sie d e r a r t i g e Vorbehalte nicht angemeldet52.
49
GVB1. S. 99. Hinsichtlich der Bindung des B G H an § 31 BVerfGG könnte eine Ausnahme allenfalls deshalb gelten, w e i l diese Vorschrift erst am 12. 3.1951, also erst nach dem Berliner Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 9.1.1951 erlassen worden ist und daher von i h m nicht mitabgedeckt werden konnte. Aber dem steht entgegen, daß die K o m m a n d a n t u r kurz nach dem Erlaß des B V e r f GG der vorbehaltlosen Übernahme des Bundesgesetzes über das B V e r w G durch Gesetz v o m 22.12.1952 (GVB1. 1953, S. 1) ebensowenig widersprochen hat wie i n der Folgezeit der Übernahme des ArbGG, der SozGO, der VwGO, BDO u n d der FGO. K r a f t dieser gehört § 31 BVerfGG zur i m B u n desgebiet geltenden Verfassung des BVerwG, B A G , BSozG, B D H u n d BFH. Das aber k a n n n u r bedeuten, daß die Kommandantur m i t der Hinnahme der Bindung dieser Gerichte an § 31 B V e r f G G konkludent das gleiche auch für den B G H zum Ausdruck gebracht hat. Denn der B G H k a n n dem B V e r f G i n Berliner Sachen schwerlich anders gegenüberstehen als die übrigen Bundesgerichte. 51 S. o. Fn. 27. 52 Wichtig vor allem die teils v o m B V e r f G i m Niekisch-Beschluß (S. 387) wiedergegebene, teils i m Berliner GVB1. 1951, S. 106, veröffentlichte B K / O (51) 10, m i t der die Kommandantur das Berliner Rechtsvereinheitlichungsgesetz genehmigt hat. Sie b i l l i g t das Berliner Bestreben, „Abweichungen z w i schen Gerichtsverfassung u n d der J u d i k a t u r Berlins einerseits u n d des B u n desgebiets andererseits zu verhindern u n d dieselben so weit wie möglich i n Einklang zu bringen". Auch das oben unter 1/3 wiedergegebene Schreiben zum Niekisch-Beschluß ist i n diesem Zusammenhang aufschlußreich. Es verw a h r t sich gegen eine verfassungsgerichtliche Überprüfung von Berliner U r teilen der Bundesgerichte, läßt aber die Ausführungen des BVerfG über die auch i n Berliner Sachen eingreifende Bindung der Bundesgerichte an § 31 BVerfGG (BVerfGE 19, S. 392) unbeanstandet. 50
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Es spricht somit alles dafür, daß die Regel, nach der die Behörden und Gerichte des Bundes oder eines Landes auch dann, wenn sie i m Einzelfall für einen anderen Hoheitsträger tätig werden, dennoch dem für sie von Haus aus gültigen Bundes- bzw. Landesrecht verhaftet bleiben, nicht nur das Recht der Amtshilfe, sondern auch das Verhältnis zwischen Berlin und den obersten Bundesgerichten bestimmt 5 3 . Diese Regel erhält die Bindung der Bundesgerichte an § 31 BVerfGG daher auch bei ihren Entscheidungen über Berliner Revisionen aufrecht. Dies gilt u m so mehr, als sich § 31 BVerfGG ausschließlich an die Adresse der Bundesgerichte wendet. Wenn § 31 BVerfGG damit auch Berlin i n seinen Bannkreis miteinbezieht, so t u t er das nur mittelbar 5 4 und selbst das allein auf Grund von Rechtsnormen, die Berlin durch eigenständige auctoritatis interpositio für sein Gebiet in K r a f t gesetzt hat. Außerdem hat sich Berlin damit nicht etwa der Jurisdiktionsgewalt des BVerfG als solcher eröffnet. Es hat vielmehr nur hingenommen, daß die vom BVerfG i n seinem westdeutschen Zuständigkeitsbereich entwickelten und dort allgemein verbindlichen Rechtsgrundsätze auch i n Berlin Geltung erlangen. Das aber ist ein Vorgang, der i n seinen Konsequenzen auf das gleiche hinausläuft, wie die Übernahme des Bundesrechts i m Verfahren des 3. ÜG. Eine Unterstellung Berlins unter die Jurisdiktionsgewalt des BVerfG liegt darin ebensowenig, wie in der Übernahme von Bundesgesetzen eine Unterwerfung unter die Gesetzgebungsgewalt des Bundes liegt. Gegen eine auch ihre Entscheidung über Berliner Sachen erfassende Bindung der Bundesgerichte an § 31 BVerfGG bestehen somit keine durchgreifenden Bedenken. Die Bundesgerichte sind daher nicht nur befugt, sondern darüber hinaus auch verpflichtet, Urteile der Berliner Vorinstanzen zu korrigieren, wenn sie sich über gesetzesbestätigende 53
Das von Wengler (S. 953) zur Illustration seiner These von der Personalunion zwischen den Berliner Revisionsgerichten u n d denen des Bundes herangezogene Beispiel des Kirchenvorstands katholischer Gemeinden, der zugleich auf G r u n d des pr. Gesetzes über die V e r w a l t u n g des katholischen Kirchenvermögens v o m 24. 7.1924 (GS. S. 585) u n d auf G r u n d des can. 1183 CJC als concilium fabricae ecclesiae amtiert, spricht eher f ü r als gegen die oben vertretene Ansicht. Denn die Überschneidungen zwischen dem staatlichen u n d dem kanonischen Recht gestatten dem Kirchenvorstand nicht, sich v o n seinen kirchlichen Bindungen an das kanonische Recht loszusagen. K o m p l i k a t i o n bereitet hier n u r die staatliche Rechtsaufsicht, die sich i n Konfliktsituationen über das kanonische Recht hinwegsetzen u n d dem staatlichen Recht zur Geltung verhelfen muß. Gerade solche Komplikationen bleiben B e r l i n u n d dem B u n d jedoch erspart, w e i l es eine Bundesaufsicht über B e r l i n nicht gibt. 54 Vgl. dazu die Ausführungen des Niekisch-Beschlusses auf S. 391 - 392.
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BVerfG-Entscheidungen hinweggesetzt haben 55 . § 31 BVerfGG läßt ihnen keine andere Wahl 5 6 . Sofern über ihnen noch ein Bundesgericht steht, so können die Berliner Gerichte also m i t einer eigenständigen Normenkontrolle über bundesverfassungsgerichtlich bereits bestätigtes Bundesrecht bestenfalls acte de présence machen. A m Ausgang des Verfahrens ändern sie indessen nichts. Sollten sie je glauben, ein Bundesgesetz abweichend vom BVerfG als verfassungswidrig verwerfen zu müssen, so würden sie damit nur die Partei, die sich auf dieses Gesetz berufen hat, zur A n rufung der nächsten Instanz zwingen 5 7 . b) Schon dieses Ergebnis befriedigt nicht recht 58 . Noch unbefriedigender w i r k t die Lage dort, wo die Bundesgerichte nicht angerufen werden können, weil der Rechtsweg bei den Berliner Instanzgerichten endet. Die Beschränkung des Rechtswegs auf die unteren Instanzen soll freilich nur die Bundesgerichte entlasten und das Verfahren beschleunigen, keineswegs aber den Gerichten der Länder Freiräume zu eigenwilligen Auslegungen des Bundesrechts erschließen. Daß z. B. der Ausschluß der Revision gegen Berufungsurteile der Landgerichte i n Z i v i l sachen (§ 545 ZPO) das Landgericht Berlin dazu ermächtige, sich über 55 Versäumen sie diese Pflicht, so gibt es allerdings kein Rechtsmittel. Die Bindung der obersten Bundesgerichte an das BVerfGG bedeutet nicht, daß gegen ihre Entscheidungen von B e r l i n aus Verfassungsbeschwerde erhoben werden könnte. Das wäre nur möglich, wenn das B V e r f G G nicht n u r für die Bundesgerichte selbst, sondern auch für das L a n d B e r l i n gelten würde. 56 Ob dabei die Bindungswirkung gem. § 31 Abs. 1 oder die Gesetzeskraft der BVerfG-Entscheidungen gem. § 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG den Ausschlag gibt, ist eine ebenso akademische wie leicht zu beantwortende Frage: Die Gesetzeskraft des § 31 Abs. 2 Satz 2 B V e r f G G t r i f f t n u r das Bundesrecht als solches, nicht aber auch das Übernahmegesetz, dem es seine Geltung i n B e r l i n verdankt. Daher hat es bei der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG sein Bewenden (so auch BVerfGE 19, S. 392). 57 Schon damit strahlt die B V e r f G - J u d i k a t u r Reflexe auf die rechtsprechende Gewalt Berlins aus. Sie verstärken sich dort, wo die Revision von einer ausdrücklichen Zulassung der Vorinstanz u n d von der grundsätzlichen Bedeutung der Sache abhängt (vgl. die §§ 132 Abs. 2, 134 Abs. 3 V w G O , 546 Abs. 2 Satz 2 ZPO, 72 Abs. 1 u n d 92 Abs. 1 ArbGG), zu unmittelbaren rechtlichen Bindungen. Denn Abweichungen von i m übrigen Bundesgebiet v e r bindlichen BVerfG-Entscheidungen indizieren die grundsätzliche Bedeutung der Sachen unwiderlegbar. Solche Abweichungen verpflichten daher die Berliner Gerichte zumindest, die Revision gegen i h r U r t e i l zuzulassen. 58 Es belastet die letzten Endes unterliegende Partei i m m e r h i n m i t den Kosten zweier an sich überflüssiger Instanzen, wobei die Gerichtskosten noch das intrikate Problem aufwerfen, ob sie nicht gemäß § 7 GerichtskostenG wegen unrichtiger Sachbehandlung niedergeschlagen werden müssen.
B i n d u n g Berlins an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
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ein Bundesgesetz hinwegzusetzen, das der bei einem höheren Streitwert anrufbare, an die Rechtsprechung des BVerfG gebundene B G H seinem Revisionsurteil ohne eigene Prüfung zugrunde legen müßte, kann sicher nicht richtig sein. Das wäre nur dann nicht zu umgehen, wenn es i n diesem Zusammenhang allein auf § 31 BVerfGG ankäme, an den das Landgericht Berlin und die übrigen Berliner Gerichte i n der Tat nicht gebunden sind. Es bleibt jedoch die Bindung der Berliner Gerichte an die auch i n ihrem Amtssprengel gültige Gerichtsverfassung des Bundes. Diese kennt zwar keine expliziten Vorschriften darüber, wie die Berliner Gerichte zu verfahren haben, wenn eine BVerfG-Entscheidung sie nicht überzeugt, jedoch das ihnen übergeordnete Bundesgericht bindet. Die Vorstellung, eine Rechtsquelle könne ihre Bindungswirkung auf die Gerichte der letzten Instanz beschränken, den Vorinstanzen dagegen freie Hand lassen, ist dem Gerichtsverfassungsrecht jedoch ersichtlich fremd. Implizit liegt i h m die konträr gegenteilige Vorstellung zugrunde, daß auch die unteren Gerichte der Länder das gesamte für die übergeordneten Bundesgerichte verbindliche Bundesrecht i n gleicher Weise wie diese zu beachten haben. I m Bundesgebiet besitzt diese Regel nur deshalb kein eigenständiges Gewicht, weil sie dort i n § 31 BVerfGG ihren für die Bundes- wie die Landesgerichte gleichermaßen verbindlichen Niederschlag gefunden hat. I n Berlin dagegen verdichtet sie sich zu einem ungeschriebenen Grundsatz des allgemeinen Gerichtsverfassungsrechts, den Berlin braucht, u m unerträglichen Diskrepanzen zwischen der Rechtsprechung seiner Landesgerichte und der auch für sein Territorium ohne Einschränkung zuständigen Bundesgerichte vorzubeugen. Der staatsrechtlichen Sonderstellung Berlins t u t diese Rückkoppelung seiner Gerichte an die gesetzesbestätigende Rechtsprechung des BVerfG keinen A b bruch. Denn sie hemmt das vom BVerfG unabhängige richterliche Prüfungsrecht der Berliner Justiz nur insoweit, als es ihre •— von den A l l i ierten Schutzmächten gebilligte — Einbeziehung i n das Gerichtssystem des Bundes erfordert. Da sie lediglich die nötigen Konsequenzen aus der Berliner Zuständigkeit der Bundesgerichte zieht, ändert sie auch nichts an der grundsätzlichen Exemption Berlins aus der Jurisdiktionsgewalt des BVerfG. Daß § 31 BVerfGG i n Berlin nicht gilt, bedeutet also nicht, daß die Berliner Gerichte Bundesgesetze, die das BVerfG i m Zusammenhang m i t einer westdeutschen Sache für verfassungsrechtlich einwandfrei erklärt hat, i n ihrem Amtsbereich gleichwohl weiterhin als verfassungswidrig abtun dürften.
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3. Die westdeutschen Normenkontrollentscheidungen des BVerfG über das Bundesrecht greifen nach alledem m i t ihren Folgewirkungen auch auf Berlin über. Vorschriften des Bundes, die das BVerfG für nichtig erklärt, verlieren i n Berlin ex tunc die Grundlage ihrer Geltung. Vorschriften, die das BVerfG als verfassungsmäßig kennzeichnet, können i n Berliner Sachen nicht mehr als verfassungswidrig verworfen werden. Die Bundesgerichte haben sie wegen ihrer Bindung an § 31 BVerfGG zu beachten. Die Berliner Gerichte hindert ihre Einbeziehung i n das Gerichtssystem des Bundes daran, sich aus eigener Machtvollkommenheit über sie hinwegzusetzen. III. 1. BindungsWirkungen, wie sie die Nullum-Theorie und die Einbeziehung Berlins i n den Zuständigkeitsbereich der obersten Bundesgerichte den Normenkontrollentscheidungen des BVerfG über Bundesgesetze vermitteln, können die Entscheidungen, m i t denen sich das BVerfG positiv oder negativ über westdeutsches Landesrecht äußert, i n Berlin nicht, zumindest nicht i n der gleichen Weise entfalten. Denn Berliner Landesgesetze besitzen kein i m Bundesgebiet dem Zugriff des BVerfG zugängliches Substrat, dessen Nichtigkeit oder gesetzesgleich bestätigte Verfassungsmäßigkeit über die §§ 12 f. Ü G oder die Bindung der Bundesgerichte an die BVerfG-Judikatur auch Berlin m i t erfassen könnte. Das schließt freilich nur solche Auswirkungen der BVerfG-Judikatur auf das Berliner Landesrecht aus, die dieses auf direktem Weg außer K r a f t setzen oder einer weiteren eigenständigen richterlichen Prüfung durch die Berliner Gerichte entrücken würden. Das Berliner Landesrecht bleibt daher der richterlichen Prüfung durch die Berliner Gerichte auch dann unterworfen, wenn das BVerfG gleichgelagertes Recht eines westdeutschen Bundeslandes bereits für nichtig oder für verfassungsrechtlich einwandfrei erklärt hat. Sie müssen auf jeden Fall prüfen, ob das von ihnen anzuwendende Berliner Recht m i t dem vom BVerfG behandelten westdeutschen Landesrecht wirklich übereinstimmt. Erweist sich allerdings ein Berliner Landesgesetz mit einem vom BVerfG abschließend beurteilten westdeutschen Landesgesetz als inhaltsgleich, so haben die Berliner Gerichte bei seiner Prüfung grundsätzlich das GG i n gleicher Weise als Maßstab heranzuziehen, wie dies das BVerfG bei seiner Entscheidung über das westdeutsche Pendant getan hat. Die gleiche Pflicht t r i f f t die Bundesgerichte, wenn sie i m Revisionsverfahren über die Verfassungsmäßigkeit eines Berliner Landesgesetzes zu befinden haben.
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Die Bundesgerichte aber sind — wie bereits dargelegt — gemäß § 31 BVerfGG an die tragenden Gründe von BVerfG-Entscheidungen gebunden, die i n einem anderen, aber gleichgelagerten Fall ergangen sind. Sie müssen sie daher auch bei ihren Entscheidungen über Berliner Landesrecht als verbindlich hinnehmen, ohne von ihnen abweichen zu dürfen. Sie sind mit anderen Worten zwar nicht gehalten, Berliner Landesgesetze schon deshalb ipso iure als nichtig bzw. gültig anzusehen, weil das BVerfG ein ähnliches westdeutsches Landesgesetz für verfassungswidrig oder verfassungsmäßig erklärt hat. Sie haben jedoch immerhin bei ihrer Entscheidung von den gleichen Erwägungen auszugehen, wie sie das BVerfG am Beispiel eines westdeutschen Parallelfalles entwickelt hat. Es bindet sie also nicht die verfassungsrechtliche Einschätzung eines westdeutschen Parallel-Gesetzes durch das BVerfG, wohl aber die Begründung, auf der sie beruht. Denn was i m Bundesgebiet gegen das GG verstößt, kann i n Berlin nicht verfassungsmäßig sein, wie umgekehrt i n Berlin nicht als verfassungswidrig abgetan werden kann, was das BVerfG i m Bundesgebiet unbeanstandet hat passieren lassen. Ist die vom BVerfG bei der Prüfung westdeutschen Landesrechts vorgetragene Grundgesetzinterpretation aber für die Bundesgerichte verbindlich, so w i r k t das — wie ebenfalls oben bereits näher ausgeführt — auch auf die Berliner Gerichte zurück. Auch sie können sich von Rechtsgrundsätzen, die für die vorgeordneten Bundesgerichte verbindlich sind, nicht einfach lossagen, um i n zwei Instanzen Urteile zu fällen, die i n der dritten und letzten Instanz von vornherein keinen Bestand haben können 59 . Das alles gilt i m übrigen nicht nur bei der Normenkontrolle über das Berliner Landesrecht. Die gleichen Bindungswirkungen entfalten vielmehr auch die Entscheidungen, mit denen das BVerfG zu Einzelakten westdeutscher Behörden und Gerichte Stellung nimmt. Sie verpflichten die Berliner Gerichte ebenfalls, von der vom BVerfG vertretenen Auslegung des GG auszugehen, wenn sie über einen gleichgelagerten Berliner Fall zu entscheiden haben. Auch hier schlägt zunächst 59 Würde also der Berliner Gesetzgeber wider Erwarten i n seinem Haushaltsgesetz M i t t e l für eine generelle Subventionierung der politischen Parteien bereitstellen, so müßte schon das Verwaltungsgericht erster Instanz dagegen einschreiten, w e i l diese Form der Parteienfinanzierung vom B u n desverfassungsgericht i n BVerfGE 20, S. 56 ff. als verfassungswidrig beanstandet worden ist. Das Berliner Wahlkampfkostengesetz v o m 17. 7.1970 (GVB1. S. 1142) dagegen dürften die zuständigen Gerichte selbst dann nicht beanstanden, w e n n sie i n der Erstattung der Wahlkampfkosten eine v e r kappte u n d damit verfassungswidrige Parteienfinanzierung erblicken sollten; denn dieser Sicht der Dinge steht BVerfGE 24, S. 300 f. entgegen.
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die Bindung der zuständigen Bundesgerichte an § 31 BVerfGG durch; zugleich aber erfaßt sie auch die Berliner Justiz, die durch ihre Einbindung i n das Gerichtssystem des Bundes daran gehindert wird, aus der zwischen ihr und den Bundesgerichten bestehenden Rechtsgemeinschaft auszubrechen 60 . 2. Kompliziertere Probleme ergeben sich freilich, wenn das BVerfG ein westdeutsches Landesgesetz wegen seiner Unvereinbarkeit m i t einer dem Bund zustehenden Gesetzgebungskompetenz aufheben muß. Solche Entscheidungen können die Berliner Justiz nur binden, wenn die Art. 70 f. GG i n Berlin i m gleichen Umfang und i n der gleichen Weise gelten, wie i n den übrigen Bundesländern. Gerade das aber ist zweifelhaft. Es sind jedoch zwei Fälle auseinanderzuhalten: a) Auch wenn die A r t . 70 f. GG i n Berlin nicht gelten, so herrscht doch Einhelligkeit darüber, daß die von Berlin übernommenen Bundesgesetze dem einseitig von Berlin erlassenen Landesrecht vorgehen. Denn der Satz „Bundesrecht bricht Landesrecht" (Art. 31 GG) gilt auch i n Berlin 6 1 . Das Bundesrecht kann sich hier zwar nicht automatisch gegenüber dem Berliner Landesrecht durchsetzen. Es erlangt diese K r a f t erst dadurch, daß der Berliner Gesetzgeber das vom Bund gesetzte Recht ausdrücklich auch für sein Gebiet übernimmt. Ist das aber geschehen, so gelten i m Hinblick auf A r t . 31 GG zwischen dem Bund und Berlin keine Unterschiede. Muß das BVerfG also ein westdeutsches Landesgesetz wegen seiner Unvereinbarkeit m i t einem Bundesgesetz gem. A r t . 100 Abs. 1 Satz 2 GG für nichtig erklären, so sind die Berliner Gerichte an die tragenden Gründe dieser Entscheidung gebunden. Berliner Landesgesetze, die m i t dem aufgehobenen westdeutschen Landesgesetz inhaltlich übereinstimmen, müssen auch sie als nichtig behandeln. Sie dürfen nur das ihnen entgegenstehende, von Berlin übernommene Bundesrecht anwenden 6 2 . 60 So enthält ζ. B. BVerfGE 34, S. 238 ff., wo der Verwertung heimlich angefertigter Tonbandaufnahmen i m Strafprozeß Grenzen gezogen werden, eine auch f ü r B e r l i n verbindliche Anweisung an die Strafgerichte zur verfassungskonformen Auslegung der StPO. 61 Vgl. Hauck (Fn. 3), S. 58 f. 82 Daß das Bundesrecht i n B e r l i n nach der Auffassung der K o m m a n d a n t u r nicht „als solches", sondern ebenfalls n u r als Berliner Landesrecht gilt, steht dem nicht i m Wege. Denn B e r l i n ist nicht gehindert, sein v o m B u n d übernommenes Recht so zu behandeln, „als ob" es Bundesrecht wäre. B e r l i n muß das schon deshalb tun, u m Kollisionen zwischen dem übernommenen B u n desrecht u n d dem von i h m allein erlassenen Landesrecht bewältigen zu k ö n nen. Vgl. dazu Wengler (Fn. 48).
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b) Anders liegen die Dinge jedoch dann, wenn eine dem Bund vorbehaltene Materie i n Berlin nicht bundesgesetzlich geregelt ist, sei es, w e i l entsprechende Bundesgesetze überhaupt fehlen, sei es, weil Berlin sie nicht übernommen oder sein Übernahmegesetz nachträglich wieder zurückgenommen hat. I n allen diesen Fällen läßt sich der Vorrang der Bundesgesetzgebung nicht auf A r t . 31 GG stützen. Denn Berlin ist aus der Gesetzgebung des Bundes ausgesondert geblieben. Sich ihr generell zu unterwerfen, haben die Schutzmächte dem Berliner Verfassungsgeber nicht gestattet. Sie haben nur i n eine individuelle Übernahme der einzelnen Bundesgesetze durch das Berliner Abgeordnetenhaus eingewilligt 6 3 . Daran müßte an sich jede wie auch immer geartete Bindung der Berliner Justiz an solche Entscheidungen des BVerfG scheitern, die westdeutsches Landesrecht allein deshalb kassieren, weil zu seinem Erlaß der Bund zuständig gewesen wäre. Es bleibt jedoch die Frage, ob sich aus dem Berliner Landesverfassungsrecht nicht etwas anderes ergibt. A r t . 87 Abs. 4 V v B bestimmt nämlich, daß Berlin „die f ü r das Verhältnis v o n B u n d u n d Ländern maßgebenden Bestimmungen des Grundgesetzes soweit wie möglich als Richtlinien f ü r die Gesetzgebung u n d V e r w a l t u n g beachten"
soll. Damit engt A r t . 87 Abs. 4 V v B die Gesetzgebungsautonomie Berlins auf den an sich dem Bund vorbehaltenen Gebieten doch erheblich ein. Selbst wenn die A r t . 70 f. GG sie nicht begrenzt, so „soll" sich der Berliner Gesetzgeber dennoch aller vermeidbaren einseitigen Einmischungen i n die Gesetzgebungskompetenz des Bundes enthalten. Das gilt zwar nur i m Rahmen des Möglichen und auch lediglich als Richtlinie, jedoch keineswegs nur als dispositives Recht. A r t . 87 Abs. 4 V v B enthält immerhin eine Soll-Vorschrift, die eingehalten werden muß, soweit dies die besondere Rechtslage Berlins zuläßt. Die Alliierten haben jedoch klargestellt, daß sie i n das für Berlin gültige Recht lediglich eingreifen werden, wenn es m i t dem Sonderstatus dieser Stadt unvereinbar ist, oder wenn „schwere Bedrohungen" der Ziele ihrer A n wesenheit i n Berlin dies notwendig machen 64 . Wo indessen Kollisionen m i t den Vorbehalten, Anordnungen oder Belangen der Alliierten nicht 63
Vgl. die B K / O (50) 75 v o m 29. 8.1950 (VOB1. I, S. 440), m i t der die K o m mandantur die V v B genehmigt hat. Sie besagt unter Ziff. 2 c Satz 3 : „Ferner finden die Bestimmungen irgendeines Bundesgesetzes i n B e r l i n erst A n w e n dung, nachdem seitens des Abgeordnetenhauses darüber abgestimmt wurde u n d dieselben als Berliner Gesetz verabschiedet worden sind." 84 So das Schreiben der Kommandantur B K / L (51) 29 v o m 7. 3.1951, D o k u mente (Fn. 4), S. 163. 1 Festschrift für Werner Weber
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z u besorgen sind, besteht auch f ü r B e r l i n d i e M ö g l i c h k e i t , die
dem
B u n d v o r b e h a l t e n e n Gesetzgebungsbereiche v o n e i n s e i t i g i n K r a f t gesetztem B e r l i n e r L a n d e s r e c h t f r e i z u h a l t e n . D o r t v e r d i c h t e t sich A r t . 87 A b s . 4 V v B also z u e i n e m z w i n g e n d e n G e b o t 6 5 . B e r l i n d a r f d a h e r Bundesgesetzen die Ü b e r n a h m e n i c h t e t w a nach B e l i e b e n v e r w e i g e r n oder e i n e n bundesgesetzlich noch n i c h t ausgeschöpften K o m p e t e n z b e r e i c h des B u n d e s aus eigener M a c h t v o l l k o m m e n h e i t landesgesetzlich i n A n s p r u c h n e h m e n oder g a r b e r e i t s ü b e r n o m m e n e s B u n d e s r e c h t nach G u t d ü n k e n w i e d e r außer K r a f t setzen 6 6 . Dies alles w ü r d e n i c h t n u r d e n B u n d v o r die F r a g e stellen, ob d i e V o r aussetzungen f ü r seine f i n a n z i e l l e n B e r l i n h i l f e n noch e r f ü l l t s i n d 6 7 , son65 Da sich der Bereich, i n dem K o n f l i k t e m i t der Sonderstellung Berlins oder den Belangen der A l l i i e r t e n i n Betracht kommen, einigermaßen präzise umreißen läßt, wäre es falsch, A r t . 87 Abs. 4 V v B so auszulegen, als ob er es dem Ermessen des Gesetzgebers anheimstelle, w a n n B e r l i n die Beachtung vorrangiger Bundeskompetenzen „möglich" ist u n d w a n n nicht. Dies zu bestimmen, ist sehr viel leichter zu bewerkstelligen, als festzulegen, ob i m Einzelfall „ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht". I m Zweifelsfall genügt eine Anfrage bei der Kommandantur. Aber i n der ganz überwiegenden Mehrzahl aller Fälle w i r d es ohnehin keine ernsthaften Zweifel geben. Daher geht es nicht an, die Rechtsprechung des BVerfG zu A r t . 72 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 2, 213 f., 214) auf A r t . 87 Abs. 4 V v B zu übertragen. 66 Die A l l i i e r t e n w o l l t e n dem 3. Ü G zwar nur m i t der Maßgabe zustimmen, daß B e r l i n die Übernahme von Bundesrecht „ i n der gleichen Weise wie (sie) angenommen wurde, auch widerrufen . . . k a n n " ; so die Presseverlautbarung der A l l i i e r t e n Hohen Kommission v o m 8.1.1952, Dokumente (Fn. 4), S. 193 u n d Lush (Fn. 16), S. 761. Als bloße Meinungsäußerung konnte diese Presseerklärung B e r l i n aber weder von seiner Pflicht zur Übernahme der Bundesgesetze noch von seiner Bindung an die bereits übernommenen Bundesgesetze freizeichnen. Daher hat es bei den §§ 12 f. Ü G u n d bei A r t . 87 Abs. 4 V v B sein Bewenden, die den Berliner Gesetzgeber hindern, Bundesgesetzen eigenmächtig die Übernahme zu verweigern oder sie aus eigenen Stücken f ü r B e r l i n wieder aufzuheben. Beides ist i h m nur dann gestattet, w e n n die Kommandantur es durch eine B K / O i m Einzelfall ausdrücklich anordnet. Denn eine solche B K / O geht dem Ü G u n d dem A r t . 87 Abs. 4 V v B i m Range vor. Daher ist dem L a n d B e r l i n auch u n d vor allem verwehrt, sich v o m 3. Ü G u n d von der m i t i h m begründeten Rechtsgemeinschaft m i t dem B u n d loszusagen. Auch das setzt entweder eine entsprechende Intervention der Schutzmächte oder eine vorherige Aufhebung des A r t . 87 Abs. 4 V v B voraus. Letzteres freilich würde die alte Frage aufwerfen, ob die V v B damit w i r k l i c h n u r geändert oder bereits i n i h r e m K e r n getroffen u n d so gänzlich außer K r a f t gesetzt w i r d , was nur m i t Zustimmung des Berliner Volkes als dem Träger der verfassungsgebenden Gewalt möglich wäre. 67 Vgl. § 19 Abs. 2 Ü G : „Die Durchführung dieses Gesetzes durch das Land B e r l i n bildet die Voraussetzung für die finanziellen Leistungen, zu denen der B u n d nach den Bestimmungen dieses Gesetzes gegenüber dem L a n d Berl i n verpflichtet ist."
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dern auch die Berliner Gerichte auf den Plan rufen. Sie müßten solchen verfassungswidrigen Ausbrüchen Berlins aus seiner gesetzgeberischen Gesamthandsgemeinschaft mit dem B u n d 6 8 kraft ihres richterlichen Prüfungsrechts die Gefolgschaft verweigern 6 9 . A r t . 87 Abs. 4 V v B begründet daher zwischen dem Berliner Landesrecht und dem Bundesrecht eine A r t negativer Akzessorietät. Er gestattet Berlin den Erlaß eigenen Landesrechts grundsätzlich nur, wenn die Gesetzgebungskompetenz des Bundes nicht entgegensteht. Wo indessen die A r t . 73 f. GG die Gesetzgebungskompetenz dem Bund zusprechen, schmilzt die Gesetzgebungshoheit Berlins auf das m i t einer landesverfassungsrechtlichen Pflicht verkoppelte Recht zur Übernahme der einschlägigen Bundesgesetze zusammen. Ohne Übereinstimmung m i t dem Bund kann Berlin i n diesem Bereich kein bundesunabhängiges Landesrecht schaffen. A r t . 87 Abs. 4 V v B läßt i h m noch nicht einmal die Freiheit, Bundesgesetzen aufgrund eigener Entscheidung die Übernahme zu verweigern oder sie nachträglich aufzukündigen. Es hat lediglich einen Anspruch darauf, daß der Bund i n seinen Gesetzen 70 oder i n deren Berlin-Klausel 7 1 Rücksicht auf die Sonderstellung Berlins nimmt und Vorschriften, deren Übernahme Berlin i n politische Schwierigkeiten bringen könnte, von vornherein von der Geltung i n Berlin ausnimmt. Außerdem darf Berlin auch i m Bereich einer Bundeskompetenz eigenes Landesrecht erlassen, wenn der Bund i h m dies ausdrück08
So die auch m. E. zutreffende Kennzeichnung des Verhältnisses zwischen B e r l i n u n d dem B u n d i m Bereich der Gesetzgebung bei Stern (Fn. 30), S. 703. 69 Grundsätzlich unzulässig wäre also z.B.: 1. Die Einführung von Berliner Landesstrafrecht, das i n den v o m B u n d durch das StGB ausgeschöpften Bereich eindringt. 2. Die globale Außerkraftsetzung des StGB durch ein Berliner Landesgesetz. 3. Der Erlaß eines Berliner Amnestiegesetzes, für das allein der B u n d zuständig wäre (vgl. BVerfGE 2, S. 213 f.). 4. Die Nicht-Übernahme eines v o m B u n d erlassenen Gesetzes zur Änderung des StGB. Divergenzen zwischen dem i m B u n d u n d dem i n B e r l i n gültigen Strafrecht sind freilich nicht gänzlich ausgeschlossen. Sie bleiben aber denjenigen Fällen vorbehalten, i n denen entweder der B u n d von vornherein B e r l i n aus dem Geltungsbereich eines Strafgesetzes ausnimmt (wie das ζ. B. beim 4. StRÄndG v o m 11. 6.1957, BGBl. I, S. 957 u n d den von i h m neu eingeführten §§ 109 - 109 i, 363 StGB geschehen ist), oder die Kommandantur auf dem Erlaß von Berliner Sonderrecht besteht. 70 Wie ζ. B. das Bundeswahlgesetz v o m 7. 5.1956 (BGBl. I, S. 383), dessen § 54 eine Sonderregelung für die W a h l der Berliner Bundestagsabgeordneten trifft. 71 Vgl. ζ. B. die B e r l i n - K l a u s e l des § 40 des Parteiengesetzes v o m 24. 7.1967 (BGBl. I, S. 773), die B e r l i n aus dem Geltungsbereich seiner §§ 32, 33 u n d 38 aussondert. Ähnlich auch die Berlin-Klausel i n § 12 des Gesetzes zu A r t . 10 GG v o m 13. 8.1968 (BGBl. I, S. 949), nach der A r t . 2 dieses Gesetzes teilweise u n d lediglich sein A r t . 3 i n toto i n B e r l i n gelten sollen. 1*
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lieh gestattet 72 . I m übrigen aber hat es dabei sein Bewenden, daß Berl i n zwar möglicherweise nicht unmittelbar an die Art. 70 f. GG gebunden ist, wohl aber gemäß Art. 87 Abs. 4 V v B auf sie Rücksicht nehmen muß. Auch wenn die A r t . 70 f. GG i n Berlin nicht gelten sollten, so kommt es also doch auch i n Berlin auf sie an. A r t . 87 Abs. 4 V v B verweist auf sie. A l l e i n m i t dem Hinweis, die A r t . 70 f. GG gälten in Berlin nicht, ist daher der A n t w o r t auf die Frage, ob Berlin an die zu ihrer Interpretation ergangenen Entscheidungen des BVerfG gebunden ist, nicht näherzukommen. Denn die Berliner Gerichte haben sich bei der Normenkontrolle über das von ihnen anzuwendende Landesrecht auch nach diesen Bestimmungen zu richten 7 3 . Deshalb muß geklärt werden, woran sie sich bei ihrer Auslegung zu halten haben: A l l e i n an ihre eigene Überzeugung oder an die tragenden Gründe eventuell entgegenstehender Präjudizien des BVerfG? A r t . 87 Abs. 4 V v B spricht eindeutig für das letztere. Er stellt eine Verbindung zwischen der Berliner Landesverfassung und dem Verfassungsrecht des Bundes her, die Berlin verpflichtet, sich auch bei seiner Gesetzgebung so zu verhalten, „als ob" es ein Land der Bundesrepublik wäre. Dieses Ziel würde nur zur Hälfte erreicht, wenn Berlin nur zur prinzipiellen Beachtung der A r t . 70 f. GG verpflichtet wäre, i m übrigen aber aus eigener Machtvollkommenheit bestimmen dürfte, wie sie i n Zweifelsfällen zu verstehen sind. Wie weit die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes i m einzelnen reichen, bestimmen nicht die Länder. Darüber kann nur der Bund selbst befinden. Alles andere widerspräche der Natur der Sache. Denn es kann schwerlich richtig sein, daß 72 So verfuhr ζ. B. das Bundeswahlgesetz v o m 8. 7.1953 (BGBl. I, S. 470). Sein § 55 bestimmte: „(1) Das L a n d B e r l i n entsendet 22 Vertreter i n den B u n destag. (2) Das Nähere regelt ein Gesetz des Landes Berlin." B e r l i n hat i m Vorgriff darauf bereits am 7. 7.1953 ein Landesgesetz über die W a h l seiner Vertreter i m Bundestag (GVB1. S. 572) erlassen. I n seinem U r t e i l v o m 26. 7. 1972 (BVerfGE 34, S. 10 f.) hat das B V e r f G solche Vorgriffe auf noch nicht i n K r a f t gesetzte Ermächtigungen für verfassungswidrig erklärt. Ihre Zulässigkeit hängt seither auch i n B e r l i n davon ab, ob sein Landesgesetzgeber auch an dieses U r t e i l u n d seine tragenden Gründe gebunden ist. 73 Die Bundesgerichte brauchen sich allerdings m i t der Frage, ob ein B e r liner Landesgesetz unzulässigerweise i n eine dem B u n d zustehende Kompetenz eingebrochen ist, nicht zu beschäftigen. Für sie hat es sein Bewenden dabei, daß die A n t w o r t p r i m ä r von A r t . 87 Abs. 4 V v B abhängt. Dieser aber ist Berliner Landesrecht, über dessen Auslegung u n d Anwendung die Berliner Gerichte abschließend entscheiden. A u f die Rüge, i n der Vorinstanz sei A r t . 87 Abs. 4 V v B falsch angewendet worden, dürfen sie daher nicht eingehen (vgl. die §§ 549 Abs. 1 ZPO, 137 V w G O , 118 FGO). Anders allerdings die §§ 337 StPO u n d 72 A r b G G , die auch Revisionen zulassen, m i t denen die V e r letzung von Landesrecht gerügt w i r d .
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sich die Länder einerseits aller Einbrüche i n die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes zu enthalten haben, andererseits aber jedes für sich die Scheidelinie zwischen seiner eigenen und der Gesetzgebungskompetenz des Bundes festlegen dürfte. I m Bundesgebiet schließt dies das GG dadurch aus, daß es das Bundesverfassungsgericht zur verbindlichen Entscheidung über alle etwaigen Kompetenzkonflikte zwischen dem Bund und den Ländern berufen hat. I n Berlin dagegen löst A r t . 87 Abs. 4 V v B diese Aufgabe. Es wäre nämlich auch hier verfehlt, die A r t . 70 f. GG zur i m Rahmen des Möglichen verbindlichen Richtschnur zu erheben, u m i m übrigen dem Berliner Gesetzgeber wie der Berliner Justiz zu gestatten, sie ohne jeden Blick auf ihre i m Bundesgebiet verbindliche Auslegung durch das BVerfG zu interpretieren. Vielmehr ist davon auszugehen, daß Art. 87 Abs. 4 V v B nicht nur auf den Text der A r t . 70 f. GG, sondern auch auf die zu seiner Interpretation ergangenen BVerfG-Entscheidungen verweist. Selbst wenn die A r t . 70 f. GG i n Berlin nicht unmittelbar gelten sollten, so sind daher die Berliner Gerichte auch an die tragenden Gründe solcher Entscheidungen des BVerfG gebunden, die westdeutsches Landesrecht wegen seiner Unvereinbarkeit mit einer Kompetenz des Bundes aufheben. Auch diese Bindung beruht nicht etwa auf § 31 BVerfGG. Sie ergibt sich vielmehr aus A r t . 87 Abs. 4 V v B und somit aus dem Berliner Landesrecht. IV. I n den vorausgegangenen beiden Abschnitten standen die Bindungen i m Vordergrund, m i t der die Rechtsprechung des BVerfG über das Einfallstor der obersten Bundesgerichte und ihrer revisionsgerichtlichen Kontrolle über die Berliner Justiz auf Berlin einwirkt. Bereits A r t . 87 Abs. 4 V v B hat jedoch gezeigt, daß es auch Bindungswirkungen gibt, die Berlin ohne das Dazwischentreten von Bundesgesetzen und Bundesgerichten erreichen und dort nicht nur die Justiz, sondern auch den Landesgesetzgeber i n ihren Bann schlagen. A r t . 87 Abs. 4 V v B ist jedoch nicht das einzige Bindeglied, das Berlin zur Rücksichtnahme auf die Judikatur des BVerfG verpflichtet. Das gleiche ergibt sich auch schlechthin aus der i n A r t . 87 Abs. 3 V v B 7 4 angeordneten Geltung des 74
Er lautet: „Soweit i n der Ubergangszeit die Anwendung des Grundgesetzes f ü r die Bundesrepublik Deutschland i n B e r l i n keinen Beschränkungen unterliegt, sind die Bestimmungen des Grundgesetzes auch i n B e r l i n geltendes Recht. Sie gehen den Bestimmungen der Verfassung vor. Das Abgeordnetenhaus kann i m Einzelfall m i t Zweidrittel-Mehrheit der anwesenden Mitglieder anders beschließen. A r t . 85 der Verfassung findet sinngemäß A n wendung." Z u r Bedeutung der letzten beiden Sätze Näheres unter Ziff. V/1.
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materiellen Teils des GG für Berlin. Sie bekräftigt die vorwiegend aus der Rechtslage der Berliner Justiz abgeleiteten Ergebnisse und verleiht ihnen darüber hinaus auch für die gesetzgebende Gewalt und die Verwaltung Berlins Gültigkeit. Daß A r t . 87 Abs. 3 das GG i n seinem Gebiet nur als vom Bund vorformuliertes, ansonsten aber jeder Berliner Eigentümlichkeit offenes Rohmaterial i n Geltung gesetzt hätte, wäre sicher falsch. Das Bestreben Berlins ging eindeutig dahin, seine Staatsgewalt soweit als möglich den gleichen verfassungsrechtlichen Beschränkungen zu unterwerfen, wie sie auch die übrigen Bundesländer auf sich genommen haben. Dieses Ziel setzt mehr voraus als nur die Übernahme des bloßen Grundgesetztextes. Denn diesem hat erst die Rechtsprechung des BVerfG konkrete Gestalt und exakte rechtliche Aussagekraft verliehen. Würde all das, was das BVerfG zu seiner Präzisierung und Konkretisierung beigesteuert hat, nur das Staatsrecht der Bundesrepublik prägen, Berlin aber beiseite lassen, so würde i n Berlin entgegen Art. 87 Abs. 3 V v B nicht das GG der Bundesrepublik, sondern nur sein Wortlaut i n einer anderen, eben der Berliner Lesart gelten. Das aber ist ersichtlich nicht der Sinn des A r t . 87 Abs. 3 VvB. Da ihn die Kommandantur i m Gegensatz zu dem von ihr suspendierten A r t . 1 Abs. 3 V v B 7 5 ausdrücklich gutgeheißen hat 7 6 , besteht auch kein Anlaß, i h m einen solchen Sinn zu unterlegen. Sie bekräftigte zwar auch i n ihrem Genehmigungsschreiben zur VvB, daß eine Einbeziehung Berlins in den Bund als 12. Bundesland nicht i n Betracht komme. Das aber schließt lediglich die unmittelbare Zuständigkeit des BVerfG zur Entscheidung über Berliner Sachen aus. Berlin darf daher nicht selbst vor dem BVerfG als Kläger, Beklagter oder Beteiligter auftreten. Daß es aber gehindert wäre, die maßgeblichen Verfassungsinterpretationen des BVerfG auch für sich als verbindlich anzuerkennen, ist damit nicht gesagt. Wäre das richtig, so müßte sich Berlin vom BVerfG weiter distanzieren als vom Bundesgesetzgeber. Auch diesem durfte es keinen unmittelbaren Einfluß auf das i n seinem Gebiet anzuwendende Recht einräumen. Aber es durfte sich immerhin zur Übernahme des Bundesrechts verpflichten, u m wenigstens auf diese Weise seine Rechtseinheit mit dem Bund zu bewahren. Das für sich allein genügt freilich nicht, um 75
„Grundgesetz u n d Gesetze der Bundesrepublik Deutschland sind f ü r B e r l i n bindend." 76 Vgl. das Genehmigungsschreiben zur V v B v o m 29. 8.1950 (VOB1. I, S. 440). Es besagt unter Ziff. 2: „(b) Absätze 2 u n d 3 des A r t . 1 werden zurückgestellt. (c) A r t . 87 w i r d dahingehend aufgefaßt, daß während der Übergangsperiode B e r l i n keine der Eigenschaften eines zwölften Landes besitzen wird."
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die Rechtseinheit zwischen Berlin und dem Bund aufrechtzuerhalten. Sie steht und fällt darüber hinaus mit der für beide Seiten geltenden Einheit i n ihrem Bekenntnis zu den tragenden Verfassungsnormen des GG. Diese erhalten ihre verbindliche Gestalt durch die Rechtsprechung des BVerfG. Wenn sie für Berlin und den Bund einheitlich gelten sollen, so bedarf also auch die Rechtsprechung des BVerfG eines Transmissionsriemens, der ihre i m Bundesgebiet auf § 31 BVerfGG beruhende Verbindlichkeit nach Berlin überträgt. Nach der i n der Literatur vorherrschenden Meinung 7 7 besorgen die Organe Berlins diese Transmission dadurch, daß sie die Autorität des BVerfG freiwillig anerkennen und seiner Judikatur aus eigenem A n trieb Beachtung schenken. Die dem BVerfG nur freiwillig geleistete und somit jederzeit auf kündbare Gefolgschaft reicht jedoch nicht aus. Auch die Übernahme der Bundesgesetze vollzieht Berlin nicht so freiwillig, daß es sie nach Belieben verweigern dürfte. Wenn A r t . 87 Abs. 4 V v B Berlin dabei eine Rechtspflicht auferlegt, so tut A r t . 87 Abs. 3 V v B das gleiche insoweit, als es u m die Transformation der i m Bundesgebiet verbindlichen BVerfG-Judikatur in Rechtsgrundsätze geht, die auch i n Berlin Verbindlichkeit besitzen. Für diese Transformation gibt es allerdings kein ausdrückliches geregeltes, förmliches Übernahmeverfahren. Aber das bedeutet keineswegs, daß jede Berliner Instanz i n jedem von ihr zu behandelnden Einzelfall frei über die Übernahme der in einer BVerfG-Entscheidung enthaltenen tragenden Gründe befinden dürfte. Denn es kann schwerlich richtig sein, daß Berlin ζ. B. das bevorstehende Hochschulrechtsrahmengesetz des Bundes w i r d übernehmen und sein Universitätsgesetz i h m anpassen müssen, daß aber über die Anpassung dieses Gesetzes an das Urteil des BVerfG vom 29. Mai 1973 (BVerfGE 35, S. 79 f.) zunächst der Senat, dann der Gesetzgeber und schließlich die Verwaltungsgerichte von Berlin jeweils gesondert und m i t unterschiedlichem Resultat entscheiden, d. h. wählen könnten, ob sie sich an das Urteil selbst oder an die abweichende Meinung der beiden überstimmten Richter halten wollen 7 8 . I m Bundesgebiet genießt dieses Urteil ähnliche 77
Vgl. Wengler, Festschrift für Leibholz, Bd. 2, S. 960 u n d Pestalozzi AöR 96 (1971), S. 80. 78 B e r l i n hat dem U r t e i l den Vorzug gegeben u n d inzwischen versucht, sein Universitätsgesetz durch Gesetz v o m 19.11.1973 (GVB1. S. 1936) von den Unvereinbarkeiten m i t A r t . 5 Abs. 3 GG zu bereinigen, die das B V e r f G am Beispiel des i n vielem gleichgelagerten nds. Vorschaltgesetzes aufgezeigt hat. Ob dieser Versuch gelungen ist, bleibt eine andere Frage. Die A n t w o r t w i r d B e r l i n erneut aus Westdeutschland beziehen müssen, wenn das B V e r f G ein weiteres M a l über das nds. Hochschulrecht entscheiden w i r d .
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Verbindlichkeit, wie sie künftig das Hochschulrechtsrahmengesetz des Bundes beanspruchen wird. A l l e i n die Tatsache, daß i n Berlin nur für das Hochschulrechtsrahmengesetz ein Übernahmeverfahren zu Gebote steht, ist jedoch kein zureichender Grund, die rechtliche Verbindlichkeit des Urteils vom 29. M a i 1973 auf das Bundesgebiet zu begrenzen. Ein besonderes Übernahmeverfahren für bundesverfassungsgerichtliche Erkenntnisse fehlt i n Berlin nämlich nicht etwa deshalb, weil sie nicht übernommen werden sollen. Es fehlt lediglich deshalb, weil zum einen keine Instanz ersichtlich ist, die es betreiben könnte 7 9 , und weil es zum andern nicht benötigt wird, weil A r t . 87 Abs. 3 V v B ohnehin für die Transformation ihrer bundesrechtlichen Bindungswirkung i n eine solche des Berliner Landesrechts sorgt.
V. Bei alledem darf freilich nicht verkannt werden, daß die Rechtsprechung des BVerfG den i n Berlin gültigen Vorschriften des GG unter Umständen auch eine Wendung geben könnte, die mit den Berlin-Vorbehalten der Alliierten nicht i n Einklang zu bringen ist. Auch wenn sich i n der Vergangenheit nichts ereignet hat, was i n diese Richtung deuten würde, so muß diese Möglichkeit doch i n die Überlegungen miteinbezogen werden. Denn alles, was i m Vorstehenden über die Rechtsprechung des BVerfG und ihre Verbindlichkeit für Berlin gesagt wurde, bricht i n sich zusammen, wenn es auch den Fall einer echten Kollision dieser Rechtsprechung m i t dem Sonderstatus Berlins miterfassen würde. Aber auch diese Sorge erweist sich bei näherem Zusehen als unbegründet. Es gibt genügend Wege, die aus ihr herausführen. 1. A r t . 87 Abs. 3 Satz 3 V v B 8 0 , der sich i n diesem Zusammenhang als M i t t e l der Wahl anzubieten scheint, h i l f t allerdings nicht weiter. Er überläßt es zwar dem Abgeordnetenhaus, einzelne Bestimmungen des GG, die an sich in Berlin gelten, m i t Zweidrittel-Mehrheit wieder außer Kraft zu setzen. Das legt es nahe, dieses Verfahren auch zur Musterlösung für die Bewältigung von Kollisionen zwischen der BVerfG-Judikatur und dem Sonderstatus Berlins auszubauen. 79 Der Senat könnte allerdings die i m BGBl, publizierten Entscheidungsformeln der BVerfG-Entscheidungen ebenso i m Berliner GVB1. verkünden w i e die Rechtsverordnungen des Bundes. Aber das hätte nur deklaratorische Bedeutung. Außerdem w ü r d e dieses Verfahren m i t den Normenkontrollentscheidungen n u r einen T e i l der B V e r f G - J u d i k a t u r erfassen u n d so dem I r r t u m Vorschub leisten, B e r l i n sei n u r an sie, nicht aber auch an die tragenden Gründe der nicht publikationsfähigen Urteilsformeln gebunden. 80 Vgl. seinen oben i n Fn. 74 wiedergegebenen Text.
B i n d u n g Berlins an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
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A r t . 87 Abs. 3 Satz 3 V v B galt jedoch nur befristet für die erste Wahlperiode des Abgeordnetenhauses 81 . Selbst während dieser kurzen Geltungszeit durfte er nur insoweit fruchtbar gemacht werden, „als es zwecks Vorbeugung eines Konflikts zwischen diesem Gesetz (dem GG) und der Berliner Verfassung erforderlich ist" 8 2 . Art. 87 Abs. 3 Satz 3 verschaffte daher dem Abgeordnetenhaus nur Gelegenheit, nach der Verabschiedung der V v B noch einmal zu prüfen, ob das von ihr übernommene materielle Verfassungsrecht des Bundes auch allen denjenigen Vorschriften des Berliner Landesverfassungsrechts i m Range vorgehen soll, die mit i h m unvereinbar sind 8 3 . Diese Gelegenheit hat das Abgeordnetenhaus ungenutzt verstreichen lassen. M i t dem Ablauf seiner ersten Wahlperiode ist A r t . 87 Abs. 3 Satz 3 V v B daher obsolet geworden. Er läßt sich nicht mehr wiederbeleben. 2. Des Rückgriffs auf den längst erloschenen A r t . 87 Abs. 3 Satz 3 V v B bedarf es jedoch nicht. Die Organe Berlins haben ohnehin auf die besondere Rechtslage ihrer Stadt Rücksicht zu nehmen. Denn die A l l i ierten Vorbehalte, auf denen sie beruht, überlagern i n Berlin die m i t ihnen unvereinbaren Vorschriften des GG. Wenn daher das BVerfG einer Vorschrift des GG eine Wendung geben sollte, die sich m i t dem Sonderstatus Berlins nicht verträgt, so liegt es i n der Natur der Sache, daß es dies nur m i t Wirkung für das Bundesgebiet tun kann. I n Berlin hingegen gilt i n solchen Fällen das GG kraft Alliierten Rechts ausnahmsweise mit zum Teil anderem sachlichen Gehalt als i m Bundesgebiet. Damit aber entfällt die Grundlage für eine Bindung Berlins an eventuelle der Rechtslage Berlins nicht angepaßte Entscheidungen des BVerfG. Denn diese legen Verfassungsnormen aus, die so, wie sie das Gericht auf den von i h m behandelten Sachverhalt anwenden mußte, i n Berlin keine Anwendung finden. 3. Davon ganz abgesehen, stehen der Kommandantur die Widerspruchsrechte zur Verfügung, die sie sich gegen alle Hoheitsakte Berlins vorbehalten hat. Wenn sie es für notwendig erachten sollte, dem 81 Das ergibt sich aus dem Verweis des A r t . 87 Abs. 3 Satz 4 V v B auf A r t . 85, der bestimmt, daß m i t der V v B unvereinbares vorkonstitutionelles Recht „innerhalb der vierjährigen ersten Wahlperiode v o m Abgeordnetenhaus außer K r a f t zu setzen" sei. 82 So das Genehmigungsschreiben der Kommandantur zur V v B (s. oben Fn. 76) sowie Lush (Fn. 16), S. 755. 83 Anlaß dazu hätten z.B. bieten können: A r t . 9 Abs. 3 V v B , der m i t A r t . 104 Abs. 2 Satz 3 G G nicht ganz übereinstimmt; A r t . 15 Abs. 2 V v B , der E n t eignungen ohne Entschädigungsjunktim zuläßt, u n d A r t . 16 V v B , der über A r t . 15 GG insoweit hinausgreift, als er nicht n u r zur Sozialisierung ermächtigt, sondern „private Monopolorganisationen" automatisch u n d entschädigungslos verbieten wollte.
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Reinhard Mußgnug
Gesetzgeber, der Regierung, der Verwaltung oder der Justiz Berlins das Befolgen eines BVerfG-Urteils und seiner tragenden Gründe zu untersagen, so steht es ihr frei, sich ihrer zu bedienen. M i t der Intervention gegen den Niekisch-Beschluß des BVerfG 8 4 hat die Kommandantur bereits unter Beweis gestellt, daß sie davon Gebrauch zu machen versteht. Kein Grund also zu der Annahme, daß sie sich gegen andere in westdeutschen Sachen ergangene Urteile nicht durchzusetzen wüßte, wenn sie es für untunlich halten sollte, daß die Organe Berlins sich nach ihnen richten. VI. Die Sonderstellung Berlins w i r d nach alledem durch die Verbindlichkeit, die der BVerfG-Rechtsprechung auch in seinem Gebiet zukommt, nicht beeinträchtigt. Die besondere Rechtslage Berlins manifestiert sich hinreichend darin, daß das BVerfG weder von Berlin noch gegen Berlin und seine Staatsgewalt angerufen werden kann. I m übrigen aber gilt zwischen Berlin und dem BVerfG der Satz: „For a number of purposes B e r l i n is treated and behaves as if i t were a L a n d of the Federal Republic 8 5 ."
Zu den Zusammenhängen, in denen Berlin so zu behandeln ist und sich so benimmt, als ob es ein Land der Bundesrepublik wäre, gehört auch die Bindung seiner Organe an die i m Bundesgebiet ergangenen Entscheidungen des BVerfG. Wenn Berlin ihnen und ihren tragenden Gründen folgt, so tut es nicht nur den Regeln des politischen Anstands Genüge. Seine Gerichte, seine Verwaltung und sein Gesetzgeber erfüllen damit auch eine rechtliche Pflicht. Sie wurde ihnen nicht vom Bund auferlegt. Berlin hat sie i n seiner Landesverfassung, m i t der Übernahme des Dritten Überleitungsgesetzes des Bundes und mit der Eingliederung seiner Gerichte i n das Gerichtssystem des Bundes selbst auf sich genommen und damit weder seiner besonderen Rechtslage noch seiner Ausklammerung aus der eigentlichen Jurisdiktionsgewalt des BVerfG zuwidergehandelt 86 . 84
S. oben unter Ziff. 1/3. So Lush (Fn. 16), S. 782. 8e Das Manuskript wurde i m Dezember 1973 zum Druck gegeben. Der Beschl. des B V e r f G v o m 27. 3. 1974 i m Ingrid-Brückmann-Fall (DÖV 1974, S. 309 f.) konnte daher ebensowenig berücksichtigt werden wie die an i h n anknüpfenden, bislang n u r aus der Tagespresse bekannten Entscheidungen des KG. Was aus meiner Sicht der Dinge an Grundsätzlichem zu den Konsequenzen anzumerken ist, die das K G aus dem Beschluß des BVerfG zog (oder genauer: nicht zog), hoffe ich, auch ohne näheres Eingehen auf die Vorgänge u m den Fall Brückmann hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht zu haben. 85
I I I . Grundrechte
Herkunft und Entwicklung der Klausel „allgemeine Gesetze" als Schranke der Kommunikationsfreiheiten in Artikel 5 Abs. 2 des Grundgesetzes Von Christian Starck I. Das Problem Freiheitsrechte gelten nicht schrankenlos. Meistens sagt die Verfassung dies ausdrücklich durch Klauseln wie: das Grundrecht „kann durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden", die Ausübung des Freiheitsrechts „kann durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden" oder „Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt". I n A r t . 5 Abs. 2 GG ist der Gesetzesvorbehalt hiervon abweichend formuliert, indem u. a. die „Vorschriften der allgemeinen Gesetze" als Schranken der dort genannten Kommunikationsfreiheiten bezeichnet werden. — Kaum eine andere Grundrechtsschranke hat Rechtsprechung 1 und Schrifttum 2 so stark beschäftigt wie die der allgemeinen Gesetze. I n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Begriff der „allgemeinen Gesetze" noch keine eindeutigen Konturen gewonnen 3 . Die Interpretationsvorschläge der Autoren sind kontrovers. Das zeigt sich insbesondere an den jeweiligen Konsequenzen für die Lösung aktueller staatsrechtlicher Streitfragen. — Jüngst hat der Jubilar, dem dieser Beitrag gewidmet ist, in zwei Studien zum Begriff der allgemeinen Gesetze4 und zu Konsequenzen aus diesem Begriff für die Bestrebungen u m „innere Pressefreiheit" 5 Stellung genommen. Danach ist keine i n Betracht kommende Regelung der inneren 1
Ubersicht bei W. Schmitt Glaeser, Die Meinungsfreiheit i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR Bd. 97 (1972), S. 276 - 298. 2 Ubersicht bei E. Schwark, Der Begriff der „Allgemeinen Gesetze" i n A r t i k e l 5 Absatz 2 des Grundgesetzes, 1970, S. 44 - 80. 3 Das k a n n am L ü t h - U r t e i l (BVerfGE 7, 198, 210) gezeigt werden. I m Südk u r i e r - U r t e i l (BVerfGE 21, 271, 280, 290) stehen formale u n d materiale A r gumentation nebeneinander; dazu Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes 1970, S. 63 ff. 4 W. Weber, „Allgemeines Gesetz" und „ f ü r alle geltendes Gesetz", i n : Festschrift f ü r E. R. Huber, 1973, S. 183 - 187. 5 W. Weber, Innere Pressefreiheit als Verfassungsproblem, 1973, S. 43 ff.
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Christian Starck
Pressefreiheit als allgemeines Gesetz i m Sinne von A r t . 5 Abs. 2 GG darstellbar 6 . Dagegen sieht z. B. Kübler 7 i n seinem Gutachten über die innere Pressefreiheit die Schranke der allgemeinen Gesetze nicht als Hindernis zur gesetzlichen Regelung der inneren Pressefreiheit an. Eine Marktanteilsbegrenzung für Verlagsunternehmen w i r d i m Bericht der Günther-Kommission m i t der Schrankenregelung des A r t . 5 Abs. 2 für vereinbar angesehen8. Dagegen scheitert nach Kuli ein Antikonzentrationsgesetz an Art. 5 Abs. 2 9 . I m folgenden soll zu diesen Streitfragen nicht eine eigene alle Auslegungsgesichtspunkte umfassende Stellungnahme erarbeitet werden. Das Ziel des Beitrags besteht vielmehr nur darin, der bisher sehr vernachlässigten Frage 1 0 der Herkunft und begrifflichen Entwicklung des Ausdrucks „allgemeine Gesetze" als Schranke der Kommunikationsfreiheiten nachzugehen. Wenn das Grundgesetz eine Klausel aufnimmt, die sich als Schranke von Kommunikationsfreiheiten zumindest bis i n das Jahr 1814 i n Rechtsurkunden zurückverfolgen läßt, so dürfte das Ergebnis solch einer Betrachtung für die Auslegung der jetzt geltenden verfassungsrechtlichen Schrankenformel von Interesse sein. Hält der Verfassungsgeber nämlich an einer traditionsreichen Formel fest, so übernimmt er damit auch die begriffliche Bedeutung, falls nicht die übrigen Verfassungsnormen zu einer abweichenden Interpretation zwingen und damit den Begriff wandeln 1 1 . II. Die vormärzliche Zeit Die Geschichte der Klausel von den allgemeinen Gesetzen als Grenzen der Kommunikationsfreiheiten beginnt um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert i m Zusammenhang m i t dem Kampf gegen die Pressezensur 12 . Das Kommunikationsmittel ersten Ranges der damaligen Zeit war die Presse: Verbreiterin liberaler Ideen und schließlich Nutznießer i n der gewandelten politischen Verhältnisse. 6
W. Weber, ( = Anm. 5), S. 58. Empfiehlt es sich, zum Schutze der Pressefreiheit gesetzliche Vorschriften über die innere Ordnung von Presseunternehmen zu erlassen?, i n : V e r handlungen des 49. DJT, Bd. I, 1972, S. D 35 - 50 (bes. S. 38). 8 BT-Drucks. V/3 122, S. 46. 8 Kuli, Pressekonzentration u n d Pressefreiheit, DÖV 1968, S. 865; zurückhaltend dagegen W. Weber, ( = Anm. 5), S. 58. 10 Dies gilt auch für die Monographie von Schwark, ( = A n m . 2), S. 22 ff. 11 Über das Fortleben verfassungsrechtlicher Begriffe über die Geltung der Verfassung hinaus i n einer neuen Verfassung vgl. Starck, ( = Anm. 3), S. 15 ff., 71 ff. 12 Über die Rechtslage hinsichtlich der Zensur von 1524 - 1792 i n Deutschland siehe J. A. Collmann, Quellen, Materialien u n d Commentar des gemeinen deutschen Preßrechts, 1844, S. 1 - 4 1 . 7
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Die Einrichtung einer vor Veröffentlichung stattfindenden Zensur schließt i m strengen Sinne eine spätere rechtliche Verantwortlichkeit des der Zensur Unterworfenen aus und begründet höchstens eine rechtliche Verantwortlichkeit des Zensors. Die politische Forderung, die Zensur der Presseerzeugnisse abzuschaffen, warf die Frage der (strafrechtlichen) Verantwortlichkeit der in der Presse Tätigen auf. Statt der Prävention des Zensors sollte die Presse der Repression des Gesetzes und des Richters unterworfen werden. Volle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Presse bedingte also erstens die Abschaffung der Zensur und zweitens die Unterwerfung der für die Presseerzeugnisse Verantwortlichen unter das Strafgesetz, das die Geltung des von Feuerbach in aller Schärfe herausgearbeiteten Grundsatzes nulla poena sine lege sicherstellte 1 3 . 1. Adolph Dietrich Weber hat 1794 für „die Injurien der Schriftsteller" den Unterschied zwischen dem Zensurprinzip und dem Prinzip der strafrechtlichen Verantwortlichkeit klar herausgearbeitet 14 : „Wider die guten Sitten schreiben, kann nach den moralischen Grundsätzen des Censors einen sehr großen Umfang haben. Der Richter ahndet Unsittlichkeiten, die i n Beleidigungen und Injurien ausarten, vorausgesetzt, daß der Schriftsteller nach vorhandenen und richtig angewandten Strafgesetzen dieser Vergehung überwiesen worden ist." Weber sieht keine Gründe, „ w a r u m dieß ordentliche Mittel, von Verbrechen abzuschrecken, welches bei so vielen andern ungleich wichtigern Vergehungen hinreichend geachtet wird, nicht auch gegen Schmähschriften genügen sollte" 1 5 . Und so setzt sich A. D. Weber dafür ein, „die allgemeinen Grundsätze von der Injurie überhaupt, welche das Römische Recht darbeut, auf das Vergehen der Schriftsteller anzuwenden" 16 . Unmißverständlich hebt Weber das Justizsystem von der von i h m bekämpften Zensur ab: „ A u f dem Richterstuhl kann diese Willkühr, wegen des verschiedenen Verhältnisses der Policei und Justiz, der Censoren, Büchercommissarien und Richter, nicht ebenso Statt finden; vielmehr nur aus andern verbietenden Strafgesetzen, und allgemeinen Grundsätzen von der I n j u r i e 1 7 überhaupt, die Frage entschieden werden, ob der Inhalt eines Buchs wirklich beleidigend und strafbar sei, oder nicht 1 8 ?" 13
P. J. A. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen i n Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 2. Aufl. 1803, § 20. 14 Adolph Dietrich Weber, Über I n j u r i e n und Schmähschriften, 2. Abt. 1794, S. 163 ff. (183). 15 A. D. Weber, ( = A n m . 14), S. 174. 16 A. D. Weber, S. 184. 17 D a m i t meint Weber die gemeinen und besonderen ( = territorialen) Strafgesetze (S. 190 f.). 18 A. D. Weber, S. 188 f.
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Weber stellt als Konsequenz des Justizsystems die Strafgesetze und die allgemeinen Grundsätze über die Injurie als Schranken der Pressefreiheit heraus. Die allgemeinen Grundsätze über die Injurie sollen die rechtliche Möglichkeit abschneiden, besondere „Preßinjurien" zu schaffen, denen nur Presse- und nicht auch mündliche Verlautbarungen unterworfen sind. Z u den Strafgesetzen äußert sich Weber dahin, daß sie nicht alles verbieten dürfen, was die Moral mißbilligt 1 9 . Nach zeitgenössischen Äußerungen von Strafrechtlern ist der Staat berechtigt, Strafen anzudrohen „bey unerlaubten Handlungen, welche die vollkommenen Rechte seiner Mitglieder wirklich angreifen, und zugleich die öffentliche Ordnung stören. . . . A l l e i n wenn alle oben gedachte Voraussetzungen da sind, dann muß dem Verächter des Gesetzes ein Übel gedroht werden, welches i h n trift, so bald er die Ehrfurcht gegen die Gesetzgebung aus dem Auge setzt. Daraus entwickelt sich der Begriff von Strafe, und aus diesem jener eines Verbrechens" 20 . Weiter als der soeben zitierte Würzburger Strafrechtler Kleinschrod geht sein Breslauer Kollege Abegg, der auf das positive Recht als Beleg dafür hinweist 2 1 , „daß nicht bloß Rechts-Verletzungen, sondern auch Handlungen gegen die Sitte und Sittlichkeit, die selbst ein Recht ist und hat, dem Strafrecht verfallen können, wie auch bei Verbrechen gegen Religion und Kirche ein höherer Grund der Strafbarkeit eintritt". Abegg verwahrt sich i n diesem Zusammenhang gegen Theorien, die durch eine „irrige Losreißung des Rechts von seiner sittlichen Grundlage" zu einem entgegengesetzten Ergebnis führten. Von dem damals allgemein anerkannten Umfang der staatlichen Poenalisierungsbefugnis her gesehen läßt das von Weber geforderte Justizsystem eine offene Flanke, von der aus die Pressefreiheit ebenso nachhaltig unterdrückt werden kann, wie durch die Zensur. A l l e i n die kurze Äußerung Webers über die Poenalisierungsgrenze des Staates zeigt, daß er diese offene Flanke sieht und verbaut wissen w i l l . Freilich stellt sich die Frage der Poenalisierungsbefugnis des Staates deshalb noch nicht i n aller Schärfe, weil es für die Allgemeinheit des Gesetzes bereits genügte, daß i h m auch Meinungsäußerungen unterfielen, die nicht durch das Medium Presse begangen worden sind. 2. Die von Weber behandelten Probleme spielten i n Deutschland i m Zusammenhang mit der Freiheitsbewegung seit 1813 eine große prak19
A. D. Weber, S. 191. Gallus Aloys Kleinschrod, Systematische Entwicklung der Grundbegriffe u n d Grundwahrheiten des peinlichen Rechts nach der N a t u r der Sache u n d der positiven Gesetzgebung, I. Teil, 3. A u f l . 1805, S. 3. 21 J. Fr. H. Abegg, Lehrbuch der Strafrechts-Wissenschaft, 1836, § 8 Zusatz (S. 10). 20
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tische Rolle. Außerhalb der strengen historischen Reihenfolge sei hier zunächst über die Verhandlungen i n der Deutschen Bundesversammlung berichtet, die sich gemäß A r t . 18 lit. d der Deutschen Bundesakte v. 8. 6.1815 m i t der „Abfassung gleichförmiger Verfügungen über die Preßfreiheit . . . (zu) beschäftigen" hatte. — Hierzu erstattete der Gesandte von Berg ein Referat, i n dem er zum Zwecke einer systematischen Übersicht der verschiedenen Gesetzgebungen über die Pressefreiheit ein Justiz- und ein Polizeisystem jeweils m i t Varianten herausarbeitete: I m Justizsystem könne jeder „ungehindert drucken lassen, was er sich vor Gericht zu verantworten getraut"; wenn er die Pressefreiheit mißbrauche, müsse „er die Folgen sich gefallen lassen, welche die i m Allgemeinen auf Vergehen oder Verbrechen, die durch Schriften verübt werden können, anwendbaren Gesetze bestimmt haben". Der Gutachter zieht die Konsequenzen des reinen Justizsystems, indem er die zeitlich und räumlich gesteigerte Wirkung einer Pressestraftat gleichwohl nur nach den allgemeinen Gesetzen ahnden lassen w i l l : „Die Genugthuung und Sicherstellung für die Zukunft, welche der Beleidiger zu leisten hat, erhält zwar durch die A r t , wie die gesetzwidrige Handlung verübt ist, und durch die Notwendigkeit ihrer schädlichen Wirkung, welche die Aufbewahrung und Verbreitung einer Druckschrift gleichsam ins Unendliche ausdehnt, Einhalt zu thun, eine eigentümliche Richtung, w i r d aber nichts desto weniger nach allgemeinen Gesetzen bestimmt 2 2 ." Was von Berg m i t den allgemeinen Gesetzen meint, w i r d vollends deutlich aus den von i h m besprochenen Abweichungen vom reinen Justizsystem. I n dem Gutachten heißt es dazu: „ . . . das Justiz-System verändert beinahe seine Gestalt durch eine eigene, genau ins Einzelne gehende Strafgesetzgebung über Preß-Mißbräuche 23 ." Jeder besonderen Gesetzgebung über die Presse zu widerstreben, hält v. Berg zwar für übertrieben, warnt aber vor einer ausgeklügelten besonderen Preßgesetzgebung 24 . Denn dieser gegenüber „würden sehr bald Schriftsteller, Herausgeber, Verleger, Drucker, Verkäufer eine billige Censur als eine wohlthätige Zuflucht erkennen" 2 5 . Was die Unterwerfung der Presse unter die allgemeinen Strafgesetze bedeutet, macht von Berg schließlich mit einem übertreibenden — auch von i h m 22 v. Berg, Ubersicht der verschiedenen Gesetzgebungen über Preßfreiheit, besonders i n Deutschland, i n : Protokolle der Deutschen Bundesversammlung . . . 1818, Beilagen zu dem Protokoll der 51. Sitzung v. 12. Okt. 1818, S. 601 ff. (606). 23 S. 610. 24 v. Berg, ( = Anm. 22), S. 619 f. weist auf Frankreich als abschreckendes Beispiel hin, ebenso Biedermann, A r t . „Presse, Preßfreiheit, Preßgesetzgebung", i n : Rotteck/Welcher, Staatslexikon, 3. Aufl. (1864), Bd. 11, S. 728. 25 v. Berg, (= A n m . 22), S. 610; ähnlich Robert v. Mohl, Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg, 2. Aufl. 1 Bd. (1840), S. 359.
1 Festschrift für Werner Weber
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als übertrieben gekennzeichneten — Zitat Comtes deutlich 2 6 : „Die Presse kann ein Werkzeug der Beschädigung seyn: alle Welt ist darüber einverstanden. Aber sie hat dieß mit allen Gegenständen gemein, welche sich i n den Händen der Menschen befinden, und wenn es genug wäre, daß eine Sache zu einem bösen Zweck gebraucht werden kann, u m ein Gesetz über dieselbe notwendig zu machen; so würden w i r beinahe eben so viele Gesetze haben, als es Gegenstände i n der Natur giebt. W i r hätten ein Feuer-, ein Pulver-, ein Flinten-, ein Säbel-, ein Federund selbst ein Stimmgesetz. Ein besonderes über die Presse ist folglich unnütz: man muß sich m i t dem Bösen, welches geschehen kann, beschäftigen, und sich nicht um das Werkzeug bekümmern, womit es verübt werden kann." Von Berg spricht i m Gegensatz zu A. D. Weber ausdrücklich von den allgemeinen Gesetzen, schließt jedoch nicht jede besondere Gesetzgebung über die Presse aus. Von Berg w i l l m i t seinem Referat einen Überblick über die Pressegesetzgebung geben; er ordnet nach systematischen Gesichtspunkten und stellt dabei die Abweichungen vom reinen Justizsystem dar. Er nimmt unter pragmatischen, gesetzgebungspolitischen Gesichtspunkten Stellung dazu, wieweit ihm solche Abweichungen vertretbar erscheinen. Das Zitat von Comte zeigt, daß die geforderte A l l gemeinheit des der Presse Schranken setzenden Gesetzes nicht nur eine personelle, sondern auch eine sachliche Allgemeinheit ist. Denn Comte verlangt eine durch das Strafgesetz allgemein umschriebene Bestimmung des „Bösen", das bestraft werden soll. Die zur Regelung des „Bösen" verwandten besonderen Werkzeuge sollen bei der Poenalisierung außer Betracht bleiben. Eine i n der Zeitung gedruckte Beleidigung soll unter demselben Strafgesetz stehen wie eine mündlich geäußerte Beleidigung. — Bei der Bestimmung des Begriffs der allgemeinen Strafgesetze i m Vormärz ist darauf Bedacht zu nehmen, daß es i n diesem Stadium des politischen Kampfes u m Pressefreiheit darum ging, die Presse nur den Strafgesetzen zu unterwerfen, die auch für andere Formen der Meinungsäußerung gelten. Das Referat von Bergs war Gegenstand der Sitzung der Bundesversammlung v. 12. Okt. 1818 27 ; es hat auf die knapp ein Jahr später erlassenen provisorischen Bestimmungen hinsichtlich der Freiheit der Presse v. 29. 9.1819 28 (sog. Zensurgesetz des Bundes), die die Rechtslage bis zum März 1848 bestimmt haben, keinen inhaltlichen Einfluß genommen. Gleichwohl hat es durch seine pointierte Herausarbeitung der 26
υ. Berg, ( = A n m . 22), S. 611. Vgl. Protokolle, ( = A n m . 22), S. 538. 28 E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, (1961), S. 91 f. 27
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Pressesysteme Langzeitwirkung entfaltet und Begriffsverfälschungen erschwert 29 . 3. Die Garantie der Pressefreiheit und die straf gesetzlich bestimmte Verantwortlichkeit für Presseveröffentlichungen fand Eingang i n viele deutsche Verfassungen, Pressegesetze und -erlasse aus der Zeit von 1814 bis 1819, die v. Berg i n seinem Referat zum größten Teil schon verwerten konnte. Besonders hervorgehoben sei das landesherrliche Edikt des Herzogthums Nassau v. 4. und 5. 5.1814 über den Buchhandel 30 . Es handelt sich hierbei um das zeitlich erste m i r bekannt gewordene Dokument, in dem die allgemeinen Gesetze ausdrücklich als ausreichende Schranke der Pressefreiheit bezeichnet werden 3 1 . I n der Präambel und i m anschließenden § 1 heißt es: „ W i r befürchten keinen Misbrauch, der nicht schon durch die allgemeinen Gesetze des Landes beschränkt wäre; W i r haben demnach beschlossen und verordnen hiermit, wie nachfolgt: § 1 Alle bisher bestandene und um der frühern nun veränderten äußern Staatsverhältnisse willen i n Unserm Herzogthume angeordnete Beschränkungen des Buchhandels und der Preßfreiheit sind aufgehoben". Das württembergische Gesetz über die Preßfreiheit vom 30.1.1817 32 erlaubt i n § 2, „alles ohne Censur drucken zu lassen und alles Gedruckte zu verbreiten, dessen Inhalt nicht durch gegenwärtiges Gesetz oder künftig i m verfassungsmäßigen Wege errichtete Gesetze für ein Verbrechen oder Vergehen erklärt w i r d " 3 3 . I n der später erlassenen Ver29 dazu F. Schneider, Pressefreiheit u n d politische Öffentlichkeit 1966, S. 214, 216. 30 Verordnungsblatt des Herzogthums Nassau 1814, S. 47 f. Dieses E d i k t w i r d i n der Präambel des landesherrlichen Verfassungsedikts v o m 1. und 2. 9.1814 i n Bezug genommen, vgl. Verordnungsblatt, S. 68. 31 I n dieser Richtung aber schon der auf das dänische Gesetz v. 14. 9.1770 folgende königliche Erlaß (1771), der die Schranken der Pressefreiheit dahin erklärt, „daß, so wie es niemals erlaubt gewesen, sich der Preßfreiheit auf eine sträfliche Weise zu bedienen, u m andere bürgerliche Gesetze zu übertreten, also auch alle Injurien, Passquille und aufrührerische Schriften nach wie vor, der gesetzlichen Strafe unterworfen bleiben" (zitiert nach v. Berg, ( = Anm. 22), S. 623). 32 Abgedruckt i n : Die Constitutionen der europäischen Staaten seit den letzten 25 Jahren (ohne Hrsg.), 3. Theil (1820), S. 163 f. 33 Gem. § 13 sind die i m Gesetz normierten Übertretungen als Verbrechen u n d Vergehen anzusehen. „Sie werden nach Maaßgabe sowohl der gemeinrechtlichen Verordnungen, als der vaterländischen Gesetze über Blasphemie, Profanation des Heiligen, Hochverrath, Landesverrath, Verbrechen der beleidigten Majestät, Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit u n d I n j u r i e n , nach dem Verhältnisse der höhern u n d niedern Schädlichkeit, des größern oder ger i n g e m Grades von Vorsatz oder Schuld, u n d dem hiernach sich bestimmenden Ermessen des Richters bestraft". Entsprechend A.D. Weber, (= Anm. 14), S. 190 f. Z u m w ü r t t . Preßgesetz vgl. v. Mohl, Das Staatsrecht des K ö n i g reichs Württemberg, 2. Aufl. 1840, Bd. I, S. 359 f.
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fassungsurkunde vom 25. 9.1819 w i r d i n § 28 die Freiheit der Presse gewährleistet „jedoch unter Beobachtung der gegen den Mißbrauch bestehenden oder künftig zu erlassenden Gesetze" 34 . I n den deutschen Verfassungen der dreißiger Jahre w i r d — freilich abgeschwächt durch Bezugnahme auf einschränkende Bundesgesetze 35 — die Pressefreiheit gewährleistet: entweder w i r d „gegen Preßvergehen ein besonderes Gesetz" i n Aussicht gestellt 3 6 oder es w i r d die alte Mißbrauchsformel der württembergischen Verfassung verwendet 3 7 . 4. Die von liberalen Autoren 38 stammenden Publikationen über Pressefreiheit halten auch unter der Geltung des Bundeszensurgesetzes den Gedanken wach, daß Pressefreiheit nur dann besteht, „wenn der Staat jedem erlaubt, ohne vorherige spezielle Genehmigung drucken zu lassen, was er w i l l , . . . auf die Gefahr hin, daß bei allenfalls eintretender Strafbarkeit das gesetzliche gerichtliche Verfahren eingeleitet werde" 3 9 . — I n einer frühen anonymen Sammlung der Constitutionen der europäischen Staaten von 1817 heißt es i m Hinblick auf SachsenWeimar: „Gegen die gedruckte Injurie und Blasphemie gelte keine andere Strafe, als die i m Gesetzbuch bestimmte gegen die gesagte und thätliche 40." A. D. Weber bleibt auch i n der 4. Auflage seines Werkes über Injurien von 1820 bei den oben zitierten Aussagen 41 . 5. Der Ausdruck der allgemeinen Gesetze als Schranke der Pressefreiheit taucht i m Kampf gegen Zensur und für Pressefreiheit auf. Von der einleitend aufgeworfenen Frage nach der Entwicklung des Begriffs der allgemeinen Gesetze her gesehen war zu prüfen, wie bei A b lehnung jeder Zensur Pressefreiheit und deren Schranken rechtlich konstruiert wurden. Dabei ist nicht außer acht gelassen worden, daß i m Vormärz vor allem gegen die Zensur gekämpft wurde und wegen 34 H. A. Zachariä (Hrsg.), Die deutschen Verfassungen der Gegenwart, 1855, S. 300; ähnlich Verfassung des Großherzogthums Hessen v. 17.12.1820, § 35, abgedruckt, S. 405. 35 I n erster L i n i e ist das bereits erwähnte Zensurgesetz gemeint (vgl. A n m . 28). 36 § 37 der Verfassungsurkunde von Kurhessen v. 5.1.1831, Zachariä (= Anm. 34), Zweite Fortsetzung, 1862, S. 92. 37 § 35 der Verfassungsurkunde des Königreichs Sachsen v. 4. 9.1831, Zachariä, ( = A n m . 34), S. 166; § 31 der Neuen Landschaftsordnung für das Herzogthum Braunschweig v. 12.10.1832, Zachariä, ( = A n m . 34), S. 699. 38 Über Begriffsverfälschungen durch zensurfreundliche Autoren vgl. F Schneider, ( = Anm. 29), S. 215 f. 39 So Jaup, A r t . „Preßfreiheit; freie Presse; Freiheit der Presse; gesetzliche Preßfreiheit", i n : Rott eck/ W eicker, Staatslexikon, 13. Bd. 1842, S. 333. 40 Die Constitutionen der europäischen Staaten seit den letzten 25 Jahren, I I . Theil, 1817, S. 330. 41 Vgl. 4. Aufl. 1820, 2. Abt. S. 183, 174, 184, 188 f.
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des bis März 1848 geltenden Bundeszensurgesetzes die Zeit noch nicht gekommen war, ein der Pressefreiheit freundliches Justizsystem i n allen Einzelheiten auszuarbeiten. — Immerhin läßt sich aber i m Hinblick auf unsere Fragen schon folgendes mit Bestimmtheit festhalten: a) Der Pressefreiheit sollen nur durch förmliche Gesetze und durch die allgemeinen Grundsätze über die Injurie Schranken gezogen werden können. b) Die Formeln von den allgemeinen Gesetzen (nassauisches Edikt, v. Berg) und von den allgemeinen Grundsätzen der Injurie (A. D. Weber) sollen zugunsten der Pressefreiheit die Kompetenz des Gesetzgebers einengen, beliebige Schranken zu setzen. c) Diese den Gesetzgeber einengenden Formeln beziehen sich nicht allgemein auf alle Kommunikationsgrundrechte, sondern nur auf die Pressefreiheit. I m politischen Kampf u m Preßfreiheit ging es darum, Presseveröffentlichungen nicht schärferen oder anderen Strafgesetzen zu unterwerfen als sie für andere Meinungsäußerungen und Verlautbarungen galten. Das auf Meinungsäußerungen bezogene Strafrecht (Injurien usf.) stand nicht zur Debatte. d) Die Formel von den allgemeinen Gesetzen ist insofern noch ambivalent, als sie entweder das allgemeine Straf recht meint: also Mißbrauchswehr nur durch allgemeine Strafgesetze (so bei A. D. Weber, v. Berg), oder zum Ausdruck bringt, daß auch verwaltungsrechtliche Maßnahmen (Konzessionen, Kautionen usf.) als pressebezogenes Recht wegfallen sollen (so nassauisches Edikt). I I I . Preußische Verfassung und Paulskirche Die zweite Epoche der deutschen Verfassungs- und Pressegesetzgebung w i r d m i t dem Bundesbeschluß v. 3. 3.1848 eingeleitet 42 , durch den jedem deutschen Bundesstaat freigestellt wird, „die Censur aufzuheben und Preßfreiheit einzuführen. Dieß darf jedoch nur unter Garantieen geschehen, welche die anderen deutschen Bundesstaaten und den ganzen Bund gegen den Mißbrauch der Preßfreiheit möglichst sicher stellen" 4 3 . — I m Mittelpunkt dieser zweiten Epoche steht für unsere Fragestellung die preußische Verfassung vom 31.1.1850, die i n den A r t i k e l n 27 und 28 die Pressefreiheit regelt und vorschreibt, daß Vergehen, welche durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung 42 Die Entwicklung wurde i n der Bundesversammlung bereits 1846 eingeleitet. Vgl. die Schilderung bei F. Schneider, ( = A n m . 29), S. 302 - 306. 43 E. R. Huber, Dokumente Bd. I, S. 266.
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begangen werden, „nach den allgemeinen Strafgesetzen zu bestrafen sind" (1, 2). Die Verfassung der Paulskirche und die anderen deutschen Verfassungen versuchen mittels anderer Garantien als der „allgemeinen Gesetze" die Pressefreiheit zu sichern (3, 4). 1. Die Bedeutung des Ausdrucks „allgemeine Strafgesetze" in der preußischen
Verfassung
s o l l aus d e r Entstehungsgeschichte
zu klären
versucht werden. Der Urentwurf der preußischen Verfassung, vom Staatsministerium verfaßt und dem König am 15.5.1848 vorgelegt, gewährt die Pressefreiheit in § 14 wie folgt 4 4 : „Die Presse ist frei. Die Verfolgung und Bestrafung ihres Mißbrauches w i r d durch das Gesetz bestimmt. Die Zensur bleibt für immer aufgehoben." Dieser Text w i r d i n der Regierungsvorlage vom 20. 5.1848 übernommen 45 . Der Entw u r f der Verfassungskommission der zur Vereinbarung der preußischen Staats-Verfassung berufenen Versammlung vom 26. 7.1848 enthält die folgenden A r t i k e l über die Pressefreiheit 46 : „ A r t . 10 Die Freiheit der Presse und Rede darf durch kein Gesetz beschränkt werden. Die Censur bleibt für immer aufgehoben. A r t . 11 Der Mißbrauch der Presse und Rede w i r d nach den allgemeinen Landes-Gesetzen bestraft. Bis zur erfolgten Revision des Strafrechts bestimmt darüber ein besonderes transitorisches Gesetz." Art. 12 enthält Regelungen über die subsidiäre Bestrafung von Presseangehörigen. Nach den Motiven zu diesem E n t w u r f 4 7 ist geplant gewesen, die Presse dem reinen Justizsystem zu unterwerfen. Danach müssen „die Vergehen, welche durch die Presse begangen werden, . . . nothwendig unter den Gesichtspunkt der allgemeinen Strafgesetze fallen, mögen nun Private beleidigt, mag die Sittlichkeit verletzt oder die Sicherheit des Staates gefährdet sein. Ein besonderes Gesetz über Preßvergehen ist daher überflüssig; es bedarf dessen transitorisch nur deshalb, weil viele Bestimmungen des jetzigen Straf rechts m i t der Preßfreiheit nicht i m Einklang stehen. Die Bestimmung, daß Preßvergehen nur durch Geschworene zu beurtheilen, ist dem Titel von der richterlichen Gew a l t 4 8 vorbehalten". 44 Abgedruckt bei Anschütz, Staat, 1. Band 1912, S. 598.
45
46
die Verfassungs-Urkunde für den preußischen
Anschütz, ( = Anm. 44), S. 609.
Stenographische Berichte über die Verhandlungen der zur Vereinbarung der preußischen Staats-Verfassung berufenen Versammlung, I. Bd. (Beilage zum Preußischen Staatsanzeiger), B e r l i n 1848, S. 631. 47 Sten. Berichte, ( = A n m . 46), S. 730. 48
Vgl. dort Art. 91; Anschütz, (= Anm. 44), S. 621.
Herkunft u n d Entwicklung der Klausel „allgemeine Gesetze" (5 I I GG) 199
Dieser Kommissionsentwurf wurde i n der Versammlung nur bis Art. 4 beraten 4 9 ; Äußerungen zu den Presseartikeln liegen daher nicht vor. A m Tage der Auflösung der Versammlung, am 5.12.1848, oktroyierte der König eine Verfassung 50 , i n deren Presseartikel einzelne verwaltungsrechtliche Beschränkungen der Presse ausdrücklich verboten werden und das reine Justizsystem des Kommissionsentwurfs beibehalten wird. Die Presseartikel lauten: „ A r t . 24 Jeder Preuße hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Gedanken frei zu äußern. Die Preßfreiheit darf unter keinen Umständen und i n keiner Weise, namentlich weder durch Zensur, noch durch Konzessionen und Sicherheitsbestellungen, weder durch Staatsauflagen noch durch Beschränkungen der Druckereien und des Buchhandels, noch endlich durch Postverbote und ungleichmäßigen Postsatz oder durch andere Hemmungen des freien Verkehrs beschränkt, suspendiert oder aufgehoben werden. Art. 25 Vergehen, welche durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung begangen werden, sind nach den allgemeinen Strafgesetzen zu bestrafen. Vor der erfolgten Revision des Strafrechts w i r d darüber ein besonderes vorläufiges Gesetz ergehen. Bis zu dessen Erscheinen bleibt es bei den jetzt geltenden allgemeinen Strafgesetzen." I m Herbst 1849 begannen i n den preußischen Kammern die Beratungen über die Verfassungsrevision. A u f Vorschlag des Central-Ausschusses strich die erste Kammer i n der Sitzung vom 19. 9.1849 den A r t . 25, da er nach Ansicht des Berichterstatters von Ammon etwas Selbstverständliches zum Ausdruck bringe 5 1 . — I n der zweiten Kammer begründete der Berichterstatter Simson i n der Sitzung v. 12.10.1849 den Vorschlag 52 , i n A r t . 24 nur die Censur zu verbieten, andere Beschränkungen der Pressefreiheit aber i m Wege der Gesetzgebung zuzulassen 53 . Entsprechend lautete der später verabschiedete A r t . 27 Abs. 2 der vereinbarten Verfassung. — Zu A r t . 25 wurde i n derselben Sitzung berichtet, daß die Kommission über die Auslegung des ersten Satzes nicht einig gewesen sei: Die Minorität hielt ihn für überflüssig wie der Centraiausschuß der ersten Kammer. — Einige Mitglieder fanden „ i n i h m sogar den Sinn, ein Vergehen (und Verbrechen), welches durch 49
Vgl. Sten.Ber., ( = A n m . 46), Bd. 3, S. 1898 (Sitzung v o m 31.10.1848). Anschütz, ( = A n m . 46), S. 625. 51 Stenographische Berichte über die Verhandlungen der Ersten Kammer (Beilagen zum Preußischen Staatsanzeiger), B e r l i n 1849, Bd. 2, S. 755 f. 52 Stenographische Berichte über die Verhandlungen der Zweiten Kammer (Beilagen zum Preußischen Staatsanzeiger), B e r l i n 1849, Bd. 2, S. 629 f. 53 D a m i t erklärte sich die erste K a m m e r i n der Sitzung v o m 2.11.1849 (Sten.Berichte, ( = A n m . 51), Bd. 3, S. 1277) einverstanden. 50
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Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung begangen worden, sei lediglich nach den für dieses Verbrechen i m Allgemeinen bestimmten Strafen zu ahnden und namentlich darum, daß es durch die Presse begangen worden, nicht anders und insbesondere weder milder noch härter zu strafen, als wenn zu seiner VerÜbung ein anderes M i t t e l als die Presse benutzt worden wäre" 5 4 . Bei diesen Mitgliedern war noch die oben referierte Tradition lebendig, wie sie von A. D. Weber und v. Berg entwickelt worden ist. — Über die Ansicht der Majorität der Kommission heißt es i n dem Bericht weiter: „Die Majorität erkennt m i t der Minorität an, daß der Satz i n der angegebenen ersten Bedeutung (sc. i m Sinne einer bloßen Verweisung auf die Strafgesetze) müßig, i n der zweiten verwerflich wäre. Sie legt aber die Bestimmung der Verfassung dahin aus: ein Vergehen und Verbrechen, welches durch Wort, Schrift etc. begangen worden, verliere darum, weil es mittelst solcher M i t t e l begangen worden, seinen allgemeinen strafrechtlichen Charakter nicht und könne deshalb zwar sehr wohl i m geeigneten Falle einer anderen, auch einer härteren Strafe unterliegen, als dasselbe Verbrechen, wenn es durch anderweite M i t t e l begangen wäre; die Feststellung solcher Strafen für Preß- usw. Vergehen und Verbrechen, solle aber gleichwohl nicht i n einem besonderen Preßgesetz, sondern i n den allgemeinen Strafgesetzen erfolgen." So verstanden verhütet der Satz nach Ansicht der Majorität das MißVerständnis, „als ob Sprechen, Schreiben, Druck oder bildliche Darstellung etwas Anderes als M i t t e l wären, die man strafrechtlich nur nach dem mittelst ihrer beabsichtigten oder erreichten Zwecke zu beurtheilen habe". Ferner halte der Satz die Regelung der Strafen für Preßvergehen und Verbrechen „der allgemeinen deutschen Gesetzgebung offen, von der diese Aufgabe . . . befriedigender, als von irgend einer partikulären, selbst der preußischen, w i r d gelöst werden können". — Die Majorität verstand also „allgemein" i m Sinne von gemeinrechtlich, als i n ganz Deutschland geltend. Die Bezugnahme auf die allgemeinen Strafgesetze hat außerdem kodifikatorische Bedeutung und mag die schlimmsten Exzesse einer allein auf die Presse bezogenen Strafgesetzgebung verhindern. Unklar bleibt, ob darüber hinaus an den überkommenen Begriff der allgemeinen Strafgesetze angeknüpft wird. Dafür spricht die Bezugnahme auf den Zweck der strafbaren Handlung. Dagegen spricht, daß die von einigen Mitgliedern der Kommission insofern zweifelsfrei vertretene Auffassung als verwerflich (!) bezeichnet wird. Nach dem Vorschlag der Kommission sollte der 1. Satz des A r t . 25 nicht gestrichen werden. Die anderen Sätze sollten i n die Übergangsbestimmungen am Ende der Verfassung aufgenommen werden. Die erste 54
Dies u n d das folgende Sten.Berichte, ( = Anm. 52), S. 630.
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Kammer nahm i n ihrer Sitzung vom 2.11.1849 diesen Vorschlag nebst Begründung zur Kenntnis und entschied sich entgegen ihrer früheren Ansicht dafür, den 1. Satz des A r t . 25 beizubehalten 5 5 . Der Zentral-Ausschuß der 1. Kammer pflichtete jedoch den Motiven der Zweiten K a m mer nicht vollends bei, sondern hob hervor, daß m i t dem Satz auch die Bestimmung gegeben sei, es solle die „Strafe für Preßvergehen eben n u r nach den allgemeinen u n d nicht nach Ausnahmegesetzen abgemessen werden. D a m i t übernahm die erste (!) K a m m e r die besonders pressefreundliche Interpretation einiger Mitglieder der Kommission der zweiten Kammer. H i e r m i t waren die Beratungen unmittelbar zu den A r t i k e l n 24 u n d 25 abgeschlossen. I n der ersten K a m m e r k a m es jedoch am 29.1.1850 noch einmal zu einer Diskussion u m die „allgemeinen Strafgesetze" anläßlich des Vorschlags der königlichen Regierung, den A r t . 26 zu streichen, der die bloß subsidiäre Strafbarkeit der Presseangehörigen normiert. Der Abgeordnete Kisker machte hierzu folgende Ausführungen 5 6 , die sich inhaltlich m i t der bereits dargestellten Auffassung von A. D. Weber decken: „Der damalige Central-Ausschuß ging von der A n sicht aus, daß bei der Auffassung der Frage, wer für ein durch die Presse begangenes Verbrechen zu haften habe, sowohl 57 der Thatbestand des Verbrechens dadurch, daß er vermittelst der Presse verübt worden, i n seinem allgemeinen strafrechtlichen Charakter nicht getrübt werden dürfe, vielmehr wesentlich der Beurtheilung nach den Grundsätzen des allgemeinen Strafrechts unterliege, als auch die Thäterschaft bei Vergehen, welche vermittelst der Presse verübt werden, i m Wesentlichen nach den allgemeinen Grundrechten 5 8 des Strafrechts beurteilt werden müsse. Eben deshalb u n d u m sonach auszudrücken, daß es an sich keinen Unterschied mache, ob ein Vergehen mittelst der Presse oder durch andere Handlungen verübt werde, wurde der A r t . 28 5 9 i n die Verfassung aufgenommen u n d n u n weiter deduziert: dies führe darauf, daß der Verfasser einer Schrift als der Urheber des dadurch verübten Verbrechens zu betrachten sei u n d die etwaige Strafbarkeit des Verlegers, Druckers u n d Vertheilers auch n u r nach allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen 60 über die Mitschuld und die Theilnahme an Verbrechen beurtheilt werden könne." Da n u n zweifelhaft sei, fährt der Abgeordnete fort, ob A r t . 29 (26) m i t den allgemeinen Strafrechtsgrundsätzen 55
Sten.Berichte, ( = Anm. 51), Bd. 3, S. 1278. Sten.Berichte, ( = Anm. 51), Bd. 5, S. 2363. 57 Hervorhebungen vom Verfasser. 58 Gemeint sind offensichtlich allgemeine Grundsätze. 59 Entspricht dem A r t . 25 der oktroyierten Verfassung; i m Text w i r d bereits die neue endgültige Artikelzählung verwendet. I m Original gesperrt. 56
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vereinbar sei, sei er i n die Verfassung aufgenommen worden; denn er sei strafrechtspolitisch gewollt gewesen. 2. Die Entstehungsgeschichte der preußischen Verfassung ergibt hinsichtlich des Begriffs der allgemeinen Strafgesetze folgendes Bild: a) Die Pressefreiheit w i r d bei Abschaffung der Zensur unter einfachen Gesetzesvorbehalt gestellt. Wie die Beratungen zeigen, soll eine spezifisch pressebezogene einschränkende Gesetzgebung möglich sein. b) Die Formel von den allgemeinen Gesetzen taucht i n der engeren Fassung der allgemeinen Strafgesetze auf. Insoweit w i r d die Kompetenz des Gesetzgebers, beliebige Strafbestimmungen zu erlassen, eingeschränkt. Diese Auslegung kann sich auf alle i n den Protokollen wiedergegebenen Äußerungen stützen bis auf die — i m übrigen unklar formulierte — Mehrheitsmeinung der Kommission der zweiten K a m mer. Jene Auslegung vertritt auch Anschütz, der sich m i t der Entstehungsgeschichte der Presseartikel der preußischen Verfassung bisher am ausführlichsten beschäftigt hat 6 1 . c) Der einfache (verwaltungsrechtliche) Gesetzesvorbehalt des A r t . 27 bezieht sich nur auf die Presse. Der qualifizierte Vorbehalt der allgemeinen Strafgesetze betrifft dagegen auch andere Kommunikationsgrundrechte; er hat damit seinen Inhalt gegenüber der vormärzlichen Zeit wesentlich gewandelt. Als Maßstab dafür, was ein allgemeines Strafgesetz ist, kann nicht mehr der Umstand herangezogen werden, daß i h m Meinungsäußerungen überhaupt unterfallen. Wenn alle Kommunikationsgrundrechte nur dem Regime der allgemeinen Strafgesetze unterfallen, taucht die Frage auf, wie man bestimmt, ob ein Gesetz allgemein ist 6 2 . Eine bloß personelle Allgemeinheit kann nicht gemeint sein. Denn jedes Gesetz, das die Äußerung bestimmter Meinungen verbietet, läßt sich personell allgemein formulieren, indem allen Gesetzunterworfenen ζ. B. verboten wird, die königliche Regierung zu kritisieren, sozialistische Ideen zu verbreiten oder Rassenhaß zu schüren. Der Maßstab für die Allgemeinheit kann nur ein sachlicher sein; anderenfalls ständen die Kommunikationsfreiheiten unter einfachem Gesetzesvorbehalt, der nach den Beratungen der verfassungsgebenden Gremien gerade nicht gewollt war. Eine sachliche Allgemeinheit nimmt Anschütz i n seinem Kommentar zur preußischen Verfassung an: Keine Handlung dürfe lediglich deshalb, w e i l sie durch das M i t t e l des Wortes usf. begangen worden sei, u m der Wahl dieses Mittels w i l l e n 01 62
Anschütz, ( = Anm. 44), S. 512 ff.
I n den Parlamentsberatungen gingen die Redner immer n u r v o m Beispiel der Presse aus u n d setzten sich für deren strafrechtliche Gleichbehandlung m i t anderen Medien ein.
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unter Strafe oder unter eine schärfere oder mildere Strafe gestellt werden als diejenige, die einen Täter treffen würde, der zur Erreichung desselben Erfolges ein anderes M i t t e l gewählt hätte 6 3 . 3. Die Presseartikel der preußischen Verfassung haben i n den anderen Landesverfassungen, die ab 1850 ergangen sind, keine Nachahmung erfahren. I n den anderen Staaten wurden die Presseartikel entweder i m Anschluß an § 143 der Reichsverfassung v. 28. 3.1849 64 oder eigenständig formuliert 6 5 . § 143 RV kennt die Formel von den allgemeinen (Straf)Gesetzen nicht. Abs. 1 entspricht dem Abs. 1 Satz 1 des A r t . 27 der preußischen Verfassung. Abs. 2 enthält das Verbot der Zensur und weiterer namentlich aufgeführter vorbeugender Maßregeln und entspricht daher dem A r t . 24 Abs. 2 Satz 2 der oktroyierten preußischen Verfassung. § 143 Abs. 3 lautet: „Über Preßvergehen, welche von Amts wegen verfolgt werden, w i r d durch Schwurgerichte geurtheilt." Die Notwendigkeit dieser Vorschrift hat Mittermaier vor der Nationalversammlung i n der Sitzung vom 18. 8.1848 begründet 6 6 : Er wandte sich zunächst gegen die Schaffung neuer besonderer Pressedelikte, „daß man als Redacteur und Verfasser alle Augenblicke fürchten muß, i n Strafe zu verfallen". Er bemängelte die „unbestimmten und un juristischen Ausdrücke", m i t denen diese Straftatbestände formuliert werden, die hohen Geldstrafen und die besonderen Regeln für den Wahrheitsbeweis. — Insoweit knüpft Mittermaier unmißverständlich an die traditionellen Forderungen der Vormärzzeit an und nimmt zugleich — ohne sie ausdrücklich zu nennen — die Schranke der allgemeinen Strafgesetze der preußischen Verfassung i n Bezug. 63 Anschütz, ( = A n m . 44), S. 512; dementsprechend Biedermann, ( = Anm. 24), S. 755; Forderungen des ersten Deutschen Journalistentages (1864), w i e dergegeben bei Glaser, i n : Verhandlungen des 6. Deutschen Juristentages, Bd. I, (1865), S. 68. 64 § 16 des Verfassungsgesetzes für das Fürstentum Schwarzburg-Sonderhausen v. 12.12.1849, abgedruckt bei Zachariä, ( = A n m . 34), S. 986. 65 § 8 des Landesverfassungsgesetzes für das Herzogthum A n h a l t - B e r n burg v. 28.2.1850, Zachariä, ( = A n m . 34), S. 961; §§ 26, 28 der VerfassungsUrkunde für das K u r f ü r s t e n t h u m Hessen v. 13.4.1852, Zachariä, S. 364; § 14 des re vidierten Staatsgrundgesetzes für das Fürstenthum Reuß j . L. v o m 14.4.1852, Zachariä, S. 1040; § 43 des Staatsgrundgesetzes für die Herzogt ü m e r Coburg und Gotha v. 3. 5.1852, Zachariä, S. 658; § 30 der VerfassungsUrkunde des Fürstenthumes Waldeck v. 17.8.1852, Zachariä, S. 1098; A r t . 46 des revidierten Staatsgrundgesetzes für das Großherzogthum Oldenburg v. 22.11.1852, Zachariä, S. 908; § 13 der bremischen Verfassung v. 21.2.1854, Zachariä, S. 1188. 66 Stenogr. Berichte über die Verhandlungen der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu F r a n k f u r t a. M., 1848, Bd. 3, S. 1610.
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Mittermaier setzte sich dann weiter dafür ein, daß Preßvergehen durch Schwurgerichte abgeurteilt werden, und zwar durch Schwurgerichte, i n denen die Geschworenen nach englischem Vorbild nicht nur Richter der Tat, sondern auch Richter des Rechts seien. „Dann", so führte Mittermaier weiter aus, „haben Sie den Vortheil, daß hier, wo es darauf ankommt, daß die Volksstimme durch die Geschworenen sich ausspricht, und die feine Grenze zwischen dem Erlaubten und dem Unerlaubten gezogen wird, was durch niemand besser als durch Geschworene geschehen kann, dann, sage ich, haben Sie den Vorteil, daß Sie ein Urteil bekommen, das Vertrauen verdient und wohl auch wirklich hat. Die Vielseitigkeit unserer Gesetze gibt m i r nicht diesen Schutz". M i t termaier warnte nochmals vor einem Zustand der Preßgesetzgebung, der schlimmer sei als die Zensur 67 . M i t der Formulierung des § 143 sollten alle präventiven Maßnahmen gegen die Pressefreiheit abgeschafft werden und die notwendige strafrechtliche Repression i m Sinne der Freiheit garantiert werden 6 8 . Sowohl bei der Entstehung der preußischen Verfassung wie bei der Entstehung der Paulskirchenverfassung ging es darum, eine der Pressefreiheit freundliche strafrechtliche Repression verfassungsrechtlich zu garantieren. Während dies in der Paulskirchenverfassung vor allem durch eine strafprozessuale Garantie zu erreichen versucht wurde, schränkte man i n der preußischen Verfassung zusätzlich 69 die materielle Strafgesetzgebung hinsichtlich der Pressevergehen durch die besondere Snhrankenformel der „allgemeinen Strafgesetze" ein 7 0 . 4. Wenn auch nicht mehr als Schranke für den Gesetzgeber, so tauchen doch die allgemeinen Gesetze auch i m Reichspreßgesetz vom 7. 5.1874 (RGBl. S. 65) auf. § 20 Abs. 1 schreibt eine Verantwortlichkeit nach den allgemeinen Strafgesetzen vor für Handlungen, deren Strafbarkeit durch den Inhalt einer Druckschrift begründet wird. Diese durch einfaches Reichsgesetz festgelegte Grenze der Strafbarkeit bei Presse Veröffentlichungen konnte jederzeit durch ein jüngeres Reichsgesetz durchbrochen werden; dies geschah ζ. B. durch das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie v. 21.10. 1878 (RGBl. S. 351), das i n § 11 Druckschriften verbot, „ i n welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestre67
So schon v. Berg, oben A n m . 24. So deutlich der Berichterstatter Beseler, i n : Sten.Berichte, ( = A n m . 66), S. 1614. 69 Geschworenengerichte für Pressevergehen garantierte Art. 94. 70 Diese Zweckidentität von § 143 Satz 3 RV und A r t . 28 pr. Verf. betont ausdrücklich H. Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, 5. A u f l . 1863, I I . Theil, S. 31 f. A n m . 4. 68
Herkunft und Entwicklung der Klausel „allgemeine Gesetze" (5 I I GG) 205
bungen i n einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen, gefährdenden Weise zu Tage treten". Das Verbot war i n § 19 straf bewehrt. Diese über die allgemeinen Strafgesetze hinausgehende Strafbarkeit wurde i n aller Offenheit damit begründet 7 1 , daß ein Spezialgesetz notwendig sei, welches . . . die Freiheit der Presse . . . ausschließlich den gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie gegenüber wirksamen Beschränkungen unterwirft". Berücksichtigt man die damals allgemein geltenen Strafvorschriften zum Schutze des Staates, denen Pressepublikationen unterworfen waren, so zeigt das Sozialistengesetz, daß die i n der preußischen Verfassung ebenso wie i m Reichspreßgesetz verhießene auf die allgemeinen Strafgesetze beschränkte Verantwortlichkeit der Presse sich damals noch nicht durchsetzen konnte.
IV. Die Weimarer Reichsverfassung I n A r t . 118 Abs. 1 WRV taucht die Formel der allgemeinen Gesetze als Grenze der Kommunikationsfreiheiten erneut auf. Wie die Beratungen der Weimarer Nationalversammlung zeigen, ist die Formel ohne viel Aufhebens aus der Tradition aufgenommen worden (1). A b 1924 setzten umfangreiche interpretatorische Bemühungen der Rechtswissenschaft ein, den normativen Gehalt der Formel näher zu ergründen (2). 1. E i n E n t w u r f , d e r d e m (8.) Verfassung
sausschuß
der Weimarer
Na-
tionalversammlung zur Beratung vorlag, lautete 7 2 : „Jeder Deutsche hat das Recht . . . seine Meinung innerhalb der Schranken der guten Sitten und der allgemeinen Gesetze frei zu äußern." — Der Abgeordnete Sinzheimer setzte sich für die Streichung der Worte „der guten Sitten" ein. Denn „soweit ein Schutz gegen Ausschreitungen notwendig ist, ist er durch den Bestand der Strafgesetze gegeben, die i n keiner Weise berührt werden sollen" 7 3 . Der Abgeordnete Koch beantragt die Worte „der Schranken der guten Sitten und der allgemeinen" zu streichen und argumentierte insbesondere gegen die guten Sitten: „Es genügt vollkommen, wenn man sagt: innerhalb der Gesetze; dann bleibt die Möglichkeit offen, Gesetze zu erlassen, wo es erforderlich erscheint 74 ." Warum auch das Wort „allgemein" gestrichen werden sollte, begründete 71
Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, 4. Leg. Periode, I. Session 1878, 2. Bd., S. 5 rechte Sp. 72 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336 (Bericht des Verfassungsausschusses), B e r l i n 1920, S. 377. 73 Bericht, ( = A n m . 72), S. 502. 74 Bericht, ( = A n m . 72), S. 503.
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der Abgeordnete nicht eigens. Es bleibt offen, ob dadurch der Gesetzgeber besonders frei gestellt werden sollte. Die Meinung, die Schranke der guten Sitten bestehen zu lassen, damit gegen die Auswüchse der Schundliteratur eingeschritten werden könne 7 5 , konnte sich nicht durchsetzen. Schließlich wurde der Antrag des Abgeordneten Koch i m Verfassungsausschuß angenommen. Die Redaktionskommission fügte jedoch wieder das Wort „allgemeine" ein 7 6 . Die Nationalversammlung hat auf Vortrag des Berichterstatters Dr. Düringer, der die Schranken der allgemeinen Gesetze noch einmal ausdrücklich erwähnt hat 7 7 , den endgültigen Text beschlossen. Neben einer Mitteilung des Büros des Reichstags, daß das Wörtchen „allgemein" nur durch ein Versehen der Redaktionskommission i n den Text gelangt sei, gibt es eine Mitteilung des Mitglieds der Redaktionskommission, Beyerle, „daß Zweigert (anderes Mitglied) und er die Meinung des Verfassungsausschusses m i t dieser Fassung richtig wiedergegeben hätten und . . . daß man damit Gesetze, die sich gegen eine Meinung als solche richteten, wie sie etwa i n der Kulturkampfzeit erlassen worden seien, habe ausschließen wollen" 7 8 . Die i m Laufe der Verfassungsberatungen aus der doppelgliedrigen Schranke „gute Sitten" und „allgemeine Gesetze" entstandene Schranke der allgemeinen Gesetze knüpft an die über § 20 Abs. 1 Reichspreßgesetz von 1874 lebendig gebliebene Tradition der preußischen Verfassung an, die die Kommunikationsfreiheiten unter die Schranke der allgemeinen Strafgesetze stellte. Davon gingen auch die Abgeordneten Sinzheimer und Koch aus. Sinzheimer sprach ausdrücklich von den Strafgesetzen, Koch dem Sinne nach. Es scheint daher ausgeschlossen, „daß man sich bei dem zuerst gestrichenen, dann wiederhergestellten Worte nichts Besonderes gedacht hat, von einem klaren und bestimmten Willen des Gesetzgebers mithin nicht die Rede sein kann" 7 9 . 2. I n der Literatur ist die Bedeutung der Schranken der „allgemeinen Gesetze" ausführlich erörtert worden. Einige Gerichte und Autoren 75
Bericht, ( = A n m . 72), S. 377. Vgl. P r O V G 77, 514 W. Jellinek, Diskussionsbeitrag i n V V d S t R L Heft 4, S. 83; Hellwig, A r t . 118: Meinungsfreiheit, Zensur, i n : Nipperdey, Die G r u n d rechte u n d Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 2 (1930), S. 20. 77 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd. 328, B e r l i n 1920, S. 1498 A. 78 Z u beiden Mitteilungen siehe Rothenbücher, Das Recht der freien M e i nungsäußerung, V V d S t R L Heft 4 (1928), S. 18, 19. 79 So aber Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, S. 552 (Art. 118 Nr. 2). Die Ansicht von Anschütz verwundert, denkt man an seine plausible Auslegung des entsprechenden Textes der preußischen V e r fassung, vgl. oben A n m . 63. 76
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gingen jedoch über das A d j e k t i v „allgemein" mit dem Bemerken hinweg, es handele sich um ein Redaktionsversehen 80 . Dabei wurde die Geschichte des Begriffs der allgemeinen Gesetze i m 19. Jahrhundert völlig übersehen: Die allgemeinen (Straf)Gesetze als Grenze der Presse- und Meinungsfreiheit sollten ein besonders freiheitliches Repressionssystem garantieren. Die durchaus geläufige Wendung „allgemeine (Straf)gesetze", die sich bis ins Reichspreßgesetz hinein findet, spricht sogar dafür, daß sich die meisten Mitglieder der verfassungsgebenden Nationalversammlung bewußt für die Formel von den allgemeinen Gesetzen entschieden haben, u m die i n A r t . 118 aufgezählten Kommunikationsgrundrechte der neueren deutschen Verfassungstradition entsprechend unter ein freiheitliches Repressionsregime zu stellen. Zwei Autoren, Häntzschel und R. Smend, haben die am meisten beachteten Interpretationen dieser Schrankenklausel geliefert, die auch auf den Parlamentarischen Rat Einfluß geübt haben, wie noch gezeigt werden wird. Häntzschel hat sich zuerst 192681 und abschließend 193282 m i t den Schranken der allgemeinen Gesetze befaßt. Er wandte sich gegen die Auffassung, „allgemeine Gesetze" seien allgemeingültige, für alle Deutschen geltende Gesetze und schlössen Sonderrechte für einzelne Gruppen, ζ. B. Beamte, aus 83 . Häntzschel stellt dagegen nicht auf den personellen 84 , sondern auf sachlichen Wirkungskreis der Gesetze ab. Danach sind allgemeine Gesetze i m Sinne des A r t . 118 Abs. 1 WRV „Rechtsnormen, welche die Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung nicht zum Zwecke der Unterdrückung des gedanklichen Inhalts der Äußerung, sondern aus allgemeinen, nicht gegen den Gedankeninhalt gerichteten Gründen beschränken" 85 . A r t . 118 WRV schütze nur die Freiheit, geistig zu wirken. Nur „was funktionell, d. h. begriffsnotwendig, zur Äußerung einer Meinung gehört", sei durch Art. 118 WRV geschützt 86 . Man dürfe seine Meinung sagen ohne Rücksicht 80 So zuerst Kitzinger, Das Reichsgesetz über die Presse, 1920, S. 203, sodann P r O V G 77, 514 u n d Jellinek, ( = A n m . 76), S. 83, weitere Nachweise bei Anschütz, ( = A n m . 79), S. 552 (Art. 118 Nr. 1). 81 Häntzschel, Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung u n d die Schranke der allgemeinen Gesetze des A r t . 118 I der Reichs Verfassung, in: AöR Bd. 10 n. F. (1926), S. 228 - 237. 82 Häntzschel, Das Recht der freien Meinungsäußerungsfreiheit, HbDStR Bd. I I (1932), S. 651 (657 - 664). 83 So vor allem Vervier, Meinungsäußerungsfreiheit u n d Beamtenrecht, AöR Bd. 6 n. F. (1924), S. 1 ff. 84 Also nicht das „ f ü r alle geltende Gesetz" i. S. des A r t . 137 Abs. 2 WRV. 85 Häntzschel, ( = A n m . 81), S. 232, 233; Häntzschel n i m m t an keiner Stelle auf die verwandte Interpretation von Anschütz, ( = Anm. 44) S. 512 aus dem Jahre 1912 hinsichtlich der preußischen Verfassung Bezug; siehe oben unter I I I 2 c am Ende. 8e Häntzschel, ( = A n m . 82), S. 659.
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darauf, ob sie den bestehenden Rechts- und Sittengesetzen entspreche. Solch eine Meinungsäußerung habe vor allen Rechtsgütern solange den Vorrang, „als der Angriff auf sie lediglich m i t dem ideellen Mittel sachlicher Überzeugung geschieht". Umgekehrt habe jedes Rechtsgut seinerseits vor der Freiheit der Meinungsäußerung den Vorrang, „sobald die Meinungsäußerung sich nicht auf ideelle Wirkungen beschränkt, sondern gleichzeitig auch materiell Rechtsgüter verletzt oder unmittelbar gefährdet" 8 7 . Soweit die Meinungsäußerung über das rein Geistige hinaus Wirkung entfalte, dürften Rechtsnormen Schranken setzen, die ohne Rücksicht auf die geistige Zielrichtung einer bestimmten Meinung allgemein gälten. Häntzschel nimmt nicht ausdrücklich Bezug auf die damals über 100jährige Geschichte der Schranken der allgemeinen (Straf)gesetze, aus der vor allem der Wille herausgelesen werden kann, ein presseund kommunikationsfreundliches Repressionssystem zu garantieren: Keine Unterdrückung einer Meinung bloß wegen des gewählten Publikationsmittels 8 8 , also kein Sonderrecht gegen Meinungsäußerungen i n der Presse (Vormärz); keine Unterdrückung einer Meinung als solcher wegen ihrer rein geistigen Wirkung, d. h. kein Straftatbestand gegen Handlungen nur deshalb, weil sie durch das M i t t e l des Wortes begangen worden sind (Anschütz aufgrund der preußischen Verfassung). Häntzschel entwickelt diese Kriterien aus A r t . 118 WRV neu und läßt sich i m Gegensatz zu den früheren Interpretationsversuchen mehr auf die Konsequenzen und das Detail ein, ohne freilich dem darin steckenden Teufel ganz Herr zu werden. Nach Häntzschels Konzeption soll die Verletzung „materieller Rechtsrüter" durch die Wahrnehmung der Kommunikationsfreiheiten nicht 'toaflos sein. Materielle Rechtsgüter sind nach Häntzschel verletzt, .»wenn außer der funktionell zu jeder Meinungsäußerung gehörigen geistigen Wirkungsmöglichkeit durch Form oder Umstände noch étiras hinzukommt, was die Meinungsäußerung zu einer Willenshandlung stempelt, die i n einer mit den allgemeinen Normen des Gemeinschaftslebens nicht vereinbaren Weise unmittelbar i n den Ablauf der Geschehnisse eingreift und dadurch nicht mehr ideell, sondern auch materiell w i r k t " 8 9 . Die Frage, was m i t materiellen Rechtsgütern gemeint ist, beantwortet Häntzschel m i t einem Hinweis insbesondere auf das geltende Straf recht. Er schließt jedoch solche Strafgesetze aus, die die Verbreitung bestimmter Ansichten, Lehren oder Erkenntnisse ohne Rücksicht auf eine über das rein Geistige hinausgehende schädliche 87 88 89
Häntzschel, ( = Anm. 82), S. 659, 661. So ausdrücklich Häntzschel, ( = A n m . 81), S. 233. Häntzschel, ( = A n m . 82), S. 661.
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äußere W i r k u n g 9 0 unter Strafe stellen. Häntzschel gibt jedoch zu, daß derartige Verbote unseren heutigen Anschauungen bereits recht fremd geworden seien. Die von i h m angeführten Beispiele — Sozialistengesetz und sog. Affengesetz von Tennessee 91 — sind Gesetze, die die Verbreitung ganz bestimmter politischer oder wissenschaftlicher Meinungen verbieten. Es ist relativ leicht zu erkennen, daß solche singulären Meinungsäußerungsverbote keine anerkannten Gemeinwohlgüter schützen. Schwierige Abgrenzungsprobleme tauchen erst auf, wenn zwischen materieller und bloß ideeller Wirkung unterschieden werden muß. Da sich nicht streng logisch entscheiden läßt, wann eine über das rein geistige hinausgehende schädliche Wirkung, d. h. eine materielle Verletzung oder eine Verletzung eines materiellen Rechtsgutes vorliegt, muß eine Wertung vorgenommen werden. Wie fein hier die Grenzen sind, zeigt ein Beispiel bei Rothenbücher 92 , der die Lehre Häntzschels vertritt: Es sei gestattet darzulegen, daß Erlasse der Regierung gesetzwidrig seien, daß daher passiver Widerstand, Steuerverweigerung, Verweigerung des Gehorsams durch die Beamten berechtigt sei — insoweit äußere man nur eine Meinung. Meinungsäußerung sei es nicht mehr, wenn eine Willenshandlung vollzogen und zum Ungehorsam gegen die Gesetze und zur Gewalttätigkeit aufgefordert würde. — Die Kunst der Rhetor i k bietet ein ganzes Repertoire von Aufforderungen i n der Form bloßer Meinungsäußerungen oder gar bloßer Tatsachenfeststellungen! I m Einzelfall w i r d es regelmäßig darum gehen festzustellen, ob eine Meinungsäußerung schon staatsgefährdend ist, schon beleidigend w i r k t , schon eine sittenwidrige Schädigung darstellt oder nicht usf. Bei den gesetzlichen Straftatbeständen selbst muß geprüft werden, ob ein materielles Rechtsgut, d. h. ein „schutzwürdiges" Rechtsgut geschützt w i r d oder nicht. Es geht hierbei u m die allgemeine gesetzliche Formulierung dessen, was nicht mehr als bloß ideelle Wirkung hingenommen werden kann. Das muß mit materiellen Argumenten plausibel gemacht werden. Darauf nachdrücklich hingewiesen zu haben, ist das Verdienst Smends. Smend hat i n der Schranke der allgemeinen Gesetze die abgekürzte Inbezugnahme der stets anerkannten Schranken der Grundrechtsausübung gesehen; bei der „Allgemeinheit" handele es sich u m die materiale Allgemeinheit der Aufklärung: diese umfasse „die Werte 90
Häntzschel, ( = A n m . 82), S. 662 Anm. 26. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 5. Aufl., 1972, S. 162, bringt dementsprechend als Beispiel ein Gesetz „gegen die öffentliche Verbreitung bibelwidriger Anschauungen". 92 Rothenbücher, ( = A n m . 78), S. 22, der noch weitere entsprechende Beispiele bringt. 91
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der Gesellschaft, die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die konkurrierenden Rechte und Freiheiten der Anderen". Diese Schranken i m einzelnen zu ziehen, sei Aufgabe der Gesetzgebung, die zwischen Meinungsäußerungsfreiheit und Rücksichten des Gemeinwohls abzuwägen habe. Derartige Abwägungsverhältnisse könnten schwanken 93 . —Smend hat m i t seiner Verweisung und seinem Vertrauen auf den Gesetzgeber freilich das Wort „allgemein" so entleert, daß die i n A r t . 118 genannten Freiheiten wieder unter einfachen Gesetzesvorbehalt gestellt erscheinen. 3. Der Terminus „allgemeine Gesetze" (Art. 118 WRV) i n der Auslegung Häntzschels, die i m Standardkommentar von Anschütz zur Weimarer Reichsverfassung übernommen und damit einem weiten Juristenkreis bekanntgemacht worden ist, hat folgende Bedeutung gewonnen: a) Die Schrankenformel w i r d i n der weiten über die Strafgesetze hinausgehenden Fassung der allgemeinen Gesetze verwendet. Allgemeinheit w i r d also nicht nur von Strafgesetzen gefordert, sondern von allen Gesetzen, die die i n A r t . 118 genannten Kommunikationsfreiheiten einschränken. b) Die allgemeinen Gesetze sind Schranken aller i n A r t . 118 genannten Kommunikationsfreiheiten. Es besteht insoweit keine Exklusivität der Presse. Damit bleibt es bei der schon anläßlich der preußischen Verfassung aufgetauchten Schwierigkeit, die von der Verfassung gemeinte Allgemeinheit der Gesetze zu bestimmen. Denn die einfache Probe, daß man alles i n der Presse schreiben darf, was man sagen darf, genügt nicht mehr. — Häntzschels Vorschlag zwischen materieller und bloß ideeller Wirkung einer Meinungsäußerung zu unterscheiden, läßt die Frage offen, was verletzende materielle und was bloß ideelle W i r kung ist. Häntzschels Formel führt nur i n den Fällen zu einer klaren Lösung, i n denen die Äußerung bestimmter Meinungen verboten wird. c) Auch wer sich nicht der Meinung Smends anschließt, der dem Gesetzgeber der Weimarer Verfassung die volle Wertungskompetenz gibt, steht bei Normsetzung und Einzelfallentscheidung vor der schwierigen Wertung, ob eine bloß ideelle oder schon eine materiell verletzende Wirkung vorliegt. V. Die Materialien zur Entstehung des Grundgesetzes 1. Der Herrenchiemseer-Entwurf enthält nichts über die Schranken der Kommunikationsfreiheiten, die i n Art. 7 dieses Entwurfs aufge93
Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, W d S t R L Heft 4 (1928), S. 51 - 53.
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führt sind 9 4 . I m parlamentarischen Rat haben sich der Grundsatzausschuß, der allgemeine Redaktionsausschuß und i n 4 Lesungen der Hauptausschuß m i t der Formulierung des späteren A r t . 5 GG befaßt. Nach den ersten Formulierungen des Grundsatzausschusses sollten die Kommunikationsfreiheiten ihre Grenze finden „ ( i n der Pflicht zur Treue gegenüber der Verfassung), an den [allgemeinen] Vorschriften der Strafgesetze, an den (allgemeinen) gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend, insbesondere i m Filmwesen u n d an dem Recht der persönlichen E h r e " 9 5 ( = G r A I / I I ) .
Der Redaktionsausschuß wies gegenüber der ersten Fassung zunächst darauf hin, daß nur Strafvorschriften allgemeiner Natur als Grenze statuiert werden dürften, u m die Schaffung spezieller Vorschriften zu verhindern, durch die eine bestimmte Meinungsäußerung oder bestimmte Arten von Meinungsäußerungen unter Strafe gestellt werden könnten 9 6 . Der zweiten Fassung des Grundsatzausschusses stellte der Redaktionsausschuß folgenden Vorschlag entgegen 97 : „Diese Rechte finden ihre Grenze i n den allgemeinen Gesetzen, insbesondere i n den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend u n d i n dem Recht der persönlichen Ehre" (RedA II).
Zur Begründung w i r d angeführt: Nicht die allgemeinen Strafgesetze, sondern die allgemeinen Gesetze müßten die Grenze der Pressefreiheit bilden, wie ζ. B. ein Pressegesetz nicht nur strafrechtliche Vorschriften enthalte. Der Grundsatzausschuß verblieb bei seinem Vorschlag (GrA II) und fügte die Sätze an: „Wegen Mißbrauchs dieser Rechte durch Presse, Rundfunk und F i l m darf nur i m Rahmen der gesetzlichen Vorschriften über Presse, Rundfunk und F i l m eingeschritten werden. Die Entscheidung erfolgt i n einem gerichtlichen Verfahren" 9 8 (GrA III). Der Hauptausschuß ließ i n der ersten und zweiten Lesung jeweils die Vorschläge des Grundsatzausschusses passieren 99 . I n der zweiten Lesung erklärte der Abg. v. Mangoldt zu den Schranken folgendes 100 : 94
JöR Bd. I, S. 79. JöR Bd. I, S. 80, 84; die r u n d eingeklammerten Worte finden sich nur i n der Fassung der 5. Sitzung v. 29. 8.1948 ( = erste Fassung); die eckig eingeklammerten Worte n u r i n der Fassung der 25. Sitzung v o m 24.11.1948 (zweite Fassung). 96 Sitzung v o m 16.11.1948 JöR Bd. I, S. 81. 97 Sitzung v o m 13.12.1948 JöR Bd. I, S. 85. Das eckig eingeklammerte Wort fehlt i n der Fassung v. 25.1.1949, vgl. A n m . 101. 98 32. Sitzung v o m 11.1.1949 JöR Bd. I, S. 86. 99 1. Lesung (3.12.48) Fassung G r A I I , JöR Bd. I, S. 85; 2. Lesung (18.1.49) Fassung G r A I I I . 100 Parlamentarischer Rat Hauptausschuß Bonn 1948/49, 43. Sitzung, S. 546 95
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Der Grundsatzausschuß sei „bei seiner Auffassung verblieben, daß die Grenzen nur i n den allgemeinen Vorschriften der Strafgesetze gegeben sein sollen, nicht etwa, wie es vom Redaktionsausschuß vorgeschlagen worden war, i n den allgemeinen Bestimmungen der Gesetze überhaupt. W i r sind dabei von der Auffassung ausgegangen, daß die Freiheit der Meinungsäußerung i n einem möglichst weitgehenden Maße geschützt werden muß. W i r haben das u m so mehr t u n können, als i n dem zweiten Teil des Absatzes 5 für Presse, Rundfunk und F i l m eine besondere Regelung durch Pressegesetze, Rundfunkgesetze und Filmgesetze vorgesehen worden ist". Auch nach der 2. Lesung des Hauptausschusses verblieb der Redaktionsausschuß bei der Fassung Red A I I 1 0 1 . I n der Begründung setzte sich der Redaktionsausschuß m i t der vom Hauptausschuß gebilligten Fassung Gr A I I I auseinander: Diese Fassung sei zu eng, sie „ermögliche nicht mehr den Erlaß von Gesetzen, die das Recht der freien Meinungsäußerung gewisser Personengruppen (ζ. B. Beamte, Ärzte, Anwälte, Geschworene) zur Wahrung eines Amts- oder Berufsgeheimnisses festlegen. Die Grenze des Rechts der freien Meinungsäußerung müsse i n den allgemeinen Gesetzen schlechthin liegen; dann wäre auch ein Pressegesetz i m Rahmen des A r t . 6 zulässig. Verboten bliebe allerdings ein Spezialgesetz, das sich gegen eine bestimmte Meinung richte. Dies entspreche der Regelung der RV. . . . I m übrigen seien die Strafgesetze und die Jugendschutzgesetzgebung als Grenzen des Rechts der Pressefreiheit angegeben, deren Überschreitung stelle also einen Mißbrauch dar. Wenn dann aber andererseits gesagt werde, daß wegen Mißbrauchs nur i m Rahmen der gesetzlichen Vorschriften über Presse usw. eingeschritten werden dürfe, würde dies bedeuten, daß die Anwendung der Strafgesetze ausgeschlossen wäre. Beide Sätze höben sich also gegenseitig auf". Der Hauptausschuß nahm i n der dritten Lesung 1 0 2 die schon in der zweiten Lesung akzeptierte Fassung GrA I I I m i t geringfügigen Änderungen an, ohne sich mit der Meinung des Redaktionsausschusses auseinanderzusetzen. Schließlich schuf der Redaktionsausschuß die heutigen Abs. 1 und 2 des A r t i k e l 5 1 0 3 , die der Hauptausschuß i n der vierten Lesung 1 0 4 und das Plenum i n seiner 9. Sitzung 1 0 5 ohne Diskussion annahmen. 101 Es wurde noch eine Verpflichtung zur Wahrheit angefügt für Presse, Rundfunk u n d F i l m ; Sitzung v. 25.1.49 JöR Bd. I, S. 87, dort auch die Begründung. 102 Sitzung v o m 8. 2.1949 JöR Bd. I, S. 88. 103 Sitzung v o m 2. 5.1949 JöR Bd. I, S. 88. 104 Sitzung v o m 5. 5.1949 JöR Bd. I, S. 89. 105 v o m 6. 5.1949 JöR Bd. I, S. 89.
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2. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, daß der parlamentarische Rat den freiheitlichen Standard der Weimarer Verfassung i n der I n terpretation von Häntzschel nicht beibehalten wollte. Es finden sich dagegen positive Hinweise darauf, daß der Fassung RedA I I die Häntzschelsche Auffassung zugrunde liegt und daß den Verfassern die Diskussion ζ. Z. der Weimarer Verfassung bekannt war: Erwähnung der besonderen Personengruppen, Ausdrücke wie: Gesetz, das sich gegen eine bestimmte Meinung richtet; das Wörtchen „insbesondere" 106 nach den Worten „allgemeine Gesetze" zeigt, wie man — i m Sinne Häntzschels — das Jugendschutz- und Ehrenschutzrecht als Beispiele für allgemeine Gesetze 107 ansah. Ehrverletzungen und Jugendgefährdungen überschreiten die rein geistige Wirkung einer Meinungsäußerung und verletzen materielle Rechtsgüter. Die oben angedeutete Wertungsproblematik, wann die rein geistige ( = nicht schädliche) Wirkung überschritten wird, bleibt jedoch bestehen. I m Sinne Smends sind Jugendschutz- und Ehrenschutzrecht allgemeine Gesetze, weil sie höherwertige Rechtsgüter schützen. Der Grundgesetzgeber hat m i t der Formel von den allgemeinen Gesetzen als Schranken der Kommunikationsfreiheiten eine deutsche konstitutionelle Tradition aufgenommen. a) Die Formel „allgemeine Gesetze" bezieht sich nicht nur auf das Strafrecht, sondern verlangt bei der Regelung aller Gesetzesmaterien den Verzicht darauf, bestimmte Meinungen zu unterdrücken. Das gilt ζ. B. für presseordnende Vorschriften wie sie sich i n den Pressegesetzen finden. b) Die allgemeinen Gesetze sind Schranken für alle i n A r t . 5 Abs. 1 GG genannten Kommunikationsfreiheiten. Insoweit verbleibt es bei den besonderen Interpretationsproblemen (vgl. I V 3 b). c) Neu hinzugekommen ist die Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk, die nach dem eindeutigen Wortlaut ebenfalls nur durch allgemeine Gesetze eingeschränkt werden darf. Die Entstehungsgeschichte rechtfertigt insoweit keine andere Auslegung 1 0 8 . 106 Auch BVerfGE 11, 234 (238) verwendet i n diesem Zusammenhang das W o r t „insbesondere", sieht also die drei Schranken nicht i n einem gegenseitigen Ausschlußverhältnis. 107 Siehe Häntzschel, ( = Anm. 82), S. 661 m i t Bezug auf Schmutz u n d Schund bekämpfende Gesetze u n d S. 662 Anm. 26 hinsichtlich des strafrechtlichen Ehrenschutzes, siehe oben Text zu Anm. 90. 108 Über die Besonderheit des Rundfunks w a r m a n sich v ö l l i g i m klaren. Es wurde sogar erwogen, die öffentlich-rechtliche Anstalt als Rechtsform für den Betrieb des Rundfunks i n das Grundgesetz aufzunehmen (vgl. Parlamentarischer Rat, Ausschuß für Grundsatzfragen, Steno-Protokolle der 25.
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V I . Folgerungen Damit ist Herkunft und Entwicklung der Schranke der „allgemeinen Gesetze" bis zur Verabschiedung des Grundgesetzes nachgezeichnet. Auf die Entwicklung der Klausel bis 1949 kann man sich schon deshalb legitimerweise beschränken — ohne dafür den i n einer Festschrift bestehenden Raummangel i n Anspruch nehmen zu müssen —, weil sich alle Interpreten auf Häntzschel, Smend oder den parlamentarischen Rat berufen 1 0 9 . Die besondere Schranke der allgemeinen Gesetze war stets darauf gerichtet, freie Kommunikation zu garantieren, zunächst nur auf die Presse bezogen, die einen Nachholbedarf an Freiheitsverbürgung hatte. Als später die Schranke der allgemeinen Gesetze auf weitere Kommunikationsfreiheiten erstreckt wurde, war die Pressefreiheit nicht mehr besonders angefochten und konnte m i t den anderen Kommunikationsfreiheiten zusammen freiheitsfreundlichen Grundrechtsschranken unterworfen werden: kein Gesetz, weder strafrechtlichen noch verwaltungsrechtlichen Inhalts darf die Kommunikationsfreiheiten dergestalt regeln, daß dadurch von Staats wegen die Äußerung bestimmter Meinungen als solcher unterdrückt wird. Aus der Entstehungsgeschichte läßt sich nicht ableiten, daß organisatorische Gesetze etwa i m Pressewesen schlechthin an der Schranke der allgemeinen Gesetze scheitern. Wenn ein staatliches Organisationsgesetz meinungsneutral ist, d. h. nicht bestimmte Meinungsgehalte unterdrückt, ist es allgemein i. S. des A r t . 5 Abs. 2 GG. Als Beispiel mögen die Rundfunkgesetze dienen, die zwar allein auf die Rundfunkanstalten bezogen sind, deren organisationsrec/itlitfier Gehalt aber nicht gegen Meinungen als solche gerichtet ist, und — sieht man von einigen zumindest unklaren staatlichen Aufsichtsbefugnissen ab 1 1 0 — die dem Staat auch nicht die Möglichkeit geben, ad hoc bestimmte Meinungen zu unterdrücken. Freilich muß man auch von der tatsächlichen — verfassungswidrigen — Zusammensetzung vieler Rundfunkgremien absehen, die einen ζ. T. beträchtlichen Einfluß von Staatsorganen auf das Sitzung v. 24.11.1948, S. 19 ff.). Gleichwohl wurde die Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk auch n u r unter die Schranke der allgemeinen Gesetze gestellt. Z u einer ganz anderen Lösung k o m m t Schwark, (= A n m . 2), S. l l l f . , muß jedoch die allg. Gesetze hinsichtlich der R u n d f u n k freiheit für bedeutungslos erklären. 109 v g l . die Berichte bei Schwark, (= Anm. 2), S. 53 - 80 u n d Schmitt Glaeser, ( = A n m . 1), S. 276 - 298. 110 Vgl. Stern, i n : Rundfunkrecht u n d R u n d f u n k p o l i t i k (Bd. 5 der Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln) 1969, S. 4 4 - 4 7 ; zuletzt Leibholz, Rechtsgutachten, Schriftenreihe des ZDF, Heft 11.
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Programm ermöglicht 1 1 1 . Einfluß der i n den Organisationsgesetzen vorgesehenen pluralen gesellschaftlichen Kräfte auf das Programm ist beabsichtigt und nicht staatliche Meinungsunterdrückung, die A r t . 5 Abs. 2 verhindern w i l l . Die i n den Rundfunkgesetzen formulierten Programm- oder Sendegrundsätze 112 sind nicht gegen bestimmte Meinungsinhalte gerichtet 1 1 3 , sondern Grundlage für die Arbeit der pluralistisch zusammengesetzten Rundfunkgremien. Ähnliche — nicht auf Unterdrückung bestimmter Meinungen angelegte — Presseorganisationsgesetze wären ebenfalls allgemeine Gesetze. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß A r t . 5 eine dem Rundfunk entsprechende Presseorganisation erlaubt. Denn der Gesetzgeber unter dem Grundgesetz hat, i m Gegensatz zu allem früheren deutschen Verfassungsrecht, nicht nur die Grenze der „allgemeinen Gesetze" zu beachten. „Allgemeine Gesetze", Gesetze, die sich also nicht gegen eine Meinung als solche richten, dürfen die Kommunikationsfreiheiten — auch das Grundrecht, einen Presseverlag zu betreiben — nicht unverhältnismäßig beschränken 114 . Diese Forderung läßt sich aus A r t . 1 Abs. 3 ableiten, durch den die nachfolgenden Grundrechte u. a. für die Gesetzgebung verbindlich gemacht werden. Regelungskompetenz des Gesetzgebers i m Grundrechtsbereich und Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte sind gedanklich nur miteinander vereinbar, wenn der i m Grundrechtsbereich regelnde Gesetzgeber sowohl i n der Auswahl der Schutzzwecke wie der zu ihrem Schutz verwendeten Mittel nicht frei ist. Der Schutzzweck muß über den einer beschränkenden Regelung unterworfenen Freiheitsbereich 115 gestellt werden können oder i h m zumindest gleichwertig sein. Die M i t t e l müssen geeignet, möglichst milde und verhältnismäßig sein. Hier liegen die eigentlichen Probleme, wenn der Gesetzgeber die Organisationsstruktur der Presse verändern w i l l .
111 I m einzelnen Starck, Rundfunkfreiheit als Organisationsproblem, 1973, S. 15 ff., 23 ff. 112 Vgl. die Gesetze der einzelnen Anstalten A r t . 4 BR, § 3 HR, § 4 NDR, § 2 RB, § 10 SR, § 2 Satzung SDR, § 5 SWF, § 4 WDR. 113 Ebensowenig wie entsprechende Bestimmungen i n den Landespressegesetzen über die „öffentliche Aufgabe" der Presse. 114 So auch W.Weber, ( = Anm. 5), S.58; Hesse, ( = Anm. 91), S. 162. 115 M i t diesem Ausdruck soll gesagt sein, daß eine Abwägung die grundrechtliche Freiheit nicht pauschal sehen darf, sondern gestuft (vgl. Stufentheorie zu A r t . 12 GG). Die einzelnen höher- oder weniger hochwertigen Freiheitsbetätigungen innerhalb eines grundrechtlich geschützten Freiheitsbereichs sind der Abwägung zugrundezulegen. Ζ. B. bei der Kunstfreiheit, Werkbereich, Wirkbereich, A r t u n d Weise der Verbreitung, Umfang der V e r breitung usf.
Kunst und Subvention Von Wilhelm Nordemann
Bedeutung und Tragweite des A r t . 5 Abs. 3 GG sind i n den rund 25 Jahren seit der Schaffung des Grundgesetzes mehrfach Gegenstand von Untersuchungen i m Schrifttum gewesen1. Auch i n der Rechtsprechung des BVerfG 2 , der oberen Bundesgerichte 3 und anderer Gerichte 4 finden sich Äußerungen zu diesem Thema. Es kann inzwischen wohl als anerkannt gelten, daß Art. 5 Abs. 3 GG nicht nur die Freiheit des Einzelnen zu beliebiger künstlerischer Betätigung schützt, sondern eine Einrichtungsgarantie enthält, die das Verhältnis von Staat und Kunst wertentscheidend regelt 5 . Auch zur Frage der Gewährung von Subventionen, also von finanziellen Leistungen des Staates, denen kein entsprechender Gegenwert an Gütern oder Leistungen auf Seiten des Empfängers gegenübersteht und deren Ziel die Erreichung eines über die unmittelbare Hilfe hin1 Werner Weber, Urheberrecht u n d Verfassung, INTERGU-Schriftenreihe Bd. 24, 1961; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, Heidelberg (Diss.) 1963; Düwel, Staat u n d Kunst, i n : Festschrift Ule, 1967; Geiger, Z u r Diskussion über die Freiheit der Kunst, i n Festschrift Leibholz, Bd. 2, 1966; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967; Ridder, Freiheit der K u n s t nach dem Grundgesetz, I N T E R G U Schriftenreihe Bd. 29, 1963; Erbel, I n h a l t u n d Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, 1966; Graul, Künstlerische Urteile i m Rahmen der staatlichen Förderungstätigkeit, 1970; Ott, Die strafrechtliche Beurteilung von Werken der Kunst, N J W 1963, 617; Schick, Z u m verfassungsrechtlichen Begriff des Kunstwerks, JZ 1970, 645; Ertel, E i n Definierungsverbot für den verfassungsrechtlichen Begriff Kunst (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG), DVB1. 1969, 863. 2 BVerfGE 30, 173, 190 = N J W 1971, 1645 „Mephisto"; B V e r f G DVB1. 1971, 888. 3 B G H Z 50, 133, 144f. = N J W 1968, 1773, 1776 „Mephisto"; B V e r w G E 23, 194, 199 f. = N J W 1966, 1286; B V e r w G E 39, 197, 207 f. = N J W 1972, 596, 597. 4 B a y O b L G N J W 1964, 1149; O V G Münster N J W 1959, 1890; OVG L ü n e burg DVB1. 1969, 875 u n d DVB1. 1972, 393, 394 f. 5 So von den i n A n m , 1 genannten Ropertz, S. 90 ff., Düwel, S. 50; Geiger, S. 193; Ridder, S. 19; Becker, S. 25; Graul, S. 52 u n d die i n A n m . 2 - 4 zitierten Entscheidungen, ferner v. Mangoldt - Klein, 2. Aufl., Bern. I X 2 b (S. 253); a. M, Hamann - Lenz, 3. Aufl. Bern. A 13.
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W i l h e l m Nordemann
ausgehenden Erfolges ist 6 , liegt umfangreiches Material vor 7 . Man ist sich einig darüber, daß die Entscheidungsfreiheit der Exekutive i m Bereich solcher gewährenden Staatstätigkeit sehr viel weiter geht als i m Bereich der verpflichtenden Staatstätigkeit, also der Inanspruchnahme des Bürgers durch den Staat. Hier kann der Staat nicht nur bestimmen, welche Beträge er zur Durchführung einer bestimmten Subventionsmaßnahme i m Haushaltsplan insgesamt bereitstellen w i l l ; er ist auch weitgehend frei i n der Entscheidung darüber, wie er sie einsetzen und verteilen w i l l 8 . Zwar ist dabei der Gleichheitssatz des A r t . 3 GG zu beachten, aber er ist erst dann verletzt, wenn vernünftige, sachlich vertretbare Gründe für eine Ungleichbehandlung i m wesentlichen gleicher Tatbestände nicht erkennbar sind, wenn also gegen das W i l l kürverbot verstoßen ist 9 . Auch bedarf die gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebundene Verwaltung für die Gewährung von Subventionen — anders als bei der Eingriffsverwaltung — nicht unter allen Umständen der gesetzlichen Grundlage 10 . Neben dem förmlichen Gesetz kann auch jede andere parlamentarische Willensäußerung, insbesondere die etatmäßige Bereitstellung der zur Subventionierung erforderlichen Mittel, als eine hinreichende Legitimation verwaltungsmäßigen Handelns angesehen werden 1 1 . Ereilich erschöpft sich die Problematik der Subventionsgewährung nicht i n A r t . 3 GG. M i t Subventionen fördert der Staat nicht nur; vielmehr verwirklicht er m i t ihrer Gewährung einerseits und m i t ihrer Versagung andererseits bestimmte wirtschaftliche, politische, kulturelle oder auch militärische Ziele 1 2 . Diese Lenkungsfunktion der Subvention führt i n der Maximierung zur Ausschaltung des nichtbegünstigten 6 Zängl, Die Subventionen u n d ihre verfassungsmäßigen Schranken, W ü r z burg (Diss.) 1963, S. 165. 7 BVerfGE 12, 354, 367; BVerfGE 17, 210, 216 f.; BVerfGE 18, 121, 124; B V e r w G E 20, 101, 103; B V e r w G E 30, 191, 197; Buchholz, B V e r w G 451, 55 Nr. 30; B G H JZ 1970, 178, 179; Röttgen, Subventionen als M i t t e l der Verwaltung, DVB1. 1953, 485; von Münch, Die B i n d u n g des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz bei der Gewährung von Subventionen, AöR Bd. 85 (1960), 270 ff.; Götz, Recht der Wirtschaftssubventionen, 1966; Ipsen, öffentliche Subventionierung Privater, 1966; Wolff, Verwaltungsrecht I I I , 3. Aufl. 1973, § 154 m. w. Nachw. 8 BVerfGE 17, 1, 23; BVerfGE 22, 28, 34; BVerfGE 22, 100, 103; BVerfGE DVB1., 1960, 512, 513; O V G B e r l i n DVB1. 1967, 92, 93; v. Münch, S. 291. 9 So die i n A n m . 7 u n d 8 zitierten Entscheidungen. 10 BVerfGE 8, 155, 167. 11 BVerwGE, 6, 282, 287; B V e r w G N J W 1959, 1098 u n d DVB1. 1963, 859; B V e r w G E 18, 352, 353; O V G B e r l i n DVB1. 1967, 92. 12 Zängl (oben A n m . 6).
K u n s t und Subvention
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Staatsbürgers: Seine Wettbewerbsfähigkeit i m Verhältnis zu dem oder den Begünstigten w i r d derart beeinträchtigt, daß er nicht mehr existenzfähig ist. Für diesen Fall sehen BVerfG 1 3 und B V e r w G 1 4 zu recht die in A r t . 2 Abs. 1 GG geschützte Handlungs-(Wettbewerbs-)freiheit des Nichtbegünstigten als verletzt an. Die Frage, ob sich diese Grundsätze angesichts der institutionellen Garantie, die A r t . 5 Abs. 3 GG enthält, so ohne weiteres auf die gewährende Staatstätigkeit i m Bereich der Kunst übertragen lassen, ist bisher wenig durchdacht. Die vorliegenden Entscheidungen argumentieren fast ausschließlich vom Willkürverbot des A r t 3 GG 1 5 . Allerdings findet sich i n einem Urteil des BVerwG vom 28.1.1966, bei dem es u m die damals bedeutsame Frage der Kunstzensur durch Gewährung oder Versagung von Vergnügungssteuervergünstigungen für Filmvorführungen aufgrund von Prädikaten ging, die die Filmbewertungsstelle der Länder i n Wiesbaden erteilte 1 6 , der Hinweis, daß die Einrichtung der Filmbewertungsstelle auch unter dem Gesichtspunkt des A r t . 5 GG zu würdigen sei, weil jeder F i l m eine Meinungsäußerung enthalte, die durch die Ausgestaltung des Vergnügungssteuerrechts als „Erdrosselungssteuer" nicht praktisch unterdrückt werden dürfe, indem die Versagung des Prädikats die Aufführung des Films wirtschaftlich immöglich mache 17 . Doch w i r d die Zurückhaltung des BVerwG gegenüber einer schärferen Kontrolle des Staates bei der Kunstförderung durch die weitere Feststellung deutlich, A r t . 5 Abs. 3 GG stehe jedenfalls „einer K u l t u r p o l i t i k durch Prädikatisierung von F i l m e n nicht entgegen, soweit diese nicht dazu dient, der Tolerierung anderer Kunstauffassungen entgegenzuwirken und damit eine herrschende Kunstrichtung i n einer A r t zu verfestigen, wie sie u m die Jahrhundertwende beispielsweise zu den verschiedenen Sezessionen auf dem Gebiet der Malerei f ü h r t e " 1 8 .
Offenbar beruht diese Rechtsprechung auf der Überzeugung unserer Gerichte, daß A r t . 5 Abs. 3 GG den Staat nicht daran hindert, K u l t u r politik zu treiben. Ganz deutlich sagt demgemäß das OVG Lüneburg, das Verbot staatlichen Kunstrichtertums, wie es i n A r t . 5 Abs. 3 GG enthalten sei, verbiete dem Staat eine Wertung nur insoweit, als es sich 13
BVerfGE 4, 14 = NJW 1954, 1235; BVerfGE 6, 32, 41 = N J W 1957, 297, 298; BVerfGE 8, 274, 328 f.; BVerfGE 12, 341, 347 f. = N J W 1961, 1395; BVerf GE 18, 1 = N J W 1964, 1315. 14 B V e r w G E 30, 191, 197 = N J W 1969, 522, 523. 15 B V e r w G E 23, 194 = N J W 1966, 1286; Buchholz, BVerwG, § 96 B V F G Nr. 412. 3; OVG Lüneburg DVB1. 1969, 875, 876 und DVB1. 1972, 393, 397; V G H Bad.-Württ. ES V G H 17, 54 u n d 56. 16 B V e r w G E 23, 194 = N J W 1966, 1286. 17 Ebd. S. 199. 18 Ebd. S. 200.
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um die Bestimmung handele, was Kunst und wer Künstler sei; bei der Erteilung künstlerischer Aufträge, beim Ankauf von Kunstwerken, bei der Verleihung von Kunstpreisen, bei der Gewährung von Steuervorteilen sei jedoch eine qualitative Wertung des Kunstwerks oder des Künstlers unumgänglich 19 . I n der Tat würde, wenn dem Staat als Kunstmäzen eine Wertung von Werk und Künstler verwehrt wäre, der Ankauf von Kunstwerken durch ein staatliches Museum überhaupt unmöglich und ein Kunstpreis nur noch in der Weise zu verleihen sein, daß die Jury die ausgesetzte Summe gleichmäßig auf alle Teilnehmer des Wettbewerbs verteilt 2 0 . Eine solche Forderung ist von Hörstel 2 1 und Stiller 2 2 allen Ernstes erhoben worden; sie verlangen, daß der Staat die vorhandenen Möglichkeiten der Kunstförderung allen Künstlern und Kunstwerken gleichmäßig zukommen läßt. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß i m heutigen Kunstverständnis eine starke Strömung dahin tendiert, als Kunstwerk all das anzuerkennen, was der Künstler als Kunstwerk bezeichnet 2 3 , w i r d deutlich, daß die Verwirklichung der These Hörstels und Stillers das Ende jeder staatlichen Kunstförderung bedeuten müßte 2 4 . Allerdings führt die uneingeschränkte Anerkennung der Befugnis des Staates zu qualitativer Wertung i m Bereich der Kunstförderung, wie sie die bisherige Rechtsprechung kennzeichnet, i n bestimmten Fällen zu Ergebnissen, die von A r t . 5 Abs. 3 GG gerade verhindert werden sollten. Einige Erscheinungsformen der Kunst sind infolge der allzu großzügigen Subventionspolitik der letzten Jahrzehnte heute dadurch gekennzeichnet, daß eine künstlerische Betätigung dort ohne Subvention nicht mehr möglich ist. Das t r i f f t vor allem für die Tätigkeit von Sinfonieorchestern, i n vielen Teilen der Bundesrepublik aber auch auf die Musik- und Sprechtheater zu. Es gibt kein einziges namhaftes Sinfonie19
OVG Lüneburg DVB1. 1972, 393, 395. Von einem solchen F a l l berichtet — leider ohne nähere Angaben — Locher, Das Recht der bildenden Kunst, 1970, S. 33. 21 Fragen der Kunstsubvention, dargestellt am Beispiel der Documenta I I , 1961, S. 27. 22 Kunstfreiheit und Gleichheitsgebot bei staatlicher Kunstförderung, U F I T A 60 (1971), 171, 182. 23 So z. B. Kummer, das urheberrechtlich schützbare Werk, Bern 1968, S. 75 m i t weiteren Nachweisen. Dagegen schon Ulmer, GRUR 1968, 527; Samson, U F I T A 56 (1970), 117; Gerstenberg, i n : Festschrift Wendel, S. 89, 94 ff.; Fromm - Nordemann, 3. Aufl. Bern. 2 zu § 2 UrhG. 24 Ähnlich Locher, S. 27, 31 u n d U F I T A 55 (1970), 129, 140; Erbel, I n h a l t u n d Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, 1966, S. 177; Wenzel, Das K u n s t w e r k 1965, S. 45; Maunz, Kunstfreiheit u n d K u n s t pflege, BayVBl. 1970, 354; vgl. auch Schäuble, Rechtsprobleme der staatlichen Kunstförderung, Freiburg (Diss.) 1967, S. 203. 20
K u n s t u n d Subvention
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Orchester i n Deutschland, das ohne staatliche Zuschüsse i n erheblicher Höhe — sie liegen fast überall weit über 50 °/o des Gesamtetats — auskäme. Die wenigen Privatorchester, die nicht subventioniert sind, partizipieren jedenfalls indirekt an den Subventionen der anderen: Das Berliner Barock-Orchester, das sinfonie Orchester berlin, das Orchester Graunke i n München, um die wichtigsten Beispiele zu nennen, arbeiten fast ausschließlich m i t Mitgliedern der großen Subventionsorchester, die in ihrer Freizeit noch ein paar Mark dazuverdienen wollen. M i t eigenen, nach dem TOK-Tarif bezahlten Musikern wäre keines dieser Orchester existenzfähig. I m Theaterbereich stellt die zunehmende Förderung von Staats- und ausgewählten Privatbühnen die Existenz nichtsubventionierter Bühnen immer mehr i n Frage: Die aus eigener K r a f t lebende Privatbühne ist auf die Kasseneinnahmen angewiesen, muß also ihre Eintrittspreise an den Kosten orientieren. Die staatlich geförderte Bühne dagegen deckt die Kosten mehr und mehr aus Subventionen und kann die Eintrittspreise dementsprechend niedrig halten. I m Jahre 1972 lag der A n t e i l der Kasseneinnahmen am Gesamtetat der staatlichen Bühnen zwischen 9,1 °/o (Städtische Bühnen Essen) und 49 % (Thalia Theater Hamburg), i m Durchschnitt bei etwa 20 °/o25. Deutlicher ausgedrückt: U m die gleichen Einnahmen zu erzielen wie der Durchschnitt der staatlichen Bühnen, hätten die nichtsubventionierten Privatbühnen die fünffachen Eintrittspreise nehmen müssen. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Wettbewerbslage die Existenz nichtsubventionierter Privatbühnen auf die Dauer unmöglich macht. Die Rechtsprechung hat diese Problematik bisher — man ist versucht zu sagen: geflissentlich — übersehen. Sowohl von der Heidelberger Handpuppenbühne 26 als auch von der Morgenstern-Bühne 27 war geltend gemacht worden, angesichts der Wettbewerbsverzerrung, wie sie die umfangreiche Förderung anderer Bühnen m i t sich gebracht habe, seien sie ohne staatliche Hilfe nicht lebensfähig. Beide sind nach verlorenem Prozeß alsbald eingegangen. I n den Entscheidungen des V G H BadenWürttemberg, des OVG Lüneburg und des BVerwG w i r d dieser Gesichtspunkt nicht einmal erwähnt, geschweige denn erörtert. Andererseits haben B V e r w G 2 8 und OVG Münster 2 9 bei der Prädikatisierung von Filmen — sie hatte Vergnügungssteuervergünstigungen zur Folge — ein Wertungsrecht des Staates zumindest für den F a l l 25
Vgl. „Der A u t o r " 1973, Nr. 7 (Mai 1973), S. 10. V G H Baden-Württemberg ES V G H 17, 54 u n d 56. 27 O V G Lüneburg DVB1. 1969, 875 u n d B V e r w G bei Buchholz, BVerwG, § 96 B V F G Nr. 412.3. 28 B V e r w G E 23, 194 = N J W 1966, 1286. 29 OVGE 18, 276. 26
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verneint, daß die Wertung praktisch zu einem Verbot des Films führe. Der Gedanke, der diesen Entscheidungen zugrunde liegt, gilt auch für die eben geschilderte Situation i m Sinfonieorchester- und Theaterbereich. A r t . 5 Abs. 3 GG verwehrt es dem Staat, den Raum künstlerischer Betätigung einzuengen, ganz gleich, auf welche Weise das geschieht 30 . W i r stehen damit vor einem Paradoxon besonderer A r t : Die staatliche Förderung künstlerischer Betätigung kann zu einer verfassungswidrigen Beschränkung der Freiheit zu künstlerischer Betätigung führen. Fördert der Staat die Kunst i n einem solchen Maße, daß nicht geförderte Kunst nicht mehr wettbewerbsfähig ist, verliert er zumindest das i h m sonst zustehende Wertungs- und Differenzierungsrecht. Er muß i n diesem Falle entweder alle Kunstbeflissenen gleichmäßig fördern oder seine Subventionspolitik ändern. Die öffentlichen Träger von Orchestern und Theatern werden demgemäß, wenn sie nicht zu unterschiedsloser Förderung jedes Bürgers kommen wollen, der ein Sinfonieorchester gründet oder ein Theater eröffnet, Überlegungen anzustellen haben, wie man die staatliche Förderung i n diesem Bereich wieder auf ein Maß zurückschrauben könnte, das der subventionsfreien Betätigung noch einen Lebensraum läßt. Dabei w i r d ebenso behutsam wie gleichmäßig vorgegangen werden müssen, u m Erreichtes nicht zu gefährden. Noch ist Zeit.
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BVerfGE 30, 173, 198 „Mephisto" u n d O V G Lüneburg DVB1. 1972, 393, 395 m i t weiteren Nachweisen.
Drittwirkung der Grundrechte durch völkerrechtliche Verpflichtung? Von Jost Delbrück
Die thematische Verknüpfung eines nach traditionellem Verständnis spezifisch staatsrechtlichen Problems, nämlich der D r i t t w i r k u n g der Grundrechte m i t dem Völkerrecht, mag bei erstem Zusehen dem Fragezeichen i m Thema des nachfolgenden Beitrages ein besonderes Gewicht verleihen. Werden mit einer solchen Fragestellung nicht — so könnte man einwenden — zwei Rechtsbereiche miteinander verbunden, die jedenfalls i n dem angesprochenen Sachbereich — Geltungsumfang und Wirkungsrichtung der Grundrechte — ihrem Wesen nach gerade strikt voneinander zu trennen sind? Regelt doch das Völkerrecht herkömmlicherweise die Beziehungen zwischen Staaten, während das Verhältnis zwischen Bürger und Staat sowie zwischen Bürger und Bürger typischerweise den Gegenstand innerstaatlicher Regelung bildet. Indes würde ein solcher Einwand eine Entwicklung i m Völkerrecht außer acht lassen, die insbesondere seit dem Ende des 2. Weltkrieges an Gewicht gewonnen hat. Gemeint ist die zunehmende Befassung des Völkerrechts m i t dem Menschenrechtsschutz. Schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte i m Deutschen Reich vor und während des 2. Weltkrieges und Bevölkerungsvertreibungen nach diesem Krieg veranlaßten die organisierte Staatengemeinschaft, den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten aus der ausschließlich innerstaatlichen Zuständigkeit herauszulösen und zu einer internationalen Aufgabe zu erheben. Sichtbarer Ausdruck dieser Bemühungen sind auf universaler Ebene die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), die Konventionen der Vereinten Nationen über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte einerseits und die politischen und B ü r gerrechte andererseits (1966). Hinzukommen auf universaler Ebene eine Reihe von Spezialabkommen, die vor allem das Verbot der Diskriminierung von Personen wegen ihrer rassischen, nationalen oder religiösen Zugehörigkeit zum Ziel haben. Zu nennen sind hier die Konventionen von 1958 und 1960 über das Verbot der Diskriminierung i n Beruf und Beschäftigung und i m Unterrichtswesen. A u f regionaler Ebene sind die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 und
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Jost Delbrück
neuerdings die Interamerikanische Menschenrechtskonvention von 1969 der Vollständigkeit halber zu erwähnen 1 . Es liegt auf der Hand, daß spätestens i n dem Zeitpunkt, i n dem ein Staat wie die Bundesrepublik als Vertragspartner an derartige menschenrechtliche Kodifikationen durch Unterzeichnung und Ratifikation gebunden ist, vielfältige Fragen nach dem Verhältnis von Inhalt und Geltungsumfang der völkerrechtlichen Menschenrechte und Grundfreiheiten zu der nationalen, innerstaatlichen Grundrechtsordnung aufgeworfen werden. Soweit solche Fragen die inhaltliche Übereinstimmung völkerrechtlicher und nationaler Grundrechte betreffen, sollen sie hier außer Betracht bleiben. Gegenstand der Erörterung soll vielmehr ein Ausschnitt aus dem Fragenkreis sein, der den möglichen Einfluß der völkerrechtlichen Menschenrechtsnormen auf den Geltungsumfang bzw. die Wirkungsrichtung der nationalen Grundrechte betrifft. Konkret geht es u m das Problem, ob und inwieweit die völkerrechtlichen Menschenrechtsnormen nur die Wirkung innerstaatlicher Grund- und Menschenrechte i m Verhältnis zwischen dem Bürger und der i h m übergeordneten Staatsgewalt — dem klassischen Feld des Grundrechtsschutzes — von internationaler Seite absichern oder inhaltlich erweitern, oder ob zumindest einige der völkerrechtlichen Menschenrechtsschutznormen weitergreifen und die Wirkung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf die Beziehungen zwischen den Bürgern, also auf den Bereich des Privatrechts, ausdehnen. Ist letzteres der Fall, so ist hier die weitere Frage zu stellen, welche Konsequenzen dies für die innerstaatliche Rechtsordnung hat bzw. welche Lösungen die innerstaatliche Ordnung — hier die Bundesrepublik — für eine der völkerrechtlichen Vertragspflicht gerecht werdende Anwendung der internationalen Menschenrechtsnormen bereit hält. Umgekehrt ließe sich fragen, ob die i n die innerstaatliche Rechtsordnung transformierten völkerrechtlichen Menschenrechtsschutznormen m i t der nationalen Verfassungsordnung vereinbar sind. Damit ist der Gang der Untersuchung vorgezeichnet. Nach einer k u r zen Analyse der völkerrechtlichen Anforderungen an den innerstaat1 Die Texte aller erwähnten universalen Menschenrechtsinstrumente i n Documents on H u m a n Rights (UN Doc. A/Conf. 32/4) ; deutsche Übersetzungen der MR-Konventionen der Vereinten Nationen i n Jahrbuch für Internationales Recht Bd. 15 (1970), S. 771 ff.; die Konventionen über das Verbot der, Diskriminierung i n Beruf u n d Beschäftigung sowie i m Unterrichtswesen f i n den sich i n B G B l 1961 I I , S. 97 ff. u n d 1968 I I , S. 385 ff.; der T e x t der K o n vention über die Beseitigung jeder F o r m von Rassendiskriminierung i n B G B l 1969 I I , S. 961 ff.; T e x t der E M R K i n B G B l 1952 I I , S. 686 u n d der I n t e r amerikanischen M R K i n englischer Sprache, in: Jahrbuch für Internationales Recht, S. 822 ff.
D r i t t w i r k u n g der Grundrechte durch völkerrechtliche Verpflichtung?
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liehen Grundrechtsschutz (I) werden die wesentlichen Lehrmeinungen und die Rechtsprechung zum Wirkungsumfang der Grundrechte daraufhin zu untersuchen sein, ob und inwieweit sie diesen völkerrechtlichen Anforderungen schon entsprechen (II). Schließlich w i r d überlegt werden müssen, i n welcher Form etwaige Diskrepanzen zu den völkerrechtlichen Anforderungen i n verfassungsmäßiger Weise überbrückt werden können (III). I m Interesse der Konzentration und aus Gründen der Plastizität der Darstellung soll dabei die Frage nach der Geltung des Gleichheitssatzes i n Gestalt des Diskriminierungsverbotes i n den privatrechtlichen Beziehungen i m Zentrum der Untersuchung stehen. Diese Beschränkung rechtfertigt sich allerdings auch insofern aus systematischen Gründen, als die Verweigerung der Gleichbehandlung i n vielen Fällen für die Diskriminierten die Verweigerung des Genusses anderer Menschenrechte und Grundfreiheiten, so etwa das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, impliziert.
I. Inhalt und Geltungsumf ang der völkerrechtlichen Menschenrechtsnormen I m Rahmen dieses Beitrages würde es zu weit führen, den gesamten, bereits sehr umfangreichen Bestand an völkerrechtlichen Normen zum Schutz der Menschenrechte daraufhin zu analysieren, ob und inwieweit sie eine über die traditionelle Schutzfunktion i m Verhältnis „BürgerStaat" hinausgreifende Wirkungsrichtung anordnen und welche A n t worten sie auf die mit den angeführten Fällen aufgeworfenen Fragen erfordern 2 . Die Untersuchung beschränkt sich deshalb auf die wichtigsten menschenrechtlichen Kodifikationen, die wie die Europäische Menschenrechtskonvention, die Konventionen über das Verbot der Diskriminierung i n Beruf und Beschäftigung sowie i m Unterrichtswesen und die Konvention über die Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung bereits seit einigen Jahren i n K r a f t getreten und für die Bundesrepublik verbindlich sind oder wie die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen, die zwar noch nicht i n K r a f t getreten sind, jedoch von der Bundesrepublik i n naher Zukunft ratifiziert werden sollen 3 .
2 Vgl. hierzu allgemein Lauterpacht, International L a w and H u m a n Rights (London 1950), S. 340ff.; ferner Delbrück, Die Rassenfrage als Problem des Völkerrechts u n d nationaler Rechtsordnungen (1971), S. 113 ff. 3 Das Ratifizierungsverfahren ist i m Herbst 1973 durch die Bundesregier u n g eingeleitet worden.
15 Festschrift für Werner Weber
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Ohne weiteres können aus der Reihe dieser menschenrechtlichen Verträge diejenigen als für die Thematik irrelevant ausgeschieden werden, die nur Verpflichtungen der Staaten untereinander enthalten, schrittweise solche i n weitestem Sinne sozialen Bedingungen zu verwirklichen, die den Menschen den Genuß aller Menschenrechte ermöglichen sollen. Es handelt sich hier u m die Konvention der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, ferner auch die Konventionen über das Verbot der Diskriminierung i n Beschäftigung und Beruf sowie i m Unterrichtswesen. Soweit i n diesen Verträgen nicht überhaupt nur Programmsätze enthalten sind, schaffen die Vertragsnormen auf Seiten des einzelnen Bürgers jedenfalls keine Grundrechte i m Sinne subjektiv-öffentlicher Rechte, für die sich dann die Frage nach ihrer Einwirkung auch auf die Privatrechtsbeziehungen stellen könnte. Vielmehr erscheint das Individuum hier allenfalls als Träger eines Rechtsreflexes. Anders stellt sich insoweit die Rechtslage hinsichtlich der Konventionen der Vereinten Nationen über politische und Bürgerrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Konvention über die Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung dar. Hier werden jedenfalls überwiegend mit der innerstaatlichen Inkraftsetzung unmittelbar Rechte auf Seiten des Individuums geschaffen, die — unter hier nicht näher interessierenden Modalitäten — auch durchsetzungsfähig sind 4 . Inhaltlich decken sich die i n der UN-Konvention und i n der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Menschenrechte weitgehend m i t dem Katalog der klassischen Grundrechte 5 , wie er auch i m Grundgesetz enthalten ist. Zumindest gehen sie nicht über den Schutzbereich des Grundrechtskataloges des GG hinaus. Einen ausdrücklichen Hinweis darauf, ob diese Menschenrechte nicht nur das Verhältnis „Bürger-Staat", sondern darüber hinaus auch die privatrechtlichen Beziehungen zwischen den Bürgern bestimmen sollen, enthalten diese völkerrechtlichen Menschenrechtskodifikationen nicht 6 . Aus der Entstehungsgeschichte der UN-Menschenrechtskonvention lassen 4
Vgl. dazu Partsch, Die Rechte u n d Freiheiten der Europäischen M e n schenrechtskonvention, i n Bettermann/Nipper dey/ Scheuner, Die Grundrechte Bd. 1/1 (1966), S. 266; Golsong, Das Rechtsschutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention (1958), S. 6 ff. 5 So zusammenfassend Maunz, Deutsches Staatsrecht, 19. A u f l . (1973), S. 114. 6 So zu Recht Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention — Kommentar (1968), S. 20 ff.; Partsch (Anm. 4), S. 299; zum Gesamtproblem ausführlich Glatzel, Die E i n w i r k u n g der Rechte u n d Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention auf private Beziehungen, Diss. Bonn (1968) passim.
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sich i m Gegenteil Anhaltspunkte aufzeigen, die für einen Ausschluß einer solchen D r i t t w i r k u n g der Rechte der Konvention sprechen 7. Durch die Ratifikation der UN-Menschenrechtskonvention würde somit die innerstaatliche Rechtslage bezüglich der D r i t t w i r k u n g der Grundrechte ebensowenig verändert wie dies durch den Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Menschenrechtskonvention geschehen ist. Wie steht es demgegenüber m i t der nun noch zu prüfenden Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung? Ausgehend von der Erkenntnis, daß Rassendiskriminierung — Rasse nach englischem Sprachgebrauch i m weitesten Sinne verstanden 8 — die schwersten Schädigungen der Persönlichkeit des Diskriminierten herbeiführen können, ist diese Konvention ihrer gesamten Tendenz nach auf eine Realisierung des Gleichheitssatzes i n Gestalt des Diskriminierungsverbotes auch in den privaten Rechtsbeziehungen, also auf D r i t t wirkung angelegt. Neben der Verpflichtung der Vertragsstaaten, allgemein alles zu tun, die Rassendiskriminierung zu unterbinden, enthält die Konvention ins Detail gehende Vertragspflichten u. a. des Inhalts, daß die Vertragsstaaten Rassendiskriminierung durch Personen oder Organisationen weder fördern noch schützen, noch unterstützen, vielmehr die Diskriminierung durch einzelne Personen oder Organisationen verbieten und i n anderer Weise durch Rechtsvorschriften beenden und darüber hinaus zu diesem Zweck den gleichen Genuß der Menschenrechte für jedermann gewährleisten, darunter „das Recht auf Zugang zu jedem Ort oder Dienst, der für die Benutzung durch die Öffentlichkeit vorgesehen ist, wie Verkehrsmittel, Hotels, Gaststätten, Cafés, Theater und Parks" (Art. 5 Ziff. f) 9 . Die Relevanz dieser Vertragsnormen für die Ausgestaltung der innerstaatlichen Rechtsordnung i m allgemeinen und den Geltungsumfang sowie die Wirkungsrichtung des Gleichheitssatzes i n Gestalt des Diskriminierungsverbotes i m besondern liegt auf der Hand. Die Frage ist, ob und inwieweit die innerstaatliche Ordnung der Bundesrepublik den Anforderungen dieser Konvention bereits entspricht, ob sie ihnen überhaupt entsprechen kann oder ob dem verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen. 7
Vgl. Glatzel (Anm. 6), S. 58 f. Der Begriff „race" umfaßt nach englischem Sprachgebrauch zumindest auch ethnische, gelegentlich aber auch nationale Unterscheidungsmerkmale, ist also weiter als das deutsche W o r t „Rasse", vgl. Black's L a w Dictionary, 4. Aufl. (St. Paul/Minnesota 1951), S. 1423. 9 Zitiert aus B G B l 1969 I I , S. 967 f. 8
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II. Die Anerkennung einer Drittwirkung der Grundrechte unter der Geltung des Grundgesetzes im Verhältnis zu den völkerrechtlichen Drittwirkungsforderungen Bei der Erörterung der Möglichkeiten der deutschen Rechtsordnung, den Anforderungen der Konvention über die Rassendiskriminierung gerecht zu werden, ist von den positivrechtlichen Aussagen über die D r i t t w i r k u n g der Grundrechte einerseits und den von Lehre und Rechtsprechung entwickelten Lösungen des Problems andererseits auszugehen. Das Grundgesetz kennt — m i t der Ausnahme des A r t . 9 Abs. I I I Satz 2 — keine ausdrückliche Regelung, die die Beachtung der Grundrechte i n den Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander verlangt. Das bedeutet jedoch nicht, daß jenseits der Drittwirkungsklausel des Art. 9 Abs. I I I Satz 2 GG Privatrecht und Grundrechtsordnung isoliert nebeneinander existieren, die Grundrechte also i m Regelfall ohne Bedeutung für die Privatrechtsordnung und die von ihr bestimmten Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern sind. Umstritten ist jedoch, i n welcher Weise die von niemandem geleugnete Bedeutung der Grundrechte für die Privatrechtsordnung rechtlich zu erfassen ist. Die begriffslogisch scharfsinnigste Ablehnung „einer Drittbezogenheit (-beziehung), -richtung oder -Wirkung" 10 der Grundrechte i m Sinne subjektiv-öffentlicher Rechte verdanken w i r den Arbeiten F. Kleins. Solche subjektiv-öffentlichen Rechte können ihrer Natur nach i n Privatrechtsverhältnissen nicht bestehen, „beziehungsweise (können) aus subjektiv-öffentlichen Rechten keine subjektiven Privatrechte abgeleitet werden" 1 1 . Das bedeutet aber keinesfalls, daß die die Grund,,rechte" enthaltenden Grundrechts„bestimmungen" für das Privatrecht nach der Ansicht Kleins irrelevant wären. Vielmehr können diese Grundrechtsbestimmungen eine „bestimmte A r t von ,Drittwirkung 4 . . . i m Sinne einer Wirkung i n Rechtsbereichen außerhalb des Verfassungsrechts" . . . „als Einrichtungsgarantie und Grundsatznormen" enthalten. Bei genügender Konkretheit und Bestimmtheit einer solchen Einrichtungsgarantie oder solcher Grundsatznormen, zu denen nach K l e i n u. a. auch Art. 3 Abs. I I I GG zählt, können i m Einzelfall nicht nur niederrangige Rechtssätze, sondern auch ein einzelnes Rechtsgeschäft i m Falle eines Verstoßes dagegen nichtig sein 12 . Der „Drittwirkungs"effekt w i r d nach dieser Auffassung also nicht aus den Grundrechten als subjektiv-öffentlichen Rechten, sondern aus 10
So F. Klein i n v. Mangoldt (1966), Bd. I, S. 62. 11 F. Klein (Anm. 10), S. 65. 12 F. Klein (Anm. 10), S. 66.
- Klein,
Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl.
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den Grundrechtsbestimmungen als objektiven Rechtssätzen und der Einbindung der Gesamtrechtsordnung i n die so konstituierte Verfassungsordnung entwickelt. Setzt man diesen Weg einer Bindung des Privatrechts an die Grundsatznormen des A r t . 3 GG zu den oben aufgezeigten völkerrechtlichen Anforderungen an die deutsche Rechtsordnung, das Diskriminierungsverbot auf die Privatrechtsbeziehungen zu erstrecken, i n Beziehung, so läßt sich feststellen, daß zumindest i n Einzelfällen dem Gebot, rechtsgeschäftlichen Diskriminierungen aus Gründen der rassischen usw. Zugehörigkeit Einhalt zu gebieten, Rechnung getragen werden kann. Eine Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtung des A r t . 5 Ziff. f Rassendiskriminierungskonvention, den Zugang zu „öffentlichen Einrichtungen" zu gewährleisten, auch wenn sie i n privatem Eigentum stehen, dürfte jedoch auf diesem Wege nicht zu erreichen sein. Es bedürfte dazu der Ableitung eines privaten subjektiven Rechts des Diskriminierten auf Vertragsabschluß (ζ. B. Beherbergungsvertrag) aus der Grundsatznorm des A r t . 3 Abs. I I I GG — ein Weg, der sich nach der ausdrücklich restriktiv konzipierten Auffassung F. Kleins 1 3 von der Wirkung der Grundsatznormen auf außerverfassungsrechtliche Bereiche verbietet. Soweit die Frage der Geltung der Grundrechte für das Privatrecht nicht von der begrifflichen Trennung zwischen Grundrechten und Grundrechtsbestimmungen her erörtert w i r d — und das ist überwiegend i m Schrifttum und i n der Rechtsprechung der Fall —, w i r d der Meinungsstreit bis heute von zwei gegensätzlichen Auffassungen geprägt: die heute wohl als vorherrschend zu bezeichnende, von Dürig entwickelte Lehre von der mittelbaren D r i t t w i r k u n g der Grundrechte und die von Nipperdey begründete Lehre von der unmittelbaren D r i t t wirkung. Nach D ü r i g 1 4 ist für eine unmittelbare Anwendung der Grundrechte i m Privatrecht kein Raum. Die Privatrechtsordnung als eine zwischen gleichgeordneten Rechtssubjekten geltende Ordnung unterliege grund13
F. Klein (Anm. 10), S. 68. Vgl. dazu Dürig i n Maunz - Dürig - Herzog, Grundgesetz — K o m m e n tar (1971), A n m . 102 und 127 ff. zu A r t . 1 GG sowie Anm. 505 - 519 zu A r t . 3 I GG, Anm. 172 zu A r t . 3 I I I GG (diese Kommentierung konnte i m Text nicht mehr berücksichtigt werden, da sie nach Drucklegung erschien); ferner ders., Grundrechte u n d Zivilrechtsprechung, i n : V o m Bonner Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung — Festschrift f ü r Hans Nawiasky, hrsg. v. Maunz (1956), S. 157 ff. D ü r i g w i l l heute i n bestimmten Fällen „krasser Ungleichbehandlung", die den Tatbestand der sittenwidrigen Schädigung erfüllen, m i t Schadensersatz nach § 826 B G B i n Gestalt des Kontrahierungszwanges helfen (Anm. 519 zu A r t . 3 I GG), was allerdings die Fälle des i n Gaststätten etc. Diskriminierten nicht generell erfassen dürfte. 14
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sätzlich anderen Maßstäben als die öffentlich-rechtliche Ordnung. Ausgehend von einer das Privatrecht beherrschenden Priorität der individuellen Freiheit sei festzustellen, daß i n den privaten Rechtsbeziehungen die Einräumung und Inanspruchnahme von Rechten einerseits und Übernahme von Pflichten andererseits zu größeren Einschränkungen grundrechtlich geschützter Positionen führen dürfen, als sie dem Staat nach der Grundrechtsordnung gestattet seien. Eine unmittelbare Anwendung der Grundrechte i m Privatrecht würde deshalb zu einer unangemessenen Beschränkung der Dispositionsfreiheit des einzelnen führen. Deshalb könnten die Grundrechte einschließlich des Gleichheitssatzes nur i m Rahmen und mittels des i m Privatrecht bereits vorgefundenen Schutzsystems zur Abwehr unangemessener Rechtsbeeinträchtigungen zur Anwendung kommen. Einfallstor seien die sog. Generalklauseln des BGB, die als Grenzen privatrechtlichen Handelns die Sittenwidrigkeit setzten, also insbesondere die §§ 138 und 826 BGB. Die Funktion der Grundrechte sei hier Wertdifferenzierung und -Verdeutlichung sowie i n einer intensiveren Stufe Wertakzentuierung und Wertschöpfung. Nur soweit das Privatrecht eine echte Wertschutzlücke aufweise, fordere die Verfassung i m Rahmen des zivilistischen Begriffssystems die Schließung dieser Lücke. M i t der Anerkennung eines auf Art. 1 Abs. I GG (Menschenwürde) und A r t . 2 Abs. I GG (Freiheit der Person) gestützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts als nach § 823 Abs. I BGB gegen unerlaubte Angriffe privater Dritter geschütztes Rechtsgut hat die Zivilrechtsprechung dieser Forderung Rechnung getragen 1 5 . Vergleicht man diese Ergebnisse m i t den Anforderungen der Konvention über die Rassendiskriminierung, so w i r d man feststellen müssen, daß sie nur zum Teil erfüllt werden. Zwar gibt es gewisse rechtliche Sanktionen gegen die Diskriminierung, nicht aber w i r d der Zugang für jedermann ohne Rücksicht auf die Rasse oder nationale Abkunft zu Hotels, Gaststätten usw. gewährleistet. Dieses Zurückbleiben der Lehre von der mittelbaren D r i t t w i r k u n g hinter den völkerrechtlichen Anforderungen betrifft unmittelbar jedoch nur den Bereich des Gleichheitssatzes i n Gestalt des DiskriminierungsVerbotes. Hinsichtlich der Freiheits- bzw. Abwehrrechte, für die völkerrechtlich eine D r i t t w i r k u n g zumindest nicht ausdrücklich gefordert wird, gewährt diese Lehre ebenfalls ausreichenden, wenn nicht gar darüber hinausgehenden Schutz. 15
Vgl. die Rechtsprechungsübersicht bei Leisner, Grundrechte u n d P r i v a t recht (1960), S. 341 ff.; zur Rechtsprechung des BVerfG i n der D r i t t w i r k u n g s frage vgl. E 7, 198 ff. (grundlegend), ferner die Übersicht bei Leisner, S. 348 ff.
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Die von Nipperdey 1 6 und unter seiner Führung vom Bundesarbeitsgericht 17 vertretene Lehre von der unmittelbaren D r i t t w i r k u n g vieler, wenn auch nicht aller Grundrechte, geht davon aus, daß eine Reihe von Grundrechten, darunter i n erster Linie die A r t . 1 bis 6 Grundsatznormen für die gesamte Rechtsordnung darstellen, die auch die Privatrechtsordnung unmittelbar binden. Dies gilt auch für den Gleichheitssatz. Einschränkend ist allerdings hinzuzufügen, daß es insoweit nur um die Gleichbehandlungspflicht ζ. B. von Arbeitnehmern (Lohngleichheit von Männern und Frauen bei gleicher Arbeit) geht. Von einer absoluten Geltung des Gleichheitssatzes i. S. eines Diskriminierungsverbotes beim Abschluß von Arbeitsverträgen kann auch nach dieser A u f fassung nicht die Rede sein. Das freie Recht zur Auswahl von Arbeitnehmern unter Berücksichtigung ζ. B. religiöser Zugehörigkeit darf zumindest i n einer Reihe von Fällen (Tendenzbetriebe etc.) als das Gleichbehandlungsgebot modifizierend berücksichtigt werden 1 8 . Von besonderem Interesse ist jedoch i m vorliegenden Zusammenhang, welche Haltung von den Vertretern der Lehre von der unmittelbaren D r i t t w i r k u n g der Grundrechte zum Problem des Kontrahierungszwanges eingenommen wird. Diesen wollte Nipperdey i n seinen frühen, vor der Geltung des GG veröffentlichten Schriften 19 und wollen heute Leisner (in seiner Schrift „Grundrechte und Privatrecht" aus dem Jahre 1960) und einige andere Autoren annehmen, wenn eine der öffentlichrechtlichen Lage zwischen Bürger und Staat vergleichbare Monopolsituation oder eine Situation „sozialer Gewalt" zwischen privaten Rechtssubjekten vorliegt 2 0 . Andererseits lehnt Schwabe, der vor wenigen Jahren i n seiner Arbeit „Die sog. D r i t t w i r k u n g der Grundrechte" vom A n satz her bisher wohl am radikalsten die Geltung der Grundrechte auch für die Privatrechtsordnung postuliert hat — private Rechtsmacht ist staatlich verliehene Rechtsmacht und deshalb i m Prinzip genau wie die 16 Vgl. Nipperdey, Die Würde des Menschen, i n Neumann - Nipperdey Scheuner, Die Grundrechte, Bd. 2 (1954/58), S. 35 ff.; ders., Freie Entfaltung der Persönlichkeit, i n Bettermann/Nipperdey, Die Grundrechte, Bd. 4/2 (1962), S. 752 ff. ; hierzu ausführlich auch Gamillscheg, Die Grundrechte i m Arbeitsrecht, i n : Archiv für die civilistische Praxis, Bd. 164 (1964), S. 385 ff. (insbes. S. 404 ff.). 17 Vgl. B A G E 1, 258 ff. (allerdings noch aufgrund der Delegationstheorie — Tarifvertragsnormen als „Rechtsnormen"), deutlicher E 1, 185 ff. und 4, 274ff.; zu dieser Rechtsprechung vgl. auch Gamillscheg, Der Einfluß der Grundrechte auf das Arbeitsrecht, i n Perspectivas del Derecho Publico en la segunda m i t a d del siglo X X (Festschrift für Sayagues-Laso (1969), Bd. I I I , S. 801 ff. 18 Vgl. dazu Gamillscheg (Anm. 16), S. 415. 19 Nipperdey, Kontrahierungszwang u n d diktierter Vertrag (1920); ders., Stromsperre, Zulassungszwang u n d Monopolmißbrauch (1929). 20 Vgl. Leisner (Anm. 15), S. 232 ff. m. w. Nachw.
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öffentliche Gewalt grundrechtsgebunden — den Schritt zum Kontrahierungszwang über den Gleichheitssatz als einerseits nicht von der Verfassung geboten und andererseits m i t der Grundstruktur der Privatrechtsordnung nicht vereinbar ab. Der Grund hierfür liegt nach Schwabe darin, daß für die Diskriminierung, also den Gleichheitsverstoß, die staatliche Verleihung der Rechtsmacht ursächlich, aber nicht unmittelbar verantwortlich sei 21 . So ist i m Ergebnis für die Lehre von der unmittelbaren D r i t t w i r k u n g der Grundrechte i m Privatrecht festzustellen, daß sich die Geltung der für eine D r i t t w i r k u n g i n Frage kommenden Grundrechte i n den privaten Rechtsbeziehungen stärker auswirkt als bei der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung. Rechtshandlungen und Verträge m i t Verpflichtungen, die Grundrechtspositionen ζ. B. aus A r t . 1, 5 oder 6 zentral verletzen, sind ebenso nichtig nach §134 BGB wie Verfügungen und Abreden, die dem Diskriminierungsverbot des A r t . 3 Abs. I I I GG zuwiderlaufen. Aber auch diese Lehre erkennt den Vorrang der Vertragsfreiheit vor dem Gleichheitsgebot jedenfalls insoweit an, als sie einen m i t dem Gleichbehandlungsgebot begründeten Kontrahierungszwang jedenfalls dann ablehnt, wenn nicht eine besondere — dem von der Unentrinnbarkeit gekennzeichneten 2 2 Bürger-Staat-Verhältnis vergleichbare — Lage zwischen den privaten Rechtssubjekten besteht. Einen speziell auf die Durchsetzung des Diskriminierungsverbotes des Art. 3 Abs. I I I GG i n den Privatrechtsbeziehungen bezogenen A n satz hat schließlich Salzwedel geliefert 2 3 . Für ihn ist die Diskriminierung als ein Sonderfall der Verletzung des Gleichheitssatzes i n besonderem Maße auf A r t . 1 Abs. I GG (Schutz der Menschenwürde) orientiert. Jede Diskriminierung ist anders als andere allgemeine Ungleichbehandlung auch eine Verletzung des Persönlichkeitsrechtes. Die Sanktionsmöglichkeit sieht Salzwedel deshalb über §§ 823, 847 BGB. Als Schadensersatz kommt damit nur Geld i n Betracht. A u f Erfüllung i m Sinne des Abschlusses des verweigerten Vertrages geht der Ersatzanspruch nicht, da nach der Ansicht Salzwedels die Vertragsverweigerung als solche jeden Bürger treffen kann, also nicht typischerweise auf der verbotenen Diskriminierung beruht. Die Rechtsverletzung besteht vielmehr i n der von der Diskriminierung verursachten Persönlichkeitsverletzung. Dieser Lösungsweg bedeutet — auf die Anforderungen der 21 Schwabe, Die sogenannte D r i t t w i r k u n g der Grundrechte (1971), S. 149 ff. u n d passim. 22 Der Begriff der „ U n e n t r i n n b a r k e i t " als G r u n d f ü r die Grundrechtsgeltung gegenüber privatem Staatshandeln sehr anschaulich bei Leisner (Anm. 15), S. 207. 23 Salzwedel, Gleichheitsgrundsatz u n d D r i t t w i r k u n g , i n Festschrift H e r mann Jahrreiss, hrsg. von Carstens u n d H. Peters (1964), S. 339 ff.
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Rassenkonventionen angewendet —, daß zwar der Zugang zu privaten Einrichtungen, die für die Allgemeinheit bereitgehalten werden, nicht unmittelbar gesichert w i r d — einen Kontrahierungszwang lehnt Salzwedel ab —, daß aber für jede Diskriminierung aus den Gründen des A r t . 3 Abs. I I I GG eine fühlbare Sanktion i n Gestalt eines Schadensersatzanspruches eröffnet wird, die eine mittelbare Sicherung des gleichen Zugangs zu den genannten Einrichtungen für alle Bürger gewährleisten kann. I m Hinblick auf die klare Formulierung der völkerrechtlichen Verpflichtung i n der Konvention über das Verbot der Rassendiskriminierung, den Zugang zu Hotels, Gaststätten etc. zu gewährleisten und die weitere Verpflichtung, auch sonst i n den Privatrechtsbeziehungen das Diskriminierungsverbot zu beachten, mag man bezweifeln, ob diese mittelbare Form der Durchsetzung als ausreichend gelten kann. Wenn auch nicht immer der Kontrahierungszwang das einzig angemessene, der internationalen Verpflichtung allein gerecht werdende M i t t e l sein muß, so ist zu fragen, ob nicht in Fällen, wo der Vertragsschluß normalerweise ohne Ansehen der Person zustande kommt (Aufnahme i n Gaststätten, Hotels, Kinos, aber auch Vermietung von Wohnungen durch Wohnungsgesellschaften 24 etc.) und nur ausnahmsweise eine individuelle Ablehnung aus den in Art. 3 Abs. I I I GG aufgezählten Unterscheidungsmerkmalen stattfindet, auch ein Kontrahierungszwang als Schadensersatz oder als unmittelbar aus Art. 3 Abs. I I I fließende Rechtsfolge angemessen wäre. Dieses Ergebnis ist aber über den von Salzwedel vorgezeichneten Weg der zivilrechtlichen Sanktion über §§ 823, 847 BGB nicht erreichbar, so daß letztlich auch dieser Lösungsansatz — insgesamt betrachtet — hinter den völkerrechtlichen Anforderungen bezüglich der Erstreckung der Grundrechtsgeltung auf das Privatrecht zurückbleibt. Eine Zusammenfassung der von den i m Vorstehenden aufgezeigten Lösungswegen gebotenen Möglichkeiten, den Grundrechten, insbesondere dem Diskriminierungsverbot, i n den Privatrechtsbeziehungen Geltung zu verschaffen, ergibt folgendes Bild. Nach Auffassung F. Kleins ebenso wie nach den Lehren von der mittelbaren oder unmittelbaren D r i t t w i r k u n g der Grundrechte kann diskriminierenden Rechtsgeschäften i n mehr oder weniger weitem Umfang durch die Androhung der Nichtigkeit als Rechtsfolge einer Diskriminierung — sei es unmittelbar aus A r t . 3 Abs. I I I GG, sei es aus §§ 134, 138 BGB — Einhalt ge24 Die Forderung nach einem Kontrahierungszwang aus Gleichbehandlungsgesichtspunkten bei „Mietskasernen" stellte schon 1946 Raiser i n seiner Göttinger Antrittsvorlesung „Der Gleichheitsgrundsatz i m Privatrecht", i n Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht Bd. 111 (1948), S. 91 f.
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boten werden. Einen Kontrahierungszwang als unmittelbare Korrektur einer diskriminierenden Vertragsschlußverweigerung sieht die Lehre von der unmittelbaren D r i t t w i r k u n g allein für solche Fälle vor, in denen sich der Diskriminierende in einer Monopolstellung oder einer „Situation sozialer Gewalt" gegenüber dem Diskriminierten befindet. Eine Sanktion gegen Diskriminierungen aus den i n A r t . 3 Abs. I I I GG aufgezählten Gründen auch außerhalb von Monopol- und entsprechenden Situationen w i l l Salzwedel durch eine Gewährung von Schadensersatzansprüchen wegen einer Persönlichkeitsrechtsverletzung des Diskriminierten über §§ 823, 847 BGB eröffnen. Nimmt man zu diesen Schutzmöglichkeiten gegen Diskriminierungen i m Privatrechtsbereich den von A r t . 3 Abs. I I I GG gewährten Schutz gegenüber allen Einrichtungen und Personen hinzu, die i n öffentlich-rechtlicher Eigenschaft tätig sind — so ζ. B. Theater, die als öffentlich-rechtliche Einrichtungen von den Gemeinden betrieben werden oder das öffentliche Verkehrswesen —, und berücksichtigt man, daß unter bestimmten Voraussetzungen offenen Diskriminierungen einzelner Bevölkerungsgruppen als Störung der öffentlichen Ordnung begegnet werden kann 2 5 , so zeigt sich, daß ein umfangmäßig nur relativ kleiner, aber nichtsdestoweniger wichtiger Bereich der Privatrechtsbeziehungen vom Diskriminierungsverbot unerfaßt bleibt: es gibt nach den vorstehenden Lösungsmöglichkeiten keinen Schutz gegen Diskriminierungen bei der Zulassung zu privaten „öffentlichen Einrichtungen", die sich nicht in einer Monopoloder ähnlichen Situation befinden, i n dem Sinne, daß die Zulassung positiv erreicht werden kann. Dasselbe gilt ζ. B. für den sozial äußerst wichtigen Bereich des privaten Wohnungsmarktes. Insoweit bleibt die Rechts- und Verfassungsordnung der Bundesrepublik in ihrer jetzigen Gestaltung und Interpretation hinter den Anforderungen der Konvention über die Beseitigung dieser Form der Rassendiskriminierung zurück. Hier stellt sich nun die Frage, ob Lehre und Rechtsprechung zur m i t telbaren oder unmittelbaren D r i t t w i r k u n g alle verfassungsrechtlich zulässigen Mittel, m i t denen den internationalen Anforderungen genügt werden könnte, erschöpft haben, also der Schluß zu ziehen ist, daß die innerstaatliche Verfassungs- und Rechtsordnung den völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht gerecht werden kann. Oder können durch eine behutsame Fortentwicklung — sei es der Konstruktion der mittelbaren, sei es der unmittelbaren D r i t t w i r k u n g — Lösungen gefunden werden, die einerseits den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bunnesrepublik gerecht werden, andererseits aber auch m i t den Grundwerten der Verfassung i n Einklang stehen? 25
So Salzwedel (Anm. 23), S. 352.
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I I I . Überlegungen zur Fortentwicklung der Lehren von der Erstreckung des Diskriminierungsverbotes auf die Privatrechtsbeziehungen A n dieser Stelle vermag vielleicht ein Blick auf solche Rechtsordnungen, die schon seit längerer Zeit mit Problemen der Beseitigung von Diskriminierungen rassischer oder ethnischer Minderheiten befaßt sind, Anregungen für die angesichts der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik offensichtlich gebotenen Fortentwicklungen der eigenen Verfassungsordnung zu geben: gemeint sind hier die Rechtsordnungen der USA und Großbritanniens, deren Rechtssysteme zwar nach Rechtsbildungsmethode und Rechtsanwendung in vieler Hinsicht schwer mit der deutschen Rechtsprechung vergleichbar sind, i n denen aber von den Wertvorstellungen der Gesellschaft her die Spannungslage zwischen Freiheit und Gleichheit, um die es bei unserer Thematik letztlich geht, i m wesentlichen gleich beurteilt wird. Die Durchsetzung des Diskriminierungsverbotes i n den privaten Rechtsbeziehungen bei grundsätzlicher, wenn auch eingeschränkter Aufrechterhaltung der Privatautonomie w i r d i m wesentlichen von drei Ansätzen her bestimmt: 1. Umsetzung der Forderung nach Schutz vor Diskriminierungen durch Gesetze (mittelbare Drittwirkung) 2 6 , wobei eine systematisch nicht immer konsistente, vielmehr pragmatische Ausgrenzung von Bereichen vorgenommen wird, in denen der Diskriminierungsschutz nicht durchgreift. Der Maßstab für die Differenzierung w i r d aus einer Güterabwägung zwischen dem Anspruch auf Schutz der engeren I n t i m - und Freiheitssphäre einerseits und dem Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung andererseits entnommen. Diese Überlegungen beruhen auf verfassungsrechtlichen und auch rechtspolitischen Gründen. Aus der Erkenntnis, daß m i t rechtlichen Mitteln das Problem der Diskriminierung i m Kern ohnehin nicht gelöst werden kann, w i r d es für ratsamer gehalten, den Widerstand gegen Diskriminierungsverbote nicht dadurch zu aktualisieren und zu verstärken, daß Einschränkungen der persönlichen Freiheit zu einer völligen Unterordnung unter die Gleichheitsforderungen führen. So w i r d ein Kontrahierungszwang i m Wohnungswesen zwar gesetzlich vorgesehen, jedoch nicht i n Fällen, wo dadurch verschiedenrassige Familien auf engstem Raum zusammenleben müßten. Keinem Kontrahierungszwang unterliegt deshalb ζ. B. der private Hauseigentümer, dessen Haus nur zwei oder wenig mehr Woh28
Vgl. die C i v i l Rights Acts von 1957, 1960, 1964, 1965 und 1968 i n den USA, vgl. dazu Näheres bei Delbrück (Anm. 2), S. 183 ff.; ferner die Race Relations Acts von 1965 u n d 1968 i n Großbritannien, dazu Näheres bei Delbrück, S.
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nungen aufweist, und auch nicht das Reisebüro, das eine Schiffspassage nur dann noch verkaufen könnte, wenn zwei Passagiere unterschiedlicher Rassenzugehörigkeit i n einer Kabine unterkommen müßten (so die englische Race Relations Gesetzgebung) 27 . 2. M i t einer ausdehnenden Interpretation dessen, was noch staatliche Tätigkeit (state action) ist, die als solche ja zweifelsfrei der Grundrechtsbindung unterliegt, w i r d der Diskriminierungsverbotsbereich weit in den nichtstaatlichen Raum erstreckt. „Sufficient state involvement" liegt ζ. Β. schon dann vor, wenn öffentliche M i t t e l in ein i m übrigen von privater Hand durchgeführtes Projekt fließen (Wohnungsbau, Autobahnhotels etc.) 28 . M i t dieser Methode haben sich vor allem amerikanische Gerichte dem Problem des Diskriminierungsverbotes i n den Privatrechtsbeziehungen genähert. Verwandt hiermit ist die Versagung gerichtlichen Schutzes für diskriminierende Privatrechtsgeschäfte, die als solche jedoch für wirksam angesehen werden 2 9 . 3. Schließlich w i r d versucht, mit zivil- und seltener mit strafrechtlichen Sanktionen, die Diskriminierung i m privaten Rechtsbereich einzudämmen. Dieser dritte Weg fügt den von der deutschen Rechtslehre und -praxis beschrittenen kein neues Element hinzu. Die mit den beiden ersten Lösungen angestrebte und erreichte Rechtsfolge zugunsten des Diskriminierten ist der Kontrahierungszwang, also die positive Erzwingung des von dem Diskriminierten beabsichtigten Erfolges. Insoweit gehen die Rechtsordnungen der USA und Großbritanniens in ihren Lösungen des Diskriminierungsproblems i n den Privatrechtsbeziehungen über die Rechtsordnungen der Bundesrepublik hinaus. Zu fragen ist, ob ähnliche Ergebnisse auch hier ohne Verletzung der Verfassung erreicht werden können. Der Weg, den Grundrechten, insbesondere dem Diskriminierungsverbot, i m privaten Bereich über eine ausdehnende Definition staatlicher Tätigkeit stärker zur Geltung zu verhelfen, erscheint nicht gangbar, jedenfalls nicht insoweit, als es sich nur um eine faktische Involvierung des Staates i n private Projekte, ζ. B. durch finanzielle Leistungen, handelt 3 0 . Die oft problematische, jedoch 27
Dazu Delbrück (Anm. 2), S. 284 u n d A n m . 135 ebd. Vgl. dazu Hartman, Constitutionally Guaranteed C i v i l Rights as a L i m i t a t i o n on Private Action, i n Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht u n d Völkerrecht 26 (1966), S. 630 ff. m. Rechtsprechungsnachweisen. 29 So die führende Entscheidung des US Supreme Court Shelley v. K r a e mer 334 US 1/92 L. ed. 1161 (1948). 30 Dieser Gedanke k l i n g t jedoch als zusätzliche Erwägung an i n der E n t scheidung des L G B e r l i n v. 10. 7.1961 zur Kontrahierungspflicht einer Volksbühne m i t Monopolstellung, i n N J W 1962, S. 206 ff. 28
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noch immer für die deutsche Rechtsordnung gültige Abgrenzung zwischen öffentlich-rechtlichem, also staatlichem, und privatem Handeln, läßt eine am amerikanischen Beispiel orientierte Konstruktion nicht zu 3 1 . Eine andere Frage ist, ob der Staat verpflichtet ist, darauf zu achten — notfalls i m Wege von Auflagen — daß seine M i t t e l nicht zu Zwecken verwandt werden, die den Grundsätzen und Grundwerten der Verfassung zuwiderlaufen. Dies ist schon nach geltendem Verfassungsrecht anzunehmen. Verstärkt gilt das aber noch i m Hinblick auf die bestehenden völkerrechtlichen Pflichten, die Diskriminierung weder zu schützen noch zu fördern. Weiter ist die Möglichkeit zu bedenken, die bestehenden Diskrepanzen zwischen dem Diskriminierungsschutz des Grundgesetzes und den völkerrechtlichen Anforderungen dadurch zu schließen, daß die Anerkennung des Kontrahierungszwanges i n Monopolsituationen dahingehend erweitert wird, daß alle diejenigen dem Kontrahierungszwang bzw. dem Diskriminierungsverbot bei Vertragsschlüssen zu unterwerfen wären, die wirtschaftlichen Nutzen daraus ziehen, daß sie der A l l gemeinheit Einrichtungen vorhalten, also Gastwirte, Kinobesitzer usw. Der Kontrahierungszwang wäre als Pflichtkorrelat zu der Vorzugsstellung als Eigentümer einer von der Allgemeinheit nur gegen Entgelt zu benutzenden Einrichtung anzusehen 32 . Indes ist eine so weitgehende und aus sich heraus kaum begrenzbare Inpflichtnahme Privater unmittelbar aus dem Diskriminierungsverbot des A r t . 3 Abs. I I I GG — mag sie auch völkerrechtlich geboten sein — selbst m i t dem gegenüber den überkommenen Vorstellungen stark gewandelten Grundrechtsverständnis der Lehre von der unmittelbaren D r i t t w i r k u n g der Grundrechte nicht mehr i n Einklang zu bringen. Was deshalb schließlich bleibt — w i l l man nicht die Forderung der Rassendiskriminierungskonvention als m i t dem GG unvereinbar erklären —, ist die Möglichkeit, dem Diskriminierungsverbot i n der P r i vatrechtsordnung durch die Erweiterung der vorhandenen gesetzlichen Tatbestände, die die Geltung der Grundrechte i m Privatrecht vermitteln, entsprechend den internationalen Anforderungen zur Geltung zu verhelfen. Wie solche Normen lauten müßten und wo sie systematisch i n die bestehende Privatrechtsordnung einzugliedern wären, ist hier 31
Das zeigt sich für das Gleichbehandlungsgebot auch bei Schwabe (Anm. 21), S. 149 ff., dessen Drittwirkungstheorie i m Grundsatz j a v o m „state i n volvement" durch die Verleihung der privaten Rechtsmacht als A n k n ü p fungspunkt für die Geltung der Grundrechte i m Privatrecht ausgeht. 32 Dieser Gedanke liegt der common law-Regel zugrunde, wonach Inhaber von „inns" jedermann ohne Unterschied der Rasse etc. unter gleichen Bedingungen gleiche Dienste zu gewähren haben, vgl. dazu Delbrück (Anm. 2), S. 279 m. w. Nachweisen.
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nicht zu entscheiden. Zu fragen ist jedoch, ob solche gesetzlichen Regelungen insbesondere m i t dem Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. I GG vereinbar wären. Abstrakt läßt sich diese Frage nicht abschließend beurteilen. Der Schrankenvorbehalt des A r t . 2 Abs. I GG umschließt auch einen Gesetzesvorbehalt 33 , so daß Beschränkungen also grundsätzlich zulässig sind. Soweit diese allerdings zu einer völligen Aufhebung der Vertragsfreiheit zugunsten der Durchsetzung des Diskriminierungsverbotes führen würden, verletzten sie den Wesensgehalt des Art. 2 Abs. I GG und könnten keinen Bestand haben. Entsprechend dem britischen — und teilweise auch dem amerikanischen — Vorbild müßten deshalb differenzierende Lösungen gefunden werden, die an einer Güterabwägung zwischen den geschützten Rechtsgütern zu orientieren wären, wobei dem Diskriminierungsverbot desto mehr Raum gegeben werden kann, je weiter sich der zu regelnde Sachverhalt aus dem unmittelbaren Privatbereich entfernt. Man mag Zweifel haben, ob eine solche Lösung bei einer sehr strikten Auslegung der Anforderungen der Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung voll entspricht. Berücksichtigt man jedoch das Grundanliegen dieses Vertrages, m i t den Mitteln des Rechts eine optimale Befriedung der sozialen Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener Rassen und nationalen oder ethnischen Gruppen zu erreichen, so dürfte diesem rechts- und gesellschaftspolitischen Zweck m i t einer differenzierenden, die Interessen aller Bürger berücksichtigenden Lösung besser gedient sein, als eine puristisch konzipierte es je vermöchte. Nur so kann aber auch die Lehre von der D r i t t w i r k u n g der Grundrechte — i n welcher Ausformung immer — ihren Zweck erfüllen, „offene Flanken i n den Freiheitssicherungen der Verfassung" 34 schließen zu helfen, ohne um der Rechte des einen willen die Freiheiten des anderen und damit „überhaupt die grundgesetzlich gewollte und geschützte Autonomie der Privatsphäre" 3 5 jedenfalls nicht i n ihrem Kern zu mißachten.
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Dürig i n Maunz - Dürig - Herzog (Anm. 14), Anm. 12 zu A r t . 2 GG. W. Weber, i n Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, 3. erw. Aufl. 1970, S. 285. 35 w. Weber, Freie Berufswahl und freie W a h l der Ausbildungsstätte, in: Recht u n d Wirtschaft der Schule, 5 (1964), S. 40 f. 34
IV. Staatsrecht
Verfassunggebung im Hinblick auf die Auswärtige Lage Von Herbert Krüger
„Die Bundesrepublik ist die Staat gewordene Verneinung des Ernstfalles" 1 . Hieran ist sicher soviel richtig, daß die Beschäftigung m i t unangenehmen Sachverhalten von den Deutschen nicht eben bevorzugt wird. Diesem Bedürfnis ihrer Kundschaft pflegen die Massenmedien weitestgehend Rechnung zu tragen (wenn sie i h m nicht sogar Rechnung tragen müssen), obwohl ihre Ideologie ihnen vorzüglich die Eigenschaft der Wachsamkeit zuschreibt, wozu doch gewiß auch die Erweckung öffentlicher Aufmerksamkeit für bestehende und erst recht für drohende Übel gehört. Alles dies zeigt handgreiflich die Erdölkrise. Zwar konnte man selbst m i t unbewaffnetem Auge seit Jahren nicht mehr übersehen, was ein Wirtschaftsführer 2 i n die Worte gefaßt hat: „Eine der erfolgreichsten und ältesten Industrienationen dieser Erde hat sich leichtfertig i n die Hände der Araber gegeben". Aber von solchen düsteren Aussichten hat man keine Kenntnis genommen: Da Vorbeugung zudem staatliches Handeln erfordert hätte, hat man eine solche Vorbeugung i m Namen einer „reinen", von „Dirigismus" unbefleckten M a r k t wirtschaft m i t geradezu religiösem Fanatismus bekämpft. Nachdem das eingetreten ist, was ohne Schwierigkeit vorauszusehen war, hat das „ V o l k " auf die „dirigistischen" Maßnahmen über alles Erwarten hinaus „mündig" reagiert, jedenfalls sachlicher als diejenigen Stimmen, denen nichts anderes eingefallen ist als i n Entrüstung über „Ölscheichs, K a meltreiber usw." auszubrechen. Jetzt (erst) hörte man von entschiedenen Maßnahmen, die der selbstverschuldeten Unfreiheit ein Ende machen sollen. Man kann ziemlich sicher sein, daß alle diese Entschlüsse vergessen sein oder i m Namen der Freiheit (!) bekämpft werden wer1
Johannes Groß, Der Ernstfall, i n Frankfurter Allgemeine Zeitung v o m 19. Oktober 1973. 2
Helmut Burckhardt, i n „Die W e l t " v o m 7. November 1973; ferner Wolf Schneider daselbst v o m 19. November 1973: „Die Bundesrepublik u n d m i t i h r alle Industriestaaten sind seit Jahrzehnten leichtsinnig: Sie haben sich m i t einem Rohstoff, der nächst den Nahrungsmitteln der wichtigste ist, i n Abhängigkeit ferner u n d bekanntermaßen eigenwilliger Länder begeben." 16 Festschrift für Werner Weber
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Herbert Krüger
den, sobald die Lage sich entspannt hat: Die Wohlstandsgesellschaft unserer Zeit und ihre Höflinge sind auch, trotz aller Protestationen, i n der Hinsicht „wilhelminischer" als sie selbst meinen, insofern sie „keine Schwarzseher dulden". Der klassische und vor allem ständige Ernstfall ist i n der Auswärtigen Lage einer Nation beschlossen. Es gehört daher zu den ersten A u f gaben einer jeden Verfassung, die zu konstituierende Nation vor allem anderen auf diese A r t von Ernstfällen also i m Grunde auf eine Unbekannte hin zu verfassen. Sie t u t dies i n der Neuzeit vor allem dadurch, daß sie diese Nation als Staat organisiert und ihr dadurch zu einem Höchstmaß von Handlungsfähigkeit schlechthin verhilft. Konkret genügt sie dieser Notwendigkeit, indem sie die Nation instandzusetzen sucht, einen kriegerischen Angriff abzuwehren: Hierher gehört i n erster Linie die Einrichtung einer Wehrmacht. So unerläßlich beides unter dem Blickwinkel „Auswärtige Lage" ist, so genügt es doch heute immer weniger. Seitdem an die Stelle oder jedenfalls neben die militärischer Kriegführung zunehmend der Wirtschafts- und der Nervenkrieg t r i t t , muß eine Verfassung sich gründliche Gedanken darüber machen, wie man sich solcher Angriffe zu erwehren vermag 3 . Man hat den Eindruck, daß man nicht nur nicht bereit ist, solche Überlegungen anzustellen, sondern ihnen geradezu zu entgehen sucht: Es ist der Vorgang „Entspannung", der die Beschäftigung m i t Stand und Möglichkeiten der Abwehr von Akten der „Psychologischen Kriegführung" als entbehrlich, ja als verwerflich erscheinen läßt. Wer allerdings sich von solcher Euphorie freihält, w i r d sich mit der Möglichkeit befassen müssen, daß gerade wegen der angedeuteten Wirkung „Entspannung" die unauffälligste, erfolgreichste und daher gefährlichste A r t von „Psychologischer Kriegführung" sein könnte. Diese Waffe t r i f f t auf jeden Fall: Wer „Entspannung" blindlings bejaht, hat sich selbst aus der Abwehrfront ausgeschieden; wer sich sein Urteil zwecks ständiger Würdigung dieses Phänomens offenhält, w i r d als „Kalter Krieger" unmöglich gemacht. Der Staat w i r d hiermit zugleich um eine seiner wichtigsten Eigenschaften gebracht —, nämlich m i t jeder Möglichkeit zu rechnen und sich auf ihren E i n t r i t t vorzubereiten. I. Die Kunst der Verfassunggebung Wissenschaftlich gehört der mit den einleitenden Bemerkungen angeschnittene Problemkomplex i n den Bereich des Instituts „Verfassung3 Sie fallen nicht unter A r t . 2 Nr. 4 der Satzung der Vereinten Nationen u n d sind daher nicht völkerrechtswidrig —, ein weiterer nicht zu verachtender Vorzug.
Verfassunggebung i m Hinblick auf die Auswärtige Lage
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gebende Gewalt" 4 . Je mehr man sie als elementare K r a f t außerhalb der konstituierten Gewalten zu bewahren sucht, u m so mehr müßte ihr die Wissenschaft eine Kunstlehre anbieten, i n der von den Gesichtspunkten und Maßstäben einer richtigen Verfassunggebung die Rede zu sein hätte —, insbesondere also davon, daß und wie der Verfassunggeber auf die Auswärtige Lage abzuheben hat. Der Schreiber dieser Zeilen hat i n der i h m bekannt gewordenen Literatur von einer solchen Kunstlehre so gut wie nichts entdecken können 5 . Lediglich drei Ausnahmen sind i h m bekanntgeworden, K . von Beyme 6 hat den Gegenstand insgesamt angesprochen. Was die Wahl des Staatstypus angeht, so hat K . de Schweinitz jr. die pragmatische Frage aufgeworfen, ob Demokratie eine für die moderne Industriegesellschaft taugliche politische Gestalt sei 7 . Speziell unter dem Blickwinkel der Auswärtigen Lage hat Joseph-Barthélemy 8 die Demokratie einer Würdigung unterzogen 9 . Der Verfassunggeber ist somit wegen seiner Kunst auf sich selbst angewiesen. Diese Situation würde an sich verlangen, daß er sich erst einmal über die Regeln dieser Kunst klar wird, ehe er ans Werk geht. Wenn der Verfasser trotzdem nur ein Beispiel für ein solches Vorgehen ermitteln konnte, so mag sich dies aus zweierlei Gründen erklären: Einmal werden die Umstände einer Verfassunggebung eine solche Zweistufigkeit nicht eben begünstigen; selbst wenn dies der Fall sein sollte, w i r d doch die Gewichtigkeit großer Sachfragen die Verfahrensfrage zurückdrängen 10 . Die einzige Ausnahme macht, soweit ersichtlich, die zur Zeit i n der Schweiz betriebene Total-Revision der Verfassung von 1874: Die zu diesem Zwecke bestellte, unter dem Vorsitz von alt-Bundesrat Prof. Dr. F. T. Wahlen stehende „Arbeitsgruppe für die Vorbe4
Hierzu G. Burdeau, Traité de Science Politique I V 2. Aufl. (Paris 1969), S. 181 ff. 5 Talleyrands Empfehlung, eine Verfassung müsse „kurz u n d dunkel" sein, erschöpft dieses Thema gewiß nicht. Das g i l t schon eher von der i m 19. J a h r hundert immer wieder erhobenen Forderung, eine Verfassung müsse dem Volksgeist entsprechen. 6 Die Verfassunggebende Gewalt des Volkes (1968), S. 55 ff. 7 Industrialization and Democracy — Economic Necessities and Political Possibilities — (Free Press of Glencoe 1964). 8 Démocratie et Politique Etrangère (Paris 1917). 9 Udo Steiners „Verfassunggebung u n d verfassunggebende Gewalt des Volkes" (1966) gehört nicht hierher, w e i l es i h m u m die Rechtsprobleme der Verfassunggebung geht. 10 So i n I n d i e n etwa die Frage von Einheit oder Teilung; vgl. Granville Austin, The I n d i a n Constitution — Cornerstrone of the Nation — (Oxford U P Bombay 1972).
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Herbert Krüger
reitung einer Totalrevision der Bundesverfassung" 11 hat sich vorweg Klarheit über die vom Verfassunggeber zu beachtenden Gesichtspunkte und anzulegenden Maßstäbe verschafft, ehe sie sich den Sachfragen selbst zugewandt hat 1 2 . Nicht übersehen werden darf, daß es eine verbreitete A r t der Verfassunggebung gibt, die allerdings einer Kunstlehre nicht bedarf, weil sie von aller Berücksichtigung der Lagen absieht. Es ist dies diejenige Verfassunggebung, die sich ausschließlich an, jenseits der Lagen beheimateten Grundsätzen und Werten ausrichtet und sich damit begnügt, sie oberhalb aller Vorgegebenheiten i n Institute und Regeln des positiven Verfassungsrechts umzusetzen. Diesen Agnostizismus hat man sich wohl vor allem aus der Tatsache zu erklären, daß der Verfassunggeber aus einer Revolution, einer nationalen Katastrophe u. ä. m. hervorgeht und deswegen eine entschiedene ideologische Absetzung von der Vergangenheit für vordringlich hält, die naturgemäß nur durch eine i n Werten und Grundsätzen völlig neue Verfassung bewirkt und dargetan werden kann. Eine solche Argumentation aus Idealen und Prinzipien bestimmt dann auch die Haltung zur Auswärtigen Lage: I h r geht es nicht u m die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Realpolitik, sondern u m Verlängerung ihrer Ideale und Grundsätze i n die Auswärtigen Beziehungen — wie das für die BRD etwa die A r t i k e l 24 und 25 GG veranschaulichen 13 . 1. Bei allem Verständnis für solche Umstände kann man den Verfassunggeber dennoch davon nicht entbinden, die Verfassung i n H i n blick auf die Auswärtige Lage der von i h m staatlich zu verfassenden Nation zu entwerfen. Wie schon früher angedeutet, erfordert gerade die Eigenart der gegenwärtigen Äußeren Lage eine solche Überlegung. Sie ist nach wie vor dadurch bestimmt, daß sich zwei Weltanschauungen von äußerster Ausschließlichkeit und Gegensätzlichkeit i n der Weltpolitik begegnen. Was sich geändert hat, ist die A r t und Weise dieser Begegnung: Das atomare Patt hat bewirkt, daß dieser Gegensatz nicht mehr mit militärischen, sondern nur noch m i t „friedlichen" M i t 11
Schlußbericht der Arbeitsgruppe (Bern 1973), S. 13 - 58. Dieser Bericht ist auch insgesamt eine vorbildliche Leistung, die sich bis zum Charakter einer Verfassungslehre steigert; vgl. hierzu i m einzelnen meinen, demnächst i n der Zeitschrift „Verfassung u n d Recht i n Übersee" erscheinenden Bericht. 12 Vgl. hierzu meinen demnächst i n der Zeitschrift „Verfassung u n d Recht i n Ubersee" erscheinenden Bericht. 13 Dem, der Lage entnommenen Ziel „Wiedervereinigung" w i r k t A r t . 24 I als ideologische Hervorbringung insofern entgegen, als ein supranational geeintes Europa, u m n u r das mindeste zu sagen, sich für ein solches Ziel nicht einsetzen wird, da seine Mitglieder nicht i n der Einheit, sondern i n der Teilung Deutschlands ihren V o r t e i l sehen.
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teln ausgetragen werden kann. Hierzu gehört vor allem jenes Phänomen, das man „Psychologische Kriegführung" nennt 1 4 . Der Verfassunggeber muß sich somit Gedanken darüber machen, ob die von i h m zu gebende oder bereits gegebene Verfassung die Nation aufs beste für diese Art, von gegen sie gerichteter Kriegführung wappnet. Hierzu bedarf es als ersten der Klärung, welchen Punkt der nationalen Existenz die Akte der psychologischen Kriegführung angreifen. Insgesamt läßt sich als dieser Punkt die „Moral" der Nation bezeichnen, und zwar i n demjenigen Sinne, i n dem man von der „Moral der kämpfenden Truppe" zu sprechen pflegt. Was den einzelnen Menschen angeht, so gehören hierher etwa seine Weltanschauung, seine Wachsamkeit, sein Gespür für das Feindliche, seine Entschlußkraft, sein Selbstbehauptungs- und Abwehrwille und nicht zuletzt seine Überzeugung von der Gerechtigkeit der bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung einschließlich ihrer Herrschafts- und Gehorsamsverhältnisse 15 . Hinsichtlich der Allgemeinheit handelt es sich um die Verteidigung des Geistigen Bandes, das sie zusammenhält; die Bejahung des Gemeinwesens, seiner Gestalt und seiner Verfassung; die Bereitschaft, sich i m Sinne dieses Gemeinwesens zu verhalten, insbesondere ihren Gesetzen Gehorsam zu leisten und seiner Führung Vertrauen entgegenzubringen. Die A n t w o r t auf die Frage, wie man diese nationalen Güter am sichersten gegen Akte der Psychologischen Kriegführung verteidigt, teilt die Staaten der Welt i n zwei große Gruppen. Die weiteste Vorverlegung dieser Verteidigung bedeutet es, wenn man dem Gegner den Zugang zu den eigenen Bürgern und ihrem Denken und Fühlen so vollständig wie möglich abschneidet. Für eine solche Vorverlegung haben sich die Staaten des Ostblockes entschieden, indem sie sich nach außen so weit wie möglich abschließen. Solcher Schließung entgegen hat sich das Westen, i n Verlängerung des Ideals der Offenen Gesellschaft nach außen, auch hinsichtlich der Auswärtigen Lage für Offenheit entschieden. Dies bedeutet grundsätzlich ungehinderten Zugang für die M i t t e l der psycholo14 Z u „Psychologische Kriegführung" vgl. Robert T. Holt and Robert W. van de Velde, Strategie Psychological Operations and American Foreign Policy (Chicago UP 1960); Frederick C. Barghoorn, Soviet Foreign Propaganda (Princeton U P 1964); vgl. auch desselben Verfassers The Soviet Cultural Offensive (Princeton UP 1960); B. S. M u r t y , Propaganda and W o r l d Public Order — The Legal Regulation of the Ideological Instrument of Coercion (Yale U P 1968). 15 Die Psychologische Kriegführung der Geistlichen gegen die Weltliche Gew a l t hat ihre größte Chance i n der Entbindung der Untertanen von Gehorsam gegen ihre Herrscher gesehen; vgl. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. (1966), S. 953.
Herbert K r ü g e r
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gischen Kriegführung bis zum letzten Bürger der aufs K o r n genommenen Nation. Kennzeichnend für diese Lösung ist der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 25. A p r i l 1972 16 : Er wägt ab zwischen dem Grundrecht der Informationsfreiheit, das auch die i m Ausland sprudelnden Quellen umfaßt, sofern sie dort allgemein zugänglich sind, einerseits —, und der Verteidigung der „Moral" andererseits, und entscheidet sich grundsätzlich für die Informationsfreiheit. I n der Abweichenden Meinung heißt es gar (96): „Ein freiheitlicher Staat, der i n enger Nachbarschaft zu totalitär regierten, auf einer anderen Gesellschaftsauffassung beruhenden Staaten lebt, kann seine eigenständige Ordnung nicht wirksam verteidigen, indem er Augen und Ohren seiner Bürger vor den von draußen kommenden Informationen und Einflüssen verschließt. Sein Weiterbestand beruht vielmehr primär darauf, daß die als mündig vorausgesetzten Bürger i n der Lage und willens sind, i n offener Auseinandersetzung mit solchen Informationen und Einflüssen ihren Staat i n seiner freiheitlichen Struktur zu schützen". Zu diesem dictum wäre mancherlei zu sagen. Hier sei nur gefragt, ob i n solchen Zusammenhängen von „Information" überhaupt die Rede sein kann, wobei nicht einmal so sehr an das Ausland wie an das I n land zu denken ist: Kann man wirklich erwarten, daß Massenmedien, denen ein ausländischer Staat wegen seiner Weltanschauung usw. aufs tiefste zuwider ist, über ihn objektiv berichten werden? Man muß also davon ausgehen, daß unser „mündiger" Bürger sich von außen und von innen „Informationen" ausgesetzt sieht, die i n Wirklichkeit Propaganda, Indoktrination oder wie man es immer nennen mag, darstellen, und zwar pro oder contra. Für den Staat der auch nach außen offenen Gesellschaft ergibt sich hierdurch die Aussicht auf einen Zwei-Fronten-Krieg besonderer A r t : I m gleichen Maße wie der von außen her geführte psychologische Krieg inneren Erfolg hat, muß er m i t der Bildung von Gruppen rechnen, die diesen Krieg aufnehmen und dadurch den Staat zum Aufbau einer zweiten Front i n seinem Rücken zwingen. Der psychologische Krieg droht somit, zugleich internationaler und Bürgerkrieg zu werden, und wie dieser Unterschied sich verwischt, so steht es auch m i t der Verteidigung. Diese Komplikation macht es erst recht unerläßlich, die Verfassung daraufhin zu überprüfen, wie sie i n einem solchen wahrhaft „Totalen" Krieg zu siegen hofft: Hier ist Hurrapatriotismus noch weniger am Platze als er es jemals gewesen ist.
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BVerfGE 33, 52 ff.
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2. Man kann die be wußte Offenheit einer Nation, sofern sie sich auch ganz andersartigen Staatstypen aufschließt, als eine selbstgeschaffene 17 „Lage" verstehen, m i t der sich somit die Verfassung wie m i t jeder anderen auseinanderzusetzen hat. Wenn daher, wie das Bundesverfassungsgericht meint, daß Grundgesetz die psychologische Verteidigung der Nation dem einzelnen Bürger überläßt, dann muß es zugleich Rechenschaft darüber ablegen, inwiefern dieser Bürger die i h m obliegende Verteidigung übernehmen und erfolgreich bewältigen w i r d : Sie muß m. a. W. den Bürger vor ihrem geistigen Auge gemustert und tauglich befunden haben. Eine solche Tauglichkeitsprüfung kann zwei große Ergebnisse haben: Die eine Alternative geht von dem Prädikat „Mündigkeit" aus und folgert hieraus, daß nicht nur einem solchen mündigen Bürger nichts, nicht einmal „ G i f t " vorenthalten werden dürfe, weil er eben als mündiger selbst darüber zu entscheiden habe, was Gift sei und ob er es nehmen solle —, sondern daß er auch imstande sei, m i t jeder A r t von „ G i f t " selbst fertigzuwerden. Diese Auffassung schließt offensichtlich aus, der mündige Bürger könne an der Freiheit irre werden und den Weg i n die Knechtschaft beschreiten wollen —, wie ja auch der Osten es für ausgeschlossen hält, ein geistig gesunder Mensch könne vom Sozialismus i n den Kapitalismus zurückfallen. Solche Auffassungen haben eine alte Tradition, und zwar was die militärische Kriegführung angeht: Die Liberalen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, an der Spitze K a r l von Rotteck 18 sind felsenfest davon überzeugt, die Freiheitlichkeit von unausgebildeten Milizen werde ohne weiteres dem Knechtsgeist stehender Heere überlegen sein. Die andere Alternative ist ebenfalls der Auffassung, daß ein Gemeinwesen gerade psychologisch nur von seinen Bürgern verteidigt werden könne, geht aber nicht davon aus, daß Jedermann ohne weiteres hierzu imstande sei, und t r i f f t daher entsprechende Vorkehrungen, deren konstitutionelle Grundlagen Bestandteil der Verfassung bilden, ganz abgesehen davon, daß die Verfassung selbst sich durch Inhalt und Gestalt i n den Dienst dieser Aufgabe zu stellen hat. Bei alledem handelt es sich u m diejenige Staatsauf gäbe, die der Verfasser an anderer Stelle als „Staatspflege" umschrieben hat. Welcher dieser beiden Alternativen sich das Grundgesetz und die Praxis unter dem Grundgesetz verschrieben haben, ist nicht ohne weiteres auszumachen. Endgültiges hierzu festzustellen, ist einem 17 Vgl. hierzu Herbert Krüger, Die Modernität des Modernen Staates, i n : Verfassung u n d Recht i n Übersee 1973, S. 5 ff., S. 6. 18 Uber stehende Heere u n d Nationalmiliz (1819).
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Herbert Krüger
Beitrag zu einer Festschrift ohnehin versagt. Immerhin können und müssen einige Symptome vorgenommen werden, die eine erste Orientierung i n dieser Frage versprechen. Dieses Vorgehen sei begonnen mit einer Überprüfung dessen, was „Streitbare Demokratie" i n unserem Zusammenhang bedeuten könnte 1 9 . I I . „Streitbare Demokratie" — gegen Psychologische Kriegführung? 1. Das Bundesverfassungsgericht 20 ist der Urheber einer Typisierung, die den Staat der BRD als „Streitbare Demokratie" kennzeichnet. Es stützt sich für diese seine Meinung vor allem auf die A r t i k e l 18 und 21 des Grundgesetzes. Indem sie sich dergestalt gestimmt habe, soll sich die BRD von der Weimarer Republik unterscheiden: Während diese einem Gefäß verglichen wird, das bereit war, jeden weltanschaulichen Inhalt in sich aufzunehmen, verweigert sich die BRD Auffassungen, die mit ihren Geistigen Grundlagen durchaus unvereinbar sind 2 1 : Unter diesem Blickwinkel läßt sich die Demokratie der BRD nur mehr als eine bedingt „offene" ansprechen. 2. Streitbarkeit als Haltung setzt ein Gut voraus, für das gestritten werden kann und soll. Der Relativismus, auf den man die Weimarer Verfassung schon zu ihrer Zeit festgenagelt hat (Kelsen, Radbruch), ist m i t einer solchen Streitbarkeit keineswegs unvereinbar —, er muß sich jedenfalls gegen alle Bestrebungen wenden, die i h m ein Ende bereiten wollen, indem sie die Staatlichkeit auf eine unverrückbare und unveränderliche Geistige Grundlage setzen. Zum Unterschied hiervon w i l l die Streitbarkeit der BRD nicht eine vorbehaltlose Offenheit, sondern eine Erfülltheit verteidigen: Das Bundesverfassungsgericht sieht das Grundgesetz nicht als eine wertneutrale und daher allem und jedem offene Ordnung —, es enthält i h m zufolge vielmehr eine Wertentschei19
Die allgemeine „Gestimmtheit" i n solchen Fragen, auf die letztlich alles ankommt, charakterisiert treffend Christian Pestalozza, Formenmißbrauch des Staates (1973), S. 124: W e i l man den Staat fälschlich als potentiellen Rechtsbrecher voraussetzt, hat man die Verfassung der B R D p r i m ä r auf A b w e h r u n d nicht auf Effizienz ausgerichtet. 20 Entscheidungen v o m 17.8.1956, BVerfGE 5.85 ff., 139; v o m 15.1.1969, BVerfGE 25.88 ff., 100; v o m 18.2.1970, BVerfGE 28.36 ff., 48; v o m 18.2.1970, BVergE 28.51 ff., 55; v o m 15.12.1970, BVerfGE 30.1 ff., 19, 21. Aus der L i t e r a t u r vgl. etwa W. Schmitt Glaeser, Mißbrauch u n d V e r w i r kung von Grundrechten i m politischen Meinungskampf (1968), S. 38: „Das abwehrbereite Selbstbewußtsein unserer Verfassung . . . " K . Schiaich, Neutral i t ä t als verfassungsrechtliches Prinzip (1972), S. 160: „Wie jede Staatsordnung, die sich nicht preisgeben w i l l , einen kämpferischen, m i l i t a n t e n Zug haben muß . . . " 21 Vgl. Schmitt Glaeser, S. 42.
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dung, innerhalb deren die Grundrechte als Wertsystem verstanden den ersten Rang einnehmen 22 . Bedeutsam für eine „Streitbare Demokratie" werden solche gesetzten Werte dadurch, daß man sie zu einem „bloc des idées incontestables" (Maurice Hauriou) erhebt, wobei der Ausschluß der Bestreitbarkeit ein umfassender oder wie i n der BRD auf gewisse Streitmittel beschränkter sein kann. Eines ausdrücklichen Verfassungssatzes bedarf ein Ausschluß der Bestreitbarkeit an sich nicht. U m so bezeichnender w i r k t daher A r t . 79 Abs. I I I 2 3 : Er soll die Absolutheit der Werte bekunden, für die zu streiten die Demokratie der BRD sich entschlossen hat. Da man wie w i r gesehen haben auch für die A b solutheit von Offenheit streiten kann, geht diese Regelung offensichtlich davon aus, daß der Geist der Streitbarkeit eher von dem Einsatz für ein positives als ein negatives Ideal zu erwarten ist. 3. Für die Aussichten auf Erfolg solcher Streitbarkeit ist entscheidend, wen die Verfassung als Streiter eingeplant hat. I n einem Justizstaat, der auch und gerade i n Fällen der Selbstverteidigung die Garantien von Gesetz und Gericht nicht preisgeben w i l l 2 4 , w i r d man i n diesem Zusammenhang als erstes an die Rechtspflege denken. I n der Tat hat sich das Grundgesetz i n den einschlägigen Bestimmungen für das Bundesverfassungsgericht als Streiter für die zu verteidigenden Werte ausgesprochen. Es liegt auf der Hand, daß sich Zahl und A r t solcher Streiter hierin nicht erschöpfen kann. Sieht man von der Strafrechtspflege ab, so gehören zu solchen Streitern ferner die Angehörigen des Öffent22 Vgl. etwa die Entscheidung v o m 14.3.1972, BVerfGE 33.10: „Das G r u n d gesetz ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit u n d Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt . . . " ; dasselbe v o m 25.1.1972, BVerfGE 32.277: „ . . . verfassungsrechtliche Wertentscheidung, die für den ganzen Bereich des privaten und öffentlichen Rechts verbindlich ist . . . " ; ferner v o m 14.2.1973, BVerfGE 34.269 ff., 280: „Die i n den Grundrechtsnormen der Verfassung enthaltene objektive Wertordnung . . . (281) Das Wertsystem der Grundrechte findet seinen M i t t e l p u n k t i n der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden Persönlichkeit u n d ihrer Würde." Hierzu aus der L i t e r a t u r etwa F. J. Säcker, Gruppenmacht u n d Übermachtkontrolle i m Arbeitsrecht (1972), S. 154; U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, i n : Festschrift f ü r Ernst Forsthoff (1972), S. 325 ff., 327: „ I n dieser Richtung bewegt sich auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, w e n n sie — freilich i n einer nicht ganz unbedenklichen Verallgemeinerung u n d Systematisierung — von einer ,Wertordnung' oder einem „Wertsystem" der Grundrechte spricht". Die Verneinung eines solchen Denkens i n Werten durch E. Forsthoff u. a. ist bekannt. 23 Hierzu vortrefflich C. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht? (1972), S. 110. 24 Vgl. Schmitt Glaeser, S. 35: Auch die A b w e h r muß soweit w i e möglich übersehbar u n d berechenbar sein.
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liehen Dienstes: Sie haben innerhalb und außerhalb des Dienstes für die Verfassungsmäßige Ordnung einzutreten. Da die Psychologische Kriegführung nicht so sehr sich gegen den Staat als Institution und seine Organe als vielmehr an das Volk richtet, insofern also ein Stück „Volkskrieg" oder „Volksdiplomatie" 2 5 ist, ergibt sich, daß der Kreis der Verteidiger das ganze Volk umfassen muß —, daß also gerade auch an dieser Front ein jeder Bürger der geborene Verteidiger seines Vaterlandes ist: Der „Staatsbürger i n Uniform", zumal wenn er durch den Berufssoldaten ersetzt werden sollte, bedarf somit unbedingt der Ergänzung durch den Vaterlandsverteidiger in Zivil. Die Vereinigungsfreiheit ist nicht zuletzt dazu bestimmt, dieser Zivilverteidigung durch Zusammenschluß die erforderliche Mächtigkeit zu vermitteln (Reichsbanner u. ä. m.). Sind es vor allem Menschenwürde und Freiheit, die demgemäß von Jedermann zu verteidigen sind, dann folgt hieraus, daß die Grundrechte als verfassungsmäßige Aufforderung und Ermächtigung zu solcher Verteidigung verstanden werden müsse. Wer ζ. B. das Recht der freien Meinungsäußerung für sich i n Anspruch nimmt, würde sich m i t sich selbst i n Widerspruch setzen, wenn er nicht auch für das Institut als solches einträte. A n dieser Stelle zeigt sich abermals, wie wenig diejenige Theorie, die den Gemeinschaftssinn der Grundrechte i n Verneinung eines solchen Sinnes, insbesondere i n Gestalt der Abwehr staatlicher Eingriffe, sich erschöpfen läßt, den Notwendigkeiten einer Demokratie i m allgemeinen, einer Streitbaren Demokratie i m Besonderen genügezutun vermag 2 6 . Gewiß spricht das Grundgesetz Befehle zu Streitbarkeit und Streit nicht aus, geschweige denn daß es solche Befehle m i t Sanktionen bewehrte. Aber zwischen Befehl und Freistellung kennt eine Verfassung noch andere Arten, die Bürger anzusprechen, und zwar insbesondere natürlich eine demokratische Verfassung, die mit dem „mündigen" Bürger rechnet —, andere Arten, von denen hier lediglich die Möglichkeiten „VerfassungsVoraussetzung" und „Verfassungserwartung" genannt seien 27 . Und wenn i n den Grundrechten ein Aufruf zum Gebrauch enthalten ist, dann erstreckt sich dieser gewiß auch auf die Verteidigung derselben.
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Hierzu D. Schröder, Die Volksdiplomatie (Den Haag 1972). Vgl. hierzu meine K r i t i k , Die Verfassung als Programm der Nationalen Integration, i n : Festschrift für Friedrich Berber (1973), S. 247 ff., u n d Die V e r fassung als Programm der Nationalen Repräsentation, i n : Festschrift f ü r Ernst Rudolf Huber (1973), S. 95 ff. 27 Hierzu meinen gleichnamigen Beitrag zur Festschrift für Ulrich Scheuner (1973). 28
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4. Der Antinomie zwischen dem Prinzip der Nicht-Identifikation und der Entscheidung für ein unverrückbares und unveränderliches Wertsystem sucht das Grundgesetz dadurch zu entgehen, daß nicht schon eine dieses Wertsystem verneinende Gesinnung, sondern erst der zwecks Durchsetzung einer solchen Gesinnung aufgenommene und geführte Kampf die Reaktion des Staates auslöst: Auslösendes und rechtfertigendes Moment einer solchen Reaktion ist daher nicht die fehlsame Werthaftigkeit einer Gesinnung, sondern wertneutrale Gewaltsamkeit, so daß sich der freie Staat durch solche Abwehr nicht i n Widerspruch m i t sich selbst setzt. So richtig dies zwar i n Hinblick auf das Prinzip der Nicht-Identifikation erscheint, so läßt sich doch nicht übersehen, daß die Beschränkung der Abwehr auf Kampfhandlungen den aktuellen Gegebenheiten nicht mehr entspricht. Eben weil Kampf und Gewalt international und national verpönt sind und vor allem sich auch als weniger wirksam erweisen, werden die heutigen Auseinandersetzung mittels gewaltloser Angriffe ausgetragen. Vermag sich der Staat als Staat hiergegen nicht zu verteidigen, ohne die Verfassung zu verletzen —, sieht er sich also wehrlos einer Zerstörung oder Schwächung seines Wertsystems durch eine Anzweiflung ausgesetzt, die nicht dem Willen zur Steigerung der eigenen Erkenntnis, sondern der A b sicht der Vernichtung des Gegners entspringt, dann muß es die Gesellschaft sein, der eine „Streitbare Demokratie" die Abwehr psychologischer Angriffe anvertraut hat. Ist diese Streitbarkeit somit auch nach außen gerichtet und ist nur die Gesellschaft von Verfassungs wegen imstande, einen entsprechenden Streit zu führen, dann kann eine solche Demokratie es gewiß nicht unterlassen, sich Gedanken darüber zu machen, wie es mit der Tauglichkeit dieser ideologischen Freischärler bestellt ist, und ob sie die, i n sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen versprechen 28 .
I I I . Soll und Haben der ideologischen Verteidigung der BRD im psychologischen Krieg I m Lichte der früher dargelegten Alternative gilt es nunmehr festzustellen, ob die Streitbare Demokratie ihre auswärtige Verteidigung i m Psychologischen Krieg ihren Bürgern so anvertraut hat wie sie sind oder ob sie es für notwendig hält, Vorkehrungen zu treffen, die diese 28
Dies g i l t erst recht, wenn es richtig ist, was B. Rüthers, Arbeitsrecht u n d politisches System — B R D : D D R (1972), S. 5 meint: „Andererseits w i r d sich die Bundesrepublik m i t der ideologischen Konkurrenz marxistischer Gesellschaftsmodelle k ü n f t i g w e i t härter konfrontiert sehen als i n den vergangenen Jahrzehnten".
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Bürger zu Bewältigung der ihnen zugesprochenen Rolle befähigen sollen. 1. Da das Grundgesetz i m einzelnen Menschen, seiner Würde und seiner Freiheit diejenigen Heiligen Güter sieht, die es an allen Fronten zu verteidigen gilt, liegt die Annahme nahe, daß es eben diese Güter sind, die nicht nur die Begeisterung, sondern auch die Befähigung zum Kampf zu vermitteln haben. Hierzu ergibt das Grundgesetz: Ebensowenig wie hier etwas davon gesagt ist, der Mensch solle aus Würde und Freiheit etwas i n dem Sinne machen, wie es das Leitbild „Persönlichkeit" andeutet, ist ausdrücklich davon die Rede, der durch Anerkennung von Würde und Freiheit geehrte Mensch sei eben deswegen auch gehalten, diese Werte zu verteidigen 2 9 . Offenbar sieht man auch i n diesen beiden Werten das Recht beschlossen, von ihnen keinen Gebrauch zu machen, und wenn dies gestattet ist, dann läßt sich eine Verantwortung für die entsprechenden Institute zweifellos nicht begründen. 2. Wenn es wie angedeutet, unvorstellbar ist, daß eine Streitbare Demokratie sich keine Gedanken darüber gemacht hat, inwiefern sie mit den erforderlichen und tauglichen streitbaren Demokraten rechnen kann, müssen solche Überlegungen, wenn schon nicht zum Ausdruck gebracht, jedenfalls implizit in der Verfassung einer solchen Demokratie enthalten sein. Da zwar jeder Bürger auch i m psychologischen Krieg der geborene Verteidiger seines Vaterlandes ist, insofern aber eine Allgemeine Wehrpflicht nicht besteht, muß das Grundgesetz eine Spontaneität dieser Bürger voraussetzen, die nicht nur Bereitschaft, sondern auch Befähigung zu solcher Verteidigung hervorbringt. I n den einzelnen Grundrechten ist eine solche Spontaneität nicht vorausgesetzt, wie sich daraus ergibt, daß der Nichtgebrauch ebenso legitim ist wie der Gebrauch. Erst recht kann für eine solche Auffassung i m einzelnen Grundrecht nicht die Aufforderung enthalten sein, sich um die Richtigkeit dieses Gebrauches i n jeder Hinsicht, also auch i n bezug auf die Allgemeinheit zu bemühen. Beides — Gebrauch und richtiger Gebrauch — können daher nur das Ergebnis von Veranstaltungen sein, die kollektiv argumentieren und operieren. a) Hiermit ist das grundsätzliche Problem angesprochen, ob eine Verfassung nicht wenigstens implizit Vorkehrung dafür treffen muß, daß jedes für die Allgemeinheit notwendige oder erhebliche Einzel verhalten zu größerer als seiner ursprünglichen Richtigkeit gesteigert, also 29
Vgl. demgegenüber etwa A r t . 207 I V der Französischen Verfassung von 1791: „L'Assemblée Nationale Constituante en (sc. der Verfassung) remet le dépôt à la fidélité du Corps Législatif, d u Roi et des Juges, à la vigilance des pères de famille, aux épouses et aux mères, à l'affectation des jeunes citoyens, au courage des tous les Français".
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i m Sinne einer wesentlich verstandenen Idee der Repräsentation „aufbereitet" oder „vergütet" wird. Diesem Problem ist der Verfasser an anderer Stelle nachgegangen 30 —, mit dem Ergebnis, daß sich dem Grundgesetz eine Dreiheit solcher Vorkehrungen entnehmen läßt. M i t der Feststellung, daß es dem Grundgesetz u m „Repräsentation" i n diesem steigernden Sinne geht, ist jedoch noch nichts darüber ausgemacht, wie es sich diese Steigerung i m Zusammenhang mit dem Psychologischen Krieg vorstellt. b) Sedes materiae für die Beantwortung dieser Frage ist offensichtlich A r t . 5 des Grundgesetzes. Dieser Verfassungssatz hat den selbständig denkenden und urteilenden Menschen vor Augen: Er bejaht diesen Typ und setzt ihn für die Wirksamkeit der Verfassung voraus. Selbstverständlich genügt es nicht, die Meinungsfreiheit und den von ihr vorausgesetzten denkenden und urteilenden Menschen als für ein freiheitliches Gemeinwesen „schlechthin konstituierend" zu preisen. Man hat sich vielmehr vor allem immer wieder zu vergewissern, ob es solche Menschen i n genügender Zahl und von ausreichender Energie gibt und ob man m i t ihnen rechnen darf. Man hat ferner zu prüfen, ob die U m welt geeignet ist, das Auftreten dieses Menschen zu begünstigen oder hintanzuhalten. Diese zweite Frage ist vor allem unerläßlich, wenn man es wie i n der BRD mit einer ausgeprägten Wohlstandsgesellschaft und ihrer Geistesverfassung zu tun hat: Ist doch eine solche Gesellschaft vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie den Menschen jede A n strengung zu ersparen sucht, und zwar an der Spitze die geistige A n strengung. Zum Beweis hierfür genügt ein Blick auf die Massenmedien: Anforderungen an den Leser, Hörer oder Seher werden sorgfältig vermieden 31 . Was bleibt, ist allenfalls schlichte Apologetik von, auf äußerste vereinfachten und ebenso simpel begründeten Sozialmodellen. Von der militärischen Verteidigung w i r d heute niemand mehr behaupten wollen, daß man das Denken den Pferden zu überlassen habe 30 Vgl. meinen oben A n m e r k u n g 26 erwähnten Beitrag zur Festschrift für E. R. Huber vor allem S. 99. 31 Hierher gehört nicht zuletzt unsere junge „ L i n k e " : I n d e m sie eine „SystemVeränderung" als Voraussetzung für alles andere postuliert, erspart sie sich das Nachdenken über konkrete Probleme, j a vertagt es überhaupt bis zu dem großen Tag, an dem die Systemveränderung sich eingestellt haben w i r d . Die Rechte glaubt des Denkens aus einer genau entgegengesetzten Erwägung entraten zu können: F ü r sie ist das bestehende System so endgültig vollkommen, daß es nicht mehr immer wieder überdacht zu werden braucht, sondern Aufdeckung u n d Unschädlichmachung von „AbWeichlingen" genügt — nicht anders als i m Osten, den allerdings die D i a l e k t i k des M a r xismus vor den schlimmsten Folgen einer solchen Versteinerung bewahrt. So tragen L i n k s und Rechts i n seltsamer Ubereinstimmung dazu bei, daß von den Bürgern über die großen Fragen der Nation immer weniger gedacht wird.
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und blinder Schneid genüge. Der psychologische Krieg insofern er der Kampf zwischen zwei entgegengesetzten Ideologien ist, schließt einen solchen Verzicht schon per definitionem aus. Es darf also nicht nur, es muß hier gedacht werden, und damit stellt sich die für das Überleben der sich freiheitlich nennenden Demokratie entscheidende Frage, wie man einer Wohlstandsgesellschaft, die die Anstrengung des Denkens bis i n Kreise hinein scheut, von denen man solches am allerwenigsten vermutet hätte 3 1 , zu einem Denken über Allgemeine Angelegenheiten bewegen kann 3 2 . Da i m herrschenden Grundrechtsverständnis eine Eigeninitiative des Inhabers nicht beschlossen ist, hat die Erörterung der vorliegenden Problematik mit der Frage nach dem Anstoß zu solcher Initiative einzusetzen. Bisher behandelt ist sie vornehmlich i m Bereich der M a r k t wirtschaft: Als Initialzündung gilt hier die Aussicht auf ökonomischen Gewinn; alsbald danach hält die Furcht, einen erzielten Gewinn an die Konkurrenz zu verlieren, das „freie" Spiel der Kräfte i n Gang. Diese Konkurrenz und ihre Gegenseitigkeit ist es somit, die einen ständigen Anstoß von äußerster Intensität zu ständiger Anstrengung sichert —, jedenfalls dem „Modell" zufolge. I n anderen, vor allem i n den Bereichen des Geistes w i r d man Überlegungen von gleicher Genauigkeit und Handgreiflichkeit nicht finden: Wie es hier zu den als schlechthin konstituierend bezeichneten geistigen Auseinandersetzungen kommt und was ihnen Lebendigkeit und „Pfeffer" einhaucht, bleibt weithin i m dunklen. Es nimmt daher nicht wunder, daß man hiervon nicht allzuviel zu entdecken vermag. Das gilt bereits für das Verhältnis Regierung und Opposition: hier muß man eher von Müdigkeit, ja Langeweile statt von einem Kampf u m erhabene Ideen m i t bedeutendem geistigen Aufwand sprechen. Dasselbe gilt von Parteien und Verbänden: Niemals findet man auf deren Veranstaltungen andere als „linientreue" Redner, die lediglich das bestätigen, was die Anhängerschaft schon weiß —, niemals aber selbst die ehrwürdigsten geistigen Bestände in Zweifel ziehen —, womöglich gar unter dem Blickwinkel, ob sie neuen „Lagen" noch zu entsprechen vermögen. c) Da somit der Anfang von allem, der „Anstoß", sich i n geistigen Angelegenheiten nicht so ohne weiteres ergibt wie i n ökonomischen, stellt sich die Frage u m so drängender, ob und was das Grundgesetz zu diesem Thema konzipiert hat. Auch hier baut es nicht auf den Anstoß, 32
Der Verfasser erinnert sich an eine Fernsehaufnahme, 1967, i n der es u m die Rechtslage i m Golf von Akaba ging. Eine w i e allseits anerkannt w o h l gelungene Aufnahme mußte wiederholt werden, w e i l sie 5V2 statt 5 M i n u t e n beansprucht hatte: Es wurde i h m versichert, daß der „mündige" Bürger spätestens nach fünf M i n u t e n abschalte, w e n n i h m ein geistiges Problem vorgeführt werde, u n d zwar so wichtig es auch sein möge.
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den ein Grundrecht dank seiner Werthaftigkeit an sich seinem Inhaber immer wieder vermitteln müßte —, und zwar seltsamerweise sowohl vom Geist eher Impulse erwartet werden sollten als vom wirtschaftlichen Vorteil —: Auch hier w i r d auf den Anstoß gesetzt, der von außen kommt. Hierauf deutet bereits hin, daß A r t . 5 nicht die Freiheit der Meinung, sondern die Freiheit der Meinungsäußerung gewährleistet — ebenso wie i n der angelsächsischen Welt dieses Grundrecht als „freedom of speech" verstanden wird. Dieses Grundrecht ist also schon seinem Wortlaut nach auf Geselligkeit angelegt. Das gilt auch und gerade für den Anstoß: Da man davon ausgehen kann, daß i n einer Gruppe wenigstens ein Mitglied eine Meinung haben und sie äußern wird, w i r d Widerspruch hervorgerufen, der seinerseits wieder anstößt, womit die Diskussion gesichert scheint: Sie hält sich nunmehr selbst ebenso i n Gang wie ein Markt, nachdem das zweite Subjekt i n denselben eingetreten ist. Hierin erschöpfen sich jedoch die dem Grundgesetz hierzu innewohnenden Überlegungen nicht. Ebenso wie der M a r k t als ein kollektiver Prozeß ein kollektives Ergebnis, das Sozialprodukt, hervorbringen soll, so erwartet man von der allseitigen und vielseitigen Diskussion ein kollektives Geschöpf, die Öffentliche Meinung. I n unserem Zusammenhang ist sie eingeplant als die Quelle, die die Impulse zu individueller Meinungsbildung zu entsenden hat. Da die Öffentliche Meinung nicht durch Befehle, sondern nur durch ihren Gehalt zu wirken vermag, ist ein, letztlich für die psychologische Verteidigung nach außen entscheidende Frage, wie es mit diesem Gehalt bestellt ist —, ob er also imstande ist, weite Kreise zu eigenem Denken anzustoßen, und zwar vornehmlich durch die Auffassung, daß selbständiges Denken und U r teilen die Kennzeichen des „mündigen" Bürgers sind. Während von der öffentlichen Meinung i n den Verfassungen ausdrücklich nicht die Rede zu sein pflegt, statuieren sie jedoch durchweg ein Institut, von dem sie vornehmlich Existenz, Qualität und Wirksamkeit einer Öffentlichen Meinung erwarten: Es ist dies die Pressefreiheit. Sie ist eingeplant als dasjenige Vehikel, dessen Rückwirkung auf die Einzelperson deren Denken überhaupt und vor allem deren richtigeres Denken zu vermitteln hat. Die Frage, ob die Auswärtige Politik eines Landes, das psychologischer Kriegführung ausgesetzt ist, mit einer auch und gerade i n dieser Hinsicht streitbaren und streitfähigen Demokratie und ebensolchen Demokraten rechnen kann, erweist sich damit letzten Endes als die Frage danach, ob es die entsprechenden Massenmedien überhaupt gibt. Hier stößt man zunächst auf dasselbe Halleluja, das einem schon an anderen Stellen begegnet ist. Zwar w i r d die Pressefreiheit allseits i n
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den höchsten Tönen gepriesen —, ob aber die hiermit vorausgesetzte Presse vorhanden ist, läßt man offen: Auch dieses Institut hat man jeder Nomativität entleert mit der Folge, daß jedes mit irgendetwas bedruckte Stück Papier als Presseerzeugnis angesprochen werden kann 3 3 . Wendet man dennoch den Blick auf diese Wirklichkeit, dann zeigt sich als für uns wesentlich, daß man insoweit dem Geist und den i h m eigenen Impulsen nicht mehr so recht vertraut: Anders kann man die m i t Nachdruck vertretene These 34 , daß nur eine von Privateigentum getragene und inspirierte Presse eine freie, wesentliche usw. usw. Presse sei, und daß es eben deswegen auch einer Privatisierung der öffentlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten bedürfe, schwerlich deuten. Ob gewollt oder nicht: Die Verknüpfung der nationalen Funktion der Presse mit dem Privateigentum läuft mindestens i m Ergebnis auf eine Kommerzialisierung der Presse hinaus, und von einer Privatisierung der Rundfunkanstalten müßte dasselbe befürchtet werden. Wie aber aus einer ökonomisch motivierenden Presse geistige Impulse für eine Streitbare Demokratie hervorgehen sollen, bleibt ein Rätsel. Offenbar würde sie unter solchen Vorzeichen die ihr von der Verfassung zugedachte Rolle nur dann spielen können, wenn solche Impulse „gefragt" wären. Das aber kann gerade nicht vorausgesetzt werden, und diesem Mangel soll nach der Konzeption der Verfassung die Presse abhelfen: Indem sie sich ökonomisiert, macht sie sich das Spiel dieser Rolle selbst unmöglich. Dieses Ergebnis sei durch eine spezielle Überlegung erhärtet 3 5 . Als auf Gewinnmaximierung ausgehendes Unternehmen muß ein Presseverlag darauf bedacht sein, den marginalen Kunden zu gewinnen. Das aber ist gerade derjenige Leser, der u m alle Welt nicht denken, ja nicht einmal über geistige Dinge auch nur informiert werden w i l l . Hiernach muß sich das fragliche Presseerzeugnis ausrichten: Kommerzialisierung ist gleichbedeutend mit Niveausenkung und damit Verfehlung des konstitutionellen Sinnes der Pressefreiheit. Von ihr können somit auch unter diesem Blickwinkel diejenigen Impulse nicht ausgehen, deren die psychologischer Kriegführung ausgesetzte streitbare Demokratie bedarf. Hieran ändert sich natürlich nichts dadurch, daß ein Massenmedium Schauergeschichten über den ideologischen Gegner 33
So das Bundesverfassungsgericht v o m 14. 2.1973, BVerfGE 34.269 ff.; 283. Vgl. z.B. J. H. Kaiser, Presseplanung (1972), S. 5: „ N u r eine p r i v a t w i r t schaftlich organisierte Presse ist frei i. S. des Grundrechts der Pressefreiheit. Das ist fast ein Gemeinplatz . . . " ; ferner S. 37 ff. u n d S. 55: I n der M a r k t wirtschaft ist die Presse nicht zuletzt auch ein Wirtschaftszweig unter anderen Wirtschaftszweigen. 35 Vgl. i m einzelnen hierzu Herbert Krüger, Die öffentlichen Massenmedien als notwendige Ergänzung der privaten Massenmedien (1966). 34
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verbreitet und dadurch bangezumachen sucht — gewiß nicht die richtige Gemütsverfassung streitbarer Demokraten —; und erst recht ist nichts gewonnen, wenn ein Verleger seine Blätter dazu benutzt, seine politischen Schrullen an den Mann zu bringen. Der Verfasser hat früher schon einmal die Frage gestellt, ob derartige Massenmedien noch weiter unter A r t . 5 geführt werden dürfen und sieht sie durch die Ablehnung, auf die sie selbstverständlich gestoßen ist, noch nicht als erledigt an. d) Die Öffentliche Meinung ist das spezifische, von der Gesellschaft selbst hervorgebrachte — und nur solche kommen nach dem oben gesagten für diese Front i n Betracht — kollektive Gebilde, von dem die Verfassung eine Stimulierung des Prozesses individueller Meinungsbildung gerade auch über fremde oder gar feindliche Ideologien erwartet. Damit ist eine entsprechende Wirksamkeit anderer, nicht spezifischer gesellschaftlicher Größen nicht etwa ausgeschlossen. A n der Spitze dieser Größen stehen die Politischen Parteien: Wenn die psychologische Kriegführung weniger von den betreffenden Staaten als vielmehr von ihrer Partei getragen wird, dann scheinen die „freien" Parteien aufgerufen, Widerstand zu leisten und Widerstandswillen zu verbreiten: Zu einer Streitbaren Demokratie gehören offensichtlich auch i n diesem Sinne streitbare Parteien. Der Natur der Sache nach sind für eine solche, angesichts des Psychologischen Krieges zu spielenden Rolle nur Parteien imstande, die sich einem profilierten, dezidierten ideologischen Programm verschrieben haben, um dem Gegner auf dem von i h m gewählten Kampffeld begegnen zu können. Dieses Programm muß sich zu den Grundwerten bekennen, für die die Verfassung sich entschieden hat: Andernfalls entbehrt es i m Zusammenhang m i t „Streitbarer Demokratie" des Sinnes, wie auch Art. 21 zu entnehmen ist 3 6 . Da der Psychologische Krieg als Volkskrieg geführt wird, ist insgesamt festzustellen, daß die Gesellschaft m i t allen ihren Bildungen und m i t sämtlichen Mitgliedern — die Kirchen und Religionen ausgenommen — zu den Streitern dieses Krieges gehört. Der Staat kann hier mancherlei Hilfstellung leisten. Als Beispiel seien genannt Nationalfeiertage und Nationalfeste: Sie haben den Vorzug, daß sie die Gesellschaft insgesamt und i n allen ihren Mitgliedern, also als Gesellschaft von Bürgern ansprechen 37 . Die streitbaren Demokraten müssen sich schließlich auch einmal sehen und kennenlernen. Obwohl Verkürzung 36
Absatz 3 Satz 3: sätzen entsprechen". 37 Vgl. Französische fêtes nationales pour entretenir la fraternité la Patrie et aux Lois".
„ I h r e innere Ordnung muß demokratischen G r u n d Verfassung 2791 T i t r e Premier . . . „ I I sera établi des conserver le souvenir de la Révolution Française, entre les citoyens, et les attacher à la Constitution, à
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der Arbeitszeit u. ä. m. den Bürgern die Möglichkeit verschaffen sollen, sich solchen nationalen Veranstaltungen zu widmen, beeinflußt das Wohlstandsdenken doch auch diese befreiten Bürger so stark, daß sie von dem keinen Gebrauch machen, zu dem ihnen diese Befreiung verhelfen sollte. Der 17. Juni legt hiervon Zeugnis ab, ohne daß er bezeichnenderweise deswegen als Feiertag aufgehoben würde — wie auch der Büß- und Bettag beibehalten wird, obwohl sein Sinn womöglich noch mehr i n Vergessenheit geraten ist als der des 17. Juni. 2. Nachdem die Verfassung darauf befragt worden ist, wie die Nation sich nach ihren Vorstellungen i n einem psychologischen Krieg verteidigen soll, bedarf es nunmehr eines Blickes auf den Schauplatz, auf dem dieser Krieg sich abspielt, und einer Würdigung der dort sich abzeichnenden Lage. W i r haben festgestellt, daß der psychologische Krieg heute eine Auseinandersetzung zwischen Ideologien ist. Nunmehr gilt es zu klären, von welcher A r t diese Ideologien sind. Stößt man durch die phraseologischen Verhüllungen hindurch, dann zeigt sich, daß es ökonomische Ideologien sind, die beiderseits gegeneinander angetreten sind. Für den kommunistischen Osten ergibt sich dies ohne weiteres aus der materialistischen Geschichtsauffassung: Bilden die Produktionsverhältnisse die Grundlage der Gesellschaftsordnung, dann müssen diese Verhältnisse und die ihnen entsprechende Ideologie den Streitgegenstand und demgemäß die Hauptfront i n der Auseinandersetzung m i t dem Westen bilden. Damit ist zugleich festgelegt, daß die M a r k t w i r t schaft als Ideologie und als Wirklichkeit als Kampfziel angesprochen ist. Als dem Gesetz des gegnerischen Handelns unterworfen sieht sich der Westen schon aus diesem Grunde gezwungen, sich an der W i r t schaftsfront zu verteidigen —, ganz abgesehen davon, daß sie ohnehin das Herzstück seiner politischen Existenz ist. Der antagonistische Gegensatz 38 zwischen diesen beiden Systemen w i r d als eine A r t von Wettkampf ausgetragen: Sieger ist diejenige Partei, deren Ökonomie die größere Produktivität vorweisen und die Ursächlichkeit dafür ihrer Ideologie zuschreiben kann. Ist dies einer von beiden sichtbarlich gelungen, dann — nimmt man an — werden die Völker sich spontan dem produktiveren System m i t allen seinen weiteren Errungenschaften zuwenden. I n diesem Zusammenhang erscheinen die Marktwirtschaft und ihre Ideologie i n einem neuen Licht: Sie bilden die Hauptfront i n dem psychologischen Krieg, der unter der Firma „Friedliche Koexistenz" zwi38
Es w i r d unterstellt, daß eine Angleichung, wie die Konvergenz-Theorie annimmt, nicht möglich ist u n d daher nicht stattfindet.
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sehen Ost und West geführt wird. Die Marktwirtschaft ist nun nicht mehr eine, ökonomische Sache für sich, deren Vorgänge, Erfolge und Mißerfolge nur sie betreffen und angehen. Sie ist vielmehr zu einer Angelegenheit der Außenpolitik geworden. Sie muß sich daher auch und vor allem unter deren Notwendigkeiten stellen. Das bedeutet hier zweierlei. Geht man einmal davon aus, daß diejenige Partei siegen wird, die gemessen an der Produktivität ihrer Wirtschaft, weniger und leichtere Fehler macht als die andere, dann dürfen Mißerfolge der Marktwirtschaft nicht allein ökonomisch gewertet und vor allem nicht bagatellisiert werden 3 9 . Sie sind vielmehr i n erster Linie als Niederlagen i m Rahmen einer außenpolitischen Auseinandersetzung zu sehen und als solche ernstzunehmen. Zweitens: Da die Waffen der Psychologischen Kriegführung nicht so sehr auf das System als solches wie vielmehr auf dessen Verwurzelung i m Bewußtsein des Volkes gerichtet sind, so genügt es nicht, daß die Marktwirtschaft ein besseres Verhältnis zwischen Erfolgen und Mißerfolgen vorweisen kann als ihre Konkurrenz —, sie muß vielmehr auch das Volk davon zu überzeugen wissen, daß es sich so verhält und daß dies nicht Zufall, sondern der Überlegenheit des ökonomischen System zu verdanken ist. Ist die Wirtschaft hiernach der Schauplatz, auf dem der psychologische Krieg geführt w i r d und daher die Nationale Existenz vor allem zu verteidigen ist, dann kann sie sich der demgemäß geforderten politischen Wertung und Behandlung vernünftigerweise nicht entziehen —, es sei denn, sie sei bereit, diese Existenz und damit doch wohl auch sich selbst aufs Spiel zu setzen. Noch vor den Problemen, die der friedliche Wettbewerb der friedlichen Koexistenz aufwirft, bedeutet dies vor allem: Geht es jeder Außenpolitik wesentlich u m Sicherheit, dann kann es der Wirtschaft nicht gestattet sein, ihrerseits auf dem gleichen Felde Unsicherheit zu schaffen und damit die Auswärtige Politik u m Sinn und Ergebnis ihrer Anstrengungen zu bringen —, und zwar insbesondere dann, wenn wirtschaftliche Abhängigkeiten von einer A r t und von einem Gewicht sind, die von anderen Mächten politisch genutzt werden können 4 0 . Daß und m i t welchen Folgen beides dennoch geschieht, bedarf angesichts der Ereignisse um die Wende von 1973 auf 1974 keiner Erläuterung. Sicher sollte jedenfalls sein, daß hieraus eine Lehre gezogen werden muß, die Adam Smith' These von dem Vorrang der Sicherheit über die Opulenz wieder beherzigt und dieserhalb der 39
Auch hier gibt es eine A r t von Kriegsberichterstattung, die Niederlagen i n Siege zu verwandeln sucht; vgl. z.B. „Die W e l t " v o m 9. Januar 1974: Sie macht aus der Aufhebung des Sonntagsfahrverbotes einen „Sieg der M a r k t wirtschaft". 40 Der pure Ökonomismus pflegt sich i n einem solchen Falle darüber zu entrüsten, daß ökonomische Macht politisch genutzt („mißbraucht") w i r d . 17«
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Alleinherrschaft des Kostengesichtspunktes ein Ende bereitet. Dies wiederum nötigt dazu, denjenigen Zwang zur Vernachlässigung der Sicherheit zu modifizieren, den ein allein auf Preis und Gewinn ausgerichteter Wettbewerb i n dieser Hinsicht ausübt. Was insbesondere den Psychologischen Krieg angeht, so würde in diesem Rahmen gewiß eine Wirtschaftskrise womöglich i m Stil der Jahre 1929 ff. nicht nur, wie 1933, eine innenpolitische, sondern vor allem auch eine außenpolitische Katastrophe auslösen: Die notleidenden Massen würden sich nicht mehr nur einem nationalen Diktator, sondern dem internationalen Kommunismus zuwenden. Es bedarf jedoch nicht einmal eines solchen Extrems, um von einem jeden Versagen der Wirtschaft eine Erschütterung der eigenen außenpolitischen Front befürchten zu müssen. Da es primär die Ansehnlichkeit ist, die das Volk bewegt, den Personen und Instituten der Marktwirtschaft diejenige Anerkennung zu zollen, auf der ihre Standfestigkeit beruht, gerade diese Anerkennung aber der Ansatzpunkt für die psychologische Kriegführung ist, zeigt sich: Es genügt letztlich nicht, daß die Marktwirtschaft das größte Sozialprodukt, die höchsten Einkommen, einen unvergleichlichen Wohlstand Aller vorzeigen kann —, sie muß i n erster Linie unangreifbar sein, was die A n sehnlichkeit anbetrifft. Dazu wäre konkret sehr viel zu sagen. Hier muß es genügen, daß dieser Punkt als für die geistige Landesverteidigung entscheidende dargetan ist. U m so wichtiger ist es daher, sich klar darüber zu werden, daß die Ideologie der Marktwirtschaft, und zwar vor allem i n ihrer neoliberalen Prägung, nicht eben leicht einsichtig zu machen ist —, jedenfalls wenn man auf eine nachhaltige Festigkeit der Überzeugung ausgeht. Diese Schwierigkeit liegt einmal i n der Irrationalität der M a r k t w i r t schaft: Sie beschränkt nämlich Rationalität auf die einzelnen W i r t schaftssubjekte, insbesondere auf die Unternehmen —, treibt sie hier allerdings bis zum Äußersten. Der Markt hingegen ist ein Phänomen von höchster Irrationalität: Daß sich auf dem M a r k t die erforderliche Anzahl von Besuchern m i t den entsprechenden Rollen einfindet, daß aus der Begegnung dieser Menge das, zugleich für die Allgemeinheit wie für die Einzelnen bestmögliche Ergebnis selbsttätig und notwendig hervorgeht, kann nur als ein Wunder aufgenommen werden. Wie aber soll man ein solches Wunder einer Zeit plausibel machen, die alles andere ist als wundergläubig? Zweitens ist das Dogma, daß allein wirtschaftliche Zielsetzungen und Motivationen der einzelnen W i r t schaftssubjekte ein solches Wunder bewirken können, daß aber solche Zielsetzungen und Motivationen nichtsdestoweniger oder vielleicht sogar gerade deswegen weil freiheitliche als sittliche zu werten seien, nicht ohne weiteres Menschen annehmbar zu machen, denen es u m eine sittliche Haltung auch i n der Wirtschaft geht. Hier scheint m i r der
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schwächste Punkt i n der Verteidigung der Marktwirtschaft zu liegen, und zwar insbesondere auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht. Wenn es schließlich richtig ist, daß das Arbeitsrecht der Bundesrepublik keine verbindliche oder auch nur eine herrschende Auffassung über die Stellung der menschlichen Arbeit i m gesellschaftlichen System kennt 4 1 , dann hat man dies zu einem guten Teil auf diejenige Ideologie zurückzuführen, die das Unternehmen zu einem ausschließlich w i r t schaftlichen Gebilde denaturiert: Sinn der Arbeit kann unter solchen Umständen allein die Erzielung von Entgelt und allenfalls die Beteiligung am Gewinn sein. Das aber ist für die Verteidigungsfähigkeit der Marktwirtschaft zu wenig. Es bedarf kaum der Hervorhebung, daß auch die Paritätische Mitbestimmung hieran nichts ändern würde 4 2 . a) Z u jeder Verteidigung gehört als erstes der Wille, sich zu verteidigen. Diese Selbstverständlichkeit muß betont werden, weil die reine Marktwirtschaft zwei Überlegungen hegt, die das — einer anstrengungslosen Wohlstandsgesellschaft hochwillkommene — Ergebnis dartun sollen, daß es einer spontanen und aktiven Verteidigung dieser Front gar nicht bedarf, ja daß eine solche sogar schädlich sein könnte — ein Beispiel dafür, daß i n Deutschland wieder einmal die Erfordernisse der Sache und deren ständige Prüfung und Befriedigung durch „Stramme Haltung" ersetzt werden. aa) Es handelt sich einmal u m die oben bereits berührte 4 3 durch nichts zu erschütternde Gewißheit, daß das Modell „Marktwirtschaft" das vollkommenste und daher letzte darstelle, was dem menschlichen Geist zu entwerfen möglich sei; was Eucken, Böhm u. a. gedacht hätten, sei daher das endgültige Wort in diesen Fragen; weiteres Denken können daher folgerichtig nur falsches Denken sein. Von einer solchen Verabsolutierung aus ist es nicht mehr weit bis zu dem Schluß, das Modell „Marktwirtschaft" könne wegen seiner Unübertrefflichkeit und nach Gang und Willen der Geschichte nicht untergehen, zwar mißverstanden, aber nicht ernsthaft gefährdet werden. Es ergibt sich auf diese Weise eine Siegessicherheit, die der Prüfung entraten zu können wähnt, ob die Marktwirtschaft wirklich imstande ist, sich erfolgreich gegen ihre Gegner zu verteidigen, und erst recht keine Überlegungen für erfor41
Vgl. B. Rüthers (oben A n m . 28), S. 34. Die Gewinnung von Anerkennung f ü r die Marktwirtschaft aus Einsicht ist daher alles andere als einfach. U m so erstaunlicher ist es, w i e leicht sich man diese Aufgabe allzu oft macht. Daß es m i t erbaulichen Fabeln à la Christoph von Schmid's Ostereiern nicht getan ist, sollte selbstverständlich sein. Trotzdem findet m a n dergleichen selbst i n der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; vgl. ζ. B. V r „Segen des Wettbewerbs" i n F A Z v o m 31.12. 73. 43 Vgl. oben A n m . 31. 42
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derlich hält, was u m solcher Verteidigung willen noch gebessert werden könnte: Sint ut sunt aut non sint. Wieder einmal überrascht, wie sehr West und Ost i n dem Credo übereinstimmen, mit ihnen habe die Geschichte jeweils ihren Höhe- und Endpunkt erreicht, wobei allerdings der Osten immerhin bereit ist, von Zeit zu Zeit die „Kleinen Propheten" auszuwechseln und kraft der Dialektik sich befähigt hat, auch den Gegensatz für sich nutzbar zu machen. bb) Nach der Haltung zum Modell „Marktwirtschaft" hat man die zweite Ursache für den Glauben, sie bedürfe einer spontanen und aktiven Verteidigung nicht, i n dem Inhalt dieses Modell selbst zu suchen, genauer: I n dessen „Gestimmtheit". Sie ist die Folge der Abdankung, die der Mensch vollzieht, der sich der Marktwirtschaft als Ideologie und Prozeß unterwirft: Wenn die Marktwirtschaft — trotz ihrer Irrationalität! — zu denken und zu entscheiden vermag, und zwar beides besser und richtiger als der Mensch i m Einzelnen oder als Gesamtheit (Staat), dann können und müssen sich allerdings Einzelner und Staat darauf beschränken, die Ergebnisse dieses Denkens und Entscheidens, also die „Marktsignale" zu beachten und zu befolgen — wobei indessen, u m i m Bilde zu bleiben, der Staat durchweg auf „Rotes Licht" stößt. Dieser Glaube an Intelligenz und Dezision des Marktes hat unvermeidlich einen makroökonomischen Fatalismus hervorgerufen, der i n einer Welt, die alles „machen" zu können glaubt, einen erstaunlichen Fremdkörper darstellt. Fatalismus ist aber gewiß nicht diejenige „Gestimmtheit", aus der Wille und Fähigkeit zu spontaner und aktiver Verteidigung hervorgehen könnten. Selbst das Gebet, das jeder Fatalismus an die Stelle von A k t i v i t ä t setzt, kommt hier nicht in Betracht: Man kann zwar einen allmächtigen Gott, nicht aber die Automatismen der Marktwirtschaft anflehen. I n diesem Fatalismus liegt — was für den psychologischen Krieg wichtig ist —, zugleich die wesentliche propagandistische Schwäche der Marktwirtschaft: Wie soll sich der normal denkende Mensch m i t der Paradoxie befreunden können, daß (makroökonomisches) Nichtstun das beste Tun ist? I n den Jahren 1929 ff. haben sich sechs Millionen A r beitslose von der Weisheit einer solchen These nicht überzeugen können, und dasselbe dürfte heute erst gelten, weil es jetzt eine Gegenposition gibt, die Spontaneität und A k t i v i t ä t auf ihre Fahnen geschrieben hat. Es ist richtig, daß es inzwischen eine staatliche Konjunkturpolitik gibt. Aber i n der Hauptsache kursieren doch immer noch odiose Begriffe wie „Intervention", „Dirigismus" u. ä. m., die einen grundsätzlichen Widerwillen gegen alle kollektive A k t i v i t ä t i n Sachen W i r t schaft hervorrufen sollen —, und „Liberalisierung" ist nach wie vor das Ideal, das den erwähnten Widerwärtigkeiten entgegengesetzt w i r d : I n
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diesem Zusammenhang bedeutet „Liberalisierung" nichts anderes als die Uberantwortung einer ökonomischen Materie an Automatismus und Fatalismus —, wenn nicht sogar, wie i m Währungswesen an die „Freiheit" i m Trüben zu fischen. Fatalismus als Grundgestimmtheit der gegenwärtigen M a r k t w i r t schaft ist nicht frei von Ausnahmen. Zwei von ihnen sollen wenigstens andeutungsweise vorgeführt werden (von der Konjunkturpolitik ist bereits die Rede gewesen), damit sie die Regel erhärten. Der Inhalt einer Ideologie läßt sich schwerlich bestimmen, ohne daß man auch deren propagandistischer Wirksamkeit gedächte. Wie das „Kommunistische Manifest" zeigt, haben Marx und Engels diesem Erfordernis meisterhaft genügegetan. Der Neo-Liberalismus hat i h m auf seine Weise Rechnung zu tragen gesucht, indem er ganz i m Sinne seiner Geschichtsphilosophie der Marktwirtschaft nicht ohne weiteres den Endsieg zuspricht —, i h m vielmehr i n Gestalt des Kommunismus ein retardierendes Moment setzt. Wenn dieser Endsieg auch feststeht, so soll er doch eintreten, ohne daß dem Feind vorher noch Geländegewinne geglückt wären. Als deren Verhütung gewidmetes propagandistisches Strategem hat der Neoliberalismus dieser Auseinandersetzung eine Deutung gegeben, die alarmieren und mobilisieren soll: I h m zufolge handelt es sich um das „letzte Gefecht", aus dem die zeit- und raumlose Herrschaft der Marktwirtschaft hervorgehen soll; und zweitens spielt sich dieses Gefecht zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Gut und Böse, letzten Endes zwischen Gott und Teufel ab. Hierdurch hofft man wie so oft einer Masse entgegenzukommen, deren Unterscheidungsfähigkeit sich auf den Gegensatz von Schwarz und Weiß beschränkt und die diesen simplen Kontrast gerade heute moralisch zu bestimmen pflegt. Hierzu wäre gerade unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung der Marktwirtschaft mancherlei zu sagen. Es sei jedoch lediglich eines angemerkt. Diese Verteufelung bewirkt, daß man die Kampfkraft der anderen Seite nicht prüft, ja von vornherein geneigt ist sie zu unterschätzen, weil man schließt, das teuflische könne eben als teuflisches nichts taugen, obwohl gerade der gegenteilige Schluß eher am Platze wäre. U m es ökonomisch auszudrücken: Sozialistische Wirtschaft kann keinen Erfolg haben, weil sie sozialistisch ist. Die zweite und bedeutendere Ausnahme von Fatalismus als Grundgestimmtheit der Marktwirtschaft scheint der Kampf gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Marktbeherrschende Unternehmen zu sein. Hier vor allem scheint der Staat zu zeigen, was er ist und was er tut. I n solcher Tätigkeit schreckt der Staat nicht einmal davor zurück, sich gegen sich selbst zu wenden, indem er seine Wirtschafts- und Außen-
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politik lahmlegt 4 4 . Damit deutet sich bereits an, daß diese A k t i v i t ä t von sehr eigener A r t ist: Sie ist A k t i v i t ä t zur Verhinderung von A k t i v i tät —, zur Erhaltung oder Wiederherstellung von Automatismen und damit des Fatalismus als Gestimmtheit 4 5 . b) Zu jeder Verteidigung gehört — nach dem Willen — Beweglichkeit derselben i n allen Hinsichten. Die Verteidigung der M a r k t w i r t schaft i m Psychologischen Krieg hat somit — ständig — zu prüfen, wie es hiermit bestellt ist. aa) Wenn man nicht mehr Raum verteidigen sollte, als mit A r t und Maß der vorgegebenen Waffen verteidigt werden kann, dann besteht Beweglichkeit vor allem darin, daß man die hiernach nicht zu verteidigenden Räume nicht verteidigt, sondern sich auf das entsprechende „ Réduit" zurückzieht. Die von den Ideologen der Marktwirtschaft beliebte Verteidigung scheint mir das Gegenteil solcher Beweglichkeit zu sein: Ein purer Ökonomismus erhebt einen Totalitätsanspruch jedenfalls i m Bereich des Wirtschaftens —, unter Ignorierung des Umstandes, daß nicht jedes Wirtschaftssubjekt ein Marktwirtschaftssubjekt und nicht jeder Wirtschafts Vorgang ein Markt wirtschaf tsvorgang ist. Damit erweist sich eine „ K r i t i k " i m kantischen Sinne aus unerläßlich, die festlegt, wo Marktwirtschaft ihrem Gegenstand nach am Platze ist und wo sie daher m i t dem Argument der Sachgerechtigkeit, also mit Aussicht auf Erfolg verteidigt werden kann. Was das Thema „Wirtschaftssubjekte" angeht, so bedarf i n erster Linie einer solchen K r i t i k das Öffentliche Unternehmen. Niemand 4 6 44
Vgl. das v o m Bundeskartellamt ausgesprochene Verbot der Zusammenfassung von Gelsenberg u n d V E B A zu einem Öffentlichen Unternehmen, das die Erdölversorgung sicherstellen u n d damit den Deutschen ein Stück auch außenpolitischer Freiheit wiedergeben soll: Der Staat, der dergleichen untern i m m t , k a n n von Glück sagen, wenn er nicht noch m i t einem Bußgeld belegt w i r d . Vgl. zu alledem die Frankfurter Allgemeine Zeitung v o m 9. u n d 10. Januar 1974. 45 Das Streben, dem Grundgesetz eine Entscheidung für die M a r k t w i r t schaft zu imputieren (H. C. Nipperdey) oder eine entsprechende Bestimmung i n dasselbe einzufügen (so zuletzt etwa der Deutsche Industrie- u n d Handelstag; vgl. Bericht 1972, S. 10), bedeutet i n unserem Zusammenhang zweierlei: E i n m a l k a n n es sich d a r u m handeln, i n Gestalt einer gesetzesabhängigen Rechtspflege einen weiteren Automatismus f ü r die Verteidigung der M a r k t wirtschaft zu gewinnen; zugleich k a n n zweitens von der hierdurch bewirkten Steigerung der Ansehnlichkeit der Marktwirtschaft eine entsprechende Festigung des Volksbewußtseins erwartet werden. 46 So setzt H. H. Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb (1968) offenbar ohne weiteres als selbstverständlich voraus, daß eine solche Teilnahme zulässig sei, u n d daß sie als Teilnahme am W e t t bewerb stattfinde.
Verfassunggebung i m Hinblick auf die Auswärtige Lage
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scheint daran zu zweifeln, daß die Eigenart der Trägerschaft völlig unerheblich für die Sache selbst ist —, daß also das öffentliche Unternehmen ein Privatunternehmen ist, ja i n einer M a r k t - und Wettbewerbsgesellschaft allenfalls als Privatunternehmen geduldet werden darf, d. h. wenn es sich wie jedes andere Unternehmen dem Wettbewerb stellt sowie sich dessen Gesetzen und Ergebnissen unterwirft 4 7 . Daß der Staat immer Staat ist und bleibt, gerade auch wenn er als Privatrechtsubjekt und i n den Formen des Privatrechts auftritt, bleibt bei alledem bezeichnenderweise unberücksichtigt, vielleicht sogar ungeahnt 48 . Offen bleibt hierbei die Frage, warum der Staat als Unternehmer auftritt, wenn er sich als Privatunternehmer versteht und verhält. Als solcher ist der Staat gerade in einer Marktwirtschaft völlig entbehrlich, ja vielleicht sogar schädlich, weil er dem hiermit verbundenen Risiko durch Rückgriff auf den Steuerzahler sich entziehen kann und er dadurch der von solchem Risiko erhofften unternehmerischen Munterkeit nicht teilhaftig wird. Hieraus ergibt sich: Das Öffentliche Unternehmen hat eine ratio essendi nur, wenn es i n jeder Hinsicht ganz etwas anderes ist als das Privatunternehmen. Der Unterschied liegt vornehmlich i n dem spezifisch staatlichen Moment der Sicherheit: Das Öffentliche Unternehmen hat seinen Sinn darin, daß es lebenswichtige Darbietungen unbedingt darzubieten vermag, insbesondere also ohne Rücksicht auf Rentabilität. Diesen Sinn nimmt man ihm, wenn man es vermarktwirtschaftet. Was die Ideologie hierdurch zu gewinnen glaubt, verliert die Verteidigungskraft. Denn wenn selbstverständlich auch die Marktwirtschaft nicht von der Obliegenheit ausgenommen ist, inhärente Mängel zur Kenntnis zu nehmen und zu kompensieren —, und wenn das öffentliche Unternehmen eine solche Veranstaltung des Selbstausgleiches ist, dann bedeutet Privatisierung die Relativierung eines absolut notwendigen und daher unter allen Umständen sicheren Dargebots und dessen Überantwortung an alle Unsicherheiten der Marktwirtschaft. Hiermit aber werden die Aussichten auf eine erfolgreiche Verteidigung sowohl i n der Sache wie bezüglich der „Moral" erheblich geschwächt. Eine realistische Strategie würde deswegen diese Positionen nicht, oder jedenfalls nicht an dieser Front verteidigen. Die Strategen der Marktwirtschaft huldigen demgegenüber der Auffassung, jeder von der Marktwirtschaft de facto innegehabte Quadratmeter müsse mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf Verluste verteidigt werden —, eine Strategie, über deren „Erfolge" die Chroniken des Ersten und des Zweiten Weltkrieges zu berichten wissen. 47
Diese D o k t r i n verficht vor allem V. Emmerich, Das Wirtschaftsrecht des öffentlichen Unternehmens (1969). 48 E i n erstaunliches Zeugnis solcher Ahnungslosigkeit ist der Leserbrief des Bundesministers Dr. K . von Dohnanyi i n der F A Z v o m 28.12.1973.
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Herbert K r ü g e r
Nicht anders als i n puncto Wirtschaftssubjekte verhält es sich i n der Frage der Wirtschaftsvorgänge. Auch hier gibt es Materien, zu deren Behandlung die Marktwirtschaft als untauglich angesehen werden muß. Dennoch fehlt es durchweg an der erforderlichen „ K r i t i k " . Durchgesetzt hat sich immerhin die Auffassung, daß Privatinstitute keine Banknoten ausgeben können. Hingegen ist man nach wie vor bereit 4 9 , das Währungswesen dem „Freien Spiel" der Kräfte vorzubehalten. Indem man dieser Materie gegenüber abermals den Totalitätsanspruch des puren Ökonomismus geltend macht, schwächt man die Verteidigung der Marktwirtschaft noch erheblicher als sich dies i m Falle des Öffentlichen Unternehmens herausgestellt hat. Das H i n und Her von A u f - und A b wertungen, die Degradierung der nationalen Währung zu einem Fußball, m i t dem die internationale Spekulation spielt, gehören gewiß nicht zu den Leistungen, die die Marktwirtschaft vorzeigen und mit denen sie Ansehen gewinnen kann. Es sollte daher die Währung eine „res extra commercium" sein. Würde dies geschehen, dann würde der Gegenpartei des Psychologischen Krieges erheblicher Wind aus den Segeln genommen. bb) Beweglichkeit der Verteidigung verlangt vor allem die Fähigkeit des zu verteidigenden Gutes, sich ohne Substanzverlust den jeweiligen Erfordernissen der Verteidigung anpassen zu können. Hierzu scheint die erforderliche Bereitschaft weithin nicht zu bestehen. Die Ursache hierfür dürfte man vor allem i n der, der gegenwärtigen M a r k t w i r t schaft zugrundeliegenden Geschichtsphilosophie zu suchen haben: Wenn das Modell Marktwirtschaft das vollkommenste Ergebnis ist, dessen der menschliche Geist zum Thema Wirtschafts Verfassung fähig ist, dann können Veränderungen nur Verschlechterungen sein, und eben deswegen bedarf es auch nicht eines Überdenkens der Marktwirtschaft als solcher, weil Vollkommenstes dies auch bezüglich der Verteidigung sein muß 5 0 . Eine solche Geschichtsphilosophie ist geeignet, die Verteidigung der Marktwirtschaft i m Psychologischen Krieg erheblich zu beeinträchtigen. Schon die Existenz geistiger Gebilde überhaupt ist nur gesichert, wenn sie i n dem Bewußtsein der Gruppe gegenwärtig und lebendig sind, also ständig gedacht, geprüft und bestätigt werden. Steht ein solches Gebilde überdies i m Psychologischen Krieg mit Seinesgleichen, dann müssen Gestalt und Gehalt des zu verteidigenden Ideals zudem unablässig i m Lichte der sich ständig wandelnden Erfordernisse der Lage erneuert und verbessert werden. Dieser Notwendigkeit vermag man 49
Vgl. hierzu Herbert Krüger, Paritätische Mitbestimmung — Unternehmensverfassung — Mitbestimmung der Allgemeinheit (1973), S. 16 A n m . 19. 50 Vgl. oben Anmerkungen 31 u n d 43.
Verfassunggebung i m Hinblick auf die Auswärtige Lage
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nicht zu genügen, wenn man das Ideal als keiner Verbesserung fähig und daher keiner Erneuerung und Modernisierung bedürftig ausgibt —, es also m i t einer Eigenschaft bekleidet, die nicht menschlichen Hervorbringungen, sondern nur einer geoffenbarten Religion zukommt. Die gefährlichste Folge einer solchen Vergötzung eines Sozialmodells liegt darin, daß seine Verfechter selbst Fehlschläge handgreiflichster A r t nicht dem Modell als solchem, sondern ausschließlich dessen Mißachtung oder Verfälschung durch die Praxis zuschreiben. Eine Manöverkritik, die der Wirtschaftsverfassung als solcher gilt, kommt infolgedessen nicht i n Betracht. Demgemäß hat man i n der BRD auf Symptome wie progressive Inflation, ebensolche Preissteigerung u. a. nicht mit einer Überprüfung des Modells, sondern lediglich m i t einer Verschärfung seiner Anwendung reagiert —, also mit Aufhebung der Preisbindung der zweiten Hand u. ä. m., allgemeiner gesprochen m i t weiterer Irrationalisierung statt Rationalisierung. I n solcher Aussparung der Systemkritik sind sich alle Beteiligten, insbesondere auch die Gewerkschaften einig. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß weder das Grundgesetz sich des Themas „Verteidigung der Nation i m Psychologischen Krieg" genügend angenommen hat noch daß gar die Gesellschaft an der Hauptfront dieses Krieges, an der Front der Wirtschaftsideologien, sich die, für eine erfolgreiche Verteidigung, erforderlichen Gedanken gemacht hat. Ob dieser Diagnose die gebotene Therapie folgen wird, erscheint angesichts des Mangels an Selbstkritik, ja geradezu der Verdammung einer solchen als „defaitistisch" nicht unbedingt sicher. Daß eine solche Einstellung nicht erst der Gegenwart angehört, soll jetzt — nachdem eingangs ein Journalist zitiert worden ist — ein Dichter, Victor von Scheffel durch den Mund des alten weisen Katers Hidigeigei bezeugen: „Harmlos Volk! i n Selbstbetäubung „Werdet ihr noch lyrisch tollen, „Wenn vernichtend schon des Ostens „Tragisch dumpfe Donner rollen 5 1 ."
51 Der Verfasser ist über den Verdacht erhaben, daß dieses Z i t a t aus Feindschaft gegen Rußland u n d gegen das russische V o l k gewählt sein könnte.
Verfassungsreform und Parlamentsauflösung Von Hans-Jürgen Toews
Die Enquete-Kommission Verfassungsreform des 7. Deutschen Bundestags hat, wie bereits ihre Vorgängerin i n der vergangenen Wahlperiode, die Frage einer Änderungsbedürftigkeit der grundgesetzlichen Regelungen über die Parlamentsauflösung i n ihr Arbeitsprogramm aufgenommen 1 . Schon i n der Diskussion u m eine Totalrevision des Grundgesetzes ist das Thema gelegentlich angesprochen worden. Seine Aktualität verdankt es indes den Krisen um die Bundesregierungen Erhard 1966 und Brandt 1972. Eine Erörterung der Reformbestrebungen hat von dem bestehenden Auflösungsrecht auszugehen (I.), die K r i t i k vor dem Hintergrund der Verfassungspraxis zu berücksichtigen (II.) und schließlich die einzelnen Neuerungsvorschläge zu begutachten (III.). I. I m konstitutionellen Staat diente das Recht des Monarchen zur Parlamentsauflösung der Verteidigung seines Übergewichts gegen eine oppositionelle Volksvertretung. Hierfür bietet der preußische Verfas1 Die Enquete-Kommission für Fragen der Verfassungsreform des 6. Deutschen Bundestags hatte i n i h r e m Themenkatalog v o m J u l i 1971 (Kommissionsdrucksache Nr. 003) unter Β — Parlament u n d Regierung — die Fragen „Auflösungsrecht des Bundeskanzlers" (I 5.1) u n d „Das Selbstauflösungsrecht des Bundestags" (V 4.4) aufgenommen. Eine Verhandlung über sie fand jedoch nicht statt. Der Zwischenbericht der Kommission (BT Drucks. VI/3829, auch veröffentlicht unter dem T i t e l : „Fragen der Verfassungsreform", 1973) enthält n u r Vorschläge des Abg. Prof. Friedrich Schäfer. Die Enquete-Kommission des 7. Deutschen Bundestags hat für die Beratung i n der Unterkommission I I (Parlament u n d Regierung) den Themenkreis „Parlamentsauflösung, Wahlen u n d Wahlperiode" vorgesehen. Die Vorschläge von Schäfer sind dazu erneut eingebracht worden (Komm.Drucks. 052). T e i l weise abweichende Vorschläge enthalten die Berichte der Kommissionsmitglieder Landtagspräsident Dr. Lemke und Prof. Böckenförde v. 3.12.1973 (Komm.Drucks. zu 052). Hieran lehnen sich die Formulierungsvorschläge an, die beide zusammen m i t Staatssekretär Hermans der Kommission vorgelegt haben (Komm.Drucks. 092 — neu — v. 6. 3.1974).
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Hans-Jürgen Toews
sungskonflikt ein oft zitiertes Beispiel 2 . Vorteilhafte Neuwahlen stärkten die Regierung, nachteilige verpflichteten den Monarchen aber nicht, sie zu entlassen. Je mehr jedoch die Regierung auf eine parlamentarische M i t w i r k u n g angewiesen war, desto stärker wurde die Auflösung zu einem Mittel, Konfliktsentscheidungen zwischen ihr und dem Parlament durch das Volk einzuleiten. Entsprechende Ansätze i m Bismarckschen Reich vermochten bis zu seinem Ende allerdings nicht, das Institut der Auflösung vom antiparlamentarischen Odium zu befreien 3 . Unter neuen Verhältnissen fand es jedoch als bewährtes Regulativ gerade auch der parlamentarischen Demokratie ohne weiteres Eingang i n die Weimarer Reichsverfassung. Freilich wurde die Auflösung nicht — dem englischen Modell folgend — einem vom Reichstag abhängigen Kanzler anvertraut. Vielmehr legte die Verfassung das nahezu unbeschränkte Auflösungsrecht in die Hände des vom Volke gewählten Reichspräsidenten (Art. 25 WRV) 4 . Dieser konnte so die Aufgabe eines an die Wähler appellierenden Moderators erfüllen, aber auch die Rolle eines Gegenspielers des Parlaments wahrnehmen, die i h m vor allem von Hugo Preuß zugedacht war. Unter besonderen Umständen vermochte der Reichspräsident dabei politische Initiativen zu entwickeln, die für das System nicht ohne Risiken waren. I n der Verfassungspraxis der Weimarer Republik 5 — jeder Reichstag fand ein vorzeitiges Ende — 2
Z u r Parlamentsauflösung i n der konstitutionellen Monarchie vgl. C. Schmitt, „ E i n m a l i g k e i t " u n d „gleicher A n l a ß " bei der Reichstagsauflösung nach A r t . 25 des RV, AöR 47 (1925) S. 162 ff. (164 f.); E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, S. 883 f.; N. Pokorni, Die Auflösung des Parlaments. Bedeutungswandel u n d Zurücktreten eines Verfassungsinstituts. Jur. Diss. Bonn 1967, S. 33 ff. m. w. N. Über die Entwicklung des Auflösungsrechts auch E. Busch, Parlamentsauf lösung 1972, i n : ZParl. 4 (1973) S. 213 ff. (215 ff.). 3 Z u m Recht der Parlamentsauflösung i m Bismarckschen Reich vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 898 ff. Uber die einzelnen A u f l ö sungsfälle E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4 (1969) S. 208, 292 f., 552, 554 f., 1156; N. Pokorni (Anm. 2) S. 48 ff. 4 Z u r Rechtslage nach der Weimarer Reichsverfassung etwa G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. (1933), Erl. zu A r t . 25; C. Schmitt, Verfassungslehre (1928) S. 353 ff.; H. Pohl, Die Auflösung des Reichstags (1921); L. Krallmann, Das Recht zur Auflösung der Parlamente nach deutschem Reichs- u n d preußischen Landesstaatsrecht. Jur. Diss. Göttingen 1926; O. Meyer, Die Parlamentsauflösung. J u r Diss. Göttingen 1927; W. Tornow, Die Auflösung des Reichstags durch den Reichspräsidenten. Jur. Diss. Göttingen 1930; H. Lalla, Die Auflösung des deutschen Reichstags. Jur. Diss. Königsberg 1931; R. Jöricke, Die Auflösung des Parlaments. Jur. Diss. Würzburg 1934. 5 Uberblick über die Anwendungsfälle bei E. R. Hub er, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3 (1966) S. 160 ff. Vgl. ferner R. Jöricke (Anm. 4) S. 45 ff.; N. Pokorni (Anm. 2) S. 81 ff. Z u r Würdigung insb. F. K.
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galten zwar die Parlamentsauflösungen zunächst dem Bemühen, Konfliktsituationen zwischen Regierung und Parlament zu beseitigen, die als Folgen von Koalitionskrisen entstanden waren. I n der Endphase der Republik aber war durch Auflösungen ein Stabilisierungseffekt angesichts des steten Anwachsens radikaler Bewegungen nicht mehr zu erreichen. Vielmehr bewirkten sie oft gerade eine Stärkung jener Bewegungen und damit ein Absinken der parlamentarischen Kommunikationsfähigkeit. Unter dem Eindruck der Funktionsstörungen des Reichstages verfolgten die Auflösungen schließlich den Zweck, die von Hindenburg favorisierten Regierungskonstellationen zu stützen 6 . Dabei stellte es kein ernsthaftes Hindernis dar, daß die Reichsverfassung die Auflösung aus gleichem Anlaß nur einmal gestattete. Die Bindung des Reichspräsidenten an die Gegenzeichnung des Reichskanzlers begrenzte die Auflösung schon deshalb nicht, weil diese regelmäßig vom Kanzler selbst erbeten wurde. Gegenüber dieser Entwicklung i m Reich traten Gestaltung und Praxis des Auflösungsrechts i n den einzelnen Ländern zurück 7 . Hier gab es keinen dem Reichspräsidenten vergleichbaren Staatspräsidenten. Andererseits konnte man sich nur vereinzelt entschließen, einer vom Landtag abhängigen Regierung eine Auflösungsbefugnis zuzugestehen. Deshalb fanden Bestimmungen über eine Abberufung des Landtags durch Volksentscheid nach vorgängigem Volksbegehren und über seine Selbstauflösung vielfach Aufnahme i n die Landesverfassungen. Zumeist scheiterten die Versuche, Auflösungen auf diese Weise herbeizuführen, angesichts der hohen Anforderungen, die dem Schutz des parlamentarischen Systems dienen sollten. I n den letzten Jahren der Republik wurden sie sowohl von rechts als auch von links unternommen, u m durch Neuwahlen Positionsverbesserungen zu erzielen oder um wenigstens die politische Szenerie zu beunruhigen 8 . Fromme, V o n der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz (2. Aufl. 1962) S. 47 ff.; K . v. Bey me, Die parlamentarischen Regierungssysteme i n Europa (1970) S. 670, 854, 858. 6 Vgl. auch H. Fricke, Die Reichstagsauflösungen des Jahres 1932 u n d das parlamentarische System der Weimarer Reichsverfassung, i n : Der Staat, 1962, S. 199 ff. 7 Vgl. A. Lorch, Die Parlamentsauflösung nach deutschem Landesstaatsrecht (1922). 8 I n Sachsen k a m es schon 1922, i n Bayern Anfang 1924 zu einem Volksbegehren auf Abberufung des Landtags. I n beiden Fällen löste sich daraufh i n der Landtag selbst auf. I n Preußen betrieben 1930 die Nationalsozialisten eine Selbstauflösung, 1931 der Stahlhelm eine Auflösung durch Volksentscheid. Diese Versuche blieben ebenso erfolglos wie die a m 4. 2.1933 von den Nationalsozialisten unternommene Initiative, m i t Hilfe der D N V P u n d der D V P eine Auflösung des Landtags herbeizuführen. Volksentscheide über die Auflösung des sächsischen u n d des oldenburgischen Landtags wurden 1932 von der NSDAP, K P D u. a. i n i t i i e r t ; i m letzteren F a l l führten sie z u m
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Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit Reichstagsauflösungen und ihre verfassungsrechtliche Regelung für den Niedergang der Republik mitursächlich waren. Jedenfalls hielten die Väter des Grundgesetzes das Auflösungsrecht für ein riskantes Instrument, das sich freilich i m parlamentarischen System nicht völlig entbehren ließ 9 . Seine Handhabung wurde eingegrenzt und den veränderten Leitgedanken der Verfassung angepaßt. Dazu gehören die Betonung der parlamentarischen Repräsentation, die verstärkte Abhängigkeit der Regierung vom Parlament unter gleichzeitiger Gewährleistung ihrer Arbeitsfähigkeit und schließlich der weitgehende Verzicht auf politische Befugnisse des Bundespräsidenten. Für die Regelung der Auflösung traten insofern plebiszitäre Gesichtspunkte zurück. Vielmehr stand ihre Konzeption i n engem Zusammenhang mit dem Bestreben, gesicherte Regierungsverhältnisse herbeizuführen. Bekanntlich hat die Besorgnis hierum den Parlamentarischen Rat bewogen, auch die Entstehung und Wirksamkeit von Minderheitskabinetten zuzulassen. I n diesem Rahmen dient das Auflösungsrecht dazu, potentielle oder aktuelle Unzuträglichkeiten abzuwenden und ausnahmsweise Neuwahlen zuzulassen, um zu einer an sich wünschenswerten Mehrheitsregierung zu gelangen. I n diesem Sinne ist die Parlamentsauflösung schon bei der Regierungsbildung bedeutsam. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee hatte für den Fall, daß sich der Bundestag zu einer Einigung über den Bundeskanzler als unfähig erweisen sollte, dem Bundespräsidenten die Ernennung des Kanzlers auf Vorschlag des Bundesrats zugebilligt und i h m überdies ein Auflösungsrecht sogar für die ganze Wahlperiode zuerkannt. Ein Alternativentwurf sah für jenen Fall eine automatische Auflösung des Bundestags vor 1 0 . Der Parlamentarische Rat Schloß sich keiner der beiden Vorlagen an. Die eine wurde als zu parlamentsfeindlich, die andere als einer gesicherten Regierungsbildung unförderlich angesehen 11 . Der Parlamentarische Rat, der von einer Parlamentswahl des Bundeskanzlers ausging, räumte vielmehr dem BundespräsiErfolg. I m gleichen Jahr k a m es auch zu einer vorzeitigen Auflösung durch Landtagsbeschluß i n Bayern, u m den Nationalsozialisten den W i n d aus den Segeln zu nehmen. 9 Z u den Tendenzen i m Parlamentarischen Rat vgl. F. K . Fromme (Anm. 5) S. 56 ff.; N. Pokomi (Anm. 2) S. 124 ff. 10 A r t . 88 HCHE. Vgl. Verfassungsausschuß der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee v o m 10. bis 23. August 1948 (1948), Darstellender T e i l S. 36. 11 Z u r Entwicklung des A r t . 63 GG (Art. 87 d. Entwurfs) vgl. v. Doemming - Füßlein - Matz, Entstehungsgeschichte der A r t i k e l des Grundgesetzes, JöR Bd. 1 (1951) S. 427 ff.
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denten das Recht ein, bei einer schließlich nur m i t relativer Mehrheit zustande gekommenen Kanzlerwahl binnen sieben Tagen den Gewählten zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen (Art. 63 Abs. 4 GG). Damit w i r d auf die Mehrheitsbildung i m Bundestag von vornherein ein Druck ausgeübt und eine Möglichkeit für Neuwahlen geschaffen, wenn diese die Aussicht bieten, stabile Regierungsverhältnisse hervorzubringen. Nicht nur durch eine Kanzlerwahl m i t relativer Mehrheit, sondern ebenso durch Veränderung einer zunächst bestehenden Mehrheitsbasis können Minderheitskabinette und damit auch erhebliche Differenzen zwischen Parlament und Regierung entstehen. Ihre Bereinigung durch einen Kanzlerwechsel kann infolge der Einführung des Mißtrauensvotums i n seiner konstruktiven Form (Art. 67 GG) wesentlich erschwert werden. Gerade i n diesem Zusammenhang ist das A u f lösungsrecht des A r t . 68 GG inauguriert worden, u m so eine Konfliktsbehebung zu erleichtern, wenn eine Mehrheitsopposition die Regierung nicht stürzen kann 1 2 . Die Auflösung bleibt dabei auf den Fall mangelnder parlamentarischer Gefolgschaft des Kanzlers beschränkt, der den entsprechenden Nachweis dadurch zu erbringen hat, daß seine Vertrauensfrage mit den Stimmen der Mehrheit der Bundestagsmitglieder verneint wird. Der Vorschlag, nicht nur dem Kanzler, sondern auch dem Bundestag die Initiative zu einem derartigen Nachweis einzuräumen, wurde zurückgewiesen, weil man eine Aushöhlung des konstruktiven Mißtrauensvotums befürchtete 13 . Der Parlamentarische Rat hat es auch abgelehnt, dem Bundeskanzler selbst das Auflösungsrecht zu überlassen. Die Entscheidung über die Auflösung ist vielmehr — i n Art. 63 GG vollständig, i n A r t . 68 GG nach Antrag des Kanzlers — dem Bundespräsidenten überantwortet 1 4 . I n seiner Hand sollte das freilich stark begrenzte Auflösungsrecht nicht eine Waffe gegen ein unbotmäßiges Parlament sein, sondern 12
Vgl. Abg. Katz (SPD), Sten. Ber. H A , 4. Sitzg. v. 17.11.1948, S. 44. Allgem. Redaktionsaussch., Drucks. 276 v. 16.11.1948. Z u r Diskussion über den A n t r a g i m Hauptausschuß vgl. Sten. Ber. H A , 4. Sitzg. v. 17.11.1948, S. 44 f.; 12. Sitzg. v. 1.12.1948, S. 145, insbes. die Beiträge der Abg. v. Brentano (CDU) u. Dehler (FDP) einerseits, Carlo Schmid , Katz (SPD) u. Laforet (CSU) andererseits. 14 M i t u n t e r w i r d bei A r t . 68 GG eine Pflicht des Bundespräsidenten zur Auflösung behauptet, w e n n ein A n t r a g des Bundeskanzlers vorliegt. Vgl. z. B. E. Friesenhahn, Parlament u n d Regierung i m modernen Staat, W D S t R L 16 (1957) S. 9 ff. (63); M. R. Lippert, Bestellung u n d Abberufung des Regierungschefs u n d ihre funktionale Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem (1973) S. 466 ff. Dagegen die h. M., etwa Maunz - DürigHerzog, Grundgesetz (2. Aufl. 1964 ff.) A r t . 68, Rdnr. 4. 13
1 Festschrift für Werner Weber
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ein helfendes Regulativ, u m das parlamentarische System funktionsfähig zu erhalten. Denn der Bundespräsident wurde i m Parlamentarischen Rat durchaus i m Sinne eines „ausgleichenden und neutralen Faktors" 1 5 verstanden, dessen Autorität bei der Überwindung von Schwierigkeiten nutzbar gemacht werden sollte. Das Recht der Parlamentsauflösung i n den Bundesländern entspricht nur zum Teil der Konzeption des Grundgesetzes. I n der Regel scheuten sich die Schöpfer der Verfassungen, ebenso wie zur Weimarer Zeit, den Landesregierungen ein Auflösungsrecht zuzugestehen; dafür bekannten sie sich fast durchweg zur Selbstauflösung des Landtags und mehrfach auch zu seiner Abberufung durch Volksentscheid 16 . Hierbei stand das Streben nach Konfliktsbewältigung und Regierungsstabilität i m Vordergrund der Erwägungen. Einige Landesverfassungen gestatten i n Abweichung vom Grundgesetz nur die Bildung von Mehrheitsregierungen 1 7 . Sie bestimmen dann für den Fall des Nichtzustandekommens eine Landtagsauflösung, die automatisch oder durch den Landtagspräsidenten erfolgt, sofern nicht die Möglichkeit der Selbstauflösung für ausreichend erachtet wird. Bei Verlust der Mehrheit sind die Landesregierungen überall außer i n Bayern von einem Mißtrauensvotum bedroht. Teilweise kann dieses allerdings auch hier nur durch Wahl eines neuen Regierungschefs ausgesprochen werden. Dann sind entweder ähnliche Regelungen wie i m Grundgesetz (Art. 68) vorgesehen, oder Rücktritt und Selbstauflösung werden als hinreichende Ventile betrachtet. Teilweise haben die Landesverfassungen jedoch ein einfaches Mißtrauensvotum bevorzugt. Eine Neuwahl des Regierungschefs erfolgt dann nach den Vorschriften über die Regierungsbildung oder nach besonderen Bestimmungen, die jedenfalls eine Auflösung vorschreiben, wenn nicht binnen einer bestimmten Frist eine neue Mehrheitsregierung zustande kommt. II. Die Ausgestaltung des parlamentarischen Systems i m Grundgesetz hat überwiegend Beifall gefunden. Die politische Entwicklung gab 15 So Abg. Seebohm (DP), Sten. Ber. H A , 12. Sitzg. v. 1.12.1948, S. 407. Vgl. auch: V. Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates (1971) S. 138 ff. 16 Vgl. die Darstellung bei N. Pokorni (Anm. 2) S. 139 ff.; ferner K . F. Fromme, i n : F A Z Nr. 170 v. 16.7.1966, S. 2. — Mitwirkungsbefugnisse der Landesregierung i m Auflösungsverfahren finden sich i n Nordrhein-Westfalen (Art. 68 Abs. 3 NWVerf.) u n d Schleswig-Holstein (Art. 31 LS). 17 So die Landesverfassungen von Baden-Württemberg (Art. 46 f.) u n d Hessen (Art. 101).
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kritischen Überlegungen zunächst wenig Impulse. Dies gilt insbesondere auch für die Regelung der Parlamentsauflösung. Die Stabilität der Regierungsverhältnisse i n der Ära Adenauer hätte selbst bei einer weniger restriktiven Rechtslage kaum zu einer Auflösung geführt. Erfolge auf außen- und wirtschaftspolitischem Gebiet und damit die Befriedigung des allgemeinen Sekuritäts- und Wohlfahrtsstrebens unter der patriarchalischen Staatsführung des ersten Bundeskanzlers bewirkten und verbürgten die Krisenfestigkeit und Konstanz des politischen Lebens. Erst die sechziger Jahre brachten m i t der Liquidation dieser Epoche 18 auch ernstere Belastungen für das parlamentarische System m i t sich. Während der Kurswert der Stabilität, die viele als Stagnation empfanden, sank, wuchs das politische Engagement i m Volk. Das stete Anwachsen der Sozialdemokraten i m Zeichen des Programms von Godesberg und die allmähliche Umorientierung der Freien Demokraten führten zu neuen Konstellationen. Die Fluktuation der Wähler wurde größer, die Zahl der Fraktionswechsler stieg. Ideologische Auseinandersetzungen und Richtungskämpfe begleiteten diese Vorgänge. Innerhalb der Parteien verstärkte sich die Ausbildung von konkurrierenden Flügeln und geschlossenen Arbeitsgruppen. Diese Spannungen und Bewegungen, die einen neuen Abschnitt i n der Entwicklung der Bundesrepublik einleiteten, schufen Krisensituationen, die sich freilich von denen der Weimarer Zeit wesentlich unterschieden. Sie haben zur Auflösung des Bundestags von 1972 geführt und auch die K r i t i k an der bestehenden Auflösungsregelung aktiviert. Kritische Stimmen hatten schon frühzeitig den Parlamentarischen Rat gerügt, er habe die Schwächen der Weimarer Verfassung für den Niedergang der Republik verantwortlich gemacht und i n der Erwartung zu korrigieren versucht, so die politischen Probleme der Zukunft verfassungsrechtlich zu meistern 19 . Auch die Begrenzung der Parla18 Z u diesen Veränderungen vgl. etwa W. Kaltefleiter u. a., I m Wechselspiel der Koalitionen. Eine Analyse der Bundestagswahl 1969, i n : Verfassung u n d Verfassungswirklichkeit, Jg. 1970/1 (1970) S. 9 ff.; J. Dittberner, Entwicklungstendenzen des Parteiensystems i n der Bundesrepublik, i n : J. Dittberner - R. Ebbinghausen (Hrsg.), Parteiensystem i n der Legitimationskrise (1973) S. 469 ff. Aus verfassungspolitischer Sicht ist diese E n t wicklung besonders untersucht worden v o n F. A. Hermens, Verfassungspolitischer Neubeginn?, i n : Verfassung u n d Verfassungswirklichkeit, Jg. 1967/1 (1967) S. I f f . Vgl. auch F. K . Fromme, „Totalrevision" des Grundgesetzes, i n : ZfPol. 17 (1970) S. 87 ff. 19 I n diesem Sinne vor allem Werner Weber, Weimarer Verfassung u n d Bonner Grundgesetz (1940), aufgenommen i n : Ders., Spannungen u n d Kräfte i m westdeutschen Verfassungssystem (3. A u f l . 1970) S. 9 ff. (dort insbes. S. 32 ff.); W. Grewe, Das Grundgesetz. DRZ 1949, S. 313 ff. (317). Vgl. auch F. K . Fromme, Grundgesetz (Anm. 5) S. 5 ff.
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mentsauflösung ist, wenn schon m i t verschiedenen verfassungspolitischen Intentionen, als retrospektiv und wenig zukunftsoffen beanstandet worden. M i t der Zeit ist die Skepsis gewachsen, ob jene Begrenzung überhaupt zur Krisenfestigkeit des Regierungssystems beitrage 20 . Da die spezifischen Gefahren der Weimarer Republik wie Parteienzersplitterung und radikale Massenbewegungen sich nicht wiederholt haben, w i r d der Mangel an Auflösungsmöglichkeiten als eine schädliche Behinderung der politischen Dynamik angesehen 21 . Betrachtet man die Verfassungskritik hinsichtlich der Regelung des Auflösungsrechts genauer, so lassen sich zwei Ansatzpunkte unterscheiden: die M i t w i r k u n g des Volkes am politischen Leben und die Konfliktsbehebung innerhalb des parlamentarischen Systems. Vom ersteren aus gesehen beschränkt jede Einengung des Auflösungsrechts auch die Mitsprache des Wählers. Beklagt w i r d vor allem, daß während der Wahlperiode der Wähler nicht zur Entscheidung aufgerufen werden kann, wenn es u m Grundsatzfragen oder schwerwiegende Differenzen zwischen Parlamentswille und Wählerwille geht 2 2 . Dies ist schon frühzeitig als „korrekturbedürftiger Defekt" angegriffen worden 2 3 . Praktische Bedeutung gewann diese K r i t i k bereits zu Beginn der fünfziger Jahre i m Rahmen der Wehrdebatte. Hierbei hatte die SPD die Legitimation des damaligen Bundestags zur Entscheidung über die Remilitarisierung i n Abrede gestellt, weil diese zur Zeit der Wahl ferngelegen habe, so daß die Abgeordneten nicht mit einem entsprechenden Mandat versehen worden seien 24 . Die hieran i n Parlament und 20
Vgl. Κ . v. Beyme (Anm. 5) S. 840. Vgl. etwa E. Starke, Recht u n d Sinn der Parlamentsauflösung. Zugleich ein Beitrag zur Reform des Grundgesetzes. Jur. Diss. Hamburg, 1972 S. 162 ff.; auch N. Pokorni (Anm. 2) S. 150 f. 22 Vgl. v o r allem H. Krüger, A r t . „Parlamentarismus", i n : H D S W Bd. 8 (1964) S. 208 ff. (212); E. Starke (Anm. 20) S. 58 ff.; K . v. Beyme, Ministerverantwortlichkeit u n d Regierungsstabilität. Z u m Verhältnis von Bundestag u n d Bundesregierung, i n : W. Steff ani, Parlamentarismus ohne Transparenz (1971) S. 124 ff. (137: „Referendumsersatz"). 23 So G. Leibholz, Der S t r u k t u r w a n d e l der modernen Demokratie (3. A u f l . 1967) S. 105. Vgl. ferner: H. Lindemann, Das antiquierte Grundgesetz (1966) S. 81 f.; Werner Weber, Das Problem der Revision u n d einer Totalrevision des Grundgesetzes, i n : Festgabe f. Th. Maunz (1971) S. 451 ff. (475). E. Starke (Anm. 20) S. 162, 171. 24 Vgl. die Bundestagsdebatten v. 8.11.1950 — VerhDBT, 1. WP. 98. Sitzg., S. 3563 ff. — u n d v. 7. u. 8. 2.1952 — ebd. 190. u. 191. Sitzg., S. 8108 ff., 8149 ff. — Die Auffassung der SPD wurde vor allem dargelegt von den Abg. Schumacher (S. 3575), Ollenhauer (S. 8116), A. Arndt (S. 8156 f.). Z u r Auffassung der Regierungsfraktionen insbes. der Abg. H. Schäfer (S. 3607 f., 8165). — Ferner: FAZ Nr. 231 v. 5.10.1950, S. 3 (Keine Neuwahlen zum Bundestag). 21
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Publizistik geknüpften Forderungen nach Neuwahlen zielten zwar auch auf eine Anwendung des Art. 68 GG durch den Bundeskanzler ab, stützten sich aber vornehmlich auf die Ansicht, das geltende Verfassungsrecht gestatte, ja verlange sogar i n Fällen weittragender Entscheidungen den Appell an das V o l k 2 5 . Dabei wurde die i m englischen Parlamentsleben praktizierte Mandatstheorie für verbindlich angesehen. Sogar eine Selbstauflösung des Bundestags ist mitunter für zulässig gehalten worden. Diese Ansichten wurden nicht nur von der damaligen Bundesregierung, sondern überwiegend auch von der Rechtslehre verworfen 2 6 . Daraus resultierte vereinzelt Unzufriedenheit über die bestehenden Auflösungstatbestände und gelegentlich die Forderung nach einer Verfassungsergänzung, die allerdings unter den gegebenen Verhältnissen kaum zu Neuwahlen geführt hätte. Die K r i t i k , die die mangelnde Berücksichtigung des Wählerwillens angreift, übersieht leicht, daß Auflösungen weniger durch ihn als durch parlamentarische Mehrheitsverhältnisse und Parteiinteressen veranlaßt werden. Vor allem ist zu bedenken, daß die Begrenzung des Auflösungsrechts der Förderung parlamentarischer Kooperation und Koalition dient, hat doch das Grundgesetz die Sorge für die Einheit des Staates nicht etwa einem starken Bundespräsidenten, sondern den Parteien des Bundestags auferlegt. Die zunehmende Re-ideologisierung des politischen Lebens ist einer Kompromißbereitschaft ohnehin nicht günstig. Es ist unter diesem Aspekt immerhin verständlich, wenn angesichts der Gestaltung des Auflösungsrechts dem Grundgesetz vorgeworfen wird, es sei auf halbem Wege stehengeblieben, „anstatt solche Auswege gerade zu verschließen, dem Parlament die volle Verantwortung aufzubürden und dadurch einen Zwang zur Verständigung auszulösen" 2 7 . Der zweite Gesichtspunkt, unter dem die Auflösungsregelung begutachtet wird, betrifft ihre Fähigkeit zur Konflikts- und Krisenbereinigung i m Verhältnis von Parlament und Regierung. Der anfangs er25
Vor allem W. Schätzel, Gutachten zum Wehrbeitrag, i n : Der K a m p f u m den Wehrbeitrag, Veröff. d. Inst. f. Staatslehre u. P o l i t i k e.V. i n Mainz, Bd. 1 (1952) S. 323 ff. (325 ff.) u n d — abgeschwächt — ebd. Bd. 2 (1953) S. 620 ff. (624). 26 Ablehnend vor allem H. v. Mangoldt, Die Auflösung des Bundestages, DÖV 1950, S. 697 ff.; ders., Gutachten, i n : Wehrbeitrag (Anm. 25) Bd. 2, S. 72 ff. (89); ferner Fr. Glum, A p p e l l an das V o l k i n lebenswichtigen Fragen?, N J W 1952, S. 281 ff.; E. Menzel, Gutachten, i n : Wehrbeitrag (Anm. 25) Bd. 1, S. 280 ff. (315 ff.); E. Kaufmann, Gutachten, ebd. Bd. 2, S. 94 ff. (135); K . Löwenstein, Gutachten, ebd. Bd. 2, S. 337 ff. (374 ff.). 27 K . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (5. Aufl. 1972) S. 250.
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hobene Vorwurf, das Grundgesetz sehe keine Auflösung für den Fall vor, daß eine Regierungsbildung völlig mißlingen oder eine Gesetzgebungstätigkeit gar nicht zustande kommen sollte 28 , erscheint angesichts der politischen Entwicklung als irreal. Die Bedenken gegen die Regelung des Auflösungsrechts konzentrieren sich deshalb auf Krisenlagen, die i n jener Entwicklung aktuell geworden sind oder hätten werden können. Zwar w i r d davor gewarnt, die Effektivität der Parlaments auf lösung zu überschätzen 29 . Insbesondere w i r d darauf hingewiesen, daß die Bedeutung des Auflösungsrechts i m Parteienstaat angesichts der engen Verbindung von Regierung und Parlamentsmehrheit gering geworden ist und für Konflikte andere, partei- und koalitionsinterne Klärungsmöglichkeiten bestehen 30 . Immerhin behält es seine Funktion, wenn der Kanzler nur m i t relativer Mehrheit gewählt w i r d oder Zerfallerscheinungen i m Regierungslager wie Koalitionsbruch, Parteispaltung und Mehrheitsverlust durch Parteiwechsel auftreten 3 1 . Anläßlich der Regierungskrisen von 1966 und 1972 ist allerdings bezweifelt worden, daß i n diesen Fällen der Zuschnitt des A u f lösungsrechts i m Grundgesetz hinreicht. Die Krise u m Bundeskanzler Erhard war eine Führungskrise der Unionsparteien, die von einer Koalitionskrise überlagert wurde. Noch i m Jahre 1963 hatte Erhard, seines Wahlerfolgs sicher, erwägen können, durch eine Auflösung des Bundestags nach A r t . 68 GG und anschließende Neuwahlen die bestehende Inhomogenität der Regierungsfraktion zu beseitigen 32 . I m Jahre 1966 dagegen hatte sich die Wählergunst verringert und die Parteiopposition verstärkt, die i h m angesichts der Rezession Führungsschwäche vorwarf und ihn indirekt für die Wahl-
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Vgl. H. Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes (1950) S. 87. Z u r schwindenden verfassungspolitischen Bedeutung der Auflösung schon Fr. Glum, Kritische Bemerkungen zu A r t . 63, 67, 68, 81 GG, i n : Festschr. f. E. K a u f m a n n (1950) S. 47 ff.; ferner: K . v. Beyme, Regierungssysteme (Anm. 5) S. 873. Z u r Ineffiziens der Auflösung bei der Verhältnisw a h l : K . Löwenstein, Verfassungslehre (2. Aufl. 1969) S. 86; N. Pokorni (Anm. 2) S. 175 ff. 30 So N. Pokorni (Anm. 2) S. 172 ff., 197 u.a.; P. Hauck, Auflösung des Bundestages zur Verbreiterung der Regierungsmehrheit?, DVB1. 1971, S. 135 ff. (136). 31 Zutreffend M. R. Lippert (Anm. 14) S. 452. 32 Vgl. W. Kaltefleiter, Die F u n k t i o n des Staatsoberhauptes i n der parlamentarischen Demokratie (1970) S. 247. Allerdings w i r d das bestehende A u f lösungsrecht gerade auch hinsichtlich der Fähigkeit bemängelt, den Zusammenhalt der Regierungsfraktion durch den Kanzler zu sichern, vgl. etwa F. A. Hermens, i n : Verfassung u n d Verfassungswirklichkeit, Jb. 1967/1 (1967) S. 14, 19 f. 29
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niederlage i n Nordrhein-Westfalen verantwortlich machte 33 . M i t einem Seitenblick auf die Gegner des Kanzlers i n der eigenen Fraktion schlug nunmehr der Vorsitzende der SPD, Willy Brandt, die Einführung eines qualifizierten Selbstauflösungsrechts des Bundestags vor, weil — wie er ausführte — Situationen denkbar seien, i n denen es einer Partei leichter falle, Neuwahlen zu machen als einen Bundeskanzler und seine i n Ehren verbrauchte Regierung abzuwählen 34 . Diese Erwägungen verkennen, daß eine Parteiopposition i n der Regel weit davon entfernt sein dürfte, den Regierungsanspruch der Kanzlerpartei für Neuwahlen aufzugeben, die unter für sie ungünstigen Voraussetzungen stattfinden müßten und deren Herbeiführung als Komplott m i t der Regierungsopposition erscheinen könnte. Kanzlerkrisen dieser A r t werden, wie denn auch der Rücktritt von Erhard zeigt, i n der Tat parteiintern bewältigt. Nun handelte es sich zugleich u m eine Koalitionskrise, die durch das Ausscheiden der FDP aus der Regierungsverantwortung infolge von Differenzen über die Deckung des Bundeshaushalts entstanden war. Dieser Vorgang erinnert an den Konflikt, der 1962 anläßlich der Spiegelaffäre die Regierung Adenauer erschütterte. Damals gelang es indes, die Koalition zwischen den Unionsparteien und den Freien Demokraten unter demselben Kanzler zu erneuern. Eine Neuwahl stand nicht zur Diskussion; sie hätte auch angesichts der Hemmungen der FDP gegenüber einem Zusammengehen m i t der SPD zu keiner wesentlichen Veränderung geführt. I n der Krise von 1966 jedoch zeigte sich die FDP einer sozial-liberalen Koalition nicht mehr abgeneigt. Hingegen erschien der SPD eine derartige Allianz wegen der zu schmalen Mehrheitsbasis und der Unzuverlässigkeit der Freien Demokraten zu riskant. Überdies gab es aus unterschiedlichen Erwägungen bei der SPD Neigungen zur Bildung einer großen Koalition 3 5 . Ein Sturz Erhards durch Wahl eines neuen Kanzlers kam unter diesen Umständen nicht i n Betracht. I n der Partei wurden Neuwahlen zwar für eine geeignete Lösung gehalten 36 , zumal die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Prestigeverlust des Kanzlers ihre Chancen vergrößert hatten. 33
Vgl. die ausführliche Analyse der Krise durch W. Kaltefleiter u. a., i n : Verfassung u. Verfassungswirklichkeit, Jb. 1970/1 (1970) S. I f f . (15 ff.); ferner G. Loewenberg, Parlamentarismus i m politischen System der Bundesrepublik Deutschland (1969) S. 311 ff. 34 Willy Brandt auf der Pressekonferenz am 12. 9.1966 i n Bonn, vgl. FAZ Nr. 213 v. 14. 9.1966, S. 1; Vorwärts Nr. 38 v. 14. 9.1966, S. 1; ferner I n t e r v i e w i m Spiegel 1966 Nr. 39, S. 43. 35 Dazu W. Kaltefleiter u. a., i n : Verfassung u. Verfassungswirklichkeit, Jb. 1970/1 (1970) S. 21 ff. 36 Vorwärts Nr. 45 v. 2.11.1966, S. 1; FAZ Nr. 213 v. 14. 9.1966, S. 1.
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Dennoch ist die Forderung nach einer Bundestagsauflösung angesichts der Verlockung, durch eine große Koalition i n Mitbesitz von Regierungsmacht zu gelangen, mit auffallender Zurückhaltung erhoben worden. Es waren deshalb auch mehr taktische Überlegungen, die die SPD zu einem Antrag veranlaßten, wonach der Bundestag den Bundeskanzler ersuchen sollte, die Vertrauensfrage zu stellen 37 , u m so den Weg für Neuwahlen freizumachen. Der Antrag, der m i t Hilfe der FDPAbgeordneten angenommen wurde, ist erwartungsgemäß seitens der Regierung als mit Geist und Sinn der Verfassung unvereinbar ignoriert worden 3 8 . Während der Krise hat es an Stimmen nicht gefehlt, die die Erschwerung des Kanzlersturzes durch das konstruktive Mißtrauensvotum einerseits und die Verhinderung von Neuwahlen durch die engen Bestimmungen über die Parlamentsauflösung andererseits angegriffen haben 39 . Sie hoben hervor, die Konstruktionen des Grundgesetzes seien nicht i n der Lage, dem berechtigten Auflösungsinteresse der Mehrheitsopposition zu entsprechen und so den Weg für eine solidere Regierung freizumachen. Es wurde als Mangel angesehen, daß eine derartige Opposition, die sich allerdings über einen Kanzlerwechsel nicht verständigen kann, keine Parlamentsauflösung herbeizuführen vermag, u m einen rücktrittsunwilligen Kanzler zu stürzen 40 . I m H i n blick auf die Ereignisse des Jahres 1966 ist sogar behauptet worden, daß der Bundeskanzler der Vertrauensfrage prinzipiell abgeneigt sein wird, wenn er für sein A m t fürchten und seine Partei u m die Regierungsmacht bangen müßten 4 1 . Demgegenüber ist jedoch zu bemerken, daß es für den Regierungschef gute Gründe geben kann, die Auflösung des Bundestags einer kreditzehrenden Amtszeit als Minderheitskanzler 37
DBT, V. WP, Drucks. 1970; VerhDBT, V. WP, 70. Sitzg. v. 8.11.1966, S. 3280 ff. 88 Zur Verfassungsmäßigkeit des Antrags vgl. einerseits E. Küchenhoff, Mißtrauensantrag und Vertrauensfrage-Ersuchen, D Ö V 1967, S. 116 ff., andererseits A. Sattler, Vertrauensfrage-Ersuchen u n d A r t . 67 GG, D Ö V 1967, S. 765 ff. 39 Vgl. ζ. Β . K . Voigdt, Sinn u n d Wirklichkeit. Z u r Verfassung unserer Verfassung, i n : Vorwärts Nr. 39 v. 21.9.1966, S. 2; H. Lindemann, Dieses Ergebnis befriedigt nicht, ebd. Nr. 50 v. 7.12.1966, S. 3; R. Leicht, Das parlamentarische Patt-Problem, i n : Frankfurter Hefte 27 (1972) S. 551 ff. (554 f.); E. Starke (Anm. 20) S. 168 f. Siehe auch F. K . Fromme, ZfPol. 17 (1970) S. 100; K . Stern, Totalrevision des Grundgesetzes?, i n : Festgabe f. Th. Maunz (1971) S. 391 f. (410). 40 Diese Bedenken waren nicht neu. Vgl. schon W. Grewe, DRZ 1949, S. 313 ff. (317). 41 Vgl. auch H.-P. Schneider, Die vereinbarte Parlamentsauflösung, J Z 1973, S. 652 ff. (654).
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vorzuziehen. Als solcher hat er nur Chancen, wenn er wenigstens toleriert w i r d oder mit wechselnden Mehrheiten regieren kann. Versagt ihm die Opposition jegliche Unterstützung und bleibt er deshalb untätig oder zieht er sich gar auf den unpopulären Gesetzgebungsnotstand (Art. 81 GG) zurück, so setzt er sich hinsichtlich kommender Wahlen größter Risiken aus. Schon die eigene Partei w i r d deshalb für Abhilfe sorgen. I m übrigen drängt die bestehende Regelung die Parlamentsparteien zur Lösung der Krise durch neue Koalitionen und Kooperationen. Sie kann, wie oben schon dargelegt, deshalb nicht getadelt werden. Weder parteiinterner Widerstand noch Koalitionsbruch führten 1972 zu der Krise um die erste Regierung Brandt und schließlich zur A u f lösung des Bundestags 42 . Sie war die Folge einer Erosion der ohnedies schmalen Mehrheitsbasis, die durch das Ausscheiden dissentierender Abgeordneter aus den Regierungsparteien veranlaßt wurde. Die Unionsparteien, denen Neuwahlen nicht gelegen kamen 4 3 , entschieden sich für den Versuch, einen Kanzlerwechsel herbeizuführen. Zwar scheiterte das Mißtrauensvotum an der unzureichenden Solidarität m i t dem Kanzlerkandidaten, doch auch der Bundeskanzler konnte sich hinfort nicht mehr auf eine sichere parlamentarische Gefolgschaft stützen. Obwohl i n der SPD schon frühzeitig Neuwahlen avisiert worden waren, trat der Kanzler nur zögernd dem Gedanken einer Parlamentsauflösung näher 4 4 . Die Regelungen des Grundgesetzes ermutigten ihn dabei nicht 4 5 . Ein Rücktritt mußte i h m als Kapitulation und deshalb unzumutbar erscheinen, hätte überdies zu einer Kanzlerwahl geführt und eine Auflösung keineswegs sichergestellt 46 . Die Erwägung, für sie den Weg durch Überspringen der ersten beiden i n A r t . 63 GG vorgesehenen 42 Z u den Einzelheiten der Vorgänge von 1972 vgl. M. Müller, Das k o n struktive Mißtrauensvotum, ZfParl. 2 (1972) S. 275 ff.; R. Lange - G. Richter, Erste vorzeitige Auflösung des Bundestags, ZfParl. 3 (1973) S. 38 ff.; E. Busch, ZfParl. 4 (1973) S. 213 ff. 43 Dennnoch bezeichnete der Oppositionsführer Dr. Barzel schon a m 10. 3.1972 Neuwahlen als „sympathischste Lösung" (FAZ Nr. 60 v. 11. 3.1972). Vgl. auch R. Lange - G. Richter, S. 39. 44 Dazu die Angaben bei M. Müller, ZParl. 2 (1972) S. 276 u n d R. Lange G. Richter, ZParl. 3 (1973) S. 41 ff. — Es gab übrigens schon 1970 seitens der SPD Äußerungen über mögliche Neuwahlen. Sie zielten auf eine Konsolidierung der Regierungsbasis ab. Dazu F A Z Nr. 132 v. 11. 6.1970, S. 1, u n d F. K . Fromme, Das Auflösungs-Palaver, ebd. Nr. 133 v. 12. 6.1970, S. 1. 45 Vgl. auch W. Hennis , Schach dem Kanzler, i n : Welt am Sonntag v. 30. 4.1972. 46 Vereinzelt wurde dieser Weg über A r t . 63 GG jedoch nachdrücklich befürwortet, so von J. Gross, R ü c k t r i t t u n d Neuwahlen, FAZ Nr. 115 v. 19. 5.1972, S. 2; P. W. Wenger, A n der Verfassung vorbei?, i n : Rheinischer M e r k u r Nr. 24 v. 16. 6.1972, S. 1. Vgl. auch G. Schultz, M D R 1972, S. 927.
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Wahlstufen zu ebnen, begegnete erheblichen rechtlichen Bedenken 47 . Eine Auflösung nach A r t . 68 GG hingegen setzte eine Verneinung der Vertrauensfrage voraus, die angesichts der „Patt-Situation" ungewiß war und zudem Nachteile für den Wahlkampf erwarten ließ. Die Versuche, diese Mißlichkeiten durch eine Vereinbarung mit der Opposition über die Herbeiführung von Neuwahlen zu überspielen, fanden — abgesehen von verfassungsrechtlichen Einwendungen — keine Gegenliebe 4 8 . Zwar präsentierten sich die Unionsparteien endlich auch als Befürworter von Neuwahlen, doch mochten sie auf eine Demonstration der Kanzlerniederlage nicht verzichten. Der Bundeskanzler stellte schließlich die unausweichliche Vertrauensfrage an das Parlament, deklarierte sie jedoch zu einer juristischen Formangelegenheit und konfrontierte ihr als „eigentliche" Vertrauensfrage den Appell an den Wähler 4 9 . Damit entstand der Eindruck, als würde das Volk zu einem „Plebiszit gegen das Parlament" 5 0 aufgerufen. Eine Grundgesetzänderung wurde allerdings von keiner Seite angestrebt. Bundeskanzler Brandt hielt sie für staatspolitisch nicht richtig und lehnte es ab, bei jeder neu auftretenden Schwierigkeit gleich die Verfassung zu ändern 51 . Auch die Opposition wandte sich gegen eine Revision des Auflösungsrechts 52 . Diese Zurückhaltung hinderte nicht eine erneute K r i t i k am geltenden Rechtszustand 53 . I h m wurde vor47
Vgl. etwa Th. Maunz, i n : Die Welt Nr. 129 v. 6.6.1972, S. 2. Vgl. R. Lange - G. Richter, ZParl. 3 (1973) S. 47 ff. — Zur Rechtsfrage B. Tiemann, Neuwahlen als Parteivereinbarung?, JZ 1972, S. 510 ff.; W. Schreiber, S t K V 1972, S. 233; G. Schultz, M D R 1972, S. 927. 49 Bundeskanzler Brandt vor Funktionären des SPD-Bezirks Niederrhein a m 15. 9.1972 nach FAZ Nr. 215 v. 16. 9.1972; ders., i m Pressedienst der SPD v. 19. 9.1972; Regierungserklärung des Bundeskanzlers v. 20. 9.1972, VerhBT, V I . WP, 197. Sitzg., S. 11575. 50 Vgl. A. Böhm, Plebiszit gegen das Parlament?, i n : Rheinischer M e r k u r Nr. 38 v. 22. 9.1972, S. 1. 51 Bundeskanzler Brandt i n der Regierungserklärung v. 20.9.1972 (s. Anm. 49). I n einem Schreiben an den Bundespräsidenten v. 18. 9.1972 stellt er fest, er habe einmal an die Möglichkeit eines Selbstauflösungsrechts des Parlaments gedacht, aber es habe keinen Sinn, das Grundgesetz immer wieder zu ändern, (s. F A Z Nr. 217 v. 19. 9.1972, S. 1). Vgl. auch Regierungssprecher R. v. Wechmar a m 23.5.1972, nach: Die Welt Nr. 118 v. 24.5.1972, S. 5. 62 Vgl. Oppositionsführer Dr. Barzel a m 19.5.1972, nach FAZ Nr. 116 v. 20. 5.1972. 53 Die kritischen Äußerungen sind zahlreich. Vgl. ζ. Β . A. Rapp, Neuwahlen i m Husarenritt?, i n : FAZ Nr. 82 v. 8.4.1972, S. 2; J. Gross, i n : FAZ Nr. 115 v. 19. 5.1972, S. 2; R. Leicht, Das parlamentarische Patt-Problem, i n : Frankfurter Hefte 27 (1972) S. 551 ff.; H. P. Bull, Parlamentsauflösung — Zurückweisung an den Souverän, i n : ZRP 1972, S. 201 ff. (203); G. Schultz, M D R 1972, S. 927; W. Kaltef letter, Zwischen Krise u n d Stagnation. Aspekte 48
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geworfen, er gebe legitimen politischen Konstellationen zu wenig Raum. Insbesondere wurde bemängelt, daß das Grundgesetz die A u f lösung erst gestatte, wenn die Handlungsfähigkeit der Regierung i n Frage gestellt sei. Bei Kleinstmehrheiten, bei schwindenden oder schwankenden Majoritäten, die bereits die Krise indizierten, sei eine vorbeugende Auflösung nicht vorgesehen. Wollte der Kanzler auf Neuwahlen dennoch nicht verzichten, so müsse er über eine inszenierte Niederlage die Auflösung zu erreichen suchen. Die K r i t i k neigt indes zu einer Überzeichnung der Probleme, die sich bei der Entstehung geringer oder labiler Mehrheiten ergeben. Kleinstmehrheiten rechtfertigen an sich einen Angriff auf die Regelung des Grundgesetzes nicht. Wie sich wiederholt und besonders seit 1970 i n Niedersachsen gezeigt hat, ist ein normales Regieren sogar m i t der Mehrheit von einer Stimme möglich. Bei ungewissen und unsicheren Mehrheiten lassen sich Schwierigkeiten für die Staatsführung allerdings nicht leugnen. Auch die Opposition vermag dann i n der Regel keine bessere Alternative zu bieten, selbst wenn es ihr gerade noch gelänge, einen eigenen Kanzler zu wählen. Dennoch ist die Situation nicht ausweglos. Vielmehr bietet A r t . 68 GG auch beim „Patt" ausreichende und zumutbare Hilfe 5 4 . Bringt der Bundeskanzler eine Regierungsvorlage i m Bundestag nicht durch, obwohl er sie m i t einer Vertrauensfrage verbunden hat (vgl. A r t . 81 GG), so kann er dessen A u f lösung betreiben. W i l l er solange nicht warten, bleibt i h m eine „abstrakte" Vertrauensfrage, auf deren Verneinung er allerdings hinarbeiten müßte. Darin ist weder eine Verfassungsmanipulation noch gar ein verfassungswidriger Vorgang zu erblicken 55 . Das Grundgesetz kalkuliert nur m i t dem hohen Preis, den diese Verneinung der Vertrauensfrage für die eigene Fraktion darstellt. Er w i r d nur gezahlt werden, wenn der Kanzler i n eine prekäre Lage geraten ist. Dann aber bildet der verfassungspolitischen Entwicklung 1972, i n : Verfassung u. Verfassungswirklichkeit, Jb. 1972/11 (1972) S. 43 ff. (46 ff.); F. Neubauer, Grundgesetz u n d Neuwahlen, DÖV 1973, S. 597 ff.; zurückhaltender E. Busch, ZParl. 4 (1973) S. 221, 245. Vor den Ereignissen von 1972 finden sich entsprechende K r i t i k e n etwa bei E. Starke (Anm. 20) S. 164 f., 168. Vgl. neuerdings auch H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems (1973) S. 306, 307 ff. 54 Vgl. auch Carlo Schmidt u. M. Kriele, i n : SZ Nr. 219 v. 23./24. 9.1972, S. 11. 55 I n diesem Sinne auch B. Tiemann, JZ 1972, S. 511; M. Kriele, i n : SZ Nr. 219 v. 23./24. 9.1972, S. 11. Vgl. ferner N. Pokorni (Anm. 2) S. 138; J. Gross, i n : FAZ Nr. 115 v. 19. 5.1972, S. 2. A l s eine Umgehung der Verfassung w i r d die geplante Abstimmungsniederlage dagegen angesehen etwa von F. Neubauer, DÖV 1973, S. 598, als ein Verstoß gegen das Grundgesetz von E. Starke (Anm, 20) S. 174 f.; P. Hauck } DVB1. 1971, S. 136 f.; H. Steiger (Anm. 53) S. 307.
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diese Niederlage keine „Kommödie" 5 6 , sondern sie ist die vielleicht tragische Konsequenz einer politischen Talfahrt. W i l l die Regierung den Preis nicht zahlen, so bleibt ihr noch der Kompromiß m i t der Opposition von F a l l zu Fall, der sie allerdings nötigt, ihre politischen Ziele zurückzustecken. Wer hierin Zumutungen oder gar Schäden für das politische Leben sehen w i l l , w i r d sich zu fragen haben, ob dabei nicht einseitig die Verfassung für Mißerfolge der Politik herhalten muß. Darüber hinaus w i r d er sich fragen müssen, ob es unter den obwaltenden Umständen Alternativen gibt, die gegenüber der Lösung des Grundgesetzes nicht nur i n einzelnen Punkten, sondern insgesamt eine positivere Bilanz ausweisen. Hier ist, wie nunmehr zu zeigen sein wird, Skepsis geboten. III. Aus der K r i t i k sind eine Reihe von Reformvorschlägen hervorgegangen. Sie beziehen sich zu einem geringen Teil auf das Auflösungsrecht i m Zusammenhang m i t der Kanzlerwahl (Art. 63 Abs. 4 GG). Hervorzuheben ist hier der Gedanke, den Bundespräsidenten zu einer Parlamentsauflösung zu verpflichten, falls der Bundestag nicht binnen einer bestimmten Frist m i t mehr als der Hälfte seiner Mitglieder eine Wahl zustande bringt 5 7 . Diese Konzeption findet sich — i n Form einer automatischen Auflösung — schon vereinzelt i n den Landesverfassungen (vgl. A r t . 47 BWVerf.); sie wurde auch i m Parlamentarischen Rat erörtert, jedoch verworfen. Da sie besonders beim Verhältniswahlsystem zu einer nutzlosen Wiederholung der Wahl führen kann, ist die elastischere Regelung des Grundgesetzes vorzuziehen. Überwiegend betreffen die Reformvorschläge die Erweiterung und Ergänzung des i n A r t . 68 GG geregelten Auflösungsrechts. Dabei sei vorweg bemerkt, daß Veränderungen des Verfassungszustands nicht nur das Ergebnis einer Revision der geschriebenen Verfassung, sondern auch das einer Verfassungswandlung sein können. Einen derartigen Vorgang legt Hans-Peter Schneider seiner Auffassung zugrunde, daß 56
Vgl. W. Schätzet, Gutachten zum Wehrbeitrag (s. A n m . 25) S. 329. So insbes. die Formulierungsvorschläge der Mitglieder der EnqueteKommission Dr. Lemke, Hermans u n d Prof. Böckenförde (Anm. 1). — Gegen eine — automatische — Auflösung die Mehrheit der Wahlrechtskommission I I , vgl. Bericht des v o m Bundesminister des Innern eingesetzten Beirats f ü r Fragen der Wahlrechtsreform, veröff. u. d. T.: Z u r Neugliederung des B u n destagswahlrechts (1968) S. 52. — V ö l l i g streichen w i l l das Auflösungsrecht E. Starke (Anm. 20) S. 178, 180. Er hält es für entbehrlich, w e i l er i n einer unten noch zu erörternden Neufassung des A r t . 68 GG dem Bundeskanzler ein unbegrenztes, jederzeit realisierbares Auflösungsrecht zugesteht. 57
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die geplante, einvernehmliche Abstimmungsniederlage ein normaler, verfassungsrechtlich zulässiger Weg zur Herbeiführung von Neuwahlen sei 58 . Die Vertrauensfrage hat hier keine selbständige Bedeutung, sondern ist berechenbar gewordener Teil einer Auflösungsinitiative. Dam i t glaubt Schneider, für die Situation von 1972 zu einem befriedigenden Ergebnis gelangen zu können. Wie bereits dargelegt, ist das projektierte Stimmverhalten der Abgeordneten des Regierungslagers i n der Tat als unbedenklich anzusehen. Dazu ist die Annahme einer Verfassungsumbildung sogar entbehrlich. Es bleibt jedoch zu berücksichtigen, daß die geplante Abstimmungsniederlage ein politisches Spiel m i t hohem Einsatz bleibt. Dies ist dem Bundeskanzler 1972 sehr w o h l bewußt gewesen. Wer hier das Risiko mildern w i l l , w i r d nicht einer Uminterpretation, sondern einer Verfassungsänderung das Wort reden müssen. I n den Plänen für eine Revision des Auflösungsrechts spielt die Abberufung des Bundestags 59 durch Volksabstimmung nach vorangegangenem Volksbegehren nur eine geringe Rolle, obwohl sie dem Gedanken einer erweiterten M i t w i r k u n g des Wählers besonders entgegenkommt. Die Kreditwürdigkeit der Volksinitiative ist auch heute noch umstritten 6 0 . Allerdings dürfte die vom Parlamentarischen Rat befürchtete Demagogisierung der Massen nicht mehr und ein Mißbrauch als Kampfmittel von Systemüberwindern noch nicht das überzeugendste Argument gegen sie sein. Wesentlicher erscheint, daß die Realisation der politischen Einheit und der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung heute durch die Parteien erfolgt und einen abgesicherten parlamentarischen Spielraum fordert. Der sich hier vollziehende Integrationsprozeß darf nicht durch eine ständige Wahlkampfsituation belastet werden, denn er verlangt unpopuläre Handlungen, Koalitionen und Kompromisse. Dies gilt u m so mehr, als die Bundestagsparteien der Versuchung ausgesetzt sein würden, jene Wahlkampf arena zu betreten oder wenigstens damit zu drohen. Alle diese Bedenken ließen 58 ff.-P. Schneider, J Z 1973, S. 652 ff. Gegen eine ausdehnende Interpretation Fr. Neubauer, D Ö V 1973, S. 597. 59 Vgl. H. Lindemann, Grundgesetz (Anm. 23) S. 224. Doch auch er w i l l die Abberufung des Bundestags n u r nach dem vierten Jahr einer auf sieben Jahre verlängerten Wahlperiode zulassen. — Z u r K r i t i k vgl. E. Starke (Anm. 20) S. 26, 63. 80 Ablehnend oder zurückhaltend z. B. E. Benda, 20 Jahre Grundgesetz, i n : B u l l e t i n d. Presse- u. Informationsamtes d. Bundesreg. Nr. 67 v. 23.5.1969, S. 569 ff. (571); H. Ehmke, i n : Christ u. Welt Nr. 21 v. 23.5.1969; G. Schulz, M D R 1969, S. 362 ff. (363 f.); U. Scheuner, Das Grundgesetz i n der Entwicklung zweier Jahrzehnte, AöR 95 (1970) S. 353 ff. (369 ff.).
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sich n u r d u r c h K a u t e l e n abschwächen, die das I n s t i t u t des V o l k s b e gehrens i n e f f e k t i v m a c h e n w ü r d e n 6 1 . D i e R e f o r m v o r s c h l ä g e b e t r e f f e n d e n n auch ü b e r w i e g e n d A u f l ö s u n g s befugnisse v o n E x e k u t i v e u n d L e g i s l a t i v e . D a b e i v e r d i e n t d i e F r a g e der B e t e i l i g u n g des B u n d e s p r ä s i d e n t e n später noch besondere A u f m e r k s a m k e i t . N a c h d e n E r f a h r u n g e n v o n 1972 f o r d e r n v i e l e K r i t i k e r des g e l t e n d e n Rechts e i n e n V e r z i c h t a u f d e n N a c h w e i s e i n e r m a n g e l n d e n V e r t r a u e n s b a s i s u n d d a m i t auf eine B i n d u n g der A u f l ö s u n g a n e i n b e s t i m m t e s V e r h a l t e n der P a r l a m e n t s m e h r h e i t . I h r e Ä n d e r u n g s v o r schläge beziehen sich a u f die E i n f ü h r u n g eines u n b e s c h r ä n k t e n , diskretionären Auflösungsrechts des Bundeskanzlers, m a g es f o r m a l auch v o m B u n d e s p r ä s i d e n t e n ausgeübt w e r d e n 6 2 , oder j e d e n f a l l s a u f die E r m ö g l i c h u n g e i n e r j e d e r z e i t i g e n A u f l ö s u n g a u f V o r s c h l a g des B u n d e s kanzlers, m a g d e m B u n d e s p r ä s i d e n t e n i m m e r h i n die l e t z t e E n t s c h e i d u n g z u s t e h e n 6 3 . Z u g l e i c h w i r d j e d e B e t e i l i g u n g des Bundestags a m 61 Wie wenig eine Parlamentsauflösung auf G r u n d einer Volksinitiative gegen den W i l l e n der Parteien Erfolg hat, zeigt der Versuch der „ L i g a für demokratische Verwaltungsreform i n Baden-Württemberg e. V." aus dem Jahre 1971, den Landtag abzuberufen. Dazu H. G. u n d R. Wehling, Parlamentsauflösung durch Volksabstimmung?, i n : ZfParl. 3 (1972) S. 76 ff. 62 Vertreter einer Reform i m Sinne eines unbeschränkten Auflösungsrechts des Bundeskanzlers sind u. a. : H. Kammler, Zwanzig Jahre G r u n d gesetz, i n : Die Neue Ordnung 23 (1969) S. 353 ff. (3591); W. Kaltefleiter, in: Verfassung u. Verfassungswirklichkeit, Jb. 1972/11 (1972) S. 49 f.; E. Starke (Anm. 20) insbes. S. 175 ff. Vgl. auch F. A. Hermens, i n : Verfassung u. V e r fassungswirklichkeit, Jb. 1967 (1967) S. 19 f. Eine entsprechende Ansicht v e r t r a t er i n der Wahlrechtskommission I I , vgl. Bericht (Anm. 57) S. 52. E i n formulierter E n t w u r f findet sich n u r bei E. Starke (Anm. 20) S. 180 f., wobei sich aus dem Zusammenhang ergibt, daß Abs. 1 ein unbegrenztes Recht des Bundeskanzlers enthält, während Abs. 2 i h m einen Handlungszwang auferlegt, falls ein v o n i h m gestellter Vertrauensantrag abgelehnt w i r d . Die Novellierung des A r t . 68 GG, die hier nicht vollständig begutachtet werden kann, soll lauten: (1) Der Bundespräsident löst auf Ersuchen des Bundeskanzlers den B u n destag auf. (2) Findet ein A n t r a g des Bundeskanzlers, i h m das Vertrauen auszusprechen, nicht die Mehrheit aller Mitglieder des Bundestags, so hat er dem Bundespräsidenten unverzüglich seinen Rücktritt zu erklären oder i h n u m die Auflösung des Bundestags zu ersuchen. W a r die Vertrauensfrage m i t einer Gesetzesvorlage verbunden, so k a n n der Bundeskanzler stattdessen einen A n t r a g gemäß A r t . 81 GG an den Bundespräsidenten richten. Die Ablehnung des Antrags hat den R ü c k t r i t t des Bundeskanzlers zur Folge. (3) T r i t t der Bundeskanzler zurück, so hat der Bundestag unverzüglich einen neuen Bundeskanzler nach Maßgabe des A r t . 63 GG zu wählen. 63 I n diesem Sinne w o h l K . v. Beyme, Ministerverantwortlichkeit (Anm. 22) S. 137 unter Berücksichtigung des bestehenden Rechts. Vgl. aber die w e i tergehenden Andeutungen i n : Ders., Regierungssysteme (Anm. 5) S. 840.
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Auflösungsverfahren als dem parlamentarischen System zuwider abgelehnt. Diese Anregungen sind von der Auflösungsbefugnis beeinflußt, die sich i n der britischen Verfassungspraxis für den Premierminister herausgebildet hat. Dementsprechend kann eine Auflösung ohne Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse i m Bundestag vorgenommen werden und auch angesichts zerfallender oder Kleinstmehrheiten erfolgen. Die Parlamentsauflösung zielt primär nicht darauf ab, durch Neuwahlen eine Regierungsminderheit i n eine -mehrheit zu verwandeln, sondern eine bereits vorhandene Mehrheit zu verstärken. Die Inszenierung einer Abstimmungsniederlage ist nicht erforderlich. Die Fürsprecher des ungebundenen Auflösungsrechts sehen i n i h m eine wesentliche Voraussetzung für die Funktionstüchtigkeit des parlamentarischen Systems. Sie unterstreichen die daraus resultierende Förderung der Mehrheitsbildung und -Sicherung, der relativen Unabhängigkeit der Regierung und damit der Stabilität und Effektivität der politischen Ordnung 6 4 . Sie weisen darauf hin, daß schon die bloße Möglichkeit einer unbeschränkten Parlamentsauflösung entsprechende Wirkungen zeitige. Man w i r d sich vor Augen halten müssen, daß die vorgeschlagene Novellierung nicht nur eine lokale Reparatur, sondern eine Umgestaltung des bestehenden Systems bedeutet. Jeder, der für ein unbegrenztes Auflösungsrecht plädiert, muß i n Kauf nehmen, daß damit der dezidierte Parlamentarismus unserer Verfassungsordnung modifiziert wird. Die Folge ist eine Reduzierung der Kommunikations- und Kompromißbereitschaft der Parlamentsparteien. Die Stellung des Kanzlers gewinnt eine plebiszitäre Komponente auf Kosten des Parlaments 65 . Der Weg zu jederzeitigen Neuwahlen kann leicht ein Weg zur bloßen Akklamation werden. Das diskretionäre Auflösungsrecht verstärkt die ohnehin starke Position des Kanzlers noch weiter. Es beschränkt dagegen die Orientierungsfreiheit der Abgeordneten und die Mobilität des Parlaments. Es w i r k t als Zuchtmittel gegen die Dissidenten i n der eigenen Partei, als Disziplinierungsmittel gegen den Koalitionspartner und als Kampfmittel gegen die Opposition. Hier liegt auf der Hand, daß sich deren Chance, die Regierung während der 64
Nach E. Starke (Anm. 20) S. 29, 39, 53, 162 k a n n n u r eine Kabinettsvorherrschaft eine Systemstabilität gewährleisten. Dabei ist ein entsprechend gestaltetes Auflösungsrecht von entscheidender Bedeutung. Zurückhaltender über eine derartige Eignung des Auflösungsrechts W. Kaltefleiter, Staatsoberhaupt (Anm. 32) S. 30. Vgl. auch K . v. Beyme, Regierungssysteme (Anm. 5) S. 873, sowie N. Pokorni (Anm. 2) S. 173. 65 Hierzu E. Fraenkel, Die repräsentative u n d die plebiszitäre Komponente i m demokratischen Verfassungsstaat (1958) S. 36.
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Wahlperiode zu übernehmen, erheblich verringert. Vor allem kann der Kanzler das Parlament zu einem Zeitpunkt auflösen, der für seine Partei günstige Wahlergebnisse verheißt. Damit werden die Startvorteile bei Neuwahlen, die die Regierungspartei i n der Regel ohnedies besitzt, zu Lasten der Opposition weiter vergrößert 66 . Wer für ein unbegrenztes Auflösungsrecht eintritt, bejaht es i m Interesse der Kanzlerpartei. Die Vertreter eines ungebundenen Auflösungsrechts lehnen normative Restriktionen zur Verhinderung von Fehlgebrauch und zur Sicherung gesamtstaatlicher Aspekte ab. Sie sehen es einbezogen i n ein Gefüge von Aktions- und Reaktionsmöglichkeiten, m i t dem sich die Erwartung einer Entfaltung und zugleich Bändigung der politischen Kräfte verbindet 6 7 . Insbesondere sollen sich die Risiken der Neuwahl und des Kanzlersturzes retardierend auf die Handhabung des Auflösungsrechts auswirken. Deshalb w i r d verschiedentlich die Einführung eines einfachen Mißtrauensvotums verlangt, um so ein Gegengewicht zum Auflösungsrecht des Kanzlers zu schaffen 68 . Doch hindert das einen Mehrheitskanzler nach wie vor nicht, der Opposition die Chance eines Regierungswechsels zu nehmen oder einen günstigen Zeitpunkt für Neuwahlen auszunutzen. Die Auflösung bleibt weitgehend ein der Präponderanz des Kanzlers dienendes, von Opportunität bestimmtes M i t t e l i m politischen Waffengang. Hiervon abgesehen steht zu erwägen, inwieweit es wirklich wünschenswert ist, auf das konstruktive Mißtrauensvotum zu verzichten. Die übrigen, untereinander differierenden Reformvorschläge unterscheiden sich von dem vorgeführten Modell i n wesentlichen Punkten. So versagt Helmut Lindemann dem Bundeskanzler überhaupt jede Befugnis, eine Parlamentsauflösung zu initiieren oder gar vorzuneh-
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Vgl. auch die von der Mehrheit der Wahlrechtskommission I I geäußerten Bedenken gegen das „englische System", Bericht (Anm. 57) S. 52. Eine Verringerung der Chancengleichheit w i r d auch anerkannt von E. Starke (Anm. 20) S. 63, 80 f. 67 Dies bedeutet nicht unbedingt ein Bekenntnis zur Theorie des Gleichgewichts von Exekutive u n d Legislative, der zufolge Auflösung u n d M i ß trauensvotum zusammengehören wie „ K o l b e n u n d Zylinder", vgl. K . Loewenstein (Anm. 29) S. 83 ff., 217 ff. I m Gegensatz dazu geht E. Starke (Anm. 20) S. 38 f., 52 f. von einem Übergewicht der Regierung aus; das Mißtrauensv o t u m t r i t t hier zurück, das V o t u m des Wählers bildet das maßgebliche K o r r e k t i v (S. 54 f., 60). 68 Vgl. F. A. Hermens, i n : Verfassung u. Verfassungswirklichkeit Jb. 1967 (1967) S. 20; H. Kammler, i n : Die Neue Ordnung 23 (1969) S. 359 f.; auch K . v. Beyme, Regierungssysteme (Anm. 5) S. 840. Dagegen hält E. Starke (Anm. 20) S. 175 a m konstruktiven Mißtrauensvotum fest.
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men 6 9 . Statt dessen erhält der Bundestag — außer einem noch zu erörternden Recht zur Selbstauflösung — die Möglichkeit, die Regierung durch einfaches Mißtrauensvotum zu stürzen. Nur wenn er sich danach nicht i n der Lage sieht, einen Nachfolger zu wählen, soll nunmehr der Bundespräsident berechtigt sein, das Parlament aufzulösen. Dieser Vorschlag überzeugt nicht: Einmal eröffnet er der Mehrheitsopposition den Weg, ohne Bereitschaft zum Regierungswechsel eine Parlamentsauflösung zu verfolgen. Zum zweiten verbürgt die vorgesehene A u f lösung weder sichere Koalitionsmöglichkeiten noch bessere Mehrheitsverhältnisse. Vor allem besteht ein wesentlicher Mangel gegenüber der grundgesetzlichen Regelung darin, daß eine Auflösung unmöglich ist, wenn eine Mehrheitsopposition sich scheut, einen Mißtrauensantrag zu stellen. Das könnte immerhin der Fall sein, wenn sie sich auf keinen neuen Kanzler zu einigen vermag und eine Auflösung für nutzlos hält oder gar fürchtet. Allgemein lassen die Reformvorschläge das Recht des Kanzlers unberührt, nach Verneinung einer Vertrauensfrage den Bundespräsidenten um eine Parlamentsauflösung zu ersuchen. Die Neuerung besteht bei einigen von ihnen darin, daß sie eine Auflösung auch dann ermöglichen, wenn das Parlament von sich aus den Mangel der Mehrheitsbasis signalisiert. I n diesem Zusammenhang gehört etwa der Entwurf von Paul Bonsmann70. Er gestattet dem Bundespräsidenten auf Antrag des Bundeskanzlers eine Auflösung des Bundestags für den speziellen Fall, daß ein Mißtrauensantrag nach A r t . 67 GG die Zustimmung nur der Hälfte seiner Mitglieder erreicht. Dadurch soll dem Kanzler i n einer Patt-Situation der „dornenvolle Weg der Vertrauensfrage" erspart werden. Da er bei dieser Sachlage jedoch stets seine Mehrheit verloren hat, ist nicht einzusehen, weshalb i h m eine Anwendung des A r t . 68 GG unzumutbar sein sollte, der er ohnehin nähertreten müßte, wenn kein Mißtrauensantrag gestellt würde. Statt dessen verfremdet der Entwurf das auf einen Kanzlersturz abzielende Institut des Mißtrauensvotums zum Auslöser einer Parlamentsauflösung. Die Opposition würde unter diesen Umständen nur noch bei sicheren Erfolgsaussichten einen entsprechenden Antrag stellen, es sei denn, sie wollte
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H. Lindemann, Grundgesetz (Anm. 23) S. 224. P. Bonsmann, ZRP 1973, S. 104. Er schlägt vor, den Absatz 2 des A r t . 67 GG folgendermaßen zu fassen: (2) Findet ein A n t r a g nach Absatz 1 die Zustimmung der Hälfte der M i t glieder des Bundestages, so k a n n der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, wenn der Bundestag m i t der Mehrheit seiner M i t g l i e der einen anderen Bundeskanzler wählt. 70
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versuchen, den Kanzler ohne Verpflichtung zur Wahl eines Nachfolgers, nämlich durch Auflösung des Bundestags, aus dem Sattel zu heben. Weitergehende Änderungen erstrebt die von Robert Leicht vorgeschlagene Novelle zu A r t . 68 GG 7 1 . Auch sie bleibt bei der Vertrauensfrage des Kanzlers. W i r d diese verneint, so allerdings m i t der Konsequenz, daß der Kanzler entweder zurücktreten und damit den Weg für einen Nachfolger freimachen oder aber dem Bundespräsidenten eine Parlamentsauflösung vorschlagen muß, die dieser vorzunehmen gehalten ist 7 2 . Die eigentliche Neuerung des Vorschlags besteht darin, daß das konstruktive Mißtrauensvotum beseitigt und durch den Mißtrauensbeschluß einer qualifizierten Mehrheit des Bundestags ersetzt wird. Hierbei handelt es sich nicht um ein einfaches — destruktives — Votum i m herkömmlichen Sinn. Der Beschluß führt nämlich nicht sicher zu einem Sturz des Kanzlers, sondern verpflichtet ihn nur, sich auch i n diesem Fall zwischen Rücktritt und Auflösung zu entscheiden. Der Autor des Entwurfs erwartet von dieser Regelung eine Dynamisierung des politischen Lebens: Bundestag und Bundeskanzler könnten i m Fall einer ungenügenden Regierungsmehrheit initiativ werden, wobei ihre Entscheidung gleichzeitig politischen Risiken ausgesetzt sei. Unter dem 71 R. Leicht, i n : Frankfurter Hefte 1972, S. 551 ff.; ders., Balance durch politisches Risiko, i n : SZ Nr. 188 v. 18.8.1972, S. 8; ders., Mißtrauensvotum u n d Vertrauensfrage — eine konstruktive Alternative, ZRP 1972, S. 204 ff. Inhaltlich weitgehend zustimmend K. Sontheimer, i n : SZ Nr. 219 v. 23./24. 9.1972, S. 11. Zur K r i t i k Carlo Schmid u. M. Kriele, ebd. Die A r t . 67 und 68 GG sollen durch folgende Bestimmungen ersetzt w e r den (vgl. ZRP 1972, S. 204): (1) Spricht der Bundestag dem Bundeskanzler m i t der Mehrheit seiner Mitglieder das Mißtrauen aus, oder findet eine Gesetzesvorlage oder ein sonstiger A n t r a g auf Beschlußfassung nicht die erforderliche Mehrheit i m Bundestage, obwohl der Bundeskanzler die Vertrauensfrage damit verbunden hat, so muß der Bundeskanzler binnen sieben Tagen entweder zurücktreten oder den Bundespräsidenten ersuchen, den Bundestag aufzulösen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen. (2) Zwischen solchen Anträgen u n d der A b s t i m m u n g müssen achtundvierzig Stunden liegen. Die vorgeschlagene Verbindung der Vertrauensfrage m i t einem Sachantrag ist empfehlenswert. Z u r angesprochenen Problematik vgl. J. Bücker, i n : ZParl. 3 (1972) S. 292ff.; N. J. Prill, W a n n sind Neuwahlen möglich?, i n : Die Zeit Nr. 17 v. 28.4.1972, S. 56; J. Henkel, Z u r Verbindung von V e r trauensfrage u n d Gesetzesvorlage, DÖV 1973, S. 73 ff. F ü r eine Verbindung die Vorschläge von Dr. Lemke, Hermans u n d Prof. Böckenförde (Anm. 1). 72 I n der Wahlrechtskommission I I schlug Prof. Dürig vor, eine I n i t i a t i v e des Minderheitskanzlers i m Sinne der Alternative Parlamentsauflösung oder Gesetzgebungsnotstand durch die Einführung einer automatischen A u f l ö sung zu erzwingen. Die Kommissionsmehrheit folgte diesem Gedanken nicht. Vgl. Bericht (Anm. 57) S. 52.
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Eindruck der Vorgänge von 1972 w i r d der Entwurf vor allem damit begründet, daß die Opposition nunmehr m i t „abgeworbenen Fraktionswechslern" nicht ohne weiteres die Regierung übernehmen könne, da sie bei einem Mißtrauensantrag mit einer Parlamentsauflösung rechnen müsse. Weiter w i r d ausgeführt, die straffe Verknüpfung zweier potentieller Initiativen verhindere, daß Mißtrauensvotum und Vertrauensfrage sich eventuell i m Wege ständen. Eine anhaltende PattSituation sei ausgeschlossen, da es i m Laufe der Krise alsbald zu einem Zwang komme, die Lage schneller als bisher zu klären. Diese Beurteilung ist indes zu optimistisch. Nach wie vor hängt eine Auflösungsinitiative des Bundeskanzlers von der Verneinung einer Vertrauensfrage ab, die i n einer Patt-Situation zu stellen i h m nicht leichter fallen w i r d als bisher. Ein Mißtrauensantrag dagegen, der bei Erfolg anstatt eines Regierungswechsels eine Parlamentsauflösung provozieren kann, ist für die Opposition nicht sonderlich attraktiv. Gerade die Möglichkeit, ihr den Weg zur Übernahme der Regierungsverantwortung zu verlegen, gehört zu den schwerwiegendsten Mängeln des Entwurfs. Selbst eine bedeutende, i n sich homogene, zur Regierung strebende Mehrheitsopposition muß nunmehr bei einem Mißtrauensbeschluß mit einer Auflösung rechnen. Hier zeigt sich, daß die angeblichen Vorteile des Entwurfs nur dadurch erreicht werden können, daß die klassische Waffe des Parlaments, das Mißtrauensvotum, stumpf gemacht w i r d und nicht mehr sicher geführt werden kann. Die vorgeschlagene Novelle schafft nicht nur das konstruktive Mißtrauensvotum ab, sie respektiert auch das einfache Mißtrauensvotum nicht. Diese Regelung, motiviert durch das Bestreben, eine unlautere Abwerbung von Abgeordneten zu verhindern, schießt i n ihren Konsequenzen weit über das Ziel hinaus. Sie richtet sich überdies nicht nur gegen „Überläufer, die auf unglaubwürdige Weise angeworben" werden 7 3 — wann dies der Fall ist, bestimmt der Bundeskanzler —, sondern gegen den Fraktionswechsel überhaupt und damit gegen das freie Mandat. Es w i r d vielfach für unzureichend angesehen, wenn das Parlament durch eine Mißtrauenskundgabe lediglich die Voraussetzungen für eine Auflösungsentscheidung anderer Verfassungsorgane schaffen kann. Deshalb w i r d die Forderung nach eigenen Auflösungsrechten oder wenigstens Initiativbefugnissen des Bundestags erhoben. I h r entspricht vor allem die Zulassung einer Selbstauflösung mit einfacher oder absoluter Mehrheit 74. Das Prinzip des Grundgesetzes, eine Auflösung nur 73
R. Leicht, i n : SZ Nr. 188 v. 18. 8.1972, S. 8. Vgl. etwa H. P. Bull, ZRP 1972, S. 2031; U. Kessler, i n : Röhring - Sontheimer (Hrsg.), Handbuch des deutschen Parlamentarismus (1970) S. 3 4 1 — Zur K r i t i k : P. Scholz, ZRP 1972, S. 2951; J. Gross, i n : F A Z Nr. 115 v. 74
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bei Nachweis einer mangelnden Mehrheitsbasis zuzulassen, w i r d hier, wie beim diskretionären Auflösungsrecht, allerdings eliminiert. Zumeist soll die Regelung des Art. 68 GG jedoch nicht ersetzt, sondern nur durch das Recht zur Selbstauflösung ergänzt werden 7 5 . Andernfalls wäre eine Auflösung zur Krisenbereinigung unmöglich, wenn eine Mehrheitsopposition nicht gewillt oder i n der Lage ist, die Regierung zu stürzen. Die Entscheidung über die Selbstauflösung liegt bei der Parlamentsmehrheit, die der Regierung gegenüber eine unterschiedliche Stellung einnehmen kann. Handelt es sich u m die Regierungsfraktion (-koalition), so vermag sie wie ein Kanzler mit unbegrenztem Auflösungsrecht Neuwahlen auch bei schwindenden, kleinen oder ungewissen Mehrheiten herbeizuführen. Deshalb ist die Selbstauflösung 1972 als Remedium angeboten worden. Hat die Opposition die Mehrheit inne, so kann sie jederzeit anstelle eines Regierungssturzes eine Auflösung betreiben. Deshalb ist die Selbstauflösung auch schon 1966 als Verbesserung propagiert worden. Sie w i r d überdies aus der grundsätzlichen Erwägung gefordert, sie sei eine Konsequenz aus der Unabhängigkeit der Volksvertretung 7 6 . Indes kann eine Parlamentsautonomie nur i m Rahmen der Pflichten verstanden werden, die die Verfassungsordnung auferlegt. Es ist deshalb keineswegs selbstverständlich, daß sich ein auf vier Jahre gewähltes Verfassungsorgan seinem „ A u f trag" entziehen darf 7 7 . Davon abgesehen können die Schattenseiten der Selbstauflösung nicht übersehen werden. Dabei mögen die Argumente, die die Verteidiger eines unbegrenzten Kanzlerrechts gegen die Selbstauflösung vorbringen, auf sich beruhen bleiben 78 . Doch ist zu bemerken, daß eine Regierungsmehrheit der Opposition gegenüber genauso unbeschränkt verfahren kann wie ein Kanzler m i t diskretionärem Auflösungsrecht. Angesichts der Kohärenz von Regierung und Regierungsfraktion w i r k t sich die Zulassung der Selbstauflösung ähnlich aus wie die Einführung des englischen Systems 79 . Lediglich der Koa19.5.1972, S. 2; K . F. Fromme, Schwierigkeiten m i t der Parlamentsauflösung, i n : F A Z Nr. 180 v. 7.8.1972, S. 2; F. Neubauer, DÖV 1973, S. 598. Vgl. auch die Einwendungen der Mehrheit der Wahlrechtskommission I I , Bericht (Anm. 57) S. 52. — Weitere, z. T. kritische Äußerungen zur Selbstauflösung bei E. Busch, ZParl. 4 (1973) S. 242 f. 75 Zweifelhaft bei H. P. Bull, ZRP 1972, S. 203 f. 76 Vgl. H. P. Bull, ZRP 1972, S. 203. 77 E. Starke (Anm. 20) S. 24 f. sieht hierin sogar ein „antidemokratisches Element". — Vgl. auch H. v. Mangoldt, D Ö V 1950, S. 699. 78 Vgl. etwa W. Kaltefleiter, i n : Verfassung u. Verfassungswirklichkeit, Jb. 1972/11 (1972) S. 49; E. Starke (Anm. 20) S. 24. 79 Hierzu H. P. Bull, ZRP 1972, S. 203. — Die Kohärenz von Regierung und Regierungsfraktion hat U. Scheuner veranlaßt, die Auflösung i m modernen Staat stets als eine Selbstauflösung zu qualifizieren, vgl. DÖV 1957, S. 633, u. W D S t R L 16 (1957) S. 125.
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l i t i o n s p a r t n e r h a t eine s t ä r k e r e P o s i t i o n , w e n n seine S t i m m e n f ü r eine g e p l a n t e S e l b s t a u f l ö s u n g u n e n t b e h r l i c h sind. B e s i t z t h i n g e g e n d i e O p p o s i t i o n d i e M e h r h e i t , so ist sie d e r V e r s u c h u n g ausgesetzt, das k o n s t r u k t i v e M i ß t r a u e n s v o t u m z u ü b e r s p i e l e n u n d sich e i n e r R e g i e r u n g s b i l d u n g z u e n t z i e h e n 8 0 . F r e i l i c h h a t sich die M ö g l i c h k e i t e i n e r S e l b s t a u f l ö s u n g b e i der B e w ä l t i g u n g d e r R e g i e r u n g s k r i s e i n Niedersachsen 1970 als h i l f r e i c h erwiesen. D o c h i s t z u berücksichtigen, daß dies nach der L a n d e s v e r f a s s u n g auch der einzige W e g w a r , eine
Landtagsauf-
lösung zu erreichen 81. I m Z u s a m m e n h a n g m i t d e n P l ä n e n , eine S e l b s t a u f l ö s u n g des B u n destags zuzulassen, ist v o r a l l e m der V o r s c h l a g v o n Friedrich
Schäfer
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h e r v o r z u h e b e n , der d i e A u f l ö s u n g s r e g e l u n g des A r t . 68 G G ergänzen w i l l . D a n a c h setzt eine A u f l ö s u n g zunächst e i n e n A n t r a g v o r a u s , d e n m i n d e s t e n s e i n D r i t t e l d e r M i t g l i e d e r des B u n d e s t a g s b e i m B u n d e s p r ä s i d e n t e n s t e l l e n d a r f . Dieser k a n n i h m nach e i n e r F r i s t v o n 21 T a g e n 80
Vgl. auch P. Scholz, ZRP 1972, S. 296. Hierzu H.-J. Toews, Die Regierungskrise i n Niedersachsen (1969/70), AöR 96 (1971) S. 354 ff. Die Unzulänglichkeit der Selbstauflösung w o l l e n an den Vorgängen i n Niedersachsen nachweisen E. Starke (Anm. 20) S. 24, 161 f. ; H.-P. Schneider, JZ 1973, S. 653. 82 E i n ähnlicher Vorschlag findet sich schon bei H. Lindemann, Grundgesetz (Anm. 22) S. 260. Friedrich Schäfer hat seine Konzeption während der Erhard-Krise am 1.11.1966 i n einem I n t e r v i e w m i t der Neuen R u h r Zeitung vorgetragen (nach FAZ, Nr. 255 v. 2.11.1966, S. 1). Vgl. ferner ders., Der Bundestag (1967) S. 294f.; ders., Vorschläge zu Fragen der Parlamentsauflösung und zur Beendigung der Wahlperiode, i n : Zwischenbericht der Enquete-Kommission für Fragen der Verfassungsreform (Anm. 1) S. 89 ff. Hier auch ein formulierter Vorschlag zur Änderung des A r t . 39 GG (ohne Abs. 4): (1) Der Bundestag w i r d auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet m i t dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Die N e u w a h l findet i m letzten Vierteljahr des vierten Jahres der Wahlperiode statt. (2) Verlangt ein D r i t t e l der Mitglieder des Bundestages die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode, so k a n n der Bundespräsident innerhalb von sieben Tagen nach A b l a u f einer Frist von einundzwanzig Tagen diesem Verlangen entsprechen u n d Neuwahlen innerhalb von sechzig Tagen anberaumen. Absatz 1 Satz 2 g i l t entsprechend. Das Recht zur vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode erlischt, wenn dem Bundeskanzler innerhalb dieser Frist das Vertrauen von der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages ausgesprochen w i r d oder der Bundestag m i t derselben Mehrheit einen anderen Bundeskanzler wählt. A r t i k e l 63 u n d 68 bleiben unberührt; jedoch sind nach Anberaumung des Wahltermins Maßnahmen nach A r t i k e l 67 und 68 GG nicht mehr zulässig. (3) Verlangen zwei D r i t t e l der Mitglieder des Bundestages die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode, so muß der Bundespräsident dem Verlangen entsprechen und Neuwahlen innerhalb von sechzig Tagen anberaumen. Absatz 1 Satz 2 gilt entsprechend. 81
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entsprechen 83 . Doch ist die Mehrheit der Bundestagsmitglieder befugt, innerhalb dieser Frist die Auflösung dadurch abzuwenden, daß sie dem Bundeskanzler das Vertrauen ausspricht oder einen Nachfolger wählt 8 4 . Schäfer sieht die Verbesserungen vor allem darin, daß die Regierungspartei einen Antrag stellen kann, wenn ihre Basis zu schmal oder die Koalition nicht tragfähig genug ist oder eine Regierungsneubildung ohne A b w a h l des Kanzlers angestrebt wird. Für die Opposition ist das Antragsrecht seiner Ansicht nach ein wirksames Instrument zur Umgestaltung der politischen Verhältnisse: Sie könne über den Weg einer Auflösung eine neue handlungsfähige Regierung schaffen. Endlich w i r d es als Vorteil angesehen, daß die „negative Optik eines abgelehnten Vertrauensantrags" vermieden werde. Der vorgeführte Entwurf fordert zunächst K r i t i k hinsichtlich der Ausstattung von Parlamentsminderheiten m i t Initiativrechten heraus 85 . Er gibt Minoritäten die Möglichkeit, sich ohne jede Erfolgsausssicht i n Szene zu setzen. Diese Aussicht dürfte regelmäßig gering sein. Ferner kann nach dem Entwurf auch eine Regierungsmehrheit jederzeit eine Auflösung bewirken, sofern der Bundespräsident zustimmt. Deshalb gelten hier die oben gegen die Selbstauflösung schon vorgebrachten Bedenken. Schäfer, der die i n der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen vorgesehene Selbstauflösung mit dem Hinweis auf die Gefahr abgelehnt hat, „daß die Mehrheit einen ihr geeignet erscheinenden Zeitpunkt auswählt, u m Neuwahlen durchzuführen und dadurch i n der Lage ist, das Wahlergebnis zu manipulieren" 8 6 , muß dieses Urteil auch gegen sein eigenes Modell gelten lassen. Andererseits kann auch bei diesem Entwurf eine heterogene Mehrheitsopposition durch eine Auflösung den Kanzler jederzeit stürzen, ohne die Bereitschaft zu zeigen, selbst Regierungsver83 Eine Auflösungspflicht besteht bei einem A n t r a g von zwei D r i t t e l n der Bundestagsmitglieder (Abs. 3 des Entwurfs). 84 Friedrich Schäfer benutzt an Stelle der herkömmlichen Bezeichnung „Auflösung" die einer „vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode". Dieser terminologische Wechsel soll dem Bedeutungswandel gerecht werden, den der Auflösungsvorgang seit dem Konstitutionalismus erfahren hat. Doch ist zu bedenken, daß sich trotz dieser Veränderungen der Terminus „Auflösung" behauptet hat. Eine annehmbare Neuerung, die den Wechsel vielleicht rechtfertigen könnte, stellt der Vorschlag Schäfers dar, die Wahlperiode erst m i t dem Zusammentritt des neuen Bundestags enden zu lassen, u m bis dahin die A r b e i t des alten Bundestags fortführen zu können, vgl. Zwischenbericht (Anm. 1) S. 90 f. Z u dieser Frage auch E. Busch, ZParl. 4 (1973) S. 244 f.; D. Hömig - K. Stoltenberg, Probleme der sachlichen Diskontinuität, D Ö V 1973, S. 689 ff. Z u r Lösung i n Niedersachsen auch: H.-J. Toews, AöR 96 (1971) S. 387 ff. 85 Vgl. R. Leicht, ZRP 1972, S. 206. Z u r K r i t i k ferner: H.-P. Schneider, JZ 1973, S. 654. 86 Friedrich Schäfer, Der Bundestag (1967) S. 294.
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antwortung zu übernehmen. Es ist weiterhin mißlich, vor Klärung der Fronten i m Bundestag den Bundespräsidenten i n das Auflösungsverfahren einzuschalten. Schließlich erscheint es, wie noch dazulegen sein wird, nicht unbedenklich, dem Bundespräsidenten auch gegen den Auflösungswillen des Parlaments eine eigene Entscheidungskompetenz zuzugestehen. Das problematische Minderheitsrecht vermeidet der Reformvorschlag von Frank Neubauer 87, indem er nur der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags eine Antragsbefugnis gewährt. Der Bundespräsident kann auf ihre Initiative hin den Bundestag auflösen, bedarf hierzu allerdings noch der Zustimmung des Bundeskanzlers. Die Auflösungsmöglichkeit des Art. 68 GG soll daneben erhalten bleiben. Der Autor erblickt die Vorteile seiner Alternative darin, daß m i t ihr einerseits „eine Auflösung des Bundestags ohne Umweg über eine Verfassungsmanipulation oder einen Kopplungsantrag" ermöglicht werde, andererseits ein Schutz gegen Mißbrauch und allzu häufige Anwendung gewährleistet sei. Sieht man jedoch von der Funktion des Bundespräsidenten ab, so kann auch hier eine Auflösung ganz nach den Bedürfnissen des Regierungslagers erfolgen, solange der Kanzler die Mehrheit hat. Die Tatsache der Parlamentsinitiative ändert daran angesichts des Zusammenwirkens zwischen Regierungsmehrheit und Bundeskanzler nichts. Eine oppositionelle Mehrheit könnte zwar gleichfalls eine Auflösung i n i t i ieren, doch ist die notwendige Zustimmung des Kanzlers regelmäßig nicht zu erwarten. Es gibt allerdings eine Form der Auflösung, die geeignet ist, die geschilderten Nachteile zu vermeiden: die Selbstauflösung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Bundestagsmitglieder 88. Sie beruht nach den bestehenden politischen Verhältnissen auf einer Übereinstimmung von Regierungslager und Opposition. Gegen sie kann nicht ein87 Vgl. F. Neubauer, D Ö V 1973, S. 597 ff. Er w i l l etwa folgende Verfassungsergänzung hinter Satz 2 des A r t . 39 GG eingefügt wissen (S. 599) : Der Bundespräsident k a n n auf Ersuchen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages binnen 21 Tagen nach dem A n t r a g den Bundestag auflösen, w e n n der Bundeskanzler dieser Maßnahme zustimmt. Die weiteren A u f lösungsrechte nach diesem Grundgesetz bleiben unberührt. 88 Vgl. etwa H. Lindemann, Grundgesetz (Anm. 23) S. 223; A. Rapp, i n : F A Z Nr. 82 v. 8. 4.1972, S. 2; auch Abs. 3 des Entwurfs von Friedrich Schäfer (Anm. 82). Die Vorschläge der Mitglieder der Enquete-Kommission Dr. Lemke, Hermans u n d Prof. Böckenförde (Anm. 1) sehen folgende Änderung u n d Ergänzung des A r t . 39 GG vor (ohne Abs. 3 - 5) : (1) Der Bundestag w i r d auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet m i t dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Die Neuwahl findet i m letzten Vierteljahr, spätestens jedoch 30 Tage vor dem Ende des vierten Jahres der Wahlperiode statt.
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gewandt werden, es handle sich u m einen den Wähler irritierenden Scheinkonsens 89 . Die Interessengegensätze werden hier genausowenig verwischt wie die der Kontrahenten eines Schiedsvertrags. Doch w i r d die qualifizierte Selbstauflösung nur i n seltenen Fällen aktuell werden 90 . Auch wenn eine gemeinsame Überzeugung von der Notwendigkeit einer Parlamentsauflösung bestehen sollte, w i r d die Opposition versucht sein, den Kanzler auf den für sie günstigeren Weg des Art. 68 GG zu drängen. Gelingt das nicht, so stellt die qualifizierte Selbstauflösung allerdings eine akzeptable Möglichkeit für beide Seiten dar 9 1 . Die bisherige Betrachtung der Reformvorschläge hat die Stellung des Bundespräsidenten vernachlässigt. Deshalb kann die vorstehende Beurteilung noch nicht endgültig sein. Zunächst ist festzustellen, daß keiner der Entwürfe dem Bundespräsidenten allein die Disposition über die Bundestagsauflösung anvertrauen möchte 92 . Vielmehr beschränken sich die Vorschläge auf zwei Alternativen einer Beteiligung am Auflösungsverfahren. Wo die Auflösung als ein politisches Instrument des Kanzlers und seiner Gefolgschaft verstanden wird, liegt es nahe, dem Bundespräsidenten ein nur formales Recht einzuräumen 93 . Jedes präsidiale Ermessen muß auch störend wirken, wenn dem Entwurf die Vorstellung einer selbstregulierenden Kraft des parlamentarischen Systems zugrunde liegt 9 4 . Demgegenüber schalten eine Reihe von Reformplänen den Bundespräsidenten als eigenständigen Faktor i n die Parlamentsauflösung ein 9 5 . Er soll ein Gegengewicht oder ein staatspolitisch eingestimmtes Korrektiv zu den Auflösungsbestrebungen von Kanzler und Parlamentsmehrheit abgeben. Diese Erwartungen bilden auch den Hintergrund für das präsidentielle Recht i n A r t . 68 GG. Die darin erkennbare politische Substanz w i r d zur Bereinigung von
(2) Verlangen zwei D r i t t e l der Mitglieder des Bundestages die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode, so muß der Bundespräsident dem Verlangen entsprechen u n d Neuwahlen anberaumen. Absatz 1 Satz 2 gilt entsprechend. Z u r „vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode" vgl. Anm. 84. 89 So R. Leicht, ZRP 1972, S. 205 f. 90 Vgl. Κ. v. Beyme, Regierungssysteme (Anm. 5) S. 839 f. 91 Die Schaffung einer besonderen Auflösungsmöglichkeit für den F a l l einer Übereinstimmung von Regierung u n d Opposition fordert auch E. Busch, ZParl. 4 (1973) S. 245. Hier bietet sich die Selbstauflösung m i t Z w e i drittel-Mehrheit an. 92 Vgl. aber die Erwägungen bei ff. P. Bull, ZRP 1972, S. 203. 93 Vgl. E. Starke (Anm. 20) S. 177 f. 94 Vgl. den E n t w u r f von R. Leicht (Anm. 71). 95 Vgl. etwa die Vorschläge von ff. Lindemann (Anm. 69), P. Bonsmann (70), Friedrich Schäfer (82) F. Neubauer (87).
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Krisen i m parlamentarischen System sogar für erforderlich gehalten 96 . Doch schon i n diesem Fall ist die Frage aufgeworfen worden, ob dadurch nicht wichtige Entscheidungen aus den politischen Führungsstellen — Regierung und Parlament — hinweg verlagert werden oder aber der Bundespräsident seinerseits zu stark i n den Bereich parteipolitischer Interessen hineingezogen wird. Deshalb ist verschiedentlich vorgeschlagen worden, den A r t . 68 GG dahin zu revidieren, daß der Kanzler der Sache nach über die Auflösung beschließt und der Bundespräsident an seinen Antrag gebunden ist 9 7 . Wie immer man hierzu stehen mag, so ist doch nicht zu verkennen, daß durch die angesprochenen Reformentwürfe die politische Potenz des Präsidentenamts verstärkt wird. Der Bundespräsident partizipiert an der gesteigerten politischen Bedeutung eines erweiterten Auflösungsrechts. I n einigen Entwürfen erhält er sogar die Befugnis, eine Auflösung gegen den konstatierten Willen der Parlamentsmehrheit abzulehnen. Mag auch die Gefahr einer eigenwilligen Politik des Bundespräsidenten heute als gering veranschlagt werden, so bleibt zu befürchten, daß sich seine Unparteilichkeit abschwächen könnte 9 8 . Denn indem er über ein Auflösungsersuchen befindet, optiert er zwangsläufig für eine Seite i m Streit der Parteien 9 9 . Die politische Belastbarkeit der Stellung des Bundespräsidenten ist gering, zumal sich diese nicht auf eine Volkswahl gründet 1 0 0 . Die Erweiterung seiner Kompetenzen w i r f t deshalb Zweifel auf, ob eine sichere Handhabung politischer Befugnisse i m Sinne überparteilicher Mäßigung durchgehalten werden kann. Selbst wenn diese Erweiterung geeignet wäre, die behandelten Schwächen der Reformentwürfe zu kompensieren, würde dies nur dadurch geschehen können, daß die Stellung des Bundespräsidenten einem vergrößerten Risiko ausgesetzt wird. Die Verwirklichung der staatlichen Integration ist nicht primär A u f gabe des Bundespräsidenten, sondern der Bundestagsparteien. Eine Konfliktsbewältigung durch Neuwahlen kann dabei nicht i m Vordergrund stehen. Soweit sie dennoch notwendig ist, darf die Verfügungs96 Vgl. R.-R. Grauhan, Der Bundespräsident — A k t i v oder neutral?, JR 1965, S. 379 ff. (insb. S. 382). 97 N. Pokorni (Anm. 2) S. 132 f., 198; M. R. Lippert (Anm. 14) S. 487. 98 Z u r Frage der staatspolitischen Orientierung u n d der Uberparteilichkeit des Präsidentenamts vgl. etwa U. Scheuner, Das A m t des Bundespräsidenten als Aufgabe verfassungsrechtlicher Gestaltung (1964) S. 34; E. Menzel, DÖV 1965, S. 581 ff. (590 ff.); O. Kimminich, i n : W D S t R L 25 (1967) S. 81 f.; ferner W. Kaltefleiter, Staatsoberhaupt (Anm. 32) S. 198. 99 Vgl. dazu E. Starke (Anm. 20) S. 178 f. 100 Hierzu auch Werner Weber, Spannungen u n d K r ä f t e (Anm. 19) S. 28 f.; ders., Die Verfassung der Bundesrepublik i n der Bewährung (1957) S. 37, 46 f.
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gewalt über den Fortbestand des Parlaments keiner Seite zum Vorteil gereichen. Hieran gemessen schneidet die Regelung des Grundgesetzes keineswegs schlecht ab. Zur einvernehmlichen Bereinigung von Krisen ist eine Selbstauflösung durch Mehrheitsbeschluß von zwei Dritteln der Bundestagsmitglieder durchaus erwägenswert. Die anderen Revisionsvorschläge überzeugen i n der Bilanzierung ihrer Vorzüge und Nachteile nicht derart, daß sie zu dem Experiment einer Reform ermutigen. Sie würden sich nicht nur punktuell auswirken, sondern möglicherweise auch das Verfassungsgefüge insgesamt affizieren. Vor allem aber ist eine Reform, i n der die politischen Auseinandersetzungen der jüngsten Vergangenheit noch stark mitschwingt, kaum geeignet, der Verfassungsordnung jene Festigkeit zu geben, deren sie i n der Gegenwart so dringend bedarf.
Unverrückbarkeit parlamentarischer Beschlüsse Von Theodor Maunz
Der Jubilar hat i n einer mutigen Schrift, die i n drangvoller Zeit erschien^ Grundvoraussetzungen für das Wirksamwerden staatlicher Rechtssätze aufgezeigt und damit berechtigtes Aufsehen erregt 1 . Diese damals mitunter vermißten Voraussetzungen werden i n der Gegenwart unbestritten beachtet. Über ihre Erfüllung wachen überdies die Gerichte. Dennoch sind auch heute einige Fragen i n bezug auf das Zustandekommen von Rechtssätzen, wenn auch anderer Art, offen. Sie haben keineswegs das Gewicht, wie es jene vergangenen gehabt haben. Aber zur Vervollständigung des Bildes einer verfassungsmäßigen Rechtssetzung verdienen sie doch berücksichtigt zu werden. I.
1. Verfassungen pflegen nicht ausdrücklich auszusprechen, daß i n Kraft getretene Gesetze geändert werden können. Nur die Änderung einer Verfassung selbst ist regelmäßig Gegenstand verfassungsrechtlicher Regelungen. Außerdem w i r d die Einbringung, Beratung und Beschließung neuer Gesetze geordnet. Jede Änderung eines Gesetzes (Gesetzesnovellierung) w i r d von dem darin festgelegten Gesetzgebungsverfahren als neues Gesetz behandelt. Die i n der Gesetzgebungspraxis ständig geübte und unbestrittene Änderung von Gesetzen durch neue Gesetze w i r f t bei normalem Ablauf keine rechtlichen Schwierigkeiten auf. Die Zweifel liegen auf anderen Ebenen. Fraglich kann zunächst sein, von welchem Zeitpunkt an eine Änderung gefaßter Beschlüsse einer Volksvertretung, die noch nicht bis zu einem verkündeten Gesetz geführt haben, zulässig ist, ferner ob solche Änderungen i n jedem Fall und in jeder Hinsicht gestattet sind. Sicher ist zwar, daß ein Änderungsantrag eingebracht werden kann, sobald das Gesetz verkündet, wenn auch noch nicht i n K r a f t getreten ist. I n diesem Fall kann sogar eine zeitlich rückwirkende Inkraftsetzung der Gesetzesnovelle erfolgen, soweit nicht die allgemeinen Grundsätze über 1
Werner Weber, Die Verkündigung von Rechtsvorschriften, 1942.
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Theodor Maunz
Zulässigkeit oder Unzulässigkeit rückwirkender Gesetze entgegenstehen, also ζ. B. noch keine Rechte begünstigter Personen begründet worden sind. M i t dieser Einschränkung könnte eine Novelle auch gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des abzuändernden Gesetzes i n Kraft gesetzt werden. Ist das erste Gesetz zwar ausgefertigt, aber noch nicht i m Verkündungsblatt veröffentlicht, so kann die Verkündung des abzuändernden und des abändernden Gesetzes gleichzeitig erfolgen. Ungeklärt ist dagegen, ob eine Novelle zu einem Gesetz auch schon dann beschlossen werden kann, wenn das abzuändernde Gesetz zwar noch nicht verkündet und i n K r a f t getreten ist, wenn aber die darauf bezüglichen parlamentarischen Beschlüsse bereits abgeschlossen sind. Hierzu sind verschiedene Auslegungen denkbar: a) Es kann vertreten werden, daß der Beratung und Beschließung einer Gesetzesnovelle, soweit sie nach Inkrafttreten des abzuändernden Gesetzes zulässig wäre, auch schon vor ihrem Inkrafttreten nichts i m Wege stehen kann. Zur Unterstützung dieser Auffassung könnte vorgetragen werden, daß es sich bei Beratung einer Novelle u m ein neues Gesetzgebungsverfahren handelt, während das Abgeschlossensein nur für das vorangegangene alte Verfahren gilt. b) Demgegenüber kann freilich eingewendet werden, daß es eine offenkundige Umgehung der Abgeschlossenheit wäre, wenn abschließende Beschlüsse unter einer anderen Flagge doch wieder umgestoßen werden könnten. Unter diesem Gesichtspunkt könnte jeder Beschluß umgestoßen werden, indem ein neues Verfahren aufgezogen wird. Das Abgeschlossensein wäre damit unterlaufen und gegenstandslos geworden. Überdies wäre es sehr schwierig, eine klare Grenzziehung zwischen dem alten und dem neuen Verfahren zu finden; beide würden oft ineinander übergehen. c) Es kann sich aber i n der Tat u m ein unbestreitbar anderes Verfahren handeln. Ein solches wäre ζ. B. anzunehmen, wenn zuerst ein Verfahren zur Beratung und Beschlußfassung über ein einfaches Gesetz bis zum abschließenden parlamentarischen Beschluß gelaufen ist, und anschließend zur gleichen Frage ein Verfahren m i t dem Ziel einer Verfassungsänderung eingeleitet wird. Die Ungleichartigkeit der Verfahren (zuerst einfaches Gesetz — dann Verfassungsänderungsgesetz) läßt erkennen, daß es sich u m zwei rechtlich unterschiedlich zu qualifizierende Verfahren handelt. 2. I m Rechtsschrifttum zum Gesetzgebungsverfahren hat für diese Fragen ein Grundsatz eine gewisse Anerkennung gefunden, der als
Unverrückbarkeit parlamentarischer Beschlüsse
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Unverrückbarkeit parlamentarischer Beschlüsse bezeichnet worden ist 2 . Die einschlägige Lehre geht davon aus, daß ein Parlamentsbeschluß sowohl i m Gesetzgebungsverfahren wie auch inbezug auf andere Materien als „zustandegekommen" anzusehen ist, wenn die abschließende Abstimmung (beim Gesetzgebungsverfahren also i n dritter Lesung) erfolgt ist. Zustandegekommen bedeutet hiernach noch nicht Verbindlichkeit für den Bürger, wohl aber Verbindlichkeit für die an dem betreffenden Verfahren beteiligten Staatsorgane. Sie w i r d die sog. interne Verbindlichkeit genannt. Die Wirkung einer internen Verbindlichkeit besteht darin, daß durch den entsprechenden Beschluß ein Gesetzentw u r f oder ein anderer i m Gesetzgebungsverfahren zu behandelnder Gegenstand, ζ. B. ein Staatsvertrag, ebenso auch der Inhalt eines sonstigen Beratungsgegenstands endgültig festgelegt ist. Soweit noch eine Ausfertigung und Verkündung nötig ist, kann der Beschluß dem Ausfertigungs- und Verkündungsorgan nicht mehr entzogen werden. Die Volksvertretung selbst kann inbezug auf den gleichen Gegenstand i m gleichen Verfahren von sich aus keinen neuen Beschluß mehr fassen, auch nicht etwa i m Gesetzgebungsverfahren die dritte Lesung wiederholen. Sie kann den Beschluß nach der Schlußabstimmung nicht mehr aus eigenem Entschluß abändern, zurücknehmen, widerrufen oder aufheben 3 . Der abschließende Beschluß der Volksvertretung bleibt inhaltlich und hoheitlich maßgeblich und verbindlich, auch und gerade für die Volksvertretung selbst 4 . Die i n manchen Verfassungen sonst noch vorgesehenen Tätigkeiten anderer Organe werden dadurch nicht ausgeschlossen. Es kann sogar sein, daß die Unverrückbarkeit eines Beschlusses der Volksvertretung für diese die Voraussetzung für das Tätigwerden anderer Organe ist. Nach diesen Verfassungen und den sie ausführenden Rechtsnormen sind ζ. B. i m Anschluß an einen „zustandegekommenen" Beschluß noch Einsprüche zulässig, etwa nach dem abschließenden Beschluß des Bundestages der Einspruch des Bundesrates (Art. 77 Abs. 3 GG). Dem trägt die Einschränkung Rechnung, daß die Volksvertretung ihren Beschluß nicht mehr „aus eigenem Entschluß" abändern kann, sondern nur mehr, wenn Einsprüche kommen. I n der Rechtslehre w i r d hier von „Abwehrrechten" der Volksvertretung nach einem unverrückbar gewordenen 2
Vgl. Hatschek, Deutsches u n d preußisches Staatsrecht, Walter Jellinek, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, goldt - Klein, Kommentar zum Grundgesetz, A r t . 77 Anm. I I I rig - Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, A r t . 78, Rdnr. 9; Grundgesetz, A r t . 78 I I 1 ; Seifert - Geeb, Bundesrecht, A r t . Schäfer, Der Bundesrat, 1955, S. 79 ff. 3 Ubereinstimmend v. Mangoldt - Klein, A r t . 77 I I I 8. 4 Übereinstimmend Giese - Schunck, A r t . 78 I I 1.
Bd. 2, S. 77 f f ; S. 171; v. Man8 ; Maunz - DUGiese - Schunk, 78, Erl. Abs. 1 ;
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Beschluß gesprochen. Die Abwehr kann darin bestehen, daß dem Ergebnis der Tätigkeit eines anderen Organs ganz oder teilweise Rechnung getragen w i r d oder daß deren Einwirkung abgelehnt wird. „ I n tern verbindlich" und „unverrückbar" sind keine identischen Begriffe. Intern verbindlich w i r d durch das Zustandekommen eines Gesetzes in der Volksvertretung der Gesetzesinhalt, wie er bis zu diesem Zeitpunkt, also durch den Beschluß der Volksvertretung und gegebenenfalls durch das Zusammenwirken anderer, am Gesetzgebungsverfahren beteiligter Organe gestaltet worden ist. Als unverrückbares Votum kommt dagegen der jeweils einzelne A k t i n Betracht, der dazu beigetragen hat, den intern verbindlichen Gesetzesinhalt zustandezubringen 5 . Unverrückbar sind die Zustimmung und die Zustimmungsverweigerung des Bundesrates bei Zustimmungsgesetzen, ferner der Beschluß des Bundesrates, bei Einspruchsgesetzen den Vermittlungsausschuß nicht anzurufen, bzw. wenn kein Antrag auf Anrufung gestellt, auch schon die Nichtanrufung selbst, solange das einschlägige Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, schließlich auch der Beschluß über die Nichteinlegung eines Einspruchs. Kraft ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Regelung (Art. 78 GG) ist dagegen der Einspruch des Bundesrates zurücknehmbar, ebenso die Anrufung des Vermittlungsausschusses durch Bundesrat oder Bundestag bis zur nachfolgenden Beschlußfassung des Bundestages oder Bundesrates (Art. 77 Abs. 2 GG). Maßgebender Gesichtspunkt ist bei diesen Gegenakten, daß letztlich eine Übereinstimmung zwischen den gesetzgebenden Körperschaften erreicht werden soll, die „durch gegenseitiges oder einseitiges Nachgeben oder dadurch erreicht werden kann, daß die den Gegenakt tragenden Bedenken schon vor den Ausgleichsverhandlungen zurückgenommen werden" 6 . 3. Hatschek hält nicht nur den Abschluß eines parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens durch Gesetzesbeschluß oder durch Ablehnung der Gesetzesvorlage für unverrückbar, sondern jedes Parlamentsvotum i m jeweiligen Beratungsstadium, auch das einer Einzelabstimmung i m Rahmen der geschäftsordnungsmäßigen Lesungen 7 . Dehnt man den Begriff der Unverrückbarkeit so weit aus, dann muß man den Abschnitten des Gesetzgebungsverfahrens nachgehen, wie sie i n den Geschäftsordnungen der Volksvertretungen vorgesehen sind. Geschäftsordnungen sind autonome Satzungen der Volksvertretungen. Sie binden alle an der A r 5
Übereinstimmend Mangoldt - Klein, A r t . 78 Anm. V 1. Kruis, Z u r Änderung der Verfassung des Freistaates Bayern, B a y V B l 1973, S. 509, 553. 7 Hatschek, Deutsches u n d Preußisches Staatsrecht, Bd. 2, 1923, S. 77 ff.; ders., Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1915. β
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beit der Volksvertretung unmittelbar beteiligten Personen, also nicht nur Parlamentsmitglieder, sondern ζ. B. auch Regierungsmitglieder und Beamte bei ihrer Beteiligung an den Gesetzgebungsberatungen 8 . I n ihrem Rechtsrang gehen sie der Verfassung und den Gesetzen nach. Doch sind sie schon deshalb von erheblicher Bedeutung, weil das Grundgesetz und die Landesverfassungen nur wenig über den Geschäftsgang, insbesondere die mehreren Lesungen eines Gesetzgebungsverfahrens, aussagen. Soweit der gleiche Rechtssatz i n der Verfassung und i n der Geschäftsordnung steht, ist an seiner verfassungsrechtlichen Bindung ohnehin nicht zu zweifeln. Widerspricht ein Satz der Geschäftsordnung der Verfassung, so ist er ungültig. Das Gleiche gilt von einem auf einen solchen Satz gestützten parlamentarischen Beschluß. Fraglich ist, wie es sich m i t einem Beschluß verhält, der allein Geschäftsordnungsrecht, nicht einen höherrangigen Rechtssatz verletzt 9 . Es ist überzeugend, wenn Lechner die Auffassung vertritt, daß die Annahme der Gültigkeit aller Beschlüsse, die gegen einen Geschäftsordnungssatz verstoßen, vielen wichtigen Bestimmungen der Geschäftsordnung nicht gerecht werden. Man w i r d differenzieren müssen. Die Mehrheit einer Volksvertretung kann nicht schlechthin von der Geschäftsordnung abweichen, außer diese läßt selbst die Abweichung zu. Andernfalls würde die Geschäftsordnung zur Bedeutungslosigkeit zusammenschrumpfen. So kann die Volksvertretung eine Gesetzesvorlage nicht bereits nach zwei Lesungen zum Gesetzesbeschluß erheben, wenn die Geschäftsordnung drei Lesungen vorschreibt. Unbestritten ist es, daß i m Rahmen einer Normenkontrolle eine Nachprüfung der Gültigkeit eines Geschäftsordnungssatzes und i m Rahmen eines Organstreits die Gültigkeit eines angeblich gegen die Geschäftsordnung verstoßenden parlamentarischen Beschlusses nachgeprüft werden kann. Diese Gesichtspunkte sind für die Gesetzesberatungen i m Plenum einer Volksvertretung maßgeblich, und zwar für alle von der Geschäftsordnung vorgeschriebenen Lesungen. Andererseits w i r d bei Ausschußberatungen über eine vom Plenum überwiesene Gesetzesvorlage das Verfahren als aufgelockerter anzusehen sein. Ausschüsse haben nur die Aufgabe, Beschlüsse des Plenums vorzubereiten. Eine Bindung des Plenums t r i t t durch sie nicht ein. M i t der Erarbeitung einer vorbereitenden Stellungnahme ist es vereinbar, daß ein i n einer Ausschußsitzung gefaßter Beschluß i n der nächsten Sitzung über den gleichen Gegenstand wiederholt und gegebenenfalls umgestoßen wird. Man wird, abweichend von Hatschek, hier nicht jede einzelne Phase 8
Α . Α., aber w o h l zu eng BVerfGE 1, 144. Vgl. einerseits Lechner - Hülshoff, Parlament u n d Regierung, 3. Aufl. 1971, S. 186, andererseits Maunz - Dürig - Herzog, A r t . 40 Rdnr. 23. 9
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als unverrückbar ansehen können, da dies m i t dem Zweck der Ausschußbehandlung nicht vereinbar wäre. I n diesem Zusammenhang darf darauf hingewiesen werden, daß auch bei geplanten Verfassungsänderungen die Beschlüsse der sie beratenden Ausschüsse nicht einer verfassungsändernden Mehrheit bedürfen; denn ihr Ziel ist nicht die Abgabe eines qualifizierten Votums, sondern die Erarbeitung einer Stellungnahme. 4. Ungeklärt sind die Rechtsfolgen eines parlamentarischen Beschlusses, der unter Verletzung des Grundsatzes der Unverrückbarkeit ergeht. Da er i n dem zuständigen Gremium die Mehrheit gefunden hat, ist die Angelegenheit für die Mehrheit der Volksvertretung abgeschlossen. Doch könnte ein zur Erhebung einer Organklage berufenes Organ die Rechtsverletzung vor dem Verfassungsgericht geltend machen und eine zur Beantragung eines Normenkontrollverfahrens legitimierte Person oder Stelle das fehlerhafte Zustandekommen der Norm rügen. Die Begründetheit der Klage oder des Antrags hängt wohl von der Schwere der Rechtsverletzung und von ihrem Einfluß auf die beschlossene Norm ab. II. 1. Besondere Beachtung erfuhr der Grundsatz der Unverrückbarkeit parlamentarischer Beschlüsse bei einem in den Jahren 1972 und 1973 über mehrere Monate sich hinziehenden Verfassungsstreit i n Bayern über die Einfügung eines Artikels über die Rundfunkfreiheit i n die bayerische Landesverfassung. Wenn es sich auch nur u m einen Vorgang i n einer Volksvertretung eines Landes handelt und dabei überdies das dem Bundesrecht unbekannte Volksbegehren zur Herbeiführung eines Gesetzes m i t eine Rolle spielt, so verdienen die i n diesem Zusammenhang ins Feld geführten Gesichtspunkte doch über das Land hinaus Beachtung, da sie die Abänderbarkeit oder Unverrückbarkeit parlamentarischer Beschlüsse ganz allgemein beleuchten. Nach A r t . 74 der bayerischen Verfassung 10 kann ein Zehntel der stimmberechtigten Staatsbürger das Begehren nach Schaffung eines 10
A r t . 74 hat folgenden W o r t l a u t : (1) E i n Volksentscheid ist herbeizuführen, wenn ein Zehntel der stimmberechtigten Staatsbürger das Begehren nach Schaffung eines Gesetzes stellt. (2) Dem Volksbegehren muß ein ausgearbeiteter u n d m i t Gründen versehener Gesetzentwurf zugrundeliegen. (3) Das Volksbegehren ist v o m Ministerpräsidenten namens der Staatsregierung unter Darlegung ihrer Stellungnahme dem Landtag zu unterbreiten.
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Gesetzes einschließlich eines Verfassungsänderungsgesetzes stellen. Den Volksbegehren ist ein ausgearbeiteter und mit Gründen versehener Gesetzentwurf zugrundezulegen. Rechtsgültig zustande gekommene Volksbegehren sind von der Volksvertretung binnen drei Monaten nach Unterbreitung zu behandeln. Wenn der Landtag das Volksbegehren ablehnt, ist ein Volksentscheid herbeizuführen, bei dem die Mehrheit der Abstimmenden entscheidet, ohne daß eine Mindestbeteiligung an der Abstimmung vorgeschrieben ist. Innerhalb weiterer drei Monate nach Ablehnung durch Beschluß des Landtags ist der volksbegehrte Gesetzentwurf dem Volk zur Entscheidung vorzulegen. Der Landtag kann dabei einen eigenen Gesetzentwurf zur Entscheidung m i t vorlegen. Das Volksbegehren fand i m Sommer 1972 die erforderliche Stimmenzahl der stimmberechtigten Staatsbürger. Der Landtag lehnte i m Dezember 1972 den Gesetzentwurf des Volksbegehrens als verfassungswidrig ab und beschloß gleichzeitig die Vorlage eines bereits ausgearbeiteten eigenen Gesetzentwurfs. Es ist unbestritten, daß der Ablehnungsbeschluß des Landtags ein endgültiger für dieses Verfahren unverrückbarer parlamentarischer Beschluß war. Ebenso war der Beschluß über die Vorlage des eigenen Gesetzentwurfs endgültig und für dieses Verfahren unverrückbar. Der Ablehnungsbeschluß löste die erwähnte Dreimonatsfrist aus. Danach hätte der Volksentscheid spätestens i m März 1973 stattfinden müssen. Bevor es jedoch zu einer Terminbestimmung für die Abhaltung des Volksentscheids kam, einigten sich die drei i m Landtag vertretenen Parteien zusammen mit dem „Bürgerkommittee Rundfunkfreiheit" auf eine Verfassungsänderung, deren Inhalt i m wesentlichen m i t dem vom Landtag als verfassungswidrig abgelehnten Volksbegehrensentwurf übereinstimmte und noch einige zusätzliche Rechtssätze enthielt. Der neue Verfassungsänderungsentwurf mußte als Vorlage an den Landtag gehen und bedurfte außerdem — was i n Bayern für Verfassungsänderungen allgemein, nicht nur für die durch Volksbegehren erstrebten (4) Wenn der Landtag das Volksbegehren ablehnt, k a n n er dem V o l k einen eigenen Gesetzentwurf zur Entscheidung m i t vorlegen. (5) Rechtsgültige Volksbegehren sind von der Volksvertretung binnen drei Monaten nach Unterbreitung zu behandeln u n d binnen weiterer drei M o nate dem V o l k zur Entscheidung vorzulegen. Der A b l a u f dieser Fristen w i r d durch die Auflösung des Landtags gehemmt. (6) Die Volksentscheide über Volksbegehren finden gewöhnlich i m F r ü h j a h r oder Herbst statt. (7) Jeder dem V o l k zur Entscheidung vorgelegte Gesetzentwurf ist m i t einer Weisung der Staatsregierung zu begleiten, die bündig u n d sachlich sowohl die Begründung der Antragsteller wie die Auffassung der Staatsregierung über den Gegenstand darlegen soll. 20 Festschrift für Werner Weber
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Verfassungsänderungen geltendes Recht ist (Art. 75 BayVerf) — der Zustimmung des Volkes. Vor der Behandlung des Dreiparteienentwurfs i m Landtag stiegen bei einigen Beteiligten Bedenken auf, ob nach der klaren Ablehnung des volksbegehrten Gesetzentwurfs und nach der abgeschlossenen A n nahme eines Gegenentwurfs das neue Verfahren i n Gang gebracht werden dürfe. I m Hinblick auf die Lehre von der Unverrückbarkeit parlamentarischer Beschlüsse wurden folgende Überlegungen angestellt: Sobald der Landtag i m Gesetzgebungsverfahren zum Volksbegehren Stellung genommen hat, ist der von i h m gefaßte Beschluß für ihn unverrückbar. Interne Verbindlichkeit und Unverrückbarkeit fallen hier zeitlich und gegenständlich zusammen, da kein anderes Organ mehr zur M i t w i r k u n g berufen ist. Es ergeben sich dann folgende Möglichkeiten: Hat der Landtag dem volksbegehrten Entwurf zugestimmt, so ist das Verfahren für ihn abgeschlossen: das Gesetz ist beschlossen und der Volksentscheid, falls er ein einfaches Gesetz betrifft, entfällt. Wenn das Volksbegehren eine Verfassungsänderung zum Gegenstand hat, so ist auch bei einer etwaigen Zustimmung des Landtags zum unveränderten Entwurf des Volksbegehrens noch ein Volksentscheid herbeizuführen. Die Unverrückbarkeit bezieht sich i n diesem Fall nur auf Akte des Landtags, nicht auf den Inhalt des Entwurfs, über den i n diesem Fall letztlich das Volk entscheidet. Wenn der Landtag aber den Gesetzentwurf eines Volksbegehrens ablehnt, so ist der Ablehnungsbescheid unverrückbar. Auch hier bezieht sich die Unverrückbarkeit nur auf A k t e des Landtags; dagegen kann der Verfassungsgerichtshof, falls er angerufen wird, eine davon abweichende Entscheidung treffen. Der Beschluß des Landtags — so wurde weiter argumentiert —, durch den die Rechtsgültigkeit des Volksbegehrens zur Einfügung eines Artikels i n die bayerische Verfassung bestritten wurde, ist auch aus einem anderen Grund für dieses Verfahren unverrückbar geworden. Die Verfassung hat nämlich i n A r t . 74 Abs. 4 für die „Behandlung" des Volksbegehrens durch den Landtag eine Frist von drei Monaten festgelegt. Diese Frist war i m Dezember 1972 abgelaufen. Nach ihrem Ablauf kann der Landtag zum Volksbegehren keine Beschlüsse mehr fassen, gleichgültig welcher A r t und welchen Inhalts sie sind. Er kann auch nicht mehr Beschlüsse, die er innerhalb der Dreimonatsfrist gefaßt hat, nach Fristablauf aufheben; denn das wäre ebenfalls eine „Behandlung" i m Sinn des A r t . 74 Abs. 4 BayV. Würde eine weitere Stellungnahme des Landtags oder die Aufhebung seines Beschlusses nach Fristablauf noch für zulässig gehalten, dann liefe das i m Ergebnis darauf hinaus, daß überhaupt keine Frist bestände, was der Verfassung klar zuwiderlaufen würde. Wäre es anders, dann könnte der Landtag auch
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noch nach einer Anrufung des Verfassungsgerichtshofs durch die I n i tiatoren des Volksbegehrens einen dem Volksbegehren zustimmenden Beschluß fassen und damit dem verfassungsgerichtlichen Verfahren den Boden entziehen, oder er könnte auch noch nach einem Anlaufen des Volksentscheides diesen durch nachträgliches Bestreiten der Rechtsgültigkeit des Volksbegehrens verhindern. Beides wäre mit dem Sinn und Ziel des A r t . 74 Abs. 4 BayV unvereinbar. Die Fristenregelung kann nur so verstanden werden, daß nach Ablauf der Frist jede Stellungnahme zum Volksbegehren sowohl nach der positiven wie nach der negativen Seite ausgeschlossen ist. Eine weitere Frage erhob sich dahin, ob eine Aufhebung des Ablehnungsbeschlusses des Landtags nötig ist, u m ein neues Verfassungsänderungsverfahren i n Gang setzen zu können. Hierzu sind zwei Auffassungen denkbar: Einerseits könnte geltend gemacht werden, daß der Volksbegehrensentwurf abgelehnt sei und nur auf einem einzigen Weg wieder aufleben könnte, nämlich durch Anrufung des Verfassungsgerichtshofs und Feststellung der Rechtsgültigkeit des Volksbegehrens durch diesen. Werde der Verfassungsgerichtshof aber nicht angerufen, so seien i m Verfahren des Volksbegehrens alle weiteren Maßnahmen gegenstandslos. Auch der eigene Gesetzentwurf des Landtags entfalle dann. Demgegenüber konnte freilich eingewendet werden, daß der Beschluß des Landtags, wenn er nicht aufgehoben werde, gewisse Sperrwirkungen für weitere Verfahren bewirke, so daß es also erforderlich sei, ihn aufzuheben, falls dies rechtlich zulässig sei. Folgende Überlegung sprach aber doch gegen eine Aufhebung: Wäre nämlich die A u f hebung des Landtagsbeschlusses zulässig und würde er i n der Tat aufgehoben, dann müßte nach der zwingenden Vorschrift der Verfassung (Art. 74 Abs. 5 BayV) der Volksentscheid über den volksbegehrten Gesetzentwurf — also den ursprünglichsten der drei Entwürfe — stattfinden. Der Volksentscheid könnte i n diesem Fall durch das Dreiparteienabkommen nicht aufgehalten oder verhindert werden. 2. Offensichtlich war manchen Befürwortern einer Neuaufnahme des abgeschlossenen Verfahrens ungeachtet dieser Argumente immer noch nicht wohl und sie sahen i m Falle einer Anrufung des Verfassungsgerichtshofs doch eine Gefahr für den i m Dreiparteienabkommen vereinbarten Verfassungsänderungsentwurf. Sie suchten nach einer positivrechtlichen Regelung, um, wenn möglich, dem Einwand der Unverrückbarkeit der beiden Landtagsbeschlüsse wirksam zu begegnen. So brachten sie die Geschäftsordnung des Landtags zu neuen Ehren. Eine Bestimmung der Geschäftsordnung (§ 72) sieht bei Anträgen — auch solchen i m Gesetzgebungsverfahren — Folgerungen nach zwei Richtungen vor: einerseits für den Fall, daß der Landtag einen Antrag abgelehnt 20«
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hat (§ 72 Abs. 1), andererseits für den Fall, daß ein Antrag zunächst angenommen worden ist, dann aber wieder aufgehoben werden soll (§ 72 Abs. 2). Voraussetzung für die Anwendung dieser Bestimmung ist, daß es sich u m den gleichen Gegenstand und Inhalt des Landtagsbeschlusses handelt. Diese Voraussetzung w i r d beim volksbegehrten Gesetzentw u r f einerseits und dem Dreiparteienentwurf andererseits zu bejahen sein. Gegenstand ist i n beiden Fällen der Rechtsstatus des Bayerischen Rundfunks und seine Sicherung i n der bayerischen Verfassung durch Einfügung eines neuen Artikels. Auch die Inhalte der beiden Entwürfe stimmen — ungeachtet der vorgenommenen Zusätze — überein, vielfach sogar i n den einzelnen Formulierungen. Die Einbringung eines neuen Gesetzentwurfs, dessen Gegenstand und Inhalt vom Landtag abgelehnt worden ist, ist nach der Geschäftsordnung nur zulässig, wenn die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags dies verlangt, andernfalls erst nach Ablauf eines Jahres, von der Ablehnung an gerechnet. Hier hat also, was i n diesem Zusammenhang zum Bewußtsein kam, die Unverrückbarkeit eine positivrechtliche Ausprägung, gleichzeitig aber auch eine Abschwächung erfahren. Das Zeitmoment wurde ebenso einbezogen wie der Wille einer qualifizierten Mehrheit auf Abänderung gefaßter Beschlüsse 11 . Diese Mehrheit wurde erreicht, was nach dem Dreiparteienabkommen kein Wunder mehr war. Die Einbringung des Dreiparteienabkommens als Entwurf einer Verfassungsänderung wurde schon aus diesem Grund als zulässig angesehen. Die neue Vorlage mußte beraten werden und wurde auch beraten und zum Abschluß gebracht. Auch ohne das Greifen nach der Geschäftsordnung wäre wohl schon nach dem allgemeinen Verständnis der Unverrückbarkeit eine erneute Behandlung des gleichen Gegenstands und Inhalts zulässig gewesen; denn es handelte sich u m zwei verschiedene Verfahren: einerseits die Volksgesetzgebung, andererseits die parlamentarische Verfassungsänderung. Unverrückbarkeit kann aber nur für das gleiche Verfahren gel11
§ 72 der Geschäftsordnung w i r d allerdings auch anders ausgelegt. Soweit er für die Wiedereinbringung abgelehnter Anträge innerhalb einer Jahresfrist erschwerte Voraussetzungen vorsieht u n d die Aufhebung eines Beschlusses innerhalb Jahresfrist f ü r unzulässig erklärt, soll er n u r auf die Wiedereinbringung solcher Anträge Anwendung finden, die erstmals von Abgeordneten oder Fraktionen gestellt worden sind, u n d nur auf die A u f hebung eines Beschlusses, der auf solche Anträge zurückgeht. Außerdem soll er n u r das Initiativrecht der Abgeordneten zur Antragswiederholung beschränken, während das Initiativrecht der Staatsregierung, des Bayerischen Senats u n d des Volkes auch bei einem vorangegangenen parlamentarischen Beschluß nicht beschränkt sei (So Kruis, S. 553). Nach Wortlaut, Zweck u n d Zusammenhang ist diese Auslegung nicht schlechthin ausgeschlossen, aber auch nicht zwingend.
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ten. Dennoch hat eine die Unverrückbarkeit abschwächende Bestimmung der Geschäftsordnung einer Volksvertretung Bedeutung. Als positivrechtliche Regelung w i r d sie — auch gegenüber einer nach allgemeinen Überlegungen zulässigen Abänderung — bindend sein, wenn sie ein neues Verfahren nicht zuläßt. 3. Unabhängig von der Frage, innerhalb welcher Frist ein neuer A n trag gestellt werden kann, der die Aufhebung des alten Beschlusses voraussetzt, ist zu prüfen, wie Sinnesänderungen des Landtags zu beurteilen sind, wenn ihrer Ausführung keine Fristen oder sonstigen Hindernisse entgegenstehen. Sinnesänderungen des Landtags sind i n diesem Fall grundsätzlich nicht ausgeschlossen12. Allerdings w i r d zu unterscheiden sein, ob es sich u m Fragen des gesetzgeberischen Ermessens handelt, die in der einen oder anderen Weise nach bloßen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten entschieden werden können, oder ob sich der alte Beschluß auf Rechtsfragen bezog, bei deren Entscheidung eine rechtliche Grundauffassung zum Ausdruck gekommen ist. Innerhalb des gesetzgeberischen Ermessens — etwa weil der Landtag zum Ergebnis kommt, daß der Sachverhalt auch anders gesehen werden kann oder daß die Gründe für eine andere Bewertung jetzt überwiegen — kann eine Sinnesänderung durchaus einleuchtend sein. Beim Aufgeben eines früher entschiedenen und m i t guten Gründen verfolgten Rechtsstandpunktes kann aber das Prestige der Landtagsmehrheit auf dem Spiel stehen. Hierzu hat Hatschek folgendes ausgeführt 13 : „Das Ansehen jeder parlamentarischen Körperschaft erfordert es, daß sie treu zu den von ihr gefaßten Beschlüssen steht. Andernfalls kommt sie i n Verdacht, daß sie ihr Votum nicht sorgfältig überdacht hat." Eine Rechtfertigung für eine rechtliche Bindung kann aus dieser Überlegung freilich nicht abgeleitet werden. Bei der Abänderung von Beschlüssen des Landtags ist also folgendes zu bedenken: Kann ein neuer Beschluß aufgrund eines Rechtssatzes erst nach einer bestimmten Frist gefaßt werden, so ist er vor Ablauf dieser Frist unzulässig; das Landtagspräsidium kann ihn nicht zulassen. Fehlt es an einer solchen rechtlichen Bindung, so werden der Landtag bzw. die Landtagsmehrheit i m Rahmen ihres gesetzgeberischen Ermessens erwägen, ob eine Sinnesänderung, die zu einem Verlassen einer früheren Rechtshaltung führen müßte, einen Prestigeverlust bedeutet. Erachten sie ihn als erheblich, so werden sie von einem neuen Antrag absehen.
12 13
Vgl. Nawiasky, Bayerisches Verfassungsrecht, S. 293. Hatschek, Bd. 2, S. 77 ff.
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III. Die Vorgänge i m bayerischen Landtag haben über Bedeutung und Wirkung der Unverrückbarkeit parlamentarischer Beschlüsse eine gewisse Skepsis ausgelöst. Auch wenn von der allgemeinen Erfahrung abgesehen wird, daß Rechtsbegriffe mitunter herhalten müssen, um politische Bestrebungen zu unterstützen oder zu verzögern, ist doch auch deutlich geworden, daß der Grundsatz der Unverrückbarkeit nicht auf sehr gefestigten Fundamenten steht. Daß er, von seltenen Detailausnahmen abgesehen, ohne ausdrückliche positivrechtliche Regelung aus verfassungsrechtlichen oder geschäftsordnungsrechtlichen Bestimmungen abgeleitet werden muß, kann allein nicht Ursache seiner Schwäche sein. Es gibt wichtige Grundsätze, die sich ungeachtet fehlender Positivität durchgesetzt haben, etwa das Übermaßverbot i m Verfassungsrecht. Eher ist die Schwäche dadurch zu erklären, daß die Unverrückbarkeit nicht i n allen Fällen dem Zweck parlamentarischer Beratungen und Beschlußfassungen gerecht wird. Nicht nur bei den verfahrensmäßig lockeren Ausschußberatungen, sondern auch bei Verhandlungen i m Plenum einer Volksvertretung w i r d es mitunter als sinnvoll oder sogar als unvermeidlich angesehen, frühere Beschlüsse aufzuheben, auch ohne daß sich die Sachverhalte geändert haben. Eine sogenannte „materielle Selbstbindung" 1 4 der Parlamente über das jeweilige Verfahren hinaus w i r d auch in der Rechtslehre bezweifelt, es sei denn, die Unverrückbarkeit sei besonders normiert 1 5 . Die Schwierigkeit konzentriert sich dann darauf, zu bestimmen, was das ursprüngliche und was das neue Verfahren ist. Eine klare Abgrenzung ist oft nicht möglich. Die Gefahr eines Sichverlierens i n unfruchtbarer Begriffsspaltung ist nicht von der Hand zu weisen. Nur als Folgerung aus bisherigen Erfahrungen und als Vorschlag für eine Orientierung i m allgemeinen ist folgendes Ergebnis zu werten: Abschließende Beschlüsse i m Plenum einer Volksvertretung, vor allem i m Gesetzgebungsverfahren, sind abgesehen von bloßen Berichtigungen und Irrtumskorrekturen als unverrückbar anzusehen, wenn ihr Inhalt i m gleichen — und zwar rechtlich als gleich zu charakterisierenden — Verfahren erneut zur Beschlußfassung ansteht und wenn durch die erneute Beschlußfassung der ursprüngliche Inhalt des Beschlusses verändert würde.
14
Vgl. Kruis, S. 553. Vgl. Heyland, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 196; W. Jellinek, ebd., S. 170; v. Mangoldt-Klein, A r t . 77 GG, Anm. I I I 8. BayVerfU von 1919, § 76 Abs. 1 Satz 2. 15
Die verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze bei der Aufstellung von Parteikandidaten für Bundestagswahlen Von Klaus Otto Nass
Der nachstehende Beitrag, der die demokratischen Erfordernisse des Verfahrens der Nominierung von Parteikandidaten für parlamentarische Wahlen behandelt, ist kein Niederschlag jener „modernen" Doktrin, die die „Demokratisierung" aller Staatsgewalten, ja nicht-staatlicher „Herrschaftsstrukturen" ohne Rücksicht auf deren jeweilige Funktion fordert und hinter der oftmals nur „der Einbruch politischer Stände i n die Demokratie" 1 kaschiert werden soll. Vielmehr steht die i m Folgenden vertretene Demokratisierung der parteiinternen Kandidatenauslese m i t den Funktionen i m Zusammenhang, die das Grundgesetz den politischen Parteien i m Verfassungsgefüge der Bundesrepublik zugewiesen hat. Der Beitrag versucht nachzuweisen, daß alle verfassungsrechtlichen Grundsätze einer demokratisch legitimierten Wahl nicht nur für den A k t der Parlamentswahl selbst, sondern darüber hinaus auch für die „parteiinterne" Kandidatenaufstellung gelten (unten I) und daß die Satzungen, Wahlordnungen, Geschäftsordnungen und anderen parteiinternen Regelungen für die Aufstellung von Wahlkandidaten unter diesem Gesichtspunkt einer näheren Prüfung auf ihre Gültigkeit bedürfen (unten II). I. 1. Gewiß versteht es sich nicht von selbst, daß die Grundsätze, die Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG für die Wahl zum Deutschen Bundestag aufstellt (allgemein, unmittelbar, frei, gleich, geheim), auch auf das dem Wahlakt voraufgehende Verfahren anwendbar sind, in dem die politischen Parteien ihre Bewerber für die Bundestagswahl nominieren. Freilich hat sich die Auffassung durchgesetzt, den Begriff der „Wahl" i. S. v. A r t . 38 Abs. 1 S. 1 GG nicht auf die Stimmabgabe des Wählers am Wahltage zu beschränken, sondern insoweit Wahlvorbereitung, 1 Vgl. Werner Weber, Spannungen u n d Kräfte i m westdeutschen Verfassungssystem, S. 39 ff.
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Wahlakt und Feststellung des Wahlergebnisses als einen einheitlichen Vorgang anzusehen, der i n allen seinen Phasen den verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätzen unterliegt 2 . Diese Ausdehnung des Anwendungsbereichs von A r t . 38 Abs. 1 S. 1 GG ist jedenfalls i n dem Maße folgerichtig, ja unausweichlich, i n dem für die dem Wahlakt vorausgehende Phase der Wahlvorbereitung gesetzliche Regeln gelten, die von den Beteiligten zu respektieren und von den Wahlorganen zu vollziehen sind (vgl. §§ 17 - 31 Bundeswahlgesetz-BWG). Die Anwendung derselben Grundsätze auf so verschiedenartige Tatbestände wie die Ausübung des aktiven und des passiven Wahlrechts, die Einreichung von Wahlvorschlägen und die Stimmenverrechnung führt dazu, daß diese Grundsätze einen dem jeweiligen Verfahrensabschnitt entsprechenden, wechselnden konkreten Inhalt annehmen und daß auch die Einschränkungen, denen sie unterliegen, i n den einzelnen Phasen des Gesamtvorganges der Bundestagswahl von unterschiedlicher Intensität sind. So hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundsatz der A l l gemeinheit der Wahl abgeleitet, daß das Wahlgesetz zwar keine Bedingungen für die Zulassung zur Wahl stellen darf, die nicht von jeder Partei erfüllt werden können, daß die wahlgesetzliche Differenzierung zwischen „alten" und „neuen" Parteien (vgl. § 19 Abs. 2 BWG) und das Erfordernis für die „neuen" eine bestimmte Anzahl Unterschriften unter dem Wahlvorschlag beizubringen (vgl. § 28 Abs. 1 BWG) aber als vereinbar m i t diesem Grundsatz anzusehen ist 3 . I m gleichen Sinne hat das BVerfG den Grundsatz der geheimen Wahl dahin interpretiert, daß der Wähler auch i m Rahmen der Wahlvorbereitung grundsätzlich sein Verhältnis zu einer politischen Partei i n der Öffentlichkeit nicht darzutun brauche, daß der Gesetzgeber aber aus „besonderen Gründen" diesen Grundsatz „durchbrechen" könne — wie etwa durch das Erfordernis eines Unterschriftenquorums 4 . Gelten somit die verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze i n Bezug auf Wähler, Bewerber und politische Parteien auch bereits während der (gesetzlich geregelten) Wahlvorbereitung, so wäre damit an sich eine Erstreckung auf die innerparteiliche Aufstellung von Wahlbewerbern nicht notwendig verbunden. I n der Tat scheint es auf den ersten Blick recht weit zu gehen, diese Grundsätze nicht nur auf die Allgemeinheit der Wahlberechtigten, sondern auch auf den begrenzten Kreis der Parteimitglieder, nicht nur auf die öffentliche Kandidatur u m ein parlamentarisches Mandat, sondern auf die interne Bewerbung 2 Vgl. BVerfGE 11, 266 (272); Maunz - Dürig, A r t . 38, Rd.-Nr. 38; KarlHeinz Seifert, Das Bundeswahlgesetz, 2. Aufl., 1965, S. 36. 3 BVerfGE 3, 30 f.; 12, 137. 4 BVerfGE 4, 386 f.
Wahlrechtsgrundsätze bei der Aufstellung von Parteikandidaten
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um diese Kandidatur zu beziehen und „innerparteiliche" Vorgänge der Kandidatennominierung denselben Prinzipien zu unterwerfen, denen auch der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Parteien während des Wahlkampfes unterliegt. 2. Wäre die Aufstellung der Kandidaten für parlamentarische Wahlen i n den politischen Parteien noch ein Vorgang der „ i m Wahlkörper vereinigten Gesellschaft" 5 , so bliebe sie sicherlich per definitionem außerhalb des Bereiches des staatlich geregelten Wahl verfahr ens. Unter der Weimarer Reichsverfassung, deren Schweigen diese Fiktion aufrechterhielt, blieb daher die Kandidatenaufstellung der Parteiautonomie überlassen — klarer: sie war dem Parteiapparat ausgeliefert; das einfache Parteimitglied hatte von rechts wegen auf die Nominierungsprozedur keinen Einfluß. Wenn demgegenüber das Grundgesetz die Parteien ausdrücklich an der politischen Willensbildung des Volkes „ m i t w i r k e n " läßt, so erkennt es die Parteien damit als beherrschende Gestaltungskräfte der Bundestagswahlen an. (Vgl. A r t . 21 Abs. 1, S. 1, A r t . 20 Abs. 2 GG). Ohne vorherige „innerparteiliche" Kandidatenaufstellung ist diese verfassungsrechtlich garantierte Teilhabe der Parteien an den Bundestagswahlen nicht möglich. Die Nominierung der Parteikandidaten ist daher ein wesentlicher Bestandteil der verfassungsrechtlichen Funktion der politischen Parteien. Zugleich ist damit ein wesentlicher Teil der Wahlgewalt, nämlich das Vorschlagsrecht, von den Aktivbürgern auf die Parteien verlagert. § 28 Abs. 1 S. 1 B W G geht sogar so weit, zu bestimmen: „Landeslisten können nur von Parteien eingereicht werden" und damit den politischen Parteien de jure ein Vorschlagsmonopol für die Besetzung der Hälfte aller Bundestagssitze (§ 1 BWG) einzuräumen. So problematisch diese Regelung des Wahlgesetzes auch sein mag 6 , i m Ergebnis weist auch das Grundgesetz den Parteien ein praktisch exklusives Recht zu, Wahlkandidaten zu benennen. Schon früh konnte Werner Weber daher formulieren: „Das Volk hat nur noch eine Funktion: den Bundestag zu wählen. Diese Wahl aber hat wiederum nichts anderes zum Gegenstand, als zwischen den schon organisiert vorhandenen Parteien ihr parlamentarisches Gewicht aufzuteilen. Damit ist offenbar: Das Volk ist vollständig und ausnahmslos durch die politischen Parteien mediatisiert" 7 . 5
Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte i n Deutschland, 2. Aufl. 1872, S. 244. 6 Vgl. Seifert (Anm. 2), S. 43. 7 Werner Weber, Weimarer Verfassung u n d Bonner Grundgesetz, 1949; übernommen i n : Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, S. 20.
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Angesichts dieser verfassungsrechtlichen und politischen Gegebenheiten wäre es schwer zu rechtfertigen, die Gültigkeit der Wahlrechtsgrundsätze auf einen Teil der Wahlvorbereitung zu beschränken und nicht auch auf den für das endgültige Wahlergebnis entscheidenden Teil der Wahlvorbereitung auszudehnen, der sich zwar „innerhalb" der Parteien vollzieht, aber „außerhalb" auswirkt: die Nominierung der Kandidaten für den Bundestag. So ist denn auch nicht bestritten, daß nach dem Grundgesetz die Benennung von Wahlbewerbern allein durch den Parteiapparat, also ohne Wahl unzulässig wäre, selbst wenn § 22 BWG die parteiinterne Bewerberwahl nicht positivrechtlich vorgesehen hätte. Zur Begründung w i r d allerdings nicht Art. 38 Abs. 1, S. 1 GG herangezogen; keines der drei dem Bundesminister des Innern erstatteten wähl- und parteienrechtlichen Gutachten verweist die Kandidatenauslese i n die von Art. 38 Abs. 1 S. 1 gezogenen Grenzen 8 . Vielmehr stützt sich die Literatur darauf, daß die Kandidatenaufstellung Bestandteil der inneren Ordnung der Parteien und daher gemäß Art. 21 Abs. 1, S. 3 GG nach „demokratischen Grundsätzen" vorzunehmen sei 9 . 3. Sicherlich ist die Kandidatenauslese auch ein innerparteilicher Vorgang, dessen Regelung Bestandteil der „inneren Ordnung" der Parteien und schon aus diesem Grunde nach „demokratischen Grundsätzen" zu gestalten ist (Art. 21 Abs. 1, S. 3 GG). Daher ist es einerseits nur konsequent, § 15 PartG (mindestens analog) auf die Bewerberwahl anzuwenden: so demokratisch wie bei einer Vorstandswahl sollte es auch bei der Aufstellung der Landesliste zugehen. Der Minderheitenschutz des § 15 Abs. 3 PartG gilt auch hier. Andererseits schließen „demokratische Grundsätze" es nicht aus, innerparteiliche Abstimmungen und Wahlen offen vorzunehmen (sofern das PartG Gegenteiliges nicht bestimmt — § 15 Abs. 2, S. 1) und verbieten es auch nicht, Abstimmungs-» rechte (mit oder ohne Bindung der Stimme) zu delegieren. Die aus8
Vgl. Grundlagen eines deutschen Wahlrechts — Bericht der v o m B u n desminister des I n n e r n eingesetzten Wahlrechtskommission, 1955, S. 27 ff., 113 ff.; Rechtliche Ordnung des Parteiwesens — Bericht der v o m Bundesminister des I n n e r n eingesetzten Parteienrechtskommission, 1958, S. 167 ff.; Z u r Neugestaltung des Bundestagswahlrechts — Bericht des v o m Bundesminister des Innern eingesetzten Beirats für Fragen der Wahlrechtsreform, 1968, S. 14 f.; 28 f. 9 Vgl. Rechtliche Ordnung (Anm. 8), S. 160, Maunz - Dürig A r t . 21, Rd.-Nr. 57, 63, 74, 75, Seifert i n : Das deutsche Bundesrecht, I A 24 - Parteiengesetz, A n m . zu § 17; Henke, Das Recht der politischen Parteien, Göttinger rechtswissenschaftliche Studien Bd. 50, 1964, S. 146 ff.; Henke, i n : Bonner K o m mentar, A r t . 21, Rd.-Nr. 50; Linck, Das Blockwahlsystem auf dem Prüfstand, DÖV 1972, S. 331 (332 1. Sp.); Linck, Parteiinterne Vorgänge der W a h l p r ü fung entziehen? — Zeitschrift f ü r Parlamentsfragen 1973, S. 190 (191).
Wahlrechtsgrundsätze bei der Aufstellung von Parteikandidaten
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schließliche Zuordnung der Kandidatenaufstellung für parlamentarische Wahlen zum innerparteilichen Bereich und damit die alleinige Anwendbarkeit von A r t . 21 Abs. 1, S. 3 GG würde somit dazu führen, daß dabei zwar die Prinzipien allgemeiner, freier und gleicher, nicht aber die Grundsätze geheimer und unmittelbarer Wahl von verfassungswegen zu respektieren wären 1 0 . Damit würde die Wahlvorbereitung „innerhalb" und „außerhalb" der Parteien unterschiedlichen Verfassungsregeln unterworfen. Wäre die ausschließliche Zuordnung der verfassungsrechtlichen M i t w i r k u n g der Parteien an der Wahl zur innerparteilichen Ordnung richtig, so ließe sich daraus ableiten, daß der Bund gemäß A r t . 21 Abs. 3 GG Einzelheiten der Kandidatenaufstellung zu Landtagswahlen regeln könnte 1 1 . Außerdem wäre es ausgeschlossen — da die innere Ordnung der Parteien als solche dem Wahlprüfungsverfahren nicht unterliegt 1 2 — die Gültigkeit von Parlamentswahlen zu überprüfen, bei denen während der Nominierungsprozedur erkennbar und m i t Einfluß auf das Wahlergebnis gegen einen Wahlrechtsgrundsatz, etwa den der freien Wahl verstoßen wurde. 4. Daher ist eine Zuweisung der Kandidatenauslese der Parteien zu dem Bereich ihrer inneren Ordnung zwar zutreffend, aber nicht ausreichend. Vielmehr ist die Aufstellung der Parteikandidaten zugleich ein integrierender Bestandteil des parlamentarischen Wahlverfahrens. Dem entspricht es, daß die bundesrechtlichen Bestimmungen über die Bewerberwahl auch nach Inkrafttreten des Parteiengesetzes i m Bundeswahlgesetz verblieben sind, i n dem sie seit 1949 enthalten waren, und daß das PartG selbst die einzige Bestimmung über die „Aufstellung von Wahlbewerbern" nicht dem Abschnitt „Innere Ordnung" eingefügt, sondern in einem besonderen Abschnitt untergebracht hat. Die „ M i t w i r k u n g " der Parteien an der Wahl setzt nicht erst mit der Einreichung der Wahlvorschläge bei den Wahllisten (§§ 20, 28 BWG), sondern bereits m i t der Nominierung der Bewerber ein. Diese greift ihrer Natur nach aus dem parteiinternen i n den staatlichen Bereich. Wenn irgendwann, dann stehen die Parteien bei der Vorbereitung parlamentarischer Wahlen dem Staate nicht gegenüber, sondern „ i m inneren Bereich des Verfassungslebens" 13 . Die Wahl von Parteikandida10
Vgl. Linck., DÖV 1972, S. 332 1. Sp.; Seifert, B W G (Anm. 2), S. 141; vgl. auch Maunz - Dürig, A r t . 21, Rd.-Nr. 73, Fußnote 3. 11 Vgl. Rechtliche Ordnung (Anm. 8), S. 171. 12 Vgl. Seifert, W a h l p r ü f u n g u n d „Blockwahlsystem", DÖV 1972, S. 334 (336); vgl. zum Wesen des Wahlfehlers z.B. Karpenstein y Die Wahlprüfung u n d ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen, 1962, S. 37 ff. 13 Vgl. BVerfGE 1, 227.
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ten ist verglichen etwa mit der Wahl eines Parteivorstandes — zweifellos ein Element der inneren Ordnung — ein aliud. Dieser ist Vertreter der Partei, der Wahlkandidat bewirbt sich darum, Vertreter des ganzen Volkes zu werden (Art. 38 Abs. 1, S. 2 GG). Nur wenn die Wahlrechtsgrundsätze sich ausnahmslos auch auf diesen Teil der Wahlvorbereitung erstrecken, können sie in der Parteiendemokratie der Gegenwart ihre das Wahlergebnis legitimierende Funktion erfüllen. Nur dann ist sichergestellt, daß sie den gesamten für die künftige Zusammensetzung des Bundestages entscheidenden Prozeß beherrschen. Die Parteimitglieder, die die Wahlbewerber wählen, beeinflussen das Ergebnis der Parlamentswahl mindestens so stark wie die Wähler, die am Wahltage ihre Stimmen abgeben; ja für zahlreiche Bewerber, namentlich auf den „sicheren" Listenplätzen, reduziert sich — sind sie erst einmal von ihrer Partei nominiert — die nachfolgende Parlamentswahl auf eine plebiszitäre Akklamation, die als „demokratische Wahl" wohl kaum noch bezeichnet werden könnte, wenn auch die Kandidatur selbst durch Akklamation zustandegekommen wäre. Demokratische Wahl i m Parteienstaat impliziert ein i n gleicher Weise und nicht weniger demokratisch ausgestaltetes Vorschlagsverfahren der Parteien. Beide — die Bestimmung der Wahlkandidaten wie die der Abgeordneten — müssen nach jenen Grundsätzen Zustandekommen, durch die das Grundgesetz demokratische Wahlen charakterisiert. Sie sind in A r t . 38 Abs. 1, S. 1 GG niedergelegt. Die Aufstellung von Parteikandidaten für Bundestagswahlen hat somit nicht nur gemäß A r t . 21 Abs. 1, S. 3 GG als Bestandteil der inneren Ordnung der politischen Parteien den allgemeinen demokratischen Grundsätzen zu entsprechen, sondern ist auch als integrierender Bestandteil des parlamentarischen Wahlverfahrens der Gegenwart gemäß A r t . 38 Abs. 1, S. 1 GG den Wahlrechtsgrundsätzen der Verfassung unterworfen. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei ausdrücklich angemerkt, daß dieses Ergebnis selbstverständlich eine erweiterte Anwendung der Wahlrechtsgrundsätze auf alle rein innerparteilichen Vorgänge (Vorstandswahlen etc.) nicht zur Folge hat 1 4 und daß aus der Anwendung der Organisationsprinzipien für parlamentarische Wahlen auf diesen Teil ihrer Vorbereitung Folgerungen auf D r i t t w i r k u n g von Grundrechten i m parteiinternen Innenverhältnis nicht gezogen werden können. Außerdem muß sich die Konkretisierung der Wahlrechtsgrundsätze i n der Phase der Kandidatennominierung gegenüber dem Wahlakt 14 Vgl. dazu Rabus, Die innere Ordnung der politischen Parteien i m gegenwärtigen deutschen Staatsrecht, AöR Bd. 78, S. 163 ff. (167 ff.).
Wahlrechtsgrundsätze bei der Aufstellung von Parteikandidaten
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selbst Modifizierungen gefallen lassen, die sich aus der Natur der „parteiinternen" Bewerberzahl ergeben. Beispielsweise ist der Grundsatz unmittelbarer Wahl aus Gründen der praktischen Durchführbarkeit durch § 22 BWG erheblich eingeschränkt — wie sollten über ein Bundesland verstreut wohnende Parteimitglieder direkt die Landesliste aufstellen? Das wäre nur durchführbar, wenn die Parteimitglieder keine Nominierungsfreiheit hätten, sondern an Vorschläge des Vorstandes oder anderer Parteigremien gebunden wären, was wiederum der Wahlfreiheit widerspräche.
II. 1. I n der Tat ist die Freiheit, einen Bewerber für die Wahl zur Kandidatur vorzuschlagen, wesentlicher Bestandteil des Grundsatzes freier Bewerberwahlen 1 5 . Wenn § 17 PartG Einzelheiten der Bewerberwahl den Parteisatzungen überläßt, so kann das nicht bedeuten, daß durch Parteistatut das Vorschlagsrecht bestimmten Parteiorganen reserviert werden dürfte. Satzungen, die ein Vorschlagsrecht für Parteivorstände vorsehen 16 , sind daher so zu interpretieren, daß das Vorschlagsrecht nicht exklusiv zu verstehen ist; so relativiert kann ein Vorschlagsrecht des Landesvorstandes zur Versachlichung lokaler Kandidatenaufstellungen führen und etwa ein Gegengewicht gegen die mehr oder weniger automatische Nominierung verdienter „Lokalgrößen" bieten. Auch das von der Mehrheit der zweiten Wahlrechtskommission geforderte Vorschlagsrecht der Bundesparteivorstände für Wahlkreiskandidaten konnte exklusiven Charakter nicht haben und sollte „das Prinzip der lokalen demokratischen Nomination von unten" nicht antasten 17 . Aus Satzungen, die vorsehen, daß Vorschläge „ i m Benehmen m i t dem Parteivorstand" zu machen sind 1 8 , kann ein irgend geartetes Veto des Vorstandes gegen eine Kandidatur nicht hergeleitet werden. Kritische Prüfung unter dem Gesichtspunkt der freien, aber auch der allgemeinen Wahl verdienen auch solche Parteisatzungen, die neben dem Parteivorstand nur einem qualifizierten Teil der Mitglieder- bzw. Delegiertenversammlung ein Vorschlags- oder gar nur ein „Abänderungs-
15
Vgl. Linck, DÖV 1972, S. 332 f. So z. B. § 3 Abs. 5, S. 2 Wahlordnung SPD v o m 8.12.1971 i. d. F. v o m 12. 4.1973 u n d § 37 Satzung CSU v o m 27. 5.1972; vgl. Rabus, A ö R 78, 174 ff. 17 Vgl. zur Neugestaltung (Anm. 8), S. 48; Nass, Die Bundesliste, DVB1. 1960, S. 424. 18 Z. B. § 11 Abs. 6, 7, 8 Organisationsstatut SPD v o m 8.12.1971 i. d. F. v o m 12. 4.1973. 16
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recht" einräumen, z. B. einem Fünftel der Delegierten 19 oder gar: Delegierten aus mindestens 5 Kreisorganisationen der Partei 2 0 . Bedenken unter dem Aspekt freier Wahlen liegen bei der Aufstellung der Landeslisten gemäß §§ 28, 22 BWG nahe, wenn über die Listenbewerber und deren Reihenfolge nicht einzeln, sondern wenn en bloc über einen bereits vorhandenen Landeslisten-Wahlvorschlag abgestimmt w i r d 2 1 . Scheint doch dieses Verfahren dem verfassungsrechtlich problematischen sogenannten Blockwahlsystem m i t voller Stimmenausnutzung verwandt zu sein, bei dem Kandidaten für mehrere gleichrangige und gleichartige Stellen i n einem einzigen Wahlgang zu wählen sind und bei dem der Wähler verpflichtet ist, so viele Bewerber anzukreuzen, wie Positionen zu besetzen sind. Die Ungültigkeit dieses strikten Blockwahlsystems ist namentlich damit begründet worden, daß es parteiinterne Minderheiten vor die Alternative stelle, entweder nicht zu wählen oder für ihnen nicht genehme Bewerber m i t zu votieren. Zwar hätten diese Minderheiten theoretisch das Recht, eigene Wahlvorschläge zu machen, dieses Recht könnten sie aber oftmals praktisch nicht ausüben, da sie nicht über so viele eigene Bewerber verfügten wie Stellen zu besetzen sind 2 2 . Indessen sind Folgerungen aus dieser Problematik des Blockwahlsystems für die Besetzung mehrerer gleichrangiger Stellen auf die innerparteiliche en-bloc-Abstimmung über die Landeslistenbewerber und deren Reihenfolge nicht zulässig. Denn bei der Aufstellung der Landesliste können innerparteiliche Minderheiten i h r Wahlvorschlagsrecht nicht nur durch Zusammenstellung einer eigenen Liste m i t anderen Bewerbern, sondern zusätzlich auch durch eine Liste geltend machen, die (ganz oder teilweise) dieselben Listenbewerber enthält, aber deren Reihenfolge ändert. E i n eigener Vorschlag einer Landesliste liegt daher schon dann vor, wenn die vom Parteivorstand vorgeschlagene Landesliste nur in einem Platz abgeändert, i m übrigen aber übernommen wird. Es ist dann über jeden der beiden Listenvorschläge abzustimmen. Solange die innerparteilichen Minderheiten eigene Landeslisten durch Benennung anderer Bewerber oder durch Änderung der Reihenfolge der Listen Bewerber vorschlagen können, beeinträchtigt die Abstimmung en bloc die Wahl19 20
§ 4 Abs. 6 Satzung SPD Rheinland-Pfalz v o m 1.11.1971. Geschäfts- und Wahlordnung SPD Baden-Württemberg Parteitag 23.9.
1972. 21
Vgl. Rechtliche Ordnung (Anm. 8), S. 63; Seifert (Anm. 2), S. 170. Vgl. BGH, U r t e i l v o m 17. Dezember 1973 — I I ζ R 47/71, Pressemitteilung i n : N J W 1974, Heft 4, S. I I ; U r t e i l Wahlprüfungsgericht B e r l i n v o m 23.11. 1971 sowie die Beiträge von Linck u n d Seifert, DÖV 1972, S. 352 ff.; 331 ff., 334 ff. 22
Wahlrechtsgrundsätze bei der Aufstellung von Parteikandidaten
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freiheit nicht. Aus dem Grundsatz der Wahlfreiheit folgt jedoch, daß die Freiheit zur Aufstellung weiterer Listen auch durch ein allgemeines Abänderungsrecht für jeden einzelnen Platz der vom Parteivorstand vorgeschlagenen Liste gewährleistet sein muß. Gerade bei der Aufstellung von Landeslisten sind die Parteivorstände wegen ihres besseren Überblicks gegenüber den Parteimitgliedern in einer starken, oftmals beherrschenden Position. Gerade hier besteht die Tendenz, den Charakter einer freien und allgemeinen Wahl zugunsten eines „ausgewogenen" Verbands- und Ständeproporzes der innerparteilichen Organisationen und Untergliederungen (Beispiele: „sicherer" Listenplatz für Vorstandsmitglieder der Jugendorganisation der Partei oder nach regionalen oder konfessionellen Gesichtspunkten) oder m i t der Partei symphathisierender Interessenverbände aufzuopfern. Angesichts dieser Interessenlage des Parteivorstandes sind Satzungsregelungen, die das Vorschlagsrecht aus der Versammlung heraus regeln, besonders kritisch darauf, zu überprüfen, ob sie praktisch noch eine Nominierungsfreiheit erlauben oder nicht. Bestimmungen, die die Prozedur der Nominierung von Listenbewerbern abschließen, ehe der Vorschlag des Parteivorstandes bekannt ist, und die daher die Möglichkeit unterbinden, auch nur einen Bewerber auf der Liste des Vorstandes zu streichen bzw. auszutauschen, sind nicht gültig. Auch beschneidet es die Nominierungsfreiheit, wenn mehr oder weniger ausdrücklich i n der Satzung vorgesehen ist, daß als Landeslistenbewerber nur Wahlkreisbewerber i n Betracht kommen, oder gar, daß alle Wahlkreisbewerber i n die Landesliste aufzunehmen sind, praktisch also nicht mehr über die Listenbewerber, sondern lediglich über deren Reihenfolge abzustimmen ist. 2. Volle Nominierungsfreiheit ist nur in Versammlungen mit relativ wenigen Teilnehmern durchführbar; sie läuft auf eine Identität von Vorschlagenden und Abstimmenden hinaus 23 . Demgegenüber erfordert der Grundsatz allgemeiner Wahlen, daß sämtliche am Wahltage wahlberechtigten, regional betroffenen Parteimitglieder durch Abstimmung auf die Kandidatenaufstellung Einfluß nehmen. Eine Versammlung aller Parteimitglieder eines Bundeslandes oder oftmals auch nur eines ländlichen Wahlkreises abzuhalten, stößt auf unüberwindliche praktische Schwierigkeiten. Mehrere parallele Versammlungen, i n denen zwar sämtliche Parteimitglieder, aber räumlich getrennt die Wahlbewerber zu wählen hätten, könnten nur auf der Grundlage zentraler Wahlvorschläge gewissermaßen als Stimmbezirke einheitliche Ergeb23 Vgl. dazu aus politologischer Sicht Sternberg er, Nicht alle Staatsgewalt geht v o m Volke aus, 1971, S. 121 ff.
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nisse für den ganzen Wahlkreis bzw. das ganze Bundesland erbringen. Daher schließen sich Nominierungsfreiheit und hundertprozentige Unmittelbarkeit der Bewerberwahl (durch alle wahlberechtigten Mitglieder der Partei) bis zu einem gewissen Grade aus; es ist oftmals unvermeidlich, daß die Parteimitglieder Delegierte wählen, die ihrerseits die Wahlbewerber aufstellen 24 . § 22 Abs. 1 BWG eröffnet deshalb die Möglichkeit, die Wahlbewerber durch eine Versammlung von Vertretern der wahlberechtigten Parteimitglieder zu wählen, die diese aus ihrer Mitte gewählt haben. Sowohl nach dem Wortlaut dieser Bestimmung wie nach der vorstehend angedeuteten Begründung für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Bewerberwahlen durch Vertreterversammlungen ist es indessen zweifelhaft, ob es zulässig ist, die Versammlung der Vertreter i m Wahlkreis ihrerseits nicht unmittelbar von den Mitgliedern, sondern von einer weiteren dazwischen geschalteten Delegiertenversammlung wählen zu lassen 25 . Soweit die Kandidatenaufstellung ausschließlich als Bestandteil der inneren Ordnung der Parteien angesehen w i r d — was sie zwar auch, aber nicht i n erster Linie ist — w i r d allerdings die Anwendbarkeit des Grundsatzes unmittelbarer Wahlen (Art. 38 Abs. 1, S. 1 GG) geleugnet, da er nicht Bestandteil der i n A r t . 21 Abs. 1, S. 3 GG erwähnten „demokratischen Grundsätze" sei. Dennoch w i r d hinzugefügt, die mittelbare Bewerberwahl dürfe nicht zu einer regelrechten „Filtrierung" (?) führen 2 6 . Demgegenüber ergibt sich aus der Natur der Bewerberwahl als essentiale der verfassungsrechtlichen M i t w i r k u n g der Parteien an der Wahl selbst, daß der Grundsatz unmittelbarer Wahl grundsätzlich anwendbar und seine Durchbrechung i n dem durch das Wesen der Bewerberwahl bestimmten unvermeidlichen Ausmaß zu halten ist. Diese Beschränkung auf höchstens eine Zwischenstufe für die Wahl von Wahlkreisbewerbern und allenfalls zwei für die Aufstellung der Landeslisten ist u m so wesentlicher als die „Filtrierung" dazu führt, daß die Parteimitglieder von Stufe zu Stufe Einfluß an die Parteioligarchie einbüßen. Oftmals, wenn nicht überwiegend, setzen sich die von 24
A u f den Ursprung indirekter Wahlen aus mangelnder Organisationsfähigkeit der Wählerschaft hat schon Smend, Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts (1911) hingewiesen, jetzt i n : Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze, 2. Aufl., 1968, S. 33; Vgl. auch Hans Peters, Z u r K a n d i datenaufstellung f ü r freie demokratische Wahlen, Festschrift für Hans Nawiasky, 1956, S. 341 ff. (350, 357). 25 So z.B. gem. §§ 12, 29, 15 CSU Satzung v o m 27.5.1972: Ortshauptversammlung w ä h l t Kreisvertreterversammlung, diese die „Delegiertenversammlung i m Bundeswahlkreis". 20 Seifert, BWG, S. 141.
Wahlrechtsgrundsätze bei der Aufstellung von Parteikandidaten
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den Parteimitgliedern gewählten Delegierten aus Funktionären der Partei zusammen 27 . Teilweise versuchen Parteisatzungen die Einflüsse der Vorstände zusätzlich dadurch zu stärken, daß sie ihnen und anderen Parteifunktionären i n den Delegiertenversammlungen eine Mitgliedschaft kraft Amtes zubilligen 2 8 . Dagegen bestehen allenfalls dann keine Bedenken, wenn ihre M i t w i r k u n g ausdrücklich auf eine beratende Funktion beschränkt bleibt 2 9 und die Stimmberechtigten geheim abstimmen. Daß § 9 Abs. 2 PartG nicht gewählten Mitgliedern einer Vertreterversammlung sogar ein (auf 1/5 der Gesamtstimmen begrenztes) Stimmrecht zubilligt, mag für Wahlen, die ausschließlich der inneren Parteiorganisation dienen, mit A r t . 21 Abs. 1, S. 3 GG vereinbar sein, für die Wahl von Wahlkandidaten ist sie jedoch unzulässig — auch wenn die Parteisatzung beide Wahlvorgänge gleichrangig und einheitlich behandelt. 3. Eines der wirkungsvollsten Instrumente der Parteiapparaturen zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen ist die offene Abstimmung. Umgekehrt sichert geheime Stimmabgabe weitgehend die Freiheit der Wahlentscheidung, weshalb noch die Weimarer Reichsverfassung (Art. 22) eine „freie" Wahl nicht ausdrücklich vorsah. Die Gültigkeit des Wahlgeheimnisses für Bewerberwahlen ist denn auch gleich zweimal positiv-rechtlich fixiert: i n § 22 B W G und § 17 PartG (hier zugleich m i t Wirkung für die Landtags wählen). Aus dem Wortlaut beider Bestimmungen w i r d geschlossen, daß die Wahlbewerber selbst zwar durch geheime Wahl zu bestellen seien, daß aber die Delegierten der Versammlung, die die Bewerber wählt, nicht geheim gewählt zu werden brauchten 30 . Auch diese Interpretation, die zwar den Wortlaut der Bestimmungen für sich hat, stützt sich auf die Auffassung, daß die Delegiertenwahl lediglich der inneren Ordnung der Partei, nicht aber dem Gesamtakt der Parlamentswahl zuzurechnen und daß gemäß A r t . 21 Abs. 1, S. 3 GG der Grundsatz der geheimen Wahl nicht anwendbar sei. Indessen sind sachlich begründete, aus der Natur der Wahl von Delegierten hergeleitete Argumente für diese Theorie nicht erkennbar. I m Gegenteil, die Delegierten, die die Wahlkandidaten (geheim) wählen, 27 Vgl. H. Kaack, Geschichte u n d S t r u k t u r des deutschen Parteiwesens, 1971, S. 597. 28 Vgl. § 15 CSU Satzung v o m 27. 5.1972, demzufolge die Kreisvertreterversammlung aus den Vertretern der Ortsverbände u n d dem Kreisvorstand besteht, der teilweise (s. § 16 CSU-Satzung) von der Kreis Vertreter ver Sammlung selbst gewählt w i r d u n d dessen M i t w i r k u n g bei der W a h l zur „Delegiertenversammlung des Bundeswahlkreises" (§ 29) nicht auf eine beratende F u n k t i o n beschränkt ist. 29 Vgl. Seifert, BWG, S. 141; Henke, Parteienrecht (Anm. 9), S. 148. 30 Seifert, BWG, S. 141.
21 Festschrift für Werner Weber
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sind oft selbst Parteifunktionäre und es besteht sogar die Gefahr, daß sie sich unter Hinweis auf die gesetzlich vorgesehene geheime Abstimmung der K r i t i k durch die Mitglieder entziehen werden 3 1 . Die Parteimitglieder dagegen, die die Delegierten (in offener Abstimmung) wählen, sind das Partei„volk", das gegenüber dem Übergewicht der Parteioligarchie durch geheime Stimmabgabe besonders schutzbedürftig ist. Übrigens sieht § 15 PartG für die Wahl von Vertretern für parteiinterne Vertreterversammlungen geheime Abstimmung vor. Wäre es ernsthaft zu rechtfertigen, alle „Vertreter" geheim wählen zu lassen, nur jene nicht, die ihrerseits i n geheimer Wahl die Parteikandidaten nominieren 32 ? 4. Die unter I. begründete unmittelbare, d. h. nicht durch Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG vermittelte und über diese parteienrechtliche Vorschrift der Verfassung hinausgehende Anwendbarkeit der Wahlrechtsgrundsätze des A r t . 38 Abs. 1 S. 1 GG auf die Wahl von Parteikandidaten für parlamentarische Wahlen hat somit zwei nicht unwichtige praktische Folgen. Erstens: Die Durchbrechung des Grundsatzes der unmittelbaren Wahl ist i n den aus der Natur der Kandidatenaufstellung folgenden Grenzen zu halten; allenfalls eine Delegation für die Aufstellung von Wahlkreisbewerbern und zwei Delegationen für die Aufstellung der Landesliste sind noch als zulässig anzusehen. Und zweitens: Sämtliche Wahlvorgänge, auch die Wahl der Vertreter i n der Delegiertenversammlung, sind geheim. Darüber hinaus lassen die vorerwähnten wenigen Beispiele bereits erkennen, daß eine verstärkte systematische und fortlaufende juristische Untersuchung aller Parteisatzungen und sonstigen internen Regeln (die ständig geändert werden) unter dem Gesichtspunkt der Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes geboten ist. Die Respektierung dieser Grundsätze bei der Wahl von Parteibewerbern um parlamentarische Mandate kann dazu beitragen, den Einfluß der Parteibürokratien auf die Kandidaturen und damit auf die späteren Abgeordneten des Bundestages i n gewissen Grenzen zu halten. Tendenzen u m ein parteiimperatives Mandat, das der Verfassung widerspricht, kann so bereits bei der Nominierung der Wahlbewerber entgegengewirkt werden. Ohnehin sind die Entwicklung der Gesetzgebung, insbesondere die staatliche Erstattung von Wahlkampfkosten an den Vorstand der Ge31
Vgl. Rabus, AöR 78, S. 169. Erfreulich deutlich: Vorstand der SPD, Kandidatenaufstellung f ü r die Bundestagswahl, o. J. (1972), S. 6 f. : „Sowohl zur Landesdelegiertenkonferenz als auch in der Landesdelegiertenkonferenz muß geheim gewählt w e r den. Auch die A b s t i m m u n g über die Reihenfolge der Kandidaten" (der L a n desliste) „ist geheim". 32
Wahlrechtsgrundsätze bei der Aufstellung von Parteikandidaten
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samtpartei 3 3 sowie allgemeine politische Tendenzen dem Einfluß der Parteizentralen auf die Wahlvorbereitung und damit das Wahlergebnis überwiegend förderlich gewesen. Dazu trug auch der (im überregionalen Fernsehen) zentral geführte Wahlkampf der Parteien bei 3 4 . Das Bundeswahlgesetz selbst sichert dem Landes-Parteivorstand ein suspensives, wenn auch nicht definitives, einmaliges Veto gegen die Nominierung eines Wahlkreisbewerbers (§ 22 Abs. 4 BWG). Zudem ist es der Landesvorstand, der Kreiswahlvorschläge und die Landesliste zu unterzeichnen und dem Wahlleiter einzureichen hat (§§ 21 Abs. 2 S. 1, 28 Abs. 1 S. 1 BWG) 3 5 . Das gesetzlich abgesicherte, praktisch erhebliche Gewicht der Parteiapparate w i r k t sich auf das Staatsleben um so bestimmender aus als die Verfassung außer der Parlamentswahl keine Form der unmittelbaren, d. h. nicht von den Parteiapparaturen kontrollierte Aktivierung des Volkswillens kennt 3 6 . I m konstitutionellen Staat galt die Wahl zur Volksvertretung als diejenige Stelle, an der die Gesellschaft auf den Staat einzuwirken vermochte 37 . I n der modernen Parteiendemokratie, i n der „die Wahlen zur Volksvertretung in Wirklichkeit Parteiwahlen sind" 3 8 , kommt einer anderen Stelle erhöhte Bedeutung zu, an der ein zum Parteibürger 3 9 gewordener Wahlberechtigter ohne Bindung an vorfabrizierte Wahlvorschläge nicht nur wie der Wähler das Recht zu optieren, sondern das Recht hat, vorzuschlagen und auszuwählen. Freilich ist zur Zeit nur etwa jeder dreißigste Aktivbürger i n dieser Lage. Staatliche Parteifinanzierung und Sperrklausel tragen dazu bei, daß neue Parteien mit Aussicht auf parlamentarisches Gewicht z. Zt. nicht gegründet werden können 4 0 . Der Club der politischen Parteien ist praktisch geschlossen. Aber die bestehenden Parteien sind weiterhin offen für neue Mitglieder. Es war ein weiter Weg vom Untertan zum Staatsbürger; er wurde geebnet auch durch die verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze. Heute ist derjenige Aktivbürger, der bereit ist den Weg zum Parteibürger einzuschlagen, bei der Ausübung seines Wahl-
33 §§ 18 ff. PartG; vgl. Seifert, A n m . zu § 19 PartG i n : Das deutsche B u n desrecht I A 24. 34 Vgl. Z u r Neugestaltung (Anm. 8), S. 14 f. 35 Vgl. dazu Nass, Wahlorgane u n d Wahlverfahren bei Bundestags- u n d Landtagswahlen, Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 28, S. 48 ff. 36 Vgl. Werner Weber, Die Verfassung der Bundesrepublik i n der Bewährung, 1957, S. 38. 37 Vgl. Smend (Anm. 25), S. 27. 38 BVerfGE 1, 226. 39 Die Prägung Werner Webers ist heute so charakteristisch wie 1949, s. Spannungen u n d K r ä f t e (Anm. 1), S. 22. 40 Vgl. die K r i t i k Forsthoffs, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 87 ff.
21*
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rechts unter einen zusätzlichen verfassungsrechtlichen Schutz gestellt. Die Erstreckung der verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze auf die Nominierung von Parteikandidaten für Bundestagswahlen, wie sie sich aus den Funktionen der politischen Parteien i m Verfassungsgefüge der Bundesrepublik ergibt, kann dazu beitragen, den vorherrschenden Einfluß der Parteiapparate gegenüber den Parteimitgliedern zu mindern und statt dessen den Parteibürgern stärkere Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Aufstellung von Wahlbewerbern ihrer Partei zu sichern.
Die Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen Von Andreas Sattler
A m 29. Mai 1973 ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vorschaltgesetz für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz vom 26. Oktober 19711 erlassen worden 2 . A m 20. Dezember 1972 ist das U r teil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs zum Vorschaltgesetz für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz ergangen 3 . Auf den ersten Blick scheinen die beiden angeführten Urteile i m wesentlichen nur unter dem Gesichtspunkt in einer sehr engen Beziehung zueinander zu stehen, daß sie Vorschriften ein und desselben Gesetzes für verfassungswidrig erklären. Von diesem Umstand abgesehen scheinen sie sich in ihrem Inhalt jedoch nicht allzu nahe miteinander zu berühren. I n dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. 5.1973 sind die Regelung über die Zusammensetzung der Hochschullehrergruppe und die Paritätenregelungen des Vorschaltgesetzes für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz auf ihre Vereinbarkeit m i t A r t . 5 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit A r t . 3 Abs. 1 GG geprüft worden. I n dem Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 20.12.1972, an dessen Erlaß Werner Weber als Mitglied des Gerichtshofs mitgewirkt hat, sind die i n § 7 Abs. 2 und 5 VorschaltG enthaltenen Ermächtigungen an den Niedersächsischen Kultusminister zur Neuregelung der Organisation der Seminare, Institute, K l i n i k e n und zentralen Einrichtungen sowie zur Neubekanntmachung der Hochschulverfassungen unter dem 1 Nds. GVB1. S. 317. — Bei der A n f ü h r u n g einzelner Bestimmungen des Vorschaltgesetzes f ü r ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz w i r d die Abkürzung VorschaltG verwendet. 2 BVerfGE 35, 79 = BGBl. I S. 695 (nur Entscheidungssatz) = Nds. M i n B l . 1973, S. 961 (nur Leitsätze) = BayVbl. 1973, S. 352 f. (nur Leitsätze) = DÖV 1973, S. 560 ff. = DVB1. 1973, S. 536 ff. = JZ 1973, S. 456 ff. = JuS 1973, S. 641 ff. = M D R 1973, S. 640 ff. = N J W 1973, S. 1176 ff. 3 OVGE 28, 500 = Nds. GVB1. 1973, S. 8 (nur Entscheidungsformel) = Nds. M i n B l . 1973, S. 93 ff. = DÖV 1973, S. 429 (nur Entscheidungsformel) = DVB1. 1973, S. 267 ff.
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Aspekt ihrer Vereinbarkeit m i t der dem Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG entsprechenden Bestimmung des A r t . 34 Abs. 1 Satz 2 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung gewürdigt worden. Selbst wenn i n dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. 5. 1973 und i n dem Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 20.12.1972 jeweils ganz andere Normen an Hand verschiedener Maßstäbe auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft worden sind, gibt es jedoch bei genauerer Betrachtung zwischen diesen beiden Urteilen auch außer der Tatsache, daß sie dasselbe Gesetz betreffen, noch einen sehr engen sachlichen Berührungspunkt. Dieser Berührungspunkt besteht darin, daß i n beiden Urteilen i n einer sehr deutlichen Weise die Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen bejaht worden ist. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts enthält die Feststellung, daß der Gesetzgeber zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen verpflichtet ist, i m Rahmen der Ausführungen zu der Frage, welche Bedeutung A r t . 5 Abs. 3 Satz 1 GG für die organisatorische Ausgestaltung der Hochschulen zukommt. I m Zuge der Darlegungen, i n denen die Freiheit des Gesetzgebers zur Entwicklung neuer Modelle der Hochschulselbstverwaltung grundsätzlich anerkannt wird, heißt es i n dem Urteil wörtlich 3 a : „ K r i t e r i u m f ü r eine verfassungsgemäße Hochschulorganisation k a n n . . . n u r sein, ob m i t i h r ,freie' Wissenschaft möglich ist u n d ungefährdet betrieben werden kann. Wenn dies der F a l l ist, stehen die Einzelregelungen der akademischen Selbstverwaltung zur Disposition des Gesetzgebers, der nicht n u r das Recht, sondern auch die Pflicht hat, den Wissenschaftsbetrieb an den Hochschulen den Zeitbedürfnissen gemäß zu gestalten."
I n dem Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs ist die Feststellung, daß der Gesetzgeber die Pflicht zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen hat, i m Zusammenhang m i t der Nichtigerklärung der durch den Gesetzgeber i n keiner Weise nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmten Ermächtigung an den Kultusminister getroffen worden, die allgemeine Organisation der Seminare, Institute, K l i n i k e n und zentralen Einrichtungen neu zu regeln 4 . I n der 3a BVerfGE 35, 79 (117). 4 Die v o m Niedersächsischen Staatsgerichtshof für nichtig erklärten Bestimmungen des § 7 Abs. 2 VorschaltG haben wie folgt gelautet: „Ferner sind Bestimmungen der Vorläufigen Hochschulverfassungen insoweit aufgehoben, als danach Lehrstuhlinhaber, Seminar-, Instituts- u n d K l i n i k d i r e k toren sowie Leiter zentraler Einrichtungen die alleinige Verantwortung f ü r die V e r w a l t u n g dieser Einrichtungen u n d das alleinige Vorschlagsrecht für die Einstellung, Entlassung u n d Abordnung von Bediensteten haben, die diesen Einrichtungen zugewiesen sind. Die allgemeine Organisation der
Die Notwendigkeit gesetzlicher Regelung der Hochschulorganisation A b s i c h t , d i e U n z u l ä s s i g k e i t der E r t e i l u n g e i n e r gesetzlichen
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Blanko-
e r m ä c h t i g u n g gerade auch z u r R e g e l u n g eines Gegenstandes w i e d e r V e r f a s s u n g der S e m i n a r e , I n s t i t u t e , K l i n i k e n u n d z e n t r a l e n
Einrich-
tungen hervorzuheben, w i r d i n dem U r t e i l ausgeführt 4*: „Dabei geht es bei der Verfassung der Institute, K l i n i k e n usf. u m einen selbständigen u n d wesentlichen T e i l der Hochschulverfassung u n d Hochschulpolitik, i n dem viele Grundsatz- u n d Einzelfragen lebhaft umstritten sind und zu ihrer Lösung der Wegweisung aus der politischen A u t o r i t ä t des Gesetzgebers selbst bedürfen. Diese Fragen haben überdies auch eine w e i t ausgreifende verwaltungs- u n d hochschulrechtliche Problematik. Deren Tragweite ist etwa daran abzulesen, welche Mühe das hessische Universitätsgesetz v o m 12. 5.1970 (GVB1. Hessen S. 324) i n den §§ 33 ff. u n d das Hochschulgesetz von Baden-Württemberg i n seinem durch Änderungsgesetz v o m 11. 4.1972 (GBl. Baden-Württ. S. 231) eingefügten § 6 a aufwenden mußten, u m allein den Universitätskliniken die für erforderlich gehaltenen neue Ordnung zu geben." D i e Tatsache, daß s o w o h l das B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t als auch der Niedersächsische Staatsgerichtshof i n i h r e n U r t e i l e n z u m V o r s c h a l t g e setz f ü r e i n Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz eine P f l i c h t des Gesetzgebers z u m E r l a ß v o n V o r s c h r i f t e n ü b e r d i e O r g a n i s a t i o n
der
Hochschulen b e j a h t haben, v e r d i e n t schon aus d e m G r u n d e besondere B e a c h t u n g , daß d i e L a n d t a g e d e r e i n z e l n e n L ä n d e r i h r e r P f l i c h t
zum
E r l a ß organisatorischer R e g e l u n g e n f ü r die Hochschulen, s o w e i t sie sie überhaupt
als solche e r k a n n t
haben, b e k a n n t l i c h n u r
sehr
zögernd
n a c h g e k o m m e n s i n d 5 . So s i n d erst seit 1966 Gesetze erlassen w o r d e n , d i e d i e O r g a n i s a t i o n v o n Hochschulen i n a l l g e m e i n e r F o r m regeln. B i s d a h i n ist es n u r z u m E r l a ß v o n Gesetzen g e k o m m e n , d e r e n G e g e n s t a n d a l l e i n die R e g e l u n g d e r O r g a n i s a t i o n e i n e r b e s t i m m t e n e i n z e l n e n H o c h schule g e b i l d e t h a t . N o c h h e u t e i s t der Prozeß des Erlasses v o n H o c h schulgesetzen n i c h t i n a l l e n B u n d e s l ä n d e r n abgeschlossen 6 .
Seminare, Institute, K l i n i k e n u n d zentralen Einrichtungen, das Vorschlagsverfahren bei der Einstellung, Entlassung u n d Abordnung der Bediensteten u n d die Stellung von Vorgesetzten werden v o m Kultusminister geregelt." 4a OVGE 28, 500 (508). 5 Vgl. zur Entwicklung der Hochschulgesetzgebung nach 1945 i m einzelnen E. Menzel, Hochschulgesetze u n d Hochschulverfassungen, JZ 1964, S. 166 ff., 214ff.; H. Gerber, Das Recht der wissenschaftlichen Hochschulen i n der jüngsten Rechtsentwicklung, Bd. 1 u n d 2, 1965; Th. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 310 ff. — Der Stand, den die Hochschulgesetzgebung i n der Bundesrepublik i n jüngerer Zeit erreicht hat, ergibt sich aus: A. v. Campenhausen / P. Lerche, Deutsches Schulrecht, Sammlung des Schulu n d Hochschulrechts des Bundes u n d der Länder, Loseblattausgabe, Bd. 1 u n d 2, Stand 1. A p r i l 1973. 6 Entgegen ihren ursprünglichen Absichten hat die Niedersächsische L a n desregierung darauf verzichtet, dem Niedersächsischen Landtag noch vor der
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Ein weiterer Grund dafür, der übereinstimmenden Bejahung einer Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Bestimmungen über die Organisation der Hochschulen besondere Beachtung zu widmen, ist das fast völlige Fehlen eindeutiger Stellungnahmen zugunsten der Notwendigkeit des Erlasses gesetzlicher Regelungen über die Organisation der Hochschulen in der Literatur. Soweit i n der Literatur das Problem der Zuständigkeit für den Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen erörtert worden ist, ist es lediglich i m Hinblick darauf zu einer weitgehend einheitlichen Meinungsbildung gekommen, inwieweit beim Erlaß von organisatorischen Vorschriften nach dem Ende des Dritten Reiches wieder an den vor 1933 geltenden Rechtszustand angeknüpft werden konnte. Als erster oder auf jeden Fall als einer der ersten hat Werner Weber i n seiner 1952 erschienenen und 1965 neu aufgelegten Schrift über „Die Rechtsstellung des deutschen Hochschullehrers" die Auffassung vertreten, daß i m Lichte des Grundgesetzes, insbesondere seiner A r t i k e l 129 Abs. 3 und 80 Abs. 1, die Landesregierungen und Ressortminister nicht mehr als berechtigt angesehen werden könnten, gestützt „auf eine sehr fragwürdige Nachfolge i n alte monarchische Prärogative" i m Verordnungswege Universitätssatzungen zu erlassen 7. I n dieser Auffassung sind i h m die meisten Autoren und vor allem auch die Praxis gefolgt 8 . Zu keiner einheitlichen oder auch nur einigermaßen klaren Meinungsbildung ist es demgegenüber i m Hinblick auf die Frage gekommen, inwieweit der Gesetzgeber selbst zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen befugt oder sogar verpflichtet ist und inwieweit die Hochschulen kraft ihrer Satzungsautonomie ihre Organisation selbst regeln können. So hat Hans H. Klein unter Beruauf den 9. J u n i 1974 angesetzten N e u w a h l den E n t w u r f für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz vorzulegen. Vgl. dazu die entsprechende M i t teilung von Kultusminister von Oertzen, Niedersächsischer Landtag, Siebente Wahlperiode, 91. Sitzg., 20.12. 73, Sp. 9111 ff., 9124 f. 7 S. 40 f. — Vgl. auch W. Weber, Neue Aspekte der Freiheit von Forschung u n d Lehre, Festschrift f ü r W i l h e l m Felgentraeger, 1969, S. 225 ff., 231. 8 Gerber, Das Recht der wissenschaftlichen Hochschulen i n der jüngsten Rechtsentwicklung, Bd. 1, S. 20 f.; Bd. 2, S. 27 f. (Anm. 45 bis 49 zu Bd. 1, S. 20 f.); Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 316 ff.; W. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, S. 84 f., jeweils m i t weiteren Nachweisen. — Speziell zur Frage der Zuständigkeit zum Erlaß von Hochschulsatzungen i n Niedersachsen (diese Frage hat insoweit A k t u a l i t ä t behalten, als das Vorschaltgesetz für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz i n der Fassung v o m 12.11.1973, Nds. GVB1. S. 429, i n § 7 Abs. 4 noch i n bestimmtem Umfang Satzungsänderungen zuläßt) vgl. H.-U. Evers, Wer gibt die Hochschulverfassung?, 1967, sowie die Ausführungen i n dem U r t e i l des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs v o m 20. 12.1972, OVGE 28, 500 (504 f).
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fung auf die institutionelle Garantie des Art. 5 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber das Recht abgesprochen, ohne Zustimmung der Universitäten Vorschriften über deren Organisation zu erlassen, die sich nicht an das überkommene B i l d der Universität halten 9 . Dagegen hat Arnold Röttgen dem Gesetzgeber die Befugnis zu einer näheren Ausgestaltung der Institution Universität zuerkannt, wobei er es jedoch ausdrücklich offengelassen hat, ob der Erlaß von Hochschulgesetzen geboten oder lediglich zugelassen ist 1 0 . Hans Peters hat sich zwar klar für eine Kompetenz des Gesetzgebers zur Regelung der Hochschulorganisation ausgesprochen, gleichzeitig jedoch vor den Gefahren einer weniger an sachlichen als an politischen Gesichtspunkten orientierten Gesetzgebung gewarnt 1 1 . Ganz vorbehaltlos hat sich, soweit zu sehen ist, nur Uwe Leonardy für die rechtliche Notwendigkeit des Erlasses eines Hochschulgesetzes ausgesprochen, wobei er sich freilich vornehmlich auf die besondere Rechtslage i n Schleswig-Holstein bezogen hat 1 2 . Angesichts des nur sehr zögernden Erlasses von Hochschulgesetzen durch die Länder und des fast völligen Fehlens eindeutiger Stellungnahmen zugunsten der Notwendigkeit des Erlasses hochschulorganisatorischer Bestimmungen durch den Gesetzgeber i n der Literatur erscheint eine nähere Auseinandersetzung mit der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom Bestehen einer Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Bestimmungen über die Organisation der Hochschulen i n doppelter Hinsicht geboten. Einmal ist zu fragen, inwieweit es tatsächlich stichhaltige Gründe dafür gibt, den Gesetzgeber zum Erlaß hochschulorganisatorischer Regelungen für verpflichtet zu halten. Zum anderen sind für den Fall, daß es in der Tat überzeugende Gründe dafür gibt, mit dem Bundes9 Gedanken über neuere Entwicklungen i m Hochschulrecht, AöR Bd. 90 (1965), S. 129 ff., 137 ff., 143 ff., 152 f. 10 Das Grundrecht der deutschen Universität, 1959, S. 30 ff., 33 ff. 11 Rechtliche Grenzen u n d Möglichkeiten einer Hochschulreform, Festschrift Hermann Jahrreiss, 1964, S. 319 ff., 325 ff., 329 f. 12 Die Regelungskompetenzen zum Hochschulverfassungsrecht i n Schleswig-Holstein, Schleswig-Holsteinische Anzeigen, Teil A, 1967, S. 189 ff. — A n den Ausführungen Leonardys hat H.-TJ. Evers K r i t i k geäußert u n d Leonardy hat seine Ansicht gegen diese K r i t i k verteidigt, Schleswig-Holsteinische A n zeigen, T e i l A, 1968, S. 6 ff., 60 ff. — Erwähnung verdient i m übrigen i m Rahmen des — notwendigerweise unvollständigen — Überblicks über die bisherigen Stellungnahmen zur Frage der Notwendigkeit des Erlasses hochschulorganisatorischer Bestimmungen durch den Gesetzgeber noch die Äußerung Oppermanns, Kulturverwaltungsrecht, S. 312 f., daß der Überblick über die Hochschulgesetzgebung der Länder w e i t h i n das B i l d von A d - h o c Regelungen biete, die ζ. T. geradezu als Maßnahmegesetze angesprochen werden könnten, u n d daß demgemäß auch eine weitergehende systematisierende Fragestellung, etwa nach der Notwendigkeit der Gesetzesform, k a u m zu fruchtbaren Ergebnissen führe.
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Verfassungsgericht und dem Niedersächsischen Staatsgerichtshof eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen für gegeben anzusehen, zumindest auch noch einige Erwägungen i m Hinblick auf den Umfang dieser Pflicht anzustellen. Bei der Prüfung der Frage nach der sachlichen Begründetheit der Ansicht von dem Bestehen einer Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen ist davon auszugehen, daß es allgemein gesehen eine ganze Reihe von Gesichtspunkten gibt, unter denen es sich als notwendig erweisen kann, daß Bestimmungen organisatorischer A r t vom Gesetzgeber getroffen werden 1 3 . So kann der Erlaß organisatorischer Vorschriften durch den Gesetzgeber insbesondere deshalb erforderlich sein, weil dadurch die Verteilung der Verantwortlichkeit für die Erfüllung der staatlichen Aufgaben, wie sie in der Verfassung niedergelegt ist, oder aber die Grundrechte von Bürgern berührt werden. Daneben kann die Notwendigkeit des Erlasses organisatorischer Bestimmungen durch den Gesetzgeber auch daraus folgen, daß i n derartigen Vorschriften auf Grund bestimmter sachlicher Gegebenheiten zwangsläufig auch einzelne dienst-, haftungsund haushaltsrechtliche Regelungen getroffen werden, die ihrerseits nur vom Gesetzgeber verabschiedet werden können. Aus der Tatsache, daß es eine ganze Reihe von Gesichtspunkten gibt, unter denen sich der Erlaß einer organisatorischen Regelung durch den Gesetzgeber als notwendig erweisen kann, ergibt sich, daß die Frage nach der Begründetheit der Auffassung von dem Bestehen einer Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften, wenn man sie wirklich i n aller Vollständigkeit untersuchen wollte, auch von einer ganzen Reihe verschiedener Seiten her behandelt werden müßte. I n der Tat müßte man nämlich i m Hinblick auf jeden Gesichtspunkt, unter dem überhaupt ein Gesetzesvorbehalt für Organisationsvorschriften bestehen kann, Erwägungen darüber anstellen, ob er auch für den Erlaß von Vorschriften über die Hochschulorganisation von Bedeutung ist. 13
Siehe allgemein zum Gesetzesvorbehalt i m Hinblick auf den Erlaß von Vorschriften organisatorischer Natur E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt i m Bereich der Regierung, 1964, S. 89 ff.; H. J. Wolff , Verwaltungsrecht I I , 3. Aufl., § 78 I I . — Speziell zum Gesetzesvorbehalt i m Hinblick auf die Errichtung öffentlich-rechtlicher Körperschaften vgl. E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 10. Aufl., S. 492 f.; W. Weber, Die K ö r p e r schaften, Anstalten u n d Stiftungen des öffentlichen Rechts, 2. Aufl., 1943, S. 27 ff.; ders., A r t i k e l „Juristische Personen des öffentlichen Rechts", HdSW Bd. 5, 1956, S. 449 ff., 451; ders., A r t i k e l „Körperschaften des öffentlichen Rechts", H d S W Bd. 6, 1959, S. 38 ff., 40 f.
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I n diesem Sinne hat auch der Niedersächsische Staatsgerichtshof i n seinem Urteil vom 20.12.1972 ausdrücklich darauf hingewiesen, daß als Grund dafür, der dem Kultusminister durch § 7 Abs. 2 Satz 2 VorschaltG erteilten Ermächtigung zur Regelung der allgemeinen Organisation der Seminare, Institute, K l i n i k e n und zentralen Einrichtungen den Charakter einer Ermächtigung zum Erlaß einer Rechtsverordnung zuzusprechen, nicht nur die Tatsache in Betracht kommt, daß der Gesetzgeber gleichzeitig damit, daß er dem Kultusminister die angeführte Ermächtigung erteilt hat, einen wesentlichen Teil der vorher geltenden Vorschriften über die Organisation der Seminare, Institute usw. aufgehoben hat 1 4 . Zwar hat der Gerichtshof allein schon diese Tatsache als ausreichend betrachtet, u m der Ermächtigung an den Kultusminister zur Regelung der allgemeinen Organisation der Seminare, Institute, K l i n i k e n und zentralen Einrichtungen den Charakter einer Verordnungsermächtigung zuzuerkennen. Da nämlich der Gesetzgeber i n dem Umfang, i n dem er die bis dahin geltenden Vorschriften über die Organisation der Seminare, Institute usw. aufgehoben habe, die Materie Hochschulverfassung i n seine eigene Kompetenz übernommen habe, habe er diese Materie insoweit auch nur durch eine Verordnungsermächtigung gemäß A r t . 34 L V wieder aus seiner Kompetenz entlassen können. Der Gerichtshof hat es jedoch bei der Feststellung, daß der Gesetzgeber die Materie Hochschulverfassung, soweit es sich u m die Organisation der Seminare, Institute usw. handelt, m i t der Aufhebung der bis dahin geltenden diesbezüglichen Vorschriften i n seine Kompetenz übernommen habe und sie demgemäß insoweit auch nur durch eine Verordnungsermächtigung wieder aus seiner Kompetenz habe entlassen können, nicht bewenden lassen. Vielmehr hat er dieser Feststellung noch die folgende wichtige Klarstellung hinzugefügt 1421 : „ I n diesem Zusammenhang würden sich noch andere Erwägungen anstellen lassen: So wäre etwa zu berücksichtigen, daß die Satzungen, das heißt die Verfassungen, der sieben niedersächsischen Hochschulen diese selbst als »Einrichtung des Landes u n d zugleich als Körperschaft des öffentlichen Rechts' qualifizieren, körperschaftliche Verfassungen grundsätzlich aber Rechtssatzcharakter haben. Ferner wäre die Frage aufzuwerfen, ob sich, von den Bindungen durch bestehende Berufungsvereinbarungen abgesehen, Regelungen i m Sinne des § 7 Abs. 2 Satz 2 VorschaltG treffen lassen, die nicht zwangsläufig den dienstrechtlichen Status der beteiligten Amtsträger berühren müssen. Daß sie die grundrechtliche Freiheit des Forschens u n d Lehrens mindestens determinierend und abgrenzend i n Mitleidenschaft ziehen, ist schwer zu übersehen. Die Neubestimmung haushaltsrechtlicher u n d haftungsrechtlicher Verantwortlichkeiten läßt sich ebenfalls k a u m aussparen. 14 OVGE 28, 500 (504 f.). i4a OVGE 28, 500 (505 f.).
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A u f der anderen Seite ist nicht zu verkennen, daß die allgemeine Fassung des § 7 Abs. 2 Satz 2 VorschaltG auch Anordnungen deckt, die der K u l t u s minister ohne besondere gesetzliche Ermächtigung k r a f t seiner internen Behördengewalt treffen könnte."
Selbst wenn die Frage nach der Begründetheit der Auffassung von dem Bestehen einer Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften, um wirklich vollständig beantwortet werden zu können, unter vielen verschiedenen Gesichtspunkten erörtert werden muß, liegt es jedoch i n Anbetracht der fortdauernden Auseinandersetzungen u m die innere Ordnung der Hochschulen sehr nahe, sie vor allem unter dem Blickwinkel des Einflusses der Vorschriften über die Hochschulorganisation auf die Ausübung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit zu behandeln. Daher sollen auch die folgenden Ausführungen ganz auf die Auseinandersetzung m i t dem Teilproblem beschränkt bleiben, inwieweit sich die Auffassung von dem Bestehen einer Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß hochschulorganisatorischer Bestimmungen speziell m i t dem Einfluß derartiger Bestimmungen auf die Ausübung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG begründen läßt. Als Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit diesem Teilproblem erscheint kaum etwas so gut geeignet wie eine kurze Rückbesinnung auf den Inhalt des Facharzt-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Mai 197215. Beim Erlaß des genannten Beschlusses hatte sich das Bundesverfassungsgericht insofern zu einer ganz ähnlichen Frage zu äußern, als es darüber zu befinden hatte, ob der Gesetzgeber die Befugnis zu einer berufsregelnden Rechtsetzung v o l l auf Berufsverbände des öffentlichen Rechts übertragen kann oder ob er sie auf jeden Fall i n bestimmtem Umfang selbst ausüben muß 1 6 . Das Gericht hat diese Frage dahingehend entschieden, daß die Übertragung der Befugnis zu einer berufsregelnden Rechtsetzung auf Berufsverbände des öffentlichen Rechts, wenn sie auch nicht unmittelbar der Beschränkung des Art. 80 Abs. 1 GG unterliegt, doch nur i n bestimmten Grenzen zulässig ist. 15 BVerfGE 33, 125. — Vgl. dazu Ch. Starck, Regelungskompetenzen i m Bereich des A r t . 12 Abs. 1 GG u n d ärztliches Berufsrecht, Bemerkungen zum Facharzt-Beschluß des BVerfG, NJW 1972, S. 1489 ff. 16 Vgl. zum Stand der Auseinandersetzung u m die Frage, inwieweit die Regelung der Berufsausübung gemäß A r t . 12 Abs. 1 Satz 2 GG n u r durch förmliches Gesetz oder auch durch andere Rechtsvorschriften erfolgen kann, vor dem Facharzt-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts Ch. Starck, A u t o nomie u n d Grundrechte, Zur Regelungsbefugnis öffentlich-rechtlicher A u t o nomieträger i m Grundrechtsbereich, AöR Bd. 92 (1967), S. 449 ff., 464 ff.; ders., Grundgesetz und ärztliche Berufsordnungen, 1969, S. 15 ff., 44 f., 46 f.
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Nach der Auffassung, die das Bundesverfassungsgericht i m Facharzt-Beschluß vertreten hat, folgt sowohl aus dem Rechtsstaats- als auch aus dem Demokratie-Prinzip der Grundsatz, daß sich der Gesetzgeber auch i m Rahmen einer an sich zulässigen Autonomiegewährung seiner Rechtsetzungsbefugnis nicht völlig entäußern darf 1 7 . Dieser Grundsatz gelte i n besonderem Maße, wenn der A k t der Autonomieverleihung dem autonomen Verband nicht nur allgemein das Recht zu eigenverantwortlicher Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben und zum Erlaß der erforderlichen Organisationsnormen einräume, sondern i h n zugleich zu Eingriffen i n den Grundrechtsbereich ermächtige. Der verstärkten Geltungskraft der Grundrechte entspreche die besondere Bedeutung aller Akte staatlicher Gewaltausübung, welche die V e r w i r k lichung und Begrenzung von Grundrechten zum Gegenstand haben. Das Grundrecht der Berufsfreiheit i m besonderen stehe i n engem Zusammenhang mit der Entfaltung der Persönlichkeit, deren Freiheit und Würde nach der Ordnung des Grundgesetzes der oberste Rechtswert sei. Daher könne auch der demokratische Gesetzgeber die Entscheidung darüber, wie weit dieses Grundrecht gegebenenfalls m i t Rücksicht auf überwiegende Gemeinschaftsinteressen eingeschränkt werden muß, nicht beliebig aus der Hand geben, weil i n einem Staatswesen, i n dem das Volk die Staatsgewalt am unmittelbarsten durch das von ihm gewählte Parlament ausübe, vor allem dieses Parlament dazu berufen sei, i m öffentlichen Willensbildungsprozeß unter Abwägung der verschiedenen, unter Umständen widerstreitenden Interessen über die von der Verfassung offengelassenen Fragen des Zusammenlebens zu entscheiden. Obwohl das Bundesverfassungsgericht i m Facharzt-Beschluß lediglich zu der Frage Stellung genommen hat, inwieweit die Übertragung der Befugnis zu einer berufsregelnden Rechtsetzung auf Berufsverbände des öffentlichen Rechts zulässig ist, kommt seinen Ausführungen i n diesem Beschluß doch eine über die Entscheidung dieser Frage hinausreichende Bedeutung zu 1 8 . Da nämlich die Argumente, die das Bundesverfassungsgericht i m Facharzt-Beschluß verwendet hat, nur zu einem sehr geringen Teil speziell auf den Inhalt der Grundrechtsgewährleistung des A r t . 12 Abs. 1 GG bezogen sind, müssen sie auch in den meisten anderen Fällen eingreifen, i n denen die Übertragung der Befugnis zu einer grundrechtseinschränkenden Rechtsetzung i n Be17
BVerfGE 33, 125 (155 ff.). Vgl. dazu Starck, N J W 1972, S. 1489 f. — Das Bundesverfassungsgericht hat i n dem n u r kurze Zeit später erlassenen numerus clausus-Urteil v o m 18. J u l i 1972 mehrfach an die Ausführungen i m Facharzt-Beschluß angeknüpft, BVerfGE 33, 303 (Leitsatz 4) (336 f., 340 ff., 345 ff.). 18
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tracht kommt. Infolgedessen muß man dann, wenn man sich die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts i m Facharzt-Beschluß voll zu eigen macht, ungeachtet des Umstandes, daß das Gericht i n diesem Beschluß nicht allgemein, sondern nur i m Hinblick auf einen bestimmten Fall über den zulässigen Umfang der Verleihung autonomer Satzungsgewalt zu entscheiden gehabt hat, notwendigerweise zu dem Schluß kommen, daß die Übertragung der Befugnis zum Erlaß grundrechtsbeschränkender Vorschriften unabhängig von A r t . 80 Abs. 1 GG regelmäßig nur in einem begrenzten Ausmaß zulässig ist. Angesichts der Tatsache, daß die Argumente des Bundesverfassungsgerichts i m Facharzt-Beschluß zu einer so weittragenden Folgerung i m Hinblick auf die Zulässigkeit der Übertragung der Befugnis zu einer grundrechtseinschränkenden Rechtsetzung nötigen, liegt der Gedanke zumindest nicht ganz fern, daß sie vielleicht auch i n mehr oder weniger großem Umfang zur Begründung der Ansicht dienen können, daß der Gesetzgeber selbst eine Pflicht zum Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften hat. Dabei sprechen allerdings gegen die Möglichkeit, die i m Facharzt-Beschluß verwandten Argumente auch zur Stützung der Auffassung von dem Bestehen einer Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß hochschulorganisatorischer Bestimmungen heranzuziehen, zunächst sehr stark sowohl der besondere Charakter dieser A r t von Bestimmungen als auch die Ausgestaltung der Garantie der Wissenschaftsfreiheit in A r t . 5 Abs. 3 GG. Der besondere Charakter der Bestimmungen über die Organisation der Hochschulen besteht darin, daß sie selbst nur regeln, von wem und nach welchem Verfahren Beschlüsse gefaßt werden können, die für den Inhalt der Tätigkeit der Hochschulangehörigen von konkreter Bedeutung sind. Dagegen treffen diese Vorschriften als solche keine Anordnungen, die den Inhalt der Tätigkeit der Hochschulangehörigen konkret berühren 1 9 . Die Gewährleistung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit i n Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zeichnet sich dadurch aus, daß sie keinerlei Vorbehalt enthält. Wie das Bundesverfassungsgericht i n seinem Urteil vom 29. Mai 1973 festgestellt hat, w i r d durch A r t . 5 Abs. 3 Satz 1 GG die Freiheit wissenschaftlicher Betätigung i n dem Sinne vorbehaltlos geschützt, daß diese Bestimmung jedem Wissenschaftler einen Freiheitsraum gewährleistet, i n dem „absolute Freiheit vor jeder Ingerenz öffentlicher Gewalt" herrscht 20 . 19
Vgl. dazu die weiter unten wörtlich wiedergegebenen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 35, 79 (120 f.). 20 BVerfGE 35, 79 (Leitsatz 1) (112 ff.).
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Daraus, daß die Vorschriften über die Organisation der Hochschulen als solche keine Anordnungen treffen, die den Inhalt der Tätigkeit der Hochschulangehörigen konkret berühren, und daß die Wissenschaftsfreiheit durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos geschützt ist, folgt ohne weiteres, daß die i m Facharzt-Beschluß verwandten Argumente gegen die Zulässigkeit einer zu weitgehenden Übertragung der Befugnis zu einer grundrechtseinschränkenden Rechtsetzung nicht i n derselben Weise auch i n bezug auf den Erlaß hochschulorganisatorischer Bestimmungen Anwendung finden können. Wenn die Vorschriften über die Organisation der Hochschulen als solche den Inhalt der Tätigkeit der Hochschulangehörigen nicht konkret berühren und die Wissenschaftsfreiheit vorbehaltlos geschützt ist, kann man auch eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß derartiger Vorschriften nicht damit begründen, daß der Gesetzgeber die Entscheidung darüber, wie weit das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit mit Rücksicht auf übergeordnete Gemeinschaftsinteressen eingeschränkt werden muß, nicht beliebig aus der Hand geben dürfe, weil er i n erster Linie zur Entscheidung über die von der Verfassung offengelassenen Fragen des Zusammenlebens berufen sei. Die Tatsache, daß angesichts des besonderen Charakters der hochschulorganisatorischen Vorschriften und des vorbehaltlosen Schutzes der Wissenschaftsfreiheit durch A r t . 5 Abs. 3 Satz 1 GG die i m Facharzt-Beschluß verwendeten Argumente gegen die Zulässigkeit einer zu weitgehenden Übertragung der Befugnis zu einer grundrechtseinschränkenden Rechtsetzung nicht i n derselben Weise auch i n bezug auf den Erlaß hochschulorganisatorischer Bestimmungen angewendet werden können, braucht jedoch noch nicht zu bedeuten, daß diese Argumente i n bezug auf den Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften überhaupt keine Anwendung finden können. Vielmehr bleibt ja dann, wenn es ausgeschlossen ist, die Argumente des Facharzt-Beschlusses i n derselben Weise anzuwenden, immer noch die Möglichkeit bestehen, daß diese Argumente zumindest i n abgewandelter Form auch i n bezug auf den Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften Anwendung finden können. Für diese Möglichkeit könnte sprechen, daß die Vorschriften über die Organisation der Hochschulen, wenn sie auch als solche keine Anordnungen treffen, die den Inhalt der Tätigkeit der Hochschulangehörigen konkret berühren, doch die Grundlage für den Erlaß von Regelungen und Beschlüssen bilden, die ihrerseits für die Ausübung von Forschung und Lehre von ganz konkreter Bedeutung sind. Durch die Bestimmungen über die Hochschulorganisation w i r d den Hochschulorganen regelmäßig eine große Zahl von Zuständigkeiten i m Hinblick auf die Gestaltung des Lehr- und Forschungsbetriebs an den
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Hochschulen übertragen. So sind die Hochschulorgane auf Grund der Vorschriften über die Hochschulorganisation — mit gewissen Abweichungen von Hochschule zu Hochschule und von Fach zu Fach — regelmäßig vor allem für folgendes zuständig 21 : den Erlaß von Promotionsordnungen, Diplomprüfungsordnungen und anderen Prüfungsordnungen, die Aufstellung von Studienplänen, die Sicherstellung eines vollständigen Lehrangebots, die Koordinierung der wissenschaftlichen Vorhaben und Veranstaltungen, die M i t w i r k u n g bei der Errichtung, Zusammenlegung und Auflösung von Instituten und Seminaren, die M i t wirkung bei der Errichtung, Umwandlung und Aufhebung von Lehrstühlen, die M i t w i r k u n g bei der Verteilung von Lehr- und Forschungsmitteln, die Erstellung von Berufungsvorschlägen. I n jedem Falle, i n dem die Hochschulorgane von einer der ihnen i m Hinblick auf die Gestaltung des Lehr- und Forschungsbetriebs übertragenen Zuständigkeiten Gebrauch machen, wirken sich ihre Beschlüsse ganz konkret auf die Ausübung der Lehr- oder Forschungstätigkeit aus. So w i r d etwa mit der Aufstellung einer Prüfungsordnung für ein bestimmtes Fach gleichzeitig darüber entschieden, welche Lehrveranstaltungen i n dem betreffenden Fach i n Zukunft laufend durchzuführen sind, da ja diejenigen Lehrveranstaltungen, deren Besuch für das Bestehen einer bestimmten Prüfung erforderlich ist, auf jeden F a l l regelmäßig angeboten werden müssen. I n entsprechender Weise w i r d bei der Aufstellung des Studienplans eine Entscheidung darüber getroffen, i n welcher zeitlichen Abfolge die einzelnen Lehrveranstaltungen künftig abgehalten werden müssen, da ja die Studenten auf jeden Fall Gelegenheit haben müssen, ihr Studium entsprechend den Vorschlägen des Studienplans zu gestalten. Faßt man schließlich als ein besonders eindrückliches Beispiel für die praktische Bedeutung der Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten durch die Hochschulorgane noch die M i t w i r k u n g bei der Mittelvergabe ins Auge, so ist es ganz offenkundig, daß sich jeder Beschluß über die Verteilung von Lehr- und Forschungsmitteln unmittelbar auf die Durchführung von Lehrveranstaltungen und Forschungsvorhaben auswirkt. Die Tatsache, daß die Vorschriften über die Organisation der Hochschulen die Hochschulorgane i n weitem Umfang zur Fassung von Beschlüssen ermächtigen, die die Ausübung von Forschung und Lehre unmittelbar berühren, hat zur Folge, daß i m Interesse der V e r w i r k lichung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit an den Inhalt dieser Vorschriften ganz bestimmte Anforderungen gestellt werden müssen, 21 Vgl. dazu die Übersicht über die Zuständigkeiten der Organe der verschiedenen niedersächsischen Hochschulen, BVerfGE 35, 79 (87 ff.).
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was die Regelung der Zusammensetzung der durch sie zur Beschlußfassung i n wissenschaftsrelevanten Angelegenheiten ermächtigten Organe angeht. Soweit nämlich die Vorschriften über die Organisation der Hochschulen eine Beschlußfassung durch Hochschulorgane i n wissenschaftsrelevanten Angelegenheiten vorsehen, müssen sie auch sicherstellen, daß diese Organe so zusammengesetzt sind, daß von ihnen regelmäßig eine sachbezogene und wissenschaftlich fundierte Beschlußfassung erwartet werden kann. Nur unter dieser Voraussetzung ist nämlich angesichts der konkreten Bedeutung der Beschlüsse der Hochschulorgane für die Forschung und Lehre die Verwirklichung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit an den Hochschulen gewährleistet. Sind dagegen die Hochschulorgane nach den Vorschriften über die Hochschulorganisation so zusammengesetzt, daß man nicht erwarten kann, daß sie durchweg sachbezogene und wissenschaftlich fundierte Beschlüsse fassen, dann ist auch eine freie Entfaltung von Forschung und Lehre an den Hochschulen nicht mehr möglich. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Sachverhalt i n seinem U r teil vom 29. M a i 1973 eindeutig klargestellt 2 2 . I n dem angeführten U r teil hat das Gericht dargelegt, daß dem Gesetzgeber zwar i m Gebiet der organisatorischen Gestaltung des Hochschulwesens ein breiter Raum zur Verwirklichung seiner hochschulpolitischen Auffassung verbleibe. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers i m Hinblick auf die Organisation der Hochschulen werde jedoch „bestimmt und begrenzt" durch das Freiheitsrecht des A r t . 5 Abs. 3 GG und durch die i n dieser Norm ebenfalls enthaltene Wertentscheidung zugunsten der freien Wissenschaft 23 . Wörtlich hat das Gericht ausgeführt 24 : „Der unmittelbare kausale Zusammenhang zwischen organisatorischen Normen, die lediglich die B i l d u n g u n d Zusammensetzung v o n kollegialen Beschlußorganen regeln, u n d Beeinträchtigungen der freien Ausübung von Forschung u n d Lehre ist nicht ohne weiteres einsichtig. Es ließe sich einwenden, daß erst Beschlüsse dieser Organe die Wissenschaftsfreiheit beschränken könnten u n d daß allenfalls von einer beständigen verfassungswidrigen Praxis der Organe her ein Rückschluß auf die Verfassungswidrigkeit ihrer O r ganisation zulässig wäre. D a m i t w ü r d e jedoch übersehen, daß da, wo ein Grundrecht n u r durch Beteiligung an einem v o m Staat bereitgestellten u m fassenden Leistungsapparat, d. h. hier durch personelle Eingliederung i n den Wissenschaftsbetrieb der Hochschule, w i r k s a m ausgenutzt werden k a n n . . . , die dem Einzelnen offenstehenden Möglichkeiten zur V e r w i r k l i c h u n g des 22
BVerfGE 35, 79 (Leitsätze 2, 3, 6, 7) (120 ff., 126 ff., 130 ff., 135). BVerfGE 35, 79 (120). — Dazu, daß A r t . 5 Abs. 3 Satz 1 G G nicht nur das Grundrecht der freien wissenschaftlichen Betätigung gewährleistet, sondern gleichzeitig den Charakter einer objektiven Wertentscheidung zugunsten der freien Wissenschaft trägt, s. BVerfGE 35, 79 (Leitsatz 2) (112, 114 ff.). 24 BVerfGE 35, 79 (120 f.). 23
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Grundrechts von den Organisationsformen jenes Apparats u n m i t t e l b a r abhängen. D a m i t w i r d aber auch der Freiheitsgehalt des durch die Zusammenarbeit der Grundrechtsträger sich formierenden Wissenschaftsprozesses i m ganzen von seiner organisatorischen Gestaltung wesentlich beeinflußt. Nicht n u r das formale Beratungs- und Entscheidungsverfahren der einzelnen O r gane, sondern auch der I n h a l t ihrer Entscheidungen w i r d durch ihre Zusammensetzung mindestens tendenziell, i n einem allgemeinen qualitativen Sinn, vorausbestimmt m i t der Folge, daß die Entscheidungen dieser Organe sich j e nach deren Zuständigkeit auf den durch A r t . 5 Abs. 3 GG geschützten Freiheitsraum auswirken können. E i n effektiver Grundrechtsschutz erfordert daher adäquate organisationsrechtliche Vorkehrungen."
Auf dem Hintergrund dieser Darlegungen zu der Notwendigkeit adäquater organisationsrechtlicher Vorkehrungen zur Sicherung der Verwirklichung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht eine Reihe von Grundsätzen aufgestellt, die bei der Regelung der Zusammensetzung der Hochschulorgane zu beachten sind 2 5 . Nach diesen Grundsätzen muß i m Hinblick auf die Fälle, i n denen gruppenmäßig zusammengesetzte Hochschulorgane wissenschaftsrelevante Beschlüsse zu fassen haben, folgendes gewährleistet sein: — Die Gruppe der Hochschullehrer muß homogen zusammengesetzt sein. — Bei Entscheidungen, welche unmittelbar die Lehrer betreffen, muß der Gruppe der Hochschullehrer ein maßgebender Einfluß verbleiben. — Bei Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung oder die Berufung der Hochschullehrer betreffen, muß der Gruppe der Hochschullehrer ein weitergehender, ausschlaggebender Einfluß vorbehalten bleiben. Die Tatsache, daß infolge der weitreichenden Zuständigkeiten der Hochschulorgane die Verwirklichung der Wissenschaftsfreiheit so stark von der Zusammensetzung dieser Organe abhängt, daß sie nur dann als gesichert angesehen werden kann, wenn bei der Regelung der Zusammensetzung der Hochschulorgane bestimmte Grundsätze beachtet werden, führt notwendig zu der Folgerung, daß sich der Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften letztlich doch nicht so weitgehend von dem Erlaß grundrechtseinschränkender Bestimmungen unterscheidet, wie das zunächst den Anschein hat. Zwar werden beim Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften, wie weiter oben dargelegt, keine Anordnungen getroffen, die als solche den Inhalt der Tätigkeit der Hochschulangehörigen konkret berühren, und es w i r d zudem, was 25
BVerfGE 35, 79, 80 (Leitsatz 8) (123 f., 126 ff.).
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immer wieder nachdrücklich hervorzuheben ist, i n einem Bereich Recht gesetzt, i n dem es wegen des vorbehaltlosen Schutzes der Wissenschaftsfreiheit gar keine Grundrechtseingriffe geben darf. Es werden dabei aber nichtsdestoweniger zumindest teilweise Regelungen getroffen, die die dem einzelnen Wissenschaftler innerhalb der Hochschule offenstehenden Möglichkeiten zur Verwirklichung seines individuellen Grundrechts der freien wissenschaftlichen Betätigung auf das nachhaltigste beeinflussen. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß der Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften i n seiner grundsätzlichen Bedeutung dem Erlaß von grundrechtseinschränkenden Bestimmungen wie etwa denen, m i t denen es das Bundesverfassungsgericht i n seinem Facharzt-Beschluß zu tun hatte, i n keiner Weise nachsteht. Von der Erkenntnis, daß der Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften i n seiner grundsätzlichen Bedeutung dem Erlaß grundrechtseinschränkender Bestimmungen wie derjenigen, m i t denen sich das Bundesverfassungsgericht i m Facharzt-Beschluß zu befassen hatte, durchaus gleichsteht, ist es nur ein Schritt zu der Feststellung, daß das, was nach dem Facharzt-Beschluß für den Erlaß grundrechtseinschränkender Bestimmungen gilt, i n entsprechender Weise auch für den Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen Gültigkeit hat. Wenn das Bundesverfassungsgericht i m Facharzt-Beschluß aus der besonderen Bedeutung aller Akte staatlicher Gewaltausübung, welche die Verwirklichung und Begrenzung von Grundrechten zum Gegenstand haben, ganz bestimmte Folgerungen i m Hinblick auf den Erlaß grundrechtseinschränkender Bestimmungen gezogen hat, so müssen angesichts der Tatsache, daß den Vorschriften über die Hochschulorganisation eine durchaus vergleichbare Bedeutung i m Hinblick auf die Verwirklichung der Grundrechte zukommt, in bezug auf den Erlaß dieser Vorschriften völlig entsprechende Folgerungen gezogen werden. So wie der Gesetzgeber wegen der Bedeutung aller staatlichen Akte, die die Verwirklichung und Begrenzung von Grundrechten zum Gegenstand haben, die Befugnis zum Erlaß grundrechtseinschränkender Gesetze nicht beliebig aus der Hand geben darf, so darf er wegen der grundlegenden Bedeutung, die diesen Vorschriften für die Verwirklichung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit zukommt, auch den Erlaß hochschulorganisatorischer Bestimmungen nicht „anderen Stellen innerhalb oder außerhalb der Staatsorganisation zu freier Verfügung überlassen" 26 . I m Ergebnis w i r d somit durch eine genauere Untersuchung dasjenige, was das Bundesverfassungsgericht i n seinem Urteil vom 29. Mai 1973 26
22*
BVerfGE 33, 125 (158).
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und der Niedersächsische Staatsgerichtshof i n seinem Urteil vom 20. Dezember 1972 zu der Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen ausgeführt haben, i n seiner Richtigkeit v o l l bestätigt. So erscheinen insbesondere die Darlegungen i n dem Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, das zeitlich noch vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergangen ist, nach den i m vorstehenden angestellten Überlegungen als eine sehr treffende Charakterisierung der Rechtslage i m Hinblick auf die Befugnis zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen. Wenn i n dem Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs davon gesprochen wird, daß viele Grundsatz- und Einzelfragen der Verfassung der Institute, K l i n i k e n usf. „zu ihrer Lösung der Weg Weisung aus der politischen Autorität des Gesetzgebers selbst bedürfen" 2 7 , so läßt sich diese Aussage ohne weiteres zu der Feststellung verallgemeinern, daß viele der Grundsatz- und Einzelfragen der Hochschulorganisation mit Rücksicht auf ihre Bedeutung für die Verwirklichung des Grundrechts der freien wissenschaftlichen Betätigung „zu ihrer Lösung der Wegweisung aus der politischen Autorität des Gesetzgebers selbst bedürfen". Aus den Überlegungen, die zu dem Ergebnis geführt haben, daß mit dem Bundesverfassungsgericht und dem Niedersächsischen Staatsgerichtshof eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen zu bejahen ist, ergibt sich auch, wie diejenige Frage zu beantworten ist, die sich zwangsläufig stellt, wenn man die Frage nach dem Bestehen einer Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß hochschulorganisatorischer Bestimmungen positiv beantwortet hat. Das ist die Frage, welchen Umfang die Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften hat. Da der Grund dafür, daß der Gesetzgeber die Befugnis zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen nicht beliebig anderen Stellen innerhalb oder außerhalb der Staatsorganisation überlassen darf, i n der Bedeutung dieser A r t von Vorschriften für die Verwirklichung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit liegt, kann es auch für den Umfang, i n dem der Gesetzgeber selbst zum Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften verpflichtet ist, allein auf die Bedeutung ankommen, die die verschiedenen hochschulorganisatorischen Vorschriften jeweils für die Verwirklichung der Wissenschaftsfreiheit haben. Das heißt, daß der Gesetzgeber auf jeden Fall alle diejenigen Vorschriften über die Organisation der Hochschulen selbst erlassen muß, die die Ausübung von Forschung und Lehre so nachhaltig beeinSiehe das wörtliche Zitat oben S. 327.
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flussen, daß von ihrem Inhalt die Möglichkeit der Verwirklichung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit abhängt 28 . Unter Zugrundelegung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom 29. M a i 1973 und des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 20. Dezember 1972 muß der Gesetzgeber demnach auf jeden Fall die folgenden Vorschriften über die Organisation der Hochschulen selbst erlassen: — die Bestimmungen über die Abgrenzung der Gruppen, denen ein Recht zur M i t w i r k u n g an der Beschlußfassung der Hochschulorgane eingeräumt w i r d ; — die Bestimmungen über die Zusammensetzung und das Beschlußfassungsverfahren der Organe der Hochschulen; — die Bestimmungen über die Grundzüge der Organisation der Seminare, Institute, K l i n i k e n und zentralen Einrichtungen. Die Abgrenzung der Gruppen, denen ein Recht zur M i t w i r k u n g an der Beschlußfassung der Hochschulorgane eingeräumt wird, muß der Gesetzgeber selbst vornehmen, weil sie mit den Ausschlag i m Hinblick darauf gibt, welcher Kreis von Hochschulangehörigen jeweils welchen Einfluß auf die Beschlußfassung der Hochschulorgane ausüben kann 2 9 . Die Zusammensetzung und das Beschlußfassungsverfahren der Hochschulorgane muß der Gesetzgeber selbst regeln, weil davon ganz entscheidend abhängt, ob von den Hochschulorganen die Fassung wissenschaftsgerechter Beschlüsse erwartet werden kann 3 0 . Die Organisation der Seminare, Institute, K l i n i k e n und zentralen Einrichtungen muß der Gesetzgeber selbst i n den Grundzügen festlegen, weil von ihr die Möglichkeit freier wissenschaftlicher Betätigung i n diesen Einrichtun28
I n entsprechender Weise hat das Bundesverfassungsgericht i m Facharzt-Beschluß den Kreis derjenigen Berufsregelungen, die n u r durch förmliches Gesetz vorgenommen werden können, von dem Kreis derjenigen Berufsregelungen, die auch durch andere Rechtsvorschriften erfolgen k ö n nen, nach dem Maßstab der „jeweiligen Intensität des Eingriffs" abgegrenzt u n d ist unter Zugrundelegung dieses Maßstabs zu dem Ergebnis gekommen, daß der Gesetzgeber jedenfalls alle diejenigen Regelungen selbst treffen muß, die die Freiheit der Berufswahl berühren oder besonders stark i n die Berufsausübung eingreifen, BVerfGE 33, 125 (Leitsatz 2) (160 f.). I m numerus clausus-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß bei der A n ordnung absoluter Zulassungsbeschränkungen für das Studium die wesentlichen Entscheidungen sowohl über die Voraussetzungen der Anordnung der Zulassungsbeschränkungen als solcher als auch über die anzuwendenden Auswahlkriterien v o m Gesetzgeber selbst zu treffen sind, BVerfGE 33, 303 (Leitsatz 4) (336 f., 340 ff., 345 ff.). 29 BVerfGE 35, 79 (134 f.). 30 Vgl. dazu oben S. 337 f. m i t Anm. 22, 23, 24.
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gen abhängt, i n denen vor allem ein wesentlicher Teil der Forschung betrieben w i r d 3 1 . Obwohl m i t den vorstehenden Ausführungen sicher nur das Allernotwendigste zu der Frage gesagt ist, welchen Umfang die Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen hat, ist es nicht möglich, dieser Frage hier noch weiter nachzugehen. Nur zwei Dinge sind noch klarzustellen. Als erstes ist zu betonen, daß die Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften auch schon i m Stadium der Gründung einer Hochschule i n ihrem vollen Umfang besteht. Gerade i m Stadium der Gründung einer Hochschule müssen von den dazu berufenen Organen so viele wichtige wissenschaftsrelevante Entscheidungen getroffen werden, die sich auf die ganze spätere Entwicklung der Hochschule auswirken, daß sich der Gesetzgeber nicht darauf beschränken kann, i n einem Errichtungsgesetz lediglich die Errichtung der Hochschule vorzuschreiben und die Regelung, wie die Errichtung i m einzelnen erfolgen soll, allein der Exekutive zu überlassen 32 . Noch weniger ist freilich der Notwendigkeit des Erlasses von Vorschriften über die Organisation der Hochschulen Genüge getan, wenn die Gründung von Hochschulen überhaupt ohne Beteiligung des Gesetzgebers erfolgt, wie das noch in jüngster Zeit i m Falle der Errichtung sowohl der Universitäten Osnabrück und Oldenburg 3 3 als auch der Hochschulen der Bundeswehr Hamburg und München 34 geschehen ist. 31 Vgl. dazu die oben S. 331 f. wörtlich wiedergegebenen Ausführungen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs sowie BVerfGE 35, 79 (143 f.). 32 Nicht zugestimmt werden kann somit der Auffassung, die der Bayerische Verfassungsgerichtshof i n seiner Entscheidung v. 23.12.1971 betreffend das Gesetz über die Errichtung der Universität Augsburg v. 18.12.1969/2. 6.1971, Bay. GVB1. 1969, 398; 1971, 197, vertreten hat. Danach soll der Staat zwar eine Hochschule n u r durch Gesetz oder auf G r u n d eines Gesetzes errichten können. Er soll i m übrigen aber völlig frei darin sein, ob er die Einrichtung, die Festlegung des Aufgabenbereiches und die Zusammensetzung der Hochschulorgane einem Gesetz vorbehält oder auf G r u n d eines Gesetzes der Exekutive überträgt oder aber einer von den Gründungsorganen erarbeiteten — von i h m rechtsaufsichtlich genehmigten — vorläufigen Satzung überläßt. V e r f G H 24, 199 (217 f.). 33 Erlaß des Niedersächsischen Kultusministers v. 1. 3./3. 6.1971 betreffend die Durchführung der Gründung der Universität Oldenburg, Nds. M i n B l . S. 1003, geändert durch Erlaß v. 25.7.1973, Nds. M i n B l . S. 1151; Erlaß des Niedersächsischen Kultusministers v. 1.3./3.6.1971 betreffend die Durchführung der Gründung der Universität Osnabrück, Nds. M i n B l . S. 1004, geändert durch Erlaß v. 10.5. 1973, Nds. M i n B l . S. 857, ersetzt durch Erlaß v. 25. 7.1973, Nds. M i n B l . S. 1152. Erst nachdem die Durchführung der G r ü n dung der Universitäten Oldenburg u n d Osnabrück schon ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hatte, ist das Gesetz über die Organisation der Universitäten Oldenburg und Osnabrück v. 3. 12.1973, Nds. GVB1. S. 479, ergangen.
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Als zweites ist mit Nachdruck festzustellen, daß sich die Pflicht des Gesetzgebers, die Zusammensetzung und das Beschlußfassungsverfahren der Hochschulorgane selbst zu regeln, auf alle Organe der Hochschule bezieht. Der Gesetzgeber kann sich nicht damit begnügen, wie das i n Nordrhein-Westfalen geschehen ist, i n einem Hochschulgesetz lediglich Bestimmungen über die Zusammensetzung und das Beschlußfassungsverfahren eines Satzungskonvents zu treffen und i m übrigen diesem Satzungskonvent die Aufgabe zu überlassen, die Zusammensetzung der Hochschulorgane i n der von i h m zu beschließenden Hochschulsatzung zu regeln, mag auch das Gesetz selbst wenigstens schon anordnen, welche Organe jede Hochschule haben soll 3 5 . Dabei ist es i m übrigen ein Faktum, das zum Abschluß noch Erwähnung verdient, daß die Satzungskonvente, die i m Hochschulgesetz von Nordrhein-Westfalen vorgesehen worden sind, lediglich an zwei Hochschulen mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit Satzungsentwürfe haben verabschieden können 3 6 . Dieses Faktum macht nämlich deutlich, daß die Hochschulen heute regelmäßig gar nicht i n der Lage sind, die grundlegenden Vorschriften über ihre Organisation selbst zu erlassen, sondern daß sie vielmehr darauf angewiesen sind, daß das durch den Gesetzgeber geschieht. M i t der Bejahung einer Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß hochschulorganisatorischer Vorschriften w i r d deshalb auch dem Interesse Rechnung getragen, daß die Hochschulen daran haben, über feste rechtliche Grundlagen für ihre Tätigkeit zu 34 Die Hochschulen der Bundeswehr Hamburg u n d München sind beide jeweils durch einen Erlaß des Bundesministers der Verteidigung errichtet worden. Die Erlasse über die Errichtung der Hochschulen der Bundeswehr H a m b u r g u n d München sind bisher nicht veröffentlicht worden. Nach einer Auskunft des Bundesministeriums der Verteidigung ist jedoch beabsichtigt, i n Kürze eine Erlaßsammlung über die Hochschulen der Bundeswehr i m Ministerialblatt des Bundesministeriums der Verteidigung zu veröffentlichen. 35 §§ 5, 11, 24, 28 ff., 52 Gesetz über die wissenschaftlichen Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen v. 7. 4.1970, GVB1. N W S. 254, geändert durch Gesetz v. 30. 5.1972, GVB1. N W S. 134. 36 Die beiden einzigen Hochschulen Nordrhein-Westfalens, deren Satzungskonvente m i t der notwendigen Z w e i - D r i t t e l - M e h r h e i t Satzungsentwürfe haben verabschieden können, sind die Universität D o r t m u n d u n d die Deutsche Sporthochschule Köln. Die von den Satzungskonventen der Universität D o r t m u n d u n d der Deutschen Sporthochschule K ö l n beschlossenen Satzungsentwürfe haben nicht die erforderliche Genehmigung durch den Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen erhalten. Der Minister für Wissenschaft u n d Forschung hat die Satzungsentwürfe vor allem deshalb nicht genehmigt, w e i l sie teilweise i n Widerspruch zu dem U r t e i l des Bundesverfassungsgerichts v o m 29. M a i 1973 standen. Statt die von den Satzungskonventen verabschiedeten Satzungsentwürfe zu genehmigen, hat der Minister das geltende Satzungsrecht i m Erlaßwege an das U r t e i l des Bundesverfassungsgerichts angepaßt. Vgl. D U Z 1973, S. 367; 1974, S. 111.
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verfügen. Noch größer als dieses Interesse, über feste rechtliche Grundlagen für ihre Tätigkeit zu verfügen, ist freilich das Interesse der Hochschulen daran, daß die vom Gesetzgeber erlassenen Vorschriften auch tatsächlich die Verwirklichung des Grundrechts der Freiheit von Forschung und Lehre so gut wie möglich sicherstellen.
Zur Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen Von Hartmut Maurer I. Abgrenzung und Problematik I n einer ganzen Anzahl von Fällen hat das BVerfG von der scheinbar fälligen Nichtigerklärung eines verfassungswidrigen Gesetzes abgesehen und statt dessen nur die Feststellung der Verfassungswidrigkeit ausgesprochen. Bekannt ist vor allem das vor kurzem ergangene Hochschulurteil 1 , i n dem lediglich festgestellt wurde, daß das überprüfte „Vorschaltgesetz" i n einigen wesentlichen Punkten m i t A r t . 5 I I I 1 GG unvereinbar ist, ohne daran die Nichtigerklärung zu knüpfen. Das Hochschulurteil ist jedoch insoweit nur ein Teil eines noch schwer durchschaubaren und auch sicher noch nicht endgültigen Mosaiks. Die Zahl der die Verfassungswidrigkeit nur feststellenden Entscheidungen hat gerade i n der letzten Zeit — sowohl i n quantitativer Hinsicht als auch was die Ausfächerung i n verschiedene Bereiche anbetrifft — erheblich zugenommen. Diese Zunahme dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß der Gesetzgeber die Verfassungswidrigerklärung inzwischen ausdrücklich anerkannt hat. I m Rahmen des 4. Gesetzes zur Änderung des BVerfGG wurden auch die §§ 31 I I und 79 I ergänzt, indem i n diese Vorschriften „das m i t dem Grundgesetz unvereinbar erklärte Gesetz" aufgenommen wurde 2 . Die bloße Unvereinbarkeitserklärung oder Feststellung der Verfassungswidrigkeit — die i m folgenden als „Verfassungswidrigerklärung" bezeichnet werden soll — ist damit neben der Nichtigerklärung als selbständige Entscheidungsform gesetzlich verankert 3 . Bemerkenswert ist jedoch die zurückhaltende und gleichsam beiläufige Art, i n der dies geschieht. Die Vorschriften des BVerfGG, 1
U r t e i l des BVerfG v o m 29. 5.1973, N J W 1973, 1176. Gesetz v o m 21.12.1970 (BGBl. I S. 1765). 3 Die Verfassungswidrigerklärung unterscheidet sich als selbständige — rechtskräftige u n d gesetzeskräftige — Entscheidung von der Feststellung der Verfassungswidrigkeit als Vorstufe u n d T e i l der Nichtigerklärung, von inzidenten Feststellungen des B V e r f G sowie von allen Feststellungen der Verfassungswidrigkeit durch andere Organe, etwa das nach A r t . 100 I GG vorlegende Gericht. 2
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die die Nichtigerklärung verfassungswidriger Gesetze bestimmen (§§ 78, 82 I und 95 III), sind nicht geändert oder ergänzt worden. Es w i r d auch nicht ausdrücklich gesagt, daß die bloße Verfassungswidrigerklärung zulässig ist, geschweige denn angegeben, i n welchen Fällen sie i n Betracht kommt. Lediglich die Bindungswirkung (§ 31 II) und teilweise die Folgen (§ 79 I) werden geregelt. Das übrige bleibt der Rechtsprechung des BVerfG überlassen, die sich allerdings daran zu orientieren hat, daß die Verfassungswidrigerklärung als Ausnahme vom Grundsatz der Nichtigerklärung besonderer Begründung und Rechtfertigung bedarf. Die Verfassungswidrigerklärung ist nicht nur gegenüber der Nichtigerklärung, sondern auch gegenüber der sog. Appell-Entscheidung abzugrenzen. Von einer Appell-Entscheidung 4 w i r d dann gesprochen, wenn das BVerfG bei der Überprüfung eines Gesetzes zwar verfassungsrechtliche Mängel feststellt, i m Blick auf vorrangige, verfassungsrechtlich relevante Interessen und Gesichtspunkte aber das Gesetz gleichwohl (noch) nicht für verfassungswidrig erklärt, sondern nur in den Entscheidungsgründen den Gesetzgeber zur alsbaldigen Beseitigung der erkannten verfassungsrechtlichen Mängel auffordert 5 . Die Verfassungswidrigerklärung steht gleichsam zwischen der Nichtigerklärung und Appell-Entscheidung. Wegen dieser Zwischenstellung mag sie sogar besonders vorteilhaft erscheinen; vermeidet sie doch sowohl den scharfen Schnitt der Nichtigerklärung mit allen seinen Folgen als auch die zeitweilige Hinnahme eines an sich verfassungswidrigen Zustandes6 durch die Appell-Entscheidung. Gerade diese „Gefälligkeit" sollte aber zur Vorsicht mahnen. 4 Vgl. m i t Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG Rupp - von Brünneck, Darf das Bundesverfassungsgericht an den Gesetzgeber appellieren? Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 355 ff.; Schef old/ Leske, Hochschul vorschaltgesetz: verfassungswidrig — aber nicht nichtig, N J W 1973, 1297 (1299); vgl. auch Pestalozza, Die Geltung verfassungswidriger Gesetze, AöR Bd. 96 (1971) S. 27 (48 ff.); die ersten Auswirkungen auf die übrige Rechtsprechung zeigen B V e r w G E 41, 261 (266); O V G Münster, DVB1. 1970, 294 m i t A n m . von Hoppe. Der Ausdruck „Appell-Entscheidung" w i r d nicht einheitlich gebraucht; er w i r d hier i n dem oben umschriebenen, engen Sinne verstanden. Der „ A p p e l l " des B V e r f G indiziert bei dieser Deutung die verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers, unverzüglich Abhilfe zu schaffen. 5 I m numerus clausus-Urteil, BVerfGE 33, 303, hat das BVerfG auch i m Tenor die Unvereinbarkeit einer bestimmten Vorschrift m i t dem GG festgestellt, sogleich aber hinzugefügt, daß sie „noch bis zum Erlaß einer neuen gesetzlichen Regelung, längstens bis zum Beginn des Sommersemesters 1973, angewandt werden" darf. I m Ergebnis k o m m t diese neuartige Tenorierung der Appell-Entscheidung gleich. 6 Vgl. BVerfGE 33, 90 (105).
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Eine an den Gesetzgeber „appellierende" Wirkung haben letztlich alle drei Entscheidungsarten. Die Verfassungswidrigerklärung w i r d häufig mit dem ausdrücklichen Hinweis verbunden, daß der Gesetzgeber eine Neuregelung zu treffen habe. Aber auch wenn dies nicht ausgesprochen wird, ergibt sich eine solche Verpflichtung bereits aus der festgestellten Verfassungswidrigkeit. I m Falle der Nichtigerklärung kann es der Gesetzgeber zwar bei der Beseitigung des verfassungswidrigen Rechtes belassen. Häufig w i r d er aber nicht umhin können, die für nichtig erklärte Vorschrift durch eine neue, verfassungsmäßige Regelung zu ersetzen; die nur negierende Wirkung der Nichtigerklärung erfordert vielfach eine positive Ergänzung durch den Gesetzgeber. Der Unterschied zeigt sich deshalb vor allem i n der Sofortwirkung; er w i r d für die rechtsanwendenden Organe und die durch das „Gesetz" angesprochenen Bürger relevant. Das für nichtig erklärte Gesetz ist ungültig, unbeachtlich; es darf von den staatlichen Organen nicht angewendet und muß von den Bürgern nicht befolgt werden. Die Appell-Entscheidung hat dagegen gerade den Sinn, die Anwendbarkeit des bisherigen, wenn auch verfassungsrechtlich mangelhaften Rechts bis zur gesetzlichen Neuregelung zu sichern. Da das Gesetz für (noch) verfassungsgemäß erklärt wird, ist es als solches verbindlich und anwendbar. Problematisch ist dagegen das für verfassungswidrig erklärte Gesetz: Ist es wegen seiner Verfassungswidrigkeit unanwendbar? Oder ist es, da es nicht für nichtig erklärt wurde, bis zur gesetzlichen Neuregelung noch geltendes und daher anwendbares Recht? Oder sind Z w i schenlösungen zu entwickeln, falls sich zwischen Geltung und Nichtgeltung überhaupt ein tertium anbietet? I m folgenden soll den Fragen nach der Begründung der Verfassungswidrigerklärung (dazu unter III) sowie nach ihren Folgen bis zur gesetzlichen Neuregelung (dazu unter IV) nachgegangen werden. Um das dafür erforderliche Anschauungsmaterial zu erhalten, sind zunächst die einschlägigen Entscheidungen des BVerfG heranzuziehen. Es w i r d sich bald zeigen, daß sie nicht auf einen Nenner zu bringen sind, so daß eine gewisse Kasuistik nicht zu umgehen ist. Gerade die Verfassungswidrigerklärung läßt sich nur i n einer differenzierenden, am Fall orientierten Weise erklären. II. Die Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Nicht i n diesen Rahmen gehören die Fälle, i n denen nicht eine bestimmte gesetzliche Regelung, sondern nur ein gesetzgeberisches Unterlassen gegen die Verfassung verstößt. Die „Nichtregelung" kann schon
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aus rechtstechnischen Gründen nicht Gegenstand einer Nichtigerklärung sein; es bleibt daher allenfalls die Feststellung, daß der Gesetzgeber durch Unterlassen gegen bestimmte Vorschriften des Grundgesetzes verstoßen habe 7 . Solche Fälle kommen indessen schon mangels entsprechender verfassungsrechtlicher Ansprüche auf Tätigwerden des Gesetzgebers kaum i n Betracht. Soweit solche Ansprüche bestehen, werden sie i. d. R. doch i m Zusammenhang m i t gesetzlichen Regelungen relevant. So w i r d die Verletzung des Anspruches auf angemessene Besoldung gem. A r t . 33 V GG durch das bestehende Besoldungsgesetz manifestiert. Für den Fall, daß ein Besoldungsgesetz infolge Änderung der Verhältnisse nicht mehr den Mindestanforderungen des A r t . 33 V GG entspricht, hat das BVerfG 8 eine Nichtigerklärung des Gesetzes abgelehnt, aber primär nicht unter Hinweis auf das gesetzgeberische Unterlassen, sondern wegen des verfassungsrechtlichen Erfordernisses einer gesetzlichen Regelung der Besoldung überhaupt. Daher — nämlich w e i l eine gesetzliche Besoldungsregelung vorhanden sein müsse — könne lediglich festgestellt werden, daß der Gesetzgeber durch Unterlassen einer Besoldungsänderung gegen Art. 33 V GG verstoßen habe. 2. Die meisten Entscheidungen beziehen sich auf gleichheitswidrige begünstigende Gesetze, d. h. Gesetze, die staatliche Leistungen gewähren (Sozialleistungen, Besoldungs- und Versorgungsansprüche, Subventionen usw.), dabei aber unter Verletzung des Gleichheitssatzes eine bestimmte Personengruppe nicht oder nicht ausreichend berücksichtigen 9 . Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz läßt sich theoretisch auf verschiedene Weise bereinigen, nämlich durch Beseitigung der Begünstigung überhaupt, durch Einbeziehung der bislang nicht berücksichtigten Personen i n die Vergünstigung sowie durch eine Neuregelung, die die Gewährung der Leistung von anderen, dem Gleichheitssatz nunmehr entsprechenden Voraussetzungen abhängig macht. Gegenstand der Nichtigerklärung kann — aus rechtstechnischen Gründen — allen7
Dazu Friesenhahn, Die Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Bundesrepublik Deutschland, 1963, S. 65 ff.; Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, AöR Bd. 90 (1965) S. 341 ff.; Rauschning, Die Sicherung der Beachtung von Verfassungsrecht, 1969, S. 229 ff.; Jülicher, Die Verfassungsbeschwerde gegen Urteile bei gesetzgeberischem Unterlassen, 1972, m i t jeweils weiteren Nachweisen. 8 BVerfGE 8, 1 (19 f.). 9 Vgl. vor allem die Grundsatzentscheidung BVerfGE 22, 349 (359 ff.); ferner — zugleich die E n t w i c k l u n g der Rechtsprechung widerspiegelnd — BVerfGE 8, 28 (36 ff.); 14, 308 (311 f.); 15, 46 (59 f., 75 f.); 15, 121 (125 f.); 17, 122 (134 f.); 18, 257 (273); 18, 288 (301 f.); 21, 329 (337 f., 353 f.); 22, 163 (174 f.); 26, 100 (110, 115); 26, 163 (171 f.); 27, 220 (2301); 27, 364 (374f.); 27, 391 (399); 28, 324 (361 ff.); 29, 1 (10); 29, 57 (70 f.); 29, 71 (83); 29, 283 (303 f.); 31, 1 (7 f.); 32, 362 (372 f.).
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falls die begünstigende Regelung insgesamt oder der Ausschluß von der Begünstigung sein, sofern dieser ausdrücklich durch eine besondere Norm oder einen besonderen Normteil bestimmt ist. Wenn die nichtberücksichtigte Personengruppe nur durch gesetzliches Schweigen übergangen worden ist 1 0 , kommt eine Nichtigerklärung des „Ausschlusses" nicht i n Betracht 11 . Nach Auffassung des BVerfG scheidet jedoch eine Nichtigerklärung auch i n den rechtstechnisch möglichen Fällen grundsätzlich aus, da der Gesetzgeber zu entscheiden habe, auf welche Weise er den Gleichheitsverstoß beseitigen wolle 1 2 . Insbesondere sei es nicht zulässig, durch Nichtigerklärung der Ausschlußnorm die begünstigende Regelung auf die bislang nicht berücksichtigte Personengruppe auszudehnen, sofern nicht — ausnahmsweise — die Ausdehnung aus verfassungsrechtlichen oder sonstigen Gründen die einzig vertretbare Lösung darstelle oder m i t Sicherheit anzunehmen sei, daß auch der Gesetzgeber bei Kenntnis der Verfassungswidrigkeit diesen Weg gewählt hätte 1 3 . I n diesen Fällen w i r d i n die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht eingegriffen, da auch dieser nicht anders handeln könnte, bzw. nicht anders handeln würde. I m übrigen stellt das BVerfG lediglich fest, daß das Gesetz insoweit m i t dem Gleichheitssatz unvereinbar sei, als es eine gleichheitswidrige Leistungsgewährung vorsehe oder bestimmte Gruppen nicht berücksichtige. 10 Die Unterscheidung des BVerfG zwischen ausdrücklichem und stillschweigendem (konkludentem) Ausschluß ist, wie i n der L i t e r a t u r i m m e r wieder betont w i r d , wegen der Abgrenzungsschwierigkeiten u n d auch aus sachlichen Gründen nicht unproblematisch, vgl. ζ. B. Lerche, F N 7, S. 342 f. ; Brinckmann, Das entscheidungserhebliche Gesetz, 1970, S. 101 ff. 11 So BVerfGE 18, 288 (301); 22, 349 (360 f.). D a m i t ist die gegenteilige E n t scheidung BVerfGE 17, 122 (134) überholt, die i n der L i t e r a t u r überwiegend auf K r i t i k gestoßen ist (vgl. Rupp - von Brünneck, F N 4, S. 367 f. ; Hamann/ Lenz, Grundgesetz, 3. A u f l . 1970, A r t . 3 A n m . A 3), neuerdings aber auch eine positive Bewertung erfahren hat (vgl. Jülicher, F N 7, S. 52 f., 57 f. u n d 101, ferner Brinckmann, F N 10, S. 120 ff.). 12 Vgl. die Nachweise F N 9. — I n früheren Entscheidungen hat das BVerfG zwar die Nichtigerklärung des begünstigenden Gesetzes als mögliche A l t e r native erwähnt, aber nicht ausgesprochen, vgl. BVerfGE 8, 1 (9); 8, 28 (37); 14, 308 (311). — Später hat das B V e r f G die Nichtigerklärung der begünstigenden N o r m auch aus prozeßrechtlichen Gründen abgelehnt, da der Beschwerdeführer nicht die Beseitigung der Begünstigung, sondern die Einbeziehung i n die Begünstigung erstrebe, so BVerfGE 18, 288 (301); 22, 349 (359 f.). Die prozessualen Probleme werden hier nicht weiter behandelt. 13 I m konkreten F a l l bejaht etwa i n BVerfGE 21, 329 (338, 354); 22, 163 (174f.); 27, 220 (2301); 27, 364 (374f.); 27, 391 (399); 29, 283 (3031). — I n einigen Entscheidungen w i r d die Ausschlußnorm f ü r nichtig erklärt, ohne daß auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers weiter eingegangen würde, vgl. ζ. B. BVerfGE 29, 1 (10). I n BVerfGE 18, 366 (379 f.) u n d 20, 379 (382) wurde die Ausschlußnorm für nichtig erklärt, obwohl verschiedene gesetzgeberische Möglichkeiten anerkannt wurden.
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3. Entsprechende Probleme ergeben sich, wenn belastende Gesetze, insbesondere Steuer- und sonstige Abgabengesetze, gegen den Gleichheitssatz verstoßen. Während das BVerfG früher erklärte, daß belastende Gesetze, die m i t dem Gleichheitssatz nicht vereinbar seien, ohne weiteres für nichtig erklärt werden könnten 1 4 , tatsächlich auch eine gleichheitswidrige steuerliche Benachteiligung 15 oder sogar eine ganze mit A r t . 3 I GG nicht vereinbare Abgabenregelung für nichtig erklärte 1 6 , beschränkt es sich i n neueren Entscheidungen auf eine Verfassungswidrigerklärung 1 7 . Maßgebend ist wiederum der Gesichtspunkt, daß der Gleichheitsverstoß auf verschiedene Weise bereinigt werden könne und darüber der Gesetzgeber zu entscheiden habe; die Nichtigerklärung soll wiederum ausnahmsweise zulässig sein, wenn m i t Sicherheit anzunehmen sei, daß der Gesetzgeber die nach der (Teil)Nichtigerklärung verbleibende Regelung wählen würde. 4. Die am gleichheitswidrigen Gesetz entwickelte Verfassungswidrigerklärung ist in der letzten Zeit auf Gesetze ausgedehnt worden, die gegen Freiheitsgrundrechte verstoßen. a) I n einigen Entscheidungen ging es um gesetzliche Regelungen, die i n die Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) eingriffen 1 8 . Bemerkenswert sind vor allem die Beschlüsse vom 16. 3.1971 (E 30, 292) und vom 11.10.1972 (E 34, 71), i n denen das BVerfG zunächst feststellte, bzw. unterstellte, daß die die Berufsfreiheit beschränkenden Regelungen (die Pflicht zur Erdölbevorratung, der Sachkundenachweis für Lebensmittelhändler nach dem Einzelhandelsgesetz) als solche verfassungsgemäß seien, sodann aber ausführte, daß sie für eine zwar zahlenmäßig kleine, aber nach typischen Merkmalen deutlich abgrenzbare Personengruppe eine unverhältnismäßig schwere Belastung darstellten und deshalb insoweit „ m i t A r t . 12 I i n Verbindung m i t A r t . 3 I GG" nicht vereinbar seien. Eine Teilnichtigerklärung lehnte das Gericht aber gleichwohl mit dem Hinweis darauf ab, daß der Verfassungsverstoß auf verschiedene Weise beseitigt werden könne und es Sache des Gesetzgebers sei, darüber zu entscheiden 19 . 14
BVerfGE 8, 28 (37). BVerfGE 6, 273 (281). 16 BVerfGE 9, 291 (302): Feuerwehrabgabe. 17 BVerfGE 23, 1 (10 ff.); 33, 90 (105 f.) und 33, 106 (1141): Unterschiedliche Gewährung von Kinderfreibeträgen bei Einkommensteuerpflichtigen u n d Lohnsteuerpflichtigen; E 25, 101 (110f.): Unterschiedliche steuerliche Behandlung der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- u n d Nachtarbeit; E 28, 227 (242 f.) : Privilegierung der Landwirte. 18 BVerfGE 21, 173 (183 f.); 25, 236 (252 ff.); 30, 292 (332 f.); 34, 71 (80 f.). 19 So BVerfGE 30, 292 (3321); 34, 71 (801). — I n BVerfGE 21, 173 (1831) wurde ein Verstoß gegen A r t . 12 I GG angenommen, w e i l der Gesetzgeber f ü r 15
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b) I n dem bereits erwähnten Hochschulurteil 20 kam das Gericht zu dem Ergebnis, daß das zur Prüfung gestellte Gesetz insoweit „ m i t A r t . 5 I I I 1 i n Verbindung m i t A r t . 3 I GG" unvereinbar sei, als die Hochschullehrer i n den Kollegialorganen bei wissenschaftsrelevanten Angelegenheiten nicht über den verfassungsrechtlich erforderlichen Einfluß verfügten und die Gruppe der Hochschullehrer nicht nach sachgerechten Gesichtspunkten abgegrenzt sei. Die Beschränkung auf die Verfassungswidrigerklärung w i r d nur knapp, mit zwei Sätzen begründet: „Bei der gegebenen Rechtslage können die beanstandeten Vorschriften nicht nach § 95 I I I 1 BVerfGG für nichtig erklärt werden (vgl. BVerfGE 18, 288 [301]; 22, 349 [360]). Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, auf welchem Wege er die festgestellten Verfassungsverstöße beseitigen w i l l " 2 1 . c) I n zwei weiteren Entscheidungen zu Fragen des Urheberrechts stellte das BVerfG jeweils einen Verstoß gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 I GG fest. I n der einen Entscheidung wurde die Aufnahme urheberrechtlich geschützter Werke i n bestimmte Sammelwerke für Schulzwecke auch gegen den Willen des Berechtigten gem. § 46 Urheberrechtsgesetz für verfassungsgemäß, die Versagung einer Vergütung hierfür aber für verfassungswidrig erklärt 2 2 . I n der anderen ging es u m eine Überleitungsregelung 23 . Beide Entscheidungen beschränken sich ohne weitere Erklärung auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit. 5. Schließlich sind noch zwei besoldungsrechtliche Entscheidungen zu nennen, die zwar nicht die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, sondern nur deren Vereinbarkeit mit Bundesrecht betreffen, aber doch i n diesem Zusammenhang Beachtung verdienen. Das BVerfG kam zu der Erkenntnis, daß einige Vorschriften der landesrechtlichen Besoldungsgesetze m i t Bundesrecht unvereinbar seien, beließ es aber bei dieser Feststellung. Eine Nichtigerklärung lehnte es ab, da sonst „eine eindeutige Rechtsgrundlage für die Besoldung" fehle, eine „schwer erträgliche Unsicherheit über die Rechtsgrundlage der Besoldung" entstehe 24 . Die Begründung erinnert an die oben erwähnte Besoldungsentscheidung BVerfGE 8, 1 (19 f.). I n den Urteilsgründen wurde jedoch nicht darauf, Sonderfälle keine Übergangsregelung erlassen hatte; der Verzicht auf eine Teilnichtigerklärung wurde aber nicht weiter begründet. I n BVerfGE 25, 236 ist das BVerfG auf A r t . 3 I GG ausgewichen (vgl., a.a.O., S. 251). — Dagegen erfolgte i n BVerfGE 32, 1 (37 f.) — einem ähnlich gelagerten F a l l — eine (Teil)Nichtigerklärung wegen Verstoßes gegen A r t . 12 I GG. 20 Vgl. oben F N 1. 21 S. 1185. 22 BVerfGE 31, 229 (242 ff.). 23 BVerfGE 31, 275 (291 ff.). 24 BVerfGE 32, 199 (217 f.); 34, 9 (43 f.).
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sondern noch auf „entsprechende Erwägungen" verwiesen, die das BVerfG bisher schon veranlaßt hätten, bei gleichheitswidrigen Gesetzen nur die Verfassungswidrigkeit festzustellen 25 . Ferner wurde die gegen Bundesrecht verstoßende Neuregelung von Amtsbezeichnungen der Richter nicht für nichtig erklärt, „ w e i l der Aufgabe des Gesetzgebers nicht vorgegriffen werden darf, unverzüglich eine verfassungsgemäße Neuregelung herbeizuführen" 2 6 .
I I I . Die Begründung der Verfassungswidrigerklärung 1. Unproblematisch ist der Fall des dem Art. 33 V GG nicht voll entsprechenden Besoldungsgesetzes. Das gilt auch dann, wenn man nicht das „Unterlassen des Gesetzgebers", sondern das Besoldungsgesetz selbst, nämlich insoweit, als es nicht den Anforderungen des A r t . 33 V GG entspricht, für verfassungswidrig halten sollte. Denn auch bei dieser Betrachtungsweise ist nur, aber auch eindeutig das i m Besoldungsgesetz festgelegte „zu wenig" verfassungswidrig. Die Nichtigerklärung des Gesetzes würde die eigentliche Verfassungswidrigkeit verfehlen; sie würde keine höheren, dem A r t . 33 V GG entsprechenden Bezüge bringen, sondern die — nach A r t . 33 V GG erforderliche — Rechtsgrundlage insgesamt beseitigen, also das Verfassungsunrecht noch vertiefen 2 7 . 2. Bei den gleichheitswidrig begünstigenden Gesetzen mag es zunächst naheliegen, die Verfassungswidrigkeit ebenfalls nicht eigentlich i n der begünstigenden Regelung, sondern i n der Nichtberücksichtigung, also i n einem gesetzgeberischen Unterlassen, zu sehen 28 . Damit würde man jedoch der wirklichen Problematik nicht gerecht. Die Nichtberücksichtigung ist nicht als solche, sondern nur i m Verhältnis zur Begünstigung verfassungswidrig. Es liegt daher allenfalls ein durch den Bestand und Fortbestand der Begünstigung „bedingtes" Unterlassen vor. Dieses „Unterlassen" kommt nicht nur i n der gleichheitswidrigen 25
BVerfGE 34, 9 (44). BVerfGE 32, 199 (221), der Hinweis auf die „verfassungsgemäße" Regel u n g k o m m t etwas überraschend, da sonst n u r von Verstößen gegen Bundesrecht die Rede ist. 27 BVerfGE 8, 1 (19). — Die Erwägung, daß die Nichtigerklärung ausscheidet, w e n n sie einen Zustand schaffen würde, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde, taucht auch sonst — i n unterschiedlichsten Z u sammenhängen — auf, vgl. BVerfGE 4, 157 (170): Saar-Urteil; E 33, 303 (347): numerus clausus-Urteil. 28 Rupp - von Brünneck, F N 4, S. 367; vgl. ferner Rudolf Schneider, Rechtsschutz gegen verfassungswidriges Unterlassen des Gesetzgebers, AöR Bd. 89 (1964) S. 24 ff.; Rauschning, F N 7, S. 233 ff. („relatives Unterlassen"). 26
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begünstigenden Regelung zum Ausdruck, sondern macht diese Regelung — i n der später noch darzulegenden Weise — selbst verfassungswidrig. Das BVerfG argumentiert denn auch nicht mit gesetzgeberischem Unterlassen, sondern begründet die bloße Verfassungswidrigerklärung m i t der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Die Nichtigerklärung hindert jedoch den Gesetzgeber genauso wenig wie die Verfassungswidrigerklärung, den jeweiligen Sachbereich für die Zukunft und auch i m Blick auf die Vergangenheit neu zu regeln. Sie beengt ihn nicht stärker. Der Gesetzgeber darf zwar ein Gesetz gleichen Inhalts nicht noch einmal erlassen, ist aber i m übrigen — i m Rahmen der Verfassung — frei. Der Hinweis auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers vermag insoweit nicht zu überzeugen. Die „Gestaltungsfreiheit" kann jedoch auch i n einem weiteren Sinne verstanden werden, indem man nicht auf die (spätere) gesetzgeberische Tätigkeit, sondern allgemein auf den Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers abstellt. Durch die Nichtigerklärung — sei es der begünstigenden Regelung, sei es der von der Begünstigung ausschließenden Norm — w i r d dem Gesetzgeber bis zur möglichen Neuregelung gleichsam eine bestimmte „Rechtslage", nämlich das an Stelle des für nichtig erklärten Gesetzes maßgebliche Recht, „aufgezwungen". Das gilt insbesondere für die Nichtigerklärung der Ausschlußnorm. Sie hätte nicht nur eine kassatorische, sondern (mittelbar) zugleich und vor allem auch eine kreative Wirkung, da sie den Kreis der Anspruchsberechtigten erweitern würde 2 9 . Die Nichtigerklärung der begünstigenden Regelung hätte zwar nur eine negierende Wirkung, sie würde aber m i t dem Gleichheitsverstoß auch eine staatliche Förderung beseitigen, die für sich betrachtet nicht nur nicht zu beanstanden, sondern eventuell sogar sozialstaatlich bedingt ist 8 0 . Die Nichtigerklärung kann auch sonst weitergreifende Folgen haben, indem sie den Anwendungsbereich einer 29 I n der L i t e r a t u r ist die Auffassung vertreten worden, daß auch der später tätig werdende Gesetzgeber i m Blick auf die Vergangenheit keine andere Regelung treffen könne, da sich wegen des Vertrauensschutzes der bislang Begünstigten die Gleichheit n u r durch Einbeziehung der Vernachlässigten i n die Begünstigung herstellen lasse, so R. Schneider, F N 28, S. 46 f. Das ist jedoch nicht unbedingt zwingend, vgl. BVerfGE 8, 1 (10), ferner, allerdings nicht zweifelsfrei, OVG Koblenz, Z B R 1973, 306. 30 Das BVerfG hat zwar früher gelegentlich die Nichtigerklärung als theoretische Möglichkeit erwähnt, aber nicht ausgesprochen, vgl. oben F N 11. — F ü r die Nichtigerklärung der begünstigenden Regelung Salzwedel, Gleichheitsgrundsatz u n d D r i t t w i r k u n g , Festschrift f ü r Jahrreiss, 1964, S. 339 (343); Pfeiffer, Die Verfassungsbeschwerde i n der Praxis, 1959, S. 12 f.; vgl. auch Gerhard Hoffmann, Die V e r w a l t u n g u n d das verfassungswidrige Gesetz, JZ 1961, 193 (197).
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Hechtsvorschrift vergrößert 3 1 oder zu erheblichen Rechtseinbrüchen führt. Bei gleichheitswidrigen Gesetzen ist das aber strukturell bedingt. Die Lösung ergibt sich aus der Eigenart des Gleichheitssatzes und der ihr entsprechenden Eigenart des Gleichheitsverstoßes. Der Gleichheitssatz ist seiner Natur nach ambivalent und relativ 3 2 . Er verlangt, daß gleiche Sachverhalte gleich und ungleiche Sachverhalte entsprechend ihrer Ungleichheit ungleich geregelt werden. Da er vergleicht, setzt er mehrere, zumindest zwei Sachverhalte voraus, die miteinander i n Beziehung gesetzt werden. Vom Standpunkt des Gleichheitssatzes aus interessiert nicht die Regelung der Sachverhalte als solche, sondern nur die Frage, ob gleiche Sachverhalte vorliegen, die auch gleich zu regeln sind. Das bestimmt auch das Verdikt des Gleichheitsverstoßes: Verfassungswidrig ist nicht die Regelung A oder die Regelung B, sondern ihre unterschiedliche Regelung 33 . Nur in dieser Beziehung — i n der unterschiedlichen Behandlung — ist ein gegen den Gleichheitssatz verstoßendes Gesetz verfassungswidrig. Die Relativität des Gleichheitssatzes führt zu einer nur relativen Verfassungswidrigkeit. Die Nichtigerklärung, die sich an Gesetzen, die i n Freiheit und Eigentum eingreifen, entwickelt hat und darauf zugeschnitten ist, vermag die relative Verfassungswidrigkeit nicht recht zu fassen; sie greift entweder daneben oder schießt über den eigentlichen Verfassungsverstoß hinaus 3 4 . Auf das gleichheitswidrig begünstigende Gesetz bezogen bedeutet das: Wenn ein begünstigendes Gesetz wegen Nichtberücksichtigung einer bestimmten Gruppe mit dem Gleichheitssatz nicht vereinbar ist, so ist weder die Begünstigung noch die Nichtberücksichtigung, sondern allein die Tatsache, daß die beiden Gruppen unterschiedlich behandelt werden, verfassungswidrig. Deshalb würde weder die Nichtigerklärung der begünstigenden Norm noch die Nichtigerklärung der Auschlußnorm den eigentlichen Verfassungsverstoß erfassen. Da sich die Verfassungswidrigkeit auch nicht sachlich begrenzen läßt, sondern sich — wenngleich nur „relativ" — über das ganze Gesetz erstreckt, ist auch eine die Verfassungswidrigkeit exakt ergreifende Teilnichtigerklärung nicht möglich. Unter diesen Aspekten ist es gerechtfertigt, wenn das BVerfG auf die Nichtigerklärung verzichtet und lediglich die Verfassungswid31
Vgl. dazu R. Schneider, F N 28, S. 45. Dazu vor allem Salzwedel, F N 30, S. 342 f., der den Gleichheitssatz als „akzessorisch" bezeichnet. 33 BVerfGE 33, 90 (103 ff.); vgl. ferner Jülicher, F N 7, S. 61 ff.; Schef old/ Leske, N J W 1973, 1300. 34 Z u r Problematik Nichtigerklärung und Gleichheitssatz i m Bereich der staatlichen Leistungsgewährung Zacher, Soziale Gleichheit, AöR Bd. 93 (1968) S. 341 (345 ff.). 32
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rigkeit ausspricht. Die vom BVerfG entwickelten Ausnahmen lassen sich damit rechtfertigen, daß in diesen Fällen nicht mehr zwei variable Regelungen gegeben sind, sondern eine Regelung — aus objektiven, insbesondere verfassungsrechtlichen Gründen oder nach dem Willen und Konzept des Gesetzgebers — festliegt und daher der andere gleich zu behandelnde Sachverhalt nicht mehr anders geregelt werden kann 3 5 . 3. Dieselben Gesichtspunkte ergeben sich bei gleichheitswidrigen Steuer- und sonstigen Abgabengesetzen. Auch hier ist weder die Belastung der einen Gruppe noch die Privilegierung der anderen Gruppe, sondern die unterschiedliche steuerliche Heranziehung der beiden Gruppen verfassungswidrig, die weder mit der Nichtigerklärung der Belastung noch m i t der Nichtigerklärung der Privilegierung präzis erfaßt werden kann 3 6 . Die hier entwickelten Grundsätze gelten i m Prinzip für alle gegen den Gleichheitssatz verstoßenden Gesetze. Das ist um so mehr gerechtfertigt, als die Frage, ob ein Gesetz begünstigend oder belastend w i r k t , nicht immer eindeutig bestimmt werden kann, bzw. vom jeweiligen Standpunkt abhängt. Die Nichtigerklärung ist (nur) dann geboten, wenn ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz „einseitige", insbesondere diskriminierende Wirkung hat 3 7 . 4. Die unter I I 4 genannten Entscheidungen, die gegen Freiheitsgrundrechte verstoßende Gesetze betreffen, sind offensichtlich von Vorstellungen, die an den gleichheitswidrigen Gesetzen entwickelt w u r den, geprägt. Das zeigt vor allem die ausdrückliche Bezugnahme auf A r t . 3 I GG. Das BVerfG stellt — sowohl i n den Gründen als auch i m Tenor selbst — nicht nur einen Verstoß gegen A r t . 12 I GG, bzw. Art. 5 I I I GG fest, sondern setzt diese Grundrechte i n Verbindung zu A r t . 3 I GG. I m Hochschulurteil werden sogar die Grundsatzurteile zum gleichheitswidrigen Gesetz herangezogen. Wenn das Gericht unter Bezug35
Es wäre daher nicht zu fragen, ob der Gesetzgeber bei Kenntnis des Gleichheitsverstoßes die Ausdehnung gewählt hätte, sondern ob er die bisherige Regelung beibehalten w i l l m i t der Konsequenz, daß dann die Nichtberücksichtigten einzubeziehen sind. 36 So vor allem BVerfGE 33, 90 (103 ff.). Die übergreifende W i r k u n g einer Nichtigerklärung bei Gleichheitsverstößen k o m m t auch sehr i n s t r u k t i v i m Umsatzsteuer-Urteil (BVerfGE 21, 12, 39 f.) zum Ausdruck. Da eine V e r fassungswidrigerklärung zur Unanwendbarkeit des Gesetzes geführt hätte, mußte auch sie i m Blick auf den Staatshaushalt unterbleiben, vgl. Rupp von Brünneck, F N 4, S. 372 ff. 37 Vgl. dazu Salzwedel, F N 30, S. 345 ff. E i n Sonderfall liegt auch vor, wenn die Nichtberücksichtigten nicht nur durch den Ausschluß von der Begünstigung, sondern auch und ggf. sogar vor allem durch die Begünstigung der anderen betroffen werden, etwa i m F a l l einer wettbewerbsverzerrenden Subventionierung, vgl. dazu BVerfGE 18, 1 (12 f.). 23*
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nähme auf diese Urteile feststellt, daß „bei der gegebenen Rechtslage" eine Nichtigerklärung nicht erfolgen konnte, so soll damit wohl gesagt sein, daß die verfassungswidrige Benachteiligung der Hochschullehrer durch das Vorschaltgesetz nicht ausdrücklich bestimmt war und deshalb — wie i m Falle eines stillschweigenden Ausschlusses von der begünstigenden Regelung — auch nicht für nichtig erklärt werden konnte. Die Anwendung des A r t . 5 I I I GG als „Teilhaberecht" dürfte diese Deutung noch unterstützt haben. Die Anlehnung an den Gleichheitssatz lenkt jedoch vom eigentlichen Verfassungsverstoß ab. Die die Berufsfreiheit einschränkenden Regelungen (Pflicht zur Erdölbevorratung, Sachkundenachweis) wirken sich, folgt man dem BVerfG, auf die Betroffenen unterschiedlich aus; sie sind i m Blick auf die Mehrzahl der Gesetzesadressaten verfassungsgemäß, stellen aber für eine bestimmte Personengruppe eine unverhältnismäßige und daher verfassungswidrige Belastung dar. Diese Belastung ist jedoch nicht nur i m Verhältnis zu den anderen, sondern schon für sich betrachtet verfassungswidrig. Sie verstößt, wie das BVerfG selbst feststellt, gegen Art. 12 I GG. Sie ist daher nicht nur relativ, sondern absolut verfassungswidrig. Der Vergleich m i t den übrigen Gruppen mag zur Ermittlung der tatsächlichen Belastung nützlich gewesen sein. Nachdem aber eine gegen A r t . 12 I GG verstoßende Belastung festgestellt werden konnte, kam es auf A r t . 3 I GG überhaupt nicht mehr an. Der Gleichheitssatz hat nur subsidiären Charakter; er greift erst dann ein, wenn eine (Sonder)Regelung nicht schon für sich betrachtet verfassungswidrig ist 3 8 . Die Erwähnung des A r t . 3 I GG war deshalb überflüssig. Das hat durchaus auch praktische Bedeutung: Da ein Verstoß gegen ein Freiheitsgrundrecht, also eine absolute Verfassungswidrigkeit, vorliegt, kann der Gesetzgeber die „Ungleichbehandlung" nicht — wie bei (echten) Gleichheitsverstoßen — in dieser oder jener Rich-
38 So z.B. Ipsen, Gleichheit, i n : Neumann - Nipperdey - Scheuner, Die Grundrechte, Bd. I I , 1954, S. 111 (157 f., 190); v. Mangoldt - Klein, G r u n d gesetz, 2. A u f l . 1957, A r t . 3 A n m . I I I 4 c; Hamann/Lenz, F N 11, A r t . 3 A n m . A 5; Salzwedel, F N 30, S. 342 f.; Lerche, F N 7, S. 358. — Vgl. zur nicht k l a r differenzierenden Rechtsprechung des BVerfG auch (grundsätzlich zustimmend) Wittig, Bundesverfassungsgericht u n d Grundrechtssystematik, Festschrift f ü r Gebhard Müller, 1970, S. 575 (586 ff.), ferner Jülicher, F N 7, S. 93 ff. Die These des BVerfG, daß A r t . 2 I GG, bzw. ein Spezialfreiheitsrecht (etwa A r t . 12 I GG) stets dann verletzt seien, wenn gegen irgendeine Verfassungsn o r m verstoßen wurde, w i r d besonders fraglich, wenn auch A r t . 3 I GG einbezogen w i r d . Der Unterschied zwischen freiheitsbeschränkenden u n d gleichheitsverletzenden Regelungen darf wegen ihrer unterschiedlichen W i r k u n g nicht verwischt werden. I m einzelnen k a n n hier auf das Verhältnis von A r t . 2 I u n d 3 I GG nicht weiter eingegangen werden.
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tung ausgleichen, sondern muß auf jeden Fall eine Regelung treffen, die die als verfassungswidrig erkannte Belastung vermeidet 3 9 . Dasselbe gilt für die Hochschul-Entscheidung. Die Paritätenregelung und die Bestimmung der Hochschullehrergruppe mögen sich auch als eine „Ungleichbehandlung" darstellen. Maßgebend ist das jedoch nicht. Entscheidend ist vielmehr, daß die „beanstandeten Vorschriften" gegen Art. 5 I I I GG verstießen und deshalb verfassungswidrig waren. Dieser Grundrechtsverstoß läßt sich — wiederum i m Unterschied zur Gleichheitsverletzung — nicht ambivalent i n dieser oder jener Hinsicht, sondern nur durch eine Verstärkung des Stimmengewichts der Hochschullehrer usw. beseitigen. Man kann ferner die Benachteiligung der Hochschullehrer auch nicht auf ein gesetzgeberisches Unterlassen, auf eine Nichtregelung, reduzieren; denn das Gesetz selbst, „die beanstandeten Vorschriften", beeinträchtigen — nach ihrem Inhalt und ihrer Wirkung — unmittelbar die Grundrechte der Hochschullehrer. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers wäre in allen diesen Fällen durch eine Nichtigerklärung nicht betroffen worden; der Gesetzgeber hätte genauso wie nach der Verfassungswidrigerklärung die ihm geeignet erscheinende Neuregelung treffen können und müssen. Der Verzicht auf die Nichtigerklärung i m Hochschulfall läßt sich auch nicht i m Blick auf den „Gestaltungsfreiraum" des Gesetzgebers damit rechtfertigen, daß das „Wiederaufleben des früheren Rechtszustandes", d.h. das Fortgelten des durch das nichtige Gesetz formell nicht beseitigten früheren Rechts, verhindert werden sollte 40 . Die Normenkontrolle bezieht und beschränkt sich auf die Verfassungsmäßigkeit und Geltung des zu überprüfenden Gesetzes. Sie darf — von Ausnahmefällen abgesehen, die dann aber konsequenterweise zur AppellEntscheidung führen müßten — grundsätzlich nicht davon abhängig gemacht werden, ob und wie die aufgerissene „Lücke" geschlossen werden kann. Zudem ist es keineswegs zwingend, daß das frühere Recht (wieder) anzuwenden ist 4 1 . So ist es ζ. B. denkbar, daß infolge Änderung 39 Ebenso ist die Berufung auf A r t . 3 I GG verfehlt, w e n n sich ein A n spruch auf gesetzgeberisches Tätigwerden bereits aus dem Grundgesetz ergibt, vgl. zutr. für A r t . 33 V GG BVerfGE 8, 1 (22); ferner Lerche, F N 7, S. 361 f.; anders jedoch BVerfGE 26, 100 (115); 26, 163 (171 f.). 40 Es w i r d die Auffassung vertreten, daß dies einer der Gründe für die bloße Feststellung der Verfassungswidrigkeit gewesen sei, vgl. Gutachtliche Stellungnahme der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen vom 23. 6. 1973, S. 6 und 8; Mußgnug, Die Berliner Universitäten unter dem Universitätsgesetz X I V v o m 22.6.1973, S. 7; ferner S chef old/ Le ske, N J W 1973, 1302, die allerdings die Verfassungswidrigerklärung gerade auch damit rechtfertigen, daß ein rechtsleerer Raum vermieden werden sollte. 41 Vgl. dazu Engelhardt, Das richterliche Prüfungsrecht i m modernen V e r fassungsstaat, JöR N. F. Bd. 8 (1959) S. 101 (134); Rudolf, Die verfassungs-
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der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse das frühere Recht nicht mehr auf seine Rechtswirklichkeit t r i f f t und deshalb unanwendbar ist, zumal dann, wenn nur einige Vorschriften für nichtig erklärt worden sind und daher altes und neues Recht widerspruchsvoll durcheinander gerieten. Andererseits kann sich der (zulässige) Rückgriff auf das frühere Recht auch als hilfreich erweisen. Aber darüber haben die rechtsanwendenden Organe zu entscheiden, nachdem das BVerfG durch Nichtigerklärung Klarheit über die Verfassungswidrigkeit und Ungültigkeit eines verfassungsrechtlich umstrittenen Gesetzes geschaffen hat. Wenn das BVerfG die Anwendbarkeit des früheren Rechts, das i m Falle der Nichtigerklärung (wieder) gelten würde, durch eine bloße Verfassungswidrigerklärung sperren wollte, würde es unzulässigerweise i n den Bereich der Gesetzgebung übergreifen; wenn es dagegen lediglich dokumentieren w i l l , daß die Anwendbarkeit de lege lata ausgeschlossen ist, so genügen entsprechende Bemerkungen in den Gründen. Ferner könnte man darauf hinweisen, daß die Nichtigerklärung vermieden werden mußte, weil sie eine über den eigentlichen Verfassungsverstoß hinausreichende Wirkung entfaltet hätte. So verstießen die die Berufsfreiheit einschränkenden Gesetze auch i m Blick auf die verfassungswidrig betroffenen Personen nicht schlechthin, sondern nur in ihrem Ausmaß gegen A r t . 12 I GG. Eine weniger einschneidende Regelung wäre ggf. haltbar gewesen. Das kann aber den Verzicht auf die Nichtigerklärung nicht rechtfertigen. Wenn eine gesetzliche Vorschrift, so wie sie in concreto ergangen ist und w i r k t , einen materiellen Grundrechtsverstoß darstellt, ist sie grundsätzlich durch Nichtigerklärung zu beseitigen. Anders als beim Gleichheitsverstoß liegt hier eben nicht eine für sich betrachtet verfassungsgemäße Regelung, sondern ein absoluter Verfassungsverstoß vor. I n den meisten Fällen dürfte übrigens eine weniger belastende Regelung noch verfassungsgemäß sein, so daß, wenn man darauf abstellte, die Nichtigerklärung zur Ausnahme würde. A l lerdings bestehen hier Grenzen. I m Urheberrechtsfall (BVerfGE 31, 229, vgl. oben I I 4 c) wäre es in der Tat nicht gerechtfertigt gewesen, die vergütungsfreie Aufnahme in Sammlungen (§ 46 Urheberrechtsgesetz) für nichtig zu erklären. Die Entscheidung mußte sich auf den selbständigen (!) Aspekt der Vergütung beschränken; da diese aber nicht ausdrücklich untersagt war, blieb nur die Feststellung der Verfassungswidrigkeit. Die Frage ist, ob sich sonst die Verfassungswidrigerklärung nicht damit rechtfertigen läßt, daß die verfassungswidrigen und verfassungsmäßigen Teile des Gesetzes nicht justiziabel voneinander abgegrenzt rechtliche Problematik der Helgoländer Gemeindeeinfuhrsteuer, AöR Bd. 85 (1961) S. 457 (464 f.).
Zur V e r f a s s u n g s i d r i g e r k l ä r u n g von Gesetzen
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werden konnten. I n den Entscheidungen zu A r t . 12 I GG mag man darauf hinweisen, daß nur ein Teil der Gesetzesadressaten verfassungswidrig belastet wurde, es aber nicht Sache des BVerfG sei, insoweit die genaue Grenzlinie zu ziehen. Der gesetzeskräftige Tenor erfordert jedoch eine präzise Formulierung. Wenn es dem BVerfG nicht möglich war, die „nach typischen Merkmalen deutlich abgrenzbare Gruppe" selbst zu bestimmen, dann hätte es sich auf die Gruppe beschränken müssen, der der Kläger des Ausgangsverfahrens angehörte. I m Hochschulfall ist die Entscheidung vor allem damit erklärt worden, daß das Vorschaltgesetz eine unentwirrbare Gemengelage untereinander verzahnter, teilweise verfassungswidriger, teilweise verfassungsmäßiger Vorschriften enthielt, die sich durch Richterspruch nicht entflechten ließen 42 . Es ist hier nicht weiter zu untersuchen, ob eine justiziable Abgrenzung wirklich nicht möglich war. Die Verfassungswidrigerklärung bietet jedenfalls dann einen Ausweg, wenn die Nichtigerklärung nicht sachgerecht differenzierend durchzugreifen vermag, die Praxis aber entsprechende Differenzierungen treffen kann und die Aufrechterhaltung der verbleibenden verfassungsmäßigen Teile des Gesetzes i m Interesse des Hochschulbetriebs notwendig und sinnvoll ist. Unter diesen Voraussetzungen ließ sich die bloße Verfassungswidrigerklärung des Hochschulurteiles halten. I n den die Berufsfreiheit einschränkenden Fällen BVerfGE 30, 292 und 34, 71 hätte dagegen eine auf die unverhältnismäßig belastete Personengruppe beschränkte Teilnichtigerklärung erfolgen können und müssen. Die bloße Feststellung der Verfassungswidrigkeit i m Urheberrechtsfall BVerfGE 31, 229 war aus den erörterten Gründen gerechtfertigt. 5. Die gegen Bundesrecht verstoßenden landesrechtlichen Besoldung sv or Schriften unterscheiden sich von dem eingangs erwähnten Besoldungsfall (BVerfGE 8, 1) dadurch, daß sie nicht — an A r t . 33 V GG gemessen — zu wenig gewährten, sondern inhaltlich bundesrechtswidrig waren. Sie waren auch nicht i m Verhältnis zu anderen Regelungen, sondern für sich betrachtet rechtswidrig, so daß die nicht weiter erklärte Bezugnahme auf die Rechtsprechung zu den gleichheitswidrigen Gesetzen 43 verfehlt erscheint. Der Verzicht auf die Nichtigerklärung läßt sich wohl nur damit begründen, daß die Bundesrechtswidrigkeit nicht mit einer Verfassungswidrigkeit (Fehlen einer Besoldungsregelung überhaupt) vertauscht werden sollte. Fraglich ist jedoch, ob nicht Ersatzregelungen (früheres Recht, entsprechende Anwendung der ver42 43
So Mußgnug, F N 40, S. 7 f.; Gutachten, F N 40, S. 5 f. So BVerfGE 34, 9 (44).
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bleibenden Besoldungsvorschriften) i n Betracht kamen. Da die Vorschriften — auch i m Tenor — für rechtswidrig erklärt worden sind, kann man schwerlich sagen, daß eine eindeutige Rechtsgrundlage besteht. Das vom BVerfG intendierte Ziel ist also gerade nicht erreicht worden 4 4 . 6. Zusammenfassend ist vorläufig festzustellen: Die Verfassungswidrigerklärung ist — abgesehen von (an sich verfassungswidrigem) gesetzgeberischem Unterlassen — bei gleichheitswidrigen Gesetzen die i. d. R. adäquate Entscheidungsform. Bei freiheitsbeschränkenden Gesetzen ist sie nur ausnahmsweise dann gerechtfertigt, wenn sich der Verfassungsverstoß nicht klar erfassen läßt und die Nichtigerklärung weit über den eigentlichen Verfassungsverstoß hinausreichen würde. IV. Die Folgen der Verfassungswidrigerklärung Die Verfassungswidrigerklärung läßt sich erst dann endgültig beurteilen, wenn man ihre rechtlichen Konsequenzen i n der Zeit bis zur gesetzlichen Neuregelung i n die Überlegungen einbezieht. 1. Für einen Teilbereich, nämlich den des Straf rechts, hat der Gesetzgeber selbst eine Folgenregelung getroffen. Nach § 79 I BVerfGG ist eine Wiederaufnahme eines rechtskräftigen Strafurteils u. a. dann zulässig, wenn dieses auf „einer m i t dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Norm" beruht. Wenn aber schon ein vor der Verfassungswidrigerklärung ergangenes und rechtskräftiges Strafurteil i m Wege der Wiederaufnahme zu beseitigen ist, dann dürfte es erst recht unzulässig sein, daß nach der Verfassungswidrigerklärung eine Strafe ausgesprochen wird. § 79 I BVerfGG gilt nicht nur für echte Strafnormen (Kriminals traf recht), bei denen eine bloße Verfassungswidrigerklärung ohnehin kaum denkbar ist, sondern auch für die Vielzahl verwaltungsrechtlicher Vorschriften, die unter Strafschutz gestellt sind. Er enthält zwar nur ein „Strafverbot", impliziert aber zugleich, daß die strafbewehrten Vorschriften nicht beachtet werden müssen. Der Gesetzgeber selbst geht also — zumindest für den von § 79 I BVerfGG erfaßten Bereich — davon aus, daß für verfassungswidrig erklärte Gesetze unanwendbar und Rechtsakte (Strafurteile) aufgrund eines solchen Gesetzes rechtswidrig sind 4 5 . 44 Daß sich der Verzicht auf die Nichtigerklärung der rechtswidrigen Regelung der Amtsbezeichnungen nicht m i t der Gestaltungsfreiheit rechtfertigen läßt (BVerfGE 32, 199, 221), ergibt sich bereits aus den bisherigen Ausführungen. 45 Fraglich ist, w a r u m § 79 I I B V e r f G G nicht entsprechend ergänzt wurde. Zur analogen Anwendung vgl. Dietlein, Neuregelungen für die Verfassungs-
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2. Das BVerfG hat bislang zu den Folgen noch nicht allgemein Stellung genommen, sondern sich nur zur weiteren Behandlung der konkreten Ausgangsverfahren i m Bereich der gleichheitswidrigen Gesetze geäußert. Danach hat das Prozeßgericht das Verfahren (weiterhin) auszusetzen, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung getroffen hat. Durch die Aussetzung soll dem Kläger die Chance der Teilhabe an der späteren, für ihn eventuell günstigen Regelung offen gehalten w e r d e n 4 6 ' 4 7 . Die Aussetzung ist konsequent: Ein Gericht, das zu der Auffassung gelangt, daß der Kläger (die Gruppe des Klägers) unter Verletzung des Gleichheitssatzes nicht i n eine begünstigende Regelung einbezogen wurde, hat gem. Art. 100 I GG das Verfahren auszusetzen und die Sache dem BVerfG vorzulegen 48 . Wenn das BVerfG den Ausschluß für verfassungsgemäß oder für nichtig erklärt, kann das Prozeßgericht endgültig entscheiden. Stellt dagegen das BVerfG nur die Verfassungswidrigkeit fest, so steht das Prozeßgericht vor der gleichen Patt-Situation wie vor der Vorlage. Es darf die Klage nicht abweisen, weil der Ausschluß verfassungswidrig ist; es darf ihr aber auch nicht stattgeben, weil (mangels Nichtigerklärung) keine anspruchsbegründende Norm vorliegt oder i m Wege der Lückenausfüllung gefunden werden könnte. Der Unterschied gegenüber früher liegt nur darin, daß nunmehr die Verfassungswidriggerichtsbarkeit, DVB1. 1971, 125 (130 f.). Hoffmann - Riem, Die Beseitigung verfassungswidriger Rechtslagen i m Zweitaktverfahren, DVB1. 1971, 842 (845) w i l l dagegen § 79 BVerfGG erst nach erfolgter gesetzlicher Neuregelung analog anwenden (er geht aber offenbar noch von der früheren Fassung dieser Vorschrift aus). 46 So nach Vorlage gem. A r t . 100 I GG: BVerfGE 23, 74 (78); 24, 220 (224); 28, 324 (363); 29, 71 (83); 31, 1 (7 f.). W i r d die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes i m Rahmen einer Urteils-Verfassungsbeschwerde festgestellt, so hebt das BVerfG das U r t e i l auf u n d weist die Sache an das zuständige Gericht zurück, das das Verfahren bis zur endgültigen Entscheidung auszusetzen hat, so BVerfGE 15, 46 (76 f.); 22, 349 (362 f.); 25, 236 (255 f.); 29, 57 (71); 32, 365 (372 f.); ferner i m Blick auf steuerrechtliche Regelungen BVerfGE 23, 1 (11 f.); 25, 101 (111 f.). — Vgl. dazu i m einzelnen Hoffmann - Riem, DVB1. 1971, 843 f. 47 Bemerkenswert ist ferner die Tenorierung i n BVerfGE 33 (303), vgl. oben F N 5. Sie legt den Schluß nahe, daß das B V e r f G davon ausging, die verfassungswidrig erklärte Vorschrift sei an sich unanwendbar. Andererseits w i l l aber das BVerfG i n den Entscheidungen zu den landesrechtlichen Besoldungsgesetzen (BVerfGE 32, 199 u n d 34, 9) durch die bloße Feststellung der Bundesrechtswidrigkeit offensichtlich die weitere Anwendbarkeit ermöglichen. — Diese Entscheidungen lassen noch keine allgemeine Folgerung zu. 48 So BVerfGE 23, 74 (78); 23, 135 (142); 24, 220 (224); 28, 324 (346) unter A u f gabe der früheren Rechtsprechung, vgl. zuletzt BVerfGE 15, 121 (125 f.). — Vgl. dazu R. Schneider, AöR Bd. 89 (1964) S. 41 ff.; ferner zur Problematik auch Schumann, Die Problematik der Urteils-Verfassungsbeschwerde bei gesetzgeberischem Unterlassen, AöR Bd. 88 (1963) S. 331 ff.
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keit verbindlich festgestellt ist und die Lösung nicht mehr vom BVerfG, sondern nur noch vom Gesetzgeber kommen kann. Das Verfahren muß deshalb bis zur gesetzgeberischen Entscheidung ausgesetzt bleiben. 3. Die Regelung des § 79 I BVerfGG und die erwähnten Hinweise des BVerfG bestätigen die sich aus Art. 1 III, 20 III und 100 I GG ergebenden Folgen der Verfassungswidrigerklärung. Nach Art. 1 I I I und 20 I I I GG darf ein verfassungswidriges Gesetz nicht angewendet werden; die Frage, ob ein solches Gesetz nichtig ist, spielt hier keine Rolle, denn — wie sie auch immer i n concreto beantwortet w i r d — die staatlichen Organe dürfen jedenfalls nicht durch Vollziehung und Verwirklichung eines verfassungswidrigen Gesetzes selbst verfassungswidrig handeln. Da das BVerfG die Verfassungswidrigkeit verbindlich festgestellt hat, greift auch die i m Entscheidungsmonopol des Art. 100 I GG liegende Vor- und Sperrwirkung nicht ein. I m Gegenteil, die staatlichen Organe sind an die Verfassungswidrigerklärung gebunden und müssen sie berücksichtigen. Die Frage ist nur noch, ob die staatlichen Organe das für verfassungswidrig erklärte Gesetz 49 ignorieren müssen, d. h. unter Außerachtlassung dieses Gesetzes die konkrete Sache zu entscheiden haben, oder ob sie das Gesetz weder anwenden noch ignorieren dürfen, sondern die konkrete Sache zunächst i n der Schwebe lassen müssen. Der Verzicht auf die Nichtigerklärung weist darauf hin, daß die Lösung vom Gesetzgeber kommen muß und daher dessen Regelung abzuwarten ist. Die dem für verfassungswidrig erklärten Gesetz konfrontierten rechtsanwendenden Organe befinden sich i n derselben Situation wie das Gericht, das das Gesetz nach A r t . 100 I GG vorlegte und die Verfassungswidrigerklärung veranlaßte. Die Parallelfälle sind nicht anders zu behandeln als der Anlaßfall. Die staatlichen Organe (Gerichte, Verwaltungsbehörden usw.) dürfen ein für verfassungswidrig erklärtes Gesetz nicht anwenden; sie haben die anstehende Sache dilatorisch zu behandeln, indem sie das Verfahren aussetzen, bzw. die endgültige Entscheidung aufschieben. 4. Die hier vertretene Auffassung entspricht i m Ergebnis der überwiegenden Meinung i n der Literatur 5 0 , wobei allerdings zu bemerken 49 I n der Regel bezieht sich die Verfassungswidrigerklärung nur auf Teile des Gesetzes; diese verfassungswidrige Teile sind gemeint, wenn i m folgenden vereinfachend von dem für verfassungswidrig erklärten Gesetz die Rede ist. 50 Vgl. Leibholz - Rupprecht, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Nachtrag 1971, § 31 A n m . 3; Rupp-von Brünneck, F N 4, S. 375; Schmidt - Bleibtreu, B B 1970, 1172; Runge, D B 1970, 1661 f.; Pestalozza, F N 4, S. 36 F N 25; Maiwald, BayVBl. 1971, 93; Jülicher, F N 7, S. 73 sowie die Nachweise i n F N 52. —
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ist, daß die meisten Stellungnahmen nur sporadisch zu einzelnen Fällen oder Fallgruppen erfolgten und sich daher nicht ohne weiteres verallgemeinern lassen. Sie ist aber — wiederum i m Blick auf bestimmte Bereiche — nicht unbestritten 5 1 . Vor allem die Folgen der Verfassungswidrigerklärung des Vorschaltgesetzes i m Hochschulurteil sind umstritten 5 2 . Es w i r d die Meinung vertreten, daß das Vorschaltgesetz bis zum Erlaß einer gesetzlichen Neuregelung noch anzuwenden sei, da das BVerfG von einer Nichtigerklärung abgesehen und damit „das verfassungswidrig erklärte Gesetz in seinem Bestand belassen" habe 53 . Die Verfassungswidrigerklärung käme damit i m Ergebnis einer sog. Appell-Entscheidung gleich 54 . Eine A p pell-Entscheidung hat aber das BVerfG gerade nicht getroffen. Man kann daher der Verfassungswidrigerklärung auch nicht einfach deren Folgen beimessen. Das gilt um so mehr, also sich eine Appell-Entscheidung, wie das BVerfG an anderer Stelle betont 5 5 , nur „rechtfertigen" läßt, wenn „besondere Umstände" vorliegen. M i t der Verfassungswidrigerklärung ist das Vorliegen solcher Umstände — sachlich zu Recht — verneint 5 6 . Es fragt sich aber, ob bei für verfassungswidrig erklärten Ferner — allerdings einschränkend — Schefold/Leske, NJW 1973, 1301 f.; ebenfalls einschränkend Hoffmann - Riem, DVB1. 1971, 843 ff., der jedoch von der Rechtswirksamkeit des Gesetzes ausgeht u n d die Aussetzung (zu einseitig) n u r unter dem Gesichtspunkt der späteren Teilhabe an der gesetzlichen Neuregelung betrachtet. 51 Kleeberg, B B 1970, 964 f. u n d 1172 f.; Flume, D B 1970, 1507 f.; Bad.W ü r t t . FG, EFG 1972, 278 (jeweils für die Fortgeltung der Privilegierung der L a n d w i r t e nach § 4 I 5 EStG trotz dessen Verfassungswidrigerklärung durch BVerfGE 28, 227, a. A . Schmidt-Bleibtreu, Runge, Pestalozza und Maiwald, F N 50). 52 Unanwendbarkeit der verfassungswidrigen Vorschriften: Gutachten, F N 40, S. 6 ff.; Mußgnug, F N 40, S. 8 ff.; Kroeschell, Mitteilungen des Hochschulverbands 1973, S. 143 f.; vgl. auch Knies, JuS 1973, 675. — Α. A. Schefold/Leske, N J W 1973, 1302; vgl. ferner die Nachweise bei Knies, ebd. 53 So Schefold/Leske, F N 52. 54 So ausdrücklich Schefold/Leske, ebd. 55 BVerfGE 33, 90 (105). — Auch i n den Appell-Entscheidungen selbst k o m m t stets k l a r zum Ausdruck, daß es sich n u r u m exceptionelle Situationen handelt; vgl. dazu auch die eingehenden Begründungen von Rupp - von Brünneck, F N 3, S. 369 ff. 5β Schefold/Leske verweisen auf die oben F N 24 zitierten Urteile des B V e r f G zu den bundesrechtswidrigen Landesbesoldungsgesetzen und m e i nen, daß — wie dort — von der Nichtigerklärung abgesehen wurde, u m einen „rechtsleeren Raum (zu) vermeiden u n d bis zum Erlaß der verfassungsmäßigen Regelung einen eindeutigen Rechtszustand (zu) sichern". I m Hochschulurteil k o m m t diese Erwägung jedoch nirgends zum Ausdruck. Sie allein würde den Verzicht auf die Nichtigerklärung auch nicht rechtfertigen, zumal wenn man m i t Schefold/Leske der Ansicht ist, daß i m Falle der Nichtigerklärung „der Rückgriff auf die vor dem Vorschaltgesetz geltende Regelung
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Organisationsgesetzen nicht doch differenzierende Lösungen gesucht werden müssen, etwa indem die auf dem verfassungswidrigen Gesetz beruhenden Organe einstweilen existent bleiben und ihre Entscheidungen rechtswirksam werden, sofern sie nicht i n materiell-rechtlicher Sicht rechtswidrig sind 5 7 . Dieser Frage braucht jedoch hier nicht weiter nachgegangen zu werden. Denn wenn ein Organisationsgesetz nicht nur aus formellen oder allgemeinen Gründen verfassungswidrig ist, sondern, wie das Vorschaltgesetz, selbst und unmittelbar gegen Grundund Freiheitsrechte verstößt 58 , dann sind solche Auswege versperrt. Die weitere Anwendung würde die in der Grundrechtsverletzung liegende Verfassungswidrigkeit perpetuieren und verstärken und damit gegen Art. 1 I I I und 20 I I I GG verstoßen. Das Vorschaltgesetz bleibt, wie alle anderen für verfassungswidrig erklärten Gesetze, selbstverständlich anwendbar, soweit sich die Verfassungswidrigkeit nicht auswirkt. Darüber hinaus ist es denkbar, daß durch verfassungsorientierte Wahrnehmung von Ermessensspielräumen, durch verfassungskonforme Auslegung und eventuell durch verfassungsadäquate Erweiterung und Ergänzung die verbleibenden verfassungsgemäßen Gesetzesteile i n ihrem Anwendungsbereich ausgedehnt werden 5 9 . Gerade hierin liegen Möglichkeiten und Chancen der bloßen Verfassungswidrigerklärung. Sie sind allerdings beschränkt, da sie die Entwicklung lückenausfüllender Ersatzregelungen sperrt. 5. Die rechtlich zwingenden Folgen der Verfassungswidrigerklärung sind keineswegs unproblematisch.
unabweisbar gewesen" wäre, also ein rechtsleerer Raum gar nicht entstanden wäre; vgl. dazu oben (Text zu F N 40). — Die Urteile zu den Besoldungsgesetzen lassen sich hier nicht vergleichsweise heranziehen, da sie — abgesehen davon, daß sie selbst zweifelhaft sind (vgl. oben I I I 5) — anders gelagerte Fälle betreffen („begünstigende" Gesetze, Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung nach A r t . 33 V GG, n u r geringfügiger Verstoß gegen Bundesrecht usw., vgl. dazu auch Schefold/Leske, ebd.). Näher läge ein U m kehrschluß aus BVerfGE 33, 303, w o i m Tenor ausdrücklich erklärt wurde, daß die verfassungswidrige Vorschrift noch kurzfristig angewandt werden könne. 57 I n Betracht kommen etwa Eingemeindungsgesetze, die aus formellen Gründen oder wegen Verstoßes gegen das Erfordernis des „öffentlichen Wohls" verfassungswidrig sind, vgl. dazu de lege ferenda Meyer - Hentschel, DVB1. 1973, 751 ff. 58 Vgl. B V e r f G NJW 1973, 1178 unten I V 1. 59 Denkbar wäre etwa die Z u w a h l von Hochschullehrern, u m die verfassungsrechtlich gebotene Parität herzustellen, sofern dies rechtlich u n d t a t sächlich möglich ist. I m einzelnen k a n n dem hier nicht weiter nachgegangen werden.
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Sinnvoll ist eine Aussetzung überhaupt nur dann, wenn es sich u m nachholbare Leistungen handelt. Schon die durch die Aussetzung bedingte Verzögerung kann jedoch unbefriedigend oder sogar untragbar sein, so etwa wenn für den Bürger dringend notwendige Leistungen weiterhin nicht gewährt werden 6 0 oder wenn umgekehrt Steuerzahlungen nicht eingehen. Dazu kommt, daß die rückwirkende Neuregelung auf tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten stoßen kann. Die tatsächlichen Schwierigkeiten zeigt der Umsatzsteuerfall 61 : Wäre damals das Umsatzsteuergesetz für verfassungswidrig erklärt worden, dann hätten nicht nur auf Grund dieses Gesetzes keine Steuern mehr erhoben werden können, sondern wäre auch eine rückwirkende Heranziehung auf Grund des später erlassenen Mehrwertsteuergesetzes schon aus tatsächlichen Gründen unmöglich gewesen. Die Rückwirkung kann auch auf rechtliche Grenzen stoßen, da sie unter dem Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes steht 62 . Durch die Verfassungswidrigerklärung w i r d zwar das Vertrauen i n den Bestand der verfassungswidrigen Norm zerstört. Der Vertrauensschutz hat aber eine negative und eine positive Seite. Es genügt nicht, daß der Bürger nicht auf den Bestand eines verfassungswidrigen Gesetzes vertrauen kann und deshalb m i t einer Neuregelung rechnen muß; es ist vielmehr auch erforderlich, daß i n etwa voraussehbar ist, welchen Inhalt diese Neuregelung haben wird. Wenn es noch völlig offen ist, was anstelle des bisherigen Gesetzes treten wird, ist die Rückwirkung zweifelhaft oder sogar unzulässig 63 . Die Aussetzung ist sinnlos, wenn es um unaufschiebbare Maßnahmen geht oder ein Verhalten gefordert wird, das nicht nachholbar ist. Wenn ζ. B. eine Bevorratungspflicht „ausgesetzt" w i r d 6 4 , so kann die Vorratshaltung nicht später — etwa i n verringertem Umfang — noch nachverlangt, sondern allenfalls ex nunc neu gefordert werden. Die „Aussetzung" bedeutet — vor allem i m Bereich der Verwaltung — häufig
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Vgl. dazu etwa Bosch, FamRZ 1970, 479 f. Vgl. oben F N 36. 62 Dazu das Grundsatzurteil BVerfGE 13, 261 (270 ff.), st. Rspr. 63 Vgl. dazu die eingehende Erörterung von Hoffmann - Riem, R ü c k w i r kende Besteuerung der Bodenveräußerungsgewinne von Landwirten?, DStR 1971, 3 ff., der auch zutr. nachweist, daß das B V e r f G bei verfassungswidrigen Regelungen keineswegs uneingeschränkt die R ü c k w i r k u n g der Neuregelung für zulässig erklärt hat. Die Frage, ob i m F a l l des BVerfGE 28, 227 (vgl. F N 51) eine rückwirkende Neuregelung zulässig war, k a n n hier offen bleiben, verneinend Hoff mann - Riem, ebd.; Flume, D B 1970, 1509, bejahend Runge, D B 1970, 1661 f.; Schmidt-Bleibtreu, B B 1970, 1172. 64 Vgl. den F a l l BVerfGE 30, 292 (oben F N 19 m i t Text). 61
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einen Verzicht auf die endgültige Entscheidung 65 . Da das Leben „weitergeht", vollzieht sich i m Falle rechtlichen Verharr ens die Wirklichkeit eben von selbst, sei es, daß sie gewissen Eigengesetzlichkeiten oder bloßen Zufällen folgt, sei es, daß sie durch gewisse Machtfaktoren bestimmt wird. Die Verfassungwidrigerklärung führt zu einem „Rechtsstillstand" 66 und bedroht damit auch die Rechtssicherheit. Die Unsicherheit w i r d vergrößert, wenn der Umfang der Verfassungswidrigkeit nicht genau bestimmt ist. So blieb i m Falle des Sachkundenachweises nicht nur offen, wer verfassungswidrig betroffen ist, sondern auch fraglich, wie sich die Verwaltung i m Blick auf die Betroffenen verhalten soll 6 7 . Sind es Abgrenzungsschwierigkeiten, die den Verzicht auf die Nichtigerklärung veranlassen, so werden sie i m Falle der Verfassungswidrigerklärung nicht gegenstandslos, sondern nur den rechtsanwendenden Organen zugeschoben. Die Aussetzung des Verfahrens ist nun allerdings eine bekannte und auch vielfach geregelte Erscheinung i m geltenden Recht. Es bestehen jedoch zwei wesentliche Unterschiede zwischen der üblichen Aussetzung und der Aussetzung i m Falle der Verfassungswidrigerklärung: Jene bezieht sich auf Einzelfälle, diese auf einen ganzen von dem für verfassungswidrig erklärten Gesetz erfaßten Bereich; bei jenen ist die Rechtsfrage noch offen, bei diesen liegt bereits ein definitives Unrechtsurteil vor 6 8 . Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit erklärt einen ganzen Bereich für rechtswidrig, ohne zugleich eine Alternative zu bieten. Auch die Nichtigerklärung w i r k t nur negativ, aber sie sperrt 65 Dazu Bachof, Die Prüfungs- u n d Verwerfungskompetenz der V e r w a l tung gegenüber dem verfassungswidrigen u n d bundesrechtswidrigen Gesetz, AöR Bd. 87 (1962) S. 1 (9 ff.). 66 So Schmidt - Bleibtreu, F N 50. 67 BVerfGE 34, 71 (oben F N 19 m i t Text). Vgl. dazu auch den Runderlaß des Bundesministers für Wirtschaft v o m 3.1.1973 (abgedruckt i n Gew. Arch. 1973, 48), der ausführt, daß das B V e r f G „keine eindeutige Abgrenzung v o r genommen hat, die den Verwaltungsbehörden die Möglichkeit gibt, über A n wendung oder Nichtanwendung der Sachkundebestimmungen zu entscheiden", und deshalb „ i m Interesse der Rechtssicherheit u n d der Einheitlichkeit der Gesetzesanwendung" bestimmt, daß „bis zu einer gesetzlichen Regelung auf die Anwendung des Sachkundennachweises f ü r den Lebensmittelhandel i m Ganzen zu verzichten" sei. 68 Diese Unterschiede werden von Hoffmann - Riem, DVB1. 1971, 845 ff. nicht hinreichend beachtet. Für die von i h m vorgeschlagene Interessenabwägung (S. 846) ist deshalb kein Raum. U n k l a r ist ferner, w e n n er für den F a l l einer ausnahmsweisen A n w e n d u n g des Gesetzes fordert, „ein Verfassungsverstoß (müsse) vermieden werden". Das Gesetz ist anwendbar, soweit sich die Verfassungswidrigkeit nicht auswirkt, i m übrigen unanwendbar.
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nicht — wie die Verfassungswidrigerklärung —, sondern gibt den Weg für (lückenausfüllende) Ersatzlösungen frei. Vergleicht man unter dem Aspekt der Folgen die Verfassungswidrigerklärung m i t der Nichtigerklärung, so schrumpfen die Unterschiede: I n beiden Fällen ist das betroffene Gesetz nicht anwendbar; i n beiden Fällen ist eine gesetzliche Neuregelung möglich; in beiden Fällen kommt eine Rückwirkung der Neuregelung in Betracht, die jedoch auf tatsächliche oder rechtliche Grenzen stoßen kann. Liegt ein verfassungswidriger Eingriff i n Freiheitsrechte vor, so ist das Gesetz nicht nur vorläufig, sondern endgültig unanwendbar, besteht also von vornherein praktisch kein Unterschied zur Nichtigkeit 6 9 . Die Verfassungswidrigerklärung bietet sonach gegenüber der Nichtigerklärung keine Vorteile, hat aber den erheblichen Nachteil der Sperrwirkung. Die Verfassungswidrigerklärung mag i m Blick auf den Gesetzgeber, an den sie sich primär richtet, angemessen erscheinen: Sie deckt die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes auf und zwingt den Gesetzgeber zur Bereinigung des Verfassungsverstoßes durch Erlaß einer Neuregelung. Die Normenkontrolle darf jedoch nicht nur i m Beziehungsfeld Gesetzgeber - Verfassungsgericht gesehen werden. Sie dient der Rechtsklärung und ist integraler Bestandteil des bestehenden Rechtsschutzsystems. Daher darf die Frage nach der Rechtsgeltung bis zum Erlaß einer gesetzlichen Regelung nicht vernachlässigt oder gar blockiert werden. Das gilt um so mehr, als auch die Gerichte, ja bis zu einem gewissen Grad alle rechtsanwendende Organe, i n die Aufgabe der Rechtsfindung einbezogen sind 7 0 und deshalb i m Falle der Nichtigerklärung Ersatzlösungen entwickeln können und müssen. Die Folgen vermögen somit den Verzicht auf eine Nichtigerklärung und die Beschränkung auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit nicht zu rechtfertigen. Sie fordern sogar eine restriktive Anwendung der VerfassungsWidrigerklärung 71 . Es bleibt daher bei dem oben festgestellten Ergebnis (vgl. unter I I I 6), daß sich die Verfassungswidrigerklärung nur auf strukturelle Gründe, nämlich die Eigenart des Verfassungsverstoßes, stützen läßt. 69 Daher ist es auch durchaus konsequent, wenn nach § 79 I B V e r f G G nicht die gesetzliche Neuregelung abzuwarten ist, sondern bereits nach der Feststellung der Verfassungswidrigkeit eine Wiederaufnahme für zulässig erklärt wird. 70 Vgl. dazu BVerfGE 34, 269 (286 ff.). 71 Auch bei gleichheitswidrigen Gesetzen ist die Möglichkeit der Restrikt i o n zu überlegen, vgl. dazu — allerdings zu weitgehend — Brinckmann, FN 10, insbes. S. 54 ff.; Jülicher, F N 7, passim.
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V. Schlußbemerkung Die bisherigen Überlegungen gingen von der Verfassungswidrigerklärung selbst aus und versuchten deren Voraussetzungen und Grenzen aus ihrer Struktur und ihrem Gegenstand zu entwickeln. Die Verfassungswidrigerklärung muß sich jedoch auch am Verfassungsrecht messen lassen. Nach geltendem Verfassungsrecht sind, was hier nicht weiter dargelegt werden kann, verfassungswidrige Gesetze grundsätzlich nichtig und für nichtig zu erklären 7 2 . Die Nichtigerklärung hat die Funktion, den Vorrang und die Geltung der Verfassung zu sichern, indem sie das gegen die Verfassung verstoßende Gesetz beseitigt. Diese Funktion bestimmt zugleich auch die Grenzen. Wenn die Nichtigerklärung den Verstoß nicht adäquat zu erfassen vermag und eine andere Entscheidungsform der Verfassungssicherung ebenso oder sogar noch besser gerecht wird, muß sie ausscheiden. Die Verfassungswidrigerklärung ist daher unter den genannten Voraussetzungen — bei gesetzgeberischen Unterlassen, bei ambivalent gleichheitswidrigen Gesetzen und ausnahmsweise bei Gesetzen, die i n Freiheitsgrundrechte eingreifen — verfassungsrechtlich gedeckt. Da sie wie die Nichtigerklärung gerade auf die Beseitigung von Verfassungsunrecht abzielt, kann sie eine Anwendung der für verfassungswidrig erklärten Regelung nicht rechtfertigen.
72 Dies ist als Grundsatz v o m BVerfG auch nie i n Zweifel gezogen worden, vgl. zuletzt BVerfGE 33, 303 (347).
Zur Entwicklung der politischen Planung in der Bundesrepublik Deutschland Von Ulrich Scheuner
I. Planung hat es seit längerem i m Bereich der Verwaltung gegeben. Sie hat sich hier vor allem i m Gebiet der räumlichen Ordnung, i m Bauwesen und Städtebau, einen Platz verschafft. Einsetzend m i t der Einführung der Fluchtlinien i m späteren 19. Jahrhundert (Preußen 1875) entwickelte sich hier der Plan als Instrument der Verwaltung, durch rechtliche Anordnungen die Bodennutzung i n die von ihr aufgestellten festen Richtlinien einzufügen. Diese A r t des verwaltungsrechtlichen Planes ist freilich an einen speziellen begrenzten Zweck der Verwaltung gebunden. Ihr Ziel war die Herstellung einer definitiven Ordnung m i t Zuteilung von Rechten und Pflichten an Individuen für einen bestimmten Raum oder Lebensbereich. Sie wählt daher als rechtliches Mittel das Gebot oder Verbot durch Rechtssatz oder Verfügung, u m den einzelnen Bürger i n ihren Rahmen einzufügen 1 . Von diesen Plänen des Verwaltungsrechts unterscheidet sich der hier als politischer oder zentraler Plan bezeichnete Vorgang i n grundlegender Weise 2 . Der Unterschied liegt nicht nur darin, daß hier nicht örtlich, sondern für das gesamte Staatsgebiet oder bestimmte Bereiche der Staatstätigkeit geplant wird. Auch der räumliche Plan hat sich mittlerweise auf den regionalen oder gesamtstaatlichen Bereich als Raumordnung erstreckt 3 . 1 Der Erscheinung der Planung als Instrument der Verwaltung, vor allem i n räumlicher Hinsicht, sind die beiden Referate von M. Imboden und K. Obermaier V V D S t R L 18 (1960) S. 113 ff., 144 ff. gewidmet. Uber Pläne i n der V e r w a l t u n g ferner Hans J. Wolff , Verwaltungsrecht Bd. I 8. Aufl. 1971, S. 79 f. u n d den weiten Überblick bei Werner Weber, Aufgaben u n d Möglichkeiten der Raumplanung i n unserer Zeit, Veröff. d. Akademie für Raumforschung u n d Landesplanung, Bd. 78 (1972) S. 9 ff. 2 Z u diesem Unterschied siehe meine Darlegungen i n Joseph H. Kaiser, Planung I (1965) S. 74 ff., ferner E. W. Böckenförde, Der Staat 11 (1972) S. 437; ders. i n : Parlamentarische K o n t r o l l e der Regierungsplanung, hrsg. v. Präsidenten des Landtags NW, Düsseldorf 1973 (Gutachten NW) 58 ff. 3 Zugleich nehmen diese Raumplanungen auch i n zunehmendem Maße die Züge einer weitergefaßten und beweglichen Planung an, die zahlreiche
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Entscheidend ist vielmehr, daß die zentrale staatliche Planung zum Bereich der politischen Sphäre gehört, daß sie nicht auf die Gesetzesausführung i n speziellen Bereichen gerichtet ist, sondern die staatliche Tätigkeit i n größeren Zusammenhängen (Ressortplanung oder Gesamtplanung) einschließlich der gesetzgeberischen Tätigkeit erfaßt. Sie ist zudem, mag sie auch gelegentlich definitive Ziele verfolgen, nicht auf die Erreichung eines festen Zustandes ausgerichtet, sondern auf Lenkung von größeren Bereichen durch immer erneutes staatliches Einwirken. I h r fester Rahmen ist nicht eine herzustellende definitive Ordnung, sondern in der Regel ein bestimmter Zeitraum, innerhalb dessen sie für den ganzen Staat oder für einzelne Zweige seiner Tätigkeit (Verkehrspolitik, Verteidigung), bestrebt ist, Ziele und Prioritäten zu setzen und die zu ihrer Beförderung dienenden Mittel zu koordinieren. Der zentrale Plan hat es mit der Entwicklung auf weitausgedehnten Lebensbereichen zu tun, i n denen der Staat es mit beweglichen freien Kräften zu tun hat. Dem entsprechen seine Mittel. Nur i n geringem Grade werden rechtliche Gebote eingesetzt, die Planung sucht vielmehr auf die außerstaatlichen Faktoren einzuwirken entweder durch informative Datensetzung oder durch influenzierende Methoden, durch Schaffung von Anreizen für die Einordnung in die Zielsetzung bzw. von Nachteilen für das entgegengesetzte Verhalten 4 . Der politische Plan, der i m zentralen Bereich der Staatsleitung aufgestellt wird, weist also eigene Züge auf, die ihn von speziellen Zwecken und Gebieten zugewandten Plan der Verwaltung abhebt. Er wendet sich i n seiner allgemeinen Ausrichtung auch nicht an den einzelnen Bürger, sondern legt allgemeine Linien fest, nach denen sich freilich auch m i t telbar der Bürger ausrichten kann. I n aller Regel kann der zentrale Plan keine festen Lösungen herbeiführen, sondern sucht i n einer in Bewegung begriffenen Entwicklung von Kräften, auf die der Staat nur lenkend einzuwirken vermag, für einen Zeitabschnitt bestimmte Ziele aufzustellen und zu verwirklichen. Die staatliche Planung als Methode rationaler Zielansprache und Mittelkoordinierung ist eine Erscheinung der neuesten Zeitepoche. Gewiß haben auch frühere Zeiten Vorausschau und Einstellung auf längerfristige Entwicklungen gekannt. Aber dabei ging es u m eine Ausführung feststehender Ziele — Verkehrserschließung, Förderung gesellschaftliche Vorgänge i n ihren Datenbereich einbezieht. Siehe hierzu W. Weber (Anm. 1) S. 22 und Frido Wagener, Von der Raumplanung zur Entwicklungsplanung, DVB1. 1970, S. 93 ff. Siehe auch H. Hamischfeger, Strukturprobleme planender Verwaltung, Archiv f. Kommunalwiss. (AfK) 10 (1971) S. 228 ff. und O. Boustedt, Planung ohne Plan, A f K 11 (1972) S. 29 ff. 4 Zur Gestalt und zu den Formen staatlicher Planung siehe E. W. Böckenförde (Anm. 2) S. 429 ff., 435 ff.; ders., Gutachten N W (Anm. 2) S. 11 ff.
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der Landwirtschaft oder der Industrie — durch gezielten Mitteleinsatz, ohne daß umfassendere technisch-rationale planerische Überlegungen auftraten. Die liberale Zeit vollends stand mit ihrem Vertrauen in den Ausgleichseffekt der selbstbestimmten freien Entfaltung staatlichen Planungen vor allem i m wirtschaftlichen Räume ablehnend gegenüber. Der Wiederaufbau der Bundesrepublik nach 1945 vollzog sich i m Rahmen einer von starken liberalen Elementen getragenen Einstellung. I n der Wirtschaftspolitik der Ära Erhard hatte der Plan höchstens einen sehr begrenzten Platz. Erst i n der Mitte der 60er Jahre trat eine Wendung ein. Die Planung hielt, zuerst auf dem Gebiet der Finanzplanung und der Konjunktursteuerung, ihren Einzug in die politische Wirklichkeit der Bundesrepublik und in ihr Verfassungsrecht. Ein Gesetz vom 14. 8.1963 setzte den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ein, der jährlich der Bundesregierung einen Bericht über die Tendenz des Wirtschaftsablaufes erstattet. Um die gleiche Zeit wurden auch eine Anzahl weiterer Pläne, zumeist freilich mehr Bestandsaufnahmen auf Teilbereichen, auf anderen Gebieten ins Leben gerufen 5 . Der entscheidende Schritt zu einer eigentlichen zentralen Planung erfolgte aber unter der Einwirkung der Rezession von 1965/66 durch die am Troeger-Gutachten orientierte Finanzreform von 19676. Seit dieser Zeit hat sich die grundsätzliche Einstellung in der Bundesrepublik weitgehend gewandelt. Das wissenschaftliche Interesse, das namentlich der Bemühung von Joseph H. Kaiser eine wesentliche Förderung verdankt 7 , an Problemen der Planung wuchs rasch an und hat inzwischen eine umfangreiche Literatur hervorgerufen. Ihr gegenüber sind die kritischen Stimmen, die i n einer staatlichen Planung eine Gefährdung der freien Marktwirtschaft erblicken, mehr i n den Hintergrund getreten. Vor allem aber hat die Planung i m staatlichen Bereich eine erhöhte Bedeutung gewonnen. I m Jahre 1968 wurde beim Innenministerium des Bundes eine Projektgruppe für die Regierungs- und Verwaltungsrereform eingesetzt, die i m August 1969 ihren Ersten Bericht veröffentlichte, der sich neben anderen Problemen vor allem mit der Verbesse5
Eine Übersicht dieser Pläne, die freilich zu erheblichen Teilen mehr Datenübersichten darstellen, die eine Grundlage für Entschlüsse bieten, bei J. Kölble, i n : Kaiser, Planung I, S. 91 ff. 6 Die grundlegende Bedeutung der Finanzreform von 1967 für die Planung betont m i t Recht E. Forsthoff, i n : Kaiser, Planung I I I (1968) S. 28 ff. 7 F ü r die Verbreitung wissenschaftlicher Einsicht und die Diskussion der Planungsprobleme leistete Joseph H. Kaiser durch die Herausgabe der Reihe „Planung" auf der Grundlage von Kolloquien einen entscheidenden Beitrag: Planung I - V I , 1965 - 72. 2
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rung des Führungsinstrumentariums von Bundeskanzler und Bundesregierung befaßte 8 . Ein Anlagenband unterbaute diesen Bericht durch vergleichende und grundsätzliche Untersuchungen zur politischen Planung. Diese Gruppe hat ihre Tätigkeit fortgesetzt und legte i m Jahre 1972 ihren (gleichfalls unveröffentlichten) Dritten Bericht vor 9 . Zu gleicher Zeit war auch eine Projektgruppe i m Planungsstab des Bundeskanzleramts mit den Fragen einer Reform der Arbeitsweise des Kabinetts befaßt, die gleichfalls 1969 ihren Bericht vorlegte 1 0 ; ihre T ä t i g k e i t Schloß d a m i t ab.
M i t der Bildung des ersten Kabinetts Brandt - Scheel i m November 1969 wurde der Höhepunkt eines Interesses an einer integrierten Regierungsplanung i m offiziellen Bereich erreicht. Die Bestrebungen konzentrierten sich nun i m Bundeskanzleramt unter der Leitung des Bundesministers Horst Ehmke, dem als Leiter der Planungsabteilung Prof. Reimut Jochimsen zur Seite stand. Die Gedanken richteten sich auf die Erarbeitung von Methoden einer ressortübergreifenden Aufgaben- und Mittelplanung i m Bundeskanzleramt. Diese auf die früheren Untersuchungen gestützte Arbeit führte zur Einrichtung von Planungselementen i n den einzelnen Ressorts, zur Anlage eines zentralen Informationssystems durch ein Datenblattverfahren, das über Vorhaben der Ressorts unterrichtet und zu Ansätzen einer längerfristigen Zielplanung. Die weitgesteckten Ziele orientierten sich auf eine Erfassung der künftigen Aufgaben, eine Prioritätenbestimmung und eine Frühkoordination unter den von den Ressorts i n Angriff zu nehmenden Aufgaben 11 . Es zeigte sich indes, daß dies ambitiöse Programm einer längerfristigen Aufgabenplanung zentraler A r t auf Schwierigkeiten 8 Der Bericht ist nicht veröffentlicht. Die Grundlinien sind wiedergegeben bei A. Theis, Die V e r w a l t u n g 3 (1970) S. 72 ff. u n d Rainer Wahl, Die politische Planung i n den Reformüberlegungen der Bundesregierung, DÖV 1971, S. 42 ff 9 Dieser Bericht befaßt sich vornehmlich m i t der politischen Planung i m Rahmen der Regierung sowie m i t der interministeriellen Zusammenarbeit u n d der inneren Organisation der Ressorts. I n seinen Anlagen w i r d vor allem dem Problem der A b s t i m m u n g der Aufgaben- u n d Finanzplanung Aufmerksamkeit zugewandt. Über diese Untersuchungen siehe Renate Mayntz u n d Fritz Scharpf, Planungsorganisation. Die Diskussion u m Reform von Regierung u n d V e r w a l t u n g des Bundes, 1973, S. 146 ff., 165 ff., 201 ff. 10 Der Bericht ist insbesondere der Informationsaufnahme u n d Arbeitsweise von Kabinett u n d Bundeskanzler (Bundeskanzleramt) zugewandt. 11 Siehe zu diesen Bestrebungen u n d ihren Methoden H. Ehmke, Planung i m Regierungsbereich. Aufgabe und Widerstände, B u l l e t i n der Bundesregierung 1971, S. 2026 ff.; ders., Aufgaben und Planung i m Regierungsbereich, B u l l e t i n 1972, S. 29 ff.; R. Jochimsen, Z u m Aufbau u n d Ausbau eines integrierten Aufgabenplanungssystems u n d Koordinationssystems der Bundesregierung, B u l l e t i n 1970, S. 949 ff. (auch inhaltlich weitgehend i n Übereinstimmung, i n : Kaiser, Planung V I , S. 35 ff.
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und Widerstände stieß, die seine Entwicklung hemmten 1 2 . A m Ausgang der ersten Regierung Brandt - Scheel i m Juni 1972 war es klar geworden, daß der Gedanke einer integrierten Gesamtplanung für den Bund sich nicht realisieren läßt 1 8 . Bei der Neubildung des Kabinetts Brandt Scheel nach seinem Wahlsieg vom 19.11.1972 schied Minister Ehmke aus dem Bundeskanzleramt aus, u m zwei andere Bundesministerien zu übernehmen, und der Planungsstab i m Kanzleramt wurde reduziert 1 4 . Das Bundeskanzleramt selbst kehrte zu einer Auffassung seiner Aufgabe zurück, die stärker als seine planende und koordinierende Aufgabe gegenüber den Ressorts seine Funktion für den Dienst am Bundeskanzler i n Verbindung m i t den Ressorts und dem Kabinett betonte. Die gegenwärtige Lage zeigt ein gewisses Zurücktreten einer zeitweilig bemerkbaren Planungseuphorie 15 . Aber es wäre unrichtig, anzunehmen, daß sich die Grundmeinung über die Notwendigkeit politischer Planung in der heutigen Zeit ändern könnte. Die Ausdehnung der staatlichen Verantwortung für die Steuerung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorgänge begründet eine grundsätzliche Forden rung nach planender Vorhersicht. Die Durchdringung politischer Methoden mit stärkeren rationalen und wissenschaftlichen Elementen weist in die gleiche Richtung. Der heutige Staat, der in zunehmendem Maße Verantwortung für die gesellschaftlichen Abläufe übernimmt, muß seine Handlungsmethoden rationalisieren und verfeinern, zumal er innerhalb der Sphäre der freien Kräfte auch einem wachsenden Einsatz rationaler Planung begegnet. Planung i m zentralen politischen Bereich w i r d daher eine ständige Aufgabe moderner Staatsführung bleiben 16 . Wie w i r noch sehen werden, ergeben sich daraus freilich auch bedeutsame Folgerungen für den Platz und den Aufbau der Planung innerhalb der gesamten staatlichen Organisation.
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Diese Widerstände kamen namentlich von den einzelnen Ressorts, insbesondere als ein Versuch der Aufstellung politischer Prioritäten der A u f gaben unternommen wurde. Siehe H. Schatz, i n : Mayntz - Scharpf (Anm. 9) S. 34 ff. 13 Eine Gesamtplanung der staatlichen Tätigkeit betrachten als nicht realisierbar E. W. Böckenförde (Anm. 2) S. 440; R. Wahl, Der Staat 11 (1972) S. 477 f.; Jochimsen, Gutachten N W (Anm. 2) S. 51 f. 14 Der Leiter des Planungsstabes Prof. Jochimsen ging als Staatssekretär i n das M i n i s t e r i u m f. B i l d u n g u n d Wissenschaft. 15 Z u r Euphorie der Planung siehe D. Grimm, AöR 97 (1972) S. 517. Böckenförde (Anm. 2) S. 430. 16 Z u den Notwendigkeiten u n d Bedingungen der Planung i m heutigen Staate siehe R. Herzog, Staatslexikon 1966, Sp. 1520 ff. u n d E. W. Böckenförde (Anm. 2) S. 430 ff.
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Dieser Beitrag setzt sich nicht zum Ziel, eine umfassende Behandlung der Grundlagen politischer Planung zu umreißen. Aus der Fülle der Probleme sollen vielmehr vier herausgegriffen und näher betrachtet werden: die Finanz- und Haushaltsplanung auf Grund der Finanzreform von 1967, Strukturfragen der politischen Planung auf der Regierungsebene des Bundes, die Beteiligung der Parlamente an der Planung und endlich Planung i m Verhältnis Bund und Länder und bei den Ländern. II. Dasjenige Gebiet, auf dem das Element der Planung die stärkste rechtliche Ausgestaltung erfahren hat, ist die Haushalts- und Finanzplanung. Hier hat die Finanzreform von 1967 und 1969 die Grundlagen gelegt, die sachlich und zeitlich einen Wendepunkt in der Haltung der Politik der Bundesrepublik gegenüber der Planung bedeuten 17 . Die Reform brachte drei wesentliche Neuerungen. Die mehrjährige Finanzplanung (Art. 106 Abs. 3 Ziff. 1 GG), die Ausrichtung der Haushaltswirtschaft am Ziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2), m i t der die Anerkennung und Legitimierung einer globalen staatlichen Wirtschafts- und Konjunktursteuerung sich vollzieht, und die Ausstattung des Bundes mit einem begrenzten Instrumentarium der konjunkturellen Einflußnahme auf die Haushalte der Länder und Gemeinden (Art. 109 Abs. 4 GG). Alle diese drei Punkte hängen eng zusammen. I n ihren näheren Auswirkungen sind sie i n dem Stabilitätsgesetz vom 8. 6.1967, einem eigentlichen Finanz- und konjunkturpolitischen Grundsatzgesetz, zusammengefaßt. Die mehrjährige Finanzplanung bedeutet den Übergang zu einer längerfristigen Ausgabenplanung, die es ermöglichen soll, i m Einklang mit der W i r t schaftssteuerung eine Zielprojektion der öffentlichen Haushalte zu entwickeln 1 8 . Eine auf Vorhersicht begründete und am Wachstum orientier17 Von einem Wendepunkt spricht Albrecht Zunker, Finanzplanung u n d Bundeshaushalt 1972, S. 114. Die maßgebenden Verfassungsänderungen der A r t . 106 und 109 ergingen am 8. 6.1967 u n d 12. 5.1969. 18 Z u r mehrjährigen Finanzplanung siehe K . Stern, P. Münch, Κ. H. Hansmeyer, Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der W i r t schaft, 2. Aufl. 1972, S. 60 ff., 258 ff.; W.Grund, Die mehrjährige Finanzplanung des Bundes, i n : Kaiser, Planung I I I (1968) S. 47 ff.; H.Fischer-Menshausen, Mittelfristige Finanzplanung i m Bundesstaat dort. S. 73 ff. ; Κ . H. Friauf, V V D S t R L 27 (1969) S. 24 f.; Zunker (Anm. 17) S. 112 ff.; P.Badura, Verfassungsfrage der Finanzplanung, i n : Festgabe Th. Maunz, 1971, S. I f f . ; Κ . Schmidt u. E. Wille, Die mehrjährige Finanzplanung — Wunsch u n d W i r k lichkeit 1970; Z u m Ausgreifen auf den Kommunalbereich siehe P. Eichhorn, Grundriß eines Systems der kommunalen Finanz-Haushalts- und Kassenplanung, A f K 11 (1972) S. 104 ff.; H. Matzerath, K o n j u n k t u r r a t und Finanzplanungsrat, dort S. 243 ff.
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te Lenkung der wirtschaftlichen Entwicklung bedingt auch eine entsprechende Ausrichtung der Ausgabengestaltung i m öffentlichen Bereich. Zugleich dient die mittelfristige Finanzplanung aber auch der Koordination i m föderalen Gefüge. Sie ermöglicht es, die Haushalte der Länder und Gemeinden in Übereinstimmung mit den vom Bunde gesetzten Daten zu bringen. Gerade dieser letztere Punkt ist auch i n institutioneller Hinsicht unterstrichen worden durch die Einrichtung zweier konsultativer Gremien der Zusammenordnung, des K o n j u n k t u r und des Finanzplanungsrates, die der gesamtstaatlichen Koordination der Haushaltsführung dienen (§ 18 StabG). I n diesen unter Vorsitz eines Bundesministers tagenden beratenden (nicht entscheidenden) Ausschüssen, i n denen Vertreter des Bundes mit denen der Länder und Gemeinden zusammenkommen, kann eine Beratung der K o n j u n k turpolitik der Bundesregierung und eine Abstimmung der Finanzplanungen der öffentlichen Körperschaften vorgenommen werden. Besondere Bedeutung hat der Konjunkturrat (Kreditfragen), ein Untergremium, erreicht, dem die Zeit- und Konditionenplanung der öffentlichen Kreditaufnahme obliegt 1 9 . Der Abstimmung der Haushalte ist auch das Gesetz über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder vom 19.8.1969 gewidmet, das gemeinsame Grundsätze der Haushaltsführung aufstellt. So nützlich diese Fortentwicklung der Haushaltsplanung für die übergreifende Ordnung der Pläne i m mittelfristigen Bereich erscheint, so haben sich doch ihre Auswirkungen als begrenzt herausgestellt. A l lein der mehrjährige Ansatz der Haushalte genügt nicht, u m die für eine politische Planung erforderliche weitere Beweglichkeit i n der A u f gabenstellung und Prioritätensetzung zu gewährleisten. Es hat sich gezeigt, daß die mehrjährige Finanzplanung, die von den Vorarbeiten der Ressorts ausgeht, eine Tendenz besitzt, gegenwärtige Aufgaben und Ansätze in die weitere Zielprojektion fortzuschreiben und somit für die Innovation und Bewertung der Aufgaben nicht zureichend ist 2 0 . Es ist vielmehr deutlich, daß sie der Ergänzung durch eine politische Aufgaben« und Prioritätenplanung bedarf. Innerhalb der Finanzreform von 1967/69 ist für die zentrale Planung von grundlegender Wichtigkeit auch die nunmehr erfolgte verfassungs19 Siehe Stern - Münch - Hansmeyer (Anm. 18) S. 322 ff.; Zunker (Anm. 17) S. 86 ff., 169 ff. 20 Z u diesen Grenzen der Finanzplanung siehe H. Schatz, i n : Mayntz Scharpf (Anm. 9) S. 21 ff. Der notwendigen Verbindung zwischen der politischen Zielprojektion und der Haushaltsplanung ist namentlich auch der Dritte Bericht der Projektgruppe Regierungs- u n d Verwaltungsreform gew i d m e t (nebst Gutachten Naschold u.a.). Vgl. auch Naschold, i n : Mayntz Scharpf, S. 150, 157 ff.
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rechtliche Grundlegung der staatlichen Wirtschafts- und K o n j u n k t u r steuerung. Zwar beziehen sich die Vorschriften des A r t . 109 Abs. 2 und 4 GG zunächst nur auf die Haushaltsgestaltung, sie werden aber zutreffend von der Literatur als eine für den weiteren Bereich der ökonomischen Politik des Staates maßgebliche normative Festlegung angesehen 21 . Damit erfährt die i n dem letzten Jahrzehnt entwickelte globale Wirtschaftssteuerung des Staates eine rechtliche Anerkennung. Das i n A r t . 109 Abs. 2 und 4 GG angesprochene gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, dessen Zielsetzung näher i n § 1 StabG m i t der Hervorhebung eines Vierecks der Aufgaben (Stabilität des Preisniveaus, Vollbeschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes W i r t schaftswachstum) normiert wird, bedeutet hierfür einen allerdings sehr weitgesteckten Rahmen. Die einzelnen Ziele sind i n sich schon allgemein gehalten, und ihre Verbindung miteinander bedeutet angesichts der auftretenden Zielkonflikte die Gewähr eines weitgesteckten Ermessensspielraumes für die staatliche Handlungsweise 22 . Die Möglichkeit einer justitiablen Definition dieser Ziele dürfte als gering zu veranschlagen sein 23 . Die Wahrnehmung dieser Aufgabe einer Lenkung der wirtschaftlichen Entwicklung unter Vermeidung starker konjunktureller Ausschläge setzt eine vorausschauende Information voraus, die durch den Jahresbericht zur wirtschaftlichen Entwicklung wie andere Zusammenstellungen geleistet werden kann. Die eigentlichen Elemente der Planung, die das Stabilitätsgesetz vorsieht, beschränken sich dann auf den Haushaltsbereich, sie greifen nicht i n den Bereich der freien Wirtschaft über; hier würden sie i n einem System marktwirtschaftlicher Selbstbestimmung der Wirtschaft auch i n Widerspruch zu dessen Voraussetzungen treten, sofern sie über informative Datensetzung und influenzierende Lenkungsanreize hinausgingen. Nach einer dritten Seite stellt die Finanzreform sodann — abgesehen von der bereits behandelten Einwirkung auf die Haushalte der Länder und Gemeinden — Instrumente bereit, u m den konjunkturellen Schwankungen antizyklisch zu begegnen. Hierzu gehören i m Bereich 21
I n diesem Sinne einer allgemeinen rechtlichen Bedeutung der neuen Haushaltsgrundlagen siehe Stern - Münch - Hansmeyer (Anm. 18) S. 70 ff.; Scheuner, Einführung zu „Die staatliche E i n w i r k u n g auf die Wirtschaft", 1971, S. 13 f.; P. Badura, Wirtschaftsverfassung u n d Wirtschaftsverwaltung 1971, S. 55 ff.; Rainer Schmidt, Wirtschaftspolitik u n d Verfassung 1971, S. 116, 140 ff. 22 Z u dieser Weite der gesetzgeberischen Bindung und den auftretenden Zielkonflikten siehe Stern - Münch - Hansmeyer (Anm. 18) S. 133 ff.; R. Schmidt (Anm. 21) S. 152 ff.; K. Vogel, Bonner Kommentar, 2. Bearb. A n m . 102 zu A r t . 109 GG. 23 Z u r Justitiabilität der Festsetzungen des Grundgesetzes u n d des Stabilitätsgesetzes siehe Stern - Münch - Hansmeyer (Anm. 18) S. 78 ff.
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der öffentlichen Haushalte die Möglichkeit der durch Rechtsverordnung verfügten Kreditlimitierung der öffentlichen Körperschaften (§ 19, 20 StabG und VO v. 27. 5.1971), und die Bildung von K o n j u n k t u r ausgleichsrücklagen (§15 StabG), i m Verhältnis zur Allgemeinheit die Ermächtigungen zu steuerlichen Maßnahmen in gewisser Bandbreite, vor allem Erleichterungen oder Erhöhungen bei der Einkommen- und Körperschaftssteuer sowie Modifikationen in der Behandlung von Investitionen und Abschreibungen. (§§ 2 6 - 2 8 StabG mit § 51 EStG und §§ 19, 19 a KStG.) Der „fiscal policy" der Regierung sind also Wege eröffnet, um durch Rechtsverordnungen, die der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat bedürfen, die konjunkturelle Entwicklung mittels steuerlicher Vorkehrungen zu beeinflussen. Daneben w i r d die Fiskalpolitik freilich stets auch angewiesen bleiben auf die Instrumente der Geldpolitik, die ihr die Zusammenarbeit mit der Bundesbank verfügbar macht. Ein besonderes weiteres M i t t e l der Beeinflussung der konjunkturellen Entwicklung stellt die i n § 3 StabG vorgesehene Konzertierte Aktion dar. Das Gesetz sieht zunächst nur vor, daß die Bundesregierung wirtschaftlichen Kreisen Orientierungsdaten für ein gleichzeitig aufeinander abgestimmtes Verhalten zur Verfügung stellt. Solche Daten vermag die Regierung den Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie anderen von ihr dem Parlament vorgelegten Jahresplänen zu entnehmen 2 4 . Sie wendet sich mit ihnen nach der Absicht des Gesetzes damit i n erster Linie an die für autonome wirtschaftliche Verfügungen verantwortlichen Kräfte des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, vor allem die Tarifpartner 2 5 . Darüber hinaus hat die Regierung zu diesem Zweck als institutionelle Form Zusammenkünfte entwickelt, i n denen sich unter Vorsitz des Bundesministers für Wirtschaft i n kleinem Kreise Vertreter der Gewerkschaften, der Arbeitgeber, Mitglieder des Sachverständigenrates der Bundesbank sowie des Finanz- und Arbeitsministeriums treffen. Diesem Gremium kommt lediglich informative Bedeutung zu, es vermag keine Festlegungen zu treffen. Die Konzertierte A k t i o n stellt m i t h i n einen Versuch dar, die durch die verfas24 Der Bericht der Sachverständigen beruht auf dem Gesetz v o m 14. 8.1963 (BGBl. I S. 685). Vgl. Jahresgutachten 1972, Bundestag Drucks. 7/2. Die Bundesregierung legt auf G r u n d des § 2 StabG einen Jahreswirtschaftsbericht vor, der eine indikative Prognose und Absichtserklärung darstellt. Vgl. Stern - Münch - Hansmeyer (Anm. 18) S. 147 ff. u n d Jahresbericht 1972, Bundestag Drucks. VI/3078. 25 Z u r Konzertierten A k t i o n siehe Stern - Münch - Hansmeyer (Anm. 18) S. 157 ff.; R. Schmidt (Anm. 18) S. 197 ff.; E. Stachels, Das Stabilitätsgesetz i m System des Regierungshandelns 1970, S. 87 ff.
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sungsrechtlich gewährleistete Tarifautonomie gegebene Zone mangelnden Einflusses der staatlichen K o n j u n k t u r p o l i t i k 2 6 durch die Verfügbarmachung indikativer Daten i m Verein mit Diskussionen der beteiligten Gruppen abzudecken. Daß hier, wie man angenommen hat, unstatthafte Beteiligung gesellschaftlicher Kräfte an staatlichen Entscheidungen vorläge, ist daher eine nicht haltbare Annahme, da eine Verbindlichkeit der Diskussionen fehlt 2 7 . Eine andere offene Frage ist es, welche Wirkung die Konzertierte A k t i o n in dem von ihr erstrebten Sinne gehabt hat. Hier w i r d man nur von einem begrenzten Gewicht sprechen können. Angesichts des sozialpolitischen Ringens, das i m Ringen der Sozialpartner um die Löhne sich teilweise auf dem Rücken anderer Bevölkerungsschichten vollzieht, ist die Diskussionsmöglichkeit von Wert, die staatliche Beeinflussung über Öffentlichmachung von Daten indes beschränkt 28 . Das führt hinüber zu der allgemeinen Frage nach dem Gewicht, das der Finanzplanung in der Gegenwart zukommt. Man w i r d ihre Bedeutung darin sehen können, daß hier auf einem zentralen Gebiet i m Einklang mit Konzeptionen einer planenden Einwirkung auf den Konjunkturverlauf rechtliche Grundlagen geschaffen und ein Instrumentarium der Lenkung und Beeinflussung entwickelt worden ist, das modernen Gedanken entspricht. Seine A n wendung, die letzten Endes politische Fragen aufwirft, hat das Ziel einer Eindämmung konjunktureller Ausschläge nach der Seite einer Überhitzung und einer steigenden Inflation nicht erreichen können, dürfte aber zur Dämpfung beigetragen haben 29 . Es hat sich vor allem gezeigt, daß von der Finanzplanung her ohne die Ergänzung durch eine politische Aufgabenplanung das Programm einer Regierung nicht ausreichend gesteuert werden kann. A m Ausgang des ersten Kabinetts Brandt - Scheel erwies sich angesichts eines die finanziellen Ressour26 I n der modernen Wirtschaftspolitik der westlichen Staaten liegt i n der Tat hier einer der entscheidenden Punkte, daß hier der staatliche Einfluß durch die Gewähr einer autonomen Selbstregulierung der sozialen Kräfte (Art. 9 Abs. 3 GG) weitgehend ausgeschlossen ist. Freilich beruht diese Verfassungsgewähr auf der Voraussetzung, daß sich das von i h r angenommene soziale Gleichgewicht erhält u n d nicht durch andere gesetzliche Maßnahmen (Mitbestimmung) aufgehoben oder verändert w i r d . 27 Bedenken wegen der Übertragung staatlicher Funktionen an gesellschaftlich bestimmte Organe (Syndikalismus) erhob Biedenkopf, B B 1968, S. 1005 ff.; siehe auch Forsthoff, i n : Kaiser, Planung I I I , S. 29. Dagegen zutreffend K . Stern, Grundfragen der globalen Wirtschaftssteuerung 1969, S. 14 ff. u n d Stern - Münch -Hansmeyer (Anm. 18) S. 177; R. Schmidt (Anm. 18) S. 200 ff. 28 Siehe hierzu Stern - Münch - Hansmeyer (Anm. 18) S. 170 ff.; O. Schlecht, Erfahrungen u n d Lehren aus dem jüngsten K o n j u n k t u r z y k l u s 1972, S. 50 ff. 29 Zur Beurteilung der Auswirkungen der K o n j u n k t u r p o l i t i k der Bundesregierung Schlecht (Anm. 28) S. 11 ff.
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cen übersteigenden Reformprogramms am Ende nur der alte Weg der Koordination und Bemessung durch den Haushaltsplan als wirksam. Die Bedeutung einer planenden staatlichen Regulierung der gesellschaftlichen Entwicklung w i r d auch i n Zukunft eher zunehmen und noch stärker eine zentrale politische Planung erfordern. Die bisherige Entwicklung in den westlichen Staaten gründete sich auf die Zuversicht eines immer steigenden Wachstums, aus dem heraus auch die Probleme der Verteilung und der sozialen Aufgabenbewältigung sich leichter lösen ließen 30 . Die Krise des Herbstes 1973 hat deutlich gemacht, daß sich hier Grenzen abzeichnen, daß möglicherweise sogar der Staat sich Fragen einer Begrenzung des Wachstums öffnen muß. Das erhöht nicht nur das Maß seiner Einwirkung, sondern auch die Bedeutung der zu entscheidenden politischen Fragen. Denn es w i r d sich dann schärfer die Frage der Begrenzung der staatlichen Aufgaben und die Stellung der Prioritäten erheben. I m Grunde w i r d damit dann i n neuer Weise das Problem der Aufgaben des Staates, der Staatszwecke gestellt 31 . III. Bereits i n den Arbeiten der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform vor 1969 war herausgearbeitet worden, daß eine stärkere Koordination der Ressortplanungen notwendig sei und daß hier eine Funktion des Bundeskanzleramts bestehen könne. Auf dieser Basis wurde dann nach 1969 der Versuch unternommen, institutionelle Grundlagen für ein Koordinationssystem zu schaffen und die Grundlagen einer längerfristigen Aufgabenplanung zu entwickeln. Nach der ersten Richtung kam es zur Schaffung von Planungsabteilungen in den Ressorts unter Planungsbeauftragten. Ihre Zusammenarbeit wurde institutionell durch ein vierzehntägig zusammentretendes Gremium auf der Gesamtebene sowie dessen Lenkung durch eine häufiger tagende Zusammenkunft der Staatssekretäre unter dem Kanzleramtsminister hergestellt 32 . Hinzu trat eine Erfassung der Ressortvorhaben durch Datenblätter. A u f dieser Grundlage konnten sowohl Koordination einsetzen, vor allem ein Frühkoordinationssystem bei querschnitt30 Z u der Rolle des Wachstumsgedankens i n der Diskussion u m die staatliche planende Wirtschaftspolitik siehe H. Wagner, V V D S t R L 27 (1969) S. 54 f. 31 A u f diese künftigen Wandlungen weist h i n : P. Saladin, Wachstumsbegrenzung als Staatsaufgabe, i n : Festschrift U. Scheuner 1973, S. 541 ff. Problemhinweise i n dieser Richtung auch bei Chr. Tomuschat, Der Staat 12 (1973) S. 1 ff. (im Rahmen der Aufgabe öffentlicher Zuteilung u n d Güterverteilung). 32 Siehe H. Schatz, i n : Mayntz - Scharpf (Anm. 9) S. 34/35.
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übergreifenden Vorhaben erreicht werden 3 3 . Die weitere Entwicklung über diese, auch heute festgehaltenen Bestandteile hinaus erwies sich aber als schwierig. Dem Bestreben, gewisse Prioritäten zwischen den Vorhaben zu setzen, stellten sich i n den Ressorts Widerstände entgegen, die die Frühkoordinierung erschwerten 34 . Für die in Angriff genommene Aufgabe einer längerfristigen Zielplanung wurde in Gestalt von Projektgruppen ein Ansatz geschaffen; diese Aufgabe erwies sich aber, insbesondere i m Blick auf die damit verbundene Ressourcenplanung, mit den vorhandenen Kräften nicht als lösbar und mußte auf ein bescheideneres Maß der Koordination begrenzt werden. Dem Gedanken, diese Zielplanung zu einem auch der Öffentlichkeit zugänglichen Regierungsprogramm zu verdichten, begegnete auf Regierungsseite das — in Grenzen verständliche — Bedenken, sich hiermit zu stark über die Regierungserklärung hinaus zu binden, und sich der Gefahr einer K r i t i k seitens der Opposition für nicht erfüllte Ziele auszusetzen 35 . Hierzu ist bemerkenswert, daß die Opposition in der Tat i m Zeitraum 1970/71 versuchte, die Regierung durch Anfragen zur Vorlage eines Arbeitsprogramms zu veranlassen 36 . Die Regierung begnügte sich aber hier, auf die vielfachen Regierungsvorlagen zur Gesetzgebung und die allgemeinen Reformziele hinzuweisen. I n der Tat warf dieser Vorstoß der Opposition die unter IV. zu behandelnde Frage der parlamentarischen Beteiligung auf, zeigte aber zugleich, daß auch i m Rahmen eines mehrjährigen Regierungsprogramms die Aufgabe einer koordinierten Ziel- und Ressourcenplanung höchst komplex ist. Als Ergebnisse dieser Erfahrungen der Jahre 1969/72 läßt sich festhalten, daß der Gedanke einer umfassenden längerfristigen Gesamtplanung sowohl für den Gesamtstaat wie für Bund und Länder nicht realisierbar erscheint 37 . Eine solche langfristige Planung wäre nur 33
Ehmke, B u l l e t i n 1971, S. 2032. H. Schatz, S. 35 f. 35 Siehe i n diesem Sinne Ehmke y B u l l e t i n 1971, S. 2033; ferner Rietdorf, Gutachten N W (Anm. 2) S. 43 f. 36 Große Anfrage der F r a k t i o n der CDU/CSU v o m 16.12.1970 Bundestag Drucks. VI/1620 und A n t w o r t hierauf Drucks. VI/1953 v o m 12. 3.1971. E r neute Anfrage v o m 27.9.1971 und A n t w o r t der Bundesregierung v o m 14.10.1971 (Drucks. VI/2604 u n d 2709). Die zweite A n t w o r t enthält i m wesentlichen A n f ü h r u n g der Gesetzesvorhaben u n d weiteren allgemeinen Zielsetzungen. 37 I n diesem Sinne n u n auch Jochimsen, B u l l e t i n 1973, S. 1309: „Es gibt weder für den Gesamtstaat noch für den B u n d u n d die Länder eine „positive", „integrierte" Gesamtplanung (auch nicht i n der F o r m einer Rahmenplanung), die alle einzelnen und übergreifenden Aufgaben der Ressorts abstimmt und überwölbt, politische Prioritäten für die Gesamtpolitik setzt, und ein System von integralen Plänen koordiniert." Ders., Gutachten NW (Anm. 2) S. 51 f. Ebenso Theis, Außenpolitik 23 (1972) S. 692. 34
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i n einer zentralen Verwaltungswirtschaft denkbar, die keine Strukturen einer freien Wirtschafts- und Sozialentwicklung kennt. Die Notwendigkeit einer Koordination der innerhalb eines Regierungsprogramms liegenden Vorhaben bleibt unbestritten. Für die längerfristige Vorhersicht w i r d es dagegen i m Rahmen einer politischen Planung nur möglich sein, eine allgemeine Zielbestimmung und den Ansatz einer Prioritätenentscheidung zu entwickeln 3 8 . Das Hauptproblem bleibt hier die Abstimmung mit der Ressourcenplanung. Ohne Verbindung mit einer Finanzplanung bleibt jede Zielplanung i n einem Stadium, der ihre operationale Verwendung kaum erlaubt. Es wäre auf der anderen Seite indes nicht möglich, von der Ressourcenplanung allein auszugehen. Sie tendiert i n ihrem Aufbau von den Ressorts her zu einer gewissen Stabilität und zu einem gewissen Mangel an Innovation 3 9 . Man hat daher auch vorgeschlagen, die Finanzplanung aufgabenorientiert zu gestalten, also stärker von den Ressorts zu lösen und der jährlichen Budgetaufstellung oder mehrjährigen Planung eine Programmphase vorzuschalten 40 . Ich glaube indessen nicht, daß es ratsam oder auch möglich wäre, die Finanzplanung und i m Grunde auch nicht die Zielplanung von den Ressorts zu lösen, wenn auch innerhalb dieser durch Arbeitsgruppen beweglichere Elemente gebildet werden könnten. Das ist auch die Basis, von der neuere Arbeiten auf diesem Gebiet ausgehen 41 . Es bleibt aber eine Aufgabe, die zentrale Planung über die einzelnen Ressorts, die teilweise auch bereits längerfristige Planung treiben (Verteidigung, Verkehr), hinauszuführen und zu einer Koordination und Prioritätenbestimmung i n allgemeiner Form zu gelangen. Hier bleibt der Fortentwicklung der politischen Planung noch ein großes und schwieriges Arbeitsfeld.
IV. Für die Gestaltung der politischen Planung i n der Bundesrepublik bleiben neben dem soeben erörterten Fragenbereich der Aufgabenplanung innerhalb des zentralen Bereiches i n Verbindung mit der
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Vgl. Volker Schmidt, Die V e r w a l t u n g 6 (1973) S. 1 ff. Der Gedanke von Theis (Anm. 37) S. 693, die Zielfindung sei eine Aufgabe der politischen Parteien, nicht der Exekutive, überzeugt nicht. Eine substantiierte Zielbeschreibung k a n n nur i m staatlichen Apparat erarbeitet werden. 39 Vgl. Naschold, i n : Mayntz - Scharpf (Anm. 9) S. 150 f. 40 Naschold, S. 157 ff. 41 Theis, i n : Mayntz - Scharpf (Anm. 9) S. 191 ff. und ebenfalls D r i t t e r Bericht der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform (mit V o r schlägen zur Strukturbereinigung der Ressorts).
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Vorherberechnung der finanziellen Ressourcen zwei weitere große Probleme zu lösen: die Beteiligung des Parlaments am Planungsvorgang und die föderale Zusammenarbeit bei der Planung i n der Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Von diesen beiden Fragen scheint die erste, die Teilnahme des Parlaments an der Aufstellung politischer Pläne, i m Ausland noch wenig Beachtung gefunden zu haben, und es könnte hier also ein spezifischer Beitrag der deutschen Theorie und Praxis zur Ausformung der zentralen Planung vorliegen. I n der bundesdeutschen Diskussion ist in der Tat frühzeitig die Auswirkung planerischer Aktivitäten der Exekutive auf die Arbeit und die Rolle der Parlamente erkannt und geprüft worden. Bedeutet nicht die Entwicklung von Plänen, die zunächst i m Bereich der Exekutive vor sich geht, und ihre Festlegung eine Vorentscheidung über spätere, zumeist in Gesetzesform sich niederschlagende Vorhaben, die deren Lösung bereits in gewissem Umfang präjudiziert, und w i r d damit nicht der heute bereits weithin beobachtete Vorsprung der exekutiven A k t i o n über die legislative Tätigkeit — und auch die Kontrolle des Parlaments noch vergrößert und akzentuiert? Bedarf es daher nicht entsprechender ausgleichender Vorkehrungen, um durch eine parlamentarische Partizipation an der Planung dieses Gefälle abzugleichen? Das Problem führt in die weitschichtige Diskussion über die Schwächung der Stellung der Parlamente und den Vorsprung der Exekutive i m modernen, auf technischen Sachverstand und Beherrschung umfangreicher Informationen abgestellten Staatsaufbau 42 . Seine Lösung kann freilich ebensowenig wie an anderen Punkten von einer nostalgischen Rückschau auf ältere Vorstellungen von Gewaltenteilung oder auf ein — auch historisch anfechtbares — Ideal parlamentarischer Plenardiskussion erwartet werden. Hierfür bedarf es vielmehr der Entwicklung neuer zeitgerechter Formen der funktionsteilenden Beteiligung an der Staatsleitung, an der neben der Regierung auch das Parlament einen, wenn auch einer anderen Aufgabe zugewandten, Anteil besitzt. Soweit die Frage der Teilnahme des Parlaments an der Planung unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung erörtert worden ist, hat man vielfach die Planung dem Bereich der Regierung, der leitenden Initiative und der Bestimmung der Richtlinien staatlichen Wirkens,
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Z u diesem bekannten Problem siehe aus einer reichen L i t e r a t u r meine Äußerung, i n : Festschrift Adolf A r n d t 1969, S. 398 f.; R. Bäumlin, Referate des Schweizer. Juristenvereins, Bd. 100 (1966) S. 176 ff.; W. Hennis , Die m i ß verstandene Demokratie, S. 102 ff.; Th. Ellwein, i n : W. Steffani, Parlamentarismus ohne Transparenz, 2. A u f l . 1973, S. 57/58.
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zugewiesen 43 . Daran ist richtig, daß Planungsaufgaben dem Gebiet der staatsleitenden Tätigkeit der Exekutive funktionell zugehören können. Geht man von einer Gesamtsicht der staatlichen Tätigkeit aus, die i n ihrem Rahmen einen Bereich oberster Entscheidung und Ausrichtung heraushebt, so entfallen i n diesem Rahmen die gesetzgebende und kontrollierende Aufgabe auf das Parlament, während auf der anderen Seite dem leitenden Funktionskreis der Exekutive, der Regierung die koordinierende Leitung, die Zielsetzung und die Initiative für politische Maßnahmen (einschließlich der Gesetzgebung) und die Steuerung der Staatsverwaltung obliegt 4 4 . Zu diesem Bereich muß man auch die Planung rechnen, die sowohl der rationalen Steuerung der staatlichen Aufgaben wie der Vorbereitung der Gesetze und der finanziellen Gebarung des Staates dient. Daher gehört, wenn man von der Zuweisung an Träger von Aufgaben ausgeht, die Planung zunächst dem Tätigkeitsfeld der Regierung zu 4 5 . Indes ist damit die ausreichende A n t w o r t noch nicht gegeben. A n dem Bereich der obersten Entscheidungen i m Staate nimmt, von ihrer besonderen Orientierung auf Normsetzung und Kontrolle her, auch die Legislative teil. Es ist ihre Aufgabe, durch die Gesetzgebung die politischen Ziele in rechtlich verbindlicher Form normativ zu gestalten. Sie steht i m Aufbau des politischen Machtausgleichs der Exekutive als kontrollierende Instanz gegenüber, und nimmt daher i m parlamentarischen System auch Anteil an der Zielbestimmung und anderen staatsleitenden Aufgaben. Auch wenn ich mich nicht der Meinung Friesenhahns anschließe, daß Staatsleitung von Regierung und Parlament „zur gesamten Hand" ausgeübt werde 4 6 — der jeweilige Anteil ist vielmehr funktionell abgestuft und berechnet —, so ist doch anzuerkennen, daß das Parlament i m System des Grundgesetzes an den Grundentscheidungen, insbesondere soweit sie Bezüge zur Gesetzgebung haben und seine allgemeine Befugnis zur Kontrolle berühren, 43 So Friauf, Erster Bericht der Projektgruppe Regierungs- u n d V e r w a l tungsreform, Bd. I I , S. 631 ff.; 653 (mit Ableitung aus den Leitungsaufgaben und unter Anerkennung der Notwendigkeit parlamentarischer Kontrolle). I n einem strengen, die M i t w i r k u n g des Parlaments einengenden Sinne zur Gewaltenteilung Seeger, Gutachten N W (Anm. 2) S. 24 ff. 44 Zur F u n k t i o n der Regierung siehe Scheuner, Festgabe Smend 1952, S. 268, 275; Leisner, JZ 1968, S. 729 f.; Friauf (Anm. 43) S. 645; G. Kassimatis, Der Bereich der Regierung 1965, S. 59 ff.; Klaus Hug, Die Regierungsfunktion als Problem der Entscheidungsgewalt, Zürich 1971, S. 52 f. 45 I n diesem Sinne meine Äußerung V V D S t R L 16, (1958) S. 125; Friauf (Anm. 43) S. 648, 664; Stern, dort S. 581 f.; Dieter Grimm, AöR 97 (1972) S. 519; E. W. Böckenförde, Gutachten N W (Anm. 2) S. 15 ff. 46 Friesenhahn, V V D S t R L 16 (1958) S. 37 f.; i m gleichen Sinne Böckenförde (Anm. 2) S. 444; W. Kewenig, DÖV 1971, S. 29.
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teilnimmt. Die politische Planung greift der späteren legislativen Entscheidung vor und entzieht sich ihrer Natur nach der nachträglichen Kontrolle. Daher ist eine parlamentarische Beteiligung erforderlich. Sie ergibt sich einmal aus dem i m parlamentarischen System nötigen Zusammenspiel der obersten Organe 47 . Vor allem aber läßt sie sich aus dem Moment der Kontrolle ableiten. I n der modernen Staatsrechtslehre ist anerkannt, daß dort, wo eine nachträgliche Kontrolle nicht möglich ist — und das gilt für die Planung infolge ihres vorbereitenden Charakters — oder zu spät kommt — auch das ist bei der Planung der Fall — eine „präventive Kontrolle", eine begrenzte M i t w i r k u n g bei der Maßnahme selbst an ihre Stelle treten muß 4 8 . I n diesem Sinne läßt sich die Beteiligung des Parlaments aus der Kontrollfunktion ableiten. Sie ist begründet aber auch von der Gesetzgebung her, weil Planung der freien legislativen Entscheidung Bindungen anlegen kann. Ohne eine solche M i t w i r k u n g an der Planung w i r d die Erfüllung der A u f gaben des Parlaments i n Normsetzung und Kontrolle erheblich verkürzt. Diese Einsichten sind nicht nur i n der Literatur vertreten worden, sie haben auch die praktische Entwicklung beeinflußt. Es ist klar, daß der erste Schritt i n der Planung i n den internen Bereich der Exekutive gehört. Erst mit einem gewissen Reifegrad der Planung kann eine öffentliche Behandlung i n Betracht kommen. I n diesem Stadium kommt eine öffentliche Diskussion i m Parlament, möglicherweise auch eine Entschließung i n Betracht. Keineswegs kann man an eine gesetzliche Festlegung denken, die der flexiblen Natur der Planung zuwider wäre. Über ihre Form liegen manche Gedanken vor. Dem Parlament könnten Planungen grundlegender A r t zur Erörterung vorgelegt werden; es könnte sie ggf. i n einem besonderen Planungsaussuß behandeln, und könnte durch Stellungnahmen oder Entschließungen seinen Einfluß geltend machen, ohne selbst zu entscheiden 49 . I n diese Richtung bewegen sich auch gesetzgeberische Lösungen und Vorschläge. I n Berlin bestimmte eine Vorlage, daß das Abgeordnetenhaus je drei Vertreter i n die beim Senat gebildeten Planungsausschüsse entsendet, und das Haus konstituierte einen Ausschuß für 47
Vgl. Friauf (Anm. 43) S. 629 f. Ebenso VerfG Hamburg DÖV 1973 S. 745 ff. = DVB1. 1973 S. 885 ff. 48 Vgl. hierzu R. Bäumlin (Anm. 42) S. 244ff.; W. Kewenig, Strukturelle Probleme parlamentarischer Mitregierung am Beispiel der Bundestagsausschüsse, 1970; meine Darlegung AöR 95 (1970) S. 379. 49 Z u diesen Fragen siehe ff. G. F. Liesegang, Die Beteiligung der Parlamente bei der Aufstellung von Plänen durch die Exekutive, Ztschr. f. Parlamentsfragen (ZParlfr.) 3 (1972) S. 162 ff.; R. Wahl, Der Staat 11 (1972) S. 475 ff.; Kewenig, DÖV 1973, S. 23 ff.; v. Peter, dort S. 335 ff.
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Planung und Stadtentwicklung. I m gleichen Jahr legte die Opposition i m Stadtparlament einen Gesetzentwurf vor, nach dem Regierungsplanungen dem Abgeordnetenhaus zu unterbreiten seien, das über sie Empfehlungen beschließen kann 5 0 . Vorschläge, die auf eine Verpflichtung zur Vorlage von Regierungsplanungen an das Parlament unter Angabe der Ziele und M i t t e l und Darlegung von Alternativen abzielen, enthält auch ein Antrag der CDU-Fraktion i m nordrhein-westfälischen Landtag. Abgestellt w i r d hier namenltich auf die Unterrichtung, wobei eine jährliche allgemeine Information über die Planungen des Kabinetts vorgesehen ist, wie auch die Darlegung über konkrete Planungen. Planungen sollen erst nach Beschlußfassung des Parlaments verbindlich werden können 5 1 . Die bedeutsamste Erörterung der Beteiligung des Parlaments an der Planung findet sich i n dem von der Enquete-Kommission des Bundestages i m September 1972 vorgelegten Zwischenbericht 52 . Hier w i r d i n Aufnahme des Gedankens, daß auch das Parlament funktionsmäßig an der Planung Anteil habe, zudem deren Vorgriff auf Gesetzgebung und Haushalt seine Teilnahme fordere, eine Zusammenarbeit von Exekutive und Parlament für erforderlich gehalten, obwohl die Bundesregierung dagegen aus der Zuständigkeitsordnung Bedenken erhoben hatte. Gedacht ist dabei an einen Planungsausschuß des Bundestages, i n dem ein Viertel der Mitglieder nähere Auskünfte von der Regierung fordern kann, eine bedeutsame Einsicht i n die Rolle der Opposition bei der Kontrolle der Planung. Dem Bundestag sollte die Möglichkeit zu Stellungnahmen, nicht eigentlichen Entschließungen offenstehen. Auch wenn von diesen Gedanken noch keine rechtliche Gestaltung ausgegangen ist, sie vielmehr i m Entwurfsstadium verharren, so zeigt sich i n ihnen doch eine deutliche Stellungnahme der öffentlichen Meinung, an der die künftige Gestaltung kaum w i r d vorübergehen können. Die Planung w i r d als Tätigkeitsfeld auch von der Legislative i n Anspruch genommen und kann nicht allein als Domäne der Exekutive angesehen werden. Angesichts ihrer Einwirkung auf Gesetzgebung, Finanzen und Kontrolle läßt sich eine parlamentarische Beteiligung 50 Hierzu Rudolf Schäfer, Berliner Ansätze zur Beteiligung des Parlaments an der Regierungsplanung ZParlFr. 3 (1972) S. 182 ff. 51 Drucks. 7/1518, abgedruckt i n Gutachten N W (Anm. 2) S. 63 ff. Siehe U. Thaysen, ZParlFr. 3 (1972) S. 176 ff. 52 Zwischenbericht der Enquete-Kommission f ü r Fragen der Verfassungsreform gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages Drucks. VI/3829 S. 45 - 53. Kritische Würdigung bei R. Wahl, Der Staat 11 (1972) S. 477 ff.; W. Kewenig, D Ö V 1973, S. 23 ff. Dazu K. Schmittmer, B a y V w B l . 1973 S. 637 f.; Ilse Staff , DÖV 1973 S. 725 ff.
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begründen, die freilich den beweglichen und offenen Charakter der Planung nicht schmälern darf. V. I n einem Bundesstaat muß die zentrale Planung notwendig auch auf die Relation zwischen Bund und Ländern ausgreifen, sowohl was die Aufgabenstellung wie vor allem auch die finanzielle Berechnung angeht. Das gilt vor allem für diejenigen Gebiete, i n denen sich die Zuständigkeiten von Bund und Ländern nahe berühren oder ergänzen. I n der Tat sind auch Vorschläge zu einer Bund und Länder zusammenfassenden Planung gemacht worden. Die Enquete-Kommission sieht hierfür eine gemeinsame Rahmenplanung vor, für die ein gemeinsamer Planungsausschuß von Bund und Ländern Empfehlungen aussprechen soll. Über diese einer Zustimmung des Bundes und der Ländermehrheit bedürfenden Planungen beraten und beschließen Bundestag und Bundesrat (dieser m i t zwei Drittelmehrheit). Damit würde eine solche Planung Verbindlichkeit erlangen 53 . Eine solche gemeinsame Planung bedürfte freilich einer Grundlage i n Verfassung und Gesetz. Schon heute ist auf Teilgebieten eine solche gemeinsame Planung verwirklicht. Die Reform von 1969 hat i n Gestalt der A r t . 91 a und 91 b GG Formen solcher Gemeinschaftsplanung i n das föderale System i m Sinne eines kooperativen Föderalismus eingeführt. Für die i n A r t . 91 a genannten drei Aufgabenbereiche (Gemeinschaftsaufgaben) — Hochschulneubau, regionale Wirtschaftsstruktur, Agrarstruktur und Küstenschutz — kann nach näherer Bestimmung inzwischen erlassener Gesetze 54 eine Rahmenplanung aufgestellt werden, die verbindlich ist. Über sie entscheiden gemeinsame Planungsausschüsse. Für die Finanzierung trägt der Bund mindestens die Hälfte bei. Diese gemeinsame Planung, die i m Gange ist und auf die hier i m Blick auf die reichhaltige Literatur nicht näher eingegangen werden kann 5 5 , hat freilich i n neuerer Zeit auch 53
Enquete-Kommission (Anm. 52) S. 45 ff. Hochschulbauförderungsgesetz v. 1.9.1969 (BGBl. I S. 1556); Ges. über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstrukt u r " v. 3.9.1969 (BGBl. I S. 1573); Ges. über die Gemeinschaftsaufgabe „ V e r besserung der A g r a r s t r u k t u r u n d des Küstenschutzes" v. 6.10.1969 (BGBl. I S. 1861). 55 Siehe R. Goroncy, Der Mitwirkungsbereich des Bundes bei den Gemeinschaftsaufgaben, D Ö V 1970, S. 109 ff.; B. Tiemann, Gemeinschaftsaufgaben u n d bundesstaatliche Kompetenzordnung, D Ö V 1970, S. 725 ff. F. Rietdorf, Die Gemeinschaftsaufgaben — ein Schritt zur gemeinsamen A u f gabenplanung von B u n d u n d Ländern, D Ö V 1972, S. 513 ff.; Friedrich Klein, Die Regelung der Gemeinschaftsaufgaben i n B u n d u n d Ländern i m G r u n d gesetz, Der Staat 11 (1972) S. 289 ff.; Jochen A. Frowein, u n d Ingo v. Münch, Gemeinschaftsaufgaben i m Bundesstaat W D S t R L 31 (1973) S. 13 ff., 51 ff. 54
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erheblichen Widerstand bei den Ländern gefunden. Man w i r f t ihr vor, daß sie durch das i n ihr enthaltene finanzielle Angebot des Bundes, das ein Land schwer ausschlagen könne, die Haushaltsfreiheit der Länder allzusehr einzuenge. Zudem werden die Landtage weithin ausgeschaltet, obwohl man sich bemüht hat, ihnen vor der Festlegung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben 56 . Auch w i r d kritisiert, daß der Bund i n diesen Planungen allzusehr auf das Detail der Länderverwaltung Einfluß nehme 57 . Ob diese K r i t i k aber zu Änderungen des bestehenden Ansatzes führen wird, bleibt offen 58 . Weniger der K r i t i k ausgesetzt sind die Planungen nach A r t . 91 b GG, die allerdings jeweils auf besonderen Vereinbarungen von Bund und Ländern beruhen müs J sen, und die Bildungsplanung und Forschung betreffen können 5 9 . Hier sind namentlich i m Bereich der Bildungspläne durch gemeinsame Ausschüsse umfangreiche Planungen entwickelt worden 6 0 . Wenn somit auf bestimmten begrenzten Gebieten eine verfassungsrechtliche Grundlage für gemeinsame Planung von Bund und Ländern geschaffen worden ist, so steht die weitere Aufgabe einer Abstimmung ihrer Planungen noch erst i m Anfang. Das gilt auch für das Ineinandergreifen der i n den Ländern aufgestellten Raumordnungspläne und ihre Überhöhung durch einen vom Bunde aufzustellenden räumlichen Entwicklungsplan 6 1 . Eine Verbindung der Finanzplanung von Bund und Ländern hat i n den letzten Jahren auch unter der teilweise sehr starken Verzögerung der Verabschiedung des Bundeshaushalts gelitten. So liegt m i t h i n i m föderalen Bereich noch eine erhebliche Aufgabe für die Zukunft vor, bis hier eine Zusammenstimmung der Planungen i n Bund und Ländern erreicht ist. 56
Vgl. Böhringer, Z u r M i t w i r k u n g der Landesparlamente i m Bereich der Gemeinschaftsaufgaben, ZParlFr. 1 (1970) S. 173 ff.; H. C. F. Liesegang, Schwächung der Parlamente durch den kooperativen Föderalismus, DÖV 1971, S. 228 ff.; Kisker, Kooperation i m Bundesstaat, 1971; Frowein (Anm. 55) S. 22 f.; v. Münch, dort S. 54f. I n den Ländern ist diese Beteiligung der Landtage oft durch Änderung des Haushaltsrechts gesichert worden. Vgl. Frowein, S. 25 ff. (mit näheren Hinweisen). 57 Hierzu i m H i n b l i c k auf den Hochschulbau P. Feuchte, Hochschulbau als Gemeinschaftsaufgabe, Die V e r w a l t u n g 5 (1972) S. 196 ff. 58 R. Goroncy, Das Zusammenwirken v o n B u n d u n d Ländern bei den Gemeinschaftsaufgaben nach A r t . 91b GG, DVB1. 1970, S. 310 ff.; Th. Oppermann, Gemeinschaftliche Bildungs- u n d Forschungsfinanzierung, DÖV 1972, S. 591 ff. 59 Vgl. hierzu Frowein (Anm. 55) S. 41 ff. 60 Siehe H. Thierfelder, Einige Überlegungen zur Bildungsplanung i n der Bundesrepublik Deutschland, DVB1. 1973, S. 521 ff. Siehe auch: Bildungsgesamtplan der Bund-Länder-Kommission f ü r Bildungsplanung, 2 Bde., 1973. 61 Vgl. Werner Weber (Anm. 1) S. 16 f. 25*
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A m Schlüsse sei nur kurz noch darauf hingewiesen, daß auch innerhalb der Länder die Planung an Boden gewonnen hat. Alle Länder haben nicht nur die Aufgabe der Raumordnung zu einem Landesentwicklungsplan fortgebildet, der ständig fortgeschrieben wird. Das entspricht dem Übergang von der Raumordnung zur Entwicklungsplanung 6 2 . Diese A r t der Planung steht freilich noch i n der Mitte zwischen der auf eine definitive rechtliche Ordnung angelegeten Raumplanung und einer Konzeptionsplanung, die von den mannigfaltigen Aufgaben der Verwaltung ausgeht. Einige Länder haben solche Pläne zu umfassenderen Programmen fortentwickelt, wie sie der „Große Hessenplan" oder das Nordrhein-Westfalen-Programm 1975 darstellen 63 . Es handelt sich dabei u m mittelfristige Pläne, die aber noch keine eigentliche rational durchgebildeten, Ziel und M i t t e l erfassenden und die finanzielle Seite umreißende Planung darstellen, sondern mehr allgemeine Programme und Investitionsplanungen bilden 6 4 . Immerhin liegen i n solchen Programmen Ansätze zu einer mittelfristigen, die engeren räumlichen Grenzen einer Entwicklungsplanung überschreitenden Planbindung vor. M i t solchen Bestrebungen verbinden sich dann auch Erwägungen über eine Anpassung und Fortbildung der Regierungsstruktur i n den Ländern. Vor allem i n Bayern sind i n neuerer Zeit Studien i n dieser Richtung unternommen worden 6 5 . Hier werden i n einer Studie des Innenministers moderne Gedanken der Verwaltungsreform diskutiert, Trennung politischer und administrativer Aufgaben i n der zentralen Ebene, und es w i r d die Einsetzung von Projektgruppen innerhalb der Ministerien erörtert. 62 Siehe Frido Wagener, i n : Regierungsprogramme u n d Regierungspläne, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 51 (1972) S. 15 ff., L. Heigl, dort S. 87 ff. 63 Vgl. zum Großen Hessenplan, der 1965 veröffentlicht wurde, Willi Hüfner, Einige Aspekte zur Methodik staatlicher Planung, i n : Kaiser, Planung I I I , S. 207 ff. Z u dem 1970 publizierten Programm für NordrheinWestfalen Frido Wagener y i n : Regierungsprogramme usw. (Anm. 62) S. 28 ff. Über eine mittelfristige Finanzplanung i n Hamburg siehe W. Krüger - Spitta , Finanzplanung i m Stadtstaat, i n : Kaiser, Planung I I I , S. 193 ff. Weitere Ubersichten bei Frido Wagener, S. 22 ff. 64 Frido Wagener, S. 22 ff.; ferner Willi Hüfner, Einige Aspekte zur Methodik staatlicher Planung, i n : Kaiser, Planung I I I , S. 207 ff. 65 Schon 1955 wurde eine Studie über Staatsvereinfachung i n 2 Bänden veröffentlicht. Siehe Frido Wagener, Neubau der Verwaltung, 1969, S. 124. Seither wurde eine (nicht veröffentlichte) Studie über die Reform des Bayerischen Staatsministeriums des I n n e r n 1969 erstellt. Z u m Problem der Interrelation zwischen Ministerialorganisation u n d Planung siehe auch R. Mayntz u n d F. Scharpf, i n : Organisation der Ministerien des Bundes u n d der Länder, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 52 (1973) S. 37 ff.; dieselben i n Mayntz - Scharpf (Anm. 9) S. 201 ff.
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Die kurze hier gegebene Übersicht über die Entwicklung der politischen Planung i n der Bundesrepublik zeigt, daß einer rasch angewachsenen Literatur noch eine geringere Entwicklung i n der Praxis von Bund und Ländern gegenübersteht. Ansätze sind nach verschiedenen Richtungen geschaffen worden, so insbesondere für die mittelfristige Finanzplanung, die globale Konjunktursteuerung, die Ressortplanung i n einzelnen Ministerien, sowie für die Bund und Länder verbindende Planung der Gemeinschaftsaufgaben. Nach der Erfahrung, daß eine integrierte mittelfristige oder längerfristige Gesamtplanung der gesamten staatlichen Vorhaben i m Bunde und erst recht i m Verbund von Bund und Ländern nicht realisierbar ist, ergibt sich nun die Aufgabe, i n begrenzter Weise eine vorausschauende Planung der Aufgaben und der zu ihrer Verwirklichung erforderlichen Ressourcen i n Angriff zu nehmen. Das setzt einmal eine engere Verbindung der Aufgaben- und Finanzplanung als bisher voraus, zum anderen fordert es zentrale Koordination, die die auftretenden Konflikte behandelt, ohne den Ressorts vorzugreifen und ihren Widerstand auszulösen, der gerade i n Koalitionskabinetten oft recht wirksam sein kann. Die Planung i m Ressort ist als Grundlage unentbehrlich, auch wenn möglicherweise für besondere übergreifende Aufgaben besondere Projektgruppen gebildet werden können. Auch die rechte organisatorische Einordnung der Planung w i r d zu durchdenken sein. I n der täglichen Praxis der Exekutive hat es die Planung schwer, ausreichend Beachtung und Anerkennung zu finden. Entfernt sie sich organisatorisch und konzeptionell zu stark von der normalen politischen Arbeit, so besteht stets die Gefahr zu einer von der Entscheidung entfremdeten Abstraktion. Möglicherweise bietet das Regierungsprogramm i n einer mehrjährigen Ausrichtung eine Basis für die Erarbeitung einer stärker aurfgabenorientierten Planung. Längerfristige Planungen werden wohl nur schwerpunktmäßig und i n einem weiterem Rahmen möglich sein 66 . Was die Beteiligung des Parlaments anlangt, so findet dieser Gedanke weite Unterstützung, wenn man auch den hiergegen latent hervortretenden Widerstand der Regierung nicht übersehen darf, die an diesem Punkte den Ansatz für eine Opposition nicht verkennt 6 7 . Gerade die letzte Überlegung mag auch den konzeptionellen und organisatorischen Bereich erhellen, den es für eine Weiterentwicklung der zentralen Planung zu beachten gilt.
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Siehe A. Theis, i n : Mayntz - Scharpf (Anm. 9) S. 187 ff. Hierzu Rietdorf, Gutachten N W (Anm. 2) S. 43 f.
Zur Rechtenatur des Haushaltsplanes V o n K a r l M. Hettlage
D i e F r a g e nach der R e c h t s n a t u r des Haushaltsgesetzes u n d des H a u s h a l t s p l a n e s i s t a l t 1 . Geschichtlich i s t sie n i c h t z u t r e n n e n v o n d e r A u s einandersetzung zwischen K r o n e u n d V o l k s v e r t r e t u n g i n der k o n s t i t u t i o n e l l e n M o n a r c h i e u m das H a u s h a l t s b e w i l l i g u n g s r e c h t . I n n e u e r F o r m s t e l l t sie sich i m V e r f a s s u n g s w a n d e l des Grundsatzes d e r G e w a l t e n t r e n n u n g i n d e r p a r l a m e n t a r i s c h e n D e m o k r a t i e . D i e F r a g e nach d e r R e c h t s n a t u r des Haushaltsgesetzes u n d des H a u s h a l t s p l a n e s f r a g t n a c h d e n R e c h t s w i r k u n g e n , n a c h d e m n o r m a t i v e n G e h a l t dieser L e i t i n s t r u mente der staatlichen Finanzwirtschaft. Nach den Grundsätzen der allg e m e i n e n Rechtslehre k ö n n t e dieser n o r m a t i v e G e h a l t n u r i n e i n e m Gesetzesbefehl, i n e i n e m G e b o t oder V e r b o t , bestehen. E i n solcher Gesetzesbefehl k ö n n t e sich n u r a n die S t e l l e n r i c h t e n , d e n e n d u r c h das Haushaltsgesetz u n d d e n H a u s h a l t s p l a n f i n a n z i e l l e H a n d l u n g s v o l l m a c h t e n z u r E r f ü l l u n g ö f f e n t l i c h e r A u f g a b e n zugewiesen w e r d e n 2 . 1 Veranlaßt wurde diese kleine Studie durch die Erörterungen über die rechtliche Tragweite des Haushaltsgesetzes u n d des Haushaltsplanes anläßlich der Neuordnung des Finanzrechts von B u n d u n d Ländern durch die Haushaltsrechtsreform von 1969 (Haushaltsgrundsätzegesetz — H G r G — v o m 19. 8.1969, BGBl. I, S. 1273; Bundeshaushaltsordnung — B H O — v o m selben Tage, BGBl. I, S. 1284). Unter dem neueren wissenschaftlichen Schrifttum zu dieser Frage erfordert vor allem die Untersuchung v o n Reinhard Hoffmann, Haushalts Vollzug u n d Parlament, 1972, eine kritische Stellungnahme. Bei meinen Ausführungen stütze ich mich auch auf eine langjährige Erfahrung als Staatssekretär des Bundesministeriums der Finanzen, nicht zuletzt auch auf die ministerielle Vorbereitung u n d parlamentarische Beratung der Haushaltsrechtsreform von 1969. 2 Hierzu sind einige begriffliche u n d sprachliche Klarstellungen angebracht. Das Finanzrecht (Haushaltsrecht) kennt weder die Begriffe noch die Worte Budget u n d Etat. Budget ist als ein Begriff der Finanzwissenschaften zwar weitgehend m i t Haushalt oder Haushaltsplan gleichbedeutend (vgl. G. Colm, Haushaltsplanung, Staatsbudget, Finanzplan u n d Nationalbudget — F. Neumark, Begriff u n d Praxis der Budgetgestaltung, i n : Handbuch der Finanzwissenschaften, 1952, Bd. I, S. 519 ff. u n d 554 ff. u n d das dort umfassend angeführte Schrifttum). Trotzdem sollte die Bezeichnung Budget für den Haushaltsplan i n haushaltsrechtlichen Untersuchungen vermieden werden. Auch kennt das Haushaltsrecht keine „Etatposition" (so vielfach Hoffmann), sondern n u r Einnahmen- oder Ausgabenansätze des Haushaltsplanes
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Hinsichtlich der rechtlichen Bedeutung ist zwischen der Einnahmeseite und der Ausgabenseite des Haushaltsplanes zu unterscheiden. Daß die Veranschlagung eines Einnahmebetrages aus einem bestimmten Rechtsgrund, insbesondere der Steuereinnahmen, keine selbständigen Rechtswirkungen entfaltet, ist allgemeine Rechtsüberzeugung. Der Rechtsgrund für die Einnahme liegt i n einem Rechtsverhältnis außerhalb des Haushaltsplanes. Auch für den Haushaltsvollzug begründet die Veranschlagung eines Einnahmebetrages i m Haushaltsplan keine selbständige Verpflichtung zur Erhebung dieser Einnahme. Die Einnahmenseite des Haushaltsplanes ist also i m wesentlichen nur eine rechnerische Zusammenstellung der für ein Haushaltsjahr erwarteten Einnahmen und eine Zusammenfassung aller M i t t e l zur Deckung des gesamten Ausgabenbedarfs. Daß die Einnahmenseite des Haushaltsplanes keine besonderen Rechtswirkungen gegenüber der Regierung bei seinem Vollzug begründet, ergibt sich auch aus § 3 Abs. 2 BHO (§ 3 Abs. 2 HGrG), wonach durch den Haushaltsplan keine Ansprüche oder Verbindlichkeiten begründet oder aufgehoben werden. Anders verhält es sich mit den Ausgabenansätzen des Haushaltsplanes. Für sie entsteht tatsächlich eine Rechtsfrage, ob und wieweit durch ihre Veranschlagung i m Innenverhältnis von bewilligendem Parlament und vollziehender Regierung eine rechtliche Bindung der Regierung begründet wird. Nach den Grundsätzen des parlamentarischen Regierungssystems und nach ausdrücklicher Bestimmung der Verfassung (Art. 110, 112 GG) ist nie zweifelhaft gewesen, daß die Regierung Ausgaben nur für die i m Haushaltsplan bezeichneten Zwecke bis zur Höhe des dort genannten Betrages leisten darf. Das ist der Sinn des ganzen, durch Jahrhunderte erkämpften parlamentarischen Haushaltsbewilligungsrechts. Die Rechtsnatur der Ausgabenansätze besteht also sowohl i n einer Ermächtigung wie i n einem Verbot: Ausgaben, die nicht dem angegebenen Verwendungszweck dienen, sind untersagt; Zahlungen, die den festgestellten Betrag überschreiten, sind unzulässig. Die Ausgabenansätze sind Rahmenermächtigungen mit Ermessensspielraum 3 . I n dieser Rechtsnatur als Ermächtigung erschöpft sich die Bedeutung des Haushaltsplanes aber keineswegs. Weit wichtiger ist der politische (Titel). Schließlich ist auch der Haushalt begrifflich nicht identisch m i t dem Haushaltsplan. Gegenstand normativer Regelungen i n Verfassung u n d Haushaltsordnung ist nur der Haushaltsplan. Der Haushalt (Staats-, Landes-, Gesamthaushalt i m Bundesstaat) ist der Inbegriff der gesamten F i n a n z w i r t schaft einer öffentlichen Körperschaft, ihres materiellen Standes u n d ihrer formellen Ordnung. 3 BVerfGE 10, 56 ff.; 10, 81 ff.
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Rang des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplanes als Grundlage der gesamten Regierungspolitik. Der Haushaltsplan dient der Feststellung und Deckung des gesamten Finanzbedarfs, der zur Erfüllung der staatlichen Aufgaben i m Bewilligungszeitraum voraussichtlich notwendig ist. Der Haushaltsplan ist die finanzwirtschaftliche Grundlage für die Haushalts- und Wirtschaftsführung (§ 2 HGrG; § 2 BHO). Dieser höchste politische Rang des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplanes, vor allem seiner Ausgabenseite, muß bei allen Überlegungen über etwaige weitergehende Rechtsbindungen der Regierung bedacht werden. Die politische Bedeutung des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplanes ist selbstverständlich nicht unabhängig vom Wandel der politischen Systeme. I n einer parlamentarischen Demokratie haben Haushaltsgesetz und Haushaltsplan eine andere und größere Bedeutung als i n einem totalitären oder marxistischen System, obwohl die Verfassungen dieser Staaten vielfach eine formelle parlamentarische Haushaltsbewilligung beibehalten haben. Seit Verkündung des Grundgesetzes ist immer wieder einmal die Frage aufgeworfen worden, ob die neue parlamentarisch-demokratische Grundordnung nicht auch eine erweiterte M i t w i r k u n g des Parlaments beim Vollzug des Haushaltsplanes erfordere oder rechtfertige. Führt der eindeutige politische und verfasungsrechtliche Vorrang des Parlaments vor allen übrigen Verfassungsorganen und seine alleinige Entscheidung über den Inhalt des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplanes nicht sachlogisch auch zu einer verstärkten M i t w i r k u n g bei dessen Vollzug und zu einer entsprechenden Rechtsbindung der Regierung? Inwieweit berührt der Verfassungsgrundsatz der Gewaltentrennung den Entscheidungsbereich des Parlaments und der Regierung bei der Feststellung und beim Vollzug des Haushaltsplanes? R. Hoffmann, (S. 18) meint m i t Recht, daß „die Verteilung der haushaltsrechtlichen Kompetenzen i n den Zusammenhang der konkret [?] geltenden Verfassung eingeordnet werden muß und nur nach den charakteristischen Merkmalen der jeweiligen Verfassung und der i n dieser spezifisch [?] geregelten Beziehungen zwischen Regierung und Parlament beurteilt werden muß". Er sagt weiter zutreffend (S. 30 f.), daß gegenüber der Rechtslage i n der konstitutionellen Monarchie das Haushaltsrecht durch das Grundgesetz auf eine neue verfassungsrechtliche Grundlage gestellt ist. Nach seiner Meinung habe das Parlament heute nicht mehr nur eine negativ eingrenzende und überwachende Funktion, sondern auch eine positiv mitgestaltende Funktion gegenüber Regierung und Verwaltung. Dementsprechend könne das Parlament der Regierung für den Haushaltsvollzug verbindliche Weisungen für die Führung der Regierungsgeschäfte geben. Eine kompetenz-begründende Ermächti-
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gungsnorm könne unterschiedliche Wirkungen haben: entweder sei sie eine reine Ermächtigung zum Handeln nach eigenem Ermessen oder sie könne zum Vollzug einer Ausgabenbewilligung verpflichten. Eine solche Vollzugsverpflichtung könne nicht nur durch ein selbständiges Gesetz, z. B. ein Leistungsgesetz, begründet werden, sondern auch durch eine bloße Richtlinie des Parlaments bei der Beschlußfassung über den Haushaltsplan (S. 46 f.). Die bindende Wirkung eines Ausgabenansatzes i m Haushaltsplan könne unterschiedliche Grade aufweisen. Hoffmann unterscheidet drei Grade von Rechtsbindungen der Regierung beim Vollzug des Haushaltsgesetzes: eine bloße Ermächtigungswirkung m i t alleiniger und ungebundener Entscheidungsfreiheit der Regierung; eine Ermächtigung m i t Vollzugsverpflichtung, aber „nur zur prinzipiellen Durchführung der Aufgabe überhaupt, wobei zwar ein Entschließungsermessen der Regierung ausgeschlossen sei", aber „eine mehr oder weniger große Ermessensfreiheit bei der Auswahl der M i t t e l für die Durchführung der Aufgabe" bestehe; schließlich könne ein Ausgabenansatz zum Vollzug der Maßnahme und zur vollen Verausgabung des veranschlagten Betrages ohne jeden Ermessensspielraum verpflichten (S. 49). Ich halte diese Thesen i n ihrer Begründung und i n ihrem Ergebnis nicht für haltbar. Das Haushaltsgesetz wurde i m staatsrechtlichen Schrifttum bisher meist als ein formelles Gesetz verstanden, das zwar i m allgemeinen Gesetzgebungsverfahren gemäß der Verfassung zustande kam, materiell aber ausschließlich den Bereich der vollziehenden Gewalt betraf. Dieser dualistische Gesetzesbegriff i n bezug auf das Haushaltsgesetz ist auch nach meiner Meinung überholt. Ein Gesetz i m materiellen Sinne liegt nicht nur dann vor, wenn es Rechtsbeziehungen von Rechtsträgern, sondern auch dann, wenn es die Beziehungen von Staatsorganen untereinander regelt 4 . Das Haushaltsgesetz und der von i h m umfaßte Haushaltsplan entfalten materielle Rechtswirkungen m i t A n sprüchen des Parlaments und Verpflichtungen der Regierung. Die Zuordnung des Haushaltsgesetzes zum ausschließlichen Bereich der vollziehenden Gewalt hat i m wesentlichen historische konstitutionelle Gründe. Die heutige verfassungsrechtliche Stellung des Parlaments als 4
R. Hoffmann (S. 34) meint, daß das frühere M e r k m a l der materiellen Allgemeinheit des Gesetzes „unter den sozialökonomischen Bedingungen der gegenwärtigen spätkapitalistischen Gesellschaft längst obsolet u n d unerheblich geworden sei", wie die Tatsache von Einzelfall- u n d Maßnahmegesetzen sowie das Vordringen v o n Generalklauseln beweise. Ich meine, daß ein einheitlicher Gesetzesbegriff, der auf das Gesetzgebungsverfahren u n d den normativen Gehalt abstellt, nichts m i t den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen zu t u n hat.
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Gesetzgeber würde grundsätzlich eine Bindung der Regierung beim Vollzug des Haushaltsplanes dann nicht ausschließen, wenn das Parlament selbst nicht i n besonderen Gesetzen entsprechend dem Verfassungsgrundsatz der Gewaltentrennung die beiderseitigen Aufgaben und Kompetenzen bei der Vorbereitung, Feststellung und Durchführung des Haushaltsplanes i m einzelnen abgegrenzt hätte. Der politische Vorrang des Parlaments und der Vorrang des Gesetzes für Regierung und Verwaltung heben den Grundsatz der Trennung der vollziehenden Gewalt von der gesetzgebenden nicht auf. Das Grundgesetz w i l l keinen Parlamentsabsolutismus wie ihn beispielsweise scheinbar die Verfassung der DDR kennt. Der Grundsatz der Trennung der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt ist Bestandteil der rechtsstaatlichen Ordnung (Art. 20 GG) und bezweckt eine gegenseitige Kontrolle zur Verhinderung von Machtmißbrauch 5 . Welche rechtliche Bedeutung der Grundsatz der Gewaltentrennung i m Einzelfall haben soll, bestimmt der Gesetzgeber durch die Ausgestaltung der gesetzlichen Kompetenzordnung, wobei Ausnahmen zulässig sind, soweit sie das System des funktionalen Gewaltenausgleichs und der gegenseitigen Kontrollen nicht entscheidend ändern. Für die Frage nach der Rechtsbindung der Regierung durch das Haushaltsgesetz und den Haushaltsplan bedeutet dies, daß anhand der konkreten Bestimmungen des Haushaltsrechts der Kompetenz-, Verantwortungsund Bindungsbereich von Parlament und Regierung i m einzelnen untersucht werden müssen. Beginnen w i r m i t den einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes. A r t i k e l 110 GG bestimmt, daß alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes i n den Haushaltsplan einzustellen sind und daß der Haushaltsplan in Einnahmen und Ausgaben abzugleichen ist. Der Haushaltsplan w i r d durch das Haushaltsgesetz festgestellt. I n das Haushaltsgesetz dürfen nur Vorschriften aufgenommen werden, die sich auf die Einnahmen und Ausgaben des Bundes für das Haushaltsjahr beziehen. Dieses sog. Bepackungsverbot erstreckt sich nach dem Wortlaut und nach seinem Sinn nur auf das Haushaltsgesetz. Inhaltlich könnte es den Haushaltsplan als Teil des Haushaltsgesetzes kaum berühren, weil der Haushaltsplan schon begrifflich nur ein Voranschlag und ein Zahlenwerk von Einnahmen aus bestimmten Quellen und von Ausgaben für bestimmte Zwecke ist. Für die Rechtsnatur der Ausgabenbewilligungen können aus dem Bepackungsverbot keine Schlüsse gezogen werden. A r t i k e l 111 GG gibt der Bundesregierung weitgehende Vollmachten für eine Haushaltswirtschaft ohne Haushaltsplan. Diese Regelung zeigt, 5
Vgl. statt vieler Maunz, Deutsches Staatsrecht, 18. Aufl. 1971, S. 70.
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daß das Grundgesetz die Sicherung einer geordneten Haushaltswirtschaft dem selbständigen und ursprünglichen Aufgaben- und Verantwortungsbereich der Regierung zuordnet. Wegen der überragenden Bedeutung einer geordneten Haushaltswirtschaft für die Erfüllung aller öffentlichen Aufgaben und für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung muß die Regierung anstelle des Parlaments handeln. Eine grundsätzliche Bindung der Regierung an einen Parlamentsbeschluß, d. h. an ein vorheriges Haushaltsgesetz, würde geradezu einen Staats- und Wirtschaftsnotstand herbeiführen können. A r t i k e l 112 GG ermächtigt die Regierung zu Abweichungen vom Haushaltsplan (über- und außerplanmäßige Ausgaben) i m Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses. Aus dieser rechtsinhaltlich sehr weitgehenden Bestimmung kann zwar nicht ein Vorrang der Regierung vor dem Parlament beim Haushaltsvollzug abgeleitet werden, sie hebt aber erneut den selbständigen und alleinigen Verantwortungsbereich der Regierung für eine geordnete Haushaltswirtschaft hervor. Auch A r t i k e l 113 GG kommt eine grundsätzliche Bedeutung für unsere Frage zu, weil hier die Entscheidung des Parlaments als Gesetzgeber über ausgabenträchtige Gesetze unter bestimmten Voraussetzungen von der Zustimmung der Regierung abhängig gemacht und damit entscheidend begrenzt wird. Ein klarerer Ausdruck des Grundsatzes der Gewaltentrennung und eines selbständigen Ermessensbereiches der vollziehenden Gewalt zur Sicherung einer geordneten Haushaltsführung und einer Kontrolle auch des Parlaments durch die Regierung ist kaum vorzustellen. Von einem rechtlichen Vorrang des Parlaments vor der Regierung i m Bereich der Haushaltswirtschaft kann wirklich nicht gesprochen werden, wo nicht nur der Bereich des Haushaltsvollzugs berührt wird, sondern die Regierung sogar Parlamentsbeschlüsse wegen ihrer finanziellen Auswirkungen verhindern kann. Daß der Wahrnehmung dieses Zustimmungsrechts und dieser Widerspruchspflicht i m Hinblick auf die Abhängigkeit der Regierung von einer Parlamentsmehrheit politische Grenzen gesetzt sind, steht auf einem anderen Blatt. Schließlich gibt auch A r t i k e l 115 GG der Regierung das Recht, i n Ausnahmefällen zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts höhere als die i m Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben aus der Aufnahme von Krediten zu leisten. Wegen der überragenden Bedeutung der kreditfinanzierten öffentlichen Investitionen für die allgemeine Wirtschaftsentwicklung kann die Regierung ohne M i t w i r k u n g des Parlaments für nicht-bewilligte Ausgabenzwecke nichtbewilligte Schulden machen.
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Diese Durchsicht der haushaltswirtschaftlichen Bestimmungen des Grundgesetzes zeigt eindeutig, daß der Bereich der gesamten Haushaltswirtschaft i n erster Linie, vor allem für Ausnahmelagen, dem Verantwortungs- und Entscheidungsbereich der Regierung zugeordnet ist. Von einer grundsätzlichen Bindung der Regierung an Parlamentsbeschlüsse kann für den Bereich der Haushaltswirtschaft nicht gesprochen werden. Oben wurde gesagt, daß eine Verpflichtung und Bindung der Regierung an Richtlinien u n d Weisungen des Parlaments für den Vollzug des Haushaltsplanes aufgrund des Haushaltsgesetzes dann verfassungsrechtlich zulässig sein könnte, wenn die Ausgestaltung des Verfassungsgrundsatzes der Gewaltentrennung durch die Gesetze dem nicht widerspräche. Die einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes erlauben dazu noch keine allgemeine Aussage, wenngleich sie wegen der außerordentlichen Vollmachten der Regierung zum selbständigen haushaltswirtschaftlichen Handeln die Vermutung eines eigenen Verantwortungs- und Kompetenzbereichs beim Haushaltsvollzug nahelegen. Konkretere Auskünfte hierzu geben einige Bestimmungen des allgemeinen Haushaltsrechts. Das HGrG und die BHO enthalten zusätzliche Hinweise auf die Rechtsstellung der Regierung gegenüber dem Parlament bei der Vorbereitung und vor allem bei der Durchführung des Haushaltsplanes. Das HGrG erklärt i n § 2 (ebenso § 2 BHO), daß der Haushaltsplan der Feststellung und Deckung des Finanzbedarfs, der zur Erfüllung der Aufgaben des Bundes oder eines Landes voraussichtlich notwendig ist, diene. Der Haushaltsplan sei die Grundlage für die Haushalts- und Wirtschaftsführung. Bei seiner Aufstellung und Ausführung sei den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen. Diese Definition der Zwecke des Haushaltsplanes stellt es auf seine finanzwirtschaftliche Lenkungs- und Ausgleichsfunktion sowie auf seine instrumentale Bedeutung für die Haushalts- und W i r t schaftsführung ab. Eine rechtliche BindungsWirkung gehört danach nicht — jedenfalls nicht i n erster Linie — zum Zweck und Wesen des Haushaltsplanes. I m Unterschied zur Reichshaushaltsordnung von 1922 enthält die Bundeshaushaltsordnung von 1969 eine Aussage über die rechtliche Bedeutung und Wirkung des Haushaltsplanes. Nach § 3 Abs. 1 BHO (ebenso § 3 Abs. 1 HGrG) „ermächtigt der Haushaltsplan die Verwaltung, Ausgaben zu leisten und Verpflichtungen einzugehen". I n den Beratungen des Haushaltsausschusses zu dieser Bestimmung wurde deutlich, daß dieser Aussage über die Rechtsnatur des Haushaltsplanes auch ein negativer Gehalt i n dem Sinne zuzumessen sei, daß nur eine
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Ermächtigung und keine Verpflichtung der Regierung beim Haushaltsvollzug bestehen sollte. Eine solche allgemeine Verpflichtung der Regierung zum vollen Vollzug des Haushaltsplanes, d. h. zur vollen Verausgabung aller Ausgabenansätze wäre offensichtlich auch sinnlos und widerspräche i m übrigen auch dem i n der Haushaltsordnung ausdrücklich festgelegten Grundsatz einer wirtschaftlichen und sparsamen Haushaltsführung. Deutlich w i r d diese gewollte Begrenzung der Rechtswirkung der Ausgabenansätze des Haushaltsplanes auf eine Ermächtigung auch durch § 3 Abs. 2 BHO, wonach durch den Haushaltsplan Ansprüche oder Verbindlichkeiten weder begründet noch aufgehoben werden. D. h. daß eine Verpflichtung zur Leistung einer bestimmten Ausgabe für einen bestimmten Zweck nur durch Rechtsnormen (Gesetze oder Verordnungen aufgrund eines Gesetzes) außerhalb des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplanes begründet werden kann. Nach § 6 HGrG (ebenso § 7 BHO) ist die Regierung verpflichtet, bei der Ausführung des Haushaltsplanes die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten. Diese Verpflichtung begründet einen selbständigen Ermessensspielraum der Regierung bei der Entscheidung darüber, ob und wieweit eine bestimmte Ausgabe m i t dem Grundsatz der wirtschaftlichen und sparsamen Haushaltsführung vereinbar ist. I m Einzelfall festzustellen, welche Ausgabe danach zu leisten oder nicht zu leisten ist, ist ausschließlich Sache der Regierung, die dabei an Entscheidungen der gesetzgebenden Gewalt nur aufgrund von besonderen Gesetzen gebunden ist. Die Richtung dieses Ermessensspielraums der Regierung w i r d noch klarer durch § 19 Abs. 2 HGrG (ebenso § 34 Abs. 2 BHO), wonach Ausgaben nur insoweit und nicht eher geleistet werden dürfen, als sie zur wirtschaftlichen und sparsamen Verwaltung erforderlich sind. Die Ausgabenmittel sind so zu bewirtschaften, daß sie zur Deckung aller Ausgaben ausreichen, die unter die einzelnen Zweckbestimmungen fallen. Auch diese Bestimmung wäre wenig sinnvoll, wenn die Regierung beim Vollzug des Haushaltsplanes grundsätzlich an Weisungen des Parlaments gebunden sein sollte. Eine besondere Bedeutung für unser Problem kommt der M i t w i r kung des Parlaments bei der Aufhebung einer Haushaltssperre gemäß §§ 22 Satz 3 und 36 BHO zu. Das Haushaltsrecht sieht einen (einfachen) Sperrvermerk dann vor, wenn aus besonderen Gründen eine Ausgabe zunächst nicht geleistet werden soll oder eine Verpflichtungsermächtigung noch nicht eingegangen werden soll. Diesen Sperrvermerk kann i n der Regel der zuständige Minister mit vorheriger Zustimmung des Finanzministers aufheben. Ausdrücklich nur für Ausnahmefälle kann durch Sperrvermerk bestimmt werden, daß die Leistung von Ausgaben
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oder die Inanspruchnahme von Verpflichtungsermächtigungen der Einwilligung des Bundestages bedarf (qualifizierter Sperrvermerk nach § 22 Satz 3 BHO). Der schriftliche Bericht des Haushaltsausschusses über das Ergebnis der Beratungen dieser Bestimmung hebt (S. 11) ausdrücklich hervor, daß der qualifizierte Sperrvermerk „keine M i t w i r k u n g des Bundestages am Haushaltsvollzug durch die Exekutive bedeute, weil der Vorbehalt einer parlamentarischen Zustimmung i m Rahmen des Haushaltsgesetzgebungsverfahrens statuiert w i r d " . Tatsächlich und rechtlich stellt ein solcher qualifizierter Sperrvermerk sich als eine nur vorläufige und aufschiebend bedingte Ausgabenbewilligung durch das Parlament dar. Die Einwilligung zur Aufhebung des Sperrvermerks ist ein nachgeholter Teil der Haushaltsbewilligung und somit kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltentrennung beim Haushaltsvollzug. Von diesen beiden Formen eines Sperrvermerks i m Haushaltsplan ist die haushaltswirtschaftliche Sperre durch den Finanzminister zu unterscheiden, wenn die Entwicklung der Einnahmen oder Ausgaben es erfordert (§ 26 HGrG, § 41 BHO). Auch diese außerordentliche Vollmacht des Finanzministers entspricht der selbständigen und uneingeschränkten Verantwortung der Regierung für eine geordnete Haushaltswirtschaft 6 . Auch die Verpflichtungsermächtigungen (§§ 16, 38 BHO; § 22 HGrG) sind rechtsinhaltlich — wie ihr Name schon sagt — reine Ermächtigungen, die sich i n ihrer Rechtsnatur insoweit nicht von den Ausgabeansätzen des Haushaltsplanes unterscheiden. Die Inanspruchnahme von Verpflichtungsermächtigungen ist ein rein interner A k t der vollziehenden Gewalt ohne M i t w i r k u n g des Parlaments. Die Verpflichtungsermächtigung i m Haushaltsplan dürfte auch nicht von einer vorhergehenden Einwilligung des Parlaments oder eines Parlamentsausschusses abhängig gemacht werden, weil dies — abweichend vom qualifizierten Sperrvermerk — i m allgemeinen Haushaltsrecht nicht vorgesehen ist und weil die vielfältigen Einzelerfordernisse des § 38 Abs. 2 BHO ausschließlich die Rechtsstellung des zuständigen Bundesministers und des Bundesfinanzministers berühren. Das Haushaltsrecht kennt keine Verpflichtung zur Inanspruchnahme von Verpflichtungsermächtigungen kraft eines besonderen Haushaltsvermerks oder kraft eines besonderen Parlamentsbeschlusses. Schließlich sind auch die Kreditermächtigungen gemäß A r t i k e l 115 GG und § 18 BHO rechtsinhaltlich reine Ermächtigungen ohne Ver6 R. Hoffmann (S. 52) hält eine solche Vollmacht zur Sicherung des Haushaltsausgleichs schlicht f ü r verfassungswidrig u n d nichtig, w e i l sie auf eine weitgehende Selbstentmannung des Parlaments hinauslaufe.
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pflichtung der Regierung zur Aufnahme der zulässigen Kredite für die vorgesehenen Zwecke. § 21 H G r G macht die Verwendung von Kreditmitteln (für Investitionen) von der vorherigen Zustimmung des Finanzministers abhängig, was keinen Sinn hätte, wenn die Leistung dieser kreditfinanzierten Ausgaben vom Parlament zwingend vorgeschrieben werden könnte. Hoffmann, a.a.O., S. 54 bemerkt hierzu, daß auch Kreditermächtigungen „ n u r i m Sinne einer konstitutiven Ermächtigung m i t kompetenzzuweisendem Charakter" zu verstehen seien. Für die Regierung bestehe eine „begrenzte [?] Vollzugspflicht, sie habe ein Entschließungsermessen über das grundsätzliche [?] Kreditvolumen". Würde die Kreditaufnahme i n erheblichem Umfang hinter der bewilligten Höhe zurückbleiben, so müsse das Parlament dies durch einen Nachtragshaushaltsplan zulassen. Diese Ausführungen verkennen völl i g die besondere Natur der Kreditfinanzierung für bestimmte Investitionen, sie verkennen insbesondere die Pflicht der Regierung zur Nichtausnutzung der Kreditermächtigung, wenn die ursprünglich daraus zu finanzierenden Investitionen i m Laufe des Haushaltsjahres durch größere Überschüsse der laufenden Rechnung, vor allem aus nicht veranschlagten Steuermehreinnahmen, finanziert werden können. Diese kurze Durchsicht der einschlägigen Rechtsinstitute des Haushaltsrechts zeigt, daß aus keiner dieser Bestimmungen eine Rechtspflicht der Regierung zum Vollzug bestimmter Ausgabebewilligungen oder zur Finanzierung bestimmter Investitionen durch Kredite kraft Parlamentsbeschlusses abgeleitet werden kann. Bei der Beratung der einschlägigen Bestimmungen des Entwurfs des Haushaltsgrundsätzegesetzes und der Bundeshaushaltsordnung i m Haushaltsausschuß des Bundestages ist mehrfach die unmittelbare und eigenständige Verantwortung der Regierung für eine ordnungsgemäße Haushaltswirtschaft i n den Grenzen der Ermächtigung des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplanes hervorgehoben worden. Das Parlament selbst hat für sich keine weitergehenden Einwirkungs- oder Mitwirkungsrechte auf den Vollzug des Haushaltsplanes haben wollen. Es ließ sich dabei von der Grundüberzeugung leiten, daß eine rechtliche Bindung der Regierung an allgemeine oder bestimmte Richtlinien oder an Einzelweisungen des Parlaments für die Leistung von Ausgaben oder für das Eingehen von Verpflichtungen ohne ein besonderes Gesetz zu einer Verwischung der Verantwortung für den Haushaltsvollzug und zu einem unerwünschten Abweichen von dem Verfassungsgrundsatz der Gewaltentrennung führen würde 7 . 7 Vgl. hierzu insbesondere den schriftlichen Bericht des Haushaltsausschusses über die Beratung der Haushaltsrechtsreform v o m 17. 6.1969 (Bericht des Abg. Dr. Althammer), zu Drucksache V/4378 und V/4379 unter I. 6. a):
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Diese Überlegungen zur Rechtsnatur des Haushaltsplanes wären unvollständig, wenn nicht noch auf das besondere Verhältnis von Politik und Recht bei der Feststellung und Durchführung des Haushaltsplanes eingegangen würde. Der Verfassungsgrundsatz der Gewaltentrennung weist sowohl dem Parlament wie der Regierung einen eigenständigen Verantwortungsbereich zu. Beide Staatsorgane üben sich gegenseitig bedingende und ergänzende Kompetenzen aus. Beide zusammen erfüllen eine besondere Finanzfunktion, die sich i n der Aufstellung des Haushaltsplanentwurfs, i n der Feststellung des Haushaltsplanes, i n der ständigen Haushaltskontrolle des Parlaments gegenüber der Regierung, aber auch der Regierung gegenüber dem Parlament, ζ. B. i m Rahmen des A r t i k e l 113 GG, sowie i n der Rechnungslegung, der Rechnungsprüfung und der Entlastung äußert. Das Ziel dieser gemeinsam wahrgenommenen F i nanzfunktion ist i n erster Linie ein politisches, i m besonderen ein finanzpolitisches zur Sicherung einer geordneten Haushaltswirtschaft ohne Unordnung und Fehlbeträge, eingefügt auch i n die gesamtwirtschaftlichen Zielsetzungen des A r t i k e l 109 Abs. 2 GG und des Stabilitätsgesetzes ( „ . . . den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen"). Die normative Bedeutung der einzelnen haushaltsrechtlichen Instrumente dieser Finanzfunktion ist i m Vergleich zu ihrer politischen relativ gering. Die haushaltsrechtlichen Bindungen sind kein Selbstzweck, sondern immer instrumental den finanzpolitischen Zwecken des Haushaltsplanes zugeordnet. Der Haushaltsplan ist ein politischer Gesamtauftrag des Parlaments an die Regierung. I n diesem Sinne entfaltet er als politische Richtlinie „Das Verhältnis zwischen Legislative u n d Exekutive hat der Ausschuß besonders intensiv behandelt. Das seit Jahren erörterte Problem einer M i t w i r k u n g parlamentarischer Ausschüsse a m Haushaltsvollzug stand i m M i t t e l p u n k t der Erörterungen über den Abschnitt „Ausführung des Haushaltsplanes". Der Haushaltsausschuß ist der Auffassung, daß m i t Rücksicht auf die k ü n f t i g mögliche Beschleunigung des Nachtragsgesetzgebungsverfahrens einerseits u n d i n Anbetracht der durch die Reformgesetze statuierten zeitnahen Prüfung u n d Berichterstattung des Rechnungshofes sowie einer auch sonst verbesserten Unterrichtung des Parlaments andererseits neue Verhältnisse geschaffen worden sind, die es nunmehr gestatten, auf bisherige p a r lamentarische Mitwirkungsrechte beim Haushaltsvollzug der Exekutive zu verzichten. Umgekehrt hielt es der Haushaltsausschuß für geboten, bisher weitergehende Befugnisse der Exekutive bei der Ausführung des Haushaltsplanes einzuschränken. So wurde aufgrund der verfassungsgesetzlichen E r mächtigung des Artikels 112 Satz 3 GG die Genehmigung über- u n d außerplanmäßiger Ausgaben durch den Bundesfinanzminister an einengende gesetzliche Voraussetzungen gebunden. Ferner w u r d e n bisher zugelassene Umschichtungen innerhalb des Haushaltsplanes, die sich außerhalb von Deckungsvermerken vollziehen, nicht mehr vorgesehen." 26 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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auch gewisse politische Bindungen, denen die Regierung sich trotz ihres rechtlichen Ungebundenseins nicht entziehen kann. Dabei gibt es graduelle Unterschiede bis zu einer unausweichlichen politischen Bindung, die einer rechtlichen Bindung praktisch gleichkommt. Das Ganze ist ein recht elastisches System gegenseitiger gleichgerichteter oder gegenläufiger Interessen, das sich dem Schwarz-Weiß einer rechtlichen Normierung von der Sache her weitgehend entzieht. Anpassungsfähigkeit an den Wandel der politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Bedürfnisse und Beweglichkeit i n dem vielseitigen haushaltsrechtlichen Instrumentarium sind die Voraussetzungen für eine sinnvolle und wirtschaftliche Erfüllung öffentlicher Aufgaben auf der Grundlage des Haushaltsplanes. Gerade die Erfordernisse der beweglichen Konjunkturpolitik erfordern ein selbständiges und schnelles Handeln der Regierung i n den Grenzen des Stabilitätsgesetzes 8 . I n diesem politischen Spannungsfeld der Haushaltswirtschaft gibt es verschiedene politische Instrumente ohne Rechtswirkung, die eine gewisse Sachbindung der Regierung beim Vollzug der Ausgabeermächtigung des Haushaltsplanes herbeiführen können. Schon die laufende Kontrolle des Parlaments über die Erfüllung der politischen Ziele bei der Bewirtschaftung der Ausgabeansätze des Haushaltsplanes verhindert eine willkürliche Ausgabengebarung mit unbegrenztem Ermessensspielraum für das Ob und Wie einer vorgesehenen Leistung. Parlamentarische Anfragen an die Regierung, öffentliche Diskussionen innerhalb und außerhalb des Parlaments, bohrende Diskussionen i n den Fachausschüssen und i m Haushaltsausschuß, förmliche Entschließungen des Parlaments zum Haushaltsvollzug gemäß der Geschäftsordnung des Bundestages, mehrjährige Rahmenplanung für die Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben — alles dies entfaltet beträchtliche Wirkungen auf die Entscheidungen der Regierung über den Vollzug des Haushaltsplanes, so daß es einer förmlichen Rechtsbindung der Regierung vielfach gar nicht bedürfte. Wie könnte überhaupt eine nach Wirkungsgraden abgestufte Rechtsbindung der Regierung bei der Bewirtschaftung der nicht auf Sondergesetzen (Leistungsgesetzen) beruhenden Ausgabebewilligungen aussehen und praktisch gehandhabt werden? Hoff mann (S. 49) w i l l drei 8 Hoff mann, S. 43, meint, daß Wirtschafts- u n d K o n j u n k t u r p o l i t i k „unter die politische Prärogative des Parlaments fallen". Deshalb müsse das V e r fahren f ü r ständige u n d schnelle Entscheidungen des Parlaments verbessert werden. Deshalb bedürfe die staatliche Wirtschafts- u n d K o n j u n k t u r p o l i t i k „nicht p r i m ä r einer wie auch i m m e r definierten Sachvernunft, sondern vor allem der politischen Entscheidung über konkrete Interessen."
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verschiedene Grade von Rechtswirkungen der Ausgabebewilligungen des Haushaltsplanes unterscheiden: die bloße ErmächtigungsWirkung m i t voller Entscheidungsfreiheit der Regierung, eine Rechtspflicht zu einer „nur prinzipiellen Durchführung einer bestimmten Aufgabe" und schließlich „eine strikte Verpflichtung der Regierung zum Vollzug einer Maßnahme unter voller Verausgabung des veranschlagten Betrages". Danach müßten alle Ausgabenansätze des Haushaltsplanes einer Kategorie dieser dreigestuften Rechtsbindung zugewiesen werden, wobei natürlich die auf besonderen Gesetzen oder auf Verträgen beruhenden Leistungsverpflichtungen der dritten Gruppe zugewiesen werden müßten. Bei den übrigen Ausgabeansätzen müßten diejenigen besonders gekennzeichnet werden, bei deren Leistung die Regierung keinen Ermessensspielraum für Zweck und Höhe erhalten soll. Diese Entscheidung über eine Einstufung der Ausgabeansätze nach unterschiedlichem Ermessensspielraum für die Regierung könnte nur das Parlament selbst bei der Haushaltsplanfeststellung treffen. Diese dreigestufte Rechtsbindung wäre äußerst unpraktikabel und kaum vollziehbar. Ein allgemeines politisches Raufen um einen höheren Bindungsgrad wäre zu erwarten. Die Haushaltsberatungen würden noch länger als heute dauern. Der Haushaltsrechtsgrundsatz vom Vorrang der Grundsätze von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit bei Aufstellung und Vollzug des Haushaltsplanes würde i n seiner Geltungskraft beeinträchtigt. Sollte möglicherweise das Bundesverfassungsgericht i n einem Organstreit zwischen Parlament und Regierung gemäß A r t i k e l 93 Abs. 1 Ziffer 1 GG entscheiden, ob und bis zu welcher Höhe eine bestimmte Ausgabebewilligung des Haushaltsplanes vollzogen werden muß? Alle derartigen Überlegungen laufen auf einen unglaublichen Rechtsformalismus und Rechtsperfektionismus hinaus, der jeder politischen Lebenserfahrung widerspricht und der den Haushaltsvollzug m i t der angeblichen Verfassungsdoktrin vom Vorrang des Parlaments i n der Haushaltswirtschaft unter völliger Verkennung von Sinn und Bedeutung der grundsätzlichen Gewaltentrennung i n ein enges Rechtskorsett einschnüren möchte. Solche Eiferer einer stärkeren rechtsformalen „Demokratisierung" i m Haushaltswesen würden dazu beitragen, das gute Funktionieren der Demokratie i n ihren politischen Spielregeln zu zerstören. Ein Parlamentsabsolutismus i n der Haushaltswirtschaft ohne eine eigenständige und eigenverantwortliche Gegenspieleraufgabe der Regierung würde i m Wettlauf der Parteien u m die Gunst der Wähler gewiß nicht zu finanzieller Ordnung und wirtschaftlicher Stabilität beitragen. Die Frage nach der Rechtsnatur des Haushaltsplanes w i r d i n ihrer politischen und rechtlichen Bedeutung erheblich überschätzt. Die Ausgaben des öffentlichen Gesamthaushalts oder auch nur des Bundeshaus26*
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halts beruhen zu über 90 v. H. auf rechtlichen Verpflichtungen aufgrund eines besonderen Gesetzes oder eines Vertrages, also auf einer Leistungsverpflichtung außerhalb des Haushaltsgesetzes. Für höchstens 10 v. H. der Ausgaben ist die Regierung rechtlich nicht zur (vollen) Verausgabung verpflichtet. Das gilt vor allem für den Bereich der gesetzlich oder vertraglich nicht geregelten Investitionen und Subventionen. Gerade dieser Bereich ist für eine anpassungsfähige Fiskalpolitik i m Rahmen der Konjunkturpolitik von entscheidender Bedeutung. Er verträgt am wenigsten eine Rechtsbindung zur vollen Verausgabung der bewilligten Beträge 9 . Die Frage nach der Rechtsnatur des Haushaltsplanes ist gewiß von grundsätzlicher Bedeutung, sie ist kein Scheinproblem. Es handelt sich hier aber u m ein Problem des Zusammenwirkens von Parlament und Regierung, das die politische Praxis relativ vernünftig und täglich neu löst. Es lohnt sich eigentlich nicht, diesem Problem auf staatsrechtlichen Stelzen nachzulaufen.
9 Über das Ausmaß u n d die Zusammensetzung der Ausgaben f ü r Investitionen u n d Subventionen vgl. den Finanzbericht 1973, S. 37, 40 sowie den 4. Subventionsbericht 1973.
Die Rechnungsprüfung der sogenannten Geheimfonds Von Hans Schäfer I. Einleitung I m Jahre 1954 erschien eine i m Fachschrifttum bis heute immer wieder als grundlegend erwähnte Arbeit Werner Webers „ Z u r Frage der Rechnungsprüfung der juristischen Personen des öffentlichen Rechts" 1 . Der Autor befaßte sich darin u. a. mit dem Begriff der „prüfungsfreien Räume" 2 . Der Aufsatz wäre auch i m Zusammenhang mit jenem andauernden Meinungsstreit zu würdigen, ob A r t . 114 GG (in seiner damaligen Fassung) sowie die Reichshaushaltsordnung (RHO) und das Bundesrechnungshofgesetz i n der Fassung vom 2. November 1950 (BRHG) davon ausgingen, daß die Zuständigkeit des Bundesrechnungshofes (BRH) für die Rechnungsprüfung lückenlos sei oder ob nach der Verfassung, nach dem Haushaltsrecht oder auf Grund Herkommens und Sachzwangs auch Prüfungen durch andere Stellen als durch den B R H oder gar prüfungsfreie Räume noch zulässig waren 3 . Sicher bot das Gebiet der juristischen Personen des öffentlichen Rechts, das schwierig zu übersehen und auch m i t Hilfe systematisierender Gliederungen sowie idealtypischer Modelle kaum voll erfaßbar ist, nur begrenzte Ansatzmöglichkeiten für das Erörtern solcher grundsätzlicher und zentraler Fragen der Finanzkontrolle. Hierzu bedurfte es zunächst der Abklärung innerhalb des Bereichs des Staatshaushalts selbst, bevor man mit einiger Aussicht auf abschließende Ergebnisse allgemein die noch schwierigeren Sonderfragen des intermediären F i nanzbereichs, also die der sog. mittelbaren Staatsverwaltung, sowie der dort anzutreffenden, weitgehend autonomen Gebilde breit diskutieren konnte. Deshalb verlagerte sich der Schwerpunkt der Erörterungen auf Fragen, die m i t der Prüfung von Sonderposten des Staatshaushalts 1
D Ö H 1, 27 ff. Werner Weber, S. 37. 3 s. hierzu ergänzend statt aller: Huber, „Die institutionelle Verfassungsgarantie der Rechnungsprüfung", i n : Festschrift für Nikisch, 1958, S. 331 ff., sowie Friedrich Klein, „Die institutionelle Garantie der Rechnungsprüfung", i n : „250 Jahre Rechnungsprüfung", 1964, S. 133 ff., jeweils m i t weiteren Nachweisen. 2
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selbst zusammenhingen. Hier waren es vor allem die sog. Geheimfonds; sie hatten schon i n früherer Zeit Anlaß zu Auseinandersetzungen über Zulässigkeit und Möglichkeiten der Prüfung, der erleichterten Prüfung oder von Prüfungsausnahmen gegeben. I n der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ging es vor allem u m die Frage der Weitergeltung des § 894. War § 89 RHO mit A r t . 114 GG (a. F.) vereinbar? Wiederum war es vor allem Werner Weber, der 1966 i n einem — für das Auswärtige A m t erstatteten — Gutachten über „Die Rechnungsprüfung und die Geheimfonds" auf die vielfältige Problematik des Spannungsverhältnisses zwischen Regierungstätigkeit und parlamentarischer Kontrolle einging; er veröffentlichte dieses Gutachten in der Gedächtnisschrift für Hans Peters 5. I m wesentlichen standen sich damals zwei Meinungen gegenüber: Nach der w o h l herrschenden Ansicht war es — m i t Abweichungen, auch i n den Begründungen i m einzelnen 6 — zulässig, Ausnahmen für die Prüfungszuständigkeit des Rechnungshofs (RH) vorzusehen, und zwar vor allem dort, wo Sachverhalte wegen ihres vertraulichen I n halts für eine unbeschränkte Rechnungsprüfung offensichtlich nicht geeignet erscheinen 7 . Dem Kern nach handelte es sich u m Überlegungen der Staatsräson, z. T. verbunden m i t Hinweisen darauf, daß schon i m mer so verfahren worden sei, also unter Bezugnahme auf Gewohnheitsrecht oder Übung sowie auf Gedanken der Güterabwägung. Die Gegenmeinung ging davon aus, daß der B R H für die gesamte Rechnungsprüfung zuständig sei 8 , wobei für Sonderfälle bisweilen vereinfachte Prüfungsregelungen für zulässig erachtet wurden. 4
§ 89 RHO lautete: „Soweit Haushaltsmittel m i t Rücksicht auf ihren Verwendungszweck der Prüfung durch den R H nicht unterliegen sollen, muß dies i m Haushaltsplan besonders angeordnet werden. Die Prüfung k a n n durch den Haushaltsplan auch einer anderen Stelle übertragen werden." 5 Conrad/Jahrreiß u . a . (Hrsg.), Gedächtnisschrift Hans Peters, 1967, S. 599 ff. β A u f die Einzelheiten soll hier wegen der Änderung des A r t . 114 GG und wegen der Haushaltsrechtsreform nicht mehr eingegangen werden. 7 So vor allem Werner Weber, insbesondere S. 602 ff., Bank, „Uber U m fang u n d Grenzen der Finanzkontrolle der Rechnungshöfe", AöR 80, 261 ff., ders., „Die Ausschließung der Finanzkontrolle des R H nach GG u n d R H O " , D Ö H 7, 199 ff., Dreßler, „Stellung u n d Aufgabe des Bundesrechnungshofes, i n : 250 Jahre Rechnungsprüfung", S. 157 ff., Piduch, „Verfassungsgarantie lückenloser Rechnungsprüfung — eine überprüfungsbedürftige These", DÖV 1965, 334 ff., u n d Viaion, Haushaltsrecht, 1959, Anm. 1 ff. zu § 89 RHO sowie ders., „Streitfragen der öffentlichen Finanzkontrolle", Fin. Arch. 22, 1 ff., j e weils m i t weiteren Nachweisen. 8 So u. a. Fuchs, „Wesen u n d W i r k e n der Kontrolle", 1966, S. 57 ff., u n d Hub er.
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I I . Neue Rechtsgrundlagen durch die Haushaltsreform Durch die Änderung des A r t . 114 GG und durch die Haushaltsrechtsreform, die am 1. Januar 1970 i n K r a f t getreten sind, ist eine neue Ausgangsgrundlage entstanden. Doch kann der Inhalt der damaligen Erörterungen grundsätzlich auch heute noch dem besseren Verständnis der Fragen dienen, die sich aus der jetzigen Rechtslage ergeben: 1. Art. 114 Abs. 2 GG a. F. lautete: „Die Rechnung w i r d durch einen Rechnungshof, dessen Mitglieder richterliche Unabhängigkeit besitzen, geprüft. Die allgemeine Rechnung u n d eine Ubersicht über das Vermögen u n d die Schulden sind dem Bundestage u n d dem Bundesrate i m Laufe des nächsten Rechnungsjahres m i t den Bemerkungen des Rechnungshofes zur Entlastung der Bundesregierung vorzulegen. Die Rechnungsprüfung w i r d durch Bundesgesetz geregelt."
Nach h. M. war dieser Fassung eine institutionelle Garantie für die Zuständigkeit des B R H zur Prüfung der „Rechnung" zu entnehmen, und zwar ohne Aussage darüber, ob es sich um eine uneinschränkbare Zuständigkeit handeln sollte, weil nach A r t . 114 Abs. 2 Satz 3 GG a. F. die Rechnungsprüfung außerdem noch durch Bundesgesetz zu regeln war 9 . A r t . 114 Abs. 2 GG n. F. lautet nunmehr: „Der Bundesrechnungshof, dessen Mitglieder richterliche Unabhängigkeit besitzen, p r ü f t die Rechnung sowie die Wirtschaftlichkeit u n d Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- u n d Wirtschaftsführung. E r hat außer der B u n desregierung unmittelbar dem Bundestage u n d dem Bundesrate jährlich zu berichten. I m übrigen werden die Befugnisse des Bundesrechnungshofes durch Bundesgesetz geregelt" 1 0 .
Es werden also jetzt die Befugnisse des B R H nur noch „ i m übrigen" durch Bundesgesetz geregelt. Aus diesem Wortlaut ist i n Verbindung mit A r t . 114 Abs. 2 Satz 1 GG zu schließen, daß der B R H von dem I n krafttreten der Haushaltsreform ab, d. h. seit dem 1. Januar 1970, für die Prüfung der gesamten Rechnung ohne jede Ausnahme zuständig sein soll. Es seien als weitere, institutionell garantierte Elemente der Rechnungsprüfung hier erwähnt: Das Bestehen des Rechnungshofes überhaupt und die richterliche Unabhängigkeit seiner Mitglieder 1 1 .
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Z u m Grundsatz der „Lückenlosigkeit der Rechnungsprüfung" vgl. Huber, S. 331 ff., Friedrich Klein, S. 146 ff. 10 Wegen der institutionellen Garantien des A r t . 114 GG i m einzelnen s. Karehnke, „ Z u r Neufassung des A r t . 114 des Grundgesetzes", D Ö V 1972, 145 ff. (147 f.) sowie Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, 1971, A r t . 114 G G R N 2, 9 u n d 11. 11 Vgl. dazu vor allem Friedrich Klein, S. 135 ff., u n d i h m darin folgend Werner Weber (Fußn. 5), S. 607.
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2. Bei der Haushaltsrechtsreform von 1969, mit der der größte Teil der RHO (einschließlich des § 89 RHO) und fünf von den vierzehn Paragraphen des BRHG gem. § 119 Abs. 2 Nr. 1 und 4 der Bundeshaushaltsordnung (BHO) außer K r a f t getreten sind, ist das BRHG durch folgenden § 3 a ergänzt worden: „ B e i bestimmten Ausgaben, deren Verwendung geheimzuhalten ist, k a n n der Haushaltsplan festlegen, daß die Prüfung 1. durch das zuständige K o l l e g i u m (§ 126 a Abs. 1 RHO) unter M i t w i r k u n g des Präsidenten oder des gemäß § 124 Abs. 2 RHO zuständigen Vizepräsidenten oder 2. allein durch den Präsidenten oder, wenn dessen Stelle nicht besetzt ist, durch den Vizepräsidenten vorgenommen w i r d . Weitere Beamte können bei dem Verfahren nach Nr. 1 zur Hilfeleistung herangezogen werden. Die §§ 126 b und 126 c RHO sind nicht anzuwenden" 1 2 .
Zweck dieser Bestimmung ist, wie aus § 3 a Satz 3 BRHG folgt, der die z. Z. noch i n K r a f t befindlichen Vorschriften der §§ 126 b und 126 c RHO über die Senatsverfassung des B R H bei der Prüfung von Geheimtiteln für nicht anwendbar erklärt, der Geheimschutz: Möglichst wenig Personen sollen (hier anläßlich des Prüfungsverfahrens) von den Einzelheiten der Sachverhalte Kenntnis erhalten 1 3 . Aus ähnlichen Überlegungen zieht auch § 97 Abs. 4 BHO den Kreis der Empfänger der Bemerkungen zu geheimzuhaltenden Angelegenheiten sehr eng: Nur die Präsidenten des Bundestages und des Bundesrates sowie der Bundeskanzler und der Bundesminister der Finanzen erhalten diese Bemerkungen. Die neue Regelung i n § 3 a BRHG sieht somit zwei Arten von Prüfungsverfahren vor: a) Das Dreierkollegium des § 126 a Abs. 1 RHO (einschließlich der M i t w i r k u n g des Präsidenten oder des gemäß § 124 Abs. 2 RHO zuständigen Vizepräsidenten). Nach § 124 Abs. 2 RHO vertritt der Vizepräsident den Präsidenten, soweit dieser durch Abwesenheit, 12 Vgl. § 118 BHO. Der Grundsatz dazu findet sich für B u n d u n d Länder i n § 42 Abs. 4 des Haushaltsgrundsätzegesetzes (HGrG), wonach die Durchführung der Prüfung von geheimzuhaltenden Angelegenheiten gesetzlich besonders geregelt werden kann. Der Haushaltsrechtsgesetzgeber ist davon ausgegangen, daß § 3 a B R H G (§ 118 BHO) eine Durchführungsregelung darstellt. 13 Vgl. allgemein zu § 3 a B R H G Karehnke, „Einzelfragen zur A n w e n d u n g des neuen Haushaltsrechts ( I I I ) : Anwendung der haushaltsrechtlichen V o r schriften auf Ausgaben, deren Verwendung geheimzuhalten ist", D Ö H 12, 108 ff. (110 f.).
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Krankheit oder durch sonstige Umstände an der Wahrnehmung seiner Amtsgeschäfte gehindert ist. I m übrigen übt der Vizepräsident die Befugnisse des Präsidenten auch neben diesem insoweit aus, als der Präsident i h m seine Vertretung übertragen hat. Es können weitere Beamte bei diesem Verfahren zur Hilfeleistung herangezogen werden (§ 3 a Satz 2 BRHG). b) Die Prüfung allein durch den Präsidenten oder, wenn dessen Stelle nicht besetzt ist, durch den Vizepräsidenten. I m Gegensatz zu der Regelung oben unter a) kann also der Vizepräsident nicht eintreten, wenn der Präsident durch Abwesenheit, Krankheit oder andere Umstände verhindert ist. I n diesem Verfahren dürfen auch keine weiteren Beamten zur Hilfeleistung herangezogen werden. Die erste Verfahrensart (a) hält sich dadurch, daß sie ein besonderes Beschlußkollegium vorsieht, innerhalb des i m B R H üblichen Verfahrens der gemeinsamen Entschließung durch mehrere Mitglieder (Kollegialverfassung). Der zweite Verfahr ens weg (b) sieht die Prüfung allein durch den Präsidenten des B R H vor. Handelt es sich hierbei um eine Durchführungsregelung für das Prüfungsverfahren, wenn ein RHMitglied (hier der Präsident des BRH) allein zu prüfen hat? Der U m stand, daß der Präsident des B R H zugleich auch allein über das Ergebnis der Prüfung (an Stelle des Kollegiums etwa i. S. des § 126 a Abs. 1 RHO) zu entscheiden hat, zeigt an, daß hier eine Ausnahme vom Kollegialprinzip vorliegt: Es handelt sich also u m die Beauftragung eines Mitgliedes des B R H sowohl m i t der Prüfung als auch m i t der Beschlußfassung über deren Ergebnis. I n diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß die bisherige Regelung i n § 90 Abs. 1 Satz 3 RHO (nach der der Präsident des R H die Prüfung u. a. an Stelle des R H einem der gem. § 121 Abs. 1 RHO unabhängigen Beamten übertragen konnte) nicht i n das neue Haushaltsrecht übernommen worden ist. Die Frage, ob die Konzentration der Rechnungsprüfung auf eine Person zulässig ist, bietet Anlaß, einen kurzen Blick auf die gesamte heutige Regelung für die Kontrolle der Regierung durch das Parlament und die Aufgaben des B R H i n diesem Kontrollsystem zu werfen. 3. Die Versuche, den B R H einer der drei Staatsgewalten i. S. des A r t . 20 Abs. 2 GG ausschließlich zuzuordnen, haben nicht zu wirklich überzeugenden Ergebnissen führen können 1 4 . Aufgaben, Struktur und Ver14 Vgl. hierzu zuletzt die Übersichten bei Grupp, „Die Stellung der Rechnungshöfe i n der B R D " , 1972, passim, Karehnke, Zur Neufassung . . . , S. 148 f., Hans Schäfer, „Der Bundesrechnungshof i m Verfassungsgefüge der
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fahren des B R H weisen Merkmale auf, die — zum Teil — auf die Zugehörigkeit zu jeder der drei Staatsgewalten hindeuten. Der B R H ist nach § 1 Abs. 2 BRHG eine Oberste Bundesbehörde und damit insoweit Teil der Exekutive (Verwaltung). Seine Mitglieder besitzen aber nach A r t . 114 Abs. 2 Satz 1 GG richterliche Unabhängigkeit. Der durch die Mitglieder gebildete B R H ist damit selbst ebenfalls unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Gemäß § 1 Abs. 2 BRHG ist der B R H eine der Bundesregierung gegenüber selbständige, nur dem Gesetz unterworfene Oberste Bundesbehörde. Er steht wegen dieser seiner Unabhängigkeit nicht i m System der politischen Verantwortung, wie es der parlamentarischen Demokratie für das Verhältnis Regierung-Parlament wesenseigen ist. Die Prüfungstätigkeit des B R H dient beiden politischen Gewalten, der vollziehenden und der gesetzgebenden. Dies gilt i n gleicher Weise für die Regelung des § 88 Abs. 2 Satz 1 BHO, wonach der B R H auf Grund von Prüfungserfahrungen die gesetzgebenden Körperschaften, die Bundesregierung und einzelne Bundesminister beraten kann. Der B R H ist damit eine Hilfseinrichtung für diese beiden Gewalten, aber nicht ein Hilfsorgan beider oder einer von ihnen, sondern unabhängig von beiden. Seine Struktur und das von i h m anzuwendende Entscheidungsverfahren weisen, ebenso wie der Status seiner Mitglieder, gerichtsähnliche Merkmale auf, wobei der Gegenstand seiner Entscheidungen sich dem Schwerpunkt nach oft i m Ermessensbereich bewegt, abgesehen von haushaltsrechtlichen Fragen und Feststellungen i m Rahmen von Ordnungsmäßigkeitsprüfungen. Form, Aufbau und Verfahren werden hier maßgebend durch die Aufgaben geprägt. Das Wesen des B R H läßt sich umfassend nur aus dieser funktionalen Sicht befriedigend erklären: Er ist die unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene und außerhalb des politischen Bereichs eingesetzte oberste Prüfungs- und Beratungsinstitution des Bundes zur Unterstützung der vollziehenden und der gesetzgebenden Gewalt, soweit es sich u m Fragen staatlicher Betätigung i. S. der Haushalts- und Wirtschaftsführung handelt. Zur Unterstützung der vollziehenden Gewalt ist der B R H tätig, weil er zusätzlich zu der von dieser Gewalt selbst ausgeübten internen Dienstaufsicht und zusätzlich zu der verwaltungseigenen Vorprüfung 1 5 als „externe" Einrichtung Prüfungs- und Beratungsaufgaben Bundesrepublik", D Ö V 1971, 542 ff., Tiemann, „ Z u r staatsrechtlichen Stell u n g u n d F u n k t i o n des Bundesrechnungshofes nach der Haushaltsreform", DVB1. 1970, 954 ff. u n d Vogel, „Verfassungsrechtliche Grenzen der öffentlichen Finanzkontrolle", DVB1. 1970, 193 ff. 15 Gemäß § 100 Abs. 1 u n d 3 B H O w i r d die Vorprüfung von den V e r w a l tungsbehörden wahrgenommen. Die Vorprüfungsstellen sind Teile der Behörde, bei denen sie eingerichtet sind, unterliegen aber nach § 100 Abs. 4 B R H G bei ihrer Prüfungstätigkeit n u r den Weisungen des Bundesrechnungshofes.
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zugunsten der Verbesserung der Verwaltungstätigkeit wahrnimmt. Dam i t übt er Dienstleistungsaufgaben zur Verbesserung der Wirksamkeit der Regierungstätigkeit aus. Zur Unterstützung der gesetzgebenden Gewalt w i r k t der BRH, weil er ihr vor allem durch seine Prüfungstätigkeit bei der Verwaltung das Sachmaterial vorlegt, das für das politische Entlastungsverfahren nötig ist 1 6 . Ist es eine Aufgabe des Parlaments, die Tätigkeit der Regierung (und der von i h r geleiteten Verwaltung) i n politischer Beziehung zu kontrollieren, so ist es insoweit Aufgabe des BRH, die bei der Prüfung festgestellten Sachverhalte, die für die politische Kontrolle möglicherweise bedeutsam sind, den gesetzgebenden Körperschaften zu berichten. So bestimmt § 97 Abs. 1 BHO: „Der B R H faßt das Ergebnis seiner Prüfung, soweit es für die Entlastung der Bundesregierung wegen der Haushaltsrechnung u n d der Vermögensrechnung von Bedeutung sein kann, jährlich für den Bundestag u n d den Bundesrat i n Bemerkungen zusammen . . . "
Bei Sachverhalten m i t sowohl fachlichen als auch politischen Bezügen ist es einerseits Aufgabe des BRH, die Gegebenheiten zu ermitteln und i n fachlicher Beziehung auszuwerten. Die politische Beurteilung ist andererseits ausschließlich Aufgabe der Empfänger der Prüfungsmitteilungen, also der (politisch verantwortlichen) Exekutive oder — bei den eben erwähnten jährlichen Bemerkungen und sonstigen Berichten — der beiden politischen Gewalten gemeinsam. Hierbei handelt es sich u m die herkömmliche Unterscheidung zwischen Verfassungs- und Verwaltungskontrolle, letztere i. S. fachlicher Prüfungstätigkeit und fachlicher Beurteilung, erstere i. S. politischer Bewertung unter Verwendung der Fachprüfungsergebnisse 17 . I I I . Die Prüfung der Geheimfonds im besonderen 1. Bei Ausgaben, deren Verwendung geheimzuhalten ist, überwiegen die politischen Bezüge. Unterscheidet man für die Fachprüfung durch den B R H herkömmlich nach den zwei großen Bereichen der Ordnungsmäßigkeit (einschl. der Recht- u n d Gesetzmäßigkeit) u n d der Wirtschaftlichkeit (einschl. der Sparsamkeit u n d Wirksamkeit) 1 8 , 16 Z u der Berichtspflicht vgl. A r t . 114 Abs. 2 Satz 2 GG sowie die §§ 97, 99 BHO, ferner ergänzend Karehnke, „ Z u r Berichterstattung des Rechnungshofes an die gesetzgebende Gewalt nach neuem Haushaltsrecht", DÖV 1971, 441 ff. 17 s. hierzu ergänzend nach bisherigem Haushaltsrecht Dreßler, S. 164. 18 s. ergänzend zu den Prüfungsmaßstäben Karehnke, Z u r Neufassung . . . , S. 150 ff.
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so sind alle diese Gesichtspunkte auch bei der Prüfung von Geheimtiteln zu beachten. Sie treten aber gegenüber Fragen politischer Zweckmäßigkeit und politischen Ermessens an Bedeutung zurück. Die Frage der Wirtschaftlichkeit einschließlich der Wirksamkeit von Maßnahmen dieser A r t ist, wenn auch weitgehend politische Zielvorstellungen bestimmend sind, doch auch einer Rechnungsprüfung zugänglich. 2. Denkbar wäre es, daß der Verfassungsgesetzgeber wegen der Grundsatzregelung des A r t . 114 GG die fachliche Prüfung i m Bereich der sog. Geheimfonds der gesetzgebenden Gewalt selbst vorbehalten hätte, deren Aufgabe ja ohnehin bereits die erwähnte politische Kontrolle der Exekutive ist. Eine etwa vergleichbare Regelung ist — allerdings aus anderen Erwägungen — für die Prüfung der Rechnung des B R H i n § 101 BHO vorgesehen, wonach die Rechnung des B R H von Bundestag und Bundesrat selbst geprüft werden, die auch die Entlastung erteilen; dies ist geschehen, weil niemand sich selbst prüfen kann, auch nicht der BRH. Ist diese Sonderregelung für die Prüfung der Rechnung des BRH als eine zulässige, ja notwendige Ausnahme von dem Prüfungs-„monopol" des A r t . 114 Abs. 2 GG anzusehen, so verhält es sich bei den sog. Geheimfonds anders. Die jetzige Fassung des A r t . 114 Abs. 2 GG hat etwaige Zweifel an der früher als möglich angesehenen Schaffung prüfungsfreier Räume beseitigt, wie oben unter I I 1 schon gesagt. Demgemäß unterliegen seit dem 1. Januar 1970 alle Geheimfonds der Prüfung durch den BRH. 3. Betrachtet man, wie der Bundesgesetzgeber von der Möglichkeit des § 3 a BRHG Gebrauch gemacht hat, so ergibt sich für das Haushaltsjahr 1973 folgendes Bild: a) Die kollegiale Prüfung unter M i t w i r k u n g des Präsidenten bzw. Vizepräsidenten des B R H nach § 3 a Satz 1 Nr. 1 ist bei folgenden Kapiteln und Titeln angeordnet worden: Kap. 04 03 Tit. 531 01 — Z u r Verfügung des Bundeskanzlers für Förder u n g des Informationswesens Kap. 04 04 Tit. 541 01 — Zuschuß an den Bundesnachrichtendienst (BND) Kap. 06 09 Tit. 541 01 — Zuschuß an das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) Kap. 14 01 Tit. 535 05 — Z u r Verfügung des Bundesministers der V e r teidigung f ü r Zwecke des militärischen A b schirmdienstes (MAD)
Bei diesen vier Ausgabenposten findet sich der wörtlich übereinstimmende Haushaltsvermerk: „Der B R H p r ü f t die Jahresrechnung nach § 3 a Satz 1 Nr. 1 des BRHGes u n d unterrichtet einen Unterausschuß des Haushaltsausschusses v o m Ergebnis der Prüfung. § 97 Abs. 4 B H O bleibt unberührt."
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Der letzte Satz dieses Haushaltsvermerks bedeutet, daß der B R H das Ergebnis seiner Prüfung, soweit es für die Entlastung der Bundesregierung von Bedeutung sein kann (§ 97 Abs. 1 BHO), nach dessen Abs. 4 als Bemerkung an die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat, an den Bundeskanzler und den Bundesminister der Finanzen leiten kann. b) Die Prüfung durch den Präsidenten des B R H allein nach § 3 a Satz 1 Nr. 2 BRHG erfolgt bei folgenden Kapiteln und Titeln: Kap. 02 01 Tit. 526 05 — Aufwandsentschädigungen für die Mitglieder u n d sonstige Kosten der Kommission nach A r t . 10 GG Kap. 04 01 Tit. 529 04 — Z u r Verfügung des Bundeskanzlers zu allgemeinen Zwecken Kap. 05 02 Tit. 529 02 — Geheime Ausgaben des Auswärtigen Amts.
Während bei den beiden letztgenannten Titeln des Bundeskanzlers bzw. des Auswärtigen Amtes der Haushaltsvermerk wörtlich übereinstimmend lautet: „Der B R H p r ü f t die Jahresrechnung nach § 3 Satz 2 Nr. 2 des BRHGes." f i n d e t sich b e i m e r s t g e n a n n t e n T i t e l des Bundestages d e r V e r m e r k : „Die Jahresrechnung über die Ausgaben der Kommission unterliegt n u r der Prüfung eines Unterausschusses des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages u n d des Präsidenten des BRH. Die Erklärungen des Unterausschusses u n d des Präsidenten des B R H bilden die Grundlage für die Entlastung."
4. Würdigt man die beiden Prüfungsarten, wie sie nach § 3 a Satz 1 Nr. 1 und 2 BRHG und auf Grund der Haushaltsvermerke für das Haushaltsjahr 1973 ausgestaltet worden sind, so ergibt sich: a) Die wörtlich übereinstimmenden Haushaltsvermerke für die kollegiale Prüfung halten sich i m Rahmen der Nr. 1 des § 3 a Satz 1 BRHG, indem sie die Prüfung dem zuständigen Kollegium unter M i t w i r k u n g des Präsidenten bzw. des Vizepräsidenten zuweisen. Die zwingend vorgeschriebene Unterrichtung eines Unterausschusses des Haushaltsausschusses stellt eine Maßnahme dar, die der politischen Kontrolle durch den Bundestag bei diesen Haushaltsansätzen Rechnung trägt, aber nicht die Befugnis des B R H ausschließt, Bemerkungen nach § 97 BHO aufzustellen. b) Die Prüfung durch den Präsidenten allein nach den Haushaltsvermerken beim Tit. 529 04 des Kap. 04 01 und beim Tit. 529 02 des Kap. 05 02 hält sich i m Rahmen des § 3 a Satz 1 Nr. 2 BRHG. Wie die Prüfung durch den Präsidenten allein verfassungsrechtlich zu bewerten ist, soll i m folgenden behandelt werden.
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IV. Die Prüfungskompetenz des Präsidenten des Bundesrechnungshofes im besonderen 1. Bei der Regelung des § 3 a Satz 1 Nr. 2 BRHG handelt es sich u m keine Neuerung. Werner Weber hat i n seinem eingangs zitierten Gutachten 19 schon für das Haushaltsjahr 1961 und die folgenden Jahre auf fünf Haushaltstitel hingewiesen, bei denen die Prüfung allein dem Präsidenten zustand. Man sollte aber für die frühere Regelung genau unterscheiden: a) Der Tit. 301 „Geheime Ausgaben" i n Kap. 05 01 (Auswärtiges Amt) wurde bis zum Inkrafttreten der Haushaltsreform am 1. Januar 1970 überhaupt nicht geprüft. Der Haushaltsvermerk lautete bis zum Haushaltsjahr 1967 hin: „Die M i t t e l unterliegen nicht der Prüfung des Bundesrechnungshofes." Während der großen Koalition war für das Haushaltsjahr 1968 bei den genannten Titeln vermerkt worden, die Jahresrechnung über die Ausgaben unterliege der Prüfung des Präsidenten des BRH. Der damalige Präsident führte jedoch i m Haushaltsausschuß 20 aus, er habe davon abgesehen, den Geheimfonds des Auswärtigen Amtes für 1968 zu prüfen; er bat u m K l a r stellung, daß er von einer Prüfung für 1968 absehen könne, zumal für 1969 die Prüfung wieder ausgeschlossen sei und ein Wert nur i n einer kontinuierlichen Prüfung liege. Der damalige Präsident hat dann für 1968 gemäß § 94 RHO auf die Vorlage der Rechnungsbelege verzichtet bzw. gemäß § 89 Abs. 2 BHO die Rechnung ungeprüft gelassen. Es gab also bis zum 31. Dezember 1969 einen echten „prüfungsfreien Raum" bei dem Geheimtitel des Auswärtigen Amtes. b) Bei den fünf Ausgabepositionen, die Werner Weber schon für das Haushaltsjahr 1961 erwähnt, handelte es sich um folgende: Kap. 04 01 Tit. 300 (zur Verfügung des Bundeskanzlers zu allgemeinen Zwecken), Kap. 04 03 Tit. 300 (zur Verfügung des Bundeskanzlers zur Förderung des Informations wesens), Kap. 06 02 Tit. 620 (Sondermittel für politische Bildungsarbeit), Kap. 06 09 Tit. 300 (für Zwecke des Verfassungsschutzes), Kap. 14 01 Tit. 302 (zur Verfügung des Bundesministers für Verteidigung für Zwecke des militärischen Abschirmdienstes). Hier ordnete der jeweilige Haushaltsvermerk an, die Jahresrechnung unterläge nur der Prüfung durch den Präsidenten des BRH, dessen Erklärung die Grundlage für die Entlastung der Bundesregierung bildet. c) Die Jahresrechnung des Bundesnachrichtendienstes (damals Kap. 404 Tit. 300) unterlag der Prüfung eines Unterausschusses des Haus19 20
„Die Rechnungsprüfung und die Geheimfonds" (vgl. Fußn. 5), S. 600. Sitzung v o m 3. 6.1969, Prot. Nr. 166, S. 31.
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haltsausschusses und des Präsidenten des BRH, wobei die Erklärungen des Unterausschusses und des Präsidenten die Grundlage für die Entlastung der Bundesregierung bildeten 2 1 . 2. Es soll i m folgenden erörtert werden, ob die heutige Regelung, wie sie oben unter I I I 3 b) i m einzelnen dargestellt wurde, verfassungskonform ist. Zu den Verfassungsgarantien des A r t . 114 Abs. 2 GG gehören, wie oben unter I I 1 erwähnt, das Bestehen eines Rechnungshofes überhaupt, die Lückenlosigkeit der Rechnungsprüfung und die richterliche Unabhängigkeit seiner Mitglieder. Die Alleinzuständigkeit des Präsidenten nach § 3 a Satz 1 Nr. 2 BRHG i n Verbindung m i t den jeweiligen Haushaltsvermerken wäre verfassungsrechtlich nicht gedeckt, wenn eine der Garantien des A r t . 114 Abs. 2 GG verletzt wäre, wobei das Bestehen des B R H insoweit naturgemäß nicht berührt wird. Zu den anderen Garantien ist zu sagen: a) Die Lückenlosigkeit der Rechnungsprüfung wäre durch die Alleinzuständigkeit seines Präsidenten für bestimmte Prüfungsaufgaben tangiert, wenn aus der Bezeichnung „Hof" oder aus sonstigen Umständen gefolgert werden müßte, daß alle Prüfungsaufgaben immer und ausnahmslos kollegial erledigt und insbesondere die dabei fälligen Entscheidungen kollegial gefaßt werden müßten. Aus dem Begriff „Hof" kann dieser Schluß aus folgenden Erwägungen nicht gezogen werden: Der Begriff geht auf die monarchische Zeit zurück, i n der Landesverwaltung und Hofverwaltung noch nicht geschieden waren und i n der die von den Landesherren eingerichteten Verwaltungsbehörden vorherrschend eine kollegiale Verfassung hatten 2 2 . I m Lauf der Zeit hat sich aber die Struktur der Behörden wiederholt gewandelt, ohne daß dabei jeweils die Bezeichnung geändert wurde. So war ζ. B. die Kollegialverfassung der Preußischen Oberrechnungskammer i n der Zeit von 1831 bis 1873 außer K r a f t gesetzt, ohne daß die Bezeichnung „Kammer" aufgegeben wurde 2 3 . Das Grundgesetz hat i n A r t . 114 Abs. 2 den Begriff Rechnungs-„hof" offensichtlich deshalb übernommen, weil seit dem Norddeutschen 21
Diese kombinierte Lösung gilt f ü r 1973 n u r noch für Kap. 02 01 Tit. 526 05 (Kommission nach A r t . 10 GG); vgl. oben i m Text unter I I I 3 b). 22 Vgl. dazu vor allem von Pfuhlstein: „Der Weg von der Preußischen Generalrechenkammer zum Bundesrechnungshof" i n „250 Jahre Rechnungsprüfung", S. 7 ff. 23 Von Pfuhlstein, (Fußn. 22), S. 42 f. Durch § 5 Buchst, c) der königlichen I n s t r u k t i o n v o m 16. 3.1831 w a r verfügt worden, daß „ . . . wie bei Unseren Ministerien, auch bei der Ober-Rechnungskammer dem Chef derselben ein v o t u m decisivum, den Direktoren u n d Departementsräthen dagegen n u r ein v o t u m consultativum zustehe".
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Bund die oberste gesamtstaatliche Rechnungskontrollbehörde immer diese Bezeichnung geführt hatte. Als durch Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 4. J u l i 1868 die Kontrolle des Haushalts dieses Bundes der Preußischen Oberrechnungskammer unter der Bezeichnung „Rechnungshof des Norddeutschen Bundes" übertragen wurde, lehnte man sich an ausländische Bezeichnungen für oberste Kontrollbehörden an (z. B. die damals schon und heute noch i n Frankreich und Italien gültigen Bezeichnungen „Cour des Comptes" und „Corti dei Conti"). b) Andere Gründe für eine etwaige Unzulässigkeit der präsidentiellen Alleinzuständigkeit könnten darin gesehen werden, daß dem Begriff Rechnungshof — abgesehen von der Bezeichnung „Hof" — die kollegiale Prüfungstätigkeit und -entscheidung immanent seien. So sagen z. B. Maunz - Dürig - Herzog 24, der B R H sei eine nach dem Kollegialsystem arbeitende oberste Staatsbehörde. Sie fahren fort, das Kollegialsystem sei eine notwendige Folge aus der Unabhängigkeitsgarantie der Mitglieder; ein sog. hierarchisches Prinzip m i t Weisungsbefugnis des Präsidenten stände i m Widerspruch zur Unabhängigkeit. Ähnlich argumentiert Friedrich Klein 25 : Da sich Weisungsfreiheit und büromäßige Organisation einer Behörde nicht miteinander vereinbaren ließen, folge aus dem Grundgesetz für die innere Organisation des B R H zwingend sein Charakter als Kollegialbehörde. Dazu ist zu sagen, daß der Charakter des BRH, wenn man ihn i m Zusammenhang m i t seinen Vorgängern (Preußische Generalrechenkammer — später Oberrechnungskammer, Rechnungshof des Norddeutschen Bundes, Rechnungshof des Deutschen Reiches) sieht, sicherlich eine nach dem Kollegialprinzip arbeitende Behörde ist. Es ist auch nicht zu bestreiten, daß es ein Weisungsrecht des Präsidenten gegenüber den anderen Mitgliedern des Hofs i n Prüfungsangelegenheiten nicht geben kann, weil jedes einzelne M i t glied richterliche Unabhängigkeit genießt. Die persönliche und sachliche Unabhängigkeit der Mitglieder des B R H w i r d aber nicht beeinträchtigt, wenn gesetzlich vorgesehen w i r d — wie i n § 3 a Satz 1 Nr. 2 BRHG geschehen —, daß i n besonderen Fällen nicht ein K o l legium, sondern ein einzelnes Mitglied — hier der Präsident — die Prüfung durchführt. Obgleich der B R H nach Tradition und Herkommen nach dem Kollegialprinzip aufgebaut ist und i n Prüfungssachen so arbeitet, ist doch die präsidentielle Einzelprüfimg aus der Verfassung heraus nicht ausgeschlossen. 24 A r t . 114, Rd.-Nr. 11, unter Berufung auf Saemisch, „Das Kontrollwesen u n d die Entlastung", HdbDStR, Bd. 2, S. 44. 25 Friedrich Klein (Fußn. 3), S. 154 f.
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c) Unter der Geltung des A r t . 114 Abs. 2 GG a. F. und des § 89 RHO 2 6 , der erst m i t der Haushaltsreform von 1969 formell aufgehoben wurde, haben einige Autoren 2 7 das präsidentielle Prüfungsrecht, was seine Zulässigkeit betraf, auf eine Ebene gestellt m i t der erheblich weitergehenden Anordnung, daß bestimmte Ausgaben überhaupt keiner Prüfung unterliegen sollen. Beide Möglichkeiten hielten diese Autoren über Art. 114 Abs. 2 Satz 3 GG i n Verbindung mit § 89 RHO als gedeckt, indem sie den ersten Fall (Prüfung durch den Präsidenten allein) durch den Satz 2 des § 89 RHO ( „ . . . auch einer anderen Stelle übertragen...") erfaßt ansahen und den zweiten Fall (Prüfungsausschluß) durch den Satz 1 des § 89 RHO. Dieser letzteren Meinung war auch Werner Weber 28. Nachdem bei der Neufassung des A r t . 114 Abs. 2 auch dessen Satz 3 geändert wurde (vgl. oben unter I I 1), könnte sich die Frage erheben, ob § 3 a Satz 1 BRHG von der Neufassung des A r t . 114 Abs. 2 GG nicht gedeckt sei. Bei der früheren Fassung des Satzes 3 dieser Bestimmungen („Die Rechnungsprüfung w i r d durch Bundesgesetz geregelt") war es einleuchtend, daß das ausführende Gesetz die Prüfung auch durch ein Einzelmitglied des Hofes vorsehen konnte. Bei der jetzigen, seit dem 1. Januar 1970 geltenden Fassung des Satzes 3 von A r t . 114 Abs. 2 GG ( „ I m übrigen werden die Befugnisse des Bundesrechnungshofes durch Bundesgesetz geregelt") kann nichts anderes gelten. Zu den „Befugnissen" des Hofes gehören auch die seines Präsidenten. Dies hat der Gesetzgeber der BHO gesehen, als er i n seinem § 118 die Regelung der Alleinprüfung des Präsidenten durch § 3 a Satz 1 Nr. 2 BRHG förmlich eröffnete. So sieht es auch der jährliche Haushaltsgesetzgeber, wenn er bei den Haushaltsvermerken sagt: „Der B R H prüft die Jahresrechnung nach § 3 a Satz 1 Nr. 2 des BRHGes" 2 9 . 3. Die Praxis der präsidentiellen Prüfung ist weitgehend durch § 3 a Abs. 1 Nr. 2 BRHG selbst vorgegeben. Wie bei der kollegialen Prüfung nach Nr. 1 sind die §§ 126 b und c der RHO, die m i t dem gesamten A b schnitt V noch weitergelten, nicht anwendbar. Der Präsident kann also 26
Text siehe Fußn. 4. Viaion, Haushaltsrecht, 2. Aufl., § 89 RHO, Erl. 1, S. 965 u n d „ S t r e i t fragen der öffentlichen Finanzkontrolle", Finanzarchiv Bd. 22, 1962/63, S. 22f.; ferner Piduch, „Verfassungsgarantie lückenloser Rechnungsprüfung — eine überprüfungsbedürftige These", D Ö V 1965, S. 334 f. 28 Werner Weber, Fußn. 5, passim. 29 Nach der zutreffenden Meinung von Piduch, Bundeshaushaltsrecht, § 118 BHO, R d - N r . 2 b) handelt es sich bei § 3 a Satz 1 Nr. 2 B R H G u m eine Vorschrift, die vorzugsweise die innere Organisation des B R H f ü r diesen Aufgabenbereich betrifft. 27
27 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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seine Prüfungsergebnisse nicht etwa an einen Senat oder den Großen Senat herantragen. Dies würde dem Zweck der Regelung widersprechen, bei gewissen Titeln wegen ihrer Geheimhaltungsbedürftigkeit die Prüfung nur auf ein Mitglied des Hofes abzustellen. Abweichend von der Regelung für die kollegiale Prüfung nach § 3 a Abs. 1 Nr. 1 BRHG kann aus den gleichen Gründen der höheren Geheimhaltungsbedürftigkeit der Präsident keine weiteren Beamten des B R H zuziehen. Der Präsident prüft an Ort und Stelle bei dem mittelbewirtschaftenden Ressort (Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt) anhand der Ausgabenbelege und der von i h m dazu zusätzlich erbetenen mündlichen Auskünfte. Soweit dabei Beanstandungen zu erheben sind, geschieht dies an Ort und Stelle mündlich. Über seine Prüfungsmethode hat der Verfasser dieses Beitrages vor dem 1. Untersuchungsausschuß des 7. Deutschen Bundestages am 5. September 1973 und vor dem Haushaltsausschuß des Bundestages am 3. Oktober 1973 berichtet, soweit § 62 Abs. 1 des Bundesbeamtengesetzes dies zuließ 30 . I n rechtlicher Hinsicht ist zu der Prüfungspraxis des Präsidenten noch zu bemerken: Da der Präsident i m Falle des § 3 a Satz 1 Nr. 2 BRHG als B R H handelt, hat er allein und i n eigener Verantwortung zu prüfen, ob er nach § 97 Abs. 1 BHO das Ergebnis seiner Prüfung i n Bemerkungen an Bundestag und Bundesrat zusammenfassen soll, was nach dieser Bestimmung insoweit erforderlich ist, als es für die Entlastung der Bundesregierung wegen der Haushaltsrechnung von Bedeutung ist. Solche Bemerkungen müßte er nach § 97 Abs. 4 BHO, da es sich u m geheimzuhaltende Angelegenheiten handelt, dem Präsidenten des Bundestages und des Bundesrates sowie dem Bundeskanzler und dem Bundesminister der Finanzen mitteilen. Dieser Fall ist bisher noch nicht akut geworden. 4. Nachzutragen bleibt noch, daß die Prüfung des Tit. 526 05 bei Kap. 02 01 (vgl. oben unter I I I 3 b) insofern eine Besonderheit darstellt, als nach dem Haushaltsvermerk von der Prüfung eines Unterausschusses des Haushaltsausschusses und des Präsidenten des B R H die Rede ist, deren beider Erklärungen die Grundlage für die Entlastung bilden sollen. Hier hat eine frühere Formulierung für die Prüfung des Bundesnachrichtendienstes fortgewirkt, die die saubere Trennung zwischen Rechnungsprüfung einerseits und politischer Kontrolle andererseits verwischt. Man sollte für die Zukunft den genannten Titel nach § 3 a 30 § 62 Abs. 1 B B G lautet: „Die Genehmigung, als Zeuge auszusagen, darf n u r versagt werden, w e n n die Aussage dem Wohle des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten oder die Erfüllung öffentlicher A u f g a ben ernstlich gefährden oder erheblich erschweren würde."
Die Rechnungsprüfung der sogenannten Geheimfonds
419
Satz 1 Nr. 1 BRHG behandeln, d. h. beim B R H die Prüfung durch das Dreierkollegium und zusätzlich die Unterrichtung eines Unterausschusses des Haushaltsausschusses vorschreiben.
V. Schlußbetrachtung Werner Weber hat den letzten Abschnitt seiner Arbeit „Die Rechnungsprüfung und die Geheimfonds" 31 m i t folgenden Bemerkungen begonnen: „Bei alledem muß i n Betracht gezogen werden, daß Rechnungslegung und Rechnungsprüfung zwar wichtige und unverzichtbare Bestandteile der Verfassungsordnung, aber nicht Selbstzweck sind 3 2 . Sie dienen dazu, das Staatswesen i n Ordnung und die Kontrolle der Regierung durch das Parlament wirksam zu halten. Ihnen stehen andere Notwendigkeiten staatlicher Existenzbehauptung gegenüber, so auch diese, bei bestimmten Haushaltsausgaben i m Interesse des Gemeinwohls einen tunlichst hohen Grad von Diskretion, manchmal sogar äußerste Diskretion zu wahren. Das war seit Beginn des modernen Verfassungsstaates anerkannt." Diese Worte wurden damals von Werner Weber geschrieben, u m die von i h m bestrittene „Lückenlosigkeit der Rechnungsprüfung" für den damaligen Rechtszustand zu bekämpfen. Er kam i n seiner Abhandlung zu dem Ergebnis, das Grundgesetz habe i n der Fassung des A r t . 114 Abs. 2 von 1949 die Lückenlosigkeit nicht vorgeschrieben. Dies kann heute dahinstehen, da die Fassung des A r t . 114 Abs. 2 GG seit 1970 von der umfassenden Prüfungskompetenz des B R H ausgeht. Heute gilt aber das, was Werner Weber a.a.O. gesagt hat, für die Konzentrierung der Prüfungskompetenzen durch § 3 a Satz 1 Nr. 1 und 2 BRHG entsprechend. Das Interesse des Gemeinwohls — oder wenn dieser Ausdruck heute noch erlaubt ist: die Staatsräson — verlangt, wie schwerlich bestritten werden kann, bei bestimmten Haushaltsausgaben äußerste Diskretion. Sie ist nach aller menschlichen Erfahrung u m so mehr und um so besser geschützt, je kleiner der Personenkreis bemessen ist, dem geheimzuhaltende Angelegenheiten bekannt werden.
31
Vgl. Fußn. 5, S. 612. Was, w i e Werner Weber ergänzt, auch Bernhard Bank, „Uber Umfang u n d Grenzen der Finanzkontrolle der Rechnungshöfe", AöR 80 (1955, 65) S. 261 ff. (275) betont hatte. 32
21*
Uber strengere und unstrenge Verfahren der Rechtsfindung V o n Franz Wieacker
I. Die
folgenden
Bemerkungen
rechtsanwendenden
orientieren
Instanzen, b e t r e f f e n
Praxis
der
also N u t z a n w e n d u n g e n
und
nicht die juristische Grundlagenforschung.
sich a n d e r
W e d e r s o l l also h i e r
die
Rede sein v o n k o n v e n t i o n e l l e n L e h r s t ü c k e n d e r Rechtsphilosophie w i e v o m „ W e s e n " , d. h. d e m Seinsmodus des Rechts, seinen B e s t i m m u n g e n oder d e n B e d i n g u n g e n d e r E r k e n n t n i s m a t e r i a l e r G e r e c h t i g k e i t , noch v o n d e n b e v o r z u g t e n T h e m e n der a l l g e m e i n e n Rechtstheorie, w i e d e m wissenschaftstheoretischen
oder wissensoziologischen O r t
der
Rechts-
wissenschaft oder i h r e m V e r h ä l n t i s z u d e n Sozialwissenschaften,
der
logischen S t r u k t u r d e r Rechtssätze oder d e r M ö g l i c h k e i t e i n e r d e o n t i schen L o g i k . V i e l m e h r beschäftigen w i r uns n u r m i t d e n A u s w i r k u n g e n solcher T h e o r i e n a u f d i e e m p i r i s c h e R e c h t s f i n d u n g . Es soll nicht verschwiegen sein, daß diese Abstinenz nicht n u r der Unzuständigkeit des Verfassers entspringt, sondern auch einer zunehmenden Skepsis gegen einen Szientismus, der, nach langen Jahren der Vernachlässigung der Rechtstheorie hierzulande, heute eher l u x u r i e r t — hierunter v e r standen eine Erkenntnishaltung, die, überzeugt v o m Vorrang einer wissenschaftlichen Thematisierung aller privaten u n d öffentlichen Lebensprobleme, die empirische Befassung m i t diesen jeweiligen Fragen ohne vorgängige A n nahme einer allgemeinen Theorie, u n d zwar einer ausschließenden u n d i n sofern nicht toleranten Theorie abweist, oder doch vertagt, m i t Hegel zu sprechen also, „die angestrengte u n d fast eifernd u n d gereizt sich zeigende Bemühung, die Menschen aus der Versunkenheit ins Sinnliche, Gemeine u n d Einzelne herauszureißen u n d ihren Blick zu den Sternen aufzurichten, als ob sie, des Göttlichen ganz vergessend, m i t Staub u n d Wasser wie der W u r m , auf dem Punkte sich zu befriedigen ständen 1 ." Über die wissensoziologischen Gründe dieser Haltung ließe sich manches anmerken, das indes nicht hierher gehört 2 . 1
Einleitung i n die Phänomenologie d. Geistes ( = Inselbücherei Nr. 300) 9. Sie liegen i n der zunehmenden Neigung des Geistes- u n d Sozialwissenschaftlers zur Bevorzugung der allgemeinen Grundlagen- u n d Führungswissenschaften, vor den Einzelwissenschaften u n d insbesondere den H a n d lungswissenschaften, die dann auch ambivalente Überlegenheits- u n d U n t e r 2
422
Franz Wieacker
W i r beschränken uns also a u f d i e E m p i r i e der R e c h t s a n w e n d u n g , d. h. d e r j e n i g e n P r o v i n z ö f f e n t l i c h e n H a n d e l n s , d i e sich v o n a n d e r e n d u r c h r e c h t s f ö r m i g e n V o l l z u g unterscheidet. D e n K e r n dieses H a n d e l n s m a chen rechtliche E n t s c h e i d u n g e n aus. Solche t r e f f e n d i e Gerichte, m i t Einschluß d e r a l l g e m e i n e n u n d besonderen V e r w a l t u n g s g e r i c h t e , aber auch d i e E i n g r i f f s - u n d d i e L e i s t u n g s v e r w a l t u n g a l l e r A r t e n , i n s o f e r n sie u n t e r d e m G e b o t d e r G e s e t z m ä ß i g k e i t s t e h t ; u n d i n g e w i s s e m M a ß auch die R e c h t s p o l i t i k , i n s o f e r n sie f o r m e l l a n verfassungsmäßige G e s e t z g e b u n g s v e r f a h r e n u n d i n h a l t l i c h d u r c h das Grundgesetz g e b u n d e n i s t 3 . Das P a r a d i g m a d e r r e c h t l i c h e n E n t s c h e i d u n g ist das r i c h t e r l i c h e U r t e i l — w o b e i h i e r aus G r ü n d e n d e r p e r s ö n l i c h e n Z u s t ä n d i g k e i t w i e auch w e g e n d e r h i e r besonders f o r t g e s c h r i t t e n e n M e t h o d e n b i l d u n g das U r t e i l des Z i m Z r i c h t e r s i m V o r d e r g r u n d stehen soll. Rechtliche E n t s c h e i d u n g e n s i n d z u m i n d e s t K o n t i n e n t ü b e r w i e g e n d Gesetzesanwendung.
auf
dem
europäischen
Es gehört zwar neuerdings gleichsam zum guten Ton des Szientismus, als sei die kommune Gesetzesanwendung (und daher auch die „üblichen Auslegungsmethoden" 4 ) eine ziemlich veraltete Angelegenheit; das eigentliche u n d sozusagen höhere Geschäft des Rechtsanwenders sei die Rechtsfindung praeter, am besten contra legem 5. Sehe ich recht, w i r k e n bei dieser Neigung zusammen — außer dem gesunden Interesse jeder lebendigen Wissenschaft an ihren Grenzfällen — die Inspiration durch das (amerikanische) Common L a w u n d seine spezifische Ideologie u n d andererseits die gesteigerte E r w a r t u n g einer Innovation durch Überspielen des gesetzlichen Rechts durch eine k r i tisch dynamisierte Rechtssprechung. A u c h der etwas verwaschene Begriff einer Rechtsfindung mag die Vorstellung suggerieren, als sei die wesentliche Tätigkeit der Gerichte oder anderer rechtsanwendenden Instanzen die N o r m schöpfung. I n Wahrheit liegt es differenzierter. Es t r i f f t gewiß zu, daß i n der Verfassungs-, Verwaltungs- u n d Arbeitsgerichtsbarkeit der außergesetzlichen Rechtsfindung aus sofort einleuchtenden Gründen u n d ganz l e g i t i m die ausschlaggebende Rolle zukommt, während sich dies f ü r die Strafgerichtsbarkeit jedenfalls gegen den Angeklagten aus rechtsstaatlichen Gründen verbietet (oder doch verbieten sollte) 6 . Das Zivilrecht hält, auch hierin paradigmatisch, zwischen diesen Polen ungefähr die Mitte. legenheitsgefühle gegenüber die Träger der Verantwortung i m sozialen A l l t a g zeitigt. Die Notwendigkeit der Grundlagenforschung u n d einer wissenschaftlichen Methodik der Rechtsanwendung w i r d m i t dieser ungeduldigen Bemerkung natürlich nicht angezweifelt. 3 Allgemein unter der Voraussetzung einer einfachen Parlamentsmehrheit; schlechthin bei Antastung des »Wesensgehalts' eines Grundrechts (art. 19 I I GG) u n d bei Verfassungsdurchbrechung. 4 So m i t kennzeichnender Skepsis etwa Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl (1970) 113 ff., bes. 128 ff., 133 ff. 5 Repräsentativ wiederum Esser, 7 ff. (Einleitung), 35 ff. (zu den „ I n f r a u n d Suprastrukturen der N o r m " , wo besonders S. 36 die Inspiration durch das amerikanische Common L a w hervortritt).
Uber strengere u n d unstrenge Verfahren der Rechtsfindung
423
Richtig ist indessen, daß auch für die vorherrschende Gesetzesanwendung die schlichte Subsumption mittels des Syllogismus des Modus (ponendo) ponens nicht ausreicht; der letzte Anstoß für diese Einsicht war die Aufdeckung der Rolle des sog. ,Vorverständnisses 47 . Doch schafft deshalb die einzelne Entscheidung noch nicht anstelle des Gesetzgebers neue Normen, wie es manchen heute scheinen möchte 8 . Ihre Aufgabe ist vielmehr Aktualisierung des hypothetischen Normbefehls i n einer gegebenen Lage. Eben als Aktualisierung eines Potentiellen ist sie etwas anderes als die bloße Ermittlung des logischen Verhältnisses eines Allgemeinen zu einem Besondern mittels Subsumption; sie gleicht wenn dies B i l d erlaubt ist, mehr dem Spielen (,Interpretieren') der Partitur eines Musikstücks oder der Verwirklichung (,Aufführung') eines Rollentextes auf der Bühne. Der Verdichtungsgrad dieser A k t u alisierung ist je nach der Individualisierung der anzuwendenden Norm sehr verschieden; so ließe sich etwa eine Skala bilden: echte Generalklauseln — Normen m i t unbestimmten Rechtsbegriffen — Grundrechte-Normen mit hoher technischer Positivität (Steuersätze, Verjährungsfristen) — jus singulare — ausdrückliche Analogie- oder Restriktionsverbote. Immer aber bleibt es bei einem „ H i n - und Herwandern des Blicks" 9 zwischen Gesetzesnorm und Sachverhalt: diskutiert man die Norm als unverbindlichen Monolog eines toten Gesetzgebers hinweg, so nimmt man der Entscheidung ihr ,Widerlager', der Zange, die den Rechtsfall möglichst genau fassen soll, gleichsam die eine ,Backe'. W i r fassen vorerst zusammen: Rechtsfindung' ist ein Zweig öffentlichen Handelns, nämlich dasjenige, das an die Anwendung von Gesetz und Recht gebunden ist. Gesetzesanwendung ist Aktualisierung des Regelungsplans, den eine Norm oder ein Normenkomplex darstellt; außergesetzliche Rechtsanwendung unterscheidet sich hiervon nur dadurch, daß der Plan hier der gesamten „geschriebenen" und „ungeschriebenen" Rechtsordnung entnommen wird. Eine Methode der Rechtsfindung gibt die Verfahren an, welche den rechtsförmigen Charakter der Rechtsanwendung sicherstellen 10 . Denn die Rechtsanwenβ
Dieser Vorbehalt u. a. i m H i n b l i c k auf die Einschränkung des nullum crimen sine lege durch die Anerkennung außergesetzlicher Garantenstellungen u n d Handlungspflichten beim unechten Unterlassungsdelikt. ? U n t e n S. 432 f.: sorgfältige Analysen bei Esser, S. 40 ff. (Rechtsanwendung u n d Subsumptionsprozeß) 133 ff. u. ö.; vgl. auch 50 ff. („Vorverständnis"). 8 So der durchgängige Tenor bei Esser, 5 u. passim. W i r exemplifizieren i m m e r wieder an dieser einflußreichen u n d bedeutenden Studie eines f ü h renden Rechtstheoretikers, von dem w i r selbst maßgebende Einsichten haben lernen dürfen. 9 M i t der bekannten Formel Engischs; vgl. etwa Einf. i n d. j u r . Denken, (5. Aufl. 1971), 13 ff. 10 Nicht aber (wie gegen Esser [bes. 18; erneut AcP, 1972] 97 ff.) betont sei:
424
Franz Wieacker
dung enthält zwei Elemente: nämlich außer der Entscheidung zwischen (einer oder mehreren) Handlungsalternativen auch den Erkenntnisprozeß, der die Entscheidung als Aktualisierung einer allgemeinen Norm aufweist. I n ihrer äußeren Gestalt stellt sich die rechtliche Entscheidung also als ein Entscheiden aus Gründen dar — wie es die geltenden Verfahrensvorschriften überall mit voller Konsequenz fordern. Rechtsfindungsverfahren sind daher notwendig auch Begründungsverfahren, und unser Interesse gilt i m folgenden gerade diesem Begründungscharakter. II. Ableitende und induktive Begründungen 1. Wir versuchen nun eine Gruppierung der heute kurrenten Rechtsfindungsverfahren; wie billig zunächst in unserem eigenen mitteleuropäischen Bereich. Hier stehen sich zunächst i n grober Faustskizze ableitende und induktive (allgemein: reduktive) 1 1 Verfahren gegenüber, für welche vorweg die rohen Stichworte Axomatik und Begriffsjurisprudenz einerseits, Fallrecht und Interessenjurisprudenz andererseits stehen mögen. W i r nehmen vorweg, daß — entgegen einem durch das fortgesetzte Einrennen offener Türen veranlaßten Anschein — dieser Gegensatz i n der deutschen Praxis längst gegen die ableitenden Verfahren entschieden ist. Das umfassendste Paradigma einer strengen Deduktion, die A x i o m a t i k , findet i n keiner m i r bekannten Rechtspraxis statt 1 2 . I m späten Vernunftrecht die Rechtsordnung überhaupt erst zu einer gerechten machen. Z u r Eigenart des richterlichen Erkenntnisses zuletzt fördernd K. Michaelis, Die Entscheidung, i n Festschr. f. E. R. Huber (1973) 311 ff. 11 Charakterisierung der »Reduktion 4 bei Bochenski, Die zeitgen. Denkmethoden (4. Aufl. 1969) S. 75 ff. (dort auch über den [regressiven] Schluß von dem Nachsatz auf den Obersatz u n d über die I n d u k t i o n als Sonderfall der Reduktion), S. 118 ff. (zur I n d u k t i o n i m besonderen); allgemeiner Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie (3. Aufl. 1965), 397 ff. (dort auch zum Streit zwischen Carnap u n d Popper); Engisch, Logische Stud, ζ. Gesetzesanw. (3. A u f l . 1963) passim; Klug, Jurist. L o g i k (2. Aufl. 1958), S. 162 f.; vgl. auch Hassemer (A. 35) Z u m „zweifachen i n d u k t i v - deduktiven Verfahren" bei der (indirekten) Subsumption „unter ein allgemeineres normatives Prinzip, dessen T r a g w e i t e . . . den Komplex von Normen, aus denen es durch I n d u k t i o n geschlossen w i r d , überragt", Baratta, Jur. Analogie u. N a t u r d. Sache, i n Mensch u. Recht, Festschr. f. E r i k Wolf (1972), S. 138 f. — M i t Inanspruchnahme selbständiger juristischer Argumentationsverfahren etwa bei Roy Stone, ARSP 53 (1968), S. 43 ff. (,paraduction'), Albert, ArchPhilos 11 (1951), S. 28 ff.; Ballweg. ARSP 51 (1965), S. 543 ff.; 52 (1966), S. 221 ff. (,prudentielles' oder ,nicht kognitives Denken'); (vgl. auch Wieacker, Festschr. Gadamer I I (1970), S. 320 A. 23; vgl. auch S. 324 u. A. 38, S. 327 A. 43, S. 328 A. 49) — wozu hier i n der Kürze nicht Stellung zu nehmen ist. (Diese Aufstellungen haben w e i t h i n deskriptiven Charakter).
Uber strengere u n d unstrenge Verfahren der Rechtsfindung
425
hat die Übertragung des cartesianischen, i n Strenge etwa durch Euklids ,Elemente'vertretenen Wissenschaftsideals auf das natürliche Rechtssystem i n Christian Wollfs demonstrativer Methode vorübergehend zur Annahme dieses Typus geführt. Obwohl der Vorbedingung einer solchen A x i o m a t i k , einem idealistischen System materialer Gerechtigkeit, m i t Kants K r i t i k e n der Boden entzogen war, w u r d e n axiomatische Elemente i n der Pandektenwissenschaft, etwa bei Puchta oder i n Brievlings ,Prinzipienlehre' als caput mortuum mitgeführt, gleichsam m i t abgeschnittenen Wurzeln, wie B l u menstengel, die man i n ein Beet steckt, zum Verwelken verurteilt. I m ganzen w a r der strengen Ableitung auch i n der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jhs. n u r ein schmaler Bereich zugestanden, der durch die B i n dung an die (obendrein partikuläre u n d daher zu einem inneren System nicht integrierte) Gesetzgebung u n d deren hermeneutische Auslegung sehr eingeschränkt war. Andererseits hatten auch Jherings naturhistorische Methode u n d seine „höhere" Konstruktionsjurisprudenz als Äußerungen kreativer wissenschaftlicher Phantasie 1 ^ m i t strenger Deduktion wenig zu tun. Schließlich dürfen natürlich A x i o m a t i k u n d Begriffsjurisprudenz nicht gleichgesetzt werden m i t dem allgemein verbindlichen wissenschaftlichen Postulat der Prämissengerechtigkeit u n d der Widerspruchsfreiheit der Begründungen. 2. D i e H e r r s c h a f t d e r s t r e n g e n A b l e i t u n g s v e r f a h r e n i s t i n D e u t s c h l a n d seit d e m l e t z t e n D r i t t e l des v o r i g e n J a h r h u n d e r t s d u r c h das Z u s a m m e n w i r k e n z w e i e r wissenschaftlicher U m w ä l z u n g e n gebrochen w o r d e n , n ä m l i c h einerseits d u r c h d i e n a t u r a l i s t i s c h e Rechtszweckbet r a c h t u n g ( J h e r i n g , F . v . L i s z t , Freirechtsschule, ä l t e r e I n t e r e s s e n j u r i s p r u d e n z ) 1 4 u n d andererseits d u r c h d e n k r i t i s c h e n F o r m a l i s m u s d e r N e u k a n t i a n e r (Rickert, L a s k , M . E. M e y e r , R a d b r u c h , teleologische A u s legung)15. Beide Richtungen vereint haben die heute unzweifelhaft v o r herrschende u n d p r a k t i z i e r t e M e t h o d e d e r R e c h t s f i n d u n g geschaffen, w i e sie e t w a i m Z i v i l r e c h t die sog. W e r t u n g s j u r i s p r u d e n z ( u n d das v o n d e r sozialstaatlichen Rechtspraxis l ä n g s t a s s i m i l i e r t e n E r b e d e r gemäßigten 16 Freirechtsschule) v e r t r i t t . Der notwendige Zusammenhang des sozialen Naturalismus u n d des neukantianischen Kritizismus w i r d nicht immer genügend gewürdigt. Denn dieser Kritizismus führte, zufolge seines Verzichts auf transzendente Rechtsbegründung u n d materiale Gerechtigkeit, folgerecht zum Relativismus; dieser Re12
Vgl. Canaris , Systemdenken u. Systembegriff (1969), S. 25 ff., S. 58 ff.: von hier aus ist Viehwegs Konfrontation von Topik u n d A x i o m a t i k m i t Recht als inaktuell empfunden worden. 13 Statt aller Wieacker, R. v. Jhering (1968), S. 24ff.; SavZ.Rom. Abt. 86 (1970), S. 16 ff. 14 Hierzu etwa: Privatrechtsgesch. d. Neuzeit (2. Aufl. 1967) = PGN, S. 574 ff.; S. 579 ff. u.ö. (Reg.). 15 PGN, S. 587 ff. 16 Z u den beiden Flügeln der Freirechtsschule PGN, S. 580f.; zu Reichel, S. 581 u. A. 56 a. Grundlegend L. Lombardi (-Vallauri), Saggio sul diritto giurisprudenziale (Milano 1967), S. 197 -366 (241; 255 ff.); deutsch jetzt: Die Freirechtsschule (1971).
426
Franz Wieacker
lativismus aber mußte die naturalistische Orientierung der Richtigkeitsurteile aufdrängen, insofern er die Berücksichtigung empirischer Zwecke nahelegt: eine Ubereinstimmung über Werte ist unter diesen Voraussetzungen n u r über vernünftige soziale Zwecke herzustellen. U n d da auch der Gesetzgeber nach hierdurch nahegelegter Vermutung durch einsehbare soziale Zwecke motiviert worden ist, so hat auch eine prinzipiell gesetzestreue Rechtsfindung ihrem Richtigkeitsurteil diese Zwecke zugrundezulegen, wie es i n aller wünschenswerten Deutlichkeit Hecks methodische Schriften v o r schreiben u n d seine ,Grundrisse 4 konsequent befolgen. Gleichzeitig wahrte aber der neukantianische Formalismus dieser Rechtszweckbetrachtung den Charakter der Normanwendung: der Richter sollte nicht etwa — wie bei den radikalen Freirechtlern — i n casu interessengemäß entscheiden, also social engineering treiben, sondern i m Sinne des A r t . 1 I I Z G B „nach der Regel, die er „als 44 (durch Interessenwertung motivierter) „Gesetzgeber aufstellen würde"17. Das sich danach ergebende E r k e n n t n i s v e r f a h r e n g e h ö r t i m S i n n e a l l g e m e i n e r B e g r ü n d u n g s t h e o r i e n z u d e n reduktiven ( i n d u k t i v e n ) 1 8 Schlußv e r f a h r e n nach d e m M u s t e r : w e n n sich aus d e r E r f a h r u n g ergeben h a t , daß i n e i n e r R e i h e v o n ä h n l i c h e n x lf x 2, x z F ä l l e n d i e F o l g e y e i n g e t r e t e n ist, so d a r f sie auch f ü r d i e f o l g e n d e n g l e i c h a r t i g e n F ä l l e x n, x n + i usf. e r w a r t e t w e r d e n ; w e n n e i n ärztliches M i t t e l Sokrates u n d P l a t o g e h o l f e n h a t , so d a r f e r w a r t e t w e r d e n , daß es d e m K r a t y l o s i n d e r gleichen K r a n k h e i t g l e i c h f a l l s h i l f t ( A r i s t o t e l e s ) 1 9 . D e r K e r n d i e ses V e r f a h r e n s i s t e i n Ä h n l i c h k e i t s u r t e i l 2 0 u n d d i e i h m z u g e o r d n e t e spezifisch j u r i s t i s c h e F i g u r die Gesetzes- oder Rechtsanalogie. D a dieses V e r f a h r e n n u r w a h r s c h e i n l i c h e U r t e i l e (oder Voraussagen) h e r g i b t , die d u r c h F a l s i f i z i e r u n g w i d e r l e g t w e r d e n , rechnet es A r i s t o t e les, d e r es als erster f o r m u l i e r t h a t , i m Gegensatz z u d e n a p o d i k t i s c h e n Schlüssen, z u d e n u n s t r e n g e n U r t e i l s v e r f a h r e n . B e i d e r Unausschöpfb a r k e i t i h r e r Gegenstände s i n d z u m i n d e s t d i e n i c h t , e x a k t e n ' , oder
17 Z u r Tradition der M a x i m e zurück bis zu Aristot. Eth. Nie. 1137 b, vgl. PGN, S. 494 u. A . 88; Festschr. Gadamer I I (1970), S. 332 u. A. 59; Xenion Festschr. f ü r Pan. J. Zepos (Athen 1973), S. 411 u. A . 45. Über die Formel als Prüfstein geglückter Rechtsfortbildung Larenz, Festschr. Nikisch (1958), S. 275 ff.; Festskr. Olivecrona (Stockholm 1964), S. 384ff.; N J W 65, I f f . ; K e n n zeichen geglückter Rechtsfortbildung (1965); vgl. auch Jur. Methodenlehre (2. Aufl. 1969), S. 315. 18 Vgl. oben Anm. 11 (Bochenski). 19 Uber die A u s w i r k u n g e n auf die römische Jurisprudenz F. Schulz, Gesch. d. röm. Rechtswiss. (1961), S. 73 ff.; allgemein Diederichsen, Einf. i. d. wissensch. Denken (1970), S. 47 f. so Baratta (Anm. 11), S. 138; L i t . 137 A n m . 1; S. 138 A n m . 5; Heller, L o g i k u. Axiologie d. analogen Rechtsanwdg. (1961), S. 109 ff.: Engisch, Einf. (4. Aufl. 1968), S. 143; z u m aristotelischen Schema des paradeigma Baratta, S. 143: Arthur Kaufmann, Analogie u. N a t u r d. Sache (1965); Horak, Rationes decideudi I (1968), m i t weit. Nachweisen; vgl. auch A n m . 20 a.
Uber strengere u n d unstrenge Verfahren der Rechtsfindung
427
streng axiomatisierten, d.h. praktisch fast alle Wissenschaften, zur Gewinnung weiterer Erkenntnisse darauf angewiesen; eine neuere Richtung (Popper) erklärt sie sogar für das einzig mögliche Verfahren wissenschaftlichen Erkennens. Gleichwohl bleibt die Reduktion (Induktion) ein Schlußverfahren 203', nämlich des Schließens vom Nachsatz auf den Vordersatz (oben A. 11) das in konsistenten Schlüssen diskursiv fortschreitet und durch Unterbrechung dieses Folgerungszusammenhanges aufgehoben werden würde; es unterscheidet sich dadurch scheinbar von der Auslegung und i n der Sache von der noch zu erörternden Topik (S. 433 ff.). W i r rechnen es daher — i m Titel dieser Untersuchung — wenn nicht zu den strengen, so doch zusammen mit den deduktiven Begründungen zu den strengeren Rechtsfindungsverfahren, die den Anforderungen einer wissenschaftlichen Erkenntnismethode genügen — wie es denn auch praktisch die nicht exakten Natur-, Sozialund Geisteswissenschaften beherrscht. Als praktische Grundlage der Gesetzesanwendung und Rechtsfindung erweist sich diese vorherrschend befolgte Methode als ungemein leistungsfähig: teils wegen ihres Positivismus, wie er i n der modernen differenzierten und pluralistischen Gesellschaft unverzichtbar ist, teils, weil ihre relativistische Orientierung am Rechtszweck (,Interesse 4, ,Bewertung') der fortschreitenden sozialstaatlichen Entwicklung besonders entgegenkommt. Diese nüchterne Lehre ist hierin weit progressiver' als ihre intellektuell verwöhnten Gegner wahrhaben wollen. (In der Sache ist sie übrigens auch die Rechtsfindungsmethode der sozialistischen Staaten 21 , wenn auch der bewußtere Einsatz der Gesetze zur Gesellschaftsplanung ihr hier einen stärker positivistischen Zug gibt). III.
»Realismus' und
»logischer
Empirismus'
1. Die neuere deutsche Rechtstheorie empfindet nach langer Selbstgenügsamkeit einen starken Nachholbedarf' für Rezeptionen, besonders aus der anglo-amerikanischen Theorie. Es empfiehlt sich daher, die heute vorherrschende angelsächsisch-skandinavischen Grundströmungen wenigstens i n Kürze zu skizzieren. Wiederum i n groben Stichworten lassen sie sich als „Realismus" und als „logischer Empirismus" etikettieren, und ähnlich dem deutschen Naturalismus und Neukantianismus haben beide gemeinsame Ausgangspunkte. 20a Uber k o m p a r a t i v e ' Schlußsätze v o m Typus ,je mehr, desto eher 4 w e i terführend Otte , Jahrb. f. Rechtssoziol. u. Rechtstheorie 2 (1972), S. 301 ff. 21 Vgl. i n diesem Zusammenhang PGN, S. 507 f., m i t L i t . i n A n m . 53, 54; Transformation i n die sozialistische Gesellschaftsdoktrin schon i n § 1 des Zivilgesetzbuchs für die Sowjetrepubliken v. 1923: Ausübung der Rechte u n ter der Bedingung, daß sie nicht i m Widerspruch zu ihrer gesellschaftlichwirtschaftlichen Bestimmung stehen.
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Die gemeinsame Prämisse ist hier die dezidierte Abweisung transzendenter oder metaphysischer Voraussetzungen, die die Unwissenschaftlichkeit der bisherigen Rechtswissenschaft verschuldet hätten (Lundstedt) und gelegentlich kurz und gut als transcendental nonsense22 abgetan werden: unwissenschaftlich seien solche Voraussetzungen, weil durch keinerlei widerspruchsfreie Erkenntnis verifizierbar (oder, was hier das gleiche bedeutet, falsifizierbar). Meist steigert sich diese Abweisung zu dem weiteren Axiom, daß auch Werte nicht Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sein können: Wirklichkeit haben Werterlebnisse und Werturteile nur als psychologische oder soziale Fakten 2 3 . Es muß gleich vermerkt werden, daß sich dieser Standpunkt trotz seiner Emphase von dem i n Deutschland praktisch befolgten gar nicht so sehr unterscheidet. Abgesehen von der ephemeren Naturrechtsrenaissance des B G H i n den 50er Jahren haben metaphysische (idealistische, phänomenologische oder existenzielle) Prämissen jedenfalls auf die Zivilrechtsprechung u n d -dogma t i k einen verschwindend geringen Einfluß gehabt.
2. Diese gemeinsame Voraussetzung verfolgen die beiden Strömungen i n verschiedener Richtung weiter. a) Die naturalistische (, realism': Cardozo, Roscoe Pound, Llewellyan, A l f Ross, Hägerström, Lundstedt) 2 4 greift gegenüber der Unmöglichkeit, den Bestimmungsgrund rechtlicher Entscheidungen auf objektivierbare Wertungen zu gründen, auf die sozialpsychologischen Faktoren zurück, die das rechtliche Verhalten der Rechtsgenossen und der Richter tatsächlich motivieren. Eine besonders i n den USA weitverbreitete Version reduziert ganz folgerichtig das Phänomen des geltenden Rechts — übrigens ohne erkennbare Ironie — auf die Summe der jeweiligen Prognosen für die tatsächliche Entscheidung, die das zuständige Gericht das nächstemal treffen w i r d 2 5 . Diese dem Behaviorismus verpflichtete und offenbar auf das Precedent-System zugeschnittene (und nur dort ernstlich verständliche) Formel ist begreiflicherweise schon i n Skandinavien nicht ohne Vorbehalte rezipiert worden 2 6 . 22 So Felix S. Cohn, Transcendental Nonsense and the Functional A p p roach, i n Columbia L a w Rev. 35 (1955), S. 809 ff. 23 Weitere Nachweise (Lundstedt, Alf Ross, Illum, Stig Jorgensen): Festschr. Gadamer (Anm. 17), S. 312 Anm. 3 u. 4; zum entsprechenden A x i o m Kelsens etwa P G N 590. 24 Uberblick: D. Leyd, Introduction to Jurisprudence: The Scandinavian Realism; Olivecrona, Scandinavian Stud, i n L a w 3 (1959 125 ff. (zu Häger ström u n d Lundstedt); kritische Stimmen aus Dänemark (Illum, Jorgensen) u n d Finnland; (C. H. von Wright): Festschr. Gadamer 312 f. A. 5 u. 7. 25 Dazu bereits Festschr. Gadamer 313 u. A. 7. 26 Illum, Scandinavian Studies i n L a w 12 (1968) 54 f., vgl. 52, Stig Jorgensen, Festschr. t i l A. Ross (1969) 269.
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Eine einleuchtendere Auswirkung dieses Ansatzes ist das zunehmende Interesse der Rechtstheorie für den pragmatischen Begründungsprozeß, das Legal Reasoning, dem vor allem i n den Vereinigten Staaten unzählige, zuweilen etwas eintönige Bemühungen gewidmet werden 2 7 . Der starke Einfluß dieser Diskussion auf die neuere deutsche Rechtstheorie und Rechtssoziologie liegt auf der Hand — wobei aber der Zusammenhang der Prognosen-Formel m i t dem angelsächsischen Gerichtsschutzsystem leicht i n Vergessenheit gerät. Auch liegt die neuerdings hierzulande häufigere Verdächtigung des Richters wegen seiner zwangsläufigen Befangenheit i n seiner sozialen Herkunft den nüchterneren amerikanischen und skandinavischen Betrachtern i m großen ganzen ferner; die sog. impersonal ideology der Gerichte (A. Ross) erscheint hier vielmehr eher als Legitimation des Entscheidungsverfahrens 28 . b) Als formalistischer Gegenpol zieht der ,logische Empirismus 4 aus der Unmöglichkeit wissenschaftlicher Urteile über Werte (und über Sollen überhaupt) die Konsequenz, Rechtstheorie auf die Aussagen zu beschränken, die sich aus der logischen Struktur des (positiven) Rechtssatzes ergeben 29 . Trotz einiger Besonderheiten erhält der mitteleuropäische Betrachter hiervon die rascheste Anschauung durch Hans Kelsens ,Reine Rechtslehre 4 . Zwischen empirischem Sein des Rechts und verbindlichem Sollen seiner Inhalte vermittelt hier nur der positive Bestimmungscharakter des Rechtssatzes als Normbefehl oder „Gehorsamssignal44 (Olivecrona). Der logische Empirismus führt daher ähnlich folgerichtig wie die Reine Rechtslehre zum dezisionistischen Positivismus, den der Realismus insofern herausforderte, als er dem Rechtsanwendenden eindeutige materiale Bestimmungsgründe seiner Entscheidungen vorenthielt. 27 Einige Nachweise: Festschr. Gadamer 313 Α. 6 u n d bes. 324 A . 38; vgl. auch A. 43. 28 Alf Ross, O m Ret og Retferdigheid (1953) 53; On L a w and Justice (1958) 55 u. ö., kritisch Ilium (A. 26) 51 ff.; Jorgensen (Anm. 26) 262; über Viehwegs Empfehlung einer (möglichst allgemeinen) Ideologie kritisch Festschr. Gadamer 321 f. 29 Grundlagen: G. E. Moore, Principa Ethica (1903), danach J. L. Austin, bes.: H o w to Do Things w i t h Words (1962); Wittgenstein , Philosophische Untersuchungen (1958); dazu jetzt G. Roellecke, Grundfragen d. j u r . Methodenlehre u. d. Spätphilosophie L u d w i g Wittgensteins, i n : Festschr. für Gerh a r d M ü l l e r (Hrsg. Ritterspach u. Heiger, [1970], 323 ff.), i m besonderen H . H . Hart, The Concept of L a w (2. A u f l . 1969); St. Toulmin, The Place of Reason i n Ethics (1967); Julius Stone, Legal System and Lawyers Reasoning (1963); H u m a n L a w and H u m a n Justice (1965); über die nahestehenden dezisionistischen Theorien (Logic of Inquiry, Interaction, Dual Technique) bei J. Dewey, R. A. Wasserstrom, Makkonen ): Jorgensen, 276 f.; Vertrag u. Recht (1968) 136, 194 f.
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Die Möglichkeit einer ,deontischen Logik', die das Eingeben materialer Wertungen i n strenge logische Urteile ermöglichen würde, soll hier nicht weiterverfolgt werden.
3. Realismus und logischer Empirismus sind entgegen dem ersten Anschein keine Gegensätze, sondern ergänzen einander als Konsequenzen gemeinsamer Prämissen. Denn mangels objektivierbarer Wertungskriterien ist die Rechtsfindung allein auf die Verknüpfung des realen Falles m i t der hypothetischen Norm mittels, der W i l l k ü r und dem Zweifel entzogener logischer Prozesse zurückverwiesen. Wie i n der Interessenjurisprudenz sind Formalismus und Naturalismus die notwendigen Pole eines durchgehaltenen Wertrelativismus. 4. Die Fragestellungen dieser Theorie scheinen legitim. Sie treffen die Hinfälligkeit der nicht streng beweisbaren ,metaphysischen4 Prämissen wie den kritischen Punkt der Antinomie zwischen Gesolltsein und Wirklichkeit des Rechts: den nämlich, wo Entscheidungen zu treffen sind, für die auf eine bereits positivierte soziale Regel (ein Gesetz) nicht Bezug genommen werden kann. Dies entschädigt für die zuweilen wahrnehmbare Selbstgefälligkeit und das gereizte Insistieren auf den jeweils verkürzten und prononcierten Positionen, womit diese Theorien der Praxis zuweilen Steine statt Brot geben. Bevor der deutsche Rechtstheoretiker diesen Stil allzu w i l l i g übernimmt, sollte er nicht vergessen, daß, zumal i n den Staaten, eine ebenso selbstbewußte Routine unreflektierter Richtermacht den Intellektuellen der Universitäten vielleicht gerechteren Anlaß zu gereiztem Einspruch gibt als unsere Rechtsprechung, der man, wenn man es wohl bedenkt, eher mehr Selbstbewußtsein zu wünschen hätte. IV. Gesetzesauslegung. Juristische Hermeneutik 1. Zu den unstrengen Entscheidungsverfahren gehört wenigstens auf den ersten Blick die ehrwürdige Rechtsfindung durch Gesetzesauslegung. Bei näherem Zusehn ist indes ihre Stellung in dem hier erörterten Zusammenhang weniger eindeutig. Die juristische Auslegung, seit dem 19. Jh. als fachspezifische juristisches Verfahren isoliert, ist seit der heutigen Renaissance der allgemeinen Hermeneutik als Methode des Verstehens sinnhafter Textgebilde 3 0 („Erkennen des Erkannten": A. Böckh) wieder als Teilgebiet des anwendenden Verstehens (Applikation) erkannt und damit i n einen gesicherten methodischen Gesamtzusammenhang zurückgeführt. Herme30 Grundlegend Gadamer , Wahrheit u. Methode (2. Aufl. 1965); zur Vorgeschichte 7 ff.; 162 ff., 207 ff., 209 ff.; über die für die Jurisprudenz maßgebliche A p p l i k a t i o n 307 u. ö.; vgl. X I X d. 2. Aufl.
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neutik ist als methodische Anleitung zum Verstehen eines Textes (sei es einer überwirklichen Wort- oder Schriftoffenbarung, eines Gebots oder eines anderen Textes) das gemeinsame Organon aller K u l t u r w i s senschaften, die auf das Verstehen von Texten als wortgewordener, objektivierter Geist angewiesen sind: nämlich der Theologien, der Philologien und der Rechtswissenschaft. Dabei w i r d eine (dogmatische) Verbindlichkeit des Textes vorausgesetzt, wie dies Theologie und Jurisprudenz offen tun und bewahrt haben, und wie es sich i m normativen, nämlich pädagogischen (nicht historischen) Verstehen exemplarischer (»klassischer') Literaturtexte als verdeckte Prämisse erhalten hat. Die durch Schleiermacher u n d D i l t h e y ^ vorbereitete, durch die Existenzphilosophie 3 2 u n d die neuere Theologie 3 3 vollzogene Ausweitung der Hermeneutik von einer Methode des Verstehens von Texten zum Prinzip des V e r stehens des Heilsgeschehens oder der menschlichen Existenz (der conditio humana) oder des Seins als ,Text aller Texte' 3 4 bleibt hier vorerst außer Betracht (für die Klarstellung des Vorverständnisses u n d des hermeneutischen Zirkels vgl. sofort unten 2).
Die Auslegung 3 5 ist insofern ein unstrenges Begründungsverfahren, als sie nicht auf Erklärung ursächlicher oder logischer Wirkungszusammenhänge oder Gewinnung logischer Urteile, sondern auf Sinnverständnis zielt und sich daher i m Prinzip geschlossener Ableitungsketten nicht bedient. Auch kann sie den Einzeltext meist ohne Rückgriff auf den Kontext, d. h. i m Text nicht ausgedrückte Vorbedingungen, „Vorgriffe" und Erwartungen (wie die Regelungsabsicht des Gesetzgebers, seine Wertungen oder das „innere System", d. h. die Erwartung der „Geordnetheit" der Gesamtrechtsordnung) nicht anwendbar machen; und endlich ist sie auf das Zusammenspiel verschiedener Maximen (Kanones) angewiesen, zwischen denen eine zwingende Abfolge oder gar eine Hierarchie nicht hergestellt werden kann. Durch all dies scheint sich die Auslegung nicht nur von den strengen Ableitungen, sondern auch von der relativen Konsistenz der induktiven 31
Gadamer 162 ff., 207 ff.; vgl. 250 f. Gadamer 229 ff. 33 Grundlegend Bultmann (zusammenfassend: Das Problem der Hermeneut i k , i n : Glaube u n d Verstehen I I [1930] 211 ff.). 34 Gadamer 242ff.; bes. 246. Vorbehalte jetzt bei G. Patzig, Erklären u. Verstehen, i n : Neue Rundschau 1973, 392 ff. 35 E. Betti, Theoria generale della Interpretazione (1953), dtsch.: Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften (1967); zusammenfassender Überblick: Festschr. Rabel I I (1959) 79 f., („Hermeneutisches M a n i fest"); Mennicken, Das Ziel d. Gesetzesauslegung (1970) 75 ff., 91 ff.; Esser, Vorverständnis 113 ff.; Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten (1972), zuletzt Larenz, Die B i n d u n g d. Richters an das Gesetz als hermeneutisches Problem, i n : Festschr. f ü r E. R. Huber (1973) 291 ff. 32
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Begründungsverfahren zu unterscheiden. Indessen erfüllt sie dabei doch die Postulate einer Rechtsfindungsmethode (S. 424 oben), insofern die durch Auslegung gefundene Entscheidung sich als Anwendung einer allgemeinen Regel darstellt, nämlich des allgemeinen Rechtssatzes, der durch die Auslegung ermittelt worden ist. Darüber hinaus nähert sich besonders die sog. „ergänzende" Gesetzesauslegung der induktiven Rechtsgewinnung an. Zwar bleibt bei solchen älteren (darum nicht gegenstandslosen) Auslegungmaximen, wie der „historischen", „grammatischen" oder „syntaktischen" Auslegungen der Zusammenhang m i t einem durch vorgängige Erfahrungen gewonnenen rechtlichen Obersatz verdeckt: Begründungen aus dem Wortlaut, der Syntax, der empirischen Absicht des historischen Gesetzgebers haben als kontingente Elemente offenbar keinen expliciten Bezug zu den auch der induktiven Rechtsfindung zugrunde liegenden Wertungen (S. 438 f.) und nähern sich durch diesen enthymematischen Charakter i n der Tat der Topik an. Dagegen fällt die sog. systematische Auslegung, d. h. die Bewertung des Gesetzeswortes nach dem inneren Wertungszusammenhang der Gesamtrechtsordnung, i n der Sache m i t der induktiven Rechtsfindung mittels Analogie (oder Abweisung der Analogie aus dem gleichen Gesichtspunkt) zusammen; und Begriff und Name der sog. teleologischen Auslegung bekennen sich explicit zu dieser Identität. Je weiter sich die Auslegung vom sensus strictus löst und auf Kontexte zurückgreift, die i m Gesetzeswort selbst nicht erscheinen, desto mehr n i m m t sie, als sog. ergänzende oder fortbildende Auslegung, diesen Charakter induktiver Rechtsgewinnung an. 2. Soweit die herkömmliche juristische Auslegung. Inzwischen hat indessen die Vertiefung der allgemeinen Hermeneutik durch die A u f deckung des „Vorverständnisses" und des „hermeneutischen Zirkels" i n der Existenzphilosophie und der neueren Theologie auch die juristische Auslegungslehre erreicht 3 6 . Die Forderung des Vorverständnisses lehrt auch den Juristen, daß die Auslegung bereits für die Frage des Auslegenden an den Text ein Vor-Urteil (im Fall der juristischen Auslegung: ein Entscheidungsinteresse) voraussetzt, das er sich bewußt machen muß, wenn er die Auslegung dem intendierten Ziel (der Applikation) zuführen w i l l . I n engem Zusammenhang damit lehrt die Erfahrung des hermeneutischen Zirkels auch den Juristen, das die Geltungsbreite der gesetzlichen Norm — also des Vordersatzes des Modus ponens i m konventionellen Subsumptionsverfahren — i n Grenzfällen selbst nicht 36
Coing , Die j u r . Auslegungslehre u. d. juristische Lehre d. Hermeneutik (1965); Mennicken 91 ff., Esser, 133 ff. u. ö., jedoch m i t eigentümlicher Verflechtung m i t der Topik (153, 133 f.); dazu eingehend Xenion Zepos I (Athen 1973) 405 u. A. 36.
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unbeeinflußt ist durch die Erfahrung des neuen Falls, für den sich die Frage seiner Anwendung stellt 3 7 . Aber diese wichtigen Einsichten scheinen nicht das Maß von Strenge oder Unstrenge der Auslegung als Rechtsfindungsverfahren zu berühren, wie neuerdings wohl Esser annimmt, wenn er Vorverständnis und Zirkel ausdrücklich als I m p l i kationen des topischen Verfahrens i n Anspruch n i m m t 3 8 . V. Juristische Topik 1. Den bisher erörterten Verfahren der Rechtsfindung war gemeinsam ihr mehr oder minder strenger Charakter, wenn man darunter ihre Diskursivität und die Überprüfbarkeit ihrer Schlußfolgerungen versteht und deshalb (gegen Aristoteles) auch die nicht apodiktischen, sondern nur wahrscheinlichen Urteile als induktive „Schlüsse", etwa i n der Wertungsjurisprudenz, einbezieht. Hiermit werden sie den Forderungen eines objektivierten Begründungsverfahrens (und zugleich der formellen Gerechtigkeit) i n besonderem Maß gerecht. Andererseits sparen sie eben deswegen den ausdrücklichen Bezug auf die Forderungen der praktischen Vernünftigkeit oder den Common Sense aus, darunter verstanden das sozial Einleuchtende, ohne verwickelte Denkschritte Einsehbare von Entscheidungsbegründungen. Dies gilt freilich für die streng ableitenden Methoden (Axiomatik, Begriff sjurisprudenz, logischer Empirismus) i n höherem Maß als für die i n d u k tiven, sozial wertenden Begründungen der Interessenjurisprudenz.
Vor allem dieses Defizit hat Theodor Viehwegs bedeutendem Aperçu „Topik und Jurisprudenz" seine außerordentliche Resonanz verschafft 39 . U m eine sichere Plattform gerechter K r i t i k zu gewinnen, 37 Hierzu schon Radbruch (zuletzt Einf. i. d. Rechtswiss. 10. Aufl. 1961), 161 („Die Auslegung ist also das Ergebnis ihres Ergebnisses"); vgl. jetzt M. Diesselhorst, Die Natur der Sache als außergesetzliche Rechtsquelle (1968) 122 ff. u. ö.; Mennicken, 93 ff., Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle (1972) 86 ff.; am prononciertesten Hassemer, Tatbestand u n d Typus (1968) 14: „ E i n T a t bestand . . . ist dann u n d n u r dann eindeutig ausgelegt, w e n n die Summe aller (möglichen) Anwendungen i m Rahmen des Gesetzes u n d die Wahrheitswerte (wahr oder falsch) dieser Anwendungen bekannt sind"; vgl. auch 118 „Der Tatbestand ist unvollständig u n d bedarf des Sachverhalts" (109). „ d a m i t er hermeneutisch fruchtbar, d. h. auslegungsfähig u n d verstehbar w i r d " . Ä h n lich zuspitzend auch Esser, Vor ver st. 40 ff., 133. 38 So ausdrücklich Vorverst. 153: „ja, die W a h l der ,offenbar' i n Betracht kommenden Interpretationsweisen ist bereits durch topische" (von m i r kurs.) „Erwägungen gesteuert"; eben dort über die Beziehungen der Topik zum ,Vorverständnis 4 (vgl. 133 ff.); dazu Wieacker, Xenion Zepos I (Athen 1973) 405. 39 Topik u n d Jurisprudenz. E i n Beitrag zur rechtswissenschaftlichen G r u n lagenforschung (4. Aufl. 1969; 1. Aufl. 1953). Über weitere einschlägige A b -
28 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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empfiehlt sich eine knappe Rekapitulation dieser bekannten und so oft wiederholten Vorschläge 40 . Viehweg knüpft unmittelbar an Aristoteles' Topica und Ciceros gleichnamige Schrift Ad Trebatiwm an. Seinem Wortsinn nach ist ,Topos4 (Platz, Ort) sowohl der Problemsitz der Erörterung wie auch ein einschlägiger Gesichtspunkt für die Problemlösung 4 1 ; und Topik also die Kunst der Ortung des Problems wie der Auffindung (inventio) und Anwendung jener einschlägigen Gesichtspunkte. Aristoteles behandelt die Topik i m Zusammenhang der Beweisverfahren, und zwar als unstrenges Verfahren zur Herbeiführung vernünftiger Plausibilität und Übereinstimmung i n Fragen, die sich dem apodiktischen Beweis durch logische Urteile entziehen, und wo infolgedessen auf glaubwürdige Wahrscheinlichkeit rekurriert werden muß. Dieser aristotelische K o n t e x t scheint die Subsidiarität des topischen Beweisverfahrens nahezulegen: mögliche strengere rechtliche Begründungsverfahren schließen die topische Alternative aus. Aus dieser Einsicht scheint sich auch Viehwegs ursprüngliche (in der Sache verwirrende) Verknüpfung der Topik m i t der Problem aporie 42 zu erklären.
Aristoteles ist also zunächst auch hier an der Erkenntnis, nicht am richtigen Handeln, der Provinz der Ethik, interessiert. Es ist aber klar, daß die Herbeiführung von Übereinstimmung über anerkannte Gemeinwahrheiten (endoxa) alsbald eine soziale Leistung i m Auge hat: nämlich die einleuchtende Begründung von Entscheidungen. Der weitere Hauptsitz der Topik wurde daher die Rhetorik, und zwar das genus deliberativum und das genus iudiciale, welche beide auf Überredung zu einer (politischen oder rechtlichen) Entscheidung abzielen. Natürlich kann aber Topik auch außerhalb des politischen oder advokatorischen Rede-
handlungen vgl. Xenion Zepos 391 A . 1; weitere Anhänger der Topik Xenion 391 f. A. 2 - 5, 7 u. 12; ablehnende Stimmen 401 A. 25. Seitdem noch Taramelo ARSP Beiheft 39 (1963) 236ff.; Würtenberger M D R 69, 626ff.; A. Baratta, Juristische Analogie u. N a t u r d. Sache, i n Mensch u. Recht (Festschr. E r i k W o l f 1972) 149 f. — Z u r verwandten Neuen Rhetorik Perelmans, vgl. Festschr. Gadamer I I (1970) 327 u. A. 43 u n d jetzt X e n i o n Zepos 391 u. A . 2 m i t Nachweisen. 40 Die sorgfältigste Darstellung w o h l bei Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation (1967) 114 -156. Z u m allgemeinen wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang vgl. noch (neben Viehwegs Hauptschrift) Xenion Zepos 393 f. 41 Z u dieser nicht i m m e r gewürdigten Doppelfunktion klärend Kriele, 142 ff.; Bar atta 150: (Topos als endoxon bei Aristot.Top. 100 b 21 sqq; als sedes materiae Cicero Top. 116). 42 Viehweg (1. Aufl. 1953) 68: klarstellend bes. Kriele 120 ff., vgl. Xenion Zepos 403 u. A . 30 - 32). Zutreffend ist jedoch die Zuordnung der juristischen T o p i k zum juristischen (Wertungs)problem, auf das sich die Entscheidungsalternativen stets zurückführen lassen (unten S. 438 f.).
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kampfes i n den Dienst einverständlicher Deliberation, z.B. i m Kollegialgericht oder Beratergremium, gestellt werden. Lehrt die Topik also, für eine einschlägige Lebensfrage zunächst die Platform der Erörterung (den ,Sitz des Problems') zu bestimmen und sodann einschlägige Gesichtspunkte für und wider aufzufinden 43 , so gibt sie doch nicht an, welcher Gesichtspunkt i m Verhältnis zu anderen der ausschlaggebende sein soll und trägt damit zur Entscheidungswahi nicht unmittelbar bei. Als bewußte Begründungsstrategie hat auch die juristische Topik ihren Sitz i m Argumentationsprozeß und t r i t t also, soweit die sich als Methode der Rechtsfindung oder gar als ausschließende Methode versteht, i n einen notwendigen Gegensatz zu den bisher erläuterten strengeren Begründungsverfahren. 2. Die rasche Ausbreitung der juristischen Topik i n der neueren deutschen Methodendiskussion ist einer der Einbrüche aus der allgemeinen Wissenschaftstheorie, wie er für die heutige Schwächung des fachspezifischen Methodenbewußtseins der Jurisprudenz kennzeichnet ist. Von Haus aus bietet ja die Topik als typisch rhetorische Überredungstechnik einem versachlichten Begründungsverfahren, wie es die rechtliche Entscheidung voraussetzt, besonders geringe Handreichungen 44 . Ihre weite Resonanz erklärt sich offenbar erst daraus, daß sie mannigfachen Forderungen und Stimmungen entgegenkommt, welche die bisher überblickten Rechtsfindungsmethoden unbefriedigt ließen 45 . a) M i t dem Altern der Kodifikationen i m Gefolge der Änderung der sozialen und ökonomischen Daten und des Wertungswandels i n der Gesellschaft und besonders mit der Ausbildung des sozialen Rechtsstaates hat sich der Bereich der außergesetzlichen Rechtsfortbildung und damit der Bedarf nach einer griffigen Theorie dieser A r t von Rechtsgewinnung 4 6 ständig erweitert. Eben als solche empfiehlt sich die Topik, 43
So vor allem i n Cie. Top I I 8: der Ursprung der bis heute fortlebenden Topoi-Kataloge. Topoi der verschiedensten Kategorien, Stringenz u n d Geltungsbreite i n den heutigen Diskussionen; m a n vgl. Esser, Grundsatz u. N o r m 89ff. (verdienstliche Klassifikation u n d Typenbestimmung); H. Henkel, Einf. i. d. Rechtsphil. (1964) 164 ff. (von der Personhaftigkeit bis zur Rechtssicherheit); Horn N J W 67, 606 (u. a. Privatautonomie u n d Vertragsfreiheit); besonders ausführlich Struck, Topische Jurisprudenz. Gemeinplatz u. Argument i n d. j u r . A r b e i t (1971) 20 - 34 (64 Topoi, übrigens i n kritischer Absicht). Bei Viehweg selbst etwa „guter Glaube, Vertrauensschutz, die u n bestimmten Rechtsbegriffe. 44 Vgl. dazu Xenion Zepos I (1973) 394 u. 395. 45 Z u m folgenden eingehender X e n i o n 394 - 402, 405 - 407. 46 Die Leitwerke der juristischen Topik berufen sich daher oft schon i m Untertitel auf die „Rechtsfortbildung" (Esser, Grundsatz u n d Norm), „Rechtsfindung" (Esser, Vorverständnis u. Methodenw ä h l ; Käser, Z u r Methode d. röm. Rechtsfindung, Nachr. Gött. A k . Wiss. 1962, 1: zur T o p i k insbes. 53, 62 ff.); Würtenb erger (A. 39) oder „Rechtsgewinnung" (Kriele, A. 40). 28*
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d i e folgerecht n i c h t m ü d e w i r d , ü b e r die U n z u l ä n g l i c h k e i t d e r sumption, der D o g m e n b i l d u n g u n d der konventionellen
Sub-
Auslegungs-
m e t h o d e n b e w e g l i c h e K l a g e z u f ü h r e n 4 7 . O b sie d a m i t d e n F o r d e r u n g e n e i n e r spezifischen M e t h o d e rechtlicher
Entscheidungsbegründung
ge-
n ü g t , s o l l z u m A b s c h l u ß gesondert g e p r ü f t w e r d e n (S. 440). b) W e i t e r h i n scheint d i e T o p i k d e r v i e l g e f o r d e r t e n
Konsensfähigkeit
rechtlicher Entscheidungen entgegenzukommen48. Diese Forderung ist legitim. Rechtsordnungen sind soziale Regelsysteme, u n d Rechtsanwendung die Aktualisierung solcher Systeme: daher ist die gesellschaftliche Anerkennung der Rechtsnormen u n d die Zustimmung der Rechtsgenossen zu rechtsanwendenden Entscheidungen von jeher eine der wünschenswerten Funktionsbedingungen des Rechts qua Regelsystem. (Unzulässig wäre dagegen die Aufstellung 4 9 , der Konsens sei notwendige Geltungsbedingung des positiven Rechts: solche Auffassungen w ü r d e n den Regelungseffekt des Rechts gerade sofort außer Spiel setzen). Da n u n diese Zustimmung seit der (auch jszientistischen') Diskreditierung des Gesetzespositivismus durch die i n der Gesetzgebung der parlamentarischen Legislative artikulierte volonté générale u n d also auch durch die Anwendung dieser Normen wenigstens den K r i t i k e r n des parlamentarischen Gesetzgebungsmonopols nicht mehr verbürgt scheint, so findet der ,Konsens' als Legitimat i o n der Rechtsanwendung eine gesteigerte Aufmerksamkeit. E b e n d i e G e w ä h r l e i s t u n g dieses Konsenses v e r h e i ß t n u n d i e T o p i k , d a sie j a d a r a u f h i n w e i s e n k a n n , daß sie a u f H e r s t e l l u n g v o n Übereinstimmung ü b e r v e r n ü n f t i g e G e m e i n w a h r h e i t e n z i e l t . Indessen h a b e n (auch i n der M e i n u n g des A r i s t o t e l e s ) die T o p o i diese Ü b e r z e u g u n g s k r a f t zunächst n u r f ü r d i e D i s k u s s i o n s p a r t n e r u n d i h r e sachkundigen, d. h. m i t d e r T r a g w e i t e der spezifischen G e s i c h t s p u n k t e v e r t r a u t e n Z u h ö r e r . Diese G e m e i n w a h r h e i t e n s i n d n u r i n a l l g e m e i n e n L e b e n s f r a g e n allen v e r s t ä n d i g e n L e u t e n (ζ. B . d e r i n der a n t i k e n Ü b e r z e u g u n g s r h e 47
Repräsentativ jetzt wiederum Esser, Vorverständnis, bes. 7 - 1 3 (Einleitung, zugleich G r u n d tenor der ganzen Abhandlung). 48 Statt aller Esser, 14 ff., 154 u. ö. (Reg.). 49 Esser, Vorverständnis 16: „neben" (von m i r kurs.) „der Richtigkeitskontrolle" (sc. „zur Herbeiführung eines nicht n u r den Streitpartnern möglichen Konsenses") „ t r i t t die Stimmigkeitskontrolle" (am positiven Rechtssystem). „Die Uberbetonung dieser K o n t r o l l e " mache . . . „schon die logischen A k t e begrifflicher Rechtsanwendung oder Interpretation, als Ablenkung oder Verheimlichung (?) des rechtspolitischen Wertungsaktes i n der Entscheidung verdächtig"; ähnlich 154 gegen „Verbrämung topischer Richtigkeitsvorstellungen i n dogmatischer Verharmlosung"; „dem topischen A r g u m e n tieren" sei „eine solche Verzahnung m i t konstruktiven Dogmen fremd". Demgegenüber w i r k e n Essers Vorbehalte zugunsten der Autonomie der Rechtswissenschaft (14, 16 f.), und die heuristische Unterstellung der später (202 ff.) abgelehnten Luhmannschen Systemtheorie (S. 17) eher blaß. Z u treffend scheint uns n u r das „Angewiesensein" der Rechtsordnung auf K o n sensfähigkeit i n dem soeben i m Text vertretenen Sinn.
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torik angesprochenen Ekklesia oder den Laienrichtern der Volksgerichte, in der Predigt der Gemeinde) gegenwärtig und überschaubar. Aber solche Gemein Wahrheit en für jedermann sind i n einer differenzierten Rechtsordnung, dem Spiegelbild einer immer komplexeren Gesellschaft, entweder t r i v i a l oder agitatorisch und tragen für die Bildung sachgemäßer Überzeugung nichts aus. I n einer zunehmend arbeitsteiligen Welt schmilzt der Bereich allgemein verfügbarer und akzeptierter Gemeinwahrheiten immer erschreckender zusammen; sie reduzieren sich, wie Werbung, Reportage und Wahlagitation zeigen, auf immer ärmere Slogans: „Bitter not t u t uns eine starke Flotte" (Wilhelm II), „Keiner soll hungern und frieren" (Winterhilfswerk der Hitlerzeit), „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" 5 0 (Parteiprogramm der NSDAP), von aktuelleren Anwendungen zu schweigen. Gemeint ist denn auch von den Befürwortern der Topik vielmehr die fach juris tische Topik. A l l e i n diese spricht ja gerade nicht alle Rechtsgenossen an, sondern die fachlich Zuständigen (so i n Rom die anderen Fachjuristen und ihre jungen Volontäre; heute die Anwälte und die Instanzgerichte, die Referendare und etwa i m Gerichtssaal vertretene Rechtstudenten, schließlich die präsumptiven fach juristischen Urteilsrezensenten), und dies gibt ihr von vornherein den Charakter zunftmäßiger Exklusivität, den die römische oder englische Öffentlichkeit so oft verspottet hat, und der gerade herausfordernd konsensstörend ist. Denn als Funktionsbedingung des rechtlichen Regelsystems hat die Konsensforderung natürlich die Gesamtgesellschaft i m Auge, i n Rechtsangelegenheiten also alle verständigen Rechtsgenossen. Dazu kommt, daß die Topik den entscheidenden Gegenstand der Rechtsfindung, den Wertkonsens, leichter verschleiert als die offene Subsumption. Diese hat jedenfalls die strenge Überprüfbarkeit für sich, die das Ergebnis objektiviert. Noch allgemeiner läßt sich sagen: solange nicht eine voreingenommene Methodenkritik die schlichte Gesetzesanwendung rechtspsychologisch diskreditiert hat, ist das Begründungsverfahren, das ceteris paribus die größte Aussicht auf breite Zustimmung der Bürger hat, eben die schlichte Normanwendung durch Subsumption 5 1 ; aus dem einfachen Grund, daß die Anwendung eines allgemeinen Gesetzes „ohne Ansehn der Person" das am allgemeinsten anerkannte Element der Gerechtigkeit ist. Dabei ist nicht einmal immer Voraussetzung, daß jenes allgemeine Gesetz als solches Zustimmung findet; m a n denke an das gegenwärtig (Dezember 50
I n s t r u k t i v jetzt Stolleis, Gemeinwohlformeln i m nationalsozialistischen Recht (1973). 51 Gerade anders offenbar Esser, 35 ff., bes. 36 über „ I n f r a - u n d Suprastrukturen der Norm".
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1973) aktuelle Sonntags-Fahrverbot. A b e r auch abgesehen davon muß diese andere Kernfrage der Integration eines Regelsystems m i t den M i t t e l n der offenen rechtspolitischen Diskussion ausgetragen werden.
c) Endlich knüpfen sich an die Topik auch Erwartungen an eine außergesetzliche Rechisinnovation. Sie verschaffen ihr Zulauf auch aus dem Lager der Anhänger einer (mehr oder minder parlamentarischen) Gesellschaftsveränderung. Auch m i t den M i t t e l n der Topik könnte, so hofft man, die Rechtsordnung den veränderten Wertungen der Gesellschaft (oder der Gruppen, die sich für den Fortschritt der Gesellschaft als repräsentativ erklären) auch dann angepaßt werden, wenn Regierung und Parlamentsmehrheit zur Änderung des gesetzlichen Rechts nicht fähig, oder, etwa i m Hinblick auf eine minder progressive Wählerschaft, nicht geneigt sein sollten. Auch hier ist indes zu unterscheiden. Eine gemeinverständliche, überredende, ja agitatorische Topik ist zwar (je nachdem) auch wahllos innovationsbereit, aber noch anfälliger für Selbsttäuschungen oder bewußte Täuschungen als der offene Austrag widerstreitender Interessen und Wertungen i m rechtspolitischen Kampf. Andererseits hat die Fachtopik einer Juristenzunft nach allen geschichtlichen Erfahrungen, wo nicht geradezu traditionelle oder reaktionäre Züge (wie viele der schon von den klassischen römischen Juristen eingeschränkten regulae veterum), so doch stabilisierende und konservierende Funktionen. Gerade wegen seiner Suggestion ist der einmal ausgeformte Fachtopos („Handeln auf eigene Gefahr", „gefahrengeneigte Arbeit") meist resistenter gegen verändernde Wertungen als das offene Werturteil 5 2 . 3. Diese Schwächen scheinen auch i m grundsätzlichen Verhältnis der Topik zur offenen Wertung begründet. Probleme der offenen Rechtsfindung lassen sich durchweg auf soziale Wertungen zurückführen, also als Wertungsalternativen thematisieren 5 3 — wobei hierunter verstanden werden sollen nicht überwirkliche (und als solche nicht zu objektivierende) Werte, sondern alle Bestimmungsgründe einer E n t scheidimg, gleich ob sie sich auf Gründe der praktischen Ethik, der Berechenbarkeit oder der Zweckmäßigkeit berufen. (Dieser Wertbegriff entspricht etwa Hecks Interessenbegriff, dem Wertbegriff der Wertungsjurisprudenz oder Schmidt - Rimplers Richtigkeitsgewähr). Die Instanzen, w e l -
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Es gibt also gute Gründe für die Autonomie der juristischen Dogmatik gerade i m Hinblick auf ihre soziale Leistung, vgl. soeben bei A n m . 51. Was Esser (16, 154 u. ö., vgl. A n m . 49) der autonomen Dogmatik v o r h ä l t : „ V e r heimlichung des Wertungsaktes, Verbrämung u n d Verharmlosung", gilt gerade für die Topik. 53 Das klassische Paradigma dafür werden, trotz Einkleidung i n die eigenwillige Terminologie der Interessenjurisprudenz, immer Hecks „Grundrisse" des Schuld- u n d Sachenrechts bleiben.
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chen der Richter diese Wertungen e n t n i m m t 5 4 , sind: i n erster L i n i e das Gesetz als volonté générale (wobei aber von abweichenden Wertungen des historischen Gesetzgebers i n der Regel abzusehen ist); i n zweiter L i n i e der innere Wertungszusammenhang der Gesamtrechtsordnung, wie sie zur Zeit der Rechtsfindung aktualisiert ist; drittens — u n d vor allem bei der Rechtsfortbildung — die vernünftigen Durchschnittswertungen der m i t den Prämissen vertrauten oder durch Information vertraut gemachten Rechtsgenossen; u n d schließlich, w e n n darüber Übereinstimmung nicht besteht, die pflichtmäßige, auf eine der diskutierten u n d plausiblen Meinungen gestützte richterliche Überzeugung.
Was trägt für die Ermittlung dieser Wertungen die juristische Topik aus? Sie könnte sich darauf berufen, daß die von ihr empfohlenen vernünftigen und einleuchtenden Gesichtspunkte sich auf weite Strekken m i t den so verstandenen Wertungen decken. Gleichwohl haben sie gegenüber der offenen Artikulation der Wertungsalternativen den Nachteil, daß sie diese i n Gemeinsprüche einhüllen und undurchsichtig machen. Man hat nicht ohne Grund der Topik Fassadenhaftigkeit vorgehalten 5 5 : eine zur Rede gestellte Topik müßte entweder ihre Wertungen offenlegen oder sich als bloße Agitation decouvrieren. Vor allem können aber nur Begründungen aus offenen Wertungen i n konsistenten (induktiven) Begründungszusammenhängen dargestellt werden. Solcher Begründung bedürfen aber rechtliche Entscheidungen: sie müssen wegen der auszeichnenden Eigenschaft des Rechts, allgemeine Regel zu sein, so formuliert sein, daß die Entscheidung als Anwendung einer allgemeinen Maxime verstanden werden kann (S. 440). Dies ist i m folgenden näher zu begründen. V I . Juristische Topik (Fortsetzung) 1. Der spezifische Charakter der Rechtsanwendung als rechts förmig es öffentliches Handeln (S. 423 u.) w i r d durch zwei weitere Prämissen begründet, der denen eine bloß topische Erörterung des Für und Wider nicht genügt. Einmal sind rechtliche Entscheidungen i m Prinzip an positive Gesetze gebunden; diese Bindung reicht jedenfalls so weit, als der Kern dieser Vorschriften einem vernünftigen Zweifel an seiner Auslegung nicht unterliegt. Aber auch i n dem (hier wichtigeren) Bereich der „selbständigen" Gesetzesauslegung und der außergesetzlichen Rechtsfortbildung sind die Bestimmungsgründe der Entscheidung nicht 54 Statt aller Wieacker, Gesetz u. Richterkunst (1967); überwältigend reiche Veranschaulichung allenthalben i n Essers „Grundsatz u n d Norm". 55 Die Verteidigung der Topik dagegen durch Esser AcP 172 (1972) 124 f. bes. 125, steht i n einem gewissen Widerspruch zu seinem Zugeständnis (ebd. 126), daß typische Topoi w i e „wirtschaftliche Einheit", „Gefahrengemeinschaft" usf. „vordergründig verdeckende Leerformeln" sind.
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schlechthin frei und also bloß kontingent: sie müssen sich vielmehr wie jede andere rechtliche Entscheidung (und i m Gegensatz etwa zu w i r t schafts-, sozial- und außenpolitischen, strategischen oder ärztlichen) als Anwendung einer allgemeinen Norm darstellen 56 , so wie sie, mit den berühmten Worten Eugen Hubers (Art. 1 I I ZGB), der Gesetzgeber als Regel aufstellen würde. Diese Forderung folgt zwingend aus der Eigenschaft der Rechtsnorm, allgemein zu gelten, rechtssoziologisch: soziale Verhaltensregel zu sein 57 . Die bekannten Postulate der „Geordnetheit" und des „inneren Systems" der Rechtsordnung, der Gleichheit vor dem Recht (nicht nur vor dem Gesetz!), der formalen Gerechtigkeit oder der Rechtssicherheit sind nur verschiedene Fassungen oder Anwendungen dieser spezifischen Funktion des Rechtssatzes. Ein Verfahren zur Erkenntnis und Begründung einer allgemeinen Regel gibt aber eingeständlich die Topik nicht an — es sei denn, sie bezeichne zutreffend, aber leer als obersten Topos die Befolgung der gesetzlichen und außergesetzlichen Rechtsnormen (während ihr geheimer Leittopos, wollte man boshaft sein, eher der entgegengesetzte ist: „Keine Regel ohne Ausnahme"). Sie bleibt also den Aufweis zwingender und somit überprüfbarer Bestimmungsgründe für das allgemeine Richtigkeitsurteil schuldig, das jeder Rechtsanwendung zugrunde liegt. 2. Diese Aufstellung widerspricht nicht etwa der unbestrittenen Aufgabe der Rechtsanwendung, gesellschaftliches Leben zweckmäßig und förderlich zu ordnen. Sie hebt nur den spezifischen Weg hervor, auf dem gerade das Recht dies zu leisten hat. U m das recht zu verstehen, sei sofort hinzugefügt, daß ja keineswegs alles Handeln rechtsanwendender Instanzen „ i m Rahmen der Rechtsordnung" selbst auch schon Rechtsanwendung ist. Dies gilt nicht für die Eingriffs- und die Leistungsverwaltung, die zwar an die Gesetze gebunden, aber nicht durch Gesetze inhaltlich vorgeschriebenes Handeln ist; ferner nicht bei der Strafzumessung, den Resozialisierungsentscheidungen des Strafvollzugs oder gar i m weiten Spielraum des Jugendstraf rechts; es gilt endlich auch nicht für alle zivilrechtlichen Entscheidungen, die, von bestimmten Normen freigestellt, sich legitimerweise einem social engineering annähern, wie Vertragshilfe, Hausratsteilung und Prozeßvergleich, oder die Entscheidungen des Vormundschaftsgerichts über Genehmigung, Vermögens- und Personensorge oder Scheidungsfolgen und einige andere Entscheidungen der Freiwilligen Gerichtsbarkeit. I n all diesen Fällen sind die praktischen Vernunftgründe, die sich i m Lauf der Er56 Vorzüglich Larenz (Anm. 17); Diesselhorst (A. 37) 241 A. 17; vgl. auch Festschr. Gadamer I I 332 u. A. 60; Xenion Zepos I 409 u. A . 42 a. E. 57 Oben S. 424, vgl. P G N 494 A. 18; Xenion I 491 A. 45.
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örterung oder Überlegung als die einleuchtendsten erweisen, zureichende Bestimmungsgründe der Entscheidung; und es t r i t t dabei das topische Verfahren der Meinungsbildung v o l l i n seine Rechte und wird, wie die Begründung solcher Entscheidungen auf Schritt und T r i t t zeigt, auch regelmäßig befolgt. Dagegen sollte der Richter bei unbehebbaren Wertungswidersprüchen i n der Gesamtrechtsordnung 5 8 oder dort, wo i h n Generalklauseln ohne Weisung lassen, zwar i n der Sache selbständig entscheiden, aber die allgemeine Regel angeben, nach der er entscheidet (soeben bei A n m . 55): schon deshalb, damit sein U r t e i l Stufe eines weiteren richterlichen Rechtsbildungsprozesses sein kann.
3. Die Leistungen der Topik liegen i n einem anderen Feld: nicht i m „Begründungszusammenhang" (context of justification ), sondern i m „Entdeckungszusammenhang" (context of discovery) 59. Sie gibt zutreffende Empfehlungen für das Erörterungsverfahren, das der Entscheidung und ihrer Begründung vorausgeht. Die Diskussion des Problems und der möglichen Gesichtspunkte (gleich ob i m Abtausch der Schriftsätze und Plädoyers, i n der kollegialen Beratung oder i n der Brust des Einzelrichters) fördert die Heraushebung des rechtlich relevanten Tatbestandes aus dem anstehenden Sachverhalt, dessen Konstituierung heute zunehmend als erste Phase der Rechtsgewinnung erkannt w i r d (Anm. 37) und erleichtert die Auffindung der verfügbaren Bewertungsalternativen oder die Nachkontrolle der vom Entscheidenden bereits vorläufig anvisierten Alternative. Als tatsächliches Verfahren w i r d daher die Topik trotz allen Raisonnierens befolgt werden, solange Richter und andere „Rechtsanwender" leidlich vernünftige Menschen i n Fleisch und B l u t bleiben; und dies ist natürlich vollkommen i n der Ordnung. Nur sollte sie nicht, losgelöst von diesem legitimen Ort i n einer vernünftigen Praxis, szientistische Ansprüche auf den Rang einer konsistenten Methode der Rechtsfindung anmelden, denen sie — wie heute übrigens oft zugestanden — nicht gewachsen ist 6 0 . 58 Anders aber noch Xenion I 414 (bei Wertungs wider Sprüchen freie Topik) — Solche „Systembrüche" bei Canaris , Systemdenken 112 ff.; weitere Beispiele Larenz, Methodenlehre (2. Aufl.) 346f.; sorgfältige Analysen anhand der „Saldotheorie" bei Diesselhorst 222 ff. 59 Dazu vorzüglich Horak, Rationes decidendi I (Innsbruck 1969) 17 f., 49, 51 u. ö. 60 Ob die Topik eine Rechtsfindungsmethode ist, ist Gegenstand eines (eher akademischen) Streits. Viehweg selbst (153 u. ö.) leugnete ihre Methodenqualität; offenbar, w e i l er den Methodenbegriff — insoweit sicher zu eng — den deduktiven Verfahren u n d dem Systemdenken vorbehielt; w ä h rend Esser (Vorverständnis 151 ff.) i m Hinblick auf den notwendigen M e thodenpluralismus i n i h r eine methodenüberwindende Theorie der Praxis
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V I I . Zur Ökonomie der Rechtsfindungsmethoden in der Entscheidungspraxis 1. I m Rechtsstaat ist der Richter material an „Gesetz und Recht" gebunden (Art. 20 GG); i n einem wohlbedachten Zusammenhang damit schreiben i h m zahlreiche Verfahrensvorschriften eine Begründung der Entscheidung vor 6 1 . Da diese Begründungen i n der Regel von Instanzgerichten überprüfbar sind, müssen sie intellektuell objektiviert (in diesem Sinn: rational) sein; und da sie von den Revisionsgerichten auf „Gesetzesverletzung" (vgl. § 549 ZPO) und „Nichtanwendung oder nicht richtige Anwendung des Gesetzes" 62 (§ 550 ZPO) überprüft werden, müssen sie als Bestimmungsgrund der Entscheidung eine allgemeine Regel (Gesetz oder Rechtssatz: A r t . 2 EGBGB; A r t . 20 GG) erkennen lassen. Durch diese Grundsätze werden einerseits Bestimmungsgründe ausgeschlossen, die sich nicht auf allgemeine Maximen zurückführen lassen, wie es bei der Beschränkung der Begründung auf Topoi oder Gesichtspunkte des reinen social engineering der Fall wäre. Andererseits folgt aus ihnen, daß innerhalb dieser Voraussetzungen dem Richter oder anderen „Rechtsanwendern" die Anwendung einer ausschließenden wissenschaftlichen Methode der Rechtsfindung nicht vorgeschrieben ist. Vielmehr sind sie innerhalb des »rationalen 4, d. h. diskursiven Begründungszwangs m i t einer allgemeinen Regel, von weiterem Methodenzwang freigestellt, und es w i r d damit die Frage nach der Arbeitsteilung zwischen den hier skizzenhaft überblickten Rechtsfindungslehren und nach Abfolge und Zusammenspiel ihrer Momente i m Begründungsprozeß sinnvoll 6 3 . feiert. Bokeloh, Der Beitrag der T o p i k z. Rechtsgewinnung (Gött. Diss. 1973) 115 ff. spricht i n genauer Überprüfung der Topik Methodencharakter einleuchtend ab, w e i l sie die Entscheidungen weder ausschließlich noch zureichend determiniere (vgl. dazu oben bei Anm. 43) ; Diederichsen (NJW 66, 702 ff.) mangels V e r m i t t l u n g rational nachprüfbarer Einsichten; Horak (A. 59), w e i l sie i n den Entdeckungs-, nicht i n den Begründungszusammenhang gehöre. Diesen Meinungen w i r d zuzustimmen sein. 61 Z u m folgenden Festschr. Gadamer I I 333 f. u. A. 64. Daß die „ E n t scheidungsgründe" (§ 312 I Nr. 4 ZPO) nicht n u r die A n w e n d u n g eines „Gesetzes auf den Tatbestand" (ebd. Nr. 3) begründen müssen, ergibt sich aus dem sofort i m Text erörterten Revisionsgrund der §§ 549, 550 ZPO (Gesetzesverletzung", „unrichtige . . . Gesetzesanwendung") i n Verbindung m i t art. 2 EG B G B (,Gesetz' jede Rechtsnorm) u n d art. 20 GG („Gesetz u n d Recht"). 62 Darunter verstanden entweder die „Verkennung der Tatbestandmerkmale" oder die „der anzuwendenden N o r m " (statt aller bereits Baumbach), d. h. auch die unrichtige Qualifikation des Sachverhalts oder die unrichtige Subsumption des (richtig qualifizierten) Sachtatbestandes unter eine (richtig gewürdigte) Norm. 63 Hierzu etwa Kriele (A. 40); Canaris , Systemdenken 149 ff.; vgl. Festschr. Gadamer 323 ff. u. A . 6 2 - 6 6 ; weitere (ausi.) L i t . Α . 69.
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2. a) Für die Ortung des Rechtsproblems eines Sachverhalts und also für die „Konstitution des Tatbestandes" und für die erste Phase des Erörterungsverfahrens gibt, wie soeben gezeigt (S. 441), die juristische Topik zwar nicht bindende inhaltliche Weisungen, aber eine beherzigenswerte und exemplarische Deskription; dagegen kann sie für die Begründung der Entscheidungswahl nicht herangezogen werden. b) Die schlichte Subsumption bleibt i m Kernfeld des unzweifelhaften Gesetzestextes das angemessene, vom ursprünglichen Sinn der Gewaltenteilung und des Begründungszwangs („Gesetzesverletzung", „unrichtige Anwendung des Rechts") gemeinte Begründungsverfahren. Sie ist zugleich das einzige strenge und ableitende Verfahren, das sich i n der heutigen Rechtsfindung erhalten hat. c) Bereits die konventionelle Gesetzesauslegung enthält insofern Elemente der induktiven Rechtsfindung, als sie — außerhalb des Gesetzeskerns — implicit auf Typenbildung 6 4 und also auf induktive Ähnlichkeitsurteile angewiesen ist. Explicit sind diese Urteile bei der Gesetzes- und Rechtsanalogie und entsprechend bei der Abweisung der Analogie, ζ. B. kraft Umkehrschlusses oder Annahme einer Ausnahmevorschrift und bei der „restriktiven" Auslegung, sowie bei den Urteilen der Interessen- und Wertungsjurisprudenz und der sog. teleologischen Auslegung über die Schutzwürdigkeit eines i m Gesetzestext nicht ausdrücklich bezeichneten Interesses. Diese drei letzten Versionen machen zugleich sichtbar, auf welches gemeinsame Element der als ähnlich 4 gewerteten Fälle (des vergleichenden und des zu entscheidenden) sich das Ähnlichkeitsurteil gründet, nämlich auf die Übereinstimmung des sozialen Wertes (der Billigkeit, Zweckmäßigkeit, eindeutigen Anwendbarkeit) der durch den Vergleich induktiv gewonnenen Entscheidungsregel. 3. Subsumption und alle induktiven Verfahren genügen den beiden Bedingungen der Rechtsanwendung (S. 424), daß die Entscheidung durch überprüfbare und widerspruchsfreie Urteile begründet ist und sich als Anwendung einer allgemeinen Maxime darstellt. Aus dem gleichen Grunde ist das topische Verfahren zur Begründung von Entscheidungen auf den Bereich solchen rechtsförmigen Handelns beschränkt, das nicht durch Gesetz und Recht inhaltlich bestimmt ist und sich also dem ,freien' verantwortlichen Handeln (social engineering) annähert.
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Z u m Typenbegriff i n der neueren Rechtswissenschaft statt aller etwa Hassemer (A. 37); Larenz, Jur. Methodenlehre (2. Aufl. 1969) 447 ff., Stig Jorgensen, Typologie u. Realismus, i n Nachr. d. Gött. A k . d. Wiss. 1971, Nr. 3, S. 55 ff.
V. Staat und Kirche
Grundrechtsbindung der Kirchen? Von Konrad Hesse
Zu den charakterisierenden Zügen der neueren Rechtsentwicklung i n der Bundesrepublik gehört die stetig wachsende Bedeutung der Grundrechte. Es war zunächst ihre „klassische" Funktion als Menschenrechte, die sie nach den Jahren des diese Rechte mißachtenden Regimes zu tragenden Elementen der heutigen rechtsstaatlichen Ordnung werden ließ. Schon bald wurde auch ihre konstituierende Bedeutung für die demokratische Ordnung des Gemeinwesens erkannt. Nunmehr treten Fragen ihrer Deutung unter den Bedingungen des modernen Sozialstaats mehr und mehr i n den Vordergrund. Diese Entwicklung hat weit über die Ausgangslage eines Verständnisses der Grundrechte als A b wehrrechte gegen hoheitliche Eingriffe der Staatsgewalt hinausgeführt: Grundrechte erscheinen zugleich als Mitwirkungsrechte, als, wenn auch problematische, Teilhaberechte, als Elemente objektiver Gesamtordnung, als Richtlinie und Rahmen der Staatstätigkeit 1 , mit den Folgen weiter Ausdehnung ihrer gegenständlichen Tragweite, wesentlicher Auswirkungen auf alle Bereiche der Rechtsordnung und zunehmender Einschränkung des Satzes, daß Adressaten der durch die Grundrechte begründeten Verpflichtungen allein die staatlichen Gewalten i n Wahrnehmung ihrer Hoheitsfunktionen sein können. Daß solche Ausweitung kritisch bedacht sein w i l l , daß sie einen, gegebenenfalls unangemessenen und bedenklichen, Preis kosten kann, w i r d dabei nicht selten übersehen. Der unvermittelte Rückgriff auf grundrechtliche Erwägungen zur Lösung konkreter, jenseits der überkommenen Grundrechtstatbestände liegender Probleme erscheint so evident, daß er weiterer Überlegung und Begründung nicht bedarf. So verhält es sich auch mit dem hier zu erörternden Ausschnitt aus der Problematik, die jene Entwicklung auf w i r f t : der Bindung der Kirchen an Grundrechte, die i n der staatlichen Verfassung gewähr1
17. Scheuner, Die F u n k t i o n der Grundrechte i m Sozialstaat. Die G r u n d rechte als Richtlinie u n d Rahmen der Staatstätigkeit, DÖV 71, 505 ff.
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leistet sind 2 . Staatliche Gerichte haben eine solche Bindung ohne nähere Begründung angenommen 3 . Ein kirchliches Gericht ist den gleichen Weg gegangen 4 . I n der höchstrichterlichen Rechtsprechung wurde die Frage bisher nicht beantwortet. Das Bundesverfassungsgericht hat sie offengelassen 5 ; das Bundesverwaltungsgericht hat auf eine Festlegung verzichtet, weil Grundrechte i m konkreten Falle nicht verletzt waren, was eingehend geprüft und begründet wurde 6 — i m gleichen Atemzuge ist das Gericht allerdings ohne Begründung und ohne Prüfung einer etwaigen Verletzung davon ausgegangen, daß A r t . 33 Abs. 5 GG i m Verhältnis von kirchlichen Bediensteten und kirchlichem Dienstherrn „nicht anwendbar" sei 7 . Eine vertiefte Analyse und Würdigung der Problematik findet sich nur i n einigen literarischen Äußerungen aus jüngerer Zeit. Diese gehen verschiedene Wege, und die Ergebnisse reichen von einer weitgehenden Grundrechtsbindung der Kirchen 8 über differenzierende Lösungen 9 bis zur prinzipiellen Verneinung einer Bindung 1 0 . Der Jubilar, dem diese Zeilen gewidmet sind, hat mit gutem Grund die praktische Dringlichkeit dieser Problematik bezweifelt 11 . Sie stellt 2
Die Frage der B i n d u n g kleinerer Religionsgemeinschaften, auch solcher m i t dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, ist ohne p r a k tische Bedeutung. Sie bleibt hier außer Betracht. 3 So geht etwa das V G Minden, Z e v K R 15 (1970) S. 418 (423) m i t Selbstverständlichkeit von einer Bindung der Kirchen an A r t . 4 GG als „ f ü r alle geltendes Gesetz" i. S. des A r t . 137 Abs. 3 W R V aus. Das O V G Lüneburg, Z e v K R 15 (1970) S. 267 (270), hat ohne ein W o r t der Begründung der A u f fassung zugestimmt, daß die Kirche „gegenüber ihren Bediensteten die allen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland garantierten Grundrechte beachten muß u n d demzufolge verpflichtet sei, ihre Geistlichen i. S. des A r t . 3 GG ,gleich' zu behandeln". 4 Kirchengericht Berlin-Brandenburg, U r t e i l v o m 30. 5.1964 — K G 1/64 —. Die hier wesentlichen Passagen abgedruckt bei Frank, Z u r Rechtswirksamkeit der kirchlichen Ruhensvorschriften, Z e v K R 11 (1964/65) S. 280 (297 f.). 5 BVerfGE 18, 385 (387). 6 B V e r w G E 28, 345 (351); 30, 326 (331). 7 B V e r w G E 28, 345 (351); 30, 326 (332). 8 H. Säcker, Die Grundrechtsbindung der kirchlichen Gewalt, DVB1. 1969, 5 ff. 9 H. Weber, Die Grundrechtsbindung der Kirchen, Z e v K R 17 (1972) S. 386 ff.; E. Wufka, A r t . 33 Abs. 5 GG u n d das kirchliche Dienstrecht, Z e v K R 16 (1971) S. 198 ff. 10 W. Rüfner, Die Geltung von Grundrechten i m kirchlichen Bereich, i n : Essener Gespräche zum Thema Staat u n d Kirche 7 (1972) S. 9 ff. Vgl. auch A. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht (1973) S. 87 f. 11 W. Weber, „Allgemeines Gesetz" u n d „ f ü r alle geltendes Gesetz", i n : Festschrift für E. R. Huber (1973) S. 199.
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sich indessen einer Rechtsprechung, der offenbar die klare Orientierung fehlt; sie trägt die Gefahr von Fehlentwicklungen i n sich, denen schon i n den Anfängen gewehrt werden sollte; sie enthält endlich Vorfragen, deren Tragweite wesentlich über die des engeren Themas hinausreicht. Das mag den folgenden Versuch einer Klärung rechtfertigen. Diese setzt die angemessene Erfassung und Einordnung der Problematik voraus (I). Weiterhin bedarf es einer Würdigung der i n Betracht kommenden rechtlichen Lösungsansätze, und zwar des Versuchs, ein Ergebnis durch Bereichsabgrenzung zu gewinnen (II), einer Bindung der Kirchen an Grundrechte als „für alle geltende Gesetze" (III) und einer unmittelbar von Verfassungs wegen bestehenden Grundrechtsbindung (IV). Die Folgerungen, die daraus zu ziehen sind, sind abschließend festzuhalten (V).
I. Es begründet die Eigenart der Fragestellung, daß die geläufigen Grundlagen einer Bindung an die Grundrechte sich nicht oder nicht ohne weiteres auf Rechtsverhältnisse zwischen Kirchen und Grundrechtsberechtigten übertragen lassen. 1. Für die staatlichen Gewalten begründet die Verfassung nur Pflichten und Kompetenzen; sie sind ausnahmslos an die Grundrechte gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG), und zwar unabhängig von der Rechtsform ihres Tätigwerdens, jedenfalls dann, wenn unmittelbar öffentliche Aufgaben wahrgenommen werden. Infolgedessen kann hier ein Konf l i k t mehrerer Freiheiten, der Freiheit des Bürgers oder eines sonstigen Grundrechtsberechtigten hier, der des Grundrechtsadressaten dort, nicht entstehen. Sehr viel komplexer stellt sich das Problem dar, sobald die Kirchen als Grundrechtsadressaten i n Betracht gezogen werden. Gewiß kann es auch hier, ähnlich wie i m Verhältnis des Bürgers zum Staat, um die Erhaltung und den Schutz individueller Freiheit gehen, deren Kern durch die Grundrechte gewährleistet wird. Doch schon auf der Seite des Adressaten besteht die Besonderheit, daß die Kirchen nicht i n der ausnahmslosen Gebundenheit der staatlichen Gewalten, sondern ihrerseits in einem verfassungsrechtlichen Status der Freiheit stehen. Schließlich bedürfen die besondere Position und die Aufgaben des Staates der Beachtung, der beide Freiheiten zu schützen verpflichtet ist. Die Frage nach der Grundrechtsbindung der Kirchen führt auf eine Konstellation, wie sie auch sonst für das Verhältnis von Staat und Kirche typisch ist: Bürgerfreiheit und Kirchenfreiheit, die Neutralität 29 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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des Staates und seine Verpflichtung zur Freiheitsgewährleistung sind i m Spiele 12 und müssen bei der Problemlösung berücksichtigt werden. 2. „Grundrechtsbindung der Kirchen" ist daher primär ein Problem staatskirchenrechtlicher Ordnung. Maßgebend für die rechtliche Beurteilung und Zuordnung der i n Frage stehenden Lebenssachverhalte ist A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 137 W R V 1 3 . Diese Bestimmung, Grundelement des Verhältnisses von Staat und Kirche, darf freilich nicht von der durch das Grundgesetz geschaffenen verfassungsrechtlichen Gesamtordnung isoliert werden: die durch A r t . 140 GG inkorporierten A r t i k e l der Weimarer Verfassung sind einbezogen i n die Gesamtentscheidung der Verfassung, die nur als Einheit begriffen werden kann 1 4 . Soweit es u m Fragen der Gewährleistung kirchlicher Freiheit und ihrer Grenzen geht — für Verfassungsbestimmungen wie A r t . 138 Abs. 2 WRV w i r d anderes gelten — kommt es deshalb darauf an, die einschlägigen Verfassungsnormen nach gleichen Grundsätzen zu konkretisieren wie andere verfassungsrechtliche Freiheitsgewährleistungen. Das schließt die Berücksichtigung der sachlichen Besonderheiten des Verhältnisses von Staat und Kirche nicht aus, wohl aber eine einseitige Beschränkung auf diese Besonderheiten m i t der Auswirkung eines Vorrangs historischer Interpretation 1 5 . Die Grundannahme, daß das Grundgesetz geschichtlich überkommene Deutungen festgeschrieben habe, würde das Staatskirchenrecht zum Fremdkörper innerhalb der Verfassung werden lassen und es darum — letztlich auch für die Kirchen selbst — unvermeidlich entwerten 1 6 . Auszugehen ist von A r t . 137 Abs. 1 und Abs. 3 WRV. Abs. 1 schließt es aus, kirchliche Gewalt ohne weiteres der — stets grundrechtsgebun12 Vgl. dazu A. Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, V V D S t R L 26 (1968) S. 101. 13 Die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Länderverfassungen können außer Betracht bleiben. Vertragsrecht ist nicht einschlägig. — V e r zichtet w i r d hier auf eine Erörterung naturrechtlicher Fragestellungen, wie sie der V I . Senat des Bundesverwaltungsgerichts i n Erwägung zieht, wenn er zu der Auffassung neigt, „daß die v o m Staat als ,staatsunabhängig 4 anerkannte kirchliche öffentliche Gewalt jedenfalls an staatsunabhängige Grundrechte gebunden ist, soweit diese jedem öffentlichen Recht vorgegeben, somit i m Kernbereich v o n jeder weltlichen Regelung zu respektieren sind". Der Senat hält es freilich f ü r nicht geraten u n d verfrüht, sich hier vorgreifend festzulegen (BVerwGE 28, 345 [351]). 14 BVerfGE 19, 206 (219); 33, 23 (27). Vgl. auch B V e r w G E 37, 344 (361, 364). 15 Vgl. dazu auch H. Weber, Grundprobleme des Staatskirchenrechts (1970) S. 34f.; Ch. Link, Neuere Entwicklungen u n d Probleme des Staatskirchenrechts, i n : Deutsches u n d österreichisches Staatskirchenrecht i n der Diskussion (1973) S. 31 ff. 16 Dazu eingehend K. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip (1972) S. 154 ff.
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denen — staatlichen Gewalt gleichzusetzen. Vor allem ist jedoch Abs. 3 von Bedeutung, der den Kirchen und Religionsgemeinschaften das Recht gewährleistet, ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten. Soweit das kirchliche Selbstbestimmungsrecht reicht, muß Grundrechtsbindung der Kirchen sich immer als Einschränkung dieses Rechts auswirken; die Frage erweist sich dann als solche nach dessen Grenzen. Da das Selbstbestimmungsrecht verfassungsrechtlich gewährleistet ist, müssen auch diese Grenzen eine Grundlage i n der Verfassung finden: nur i n dem Umfang, i n dem eine solche sich nachweisen läßt, kann eine Grundrechtsbindung der Kirchen i n Angelegenheiten ihres Selbstbestimmungsrechts angenommen werden. Anders verhält es sich nur dort, wo die Kirchen i n Angelegenheiten tätig werden, die nicht ihrem Selbstbestimmungsrecht unterliegen. Üben sie hier vom Staat übertragene öffentliche Gewalt aus, wie namentlich i m Kirchensteuerwesen, so unterliegen sie auch der Bindung der staatlichen Gewalten an die Grundrechte 17 . Werden sie i n sonstiger Weise tätig, so ist die Frage ihrer Grundrechtsbindung die gleiche wie die nach der Grundrechtsbindung Privater. Insoweit gelten also keine Besonderheiten. Die spezifische Problematik entsteht allein, wenn die Frage nach einer Grundrechtsbindung in Angelegenheiten des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts gestellt wird. Nur dieser ist i m folgenden unter Beschränkung auf die verfassungsrechtlichen Grundlinien nachzugehen. II. Nicht weiterführen kann der Versuch einer differenzierenden Lösung durch Abgrenzung von „Bereichen" innerhalb des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, wie i h n H. Weber auf der Basis seiner i n früheren Arbeiten entwickelten Grundposition 1 8 unternommen hat: i n dem durch A r t . 137 Abs. 3 WRV verfassungsrechtlich gewährleisteten kirchlichen Innenbereich, i n dem der Staat den Kirchen das „forum internum" freigebe, verzichte der Staat auf jegliche Ingerenz; deshalb seien die Kirchen hier weder an das „für alle geltende Gesetz" noch an die Grundrechte gebunden 19 . Soweit indessen kirchliches Wirken i n Wahrnehmung „eigener Angelegenheiten" diesen Bereich verlasse und i n den Raum übergreife, der vom weltlichen Recht geregelt werde und 17
BVerfGE 30, 415 (422) m. w. N.; vgl. auch Säcker (Anm. 8) S. 5; H. Weber, Grundrechtsbindung (Anm. 9) S. 401 f.; Rüfner (Anm. 10) S. 12 ff. 18 Hinweise (Anm. 9) S. 396 f. 19 Ebenda (Anm. 9) S. 402 f.; ähnlich Säcker (Anm. 8) S. 8 f. 29*
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geregelt werden dürfe, sei es an jedes staatliche Gesetz gebunden, das die Kirchen nicht speziell als Religionsgemeinschaften, sondern als statusunterworfene Rechtssubjekte anspreche. I n diesem Bereich komme es darauf an, ob die Kirchen wie jedermann am Rechtsverkehr teilnehmen: hier entfalteten die Grundrechte allenfalls Drittwirkung, namentlich über die Generalklauseln des Privatrechts 20 , oder ob die Kirchen kraft ihres Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts (Art. 137 Abs. 5 WRV) — der voll dem Bereich „weltlicher Hoheitsgewalt" zugeschlagen w i r d 2 1 — i n Formen öffentlichen Rechts tätig würden: hier seien sie wie die staatlichen Gewalten voll an die Grundrechte gebunden. Denn für den Gewaltunterworfenen spiele es keine Rolle, ob i h m der Staat oder die Kirche m i t echter Hoheitsgewalt entgegentrete. Der Schutz gegen diese überlegene Gewalt sei für ihn allen Trägern gegenüber gleichermaßen unentbehrlich. Deshalb sei hier die Annahme einer „Fremdbindung" unumgänglich. Bestätigt werde dieses Ergebnis dadurch, daß der Staat keine andere Hoheitsgewalt übertragen könne als er selbst besitze; seine Hoheitsgewalt aber sei eben durch ihre Grundrechtsgebundenheit gekennzeichnet 22 . Ein solcher Versuch prinzipieller Bereichsscheidung muß die Problemlage des A r t . 137 Abs. 3 WRV verfehlen; er trägt in die Bestimmung eine Spaltung, die mit dem Text nicht i m Einklang steht. Das Verhältnis von Staat und Kirche läßt sich mit der verräumlichenden Vorstellung von „Bereichen" nicht erfassen. Es ist vielmehr eine Frage der Zuordnung menschlichen Wirkens i n der einen Welt, das immer Menschen betrifft, die zugleich Mitglieder ihrer Kirchen und Bürger sind. Zwar kann das Wirken der Kirchen jeweils i n einem engeren oder weiteren Zusammenhang mit ihrem geistlichen Kern stehen 23 ; aber das ist etwas anderes als der Versuch, i n später A n knüpfung an die ältere, seit langem als unzureichend erkannte Unterscheidung von „inneren" und „äußeren" Kirchenangelegenheiten einen „inneren" Bereich des vom Staate freigegebenen „forum internum" der Kirchen gegen einen „äußeren" Bereich von Angelegenheiten abzuheben, i n dem staatliche Aufgaben berührt werden 2 4 . Derartige Scheidungen lassen sich in den vielfältigen Überlagerungen und Verzahnun20
Ebenda (Anm. 9) S. 404 ff. Ebenda (Anm. 9) S. 413. 22 Ebenda (Anm. 9) S. 412. 23 U. Scheuner, Die verfassungsmäßige Verbürgung der Gewissensfreiheit, ZevKR 15 (1970) S. 252. 24 Vgl. dazu etwa G. Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat I (1912) S. 283, 286, 308; M. Hechel, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, V V D S t R L 26 (1968) S. 40 f.; Schiaich (Anm. 16) S. 176 f. 21
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gen staatlichen und kirchlichen Wirkens häufig nicht durchführen; sie verfehlen die Eigenart des i n seiner Wahrnehmung verfassungsrechtlich geschützten kirchlichen Auftrags, der nicht auf ein nur „internes" Wirken beschränkt ist; sie setzen die Möglichkeit voraus, das, was heute „staatliche" Aufgabe ist, mit hinreichender Deutlichkeit zu bestimmen, und sie können auch nicht dem Anspruch größerer Rationalität gerecht werden, weil sie, wie H. Weber selbst einräumt 2 5 , die praktisch allein wesentliche Problematik staatlicher Einwirkung nur auf die Frage der Abgrenzung zwischen den einzelnen „Bereichen" verlagern und damit den Interpreten auf Größen verweisen, die als klar abgrenzbare nicht erfaßbar sind. Es hat deshalb seinen guten Sinn, wenn A r t . 137 Abs. 3 WRV i n unzweideutiger Wortfassung den Begriff „ihre Angelegenheiten" als einen einheitlichen normiert. Er enthält keinen Ansatz für jene Scheidung der Bereiche und damit auch für die auf ihr beruhenden Aussagen über eine Grundrechtsbindung der Kirchen, namentlich für die Argumentation aus A r t . 137 Abs. 5 WRV, auf die noch zurückzukommen sein wird.
III. Wenn die Frage der Grundrechtsbindung der Kirchen eine solche der verfassungsrechtlichen Grenzen ihrer i n A r t . 137 Abs. 3 WRV gewährleisteten einheitlichen Freiheit ist (oben I 2), dann kann es nur darauf ankommen, ob Grundrechte solche Grenzen enthalten. Das Grundgesetz begrenzt die Freiheit der Kirchen zunächst durch die „Schranken des für alle geltenden Gesetzes". Können Grundrechte „für alle geltende Gesetze" sein? 1. Daß dies jedenfalls für eine Reihe von Grundrechten der Fall sei und daß die Kirchen insoweit an Grundrechte gebunden seien, ist verschiedentlich angenommen worden. Eingehender hat H. Säcker diese These begründet. Anknüpfend an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 26 versteht er unter „für alle geltenden Gesetzen" elementare Normen, die aus Gründen der Gerechtigkeit für das staatliche und kirchliche Leben gelten 27 . Dies sei bei einer Reihe von Grundrechten der Fall 2 8 . Da die Kirchen i m Bereich ihres Mitgliedschafts- und Ämterrechts „öffentliche Gewalt" i m Sinne des § 90 BVerfGG ausübten, sei 25 26 27 28
Ebenda (Anm. 9) S. 417. Β GHZ 22, 383 (387); 34, 372 (374). Säcker (Anm. 8) S. 6. Ebenda (Anm. 8) S. 6 ff.
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bei einer Verletzung solcher Grundrechte durch die kirchliche Gewalt nach Erschöpfung des Rechtswegs die Verfassungsbeschwerde zulässig 29 . Die Interpretation des „für alle geltenden Gesetzes" durch den Bundesgerichtshof, auf der diese Lösung beruht, ist bekanntlich eine Fortentwicklung der Formel von Johannes Heckel aus dem Jahre 1932, die sich nach Inkrafttreten des Grundgesetzes i n Schrifttum und Rechtsprechung weithin durchgesetzt hat 3 0 . Nach dieser ist es ausschlaggebend, ob ein Gesetz für die Nation als politische, K u l t u r - und Rechtsgemeinschaft unentbehrlich ist. Das w i r d den Grundrechten kaum bestritten werden können, und so mag von hier aus eine schlüssige Lösung möglich scheinen. Diese steht und fällt freilich m i t der Tragfähigkeit der Heckeischen Deutung, die sich i n der Gegenwart grundsätzlichen Einwänden ausgesetzt sieht: abgesehen davon, daß sie eine rationale Abgrenzung nicht ermögliche, sei sie unzutreffend, weil die Kirchen und Religionsgemeinschaften unstreitig auch an staatliche Gesetze gebunden seien, die nicht als für die Gesamtnation unentbehrlich betrachtet werden könnten; die Formel trage schließlich die Gefahr i n sich, daß den Kirchen und Religionsgemeinschaften staatliche „Unabdingbarkeiten" aufgezwungen würden, die ihrer theologisch begründeten Eigenstruktur unangemessen seien 31 . Das sind Einwände von Gewicht, die freilich noch nicht die zentralen Bedenken treffen. Diese liegen einerseits i n dem Begriff der „Nation als politische, K u l t u r - und Rechtsgemeinschaft", der i n der Gegenwart, wenn auch sicher nicht erst in dieser, problematisch geworden ist. Sie liegen anderseits darin, daß hier der Zusammenhang der verfassungsrechtlichen Regelungen des Verhältnisses von Staat und Kirche mit der Gesamtverfassung nicht nur unberücksichtigt bleibt, sondern gänzlich zerschnitten wird. Gerade eine solche Isolierung ist jedoch, wie oben (I 2) gezeigt, m i t einem Verständnis der Verfassung als Einheit unvereinbar. Die Freiheit des Grundgesetzes ist i n allen seinen Bestimmungen die unteilbare, verfassungsrechtlich bestimmte und begrenzte Freiheitlichkeit des ganzen Gemeinwesens. Dies schließt es aus, Begrenzungen der kirchlichen Freiheit prinzipiell anders zu verstehen 29
Ebenda (Anm. 8) S. 9 f. J. Heckel, Das staatskirchenrechtliche Schrifttum der Jahre 1930 u n d 1931, Verw. Arch. 37 (1932) S. 282 ff. = (auszugsweise) i n : Das blinde u n deutliche W o r t „Kirche", Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Siegfried G r u n d mann (1964) S. 390 ff. 31 H. Quaritsch, Kirchen u n d Staat, Der Staat 1 (1962) S. 289 ff., auch i n : Quaritsch - Weber, Staat u n d Kirchen i n der Bundesrepublik. Staatskirchenrechtliche Aufsätze 1950 - 1967 (1967) S. 283 ff. Vgl. auch U. Scheuner, (Anm. 23) S. 252; A. Hollerbach, Verträge zwischen Staat u n d Kirche i n der Bundesrepublik Deutschland (1965) S. 121. 30
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als andere Freiheitsbegrenzungen: eine — möglicherweise modifizierte — Übernahme der Heckeischen Formel muß auch und vor allem am Grundsatz der Einheit der Verfassung scheitern. Damit entfällt auch die Möglichkeit, auf diesem Wege eine Grundrechtsbindung der K i r chen zu begründen. 2. I n einer gewissen Anknüpfung an die während der Weimarer Zeit, namentlich von G. Anschütz und G. J. Ebers entwickelten Lehren, gehen neuere Deutungen des Inhalts der Schrankenformel bei manchen Unterschieden, aber doch auch i n wesentlicher Übereinstimmung 3 2 einen anderen Weg: „für alle geltende Gesetze" sind danach nichts anderes als „allgemeine Gesetze"; Sonderrecht gegen die Kirchen erscheint schlechthin ausgeschlossen, während i m übrigen jede verfassungsmäßige Rechtsnorm „für alle geltendes Gesetz" i m Sinne des A r t . 137 Abs. 3 WRV sein kann 3 3 . Eine wesentliche Modifikation dieser A u f fassung bedeutet es, wenn dabei auf die Notwendigkeit hingewiesen wird, die innere Sachbeziehung zwischen Freiheitsgarantie und „ f ü r alle geltendem Gesetz" zu beachten 34 ; es bedürfe daher i m Einzelfall einer Abwägung, wie sie aus der Rechtsprechung zu Art. 5 GG geläufig sei 35 . Dieses Verständnis w i r d i m wesentlichen der Aufgabe gerecht, die Bedeutung der Schrankenformel i n Bindung an den Text des A r t . 137 Abs. 3 WRV und unter Beachtung der dargelegten Grundsätze von ihrer Funktion i m Zusammenhang der verfassungsrechtlichen Gesamtordnung des Grundgesetzes her zu entwickeln. Diese besteht ebenso wie bei anderen unter Gesetzesvorbehalt stehenden Freiheitsrechten 32 Darauf hat m i t Recht W. Weber hingewiesen: Innere Pressefreiheit als Verfassungsproblem (1973) S. 51. 33 So insbesondere Quaritsch, Kirchen u n d Staat (Anm. 31) S. 299 m. A n m . 100 = Quaritsch-Weber (Anm. 31) S. 292; ders., Anwaltsvertretung vor Kirchenbehörden, DÖV 1969, 279; H. Weber, Grundprobleme (Anm. 15) S. 43 ff., dies freilich m i t der Maßgabe, daß das „ f ü r alle geltende Gesetz" i m rein innerkirchlichen Bereich nicht gelte (vgl. dazu BVerfGE 18, 385 [387 f.] ; B V e r w G E 25, 226 [229 f.]; 28, 345 [349]; Β GHZ 22, 383 [387, 390]; BSG, DÖV 1962, 786 [787]). Weitere Nachweise bei J. Jurina, Der Rechtsstatus der Kirchen u n d Religionsgemeinschaften i m Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten (1972) S. 46 f. u n d H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als K ö r p e r schaften des öffentlichen Rechts i m System des Grundgesetzes (1966) S. 40 A n m . 43. 34 M. Heckel (Anm. 24) S. 47; vgl. auch Jurina (Anm. 33) S. 47 f. 35 W. Weber (Anm. 11) S. 198; M. Heckel, Staat, Kirche, K u n s t (1968) S. 230 f.; ders., Die Kirchen unter dem Grundgesetz (Anm. 24) S. 43; Hollerbach (Anm. 31) S. 122; v. Campenhausen (Anm. 10) S. 86; ders., Der Rechtsschutz der kirchlichen Bediensteten, i n : Festschrift f ü r E. Ruppel (1968) S. 271; Th. Maunz, Staatskirchenrechtliche Regelungen durch Bundesrecht, BayVBl. 1968, 3; Jurina (Anm. 33) S. 155; Schiaich (Anm. 16) S. 174.
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i n der sachlichen Zuordnung der durch beide Glieder des A r t . 137 Abs. 3 WRV verfassungsrechtlich geschützten oder zu schützenden Rechtsgüter, die beide für die von der Verfassung konstituierte Gesamtordnung wesentlich sind: unter der Voraussetzung allgemeiner Geltung vermag zwar jede staatliche Rechtsnorm das kirchliche Selbstbestimmungsrecht zu begrenzen; aber die staatlichen Gewalten sind nicht zu beliebiger Begrenzung ermächtigt. Wie bei allen Begrenzungen verfassungsrechtlicher Freiheit muß die begrenzende Norm „ i m Lichte" der zu begrenzenden Freiheit gesehen werden. Es kommt darauf an, das eine geschützte Rechtsgut nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit dem anderen geschützten Rechtsgut zuzuordnen. Da beide für die verfassungsmäßige Gesamtordnung wesentlich sind, muß jedes i n seinem Kern erhalten bleiben. W i r d diese Interpretation des A r t . 137 Abs. 3 WRV zugrunde gelegt, dann schließt das eine Qualifikation von Grundrechten als „für alle geltende Gesetze" aus. Denn diese meinen nicht Rechte, sondern allgemeine Begrenzungen, also Pflichten 3 6 ; als solche können Grundrechte nicht verstanden werden, ohne i n ihr Gegenteil verkehrt zu werden. Zu denken wäre allenfalls an eine Verpflichtung der Kirchen, bei der Ausübung ihres verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstbestimmungsrechts nicht Grundrechte anderer zu beeinträchtigen. Aber diese Verpflichtung wäre nicht durch ein allgemeines Gesetz begründet, sondern eine der unmittelbaren verfassungsrechtlichen Grenzen der Kirchenfreiheit, auf die unten (IV 3) einzugehen sein wird. Auf dem Wege über die „Schranken des für alle geltenden Gesetzes" läßt sich eine unmittelbare Grundrechtsbindung der Kirchen nicht begründen. 3. Von einer solchen verfassungsrechtlich nicht zu haltenden unmittelbaren Bindung zu unterscheiden ist die Bindung der Kirchen an allgemeine staatliche Normen des einfachen Rechts, die dem (negatorischen) Schutz einzelner grundrechtlich gewährleisteter Rechtsgüter gegen andere Eingriffe als solche der staatlichen Gewalten dienen, etwa die straf- und zivilrechtlichen Bestimmungen zum Schutz des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und der Freiheit der Person, oder i n denen es um die (positive) Realisierung grundrechtlicher Inhalte geht, wie etwa i n gesetzlichen Bestimmungen über die Lohngleichheit von Männern und Frauen. M i t Recht ist hervorgehoben worden, daß solche Normierungen das angemessene M i t t e l sind, die Kirchen i n gleicher Weise zur Beachtung grundrechtlicher Gehalte zu verpflichten, wie andere Rechtssubjekte 37 . Die praktischen Probleme werden auf diese 36
Vgl. auch Wufka (Anm. 9) S. 199. H. Weber, Essener Gespräche 7 (1972) S. 33 (Diskussion) — freilich beschränkt auf nicht-hoheitliche Tätigkeit der Kirchen außerhalb des eigent37
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Weise i n der Regel am besten zu lösen sein. Aber ebensowenig wie der Bürger, der eine solche Norm zu befolgen hat, dadurch zum Grundrechtsadressaten wird, werden es die Kirchen, so daß auch insoweit von einer (unmittelbaren) Grundrechtsbindung der Kirchen nicht die Rede sein kann. Da Normen solcher A r t das kirchliche Selbstbestimmungsrecht begrenzen, sind sie — darin besteht die Besonderheit ihrer Anwendung gegenüber den Kirchen — stets „ i m Lichte" des Selbstbestimmungsrechts auszulegen 38 : es bedarf verhältnismäßiger Zuordnung von K i r chenfreiheit und jeweiligem Schutzgut; die Kirchenfreiheit darf nicht einseitig auf Kosten jenes Schutzgutes beschränkt werden (vgl. oben 2). IV. Zu prüfen bleibt, ob und ggf. wie weit die Kirchen unabhängig hiervon unmittelbar an Grundrechte gebunden sind. 1. Wie alle Grundrechte, auch diejenigen, die unter Gesetzesvorbehalt stehen, kann auch die Kirchenfreiheit unmittelbar durch andere Bestimmungen der Verfassung selbst begrenzt sein. Das ist eindeutig der Fall bei der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG, die als einziges Grundrecht anerkanntermaßen nicht nur die staatlichen Gewalten bindet, sondern allgemein für das gesamte öffentliche und private Recht gilt (vgl. Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG). Freilich findet die Koalitionsfreiheit ihrerseits Grenzen an dem i n A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 137 Abs. 3 WRV gewährleisteten kirchlichen Selbstbestimmungsrecht 39 . Es mag nicht leicht sein, einen angemessenen Ausgleich zwischen den ggf. einander widerstreitenden Erfordernissen beider Gewährleistungen zu finden. Das ändert jedoch nichts an der Verpflichtung der Kirchen, Koalitionen ihrer Bediensteten zuzulassen, die freilich i m Hinblick auf Aufgabe und Eigenart der Kirchen einen anderen Charakter tragen müssen als sonstige Koalitionen. 2. I n der Frage einer Bindung an andere Grundrechte bedarf es der Klärung, ob es insoweit auf die Rechtsform des jeweiligen kirchlichen Wirkens ankommt. Das ist, wie gezeigt, die These H. Webers, der bei hoheitlichem Tätigwerden eine uneingeschränkte Grundrechtsbindung der Kirchen annimmt (vgl. oben II). I n eingeschränkter Form vertritt liehen „innerkirchlichen Bereichs"; ders., Grundrechtsbindung (Anm. 9) S. 404 ff. 38 Zutreffend Rüfner (Anm. 10) S. 20 f. 39 Dazu Rüfner (Anm. 10) S. 22 f.; H. Weber, Grundrechtsbindung (Anm. 9) S. 406.
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auch E. Wufka diese Auffassung 40 , während H. Rüfner der Rechtsform des Tätigwerdens keine Bedeutung beimißt 4 1 . Es kann sich zunächst, wie bereits gezeigt (oben II), nicht um ein Problem der Abgrenzung von „Bereichen" handeln. „Eigene" Angelegenheiten der Kirche, die i n Formen hoheitlichen Wirkens wahrgenommen werden, bleiben solche des einheitlichen Selbstbestimmungsrechts der Kirchen. Sie lassen sich nicht einem von einem „innerkirchlichen Bereich" unterschiedenen „Bereich" weltlicher Hoheitsgewalt zuschlagen, wie dies von H. Weber versucht worden ist 4 2 . Auch davon abgesehen kann die Rechtsform nicht maßgebend sein für den Umfang inhaltlicher Gebundenheit. Ebensowenig wie sich die staatlichen Gewalten ihrer prinzipiellen Grundrechtsgebundenheit durch eine Flucht i n das Privatrecht entziehen können, kann es umgekehrt eine solche Gebundenheit begründen, wenn die Kirchen „ihre" Angelegenheiten i n Formen ordnen und verwalten, die denen des staatlichen öffentlichen Rechts weitgehend entsprechen. Anders wäre es nur, wenn die Kirchen sich insoweit zur Wahrnehmung ihrer eigenen Angelegenheiten übertragener staatlicher Hoheitsgewalt bedienten. Dann wäre i n der Tat daran zu denken, daß diese Gewalt nur m i t der für alle staatliche Gewalt bestehenden Grundrechtsbindung übertragen worden sei, was von H. Weber generell 43 und von E. Wufka jedenfalls partiell 4 4 angenommen wird. Aber damit w i r d nicht nur die Bedeutung des A r t . 137 Abs. 5 WRV, sondern auch die der verfassungsrechtlichen Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche schlechthin verkannt. Wenn den Kirchen durch A r t . 137 Abs. 5 WRV der Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zuerkannt wird, dann bedeutet das die — freilich nicht vorbehaltlose — Anerkennung kirchlicher öffentlicher Gewalt und der von ihr getroffenen Regelungen i n und gegenüber dem staatlichen Recht 45 , nicht aber Delegation staatlicher Hoheitsgewalt. Anzunehmen, daß kirchliche Rechtsverhältnisse wie die der Geistlichen und Kirchenbeamten auf staatlich delegiertem Recht beruhten 4 6 , würde nicht nur einer partiellen 40
Wufka (Anm. 9) S. 201. Rüfner (Anm. 10) S. 11 f. 42 Grundrechtsbindung (Anm. 9) S. 399 f., 411 ff. 43 Grundrechtsbindung (Anm. 9) S. 399 f., 411 ff. 44 Wufka (Anm. 9) S. 201. 45 Vgl. n u r BVerfGE 18, 385 (386 f.); 30, 415 (428). 46 Die damit entstehende Grundrechtsgebundenheit würde sogleich die Frage entstehen lassen, w e m die Kompetenz zur Begrenzung der G r u n d rechte von Geistlichen u n d Kirchenbeamten zukommt, die i m staatlichen Beamtenrecht Sache des staatlichen Gesetzgebers ist. H. Weber beantwortet sie dahin, daß der kirchliche Gesetzgeber insoweit ermächtigt sei, Begrenzun41
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Außerkraftsetzung des A r t . 137 Abs. 3 WRV gleichkommen, sondern auch unvereinbar sein m i t der Grundvoraussetzung heutiger staatskirchenrechtlicher Ordnung: der prinzipiellen Wesensverschiedenheit von Kirche, deren Aufgaben jenseits derer des weltlichen Gemeinwesens liegen, und säkularem Staat, für den das Religiöse jenseits seiner Zwecke liegt. Die These von der Übertragung staatlicher Hoheitsgewalt, die unvermeidlich m i t der Bindung an die Grundrechte behaftet sei, läuft auf eine neue Version der inzwischen überwundenen Korrelatentheorie der Weimarer Zeit hinaus 4 7 , nur daß hier an die Stelle der „besonderen Kirchenhoheit" des Staates als Korrelat der Körperschaftsrechte die Grundrechtsgebundenheit der Kirchen treten soll. Die Anerkennung kirchlicher öffentlicher Gewalt durch A r t . 137 Abs. 5 WRV ändert freilich nichts an der staatlichen Verantwortung für die Sicherung des allgemeinen Rechtsstatus des Bürgers, der i n erster Linie durch Grundrechte bestimmt ist 4 8 . Doch ist nicht ersichtlich, wie dieser Gesichtspunkt eine unmittelbare Grundrechtsbindung der K i r chen begründen soll; die These, daß der Schutz des Einzelnen gegenüber allen Trägern hoheitlicher Gewalt gleichermaßen „unentbehrlich" und daß hier die Annahme einer Fremdbindung „unumgänglich" sei 49 , vermag eine dogmatische Begründung nicht zu ersetzen. Es handelt sich vielmehr um eine Verpflichtung des Staates, Grundrechte ggf. auch gegenüber den Kirchen zu schützen. Der Staat genügt ihr i m besonderen durch die Regelungen, die der Gewährleistung der negativen Religionsfreiheit dienen, vor allem durch das Kirchenaustrittsrecht, das es dem Bürger ermöglicht, sich jederzeit der kirchlichen Gewalt zu entziehen 50 . Insofern mögen sich Grundrechte i n gewisser Weise gegen die Kirchen richten 5 1 ; eine Grundrechtsbindung der Kirchen w i r d auf diese Weise nicht begründet. Kirchliches Recht, dessen
gen staatlich gewährleisteter Grundrechte zu normieren (Grundrechtsbindung [Anm. 9] S. 415 m. A n m . 72). Das ist unvereinbar m i t dem G r u n d gesetz. Denn dieses ermächtigt grundsätzlich n u r den demokratisch u n m i t t e l bar legitimierten parlamentarischen Gesetzgeber zu einer Beschränkung grundrechtlicher Freiheiten. 47 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs (14. Aufl., 1933), A r t . 137 A n m . 5 (S. 636 ff.) m. w. N. 48 Vgl. dazu K . Schiaich, Essener Gespräche 7 (1972) S. 35 (Diskussion). 49 H. Weber, Grundrechtsbindung (Anm. 9) S. 412. 50 Vgl. dazu BVerfGE 30, 415 (424). D a r i n liegt ein nicht unwesentlicher Unterschied gegenüber der staatlichen Gewalt, der es verbietet, kirchliche u n d staatliche öffentliche Gewalt aus der Perspektive des von dieser Gewalt Betroffenen ohne weiteres gleichzusetzen. 51 Zippelius, Bonner Kommentar, Rdn. 58 zu A r t . 4 m. w. N.
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Inhalt m i t dem von Grundrechten in Widerspruch tritt, ist nicht unvereinbar mit der staatskirchenrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes. Sofern der Inhalt von Grundrechten nicht durch „für alle geltende Gesetze" konkretisiert ist 5 2 , können die Kirchen vielmehr entgegenstehendes Recht schaffen und aufrechterhalten. Nur w i r d diesem die Anerkennung innerhalb der weltlichen Rechtsordnung nicht zuteil: die Anerkennung kirchlicher öffentlicher Gewalt und der von ihr getroffenen Regelungen steht unter dem Vorbehalt der Sicherung des allgemeinen Rechtsstatus des Bürgers durch den Staat 5 3 . 3. Wenn damit die Rechtsform kirchlichen Wirkens i n Angelegenheiten des Selbstbestimmungsrechts nicht maßgeblich für eine unmittelbare Grundrechtsbindung sein kann, so bleibt nur noch die Frage, ob die Kirchen unabhängig hiervon an Grundrechte gebunden sein können. Diese Bindung kann, ebenso wie die an A r t . 9 Abs. 3 GG, nur eine solche — unter Aspekten des weltlichen Rechts — gleichgeordneter Rechtsträger sein. I h r Bestehen würde also eine „ D r i t t w i r k u n g " von Grundrechten voraussetzen. Die Problematik, die sich mit der Frage nach den Grundlagen wie der nach dem Umfang einer solchen allgemeinen „ D r i t t w i r k u n g " verbindet, ist bislang nicht hinreichend geklärt. Sie kann hier nicht mehr näher verfolgt, sondern nur noch i n Umrissen nachgezeichnet werden. Die Annahme einer „ D r i t t w i r k u n g " könnte nicht an die Verpflichtung der — stets grundrechtsgebundenen — rechtsprechenden Gewalt anknüpfen, Grundrechte bei der Entscheidung von Streitigkeiten zwischen gleichgeordneten nichtstaatlichen Rechtsträgern zu beachten. Denn maßgebend für diese Entscheidung kann nur das zwischen den Beteiligten bestehende materielle Rechtsverhältnis sein. Es müßte vielmehr von einer umfassenden Geltung der Grundrechte als objektiver Prinzipien der Gesamtrechtsordnung ausgegangen werden, die alle 52 Dazu ist ζ. B. das Kirchenaustrittsrecht nicht zu rechnen. I m Ergebnis zutreffend H. Weber, Grundrechtsbindung (Anm. 9) S. 407 m. w. N. 53 Diese k a n n sich i n einzelnen Fällen, namentlich w e n n es u m den Schutz von Rechten kirchlicher Amtsträger geht, als nicht zureichend erweisen. Aber soweit hier allgemeine u n d damit für die Kirchen verbindliche Gesetze fehlen, k a n n sich unter grundrechtlichen Aspekten n u r die Frage einer „ D r i t t w i r k u n g " stellen. — Auch ohne Konkretisierung durch ein „ f ü r alle geltendes Gesetz" können schließlich einzelne rechts- u n d sozialstaatliche Erfordernisse als unmittelbar von der Verfassung normierte Grenzen des Selbstbestimmungsrechts Bindungswirkung auch für die Kirchen entfalten. Das setzt indessen voraus, daß sie nicht n u r eine Richtlinie oder einen A u f t r a g für den staatlichen Gesetzgeber enthalten, was namentlich bei dem Sozialstaatsprinzip der F a l l ist. Vgl. dazu etwa B V e r w G E 30, 326 (332 ff., insbes. 338).
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Rechtsbeziehungen, nicht nur diejenigen erfaßt, an denen auf einer Seite der Staat beteiligt ist und die deshalb auch den Gesetzgeber bei der Regelung dieser Beziehungen bindet. Die damit sich ergebende „Grundrechtsbindung" wäre freilich anderer A r t als die der staatlichen Gewalten, weil anders als i m Staat-Bürger-Verhältnis beide Beteiligten eines Rechtsverhältnisses sich i n der Regel auf Grundrechte berufen könnten. Eine „Grundrechtsbindung" ließe sich deshalb nur auf der Basis einer Geltung sich gegenseitig begrenzender Grundrechte der Beteiligten und der Annahme begründen, daß jedermann i n dem Umfang der Begrenzung seines Grundrechts durch das Grundrecht eines anderen an Grundrechte gebunden sei. Die Frage, ob das allgemein oder doch wenigstens in bestimmten Fällen angenommen werden kann, w i r d sich nicht leichthin bejahen lassen. Da es sich um eine wechselseitige Begrenzung handelte, würden die Grundrechtsberechtigten zwar nicht ohne weiteres den gleichen Beschränkungen unterworfen wie die staatlichen Gewalten. Eine allgemeine „Grundrechtsbindung" dieser A r t würde indessen eine Vielzahl von Rechtsverhältnissen unmittelbar (auch) dem Verfassungsrecht unterwerfen, die bislang ausschließlich durch einfaches Recht, i m besonderen das bürgerliche Recht, geregelt waren. Die Abwägungen und Ausgleichslösungen des Gesetzgebers, die i n diese Regelungen eingegangen sind, stünden durchgängig unter dem Vorbehalt einer Überprüfung und ggf. Verwerfung anhand des vorrangigen Verfassungsrechts durch die rechtsprechende Gewalt. Wo Regelungen des einfachen Rechts fehlen, würde es nicht grundsätzlich bei der Autonomie der Beteiligten sein Bewenden haben, sondern wären Grundrechte unmittelbar einschlägig. Deren Anwendung würde nicht nur schwierige Zuordnungsfragen aufwerfen, sondern auch zu einer beträchtlichen Einschränkung der Privatautonomie und damit zu einer nicht unerheblichen Einengung selbstverantwortlicher Freiheit führen 5 4 . I n den Grundrechten geht es jedoch — auch soweit ihre Funktion als objektive Prinzipien der Gesamtrechtsordnung i n Frage steht — stets nur um die Gewährleistung eines Mindeststandards individueller Freiheit, nicht um deren generelle Reduzierung auf jenen Mindeststandard. Bedenken solcher A r t werden freilich zurücktreten, wo die tatsächlichen Voraussetzungen autonomer Gestaltung nicht bestehen und i m Verhältnis von rechtlich gleichgeordneten Beteiligten jener Mindeststandard durch den Einsatz überlegener wirtschaftlicher oder sozialer 54
Grundlegend dazu nach wie vor G. Dürig, Grundrechte u n d Z i v i l rechtsprechung, i n : V o m Bonner Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung, Festschrift für H. Nawiasky (1956) S. 157 ff.; ders., i n : Maunz - D ü r i g Herzog, Grundgesetz, Rdn. 129 f. zu A r t . 1 Abs. I I I .
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Macht beeinträchtigt zu werden droht. Soweit hier einfache, „für alle geltende" Gesetze fehlen, die den Tatbestand regeln, w i r d ebenso wie i m Verhältnis anderer Grundrechtsberechtigter die Annahme einer „ D r i t t w i r k u n g " von Grundrechten auch gegenüber den Kirchen nahegelegt s e i n 5 5 ' 5 6 . V. Unter keinem der i n Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkte läßt sich damit eine besondere, über den Umfang der Bindung anderer Grundrechtsberechtigter hinausgehende Grundrechtsbindung der Kirchen i n Angelegenheiten ihres Selbstbestimmungsrechts begründen. Die Kirchen sind wie jeder Grundrechtsträger an A r t . 9 Abs. 3 GG gebunden. Soweit darüber hinaus eine unmittelbare „ D r i t t w i r k u n g " von Grundrechten angenommen werden kann, g i l t diese — ohne Rücksicht auf die Rechtsform ihres Tätig Werdens — auch für die Kirchen. Soweit Grundrechte i m Verhältnis gleichgeordneter Rechtsträger durch allgemeine staatliche Gesetze geschützt und gesichert werden, sind diese als „für alle geltende Gesetze" auch für die Kirchen verbindlich, besteht also eine A r t mittelbarer Grundrechtsbindung. Stets handelt es sich dabei u m eine Begrenzung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, so daß es ebenso wie auch sonst bei der Begrenzung von Grundrechten einer Zuordnung nach den Grundsätzen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit bedürfen wird. I m Ergebnis folgt die Bindung der Kirchen an Grundrechte, soweit von ihr überhaupt gesprochen werden kann, i n allem den Regeln über eine Begrenzung von Grundrechten des Bürgers; sie folgt nicht, auch nicht partiell, den Regeln über die Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalten.
55
Dazu auch Rüfner (Anm. 10) S. 17 ff.; H. Weber, Grundrechtsbindung (Anm. 9) S. 404 m. Anm. 50 u n d S. 411. 56 Auch davon abgesehen mögen i n Fällen, i n denen Rechte gleichgeordneter (nichtstaatlicher) Rechtsträger miteinander i n K o n f l i k t geraten, G r u n d rechte für die Beurteilung Bedeutung gewinnen (vgl. etwa BVerfGE 30, 173 [187 ff.]; 32, 311 [316 ff.]; 34, 269 [280]). Die Grundlagen einer solchen „ A u s strahlungswirkung" sind indessen, wie P. Lerche deutlich gemacht hat, bislang noch nicht hinreichend geklärt (Schranken der Kunstfreiheit, Arch. f. Presserecht 1973, 499 f.).
Lehrerbildung nach dem Reichskonkordat Eine Nachlese V o n H e l m u t Quaritsch „ I m Rahmen der allgemeinen Berufsausbildung der Lehrer werden E i n richtungen geschaffen, die eine Ausbildung katholischer Lehrer entsprechend den besonderen Erfordernissen der katholischen Bekenntnisschule gewährlelsten
·"
A r t . 24 I I R K . I.
I m J u l i 1936 t e i l t e d e r R e i c h s i n n e n m i n i s t e r d e m V o s i t z e n d e n der F u l daer Bischofskonferenz m i t , z u B e g i n n des W i n t e r s e m e s t e r s 1936/37 w ü r d e n d i e bestehenden k a t h o l i s c h e n L e h r e r b i l d u n g s a n s t a l t e n i h r e n bisherigen bekenntnismäßigen Charakter verlieren u n d i n allgemeine L e h r e r b i l d u n g s a n s t a l t e n u m g e w a n d e l t w e r d e n . E p i s k o p a t u n d Reichsi n n e n m i n i s t e r i u m s t r i t t e n sich d a r a u f h i n ü b e r die B e d e u t u n g des W o r tes „ E i n r i c h t u n g e n " i n A r t . 24 I I R K , k e i n G e r i n g e r e r als d e r K a r d i n a l staatssekretär Pacelli, nachmals Pius XII., g r i f f e i n u n d r i c h t e t e a n d e n deutschen B o t s c h a f t e r a m H l . S t u h l eine a m 6. A u g u s t 1936 p r ä s e n t i e r t e Note, i n der es u. a. h i e ß : I n Ergänzung u n d zur Unterstützung dieser bischöflichen Vorstellungen darf ich namens des Heiligen Stuhles darauf hinweisen, daß die Ministerialbehörde sich bei der von i h r versuchten Interpretation des A r t . 24 Abs. 2 des Reichskonkordats m i t Unrecht lediglich auf den deutschen Text stützt, der das nicht eindeutige W o r t „Einrichtungen" aufweist. Der italienische Text, der bei den Konkordatsverhandlungen i n Rom von den deutschen U n t e r händlern, insbesondere von H e r r n Ministerialdirektor Dr. B u t t m a n n auf das genaueste kontrolliert u n d m i t geradezu philologischer Gründlichkeit r e v i diert wurde, hat nach A r t i k e l 34 die gleiche Rechtskraft wie der deutsche. Er darf u n d muß daher f ü r die sachgemäße Auslegung des betreffenden Passus i n Anspruch genommen werden. Nun gebraucht der italienische Text den ganz unzweideutigen Ausdruck „istituti", der zu keinerlei Zweifel Anlaß geben kann und das Recht der Kirche auf konfessionelle Lehrerbildungsanstalten in unanfechtbarer Weise festlegt 1. 1
Vollständig abgedruckt bei D. Albrecht, Der Notenwechsel zwischen dem Heiligen Stuhl u n d der Deutschen Reichsregierung Bd. 1, 1965, S. 337; H e r vorhebungen von mir.
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H e l m u t Quaritsch
D i e R e i c h s r e g i e r u n g ließ d u r c h i h r e n B o t s c h a f t e r von Bergen
a m 7.
J a n u a r 1937 d e m K a r d i n a l s t a a t s s e k r e t ä r eine A n t w o r t n o t e zugehen, der e n h i e r w e s e n t l i c h e r I n h a l t so l a u t e t e : Wenn A r t . 24 Abs. 2 auf konfessionell gebundene Lehrerbildungsanstalten abzielte, würde dies zweifellos m i t der gleichen Aufrichtigkeit gesagt worden sein, wie der A r t . 23 die ,Beibehaltung und Neuerrichtung katholischer Bekenntnisschulen' gewährleistet. Tatsächlich spreche A r t . 24 Abs. 2 jedoch nicht von ,konfessionellen Lehrerbildungsanstalten', sondern von ,Einrichtungen' bzw. von ,istituti', die i n den ,Rahmen der allgemeinen Berufsausbildung der Lehrer' eingefügt sein sollen. Die Vermeidung des Ausdrucks »konfessionelle Lehrerbildungsanstalten' bzw. des entsprechenden italienischen Ausdrucks stelle angesichts der Unzweideutigkeit, m i t der i n A r t . 23 von ,katholischen Bekenntnisschulen' gesprochen werde, zugleich auch einen Verzicht auf die Sache dar . . . Wenn der Heilige Stuhl sich darauf beruft, daß der italienische Ausdruck ,istituti' zu keinerlei Zweifel Anlaß geben könne und das angedeutete Recht der Kirche unanfechtbar festlege, so muß dabei vorausgesetzt werden, daß das italienische W o r t ,istituti' n u r eine selbständige Hochschule bezeichnen könne. Diese Auslegung des Wortes ,istit u t i ' ist weder eine Bezeichnung, die n u r für Hochschulen von A r t der deutschen Hochschulen für Lehrerbildung reserviert wäre, noch bedeutet es notwendig eine f ü r sich bestehende Einrichtung. Vielmehr gibt es sowohl i m deutschen wie i m italienischen, wie i m kirchlichen Hochschulwesen Einrichtungen, die keinen Schulcharakter tragen u n d doch als Institute bzw. ,istituti' bezeichnet werden, z. B. Forschungsinstitute u n d Einrichtungen, die den N a men Institute bzw. ,istituti' tragen, obwohl sie nicht für sich bestehen, sondern einer größeren Einrichtung eingegliedert sind. Auch v o m rein philologischen Standpunkt aus k a n n daher nach Ansicht der Reichsregierung die Auslegung, die der Heilige Stuhl dem Worte ,istituto' gibt, nicht als die allein mögliche angesehen werden 2 . D e r S t r e i t u m die I n t e r p r e t a t i o n des W o r t e s „ E i n r i c h t u n g e n " u n d „ I s t i t u t i " w a r n i c h t neu, j e t z t jedoch i n seine p r a k t i s c h e Phase e i n g e t r e ten. W e n i g e Tage nach U n t e r z e i c h n u n g des R e i c h s k o n k o r d a t s w a r es ü b e r dieses P r o b l e m z u e i n e r ö f f e n t l i c h e n K o n t r o v e r s e zwischen d e n u n m i t t e l b a r e n V e r h a n d l u n g s p a r t n e r n g e k o m m e n , ausgefochten a l l e r d i n g s m i t v e r d e c k t e m V i s i e r . I m „ O s s e r v a t o r e R o m a n o " h a t t e Pacelli a m 26. J u l i 1933 v e r l a u t e n lassen 3 :
2
Text der Note i n : Der Konkordatsprozeß, hrsg. v. F. Giese u n d F. A. v. d. Heydte, Bd. 1, 1957, S. 68 f. u n d bei Albrecht, S. 366 - 368, die zit. Stellen S. 366/67. 3 Der A r t i k e l w a r m i t „ L . " unterzeichnet. Die deutsche Botschaft sandte diesen (und einen zweiten L - A r t i k e l betr. Reichskonkordat) i m Original m i t Übersetzung an das Auswärtige A m t m i t dem Kommentar: „Die A r t i k e l sind m i t L. bezeichnet. Sie stammen von Prof. Cesidio Lolli, einem Redakteur des Osservatore Romano, u n d wurden m i r seitens des Unterstaatssekretärs Piccardo als nicht offiziös bezeichnet. Sie sind aber zweifellos v o m Staatssekretariat inspiriert" (Text des von Botschaftsrat Eugen Klee verfaßten Begleitschreibens i n : Der Konkordatsprozeß Bd. 1, S. 364). Diese Information war
Lehrerbildung nach dem Reichskonkordat
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Darüber hinaus zielen die A r t . 22, 23, 24 u n d 25 darauf hin, sowohl die Reinheit dieser Unterweisung, für die sogar die Anerkennung besonderer Institute [„speciali istituti"] bestätigt wird, welche eine Ausbildung katholischer Lehrer sicherstellen [Hervorhebungen von m i r ] , die den besonderen Erfordernissen der katholischen Bekenntnisschule entspricht, festzulegen u n d zu garantieren, als auch auf die Einrichtung u n d Unterhaltung öffentlicher Bekenntnisschulen . . . 4 Eine E r k l ä r u n g „ v o n unterrichteter Seite" — „ u n t e r r i c h t e t " w a r Pacellis s t a a t l i c h e r V e r h a n d l u n g s p a r t n e r , M i n i s t e r i a l d i r e k t o r D r . Buttmann 5
— verbreitet unter Auflagenzwang
Rudolf
d u r c h das W o l f f sehe
T e l e g r a f e n b ü r o a m 28. J u l i 1933 u n d v e r ö f f e n t l i c h t u. a. i m
„Staatsan-
zeiger" 1933, N r . 174, h a t t e h i e r z u so S t e l l u n g g e n o m m e n : Das Konkordat sieht hinsichtlich der Ausbildung der katholischen Lehrer Einrichtungen vor, die eine Ausbildung der katholischen Lehrer entsprechend den besonderen Erfordernissen der katholischen Bekenntnisschule gewährleisten. Die Übersetzung des italienischen Textes des Artikelschreibers könnte den Eindruck erwecken, als ob damit konfessionelle Lehrerbildungsanstalten gemeint wären (Hervorhebungen von mir). Das ist nicht zutreffend 6 . E x i s t i e r t e n u r dieser Notenwechsel, so w ä r e der Schluß a u f einen Dissens n i c h t ganz a b w e g i g , auch w e n n eine solche A n n a h m e angesichts der W i c h t i g k e i t des Vertragsgegenstandes, der S a c h k u n d e d e r U n t e r h ä n d l e r — v. Papen u n d Buttmann, Pacelli u n d Kaas — u n d der G r ü n d l i c h k e i t der V e r h a n d l u n g e n v o n v o r n h e r e i n w e n i g G l a u b w ü r d i g k e i t beanspruchen k ö n n t e . A n d e r e r s e i t s ist es b e i V e r t r ä g e n dieser A r t n i c h t v ö l l i g ausgeschlossen, daß die u n m i t t e l b a r B e t e i l i g t e n u m i h r e u n terschiedliche I n t e r p r e t a t i o n w u ß t e n , die F r a g e aber u n e n t s c h i e d e n l i e ßen, u m d e n V e r t r a g s s c h l u ß n i c h t z u gefährden. D i e Rechtswissenschaft h a t sich m i t solchen V e r m u t u n g e n n i e g e p l a g t — m i t Recht, w i e v o r w e g z u n e h m e n ist. E r s t a u n l i c h e r w e i s e g i b t es i n des n u r eine U n t e r s u c h u n g , d i e sich g r ü n d l i c h m i t der L e h r e r b i l d u n g nach d e m R e i c h s k o n k o r d a t beschäftigt: Werner Weber h a t A r t . 24 I I i n
falsch. Nach Angaben des w o h l besten Kenners der Verhältnisse, Robert Leiber, hat der Kardinalstaatssekretär Pacelli den A r t i k e l selbst verfaßt, s. R. Leiber, Stimmen der Zeit Bd. 167, 1960/61, S. 223. 4 Übersetzung nach Ernst Deuerlein, Das Reichskonkordat, 1956, S. 126, der italienische Originaltext ebenda S. 304/05. 5 Vgl. Der Konkordatsprozeß Bd. 1, S. 364. Buttmann w a r Leiter der k u l turpolitischen Abteilung i m Reichsinnenministerium. Z u r konkordatsloyalen u n d integren Persönlichkeit dieses NSDAP-Abgeordneten i m Bayerischen Landtag s. Konkordatsprozeß Bd. 2, S. 739, sowie W. Conrad, Der K a m p f u m die Kanzeln, 1957, S. 13, 76 u n d passim. Z u r Rolle Buttmanns i n den K o n k o r datsverhandlungen vgl. Ludwig Volk, Das Reichskonkordat v o m 20. J u l i 1933, 1972, S. 144 ff. 6 Wiedergegeben von Deuerlein, S. 130. 3
e c h i t e n
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seiner Schrift ,Die Konfessionalität der Lehrerbildung i n rechtlicher Betrachtung' 7 untersucht (S. 16-25); er kam zu dem Ergebnis, diese Vorschrift fordere konfessionell bestimmte Teileinrichtungen innerhalb allgemeiner Lehrerbildungsanstalten, nicht aber konfessionell getrennte und konfessionell geartete Lehrerbildungsanstalten. Als diese Schrift 1965 erschien, war die Entstehungsgeschichte des A r t . 24 I I und dessen Erörterung bei den Verhandlungen i m Jahre 1933 nur zum Teil bekannt. Seit den Aktenpublikationen von Alfons Kupper 8 und Ludwig Volk SJ 9 läßt sich i n dieser Sache ein abschließendes Urteil gewinnen. II. A r t . 24 I I ist zunächst auffällig durch seine futurische Fassung: „ . . . werden Einrichtungen geschaffen . . . , die eine Ausbildung . . . gewährleisten." 1933 wurden jedoch die Volksschullehrer an pädagogischen Lehranstalten (Akademien u. dgl.) ausgebildet, die nach Konfessionen getrennt organisiert und konfessionell geartet waren; die Konfessionalität besaß eine alte Tradition und kannte nur wenige simultane Ausnahmen 10 . Die Fassung des A r t . 24 I I beruht auf A r t . 143 I I der Weimarer Reichsverfassung: „Die Lehrerbildung ist nach den Grundsätzen, die für die höhere Bildung allgemein gelten, für das Reich einheitlich zu regeln." Der Verfassungsauftrag war bei Abschluß des Reichskonkordats nicht erfüllt. Es mußte dem Heiligen Stuhl an einer Garantie gelegen sein, daß eine solche einheitliche Regelung die Ausbildung der Lehrer für die katholischen Bekenntnisschulen berücksichtigen werde. Denn die von der Reichsverfassung i n Aussicht genommene einheitliche Gestaltung der Lehrerbildung durch Reichsgesetz11 würde durch ihre substantielle Determinante das bisherige System der Lehrerbildung gerade hinsichtlich der Konfessionalität beeinflussen: inhaltlich sollte die Lehrerbildung durch „die Grundsätze, die für die höhere Bildung allgemein gelten", bestimmt sein. Der „höheren Bildung" aber ist, wie Gymnasien und Universitäten als klassische Stätten höherer, also über die Volksschule hinausgehender Bildung erweisen, eine Trennung der Konfessionen und Weltanschauungen durchaus fremd 1 2 . Einer der besten Kenner des Schulrechts und des Lehrerbildungswesens i n Weimarer Zeit, Walter Landé, führte daher i m Jahre 1930 zu Recht aus: 7
Recht u n d Staat Nr. 306/07 (1965). Staatliche A k t e n über die Reichskonkordatsverhandlungen (1969). 9 Kirchliche A k t e n über die Reichskonkordatsverhandlungen (1969). 10 Vgl. W. Weber, ebenda. 11 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches (14. Aufl. 1933) Erl. 3 zu A r t . 143 (S. 669); W. Landé, i n : C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte u n d Grundpflichten der Reichsverfassung Bd. 3 (1930), S. 93. 12 s. Werner Weber, S. 22/23. 8
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V o r allem werden für die Frage simultaner oder konfessioneller Organisation der Lehrerbildung keine anderen Grundsätze gelten dürfen, als für die höhere B i l d u n g allgemein. Wenn u n d insoweit also f ü r den A u f b a u der höheren Schulen u n d der Hochschulen der Grundsatz simultaner Organisat i o n gilt — k r a f t Reichsrechts oder k r a f t inhaltlich übereinstimmenden L a n desrechts —, würde es dem Grundgedanken des A r t . 143 Abs. 2 widersprechen, f ü r die Lehrerbildung eine Gliederung nach Bekenntnis u n d Weltanschauung zuzulassen. Aber schon innerhalb der Systematik der Schulartikel — ohne diese besondere Vorschrift — ist die konfessionelle Organisation der Lehrerbildungsinstitute eine schwer vorstellbare Anomalie. Das hindert nicht, die für die besonderen Bedürfnisse der Bekenntnis- u n d bekenntnisfreien Schulen notwendigen Vorbildungseinrichtungen auf den L e h r e r b i l dungsanstalten zu treffen — eine Frage, die grundsätzlich von der Glieder u n g dieser Anstalten selbst nach Bekenntnis u n d Weltanschauung v o l l k o m men unabhängig ist 1 3 .
A r t . 24 I I suchte also zunächst die tatsächliche Situation der Lehrerbildung gegen den seit 1919 zu erwartenden reichsgesetzlichen Zugriff abzusichern, nach dem Wortlaut jedenfalls so, daß i n einem reichseinheitlichen Ausbildungssystem zureichende Einrichtungen für künftige Bekenntnisschullehrer erhalten blieben. Das Problem war lediglich, ob damit der status quo von 1933 gegen den staatlichen Zugriff völlig gesichert war, wie Pacellis Note vom 6. August 1936 der Sache scheinbar sicher annahm: „ N u n gebraucht der italienische Text den ganz unzweideutigen Ausdruck ,istituti 4 , der zu keinerlei Zweifel Anlaß geben kann und das Recht der Kirche auf konfessionelle Lehrerbildungsanstalten i n unanfechtbarer Weise festgelegt 14 ." Was sind „Einrichtungen", was „istituti"? Welche Vorstellungen haben die Unterhändler selbst mit diesen Wörtern verbunden? Das Wort steht nicht für einen geläufigen rechtlichen Tatbestand. Es ist juristisch farblos, so daß es den Vorstellungen offensteht, die i m allgemeinen Sprachgebrauch m i t i h m verbunden werden. Einrichtung bedeutet, daß etwas „eingerichtet" ist. Für den Bereich der staatlichen Institutionen, u m die es sich hier handelt, ist Einrichtung ein organisiertes Angebot von persönlichen und sachlichen Mitteln. I m Zusammenhang mit der Lehrerausbildung kann daher „Einrichtung" sowohl die Akademie oder Hochschule als solche sein, aber auch jedes Sachmittel und jede institutionell irgendwie stabilisierte Ausbildungsperson bedeuten, die geeignet ist, „eine Ausbildung katholischer Lehrer entsprechend den besonderen Erfordernissen der katholischen Bekenntnisschule zu gewährleisten". Aus dem deutschen Wortlaut des A r t . 24 I I R K ist daher stets der Schluß gezogen worden, daß die Stätte der Leh13 14
30*
S. 94, das Zitat auch bei W. Weber, S. 23. Bei D. Albrecht, S. 337.
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r e r b i l d u n g insgesamt n i c h t a u f das Z i e l der k a t h o l i s c h e n B e k e n n t n i s schule ausgerichtet sein m u ß , also b e k e n n t n i s m ä ß i g e n C h a r a k t e r t r ä g t ; es g e n ü g t e n E i n r i c h t u n g e n an Hochschulen, d i e d e n A u s b i l d u n g s z w e c k des A r t . 24 I I e r f ü l l e n 1 5 . Das i m i t a l i e n i s c h e n T e x t v e r w e n d e t e W o r t „ i s t i t u t i " h a t b e r e i t s W e r n e r Weber z u der S t e l l u n g n a h m e v e r a n l a ß t , dieses W o r t habe i n der i t a l i e n i s c h e n Sprache d i e gleiche S p a n n w e i t e w i e das deutsche W o r t „ E i n r i c h t u n g e n " 1 6 . Das W ö r t e r b u c h der deutschen u n d i t a l i e n i s c h e n Rechtssprache v o n Giuseppe Conte 17 z ä h l t f ü r „ i s t i t u t o " d r e i B e d e u t u n gen a u f : „ I n s t i t u t , A n s t a l t , E i n r i c h t u n g " . N ä h e r u m s c h r i e b e n u n d d a m i t i n h a l t l i c h b e s t i m m t w i r d das W o r t erst d u r c h Zusätze, z. B . „ i s t i t u t o d i
15 So bereits Roedel/Paulus, Reichskirchenrecht u n d bayerisches Kirchenrecht (1934), A r t . 24 R K Erl. S. 32: „Konfessionelle Lehrerbildungsanstalten sind durch Abs. 2 nicht zugestanden, aber auch nicht ausgeschlossen"; R. Buttmann, i n : H. F r a n k (Hrsg.), NS-Handbuch f ü r Recht u n d Gesetzgebung (1935), S. 467/68; R. Broermann, Das Recht der Pädagogischen Hochschulen i n der Bundesrepublik Deutschland (1961), S. 77. Abweichende Stellungnahmen sind i m deutschen rechtswissenschaftlichen Schrifttum nicht feststellbar. Selbst Franz S. Schuller, w o h l der radikalste Verfechter kirchlicher A n sprüche gegen den Staat, hat i n seiner Dissertation eingeräumt, daß durch das Reichskonkordat „der Kirche ein Recht auf Lehrerbildungsanstalten bekenntnismäßigen Charakter nicht eingeräumt ist" (Arch. kath. KirchenR Bd. 100, 1957, S. 390). I m Konkordatsprozeß ist das Problem n u r gelegentlich gestreift worden. Die Bundesregierung u n d i h r Gutachter H. Peters trugen ohne Begründung vor, § 6 des Nds. SchulG von 1954 („Die Lehrer werden auf Universitäten u n d Hochschulen ausgebildet, an denen Forschung u n d Lehre frei sind") verletze A r t . 24 Abs. 2 R K , w e i l die „Einrichtung einer bekenntnismäßig ausgerichteten Lehrerausbildung nicht vorgesehen ist" u n d kein Anhaltspunkt dafür bestehe, „daß Niedersachsen bereit wäre, etwa außerhalb des Schulgesetzes die i n A r t . 24 Abs. 2 R K vorgesehenen besonderen Einrichtungen zu schaffen" (Der Konkordatsprozeß, Bd. 1, S. 29, 189); es liege „auf der Hand, daß die Universitäten oder freien Lehrerbildungshochschulen als solche dieser Aufgabe nicht genügen können" (Peters, ebenda, S. 658). Die Niedersächsische Landesregierung ist auf die oben wiedergegebene Behauptung n u r unter Hinweis auf A r t . 5 Abs. 3 GG u n d A r t . 143 Abs. 2 W R V eingegangen (ebenda S. 43). 16 S. 24 A n m . 35. Das übersieht Ludwig Volk, Reichskonkordat, S. 177, m i t der Annahme, durch den Zusatz ,speciali 4 habe Pacelli die Zusicherung k o n fessioneller Lehrerbildungsanstalten gefolgert, die staatliche Delegation sei, i n dem sie die Übersetzung der abstrakten ,Einrichtungen 4 i n die konkreten ,istituti 4 zugelassen habe, „durch eigene Unachtsamkeit i n die Übersetzungsfalle geglitten 4 4 (ebd.). Die ,speciali istituti 4 konnten sowohl m i t »besonderer Anstalten 4 w i e m i t besonderer Einrichtungen 4 übersetzt werden; daher die klarstellende Reaktion Buttmanns. Verfehlt ist auch die von Volk i m I n haltsverzeichnis für die Veröffentlichungen gewählte Überschrift „ V a t i k a n i sche Richtigstellungen u n d Buttmanns Erwiderung 4 4 (S. VI). 17 T e i l 1, 1966, S. 185.
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diritto internazionale", „istituto superiore di commercio" ( = Handelshochschule). Daß „istituto" als Einrichtung nicht notwendig „Institut" oder „Anstalt" bedeutet, ergibt sich aus der geläufigen Verbindung „istituto giuridico": Rechtsinstitute oder Rechtseinrichtungen — so die Übersetzung von Conte — wie Eigentum, Erbrecht, usw. sind keine Organisationseinheiten wie die öffentlich-rechtliche Anstalt. Entscheidend aber ist für die Wortbedeutung dies: hätten die vertragschließenden Parteien m i t dem Wort „istituti" und „Einrichtungen" eine Ausbildungsstätte (Pädagogische Akademie, Hochschule usw.) gemeint, deren Status insgesamt auf die Ausbildung i m Sinne des A r t . 24 I I hätte ausgerichtet sein sollen, dann wäre das Wort „Einrichtungen" durch „ U n terrichtsanstalten", italienisch: „ i s t i t u t i d'istruzione" zu ersetzen gewesen, um Zweifel an dem Willen der Vertragspartner auszuschließen. Für das Verständnis des Wortes „istituti" ist weiterhin zu berücksichtigen, daß insofern nicht der italienische, sondern der deutsche Text als Vorbild diente, also das Wort „Einrichtungen" nicht eine (farblose, unzureichende oder fehlerhafte) Übersetzung, sondern die ursprüngliche Fassung des Artikels gewesen ist 1 8 . Der erste Referenten-Entwurf eines Reichskonkordats vom 27. A p r i l 1922, verfaßt von dem Kirchenreferenten des Auswärtigen Amtes, Prof. R. Delbrück, und nach i h m so genannt 19 , enthält i n A r t i k e l X I X Satz 1 die Regel, die 1933 i n A r t i k e l 24 I I unter Auslassung des Wortes „und" wörtlich wiederkehrt: I m Rahmen der allgemeinen und Berufsausbildung der Lehrer werden Einrichtungen geschaffen, die eine Ausbildung katholischer Lehrer entsprechend den besonderen Erfordernissen der katholischen Bekenntnisschule gewährleisten 2 0 .
Der staatliche Entwurf vom 28. Juni 1922 (Delbrück II) ließ das Wort „und" fort und legte bereits den Text fest, den das Reichskonkordat 1933 dann übernahm 2 1 . Die hier erstmals auftauchenden „Einrichtungen" sollten eine Garantie katholischer Lehrerbildungsanstalten nicht bieten. Das geht klar hervor aus einer Besprechungsunterlage, die das Reichsinnenminister i u m am 13. März 1922 für die Chefbesprechung der beteiligten Ressorts angefertigt hatte:
18
Darauf hat W. Weber zu Recht hingewiesen (S. 24). Delbrück I bei Kupper, S. 548 ff. 20 Der Text wurde erstmals veröffentlicht von G. Schreiber i n den Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- u n d Staatswissenschaft der GörresGesellschaft N. F. Heft 2 (1950), S. 159 ff.; er w i r d wiedergegeben auch v o n Deuerlein, S. 332 ff. 21 Der Text bei Kupper, S. 465 ff. 19
H e l m u t Quaritsch
470 V. Schulproblem
b) Nach Ansicht des Reichsministeriums des I n n e r n abzulehnen sind: 1. Zusicherung einer staatlichen Fürsorge f ü r eine genügende Anzahl von katholischen Lehrerbildungsanstalten. Dies ist Sache der Länder. A u ßerdem ist die Regelung der Lehrervorbildung i n einem vollständigen U m b a u begriffen. Das hierbei auch für katholische Vorbildung katholischer Lehrer zu sorgen ist, w i r d allgemein anerkannt. Wie w e i t dies geschieht, ist i m wesentlichen Sache der Länder. Das gleiche g i l t auch f ü r eine Beteiligung der Kirche an der Prüfung. 2.
. ."22
I n e i n e r D e b a t t e des Reichstags ü b e r die F r a g e d e r V e r e i n b a r k e i t des A r t i k e l 5 § 2 u n d 3 des B a y e r i s c h e n K o n k o r d a t s v o n 1924 2 3 a m 17. J u n i 1925 f ü h r t e d e m e n t s p r e c h e n d n a m e n s der R e i c h s r e g i e r u n g d e r Staatss e k r e t ä r i m R e i c h s i n n e n m i n i s t e r i u m , Zweigert, aus: Aber auch ein Reichsgesetz über die Lehrerbildung w i r d nicht d a r u m herumkommen, daß i m Rahmen der allgemeinen Berufsausbildung der Lehrer Einrichtungen geschaffen werden, die eine Ausbildung der an Bekenntnisschulen zur Verwendung kommenden Lehrer entsprechend den besonderen Erfordernissen der Bekenntnisschulen gewährleisten 2 4 . D i e F o r m u l i e r u n g des E n t w u r f s D e l b r ü c k I I b l i e b d a n n auch i n d e n „ R i c h t l i n i e n des R e i c h s m i n i s t e r i u m s des I n n e r e n f ü r e i n R e i c h s k o n k o r d a t " v o m 18. O k t o b e r 1926 u n t e r I I I 18 u n v e r ä n d e r t : I m Rahmen der allgemeinen Berufsausbildung der Lehrer werden Einrichtungen geschaffen, die eine Ausbildung katholischer Lehrer entsprechend den besonderen Erfordernissen der katholischen Bekenntnisschule gewährleisten 2 5 . D i e I n i t i a t i v e z u m A b s c h l u ß eines R e i c h s k o n k o r d a t s w a r v o n d e r K u r i e ausgegangen; die s t a a t l i c h e n E n t w ü r f e s i n d als R e a k t i o n e n z u v e r 22
Vollständiger Text bei Kupper, S. 455 ff. (457). Diesen Vorschriften fehlt, wie W. Weber, S. 21 ff. überzeugend dargetan hat, eine ausdrückliche Garantie katholischer Lehrerbildungsanstalten: § 2 „Die Lehrer u n d Lehrerinnen, die an katholischen Volksschulen angestellt werden wollen, müssen vor ihrer Anstellung nachweisen, daß sie eine dem Charakter dieser Schulen entsprechende Ausbildung erhalten haben. Diese Ausbildung muß sich beziehen sowohl auf den Religionsunterricht w i e auf jene Fächer, die für den Glauben u n d die Sitten m i t deutungsvoll sind . . . § 3. Der Staat w i r d bei der Neuordnung der Lehrerbildung f ü r Einrichtungen sorgen, die eine den obigen Grundsätzen entsprechende Ausbildung der f ü r katholische Volksschulen bestimmten Lehrkräfte sichern. 24 RT-Verhandlungen Bd. 386, Sten.-Berichte, S. 2377 C; auch auf diesen Vorgang hat W. Weber, S. 10 f. hingewiesen. 25 Abgedruckt i n : Der Konkordatsprozeß Bd. 2, S. 569 sowie bei Kupper, S. 479 ff. 23
Lehrerbildung nach dem Reichskonkordat
471
stehen. D a h e r v e r d i e n e n i n diesem Z u s a m m e n h a n g die v o r a n g e g a n g e n e n K o n k o r d a t s e n t w ü r f e des H e i l i g e n S t u h l s v o m 1. M a i 1920 u n d v o m 15. N o v e m b e r 1921 besonderes G e w i c h t . I n diesen n e u e r d i n g s sog. Pacelli-Punktationen
I u n d I I w a r die I n s t i t u t i o n konfessioneller
Ausbil-
dungsstätten eindeutig umschrieben: X I I I . Der Staat sorgt f ü r eine genügende Anzahl v o n katholischen Lehreroder Lehrerinnenbildungsanstalten. Die Lehrer u n d Lehrerinnen, welche an katholischen Schulen angestellt werden sollen, müssen diese Anstalten besuchen u n d während ihrer ganzen Ausbildungszeit a m Religionsunterricht teilnehmen. Z u r Beurteilung der Eignung f ü r die Erteilung des Religionsunterrichtes bzw. Anstellung an konfessionellen Schulen w i r d der Kirche das Recht eingeräumt, an der Prüfung der Lehramtskandidaten m i t z u w i r k e n bzw. Kommissare zu entsenden. Die privaten Lehrer- u n d Lehrerinnenbildungsanstalten sind den staatlichen gleichgestellt, w e n n sie die gleichen Vorbedingungen erfüllen 2 6 . I n d e r h i e r i n t e r e s s i e r e n d e n Sache gleich, w e n n auch i n e i n e m P u n k t e (Teilnahme
am
Religionsunterricht
während
des
Studiums)
abge-
schwächt, f o r m u l i e r t e d i e P a c e l l i - P u n k t a t i o n I I : V I I . Der Staat sorgt f ü r eine genügende Anzahl von katholischen Lehreroder Lehrerinnenbildungsanstalten, deren Besuch f ü r die Lehrer u n d Lehrerinnen, welche an katholischen Schulen angestellt werden wollen, verpflichtend ist. Z u r Beurteilung der Eignung f ü r die Erteilung des Religionsunterrichtes bzw. Anstellung an konfessionellen Schulen w i r d der Kirche das Recht eingeräumt, an der Prüfung der Lehramtskandidaten m i t z u w i r k e n bzw. Kommissare zu entsenden. Die privaten Lehrer- u n d Lehrerinnenbildungsanstalten sind den staatlichen gleichgestellt, w e n n sie die f ü r letztere geltenden unterrichtlichen Vorbedingungen i m wesentlichen erfüllen 2 7 . A u f s t a a t l i c h e r Seite ü b e r n a h m d e n A n s p r u c h a u f „ e i n e genügende A n z a h l v o n k a t h o l i s c h e n L e h r e r - oder L e h r e r i n n e n b i l d u n g s a n s t a l t e n " a l l e i n d e r E n t w u r f des deutschen Botschafters a m H e i l i g e n S t u h l , v . Bergen, abgesandt a n das R e i c h s i n n e n m i n i s t e r i u m a m 18. J a n u a r 1922: A r t . 15. Der Staat sorgt f ü r eine genügende A n z a h l katholischer Lehreru n d Lehrerinnenbildungsanstalten. Der Besuch derselben ist für die Anstell u n g an katholischen Schulen i n der Regel Vorbedingung. Die Kirche hat das Recht, an den Prüfungen der Lehramtskandidaten, bei welcher Religion Hauptfach bleibt, mitzuwirken, bzw. zu dieser Kommissare zu entsenden. Die privaten Lehrer- u n d Lehrerinnenbildungsanstalten gelten als öffentliche, falls sie die für diese geltenden lehrplanmäßigen Vorbedingungen i m wesentlichen erfüllen . . . 2 8 28 Text der Pacelli-Punktation I bei Volk, Kirchliche A k t e n über die Reichskonkordatsverhandlungen 1933, S. 277 ff. (280). 27 Text bei R. Morsey, Z R G Kan. Abt., Bd. 44, 1958, S. 254 ff. u n d bei Küpper, S. 441 ff. (444). 28 Text des Entwurfs Bergen bei Kupper, S. 448 ff. (452).
472
H e l m u t Quaritsch
M i t den Wendungen „katholischer Lehrer- oder Lehrerinnenbildungsanstalten" einerseits, den „Einrichtungen usw. i m Rahmen der allgemeinen Berufsausbildung der Lehrer" andererseits war der Gegensatz zwischen dem, was der Heilige Stuhl forderte, und dem, was das Reich zuzugestehen bereit war, klar fixiert. III. Bei den Verhandlungen i n Rom spielte die Ausbildung der Lehrer für Bekenntnisschulen keine prominente Rolle; die Formulierung des A r t . 24 I I war von Beginn an die des Entwurfs Delbrück I I aus dem Jahre 1922. Es zeigte sich freilich, daß der Staat die Lehrerbildung durch geeignete „Einrichtungen" statt durch „katholische Lehrerbildungsanstalten" als conditio sine qua non des gesamten Vertragswerkes betrachtete. Das erhellen die Vorgänge um Art. 24 I I I und das Schlußprotokoll. Der aus den Verhandlungen von Pacelli , Kaas und v. Papen hervorgegangene Entwurf vom 2. und 5. J u l i 193329 enthielt i n A r t . 24 I I I diese Vorschrift: Soweit nach Neuordnung des Lehrerbildungswesens Privatanstalten i n der Lage sind, den allgemein geltenden staatlichen Anforderungen f ü r Ausbildung von Lehrern oder Lehrerinnen zu entsprechen, werden bei ihrer Z u lassung auch bestehende Anstalten der Orden u n d Kongregationen entsprechend berücksichtigt werden.
I n das Schlußprotokoll sollte folgende Bestimmung aufgenommen werden: Z u A r t . 24, Abs. 2: Es herrscht Einverständis darüber, daß es den besonderen Erfordernissen der katholischen Bekenntnisschule entspricht, daß die an i h r wirkenden Lehrer i n konfessionellen Lehrerbildungsanstalten vorgebildet werden.
M i t diesem Text wären die Begriffe „Einrichtungen" und „istituti" i m Sinne der Pacelli-Punktationen von 1920 und 1921 authentisch interpretiert worden. Dieser Entwurf vom 2./5. J u l i 1933 alarmierte das Auswärtige A m t ebenso wie das Reichsinnenministerium; Hitler schaltete jetzt Buttmann i n die Verhandlungen ein 3 0 . Außenminister Neurath verlangte Streichung der oben wiedergegebenen A r t i k e l 3 1 . Über die folgenden Verhandlungen am 7. und 8. J u l i 1933 zwischen Pacelli , Kaas und Gröber auf der einen, v. Papen und 29
Bei Kupper, S. 149 ff. (158, 162). I m einzelnen Volk, Das Reichskonkordat, S. 141 ff. Vgl. die handschriftlichen Notizen des Ministers, wiedergegeben Kupper, S. 158, 162. 30
31
bei
Lehrerbildung nach dem Reichskonkordat Buttmann
473
a u f der a n d e r e n Seite u n t e r r i c h t e n eine p r i v a t e , tagebuch-
artige Aufzeichnung u n d ein A k t e n v e r m e r k
Buttmanns Z2.
Buttmann
n o t i e r t e u. a.: Bei A r t . 24 verlange ich Streichung von Abs. I I I . Der ganze A r t i k e l droht eine lange Aussprache über die Ausbildung der Lehrer an konfessionellen Bildungsanstalten heraufzubeschwören. Ich lasse mich rasch darauf ein, daß das bayerische K k . hier als Muster dient, da j a die Frage der konfessionellen Lehrerbildung i n i h m nicht beantwortet ist. Ich erkläre mich mündlich bereit, nicht n u r f ü r gesonderten Religionsunterricht Sorge zu tragen, sondern auch für besondere Kurse i n den Gesinnungsfächern. Wenn i m übrigen der Unterricht i n diesen Fächern einheitlich ist, können uns solche Kurse nicht schaden. Die kathol. Lehrerkandidaten werden von tüchtigen Professoren leicht i n den Stand gesetzt werden können, gegenüber kirchlich bornierten Auffassungen die richtigen Auffassungen aufzunehmen. Ich gebe auch zu, daß der Schlußabsatz ins Schlußprotokoll übernommen w i r d . Kaas wünscht eigentlich selbst n u r die Beschränkung auf Lehrerinnen u. meint, der Staat spare doch v i e l Kosten, w e n n die weiblichen Lehrkräfte v o n den Orden herangebildet würden. A m Samstag aber ist er selbst für Ausdehnung auch auf männliche Lehrer. Bei einer gesetzl. Neuordnung würde das Kabinett zu entscheiden haben. Papen würde dabei seine Stimme i n die Waagschale werfen 3 3 . Der A k t e n v e r m e r k teilt lakonisch m i t : Der ursprüngliche Schlußabsatz dieses A r t i k e l s wurde i m Text des K o n kordats gestrichen u n d geändert i n das Schlußprotokoll übernommen 3 4 . Z u r Neufassung des S c h l u ß p r o t o k o l l s f i n d e t sich i n b e i d e n U r k u n d e n keine Bemerkung. Das E r g e b n i s sah also i n d e m a m 8. J u l i 1933 p a r a p h i e r t e n u n d so auch r a t i f i z i e r t e n T e x t so aus: D i e V o r s c h r i f t des Absatzes 3 b e t r . Z u lassung v o n p r i v a t e n , d u r c h O r d e n u n d K o n g r e g a t i o n e n b e t r i e b e n e n A n s t a l t e n der L e h r e r b i l d u n g w u r d e n i c h t gestrichen, s o n d e r n i n s S c h l u ß p r o t o k o l l v e r w i e s e n . A u s d e m S c h l u ß p r o t o k o l l w u r d e die I n t e r p r e t a t i o n s k l a u s e l ersatzlos e n t f e r n t . D i e l a n g e Reihe s t a a t l i c h e r E n t w ü r f e , d i e V e r h a n d l u n g e n u n d d e r e n d g ü l t i g e K o n k o r d a t s t e x t lassen d e n Schluß zu, daß d e r S t a a t seine a l t e n V o r s t e l l u n g e n ü b e r d i e i n s t i t u t i o n e l l e Seite der L e h r e r b i l d u n g h a t durchsetzen k ö n n e n 3 5 . 32
Bei Kupper, S. 166 ff., 176 ff. Bei Kupper, S. 172. 34 Kupper, S. 181. 35 Die erst durch die A k t e n p u b l i k a t i o n von Küpper bekannt gewordene Note v. Papens an Pacelli v o m 8. J u l i 1933 — E r k l ä r u n g namens der Reichsregierung — n i m m t zu A r t . 24 I I lediglich durch wörtliche Übernahme von A r t . 5 § 2 des Bayerischen Konkordats Stellung: 4.) zu A r t . 24, Absatz 2: Die Lehrer u n d Lehrerinnen, die an katholischen Volksschulen angestellt w e r den sollen, müssen vor ihrer Anstellung nachweisen, daß sie eine dem Charakter dieser Schulen entsprechende Ausbildung erhalten haben. Diese Ausbildung muß sich beziehen sowohl auf den Religionsunterricht wie auch auf 33
H e l m u t Quaritsch
474
Daß d i e K u r i e dieses R e s u l t a t des R e i c h s k o n k o r d a t s mußte
angesichts
der
Qualität
und
Sachkunde
ihrer
gesehen h a t , Unterhändler
schon i m m e r a n g e n o m m e n w e r d e n ; d e r u n w i d e r l e g l i c h e B e w e i s d a f ü r aber f e h l t e . Dieser B e w e i s tauchte 1963 auf, als Erwin
Iserloh
aus d e n
A k t e n des B i s t u m s a r c h i v s T r i e r e i n Schreiben des K a r d i n a l s t a a t s s e k r e tärs Pacelli
v o m 21. J u l i 1933 a n d e n V o r s i t z e n d e n d e r F u l d a e r
schofskonferenz, K a r d i n a l Bertram,
Bi-
v e r ö f f e n t l i c h t e , f r e i l i c h a n so e n t -
legener Stelle, daß es z u m i n d e s t d e n J u r i s t e n u n b e k a n n t b l i e b 3 6 . Es l a u tete: Hoch würdigste Eminenz! I m Verlauf der Konkordatsverhandlungen habe ich, den Anträgen der F u l daer Bischofskonferenz entsprechend, mich m i t allen K r ä f t e n bemüht, den v o n Euerer Eminenz vorgeschlagenen Zusatz i n den Konkordatstext einfügen zu lassen, wonach katholische Lehrerbildungsanstalten die durch die Eigenart der katholischen Konfessionsschule geforderte normale Form der Vorbildung darstellten. Zu meinem lebhaften Bedauern ist die Einfügung nicht erreichbar gewesen — wie m i r die staatlichen Unterhändler, Herr Vizekanzler v o n Papen u n d H e r r Ministerialdirektor B u t t m a n n erklärten, hauptsächlich deshalb, w e i l z. Z. die ganzen einschlägigen Fragen noch i n Fluß seien u n d deshalb die Hereinnahme einer solchen Bestimmung ohne unübersehbare Hinausschiebung des Abschlußtermins nicht möglich sei. Beide haben m i r jedoch u n d zwar m i t der Ermächtigung der Weitergabe an Eure Eminenz die E r k l ä r u n g abgegeben, daß staatlicherseits an eine Änderung des bisherigen faktischen u n d rechtlichen Zustandes nicht herangegangen werde, ohne sich vorher m i t dem Episkopat i n Verbindung zu setzen, u m i n gemeinsamer Z u sammenarbeit einen Vorbildungstyp f ü r die an katholischen Konfessionsschulen anzustellenden Lehrerpersonen festzulegen, der der Eigenart u n d den Aufgaben der katholischen Konfessionsschule v o l l entspreche. V o n dieser E r k l ä r u n g beehre ich mich Euere Eminenz i m Einverständis m i t den beiden staatlichen Unterhändlern h i e r m i t geziemend i n Kenntnis zu setzen . . . (Hervorhebungen v o n mir). N u r eine R ü c k ä u ß e r u n g ist b e k a n n t . K a r d i n a l Faulhaber hatte von B e r t r a m eine A b s c h r i f t des Schreibens e r h a l t e n u n d a n t w o r t e t e a m E n de seines A n t w o r t - u n d D a n k b r i e f e s v o m 31. J u l i 1933: Auch dafür ehrerbietigsten Dank, daß Eminenz m i r eine Abschrift von den Mitteilungen des H e r r n Staatssekretärs über bekenntnismäßige L e h r e r b i l jene Fächer, die für den Glauben u n d die Sitten bedeutungsvoll sind. Die E r teilung des Religionsunterrichtes setzt die Missio Canonica durch den Diözesanbischof voraus. (Küpper, S. 211, 213). I n der Note Pacellis an v. Papen v o m gleichen Tage (Küpper, S. 215) w i r d auf die Lehrerbildung nicht mehr eingegangen. 36 V o m Abschluß des Reichskonkordats bis zur Ratifikation. Trierer theologische Zeitschrift 1963, S. 39 - 53, S. 43/44 das Schreiben Pacellis; jetzt auch bei Volk, Kirchliche Akten, S. 179 f.
Lehrerbildung nach dem Reichskonkordat
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dung zukommen ließen. F ü r uns ist diese Frage insofern vorerst erledigt, da bekenntnismäßige Lehrerbildung i m bayerischen Konkordat verankert ist 3 7 .
Der Sinn dieser Feststellung ist nicht ganz deutlich; dem Bayerischen Konkordat fehlt ebenfalls, wie bereits dargelegt, eine Garantie konfessioneller Lehrerbildungsanstalten. Kehren w i r zurück zu unserem Ausgangspunkt. Die i n der Note vom 6. August 1936 vertretene Ansicht über „den ganz unzweideutigen Ausdruck ,istituti 4 , der zu keinerlei Zweifel Anlaß geben kann und das Recht der Kirche auf konfessionelle Lehrerbildungsanstalten i n unanfechtbarer Weise festlegt", war objektiv unrichtig. Der entschiedene Vortrag dieser Meinung mag motiviert gewesen und erklärt sein durch die Atmosphäre des Kirchenkampfes. Der Widerspruch dieser Note des Kardinalstaatssekretärs zu seinen Ausführungen i n dem Bericht an Kardinal Bertram vom 11. J u l i 1933 ist jedenfalls ebenso evident wie eklatant. Die A n t w o r t der Reichsregierung vom 7. Januar 1937 — „ . . . kann . . . die Auslegung, die der Heilige Stuhl dem Worte ,istituto* gibt, nicht als die allein mögliche angesehen werden" — fiel vergleichsweise zurückhaltend und entgegenkommend aus. Hatten der deutsche Episkopat und Pacelli vergessen, was 1933 erreicht und nicht erreicht worden war? W i r wissen es nicht. Wohl aber sind die grundlegenden Untersuchungen Werner Webers aus dem Jahre 1965 endgültig als richtig erwiesen, mag dazu hier auch nur das bekannte Tüpfelchen auf dem i dargereicht worden sein.
37
Bei
Volk,
Kirchliche Akten, S. 201 (202).
Staat und Kirche im Meldewesen Von A x e l Frhr. von Campenhausen
I. Der Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, hat sich vor Jahren i n einer Abhandlung über Staat und Kirche i m Personenstandswesen 1 m i t der Frage beschäftigt, „wieweit die Personenstandsregister oder -bûcher bei Eheschließungen, Geburten und Sterbefällen auch die Religionszugehörigkeit der beteiligten Personen auszuweisen haben und wieweit die Eintragungen auch den Kirchen und sonstigen Relionsgemeinschaften für ihre Zwecke zur Verfügung stehen". M i t Recht billigte er dieser begrenzten Frage nicht nur große praktische Bedeutung zu; er erkannte i n ihr einen Punkt, der das gesamte Verhältnis von Staat und Kirche i n einer charakteristischen Weise widerspiegele. I m Ergebnis seiner Untersuchung gelangte Weber dahin 2 , daß die Dienststellen der Kirchen und sonstigen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zwar nicht Behörden i. S. des § 61 Abs. 1 PerStG seien 3 und ihnen deshalb die behördliche Befugnis zur allgemeinen Einsicht und Durchsicht der Personenstandsunterlagen nicht zustehe. Andererseits legte er dar, daß ihnen auf Anfrage über jede Person ohne Vorbehalt Auskunft dahin zu erteilen sei, ob diese ihnen rechtlich angehöre oder nicht. Dabei sah Weber die maßgebliche konfessionelle Neutralität des Staates i n der Handhabung der Personenstandsbücher und Namenslisten dadurch gesichert, daß die Auskunft nur über einzelne Personen und nur über die Frage ihrer persönlichen rechtlichen Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur anfragenden Kirche oder Religionsgemein1
W. Weber, Staat u n d Kirche i m Personenstandswesen, i n : Staatsverfassung u n d Kirchenordnung. Festgabe für R. Smend (1962), S. 401 ff. 2 Ebenda, S. 421 f. 3 Dagegen rechnete die Amtliche Begründung zum E n t w u r f des Ä n d e rungsgesetzes zum PersStG (BT-Drucksache Nr. 848 v o m 27.9.1954) unter Nr. 49 auch die Behörden der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften zu den berechtigten Behörden. Ebenso die Kommentare Pfeifer - Strickert, Personenstandsgesetz, 1961, § 61 Erl. 2; Feneberg - Simader, Personenstandsgesetz, 1958, § 61 Erl. 1 a; Thomson, Das Recht auf Benutzung der Personenstandsbücher, StAZ 1959, 141 ff.
478
A x e l Frhr. von Campenhausen
schaft erteilt werden dürfe 4 . Dieses Auskunftsrecht unterschied er ausdrücklich von dem Recht auf Einsicht i n die „bürgerlichen Steuerlisten", die m i t den standesamtlichen Aufzeichnungen nicht identisch sind 5 . Für seine verfassungsmäßige Unbedenklichkeit wies er noch besonders darauf hin, daß die Kirchenzugehörigkeit über die Steuerpflicht hinausreichende kirchliche Mitgliedschaftsrechte und -pflichten umfasse. Der Staat, der das Mitgliedschaftsrecht durch seine Verfassung und Kirchenverträge als eigene Angelegenheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften anerkenne, habe keinen Anlaß, „diejenigen Personen offen oder verhüllt gegen ihre Kirche i n Schutz zu nehmen, die nach der eigenen Angabe ihres Bekenntnisstandes der betreffenden Kirche zugeordnet sind und die der sich daraus ergebenden Kirchenmitgliedschaft nicht durch den ihnen freistehenden Kirchenaustritt die Grundlage entzogen h a b e n . . . Mindestens die Kirchen unter den Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts haben dank ihres verfassungs- und vertragskräftigen Öffentlichkeitsstatus und der darin beschlossenen territorialistischen Züge ihrer Mitgliedschaft ein gutes Recht darauf, daß der Staat ihnen i n zweifelhaften Einzelfällen aus seinen Personenstandsunterlagen darüber Auskunft gibt, ob eine Person zu ihnen gehört oder nicht. Sich i m übrigen u m ihren Mitgliederbestand und dessen kirchengemeinschaftliche Integrierung zu kümmern, ist allerdings allein ihre Sache". II. Die bevorstehende Neuordnung des Meldewesens, die durch die Umstellung auf elektronische Speichermaschinen notwendig geworden ist, hat ähnliche Fragen der kirchlichen Informationsrechte über persönliche und familiäre Verhältnisse ihrer Mitglieder gegenüber Staat und Kommunen aufgeworfen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Datenschutzes 6 . III. Die Kenntnisnahme der Meldeunterlagen hat durch die Entwicklung des staatlichen Steuerrechts an Bedeutung gewonnen. Bekanntlich sind die m i t Körperschaftsrecht ausgestatteten Religionsgemeinschaften gemäß A r t . 140 GG, 137 V I WRV berechtigt, auf Grund der bürgerlichen 4
Z u m weitergehenden Auskunftsrecht der Religionsgemeinschaften h i n sichtlich ihrer Geistlichen u n d sonstigen Amtsträger vgl. W. Weber, S. 422. 5 Ebenda, S. 411 f., 423. 6 Den folgenden Ausführungen liegt eine gutachtliche Äußerung zugrunde, bei der mich Dr. J. Müller-Volbehr unterstützt hat.
Staat u n d Kirche i m Meldewesen
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Steuerlisten Steuern zu erheben. Unter den „bürgerlichen Steuerlisten" sind die amtlichen Zusammenstellungen der Ergebnisse der Veranlagung zu den Bundes-, Landes- und Gemeindesteuern zu verstehen 7 . Die Steuererhebung auf Grund bürgerlicher Steuerlisten garantiert den Kirchen somit eine Besteuerung unter Verwendung der staatlichen Maßstabsteuern. Seit längerem werden die von der Weimarer Reichsverfassung angesprochenen Steuerlisten jedoch nicht mehr geführt. Vielmehr werden die Lohnsteuerkarten von den gemeindlichen Einwohnermeldeämtern anhand der Meldelisten ausgestellt und direkt den Lohnsteuerpflichtigen ausgehändigt, die die Steuerkarten wiederu m bei ihrem Arbeitgeber einzureichen. Erfahrungsgemäß fließen nach Ablauf des jeweiligen Steuerjahres nur 70 - 80 % dieser Lohnsteuerkarten an die Finanzämter zurück 8 . Auch Einkommensteuerlisten werden nicht jedes Jahr geführt. Die Finanzämter erstellen vielmehr nur i n den Jahren, i n denen eine Bundeslohnsteuerstatistik erhoben wird, also alle drei Jahre, Auswertungsbelege, die die für die Kirchensteuer erforderlichen Angaben über Wohnsitz, Religionszugehörigseit und veranlagte Kircheneinkommensteuer enthalten. Die Hebung der übrigen Steuern wie u. a. der kommunalen Grund- und Gewerbesteuer schließlich geschieht vielfach unmittelbar m i t Hilfe der Unterlagen des Einwohnermeldeamtes. Aus diesem Grunde ist der Informationsanspruch der Kirchen nicht auf die Vorlage der Lohnsteuerkarten und die Einsicht i n die Auswertungsbelege aus der Einkommensteuer sowie eventuell erstellte Steuerlisten für Spezialsteuern wie die Gewerbe-, Grund- und Hundesteuer beschränkt. Neben den vom Staat eingezogenen Landeskirchen- bzw. Diözesankirchensteuern gibt es nämlich nach verschiedenen Maßstäben von den Kirchen selber erhobene Ortskirchensteuern. I n Bayern schließlich w i r d selbst die Landeskirchensteuer unmittelbar von der Kirche eingezogen. Für den eigenen Einzug sind die Kirchen darauf angewiesen, die entsprechenden Steuerdaten zu dem Zeitpunkt zu erhalten, zu dem die Steuerpflicht entsteht, und nicht erst lange Zeit danach. Eine Einsicht i n Steuerlisten, welche die Verfassung garantiert, heißt nur, daß die Kirchen sich anhand der Unterlagen einen Überblick über Zeitpunkt der Steuerentstehung und über die Besteuerungsgrundlagen, also über die einzelnen Elemente der Steuerveranlagung verschaffen 7
Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches (14. Aufl. 1933) A r t . 137 Anm. 11; vgl. auch B a y V e r f G H v o m 2.12.1957, Z e v K R 7 (1959/60) S. 101; ferner Marré - Hoff acker, Das Kirchensteuerrecht i m L a n d Nordrhein-Westfalen, 1969, S. 105. 8 Der Schwund von 20 - 30 °/o erklärt sich so, daß ein großer T e i l der L o h n steuerpflichtigen keinen Lohnsteuerjahresausgleich beantragt u n d daher die v o m Arbeitgeber zurückgegebene Steuerkarte i n seiner Hand behält.
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A x e l Frhr. von Campenhausen
dürfen. Den Kirchen wäre nicht geholfen, wenn sie die Einkommensteuerunterlagen alle drei Jahre und die Lohnsteuerkarten jeweils nach Ablauf des betreffenden Steuerjahres und zudem nur zu 70 - 80 °/o nach Abschluß des finanzamtlichen Lohnsteuerausgleichsverfahrens einsehen dürften. Eine Einsicht der Lohnsteuerkarten gleich nach ihrer Ausstellung durch die Gemeinden, also noch bevor sie den Lohnsteuerpflichtigen ausgehändigt werden, wäre jedoch organisatorisch undurchführbar. Wegen dieser Sachlage hat sich das derzeit allgemein übliche Verfahren herausgebildet, daß die staatlichen bzw. kommunalen Behörden, u m ihrer Verpflichtung aus A r t . 140 GG, 137 V I WRV nachzukommen, die Kirchen i n Ermangelung solcher Steuerlisten die entsprechenden Meldedaten übermitteln, sobald sie jeweils bei den Meldeämtern anfallen, d. h. wenn Zu- bzw. Fortzüge und Veränderungen des Familienstandes gemeldet werden. Dies geschieht i n aller Regel i n der Weise, daß die Kirchen Durchschriften der betreffenden Meldescheine erhalten. Materiell handelt es sich bei dieser Praxis u m eine A r t Erfüllung des Anspruchs der Kirchen aus A r t . 137 V I WRV, bei der die Meldebehörden sozusagen als Erfüllungsgehilfen der informationsverpflichteten Finanzämter fungieren 9 . Nicht zuletzt u m der Verpflichtung zu entgehen, eigens für die Religionsgemeinschaften Steuerlisten zu schaffen, die für den Staat einen unverhältnismäßigen Arbeitsaufwand mit sich brächte, haben sich Staat und Kirche stillschweigend seit langem auf die derzeit übliche Praxis geeinigt 10 .
9 Wie bereits dargelegt, k a n n das Recht der Kirchen aus A r t . 137 V I W R V nicht v o l l befriedigt werden. Die Lohnsteuerkarten bzw. die Einkommensteuerlisten vermögen nicht an die Stelle der sonst nicht vorhandenen Steuerlisten zu treten, da sie sich für die Steuererhebung der Kirchen aus den genannten Gründen nicht eignen. Wäre eine sonstige Erfüllung des Anspruchs der Kirchen unmöglich, müßte die staatliche Finanzverwaltung sogar als v e r pflichtet angesehen werden, solche Steuerlisten zu schaffen, damit der W i l l e der Verfassung i n Ansehung der Kirchensteuererhebung v e r w i r k l i c h t w i r d . Eine solche Pflicht bejaht H. Gefaeller, Die Kirchensteuer seit 1945, 2. Teil, Z e v K R 1 (1951) S. 392. 10 Die tatsächlichen Verhältnisse vermögen jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, daß m i t der Ü b e r m i t t l u n g der Meldedaten der Anspruch der K i r chen insofern n u r teilweise erfüllt w i r d , als die Kirchen anhand dieser U n terlagen sich die Steuerlisten selber anfertigen müssen, soweit sie dessen für die eigenständige Steuererhebung bedürfen. So gesehen stellt die Handhabung gegenüber dem f ü r die staatlichen Behörden aus A r t . 137 V I W R V v o r gegebenen Soll ein Weniger dar, das n u r als Surrogat oder teilweise E r f ü l lung angesehen werden kann. Damit haben die Kirchen sich aber abgefunden, w e i l sie auf diesem Wege ebenso zum Ziele kommen, wie sie es m i t Hilfe einer Einsicht i n detaillierte Steuerlisten kämen.
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Das Recht auf Einsicht i n die bürgerlichen Steuerlisten ist also einmal kirchensteuerrechtlichen Ursprungs. I n diesem Zusammenhang hat es neben dem Grundgesetz und einigen Landesverfassungen 11 auch i n sonstigen Rechtsquellen Eingang gefunden. I n den Kirchenverträgen 1 2 ist das Recht der Kirchen auf Auskunft oder Einsicht i n die Melderegister zum Zwecke der Kirchensteuererhebung landesrechtlich abgesichert. Darüberhinaus kennt Baden-Württemberg eine förmliche Gesetzesbestimmung 18 . Daneben haben die Kirchen und Religionsgemeinschaften aber auch unter sonstigen, insbesondere seelsorgerlichen Gesichtspunkten ein rechtliches Interesse an der Einsicht i n die Meldeunterlagen. Angesichts der Fluktuation der Bevölkerung ist eine kontinuierliche kirchliche Arbeit ohne laufende Einsicht i n die Meldeunterlagen kaum möglich 1 4 . I n den Ländern Bayern, Berlin, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland ist dieses Interesse ausdrücklich anerkannt und rechtlich geregelt. Hier können die K i r chen durch Einsichtnahme i n die Meldescheine solche Daten erfassen, die nicht unmittelbar für die kirchliche Besteuerung, wohl aber für die seelsorgerische Arbeit notwendig sind. Die kirchlichen Stellen erhalten entsprechende Stücke der Meldescheine teilweise unaufgefordert, teil11 Baden-Württemberg (Art. 5), Bayern (Art. 143 I I I ) , Hessen (Art. 51 I I I ) , Nordrhein-Westfalen (Art. 22), Rheinland-Pfalz (Art. 43 I I I ) . 12 Reichskonkordat, Schlußprotokoll zu A r t . 13; Bayerisches Konkordat A r t . 10 § 5; Badisches Konkordat A r t . I V Nr. 4; evangelische Kirchen Verträge: Bayern A r t . 20; Pfalz A r t . 23; Baden A r t . I I Abs. 5; Niedersachsen A r t . 12, 13; Schleswig-Holstein A r t . 14, 15; Hessen A r t . 17, 18. Bis ins einzelne sind die von den Kirchen benötigten u n d ihnen bisher schon zur Verfügung stehenden Unterlagen i n § 14 der Zusatzvereinbarung zum Kirchenvertrag Schleswig-Holsteins u n d i m Kirchenvertrag Hessens (Schlußprotokoll zu A r t . 18 Abs. 1) bezeichnet. 13 Baden-Württemberg: § 13 Kirchensteuergesetz: Danach leisten Staatsu n d Gemeindebehörden den kirchlichen Behörden Amtshilfe zur Durchführung der Besteuerung u n d zur Aufstellung der Wählerlisten f ü r die Steuervertretungen. Sie erteilen insbesondere Auskünfte u n d gewähren Einsicht i n ihre Akten. Nach Ziffer 27 der Verwaltungsvorschriften des I n n e n m i n i steriums zum Meldegesetz v o m 8. 4.1960 (GABI. S. 271) ist den Kirchenbehörden auf Wunsch der Zuzug oder Wegzug von Personen mitzuteilen, soweit dies zur Feststellung der Grundlagen der kirchlichen Besteuerung erforderlich ist. Das Verfahren ist i n örtlichen Vereinbarungen zu regeln. Als K i r chenbehörden gelten Pfarrämter u n d entsprechende Stellen von Kirchen, Religions- u n d Weltanschauungsgemeinschaften, soweit ihnen die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen worden sind. Darüber hinaus k a n n nach Ziffer 36 der zitierten Verwaltungsvorschrift den Kirchenbehörden die Einsichtnahme gestattet werden, w e n n zwingende Gründe dies erfordern. 14 I n München verändern jährlich etwa 20°/o der evangelischen Bürger ihren Wohnsitz.
31 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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weise auf Anforderung. Die diesbezüglichen Regelungen finden sich allerdings nur i n Ministerialerlassen, Rundverfügungen bzw. Verwaltungsanordnungen 15 . I n Hamburg und Hessen ist es nicht vorgesehen, kirchlichen Stellen Exemplare der Meldescheine zur Auswertung zu überlassen. Aus den Bestimmungen Schleswig-Holsteins ist dies nicht 15 Bayern: Abschnitt Β I V 1 der Vollzugsentschließung v o m 2.1.1961 i. d. F. v o m 27.1.1971 (Ministerialamtsblatt Nr. 8); vgl. auch W. Gerber, Meldewesen, 1961, S. 79, 88: Kirchen u n d Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, ist A u s k u n f t wie Behörden zu erteilen. A n - u n d Abmeldescheine sowie listenmäßige Zusammenstellungen über A n - und A b meldungen können kurzfristig überlassen werden. Berlin: Allgemeine Anweisung über die Einwohnerregistrierung bei den Bezirksämtern v o m 10.12.1968 (Dienstblatt des Senats von B e r l i n 1/1969, S. 3) Ziffer 21 h u n d 67 : Der Berliner Stadtsynodalverband und das Bischöfliche Ordinariat B e r l i n sind i n den Meldeverkehr miteinbezogen. Die Kirchensteuerstelle B e r l i n ist i n den bezirklichen Meldeverkehr einbezogen u n d über Veränderungen aller evangelischen u n d katholischen Einwohner v o n Berlin, f ü r die eine Adreßplatte geprägt w i r d u n d vorhanden ist, zu unterrichten. Bremen: Verwaltungsvorschriften zum Meldegesetz des Senators für I n neres v o m 1. 4.1962, Nr. 34: Die Meldebehörde übersendet den Kanzleien der Kirchen, die Körperschaften des öffentlichen Rechts u n d daher berechtigt sind, Kirchensteuer einzuziehen, ein Stück der Meldescheine oder der Meldebestätigung über alle A n - , A b - u n d Ummeldungen von Personen, die M i t glieder dieser Kirchen sind. Statt dessen oder daneben können auch auf G r u n d von Vereinbarungen gegen Vergütung Adrema-Abdrucke geliefert werden. Niedersachsen: Nr. 35 der Verwaltungsvorschrift zum Meldegesetz v o m 30. 4.1961 (MB1. 1961, S. 641), vgl. Praxis der Gemeindeverwaltung, Κ 8 Nds Melderecht: Die Kirchen sind bei Vorliegen eines besonderen Sachverhalts von meldepflichtigen Vorgängen zu benachrichtigen. Ferner Verordnung zur Durchführung des Meldegesetzes v o m 6. 6.1961 (GVB1. S. 143) wegen der Gebührenbefreiung für Kirchen. Nordrhein-Westfalen: Ziffer 31 P u n k t 16 und 34 P u n k t 42 der Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Meldegesetzes f ü r das L a n d NordrheinWestfalen v o m 15.7.1960 (Ministerialblatt 2 014): E i n Stück aller A n - u n d Abmeldebestätigungen ist den kirchlichen Stellen zuzuleiten. Auftretende Zweifelsfragen sind i m Einvernehmen m i t den zuständigen kirchlichen Stellen zu klären. Auskünfte werden den Kirchen gebührenfrei gewährt. Rheinland-Pfalz: Ziffer C I a (6) u n d C I V (1) der Allgemeinen V e r w a l tungsvorschriften zum Meldegesetz v o m 24.7.1958 (Ministerialblatt Spalte 1405): A u f Anforderung ist den örtlichen Kirchen ver waltungen je nach ö r t licher Vereinbarung von der Meldebehörde oder von der Gemeindeverwaltung das bei i h r verbleibende bzw. das i h r überlassene Stück der Meldescheine kurzfristig zur Auswertung zur Verfügung zu stellen. Daneben ist gegen Gebühr A u s k u n f t aus den Melderegistern zu geben. Saarland: C I V Ziffer 3 der Verwaltungsvorschriften zum Meldegesetz v o m 13.7.1960 (Amtsblatt 590): V o n der sonstigen A u s k u n f t aus den Melderegistern bleibt das Recht der Behörden, zu denen auch die kirchlichen K ö r p e r schaften des öffentlichen Rechts gehören, auf unentgeltliche Erteilung von Auskunft i n Angelegenheiten ihrer Geschäfte unberührt.
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k l a r z u ersehen. I n S c h l e s w i g - H o l s t e i n u n d Hessen h a b e n d i e K i r c h e n j e d o c h das Recht, aus d e m M e l d e r e g i s t e r A u s k u n f t z u v e r l a n g e n . L e d i g l i c h i n H a m b u r g h a b e n die K i r c h e n w e d e r e i n ausdrückliches A u s k u n f t s - noch e i n Einsichtsrecht b e z ü g l i c h d e r M e l d e u n t e r l a g e n 1 6 ' 1 7 . D e r U m f a n g des I n f o r m a t i o n s a n s p r u c h s
e r g i b t sich aus d e m k i r c h -
l i c h e n M i t g l i e d s c h a f t s r e c h t , a u f w e l c h e m auch das k i r c h l i c h e Besteuer u n g s r e c h t b e r u h t . D i e R e l i g i o n s g e m e i n s c h a f t e n h a b e n e i n Recht d a r auf, d i e e i n z e l n e n E l e m e n t e d e r i n d i v i d u e l l e n S t e u e r v e r a n l a g u n g
und
die f ü r die kirchliche A r b e i t wesentlichen personellen A n g a b e n zu erf a h r e n 1 8 . I n Z u s a m m e n h a n g m i t d e r E r h e b u n g b z w . der S t u n d u n g u n d d e m E r l a ß d e r L a n d e s - u n d O r t s k i r c h e n s t e u e r n s i n d a l l e personenbezogenen D a t e n w i e u. a. V o r - u n d N a c h n a h m e , N a m e n s ä n d e r u n g , G e b u r t s o r t , Adresse, S t a a t s a n g e h ö r i g k e i t , F a m i l i e n s t a n d , Z a h l d e r K i n d e r , eventueller zweiter Wohnsitz, Religionszugehörigkeit, Z u - bzw. F o r t zugsdatum,
Steuerklasse,
Beruf
bzw. Erwerbstätigkeit,
Vor-,
Nach-
16 Hamburg: Keine entsprechenden Vorschriften. Hessen: Verwaltungsvorschriften zum hessischen Meldegesetz v o m 26.4. 1961 (Staatsanzeiger 1961, 526) E u n d F 2 a: Dem Beauftragten von Behörden einschließlich der Kirchenbehörden k a n n die Einsichtnahme i n das Melderegister gestattet werden, w e n n zwingende Gründe dies erfordern. Es d ü r fen n u r Einzelauskünfte über bestimmte Personen erteilt werden. Sammelauskünfte sind zulässig, w e n n ein öffentliches Interesse nachgewiesen ist. Schleswig-Holstein: Allgemeine Verwaltungsvorschriften zum Meldegesetz v o m 8. 6.1959 (Amtsblatt f ü r Schleswig-Holstein S. 312) I V 1 u n d 6: Geschäftsfähigen Personen ist gegen Gebühr Auskunft aus den Melderegistern zu geben. Einsicht i n die Register darf ihnen nicht gewährt werden. Das Recht der Behörden auf unentgeltliche Erteilung von Auskunft i n Angelegenheiten ihrer Geschäfte bleibt unberührt. 17 Die genannten Verwaltungsvorschriften besitzen f ü r sich genommen n u r verwaltungsinterne Verbindlichkeit. Als Verwaltungsanweisungen regeln sie Interna der Verwaltungsgebarung. Z u den näheren Einzelheiten dieses Rechtsinstituts u n d insbesondere zur Frage einer Abgrenzung zur Rechtsverordnung Näheres bei E. Forsthoff, Verwaltungsrecht 1,10. Aufl. 1973, S. 139 ff.; H. J. Wolff , Verwaltungsrecht I, 8. Aufl. 1971, § 24 I I d. Die schwierige Frage, ob sie nicht n u r technischen Zwecken der V e r w a l t u n g dienen, sondern m a teriell-rechtlich auch Rechtssätze enthalten, k a n n hier aber dahingestellt bleiben. E i n Rechtsschutz f ü r die Kirchen ist bereits aus der Verfassungsordnung i n dem oben beschriebenen Umfang unmittelbar intendiert. V o m I n h a l t her decken sich die Rechte aus A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 137 V I W R V praktisch weitgehend m i t den Bestimmungen i n den einzelnen Verwaltungsvorschriften. Wegen dieser Koinzidenz lassen sie sich als Konkretisierung des Willens des Verfassunggebers i m einzelnen interpretieren u n d können bei der Bestimmung des Ausmaßes der kirchlichen Rechte als Indiz m i t h e r angezogen werden. 18 Auch die Befugnis der Kirchen, Kirchensteuern zu stunden, zu erlassen oder niederzuschlagen, ergibt das Recht der Einsicht i n die einzelnen Elemente der Steuerveranlagung.
31
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und Geburtsname des Ehegatten, Datum der Eheschließung, Scheidung, Tod, Vormundschaften und Pflegschaften von besonderer Wichtigkeit. Hierher gehören außerdem i m Hinblick auf die Besteuerung i n glaubens- und konfessionsverschiedenen Ehen 1 9 auch Angaben über die Konfessionszugehörigkeit der Ehegatten. Ferner macht die Durchführung des Finanzausgleichs zwischen sogenannten Wohnsitz- und Betriebsstättenkirchen eine Information über den Arbeitsplatz, den A r beitgeber und dergleichen erforderlich. Daß i n Zweifelsfragen über die Kirchenzugehörigkeit einer Person das Informationsrecht sich gemäß § 69 a I I PersStG auf Auskunft aus den standesamtlichen Unterlagen erstreckt, ist unbestritten 2 0 . Dort allerdings ist eine Durchsicht der Personenstandsbücher nicht eröffnet. Die Auskunft setzt vielmehr eine individualisierte Frage der betreffenden Religionsgemeinschaft voraus 21 . Die geltende Rechtslage kennt also ein spezielles Auskunftsrecht der Religionsgemeinschaften über die Zugehörigkeit einer Person gegenüber den Personenstandsbehörden und ein allgemeines Recht auf Kenntnisnahme der Meldeunterlagen, und zwar einmal aus kirchensteuerrechtlichen Gründen, daneben aber auch i m Interesse kirchlicher Erfassung und geistlicher Versorgung. IV. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein neues Meldegesetz 22 sieht für den hier interessierenden Zusammenhang i n § 17 folgendes vor: „Die von der Meldebehörde gesammelten personenbezogenen Daten d ü r fen anderen Behörden u n d den Gerichten n u r übermittelt werden, soweit die Kenntnis der Daten zur rechtmäßigen E r f ü l l u n g ihrer öffentlichen A u f gaben erfoderlich ist."
I n § 1 Abs. 3 ist der Behördenbegriff näher erläutert: „Behörden i m Sinne dieses Gesetzes sind alle Stellen, die Aufgaben der öffentlichen V e r w a l t u n g wahrnehmen, sowie die Behörden der öffentlichrechtlichen Religionsgesellschaften. "
Nach dem neuesten Stand des Gesetzgebungsverfahrens soll i n den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf den Vor19 Nachweise bei Α. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht. E i n Leitfaden durch die Rechtsbeziehungen zwischen Staat u n d den Religionsgemeinschaften, 1973, S. 142, 246 f. 20 W. Weber, S. 415 ff. 21 s. o. S. 478. 22 Gesetzentwurf v o m 25. 5.1973, BR-Drucksache 390/73.
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schlag des Finanz- wie des Rechtsausschusses des Bundesrates hin i n § 17 nach Abs. 1 noch Abs. 1 a eingefügt werden: „Die Ü b e r m i t t l u n g von der Meldebehörde gesammelter, personenbezogener Daten an Stellen der öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften ist w i e die Datenübermittlung an Behörden u n d Gerichte zulässig, sofern sichergestellt ist, daß bei den Empfängern ausreichende Datenschutzmaßnahmen getroffen werden."
Danach ist die Datenübermittlung an Stellen der öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften wie an Behörden i m Bereich der öffentlichen Verwaltung zulässig, d.h. soweit die Kenntnis der Daten zur rechtmäßigen Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben erforderlich ist. Ferner müssen ausreichende Datenschutzmaßnahmen getroffen werden. Für die Kirchen kommt es i m vorliegenden Zusammenhang darauf an, was unter der rechtmäßigen Erfüllung der öffentlichen Aufgaben zu verstehen ist. Daraus, daß von öffentlichen Aufgaben der Religionsgesellschaften die Rede ist, ergibt sich, daß die öffentliche begrifflich nicht m i t der staatlichen Aufgabe gleichgesetzt werden darf. Die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch die Kirchen ist nicht die Folge ihres öffentlichen Status. Dieser hat umgekehrt i n der vom Staat den Kirchen verliehenen öffentlichen Korporationsqualität, A r t . 137 WRV i. V. m. 140 GG 2 3 , Ausdruck gefunden. Was ist nun aber dem Kreis der öffentlichen Aufgaben der Religionsgemeinschaften i. S. des § 17 des Entwurfs zuzurechnen? Nicht nur die Aufgaben, die den Kirchen aus ihrer spezifischen Stellung als Körperschaften des öffentlichen Rechts erwachsen, sind öffentlich. Die Kirchen üben auch nicht nur solche öffentlichen Aufgaben aus, die ihnen vom Staat übertragen worden sind, bei denen sie also sozusagen als verlängerter Arm, als Delegatare des Staates auftreten, wie bei den sog. „gemeinsamen Angelegenheiten" von Staat und Kirche. Auch die kulturellen, sozialen und karitativen Engagements der K i r chen w i r d man als öffentliche Aufgabe anzusprechen haben. Schwieriger w i r d es bei dem innerkirchlichen Wirken, bei der Seelsorge, der Lehre, dem Kirchenbau und der Verwaltung des kirchlichen Vermögens. Nehmen die Kirchen auch hier öffentliche Aufgaben wahr? Eine Trennlinie zwischen öffentlichen und nichtöffentlichen Aufgaben etwa 23 Z u r grundsätzlichen Bedeutung des Status der Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts i m System des Grundgesetzes, 1966, S. 46 ff.; A. Hollerbach, Die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts, Essener Gespräche 1 (1969) S. 46 ff.; A. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht (oben Anm. 19) S. 94 ff., 115 ff.
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i m Sinne sozialer und eigentlicher kirchlicher Angelegenheiten ließe sich schwer ziehen. Hierfür dürften sich i n der Praxis kaum sichere Unterscheidungsmerkmale finden lassen, zumal die einzelnen Tätigkeitsbereiche ineinander übergehen und manches kirchliche Handeln eine unverzichtbare Voraussetzung für die wirksame Erfüllung der eigentlichen Aufgaben darstellt. Die Frage läßt sich am ehesten vom Wortlaut, Sinn und Zweck der Bestimmungen i m Entwurf des Bundesmeldegesetzes her beantworten, wie i n §§ 1 und 17 der Begriff der öffentlichen Aufgabe zu verstehen ist. Diesen Bestimmungen liegt ein weiter Begriff der öffentlichen Aufgabe zugrunde. Die Formulierungen sind so gewählt, daß auch dem I n formationsbedürfnis der nichtstaatlichen Behörden genügt wird. Die Daten müssen zur rechtmäßigen Erfüllung öffentlicher Aufgaben erforderlich sein. Bei staatlichen Behörden sind dies all jene Funktionen, die sie i m Rahmen ihrer Kompetenz ausüben. Für die Annahme, daß eine Außenwirkung der betreffenden Maßnahmen i n die Öffentlichkeit hinein gegeben sein müsse, bietet der Gesetzestext keinerlei A n haltspunkte. Auch verwaltungsinterne Tätigkeiten zählen durchaus zu den öffentlichen Aufgaben, w e i l staatliche Behörden stets staatliche Funktionen wahrnehmen und staatliche Aufgaben eben öffentlich sind. Gleiches hat für die Behörden i m außerstaatlichen Bereich zu gelten. Kirchliche Stellen üben i m Rahmen ihrer verfassungsrechtlich anerkannten Stellung, ihres Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrechts öffentliche Aufgaben unabhängig davon aus, ob sich die Wirkung auf den innerkirchlichen Bereich beschränkt oder ob sich das kirchliche Tätigwerden nach außen i n den Regelungsbereich der weltlichen Rechtsordnung hinein erstreckt. Den geplanten Gesetzesbestimmungen läßt sich jedenfalls nicht entnehmen, daß bei staatlichen Behörden keine Trennung entsprechend ihrer Tätigkeit i m Innen- oder Außenbereich Platz greifen soll, wohl aber bei kirchlichen Stellen. Wollte man auf diese Weise differenzieren, würde der Begriff der öffentlichen A u f gabe verschieden ausgelegt, je nachdem es sich u m eine staatliche oder kirchliche Behörde handelt. Eine derartige Auslegung würde sich i m übrigen auch i n Widerspruch zu der i n der Lehre entwickelten weiten Auslegung des Begriffs der öffentlichen Aufgabe setzen. Zwar besteht i n diesem Bereich 24 keine klare Meinung. Die überwiegende Zahl der Stimmen i m Schrifttum und einige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich aber i n dem Sinne interpretieren, daß staatliche und öffentliche Aufgaben sich zwar i n vielen Fällen decken. Der Begriff der öffentlichen 2 4
H. H.
Klein,
Z u m Begriff der öffentlichen Aufgabe, DÖV 1965, 756.
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Aufgabe kann aber nur von der Sache und vom öffentlichen Interesse und nicht vom Träger her definiert werden 2 5 . Er ist m. a. W. der Oberbegriff, der auch nichtstaatliche öffentliche Aufgaben erfaßt. öffentlich darf nicht nur i m Sinne von öffentlich-rechtlich verstanden werden. Religion und die Existenz der Religionsgesellschaften liegen i m öffentlichen Interesse, da ein Bedürfnis weiter Bevölkerungsteile an einer kirchlichen Betreuung besteht. Aber nicht nur deshalb: I n einem Staat, der Menschen nur i n rationalistischen und materialistischen Teilbereichen erfassen und ansprechen kann, kommt den Religionsgemeinschaften eine besondere Bedeutung zu. Sie treten dem Menschen nicht i n seiner Eigenschaft als Wähler, Käufer, Konsument, Arbeitnehmer usw. gegenüber, sondern sie sprechen ihn eben als Menschen an und fordern ihn von religiösem Standpunkt aus heraus. Indem sie den Menschen m i t solchen Gesichtspunkten konfrontieren, die gerade nicht die der Gesellschaft sind, können sie dazu beitragen, den Blick auf die transzendente Bestimmung des Menschen offenzuhalten, die dieser selbst seiner Natur folgend sich am liebsten verstellt. Insofern kann die Wahrung des Menschlichen i n der Gesellschaft als Aufgabe der Religion bezeichnet werden 2 6 . M i t den Begriffen der Soziologie zu reden handelt es sich bei der Religionsbetätigung u m eine Primärbeziehung der Staats25 Vgl. aus der L i t e r a t u r insbesondere R. Smend, Z u m Problem des ö f f e n t lichen u n d der Öffentlichkeit 1954, jetzt i n : Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 462 ff.; H. Peters, Staatliche u n d öffentliche Aufgaben, i n : Festschrift für H. C. Nipperdey I I , 1965, S. 877 ff.; H.H. Klein (s. A n m . 24); W.Martens, ö f f e n t l i c h als Rechtsbegriff, 1969, insbesondere S. 117ff.; U. K. Preuß, Z u m staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen untersucht am Beispiel des verfassungsrechtlichen Status k u l t u r e l l e r Organisationen, 1969; P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970; F. Ossenbühl, Die E r f ü l l u n g von Verwaltungsaufgaben durch Private, W D S t R L 29 (1971) S. 150 ff. ; A. Rinken, Das öffentliche als verfassungstheoretisches Problem dargestellt am Rechtsstatus der Wohlfahrtsverbände. Schriften zum öffentlichen Recht Bd. 152 (1971); Maunz, Der öffentliche Charakter der kirchlichen A u f gaben, Festschrift f ü r Ernst Forsthoff (1972) S. 229 ff.; BVerfGE 15, 235 ff.; 17, 371 ff.; 21, 362 ff.; lediglich eine Mindermeinung hält staatliche u n d öffentliche Aufgaben für deckungsgleich, so K. Zeidler, Schranken nichthoheitlicher Verwaltung, W D S t R L 19 (1961), insbesondere S. 216 ff. Auch i n der Rechtsprechung schwankt die Bedeutung des Begriffes „öffentliche Aufgabe"; vgl. aus zahlreichen Entscheidungen BVerfGE 10, 89 (102 ff.); 11, 30 (39 f.); 16, 147 (172). I n BVerfGE 15, 235 (240ff.); 17, 371 (376f.); 20, 56 werden öffentliche und staatliche Aufgaben gleichgesetzt, i n BVerfGE 20, 162 (175); 30, 292 (311 f.); 31, 314 (337 ff.) (abweichende Meinung) werden sie unterschieden. Ebenso BVerwG, DVB1. 1970, 735; BayVerfGHE 13, 10 (19) st. Rspr. 28 A. v. Campenhausen, Erziehungsauftrag u n d staatliche Schulträgerschaft, 1967, S. 145 f.; 17. Scheuner, Die rechtliche Stellung der Kirchen i n der Entwicklung von Staat u n d Gesellschaft, i n : Militärseelsorge 14 (1972) S. 228 ff. (252).
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bürger, vergleichbar den Beziehungen i m Nachbarschafts- oder Familienverband. I m Zusammenhang m i t der Frage der Förderung der Religionsgemeinschaften durch den Staat ist deshalb darauf hingewiesen worden, daß es sich hier u m einen Bereich handelt, den die Verfassung nicht ausgrenzt, sondern i m Gegenteil wegen seiner öffentlichen Bedeutung gerade fördert 2 7 . Insoweit handelt es sich nach den oben dargestellten Kriterien nicht nur um ein privates, sondern u m ein öffentliches Wirken der Kirchen, das sich i m Bereich des öffentlichen abspielt. Es ist danach festzuhalten, daß für die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen i m Entwurf des Bundesmeldegesetzes nicht zwischen öffentlichen und internen Aufgaben der Kirchen zu trennen ist, weil aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen eine solche Unterscheidung nicht getroffen werden kann. Die gesamte Tätigkeit der Kirchen hat als Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe i m Sinne des Melderechts zu gelten. Ein gegenteiliges Ergebnis liefe darauf hinaus, daß für das Problem der Weitergabe von Daten an die Kirchen i n jedem Fall untersucht werden müßte, ob es sich u m eine öffentliche oder nichtöffentliche Aufgabe der Kirchen handelt. Abgesehen davon, daß die Tätigkeitsbereiche i n der Regel ein solches Entweder-Oder nicht erlauben, hätte eine solche Unterscheidung die Folge, daß die staatlichen Behörden und i n letzter Instanz die Gerichte über Dinge zu entscheiden hätten, die dem kirchlichen Selbstverwaltungsrecht unterliegen. Nach dem beabsichtigten Absatz 1 a des § 17 Entwurf Bundesmeldegesetz soll die Datenübermittlung an Stellen der öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften nur zulässig sein, sofern sichergestellt ist, daß bei den Empfängern ausreichende Datenschutzmaßnahmen getroffen werden. Diese Bestimmung ist die Folge der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates, sich eine Mißbrauchskontrolle vorzubehalten, solange die Kirchen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben bestimmte Leistungen vom Staat i n Anspruch nehmen. Nur so kann der Staat das grundgesetzliche Recht des einzelnen auf Datenschutz, auf staatlichen Schutz vor unberechtigten Eingriffen i n seine persönliche Sphäre sicherstellen 28 . Die Kirchen sind angehalten, ihrerseits alle Vorkehrungen zu treffen, um einem Datenmißbrauch vorzubeugen. Welche organisatorischen Maßnahmen sie i m einzelnen zur Sicherstellung der nötigen Geheim87 Vgl. W. Kewenig, Das Grundgesetz u n d die staatliche Förderung der Religionsgemeinschaften, Essener Gespräche 6 (1972) S. 9 ff.; vgl. auch die Bemerkungen von G. Dürig, V V D S t R L 26 (1968) S. 138. 28 O. Mallmann, Z u m Stand der Datenschutzdiskussion, JZ 1973, 274 m. w . N.
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haltung ergreifen, steht i n kirchlicher Entscheidung, insbesondere ob kircheneigene Datenschutzbestimmungen erlassen oder ob die Datenschutzbestimmungen des Staates als unmittelbar geltendes innerkirchliches Recht übernommen werden. Der staatliche Anspruch beschränkt sich darauf, die Einhaltung des Datenschutzes generell zu überwachen. Aufs Ganze gesehen erweist es sich, daß sich das Problem der Verteilung der Daten an die einzelnen Stellen und die Frage des Datenschutzes i m staatlichen und i m kirchlichen Bereich i n gleicher Weise stellt. Für die Kirchen w i r d es unter der Geltung des Datenschutzrechts organisatorisch am einfachsten sein, i m Bereich jeder Landeskirche bzw. jedes Kirchenbezirks eine zentrale Stelle zu schaffen, die sämtliche Daten von den staatlichen Behörden entgegennimmt und dann nach dem jeweiligen Datenbedarf aufgeschlüsselt an die Endempfänger weiterleitet, so die seelsorgerisch wichtigen Daten an die örtlichen Pfarrämter, die für die Kirchenbesteuerung nötigen Unterlagen an die Kirchensteuerämter, eventuelle weitere Teildaten an übergemeindliche Ämter wie das A m t für Gemeindedienst etwa für Männerarbeit, an landeskirchliche Stellen für Sozialarbeit, an das Landesjugendpfarramt für Jugendarbeit usw. Die Weiterleitung der Daten an die Gemeinden i m staatlichen Bereich ist der Datenversorgung der örtlichen Pfarrämter i n den Kirchen vergleichbar. Das Risiko der mangelnden Geheimhaltung ist bei den Kommunen vielleicht sogar noch größer, weil dort die entsprechenden Unterlagen durch mehr Hände gehen und zudem in aller Regel schutzwürdigere Informationen enthalten ζ. B. über Vorstrafen, über Ordnungswidrigkeiten i m gewerblichen Sektor o. ä., an denen ein kirchliches Interesse nicht besteht. Sie werden den Religionsgemeinschaften deshalb nicht zugeleitet 29 .
V. Werden m i t dem Entwurf des Bundesmeldegesetzes einerseits die bisherigen kirchlichen Datenwünsche auf eine umfassendere Basis gestellt, so w i r d andererseits die Zurverfügungstellung der Daten an entsprechende Datenschutzmaßnahmen von seiten der Kirchen gebunden. Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zum Schutz vor Mißbrauch personenbezogener Daten bei der Datenverarbeitung (Bundesdatenschutzgesetz) vom 25. 5.1973 (BR-Drucksache 391/73) sieht i n § 7 einen Datenaustausch innerhalb des öffentlichen Bereichs vor. § 7 Abs. 2 lautet: „Die Weitergabe personenbezogener Daten an Stellen der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften ist w i e die Datenweitergabe an Behörden 29
Vgl. aber oben Fn. 4.
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und sonstige öffentliche Stellen zulässig, sofern sichergestellt ist, daß bei dem Empfänger ausreichende Datenschutzmaßnahmen getroffen werden."
Bezüglich des Nebensatzes deckt sich diese Bestimmung wörtlich m i t der einschlägigen Vorschrift i m Entwurf zum Bundesmeldegesetz. Für den Umfang der Datenvermittlung gilt § 7 Abs. 1, auf den sich § 7 Abs. 2 mit der Wendung „wie die Daten weitergäbe an Behörden . . . " bezieht: „Die Weitergabe personenbezogener Daten, die einem Berufs- oder besonderen Amtsgeheimnis (§ 37 Satz 2 Nr. 1, Satz 3) unterliegen u n d der weitergebenden Stelle von der zur Verschwiegenheit verpflichteten Person i n Ausübung ihrer Berufs- oder Amtspflicht weitergegeben worden sind, an Behörden u n d sonstige öffentlichen Stellen ist zulässig, w e n n der Empfänger sie zur E r f ü l l u n g des gleichen Zwecks benötigt, zu dem sie die weitergebende Stelle erhalten hat. Die Weitergabe anderer personenbezogener Daten ist i m Rahmen rechtmäßiger E r f ü l l u n g der i n der Zuständigkeit des Empfängers liegenden Aufgaben zulässig."
Danach ist die Reichweite des Datenanspruchs ähnlich festgelegt wie i n der Formulierung des Bundesmeldegesetzes „zur rechtmäßigen Erfüllung der öffentlichen Aufgaben der Kirchen". I m übrigen beschränkt das Datenschutzgesetz den kirchlichen Informationsanspruch nicht auf das Einwohnermeldewesen, sondern erstreckt ihn auf alle staatlichen Datensammlungen. Das Datenschutzgesetz trägt der geltenden Rechtslage insofern Rechnung, als es m i t der Einführung der EDV den K i r chen nicht Informationsrechte entzieht, die ihnen bisher i m Verhältnis zum Land und den Kommunen zustehen. Die Kirchen müssen i m bislang üblichen Umfang unabhängig von der Einführung der automatischen Datenverarbeitung ihre seelsorgerischen, karitativen und administrativen Aufgaben wahrzunehmen imstande bleiben. VI. Nach Verabschiedung des Bundesmeldegesetzes i n der beabsichtigten Fassung ergibt sich gegenüber der bestehenden Rechtslage für die K i r chen eine Veränderung insofern, als der status quo auf eine einheitliche bundesrechtliche Grundlage gestellt wird. Der Informationsanspruch umfaßt alle öffentlichen Aufgaben, während de lege lata nur die Überlassung der für die Kirchensteuererhebung wichtigen Daten verlangt werden kann. De facto bedeutet dieses keinen nennenswerten Unterschied 80 , weil die Kirchen schon jetzt über die Zurverfügungstellung der Meldeunterlagen zur Kirchensteuererhebung auch Zugang 30
Das hebt die Begründung der Bundesregierung zum E n t w u r f des Meldegesetzes hervor, Drucksache VI/2 654 S. 7.
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zu den für die seelsorgerischen Aufgaben wichtigen Fakten haben. Soweit überschaubar, bleibt daher die Reichweite des Datenanspruchs i n einzelnen Punkten i m wesentlichen dieselbe wie bisher. § 7 des Entwurfs eines Datenschutzgesetzes stellt dazu klar, daß die Versorgung der Kirchen m i t Daten auch i m Einklang m i t dem i m Datenschutzgesetz ausgedrückten Gesichtspunkt des individualrechtlichen Datenschutzes steht 31 .
31
Z u den m i t dem Schutz der Privatsphäre vorgegebenen Gesichtspunkten vgl. insbesondere W. Steinmüller, B. Lutterbeck, C. Mallmann, U. Harbort, G. Kolb u n d J. Schneider, Grundfragen des Datenschutzes. Gutachten i m A u f t r a g des Bundesministeriums des Innern. 1971. BT-Drucksache VI/3 826, Anlage 1.
VI. Allgemeines Verwaltungsrecht
Zur Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht Von Wilhelm Henke
I. Änderung der Verhältnisse und Wandel der Rechtsinstitute 60 Jahre nach Ottmar Bühlers Werk und fast 20 Jahre nach Otto Bachofs Aufsatz i n der Jellinek-Gedächtnisschrift ist noch kaum ein prinzipieller Wandel i n der Vorstellung eingetreten, wie man gegen den Staat recht haben und zu seinem Recht kommen könne 1 . Indessen hat sich das Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung seit Bühler erheblich verändert. Der Einzelne ist nicht bloßes Objekt der staatlichen Tätigkeit, sondern überall, wo er dem Staat gegenübersteht, ebenso wie i m Verhältnis zu anderen Einzelnen ein i n gegenseitigen Rechtsbeziehungen stehendes Subjekt. Daraus ergibt sich, vor allen Konstruktions- und Verständnisproblemen, die Notwendigkeit von subjektiven öffentlichen Rechten. Ihre Existenz w i r d denn auch nirgends mehr bestritten 2 . 1
Bühler, Die subj. öff. Rechte . . . , 1914, begründete die bis heute herrschende Konzeption. Bachof, Reflexwirkungen u n d subj. Rechte . . . , JellinekGedächtnisschrift, 1955, S. 295 ff., u n d schon Vornahmeklage, 1951, gab i h r die entscheidende rechtsstaatliche Wende, ohne sie i m wesentlichen zu ändern. I n einem Aufsatz: Das subj. öff. Recht auf Eingreifen der Polizei, DVB1. 1964, S. 649 ff., der Werner Weber zum 60. Geburtstag gewidmet war, u n d breiter angelegt, i n der Schrift, Das subj. öff. Recht, 1968 (im Folgenden zitiert: SöR), habe ich versucht, die Konzeption zu erneuern. Vgl. auch meine Urteilsanmerkungen, DVB1. 1965, 783 ff. u n d JZ 1972, 626 ff. Dagegen ist i n der L i t e r a t u r mancherlei K r i t i k geäußert worden, so daß es angebracht erscheint, die Erörterungen von 1968 zu verteidigen, zu erläutern, zu korrigieren u n d zu ergänzen. Die Rechtsprechung, die v o n den theoretischen Auseinandersetzungen bisher k a u m berührt worden ist, w i r d nicht einbezogen. 2 Z u r „Verdrängung" des subjektiven Rechts i n der Vergangenheit vgl. Kasper, Das subjektive Recht, 1967, S. 86 ff., u n d die umfassende Darstellung des historischen Stoffs bei H. U. Erichsen, Verfassungs- u n d verwaltungsgeschichtliche Grundlagen . . . , 1971, sowie SöR, S. 9 ff.; zu neueren „gegenläufigen Tendenzen" D. Lorenz, Rechtsschutz des Bürgers u n d Rechtsweggarantie, 1973, S. 74 ff.
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Die Bundesrepublik ist ein Sozialstaat. Unabhängig von allen Nuancen dieses schillernden Begriffs bedeutet das eine verantwortliche Hinwendung des Staates zur Gesellschaft und damit zugleich eine zunehmende Ausdehnung und Intensität der Beziehungen zwischen Verwaltung und Bürger. Die beiden anderen Prinzipien unserer Verfassungsordnung, das des Rechtsstaates und das der Demokratie, werden durch diese Veränderung herausgefordert. Das Rechtsstaatsprinzip verlangt i n der neuen Lage den Ausbau des Verwaltungsrechts einschließlich des förmlichen Rechtsschutzes, das demokratische Prinzip verlangt eine stärkere Legitimierung des Verwaltungshandelns durch Beteiligung der Betroffenen. I n der öffentlichen politischen Diskussion steht die „Demokratisierung" der Verwaltung ganz i m Vordergrund. Das scheint naheliegend, da das Sozialstaatsprinzip eine stärkere Affinität zum demokratischen als zum rechtsstaatlichen Prinzip hat. Es korrigiert die zentrale Stellung, die der einzelne Bürger i n der liberalen Staats- und Rechtsordnung besaß, und ordnet i h n als Glied der Gesellschaft i n deren politisches und soziales „Interaktionssystem" ein. Seiner Sicherung i m Verhältnis zur staatlichen Verwaltung scheinen, so gesehen, gemeinsame demokratische Beteiligungsformen am besten zu dienen. Aber auch i m Sozialstaat hört der Bürger nicht auf, Einzelner zu sein, frei sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber den sozialen Kräften und Gruppen. Die juristische Gestalt der Stellung des freien Staatsbürgers i n der Gesellschaft ist das subjektive öffentliche Recht. Insofern steht hinter dieser Rechtsfigur eine politische Entscheidung, die aber i m Grundgesetz, vor allem i m Rechtsstaatsprinzip, i n dem liberalen Gehalt der Grundrechte und i n dem Grundsatz universalen individuellen Rechtsschutzes, ihre festen Wurzeln hat. Nicht gegen das demokratische Element der Verfassung, aber neben i h m gilt es, das subjektive öffentliche Recht zu bewahren und auszubauen. Die sozialstaatliche Ausdehnung und Intensivierung der Verwaltung bedarf dieser doppelten Abstützung i n der Sphäre der Gesellschaft und des einzelnen B ü r gers, wenn sie nicht zu einer gänzlichen Sozialisierung des Daseins aller führen soll 3 . 5
I n SöR S. 40 ff. habe ich i n diesem Sinn zunächst versucht, die theoretische Möglichkeit materieller subjektiver Rechte gegen den Staat zu begründen, die Georg Jellinek nicht anerkannte (vgl. S. 36 f.) u n d die noch heute nicht eindeutig anerkannt ist. So ist z.B. Rupp der energische Wille, dem Bürger Rechte gegen den Staat zu verschaffen, nicht abzusprechen, aber w e n n er i n seiner Besprechung meines SöR, DVB1. 1969, S. 221, sagt, der Ausgangspunkt eines „Gegenüber" von Staat u n d Gesellschaft sei „ z u m i n dest schief", denn i n der Demokratie sei „der Untertan . . . zum Inhaber der Staatsgewalt aufgestiegen", „der Idee nach" sei „die Herstellung der I d e n t i tät der Herrschenden u n d der Beherrschten geglückt" u n d wie es dennoch Rechte des Bürgers gegen den Staat geben könne, sei „gerade die entschei-
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Der Sozialstaat verlangt nicht nur eine rechtlich stärkere Stellung des Bürgers, sondern auch einen Wandel ihres Inhalts. Der Einzelne ist nicht mehr die autonome Persönlichkeit, die i n erster Linie eines vom Recht gesicherten autonomen Freiheitsraumes bedarf, sondern er ist i n einer unendlichen Zahl von Verhältnissen und Beziehungen zum Staat ebenso wie zu anderen Einzelnen und zu Vereinigungen auf deren Verhalten, Tun oder Unterlassen, Leistungen oder Verschonungen oder Rücksichten angewiesen und bedarf daher vor allem des rechtlichen Schutzes und weithin auch der rechtlichen Regelung dieser Verhältnisse und Beziehungen. Da sie nicht statushaft verfestigt sondern i n stetem Wechsel begründet und beendet, verändert und umgewandelt werden, muß ihre rechtliche Regelung ebenfalls dynamisch sein, geeignet, nicht nur den jeweiligen Zustand, sondern auch seinen Wechsel und Wandel m i t Rechtsinstituten und Rechtsformen zu erfassen und zu begleiten. Wie eine solche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ihre rechtliche Einordnung obsolet werden lassen und einen Wechsel auch der rechtlichen Beurteilung notwendig machen kann, hat Werner Weber für das Recht der öffentlichen Sachen gezeigt, allerdings ohne daß die herrschende Auffassung dem bisher Rechnung getragen hätte 4 . Das Institut des freien Gemeingebrauchs eines jeden an öffentlichen Straßen mit dem einzigen Regulator der Gemeinverträglichkeit und erlaubnispflichtiger individueller Sondernutzungen ist durch die Dichte und die Mandende Frage", dann muß er Rechte des Bürgers gegen sich selbst meinen. So etwas mag es „der Idee nach" geben, aber nicht i n Wirklichkeit, wo zu einem Recht zwei Personen gehören. D a r u m habe ich auch nicht auf Jellineks „Gegenüber von monarchischem Regiment (Staat) einerseits u n d Untertan andererseits" zurückgegriffen, sondern deutlich zu machen versucht, daß für den Staat stets Menschen handeln, so daß ein personales Gegenüber u n d damit Rechte möglich sind (SöR S. 46 f.). I n der perfekten Demokratie gibt es keine Rechte gegen den Staat. Wo alle regieren, können keine Rechte der Regierten gegen die Regierenden bestehen, u n d alles Recht ist Kompetenzregelung. Daß „der einzelne . . . m i t seiner Inkorporierung i n die volonté générale . . . nicht seiner I n d i v i d u a l i t ä t beraubt" werde, das k a n n es wiederum nur „der Idee nach" geben oder aber rechtsstaatlich, durch den Vorbehalt der Gesetzu n d Rechtmäßigkeit jener „Inkorporierung" u n d die Anerkennung eines realen Gegenüber v o n Staat u n d rechtebewehrtem Bürger f ü r den F a l l ihrer Unrechtmäßigkeit, w i e ich es SöR S. 40 ff. an Rechtsfiguren wie der Vertretung ohne Vertretungsmacht u n d dem Ultra-Vires-Prinzip zu zeigen v e r sucht habe (nicht i m Sinne einer „ V e r k l ä r u n g des Staates" u n d „Staatsfrömmigkeit", wie H. Kern, Die Schutzfunktion der Verwaltung, Würzb. j u r . Diss. 1970, S. 13, und, differenzierter ausgedrückt („Identitätsvorstellungen"), aber m i t gleicher Verständnislosigkeit, D. Suhr, Besprechung meines SöR, Staat 1970, S. 551, meinen, sondern gegen sie). I m übrigen soll hier das Gewicht weniger auf die prinzipielle Möglichkeit subjektiver öffentlicher Rechte als auf die Lösung ihrer rechtssystematischen Probleme gelegt werden. 4 Werner Weber, Die öffentliche Sache, W D S t R L H. 21, 1964, S. 145 ff. 32 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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nigfaltigkeit des heutigen Verkehrs untauglich geworden. Die zahllosen und minutiösen Regelungen der Straßenverkehrs- und -zulassungsordnung sowie der Personen- und Güterverkehrs-, Haftungs- und Versicherungsvorschriften und die konkrete Regulierung, Kontrolle und Lenkung des Verkehrs durch Sonderpolizei, technische Einrichtungen und ganze Zeichensysteme läßt jenes Institut als archaisch erscheinen und nötigt das weitaus differenziertere und dynamischere Institut der Anstaltsbenutzung auf, das eher geeignet scheint, die Fülle der Rechtsbeziehungen i m Verkehr unter einem einheitlichen rechtlichen Gesichtspunkt zu erfassen und zu ordnen. Diese Überlegungen Webers sind von exemplarischer Bedeutung für die Weiterentwicklung der öffentlichrechtlichen Institute als Folge veränderter Lebensverhältnisse, vor allem größerer Dichte der Beziehungen zwischen Bürger und Verwaltung, auch für einen Wandel i m Verständnis des subjektiven öffentlichen Rechts. II. Absolute und relative, abhängige und selbständige Rechte Die subjektiven öffentlichen Rechte leisten den Bemühungen der Rechtswissenschaft hartnäckigen Widerstand. Die Gründe für diese Erscheinung liegen zunächst auf der Ebene der allgemeinen Rechtslehre, für die das subjektive Recht wie der Begriff des Rechts überhaupt tief problematisch ist 5 . Als praktische Wissenschaft ist aber die Jurisprudenz nicht auf die eindeutige Definition ihrer Grundbegriffe angewiesen, weil sie ihre Ergebnisse nicht durch Ableitung aus ihnen gewinnt, sondern i n einem weit komplizierteren, nur begrenzt rationalisierbaren Verfahren. Bemühungen um das subjektive öffentliche Recht auf dieser Ebene würden leicht zu Spitzfindigkeiten und Haarspaltereien führen, die für Recht und Gerechtigkeit gleichgültig bleiben müßten. Wichtiger sind diejenigen Probleme des subjektiven öffentlichen Rechts, die auf der Ebene der Rechtssystematik liegen. Sie sind teils theoretischer, teils praktischer Natur. Das wichtigste praktische Problem der Rechte ist das ihrer Abgrenzung gegen die sogen. Reflexe des objektiven Rechts (s. dazu unten V.). Von i h m muß das theoretische Problem des Charakters, der Begründung und der Entstehung der Rechte unterschieden werden. Daß die Literatur dazu nur unbefriedigende Antworten findet, ist vor allem darin begründet, daß sie diese beiden Problembereiche nicht trennt, und ferner darin, daß sie die i m P r i v a t r e c h t g e l ä u f i g e Unterscheidung Rechten u n d die w e i t e r e Unterscheidung 5
von absoluten von abhängigen
Vgl. dazu vor allem Franz Kasper, (N. 1).
und und
relativen selbstän-
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digen Rechten nicht beachtet, von denen die ersteren aus der Verletzung absoluter Rechte zu deren Schutz hervorgehen, und die letzteren durch Tatbestandserfüllung aus einem Gesetz unmittelbar entstehen. Neben dem Abgrenzungsproblem verdienen daher diese Unterscheidungen besondere Aufmerksamkeit. Ein Vergleich mit dem bürgerlichen Recht ist für ein Verständnis der genannten systematischen Unterscheidungen von großer Bedeutung und Fruchtbarkeit. Das öffentliche Recht macht noch heute die persönliche Freiheit, ihre Abgrenzung, ihre Einschränkung und ihre Verteidigung zum Modell aller Rechtsverhältnisse zwischen Staat und Bürger. Ebenso war Bestand, Abgrenzung, Einschränkung und Verteidigung des Eigentums und damit das absolute Recht als Grundform des Sachenrechts das Zentrum des Privatrechts bis weit i n das 19. Jahrhundert hinein 6 . Eigentum und Freiheit haben als die materielle und die ideelle Seite der Selbständigkeit viel gemein. Sie sind autonome Bereiche des Einzelnen. Das objektive Recht garantiert ihre Grenze durch ein Verletzungsverbot an jedermann und durch bestimmte Ansprüche als Folge von dessen Übertretung. Je intensiver die Beziehungen zwischen den Personen werden, desto beweglicher werden die Grenzen, bis schließlich nicht mehr deren Einhaltung sondern ihre Verschiebung oder gar ihre Überschreitung, nicht mehr die Verteidigung absoluter Rechte gegen Verletzungen sondern die Durchsetzung der Erfüllung von relativen Rechten, d. h. Ansprüchen und Forderungen, nicht mehr die Rechtswahrung sondern der Rechtsverkehr zum eigentlichen Gegenstand rechtlicher Regelung und Beurteilung wird. Aus einer Rechtsordnung der Güterzuordnungen und der Abgrenzung w i r d so eine Rechtsordnung der Güterbewegungen und β Schon bei Grotius, später bei Pufendorf u n d Chr. Wolff w a r das Recht der Verträge und der Forderungen als Recht der Eigentumserwerbstitel u n tergeordneter Bestandteil des Sachenrechts, i n dessen M i t t e l p u n k t das E i gentum stand. Bei Windscheid (Pandekten, 7. A u f l . 1891, Bd. 1, 2) folgte das (sekundäre) Schuldrecht auf das (primäre) Sachenrecht. Dem entsprach noch der Aufbau des pr. A L R , des Code Civile und des österr. A B G B (vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1967, S. 169, 204 f., 208). Das B G B enthielt zuerst einen eigenständigen schuldrechtlichen Teil und kehrte die Reihenfolge um, u n d zwar i m Zusammenhang „ m i t den Veränderungen der Sozial- u n d Wirtschafts Verfassung . . . , insbesondere m i t der Liberalisierung und Differenzierung von Gewerbe u n d Handel", i n deren Folge „die auf U m satz und Überlassung von Geld, Arbeitskraft u n d Sachnutzung gerichteten obligationsrechtlichen Vertragstypen eine grundlegende u n d eigenständige Bedeutung" erlangten. „Das Verhältnis von Schuld- und Sachenrecht kehrt sich gradezu u m : Sachenrechtliche Rechtsverhältnisse dienen mehr u n d mehr der Sicherung schuldrechtlicher Geschäfte" (J. Esser, Schuldrecht, 4. Aufl. 1970, Bd. 1, S. 1). Der letzte Satz dürfte heute auf das öffentliche Recht übertragbar sein: Geltendmachen, Abgrenzung, Beschränkung u n d Sicherung der Freiheit dienen mehr u n d mehr der Gewährleistung der administrativen Daseinsvorsorge.
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der Kooperationen, i n der freilich die sachenrechtlichen Elemente eine wichtige Funktion behalten. Eben dies geschah i m 19. Jh. i m Privatrecht mit dem Eigentum. I m 20. Jh. bilden sich i m öffentlichen Recht die entsprechenden Voraussetzungen hinsichtlich der Freiheit m i t der Folge, daß so wie dort das Schuldrecht neben und vor das Sachenrecht trat, hier eine selbständige Entwicklung von Rechtsinstituten für den Rechtsverkehr zwischen Behörden und Bürgern neben die Rechtsinstitute treten muß, die der Begrenzung und Sicherung der Freiheit dienen 7 . Wohl ist es theoretisch möglich, das Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung überall als das zwischen Freiheitsrecht und Beschränkung zu sehen und jede Freiheitsverletzung einen Abwehranspruch auslösen zu lassen. Da aber das Verwaltungsrecht eine unübersehbare Zahl von Ermächtigungen zu Eingriffen und zur Beschränkung und Gestaltung der Freiheit enthält, müßte als Inhalt des Freiheitsrechts ein Anspruch auf Einhaltung aller ermächtigenden Gesetze angenommen werden und das als absolutes Recht gedachte Freiheitsrecht so alle Konturen verlieren. Demgegenüber erscheint es mindestens zweckmäßiger, ein „öffentliches Obligationenrecht" zu schaffen, i n dem die einzelnen Ansprüche nicht Emanation einer universalen Rechtstellung sind sondern Emanation einer gesetzlichen Regelung bestimmter Rechtsverhältnisse. Die einfache Einteilung i n Freiheit und Bindung, wie sie dem herkömmlichen öffentlichen Recht zugrunde liegt, reicht ebensowenig mehr aus wie die des Sachenrechts i n Mein und Dein. Es kommt darauf an, i m Verwaltungsrecht einem relativen subjektiven öffentlichen Recht die zentrale Bedeutung zu geben, die i m Privatrecht, besonders i m Schuldrecht der Anspruch hat 8 . Das kann nur geschehen, wenn man nicht für jedes Recht des Bürgers einen Status, eine Rechtsstellung oder ein absolutes Recht sucht, aus dem es bei Verletzung entsteht, sondern, soweit es sich nicht unmittelbar u m Freiheit, Eigentum oder ein anderes Grund7
Vgl. zu allem SöR S. 99 ff. Damit w i r d Bachof nicht widersprochen, der das Rechtsverhältnis i n das Z e n t r u m des Verwaltungsrechts rücken w i l l ( W D S t R L H. 30 (1972), S. 231 f. m i t zustimmender Bezugnahme auf mein Referat W D S t R L H. 28 (1970), S. 156 ff.), denn das Rechtsverhältnis ist wie das zivilrechtliche Schuldverhältnis die Grundlage der einzelnen Ansprüche. E i n Ausbau der Verwaltungsrechtsverhältnisse, der auch die Verwaltungsrechtssystematik bereits stark beeinflußt, w i r d andererseits nicht ohne ein gewandeltes Verständnis der subjektiven öffentlichen Rechte erfolgen können (Nachweise bei Bachof, S. 232 N. 172; s. ferner H. J. Wolff, V e r w R I, 8. Aufl., § 44 („Verwaltungsrechtliche Schuldverhältnisse"). Exemplarisch für die Einzelarbeit an den V e r w a l tungsrechtsverhältnissen sei auf Eckart Weber, Der Erstattungsanspruch, 1970 und Klaus Otto, Die Nachfolge i n öffentlich-rechtliche Positionen des Bürgers, 1971, hingewiesen. 8
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recht handelt, es als relatives Recht, als gesetzlichen Anspruch ansieht, der durch das Gesetz ohne Umweg beim Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts i n der Person eines Bürgers begründet wird. So ergibt sich die weitere Unterscheidung von abhängigen und selbständigen Rechten von selbst. Die gesetzlichen Ansprüche entstehen nicht aus der Verletzung eines absoluten Rechts zu dessen Verteidigung wie nach §§ 12, 862, 1004 oder auch nach § 823 Abs. 1 BGB, sondern aus dem Gesetz, und zwar zur Regelung mannigfacher und wechselnder Beziehungen wie nach §§ 433, 462, 463, 428, 552 a, 554, 583, 812, 839 usw. usw. Sowenig sich i m Privatrecht das Eigentum als Recht gänzlich in die Ansprüche des Schuldrechts aufgelöst hat, sowenig kann das Entsprechende i m öffentlichen Recht m i t der Freiheit geschehen. Sie bleibt als absolutes Recht die Basis bürgerlichen Lebens in der Gesellschaft. Aber sie muß i m Verwaltungsrecht i n einzelnen Ansprüchen, die nicht nur Abwehransprüche zum Schutz der Freiheit sind, entfaltet werden, soweit die gesetzliche (oder vertragliche) Disposition über die Freiheit gegenüber ihrer Verteidigung wenigstens quantitativ i n den Vordergrund tritt. Der Schutz der Freiheit bleibt als quasi-sachenrechtliches Element des öffentlichen Rechts und als dessen Fundament bestehen 9 . I I I . Absolute und abhängige Rechte Absolute öffentliche Rechte sind die Grundrechte 10 . Ausdrücklich oder stillschweigend greifen alle Versuche, die subjektiven öffentlichen Rechte materiellrechtlich zu begründen, auf die Grundrechte zurück 11 . 9 Diese Zweispurigkeit des öffentlichen Rechts wurde i n SöR vernachlässigt. Insoweit werden die dortigen Ausführungen korrigiert u n d ergänzt. 10 I n SöR hatte ich die Grundrechte ausgespart, was verschiedentlich k r i tisch vermerkt worden ist (z.B. Suhr, (N. 3), S. 550f.; Schwabe, DÖV 1973, S. 623 ff., 629: „bemerkenswerte Indolenz" gegenüber Grundrechten). Der G r u n d lag i n der außerordentlichen, auch heute bestehenden Verworrenheit der Grundrechtslehre u n d ihrer übermäßigen Inanspruchnahme f ü r rechtssystematische Zwecke der verschiedensten A r t . Unbeschadet aller Probleme i n diesem Bereich dürfte das i m T e x t Gesagte auch ohne eine ausgeführte Grundrechtstheorie vertretbar sein. - Ob auch die Innehabung einer Erlaubnis ein absolutes Recht ist, wie H. J. Wolff, (Ν. 8), § 43 I a i. V. m. I I I a und c, i n anderer Terminologie annimmt, muß hier offenbleiben. 11 Ausdrücklich gegen die hier vertretene Auffassung halten daran fest D. Lorenz, (N. 2), S. 53 ff., der, S. 5 ff., zu Recht i m Rechtsstaatsprinzip ein „ V e r rechtlichungsgebot" für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger sieht (vgl. SöR, S. 50 ff.), aber (S. 51, 53) die Position des Bürgers zu einseitig als m i t „der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabtes I n d i v i d u u m " u n d darum seine Rechte notwendig p r i m ä r als absolute Rechte, u n d R. Scholz, Wirtschaftsaufsicht . . . , 1971, bes. S. 125, 133, 158 f. u n d ders. Die öffentlich-rechtliche Konkurrentenklage, W i R 1972, S. 35 ff. (55 f.), der auf
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Der Grund dürfte vor allem darin liegen, daß sie seit 1949 (Art. 1 Abs. 3 GG) unzweifelhaft „echte" subjektive Rechte des Bürgers gegen den Staat sind und es daher naheliegt, die systematisch ungewissen Positionen, die § 42 Abs. 2 VwGO „Rechte" nennt und zur Voraussetzung des Rechtsschutzes macht, auf sie zurückführen oder mit ihnen gleichzusetzen. Aber nach dem bisher Gesagten entspräche es dem heutigen differenzierten Verhältnis zwischen Staat und Bürger nicht, alle Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat als Ausflüsse der Grundrechte und abhängige Ansprüche zu deren Durchsetzung anzusehen. Aber wie i m Privatrecht die elementaren Güterzuordnungen in der Gestalt absoluter Rechte an Namen, Besitz, Eigentum und den Gütern des § 823 Abs. 1 BGB m i t den zugehörigen Schutz- und Abwehransprüchen neben den weit ausgefächerten, gesetzlichen und vertraglichen, selbständigen A n sprüchen des Schuldrechts fortbestehen, haben auch die Grundrechte, abgesehen von ihrer Hauptbedeutung als Rechte gegen den Gesetzgeber und die Gerichte, eine wesentliche Funktion i m Alltag des Verwaltungsrechts. Soweit die Verwaltung Gesetze vollzieht oder sonst Gesetze das Verhältnis zwischen Bürger und Behörden regeln, treten sie allerdings i n den Hintergrund, denn hier reicht heute das einfache Schema von Freiheit und gesetzlicher Ermächtigung zur Freiheitsbeschränkung nicht mehr aus, und gesetzliche Einzelansprüche bestimmen die Beziehungen der Bürger zur Verwaltung. Das kann aber dort nicht gelten, wo die Verwaltung zu dem Bürger in Beziehung tritt, ohne daß ein Gesetz Rechte und Pflichten bestimmt, also besonders bei faktischen Einwirkungen auf Grundstücke und andere Sachen, bei der „ D r i t t w i r kung" gesetzlich nicht geregelter Maßnahmen wie z. B. Subventionen, und bei die Person betreffenden Handlungen wie Auskünften, öffentlichen Erklärungen u. dgl., aber auch bei völlig gesetzlosen Verwaltungsakten. Hier werden i n Ermangelung eines gesetzlichen Rechtsverhältnisses und darin begründeter „obligatorischer" Ansprüche die absoluten Rechte des öffentlichen Rechts, die Grundrechte, wirksam. Sie gewähren Abwehransprüche, relative abhängige Rechte, gegen rechtswidrige Beeinträchtigung wie alle absoluten Rechte 12 . die Grundrechte als Normen, die angeben, w a n n der Gesetzgeber ein subjektives Recht gewähren muß, zu Unrecht nicht glaubt verzichten zu können, zumal die späteren Ausführungen, S. 140 ff., fast Musterbeispiele für die von m i r vorgeschlagene Gewinnung der subjektiven Rechte durch Gesetzesauslegung bilden; ferner D. Suhr, (N. 3), S. 550 f.; Schulz - Schaeffer, Der Freiheitssatz des A r t . 2 Abs. 1 GG, 1971, S. 28 f., der meine Auffassung nicht zutreffend wiedergibt. Kern, (N. 3), S. 26 ff., entnimmt subjektive Rechte den Gesetzen, bleibt aber ganz i m Schema der absoluten Rechte, indem er sie als abgegrenzten Interessen- oder Freiheitsbereich m i t Abwehrrechten ansieht, s. S. 47 f.
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I n s o w e i t , aber auch n u r i n s o w e i t , t r i f f t d i e herrschende A u f f a s s u n g zu, w o n a c h s u b j e k t i v e ö f f e n t l i c h e Rechte d a d u r c h entstehen, daß d i e V e r w a l t u n g e i n a n d e r w e i t i g begründetes absolutes Recht (oder
eine
„ R e c h t s s t e l l u n g " ) v e r l e t z t 1 3 . B e i d e n B e m ü h u n g e n der L i t e r a t u r u m die B e g r ü n d u n g dieser E n t s t e h u n g w i r d m e i s t n i c h t k l a r , w e l c h e A r t
von
Rechten — i m S i n n e d e r o b e n g e n a n n t e n U n t e r s c h e i d u n g e n — g e m e i n t i s t 1 4 . B e s c h r ä n k t m a n die F r a g e s t e l l u n g zunächst a u f die G r u n d r e c h t e u n d n i m m t m a n d e r e n C h a r a k t e r als absolute Rechte nach A r t des E i g e n t u m s ernst, so i s t d i e E n t s t e h u n g v o n A b w e h r a n s p r ü c h e n — r e l a t i ven, a b h ä n g i g e n Rechten — i m F a l l i h r e r V e r l e t z u n g ganz u n p r o b l e matisch. Daß e i n absolutes Recht i m F a l l seiner V e r l e t z u n g d i e G e s t a l t eines r e l a t i v e n A b w e h r r e c h t s a n n i m m t , i s t selbstverständlich, seit es absolute Rechte g i b t , n u r daß seit W i n d s c h e i d a n die S t e l l e der actio d e r m a t e r i e l l e U n t e r l a s s u n g s - oder B e s e i t i g u n g s a n s p r u c h g e t r e t e n i s t 1 5 . 12 I n SöR, S. 110 f., w u r d e n auch für diese Fälle Ansprüche auf Unterlassung ohne zugrundeliegendes absolutes Recht aufgrund von Rechtsgrundsätzen u n d Gewohnheitsrecht angenommen. Das w i r d insoweit aufrecht erhalten, als solche Rechtsgrundsätze eine genügende Bestimmung der Beteiligten u n d ihrer (relativen) Rechte u n d Pflichten zulassen. N u r i m übrigen t r i f f t das Handeln der V e r w a l t u n g den Bürger unmittelbar i n seinen G r u n d rechten. V o l l zuzustimmen ist daher Friauf, Der Rechtsschutz des sogen. D r i t ten, Jur. Analysen, 1969, S. 7 - 9. H. U. Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen i m Bereich der Grundrechte, 1970, zieht demgegenüber den Bereich der Grundrechtsverletzungen zu w e i t u n d bringt den Bürger dadurch u m die Vorteile klarer, i n Gesetzen, Richtlinien (mit A r t . 3 GG) u n d Rechtsgrundsätzen ausgearbeiteter Rechtsverhältnisse, soweit sie vorhanden sind. 13 Die Bedenken SöR, S. 97 f. gelten hier nicht, w e i l es sich nicht u m eine Gesetzesverletzung handelt. 14 Vgl. die älteren u n d neueren Versuche, die Entstehung eines „ A b w e h r anspruchs bei Verletzung eines subjektiven Rechts" zu begründen. Sie sind sehr sorgfältig gesammelt u n d erörtert bei M. Hoffmann, Der A b w e h r a n spruch . . . , 1969, S. 24 ff. Er fügt ihnen einen weiteren hinzu, nämlich m i t einem auf A r t . 2 Abs. 1 u n d 20 Abs. 3 GG geschützten „Recht auf Freiheit von allen rechtswidrigen Belastungen" (S. 61 f., 64) i n Verbindung m i t dem Rechtsgrundsatz, „daß jede rechtswidrige hoheitliche Belastung einen A b wehranspruch des betroffenen Bürgers auslöst" (S. 77 f., übernommen durch H. J. Wolff, (Ν. 8), § 43 I I I d. Neuere L i t e r a t u r u n d Rechtsprechung bei Erichsen, Verw. Arch. 1972, S. 217). Auch der normpositivistische Versuch Kerns, (N. 3), S. 49 ff., überzeugt nicht. Die L i t e r a t u r bezieht sich häufig auf die zivilrechtlichen Bemühungen u m einen quasi-negatorischen Abwehranspruch für die Fälle des § 823 Abs. 2 B G B (vgl. J. Esser (N. 5), Bd. 2, S. 469 ff.). Dort geht es aber darum, aus Schadensersatzansprüchen ohne absolute Rechte A b wehransprüche zu gewinnen. Dem entspricht das Problem der Begründung relativer selbständiger Rechte gegenüber dem Staat, s. unten I V . 15 Für die Grundrechte begründet dies überzeugend m i t Nachweisen u n d gegen Rupp: H. U. Gallwas (N. 12), S. 127 f. Bereits für Savigny w a r die Actio das Recht „ i n seiner neuen Gestalt", die es infolge seiner Verletzung ann i m m t , „ i m Zustand der Verteidigung" (s. hierzu u n d zum Wandel i n den
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Seine gesetzliche Grundlage ist i n dem Gesetz mitgegeben, auf dem das absolute Recht beruht, i m Bereich des gesetzfreien Verwaltungshandelns also i n Ermangelung eines § 1004 i n den Grundrechten selbst i n Verbindung m i t A r t . 1 Abs. 3 GG („unmittelbar geltendes Recht", also nicht bloße Deklamation). I m Bereich der Gesetze vollziehenden oder sonst an Gesetze gebundenen Verwaltung bleibt es bei den durch diese Gesetze begründeten selbständigen, d. h. von dem Bestand eines absoluten Rechts und dessen Verletzung unabhängigen Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen, weil die gesetzlich geordneten konkreten und individuellen Rechtsbeziehungen den abstrakten und allgemeinen Rechtsstellungen wie Freiheit, Eigentum und alle Grundrechte vorgehen. Dabei ist vorausgesetzt, daß die betr. Gesetze nicht ihrerseits Grundrechte verletzen. IV. Relative selbständige Rechte Absolute Rechte entstehen durch originären oder abgeleiteten Erwerb. Die zu ihnen gehörenden Abwehransprüche entstehen durch Verletzung eines absoluten Rechts. Selbständige relative Rechte oder Ansprüche entstehen, außer durch Vertrag, durch Gesetz, und zwar durch Verwirklichung des Tatbestandes, an den das Gesetz die Entstehung des Anspruchs als Rechtsfolge knüpft. Danach dürfte die Entstehung von subjektiven Rechten des Bürgers gegen die gesetzgebundene Verwaltung, abgesehen von dem Abgrenzungsproblem, eigentlich nicht problematisch sein. Das Abgrenzungsproblem darf m i t dem der A r t und Weise der Rechtsentstehung nicht verwechselt werden. Wenn gesetzliche Ansprüche des Bürgers gegen die Verwaltung entstehen, dann durch Erfüllung des gesetzlichen Tatbestandes. F ü r positive Ansprüche auf Verwaltungsleistungen aller A r t bietet die E n t s t e h u n g d u r c h E r f ü l l u n g eines gesetzlichen Tatbestandes o f f e n b a r auch f ü r herrschende A u f f a s s u n g e n k e i n e S c h w i e r i g k e i t e n 1 6 . P r o Anspruch bei Windscheid SöR, S. 6 f.). Windscheid, Pandekten, 6. Aufl. Bd. 1, S. 675, verliert kein W o r t zur Begründung des Beseitigungs- u n d Unterlassungsanspruchs bei Verletzung des Eigentums, sondern verweist auf I n s t i tutionen und Digesten. Wolff-Raiser, Sachenrecht, 10. Bearb. 1957, S. 350, u n d Westermann, Sachenrecht, 5. Aufl. 1966, S. 176, lassen Abwehransprüche ohne weiteres aus der Verletzung des Rechts folgen. Problematisch k a n n allenfalls sein, ob es bereits vor der Verletzung einen Unterlassungsanspruch geben kann, der dem Recht „gleichsam von vornherein innewohnt (nur eben als bis zur konkreten Gefährdung ,verhaltener')" (J. Esser (N. 5), Bd. 2, S. 474, bejahend für absolute Rechte). E i n solcher Anspruch k o m m t n u r für die Fälle vorbeugender Unterlassungsklagen i n Frage. 18 Z . B . : Wer die Voraussetzungen des Ausbildungsförderungsgesetzes erfüllt, hat Anspruch auf Studienförderung; w e r die Voraussetzungen für eine
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b l e m a t i s c h s i n d a l l e i n d i e F ä l l e , i n d e n e n eine B e h ö r d e e i n e n b e l a s t e n d e n g e s e t z w i d r i g e n V e r w a l t u n g s a k t erläßt. D i e F r a g e ist, w a s f ü r e i n s u b j e k t i v e s Recht des B ü r g e r s h i e r besteht. Es k a n n n i c h t e i n bloßes Rechtsschutz-,
Kontroll-
oder
Klagerecht
sein, u n d
auch n i c h t
mit
H i l f e eines solchen Rechts b e g r ü n d e t w e r d e n , w e i l v e r f a h r e n s r e c h t l i c h e f o r m e l l e Rechtspositionen e i n m a t e r i e l l e s Recht, dessen D u r c h s e t z u n g sie dienen, v o r a u s s e t z e n 1 7 . Es k a n n auch, w i e gesagt, n i c h t e i n u n s e l b s t ä n d i g e r A b w e h r a n s p r u c h nach A r t des § 1004 B G B sein, w e i l e i n solcher A n s p r u c h
e i n absolutes Recht u n d dessen V e r l e t z u n g
voraus-
s e t z t 1 8 , w ä h r e n d es i n diesen F ä l l e n u m e i n Gesetz geht, das das Rechtsv e r h ä l t n i s zwischen S t a a t u n d B ü r g e r
regelt, i n d e m es Rechte
und
P f l i c h t e n z u t e i l t , u n d u m d i e Frage, w e l c h e A r t A n s p r u c h d u r c h dieses Gesetz b e g r ü n d e t w i r d , w e n n d i e B e h ö r d e e i n e n b e l a s t e n d e n V e r w a l t u n g s a k t erläßt, ohne daß die gesetzlich b e s t i m m t e n V o r a u s s e t z u n g e n dafür vorliegen. Erlaubnis nach § 16 GewO erfüllt, hat Anspruch auf ihre Erteilung; wer die Voraussetzungen einer Steuererstattung erfüllt, hat einen Anspruch auf Rückzahlung der Steuern. Merkwürdigerweise w i r d bei den Bemühungen u m die Entstehung subjektiver Rechte i n der L i t e r a t u r auf diesen einfachen Sachverhalt überhaupt nicht eingegangen. 17 Vgl. SöR, S. 1 ff., 38 f., 57. Insoweit besteht i n der L i t e r a t u r heute Einigkeit, vgl. M. Hoff mann, (N. 14), S. 38; Friauf, (N. 12), S. 10 f.; H.J. Wolff , (Ν. 8), § 43 l b 2; D. Lorenz , (Ν. 2), S. 274ff.; R. Scholz , (Ν. 10, WiR), S. 58; Kern, (Ν. 3), S. I I . Unverständlich ist die Äußerung bei Friauf und Wolff , sowie bei R. Scholz, ich hätte das subjektive Recht m i t A r t . 19 Abs. 4 GG begründet, zumal Scholz, (N. 10, W i r tschaft sauf sieht), S. 104 (3. Absatz „aber doch . . . " ) u n d S. 117 (4. Absatz „Dennoch . . . " ) dies, freilich i n unklarer Weise, selbst t u t (ebenso W i R S. 58 f.). Die Ausführungen Bartlspergers, Verw. Arch. 1960, S. 48 f., 54; DVB1. 1969, S. 265 ff. (266); DVB1. 1970, S. 32; DVB1. 1971, S. 723 u n d Verkehrssicherungspflicht..., 1970, S. 167 hierzu, sowie die von D. Lorenz, (N. 2), S. 14 („Rechtsweggarantie als Verrechtlichungsgebot") u n d S. 55 ff., 277 ff., u n d M. Hoffmann, (N. 14), S. 77, legen den Gedanken nahe, es m i t der Vermeidung des Zirkels von Anspruch u n d Klagebefugnis nicht mehr so genau zu nehmen, wie es i n SöR zunächst notwendig war, u m den Weg zu einem eindeutig materiellen subjektiven Recht gegen die damals noch herrschende Auffassung zu bahnen. Heute erscheint es v e r tretbar, zur allgemeinen Begründung der Möglichkeit und Notwendigkeit subjektiver Rechte neben den materiellen Elementen des Rechtsstaatsprinzips dessen Rechtsschutzprinzip als Indiz (!) m i t heranzuziehen, wie die Genannten es tun. Notwendig oder auch n u r ausreichend ist das allerdings nicht. E i n „Beweisgrund für die Existenz des Rechts" kann dessen „materielle Grundlage" (Friauf, Staat 1970, S. 237) nicht ersetzen. 18 Die Annahme, das verletzte „Recht" sei kein subjektives Recht, sondern eine „Rechtsstellung" o. ä., verläßt das Schema des § 1004 B G B nicht. Sie f i n det sich ζ. B. bei Schulz-Schaeffer, (N. 11), S. 14 ff. Seinem Unbehagen an der Unbestimmtheit eines allgemeinen Freiheitsrechts (S. 11 ff.), k a n n n u r durch den Ubergang zu quasi-obligatorischen gesetzlichen Ansprüchen abgeholfen werden.
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Ein solcher Anspruch muß negativen, abwehrenden Charakter haben. Nun kann ein gesetzlicher Anspruch nur so in der Person eines Berechtigten entstehen, wie er i m Gesetz vorgesehen ist. Gesetze der hier i n Frage kommenden A r t enthalten primär eine Ermächtigung der Verwaltung zu belastenden Maßnahmen bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen, z. B. § 35 GewO, damit aber zugleich ein Verbot solcher Maßnahmen bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen, denn i m Rechtsstaat ist die Verwaltung positiv und negativ an das Gesetz gebunden. Gegen einen Zuverlässigen darf sie keine Untersagung nach § 35 GewO aussprechen 19 . Dieses Verbot ist konkreter als ein allgemeines Freiheitsrecht und ein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch, weil es sich auf die Maßnahmen und Voraussetzungen eines bestimmten Gesetzes bezieht, aber nicht konkret genug, um ein subjektives Recht, einen Unterlassungsanspruch, entstehen zu lassen. Auch positive Ansprüche, z. B. nach dem Ausbildungsförderungsgesetz, entstehen ja erst m i t Erfüllung der Voraussetzungen, die das Gesetz aufstellt und m i t Stellung eines Antrages. Für ein relatives Recht, einen bestimmten Anspruch, ist immer ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen bestimmten Beteiligten notwendig. Man kann nicht sagen, jedermann habe gegen jede Behörde einen Anspruch auf Unterlassen von Maßnahmen nach § 35 GewO, solange er zuverlässig sei. Solche latenten oder verhaltenen Ansprüche sind allenfalls bei absoluten Rechten denkbar, müssen dann aber anderweitig, durch Bezug auf eine Sache und durch konkrete Gefährdung von seiten einer Person, bestimmt sein 20 . Das notwendige Rechtsverhältnis entsteht mit dem Erlaß eines Verwaltungsaktes, z. B. einer Gewerbeuntersagung. I n diesem Rechtsverhältnis, dessen Beteiligte und dessen Inhalt nun bestimmt sind, kann ein abwehrender Anspruch des Betroffenen i n Entsprechung zu dem gesetzlichen Verbot und der entsprechenden negativen Verpflichtung der Behörde bestehen. Ein abwehrender Anspruch kann auf Unterlassung gerichtet sein, wenn eine Verletzung des Verbots bevorsteht oder „droht", oder auf Beseitigung, wenn sie bereits eingetreten ist. Die Eigenart verwaltungsbehördlicher belastender Maßnahmen aufgrund von Gesetzen — nur darum geht es hier — liegt i n ihrem Doppelcharakter als Anordnung und als Vollzugsdrohung 21 . Dem Empfänger eines Verwaltungsaktes nach § 35 GewO w i r d befohlen, seinen Betrieb einzustellen, und zu19 Vgl. SöR, S. 102 f. Einen ähnlichen Ansatz w ä h l t Kern, (N. 3), S. 51, wenn er sagt, Ermächtigungsnormen wie § 35 GewO, w i r k t e n i m Rechtsstaat auch gegen die Behörde, f ü h r t i h n allerdings i n unklarer und systematisch k a u m vertretbarer Weise durch. — Daß der Bindung der Behörde ein subjektives Recht des Bürgers entspricht, w i r d hier vorausgesetzt, s. dazu unten V. 20 Vgl. oben N. 15. Hier geht es nicht u m absolute, sondern u m selbständige relative Rechte.
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gleich die Schließung angedroht. Die eigentliche faktische Betroffenheit steht also noch bevor, insofern müßte der Abwehranspruch ein Unterlassungsanspruch sein. Man w i r d aber die behördliche, sanktionsbewehrte Anordnung der Behörde auch für sich schon als eine Beeinträchtigung des Betroffenen ansehen müssen, und insofern muß sein Anspruch auf Beseitigung der Anordnung gerichtet sein 22 . Es steht nichts i m Wege, den Abwehranspruch, entsprechend dem Doppelcharakter des Verwaltungsaktes, als einen Anspruch mit doppeltem Charakter anzusehen, gerichtet auf Beseitigung der Anordnung und auf Unterlassen ihres Vollzuges. Nach trotzdem erfolgtem Vollzug t r i t t an die Stelle des Unterlassungs- ein Beseitigungsanspruch hinsichtlich der Folgen 23 . I m Verwaltungsrecht entstehen danach die Schwierigkeiten nicht, die das Privatrecht mit negativen Ansprüchen hat. Für Beseitigungsansprüche nach § 823 Abs. 2 BGB (die des § 1004 BGB kommen hier, wo es nicht um Verletzung absoluter Rechte, sondern um Verletzung eines Gesetzes geht, nicht i n Betracht) nimmt man dort ein Schuldverhältnis ex delicto an, das durch die Verletzung des Schutzgesetzes gegenüber einer bestimmten Person entsteht. Für Unterlassungsansprüche vor E i n t r i t t der Verletzung fehlt es an dem Rechtsverhältnis, das zur Entstehung eines individuellen und konkreten Anspruchs notwendig ist. U m den zu allgemeinen und abstrakten Anspruch auf Unterlassung von Störungen gegen jedermann zu vermeiden, hilft man sich m i t der A n nahme einer Klagebefugnis ohne materiellen Anspruch als eines rein prozessualen Rechtsschutzmittels oder mit der Entstehung eines Rechtsverhältnisses durch bloße Gefährdung, deren Feststellung aber unsicher ist 2 4 . Dagegen ist die i n dem belastenden Verwaltungsakt liegende A n 21
Als drittes Element der Verwaltungsakte, das i n den Fällen rechtsgestaltender, feststellender u. ä. Verwaltungsakte das einzige ist, muß die verbindliche Entscheidung über die Rechtslage angesehen werden. Sie f ü h r t dazu, daß der Abwehranspruch nicht m i t der Leistungsklage sondern m i t der A n fechtungs-(Gestaltungs-)klage durchgesetzt w i r d , s. SöR, S. 129 f., und dazu, daß der Anspruch nach A b l a u f der Rechtsmittelfrist ebenso wie nach Rechtsk r a f t des klageabweisenden Urteils nicht mehr geltend gemacht werden kann. 22 Insoweit w i r d die Darstellung SöR, S. 106 teilweise korrigiert: auch vor dem Vollzug des Verwaltungsakts ist bereits etwas geschehen, darum ist neben der Unterlassung des Vollzuges u n d grade, u m sie herbeizuführen, die Beseitigung der Anordnung (des Verwaltungsakts) erforderlich. 23 Z u m Folgenbeseitigungsanspruch vgl. H. J. Wolff (Ν. 8), § 54 I I ; zum vorbeugenden Unterlassungsanspruch W. Haug, DÖV 1967, S. 86 ff. Gegen ihn, S. 90, ist jedoch festzustellen, daß die Unterlassungsklage gegen die gesetzgebundene Verwaltung nicht „volles Pendant i m öffentlichen Recht" zu § 1004 sondern eher zu § 823 Abs. 2 B G B ist. 24 Vgl. J. Esser, (N. 5), Bd. 2, S. 474 f.; für das öffentliche Recht SöR, S. 96.
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Ordnung einerseits selbst Verletzung und andererseits eindeutig feststellbare Gefährdung (durch seinen Vollzug), so daß der Annahme eines konkreten Rechtsverhältnisses und eines Abwehranspruchs m i t dem genannten konkreten Inhalt nichts i m Wege steht 2 5 . Hiergegen ist eingewandt worden, es sei unerträglich, daß der Bürger vor einer Verletzung des Gesetzes i n seinen Angelegenheiten kein subjektives Recht habe 26 . Der Einwand erklärt sich aus der Meinung, nur absolute Rechte seien subjektive öffentliche Rechte oder müßten solchen stets zugrunde liegen wie i m Fall des § 1004 oder des § 823 Abs. 1 BGB. Der Bürger hat freilich immer Rechte gegen den Staat i n Gestalt der Grundrechte 27 . Die Frage ist nur, ob alle Ansprüche aus ihnen hergeleitet werden sollen und können oder ob es nicht neben den Abwehransprüchen aus der Verletzung absoluter Rechte auch solche aus dem Verstoß gegen gesetzliche Verbote geben soll und muß, und ob es nicht ebenso sinnlos ist, bei Verletzung von Verboten i n Verwaltungsgesetzen immer auf Grundrechte zurückzugreifen, wie es sinnlos wäre, i m Schuldrecht bei Nichterfüllung gesetzlicher oder vertraglicher Unterlassungspflichten immer auf ein absolutes Recht am Vermögen o. dergl. zurückzugreifen. Abwehransprüche aus Gesetz, i m Gegensatz zu solchen aus absoluten Rechten, entstehen durch die Erfüllung des gesetzlichen Tatbestandes, an den sie geknüpft sind. Das ist i n den hier in Frage kommenden Fällen die Verletzung des gesetzlichen Verbots 28 . Ob man den vorher bestehenden Zustand als „rechtlich geschütztes Interesse" oder „Rechtsgut" bezeichnet oder nicht, ist systematisch gleichgültig. Auch i m Zivilrecht scheint diese Terminologie nur ein Zugeständnis an das hergebrachte Denken i n absoluten Rechten zu sein 29 . 25
Die Darstellung SöR S. 102 ff. w i r d damit insofern korrigiert, als der Abwehranspruch gegen gesetzwidrige Verwaltungsakte primär Beseitigungsanspruch u n d n u r i m Hinblick auf den drohenden Vollzug Unterlassungsanspruch ist. Die kritische Bemerkung M. Hoffmanns, (N. 14), S. 62 N. 76 ist (nur) insoweit berechtigt. 26 So etwa Suhr, (N. 3), S. 551; D. Lorenz, (N. 2), S. 53; Kern, (N. 3), S. 10 ff. 27 Insofern ist die Formulierung SöR, S. 49 („wo er . . . (der Einzelne) nichts hat") u n d S. 52 („keine subjektiven Rechte") nicht zutreffend. 28 Ungenau ist also die i n SöR gelegentlich gebrauchte, insoweit von D. Lorenz, (N. 2), S. 53 f. u n d Kern, (N. 3), S. 10 ff. zu Recht gerügte Wendung, durch einen gesetzwidrigen Verwaltungsakt werde ein i m Gesetz begründetes subjektives Recht verletzt, z. B. S. 56 u n d S. 60, wo allerdings vorher richtig gesagt w i r d , die Gesetzes Verletzung lasse das subjektive Recht entstehen. Gemeint w a r allein der Unterlassungsanspruch, nicht beachtet war, daß er wie der Beseitigungsanspruch nicht durch das Gesetz abstrakt, sondern erst durch die Verletzung des gesetzlichen Verbots konkret begründet wird. 29 Vgl. Esser, (N. 5), Bd. 2, S. 469 ff. Ausdruck dieses Denkens ist auch die Formulierung „ i n seinen Rechten verletzt . . . " i n § 42 Abs. 2 VwGO. Sie kann für systematische Überlegungen nicht maßgebend sein (vel. SöR. S. 138 f.).
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I m Fall tatsächlichen Handelns der Verwaltung auf Grund gesetzlicher Ermächtigung ohne Verwaltungsakt (ζ. B. Festnahme, Durchsuchung, Anwendung von unmittelbarem Zwang nach § 6 Abs. 2 V w VollstrG) besteht ein Anspruch auf Beseitigung der Folgen der bestimmten Handlung, der ebenso in dem dafür maßgebenden Gesetz begründet ist wie der Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch nach Erlaß eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes. V. Subjektive Rechte und „Reflexe" objektiven Rechts Von der Frage nach der Begründung subjektiver Rechte ist die andere Frage nach ihrer Abgrenzung von den sogen. Reflexen zu unterscheiden. Für absolute Rechte stellt sie sich anders als für relative. Jene bringen Abwehransprüche hervor oder verwandeln sich i n solche, wenn sie verletzt werden, es sei denn, Gesetz oder Vertrag erlaube die Beeinträchtigung (z.B. §§ 904 ff. BGB). Selbständige relative Rechte werden durch Gesetze (oder Verträge) begründet, und zwar durch Erfüllung ihres Tatbestandes. Viele Gesetze knüpfen an ihren Tatbestand nicht die Benennung eines Berechtigten, sondern die eines Verpflichteten, z. B. § 433 BGB. I m Privatrecht w i r d hieraus ohne weiteres auf ein entsprechendes subjektives Recht, einen Anspruch, auf Erfüllung der Pflicht geschlossen, allerdings nicht jedes Beliebigen. Den Lieferungsanspruch ζ. B. hat nicht derjenige, an den der Käufer die gekaufte Sache vor Übereignung bereits weiterverkauft oder vermietet hat, sondern nur derjenige, der zu dem i m Gesetz genannten Verpflichteten i n dem Rechtsverhältnis steht, das das Gesetz regelt, das ist hier allein der Käufer. Man kann dasselbe dadurch ausdrücken, daß man sagt, es sei der Käufer und nicht ein Dritter, dessen Angelegenheiten das Gesetz regelt. Die Feststellung, wessen Angelegenheiten das Gesetz regelt, ist meistens einfach, aber auch i m Zivilrecht nicht selbstverständlich, z. B. nicht bei der Bestimmung des Schadensersatzberechtigten (mittelbar Geschädigter, Drittschaden 30 ) und nicht bei Schadensersatz wegen Verletzung einer Schutznorm (§ 823 Abs. 2 BGB 3 1 ). Sie hängt von einer Auslegung des Gesetzes i n Zusammenhang mit einer Bewertung des Sachverhalts und des Grades der Beteiligung der Interessierten ab 3 2 . I m Einzelfall muß jemand durch die fragliche Handlung 30
Vgl. J. Esser, (N. 5), Bd. 1, S. 292 ff. Derselbe, Bd. 2, S. 408 ff. 32 Sie wurde i n §§ 844 f. B G B v o m Gesetzgeber selbst vorgenommen, bei der Drittschadensliquidation u n d bei den „Schutzgesetzen" des § 823 Abs. 2 B G B ebenso wie für das öffentliche Baunachbarrecht u. a. von der Rechtsprechung. Eine ganz entsprechende Entscheidung ist bei der Amtshaftung zu treffen, nämlich ob dem Beamten die Amtspflicht dem Verletzten („einem Dritten") gegenüber oder n u r dem Dienstherrn gegenüber oblag. 31
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einen Schaden erlitten haben, also i n denjenigen seiner Angelegenheiten betroffen sein, die das Gesetz i n der gefundenen Auslegung regelt, damit i h m der i m Gesetz begründete Schadensersatzanspruch zusteht. I m öffentlichen Recht gibt es zahllose unzweifelhafte Fälle, i n denen der gesetzlichen Verpflichtung der Behörde ein Anspruch dessen entspricht, der den Tatbestand des Gesetzes erfüllt, aber es bestehen auch zusätzliche Schwierigkeiten. Es gibt Gesetze, die den Behörden Befugnisse oder Pflichten auferlegen, ohne daß dem überhaupt ein Anspruch oder eine Pflicht irgendeines Bürgers entspricht, weil sie niemandes eigene, sondern nur amtliche („öffentliche") Angelegenheiten regeln, z. B. die Gesetze für das Haushaltswesen, das Kassen- und Rechnungswesen, Organisations- und Zuständigkeitsvorschriften aller A r t , gewisse internationale Verträge u. a. m. Ferner gibt es Gesetze, von denen zweifelhaft ist, ob neben den Angelegenheiten des unmittelbar Beteiligten, z. B. eines Bauherrn oder eines Gewerbetreibenden oder eines Subventionsempfängers, auch die eines indirekt betroffenen Dritten Gegenstand der gesetzlichen Regelung sind, so daß auch zwischen ihm und der Behörde ein Rechtsverhältnis als Grundlage möglicher A n sprüche besteht. Die Entscheidung dieser Frage ist wie i m Zivilrecht durch Auslegung des Gesetzes i m Zusammenhang mit einer Bewertung des Sachverhalts und des Grades der Beteiligung des Dritten zu treffen. Für die Annahme eines Rechtsverhältnisses und eines Anspruchs i m Einzelfall ist dann erforderlich, daß jemand durch das Verhalten der Behörde in den vom Gesetz geregelten Angelegenheiten betroffen ist, so daß der Tatbestand erfüllt ist, an den das Gesetz den fraglichen A n spruch knüpft. I n der neueren Literatur ist dieser Vorschlag für die Abgrenzung der subjektiven öffentlichen Rechte 33 dahin verstanden worden, solche Rechte sollten rein faktisch, auf Grund des bloßen Betroffenseins von behördlichen Maßnahmen ermittelt werden, losgelöst und unabhängig von jedem Gesetz 34 . Das ist ein MißVerständnis. Gemeint war, daß ein subjektives Recht desjenigen, der von einer behördlichen Maßnahme tatsächlich i n seinen Angelegenheiten betroffen wurde, nicht vom W i l len oder der Absicht des Gesetzgebers abhängen dürfe, sondern von der 33 Z u dem Vorschlag vgl. SöR, S. 57 ff., wo die Erforderlichkeit eines die Angelegenheiten des Betroffenen regelnden Gesetzes mehrfach, aber v i e l leicht nicht immer deutlich genug, erwähnt wurde. Sehr deutlich aber S. 54 ff. 82 ff., 94 ff. 34 So R. Scholz, (N. 11, Wirtschaftsaufsicht), S. 124; Friauf, (N. 12), S. 11, DVB1. 1969, S. 368 ff. u n d Der Staat, 1970, S. 223 ff. (236 f.); P. Forster, Die Klagebefugnis D r i t t e r . . . , Frankf. j u r . Diss. 1971, S. 127 f.; H.J. Wolff, (Ν. 8), S. 291; Lorenz, (Ν. 2), S. 61 f.
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objektiven Interpretation des Gesetzesinhalts, nämlich ob die betroffenen Angelegenheiten Gegenstand seiner Regelung sind oder nicht. So regelt ζ. B. ein Gesetz, das durch eine Erlaubnispflicht für Sicherheit oder Hygiene i n einem Gewerbebereich sorgt, nicht die Wettbewerbspositionen der Gewerbetreibenden 35 , sondern die Angelegenheiten der Bewerber um eine Erlaubnis und derjenigen, die durch Unsicherheit oder Mangel an Hygiene gefährdet werden, und begründet für sie subjektive Rechte, unabhängig davon, ob der Gesetzgeber das beabsichtigte oder nicht. „ I n solchen Fällen noch zusätzlich die Auskunft zu erwarten, ob jene Begünstigung auch gewollt oder bezweckt gewesen sei, ist nicht nur unrealistisch, sondern auch interpretatorisch verfehlt 3 6 ." I m Rechtsstaat kann die Frage, ob einer gesetzlichen Pflicht der Behörde (zu einem Tun oder Unterlassen) ein Anspruch desjenigen entspricht, dessen Angelegenheiten durch das pflichtgemäße oder pflichtwidrige Verhalten der Behörde berührt werden, nicht dem Belieben des Gesetzgebers überlassen bleiben. Es ergibt sich vielmehr aus dem Sachzusammenhang — ζ. B. der Situation der Nachbarschaft oder des Wettbewerbs —, den das Gesetz regelt, aus der Bewertung des Betroffenseins des Bürgers und einer daraus resultierenden Auslegung des Gesetzes37. M i t dem nötigen Vorbehalt gegen derartige Formeln, aber i m Gedan35
Vgl. SöR, S. 73 ff. Der E i n w a n d Suhrs, (N. 3) gegen das Milchhändlerbeispiel ebenda ist nicht stichhaltig. Wenn „der K o n k u r r e n t (eines Milchhändlers) auf G r u n d der gesetzwidrigen Zulassung m i t wesentlich geringerem A u f w a n d für Hygiene wirtschaften u n d den alten Milchhändler auf diese Weise an den Rand des Ruins bringen kann", so ist das ein F a l l des Wettbewerbsrechts (UWG) u n d nicht des Gewerbe- u n d Gesundheitsrechts. A n d e r n falls wären i n der Marktwirtschaft alle Wirtschaftsgesetze „konkurrentenschützend". Allerdings k a n n zwischen dem Gegenstand einer gesetzlichen Regelung u n d den Wettbewerbspositionen der Konkurrenten ein notwendiger sachlicher Zusammenhang bestehen, ζ. B. bei Subventionsgesetzen, w e i l Subventionen stets sachnotwendig die Wettbewerbslage beeinflussen. Sie regeln daher auch die Angelegenheiten, nämlich die Wettbewerbsposition, eines nichtsubventionierten Konkurrenten. 36 R. Scholz, (N. 11, WiR), S. 54; vgl. auch (N. 11, Wirtschaftsaufsicht), S. 91: „scheinjuristische Spekulation", sowie Lorenz, (N. 2), S. 59: Gesetze „sollen" nicht „private Belange schützen, sondern eine objektive Ordnung herstellen, die die Individualinteressen . . . berücksichtigt u n d damit ,aufhebt'" s. a. ebenda, S. 55. 37 Es soll nicht bestritten werden, daß i n L i t e r a t u r und Rechtsprechung die Formel, ob das Gesetz „den Individualinteressen des Einzelnen zu dienen bestimmt ist", w e i t h i n ebenso verstanden u n d angewandt worden ist. V i e l fach w i r d aber ausdrücklich gesagt, die Schaffung subjektiver Rechte müsse dem Gesetzgeber überlassen bleiben o. ä. Das k a n n nicht richtig sein. I m übrigen w i r d auch § 823 Abs. 2 B G B trotz der Worte „den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz" nicht subjektiv ausgelegt. Esser, (N. 6), Bd. 2, S. 408, spricht ζ. B. von Schutzfunktion und von Zwecken des Gesetzes, nicht des Gesetzgebers.
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ken an die erfolgreiche „Frank'sche Formel" i m Strafrecht, könnte man sagen, es sei eine Entscheidung zu treffen, ob die Behörde dem durch ihr Handeln oder Nichthandeln berührten Bürger sagen kann: „Das ist nicht deine Sache; das machen w i r schon", oder ob umgekehrt der Bürger sagen kann: „das ist auch meine Sache". Eine Erörterung der Rechtslage, die dem Gemeinten fast vollkommen entspricht, findet sich i n einem Urteil des B G H 3 8 . Ein Beamter war nach einem Unfall als dienstunfähig zur Ruhe gesetzt worden. Das Gericht prüft (incidenter), ob der Schädiger, der vom Dienstherrn auf Schadensersatz i n Anspruch genommen wurde, die Zurruhesetzung als nicht erforderlich und daher rechtswidrig anfechten könne, und verneint die Frage. „Das Anliegen des Schädigers richtet sich i m Grunde nicht gegen den Bestand des Verwaltungsakts, i h m geht es nicht um eine Wiedereinstellung des . . . Beamten, vielmehr geht es i h m darum . . . , daß er nicht zum Ersatz eines Verdienstausfalls (§ 843 BGB), der keine adäquate Unfallfolge war, herangezogen wird. Diesem Anliegen w i r d aber bereits . . . (durch §§ 412, 404, 254 BGB) Rechnung getragen . . . " , d. h. seine Angelegenheit, die Schadenshaftung, ist Gegenstand des BGB, nicht des Beamtengesetzes, das evtl. verletzt wurde. „Die Frage, ob der Dienstherr, als er sich zur Pensionierung entschloß, seine Fürsorgepflicht verletzte, stellt sich nur i m Verhältnis zwischen dem Dienstherren und dem Beamten und nicht . . . auch i m Verhältnis zwischen Dienstherrn und Schädiger . . . " , d. h. die Zurruhesetzung ist nicht Sache des Schädigers. I n der gleichen Weise hat Richard Bartlsperger versucht, die Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht zu verbessern, und hat bei der Untersuchung bau- und planungsrechtlicher Fragen, des Verwaltungsverfahrensrechts sowie der Verkehrssicherungspflicht bei öffentlichen Sachen überzeugende Ergebnisse damit erzielt 3 9 . Ferner hat Markus Wie38 U r t e i l v. 13. 6.1972, DÖV 1973, S. 497 f. A m Anfang gebraucht das Gericht allerdings die konventionellen Formeln. 39 R. Bartlsperger, Ver w. Arch. 1969, S. 47 ff.; DVB1. 1969, S. 265 ff.; DVB1. 1971, S. 723 ff.; DVB1. 1973, S. 465 ff.; Verkehrssicherungspflicht u n d öffentliche Sache, 1970, S. 16 f., 152 ff. Wenn Friauf, (N. 12), S. 11 f. auch gegen i h n betont, Rechte könnten n u r durch Gesetze begründet werden, so ist das i n sofern erklärlich, als Bartlsperger m i t u n t e r das faktische Moment überbetont (DVB1. 1969, S. 266: „ . . . , wenn ein Staatsbürger von einem Rechtssatz . . . konkret betroffen i s t " ; DVB1. 1970, S. 32; „ . . . , daß die Rechtsnorm den Gewaltunterworfenen tatsächlich i n dessen Angelegenheiten betrifft"). Dann heißt es aber auch (DVB1. 1971, S. 730), subjektive Rechte seien festzustellen, unabhängig von einer „ i m Wege historischer oder objektiv-teleologischer Interpretation ermittelten Anordnung des Gesetzgebers", vielmehr nach „objektiver Bewertung der tatsächlichen Normauswirkungen" (ebenso Verkehrssicherungspflicht, S. 164), und die Rechtsnorm sei daraufhin „auszu-
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bei in der vorgeschlagenen Sicht die Frage subjektiver Rechte des Bürgers gegenüber Maßnahmen der staatlichen Wirtschaftslenkung mit Erfolg untersucht 40 . I m wesentlichen zustimmend hat sich Rupert Scholz geäußert 41 . Die von i h m vermißte übergeordnete Rechtsentscheidung, nach der eine tatsächliche Begünstigung durch den Gesetzgeber auch eine rechtliche ist oder sein muß, muß man nicht i n den Grundrechten, sondern man kann sie auch i m Rechtsstaatsprinzip und seinem externen Aspekt sehen 42 . I m übrigen finden sich i n der Literatur mannigfache Formulierungen für dieselbe Frage, nämlich ob die in dem verletzten Gesetz geregelte Angelegenheit auch Sache des betroffenen Bürgers ist. So fordert Friauf ein Gesetz, dessen „Schutzrichtung . . . die Belange einschließt, i n denen er (der Betroffene) durch den A k t beeinträchtigt worden ist" 4 3 . Lorenz stellt darauf ab, daß „sich nach der durch das Gesetz geschaffenen objektiven Lage eine Berührung des individuellen Lebenskreises ergibt, die nach der . . . Verfassungsentscheidung zu einer subjektiven Stellung führen muß", oder daß „die i n der Wahrnehmung der öffentlichen Belange liegende ,Miterledigung 4 der ,eigenen Angelegenheiten 4 des einzelnen notwendig zu einer subjektiven Position aufgrund des Gesetzes führen muß" 4 4 . Hermann Kern sieht die Grundlage des subjektiven Rechts „ i n einer Regelung des Sachverhalts", d. h. „ i n legen", „ob sie potentiell Grundlage subjektiver öffentlicher Rechte" sein könne (Verkehrssicherungspflicht, S. 180 f.). Daß, wie Friauf, meint, „erst das Gesetz die Qualifizierung als eigene Angelegenheit bewirken kann", k a n n nicht richtig sein. Die Errichtung eines Hochhauses i n drei Meter Abstand von meinem Grundstück (Friauf), i m Gegensatz ζ. B. zur Anzahl der F a h r stühle oder der Breite der Nottreppen i n ihm, ist meine Angelegenheit, ohne daß ein Gesetzgeber sie erst dazu machen müßte oder daran auch n u r etwas ändern könnte. 40 M. Wiebel, Wirtschaftslenkung u n d verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz . . . , 1971, S. 44 ff. 41 R. Scholz (N. 11, Wirtschaftsaufsicht), S. 90 ff., 125 u. ders., (N. 11, WiR), S. 53 f. 42 Ebenda, (N. 11, Wirtschaftsauf sieht), S. 125; SöR S. 50 ff., 103. Der scheinbare Gewinn f ü r die individuelle Freiheit, den die Heranziehung der G r u n d rechte bei Scholz bedeutet, w i r d zunichte gemacht durch Aussagen wie die, ein subjektives Recht liege dort vor, wo die Position des Begünstigten den „objektiven Ordnungsinhalt i n verfassungslegitimer Weise v e r t r i t t " (S. 162). Hier w i r d deutlich, daß nicht ein eigenes Recht des einzelnen Bürgers gemeint ist, sondern ein Schutz der öffentlichen Ordnung durch den Einzelnen, der sie „repräsentiert" (S. 152 ff.: „subjektives Recht als Repräsentanz von öffentlichem Interesse . . . " , vgl. bes. S. 168 f., 171, 194 f.). 43 Friauf, (N. 12), S. 12, aber S. 13 wieder Hinweise, „daß der Nachbarschutz konkret gewollt sei". 44 D. Lorenz, (N. 2), S. 60, 69. I m Widerspruch dazu greift er S. 63 ff. doch auf die Grundrechte zurück, allerdings n u r als „eigentliche Grundlage für die A b l e i t u n g subjektiver öffentlicher Rechte aus Normen des objektiven Rechts" (S. 63). 33 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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W i l h e l m Henke
einer verbindlichen Wertung der Privat- gegenüber den Allgemeininteressen, in einer Anweisung . . . an die Verwaltung, wie sie zwischen diesen widerstreitenden Interessen zu entscheiden habe, womit zugleich dem Bürger eine feste Rolle i n diesem Konfliktsachverhalt zugewiesen w i r d " . Das subjektive Recht werde „von der Sache her eingeräumt, ein diesbezüglicher Wille des Gesetzgebers ist entbehrlich" 4 5 . Franz Kasper spricht, für subjektive Rechte überhaupt, von der Notwendigkeit einer „Relation der Verpflichtungsnorm zum Normbegünstigten, die sinnvoll nur i m Rahmen einer Gesamtbewertung von Rechtssatz, Rechtssatzergebnis und Gesamtposition des von diesem Ergebnis Profitierenden hergestellt zu werden vermag" 4 6 . Auf den Wortlaut aller dieser Umschreibungen kommt es nicht an. Es wäre sogar schädlich, wenn die Entscheidung über Vorliegen oder Nichtvorliegen eines subjektiven öffentlichen Rechts wieder anhand starrer Formeln getroffen würde, wie es früher geschah, und i n der Rechtsprechung weithin noch heute geschieht. Ebenso schädlich wäre ein Streit u m die Worte, m i t denen das, worauf es ankommt, zum Ausdruck gebracht wird. Trotz vieler Unterschiede und selbst Gegensätze i n den theoretischen Formulierungen der Literatur hat sie eine Reihe wertvoller Analysen des objektiven Rechts unter dem Gesichtspunkt der Frage nach dem subjektiven Recht hervorgebracht 47 . Sie werden m i t der Zeit auch auf die Rechtsprechung einwirken und sie i n die Lage versetzen, statt einem schimärischen Rechtsbegründungswillen des Gesetzgebers nachzuforschen oder ihn schließlich zu fingieren, den vom Gesetz geregelten Sachzusammenhang und die Regelung selbst zu analysieren und aufgrund dessen zu entscheiden, ob das jeweilige Verhalten — Tun oder Unterlassen — der Verwaltung allein ihre Sache oder auch eigene Angelegenheit des davon betroffenen Bürgers ist.
45
H. Kern, (N. 3), S. 37, 42, vgl. S. 56 f. F. Kasper, (N. 2), S. 24. 47 Neben den genannten Arbeiten von Bartlsperger u n d Wiebel auch Scholz, (N. 11, Wirtschaftsaufsicht), S. 65 ff., 134 ff., 172 ff. (GWB, PersBefG u. a.) u n d Forster, (N. 34), S. 165 - 429 (Gewerberecht u n d Recht der freien Berufe, PersBefG, GüKG, Subventionsrecht u. a.). 46
Satzungsgenehmigung und Satzungsoktroi : Verwaltungsakte «mit Doppelnatur ? Von Otto Bachof
L Je umfassender der gegenständliche Bereich ist, von dem ein Begriff eine Vorstellung vermitteln soll, u m so geringer sind Anschaulichkeit und Aussagekraft dieses Begriffs. So betrachtet, ist der Verwaltungsakt ein Begriff von äußerster Blässe und Abstraktion; soll er doch unterschiedlichste Erscheinungen aus dem gesamten Bereich der öffentlichen Verwaltung abdecken. Er umfaßt etwa gleichermaßen Wasserrechtsverleihung und Promotion, Verkehrszeichen und Rentenbescheid, Umlegungsplan und Stiftungsgenehmigung, Bauerlaubnis und Bildung eines Jagdbezirks. Es ist erstaunlich, daß sich für so verschiedenartige Phänomene überhaupt gemeinsame Gesetzmäßigkeiten entdecken oder festlegen lassen. Und doch geschieht das: Fehlerhaftigkeit und Nichtigkeit, Fehlerfolgen und Heilung, Widerruf und Rücknahme — um nur einige Stichworte zu nennen — werden für alle jene Akte nach i m wesentlichen gleichen Regeln beurteilt 1 . Wenn etwas Derartiges möglich ist, so einmal deshalb, weil die gemeinsamen Regeln elastisch genug sind, u m ggf. die Berücksichtigung sachbedingter Besonderheiten zu gestatten. Z u m anderen liegt es daran, daß jene Regeln nicht spekulativ erfunden und den vielfältigen Erscheinungen der Verwaltungswirklichkeit übergestülpt, sondern aus den konkreten Erfahrungen der Verwaltungspraxis induktiv entwickelt worden sind und von daher ständig fortentwickelt und angepaßt werden; nur solche Praxisbezogenheit bewahrt sie auch trotz ihrer Elastizität davor, konturenlos und damit unbrauchbar zu werden. Die A n passung und Fortentwicklung erfolgt vornehmlich durch positive oder negative Subsumtion von Fällen unter den Begriff. Wer heute wissen 1
E i n beeindruckendes Beispiel dafür ist der E n t w u r f eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (EVwVfG). Ungeachtet vieler Unzulänglichkeiten, die i h m auch i n seiner jüngsten Fassung (BT-Drucks. 7/910 v o m 18. 7.1973) noch anhaften, beweist er eindringlich, daß solche Regeln aufgestellt werden k ö n nen. 33«
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Otto Bachof
will, was ein Verwaltungsakt ist, wäre schlecht beraten, wollte er sich allein auf die von Lehre, Rechtsprechung oder Gesetzgebung2 bereitgehaltenen Definitionen verlassen; sie könnten i h m viele Zweifelsfragen nicht beantworten. Er muß vielmehr die zahlreichen von Rechtsprechung und Lehre gefundenen Einzelfall-Lösungen zu Rate ziehen, die durch Bejahung oder Verneinung der Verwaltungsakteigenschaft der zu beurteilenden Handlungen den Begriff des Verwaltungsakts erst konkretisieren und damit praktisch verwendbar machen. M i t anderen Worten: Wie der Begriff des Verwaltungsakts erst durch A b straktion aus der Fülle konkreter Erscheinungen entwickelt worden ist, so w i r d er auch aus diesen Erscheinungen ständig neu aufgefüllt, von dorther fortentwickelt und erforderlichenfalls modifiziert. Das Material, aus dem diese Auffüllung geschieht, sind die mannigfachen Bereiche des besonderen Verwaltungsrechts. Leider werden sie von der „zünftigen" Wissenschaft stark vernachlässigt 8 ; sehr zum Schaden nicht nur dieser speziellen Rechtsgebiete, sondern auch des allgemeinen Verwaltungsrechts! Der Reiz der Befassung mit dem Besonderen liegt keineswegs nur i n dessen unmittelbar praktischer Relevanz, sondern auch und vielleicht sogar i n erster Linie i n seiner Ergiebigkeit für die Dogmatik des Allgemeinen. Es ist wie m i t dem Riesen Antäus und der Gäa: Nur aus der Verbindung m i t dem Boden der besonderen Rechtsmaterien schöpft das allgemeine Verwaltungsrecht seine Kraft. Wollten w i r i n den Vergleich den Jubilar einbeziehen, so könnten w i r auch i h n als einen Antäus bezeichnen, der seine bewundernswerte K r a f t zur dogmatischen Durchdringung verwaltungsrechtlicher Institutionen aus dem ständigen engen Kontakt m i t den Problemen der besonderen Rechtsgebiete und aus seinen nicht abreißenden Bemühungen u m ihre Bewältigung zieht 4 , ohne daß er freilich je der darin liegenden Versuchung zum Spezialistentum erlegen wäre. I m folgenden soll zwei Rechtsakten nachgegangen werden, die i n einem Bereich des besonderen Verwaltungsrechts angesiedelt sind, dem Werner Weber stets seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat: dem Recht der autonomen Verbände, vor allem der Gemeinden und Gemeindeverbände, aber auch anderer Selbstverwaltungskörper wie
2
Z. B. § 106 schl.-holst. Landesverwaltungsgesetz v o m 18. 4.1967 (GVOB1. S. 131), ähnlich § 31 E V w V f G 1973. 3 Z u einigen Ursachen dafür s. meine Ausführungen i n V V D S t R L Bd. 30 (1972), S. 235 f. i. V. m. S. 212 ff. 4 Aber wie jeder Vergleich h i n k t natürlich auch dieser! Da die Gefahr eines Verlustes der „Bodenberührung" für den Jubilar schlechthin nicht existiert, so k a n n auch k e i n Herakles erscheinen, der i h n überwände.
Verwaltungsakte m i t Doppelnatur?
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ζ. B. der Hochschulen. Satzungsgenehmigung und Satzungsoktroi vermögen Erhellendes zur Lehre vom Verwaltungsakt beizutragen, insbesondere zu seiner oft verkannten doppelten Bedeutung als Begriff und Institut sowohl des Verfahrensrechts als auch des materiellen Rechts 5.
II. Die Lehre von der sog. Doppelnatur von Staatsakten behauptet, daß ein und derselbe Hoheitsakt gegenüber einer Person oder Personenmehrheit Verwaltungsakt, zugleich aber gegenüber einer anderen Person oder Personenmehrheit nicht Verwaltungsakt — sondern ζ. B. ein bloßes Verwaltungsinternum, ein Rechtsetzungsakt oder gar ein Rechtssatz, jedenfalls aber „etwas anderes" als ein Verwaltungsakt — sein könne. Die Gegenmeinung bestreitet das, nach ihr gibt es nur ein Entweder-Oder. Die Frage ist seit langem kontrovers bei der Beurteilung der Rechtsnatur der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen; hier hat zuerst Nipper dey 6 die Lehre von der Doppelnatur verfochten, Bettermann 7 vor allem ist ihr entgegengetreten. Sie spielt ferner eine Rolle für die Beurteilung der M i t w i r k u n g einer Behörde am Zustandekommen des Verwaltungsakts einer anderen Behörde, für die Qualifizierung einer kommunalen Gebietsänderung als Organisationsakt, als Verwaltungsakt oder (und) als Rechtsetzungsakt, und schließlich für die den Gegenstand dieses Beitrags bildenden Rechtsakte der Satzungsgenehmigung und des Satzungsoktrois. Von praktischer Bedeutung ist die Streitfrage vor allem für A r t und Umfang des Rechtsschutzes, aber auch für andere von der Qualifikation abhängige Rechtsfolgen wie ζ. B. Widerruflichkeit und Rücknehmbarkeit der Akte; das bedarf an dieser Stelle keiner Erläuterung.
5
Die Anregung zum Thema hat m i r die Mitarbeit an der 9. Aufl. des Lehrbuchs des Verwaltungsrechts (Bd. I) von Hans J. Wolff gegeben. Die einem Lehrbuch angemessene Raumbeschränkung nötigte mich dort zu äußerster Knappheit. Freilich k a n n auch hier, eben wegen jener Mitarbeit u n d der durch sie b e w i r k t e n Terminnot, nicht v i e l mehr als eine Skizze gegeben werden, die einer Ergänzung v o r allem durch Einbeziehung weiterer A k t e m i t angeblicher „Doppelnatur" bedürfte. („Raum" u n d „ Z e i t " als bestimmende Elemente wissenschaftlichen Arbeitens!). 6 Hans Carl Nipperdey, Die Rechtsnatur der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen (in: Staatsbürger u n d Staatsgewalt, Jubiläumsschrift zum hundertjährigen Bestehen der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit u n d zum zehnjährigen Bestehen des Bundesverwaltungsgerichts, 1963, Bd. I S. 211 ff.). 7 Karl August Bettermann, Rechtssetzungsakt, Rechtssatz u n d V e r w a l tungsakt (in: Festschrift für Hans Carl Nipperdey, 1965, Bd. I I S. 723 ff.).
Otto Bachof
518
III. 1. D i e staatliche G e n e h m i g u n g d e r S a t z u n g e i n e r S e l b s t v e r w a l t u n g s k ö r p e r s c h a f t w i r d h e u t e , j e d e n f a l l s v o n d e r Rechtsprechung, ü b e r w i e g e n d als e i n gegenüber dieser K ö r p e r s c h a f t ergehender
Verwaltungsakt
angesehen; gleiches g i l t f ü r d i e V e r w e i g e r u n g d e r G e n e h m i g u n g . D i e Ansichten der Lehre sind weniger
einhellig8. Kontroverser
sind
—
h i e r auch i n d e r Rechtsprechung — d i e A n s i c h t e n d a r ü b e r , w i e die G e n e h m i g u n g u n d d e r e n V e r w e i g e r u n g i m V e r h ä l t n i s zu d e n
Adressaten
d e r S a t z u n g z u q u a l i f i z i e r e n seien. W e i t g e h e n d e s E i n v e r s t ä n d n i s steht n u r d a r ü b e r , daß sie i n s o w e i t j e d e n f a l l s keine
be-
Verwaltungsakte
s i n d ; aber auch das i s t n i c h t u n b e s t r i t t e n 9 . O b sie dagegen als M i t wirkungsakte
am kommunalen
als Rechtsetzungsakte
Rechtsetzungsverfahren
und
deshalb
anzusehen s i n d oder g a r a m Rechtssatzcharakter
der g e n e h m i g t e n S a t z u n g t e i l n e h m e n , i s t s t r e i t i g 1 0 . 2. Bettermann
11
h a t m i t besonderem N a c h d r u c k d a r a u f h i n g e w i e s e n ,
daß d i e D i s k u s s i o n Rechtssatz 12 8
an einer
mangelnden
u n d Rechtsetzungsakt
Unterscheidung
zwischen
leide. D i e G e n e h m i g u n g sei k e i n e
Siehe z.B. B V e r w G E 16, 83; 16, 312; 27, 350; 34, 301. Weitere Nachweise s. bei Bettermann, S. 724 ff. (Anm. 7); Carl Hermann Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 5. A u f l . 1971, S. 130; Eyermann - Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 1971, Rn. 53 b zu § 42; Redeker - von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl. 1971, Anm. 27 zu § 42. 9 Siehe Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht I, 8. Aufl. 1971, § 46 V 3 (S. 335), wonach die Genehmigung auch insoweit ein Verwaltungsakt ist, jedoch keine unmittelbare Rechtswirkung für die Gemeindeeinwohner oder D r i t t e hat u n d von diesen daher nicht angefochten werden kann. Das ist freilich mehr eine terminologische als eine sachliche Abweichung. Hinsichtlich der Terminologie hat Wolff aber recht: ein Verwaltungsakt ist auch „gegenüber" solchen Personen ein Verwaltungsakt, die er gar nicht b e t r i f f t ! Vgl. auch unten Anm. 22. 10 Siehe die Nachweise wie i n Anm. 8. Die i m Schrifttum oft für die Eigenschaft als Rechtsetzungsakt i n Anspruch genommenen Entscheidungen B V e r w G E 16, 83 u n d 16, 312 besagen darüber, jedenfalls ausdrücklich, nichts, beschränken sich vielmehr auf die Bejahung der Verwaltungsakteigenschaft gegenüber dem Satzungsgeber; ausdrücklich gegen die Qualifizierung der Zustimmung als „Rechtsetzung" jedoch B V e r w G E 27, 350 (352). 11 S. 726 f. (Anm. 7). 12 Bettermann spricht bald von Rechtssätzen, bald von Normen. I n der Rechtssprache werden beide Ausdrücke oft synonym gebraucht („Normenkontrolle"!), sie sollten aber besser unterschieden u n d die „ N o r m " dem i m perativen Gehalt des Rechtssatzes ( „ D u sollst nicht stehlen"), der „Rechtssatz" dagegen der Tatbestand u n d Rechtsfolge verknüpfenden Aussage („Wer . . . wegnimmt, w i r d . . . bestraft") vorbehalten bleiben. S. dazu Wolff (Anm. 9) § 24 I I c 2 (S. 113). I m folgenden w i r d von „Rechtssätzen" gesprochen, außerdem w i r d der Begriff der Einfachheit halber oft i n der Einzahl gebraucht, auch wenn eine Mehrzahl von Rechtssätzen gemeint ist; vgl. den Sprachge-
Verwaltungsakte m i t Doppelnatur?
519
abstrakt-generelle Regelung, da sie selbst keine Rechtssätze enthalte, sondern Rechtssätze schaffen helfe. Indem sie eine gesetzlich vorgeschriebene Bedingung für das Wirksamwerden der von anderen geschaffenen Rechtssätze setze, sei sie aber ein (unselbständiger) Rechtsetzungsakt, wenn man darunter jeden die Erzeugung von Normen betreffenden Rechtsakt verstehe. Insoweit ist Bettermann beizupflichten. Es bedarf aber zweier ergänzender Hinweise. Erstens: Wenn man den Begriff des Rechtsetzungsakts so weit faßt, daß darunter alle Rechtsakte fallen, die die Erzeugung von Rechtssätzen betreffen, so fallen darunter auch Mitwirkungsbefugnisse Privater, wie etwa A n tragsrechte (ζ. B. der Tarif Vertragsparteien bei der Allgemein verbindlicherklärung) oder Anhörungsrechte (z.B. beim Erlaß von Bebauungsplänen). Bettermann mag den Begriff des Rechtsaktes implizit als auf Hoheitsakte beschränkt verstanden haben; das würde nichts daran ändern, daß tatsächlich wichtige Gemeinsamkeiten zwischen den M i t wirkungsakten der Verwaltung und der Privaten bestehen, zumal auch die M i t w i r k u n g der Privaten oft notwendige Gültigkeitsvoraussetzung des Rechtssatzes ist. Zweitens: Der unselbständige unterscheidet sich vom selbständigen (oder besser: originären) Rechtsetzungsakt dadurch, daß nur der letztere den Inhalt des Rechtssatzes verbindlich festlegt, mag auch der für den unselbständigen A k t Verantwortliche durch Verweigerung seiner M i t w i r k u n g (oder auch schon durch bloße Drohung mit solcher) mittelbar Einfluß auf den Inhalt nehmen können. Das ist auch dann nicht anders, wenn die Genehmigung keine bloß rechtsaufsichtliche ist, vielmehr der Sache nach ein echtes und vielleicht sogar gleichberechtigtes Mitspracherecht beinhaltet. Werner Weber 1 3 hat, unter Anleihe bei einem Terminus des Staatskirchenrechts, von den „res mixtae" gesprochen, i n denen ein kommunales und ein staatliches Bestimmungsinteresse derart zusammentreffen, daß sie sich zu einem staatlich-kommunalen Kondominium vereinigen. I n solchen Fällen mag sich hinter der rechtstechnischen Form der Genehmigung die in der Sache gleichrangige staatliche Beteiligung verbergen 14 . Jedoch, so wichtig diese Erkenntnis für die Erwägungen sein kann, die der Staat seibrauch von „Gesetz" als Bezeichnung sowohl für ein ganzes Gesetzgebungsw e r k wie für den einzelnen Rechtssatz. 13 Werner Weber, Kommunalaufsicht als Verfassungsproblem (in: Aktuelle Probleme der Kommunalaufsicht, Schriften der Hochschule Speyer Bd. 19, 1963, S. 17 ff.), S. 24 f.; ders., Staats- u n d Selbstverwaltung i n der Gegenwart, 2. Aufl. 1967, S. 130 f. 14 Weber, ebd., i m Anschluß an Jürgen Salzwedel, Staatliche Genehmigungsvorbehalte gegenüber der Selbstverwaltung, Arch. f. K o m m u n a l w i s senschaften Bd. 1 (1962), S. 203 ff.
520
Otto Bachof
ner Entscheidung über die M i t w i r k u n g zugrunde legen darf oder muß 1 5 : für die Frage nach der Qualifikation der M i t w i r k u n g als Verwaltungsakt und (oder) als Rechtsetzungsakt ist sie ohne Bedeutung. Die vom Gesetz gewählte F o r m ist zu respektieren. Der Gesetzgeber hätte es in der Hand, statt der bloßen M i t w i r k u n g ein Zusammenwirken durch gemeinsamen Erlaß des Aktes vorzusehen und so dem sachlich gewollten Erfordernis der „duae conformes" auch rechtsförmlich Ausdruck zu verleihen 1 6 . Tut er das nicht, gestaltet er vielmehr die staatlichen M i t wirkungsrechte als unselbständige (akzessorische), so müssen die an diese Rechtsform geknüpften Folgen für die Qualifikation der Akte nebst deren weiteren Folgen für das Verfahrensrecht i n Kauf genommen werden. 3. Bettermann 17 folgert aus der Eigenschaft der Satzungsgenehmigung als Rechtsetzungsakt weiter, die Genehmigung könne auch gegenüber der satzungsgebenden Körperschaft kein Verwaltungsakt sein. Der Verwaltungsakt sei Rechtsanwendungsakt; als solcher sei er Gegenbegriff nicht nur zum Rechtssatz, sondern auch zur Rechtsetzung. Wenn auch Rechtsetzung zugleich Rechtsanwendung sein könne, so könnten und müßten doch solche Staatsakte, die neues objektives Recht schaffen, von denjenigen Staatsakten geschieden werden, die bloß vorhandenes Recht anwenden. Die Satzungsgenehmigung als staatliche M i t w i r k u n g an der autonomen Rechtsetzung sei nicht nur und nicht primär Anwendung der Rechtssätze über die Mitwirkung, sondern vor allem selbst ein A k t der Rechtsetzung; sie sei also kein bloßer Rechtsanwendungsakt und könne deshalb kein Verwaltungsakt sein. Z w i schen Rechtsetzung und Verwaltungsakt gebe es nur ein EntwederOder. Die Lehre von der Doppelnatur sei daher abzulehnen. Hier, so meine ich, unterläuft Bettermann bezüglich des Verwaltungsakts eben derjenige Mangel an Unterscheidung, den er für Rechtsetzungsakt und Rechtssatz mit Recht bekämpft. Es muß nämlich unterschieden werden zwischen dem Verwaltungsakt als Vorgang (regelndem A k t , Verfahrensakt, „setzendem A k t " ) einerseits und dem Ver15
Siehe dazu Weber (Anm. 13), S. 30 f. bzw. S. 135 ff. Rechtssätze, die von mehreren Behörden gemeinsam erlassen werden — z. B. aufgrund einer an mehrere Ministerien zum gemeinsamen Handeln erteilten Verordnungsermächtigung — sind nichts Ungewöhnliches. Gemeinsame Rechtsetzung durch Staat u n d autonome Körperschaft wie überhaupt durch zwei verschiedene Rechtsträger ist zwar unüblich, dürfte aber keinen gewichtigeren Bedenken begegnen als ein gemeinsamer Verwaltungsakt verschiedener Rechtsträger. Die Zulässigkeit solcher Verwaltungsakte ist anerkannt; vgl. z. B. § 9 I I 2 des (1.) Finanzverwaltungsgesetzes i. d. F. v o m 30. 8.1971 (BGBl. I S. 1426). 17 S. 728 f. (Anm. 7). 16
Verwaltungsakte m i t Doppelnatur? w a l t u n g s a k t als Produkt
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(Regelungsinhalt, „gesetztem A k t " )
anderer-
seits, das als E r g e b n i s des V e r f a h r e n s h e r a u s k o m m t . D e r V e r w a l t u n g s a k t i s t e i n B e g r i f f u n d e i n I n s t i t u t s o w o h l des m a t e r i e l l e n Rechts als auch des V e r f a h r e n s r e c h t s 1 8 . E r schließt das v o r a n gegangene V e r w a l t u n g s v e r f a h r e n ab u n d ist als dessen l e t z t e r A k t noch selbst e i n v e r f a h r e n s r e c h t l i c h e r
V o r g a n g , w i e das g e r i c h t l i c h e
als A b s c h l u ß des Prozesses noch z u diesem g e h ö r t . D i e
Urteil
Vorschriften
ü b e r das Z u s t a n d e k o m m e n des V e r w a l t u n g s a k t s , ü b e r F o r m , B e g r ü n d u n g , B e k a n n t g a b e u n d W i r k s a m w e r d e n w i r d m a n deshalb als v e r fahrensrechtliche z u bezeichnen haben. Dagegen w i r d sein I n h a l t i n d e r Regel d u r c h das m a t e r i e l l e Recht b e s t i m m t , w i e auch d i e i m A k t get r o f f e n e R e g e l u n g i h r e r s e i t s i n d e r Regel d e m m a t e r i e l l e n Recht z u z u rechnen i s t 1 9 . D i e m a n g e l n d e U n t e r s c h e i d u n g zwischen V o r g a n g
und
I n h a l t , die uns auch i n a n d e r e n Z u s a m m e n h ä n g e n b e g e g n e t 2 0 , ist w o h l m i t auf die f e h l e n d e t e r m i n o l o g i s c h e U n t e r s c h e i d u n g N i e m a n d w ü r d e d e n Gesetzesbeschluß
zeichnen u n d m i t diesem als d e m Beschlossenen druck
„Verwaltungsakt"
wird
aber
zurückzuführen.
des Bundestags als „ G e s e t z " b e verwechseln. Der A u s -
unterschiedslos
als
Bezeichnung
s o w o h l f ü r d e n V e r f a h r e n s a k t als auch f ü r seinen I n h a l t v e r w e n d e t 2 1 .
18
Nach B V e r w G DÖV 1973, 527 gehört der Begriff des Verwaltungsakts dem materiellen, dem Verwaltungsverfahrensrecht u n d dem Prozeßrecht an. 19 D a m i t soll nicht bezweifelt werden, daß es Verwaltungsakte gibt, die auch inhaltlich nur Verfahren regeln, wie es j a auch Prozeßurteile u n d rein verfahrensrechtliche Gerichtsbeschlüsse gibt. I n gewisser Hinsicht könnte man gerade die hier i n Frage stehenden Genehmigungen als inhaltlich „ v e r fahrensrechtliche" A k t e bezeichnen, w e i l sie nur zu einem von einem anderen Organ betriebenen Verfahren ergehen, dem sie Fortgang geben oder verweigern. Trotzdem haben sie aber auch einen materiellrechtlichen Inhalt, da sie j a nicht irgendeinen A k t genehmigen, sondern einen A k t m i t einem sowohl materiellrechtlich bestimmten wie materiellrechtlich bestimmenden Inhalt, den sie sich m i t der Genehmigung billigend zu eigen machen. 20 Sie ist ζ. B. m i t verantwortlich dafür, daß das Bundesverwaltungsgericht i n verschiedenen Entscheidungen geäußert hat, die Rechtmäßigkeit (!) eines Verwaltungsakts werde durch F o r m - u n d Verfahrensfehler, die nicht zur Aufhebung des Aktes führen, nicht beeinträchtigt (s. ζ. B. B V e r w G 29, 282). Eine solche Äußerung ist n u r verständlich, w e n n allein auf den v o m materiellen Recht bestimmten Inhalt des Verwaltungsakts abgestellt u n d die gleichfalls gebotene Rechtmäßigkeit seines Zustandekommens vernachlässigt w i r d . Vgl. Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht i n der Rechtsprechung des BVerwG, Bd. 1, 3. A u f l . 1966, S. 265 Nr. 28. 21 Das g i l t nicht n u r für den Oberbegriff Verwaltungsakt, sondern auch für zahlreiche Benennungen spezieller Verwaltungsakte, wie ζ. B. für die „Erlaubnis", die je nach dem Sinnzusammenhang den A k t des Erlaubens oder die erteilte Befugnis (das Erlaubte) oder auch beides meinen kann. Ä h n liches g i l t für die Allgemeinverbindlich-„Erklärung", s. unten V.
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Otto Bachof
4. Daraus ergibt sich für unser Problem, daß die inhaltiche Qualifikation einer Satzungsgenehmigung als Verwaltungsakt einerseits und ihre verfahrensrechtliche Funktion als Wirksamkeitserfordernis in einem Rechtsetzungsverfahren andererseits auf verschiedenen Ebenen liegen. Sie schließen sich deshalb auch nicht gegenseitig aus. Die Genehmigung (oder ihre Verweigerung) regelt i m Verhältnis zwischen Staat und autonomer Körperschaft einen Einzelfall, indem sie darüber entscheidet, ob dem von der Körperschaft gestellten Antrag entsprochen werden soll oder nicht 2 2 . Daß ein Verwaltungsakt, ohne seine Eigenschaft als solcher einzubüßen, Wirksamkeitsbedingung für Rechtshandlungen ganz anderer A r t sein kann, begegnet uns auch sonst in der Rechtsordnung. So ist z. B. die gesetzlich geforderte behördliche Genehmigung eines privatrechtlichen Vertrages unstreitig ein Verwaltungsakt, ohne daß dem entgegengehalten werden könnte, eine behördliche Handlung könne nicht zugleich Verwaltungsakt und M i t w i r k u n g am Zustandekommen eines privatrechtlichen Vertrages sein. Umgekehrt hören die oben erwähnten Antrags- oder Anhörungsrechte Privater beim Erlaß von Satzungen nicht deshalb auf, Handlungen Privater zu sein, weil sie Wirksamkeitsvoraussetzung für das Zustandekommen von Rechtssätzen sind; mögen die Mitwirkungserklärungen als solche auch dem öffentlichen Recht zuzurechnen sein, so werden die sie abgebenden Personen dadurch weder zu Organen der Verwaltung noch der Rechtsetzung noch überhaupt der öffentlichen Gewalt, und auch die von ihnen abgegebenen Erklärungen sind weder materiell noch formell Verwaltung oder Rechtsetzung. Von einer „Doppelnatur" solcher Verwaltungsakte, die als W i r k samkeitsvoraussetzung von Rechtssätzen unselbständige Rechtsetzungsakte in dem hier verstandenen Sinne sind, sollte man freilich deshalb nicht sprechen, weil damit die Verschiedenheit der beiden Ebenen verschleiert wird. Eine Doppelnatur hätte der A k t nur, wenn er inhaltlich sowohl Verwaltungsakt wie Rechtssatz, also zugleich konkret-individuell und abstrakt-generell wäre; das wäre in der Tat widersprüchlich 2 3 . 22
F ü r die Adressaten (oder, wie man oft liest, „gegenüber" den Adressaten) der Satzung regelt sie überhaupt nichts! F ü r diese enthält erst die Satzung eine Regelung; k o m m t sie wegen der Verweigerung der Genehmigung nicht zustande, so unterbleibt jegliche Regelung für die potentiellen Satzungsadressaten. 23 Hier k a n n nicht näher erörtert werden, ob es Verwaltungsakte m i t Doppelnatur überhaupt nicht gibt, also auch nicht außerhalb der hier untersuchten Erscheinungen. Ich neige freilich zu solcher Verneinung und meine, daß es sich dort, wo solche Doppelnatur sonst noch behauptet w i r d oder wurde (z. B. i n den Nachkriegs jähren hinsichtlich der Festsetzung des Preises für ein
Verwaltungsakte m i t Doppelnatur?
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5. Nur eine Qualifikation der Satzungsgenehmigung und ihrer Verweigerung als Verwaltungsakt führt auch zu einer zwanglosen Lösung der Rechtsschutzprobleme. Bettermann 24 ist freilich gegenteiliger A u f fassung. Nach seiner Ansicht müßte, wenn die Genehmigung ein Verwaltungsakt wäre, jeder durch die genehmigte Satzung beschwerte Normadressat die Genehmigung verwaltungsgerichtlich anfechten können; der Normadressat könnte dann insbesondere nicht auf die A n fechtung von Satzungsanwendungsakten beschränkt werden, denn er könne sehr wohl durch die Satzung selbst unmittelbar i n seinen Rechten betroffen und verletzt sein. Gerade dieses letzte Argument zeigt aber, daß die Genehmigung auch bei einer Wertung als Verwaltungsakt von dem Normadressaten nicht angefochten werden kann. Denn die unmittelbare Beschwer liegt ggf. allein in der genehmigten Satzung, nicht aber i n der Genehmigung. Der Betroffene kann deshalb nur gegen die Satzung selbst vorgehen — sei es i m unmittelbaren Angriff nach § 47 VwGO, sei es i n Ländern ohne ein solches Verfahren Inzident gegen einen Anwendungsakt 2 5 . Andererseits bereitet aber der Rechtsschutz der satzungsgebenden Körperschaft erhebliche Schwierigkeiten, wenn man die Verwaltungsakteigenschaft von Genehmigung und Verweigerung verneint; denn dann bleibt der von einer Verweigerung betroffenen Körperschaft die nach der herrschenden Meinung nur gegen Verwaltungsakte gegebene, jedenfalls aber nicht gegen Rechtsetzungsakte eröffnete Anfechtungsklage ebenso verschlossen wie eine auf Erlaß solcher Akte gerichtete Verpflichtungsklage. Bettermann sieht dies Bedenken, glaubt es aber ausräumen zu können. Er erwägt, die Verpflichtungsklage über Verwaltungsakte hinaus auch auf andere „Amtshandlungen" zu erstrecken und unter solchen Amtshandlungen auch Rechtsetzungsakte m i t zu verstehen. Ob das möglich sei, brauche aber nicht entschieden zu werden, denn jedenfalls sei Rechtsschutz über die Generalklausel des § 40 I 1 VwGO zu erreichen, da ein Streit über die Berechtigung der Verweigerung eine „öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher A r t " sei. A u f die Problematik solcher Lösungsversuche kann bestimmtes Produkt, verbunden m i t der Verbindlichkeit dieses Preises für alle potentiellen Käufer) entweder u m die n u r formale Verbindung zweier verschiedener A k t e handelt oder aber u m einen Verwaltungsakt, der zugleich Tatbestandsmerkmal einer rechtssatzmäßig angeordneten allgemeinen Rechtsfolge ist. 24 S. 729 ff. (Anm. 7). 24 A u f die umstrittene Frage, ob die Beschränkung auf den Inzidentangriff dem umfassenden Rechtsschutzgebot des A r t . 19 I V G G gerecht w i r d , k a n n hier nicht eingegangen werden. Sie ist jedenfalls kein spezielles Problem der genehmigungspflichtigen Satzung, sondern ein allgemeines Problem des Rechtsschutzes gegen (untergesetzliche) Rechtssätze überhaupt.
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hier nicht eingegangen werden. Die verschlungenen Pfade, die zur Behebung der Schwierigkeiten beschritten werden müßten, zeigen zur Genüge, daß auch unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität nichts dafür, wohl aber sehr viel dagegen spricht, der Satzungsgenehmigung und ihrer Verweigerung die Verwaltungsakteigenschaft abzusprechen. IV. A u f den ersten Blick problematischer könnten die oktroyierten Satzungen erscheinen. I n Wirklichkeit vermögen aber gerade sie zur Erhellung des Verhältnisses von Verwaltungsakt und Rechtsetzungsakt beizutragen. Ein Satzungsoktroi kann i n einem Gesetz ausdrücklich vorgesehen sein 26 . Seine Möglichkeit ergibt sich aber auch aus den Rechtsaufsichtsbefugnissen, wie sie allgemein in den Gemeindeordnungen, Landkreisordnungen und i n anderen, auf autonome Körperschaften bezüglichen Gesetzen vorgesehen sind. Sie ergeben sich insbesondere aus der Befugnis zur Ersatzvornahme, die auch dann zulässig ist, wenn die K ö r perschaft eine gesetzlich vorgeschriebene Satzung trotz erfolgter Anordnung nicht erläßt 2 7 . Anders als die Genehmigung einer Satzung ist die oktroyierte Satzung selbst Rechtssatz. Insofern besteht eine gewisse Ähnlichkeit zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, von der Bettermann geäußert hat, daß sie „nicht nur Rechtsetzungsakt, sondern auch Rechtssatz" sei 28 . Diese Äußerung zeigt aber, daß auch hier Verfahrensakt und Inhalt nicht genügend auseinandergehalten werden; w i r werden darauf zurückkommen. Bei der oktroyierten Satzung ist der oktroyierende A k t ein Verwaltungsakt, gerichtet an die 26 Siehe z. B. § 10 I I bad.-württ. Zweckverbandsgesetz v o m 24. 7.1963 (GBl. S. 114). — V o n einer „oktroyierten" Satzung soll n u r gesprochen werden, wenn eine staatliche (Aufsichts-)Behörde anstelle der an sich zuständigen Körperschaft eine Satzung erläßt, nicht dagegen, w e n n die Kompetenz zum Erlaß einer Körperschaftssatzung generell bei der Staatsbehörde liegt, diese also n u r für die Körperschaft tätig w i r d (wie z. B. nach §§ 10, 169 der Ersten Wasser verband VO). 27 Daß die Befugnis zur Ersatzvornahme auch den Erlaß von Satzungen umfaßt, ist heute unbestritten; siehe z. B. Valentin Lohr, Satzungsgewalt und Staatsaufsicht, 1963, S. 81; Otto Gönnenwein, Gemeinderecht, 1963, S. 189. Der ersatzweise Erlaß von Satzungen spielt i n der Praxis besonders bei der sog. Zwangsetatisierung (Erlaß der Haushaltssatzung) eine Rolle, vgl. etwa Kunze - Schmid - Rehm, Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, 3. Aufl. 1970, S. 907. 28 S. 734 (Anm. 7). Bettermann fügt hinzu, sie sei „also unter keinen U m ständen u n d i n keiner Hinsicht ein Verwaltungsakt". Das ist m. E. eine petitio principii. Vgl. dazu i m T e x t unter V.
Verwaltungsakte m i t Doppelnatur?
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Körperschaft, der die Satzung oktroyiert wird. Der A k t ist Verwaltungsakt i m doppelten Sinne: als abschließender A k t des auf den Oktroi gerichteten Verfahrens wie auch als Regelungsinhalt, der der Körperschaft die Duldung der Ersatzvornahme auferlegt. Er ist außerdem (originärer) Rechtsetzungsakt 29 , dessen Inhalt Rechtssatz ist. Verwaltungsverfahrensakt und Rechtsetzungsakt mit ihren — ganz verschiedenen! — Inhalten sind äußerlich i n einem einzigen A k t verbunden. Diese Verbindung w i r d die Regel sein, sie ist aber keineswegs denknotwendig. Wie sehr die beiden Verfahrensakte auseinandergehalten werden müssen, zeigt ihr unterschiedliches Wirksamwerden. Das sei an einem Beispiel aus der Praxis gezeigt: Da die Universität Tübingen sich wegen inneruniversitärer Streitigkeiten außerstande sah, die nach § 66 V des bad.-württ. Hochschulgesetzes vom 19. 3.1968 (GBl. S. 81; = § 89 V i. d. F. der Bekanntmachung vom 27. 7.1973, GBl. S. 246) binnen Jahresfrist zu beschließende „Grundordnung" fristgerecht zu erlassen, wurde diese Satzung i m Wege der Ersatzvornahme vom Kultusministerium erlassen. Der die Grundordnung oktroyierende, als „Verfügung" bezeichnete und m i t einer Begründung versehene A k t wurde an die Universität gerichtet und enthielt die für Verwaltungsakte vorgeschriebenen Rechtsbehelfsbelehrung (Anfechtungsklage). Die Bekanntmachung (Verkündung) der oktroyierten Grundordnung erfolgte, nachdem die Verfügung unanfechtbar geworden war, durch die Universität i n deren amtlichen Mitteilungsblatt. Erst danach konnte die Grundordnung i n Kraft treten. A n diesem Beispiel zeigt sich, daß trotz des äußeren Zusammenfallens beim Satzungsoktroi unterschieden werden muß zwischen den beiden Verfahrensakten („Verwaltungsakt", als Verfahrensbegriff verstanden, und „Rechtsetzungsakt"), zwischen jedem dieser beiden Verfahrensakte und seinem Regelungsinhalt („Verwaltungsakt", jetzt als Begriff des materiellen Rechts verstanden, und „Rechtssatz"), sowie schließlich zwischen den beiden Regelungsinhalten i n ihrem Verhältnis zueinander („Verwaltungsakt" i m zweiten Sinn und „Rechtsatz"). V. Insgesamt mag diese Skizze gezeigt haben, wie wichtig es ist, sich der Mehrdeutigkeit des Begriffs „Verwaltungsakt" als eines Begriffs des materiellen wie des Verfahrensrechts bewußt zu sein. Die gemeinsame Bezeichnung ist geeignet, das zu verdecken. Ähnlich verhält es sich m. E. mit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Sie ist 29
Der O k t r o i ist freilich nicht der einzige Rechtsetzungsakt, da noch die Verkündung hinzutreten muß.
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zwar nicht Gegenstand dieser Untersuchung, aber die Folgerungen für ihre Beurteilung aus der hier vertretenen Sicht liegen nahe. Auch bei ihr verdeckt der Ausdruck die Doppelbedeutung. Die „Erklärung" meint sowohl das Erklären wie das Erklärte. Die Stattgabe des A n trags der Tarifvertragspartei(en) auf Allgemeinverbindlicherklärung ist ebenso wie seine Ablehnung verfahrensrechtlich und inhaltlich ein Verwaltungsakt. Die Erklärung selbst ist verfahrensrechtlich Rechtsetzungsakt, inhaltlich Rechtssatz. W i r d sie abgegeben, so liegt darin zugleich der konkludent erklärte Verwaltungsakt der Stattgabe des Antrags beschlossen. Trotz äußerer Verbindung handelt es sich um zwei verschiedene Akte.
öffentlichrechtlicher Vertrag im Strafverfahren ? Von Richard Naumann
Werner Weber hat sich i n erster Linie m i t dem Verfassungs- und Verwaltungsrecht befaßt. Er ist als Gelehrter einer der großen Staatsrechtslehrer. Weniger bekannt dürfte sein, daß er als Richter i m Niedersächsischen Staatsgerichtshof seit dessen Bestehen i n vielen Prozessen außerordentlich wertvolle Mitarbeit geleistet hat. Wenn ich als ehemaliges richterliches Mitglied des Staatsgerichtshofes das folgende prozeßrechtliche und richterrechtliche Thema behandele, so bitte ich den Jubilar, das besonders i n Erinnerung an die richterliche Arbeit i m Niedersächsischen Staatsgerichtshof entgegenzunehmen. I m Laufe der letzten Jahre hat sich i n einigen Ländern der Bundesrepublik Deutschland die Praxis eingebürgert, Strafverfahren wegen Geringfügigkeit der Schuld bei Zahlung einer Buße einzustellen. Der Einstellungsbeschluß kann nicht angefochten werden. Die Einstellung beruht auf § 153 StPO. Er lautet: „Übertretungen werden nicht verfolgt, w e n n die Schuld des Täters gering ist, es sei denn, daß ein öffentliches Interesse an der Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung besteht. Ist bei einem Vergehen die Schuld des Täters gering u n d besteht kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung, so k a n n die Staatsanwaltschaft m i t Zustimmung des zur Entscheidung über die Eröffnung des H a u p t verfahrens zuständigen Gerichts das Verfahren einstellen. Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht m i t Zustimmung der Staatsanwaltschaft nach A n h ö r u n g des Angeschuldigten das Verfahren i n jeder Lage einstellen; der Beschluß k a n n nicht angefochten werden."
Für eine Einstellung bei Vergehen stellt das Gesetz hier nicht auf die Tatfolgen ab, wenn man einmal davon absieht, daß verschuldete Tatfolgen bei Beurteilung der Frage eines geringen Verschuldens zu berücksichtigen sind. Umgekehrt w i r d die Auffassung vertreten, daß nachträgliches Verhalten des Täters die Schuld geringer erscheinen lassen kann 1 . Die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeld1
Vgl. Kleinknecht, StPO, 30. Aufl., S. 1495; Richtlinien für das Strafverfahren u n d das Bußgeldverfahren (RiStBV) v o m 1.12.1970, i n den Ländern
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Richard Naumann
verfahren vom 1.12.1970 warnen aber davor, eine Einstellung davon „abhängig" zu machen, „daß der Beschuldigte die der Staatskasse erwachsenen Auslagen des Verfahrens übernimmt oder sich verpflichtet, eine Geldbuße an die Staatskasse oder eine andere Stelle zu zahlen oder aber auf die Erstattung der notwendigen Auslagen verzichtet" 2 . Trotz dieser für den Richter zweifelhaften Rechtsgrundlage werden Strafverfahren bei Vergehen nach Zustimmung der Staatsanwaltschaft auch durch den Richter eingestellt, wenn sich der Täter zur Zahlung einer Buße für eine gemeinnützige Einrichtung verpflichtet und diese Buße zahlt. Die rechtliche Konstruktion der richterlichen Maßnahme (Einstellung durch den Richter mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft oder richterliche Zustimmung zur Einstellung durch die Staatsanwaltschaft) ist nicht ohne weiteres ersichtlich. I n aller Regel w i r d die Einstellung nicht auflösend bedingt durch die Zahlung des versprochenen Bußgeldes verfügt oder beschlossen, so daß die Einstellung bei Nichtzahlung der Buße automatisch hinfällig würde; die prozeßbeendende Maßnahme könnte wohl auch nicht auflösend bedingt gestaltet werden. Die Einstellung w i r d aber auch nicht aufschiebend bedingt durch die Zahlung des versprochenen Bußgeldes verfügt oder beschlossen, so daß die Einstellung bei Zahlung der Buße nicht von selbst wirksam wird; das Strafverfahren w i r d vielmehr erst dann eingestellt, wenn die Zahlung der Buße nachgewiesen ist. Die Einstellung w i r d davon „abhängig" gemacht, daß das versprochene Bußgeld gezahlt wird. Wie unterschiedlich die rechtlichen Gestaltungen sein können, zeigen auch die gesetzlichen Regelungen i n anderen Bestimmungen: § 20 Abs. 2 OWiG sieht z.B. eine Einziehung „unter Vorbehalt" der Befolgung bestimmter Anweisungen vor; werden die Anweisungen befolgt, w i r d der Vorbehalt aufgehoben, andernfalls w i r d die Einziehung nachträglich angeordnet. Nach § 24 a StGB kann das Gericht bei Strafaussetzung zur Bewährung dem Verurteilten Auflagen erteilen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Das Gericht kann dem Verurteilten u. a. auch auferlegen, „einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse zu zahlen". Der Ausdruck „Geldbuße" ist hier vermieden, immerhin zeigt die Fassung der Vorschrift eindeutig, daß es sich u m eine Auflage handeln soll, nicht u m eine Bedingung. Das Gleiche gilt bei Aussetzung des Strafrestes eingeführt durch Verfügungen der Landesorgane. Sie sind für die Staatsanwälte verbindliche Verwaltungsanweisungen, für Richter sind sie nicht bindend. Nr. 83 Abs. 3, S. 3 der Richtlinien schreibt vor: „ E i n Verhalten des Beschuldigten nach der Tat, das sie nachträglich als geringfügig erscheinen läßt, ζ. B. die Wiedergutmachung des Schadens, darf berücksichtigt werden". 2 R i S t B V Nr. 82 Abs. 4.
Öffentlichrechtlicher Vertrag i m Strafverfahren?
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nach § 26 Abs. 3 StGB. Dem Erwachsenenstrafrecht entsprechend gibt es bei der Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung gesetzliche Möglichkeiten auch i m Jugendstrafrecht (§§ 21, 23 Abs. 1 m i t §§ 15, 26 Abs. 1 Nr. 2 JGG). Die Fälle sind aber i m übrigen anders gestaltet, als es bei der Bußzahlung i m Zusammenhang mit einer Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO anzunehmen ist. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs erfordert zwar auch i n den gesetzlich geregelten Fällen einer „Auflage" Anhörung des Verurteilten vor Erlaß der Auflage. Aber man hat zu bedenken, daß es sich hier u m einen rechtskräftig Verurteilten handelt, während bei einer Einstellung des Strafverfahrens nach § 153 StPO die Frage der Verurteilung noch offen ist. U m eine Auflage, die selbständig vollstreckt werden könnte, handelt es sich aber auch i n den gesetzlich geregelten Fällen einer Auflage nicht. Die Sanktion findet sich i n gewissem Umfang i m Widerruf der Strafaussetzung (vgl. § 25 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Die rechtliche Unklarheit w i r d verstärkt, wenn sich der Verurteilte selbst zur Zahlung einer „Buße" an eine gemeinnützige Stelle verpflichtet. I n solchem Falle sieht der Richter von einer Auflage ab (§ 24 a Abs. 3 StGB). Wenn dieses Erbieten unerfüllt bleibt, bietet sich allein der Widerruf der Strafaussetzung an. Beim Verurteilten, aber auch i n der Bevölkerung, w i r d solche Buße als „Strafe" empfunden. Dieser Eindruck w i r d dadurch erhöht, daß das Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24. 5.1968 die Geldbuße in Gestalt des Bußgeldes als Geldstrafe kennt, die für eine begangene Ordnungswidrigkeit, für begangenes nicht-kriminelles Unrecht, verhängt wird. Diese Geldbuße w i r d von einer Verwaltungsbehörde i n einem Bußgeldbescheid oder vom Gericht i n einer Bußgeldentscheidung auferlegt. Diese Bußgelder fließen grundsätzlich i n die Bundeskasse oder die Landeskasse (§ 90 Abs. 2 OWiG) und werden nach §§ 90 ff. OWiG vollstreckt. Die Bußzahlung, zu deren Leistung sich der Straftäter verpflichtet, kann dagegen nicht selbständig vollstreckt werden. Wie vollständig die Verwirrung hinsichtlich der Begriffe Geldstrafe — Geldbuße — Bußgeld ist, w i r d deutlich, wenn man i m Zusammenhang m i t einer Einstellung des Strafverfahrens nach § 153 StPO davon spricht, daß die „Einstellung gegen Zahlung einer Buße an eine gemeinnützige Einrichtung" verfügt oder beschlossen wird, und davon, daß diese Bußzahlung „auferlegt" wird. Zur Auferlegung dieses als Strafe empfundenen Übels würde es gesetzlicher Grundlage bedürfen; diese fehlt aber. Die Justizminister und - S e n a t o r e n der Länder haben auf ihrer 42. Konferenz i n Saarbrücken am 29./30.10.1973 den Begriff „Bußgeld" oder „Geldbuße" zwar nicht mehr verwendet, soweit es u m die Bußzahlungen i m Zusammenhang mit § 153 StPO geht. Sie verwenden den Ausdruck „Geldauflagen" i m Strafverfahren, sprechen aber eben von „Auflagen". Sie befassen sich schließlich i n der Haupt34 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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sache m i t der Verteilung des Aufkommens solcher „Geldauflagen", wie ihre Zustimmung zu einem vom Unterausschuß erarbeiteten Rahmenmodell zeigt 3 . Daß der anwaltlich nicht beratene einfache Mann aus dem Volke den Unterschied zwischen Geldstrafe — Geldbuße — Bußgeld — auferlegter Bußzahlung — übernommener Bußzahlung kaum versteht, ist einzusehen. Abgesehen davon ist es aber strafrechtspolitisch überhaupt bedenklich, das materiellrechtliche Problem der Kriminaldelikte gewissermaßen ins Prozeßrecht abzuschieben4. Der ganze Komplex der Bußzahlungen ist bekanntlich durch die „Bußgeld-Affäre" i n Hamburg aufgerührt worden. Die rechtsstaatlich wesentliche Grundfrage, ob und wie die richterliche Befugnis zur „Einstellung gegen Buße" gesetzlich gesichert oder ausgeschlossen werden könnte, hat man aber — wohl nicht zuletzt wegen einer zu großen Scheu vor der richterlichen Unabhängigkeit — bisher nicht entscheidend gelöst; § 153 StPO ist bis heute unverändert geblieben. Lediglich die Zuweisung der geleisteten Bußzahlungen ist durch die Aufstellung einer Liste der gemeinnützigen Einrichtungen und die Bildung eines besonderen Verteilungsfonds sowie die Entscheidungsbefugnis eines Verteilungsgremiums verbessert worden. Nach Auffassung des Justizsenators der Freien und Hansestadt Hamburg haben sich diese Einrichtungen i n Hamburg bewährt 5 . Immerhin ist zu bedenken, daß dort bisher nur etwa ein D r i t t e l der anläßlich einer Einstellung nach § 153 StPO gezahlten Bußen an den Verteilungsfonds gelangt ist, während nach wie vor etwa zwei Drittel der Bußzahlungen unmittelbar oder über die Gerichtskasse an gemeinnützige Einrichtungen geflossen sind, weil das die Richter so bestimmen oder empfehlen. Solche Bestimmung oder Empfehlung ist den Richtern weiterhin offen geblieben und gestattet, und die Richter machen davon auch Gebrauch. Unter diesen Umständen muß naturgemäß gefragt werden, wie Mißbräuchen möglichst begegnet werden kann, dergestalt, daß der Richter etwa dem Straftäter solche gemeinnützige Einrichtung als Bußzahlungsempfänger nennt, i n welcher der Richter selbst leitender Funktionär ist oder von der er Vorteile (etwa Vortragshonorare) erhält. Zunächst aber ist festzuhalten, daß ohne gesetzliche Grundlage eine Bußzahlung für oder an eine gemeinnützige Einrichtung nach § 153 StPO vom Richter nicht als Auflage auferlegt werden kann. Die 3
Vgl. den Bericht über die Justizministerkonferenz i n DRiZ 1973, S. 431. Vgl. dazu die parlamentarische Anfrage i m Bundestag v o m 26.1.1972, Protokoll der 6. Wahlperiode, S. 9530. 5 Wochendienst der Staatlichen Pressestelle Hamburg Nr. 35, S. 15-17. 4
öffentlichrechtlicher Vertrag i m Strafverfahren?
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Abgrenzung einer Auflage von einer bloßen Empfehlung ist aber deshalb praktisch so schwierig, weil auch eine Empfehlung immer i n Verbindung mit der i n Aussicht gestellten Einstellung des Verfahrens „wegen Geringfügigkeit" gegeben wird. Die Einstellung w i r d eben praktisch von der Erfüllung der empfohlenen Buße abhängig gemacht. Das Bedenkliche daran ist, daß gewissermaßen eine „graue Zone" des Straf rechts entstehen kann; i n der Bevölkerung kann der Eindruck entstehen, daß es neben der Geldstrafe und echtem Bußgeld nach OWiG einen dritten Fall von auferlegtem Übel gebe, und zwar i n Gestalt der Bußzahlung i m Zusammenhang mit der Einstellung eines Strafverfahrens nach § 153 StPO. Wie von den Betroffenen Bußzahlungen i m Zusammenhang mit der Einstellung eines Verfahrens nach § 153 StPO und auferlegte Bußgelder wegen einer begangenen Ordnungswidrigkeit verwechselt werden, zeigen die Untersuchungen des Untersuchungsausschusses der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 6 . Es sei i m Untersuchungsausschuß der Verdacht aufgekommen, daß bei der Staatsanwaltschaft Verfahren mangels Beweises oder mangels Tatverdachts „gegen eine Geldbuße" eingestellt worden seien. Dieser Verdacht habe sich nicht bestätigt; er könne auf einem MißVerständnis beruhen: I n manchen Tatbeständen des Wirtschaftsstrafrechts mache der Vorsatz diese zu Straftaten, das fahrlässige Verschulden dagegen qualifiziere die Tat zur Ordnungswidrigkeit. Stelle sich nun i m Lauf eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens heraus, daß eine zunächst vermutete Straftat nicht gegeben sei, weil es am Vorsatz oder dessen Beweisbarkeit fehlt, so müsse das Strafverfahren eingestellt werden. Diese Einstellung werde dem Beschuldigten mitgeteilt, wenn er i n dem Verfahren verantwortlich gehört gewesen sei. Bestehe aber der Verdacht, daß eine Ordnungswidrigkeit wegen eines fahrlässigen Handelns vorliege, so gebe die Staatsanwaltschaft das Verfahren zur weiteren Verfolgung an die Verwaltungsbehörde ab, die die Ordnungswidrigkeit zu ahnden habe. Bestätige sich dort der Verdacht, so bekomme der Täter einen Bußgeldbescheid nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz. Vermutlich sei von manchem Täter „der Begriff Bußgeld und Geldbuße verwechselt worden, so daß es zu dem Mißverständnis kommen konnte, Verfahren, die eingestellt worden seien mangels Tatverdachts oder mangels Beweises, würden noch mit einer Geldbuße geahndet" 7 . β
Drucksache VII/2144 der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt H a m burg v o m 15. 6.1972, Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Uberprüfung des Verfahrens bei der Erhebung u n d Verteilung von Geldbußen, S. 5. 7 Untersuchungsbericht, S. 5. 34*
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Die Verwirrung hinsichtlich Geldstrafe nach StGB, Geldbuße nach OWiG und Bußzahlung bei Einstellung eines Verfahrens nach § 153 StPO w i r d noch dadurch gesteigert, daß nach dem Bericht des Untersuchungsausschusses8 die Hamburgische Landesjustiz ver waltung schon i m November 1956 angeordnet hatte, „daß Geldbußen bei der Gerichtskasse einzuzahlen seien und von dort den Begünstigten ausgezahlt werden sollten". Diese Regelung sei i n erster Linie erfolgt, um eine bessere Übersicht über die Zahlungseingänge zu haben, und i n zweiter Linie, um zu vermeiden, „daß der Zahlende für die Geldbuße auch noch eine Spendenquittung erhalte, m i t der er dann zu einem ungerechtfertigten Steuervorteil kommen könnte". Diese Weisung ist für Richter unverbindlich. Sie geht offenbar davon aus, daß es sich bei der Bußzahlung i m Zusammenhang mit der Einstellung eines Verfahrens nach §153 StPO u m ein auferlegtes Übel handelt, denn es ist nicht recht einzusehen, wieso ein „ungerechtfertigter Steuervorteil" erreicht werden könnte, solange es sich bei der Bußzahlung i m Zusammenhang m i t der Einstellung nach § 153 StPO um eine freiwillige Zuwendung an eine gemeinnützige Einrichtung handelt. Der Bundesfinanzhof hat zwar zutreffend die Absetzung einer nach OWiG auferlegten Geldbuße als Werbungskosten auch für den F a l l abgelehnt, daß die begangene Ordnungswidrigkeit eine Beziehung zum Betrieb aufweise 9 . Steuerrechtlich kommt es i n der Tat nicht darauf an, ob für ein kriminelles Unrecht eine Geldstrafe verhängt oder für ein nicht-kriminelles Unrecht nach OWiG eine Geldbuße auferlegt ist. Die Bußzahlung nach § 153 StPO könnte aber steuerlich m i t der Geldstrafe und der Geldbuße nur dann gleichgesetzt werden, wenn eine gesetzliche Grundlage für eine Auferlegung der Bußzahlung i m Zusammenhang mit der Einstellung nach §153 StPO vorhanden wäre. Allerdings bliebe wohl auch dann, wenn eine gesetzliche Grundlage für die Auferlegung der Bußzahlung vorhanden wäre, die Möglichkeit bestehen, daß es sich bei der Bußzahlung um eine freiwillige Leistung handelt, denn es ist anzunehmen, daß man sich an die jetzt schon bestehenden gesetzlichen Vorschriften anschlösse, nach denen zwar der Richter als Auflage die Zahlung eines Betrages an eine gemeinnützige Einrichtung verhängen kann, von dieser Auflage aber absieht, wenn sich der Betroffene selbst zu solcher Leistung erbietet (§ 24 a Abs. 3 StGB, § 23 Abs. 2 JGG). Die vom Untersuchungsausschuß der Hamburgischen Bürgerschaft gehörten Praktiker haben sich als Sachverständige für die Einstellung bei Zahlung einer Buße ausgesprochen, weil es i n der Praxis erforderlich sei, „wenn noch letzte Zweifel an der Geringfügigkeit der Schuld 8 Untersuchungsbericht, S. 5. • B F H v. 18. 5. 1972, BStBl. 1972, S. 623.
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des Straftäters bestehen, daß dieser die Möglichkeit haben müßte, durch die Zahlung einer freiwilligen Geldbuße darzutun, daß er die Tat bereut, damit es dann zu einer Einstellung gemäß § 153 StPO kommen könnte" 1 0 . Man muß nur fragen, was es m i t der Geringfügigkeit der Schuld bei Begehung der Straftat zu tun hat, wenn der Täter später zeigt, daß er die Tat bereut. Durch spätere Reue kann die Schuld i m allgemeinen nicht geringfügiger werden. Es könnte höchstens bezweifelt werden, ob ein öffentliches Interesse an der Verfolgung der Tat dann noch besteht, wenn der Täter eine Bußzahlung an eine gemeinnützige Einrichtung leistet. Insoweit zutreffend lautete der von der Freien und Hansestadt Hamburg und dem Land Nordrhein-Westfalen i m Mai 1972 i m Bundesrat eingebrachte, später wieder zurückgezogene Antrag, einen § 153 a mit dem Wortlaut in die StPO einzufügen: „ M i t Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts u n d des Beschuldigten k a n n die Staatsanwaltschaft bei Vergehen vorläufig von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen u n d zugleich dem Beschuldigten auferlegen . . . einen Geldbetrag für einen gemeinnützigen Zweck zu zahlen . . . wenn diese Auflagen und Weisungen geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen (Hervorhebung nicht i m Original)."
Bei der derzeit noch bestehenden Fassung des § 153 StPO ist die Frage, wie die Einstellung bei Zahlung einer Buße an oder für eine gemeinnützige Einrichtung rechtlich zu qualifizieren ist. Weil die Einstellung weder auflösend noch aufschiebend bedingt geschieht, noch eine gesetzliche Grundlage für eine Auflage vorhanden ist, bleibt nur die Qualifikation als eines öffentlichrechtlichen Vertrages. Die Strafverfolgungsstelle schließt m i t dem Straftäter eine Vereinbarung, wonach das öffentliche Interesse an der weiteren Strafverfolgung verneint wird, wenn der Straftäter eine Buße an oder für eine gemeinnützige Einrichtung zahlt. Erfüllt der Straftäter diese übernommene Verpflichtung nicht, dann kann der Staatsanwalt oder der Richter von der Vereinbarung zurücktreten und das Verfahren fortsetzen. Es t r i t t aber sogleich die Frage auf, ob das öffentliche Interesse an der Verfolgung i m Strafrecht zum Gegenstand einer vertraglichen Abmachung gemacht werden kann. Die Frage ist entschieden zu verneinen. Zwar ist der öffentlichrechtliche Vertrag i m Verwaltungsrecht i m Vordringen. Der Entwurf eines VerwaltungsVerfahrensgesetzes 11 hat in den §§ 50 ff. Regelungen über die Zulässigkeit öffentlichrechtlicher Verträge vorgesehen 12 . Er ist sich allerdings i m klaren, daß es der weiteren Ent-
10 11 12
Untersuchungsbericht, ebd. Jetzt Drucksache des Bundestages 7/910 v. 18. 7. 73. Vgl. auch die Begründung, S. 76, 77 der Drucksache 7/910.
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wicklung überlassen bleiben müsse, „ob und inwieweit i n den Bereichen, die vertraglicher Regelung überhaupt zugänglich sind, der öffentlichrechtliche Vertrag den Verwaltungsakt zurückdrängen w i r d " 1 3 . Nun hat sicher der Entwurf des Verwaltungsverfahrensgesetzes den verwaltungsrechtlichen Vertrag als öffentlichrechtlichen Vertrag i m Auge, und nicht einen Vertrag zwischen Strafverfolgungsstelle und Straftäter über die Einstellung eines Strafverfahrens nach § 153 StPO. Aber u m einen öffentlichrechtlichen Vertrag handelt es sich auch hier, denn beim Strafrecht und Strafverfolgungsrecht handelt es sich um Bereiche des öffentlichen Rechts. Es geht hier aber u m Bereiche, die vertraglicher Abmachung absolut nicht zugänglich sind. Man mag über die Grenzen der Zulässigkeit öffentlichrechtlicher Verträge i m Gebiet des Verwaltungsrechts verschiedener Meinung sein, sicher erscheint es aber, daß das Gebiet des Strafrechts vertraglichen Vereinbarungen zwischen Staat und Straftäter unbedingt verschlossen ist. Werden i m Zusammenhang mit der Einstellung nach § 153 StPO dennoch Vereinbarungen geschlossen, daß das öffentliche Interesse an der weiteren Strafverfolgung — bei feststehender geringer Schuld — verneint wird, wenn der Straftäter eine Bußzahlung an oder für eine gemeinnützige Einrichtung leistet, dann sind solche Vereinbarungen nichtig. Die Nichtigkeit w i r d allerdings aus begreiflichen Gründen kaum jemals geltend gemacht werden, aber es droht die Gefahr einer Kommerzialisierung des Strafrechts insgesamt. Der vom Untersuchungsausschuß der Hamburger Bürgerschaft als Sachverständiger gehörte Strafrechtler Eberhard Schmidhäuser hat m i t Recht ausgeführt 14 : „Eine Einstellung von einer Geldbuße abhängig zu machen, birgt die Gefahr i n sich, daß ein Begüterter, meistens anwaltlich beraten, eher i n der Lage ist, die Zahlung einer Geldbuße anzubieten, als ein ärmerer Bürger, der in der Regel keinen Rechtsbeistand hat". Dazu komme noch folgendes: „Die Verhandlung über die Zahlung einer freiwilligen Geldbuße findet zu einem Zeitpunkt statt, in dem für den Beschuldigten die Unsicherheit über den Ausgang des Strafverfahrens groß ist. So w i r d er, zumal wenn er m i t dem Gericht noch keine Erfahrung gemacht hat, häufig bereit sein, eine Geldbuße zu zahlen, selbst wenn er persönlich davon überzeugt ist, daß das Verfahren mit einem Freispruch enden müßte" 1 5 . Wie die Praxis zeigt, w i r d die vertraglich vereinbarte Bußzahlung wie eine Geldstrafe (oder mindestens Geldbuße nach Ordnungswidrig13
Begründung zur Drucksache 7/910, S. 77. Drucksache VII/2144, S. 3. Beachte jetzt auch Schmidhäuser, S. 529 ff. 15 Ebd., S. 3. 14
JZ 1973,
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keitenrecht) behandelt. Sie w i r d vom Gericht oder der Staatsanwaltschaft als Übelzufügung milderer A r t — nämlich ohne Eintragung ins Strafregister — aufgefaßt. Das w i r d auch daran deutlich, daß man der Auffassung ist, i m Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts fielen keine freiwillig übernommenen Bußzahlungen an, obwohl § 47 Abs. 2 OWiG die Einstellung vorsieht 1 6 : „Da die Hauptsanktion des Verfahrens ein Bußgeld ist, das an die Staatskasse fließt, ist es widersinnig, daß bei Einstellung wegen Geringfügigkeit eine freiwillige Geldbuße an eine gemeinnützige Einrichtung fließen soll. Die Belastung wäre nämlich für den Betroffenen die gleiche, und der Makel, vorbestraft zu sein, der i m Strafverfahren durch eine Einstellung vermieden wird, entfällt i m Ordnungswidrigkeitsverfahren ohnehin" 1 7 . Um Mißbräuche bei der Zuweisung von Bußzahlungen auszuschließen, ist von den Justizverwaltungen der Länder ein Fonds-Verfahren zur Zuweisung und Verteilung der dem Fonds zugeflossenen Bußgeldbeträge eingerichtet worden 1 8 . Die gezahlten Bußgelder sollen nicht mehr unmittelbar den gemeinnützigen Organisationen zufließen, sondern in dem Fonds gesammelt und durch ein außerhalb der Gerichte und Staatsanwaltschaften stehendes Gremium den Organisationen zugeteilt werden. A n die Zwecke der Buße, wie sie bei der Zahlung bestimmt werden, soll das Verteilungsgremium aber gebunden sein, und unmittelbare Zuweisung an bestimmte gemeinnützige Einrichtungen ist nicht ausgeschlossen, vor allem, weil man wohl meint, die Unabhängigkeit der Richter beim Abschluß der Vereinbarungen mit dem Straftäter hier nicht antasten zu dürfen. Gerade die Zahlung an einen gewissermaßen anonymen Fonds kann den Charakter der Bußzahlung als eines als Strafe empfundenen Übels verstärken 1 9 . Mißbräuche der oben angedeuteten A r t könnten sich kaum ergeben, wenn die Vorschriften der Strafprozeßordnung über die Befangenheit des Richters schärfer beachtet würden (§§ 24 ff. StPO). Auch der Katalog der potentiellen Bußzahlungsempfänger kann in einigem Umfang durch die steuerrechtlichen Gemeinnützigkeitsbestimmungen und dadurch begrenzt werden, daß sich die Bußzahlungsempfänger hinsichtlich der Verwendung der Bußzahlungen einer Kontrolle des Rechnungshofs der Länder unterwerfen. Es kann auch über das Nebentätigkeitsrecht und das Richterrecht eine gewisse Überwachung der 16
„ I s t das Verfahren bei Gericht anhängig u n d hält dieses eine Ahndung nicht für geboten, so k a n n es das Verfahren m i t Zustimmung der Staatsanwaltschaft einstellen. Der Beschluß ist unanfechtbar". 17 Drucksache VII/2144, S. 4. 18 Vgl. den Bericht i n DRiZ 1973, S. 431. 19 So der Bericht der Minderheit des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, Drucksache der Bürgerschaft VII/2176, S. 3 unter I I a.
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Nebeneinkünfte der Richter und Staatsanwälte aus solchen gemeinnützigen Organisationen erreicht werden, denen nach Empfehlung der Richter oder Staatsanwälte Bußen gezahlt werden. Das alles sind aber nur Behelfe, solange man vertragliche Abmachungen zwischen Richter oder Staatsanwalt m i t dem Straftäter für zulässig hält. Die Bußzahlungen i m Zusammenhang m i t Einstellungen nach § 153 StPO haben sich abgesehen vom Entlastungseffekt für die Justiz deshalb mit eingebürgert, weil es eine große Zahl von gemeinnützigen Vereinen, Verbänden, Organisationen und Stellen gibt, die soziale Hilfe leisten, für die der Staat i m Haushaltplan keine oder bei weitem nicht ausreichende M i t t e l bereitstellt. Trotz des verfassungskräftigen Bekenntnisses zum Sozialstaat überläßt der Staat viele soziale Aufgaben gemeinnützigen außerstaatlichen Stellen. Die eigenen Geldmittel der gemeinnützigen Organisationen reichen zur Erfüllung der selbstgewählten Aufgaben bei weitem nicht aus; die Organisationen sind auf freiwillige Spenden angewiesen. Dafür bieten sich auch vom Richter oder Staatsanwalt anläßlich der Einstellung von Strafverfahren nach §153 StPO gewissermaßen gelenkte Spenden von Straftätern an. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Koppelung von Einstellung m i t einer Spende, wobei diese Spende auch noch als Buße bezeichnet wird, gesetzwidrig ist. Auch die Verwendung der Rechtsfigur des öffentlichrechtlichen Vertrages h i l f t hier nicht, denn ein solcher Vertrag ist nichtig. Es wäre an der Zeit, solche Vereinbarungen gesetzlich auszuschließen, damit auch für Richter verbindlich wird, was die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren i n Nr. 82 Abs. 4 aussprechen: „Die Einstellung darf nicht davon abhängig gemacht werden, daß der Beschuldigte sich verpflichtet, eine Geldbuße an die Staatskasse oder eine andere Stelle zu zahlen". Nicht geradezu entscheidend, aber doch wesentlich ist es, daß der Straftäter in gewisser Weise unter Druck steht, auch weil von ihm die Inaussichtstellung der Einstellung als Zusicherung aufgefaßt werden kann. Man kann i m übrigen das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bei Straftaten m i t geringer Schuld nicht i m Austausch m i t einer Spende des Straftäters für eine gemeinnützige Stelle verneinen. Die Gefahr unsozialer Ungleichbehandlung von vermögenden und weniger vermögenden Straftätern ist nicht von der Hand zu weisen. Wenn man sogar nach Wegen sucht, das oft hohe Kostenrisiko i m Zivilprozeß über das Armenrecht hinaus zu vermindern, muß sich in erster Linie das Strafrecht und Strafprozeßrecht, sicher mehr noch als das Steuerrecht, davon freihalten, sozial nicht gerechtfertigten Ungleichheiten den Weg zu öffnen. Wenn die Spenden als Bußzahlungen für Einstellung des Strafverfahrens nach § 153 StPO wegfallen, muß ein Weg gesucht werden, um
ffentlichrechtlicher Vertrag i m Strafverfahren?
537
berechtigte gemeinnützige Einrichtungen in Verbänden, Organisationen oder Vereinen haushaltmäßig besser zu bedenken, als das bisher der Fall ist. Wenn der Staat mit Recht viele soziale Aufgaben freien Verbänden, Vereinen und Organisationen überläßt, dann muß er i m Haushaltplan auch M i t t e l für diese Verbände und Vereine in ausreichendem Maße bereitstellen. Wenn das künftige Gesetz etwa das Verfahren zur Verfolgung von Vergehen bei geringer Schuld und fehlendem öffentlichen Interesse an der weiteren Verfolgung einstellen und m i t einer Buße belegen lassen würde, wie wenn es sich um eine Ordnungswidrigkeit handelte, dann wäre zu überlegen, ob die Straftat nicht offen entkriminalisiert werden kann 2 0 . A u f jeden Fall müßte haushaltrechtlich dafür gesorgt werden, daß die so auferlegten Geldbußen nicht i n den allgemeinen Topf der Staatseinnahmen fließen, sondern zweckgebunden zur Verteilung an gemeinnützige Organisationen zur Verfügung stehen. Sicher w i r d dabei der Kreis der potentiellen Bußgeldempfänger enger einzugrenzen sein, als es jetzt der Fall ist. M i t einem öffentlichrechtlichen Vertrag ist jedenfalls das bisher geübte Verfahren bei Einstellungen nach § 153 StPO nicht zu rechtfertigen.
20 Z u der rechtspolitischen Frage der etwaigen Entkriminalisierung von Straftaten soll hier nicht Stellung genommen werden. A u f die Gefahren des Opportunitätsprinzips, wie es i n § 153 StPO zum Ausdruck kommt, hat Baumann, ZRP 1972, S. 273 ff. m i t Recht eindringlich hingewiesen.
Masseneinwendungen im Verwaltungsverfahren Von Willi Blümel
I. I n s e i n e m w e i t a u s g r e i f e n d e n Referat ü b e r „ P l a n e n d e V e r w a l t u n g als A u f g a b e der G e g e n w a r t "
(1971) n a h m d e r J u b i l a r , d e m diese F e s t -
s c h r i f t g e w i d m e t ist, auch z u r P a r t i z i p a t i o n a n d e n Planungsprozessen b z w . z u i h r e r „ D e m o k r a t i s i e r u n g " S t e l l u n g 1 . A m Schluß seiner E r ö r t e r u n g e n f ü h r t e Werner
Weber
aus:
„ N u n soll i n diesem Zusammenhang keineswegs einer allgemeinen Demokratisierungsideologie das W o r t geredet und die Verläßlichkeit des Könnens und des gemeinwohlbezogenen Verantwortungsbewußtseins der Planungsstäbe geschmälert werden. Aber w e n n man es für richtig hält, daß die planende Verwaltung sich ihrer Durchschlagskraft wegen verständlich und vertrauenswürdig hält, u n d w e n n man i n der bejahenden Teilhabe der Betroffenen an den existenzbestimmenden Planungsvorgängen ein wesentliches Element eines freiheitlichen Staatswesens erkennt, dann w i r d man das Problem der Partizipation an den Planungsprozessen als eine sehr reale u n d aktuelle Aufgabe der freiheitlichen Demokratie einschätzen 2 ." Es s o l l h i e r n i c h t e r n e u t d e r V e r s u c h u n t e r n o m m e n w e r d e n , dieser — w e n n auch b e h u t s a m e n , so doch i m ganzen p o s i t i v e n — B e u r t e i l u n g der gegenwärtigen Partizipationsdiskussion einige kritische Einwände entgegenzusetzen. Das i s t bereits an a n d e r e r S t e l l e geschehen 3 . D o r t w u r d e 1 W. Weber, i n : Aufgaben und Möglichkeiten der Raumplanung i n unserer Zeit, Referate und Diskussionsbericht anläßlich der Wissenschaftlichen Plenarsitzung 1971 i n Stuttgart, Veröff. d. Akademie für Raumforschung u n d Landesplanung, Bd. 78, 1972, S. 9 ff. (20 f.). 2 W. Weber, S. 21 (Anm. 14) verweist an dieser Stelle u. a. auf die Studien von Schäfers, öffentlichkeits- u n d Interessenstrukturen i n Planungsprozessen (1970), u n d Dienel, Partizipation an Planungsprozessen, Verw. 71, 151 ff. 3 Vgl. Blümel, „Demokratisierung der Planung" oder rechtsstaatliche Planung?, i n : Festschrift für Ernst Forsthoff, 1972, S. 9 ff. (15 ff., 23 ff.; zit.: Blümel, „Demokratisierung"); derselbe, Raumplanung und Vermessungswesen, Zeitschrift für Ingenieure u n d Techniker i m öffentlichen Dienst Nr. 6/1973, 140 ff. (148 ff. m. A n m . 160 ff.; zit.: Blümel, Vermessungswesen; auch abgedruckt i n : Die V e r w a l t u n g 1974); derselbe, Sicherung des Baus von Anlagen u n d Leitungsnetzen — Planfeststellungsverfahren, Referat auf der zweiten Sitzung der Arbeitsgemeinschaft „Die Perspektiven der Energie-
540
Willi Blümel
d a r a u f h i n g e w i e s e n , daß es sich b e i der allseits g e f o r d e r t e n B e t e i l i g u n g bzw. Partizipation an Planungen nicht — w i e i m m e r wieder behauptet w i r d — u m m e h r D e m o k r a t i e , s o n d e r n u m e i n schon l a n g e b e k a n n t e s rechtsstaatliches P r o b l e m h a n d e l t , n ä m l i c h u m das P r o b l e m d e r E f f e k t u i e r u n g des v e r f a h r e n s m ä ß i g e n
u n d auch des g e r i c h t l i c h e n
schutzes, also des I n d i v i d u a l r e c h t s s c h u t z e s .
G e g e n s t a n d der
Rechtsnachfol-
g e n d e n Ü b e r l e g u n g e n s i n d v i e l m e h r e i n m a l die Konsequenzen, d i e sich i n z w i s c h e n i n der P r a x i s aus der P a r t i z i p a t i o n s d i s k u s s i o n 4 b z w . d e m allgemeinen Demokratisierungsgerede 6
ergeben haben, z u m
anderen
d i e Versuche des Gesetzgebers, diesen o f f e n b a r u n e r w ü n s c h t e n F o l g e n d u r c h p r o b l e m a t i s c h e R e g e l u n g e n z u begegnen.
II. B e t r a c h t e t m a n das g e g e n w ä r t i g e Planungsgeschehen, d a n n ist d e r B e f u n d k l a r : D i e fälschlicherweise a u f das D e m o k r a t i e p r i n z i p gestützte F o r d e r u n g nach B e t e i l i g u n g der B ü r g e r a n a l l e n P l a n u n g s e n t s c h e i d u n gen u n d d i e j a h r e l a n g e , t e i l w e i s e hysterische D i s k u s s i o n u m d e n U m w e l t s c h u t z 6 h a b e n i n z w i s c h e n d a z u g e f ü h r t , daß h e u t e j e d e A r t v o n Wirtschaft i m nächsten Jahrzehnt" i m Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld am 7./8.12.1973 (im Druck), i m Text (m. A n m . 5 f., 63 ff.; zit.: Blümel, Planfeststellungsverfahren). 4 Vgl. dazu vor allem die Nachweise bei Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), insbes. S. 11, 19 f. (Anm. 16, 71); derselbe, Vermessungswesen (Anm. 3), S. 148 f. (Anm. 161 ff., 170); ferner unten i n A n m . 5, 8. 5 Daß es sich vielfach u m ein unqualifiziertes Gerede handelt, wurde bereits früher an einzelnen Beispielen nachgewiesen. Vgl. Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 12 ff., 17 ff.; derselbe, Vermessungswesen (Anm. 3), S. 148 f. (m. A n m . 162: zur Agitation des Bundes Deutscher Architekten auf der Deutschen Baufachmesse i n Essen 1973). I n diesem Zusammenhang wurde nicht das „Demokratiegebot" der Verfassung, sondern der Begriff der „Demokratisierung" als „Modeformel", „Wundermittel", „Zauberspruch" usw. bezeichnet. Das gegen v. Münch, Gemeinschaftsaufgaben i m Bundesstaat, V V D S t R L 31 (1973), 51 ff. (81 f.). Zur Forderung nach „Demokratisierung" (bzw. „Partizipation") vgl. auch Redeker, Bürger u n d A n w a l t i m Spannungsfeld von Sozialstaat u n d Rechtsstaat, N J W 73, 1153 ff. (1156, 1157); Stich, Die Planstufen der Orts-, Regionalu n d Landesplanung, DVB1. 73, 589 ff. (591, 597 f.); Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 3. A u f l . 1973, insbes. S. 111 f., 113 ff., 158 ff., 251 ff., 471 ff.; Zeidler, Der Standort der V e r w a l t u n g i n der Auseinandersetzung u m das Demokratieprinzip, DVB1. 73, 719 ff.; Geizer, 49. K u r s „Städtebau und Recht" i n Berlin, BauR 6/73, baurecht aktuell, S. 5. 6 Z u m Umweltschutz vgl. etwa (jeweils m. w. N.) W. Weber, Umweltschutz i m Verfassungs- und Verwaltungsrecht (Stand u n d Tendenzen der Gesetzgebung), DVB1. 71, 806 ff.; Vie, Umweltschutz i m Verfassungs- u n d V e r w a l tungsrecht, DVB1. 72, 437 ff.; Soell, Rechtsfragen des Umweltschutzes, W i R 73, 72 ff.
Masseneinwendungen i m Verwaltungsverfahren
541
raumrelevanter Planung (Gesamtplanung und Fachplanung) 7 immer mehr auf den gezielten und organisierten Widerstand von Bürgerinitiativen, Interessen-, Schutz-, Aktions- und Notgemeinschaften trifft 8 . Das Z u m Z i e l k o n f l i k t zwischen Energieversorgung und Umweltschutz vgl.: Die Energiepolitik der Bundesregierung, BT-Drucks. 7/1057, S. 16 f. (Tz. 72 ff.); Blümel, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m Text (m. A n m . 63, 82 ff.); ferner die Nachweise unten i n A n m . 13. — Z u m Schutz vor Verkehrslärm vgl. ζ. B. Fickert, Z u r Zumutbarkeitsgrenze bei Beeinträchtigung durch V e r kehrslärm u n d ihre rechtliche Behandlung (zugleich ein Beitrag zum V e r hältnis des Rechts der Straßenplanung zur Bauleitplanung), BauR 73, I f f . ; Lorenz, Entschädigungs- u n d Ausgleichsansprüche bei Beeinträchtigung durch Fluglärm, Betr. Beilage Nr. 6/73. Z u m Umweltschutz für den V e r kehrsbereich vgl. auch die A n t w o r t der Bundesregierung v o m 5. 9.1973 auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion, betr. Verkehrspolitik der B u n desregierung, BT-Drucks. 7/985, S. 5 (Nr. 12). Z u r Industrieansiedlung vgl. Sendler, Industrieansiedlung, Umweltschutz, Planungs- u n d Nachbarrecht, W i R 72, 453 ff. (453, 468 ff.). Vgl. auch die Nachweise unten i n Anm. 143 f. 7 Z u dieser Unterscheidung vgl. ausführlich (jeweils m. w. N.) Forsthoff / Blümel, Raumordnungsrecht u n d Fachplanungsrecht, 1970, S. 17 ff.; Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 26 ff. (m. A n m . 105 ff.); derselbe, Vermessungswesen, S. 142 ff. (m. A n m . 39 ff.); derselbe, Planfeststellungsverfahren, i m Text (m. Anm. 121). 8 Vgl. dazu bereits — vor der allgemeinen Partizipationsdiskussion — Blümel, Raumplanung, vollendete Tatsachen u n d Rechtsschutz, i n : Festgabe für Ernst Forsthoff, 1967, S. 133 ff. (158 f.; zit.: Blümel, Raumplanung). Z u r Tätigkeit von Bürgerinitiativen usw. (insbes. i m Bereich der Raumplanung) vgl. ausführlicher (jeweils m. w. N.) Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 24 f., 26 ff. (28 f., 29 f.); derselbe, Raumordnung u n d kommunale Selbstverwaltung, DVB1. 73, 436 ff. (442 m. A n m . 89, 94); derselbe, Vermessungswesen (Anm. 3), S. 149 f. (m. A n m . 170 ff.); derselbe, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m Text (m. A n m . 54 ff.); Battis / Vogt, Projektgruppe „Bürgerinitiative u n d repräsentatives Prinzip" am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin, JuS 73, 524 ff.; v. Mutius, Zulässigkeit der Verbandsklage?, VerwArch. 73, 311 ff. (311, 317 f.); Redeker, Z u m neuen E n t w u r f eines Verwaltungsverfahrensgesetzes, DVB1. 73, 744 ff. (747 m. A n m . 21 ff.); Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, Allg. Teil, 10. Aufl. 1973, S. 78 f. (79), 303 f. (Anm. 2); ferner die Nachweise oben i n A n m . 4 f. sowie unten i n A n m . 14 ff. — Aus dem übrigen Schrifttum v g l zuletzt Bilstein / Troitzsch, Bürgerinitiative — Chancen politischer Einflußnahme, Gegenwartskunde 72, 263 ff.; Dittberner, Bürgerinitiative als partielles Partizipationsbegehren (Überlegungen aus Anlaß eines städtebaulichen E n t scheidungsprozesses i n Berlin-Wilmersdorf), Zeitschr. f. Parlamentsfragen 73, 194ff.; Bericht einer Forschungsgruppe an der Freien Universität B e r l i n : Z u r Rolle u n d F u n k t i o n von Bürgerinitiativen i n der Bundesrepublik u n d West-Berlin, ebd., S. 247 ff.; Joerger, Bürgerinitiativen i n der Schweiz, i n Frankreich u n d i n Deutschland, StT 73, 419 ff.; Klaus Wagner, Die Bürger wehren sich — Partizipation oder: Die einzige Alternative? (Bürgerinitiativen am Beispiel Hamburgs), F A Z v o m 27.10.1973, Beilage (Bilder u n d Zeiten), S. 1.
542
Willi Blümel
gilt vor allem für die Fachplanungen 9 , also insbesondere die Planung und die Linienführung bzw. die Standortwahl von Verkehrsanlagen (ζ. B. Bundesfernstraßen 10 , Bundeswasserstraßen, neue Eisenbahnen 11 , unterirdische Verkehrsanlagen, Verkehrsflughäfen) 12 und von Großprojekten (ζ. B. Kernkraftwerke, Kraftwerke, Großraffinerien oder andere Industrieanlagen) 13 . Nach Angaben des Bundeskanzlers 14 gab es Über die Vorbehalte der V e r w a l t u n g vgl. ζ. B. Riedl, M i t w i r k u n g der B ü r ger an der städtebaulichen Planung, StT 73, 207 ff. (209 ff.); Jäger, Demokratisierung des Planungsprozesses (Erfahrungen m i t der öffentlichen Planung i n München-Lehel), ebd., S. 249 ff. (251); Beckert, F ü r die Stadtplaner k o m men harte Zeiten, F A Z vom 26.10.1973, S. 8. Vgl. auch Sendler, W i R 72, 463 f. (464); ferner unten i m Text (m. Anm. 38, 41). 9 Hierzu und zum Folgenden vgl. die zahlreichen Beispiele bei Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 28 ff.; ferner die Nachweise i n den folgenden Anmerkungen. 10 Neuere Beispiele: Schwarzwald-Autobahn von Freiburg nach Donaueschingen (vgl. dazu Sturm, Bürger wollen keine Autobahn, F A Z vom 17.8.1973; Gebhardt/Bauer, Aufstand i m Schwarzwald, Zeitmagazin Nr. 7/ 1974, S. 4 ff.) ; Autobahnring u m München. Vgl. i m übrigen die Nachweise unten i m Text (m. A n m . 29 ff.). 11 Beispiele: Rangierbahnhof München; vgl. dazu z.B. die A n t w o r t des Bundesministers für Verkehr v o m 30. 3.1972 auf eine Kleine Anfrage, B T Drucks. VI/3311; — Neubau der Strecke Hannover—Kassel; vgl. dazu z.B. Delvendahl, Planung u n d Ausführung von Neubaustrecken (Probleme und Wege zu ihrer Lösung), B B a h n 73, 575 ff.; den Bericht „Neubauten der B u n desbahn verzögert", F A Z v o m 1.11.1973; zum Ausbauprogramm für das Netz der Deutschen Bundesbahn vgl. die Angaben bei Blümel, Vermessungswesen (Anm. 3), S. 143 (m. A n m . 50); — Versuchsanlage für Verkehrstechniken i m Donauried; vgl. dazu den E n t w u r f eines Gesetzes über den Bau u n d den Betrieb von Verkehrsanlagen zur Erprobung von Techniken für den spurgeführten Verkehr, BR-Drucks. 591/73 („Lex Donauried"); Stellungnahme des Bundesrates v o m 9.11.1973, BR-Drucks. 591/73 (Beschluß); B B a h n 73, 699 f. ; ferner unten i n A n m . 82. 12 Beispiele: die Verkehrsflughäfen Hamburg-Kaltenkirchen u n d M ü n chen I I ; vgl. dazu Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 29 f. (30); derselbe, Diskussionsbeitrag, V V D S t R L 30 (1972), 345 ff. (346); — Regionalflughafen Nagelsholz (bei Bielefeld); vgl. dazu auch unten i m Text (m. A n m . 25). — Die jahrelang geplanten u n d heftig umstrittenen Großflughäfen Stuttgart I I und Bremen I I (im Unterwesergebiet) werden nicht gebaut; vgl. die Berichte „Besserer Empfang für Fluggäste i n Bremen" u n d „ K e i n GroßFlughafen für Baden-Württemberg", F A Z v. 2'2. 10. 1973, S. 10, und v. 23. 10. 1973, S. 11; Bischoff, Schwäbische Bescheidung, Die Zeit v. 9.11.1973, S. 14. 13 Vgl. dazu die Beispiele bei Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 29 f. sowie unten i m Text (m. A n m . 26); ferner: Die Energiepolitik der Bundesregierung, (Anm. 6), insbes. S. 16 f. (Tz. 72 ff.); woche i m bundestag (wib) 3/17/73, S. 13, 14; Schwarze, Rechtsfragen bei der Errichtung von K e r n k r a f t werken, D Ö V 73, 700 ff. (702 m. Anm. 26); die Berichte „Der Kraftwerksbau bleibt auf der Strecke (Das Bonner Energieprogramm ist durch die Genehmigungsverfahren bedroht)", Die Welt v o m 28. 9.1973, S. 14 u n d „Die B l e i n o r m ist bis 1976 nicht zu erfüllen (Industrie: Umweltschützer erschweren
Masseneinwendungen i m Verwaltungsverfahren
543
E n d e 1973 a l l e i n i n N o r d r h e i n - W e s t f a l e n 105 B ü r g e r i n i t i a t i v e n f ü r d e n U m w e l t s c h u t z ; i n d e r gesamten B u n d e s r e p u b l i k b e z i f f e r t e m a n sie a u f ü b e r 500. N i c h t b e r ü c k s i c h t i g t s i n d b e i dieser Z u s a m m e n s t e l l u n g zahllosen B ü r g e r i n i t i a t i v e n
e t w a gegen V e r k e h r s b e l ä s t i g u n g e n .
die v i e l f a c h als e i n g e t r a g e n e V e r e i n e o r g a n i s i e r t e n
die Daß
Bürgerinitiativen 15
n i c h t i m m e r sachlich o r i e n t i e r t s i n d u n d h ä u f i g f ü r andere Z w e c k e m i ß b r a u c h t w e r d e n , zeigt die b i s h e r i g e P r a x i s 1 6 . D e r z u m e i s t a u f V e r h i n d e r u n g des j e w e i l i g e n V o r h a b e n s abzielende, i n j e d e m F a l l e aber z u V e r z ö g e r u n g e n f ü h r e n d e W i d e r s t a n d d e r I n i t i a t i v e n 1 7 ä u ß e r t sich h e u t e n i c h t m e h r n u r i n m e h r oder w e n i g e r g u t f o r mulierten
Protesten
in
Zeitungen,
in
öffentlichen
Versammlungen,
D e m o n s t r a t i o n e n oder i n a n d e r e n A k t i o n e n 1 8 . V i e l m e h r h a b e n die i n zwischen a u f L a n d e s - u n d Bundesebene k o o p e r i e r e n d e n u n d i h r e E r f a h r u n g e n austauschenden B ü r g e r i n i t i a t i v e n 1 9 l ä n g s t e r k a n n t , daß es rechtzeitigen Ausbau der Raffinerie-Kapazitäten)", F A Z v o m 2.10.1973, S. 16. Vgl. i m übrigen ausführlich Blümel, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), insbes. i m Text (m. Anm. 34 ff., 50 ff.). 14 Vgl. Brandt, Die Verantwortung der K o m m u n e n für den Ausbau der Demokratie, Bulletin, Nr. 126 v o m 6.10.1973, S. 1237 ff. (1238; dazu auch unten i m Text m. A n m . 39). Vgl. auch Stiftung „ M i t a r b e i t " (Hrsg.), B ü r g e r i n i t i a t i ven i n Westfalen, Dokumentation, Heiligenhaus 1972. Joerger, StT 73, 419, schätzt die Zahl der Bürgerinitiativen i n der Bundesrepublik Deutschland auf r u n d 30 000. Vgl. i m übrigen Blümel, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m Text (m. Anm. 55 ff.). 15 Z u r Organisation der Bürgerinitiativen vgl. auch den Bericht einer Forschungsgruppe (Anm. 8), S. 251, 252, 264 ff. 16 Vgl. dazu Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 29 f.; derselbe, DVB1. 73, 442 (m. A n m . 94); derselbe, Vermessungswesen (Anm. 3), S. 150 (m. A n m . 186); Scharnberg, Empfehlen sich weitere bodenrechtliche V o r schriften i m städtebaulichen Bereich?, Verhdl. d. 49. DJT, Bd. I I (Sitzungsberichte), T e i l L, 1972, S. L 25 ff. (31); Riedl, StT 73, 209, 210; Brandt (Anm, 14), S. 1238; Klaus Wagner (Anm. 8). Vgl. auch den Bericht einer Forschungsgruppe (Anm. 8), S. 252, 253 ff., 283 f. (zu den Bürgerinitiativen m i t „systemüberwindendem Anspruch"); ferner unten i m Text (m. A n m . 130). 17 Uber die Erfolge der Bürgerinitiativen vgl. etwa den Bericht einer Forschungsgruppe (Anm. 8), S. 252, 269 ff., 273 ff., 284. Z u den gescheiterten Großflughäfen Bremen I I u n d Stuttgart I I vgl. oben i n Anm. 12; über die Änderungen des neuen Flächennutzungsplanes für Hamburg (Stadtverkehrsplanung) vgl. unten i m Text (m. A n m . 24). Uber die Verzögerungen beim Bau von Kraftwerken, Raffinerieanlagen usw. vgl. die Nachweise oben i n A n m . 13 sowie unten i n A n m . 26. Über das gescheiterte K e r n k r a f t w e r k Breisach, das jetzt i n W y h l gebaut werden soll, vgl. auch die Berichte i n : Energiewirtschaftliche Tagesfragen (ET) 72, 615 f. und 73, 540. 18 Vgl. dazu ζ. B. den Bericht einer Forschungsgruppe (Anm. 8), S. 267 ff. ; Bilstein / Troitzsch, Gegenwartskunde 72, 263, 268 f.; Joerger, StT 73, 420. 19 Uber den „Bundesverband Bürgerinitiativen — Umweltschutz e. V. (BBU)" vgl. ζ. B. den Bericht von Koerber, Umweltschützer: Stoppt den Bau
Willi Blümel
544
wirksamere M i t t e l zur A r t i k u l i e r u n g u n d Durchsetzung ihrer
Forde-
r u n g e n g i b t . D a z u g e h ö r t u. a . 2 0 d i e massenhafte I n a n s p r u c h n a h m e d e r i n d e n einschlägigen Gesetzen schon i m m e r vorgesehenen B e t e i l i g u n g s u n d R e c h t s s c h u t z f o r m e n 2 1 . So h a t d i e v o n der B u n d e s r e g i e r u n g 2 2
be-
g r ü ß t e „ B e w u ß t s e i n s ä n d e r u n g " b e i d e m v o m B u n d e s p r ä s i d e n t e n 2 3 gepriesenen „ m ü n d i g e n B ü r g e r " i n z w i s c h e n b e w i r k t , daß h e u t e s o w o h l i m Bauleitplanverfahren Planfeststellungs-
und
nach d e m Bundesbaugesetz als auch i n d e n Genehmigungsverfahren
nach
den
Fachpla-
nungsgesetzen Masseneinsprüche v o n Tausenden, j a v o n Z e h n t a u s e n d e n v o n B ü r g e r n a n d e r T a g e s o r d n u n g sind. I n H a m b u r g w u r d e n i m N o v e m b e r 1971 nach A b s c h l u ß d e r ö f f e n t l i c h e n A u s l e g u n g des E n t w u r f s des n e u e n F l ä c h e n n u t z u n g s p l a n e s m e h r als 1200 E i n g ä n g e m i t 32 000 U n t e r s c h r i f t e n r e g i s t r i e r t 2 4 . I n d e m d e n R e g i o n a l f l u g h a f e n
rund Na-
von A t o m k r a f t w e r k e n (Erste Diskussion zwischen B B U und Innenministerium), Die Welt v o m 30.4.1973, S. 20 (dazu auch ET 73, 250f.); Joerger, StT 73, 419; Bericht „Energieprogramm umweltfeindlich?", ET 73, 531 f.; Blümel, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m T e x t (m. A n m . 58). Nach dem Bericht einer Forschungsgruppe (Anm. 8), S. 276 — der sich allerdings n u r auf 61 Bürgerinitiativen bezieht — soll der Kooperationsgrad zwischen den Bürgerinitiativen erstaunlich gering sein. 20 Z u r Einschaltung der Träger politischer Mandate (ζ. B. von Abgeordneten) vgl. Blümel, Raumplanung (Anm. 8), S. 158; Hoppe, Rechtsschutz bei der Planung von Straßen und anderen Verkehrsanlagen, 1971, S. 30 (m. A n m . 3); Bericht einer Forschungsgruppe (Anm. 8), S. 282. Über die Beziehungen der Bürgerinitiativen zu den politischen Parteien vgl. ebd., S. 251, 279 f.; Büsteini Troitzsch, Gegenwartskunde 72, 268 f., 270, 273 ff. E i n wichtiges K a m p f m i t t e l der Bürgerinitiativen ist auch die Einholung von Gegengutachten; vgl. den Bericht einer Forschungsgruppe (Anm. 8), S. 267; Joerger, StT 73, 420; Blümel, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m Text (m. A n m . 59); ferner die Nachweise unten i n Anm. 31 (Umgehungsstraße E l t v i l l e am Rhein). — M i t Lob bedacht wurde das — die Errichtung eines Kernkraftwerks betreffende — Projekt einer Physikergruppe der U n i versität Bremen von v. Dohnanyi, Die Bedeutung der Hochschule für die soziale Entwicklung, Bulletin, Nr. 138 v o m 26.10.1973, S. 1376 ff. (1377). 21 Vgl. dazu bereits Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 25. 22 Vgl. A n t w o r t der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, betr. V o l l zug des Städtebauförderungsgesetzes, v o m 14.5.1973, BT-Drucks. 7/557, S. 4. Dazu auch Blümel, Vermessungswesen (Anm. 3), S. 149 (m. A n m . 172); Stich, DVB1. 73, 597 (Anm. 79). 23 Vgl. Heinemann, Der mündige Bürger i n Staat u n d Gesellschaft, B u l l e tin, Nr. 15 v o m 13. 2.1973, S. 125 ff. Dazu etwa Ströhm, Der „mündige" B ü r ger, Die Welt v o m 13. 2.1973. Vgl. auch Blümel, Vermessungswesen (Anm. 3), S. 150 (m. A n m . 185); derselbe, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m Text (m. Anm. 66). 24 Vgl. dazu (m. w. N.) Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 31 (m. Anm. 152); T. Krüger, Neuer Flächennutzungsplan für Hamburg, StT 73, 251 ff. (254). Vgl. i m übrigen den Bericht „Weniger Stadtautobahnen i n H a m burg", F A Z v o m 3.10.1973; Klaus Wagner (Anm. 8); ferner oben i n A n m . 17.
Masseneinwendungen i m Verwaltungsverfahren geisholz (bei B i e l e f e l d ) b e t r e f f e n d e n l u f t r e c h t l i c h e n verfahren
545
Planfeststellungs-
(1973) e r h o b e n 14 000 B ü r g e r E i n w e n d u n g e n 2 5 . I n
Baden-
W ü r t t e m b e r g w u r d e n i n e i n e m V e r f a h r e n nach § 16 G e w O , das die E r w e i t e r u n g einer Ölraffinerie
z u m G e g e n s t a n d h a t , r u n d 34 000 E i n -
w e n d u n g e n gezählt, i n e i n e m a t o m r e c h t l i c h e n G e n e h m i g u n g s v e r f a h r e n ( K e r n k r a f t w e r k Breisach) sogar E i n w e n d u n g e n v o n r u n d 64 000 Personen26. Massenverfahren
mit
Hunderten
oder T a u s e n d e n v o n
s i n d jedoch nichts Neues, w i e gerade auch f r ü h e r e
Beteiligten
Planfeststellungs-
v e r f a h r e n z e i g e n 2 7 . So w u r d e n ζ. B . schon i m J a h r e 1961 gegen d e n P l a n für
d e n A u s b a u des V e r k e h r s f l u g h a f e n s
Düsseldorf
annähernd
6000
E i n w e n d u n g e n e r h o b e n 2 8 . Daß d e m g e g e n ü b e r b e i S t r a ß e n p l a n u n g e n i n der Vergangenheit
derart hohe Zahlen n u r selten erreicht
wurden,
25 Nach Berichten i n der Bielefelder Presse. Vgl. ζ. B. „Stadt Bielefeld hält fest am Regionalflughaf en Nagelsholz", Neue Westfälische v o m 18.12.1973 (dazu auch unten i n A n m . 34). — Über die Z a h l der Einwendungen i m gegenw ä r t i g (1973) laufenden Planfeststellungsverfahren f ü r den Großflughafen Hamburg-Kaltenkirchen (vgl. oben i n Anm. 12) liegen noch keine verläßlichen Angaben vor. 20 Vgl. Stellungnahme des Bundesrates zu § 63 des Entwurfs eines V e r w a l tungsverfahrensgesetzes (VwVfG), BT-Drucks. 7/910 (Entwurf V w V f G 1973), S. 105 (Nr. 26); Joerger, StT 73, 419; Begründung zu A r t . I I § 17 des Referentenentwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Versorgung m i t leitungsgebundener Energie (Energieversorgungsgesetz) — Stand 30.5.1973 (η. v.) —, S. 70 (zum E n t w u r f vgl. Blümel, Vermessungswesen — A n m . 3 —, S. 149 f. m. A n m . 169, 177; derselbe, Planfeststellungsverfahren — A n m . 3 —, i m Text m. A n m . 12). Vgl. auch Lauer, Praktische Erfahrungen i n Genehmigungsverfahren f ü r Kernkraftwerke, ET 72, 225 ff. (229); Smidt, Engpaß Genehmigungsverfahren?, atomwirtschaft-atomtechnik (atw) 73, 116 ff. (116); Lukes, Die zukünftige Entwicklung des Kernenergierechts, N J W 73, 1209 ff. (1212); Schwarze, DÖV 73, 702 (m. A n m . 26); Bericht „36 000 Einsprüche gegen Grafenrheinfeld", ET 73, 327; Begründung zu § 68 E n t w u r f V w V f G 1973, S. 87; ferner oben i n A n m . 17. 27 Vgl. z.B. Blümel, Raumplanung (Anm. 8), S. 157 f.; Sieder ! Zeltler, Bayerisches Straßen- u n d Wegegesetz, Kommentar, 2. A u f l . 1972, A r t . 39 Rdnr. 30, 48 (S. 481, 487); ferner B V e r w G v o m 17. 2.1969, VRS 37, 154 (155) = H G B R Rspr. 3, 315 (316) = D Ö V 69, 724 (Nr. 255; n u r LS); V G Schleswig v o m 29. 6.1970, DVB1. 72, 515 (516). Über ein Bebauungsplanverfahren m i t über 9200 Einsendungen vgl. schon Dienel, Partizipation an Planungsprozessen als Aufgabe der Verwaltung, Verw. 71, 151 ff. (151); vgl. i m übrigen Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 30 ff.; ferner unten i m T e x t (m. A n m . 38, 41). 28 Vgl. den — n u r 26 Seiten umfassenden — Planfeststellungsbeschluß des Ministers für Wirtschaft, Mittelstand u n d Verkehr des Landes N o r d rhein-Westfalen v o m 2.1.1964 (V/C-31-21), S. 11. Dazu V G Düsseldorf v o m 27. 2.1964 — 4 L 6/64 — (n. v.) u n d V G Münster v o m 23. 2.1964 — 4 L 16/64 — (n. v.).
3
Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
546
Willi Blümel
hängt nicht zuletzt m i t der bei Verkehrswegen üblichen abschnittsweisen Planfeststellung 29 zusammen. Immerhin steigen auch bei Straßenplanungen die Einsprüche seit geraumer Zeit ständig an 3 0 . Machten etwa 1973 i n dem die Umgehungsstraße von Eltville am Rhein betreffenden (wiederholten) Planfeststellungsverfahren 1100 Bürger von ihrem Einwendungsrecht Gebrauch 31 , so wurden 1972 i n dem Verfahren zur Feststellung des Planes für die Ostumgehung Darmstadt i m Zuge der neuen A 91 rund 7000 Einwendungen erhoben 32 . Diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren. I m übrigen haben auch die Gesetzgeber i n Bund und Ländern das Problem der Massenverfahren schon lange gesehen, wie die noch zu erörternden Vorschriften zeigen 33 . Der Form nach kommen die geschilderten Masseneinsprüche vielfach so zustande, daß i n den fraglichen Gemeinden von den Bürgerinitiativen Unterschriftslisten ausgelegt werden, i n die sich jedermann unter Angabe seiner Anschrift eintragen kann 3 4 . Eine andere Möglichkeit besteht darin, daß der einzelne Bürger seine Einwendungen nach einer i h m zur Verfügung gestellten Vorlage abfaßt oder hierfür sogleich hektographierte oder gar gedruckte Formulare verwendet, die er lediglich mit Namen, Anschrift und Unterschrift versieht 3 5 . A u f diesen in29
Vgl. dazu ausführlich Blümel, Raumplanung (Anm. 8), S. 148ff.; ferner derselbe, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m Text (m. A n m . 135); B V e r w G v o m 22. 3.1973, D Ö V 73, 785. 30 Vgl. auch Fickert, BauR 73, 1. 31 Vgl. dazu die Anzeige des Vereins zum Schutze der E l t v i l l e - W a l l u f e r Rheinuferlandschaft e. V. E l t v i l l e („Es wäre eine Schande für das L a n d Hessen! Herr Ministerpräsident Oswald greifen Sie endlich ein!"), F A Z v o m 24. 7.1973. — Z u dem jahrelangen Streit u m die Umgehungsstraße von E l t v i l l e am Rhein vgl. auch Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 28 f. (m. Anm. 29); Steiger, Z u r Entscheidung kollidierender öffentlicher Interessen bei der politischen Planung als rechtlichem Problem, i n : Fortschritte des Verwaltungsrechts, Festschrift für Hans J. Wolff, 1973, S. 385 ff. (385 f.); ferner Neander, Der befürchtete Volksaufstand i n E l t v i l l e fand nicht statt, Die Welt v o m 18.3.1972, S. 24; die Berichte „Trügerische Ruhe über der Rheinuferpromenade", F A Z v o m 7.8.1972, u n d „Die E l t v i l l e r geben nicht auf", F A Z v o m 17.2.1973, S. 7; Behr, Über die Autobahn von E l t v i l l e werden Richter entscheiden, F A Z v o m 14.1.1974, S. 7. 32 Vgl. Neander (Anm. 31). 33 Vgl. dazu unten i n A n m . 119 Abs. 2 sowie i m Text (m. A n m . 95, 133 ff.). 34 Vgl. dazu auch die Nachweise oben i n Anm. 18; ferner Lauer, ET 72, 229. I n dem oben i n A n m . 25 zitierten Bericht (Neue Westfälische v o m 18.12.1973) werden die Listen als „Autogrammsammlung" bezeichnet. 35 Die Verwendung gedruckter Formulare gibt es neuerdings sogar i m Verfassungsbeschwerdeverfahren. So lagen dem Bundesverfassungsgericht zum Zeitpunkt seiner ablehnenden Entscheidung v o m 2.10.1973 (NJW 73, 2099) mehr als 1700 Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz über die Erhebung eines Zuschlags zur Einkommensteuer u n d zur Körperschaftssteuer für die Kalenderjahre 1973 u n d 1974 v o m 26.6.1973 (BGBl. I S. 681) vor.
Masseneinwendungen i m Verwaltungsverfahren
547
zwischen eingespielten Praktiken beruht dann der i m wesentlichen gleichlautende oder gleichartige Inhalt der meisten Einwendungen. Daneben gibt es selbstverständlich nach wie vor die individuellen Einwendungen, die von den damit befaßten Behörden (Anhörungs-, Planfeststellungsbehörden usw.) gelegentlich als „echte" Einsprüche bezeichnet werden 3 6 . III. Es liegt auf der Hand und bedarf keines Nachweises, daß die massenhafte Inanspruchnahme und Ausnutzung der durch die gesetzlichen Vorschriften gebotenen Beteiligungsmöglichkeiten i m Einzelfall zu einem enormen Aufwand an Kosten und Zeit und damit zumindest zu Verzögerungen führen 3 7 . So w i r d denn auch von der Verwaltung allenthalben und i n zunehmendem Maße die übermäßige Belastung des Verwaltungsverfahrens und des Bauleitplanverfahrens 38 beklagt. Gleichwohl werden aber diejenigen, welche die „Demokratisierung" der Planung auf ihre Fahne geschrieben haben, nicht müde, weiterhin dieses „Erfolgsrezept" zu propagieren. So riet selbst der Bundeskanzler 39 noch Ende 1973, daß man die mancherorts sehr reservierte Haltung zu B ü r gerinitiativen und anderen Gruppen interessierter Bürger überprüfen solle. Man sollte versuchen, den Bürgern dort, wo sie ein politisches Informationsbedürfnis und Mitspracherecht anmeldeten, auch Gehör zu schenken. Daß dies i m Einzelfall unbequem sei, dürfe nicht schrekken: „Der Bürgerstaat ist nicht bequem". Verschreckt scheinen allerdings die Verwaltungen i n Bund, Ländern und Gemeinden, neuerdings auch die Fachministerien und der Bundesgesetzgeber zu sein 40 . Das zeigen m i t aller Deutlichkeit nicht nur die Die Mehrzahl der Beschwerdeführer benutzte den v o m B u n d der Steuerzahler i n Bayern herausgegebenen Musterschriftsatz „Stabilitätszuschlag". 36 Vgl. ζ. B. die oben i n A n m . 31 erwähnte Anzeige. 37 Ebenso die Stellungnahme des Bundesrates zu § 63 E n t w u r f V w V f G 1973 u n d die Begründung zu A r t . I I § 17 des Referentenentwurfs eines Energieversorgungsgesetzes (oben A n m . 26). Vgl. aber auch unten i n A n m . 92. 38 Vgl. dazu auch unten i m Text (m. A n m . 41). 39 Z u der Rede des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Städte- u n d Gemeindebund am 5.10.1973 (Anm. 14) vgl. auch Blümel, Vermessungswesen (Anm. 3), S. 149 (Anm. 167 a); derselbe, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m Text (m. Anm. 69). Seine positive Einschätzung der Bürgerinitiativen hinderte den Bundeskanzler allerdings nicht daran, i n seiner Rede vor der BASF-Belegschaft am 3.12.1973 die angebliche bürokratische Langatmigkeit i m Prüfungsverfahren für K e r n k r a f t w e r k s - P r o j e k t e anzuprangern; vgl. Bulletin, Nr. 157 v o m 5.12.1973, S. 1565 ff. (1566). 40 Hierzu u n d zum Folgenden vgl. bereits Blümel, Vermessungswesen 3*
548
Willi Blümel
zunehmenden Klagen kompetenter Praktiker über die Nachteile der personell und finanziell sehr aufwendigen „öffentlichen Planung" (Stadtplanung, etwa i n München) 41 , sondern auch neuere Gesetzesvorhaben, m i t denen man dem Problem der Masseneinsprüche i m Verwaltungsverfahren i n radikaler Weise Herr zu werden versucht 42 . Diese letzteren Vorhaben laufen allesamt auf eine bedenkliche Einschränkung des Individualrechtsschutzes hinaus 4 3 . Denn i m Ergebnis sollen auch hier die durch das unqualifizierte Demokratisierungsgerede heraufbeschworene kostspielige Mehrarbeit der Verwaltung und die damit verbundenen Belastungen und Verzögerungen des Planungsverfahrens — ähnlich wie i m Städtebauförderungsgesetz 44 — nun wieder dadurch kompensiert werden, daß man die dem Schutz des einzelnen betroffenen Bürgers dienenden und bewährten rechtsstaatlichen Sicherungen immer weiter abbaut. IV. Bekanntlich zeichnen sich die hier interessierenden förmlichen Verwaltungsverfahren und Planfeststellungsverfahren 45 — bei allen Abweichungen i m einzelnen — durch ganz bestimmte Eigentümlichkeiten bzw. Förmlichkeiten 4 6 aus. So werden i m förmlichen Verwaltungsver(Anm. 3), S. 149 f. (m. A n m . 171 ff.); derselbe, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m Text (m. A n m . 70 ff.). 41 Vgl. die Nachweise oben i n A n m . 8 Abs. 3. — Selbst Bundesminister Vogel w a r n t neuerdings vor der massiven Bürgerbeteiligung bei der Stadtplanung — die er als „Phonokratie" bezeichnet — u n d spricht sich für eine Stärkung der Rechte des einzelnen aus. Vgl. dazu den Bericht „Vogel für Gemeindebegehren nach Schweizer Muster", F A Z v o m 1.12.1973, S. 6. A b weichend allerdings der Wohnungs- u n d Städtebaukongreß der SPD i n H a m burg, der noch M i t t e November 1973 eine weitreichende „Demokratisierung" der Stadtplanung (ohne Rücksicht auf die bekannten Erschwernisse) forderte; vgl. Broichhausen, W e n n Stadtluft k r a n k macht, F A Z v o m 17.11.1973, S. 20; Blümel, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m T e x t (m. A n m . 67). 42 Vgl. dazu Blümel, Vermessungswesen (Anm. 3), S. 149 f. (m. A n m . 168 ff.); derselbe, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m T e x t (m. A n m . 72 ff.); ferner unten i m Text (m. A n m . 86 ff.). 43 Vgl. dazu Blümel, Vermessungswesen (Anm. 3), S. 148 ff. (m. A n m . 160 ff.). 44 Vgl. Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 33 ff. 45 Vgl. dazu ausführlich H. J. Wolff, Verwaltungsrecht I I I , 3. A u f l . 1973 (zit. : H. J. Wolff, V e r w R I I I ) , §§ 157, 158. 46 Redeker, DVB1. 73, 747, unterscheidet i m Verwaltungsverfahren zwischen technisch-organisatorischen u n d echten verfahrensrechtlichen Problemen. Z u den (bloß) technisch-organisatorischen Fragen gehören nach seiner A u f fassung die Ladung u n d die Zustellung. D a m i t w i r d jedoch die große Bedeutung dieser Förmlichkeiten f ü r den Rechtsschutz ebenso verkannt w i e i h r verfassungsrechtlicher Hintergrund. Vgl. dazu die weiteren Ausführungen, insbes. i m Text (m. A n m . 93 ff., 116 ff.).
Masseneinwendungen i m Verwaltungsverfahren fahren
549
die B e t e i l i g t e n z u r m ü n d l i c h e n V e r h a n d l u n g i n d i v i d u e l l ,
z w a r m i t angemessener F r i s t s c h r i f t l i c h g e l a d e n ( z . B . § 29 V e r f G , § 134 S c h l H L V w G ) 4 7 . Dasselbe g i l t nach h e r k ö m m l i c h e r für
das w e i t h i n
bewährte48
dem Planfeststellungsverfahren
gewerberechtliche
Übung
entsprechende
Genehmigungsverfahren
und
BerlVw und
nach §§ 16 ff.
G e w O 4 9 . D e n n h i e r h a t es sich seit l a n g e m e i n g e b ü r g e r t , daß d i e j e n i g e n , die a u f die ö f f e n t l i c h e B e k a n n t m a c h u n g u n d A u s l e g u n g d e r U n t e r l a g e n h i n fristgerecht E i n w e n d u n g e n erhoben haben ( § 1 7 Abs. 2 GewO), zu d e m E r ö r t e r u n g s t e r m i n ( § 1 9 A b s . 2 G e w O ) besonders ( m i t Z u s t e l l u n g s urkunde)
g e l a d e n w e r d e n 5 0 . Diese i n d i v i d u e l l e L a d u n g z u m
rungstermin entfällt allerdings i m atomrechtlichen
Erörte-
Genehmigungsver-
f a h r e n nach §§ 7 ff. A t G i. V e r b . m . §§ 1 ff. A t A n V O 5 1 , d a h i e r z u r B e s c h l e u n i g u n g des V e r f a h r e n s 5 2 b e r e i t s i n d e r ö f f e n t l i c h e n c h u n g des V o r h a b e n s d e r E r ö r t e r u n g s t e r m i n
Bekanntma-
z u b e s t i m m e n ist (§ 2
47 Vgl. auch H. J. Wolff , V e r w R I I I , § 157 I b 4 (S. 296). — Z u § 134 SchlH L V w G vgl. auch unten i m Text (m.Anm. 67). 48 Vgl. ζ. B. Begründung zu § 9 des Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz vor schädlichen U m w e l t e i n w i r k u n g e n durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen u n d ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz), BT-Drucks. 7/179 (Entwurf BImSchG), S. 34. — Z u m Bundes-Immissionsschutzgesetz v o m 15. 3.1974 (BGBl. I S. 721) vgl. auch unten i n Anm. 52 a, 72, 77, 85, 117, 120, 127, 131, 144 sowie i m Text (m. A n m . 142). 49 Vgl. dazu Beyer, Die Rechtsstellung des Nachbarn bei der gewerberechtlichen Genehmigung lästiger Anlagen, 1970, insbes. S. 21 ff., 106 ff., 127 ff. Vgl. auch Thieme, Umweltschutz u n d gewerberechtliches Genehmigungsverfahren, B B 73, 713ff. (mit nicht billigenswertem Ergebnis); ferner unten i m T e x t (m. A n m . 110, 127). 50 Vgl. Nr. 6.14, 8.1 der nor drhein-westfälischen Verwaltungsvorschriften zum Genehmigungsverfahren nach §§ 16 ff. der Gewerbeordnung (GewO), A n i . zum Gem. RdErl. v o m 1.10.1962 (MB1. NW. S. 1699/SMB1. NW. 7130) — V V zu §§ 16 ff. GewO (NRW) —. Für das Beschlußverfahren vgl. Nr. 8.11 V V zu § 16 ff. GewO (NRW), wo für die Vorbereitung u n d Durchführung der mündlichen Verhandlung auf §§ 11 ff. (insbes. § 16) des Ersten Vereinfachungsgesetzes v o m 23.7.1957 (GV. NW. S. 189/SGV. NW. 2004) verwiesen w i r d . Vgl. dazu auch H. J. Wolff , V e r w R I I I , § 157 I I a 4 (S. 298). 51 Z u Begründung zum E V w V e r f G 1963 (Anm. 76), S. 77 (Ziff. 8.1); ferner H. J. Wolff , V e r w R I I I , § 157 vor I, I a 2 (S. 295). Für das Planfeststellungsverfahren ebenso B V e r w G v o m 25. 8.1971, D Ö V 72, 129 (132) = V k B l . 72, 153 = VerwRspr. 23, 607 = VRS 42, 466 (zum Sinn u n d Zweck des Gebots der vorherigen Planfeststellung). 106 Z u diesem fundamentalen, aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitbaren Grundsatz des vorherigen rechtlichen Gehörs vgl. für das förmliche V e r w a l tungsverfahren z. B. § 133 (abweichend § 87) SchlHLVwG, § 62 (abweichend § 24) E n t w u r f V w V f G 1973 nebst Begründung (S. 85, 51 f.); H. J. Wolff , V e r w R I I I , § 157 vor I, I a 3 (S. 295, 296); Weyreuther, Probleme der Rechtsprechung zum Enteignungsverfahren, DVB1. 72, 93 ff. (99 m. A n m . 70, 75); ferner Forsthoff (Anm. 8), S. 188, 235 f., 256 ff.; Sellmann, Neue bodenrechtliche Vorschriften für die städtebauliche Sanierung, 1969, S. 26; Klaus Meyer, Betrachtungen über das Städtebauförderungsgesetz i m Spannungsfeld des Grundgesetzes, AöR 97 (1972), 12 ff. (24 ff.). Speziell zum rechtlichen Gehör i m Planfeststellungsverfahren vgl. z.B. Schotthöf er, Die Planfeststellung i m Meinungsstreit, BayVBl. 68, 342 ff. (343 m. A n m . 60 ff.); Hoppe (Anm. 20), S. 33, 34 (Rdnr. 66, 72); Sieder ! Zeltler
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Willi Blümel
m i n ) z u l a d e n 1 0 7 u n d i s t i h n e n d i e b e g r ü n d e t e abschließende E n t s c h e i d u n g z u z u s t e l l e n 1 0 8 . Das z u v o r Gesagte t r i f f t jedoch n u r die eine Seite dieser V e r f a h r e n . S o w o h l i n d e n g e n a n n t e n f ö r m l i c h e n V e r w a l t u n g s v e r f a h r e n als auch i m P l a n f e s t s t e l l u n g s v e r f a h r e n s i n d n ä m l i c h n i c h t a l l e i n d i e u n m i t t e l b a r B e t r o f f e n e n (z. B . G r u n d s t ü c k s e i g e n t ü m e r 1 0 9 ) einwendungsberechtigt. Einwendungen k a n n vielmehr jedermann erheben, dessen B e l a n g e d u r c h das V o r h a b e n b z w . d u r c h d e n P l a n b e r ü h r t w e r d e n (z. B . § 18 A b s . 2 Satz 2 F S t r G ) 1 1 0 . Diese F o r m u l i e r u n g e t w a i n d e n P l a n f e s t s t e l l u n g s v o r s c h r i f t e n h a t die V e r w a l t u n g s g e r i c h t e i n s t ä n d i g e r Rechtsprechung z u d e r F e s t s t e l l u n g v e r a n l a ß t , das A n h ö r u n g s v e r f a h r e n diene „ l e d i g l i c h d e r E r f o r s c h u n g d e r a l l g e m e i n e n A n schauung u n d d a m i t d e r U n t e r s t ü t z u n g d e r B e h ö r d e b e i d e r E n t s c h l i e ß u n g " 1 1 1 . M a g diese F o r m e l auch z u e i n s e i t i g s e i n 1 1 2 , so h a t d i e Q u a l i f i (Anm. 27), A r t . 39 Rdnr. 13 ff. (S. 475 ff.); auch Marschall (Anm. 59), § 18 Rdnr. 2.7 (S. 488f.); Blümel, Raumplanung (Anm. 8), S. 158 (Anm. 129); derselbe, „Demokratisierung" (Anm. 3), 23 (m. A n m . 88). Vgl. auch unten i m Text (m. A n m . 118, 120). 107 Vgl. oben i m Text (m. A n m . 47 ff., 61 ff.); ferner Forsthoff (Anm. 8), S. 256 ff. 108 Vgl. oben i m T e x t (m. A n m . 53 ff., 69 ff.). 109 Z u m Begriff des „Betroffenen" vgl. Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 21 f.; derselbe, Diskussionsbeitrag, W D S t R L 31 (1973), 300 ff. (301); Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, W D S t R L 31 (1973), 179 ff. (225 f. m. A n m . 203, 244 f. m. A n m . 283). Z u r Abgrenzung der unmittelbar Betroffenen (und Klagebefugten) von den übrigen Einwendungsberechtigten vgl. unten i m Text (m. A n m . 113, 122 ff.). 110 Vgl. dazu z.B. B V e r w G v o m 29.5.1967, D Ö V 67, 825 = DVB1. 67, 917; Schotthöf er, BayVBl. 68, 342 f.; Marschall (Anm. 59), § 18 Rdnr. 2.5 (S. 486 f.); Hof mann (Anm. 59), § 10 Rdnr. 7.8 (S. 197 ff.); Böhm (Anm. 63), § 35 Anm. 2 b, 6 (S. 251 f., 256); Sieder ! Zeitler (Anm. 27), A r t . 39 Rdnr. 21 (S. 478); Weyreuther, DVB1. 72, 100 (m. A n m . 90); Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 21 f. (m. A n m . 80, 82). Für das gewerberechtliche Genemigungsverfahren vgl. B V e r w G v o m 24.10.1967, B V e r w G E 28, 131 (132 ff.) = DÖV 67, 856 = DVB1. 68, 33; Fuhr, Kommentar zur Gewerbeordnung, Loseblattausgabe, 1960 ff., § 17 Anm. 4, § 19 A n m . 2; Landmann / Rohmer / Eyermann / Fröhler, Gewerbeordnung, Kommentar, Loseblattausgabe, 12. A u f l . 1968 ff., § 19 Rdnr. I f f . ; Beyer (Anm. 49), S. 114 ff. (m. A n m . 30 ff.). — F ü r das atomrechtliche Genehmigungsverfahren vgl. (m. w. N.) Schwarze, DÖV 73, 101 f. (m. Anm. 24 ff.). 111 Vgl. dazu bereits (m. w. N.) Blümel, U n w i r k s a m k e i t der gewerberechtlichen Ausschlußfrist für Einwendungen gegen „genehmigungspflichtige A n lagen", B B 63, 882 ff. (883 m. A n m . 24 ff.); ferner B V e r w G v o m 14.4.1967, B V e r w G E 26, 302 (303) = V k B l . 67, 460 = DÖV 67, 824 = DVB1. 67, 916, u n d v o m 10. 4.1968, B V e r w G E 28, 282 (284) = DÖV 68, 738 = DVB1. 68, 911 = N J W 68, 1736; Hiddemann, Die Planfeststellung i m Flurbereinigungsgesetz, 1970, S. 36 (m. A n m . 193 f.); Marschall (Anm. 59), § 18 Rdnr. 5.2 (S. 497); Hoppe (Anm. 20), S. 34 f., 48 (Rdnr. 71 ff., 119 f.); Hofmann (Anm. 59), § 10 Rdnr. 8 (S. 198 f.); Diekmann, Die wasserwirtschaftliche Planfeststellung, Diss. M ü n -
Masseneinwendungen i m Verwaltungsverfahren
559
zierung der Einwendungen als Bedenken und Anregungen doch umgekehrt zur Folge, daß nicht alle, die i m Anhörungsverfahren zu Wort gekommen sind und eine Entscheidung über ihre Einwendungen erhalten haben, nun auch klageberechtigt sind. Die Klagebefugnis eines Beteiligten setzt vielmehr voraus, daß er die Verletzung eigener Rechte geltend machen kann (§ 42 Abs. 2 VwGO) 1 1 3 . Die hier nur skizzierte rechtliche Einordnung der Einwendungen, aus welcher der Doppelcharakter der genannten Genehmigungsverfahren und Planfeststellungsverfahren erhellt, ist i m neueren Schrifttum sowohl für das gewerberechtliche Genehmigungsverfahren als auch für das Planfeststellungsverfahren weiter vertieft worden 1 1 4 . Hierauf muß an dieser Stelle verwiesen werden. Für den vorliegenden Zusammenhang folgt jedoch aus der zuvor klargestellten weitgespannten Funktion dieser förmlichen Verwaltungsverfahren bzw. Planfeststellungsverfahren, daß man die Problematik der Massenverfahren — und Massenverfahren waren die hier interessierenden Verfahren schon i m m e r 1 1 5 — nicht einfach dadurch lösen kann, daß man — wie der Bundesrat 1 1 6 — ab einer unbestimmten — der Festsetzung durch die Behörde anheimgegebenen — Zahl von Beteiligten 1 1 7 generell den Aspekt des rechtster 1972, S. 89 ff.; Zeller,
M i t w i r k u n g u n d Rechtsschutz der Gemeinden i m
Bereich der Planung (mit Ausnahme der Bauleitplanung), DVB1. 73, 599 ff. (599 1 1 2f. m. A n m . 9 ff.); die Nachweise i n A n m . 110, 113. Vgl. dazu vor allem Schotthöf er, BayVBl. 68, 343; Hoppe (Anm. 20), S. 35 (Rdnr. 73); Diekmann (Anm. I l l ) , S. 89 ff. (90, 91); ferner unten i m Text (m. A n m . 125). 113 Vgl. dazu Blümel, B B 63, 883 (m. Anm. 26), 884 (m. A n m . 39); Marschall (Anm. 59), § 18 Rdnr. 5.2 (S. 497); Gehrmann, Z u m Rechtsschutz gegen straßenrechtliche Planfeststellungen, SchlHAnz. 70, 147 ff. (148 f.); Weyreuther, DVB1. 72, 100 (m. A n m . 90); H. J. Wolff, V e r w R I I I , § 158 I I b 6 (S. 307); die Nachweise oben i n A n m . 110; ferner B V e r w G v o m 14.2.1969, B V e r w G E 31, 263 (267 f.) = D Ö V 69, 853 = V k B l . 70, 219 = VerwRspr. 20, 877 = BRS 22, 62 (Nr. 30) = JuS 70, 137, u n d v o m 16. 3.1970, DVB1. 70, 578 = V k B l . 70, 587 = VerwRspr. 22, 82 = BRS 23, 62 (Nr. 29); O V G Münster v o m 21.9.1966, VerwRspr. 18, 594 = V k B l . 67, 70 = DVB1. 67, 203 = DÖV 67, 393 (Nr. 157; n u r LS), v o m 3.3.1971, VerwRspr. 23, 748 = VRS 42, 158 = D Ö V 72, 139 (Nr. 70; n u r LS), u n d v o m 22.11.1971, OVGE 27, 152 (154) = VRS 42, 477; OVG Lüneburg v o m 14. 9.1972, ET 73, 610 (611). Vgl. auch unten i n Anm. 122. 114 v g l . vor allem Beyer (Anm. 49), S. 114ff.; Hoppe (Anm. 20), S. 34f., 48 (Rdnr. 71 ff., 119 f.); Diekmann (Anm. I l l ) , S. 89 ff. 115 Vgl. dazu bereits oben i m Text (m. A n m . 27 ff., 103); ferner unten i m Text (m. A n m . 129). 116 Vgl. oben i m Text (m. A n m . 89 f.). Dazu auch unten i n A n m . 119. Z u r Fassung des A r t . I I § 17 E n t w u r f Energie Versorgungsgesetz vgl. oben i n A n m . 91 sowie unten i m T e x t (m. A n m . 131). 117 I n § 9 Abs. 5 b Satz 1 E n t w u r f BImSchG (Ausschußfassung; A n m . 52 a, 72) — jetzt § 10 Abs. 8 BImSchG — ist die Ermessensentscheidung der Behörde bei Zustellungen (wenigstens) insofern eingeschränkt, als die Erset-
560
Willi Blümel
l i c h e n Gehörs u n d des I n d i v i d u a l r e c h t s s c h u t z e s 1 1 8 i g n o r i e r t . E i n e auch verfassungsrechtlich e i n w a n d f r e i e 1 1 9 , d. h. n i c h t gegen das Rechtsstaatsp r i n z i p 1 2 0 u n d d i e umfassende G a r a n t i e ausreichenden Rechtsschutzes ( A r t . 19 A b s . 4 G G ) 1 2 1 verstoßende gesetzliche R e g e l u n g m u ß d a h e r v o n der Unterscheidung zwischen den u n m i t t e l b a r Betroffenen (und K l a g e befugten) u n d d e n ü b r i g e n B e t e i l i g t e n a u s g e h e n 1 2 2 . I m P l a n f e s t s t e l l u n g s v e r f a h r e n k a n n g a r n i c h t anders v o r g e g a n g e n w e r d e n , d a es i n d e r zung der Zustellungen durch öffentliche Bekanntmachung (Anm. 72) k r a f t Gesetzes zur Voraussetzung hat, daß mehr als 500 Zustellungen vorzunehmen sind. Z u den Bedenken gegen diese Regelung vgl. Blümel, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m Text (m. A n m . 78 ff.); ferner oben i n A n m . 72. Vgl. auch unten i n A n m . 120. 118 Vgl. dazu Hoppe (Anm. 20), S. 33, 34 (Rdnr. 66, 72); ferner die Nachweise oben i n A n m . 106. 119 Vgl. dazu auch Blümel, Vermessungswesen (Anm. 3), S. 149 f. (m. A n m . 176f.); derselbe, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m T e x t (m. Anm. 73 ff.); ferner oben i m T e x t (m. A n m . 43 f.). Die Vorschläge des Bundesrates (Anm. 117) ignorieren ζ. B. bezüglich des Zustellungsersatzes nicht n u r die entsprechenden, aber v i e l sorgfältiger gefaßten älteren landesrechtlichen Vorschriften (z. B. A r t . 80 Abs. 2 Satz 2 - 4 BayWG), sondern auch die einschlägige Entscheidung des BayVerfG v o m 12.10.1967, V e r f G H 20, 167 = BayVBl. 68, 23 = VerwRspr. 19, 542. Vgl. dazu auch Sieder / Zeitler / Dahme, Bayerisches Wassergesetz, Kommentar, Loseblattausgabe, Stand: 1. 7.1973, A r t . 80 Rdnr. 19 ff.; ferner unten i n A n m . 135. 120 Z u den rechtsstaatlichen Bedenken bzw. Vorbehalten der Bundesregierung vgl. oben i n A n m . 94 sowie i m Text (m. A n m . 99 f.). — Z u dem aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitbaren Grundsatz des vorherigen rechtlichen Gehörs vgl. oben i n A n m . 106. Nach der nicht billigenswerten Auffassung des Deutschen Bundestages ist die von i h m beschlossene Fassung des § 9 E n t w u r f BImSchG — jetzt § 10 BImSchG — (Anm. 52 a, 72, 117) — m i t rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar. Vgl. BT-Drucks 7/1513, S. 3; BT-StenB v o m 18.1.1974, S. 4684 D/4685 A. Dazu kritisch oben i n A n m . 72, 92. 121 Vgl. dazu auch die oben i n A n m . 94 zitierte Gegenäußerung der Bundesregierung. 122 Dabei w i r d nicht verkannt, daß diese Unterscheidung bei den verschiedenen genehmigungs- oder planfeststellungspflichtigen Vorhaben zu Schwierigkeiten führen kann. M i t diesen Schwierigkeiten sind aber die V e r w a l tungsgerichte bei der Prüfung der Klagebefugnis, wie die zuvor (Anm. 110, 111, 113) zitierten Entscheidungen zeigen, i n der Vergangenheit noch immer fertig geworden. M i t dem Hinweis auf Abgrenzungsschwierigkeiten k a n n daher die Möglichkeit einer gesetzlichen Differenzierung nicht verneint werden. Besonderheiten gelten i m Atomrecht, da hier wegen des Schutzzwecks des Atomgesetzes (§ 1 A t G ) bzw. wegen der besonderen Eigenart radioaktiver Gefährdung bei Klagen gegen die Errichtung von K e r n k r a f t w e r k e n von den Gerichten die Klagebefugnis auch w e i t entfernt wohnender Kläger bej a h t w i r d . Vgl. ζ. B. das Würgassen-Urteil des B V e r w G v o m 16.3.1972, DVB1. 72, 678 = D Ö V 72, 757 = ET 72, 315 = B B 72, 1075 = N J W 72, 1292 (nur L S ; dazu auch Blümel, DVB1. 73, 442 m. A n m . 88); ferner ausführlich
Masseneinwendungen i m Verwaltungsverfahren Regel d e r F e s t s t e l l u n g des Planes eines r a u m b e a n s p r u c h e n d e n
561 Vorha-
bens d i e n t u n d deshalb i n b e k a n n t e r Weise m i t d e m E n t e i g n u n g s v e r f a h r e n v e r k n ü p f t i s t 1 2 3 (z. B . § 19 A b s . 2 F S t r G ) 1 2 4 . S o w e i t d a h e r das j e weilige
förmliche
Verwaltungsverfahren
und
das
Planfeststellungs-
v e r f a h r e n auch d e m Schutz b e t r o f f e n e r D r i t t e r , also d e r V e r t e i d i g u n g v o n Individualrechten — etwa dem Eigentumsschutz — dienen125, k a n n w e d e r a u f d i e i n d i v i d u e l l e L a d u n g b z w . B e n a c h r i c h t i g u n g dieser E i n w e n d e n d e n 1 2 6 noch a u f die i n d i v i d u e l l e Z u s t e l l u n g des das V e r f a h r e n abschließenden a n f e c h t b a r e n V e r w a l t u n g s a k t s
an Beteiligte, die
ent-
sprechende E i n w e n d u n g e n e r h o b e n haben, v e r z i c h t e t w e r d e n . D i e ausnahmslose E r s e t z u n g d e r L a d u n g b z w . B e n a c h r i c h t i g u n g 1 2 7
und
der
(m. w. N.) Schwarze, DÖV 73, 700 (m. A n m . 7), 701 f. (unter 5); auch Luhes, N J W 73, 1212 (m. A n m . 28). 123 Vgl. dazu ausführlich Blümel, Die Bauplanfeststellung I, 1961, S. 29 (Anm. 11), 193 (m. A n m . 220), 207 (Anm. 18); derselbe, Z u r Praxis der V e r öffentlichung von Gerichtsentscheidungen, DVB1. 66, 63 ff. (65 f. Anm. 32); derselbe, Die Planfeststellung I I , 1967 (Maschinenschrift), §11, 3 c (S. 310 ff.), § 13, 1, 3 (S. 421 ff., 467 ff.); Hoppe (Anm. 20), S. 6 f., 22, 23 ff., 36 ff., 68 ff. (Rdnr. 14, 41, 43 ff., 77 ff., 190 ff.); H. J. Wolff, V e r w R I I I , § 158 I I b 4, I I I a 2 (S. 306, 3121); B V e r w G v o m 11.12.1970, DVB1. 71, 186 (188 f.) = V k B l . 71, 247 = VerwRspr. 22, 756 = BRS 23, 66 (Nr. 30). 124 Über gleichlautende Vorschriften i n anderen Fachplanungsgesetzen vgl. die Nachweise oben i n A n m . 124; ferner f ü r den Bereich des Energierechts A r t . I I § 12 Abs. 5 E n t w u r f Energie Versorgungsgesetz (Anm. 26). 125 Vgl. dazu Schotthöf er, BayVBl. 68, 343; Hoppe (Anm. 20), S. 35 (Rdnr. 73); Diehmann, (Anm. I l l ) , S. 90; ferner oben i m Text (m. A n m . 109, 112). 126 v g l . dazu auch die ablehnende Gegenäußerung der Bundesregierung (Anm. 94) zu dem Vorschlag des Bundesrates, § 18 Abs. 5 Satz 3 FStrG i n der Fassung des A r t . 1 Nr. 16 E n t w u r f 2. F S t r Ä n d G 1973 zu streichen (Anm. 90), (Anm. 82), S. 35 (zu Ziff. 14 b): „Sofern nicht ortsansässige, aber bekannte Personen betroffen sind, muß ihnen aus rechtsstaatlichen Gründen Gelegenheit gegeben werden, v o n der Auslegung Kenntnis zu nehmen. Die gleiche Regelung enthält § 69 Abs. 5 Satz 3 des Entwurfs eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) — BT-Drucksache 7/910 —, die der Bundesrat nicht beanstandet hat." Vgl. auch oben i m Text (m. A n m . 58 ff.); ferner unten i n Anm. 127. 127 Das g i l t besonders dann, w e n n die Einwendungsfrist eine Ausschlußfrist ist (z. B. § 17 Abs. 2 GewO, § 3 Abs. 1 A t A n V O , § 9 Abs. 3 Satz 3 E n t w u r f BImSchG Ausschußfassung, jetzt § 10 Abs. 3 Satz 3 BImSchG; vgl. dazu ausführlich Blümel, B B 63, 882ff.; Weyreuther, DVB1. 72, 100 (m. A n m . 91 f.); B V e r w G v o m 29. 9.1972, DVB1. 73, 645 m. k r i t . A n m . von Zuch). Z u dieser Ausschlußwirkung bemerkt das O V G Lüneburg i m U r t e i l v o m 19.10.1965, DVB1. 66, 411 (413 f.; m. w. N.): „Ohne gesonderte Benachrichtigung u n d ausdrückliche Belehrung aber ist ein derartiger Verlust nicht m i t A r t . 19 Abs. 4 GG vereinbar." Vgl. auch oben i n A n m . 60. Nach h. M. haben die einschlägigen Planfeststellungsvorschriften (ζ. B. § 1 8 Abs. 3 FStrG) keine (materielle) Ausschlußwirkung. Vgl. dazu B V e r w G v o m 14.4.1967 u n d v o m 10.4.1968 (Anm. 111); ferner (jeweils m. w. N.) Blümel, B B 63, 882 ff. ; Siehr, Eingeschränkter Verwaltungsrechtsschutz i m 36 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
562
Willi Blümel
Zustellung durch die öffentliche B e k a n n t m a c h u n g 1 2 8 w ä r e daher
mit
rechtsstaatlichen G r u n d s ä t z e n n i c h t v e r e i n b a r 1 2 8 * 1 .
VIII. A n d e r s s t e h t es m i t d e n h e u t e ü b l i c h e n M a s s e n e i n w e n d u n g e n (soweit es sich n i c h t i m E i n z e l f a l l u m S a m m e l e i n w e n d u n g e n m e h r e r e r u n m i t t e l b a r B e t r o f f e n e r — ζ. B . G r u n d s t ü c k s e i g e n t ü m e r 1 2 9 — h a n d e l t ) . B e i i h n e n s t e l l t sich i n der T a t die Frage, ob d e r exzessiven, b i s w e i l e n sogar m i ß b r ä u c h l i c h e n I n a n s p r u c h n a h m e b z w . A u s n u t z u n g der F ö r m l i c h k e i t e n der g e n a n n t e n V e r f a h r e n 1 3 0 d u r c h eine gesetzliche N e u r e g e l u n g v o r g e b e u g t w e r d e n k a n n . So s i e h t ζ. B . d e r 1973 v o m B u n d e s w i r t s c h a f t s m i n i s t e r i u m v o r g e l e g t e R e f e r e n t e n e n t w u r f eines E n e r g i e v e r s o r gungsgesetzes i n A r t . I I § 17 v o r , daß auch d i e Z u s t e l l u n g v o n E n t scheidungen ü b e r i n h a l t l i c h i m w e s e n t l i c h e n g l e i c h l a u t e n d e E i n w e n d u n g e n d u r c h ö f f e n t l i c h e B e k a n n t m a c h u n g e r f o l g e n k a n n 1 3 1 . B e v o r aber
Planfeststellungsverfahren nach dem Bundesfernstraßengesetz?, DÖV 64, 728 f.; Hoppe (Anm. 20), S. 35 f. (Rdnr. 74 ff.); Marschall (Anm. 59), § 18 Rdnr. 2.6 (S. 487); Hof mann (Anm. 59), § 10 Rdnr. 8 (S. 198); Böhm (Anm. 63), § 35 A n m . 2 b, 6 (S. 251, 252, 256); Sieder / Zeitler (Anm. 27), A r t . 39 Rdnr. 23 (S. 478 f.); Weyreuther, DVB1. 72, 100 (Anm. 92); Diekmann (Anm. 111), S. 92 ff.; § 59 Abs. 4 E V w V e r f G 1963 nebst Begründung (S. 37, 220); § 69 Abs. 4, 5 E n t w u r f V w V f G 1973 nebst Begründung (S. 22 f., 88); a. M. Schotthöf er, B a y V B l . 68, 343 f. — Etwas anderes gilt aber für das wasserrechtliche Planfeststellungsverfahren (§ 31 W H G i n Verbindung m i t dem jeweiligen Landeswasserrecht) u n d für das wasserstraßenrechtliche Planfeststellungsverfahren (§ 17 Abs. 3, 4, § 22 Abs. 1 WaStrG). Vgl. dazu Hoppe (Anm. 20), S. 36 (Rdnr. 75); Diekmann (Anm. I l l ) , S. 94ff.; Stortz, Das Wasserrecht i n der Rechtsprechung des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofs (1967- 1971), Z f W 73, I f f . (13 f.); Mintzel (Anm. 58), § 17 A n m . 2 (S. 106 f.); Friesecke (Anm. 58), § 17 A n m . 8 (S. 163 f.). 128 Vgl. oben i m Text (m. A n m . 89 ff.). 128a Ebenso die oben i n A n m . 119 zitierte Entscheidung des B a y V e r f G H v o m 12.10.1967. 129 Z u diesen schon i m m e r bekannten Sammeleinwendungen unmittelbar Betroffener u n d ihrer Behandlung nach geltendem Recht vgl. für das Planfeststellungsverfahren B a y V G H v o m 30. 8.1966, BayVBl. 67, 31 = DÖV 67, 393 (Nr. 158; n u r LS); Schotthöf er, B a y V B l . 68, 343 (m. A n m . 69); Hoppe (Anm. 20), S. 35 (Anm. 3); Marschall (Anm. 59), § 18 Rdnr. 2.5 (S. 486); Sieder / Zeitler (Anm. 27), A r t . 39 Rdnr. 25 f., 28 ff., 48 (S. 480 ff., 488); Nr. 40 b PlanfR F S t r G (NRW; Z i t a t oben i n A n m . 65). F ü r das gewerberechtliche Genehmigungsverfahren vgl. Nr. 6.4 V V zu § 16 ff. GewO (NRW; A n m . 50). Vgl. i m übrigen unten i m T e x t (m. A n m . 135 f.). 130 Vgl. oben i m Text (m. A n m . 16, 20 ff.). 131 Y g i dazu auch oben i n A n m . 91. — Über die neue Regelung i n § 10 Abs. 8 BImSchG, die auch i m atomrechtlichen Genehmigungsverfahren A n wendung findet, vgl. oben i n Anm. 72, 117, 120.
Masseneinwendungen i m Verwaltungsverfahren
563
insoweit (wie auch bei der Ladung bzw. Benachrichtigung) entsprechend den Vorstellungen des Bundesrates an die radikalste Lösung gedacht w i r d 1 3 2 , sollte der Gesetzgeber prüfen, ob die bereits i m geltenden Recht vorhandenen und vom Bundesrat ignorierten bzw. übersehenen A n sätze 133 nicht ausreichen oder fortentwickelt werden können. A u f dem Hintergrund dieser Regelungen — die zeigen, daß das Problem als solches nicht so neu ist 1 3 4 , wie es hingestellt w i r d — bieten sich folgende Möglichkeiten an: a) Individuelle Einwendungen werden anders behandelt als gleichlautende Einwendungen. Es ist nicht einzusehen, warum für Einwendungen von einzelnen Bürgern, auch wenn sie nicht der Verteidigung von Individualrechten dienen, vom bisher geltenden Recht abgewichen werden soll. b) Nach A r t . 79 Abs. 2 BayWG und Art. 39 Abs. 4 BayStrWG 1 3 5 kann mehreren i m gleichen Interesse Beteiligten von der Verwaltungsbehörde aufgetragen werden, einen gemeinsamen Bevollmächtigten zu bestellen, soweit sie nicht bereits vertreten sind; kommen die nichtvertretenen Beteiligten der Aufforderung i n einer ihnen gesetzten Frist nicht nach, so kann er von Amts wegen bestellt werden; das Recht eines jeden Beteiligten, sich selbst zu vertreten oder vertreten zu lassen, bleibt unberührt. Für das gewerberechtliche Genehmigungsverfahren sehen ζ. B. die nordrhein-westfälischen Verwaltungs Vorschriften v o r 1 3 6 , daß dann, wenn mehrere gleichartige Einwendungen erhoben worden sind, zur Vereinfachung des Verfahrens darauf hingewirkt werden soll, daß die Widersprechenden zu ihrer Vertretung einen gemeinsamen Bevollmächtigten bestellen. Diese Regelungen könnten für gleichlautende oder gleichartige Masseneinwendungen fortentwickelt werden. Zu denken wäre an eine gesetzliche Verpflichtung der Einwendenden, zu ihrer Vertretung einen gemeinsamen Bevollmächtigten zu bestellen. Eine solche Verpflichtung kraft Gesetzes ist schon deshalb vertretbar, weil derartige Masseneinwendungen regelmäßig von Bürgerinitiativen, Interessengemeinschaften usw. ausgehen 137 . 132
Vgl. dazu oben i m T e x t (m. A n m . 42 ff., 89 ff.). 133 y g i dazu bereits oben i m Text (m. A n m . 95). Die i m geltenden Recht bereits vorhandenen Ansätze übersieht auch Lukes , N J W 73, 1212 f. 134 Vgl. dazu auch oben i m Text (m. A n m . 27 ff., 103, 115, 129). 135 y g i . z u diesen Vorschriften ausführlich (jeweils m. w. N.) B a y V e r f G H v o m 12.10.1967, V e r f G H 20, 167 = BayVBl. 68, 23 = VerwRspr. 19, 542 (dazu auch oben i n Anm. 119, 128 a); Sieder / Zeitler / Dahme (Anm. 119), A r t . 79 Rdnr. 18 ff.; Sieder / Zeitler (Anm. 27), A r t . 39 Rdnr. 28 ff. (S. 480 ff.). 136
Vgl. oben i n Anm. 129. Uber die Behandlung von Sammeleinwendungen unmittelbar Betroffener vgl. oben i m Text (m. A n m . 129). 137
36*
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Willi Blümel
c) Bei formularmäßigen Einwendungen 1 3 8 könnte festgelegt werden, daß die Anschrift des anzugebenden Herausgebers zugleich als A n schrift für Ladungen bzw. Benachrichtigungen und für Zustellungen (jeweils i n einer Ausfertigung) bzw. der Betreffende als Vertreter der Einwendenden gilt. Dasselbe Verfahren bietet sich bei Unterschriftslisten 139 an, bei denen der erste Unterzeichnete oder der für die Liste(n) Verantwortliche kraft Gesetzes als Bevollmächtigter bestimmt werden könnte. Eine Beschleunigung des Verfahrens läßt sich ferner dadurch herbeiführen, daß allgemein die Vorschrift des § 17 Abs. 6 Satz 2 und 3 WaStrG 1 4 0 übernommen wird. Diese flexible Regelung, die der zuständigen Behörde die Freiheit gibt, von der Einzelladung zum Erörterungstermin abzusehen und stattdessen von vornherein die Ladung mit der Bekanntmachung zu verbinden, ist sinnvoller als die starre Regelung des § 2 Abs. 2 Nr. 3 A t A n V O 1 4 1 und des § 10 Abs. 4 BImSchG 1 4 2 . IX. Schließlich bleibt zu überlegen, ob das Problem der Masseneinsprüche i m Verwaltungsverfahren nicht dadurch entschärft werden kann, daß den Umweltschutzverbänden vom Bundesgesetzgeber nicht nur ein Klagerecht gegen umweltrelevante Verwaltungsakte eingeräumt w i r d 1 4 3 , sondern ihnen bereits i m förmlichen Verwaltungsverfahren 138
Vgl. dazu oben i m Text (m. A n m . 35). Vgl. dazu oben i m Text (m. A n m . 34). 140 Vgl. oben i m Text (m. A n m . 61 f.). 141 Vgl. oben i m Text (m. A n m . 51 ff.). 142 Vgl. oben i n A n m . 52 a. 143 Z u r Verbandsklage vgl. (jeweils m. w. N.) W. Weber, DVB1. 71, 806 (m. A n m . 5); Naumann, Klagebefugnis von Verbänden i m Verwaltungsprozeß, DÖV 71, 378 ff.; H. H. Rupp, Popularklage i m Umweltschutzrecht?, ZRP 72, 32 ff. (34 f.); Bettermann, Z u r Verbandsklage, Z Z P 85 (1972), 133 ff.; Vie, DVB1. 72, 445; derselbe, Z u r Verpflichtungsklage i m Umweltschutzrecht, B B 72, 1076 ff. (1080); Faber, Die Verbandsklage i m Verwaltungsprozeß, 1972; Rehbinder / Burgbacher / Knieper, Bürgerklage i m Umweltrecht, 1972; Bleckmann, Die Klagebefugnis der Verbände i m Anfechtungsprozeß, V e r w Arch. 72, 183 ff.; Blümel, „Demokratisierung" (Anm. 3), S. 25 (Anm. 99); Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts, V V D S t R L 30 (1972), 245 ff. (300 f. m. A n m . 164 ff., 311 Leitsatz 18); Hof mann, Das Klagerecht der N a t u r u n d Umweltschutzverbände, BayBVl. 72, 524 ff.; derselbe, BayVBl. 73, 265 f.; Leeb, Nochmals: Das Klagerecht der N a t u r - u n d Umweltschutzverbände, BayVBl. 72, 633 f.; υ. Mutius, VerwArch. 73, 311 ff.; Lukes, N J W 73, 1212 f. (m. Anm. 29); Redeker, DVB1. 73, 747 (m. Anm. 21 ff.). Aus der Rechtsprechung vgl. ζ. B. OVG Lüneburg v o m 23.10.1969, N J W 70, 733 = VerwRspr. 21, 376; V G H Baden-Württemberg v o m 23. 2.1972, NJW 72, 1101 = BBB1. 72, 529 = BauR 73, 32; O V G Rheinland-Pfalz v o m 23.10.1972, ZBR 73, 109; 139
Masseneinwendungen i m Verwaltungsverfahren
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und i m Planfeststellungsverfahren ein förmliches Beteiligungsrecht zugebilligt w i r d 1 4 4 . Auch insoweit erweist sich, daß das Problem der Masseneinsprüche nicht isoliert gesehen und gelöst werden darf. Man kann nicht auf der einen Seite ständig die „Demokratisierung" der Planung fordern und das zunehmende Umweltbewußtsein des „mündigen Bürgers" begrüßen 145 und auf der anderen Seite bereits vorhandene „Partizipationsformen" einfach abbauen, zumal wenn diese auch dem Individualrechtsschutz dienen 1 4 6 . Gerade wegen der angedeuteten übergreifenden Zusammenhänge ist es Aufgabe des Gesetzgebers, i n diesem Bereich der Raumplanung von einer Gesamtkonzeption auszugehen. Die erforderlichen Regelungen müssen daher sowohl den Individualinteressen der von den Planungen allzu leicht überrollten Bürger als auch dem Interesse der Allgemeinheit an einer zügigen Durchführung der notwendigen Planungen gerecht werden 1 4 7 .
V G Schleswig v o m 4. 4.1973, ET 73, 321 (322); O V G Lüneburg v o m 14. 9.1973, ET 73, 610. 144 Vgl. dazu von den Nachweisen i n A n m . 143 vor allem Hofmann, BayVBl. 72, 525 f.; Lukes , N J W 73, 1212 f.; Redeker, DVB1. 73, 747. Kritisch auch insoweit Leeb, BayVBl. 73, 634. I n den neuen Landesgesetzen über Naturschutz u n d Landschaftspflege — vgl. dazu Blümel, Vermessungswesen (Anm. 3), S. 143 (Anm. 63); derselbe, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m Text (m. A n m . 90) — ist die Verfahrensbeteiligung n u r unzureichend geregelt. Vgl. A r t . 42 Bayerisches N a t u r schutzgesetz (BayNatSchG) v o m 27.7.1973 (GVB1. S. 437); § 22 Abs. 2, § 30 (rheinland-pfälzisches) Landespflegegesetz (LPflG) v o m 14.6.1973 (GVB1. S. 147); § 50 (schleswig-holsteinisches) Landschaftspflegegesetz (LPflegG) v o m 16. 4.1973 (GVB1. S. 122). I m Bundes-Immissionsschutzgesetz ist die förmliche Beteiligung der V e r bände u n d die Verbandsklage nicht geregelt worden. Vgl. dazu Abg. Hirsch, BT-StenB v o m 18.1.1974, S. 4684 D/4585 A . 145 Vgl. dazu oben i m Text (m. A n m . 6 ff., 22 f., 39); ferner Blümel, V e r messungswesen (Anm. 3), S. 148 ff.; derselbe, Planfeststellungsverfahren (Anm. 3), i m Text (m. A n m . 62 ff.). 146 Vgl. dazu oben i n Text (m. A n m . 40 ff.). 147 Vgl. dazu auch Blümel, DVB1. 73, 442. — Das Manuskript wurde i m November 1973 abgeschlossen; der neueste Stand der Gesetzgebung sowie später veröffentlichte Gerichtsentscheidungen u n d Aufsätze konnten daher n u r zum Teil noch i n den Fußnoten berücksichtigt werden.
Der Amtshaftungstatbeetand im Gesamt-System des Staatshaütungsrechts Bemerkungen zum geplanten und zum bisherigen Recht Von K a r l Michaelis
I. 1. Das Deutsche Staatshaftungsrecht ist seit geraumer Zeit Gegenstand vielfältiger Diskussionen. Durch den kürzlich von einer amtlich berufenen Kommission erarbeiteten Entwurf eines Staatshaftungsgesetzes1 haben diese Diskussionen einen neuen Kristallisationspunkt erhalten. M i t Staatshaftung ist i m Entwurf das bisher als Amtshaftung bezeichnete Institut gemeint. Es versteht sich aber, daß eine Neuordnung des Amtshaftungsrechts (die — wie der Entwurf — nicht nur untergeordnete Einzelpunkte neu regeln will) nicht möglich ist ohne K l a r heit über das Verhältnis der Amtshaftung zum Gesamtsystem des Staatshaftungsrechts. So ist schon verschiedentlich ausgeführt worden, daß i n neuerer Zeit die Grenzen zwischen der Entschädigung für sog. rechtmäßige Eingriffe und dem Schadensersatz für rechtswidrige Beeinträchtigungen ineinander geflossen seien, wofür schon das von der Rechtsprechung geschaffene Institut des sog. (rechtswidrigen, aber trotzdem) „enteignungsgleichen" Eingriffs ein Beispiel bildet. Ferner w i r d bekanntlich von namhaften Rechtslehrern empfohlen 2 , eine öffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung einzuführen. I n maßgebenden Darstellungen zur privatrechtlichen Gefährdungshaftung heißt es, daß 1
A m t l i c h herausgeg. unter dem Titel: Reform des Staatshaftungsrechts. Entwürfe eines Staatshaftungsgesetzes u n d einer Grundgesetzänderung m i t Begründungen. Kommissionsbericht, hrsg. v. den B M der Justiz u n d des Inneren i m Oktober 1973, 172 Seiten. Der folgende Beitrag ist i m Nov./Dez. 1973 verfaßt worden. E r sucht einige bisher weniger oder gar nicht beachtete Gesichtspunkte beizutragen. Wegen der bisherigen Gesamt-Diskussionen muß auf die umfasssenden Schrifttumsübersichten Bezug genommen werden, die sich vor allem bei B. Bender, Staatshaftungsrecht (1971), jetzt auch i m Anhang des amtl. Berichts finden. 2 Vgl. U.A. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl. (1973), § 1-9; Reinhard (Gutachten zum 41. Juristen-Tag, ersch. 1955); eingehende Monographie von B. Mondry, M a r b u r g 1964.
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K a r l Michaelis
die Ausübung der „gefährlichen", aber erlaubten Betriebe etc. rechtmäßig sei. Also kann sich fragen, ob (oder i n welchem Sinne) dadurch entstandene Verletzungen rechtmäßig oder rechtswidrig zugefügt sind. — Wichtig ist weiter das Verhältnis der Amtshaftung zur Staatshaftung aus öffentlich-rechtlichen Leistungsbeziehungen (die nach E § 16 I „unberührt" bleiben soll, dazu unten Abschn. III.). Endlich stellt sich für jedes Recht wie für jede Reform die Vorfrage, warum es neben dem allgemeinen Deliktsrecht eine eigenständige (deliktische oder deliktsähnliche) Amtshaftung geben muß (dazu unten IV). 2. Die Kommission hat diese Fragen natürlich i n der Begründung erörtert, wozu dann Stellung zu nehmen sein wird. Was zunächst die Notwendigkeit einer eigenständigen Amtshaftung betrifft, so beruht die Konzeption des Entwurfs nach der Begründung (S. 52) auf dem Gedanken der Überlegenheit der öffentlichen Gewalt gegenüber dem Einzelnen. Darauf gründet sich die neue Fassung des zentralen Tatbestandes der Amtshaftung 3 . Sie soll einerseits — neben der Beseitigung der sog. Subsidiarität — die unmittelbare (nicht von der Eigenhaftung des Beamten übergeleitete) Staatshaftung bezeichnen, vor allem aber die Eliminierung des Verschuldens als notwendiger Haftungsvoraussetzung ausdrücken. Überlegenheit der öffentlichen Gewalt ist ein zunächst sehr allgemeiner Begriff. Entwurf und Begründung suchen ihn daher näher zu bestimmen, und zwar verstehen sie — i n bemerkenswertem Gegensatz zu Rechtsprechung und Lehre der letzten Jahrzehnte — unter Ausübung öffentlicher Gewalt i m wesentlichen nur die Ausübung von Zwangsgewalt. Demgemäß n i m m t der Entwurf weite Gebiete öffentlicher Tätigkeiten (Beförderung, Versorgungsbetriebe, aber auch die sog. Verkehrssicherungspflicht) von der Amtshaftung aus und weist sie ausschließlich dem Privatrecht (einschl. der Gefährdungshaftungen) zu, E §§ 17, 16 I I (s. unten I I I . Ziff. 4). Dagegen soll die Amtshaftung konkurrierend anwendbar sein neben der Haftung aus öffentlich-rechtlichen Verträgen oder „ähnlichen" Rechtsbeziehungen (Entwurf § 16 I, 3
Dieser hier vor allem zu behandelnde Grundtatbestand der Amtshaftung lautet i n der Fassung des Entwurfs § 1 : (1) Verletzt die öffentliche Gewalt jemanden i n seinen Rechten, so haftet i h r Träger dem Verletzten nach diesem Gesetz. ( I n seinen Rechten w i r d jemand verletzt, w e n n die öffentliche Gewalt gegen eine i h m gegenüber obliegende Pflicht des öffentlichen Rechts verstößt.) (2) Der Träger öffentlicher Gewalt haftet auch f ü r Rechtsverletzungen, die durch das Versagen seiner technischen Einrichtungen verursacht w e r den. (3) Personen, durch die der Träger öffentlicher Gewalt die Rechtsverletzung begeht, haften dem Verletzten nicht.
Der Amtshaftungstatbestand i m Staatshaftungsrecht
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Begr., S. 114 Z. 1). Man w i r d sogleich fragen, ob i n diesen Verhältnissen eine rechtlich faßbare Überlegenheit typischerweise besteht. Schon das führt auf die Kernfrage, die i m folgenden i n einigen Richtungen verfolgt werden soll: Auch wenn man i n der Überlegenheit der öffentlichen Gewalt einen — für die Konzeption einer Amtshaftung — geeigneten Grundgedanken sieht: — Ist es dem Entwurf gelungen, die haftungsrechtlich relevanten Elemente dieses Gedankens i n seinem § 1 so zu fassen, daß dessen Tatbestand für die Praxis hinreichend bestimmt ist, nicht zu viel umgreift und die Amtshaftung i n das richtige Verhältnis zum Gesamtsystem des Staatshaftungsrechts gesetzt wird?
II. Zweifel, ob der Tatbestand des E § 1 zu weit greifen kann, weil er zu unbestimmt ist, können sich zunächst beim Blick auf eine praktisch sehr wichtige Fallgruppe ergeben. Bekanntlich w i r d den Behörden häufig nicht die Vornahme, sondern die Unterlassung (oder Verzögerung) einer Amtshandlung vorgeworfen. Schon dabei zeigt sich, daß Amtshaftungsfälle sehr häufig durch Irrtümer entstehen und darum deren rechtliche Qualifikation ein Hauptproblem der Amtshaftung bildet (dazu unten zu IV.). Vor allem die verfehlte Vornahme, aber auch die hier zu besprechenden Unterlassungen oder Verzögerungen beruhen häufig auf irriger Beurteilung der rechtlichen oder tatsächlichen Voraussetzungen einer Amtshandlung: Die Behörde zögert, weil sie — vielleicht irrig — annimmt, es bestünden rechtliche oder tatsächliche Bedenken. Oder die Sache, z.B. ein Baugesuch, w i r d „zurückgestellt", w e i l man den Erlaß neuer Vorschriften (oder andere neue Umstände) erwartet, die dann gar nicht (oder doch erst viel später) zustande kommen. I n anderen Fällen beruft sich die Behörde darauf, daß sie von den rechtswidrigen Zuständen nicht unterrichtet gewesen sei. Die am häufigsten angeführten Gründe für Verzögerungen sind aber A r beitsüberlastungen, unterlassene Abordnung von Aushilfskräften, nicht bewilligte M i t t e l für persönliche oder sachliche (Bau-)Zwecke, deren objektive Notwendigkeit zur Behebung gesundheitlicher, unterrichtlicher usw. Mißstände oder Gefahren (in der Jugendfürsorge, i n Heiloder Haftanstalten, Unterrichtsausfall oder Num. Clausus zum Schaden der Betroffenen etc.) oft unbestritten ist. Aber das Parlament (oder schon der Minister beim Haushaltsentwurf) setzt andere „Prioritäten", — alles alltägliche, leicht vermehrbare Beispiele. 1. Wann w i r d durch solche Unterlassungen oder Verzögerungen „obj e k t i v " eine Pflicht (gegenüber dem Betroffenen) i. S. des E § 1 ver-
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K a r l Michaelis
letzt 4 ? Jedenfalls kann eine zum Geldersatz verpflichtete Unterlassung (oder Verzögerung) bei Antragssachen nicht entstehen, ehe ein Antrag vorliegt. Für die Frage, ab wann eine verzögerliche Bearbeitung des Antrags rechtswidrig wird, ist damit aber noch nichts gewonnen. Ist von Amts wegen zu handeln, so jedenfalls nicht, solange die zuständige Stelle (Polizei, Vormundschaftsrichter, Gefängnis- oder Schulbehörde etc.) von den zu behebenden Gefahren und Mißständen keine Kenntnis hat. Das kann freilich wiederum auf rechtswidriger Unterlassung von Überprüfungen, mangelnder Aufsichtsübung durch die zuständige höhere Stelle etc. beruhen. Eine Bearbeitungs- oder Überlegungsfrist kann aber auch noch geboten sein, wenn Kenntnis besteht. Wie, wenn der evtl. schon vorher entstandenen Folgebeseitigungspflicht (E § 3 I) nicht alsbald genügt wird? Liegt darin schon objektiv rechtswidrige Verzögerung? Für die Entscheidung, ab wann die Verzögerung rechtswidrig ist, h i l f t auch nicht die Heranziehung des § 75 VwGO, der die Untätigkeitsklage regelt (und deren § 42 die Begr. S. 76 m. E. zu Recht heranziehen will). Nach § 75 kommt es darauf an, ob ein Zögern durch „zureichenden Grund" und eine „angemessene" Bearbeitungsfrist gerechtfertigt ist, die wegen „besonderer Umstände" aber evtl. kurz sein muß m i t der Folge, daß eine Sache unter „Zurückstellung" anderer vordringlich zu bearbeiten ist (atich eine Frage der „Priorität"). Zunächst wären die Kriterien des § 75 nur i m Wege der Analogie anwendbar. Denn i m Falle des § 75 hat das Gericht nicht darüber zu befinden, ob durch das Zögern ein Schaden entstanden und dafür zu haften ist, sondern darüber, ob jedenfalls jetzt gehandelt, d. h. entschieden werden muß. Befindet das Gericht z. B., ein angenommenes Bedenken sei gegenstandslos oder glaubt es, ein Unterlassen oder Zögern beruhe auf dem unrichtigen Gebrauch des Ermessens, z. B. hinsichtlich der Priorität (evtl. auch der sog. Opportunitätsmaxime), so hat es nach seiner objektiven Beurteilung und nach Maßgabe der jetzt ersichtlichen rechtlichen oder tatsächlichen Lage zu entscheiden (ebenso wie wenn bei der Anfechtung eines vorgenommenen Aktes die Norm, auf die er gestützt war, als ungültig befunden wird). Ein Urteil über das Verhalten der Behörde i n deren Situation fällt es damit noch nicht. 4 Die Abgeordneten haben nach der Rechtsprechung keine Amtspflicht gegenüber den Betroffenen. Diese Verantwortung k a n n i n concreto aber auch verschieden liegen für die örtlichen u n d die oberen Stellen. Bekanntlich w i r d die Verantwortung häufig nach oben abgeschoben (s. die angeführten Beispiele). Deshalb k a n n davon, wo die Verantwortung liegt, auch abhängen, ob überhaupt i n der konkreten Angelegenheit eine Pflicht gegenüber dem Betroffenen verletzt ist. Es sei n u r bemerkt, daß E § 25 I diese Schwierigkeit f ü r den Rechtssuchenden nicht beseitigen kann.
Der A m t s h a f t u n g s t a t b e t a n d i m Staatshaftungsrecht
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W i l l man die genannten Kriterien des § 75, aber gleichwohl auch dafür heranziehen, ob eine objektive Pflichtverletzung m i t haftungsrechtlichen Folgen, also i. S. des Entwurfs § 1, vorliegt, so stößt man auf die Schwierigkeit, daß § 75 lauter unbestimmte Begriffe verwendet. Es bestehen nämlich keineswegs für alle vorkommenden (in obigen Beispielen nur unvollständig angedeuteten) Situationen objektive Vorschriften darüber, innerhalb welcher Frist eine Sache zu erledigen ist. Die unbestimmten Begriffe des § 75 lassen sich aber auch nicht zu objektiven Regeln für alle vorkommenden Situationen konkretisieren, ohne die objektive Sorgfaltspflicht i n zahllose Individualregeln aufzuspalten. Ohne das — dem Einzelfall besser gerechtwerdende — Verschulden w i r d hier nicht auszukommen sein (dazu noch unten S. 576). Insofern hat die Rechtsprechung zu § 839 — trotz der weitgehenden Objektivierung der Amtspflicht — das Element des Verschuldens zu Recht nicht grundsätzlich aufgegeben. Mindestens w i r d die allgemeine Formel des E § 1 der Praxis hier erhebliche Probleme aufgeben, und es erscheint, soweit die Begründung ersehen läßt, fraglich, ob der Entw u r f die Praktikabilität des § 1 im Blick auf das wichtige Gebiet der Unterlassungen oder Verzögerungen ausreichend erwogen hat. Auch die Berücksichtigung des Verschuldensgrades i n E § 2 I I bietet hier keine Abhilfe. Denn § 2 I I betrifft nur die Minderung der Ersatzleistung wegen evtl. geringen oder fehlenden Verschuldens, nicht den Haftungsgrund, der i n der objektiven Pflichtverletzung liegen soll. I m übrigen w i r d das Ziel, die „leidige Verschuldensfrage" und die darauf beruhenden Unsicherheiten der Prozeßaussichten zu eliminieren, schwerlich erreicht werden, wenn davon jedenfalls der Haftungstira/anp abhängt. 2. Gewichtige Unsicherheiten ergeben sich aus dem Wortlaut des Entwurfs § 1 auch für die Frage, wann eine Amtspflicht gegenüber dem Betroffenen verletzt ist; sicher dann, wenn ein schon bestehendes Recht verletzt w i r d (E § 1, S. 1), was pflichtmäßig zu vermeiden ist. Schon beim sog. enteignungsgleichen Eingriff ist aber die Frage entstanden: Wie, wenn die Behörde das Recht (Gewerbeerlaubnis, Baukonsens etc.) erst schaffen soll, dies aber unterläßt oder verzögert? Die Rechtsprechung (BGH 19, 1 bes. S. 5; NJW 1965, S. 1912) hat aber Entschädigung zugesprochen, wenn i h m die Erlaubnis rechtswidrig „vorenthalten" wurde, hat also i n dem Anspruch auf Erteilung das verletzbare Recht gesehen (vergleichbar dem „Rechtsschutzanspruch auf günstiges Urteil") (vgl. Begr., S. 42 oben). — Nach E § 1 kann sich aber die Frage stellen, ob nicht auch durch unbegründete Anträge (oder „Anregungen" des Betroffenen zum Einschreiten von Amts wegen) ein öffentlich-rechtliches Pflichtenverhältnis und ein verletzbares Recht des Antragenden (oder Anregenden) entsteht, nämlich auf Bearbeitung
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und Bescheidung (vergleichbar dem Anspruch auf Justizgewährung überhaupt). Das ist nicht zu verwechseln m i t der Frage, ob die Behörde für die Richtigkeit einer tatsächlich erteilten Auskunft einstehen muß, sondern es geht u m die Haftung dafür, daß ein Bescheid unterlassen oder verzögert worden ist, auch wenn ein gesetzliches Recht auf Auskunft (z. B. § 23 ZollGes) nicht vorgesehen ist. Denn schon von dem Bescheid — gleich, ob er ablehnend oder positiv ausfallen müßte — können wichtige Dispositionen abhängen 5 . Ob sich eine solche Pflicht zur Bescheidung auch aus dem Recht auf Gehör (nicht nur vor den Gerichten) oder dem Gedanken des sozialen Rechtsstaats ableiten ließe, kann hier nicht verfolgt werden. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, daß die Rechtsprechung eine Amtspflicht gegenüber dem Betroffenen i n weiterem Umfang (als bisher zu § 839) annimmt, je mehr der Einzelne m i t seinen Dispositionen von behördlichen Entscheidungen abhängig wird. Auch i n dieser Entwicklung t r i t t die „Überlegenheit der öffentlichen Gewalt" i n Erscheinung. Aber das Gesagte zeigt, daß die soeben gestellte Frage nicht nur unter dem Gesichtspunkt der (deliktischen) Amtshaftung zu stellen ist, sondern schon unter dem der Haftung aus einem öffentlich-rechtlichen Pf licht Verhältnis. Die Frage läuft also darauf hinaus, ob schon (vor einer etwaigen Pflichtverletzung) durch entsprechende Anträge oder Anregungen 6 ein öffentlich-rechtliches Pflichtenverhältnis, gerichtet auf Bearbeitung und Bescheidung, entsteht; anders ausgedrückt: ob dieser Begriff auf solche Beziehungen zu erstrecken ist. III. Das führt auf die grundsätzliche Frage, ob durch den Tatbestand des E § 1 i. V. m i t Entwurf § 16 I das Verhältnis der Amtshaftung zur Haftung aus öffentlich-rechtlichen Pflichtverhältnissen richtig bestimmt 5 Eine Parallele bildet die H a f t u n g auf das sog. negative Interesse bei unterlassener A n t w o r t auf Aufträge, § 44 I I B R A O oder § 663 B G B (Staudinger - Nipperdey, 11. Aufl., A n m . I V 2). Vgl. B G H 51, 64: Untätigkeitsbeschwerde (§ 62 I I I GWB) zulässig (also Recht auf Bescheidung anerkannt) bei einer Anregung zum Einschreiten des Kartellamts von A m t s wegen, obw o h l die Untätigkeitsklage n u r für zulässig, sachlich aber für unbegründet befunden wurde. Allgemeiner über die Amtspflicht (nach § 839) zur Bearbeitung u n d Bescheidung binnen angemessener Frist: B G H 15, 308 (S. 312 auch über das Verhältnis zur Untätigkeitsklage). Das Ganze ist also keineswegs n u r f ü r die Z o l l - oder Steuerverwaltung wichtig. 0 Von ganz sinnlosen oder ganz Unbeteiligten gestellten natürlich abgesehen; ob auch hier § 42 V w G O den richtigen Ansatzpunkt bietet, mag dahinstehen.
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ist. Nach § 16 I soll zwischen der Haftung aus öffentlich-rechtlichen Verträgen und „ähnlichen" Rechtsverhältnissen Anspruchs-Konkurrenz bestehen (Begr. S. 114, Ziff. 1). Das hat bei dem Umfang der Leistungsverwaltung erhebliche Tragweite. Hierher gehören Anstaltsnutzungsverhältnisse (Begründung a.a.O.), aber auch Sozialversicherung, weitgehend auch Inanspruchnahme von Justizorganen (Grundbuchämter, Gerichtsvollzieher). I m Sinne des Entwurfs sind diese Verhältnisse, wenn sie auch nicht aus Vertrag entstehen, wohl ebenfalls als „ähnliche" (§ 16) zu verstehen. Denn auch aus Hoheitsakten i m engeren Sinne (oben S. 568) (wie Beschlagnahmen) können Pflichtverhältnisse (ζ. B. auf Verwahrung und evtl. Rückgabe) entstehen. I n all solchen Fällen handelt es sich u m öffentlich-rechtliche Leistungspflichten. Die materielle Konkurrenz 7 zwischen diesem öffentlich-rechtlichen „Leistungsschuldrecht" und der deliktischen Amtshaftung besteht schon nach § 839. Denn die — nach Erlaß des BGB allerdings erst allmählich durchgedrungenen — Lehre 8 versteht die Amtspflichtverletzung nur als einen „Sondertatbestand" des allgemeinen Deliktsrechts, dessen hier wesentliche Besonderheit (von Nebenfragen wie Verjährungsfristen abgesehen) darin besteht, daß er — gegenüber §§ 823 ff. — ganz allgemein gegen Verletzung von Leistungspflichten auch deliktischen Haftungsschutz gewährt, also auch „obligatorische" Rechte des Gläubigers schützt, Aber die dadurch entstehende umfassende Konkurrenz beruht offenbar auf der überholten Vorstellung, daß a) die Anerkennung vertraglicher (oder ähnlicher) Pflichten für öffentlich-rechtliche Beziehungen unangemessen sei 9 , und b) daß mangels solcher Pflichten nur Deliktsschutz i n Betracht komme. Aber bekanntlich entstehen schon i m Privatrecht Leistungspflichten nicht nur durch Vertrag 1 0 , und das Bestehen öffent7
I h r e mißlichen prozessualen Folgen (Spaltung der Rechtswege) w i l l E §§ 24 ff., Begründung S. 130 - 136, dagegen i n m. E. grundsätzlich richtiger Weise durch Konzentration auf einen Rechtsweg beseitigen. I n diesem Beitrag kann das nicht näher behandelt werden. 8 Siehe z. B. noch P. Oertmann, Schuldrechtskommentar, 3. Aufl. 1929, § 839 A 2 b, c. Material zur heutigen Lehre u n d Rechtsprechung bei H. J. Papier, Die Forderungsverletzung i m öffentlichen Recht, Sehr, zum öffentlichen Recht 136, B e r l i n 1970. (P. v e r t r i t t aber zur lex lata hier nicht zu erörternde Sondermeinungen.) 9 Das hat bekanntlich besonders O. Mayer ausgeführt. Er verneint auch bei der Post eigentliche Beförderungsansprüche, Verw. Recht, 3. Aufl., § 51 S. 283. 10 Noch die Umstellung von der Vertrags- auf (deliktische) Amtshaftung durch die Notar-O v. 1938, § 21, beruhte auf der irrigen Annahme, w e n n eine Amtspflicht auch gegenüber einem am Vertrage nicht beteiligten D r i t ten (z. B. Vermächtnisnehmer) bestehen solle, könne das n u r durch ihre deliktische Qualifikation erreicht werden.
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lich-rechtlicher Leistungspflichten ist heute, wie auch E § 16 zeigt, wohl kaum noch bestritten. Nur werden sie häufig bei den „nutzbaren A n stalten" abgehandelt und daher richtet sich das Augenmerk mehr auf deren Probleme (Anstaltsordnung, Recht auf Zulassung zur Nutzung). Jedenfalls bestehen besonders für die sog. Leistungsstörungen nur vereinzelte öffentlich-rechtliche Vorschriften. Diese regeln teils die Rückgängigmachung rechtswidrig herbeigeführter „Erfolge" („Folgebeseitigung", z. B. § 53 GBO) oder Rechtsbehelfe gegen Leistungsverweigerung (§ 766 I I ZPO), teils aber auch die Ersatzhaftung (Post Ges). Solche Vorschriften erwähnt Entwurf § 18 Z. 8, 9 und erhält sie aufrecht. Aber allgemeine Vorschriften fehlen. Sie werden bekanntlich durch „entsprechende" Anwendung, z. B. der §§ 278, 282 BGB, ersetzt. (Weitergehende Analogien bei öffentlicher Wasserversorgung: B G H 59, 305.) Zwar nicht alle Fragen lassen sich durch solche Analogien sachgemäß beantworten (s. unten Ziff. 3 b). Aber das rechtfertigt nicht eine durchgehende Konkurrenz der Haftung nach Entwurf § 1 (bzw. § 839) mit der aus öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnissen. Sie ist teils entbehrlich, weil aus diesem allgemeinen Tatbestand des Entwurfs auch das erst entwickelt werden muß, was immerhin (vgl. den vorigen Absatz) schon ausgearbeitet vorliegt, teils führt sie zu sinnwidrigen Ergebnissen. Das zeigen i n der hier gebotenen Kürze folgende Überlegungen: 1. Daß der Leistungsträger unmittelbar (nicht erst kraft Überleitung einer persönlichen Haftung des Beamten), ferner nicht nur „subsidiär" haftet, versteht sich bei Schuldverhältnissen von selbst, desgl. (§ 278 BGB) der Ausschluß eines Entlastungsbeweises. 2. Auch i n öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnissen w i r d für die Verletzung von Haupt- wie sog. Nebenpflichten (z. B. auf Verwahrung oder Rückgabe) gehaftet. Ein zusätzlicher Deliktsschutz (über §§ 823 ff. hinaus) ist nach bisherigem wie nach geplantem künftigen Recht teils gegenstandslos, teils verwirrend: Die konkurrierende Minderungsklausel (E § 2) ist gegenstandslos, wenn i n Schuldverhältnissen auf vollen Ersatz gehaftet w i r d (Begr. S. 115.) 10a . Das Problem, ob Haftungsbeschränkungen (z. B. i n öffentlich-rechtlichen Verträgen oder Anstaltsordnungen) sich auch auf die Haftung nach § 1 beziehen, w i r d durch dessen — gegenüber § 839 — umfassenderen Tatbestand noch vergrößert. (vgl. B G H 61, 13) Nach bisherigem Recht kann der Beamte (über
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Uber Ausschluß des Folgebeseitigungsanspruchs bei Nichterfüllung s. Begr. S. 88. Daß hier aber nur Geldersatz nach E. § 2 (also m i t Minderungsmöglichkeit) zu leisten sei, stimmt nicht m i t S. 115 oben.
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§ 823 hinaus) dem Dritten sogar für bloßen Verzug haften 1 1 (im Gegensatz zu einem Speditionsgehilfen), desgl. bei Freizeichnungen 12 . 3. Auch die haftungsrechtliche Bedeutung des Verschuldens w i r d durch das Recht der Leistungsverhältnisse sachgemäßer geregelt als durch E § 1. a) Bei entsprechender Anwendung des Privatrechts hat sich der Schuldner bei Unmöglichkeit (z. B. der Rückgabe einer beschlagnahmten Sache) zu entlasten (§ 282 BGB). Da eine Überlegenheit der öffentlichen Gewalt bei diesen Verhältnissen keineswegs i m Spiele zu sein braucht, läßt sich daraus eine weitergehende Eliminierung des Verschuldens auch nicht ableiten. Jedenfalls i m engeren Sinne von Zwangsgewalt liegt sie auch nicht vor zwischen Gerichtsvollzieher und Gläubiger 1 3 oder zwischen Grundbuchamt (bzw. vergleichbaren Amtsstellen) und Beteiligten 1 4 . Allenfalls ließe sich die (weitergehende, B G H 61, 120) Umkehr der Behauptungs- und Beweislast dafür begründen, daß die Unmöglichkeit bzw. andere Leistungsstörungen auf einen Umstand i n der Sphäre der öffentlichen Gewalt zurückzuführen ist. b) Für die wichtigen Fälle verzögerter Amtshandlungen fehlt es (mit geringen Ausnahmen) an öffentlich-rechtlichen Vorschriften, nach denen sich die objektive Rechtswidrigkeit der Verzögerung feststellen ließe (oben S. 571). Zwar ließe sich auch hier an die Beweislastumkehr für das Vertretenmüssen entsprechend § 285 BGB denken. Schwerlich werden aber die Verwaltungen einverstanden sein, wenn sich eine Verzugshaftung einfach an Kalenderfälligkeiten bzw. Fälligkeit und 11 A u f dies Ergebnis hatte schon O. Mayer hingewiesen. (VerwR, 3. Aufl., § 18, S. 186.) 12 Nachdem die Post, v o m „Vertragsdenken" befreit (RG 158, 83), dem § 839 m i t A r t . 34 unterstellt war, rettete zwar der B G H (12, 89) die postgesetzlichen Haftungsbeschränkungen als vereinbar m i t A r t . 34. Folge: Die Post mußte den n u n persönlich haftenden Beamten benennen (BVerwGE 10, 274). Nach Maßgabe der Grundsätze über gefahrengeneigte A r b e i t (bzw. beamtenrechtliche Fürsorgepflicht) muß i h m am Ende die Post die Haftung oft wieder abnehmen; alles wenig sinnreiche Folgen davon, daß die Amtshaftung m i t der Haftung aus dem Schuldverhältnis konkurriert. Z u r Posthaftung nach dem E n t w u r f s. unten Ziff. 4. 13 Daß das RG (VZS 82, 85 ff.) dies Verhältnis haftungsrechtlich (i. S. der damaligen Rechtslage) als Ausübung öffentlicher Gewalt qualifiziert hat, w a r ein wichtiger Markstein i n der Ausdehnung dieses Begriffs (s. S. 86: Fürsorge). S. 87 unten ist aber auch v o m Monopol u n d der dadurch beschränkten Auswahlfreiheit des Publikums die Rede. (Dazu die nächste Anm.) 14 Die Überlegenheit t r i t t hier anders, nämlich als Monopol der Amtsstellen i n Erscheinung. Wollte der E n t w u r f diesen Begriff von Überlegenheit zugrundelegen, so könnte er aber die entsprechenden Teile des Postwesens nicht von der Amtshaftung ausnehmen (vgl. unten Ziff. 4).
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Mahnung knüpfen soll (§ 284 BGB). Es kann aber auch nicht rechtens sein, daß ein Gläubiger auf Feststellungsvermerke, Kassenanweisungen und Auszahlungen beliebig lange warten muß oder sich Zinsen nur durch Klage verschaffen kann (§§ 291, aber auch 288 II, 289, S. 2). So dürfte sich erneut bestätigen, daß sich auch hier ohne die Voraussetzung des (evtl. durch Beweisregeln modifizierten) Verschuldens sachgemäße Ergebnisse schwerlich erreichen lassen. Das hat (wie auch oben S. 571) nichts mit „privatrechtlicher Betrachtungsweise" zu tun, sondern folgt gerade aus den Gegebenheiten der Verwaltung 1 4 a . 4. Der Entwurf sucht die Konkurrenz durch ein verwickeltes System von Ausnahmen und Gegenausnahmen zu beschränken, das z. T. zu schwerlich überzeugenden Differenzierungen führt. Bei ausschließlicher Verweisung in das Privatrecht (E § 17, oben S. 568) w i r d dem Dritten deliktisch nur nach §§ 823 BGB gehaftet, nach den Haftpflichtgesetzen evtl. außerdem für Körper- und Sachschäden; i n öffentlich-rechtlichen Verhältnissen dagegen nach E § 16 I i. V. m i t § 1 für Verletzung aller (auch „obligatorischer") Rechte. Dagegen soll hier der Beamte nach außen überhaupt nicht haften (§ 1 III), also auch nicht bei vorsätzlichem Delikt i. S. des § 823 BGB. (Warum soll der Bedienstete der Sozialversicherung oder der Hinterlegungsstelle auch darin anders behandelt werden als Bedienstete der Privatversicherungen oder Banken?) — Die Post w i r d von der Amtshaftung des § 1 wiederum (zunächst) gänzlich eximiert (vgl. E § 33 Z. 1, anders aber bei Protesten und Zustellungen, Z. 3). I n dem privatrechtlich geregelten Postreisedienst haftet sie nur nach Vertrag und bürgerlichem Deliktsrecht 1 5 . Bei allen anderen Diensten soll sie für „Verletzung ihrer Dienstleistungspflichten" nur nach dem Postgesetz (mit dessen Haftungsbeschränkungen) haften, bei vorsätzlich herbeigeführtem Schaden 16 aber auch nach E § 1, s. § 33 Ziff. 1, I 2. Der einzelne Postbeamte soll dem Dritten (wie nach dem für die Post zunächst ausgeschlossenen § 1 III) nach E § 33 Z. 1 Abs. 2 in keinem Falle haften. IV. Nach den Ausführungen zu I I und I I I müßte die Überlegenheit der öffentlichen Gewalt, gerade wenn man diesen Begriff zur Grundlage 14a
Über vereinzelte Vorschriften (teils Ausschluß von Verzugszinsen, teils Zubilligung auch ohne Verzug) s. Papier (Anm. 8) S. 1341 Vgl. auch §§ 15, 18 BBauGes. 15 (Nur) hier meint auch die Begründung (S. 144, Z. 4), eine konkurrierende Amtshaftung sei „unnötig kompliziert". 16 Soll sich der Vorsatz auf den Schaden oder die Pflichtverletzung beziehen? Soll die Post f ü r vorsätzlich herbeigeführten Verzug nach § 1 haften?
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machen kann und w i l l , also präziser gefaßt werden. Diese Fassung müßte verwirrende und sinnwidrige Konkurrenzen der Amtshaftung mit der Haftung aus Schuldverhältnissen vermeiden, ferner die Haftung für rechtswidrige und rechtmäßige Beeinträchtigungen möglichst klar abgrenzen. Sie müßte aber auch die Vorfrage beantworten, wann und warum es neben der allgemeinen Deliktshaftung einer eigenständigen Amtshaftung bedarf. Schließlich ist zu klären, ob durch eine solche präzisere (engere) Fassung eine „Lücke" entsteht, die evtl. durch eine Gefährdungshaftung ausgefüllt werden müßte. 1. U m die Überlegenheit der öffentlichen Gewalt präziser zu bestimmen, ist von der Frage auszugehen, worin ihr Unterschied gegenüber der Handlungsfreiheit Privater i n faßbarer Weise i n Erscheinung tritt. Dieser Unterschied t r i t t i n folgendem hervor: Der Private muß auch bei zweifelhafter Rechts- oder Sachlage (ζ. B. m i t Wettbewerbshandlungen) bis zu deren Klärung warten, widrigenfalls er (jedenfalls objektiv) rechtswidrig gehandelt hat, wenn die endgültige Klärung ergibt, daß die objektiven Voraussetzungen seines Verhaltens fehlten. Die öffentliche Hand darf (und muß sogar) i n vielen Fällen vor endgültiger Klärung auch solche Amtshandlungen vornehmen, die die Rechte Einzelner beeinträchtigen. I n faßbarer Weise zeigt sich das i n ihrer Rechtsmacht, schon vor endgültiger Klärung vorläufig verbindliche Rechtsentscheidungen zu erlassen, und zu den Rechtsentscheidungen gehören i n einer gesetzesgebundenen Verwaltung auch Verwaltungsakte, die die Rechte Einzelner berühren. Diese vorläufige Verbindlichkeit zeigt sich nicht nur darin, daß solche Entscheidungen vielfach vorläufig vollstreckbar (vollziehbar) sind; ihnen eignet auch eine vorläufige Rechtmäßigkeit (Verbindlichkeit): Der Betroffene muß sie (vorläufig) hinnehmen. Notwehr und Widerstand sind ausgeschlossen, die zuständigen Behörden müssen sie ausführen. Für diese Problematik der Rechtswidrigkeit vorläufig verbindlicher, aber endgültig rechtswidriger Entscheidungen gibt es i m allgemeinen Deliktsrecht keine Parallele. Der Erlaß solcher Entscheidungen ist daher nicht einfach ein „Sondertatbestand" des allgemeinen Deliktsrechts. Deshalb bedarf es hier eigener Regelungen, von denen die Amtshaftung ein Teil ist (s. zu 2 und 3). Sie bildet deshalb ebenfalls nicht nur einen deliktischen Sondertatbestand 17 .
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Obige Gedanken sind näher ausgeführt i n meinem Beitrag zur Festschrift für K . Larenz (1972): Zur Rechtswidrigkeit als Haftungsgrund bei der Amtshaftung und beim sog. enteignungsgleichen Eingriff. Aus Raumgründen muß ich zur näheren Begründung an einigen Stellen hierauf Bezug nehmen. Z u obigem vgl. dort bes. S. 928 ff. 37 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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Die Probleme, die bei der Abgrenzung rechtswidriger und sog. rechtmäßiger Eingriffe entstanden sind, beruhen großenteils darauf, daß dieses Entweder-Oder auf einer rein materiell-rechtlichen Betrachtungsweise beruht, bei der die Endgültigkeit der einen oder anderen Qualifikation schon vorausgesetzt wird. Dabei fällt unter den Tisch, daß die Rechtserkenntnis ein Prozeß ist, der Zeit erfordert, daß aber (s. den vorigen Absatz) die öffentliche Gewalt oft schon entscheiden muß, ehe diese endgültige Klärung möglich ist 1 8 . Diese Notwendigkeit bedingt, daß die Voraussetzungen festgesetzt werden müssen, unter denen Entscheidungen erlassen werden können, die — obwohl ihr „Erfolg" sich endgültig als rechtswidrig erweisen kann, doch i n dem angegebenen Sinne — vorläufig verbindlich (rechtmäßig) sind, aber endgültige Schäden verursachen können. Damit entsteht die Frage, ob sie (im Blick auf die Rechtswidrigkeit ihres „Erfolges") auch auf rechtswidrigem Verhalten beruhen müssen und deshalb unter die Amtshaftung fallen oder ob es zusätzlicher Haftungsregeln bedarf. 2. Daß rechtswidriges Verhalten nicht vorzuliegen braucht, zeigen die Vorschriften, die für den Erlaß vorläufiger Entscheidungen die Pflicht zur Prüfung der Voraussetzungen begrenzen, von denen die endgültige Rechtmäßigkeit (Rechtswidrigkeit) abhängt. Solche Regeln bestehen nach geschriebenem, teils auch nach ungeschriebenem Recht. Soweit sie i n den Gesetzen stehen, ist auch der Gesetzgeber auf die Notwendigkeit einer eigenen Haftungsregelung gestoßen, hat diese aber nur allmählich stückweise geregelt, zunächst i m Zivilprozeß. So w i r d gehaftet für Schäden, die auf Entscheidungen beruhen, die das Gericht aufgrund des Gebotes begrenzter Prüfung i m Urkundenprozeß als sog. Vorbehaltsurteil erlassen muß (§ 600 I I ZPO; i m Falle des dort zitierten § 302 ZPO besteht nur ein Recht, d. h. ein Dürfen, bezüglich des Erlasses einer Vorbehaltsentscheidung). a) I n §§ 917, 935, 946 ZPO heißt es, daß Arreste (bzw. einstweilige Verfügungen) „stattfinden" bzw. „zulässig" sind, wenn die entsprechenden Voraussetzungen auch nur glaubhaft gemacht sind. Auch hier w i r d zutreffendenfalls nach § 945 gehaftet. Dies betrifft zunächst die Haftung des privatinteressierten Gläubigers, nicht eine Staatshaftung. Dagegen kommt nach der Struktur des neuzeitlichen Strafprozesses Staatshaftung i n Betracht wegen des Vollzuges von Haftbefehlen, für die ebenfalls dringender Tatverdacht genügt, wenn die Untersu-
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Die Bedeutung dieses Zeitmoments für die Probleme der Staatshaftung hat N. Luhmann betont: öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 24 (1965), S. 135.
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chungshaft sich als „unschuldig erlitten" herausstellt. (Reichsgesetz v. 14. 7. 04, jetzt weitere Fassung durch Bundes-Gesetz v. 8. 3. 71) 19 . Aber die ganze Regelung ist unsystematisch. Vor allem gilt das für die Verwaltung. Denn gerade hier spielt es eine Rolle, daß i n vielen Fällen schon vor abschließender Prüfung gehandelt werden muß. Nun ist bei gesetzlicher Einführung der einstweiligen Anordnung i n das Verwaltungsstreitverfahren § 945 ZPO für entsprechend anwendbar erklärt und damit eine Staatshaftung begründet worden (falls die betreffende Prozeßpartei zur öffentlichen Hand gehört). Eine Einzelregelung enthält z. B. § 116 V I BBauG. Aber i m übrigen fehlen Regelungen, obwohl auch i n vielen anderen Fällen verbindliche (vollziehbare) Entscheidungen vor abschließender, also aufgrund begrenzter Prüfung ergehen können. Ein typischer Fall ist das Einschreiten bei sog. Scheingefahr, die sich (endgültig) als gar nicht gegeben erweist. Es gehören hierher aber alle (hier nicht vollständig aufzuzählende) Fälle, i n denen alsbald vollziehbare Entscheidungen, Anordnungen (auch Leistungsbescheide auf Steuerrückstände, Sozialversicherungsbeiträge u. a.) ergehen können, deren Vollzug endgültige Schäden verursachen kann, weil der Betroffene nicht rechtzeitig einen Suspensiveffekt herbeiführen kann oder weil dieser i m Regelfall ausgeschlossen ist (§ 80 I I VwGO) oder der entsprechende Antrag verworfen w i r d (Abs. I V - VII). Eine Ersatzpflicht nach § 945 ZPO findet i n diesen Fällen nicht statt (§ 123 V VwGO). Aus der Verweisung des § 173 VwGO auf entsprechende Anwendung des Verfahrensrechts der ZPO läßt sich eine A n wendung des § 717 ZPO und entsprechender Ersatzpflicht schwerlich herleiten 2 0 . Aber die neuere Rechtsprechung füllt diese „Haftungslücke" tatsächlich auf andere Weise aus (s. zu c). b) Zuvor ist klarzustellen, warum diese Fallgruppe weder von der Entschädigungspflicht für „rechtmäßige Eingriffe" noch von der bisherigen (auch nicht von der geplanten) Amtshaftung erfaßt wird. Ersteres 19
Ausnahmsweise sind nach § 346 I I StPO auch Strafurteile vorläufig v o l l streckbar. Vgl. über hieraus folgende Probleme den F a l l B G H 45, 77 (Ziff. 2 u. 3). 20 Das BSozG N J W 1968, 567 wendet § 717 ZPO an f ü r den speziellen Fall, daß die öffentliche Hand aufgrund eines Titels erbrachte öffentliche Leistungen zurückfordert. § 717 ZPO ist für die i m Text behandelte Fallgruppe nicht ohne weiteres einschlägig. Sein Hauptanwendungsfall (Aufhebung einer vorl. vollstreckbaren Entscheidung durch die höhere Instanz) hängt nicht m i t begrenzter Prüfungspflicht wegen Eilbedürftigkeit zusammen. Eine solche Begrenzung hat hier (meist) für die untere Instanz gar nicht bestanden. 37»
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beruht darauf, daß — w i l l man mit der Abgrenzung rechtswidriger und rechtmäßiger Eingriffe zu Rande kommen — als rechtmäßig nur diejenigen zu bezeichnen sind, bei denen die objektiven Voraussetzungen der betreffenden Entscheidung i n dem Sinne gegeben sind, daß sie i m Interesse des Gemeinwohls endgültig (nicht nur vorläufig) hinzunehmen ist (vgl. unten zu V). Die Amtshaftung erfaßt diese Fälle nicht, weil und soweit das Verhalten des Beamten, wenn es den Anforderungen der begrenzten Prüfungspflicht (oben a) genügt, rechtmäßig ist, obwohl es zu einem (endgültig) rechtswidrigen „Erfolg" führt. Entw u r f § 1 (wie § 839) setzt dagegen eine Pflichtwidrigkeit, d. h. (jedenfalls objektive) Rechtswidrigkeit des Verhaltens, voraus. Die Begr. (S. 75) glaubt allerdings, durch E § 1 S. 1, evtl. i. Vb. mit S. 2, der (schlagwortmäßigen) Alternative: Verhaltens- oder Erfolgsunrecht zu entgehen, weil jede Rechtsverletzung gleichzeitig die Verletzung der Pflicht enthalte, solche „Erfolge" zu vermeiden. I n der Tat besteht das (hier i n Betracht kommende) Verhalten gerade i n der Prüfung der objektiven Voraussetzungen der Amtshandlung. Diese notwendige Verbindung von rechtswidrigem Erfolg und rechtswidrigem Verhalten besteht bei der hier behandelten Fallgruppe aber nicht. Das Verhalten des Richters, der ein (im Nachverfahren als endgültig rechtswidrig) aufgehobenes Vorbehaltsurteil erläßt, was ihm die ZPO gebietet, ist sicher nicht rechtswidrig. Ebenso liegt es i n den genannten anderen Fällen. So hat auch das preuss. OVG das Einschreiten bei Scheingefahr, wenn der — durch die Umstände begrenzten Prüfungspflicht genügt war, für rechtmäßig erklärt 2 1 . Die dargelegte Fallgruppe hat auch die von Luhmann (S. 134) geforderten klaren Konturen 2 2 . Eine Regelung fehlt vor allem für die Verwaltung. 21 E 77, 333 ff. (gegen P r V e r w B l . 38, 360: nur schuldlos). Vgl. a. B V e r w G DVB1. 1960, S. 726. Neuerdings hat der B G H das Armenrecht gegen 2 O L G Urteile versagt, nach denen die sonst bestehende Pflicht zur Ausschöpfung aller diagnostischen Möglichkeiten bei Massenaktionen (Rö-Durchleuchtungen) begrenzt sein könne, w e n n diese sonst zeit- u n d kostenmäßig undurchführbar würden; nach dem 2. U r t e i l handelt ein Amtsarzt pflichtmäßig, der (nach dem derzeitigen Stande der wissenschaftlichen Erkenntnis) die V e r erblichkeit einer K r a n k h e i t (im Ergebnis irrig) verneint. (Freundliche M i t teilung eines Mitgliedes des I I I . ZS des BGH.) I n a l l solchen Fällen ist der Irrtum (bzw. Zweifel über den E i n t r i t t des Erfolges) nicht nur evtl. schuldlos, sondern — wegen der Grenzen der Prüfungspflicht — unerheblich für die Rechtmäßigkeit des Verhaltens. 22 Z u der hier besprochenen Fallgruppe vgl. Luhmann, a.a.O., Kap. 10: Haftung f ü r rechtswidrige Folgen rechtmäßigen Handelns. Dazu § 2 seines Entwurfs (S. 233): Haftung für eine Rechtsverletzung (durch rechtmäßiges hoheitliches Handeln), „deren Voraussicht das Handeln rechtswidrig gemacht haben würde". M. E. geht es nicht u m eine K r i t i k des ursprünglichen Verhaltens aufgrund einer „objektiven nachträglichen Prognose", sondern G r u n d -
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c) Diese „Haftungslücke" hat die Rechtsprechung mit Hilfe des sog. (rechtswidrigen, aber) „enteignungsgleichen" Eingriffs erfaßt, denn bei diesem kommt es auf die Rechtswidrigkeit des zugrunde liegenden Verhaltens nicht an, sondern nur auf die der „tatsächlichen Wirkung" (BGH 45, 76), also des Erfolges. Es ist öfter bemerkt worden, daß dieses Institut eine hybride Mischung aus den Folgen rechtswidriger und rechtmäßiger Eingriffe ist. Denn ein um des Gemeinwohls willen endgültig hinzunehmender Eingriff liegt nicht vor. Insofern w i l l der Entwurf dieses Institut zu Recht beseitigen. (Das soll E § 15, S. 1 besagen, Begr. S. 112 Z. 1). Die Staatshaftung nach den speziellen Straf- (und disziplinarrechtlichen) Entschädigungsgesetzen w i l l er aufrechterhalten (E § 18, Z. 3 - 5). Als allgemeines Haftungsprinzip sieht er (neben dem Folgenbeseitigungsanspruch, E § 3) eine Ersatzhaftung vor, falls Folgenbeseitigung nicht möglich oder nicht ausreichend ist (E § 4 II, Begr., S. 94, Ziff. 2). Aber er bindet den Folgenbeseitigungsanspruch und damit auch die an dessen Stelle tretende Ersatzhaftung an eine Rechtspflichtverletzung (s. E § 3, Anfang), also wohl zweifellos an rechtswidriges Verhalten i. S. des Entwurfs § 1 („einheitlicher staatshaftungsrechtlicher Grundtatbestand", Begr., S. 73, Z. 4 [der Anspruch] „kann nur durch ein rechtswidriges Handeln begründet werden", Begr., S. 93, Z. 1). Damit würde die Situation, daß aus rechtmäßigem Handeln ein (endgültig) rechtswidriger Erfolg hervorgehen kann, soweit zu ersehen, nicht erfaßt 23 . Ihre haftungsrechtliche Regelung ist daher, neben der der Amtshaftung, eine eigene Aufgabe. läge einer Haftungsregelung kann n u r das objektiv unterschiedliche Ergebnis des vorläufigen u n d des endgültigen Verfahrens sein. Von diesen Fällen, i n denen für vorläufige Entscheidungen wegen besonderen Zeitdrucks die Prüfungspflicht begrenzt ist, ist zu unterscheiden, daß der überall bestehende zeitliche Zwang zum Verfahrensabschluß auch Begrenzungen i m ordentlichen Verfahren bedingt (dazu m. Beitrag „Die Entscheidung", Festschr. f. E. R. Huber, 1972, S. 323 f., auch S. 314 f.). Dadurch k a n n auch die endgültige Entscheidung „unrichtig" u n d i m Falle der Wiederaufnahme zur „vorläufigen" werden. (Dann Staatshaftung nach den Gesetzen v. 1898/1971) I m übrigen w i r d diese „Unrichtigkeit" (inter partes!) durch die Rechtskraft gedeckt (s. unten V 1). Es kann aber die (hier nicht verfolgbare) Frage der Staatshaftung entstehen, s. z.B. B G H 50, 17; dazu a.a.O. (Anm. 17), S. 933 A. 17; jetzt E §7.2. 23 Auch § 3 des von der Begr. i n Bezug genommenen SchweizBGes v. 14. 3.1958 spricht von rechtswidrigem Verhalten. Andererseits w i l l der E n t w u r f Gesetze aufheben, die — bisher auffallenderweise — Ersatzpflicht schon an rechtswidrige Maßnahmen unabhängig von rechtswidrigem Verhalten knüpfen, vgl. E § 34, Ziff. 14, 15. Wie sich dazu wiederum der Satz (Begr. S. 75/76) verhält, daß auch bei Wahrung der objektiv gebotenen Sorgfalt der Erlaß jedes (objektiv) rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakts
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3. Die Erkenntnis der Eigenart dieser Fallgruppe ermöglicht aber zugleich die präzisere (engere) Fassung der Überlegenheit der öffentlichen Gewalt als eines tragenden Grundgedankens der Amtshaftung i m Unterschied zu der allgemeinen Deliktshaftung. a) I m Gegensatz zu der eben behandelten Fallgruppe setzt die Amtshaftung rechtswidriges (nach § 839 auch schuldhaftes) Verhalten voraus. Aber das ist auch ein typischer Haftungsgrund des allgemeinen Deliktsrechts. Auch die engere Fassung der Überlegenheit als „Zwangsgewalt" (oben S. 568) reicht noch nicht aus (abgesehen davon, daß der Entwurf sie in seinem § 16 I nicht folgerichtig durchführt, vgl. oben S. 575). Denn Zwangs- und Gewaltausübung sind auch dem allgemeinen Deliktsrecht als Haftungsgründe bekannt, und Überlegenheiten vielfältiger A r t gibt es auch unter Privaten 2 4 . Das Spezificum der öffentlichen Gewaltausübung liegt vielmehr darin, daß ihr vorläufige Rechtmäßigkeit (Verbindlichkeit) eignet, wenn und weil es in einer gesetzesgebundenen Verwaltung keine Zwangsausübung gibt, die nicht durch eine mindestens vorläufig verbindliche Entscheidung legitimiert ist bzw. sein muß. Insoweit kann der Tatbestand einer eigenständigen Amtshaftung nur der gleiche sein wie bei der zu 2 behandelten Fallgruppe, nämlich Haftung für (endgültige) Schäden, die aus (vorläufig) rechtmäßigen, aber (endgültig) rechtswidrigen Entscheidungen bzw. deren Vollzug entstehen, nur daß diese Entscheidungen bei der Amtshaftung aus (jedenfalls objektiv) rechtswidrigem Verhalten hervorgehen müssen (dazu noch unten Ziff. d). Daß diese Situation der Masse der Amtshaftungsfälle zugrunde liegt, zeigt die Durchsicht der Rechtsprechung zu § 839 schon rein rechtstatsächlich (sofern man die fehlerhafte Einbeziehung aller Haftungen aus öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnissen, oben I I I , ausklammert). Der Entwurf ist daher von einem durchaus richtigen Empfinden geleitet, wenn er z. B. die fehlerhafte Einbeziehung (seit RG 158, 86 gegen noch RG 139, 149) der Verkehrsunfälle von Fahrzeugen der Hoheitsverwaltungen i n die Amtshaftung wieder aufhebt (E § 17 Z. 2). Es entsteht daraus auch keine „Lücke", denn solche öffentlichen Tätigkeiten sind den allgemeinen Vorschriften ebenso unterworfen wie private (s. unten V) 2 5 . pflichtwidrig sei, bleibt m. E. unklar. — Die österreichische Reformgesetzgebung v. 1948 hat am Verschulden festgehalten, vgl. Spanner, DVB1. 1955, 545 ff. — Über das Recht der DDR vgl. Gesetz v. 12. 5.1969 (GBl. I 39.). 24 Selbst die i m Vollstreckungsrecht oft vorgetragene Lehre v o m Zwangsmonopol des Staates ist schief. Denn auch Private u n d privatrechtliche V e r bände können auf vielfältige Weise Zwang ausüben, u m Ansprüche durchzusetzen, jedenfalls i n rechtstatsächlich erheblicher Weise. 25 Anders, w e n n Feuerwehr oder Polizei z. B. von Ver kehr s vor sehr if ten eximiert sind, soweit i h r Verhalten danach rechtmäßig ist. Ob auch der „ E r -
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b) L e g t m a n das K r i t e r i u m d e r (die A m t s h a n d l u n g v o r l ä u f i g l e g i t i m i e r e n d e n ) E n t s c h e i d u n g auch d e r A m t s h a f t u n g z u g r u n d e , so lösen sich m e h r e r e P r o b l e m e f o l g e r i c h t i g v o n selbst: Z u n ä c h s t f o l g t daraus die unmittelbare
(statt d e r ü b e r g e l e i t e t e n )
Staatshaftung.
Als
Einzelner
( P r i v a t e r ) k a n n der B e a m t e v e r b i n d l i c h e E n t s c h e i d u n g e n w e d e r erlassen noch a u f h e b e n (daher auch n i c h t p e r s ö n l i c h a u f d e r e n A u f h e b u n g v e r k l a g t w e r d e n ) . Daß eine solche E n t s c h e i d u n g der ö f f e n t l i c h e n
Ge-
w a l t zugerechnet w e r d e n m u ß , b i l d e t k e i n P r o b l e m 2 6 ' 2 7 . V o n h i e r aus löst sich auch das P r o b l e m , welche
Rechte
d u r c h d i e A m t s h a f t u n g ge-
folg" rechtmäßig, d. h. endgültig i m Interesse des Gemeinwohls hinzunehmen ist, ist die Frage, von der es abhängt, ob diese Fälle (mangels legitimierender Rechtsentscheidung) nach Analogie der Fallgruppe zu 2 oder als F a l l rechtmäßigen Eingriffs zu behandeln sind. Nach A r t . 8 des Finanz-Vertrages (jetzt A r t . 41 des ZusAbk. v. 3. V I I I . 59) w i r d übrigens für die dort erwähnten Schäden gehaftet, soweit sie n u r „durch Truppenübungen verursacht" sind. Nach diesem W o r t l a u t wäre die Haftung daher von der eben bezeichneten Alternative unabhängig. Der B G H (37, 46) versteht es allerdings so, daß eine Haftung schon nach deutschem Recht gegeben sein muß. — Die Frage k a n n hier nicht vertieft werden, ob diesen Fällen der Begriff einer Gefährdungshaftung besser gerecht würde. Jedenfalls wäre hier das K r i t e r i u m einer Exemtion v o m allgemeinen Recht gegeben. Das wäre eine k l a r begrenzte Gefährdungshaftung. Daher können diese Sonderfälle nicht die Notwendigkeit einer allgemeinen öffentlich-rechtlichen Gefährdungshaftung begründen. Dasselbe g i l t für amtlichen Schuß Waffengebrauch, soweit die entsprechenden Vorschriften Exemtionen v o m allgemeinen Recht enthalten, das Verhalten diesen entspricht u n d daher rechtmäßig ist. 26 N u r zu den niemals ausschließbaren Randproblemen gehört z.B. die Frage, w a n n eine Entscheidung nichtig und daher nicht einmal vorläufig verbindlich ist. Sie ist zunächst nicht v o m Haftungsrecht zu beantworten. Haftungsrechtlich muß w o h l genügen, daß der Betroffene aus seiner individuellen Sicht (ζ. B. einer ganz unerfahrenen Person) eine solche Entscheidung wenigstens vorläufig f ü r verbindlich halten konnte. Daß dahin nicht die Ausnutzung einer amtlichen Maßnahme ζ. B. zu sexuellen Straftaten gehört, ist klar. 27 Die Tätigkeit der nichtbeamteten Notare (Begründung, S. 107 ff.) würde nicht unter obige Bestimmung der Amtshaftung fallen, w e i l sie keine (vorläufig verbindlichen) Entscheidungen zu treffen haben. Sie gehört primär i n den Bereich der öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnisse (oben I I I ) . Ist Staatshaftung geboten, w e i l viele Notare unzulänglich versichert seien (Begründung, a.a.O.), so handelte es sich u m eine Garantie der Notarhaftung aus dem Schuldverhältnis. Dazu paßt wieder nicht, daß der Notar weiterhin n u r bei Verschulden haften soll. Die Staatshaftung ließe sich nur aus einer Gewährleistung (ζ. B. der erhöhten Beweiskraft der Urkunden) herleiten. Das ganze ist ein Sondergebiet, dessen zweckmäßige Gestaltung hier nicht v e r folgt werden kann, die aber auch bei Subsumtion unter die Amtshaftung wesentliche Sonderregeln erfordert. V o r allem wäre es, soweit es nur auf unmittelbare Staatshaftung für Objekte Rechtswidrigkeit ankommt, ein I r r t u m , diese wäre n u r auf dem Wege der Deliktshaftung zu erreichen. (Vgl. Anm. 10).
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schützt sind. Daß hier nicht nur Rechte i. S. der §§ 823 ff., besonders des § 823 I geschützt sind, folgt daraus, daß Entscheidungen praktisch in alle Rechte (durch Auferlegung von Verpflichtungen z. B. auch i n das „Vermögen") eingreifen können. Die Sache liegt insofern ebenso wie beim sog. „erweiterten Enteignungsbegriff", der sich ergeben mußte, als der Staat immer mehr i n andere Rechte (als Grundeigentum) eingriff. c) Die Notwendigkeit der (vorläufig legitimierenden) Rechtsentscheidung beseitigt andererseits die entbehrliche und verwirrende Konkurrenz der Amtshaftung m i t der aus öffentlich-rechtlichen Leistungsbeziehungen (oben III). Denn die Unterlassung und Verzögerung einer Leistung ist ein „schlichtes Verhalten", das nicht durch eine solche Entscheidung legitimiert ist. Dies auch dann nicht, wenn Ablehnungsbescheide ergehen. Der „Gläubiger" hat deshalb nämlich, auch vorläufig, nicht mehr oder anderes hinzunehmen als bei schlichter Nichterfüllung. Der Unterschied liegt nur darin, daß er gegebenenfalls statt Verpflichtungs- oder schlichter Leistungsklage (auch) Anfechtungsklage erheben muß (wodurch er das Rechtskräftigwerden verhindern kann). d) Die hier entwickelte Amtshaftung setzt also (wie die Fallgruppe zu 2) voraus, daß aus vorläufig verbindlichen Entscheidungen endgültige Schäden entstehen, außerdem aber, daß das Verhalten bei Prüfung der Entscheidungsvoraussetzungen rechtswidrig (nach § 839: schuldhaft) war. Das braucht bei begrenzter Prüfungspflicht nicht der Fall zu sein (s. 2 b), natürlich kann aber auch eine begrenzte Prüfungspflicht verletzt sein, bei einstweiligen Verfügungen etc. ebenso wie bei Verwaltungsakten (vgl. B V G DVB1. 1960, S. 726: Schon die Annahme des (an sich ausreichenden) Verdachts einer Geisteskrankheit war fehlerhaft). Die bei rechtswidrigem Verhalten entstehende Konkurrenz zwischen der Amtshaftung und der zu 2 behandelten Staatshaftung hat (nicht anders als die vom B G H angenommene zwischen enteignungsgleichem Eingriff und Amtshaftung) vor allem — neben der bisherigen Subsidiarität — für den Haftungsum/ang Bedeutung: je nachdem voller Schadensersatz oder nur angemessene (bei den Spezialgesetzen oben S. 581 z. T. noch stärker begrenzte) Entschädigung 28 . 28 Nach der Minderungsklausel des E § 2 I I , I I I k a n n sich die Sache k ü n f t i g noch anders gestalten. Diese Klausel k a n n hier nicht mehr erörtert werden. U n k l a r ist m. E., was m i t „Geringfügigkeit der Rechtsverletzung" gemeint ist. Der Schaden des Betroffenen k a n n damit schwerlich gemeint sein. Wann aber eine Rechtsverletzung (unabhängig von dem Verschuldensausmaß) bei hohem Schaden geringfügig ist, ist auch i n der Begr. S. 84 nicht erläutert. Die „unverhältnismäßige Höhe des Schadens" (i. S. des § 254 BGB) ist offenbar auch nicht gemeint, denn dieser Minderungsgrund ist außerdem angeführt.
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4. Hiernach ergibt sich folgende Gliederung der Staatshaftung für rechtswidrige Beeinträchtigungen: 1. Die allgemeine Delikts- (und Gefährdungs-)haftung für schlichte Beeinträchtigungen. — 2. Die Haftung für zwar (endgültig) rechtswidrige, aber durch eine (vorläufig rechtmäßige) Entscheidung legitimierte Beeinträchtigungen, und zwar a) als Haftung sui generis ohne Rücksicht auf das zu Grunde liegende Verhalten, d. h. auch dann, wenn die Entscheidung aus rechtmäßigem Verhalten hervorgegangen ist (oben 2); b) als Amtshaftung, aber nur wenn die Entscheidung aus rechtswidrigem (bisher auch schuldhaftem) Verhalten hervorgegangen ist (oben 3); dann Konkurrenz m i t der Haftung zu a (s. oben 3 d a. E.). — 3. Die Haftung für Verletzung öffentlichrechtlicher Leistungspflichten (oben Abschnitt III.). Hier fehlt die Legitimation durch eine vorläufig verbindliche Entscheidung (oben 3 c a. E.); daher keine Konkurrenz mit den hier unter 2 genannten Haftungen, sondern nur evtl. mit der allgemeinen Deliktshaftung. V. Es bleibt zu zeigen, wie sich die beiden unter I V 2 und 3 behandelten Haftungen zu den übrigen Instituten der Staatshaftung verhalten und ob durch die hier vorgeschlagene engere Fassung des Tatbestandes der Amtshaftung (freilich i n Verbindung m i t der zu I V 2 behandelten Haftung bei rechtmäßigem Verhalten) eine Haftungslücke entsteht. 1. Rechtmäßige „Eingriffe" sind nach unserer Definition diejenigen, die i m Interesse des Gemeinwohls endgültig hinzunehmen sind, weil die entsprechenden Voraussetzungen objektiv vorliegen. (Oben I V 2 b). a) Endgültig hinzunehmen sind alle Eingriffe, die durch endgültig verbindliche („rechtskräftige") Entscheidungen gedeckt sind. (Evtl. auch durch verbindliche Planungen; s. § 153 pr. Allg. Berg.G: Verkehrsplanungen 2 8 a schließen negatorische Ansprüche der Bergwerkseigentümer aus.) Diese Definition reicht als prozessuale weiter als die eben genannte, die die Rechtmäßigkeit materiellrechtlich definiert. Denn diese prozessuale Bestimmung umfaßt auch Entscheidungen, die z. B. auf Beseitigung oder Unterlassung eines rechts-(polizei-)widrigen Zustandes bzw. Verhaltens gerichtet sind. Das Recht zum „Eingriff" gegen dem Betroffenen beruht hier materiell aber nicht auf einer Pflicht, einem konkreten Interesse des Gemeinwohls zu weichen, sondern auf der jedermann treffenden Pflicht, Rechtswidrigkeiten zu unterlassen 28a
Oder Genehmigung gewerblicher Anlagen etc. Abwehransprüche w e r den dabei vielfach auch durch Präklusion (unterlassene Anmeldung) verbindlich ausgeschlossen (z. B. nach dem neuen B.Immiss.SchutzGes. v. 15. 3.1974, §§ 10 I I I , 11, 14).
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oder deren Folgen zu beseitigen (BVfGE 20, 351). Das kann auch „Eingriffe" i n die sog. Eigentumssubstanz rechtfertigen. Ob gegen Rechtswidrigkeiten vorgegangen oder i m Interesse des Gemeinwohls i n rechtmäßige Verhältnisse eingegriffen wird, ist aus den Entscheidungsgründen zu entnehmen. Bei Eingriffen i n rechtmäßige Verhältnisse ist es jedoch erheblich, ob in die Substanz eingegriffen w i r d oder nur eine sog. „Eigentumsbindung" vorliegt. Diese Frage ist in manchen Fällen (z. B. bei klassischer Enteignung) schon durch die Eingriffsentscheidung verbindlich beantwortet, i n anderen Fällen (Natur- oder Gewässerschutz, B G H 60, 145) erst i m Ersatzprozeß verbindlich zu entscheiden. Diese Frage kann sehr schwierig sein, betrifft aber nicht die hier allein zu behandelnde Frage nach der Abgrenzung rechtswidriger und rechtmäßiger Eingriffe 2 9 . b) Bei den vielerörterten „ungezielten" Eingriffen (Nebenwirkungen) handelt es sich bei richtiger Betrachtung (s. noch unten c) um solche, die durch eine vorhergehende Entscheidung weder vorläufig (oben IV) noch endgültig (s. zu a) gedeckt sind, z. B. Störungen durch Bau oder Betrieb öffentlicher, dem Gemeinwohl dienender Anlagen. Hier muß über die Qualifikation der Störung nachträglich (im Ersatzprozeß) entschieden werden, und zwar nach der obigen materiellrechtlichen Definition der Rechtmäßigkeit. Sind solche (über das verkehrsübliche, d. h. von jedermann hinzunehmende Maß hinausgehende) Störungen durch den Zweck des Gemeinwohls gedeckt und daher endgültig (d. h. unter Ausschluß negatorischer Abwehr) hinzunehmen, so findet Entschädigung statt, sei es nach § 26 I I GewO, i n (entsprechender) Anwendung des § 906 BGB oder nach entsprechenden allgemeinen Grundsätzen (vgl. z.B. RG 101, 152; B G H 48, 100; 59, 383: Fluglärm der Bundeswehr). Hier sind sowohl der Eingriff wie das Verhalten (materiellrechtlich) endgültig rechtmäßig, weil die Störung („Eingriff") nicht nur nach begrenzter, sondern auch nach abschließender Prüfung zulässig ist. Dagegen liegen rechtswidriges Verhalten und rechtswidriger „Erfolg" vor, wenn die Störungen nicht notwendig m i t dem Bau oder Betrieb verbunden sind, wenn z.B. (mit dem „gehörigen" Betrieb vereinbare) Schutzmaßnahmen unterlassen, die Bauarbeiten zeitlich unnötig langsam ausgeführt werden etc. Hier greift nicht Entschädigung für rechtmäßige Eingriffe ein, nach der unter I V gegebenen Bestimmung aber auch keine Amtshaftung, weil es an einer die Störung deckenden (auch nur vorläufig verbindlichen) Entscheidung fehlt. Vielmehr ist allgemeines Deliktsrecht anzuwenden, weil auch die öffentliche Hand den 29
Z u dem unter a) Gesagten vgl. Näheres a.a.O. (Anm. 17), S. 952.
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allgemeinen Bau- und Sicherheitsvorschriften unterliegt und bei deren Verletzung nach allgemeinem Deliktsrecht oder Nachbarrecht haftet (zum „öffentlichen Eigentum" nach manchen Landesrechten, s. Begr., S. 118). Diese Fälle müssen der Verkehrssicherungspflicht, (vergi. E § 17 Ζ. 1) gleichbehandelt werden, selbst wenn sie nicht immer unter diesen Begriff fallen. — Ob das allgemeine Deliktsrecht ζ. B. hinsichtlich des Entlastungsbeweises zu reformieren ist, ist eine hiervon zu trennende Frage. (Soweit Gefährdungshaftung eingreift, vgl. E § 16 II, ist sie gegenstandslos.) c) Das verwirrende, auf das Verhalten bezogene Merkmal der Fina lität und insoweit auch der entsprechende Streit um den Charakter einer „ungezielten" Störung als eines „Eingriffs" ist hiernach auszuschalten. Wie beim enteignungsgleichen Eingriff kommt es nur auf die Auswirkung an. Deren Umfang ist der jeweils maßgebenden Entscheidung zu entnehmen (vgl. V i a und b, und oben S. 586 unter a). 2. Die angegebene Begrenzung der Amtshaftung führt auch nicht an anderen Stellen zu Lücken, die eine allgemeine öffentlich-rechtliche liehe Gefährdungshaftung nötig machten (vgl. schon oben Anm. 25). Denn bei den hierfür angeführten Fällen, die nicht unter die vorstehenden Haftungen (nach Ziff. 1) fallen, liegt, soweit ich sehe, immer ein öffentlich-rechtliches Schuldverhältnis (oben III) vor; dieses entsteht auch bei den i m Schrifttum mehrfach angeführten Zwangsverpflichtungen (Hand- und Spanndiensten, Dienstverpflichtungen, Inanspruchnahmen nach dem Bundesleistungsgesetz etc.). Hier w i r d — ebenso wie für Dienstunfälle i m Beamtenrechtsverhältnis — auch ohne Verschulden für Schäden gehaftet, entweder nach § 537 RVO 3 0 , oder nach dem B L G §§ 26 ff. I n etwa verbleibenden Fällen liegt der richtige Weg in der entsprechenden Anwendung der (privatrechtlichen) Rechtsprechung zu § 670 BGB, wonach der Auftraggeber für Gefahren, die mit der Ausführung eines Auftrages verbunden sind, Ersatz zu leisten hat. Überall finden sich also passende „Rechtsfiguren", deren Anwendung der Einführung einer unbestimmten allgemeinen öffentlich-rechtlichen Gefährdungshaftung m. E. vorzuziehen ist.
30 Ob die Leistungen nach der RVO unzulänglich sind (vgl. Forsthoff, L e h r buch, 9. Aufl., § 18) ist m. E. kein Gesichtspunkt, der eine öffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung rechtfertigt. Er würde ebenso für Arbeiter i n vergleichbaren gefährlichen Privatbetrieben (Staublungen, Bleivergiftungen etc.) gelten. Die Frage k a n n auch f ü r die begrenzten Haftungen nach den oben zu I V 2 genannten Spezialgesetzen gestellt werden.
Zur Dogmengeechichte und jüngeren Entwicklung der Enteignungeentschädigung Von Eberhard Schmidt-Aßmann
Das öffentliche Entschädigungsrecht steht i m Begriff, sich in drei wesentlichen Punkten fortzuentwickeln: I m Oktober 1973 hat die von der Bundesregierung eingesetzte Staatshaftungsrechtskommission ihren Bericht zusammen m i t einem Gesetzentwurf vorgelegt, der das heute u m Art. 34 GG i. V. mit § 839 BGB und den enteignungsgleichen Eingriff zentrierte Ersatzrecht für Schäden aus rechtswidrigem hoheitlichem Verhalten auf eine neue Grundlage stellen w i l l 1 . Für den Bereich der Personenschäden aus gewissen Arten von Kollektivrisiken versuchen ferner die Vorarbeiten zu einem Sozialgesetzbuch einheitliche Haftungsgrundlagen nach Modellen sozialverwaltungsrechtlicher Ausgleichsleistungen auszubilden 2 . Schließlich führt die Reform des Bodenrechts i m klassischen Bereich der Enteignung zu einer vielschichtigen Veränderung der Entschädigungsregelungen, deren Grundzüge i m Städtebauförderungsgesetz vom 27. 7.1971 (BGBl I S. 1125) vorgeprägt sind und in der Bundesbaugesetznovelle 3 weiter ausgestaltet werden sollen. Die drei Ansätze stellen nicht nur vom Sachgebiet, sondern auch von den Strukturen der beabsichtigten Neuregelungen her unterschiedliche Komplexe dar, deren Gemeinsamkeiten sich allenfalls auf dem allgemeinen Hintergrund eines sozialen Entschädigungsrechts zeichnen ließen. I m übrigen aber zeigt sich i n ihnen einmal mehr, daß es ein eigentliches System staatlicher Ersatzleistungen nicht gibt — vielleicht desto weniger geben kann, je mehr die öffentliche Verwaltung mit einem weitgefächerten Eingriffs-, Förderungs- und Gestaltungsinstrumentarium das soziale Gefüge und die Individualsphäre durchdringt und damit immer neue Fälle gezielter und nicht gezielter, unmittelba1
Reform des Staatshaftungsrechts, „Kommissionsbericht", hrsg. vom B u n desminister der Justiz u n d v o m Bundesminister des Innern, 1973. 2 Regierungsentwurf eines Sozialgesetzbuchs — Allgemeiner T e i l — B u n destagsdrucksache 7/868, dort § 5 als Grundnorm. 3 Referentenentwurf (maschinenschriftlich), Stand 15.11.1973.
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rer und mittelbarer Rechts- oder Interessenbeeinträchtigungen schafft, bei denen der Ruf nach Kompensation erhoben und regelmäßig eher zufällig als systematisch erfüllt w i r d 4 . I n sich und i m Verhältnis zu dem Regelungsbereich, dem sie entstammen, dagegen müssen die genannten Ansätze von einheitlichen Systemgedanken getragen sein. Diese Gedanken i n der Dogmatik und i n den Entwicklungstendenzen des Entschädigungsrechts bei der klassischen Enteignung zu verdeutlichen, soll Aufgabe des vorliegenden Beitrags sein.
I. Dogmengeschichtliches zur Enteignungsentschädigung I n der Gesetzgebungspraxis der letzten 20 Jahre ist es üblich geworden, bei Enteignungsmaßnahmen zwei Entschädigungstypen tatbestandsmäßig exakt gegeneinander abzusetzen: — die Entschädigung für den enteignungsbedingten Rechtsverlust, — die Entschädigung für sonstige Vermögensnachteile (Folgeschäden). Diese kodifikatorisch i m Baulandbeschaffungsgesetz vom 3.8.1953 (BGBl I S. 720) herausgearbeitete Trennung ist Vorbild für die Formulierung einer ganzen Reihe von Bundes- und Landesgesetzen geworden und hat ihren präzisesten Ausdruck i n §§ 93 Abs. 2, 95, 96 des Bundesbaugesetzes vom 23. 6.1960 (BGBl I S. 341) gefunden. I n diesen Bestimmungen w i r d das alte enteignungsrechtliche Dogma einer doppelschichtigen Entschädigungsleistung positiviert, das Werner Weber i n seiner 1954 erschienenen repräsentativen Darstellung des Enteignungsrechts klar umrissen hatte, als er von der Entschädigung sagte 5 : „Sie umschließt ein Doppeltes: einmal die öffentlich-rechtliche Vergütung für das entzogene Gut, die an Stelle des bei freihändigem Erwerb zu vereinbarenden privatrechtlichen Entgelts zu leisten ist, zum anderen den Ausgleich von Nachteilen, die sonst noch i m Zusammenhang mit dem Enteignungsvorgang etwa durch Wertminderung des Restbesitzes, zeitweiligen Verdienstausfall, anderweitige Familienunterbringung u. dgl. entstehen." Die zur Kennzeichnung der getrennten Entschädigungspositionen üblichen Begriffe der Substanzentschädigung und der Folgenentschädigung markieren zugleich das Differenzierungskriterium: Unterschieden w i r d nach der Nähebeziehung zwischen dem hoheitlichen Eingriff und 4
Z u diesen Aspekten Henke, Die Rechtsformen der sozialen Sicherung und das allgemeine Verwaltungsrecht, V V D S t R L Bd. 28, 149 ff., bes. S. 172- 180; Kommissionsbericht (FN 1) S. 63 f. 5 W. Weber, Eigentum u n d Enteignung, i n : Neumann - Nipperdey - Scheuner, Die Grundrechte, Bd. 2 (1954), S. 331 - 399, S. 390.
Z u r Dogmengeschichte der Enteignungsentschädigung
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möglichen beeinträchtigten Positionen des Enteignungsbetroffenen. Als Substanzschaden gilt dabei der durch den Enteignungsbeschluß klar umrissene (unmittelbare) Rechtsverlust an dem Enteignungsgegenstand, während entfernte (mittelbare) Schäden, die sich erst aus den speziellen wirtschaftlichen Verflechtungen des Enteignungsobjektes ergeben, als Folgeschäden bezeichnet werden. Diese Differenzierung entsprechend der Nähebeziehung läßt vom Realsachverhalt der Schadenspositionen her eine Skala näherer oder fernerer Betroffenheiten erkennen, die für die normative Frage nach der Entschädigungspflicht fruchtbar gemacht werden kann. I n den Begriffen der Substanz- und Folgeschäden verkörpern sich also Schadenzurechnungsgesichtspunkte, deren unterschiedliche Intensität Wertungsmaßstäbe für die Entschädigungsfähigkeit jeder einzelnen von dem Enteignungsvorgang ausgelösten Schadensposition vermitteln soll. 1. Die Unterscheidung zwischen Substanz- und Folgeschäden ist das Ergebnis einer langen Rechtsentwicklung, i n der die Differenzierung, den sich ändernden Wertungsnotwendigkeiten entsprechend, unter verschiedenen Bezeichnungen bald deutlicher, bald schwächer immer wieder hervorgetreten ist. Für unsere Untersuchung hat die Entwicklung daher mehr als nur rechtsgeschichtlichen Wert. Das Enteignungsrecht der vorindustriellen Zeit 6 gewährte durchgängig großzügigen Ersatz für den Enteignungsgegenstand i n allen seinen Wertbeziehungen. So war nach § 9 I I 11 des preußischen Allgemeinen Landrechts bei der Bestimmung des Wertes der zwangsweise abgetretenen Sache „nicht bloß auf den gemeinen Wert, sondern auch auf den außerordentlichen Wert Rücksicht zu nehmen". Entschädigungsfähig war also nicht nur derjenige Nutzen, welchen die Sache einem jeden Benutzer gewähren kann (gemeiner Wert, § 112 I 2), sondern daneben auch derjenige Nutzen eines Gegenstandes, welchen derselbe nur unter gewissen Bestimmungen und Verhältnissen leisten konnte (außerordentlicher Wert, § 114 I 2). Kennzeichnend für das damalige EnteignungsVerständnis ist es, wenn Substanz- und Folgeentschädigung i n der Gestalt des gemeinen und des außerordentlichen Wertes des Enteignungsobjektes auftreten. Der Enteignungsvorgang wurde dabei als Zwangskauf interpretiert, dessen Entgelt eben ein Kaufpreis sein mußte 7 . Dieser Kaufpreis 6 Z u m Folgenden: Thiel, Das Expropriations-Recht u n d das E x p r o p r i ations-Verfahren, 1866, S. 21 ff.; Grünhut, Das Enteignungsrecht, 1873, S. 99 ff.; Scheicher, Die Rechtswirkungen der Enteignung, 1893, S. 373 ff.; Lay er, Principien des Enteignungsrechts, 1902, S. 449ff.; J. Schulthes, Die Höhe der Enteignungsentschädigung, 1965, S. 10 ff. 7 § 4 I 11 A L R : „Auch der Staat ist jemanden zum Verkauf seiner Sachen zu zwingen n u r alsdann berechtigt, wenn es zum W o h l des gemeinen Wesens notwendig ist." Referat des Meinungsstandes bei Scheicher. (FN 6), S. 6 ff.
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hatte sich normalerweise „privat" am Markt herauszubilden. Wenn das bei dem hoheitlichen Eingriff der Enteignung i m freien Spiel der Kräfte nicht möglich war, dann mußte der Gesetzgeber zwar gewisse Wertrichtlinien normativ verordnen; aber er tat das m i t der Begrifflichkeit des Marktes und für den hypothetischen Fall eines privatautonom gedachten Ersatzgeschäftes. Die Enteignungsentschädigung des A L R erscheint so als ein Spiegelbild liberalen Rechstdenkens, das bei der Ausgestaltung der Rechtsinstitute den autonomen Marktgegebenheiten den Vorrang vor Steuerungsimpulsen des Gesetzgebers einzuräumen geneigt war und damit freies Marktverhalten normativ nur rezipierte. Die gleichen Vorstellungen prägten i m Grunde auch die Entschädigungsregelung des bayerischen Zwangsabtretungsgesetzes vom 17.11. 1837 (GBl S. 109), obwohl hier m i t der Reduktionsklausel bei der Gewinnausfallentschädigung (Art. 5 Nr. 2 Buchst, c) Ansätze eines eigenständigen normativen Moments 8 i n den Ausgleich der Folgeschäden gebracht werden. Die Konstruktion der Enteignung als Zwangskauf hat i n der enteignungsrechtlichen Entschädigungslehre weit über die Zeit hinausgew i r k t , i n der sie zur Erklärung des Enteignungsvorgangs verwendet wurde 9 . Als Konstruktionsmodell der Enteignung selbst war die zivilistische Theorie zwar mit Labands 1869 erschienener Abhandlung 1 0 überwunden. Die obsiegende öffentlich-rechtliche Deutung der Enteignung war ein Ergebnis der sich i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausbildenden systematischen Verwaltungsrechtswissenschaft 11 . I m Entschädigungsrecht dagegen bewahrte die Kaufvorstellung die faszinierende Einfachheit ihres Erklärungsmechanismus bis i n die Gegenw a r t hinein 1 2 . Sie hat die Tendenz, die Höhe der EnteignungsentschädiBezeichnend Bahr - Langerhans noch i n der 1878 erschienenen 2. Auflage ihres Kommentars zum preußischen Enteignungsgesetz (S. 36)": N u n ist aber Grundeigentum eine Ware, wie andere auch. M a n muß annehmen, daß solche stets käuflich zu haben ist, w e n n dafür ein seinem Werte entsprechender Preis gezahlt w i r d . Denn der Wert ist j a eben die Summe, welche den i n Handel u n d Wandel zur Zeit an dem betreffenden Ort üblichen Preisen entspricht." 8 Deutlich erkennbar i n den von Henle, Die Zwangsenteignung von G r u n d eigentum i n Bayern, 1911, S. 114 mitgeteilten Gesetzesmaterialien. 9 W. Weber (FN 5) S. 338. 10 Die rechtliche Natur des Retrakts u n d der Expropriation, AcP Bd. 52 (1869), 151 - 190. 11 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1924, B d 2, S. 23. 12 Die Wiederbeschaffungstheorie des Bundesgerichtshofes, die die E n t schädigung v o m Ersatzgeschäft her sieht, ist dafür ein Beweis. (Vgl. dazu B G H Urt. v o m 28. 6.1954 = Β GHZ 14, 106 ff., 109.). Ä h n l i c h W. Weber (FN 5), S. 391. Weitere Nachweise zur Wiederbeschaffungslehre bei Kröner, Die Eigentumsgarantie i n der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, 2. Aufl. 1969,
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gung i n doppelter Hinsicht zu determinieren: einmal als grundsätzlich am Verkehrswert ausgerichtete Substanzentschädigung und zum anderen als ein dem vollen Schadensersatz entsprechender Ausgleich für i n dividuelle Wertbeziehungen (Folgeschäden), die der Enteignete als freier Verkäufer i n seine Kalkulation hätte aufnehmen können. Die Lichtund Schattenseiten dieser marktorientierten Entschädigungslehre, die positiv als Erfüllung des Lastenausgleichsgedankens, negativ als Schwerfälligkeit gegenüber bereichspezifisch notwendigen Steuerungsakten des Gesetzgebers i n Erscheinung treten, liegen deutlich zu Tage. 2. Nun hat es i n der Geschichte des Enteignungsrechts an gesetzgeberischen Versuchen nicht gefehlt, solche normativ wertenden Modifikationen einer verkehrswertbestimmten Entschädigung vorzunehmen. Dabei lassen sich zwei Entwicklungslinien unterscheiden, deren erste eine Eindämmung der Folgeentschädigung und deren zweite die Reduktion der Substanzentschädigung zum Ziel hatten. a) Soweit die Folgeschäden betroffen waren, hat das preußische Enteignungsgesetz vom 11. 6.1874 (GS S. 221) eine bis heute nachwirkende Entwicklung eingeleitet 13 . Das Gesetz gibt die Unterscheidung, die das A L R bezüglich des gemeinen und des außerordentlichen Wertes traf, auf und bestimmt i n § 8 Abs. 1 als Entschädigungsbetrag einheitlich den „vollen Wert des abzutretenden Grundstücks". M i t dem Begriff des vollen Wertes sollte ein einheitlicher marktorientierter Wertbegriff i n das Entschädigungsrecht rezipiert werden, der grundsätzlich einen vollen Ausgleich für das enteignete Objekt (Entschädigung des objektiven Wertes), nicht aber einen Ersatz für solche Verluste gewährleisten sollte, die ohne dingliche Wertbeziehungen zum Enteignungsobjekt allein i n der Person des Enteignungsbetroffenen (subjektive Werte) angelegt waren. Gegenüber dem A L R reduzierte das Enteignungsgesetz von 1874 also die Skala entschädigungspflichtiger Nähebeziehungen zwischen Eingriff und Schadenposten deutlich. Vor allem der entgangene Gewinn wurde aus der Entschädigungsleistung grundsätzlich ausgeklammert und konnte nur dann als Rechnungsposten der objektiven Entschädigung wieder Eingang finden, wenn er sich als Benutzbarkeit des Grundstücks i m objektiven Wert nach MarktgeS. 87 ff. u n d Schmidt-Aßmann, i n : Ernst-Zinkahn - Bielenberg, Kommentar zum Bundesbaugesetz (Lsbl., Stand 1973), § 93 Rdnr. 17 ff. 13 Bahr - Langerhans (FN 7) ; Eger, Das Gesetz über die Enteignung v o n Grundeigentum v o m 11. J u n i 1874, Bd. 1, 2. Aufl. 1902, S. 121 ff.; Koffka, K o m mentar zum Gesetz über die Enteignung von Grundeigentum v o m 11. J u n i 1874, 2. Aufl. 1913, S. 63ff.; Seydel, Das Gesetz über die Enteignung von Grundeigentum v o m 11. J u n i 1874, 3. Aufl. 1903, 4. Aufl. 1910; Schulthes (FN 6), S. 12 ff. 38 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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sichtspunkten niedergeschlagen hatte 1 4 . Hinter dieser Neufassung der Entschädigungsbemessung mag primär eine mehr technische Änderung der Bewertungsmethode gestanden haben, die getragen war von dem Optimismus, alle relevanten Faktoren gerechter Entschädigung über das Marktverhalten einzufangen 15 . Veranlaßt war die Regelung des Enteignungsgesetzes von 1874 aber auch von dem gesetzgeberischen Bemühen, die Entschädigungslasten des Enteignungsunternehmers überschaubar zu halten 1 6 , insbesondere Doppelentschädigungen objektiver und subjektiver Positionen zu vermeiden und die ferner gelegenen Schadensteile eines lucrum cessans unberücksichtigt zu lassen. Diese entschädigungspolitische Komponente des § 8 preußischen Enteignungsgesetzes w i r d deutlich, wenn man auf die zeitgenössischen Verkehrs» und Städtebauprobleme blickt, die i n dem gleichzeitig beratenen Fluchtliniengesetz vom 2. 7.1875 (GS S. 561) eine erste angemessene Regelung finden sollten. I n diesem Sinne ist die Regelung des preußischen Enteignungsgesetzes i n der L i t e r a t u r 1 7 und Rechtsprechung 18 zunächst durchaus zutreffend als eine bewußte Abwehr von dem vollsten Ersatz des Interesses („volle Schadloshaftung"), wie er das A L R und eine Reihe zeitgenössischer Landesenteignungsgesetze beherrschte, gesehen worden. Die entscheidende Wende, die zu einem großzügigeren Ersatz auch der Folgeschäden zurückführte, wurde erst i m Jahre 1893 vollzogen 19 , als das Reichsgericht neben dem objektiven Wert auch den individuellen Wert, der nicht i m Grundstück selbst, sondern i n den individuellen Verhältnissen des Enteignungsbetroffenen seine Wurzel hat, i m Rahmen des preußischen Enteignungsgesetzes für ausgleichspflichtig anerkannte. A n dieser Auslegung hielt sich das Reichsgericht künftig durchgängig. Sie kann spätestens seit 1910 auch als die i n der Literatur ganz herrschende Ansicht angesehen werden 2 0 . I m Ergebnis war damit ein 14
Bahr - Langerhans, S. 33 ff.; Eger, S. 180 ff.; Layer (FN 6), S. 516 ff.; Seydel 3. Aufl., S. 45. 16 So (zu einseitig) Schulthes (FN 6), S. 16 f. 16 Dieser Abwägungsgesichtspunkt w i r d deutlich i n der von Eger (S. 128) mitgeteilten Äußerung des preußischen Handelsministers Achenbach bei den Plenarberatungen des Gesetzes: „ W e n n es richtig ist, daß w i r den Grundeigentümern den vollen Sachwert gewähren, so werden Sie doch auch zu berücksichtigen haben, daß es sich u m Unternehmungen handelt, die i m öffentlichen Interesse gesetzt werden u n d an deren Zustandekommen der Staat das höchste Interesse hat. Es k a n n w o h l nicht die Absicht sein, ein Gesetz zu erlassen, deren Bestimmungen jedes derartige Unternehmen gewissermaßen v o n vornherein unmöglich machen." 17 s. die i n F N 14 aufgeführte Literatur. 18 Rechtssprechungsnachweise bei Eger, S. 133 ff. 19 U r t . v o m 4.11.1893 = RGZ 32, 298 ff. 20 Koffka (FN 13), S. 64, 70 f. m i t weit. Nachw.
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dem alten Prinzip voller Schadloshaftung nahekommender Rechtszustand wieder hergestellt. Geblieben war allerdings eine größere D i stanz der Rechtspraxis gegenüber Versuchen, auch ablegenere Schäden i n die Enteignungsentschädigung einzubeziehen. Vom deliktischen Schadenersatz, m i t dem sie i m A L R noch gleichgestellt war, hatte sich die Enteignungsentschädigung gelöst. Wenn sie auch auf den entgangenen Gewinn erstreckt wurde, so doch nicht i n rein hypothetischer Rechnung, sondern orientiert an grundstücksbezogenen konkreten Werten. Diese Zurückhaltung gegenüber dem vollen Schadenersatz, die der Bundesgerichtshof i n dem Topos der „ n u r bildhaft verstandenen" Wiederbeschaffungslehre ausdrückt, hat ein bis heute bestehendes Gefälle zwischen Substanz- und Folgeschäden bewirkt. b) Eine zweite Entwicklungslinie zielte darauf ab, die ausschließlich am Marktverhalten orientierte Substanzentschädigung normativ stärker einzubinden. Auch hier geht es i m Grunde u m eine Herabsetzung der Entschädigungslasten. Doch ist diese Linie weit weniger deutlich ausgeprägt. Sie w i r d vielmehr durch eine Reihe enteignungsrechtlicher Institute nur angedeutet, häufig t r i t t ihre entschädigungspolitische Ausrichtung überhaupt nicht hervor. Z u den Instituten, die eine dauerhafte, wenn zunächst auch nur geringfügige Korrektur der verkehrswertgeprägten Substanzentschädigung gebracht haben, gehört die u n ter dem Stichwort „enteignungsbedingte V o r w i r k u n g " bekannte A n nahme eines vorverlegten Bewertungsstichtages. Durch sie werden diejenigen wertbildenden Qualitätsmerkmale aus der Entschädigungsbemessung ausgeklammert, die dem Enteignungsobjekt erst gerade durch das Enteignungsunternehmen zugewachsen sind. Die darin liegende Modifikation der Verkehrswertentschädigung gehörte bereits i m 19. Jahrhundert unangefochten zur enteignungsrechtlichen Dogmatik 2 1 . Sie hat heute i n der Vorwirkungsrechtsprechung und i n § 95 Abs. 2 Nr. 1 BBauG ihren festen Platz. Gleiches gilt für den Ausschluß gezielt werttreibender Qualitätsänderungen, die der bisherige Eigentümer i n Erwartung der Enteignung vorgenommen hat 2 2 . Dagegen haben die Enteignungsgesetze zur Bestimmung der Wertfaktoren, die den Verkehrs wert des Enteignungsobjekts ausmachen, i n der Vergangenheit kaum zusätzliche normative Kriterien beizutragen vermocht. Anerkannt war nur stets schon der Ausschluß des subjektiven Affektionsinteresses und der Spekulationsspitzen 23 . Der breiten 21 Vgl. z.B. § 10 Abs. 2 preuß. EnteignungsG; Eger (FN 13), S. 336ff.; Scheicher (FN 6), S. 277. 22 Dazu schon Thiel (FN 6), S. 26 f.; Lay er (FN 6), S. 539 ff., sog. fraudulose Meliorationen. 23 Scheicher (FN 6), S. 297; Eger (FN 13), S. 191 f.
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Grauzone eines nur zu leicht spekulativ reagierenden Marktes gegenüber erwiesen sich die Verkehrswertdefinitionen ebenso machtlos wie die Wertermittlungsmethoden und Kriterien einer „gegenwärtigen", „konkreten" oder „objektiven" Benutzungsfähigkeit. Insbesondere die wie immer geartete Bauerwartung wurde durchgängig i n den Entschädigungsbetrag einbezogen, selbst dort, wo öffentliche Planungen einer solchen Erwartung nicht entsprachen 24 . Schließlich hat sich auch die enteignungsrechtliche Vorteilsausgleichung bisher keine durchgängige Anerkennung als Instrument zur Herabsetzung der Verkehrswertentschädigung des Rechtsbesitzes zu schaffen vermocht 25 . Zweimal ist bisher versucht worden, das Verkehrswertprinzip der Substanzentschädigung selbst durch eine gesetzgeberisch freiwertende Entschädigungsbemessung zu ersetzen. Der erste Versuch dieser A r t fand seinen Niederschlag i n der Rahmenbestimmung des A r t . 153 Abs. 2 der Reichsverfassung von 1919, der die Entschädigungsermittlung am Maßstab der Angemessenheit ausrichtete und sogar einen gesetzgeberisch anzuordnenden totalen Entschädigungsausschluß zuließ. Damit war das öffentliche Interesse als Abwägungskriterium auch bei der Entschädigungsbemessung deutlich artikuliert worden, wie A r t . 153 Abs. 2 überhaupt i m Zusammenhang m i t dem i n A r t . 155 niedergelegten bodenreformerischen Programm der Weimarer Verfassung zu sehen ist. I n der Praxis konnte sich das neue Entschädigungskonzept dagegen nur punktuell durchsetzen, w e i l die Rechtsprechung i n den alten Landesenteignungsgesetzen, nach denen nach wie vor die meisten Enteignungen vollzogen wurden, den entscheidenden Ausfüllungsfaktor für die „angemessene" Entschädigung sah 26 . A u f diesem Umweg blieb die Substanzentschädigung eine Verkehrswertentschädigung. I m K e r n wie i n ihren Einzelausprägungen fester als die Folgenentschädigung, überwand sie als ein i n der enteignungsrechtlichen Dogmatik sicher verankertes Institut auch die gegenläufigen Tendenzen der Bodenreformgesetzgebung i n den Jahren 1946 bis 194827. Das Baulandbeschaffungsgesetz von 1953 und einige Landesaufbaugesetze schrieben schon keine eigentlich vom Verkehrswert abweichende Entschädigung mehr vor, sondern orientierten sich an dem den M a r k t als solchen verändernden Preisstop. Als Entschädigungsmaßstab konnte sich der Preisstop daher nur so lange halten, wie der allgemeine Grundstücksmarkt selbst 24
Koffka (FN 13), S. 74 f.; vorsichtiger Scheicher (FN 6), S. 322 f. Vgl. das Referat des Streitstandes bei Eger (FN 13), S. 251 ff., bes. S. 263; Lay er (FN 6), S. 541 ff. 28 W. Weber (FN 5), S. 3881; Stödter, Öffentlichrechtliche Entschädigung, 1933, S. 237 ff.; Schulthes (FN 6), S. 21 ff. 27 Dazu W. Weber, Die Entschädigung i n der westdeutschen Bodenreform, DÖV 1953, 353 ff. 25
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noch der Preisbindung unterlag. Danach geriet dieses K r i t e r i u m i n der Rechtsprechung i n Verfall 2 8 . Die Gerichte übernahmen ein weiteres Mal i n der Geschichte des Enteignungsrechts eine bewahrende, die Verkehrswertentschädigung und überhaupt den weitreichenden Ausgleich stabilisierende Funktion. Der Bundesgerichtshof schuf i n der „bildhaft verstandenen" Wiederbeschaffungslehre eine für alle Gesetze gültige, da unmittelbar aus der Verfassung abgeleitete Enteignungstheorie 29 . Seit nunmehr fast 20 Jahren bildet diese Lehre den einheitlichen H i n tergrund für die Entschädigungsbestimmungen der Bundes- und Landesgesetze, von dem der Gesetzgeber Abstand zu nehmen sich nicht unterfangen hat. II. Derzeitige Rechtslage und Entwicklungstendenzen 1. Als ausgefeilteste Formulierung dieses einheitlichen Fundaments können die Entschädigungsbestimmungen der §§ 93 ff. BBauG gelten. Nicht von ungefähr fügen sich diese Vorschriften nahtlos i n den Gesamtzusammenhang des Gesetzes ein; denn wie sie selbst marktorientiert sind, so ist das BBauG seinerseits durchzogen von dem Optimismus, der Bodenmarkt stelle prinzipiell einen eigengesetzlich reagierenden funktionsfähigen Organismus dar, der nur der rahmensetzenden Beplanung und allenfalls punktueller Steuerungsmaßnahmen mittels eines zurückhaltend ausgebildeten planakzessorischen Instrumentariums bedürfe 30 . I m Vordergrund der Entschädigungsprobleme steht daher die Substanzentschädigung, für die § 95 Abs. 1 Satz 1 konsequent den Verkehrswertmaßstab festlegt. Die Modifikationen, denen das Gesetz diesen i n seinem K e r n der öffentlichen Steuerung entzogenen Maßstab unterwirft, haben nur marginale Bedeutung. Es sind das die selten einschlägigen Ausnahmeklauseln des § 95 Abs. 2 Nr. 2 bis 4 und Abs. 3, die i n ihren Auswirkungen nach wie vor umstrittene Vorteilsausgleichung des § 93 Abs. 3 Satz l 3 1 , die auf den gewöhnlichen Geschäftsverkehr abstellende Definition des Verkehrswertes i n § 141 Abs. 2 und der i n sei28
B G H U r t . v o m 25.11.1955 = Β G H Z 19, 139 ff. Vgl. Kr eft, Aufopferung und Enteignung, 1968; Schmidt-Aßmann, Grundfragen des Städtebaurechts, 1972, S. 264 ff. 30 A m t l . Begründung zum BBauG, Bundestags-Drucks. III/336, S. 56 u n d Ausschußbericht, Bundestags-Drucks. I I I zu 1794, S. 1 u n d 31. Vgl. dazu auch Tiedemann, Die Ordnung des Baulandmarktes i m deutschen u n d schweizerischen Recht, 1972. 31 Dazu Frhr. v. Hammerstein, Die Vorteilsausgleichung bei der Enteignungsentschädigung unter besonderer Berücksichtigung des § 93 Abs. 3 S. 1 BBauG, Diss. Göttingen, 1972; ferner meine Anmerkungen i n Ernst - Zinkahn - Bielenberg (FN 12), § 93 Rdnr. 41 ff. 29
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ner Bedeutung für eine Reduzierung der Verkehrswertentschädigung allerdings bisher kaum v o l l ausgeschöpfte Vorwirkungsgedanke des § 95 Abs. 2 Nr. I 3 2 . Auch bei der Anwendung dieser Modifikationen bleibt die Substanzentschädigung des BBauG i n der derzeitigen Praxis die extensive, die Bauerwartung einschließende Verkehrswertentschädigung 3 3 , wie sie sich i n der Geschichte des Enteignungsrechts als Kontinuum erwiesen hat. Ähnlich exakt hat das BBauG den dogmatischen Entwicklungsstand der Folgenentschädigung eingefangen. Die schwierige, da gleitende und von dem Verhalten des örtlichen oder regionalen Marktes abhängige Abgrenzung dessen, was bereits i m Bodenwert enthalten ist, von dem, was erst als Folgeschaden liquidiert werden kann (ζ. B. besondere Erschließungskosten), löst § 96 mit einer Subsidiaritätsklausel. Als Folgeschäden können Positionen überhaupt nur dann angerechnet werden, wenn sie nicht bereits i n die Verkehrswertentschädigung eingegangen sind. Vermieden werden soll auf jeden Fall die Doppelentschädigung. Dazu w i r d rein formell auf die Bewertungsweise des konkreten Enteignungsbeschlusses abgestellt. A u f die richtige Einordnung der einzelnen Schadenspositionen kommt es allerdings nicht an, wenn nur der als einheitliche Entschädigung verstandene Betrag i n der Endsumme richtig ermittelt ist 3 4 . Geblieben ist das Gefälle zwischen Substanz- und Folgenentschädigung, daß Dittus kritisch, aber zutreffend als „Theorie von der prinzipalen Substanzwertentschädigung und sozusagen zweitrangig hinzutretenden Folgenentschädigung" bezeichnet 35 . § 96 kennzeichnet dieses Gefälle, indem er das Abwägungsgebot des A r t . 14 Abs. 3 Satz 3 GG i m Gegensatz zu § 95 ausdrücklich noch einmal wiederholt. Die Kausalität zwischen Eingriff und Betroffenheit einer Position indiziert die Entschädigungspflichten noch nicht. Geboten ist vielmehr erst noch eine Abwägung hinsichtlich der Ausgleichsfähigkeit überhaupt und der Höhe des Entschädigungsbetrages (Gebot der Doppelabwägung). Das Gesetz gibt für besonders häufige Folgeschäden Hinweise, i n welche Richtung es diese Abwägung geführt wissen w i l l , i n dem allerdings nicht abschließenden Katalog des § 96 Abs. 2 Satz 1 3 β . Zum ge32
Dazu das interessante U r t e i l des B G H v o m 22. 5.1967 = N J W 1967, 2306. Grundlegend B G H U r t . v o m 8.11.1962 = B G H Z 39,198 ff. 34 B G H U r t . v o m 8. 2.1971 = B G H Z 55, 294 ff., 297. 35 Die Enteignungsentschädigung i m heutigen Redit, N J W 1965, 2179 ff., 2181; ferner meine A n m e r k u n g e n i n Emst - Zinkahn - Bielenberg ( F N 12), § 93 Rdnr. 19 u n d § 96 Rdnr. 6 ff. m i t weit. Nachw. 36 Z u m Folgenden s. die grundlegenden Urteile des B G H v o m 27. 4.1964 = L M Nr. 9 zum LBeschG („Berghotel") u n d v o m 6.12.1965 = L M Nr. 29 zu A r t . 33
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sicherten Bestand des Entschädigungsrechts gehört die Restbesitzentschädigung für Zerschneidungsschäden (§ 96 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2). Es handelt sich bei ihr u m einen objektnahen Tatbestand, der i n den A n wendungsfällen der Differenzmethode (ζ. B. bei Vorgartenland) von der Substanzentschädigung nicht einmal unterscheidbar ist. Problematischer sind die ebenfalls als ausgleichsfähig anerkannten Umzugskosten (§ 96 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3). Die Praxis neigt hier zu einer großzügigen Handhabung. So werden neben den reinen Transportkosten Auslagen für die Wohnungssuche, Kosten der Zwischenunterbringung, bei Betriebsverlagerungen auch Kosten für die Übersiedlung des Mitarbeiterstammes sowie Aufwendungen für die Anpassung der Einrichtung ersetzt. Immer aber steht der enteignungsbedingte reale Verlagerungsvorgang als auslösender Faktor i m Vordergrund. Weder als Umzugskosten noch sonst i m Rahmen des § 96 können dagegen die rein aus der subjektiven, grundstücksunabhängigen Situation des Enteignungsbetroffenen resultierenden Folgeschäden ersetzt verlangt werden. Das t r i f f t vor allem die bei sanierungsbedingten Enteignungen häufigen Störungen des bisherigen Lebensrahmens. Für die schwierigen Fragen des Gewinnausfalls gibt § 96 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 dagegen nur einen weit gesteckten Rahmen. Der Ausfall ist danach zwar grundsätzlich erstattungsfähig, jedoch nur bis zu dem Betrage, der erforderlich wäre, u m ein anderes Grundstück i n einer gleichartigen Nutzung herzurichten. I n dieser sog. Obergrenze kennzeichnet das Gesetz das zwischen Substanz- und Folgeschäden bestehende Gefälle noch einmal klar. Die Obergrenze bindet auch die entlegeneren Beeinträchtigungen rüde an die Gegebenheiten des Enteignungsobjektes. Zusammenfassend gewertet erweisen sich die Entschädigungsbestimmungen des Bundesbaugesetzes als eine objektbezogene Regelung. Vom Enteignungsgegenstand her w i r d der Ausgleich konzipiert. Der Verlust dieses Gegenstandes soll dabei zunächst i n seiner primären Funktion von der Substanzentschädigung und erst danach i n seinen sekundären Funktionen von der Folgeentschädigung aufgefangen werden. I n diesem zweiten Punkte kommen die subjektiven Gegebenheiten des Enteignungsbetroffenen zwar stärker m i t ins Spiel, doch bleibt auch bei der Folgeentschädigung die Objektbindung deutlich spürbar. Es geht der vom BBauG repräsentierten klassischen Konzeption des Enteignungsentschädigungsrechts u m einen Ausgleich für das Genommene, 14 (Cf) GG; ferner Pagendarm, Bemessung der Enteignungsentschädigung nach der Rechtsprechung des BGH, W M 1972, S. 2 ff. bes. S. 13.; Geizer, Der Umfang des Entschädigungsanspruchs aus Enteignung und enteignungsgleichem Eingriff, 1969, S. 38 ff., 66 ff., 86 ff.; Schach, Der Ersatz „anderer Vermögensnachteile" im Enteignungsrecht, Betrieb 1967, 495 ff.
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nicht darum, den Enteignungseingriff subjektiv i n allen seinen Auswirkungen ungeschehen zu machen. 2. Hier deuten sich i n der jüngeren enteignungsrechtlichen Entwicklung Änderungen an, die insgesamt auf ein stärker individualisierendes, auf den Enteignungsbetroffenen abstellendes Entschädigungsmodell abzielen dürften. a) Die extensive, von den objektiven Marktgegebenheiten geprägte Verkehrswertentschädigung des Bundesbaugesetzes ist zunehmend i n Mißkredit geraten, w e i l sie i n ihrer zur Zeit praktizierten Form die öffentliche Hand zwingt, die durch öffentliche Planungen erst geschaffene Bauerwartung bei plandurchführungsbedingten Enteignungen ihrerseits zu bezahlen. I n der Tat haben sich die hohen Entschädigungslasten häufig als ein Hemmnis für notwendige städtebauliche Projekte erwiesen. Die bodenrechtliche Diskussion hat daher i n den letzten Jahren immer häufiger gefragt, ob die derzeitige Verkehrswertentschädigung wirklich i n jedem Falle die von A r t . 14 Abs. 3 Satz 3 GG verlangte gerecht abgewogene Entschädigung sei, oder ob auch eine unter dem Verkehrswert liegende Entschädigung zulässig sei 37 . I m Urteil vom 18.12.1968 hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, das Grundgesetz kenne keine starre, allein am Marktwert orientierte Entschädigung; der Gesetzgeber könne je nach den Umständen vollen Ersatz, aber auch eine darunter liegende Entschädigung bestimmen 3 8 . Wie immer man dieses Urteil aus der konkreten Entscheidungssituation einer Entschädigung gerade für Deichgelände interpretieren mag, es hat das überkommene Dogma, das die enteignungsrechtliche Tradition der vollen Substanzentschädigung als verfassungsfeste Gewährleistung qualifiziert 3 9 , erheblich erschüttert. Ob der Bundesgerichtshof, dessen Wiederbeschaffungslehre den bisher stärksten Pfeiler der Verkehrswertentschädigung bildet, der verfassungsgerichtlichen Erkenntnis dauerhaft eine andere Position entgegensetzen wird, erscheint zweifelhaft; i n dem nur bildhaften Verständnis des Wiederbeschaf fungs Vorganges ist jedenfalls ein Topos zur Rechtsbildung m i t angelegt. Die stärkere Betonung des entschädigungsrechtlichen Abwägungsgebotes trägt die Tendenz zu einer stärker wertenden Entschädigungsgestaltung i n sich. Damit aber erhebt sich die Frage, welche Kriterien 37 Bielenberg, Empfehlen sich weitere bodenrechtliche Vorschriften im städtebaulichen Bereich, Gutachten für den 49. DJT., 1972, S. 81 ff. 38 BVerfGE 24, 367 ff., 420 f. 39 W. Weber (FN 6), S. 390 f.; Scheuner, in: Reinhardt - Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums, 1954, S. 126 ff.
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i n den gesetzgeberischen Abwägungsprozeß eingebracht werden dürfen, inwieweit insbesondere eine Individualisierung der Substanzentschädigung verfassungsrechtlich getrieben werden darf und verfassungspolitisch sinnvoll geführt werden sollte. Hier beginnen die Schwierigkeiten, zu denen sich das Bundesverfassungsgericht leider ausschweigt. I n Erkenntnis der damit verbundenen Unsicherheiten ist Werner Weber nicht ohne Grund dafür eingetreten, das Abwägungsgebot i m wesentlichen auf die A r t , nicht auf die Höhe der Entschädigung auszurichten 40 . Fest steht jedenfalls, daß die Entschädigung nicht nach den Vermögensverhältnissen des Enteignungsunternehmers differenzierend ausgestaltet werden darf 4 1 . Gleiches hat für die anderweitigen Vermögensverhältnisse des Enteignungsbetroffenen zu gelten. Ob der spezielle Zweck des Enteignungsvorhabens ein zulässiges A b wägungskriterium wäre, läßt sich dagegen verfassungsrechtlich schon nicht mehr ganz so eindeutig verneinen 42 . Allgemein muß vor einer Tendenz, die Substanzentschädigung merklich von anderen Kriterien als vom Enteignungsobjekt her zu determinieren, allerdings nachhaltig gewarnt werden. Das t r i f f t für die gegenüber Wertungsaspekten bisher resistenten Enteignungen beweglicher Sachen, vor allem aber für Grundstücksenteignungen zu. Solche Enteignungsfälle bewegen sich innerhalb des allgemeinen Bodenmarktes. Sie greifen Grundstücke nach raumplanerischen Gesichtspunkten heraus. Es wäre auf diesem M a r k t eine systemwidrige Verzerrung, wenn ein öffentlicher Eingriff Wertparzellen schüfe, deren Bewertung sich nach anderen als den situationsbedingten Kriterien des Enteignungsobjektes richten. Ein zweiter Gesichtspunkt kommt hinzu: Als städtebauliches Instrument ist die Enteignung, u m funktionsfähig zu sein, auf eine weitgehende Neutralisierung ihrer Wirkung angewiesen. Nur so kann der Gegendruck, dem die Anwendung dieses Zwangsmittels ausgesetzt ist, i n verwaltungspraktisch tragbaren Grenzen gehalten werden. W i r d der Enteignete i n der Wertfrage gegenüber dem privaten Verkäufer von Gesetzes wegen benachteiligt, so sind Versuche unsachlicher Anwendung wie Abwendung dieses Instruments auf Seiten der 40
Ebd. S. 388. Scheuner (FN 39), S. 132; Badura, Eigentum im Verfassungsrecht der Gegenwart, Schlußvortrag auf dem 49. DJT, Sitzungsberichte T. S. I f f . , 28 f.; GEWOS — Gutachten „Verfassung, Städtebau, Bodenrecht", 1969, Rdnr. 312. 42 Verneinend die h. M. (Nachw. GEWOS-Gutachten, Rdnr. 272 ff.); a. M. Knoll, Eingriffe in das Eigentum im Zuge der Umgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse, 2. Teil, AöR Bd. 81 (1956), S. 157 ff. u. S. 342 ff. bes. 293 ff.; zu dem gesamten Abwägungsproblem jüngst auch Rüfner, Die Berücksichtigung der Interessen der Allgemeinheit bei der Bemessung der Enteignungsentschädigung, in: Festschr. für Ulrich Scheuner, 1973, S. 511 ff. 41
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Verwaltung wie der Betroffenen eine gefährliche Reaktion. Das Bodenproblem läßt sich nicht durch eine isolierte Behandlung der Entschädigungsfrage lösen, schon gar nicht durch eine Subjektivierung der Substanzentschädigung 42a . Durchaus zutreffend hat das Städtebauförderungsgesetz den verfassungsgerichtlichen Gedanken einer frei wertenden Entschädigungsbestimmung daher nicht aufgenommen, sondern den Ausschluß der Sanierungs- und Entwicklungsgewinne über eine Fortbildung bekannter enteignungsrechtlicher Institute vorgenommen. Die i m § 23 Abs. 2 des Städtebauförderungsgesetzes verordnete Ausklammerung der sanierungsbedingten Werterhöhungen aus der Enteignungsentschädigung ist eine Konsequenz des Vorwirkungsgedankens 43 , dessen zielstrebige Anwendung die Entschädigungsprobleme schon des Bundesbaugesetzes hätte entschärfen können. Der Gedanke vermeidet die Schwächen subjektivierter Entschädigungsbemessung, indem er nur objektbezogene Modifikationen der Verkehrswertentschädigung schafft. I n konsequenter Fortsetzung dieser Tendenz beschränkt das Städtebauförderungsgesetz den auf diese Weise reduzierten Verkehrswert nicht auf die Enteignungsfälle, sondern ordnet i h n auch den anderen städtebaulichen Instrumenten und durch das flankierende Institut des Ausgleichsbetrages (§ 43 Abs. 4) dem freien Bodenmarkt zu. Die verwaltungstechnischen Probleme, die die Ermittlung des reduzierten Verkehrswertes heraufführt, sind gewiß nicht gering. Stärker aber wiegt positiv, daß das Gesetz eine objektbezogene Gleichheit als Fundament der Substanzentschädigung beibehalten hat. b) I m Bereich der Folgeschäden dagegen machen sich Tendenzen einer stärker individualisierenden Entschädigungsermittlung deutlich bemerkbar. Der dabei eingeschlagene Weg ist nicht der einer interpretatorischen Ausweitung des i m § 96 BBauG begründeten und i n das Städtebauförderungsgesetz unangefochten übernommenen enteignungsrechtlichen Folgenentschädigungstatbestandes, sondern es w i r d ein eigenständiges Ausgleichsinstrument neben die beiden bekannten Entschädigungstypen gestellt: der Härteausgleich. Der dieses Instrument zum ersten M a l i n das Städtebaurecht einbeziehende § 85 Abs. 1 Städtebauförderungsgesetz lautet: 42 a Rüfner (FN 42), S. 523 f.; Bielenberg, Ist die Bemessung der Entschädigung nach dem Verkehrswert i m Bundesbaugesetz verfassungswidrig?, DVB1. 1974, S. 113 ff. 48 Schmidt-Aßmann, Grundfragen (FN 29), S. 279; i m Ergebnis ähnlich Bielenberg, Städtebauförderungsgesetz, Kommentar (Lsbl., Stand 1973), Einl. Rdnr. 117, aber auch 127; W. Weber, Das Eigentum und seine Garantie in der Krise, in: Festschrift für Michaelis, 1972, S. 316 ff., 322, F N 7.
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I m förmlich festgelegten Sanierungsgebiet oder im städtebaulichen Entwicklungsbereich soll zur Vermeidung oder zum Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile, die für den Betroffenen in seinen persönlichen Lebensumständen, im wirtschaftlichen oder sozialen Bereich eine besondere Härte bedeuten und für die eine Ausgleichs- oder Entschädigungsleistung nicht zu gewähren ist und die auch nicht durch sonstige Maßnahmen ausgeglichen werden, auf Antrag von der Gemeinde ein Geldausgleich gewährt werden, soweit es der Billigkeit entspricht (Härteausgleich).
I n § 85 Abs. 2 ist dann ein Katalog von Eingriffstatbeständen genannt, bei denen dieser Ausgleich u. U. zusätzlich als Entschädigung beantragt werden kann 4 4 . Bei Enteignungen und vergleichbaren Eingriffsfällen w i r d man künftig also einen dreistufigen Ausgleichsmechanismus zu beachten haben: Substanzentschädigung, Folgenentschädigung, Härteausgleich. Der Härteausgleich ist gegenüber den beiden voraufgehenden Stufen wiederum subsidiär. Er stellt jedoch keine salvatorische Klausel dar, mit der sich der Gesetzgeber gegenüber dem verfassungsrechtlichen Entschädigungsjunktim noch einmal absichern wollte. Vielmehr ist er eine eigenständige Kompensationsleistung für solche wirtschaftlichen Nachteile, die von A r t . 14 Abs. 3 S. 3 GG gerade nicht abgedeckt werden. Es handelt sich bei i h m um eine Billigkeitsentschädigung außerhalb der Enteignungsentschädigung für besondere, anders nicht ausgleichbare Härten. Rechtlich ist diese Billigkeitsentschädigung zwar soweit verfestigt, daß sie bei vorliegendem Härtefall nicht nach Ermessen der Verwaltung ausgeteilt wird, sondern von dem Betroffenen beansprucht werden kann 4 5 , doch beruht das Institut selbst nur auf gesetzgeberischer Gewährleistung, nicht wie die Enteignungsentschädigung auf einem konkreten Verfassungstitel. Für das Auftreten dieses Instituts i m klassischen Enteignungsbereich des Städtebaurechts gibt es mehrere Gründe: Ein besonderer Ausgleich erweist sich rechtspolitisch dort als notwendig, wo die Substanzentschädigung nicht mehr reichlich bemessen, sondern an einem reduzierten Verkehrswert ausgerichtet ist. Interessanterweise gab schon das Reichssiedlungsgesetz vom 11. 8.1919 (RGBl S. 1429) bei der Ödlandenteignung (§ 3) i m Rahmen der sehr gering bemessenen Substanzentschädigung eine nach Ermessensgesichtspunkten einsetzbare Steigerungsklausel, die dogmatisch der Ansatz eines Härteausgleichs war. Ein zweiter 44 Nach §§ 122 a/b des Entw. der BBauG soll der Härteausgleich künftig allgemein in das städtebauliche Enteignungsrecht einbezogen werden. 45 Meyer - Stich - Schlichter, Städtebauförderungsgesetz, Kommentar (Lsbl., Stand 1972), § 85 Rdnr. 7; ganz h. M.; vgl. auch Bericht des 14. Bundestagsausschusses, Bundestags-Drucks. VI/2204, zu § 85.
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Eberhard Schmidt-Aßmann
Grund für die Einführung des Härteausgleichs mag i n der begrenzten Flexibilität der üblichen Folgenentschädigung liegen. Als Enteignungsentschädigung läßt sich dieser Entschädigungstyp trotz seiner Bezüge zur Person des Enteignungsbetroffenen nicht vom Enteignungsgegenstand lösen, sondern hat objektbezogen zu bleiben 4 6 , wenn anders man nicht die Schutzwirkung der Eigentumsgarantie von der Entschädigungsregelung her überdehnen und damit letztlich verflüchtigen will. Ein eigenständiges, nicht an A r t . 14 Abs. 3 S. 3 GG angelehntes I n stitut ist bei dieser Rechtslage die adäquate Reaktion auf eine städtebauliche Lage, die nun allerdings darauf angelegt ist, den Einzelnen künftig auch m i t solchen Eingriffen zu belasten, die sich über den gegenständlichen Bereich hinaus i n den persönlichen Lebensraum vorschieben. Der Härteausgleich des § 85 Städtebauförderungsgesetz zeigt hier eine interessante Verwandschaft m i t dem gleichnamigen Institut i n den Sicherstellungsgesetzen 47 und jüngst i n § 11 Energiesicherungsgesetz vom 9.11.1973 (BGBl I S. 1585). Diese Regelungen gehen ihrerseits zurück auf den i m § 21 Satz 2 des Bundesleistungsgesetzes i. d. F. vom 27. 9.1961 (BGBl I S. 1769) angeordneten Härteausgleich 48 . Damit sind Rechtsgebiete angesprochen, i n denen Eingriffsmaßnahmen auch sonst schon zu einem breiteren Spektrum persönlicher Betroffenheit führten, als das i m Städtebau bisher der Fall war. Der hier und künftig auch i m Städtebaurecht vorgeschriebene Härteausgleich erscheint so als Ausdruck eines individualisierenden, von der Person des Betroffenen her entworfenen Ausgleichsmittels 49 . Schon vom Begriff her steht er m i t den dem Sozialverwaltungsrecht eigenen Härteklauseln i n Zusammenhang 50 . Nicht nur zufällig sind daher auch Härteausgleich und Sozialplan i m Städtebauförderungsgesetz aufeinander bezogen 51 . Die i m Härteausgleich angelegten Elemente einer zusätzlichen stärker subjek-
46
Bielenberg (FN 43), § 85 Rdnr. 2. § 21 WassersicherstellungsG vom 24. 8.1965 (BGBl. I S. 1225); § 16 WirtschaftssicherstellungsG vom 24.8.1965 (BGBl I S. 920); § 24 VerkehrssicherstellungsG vom 24. 8.1965 (BGBl I S. 927) § 18 ErnährungssicherstellungsG vom 24. 8.1965 (BGBl I S. 938). 48 So ausdrücklich der Regierungsentwurf zum Verkehrssicherstellungsgesetz, Bundestags-Drucks. IV/894 zu § 24. 49 Bielenberg (FN 43), § 85 Rdnr. 8: „Anders als bei Ausgleichs- und Entschädigungsleistungen sind auch die persönlichen Vermögensverhältnisse und alle übrigen insoweit relevanten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen." 50 z. B. § 301 Lastenausgleichsgesetz i. d. F. vom 1.10.1969 (BGBl. I S. 1909). 51 So ausdrücklich § 85 Abs. 2 Nr. 6 StBauFG; vgl. Ausschußbericht (FN 45) zur Vorrangigkeit der Abhilfe durch den Sozialplan nach § 8 Abs. 2 StBauFG. 47
Z u r Dogmengeschichte der Enteignungsentschädigung
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t i v geprägten Kompensationsmöglichkeit erweisen sich also als ein durchaus sinnvolles Ergebnis der neueren Rechtsentwicklung. Alllerdings sind auch hier Grenzen zu beachten: Der Härteausgleich darf nicht zum Ansatz dafür werden, die i n A r t . 14 Abs. 3 GG verankerten Entschädigungsteile gesetzgeberisch weniger sorgfältig und angemessen zu fassen. Sehr zu Recht hat es der Gesetzgeber i m Städtebauförderungsgesetz daher abgelehnt, den Härteausgleich m i t der Enteignungsentschädigung zu vermischen 52 . Die i n der Substanz- und Folgeentschädigung verkörperte Enteignungsentschädigung muß von Verfassungs wegen bereits i n ihren Teilen auf einer gerechten Abwägung der beteiligten öffentlichen und privaten Interessen beruhen. Sie kann nicht durch eine wie immer geartete Härteklausel zurückgedrängt oder subjektiviert werden, sondern hat eine primär am Enteignungsobjekt ausgerichtete Entschädigung zu bleiben, zu der ein Härteausgleich nur hinzutreten kann.
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Ausschußbericht (FN 45); Bielenberg (FN 43), § 85 Rdnr. 2: „Hätte das Städtebauförderungsgesetz den Härteausgleich als Annex zu Entschädigungsleistungen geregelt, so wären die Entschädigungsregeln in ihren Prinzipien zu unbestimmt geworden."
V I I . öffentlicher Dienst
Rechtsdogmatische und rechtspolitische Bemerkungen zum Nebentätigkeitsrecht V o n Carl Hermann Ule
I. 1. Das geltende Beamtenrecht i n B u n d u n d Ländern beruht auf dem hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums, daß der Dienst als Beamter einen Lebensberuf darstellt. Die Anstellung der Beamten hat daher i n der Hegel, w i e schon A r t . 129 Abs. 1 Satz 1 W R V — w e n n auch n u r unvollkommen — zum Ausdruck brachte, auf Lebenszeit zu erfolgen. Diesen Grundsatz hat A r t . 33 Abs. 5 GG, wie das Bundesverfassungsgericht i n dem U r t e i l v o m 27. 4.1959 1 anerkannt hat, übernommen. „ A l s hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums galten bereits unter der Weimarer Reichsverfassung u. a. . . . lebenslängliche A n stellung . . . " Auch i m Schrifttum ist die Anstellung der Beamten auf Lebenszeit als hergebrachter Grundsatz unstreitig 2 . I m Zusammenhang damit steht die Feststellung, daß „das Beamten Verhältnis . . . nicht n u r hinsichtlich seiner zeitlichen Dauer, sondern auch was die Inanspruchnahme der Arbeitskraft des Beamten betrifft, Lebens- und Hauptberuf" ist 3 . Selbst Wiese, der die Sicherung der Rechtstellung der Beamten durch die Anstellung auf Lebenszeit skeptisch betrachtet 4 , scheint die Anstellung auf Lebenszeit als einen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums anzuerkennen 5 , obwohl er die Einschränkung macht, daß der Grundsatz „zur Disposition des Gesetzgebers" stehe, der i h n n u r zu berücksichtigen habe 6 . U m so mehr muß auffallen, daß der Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts (1973) i n einer Aufzählung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zwar die Ausgestaltung des Beamtenverhält-
1
E Bd. 9 S. 268 ff., 286. Vgl. Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl., Rdnr. 65 zu Art. 33 GG. 3 Ebenda, Rdnr. 66. 4 Der Staatsdiener in der Bundesrepublik Deutschland, 1972, S. 296 ff. 5 Ebenda, S. 215, 231, 237, 250 f., 252, 296 ff., 313, 331. 6 Ebenda, S. 215. 2
39 Festschrift für Werner Weber
Carl Hermann Ule
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nisses als öffentlich-rechtliches Dienst- und Treueverhältnis, die Gewährung angemessener Dienst- und Versorgungsbezüge, die parteipolitische Neutralität i m Amt, das Koalitionsrecht, den Schutz gegen w i l l kürliche Beendigung des Beamtenverhältnisses und die Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes, nicht aber die Anstellung auf Lebenszeit nennt 7 , obwohl die Kommission es für zweckmäßig hält, die Dienstverhältnisse der öffentlichen Bediensteten i n der Regel nicht zu befristen, sondern auf Dauer anzulegen 8 . 2. Aus dem Grundsatz, daß der Dienst als Beamter einen Lebensberuf darstellt, ergibt sich die Folgerung, daß der Beamte die Pflicht hat, seine ganze Arbeitskraft diesem Beruf zu widmen (§ 54 Satz 1 BBG). M i t den Pflichten eines Beamten auf Lebenszeit, auf Zeit oder auf Probe ist es daher unvereinbar, daß der Beamte eine Nebentätigkeit ausübt, die ihn i n der Erfüllung seiner Dienstpflichten beeinträchtigt. § 65 BBG, der die Übernahme bestimmter Nebentätigkeiten (Nebenämter, Nebenbeschäftigungen) an die vorherige Genehmigung der obersten Dienstbehörde oder einer von ihr ermächtigten nachgeordneten Behörde bindet (Abs. 1 und 3), schreibt deshalb i n Abs. 2 Satz 1 vor, daß die Genehmigung nur versagt werden darf, wenn zu besorgen ist, daß die Nebentätigkeit die dienstlichen Leistungen, die Unparteilichkeit oder die Unbefangenheit des Beamten oder andere dienstliche Interessen beeinträchtigen würde. Ist keiner dieser Gründe gegeben, so darf die Genehmigung allerdings nicht versagt werden; der Beamte hat dann einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Genehmigung. Umgekehrt bleiben nach § 66 Abs. 2 B B G bei den nicht genehmigungspflichtigen Nebentätigkeiten (§ 66 Abs. 1 BBG) die dienstliche Verantwortlichkeit des Beamten und die Pflicht des Dienstvorgesetzten, Mißbräuchen entgegenzutreten, unberührt. Der Beamte darf also durch eine nicht genehmigungspflichtige Nebentätigkeit nicht seine Dienstpflichten verletzen, insbesondere die Pflicht zur Dienstleistung, aber auch sonstige Amtspflichten, wie die Pflicht zur Mäßigung und Zurückhaltung bei politischer Betätigung (§ 53 BBG), zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten außerhalb des Dienstes (§ 44 Satz 3 BBG), zur Amtsverschwiegenheit (§ 61 Abs. 1 BBG). 3. Die Genehmigungspflichtigkeit bestimmter Nebentätigkeiten und die dienstliche Verantwortlichkeit des Beamten bei nicht genehmigungspflichtigen Nebentätigkeiten stellen eine Einschränkung des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG)
7 8
Ebenda, Tz. 97. Ebenda, Tz. 238.
Rechtsdogmatische Bemerkungen zum Nebentätigkeitsrecht
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dar 9 . Wiese 10 macht dagegen geltend, daß „wer einen Beruf ergreift, der von i h m nach Maßgabe der Beamtengesetze auf Lebenszeit volle H i n gabe fordert, so daß eine Nebentätigkeit wenn nicht ausgeschlossen, so doch nur begrenzt möglich ist, . . . durch seine Entscheidung nicht i n seiner Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung oder der Berufsausübung beschränkt" wird. Hier gehe es, so meint Wiese, „lediglich um die Konkretisierung des Inhalts und Umfanges der von dem Staatsdiener übernommenen Dienstpflicht, nicht aber u m eine Beschränkung von Grundrechten " 1 1 . Diesen Einwand halte ich nicht für begründet. Wäre er zutreffend, so brauchten Einschränkungen von Grundrechten in besonderen Gewaltverhältnissen, die auf Freiwilligkeit beruhen, nie einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Wieses Meinung läuft deshalb auf die überwundene Lehre hinaus, daß der freiwillige E i n t r i t t i n ein besonderes Gewaltverhältnis die Geltung von Grundrechten ausschließt oder einschränkt. Freiwilligkeit des Eintritts i n ein besonderes Gewaltverhältnis kann diese Wirkung aber nicht herbeiführen 12 . Vielmehr kommt es darauf an, ob die Einschränkung des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit durch die Anerkennung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums i n A r t . 33 Abs. 5 GG gerechtfertigt wird. Zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums, die für die Nebentätigkeit von Bedeutung sind, kommt vor allem der Grundsatz i n Betracht, daß der Beamte verpflichtet ist, sich m i t voller Hingabe, d. h. mit dem Einsatz seiner ganzen Arbeitskraft, seinem Beruf zu widmen (§ 54 Satz 1 BBG). Ob dieser Grundsatz durch die Verminderung der regelmäßigen Arbeitszeit auf jetzt 42 Stunden i n dieser Form noch aufrechterhalten werden kann, ist eine andere, später zu erörternde Frage. Jedenfalls liegt dem geltenden Recht als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums der Gedanke zugrunde, daß der Beamte keinen unbeschränkten Anspruch darauf hat, neben seiner hauptamtlichen Tätigkeit als Beamter eine bezahlte Nebentätigkeit auszuüben. Das hat das Bundesverwaltungsgericht i n einer Reihe von Entscheidungen deutlich ausgesprochen 13. 9 Ule, öffentlicher Dienst in: Bettermann/ Nipper dey, Die Grundrechte Bd. I V 2, 1962, S. 537 ff., 622 f. mit weiteren Schrifttumsnachweisen, ders., Beamtenrecht, 1970, Rdnr. 1 zu § 42 BRRG. 10 Wiese S. 121. 11 Ebenda, S. 121. 12 Vgl. Ule, Öffentlicher Dienst, S. 614 ff. 18 BVerwG vom 27.10.1966 E Bd. 25 S. 210 ff., 219 f. vom 26. 4.1968 E Bd. 29 S. 304 ff., 307 f.; vom 13. 2.1969 E Bd. 31 S. 241 ff.; vom 21. 5.1970 E Bd. 35 S. 201 ff., 205; vom 25.1.1973 DVB1. 1973 S. 567 ff. = JZ 1974, S. 131 ff. m. Anm. von Ule.
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Carl Hermann Ule
4. Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht auch klargestellt, daß das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht weiter eingeschränkt werden darf, als es die Rücksichtnahme auf dienstliche Interessen — i m weitesten Sinne — erfordert. So heißt es i n dem U r teil vom 26. 4.1968 14 , daß nur „dienstliche Interessen" die Versagung der Genehmigung rechtfertigen können, i n dem Urteil vom 13.12.1969 15 , daß es den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums nicht entspricht, „das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit weiter einzuschränken, als es die Rücksichtnahme auf dienstliche Interessen fordert", und i n dem Urteil vom 21. 5.1970 16 , es entspreche „den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums, zumal bei Achtung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, . . . nicht, das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit weiter einzuschränken, als es die Rücksichtnahme auf dienstliche Interessen — i m weitesten Sinne — erfordert". Diesen Anforderungen entsprechen § 65 Abs. 2 und § 66 Abs. 2 B B G uneingeschränkt 17 . 5. Ist die Versagung der Genehmigung zu einer genehmigungspflichtigen Nebentätigkeit nach § 65 Abs. 2 BBG an die Besorgnis einer Beeinträchtigung dienstlicher Interessen und die Ausübung einer nicht genehmigungspflichtigen Nebentätigkeit nach § 66 BBG an die Einhaltung der Dienstpflichten gebunden, so ergeben sich aus dieser Bindung Einschränkungen des Grundsatzes, daß sich der Beamte mit seiner ganzen Arbeitskraft seinem Beruf zu widmen hat. Dieser Grundsatz beruht auf der Voraussetzung, daß der Beamte verpflichtet ist, seine ganze Arbeitskraft zur Erfüllung seiner Pflichten aus dem Beamtenverhältnis einzusetzen. Diese Voraussetzung war vorhanden, solange die Arbeitszeit der Beamten so bemessen war, daß ihnen freie Zeit für eine außerdienstliche Verwertung ihrer Arbeitskraft nur i n geringem Maße zur Verfügung stand. Der Gesetzgeber konnte daher davon ausgehen, daß eine Verwendung dieser Freizeit für eine Nebentätigkeit der Beamten i n der Regel zu einer Beeinträchtigung ihrer dienstlichen Tätigkeit führen müsse. Diese Voraussetzung ist nicht mehr in dem gleichen Umfang gegeben, wie das früher der Fall war. Durch die allmähliche Verminderung der 14
Ebenda, S. 307 f. Ebenda, S. 248. 16 Ebenda, S. 205. 17 Auf die Frage, ob die Landesgesetzgebung die Versagung der Genehmigung in das Ermessen des Dienstherrn stellen kann, soll hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu BVerwG vom 26. 4.1968, S. 306 f. und vom 13. 2.1969, S. 247 und Bachof, Neue Tendenzen in der Rechtsprechung zum Ermessen und zum Beurteilungsspielraum, JZ 1972 S. 641 ff., 643 f. 15
Rechtsdogmatische Bemerkungen zum Nebentätigkeitsrecht
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regelmäßigen Arbeitszeit von wöchentlich 51 Stunden i m Jahre 193818 auf 42 Stunden i m Jahre 197119 haben sich die Verhältnisse geändert. Sollte die regelmäßige Arbeitszeit weiter herabgesetzt werden, w i r d die den Beamten zur Verfügung stehende Freizeit noch größer sein. Auch die Einführung des dienstfreien Sonnabends (§ 1 Abs. 1 AZVO) hat die Möglichkeit für eine Nebentätigkeit der Beamten erweitert. 6. Eine Nebentätigkeit, die sich i n zeitlichen Grenzen hält, w i r d daher die dienstlichen Leistungen eines Beamten i n der Regel nicht beeinträchtigen. Da das geltende Recht (§ 65 Abs. 2, § 66 Abs. 2 BBG) darauf abstellt, ob die dienstlichen Interessen durch die Nebentätigkeit beeinträchtigt werden oder beeinträchtigt worden sind, w i r d die Verkürzung der regelmäßigen Arbeitszeit bei der Beantwortung dieser Frage eine maßgebliche Rolle spielen. A u f diesen Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Nebentätigkeit hat die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits i n mehreren Entscheidungen hingewiesen. So hat das Bundesverwaltungsgericht i n dem Beschluß vom 19. 3.1970 20 ausgeführt, daß sich der Beamte seinem Hauptamt zwar „ m i t voller Hingabe" (§ 54 BBG), „jedoch mit seiner Arbeitskraft i m allgemeinen nur nach Maßgabe der Vorschriften über die Arbeitszeit zu widmen (vgl. Urt. des Senats vom 18.12.1969 — BVerwG H C 61.67 —)" habe. „Dem Beamten . . . bleibt daneben noch Zeit, die er nicht für sein Hauptamt zu verwenden braucht und über die er frei verfügen darf. Diese freie Zeit ist zwar i n erster Linie für seine Erholung und damit für die Erhaltung seiner Arbeitskraft und Dienstfähigkeit bestimmt. Daneben darf er sie aber i m allgemeinen auch für eine entgeltliche Nebentätigkeit verwerten. Eine solche Nebentätigkeit darf i h m der Dienstherr nur insoweit untersagen, als sie dienstliche Interessen — diese allerdings i n einem weit verstandenen Sinne — beeinträchtigen könnte (vgl. BVerwG 29, 304 [306]; 31, 241 [247] 21 ." Zu den Grundsätzen dieser Entscheidung hat sich das Bundesverwaltungsgericht i n den Urteilen vom 19. 9.1970 22 und 25.1.1973 23 bekannt. Werden die dienstlichen Leistungen eines Beamten unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Freizeit durch die Nebentätigkeit nicht beeinträchtigt, so darf die Genehmigung für eine genehmi18
Verordnung über die Arbeitszeit der Beamten vom 13. 5.1938 (RGBl. I S. 593). 19 Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Arbeitszeit der Bundesbeamten i. d. F. der Bekanntmachung vom 6.12.1968 (BGBl. I S. 1 319). 20 ZBR 1970 S. 184 ff. Vgl. auch BVerwG vom 21. 5.1970, S. 206. 21 Ebenda, S. 185. 22 DRiZ 1971 S. 242. 23 Ebenda, S. 568.
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gungspflichtige Nebentätigkeit nicht versagt werden, es sei denn, daß die Nebentätigkeit die Unparteilichkeit oder Unbefangenheit des Beamten oder andere dienstliche Interessen beeinträchtigen würde (§ 65 Abs. 2 BBG). Gegen eine nicht genehmigungspflichtige Nebentätigkeit darf der Dienstvorgesetzte des Beamten nur einschreiten, wenn der Beamte durch seine Nebentätigkeit sonstige Amtspflichten verletzt (§ 66 Abs. 2 BBG). So hat das Bundesverwaltungsgericht i n dem Urteil vom 13. 2. 196924 die Frage erörtert, ob die Nebentätigkeit als ziviler Fahrlehrer die Unparteilichkeit oder Unbefangenheit eines Polizeifahrlehrers beeinträchtigt, und diese Frage offenbar für den Fall bejaht, daß der Beamte demnächst i m Verkehrspolizeidienst eingesetzt würde. I n dem Urteil vom 16. 3.1972 25 hat es eine Verletzung dienstlicher Pflichten dari n erblickt, daß ein Notariatsdirektor (Beamter auf Lebenszeit) dienstlich erworbene Kenntnisse pflichtwidrig i n seiner Nebentätigkeit als Mitglied des Aufsichtsrats einer eingetragenen Genossenschaft m. b. H. (Volksbank) verwerten würde. 7. § 6 Abs. 3 BNebentätigkeitsVO sieht eine Ablieferungspflicht vor, wenn ein Beamter Vergütungen für ein oder mehrere Nebentätigkeiten i m Bundesdienst oder für sonstige Nebentätigkeiten erhält, die er i m öffentlichen Dienst oder i n dem i h m gleichstehenden Dienst oder auf Vorschlag oder Veranlassung eines Dienstvorgesetzten ausübt. Vgl. auch § 8 BNebentätigkeitsVO über die Ablieferungspflicht von Vergütungen für Nebentätigkeiten i m Organ eines Unternehmens. Inwieweit diese Ablieferungspflicht m i t dem Grundsatz vereinbar ist, daß das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit nicht weiter eingeschränkt werden darf, als es die Rücksicht auf dienstliche Interessen erfordert, soll hier nicht näher untersucht werden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 26 und des Bundesverwaltungsgerichts 27 hat die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Ablieferungspflicht grundsätzlich bejaht, jedoch gewisse Anforderungen an den Inhalt einer entsprechenden gesetzlichen Regelung gestellt 28 . 8. I n der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts w i r d die Pflicht zur Genehmigung von Nebentätigkeiten auch i n Verbindung m i t dem Alimentationsgrundsatz gebracht. Das Oberverwaltungsgericht 24
S. 252. E Bd. 40 S. 11 ff. 26 Beschl. vom 12. 4.1972 E Bd. 33 S. 44 ff. 27 Beschl. vom 19.3.1970 ZBR S. 184 ff., 185; Urt. vom 21.5.1970 E Bd. 35 S. 201 ff., 206; vom 3.9.1970 E Bd. 36 S. 61 ff.; vom 25.1.1973 DVB1. 1973, S. 567 ff. 28 BVerwG vom 19. 3.1970, S. 185; vom 21. 5.1970, S. 206 ff.; vom 25.1.1973, S. 569 f. 25
Rechtsdogmatische Bemerkungen zum Nebentätigkeitsrecht
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Münster als Berufungsgericht 29 und der Oberbundesanwalt hatten i n dem Verfahren, das dem Beschluß vom 19. 3.1970 30 zugrunde lag, die Auffassung vertreten, daß der Alimentationsgrundsatz die unterschiedliche Behandlung von Nebentätigkeiten i m öffentlichen Dienst und außerhalb desselben rechtfertige 31 . Dieser Auffassung ist das Bundesverwaltungsgericht mit Recht entgegengetreten. Der Alimentationsgrundsatz bedeutet, daß der Dienstherr dem Beamten auf Lebenszeit angemessenen Unterhalt zu gewähren hat, d. h. daß die Besoldung des Beamten so bemessen sein muß, daß sie i h m und seiner Familie eine der Bedeutung seines Amtes entsprechende Lebensführung gestattet 32 . Er schließt jedoch nicht, wie das Oberverwaltungsgericht Münster 3 3 und der Oberbundesanwalt meinen, den Grundsatz ein, daß er diesen angemessenen Unterhalt für seine gesamte Tätigkeit i m öffentlichen Dienst nur einmal aus öffentlichen Mitteln beanspruchen kann. Wie das Bundesverwaltungsgericht zutreffend ausführt, erhält der Beamte mit der Besoldung nur die nach der Bedeutung seines Amtes, d. h. seines Hauptamtes, abgestufte, und diesem A m t angemessene Alimentation, also für die i m allgemeinen nach Maßgabe der Arbeitszeitvorschriften von i h m zu fordernde Ausübung dieses Hauptamtes; deshalb läßt sich schwerlich „die Auffassung rechtfertigen, die i h m hierfür gewährte Alimentation schließe grundsätzlich jede weitere Vergütung aus öffentlichen Mitteln für eine zusätzliche Arbeitsleistung i m öffentlichen Dienst aus. Dem Alimentationsgrundsatz trägt mehr die Überlegung Rechnung, daß für eine insgesamt an Arbeit und Verantwortung umfangreichere Tätigkeit i m öffentlichen Dienst auch eine höhere Alimentierung angemessen erscheint" 34 . A n dieser Begründung hat das Bundesverwaltungsgericht i n dem Urteil vom 25.1.1973 35 allerdings nicht festgehalten. Denn hier w i r d der Inhalt des Alimentationsgrundsatzes dahin umschrieben, er besage einerseits, „daß der Dienstherr dem Beamten und seiner Familie i n Form von Dienstbezügen sowie einer Alters- und H i n terbliebenenversorgung einen dem Dienstrang, der Bedeutung des A m tes und der Entwicklung der allgemeinen Lebensverhältnisse angemessenen Lebensunterhalt — grundsätzlich auf Lebenszeit — zu gewähren hat", und andererseits, „daß der Beamte (nur) diesen einen Unterhalt für seine gesamte Tätigkeit i m öffentlichen Dienst fordern kann". Trotz dieser Abkehr von der i n dem Beschluß vom 19. 3.1970 gewonnenen Erkenntnis meint das Bundesverwaltungsgericht allerdings, daß 29 30 31 32 33 34 35
Urt. vom 13.11.1964 Amtl. Samml. Bd. 20, S. 274 ff. ZBR 1970 S. 184 ff. O V G Münster vom 13.11.1964, S. 284. BVerfG vom 1.12.1954 E Bd. 4 S. 115 ff., 135. S. 284. S. 185. S. 568.
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der Dienstherr von dem Beamten nicht Dienstleistungen gleichsam „ r u n d u m die U h r " fordern oder entgegennehmen dürfe und i h m gleichwohl nur eine Alimentation für seine gesamte Tätigkeit i m öffentlichen Dienst zu leisten habe. Es sieht die Einschränkung des A l i mentationsprinzips i n den zeitlichen Grenzen, die seinen dienstlichen Pflichten durch die Regelung der Arbeitszeit gezogen sind. Der Beamte habe den i h m vom Dienstherrn zu gewährenden Lebensunterhalt schon dann „erdient", wenn er sich m i t seiner ganzen Persönlichkeit seinem Dienstherrn zur Verfügung stelle und i n den zeitlichen Grenzen, die durch die jeweils geltenden Arbeitszeitvorschriften gezogen seien, seine dienstlichen Obliegenheiten mit seiner vollen Arbeitskraft erfülle. Daraus ergebe sich, „daß der Beamte i n bezug auf die von i h m außerhalb dieser zeitlichen Grenzen, i n der ,Freizeit', für den öffentlichen Dienst geleistete Nebentätigkeit nicht ohne weiteres auf die i h m für die Tätigkeit i m Hauptamt gewährte Alimentation beschränkt werden darf, solange die Arbeitszeit durch Arbeitszeitvorschriften derart bemessen ist, daß der Beamte sich i n der ,Freizeit 4 nicht nur ausreichend erholen, sondern außerdem einer Nebentätigkeit nachgehen kann" 3 6 . Dogmatisch ist die richtige Lösung m i t dem Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. 3.1970 darin zu sehen, daß der Alimentationsgrundsatz durch die Regelung der Arbeitszeit und die gesetzliche Einführung einer „Überstundenvergütung" für Mehrarbeit 3 7 eingeschränkt ist. Dadurch w i r d die volle Hingabe an den Beruf, die Voraussetzung der Alimentation ist, jedoch nicht, wie Wiese 38 gemeint hat, „ausgehöhlt". Richtig verstanden ist die volle Hingabe an den Beruf keine quantitative, sondern eine qualitative Frage. Sie liegt nicht i n der Dauer der Arbeitsleistung, sondern i n der Intensität, m i t der die dienstlichen Aufgaben erfüllt werden. Volle Hingabe an den Beruf bedeutet, daß der Beamte seine ganze Persönlichkeit i n den Dienst für den Staat stellt und i n dieser Verbindung seine volle Berufserfüllung findet. II. Trotz dieser auf eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung der Nebentätigkeitsvorschriften abstellenden Entwicklung, die auch den Veränderungen i n der tatsächlichen und rechtlichen Stellung der Beamten Rechnung trägt, w i r d das geltende Nebentätigkeitsrecht seit einigen Jahren grundsätzlich i n Frage gestellt 39 . 36
S. 568. Vgl. § 72 Abs. 1 Satz 3 BBG i. d. F. vom 17. 7.1971, BGBl. I S. 1182. 38 Wiese, S. 96. 39 Vgl. ζ. B. Steinbach, Ist das Nebentätigkeitsrecht noch zeitgemäß?, BayBZ 1971 S. 134 f. 37
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1. Das Verbot der Nebentätigkeit (mit Genehmigungsvorbehalt) i n § 65 BBG, das von Wiese 40 — juristisch unscharf — als „Grundsatz der Erlaubnisfähigkeit m i t Versagungsmöglichkeit" bezeichnet wird, soll nach Thiemes Vorschlag durch ein „System der freien Aufnahme von Nebentätigkeiten" 4 1 ersetzt werden. Thieme meint, daß dieses Verbot deshalb nicht aufrechterhalten werden könne, weil es gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße 42 . Aber die für diese Meinung angeführten Gründe können nicht überzeugen. a) Zwar gibt Thieme zu, daß das Verbot privater Nebentätigkeit wegen der Gefahr der Interessenkollision berechtigt sei 43 . Er hält es aber für zweifelhaft, i n welchem Umfang eine echte Kollision stattfindet. I n dem von i h m gegebenen Beispiel für das Fehlen einer solchen Interessenkollision läßt sich jedoch auch die gegenteilige Auffassung vertreten. Wenn ein Steuerbeamter i n seiner Freizeit Steuerberatung betreibt, kann es sich auch um Steuerfälle handeln, die er selbst i m A m t zu bearbeiten hat. b) Zuzugeben ist Thieme, daß die heutige Arbeitszeitregelung praktisch bedeutet, daß der Beamte nicht mehr gezwungen ist, seine gesamte Arbeitskraft für den Dienstherrn einzusetzen 44 . Daraus hat die Rechtsprechung aber bereits die notwendigen Folgerungen gezogen. c) Thieme meint, es sei nicht konsequent, daß das Nebentätigkeitsrecht sich erst dann für die private Sphäre des Beamten interessiere, wenn der Beamte entgeltlich tätig werde 4 5 . Es sei inkonsequent, weil es kein Argument dafür gebe, den Beamten zur A r m u t oder doch zumindest auf seine Dienstbezüge als Höchstmaß des Einkommens zu verpflichten. Diese Beweisführung t r i f f t nicht den Kern der Frage, weil hinter der gesetzlichen Regelung die zutreffende Erwägung steht, daß eine entgeltliche Tätigkeit i n der Regel mehr als eine unentgeltliche geeignet ist, die dienstlichen Leistungen des Beamten oder andere dienstliche Interessen zu beeinträchtigen. Obwohl Thieme diese Gefahr nicht leugnet, w i l l er durch den Hinweis auf die Verhältnisse i n der Privatwirtschaft, i n der regelmäßig kein Verbot der Nebentätigkeit bestehe, beweisen, daß derartige Gefahren ernsthaft nicht bestünden. Dieser Hinweis ist jedoch nicht beweiskräftig, weil die i n der Privat40
Wiese, S. 120 Anm. 78. Thieme, Empfiehlt es sich, das Beamtenrecht unter Berücksichtigung der Wandlungen von Staat und Gesellschaft neu zu ordnen? Gutachten zum 44. Deutschen Juristentag, 1970, S. 55. 42 Ebenda, S. 56. 43 Ebenda, S. 54. 44 Ebenda, S. 54. 45 Ebenda, S. 55. 41
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Wirtschaft tätigen Arbeitnehmer nicht auf Lebenszeit angestellt sind und die Tätigkeit bei einem bestimmten Arbeitgeber nicht zu ihrem Lebensberuf gemacht haben. Auch spielt die Unvereinbarkeit der Nebentätigkeit m i t dem Ansehen der Beamtenschaft oder dem Wohl der Allgemeinheit und der Widerstreit zu den dienstlichen Pflichten (§ 5 Abs. 2 Satz 2 BNebentätigkeitsVO) dort auch i m übertragenen Sinne keine Rolle. d) Thieme gibt zu, daß eine übermäßige Nebentätigkeit denkbar ist und von ihr Gefahren drohen 46 . Daher müsse für Mißbrauchsfälle eine Verbotsmöglichkeit bestehen. Unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten halte er jedoch ein Mißbrauchsverbot für richtiger als das bestehende Verbot m i t Genehmigungsvorbehalt. Er meint, daß unter der Herrschaft des Verbots m i t Genehmigungsvorbehalt regelmäßig eine Genehmigung erfolgen müsse. Das Genehmigungsverfahren bedeute daher einen Verwaltungsaufwand, der i n keinem Verhältnis zum Nutzen stehe. Das gelte auch deshalb, weil die Verfahren zumeist nicht m i t intensiven Ermittlungen betrieben und daher mögliche Mißbräuche nicht erkannt würden. Richtig erscheine daher allein „ein System der freien Aufnahme von Nebentätigkeiten". Definiere man den zu bekämpfenden Mißbrauch als ein Ereignis, das dienstliche Interessen verletzt, so müsse und werde sich i m Dienst zeigen, ob ein Mißbrauchsfall vorliege. Eines besonderen vorgängigen Verfahrens bedürfe es daher nicht. Allenfalls könnte man sagen, daß es Leistungsminderungen gebe, die durch eine Nebentätigkeit hervorgerufen würden, die nicht zugleich zu nicht hinzunehmenden Leistungsmängeln führten. Hier werde der „Mißbrauch" nicht evident; er könnte aber bei Vorschaltung einer Genehmigungs- oder A n zeigepflicht erkennbar werden. Trotz der zutreffenden Überlegung, daß die Vorschaltung eines Genehmigungsverfahrens einen Mißbrauchsfall rechtzeitig, nämlich vor Übernahme der Nebentätigkeit, erkennbar machen würde 4 7 , bleibt Thieme bei der Ablehnung des Verbots m i t Genehmigungsvorbehalt. Er meint, daß die Leistung des Beamten nach Qualität und Quantität i n aller Regel fixiert sei, so daß die Leistungsminderung entweder nicht zum Absinken der Leistung unter die Norm führe oder aber als normwidrig entdeckt werde. Dann bestehe immer noch die Möglichkeit, ein Verbot auszusprechen. 2. Wie Thieme schlägt auch ein Teil der Mitglieder der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts vor, für alle Ne46 47
Ebenda, S. 55. Ebenda, S. 56.
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bentätigkeiten außerhalb des öffentlichen Dienstes die Genehmigungsfreiheit mit Verbotsvorbehalt und eine Anzeigepflicht vorzusehen 48 E i hält es zur Wahrung der dienstlichen Interessen für ausreichend, wenn der Dienstherr i m Einzelfall eine Nebentätigkeit untersagen kann, und meint, eine Anzeigepflicht (vor Aufnahme der Tätigkeit) reiche für die Mißbrauchskontrolle aus 49 . Gegen die Anzeigepflicht hat Thieme 50 jedoch eingewandt, daß sie wenig geeignet zu sein scheine, dem Dienstherrn Informationen über einen möglichen Mißbrauch zu geben. Denn der Umfang der Nebentätigkeit und insbesondere mögliche Mißbrauchsfälle seien aus der Anzeige kaum ersichtlich. Ein anderer Teil der Mitglieder der Kommission ist dagegen der A u f fassung, daß bei den bisher unter den Genehmigungsvorbehalt fallenden Nebentätigkeiten die Gefahr einer Beeinträchtigung der dienstlichen Interessen besonders groß sei, und daß dieser Gefahr am besten durch eine Genehmigungspflicht begegnet werden könne. Der Zwang, eine Genehmigung einzuholen, veranlasse den Bediensteten, die Vereinbarkeit der Nebentätigkeit mit den dienstlichen Belangen sorgfältig zu prüfen. Das Verbot, die Nebentätigkeit vor Erteilung der Genehmigung aufzunehmen, erleichtere die Verhinderung von Mißbräuchen 51 . 3. Noch weiter als die Vorschläge von Thieme und die Empfehlungen eines Teils der Studienkommission zur Reform des öffentlichen Dienstrechts geht der Antrag, den der Regierungsrat Sauer auf dem 48. Deutschen Juristentag gestellt hat. Nach diesem Antrag 5 2 sind dem Beamten m i t Befähigung zum Richteramt die seiner Vorbildung entsprechenden Nebentätigkeiten zu ermöglichen. Der Gesetzgeber w i r d aufgerufen, § 7 Nr. 10 BRAO aufzuheben. Dieser Antrag ist zwar m i t 99 gegen 18 Stimmen bei 17 Enthaltungen abgelehnt worden, er zeigt aber, daß nach den Vorstellungen des Antragstellers § 7 Nr. 10 BRAO, der i m aktiven Beamten- oder Richterverhältnis stehende Personen von der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft ausschließt, aufgehoben und damit jedem Beamten m i t Befähigung zum Richteramt die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft ermöglicht werden soll. Zwar würde die Aufhebung des § 7 Nr. 10 BRAO an der Genehmigungspflichtigkeit der Tätigkeit als Rechtsanwalt als der Ausübung eines freien Berufs (§ 65 Abs. 1 Nr. 2 BBG) nichts ändern 53 , aber dem Antragsteller schwebt wohl vor, 48
Ebenda, Tz. 339. Ebenda, Tz. 349. 50 Ebenda, S. 55. 51 Ebenda, Tz. 348. 52 Sitzungsbericht Ο zum 48. Deutschen Juristentag, S. 192. 53 Dies hat das Bundesverwaltungsgericht für die Erteilung einer Erlaubnis zur geschäftsmäßigen Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten ausgesprochen, Urt. vom 13. 2.1970 DöV 1970, S. 494 ff. 49
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nicht n u r die anwaltsrechtlichen, sondern auch die beamtenrechtlichen Hindernisse einer solchen Nebentätigkeit zu beseitigen. Er müßte, wenn sein A n t r a g praktische Wirkungen haben sollte, also auch für die Änderung des § 66 Abs. 2 B B G eintreten. 4. Dieser Vorschlag würde, w e n n auch n u r für eine bestimmte Beamtengruppe u n d f ü r eine bestimmte A r t von Nebentätigkeit, ein uneingeschränktes Recht auf Nebentätigkeit zur Folge haben, ein Ziel, das weder Thieme noch ein T e i l der Mitglieder der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts anstreben. E i n solches uneingeschränktes Recht auf Nebentätigkeit ist m i t den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums unvereinbar. Es würde das B i l d des deutschen Beamten, das durch den hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums, seine ganze Arbeitskraft seinem A m t zu widmen, grundlegend verändern. Thieme 54 hat Recht, wenn er das Nebentätigkeitsproblem als eine „Schlüsselfrage" bezeichnet. Es ist i n der Tat eine für das Wesen des Berufsbeamtentums entscheidende Frage, ob dem Beamten ein uneingeschränktes Recht auf Nebentätigkeit zustehen oder ob er ein Recht auf Nebentätigkeit n u r dann haben soll, wenn nicht zu besorgen ist, daß die Nebentätigkeit dienstliche Interessen beeinträchtigen würde (§ 65 Abs. 2 BBG). Die von Thieme bekämpfte „Ansicht, daß auch der private Bereich, d. h. w e n n der Beamte etwas tut, das keine Relevanz zum Dienst hat, u n d nicht einmal eine Interessenkollision eintreten kann, unter eine beamtenrechtliche Regelung zu stellen i s t " 5 5 , stellt jedenfalls nicht die Auffassung dar, die dem geltenden Nebentätigkeitsrecht zugrunde liegt. Thieme wendet sich hier gegen eine Meinung, die von niemand mehr vertreten w i r d . 5. Z u welchen Gefahren ein bloßes Mißbrauchsverbot führen kann, l e h r t folgender i n der Praxis vorgekommener Fall: E i n Verwaltungsangestellter der Stadt M. w a r jahrelang als Vertrauensmann f ü r das Beamten-Heimstättenwerk u n d den DeBeKaVersicherungsverein auf Gegenseitigkeit tätig u n d bezog für diese Nebentätigkeit Einkünfte i n Höhe von monatlich etwa 8 500 D M . U m eine Genehmigung f ü r diese Nebentätigkeit hatte er bei seinem Arbeitgeber nicht nachgesucht. Dieser erfuhr erst nach Jahren durch Z u f a l l von der Nebentätigkeit. A u f die Nebentätigkeit eines Angestellten finden nach § 11 B A T die für die Beamten des Arbeitgebers jeweils geltenden Bestimmungen sinngemäß Anwendung. 54 55
Sitzungsberichte des 48. Deutschen Juristentages, S. 180. Ebenda, S. 180.
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Der Angestellte vertrat die Auffassung, daß seine Nebentätigkeit nach der dem § 66 Abs. 1 Nr. 4 B B G entsprechenden Vorschrift des Landesbeamtengesetzes nicht genehmigungspflichtig sei, w e i l es sich u m eine Tätigkeit zur Wahrung von Berufsinteressen i n Genossenschaften oder Berufsverbänden oder i n Selbsthilfeeinrichtungen der Beamten handele. I n dem vor dem Arbeitsgericht und dem Landesarbeitsgericht geführten Rechtsstreit war die Frage streitig, ob es sich bei der Nebentätigkeit des Angestellten als Vertrauensmann u m eine genehmigungspflichtige oder u m eine nicht genehmigungspflichtige Tätigkeit handele. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob die entsprechende Vorschrift des Landesbeamtengesetzes nur solche Nebentätigkeiten i n Selbsthilfeeinrichtungen der Beamten für nicht genehmigungspflichtig erklärt, die „zur Wahrung von Berufsinteressen" erfolgen. Auch kommt es darauf an, was unter „Wahrung von Berufsinteressen" zu verstehen ist. Die hier zu klärenden Rechtsfragen können i m Rahmen dieser A b handlung nicht weiter verfolgt werden 5 6 . Der Fall zeigt jedoch, daß beim Fehlen einer Genehmigungspflicht die Nebentätigkeit jahrelang ausgeübt werden kann, ohne daß der Dienstherr i n die Lage versetzt wird, dem Mißbrauch durch den Beamten entgegenzutreten. Daß hier ein Mißbrauch vorlag, ergibt sich allein aus der Höhe des Verdienstes aus der Nebentätigkeit (er betrug etwa das Sechsfache seiner Vergütung als Verwaltungsangestellter) und ihrem daraus zu schließenden Umfang. Wäre die Nebentätigkeit dagegen auch von dem Angestellten als genehmigungspflichtig angesehen worden, so häte der Dienstherr vor Erteilung der Genehmigung prüfen können, ob die Nebentätigkeit einen solchen Umfang annehmen werde, daß dadurch die dienstlichen Leistungen des Angestellten beeinträchtigt würden. War diese Frage zu bejahen, hatte er die Genehmigung zu versagen.
56 Das Landesarbeitsgericht hat die Genehmigungspflichtigkeit verneint (Urt. des L A G Mannheim vom 3. 5.1973 — 3 Sa 69/72 — ). Die Genehmigungspflicht hätte aber bejaht werden müssen, weil das Beamten-Heimstättenwerk und der DeBeKa zwar „Selbsthilfeeinrichtungen der Beamten" sind (so auch die Erlasse des Bundesministers des Innern vom 2. und 10.11.1959 — I I A 1 — 21 263 — 283 1/59 und 359 III/59 — ), die Tätigkeit in Selbsthilfeeinrichtungen der Beamten aber nur dann nicht genehmigungspflichtig ist, wenn sie „zur Wahrung von Berufsinteressen" erfolgt (ebenso Hildebrandt/ Demmler/Bachmann, Beamtengesetz für das Land Nordrhein-Westfalen, Anm. 5 zu § 69 L B G NW, Scheerbarth, Beamtenrecht 1967, S. 177) und die Tätigkeit als Vertrauensmann als reine Vertretertätigkeit nicht „zur Wahrung von Berufsinteressen" erfolgt (ebenso Hildebrandt/Demmler/Bachmann, und Scheerbarth).
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III. Zum Schluß soll noch ein Blick auf die Ergebnisse einer rechtsvergleichenden Untersuchung geworfen werden, die von der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts angeregt worden ist. Diese Ergebnisse sind i n den Bänden „Recht und System des öffentlichen Dienstes" 57 niedergelegt, i n denen Sachverständige aus 13 europäischen und außereuropäischen Staaten und 6 internationalen und übernationalen Organisationen auch zu dem Problem der Nebentätigkeit Stellung genommen haben. I n dem jedem Sachverständigen vorgelegten Fragenkatalog war unter 2. 4. 2 auch danach gefragt, ob es besondere Regelungen für die Tätigkeit außerhalb des Beschäftigungsverhältnisses i m öffentlichen Dienst gibt (ζ. B. Verbot oder Genehmigungsvorbehalt einer Nebentätigkeit, Ablieferung oder Anrechnung des Verdienstes auf die Nebentätigkeit). Leider sind die von den Sachverständigen gegebenen Antworten nicht immer so ausführlich und unzweideutig, daß sie für eine rechtsvergleichende Würdigung verwertet werden können. I n den meisten der untersuchten Staaten und Organisationen gibt es aber weder ein uneingeschränktes Recht der Angehörigen des öffentlichen Dienstes auf Nebentätigkeit noch das von Thieme vorgeschlagene „System der freien Aufnahme von Nebentätigkeiten". Vielmehr dominiert das Verbot m i t Genehmigungsvorbehält (wie in Frankreich 5 8 , Italien 5 9 , Japan 60 , der Schweiz 61 , Spanien 62 sowie bei dem Internationalen Arbeitsamt 6 3 , der Internationalen AtomenergieKommission 6 4 , der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 65 , dem Europarat 6 6 , der N A T O 6 7 , den Europäischen Gemeinschaften 6 8 ' 6 9 ). Allerdings stimmen Recht und Wirklichkeit nicht immer überein. So ist i n Spanien trotz des Wortlauts des Gesetzes die Nebentätigkeit gegen Entgelt bei öffentlichen Bediensteten die Regel und nicht die Aus57
Herausgeber: Joseph H. Kaiser/Franz May er/Carl Hermann Ule, 1973. Bd. I, S. 58. 59 Bd. I, S. 172. 60 Bd. I, S. 233. 61 Bd. I I , S. 121, 135. 62 Bd. I I , S. 189 f. 63 Bd. IV, S. 75 f. 64 Bd. I V , S. 125. 65 Bd. I V , S. 180. ββ Bd. I V , S. 242. 67 Bd. I V , S. 277. 68 Bd. I V , S. 327 f. 69 Das Recht der sozialistischen Staaten soll hier aus naheliegenden Gründen nicht einbezogen werden, obwohl in Polen (Bd. I I , S. 240) und Ungarn (Bd. I I I , S. 296) ein Verbot mit Genehmigungsvorbehalt gilt. 58
Rechtsdogmatische Bemerkungen zum Nebentätigkeitsrecht
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nähme. „Die mehrfache Beschäftigung (pluriempleo) ist ein völlig normaler Zustand, der den öffentlichen Dienst schwer belastet. Schätzungsweise üben 95 v H der Bediensteten eine Nebenbeschäftigung gegen Vergütung aus 70 ." Auch i n Italien, wo die Nebentätigkeit verboten ist, ist es „fast die Regel, daß besonders die Bediensteten i n den niedrigeren Laufbahnen einer zweiten Beschäftigung nachgehen" 71 . Die Gründe liegen „ i n der früher sehr niedrigen Besoldung der öffentlichen Bediensteten, die sie häufig tatsächlich zwang, eine weitere Beschäftigung zu finden" und i n ihrer enorm kurzen Arbeitszeit. „Nach dem Wortlaut des Gesetzes dauern die Arbeitsstunden von 8 - 1 4 Uhr; tatsächlich läßt sich diese Zeit oft und gern auf die Stunden von 9 bis 13 Uhr beschränken. Ein voller Nachmittag, i n dem nach italienischen Sitten bis etwa 20.30 Uhr gearbeitet werden kann, steht dann noch zur Verfügung. Diese Zeit w i r d dann gern zur Ausübung einer Nebentätigkeit verwendet 7 2 ." Auch i n der OECD soll die Zahl der Anträge auf Genehmigung einer Nebentätigkeit „nur ein ungefähres B i l d der Wirklichkeit geben, da sich am Platze Paris, dem Sitz der Organisation, Möglichkeiten der Nutzung sprachlicher und fachlicher Fähigkeiten der Bediensteten finden dürften, die sich ohne zeitliche Überschneidung mit den Dienststunden der OECD wahrnehmen lassen und daher ihrer Kenntnis entzogen bleiben" 7 3 . IV. Die Gefahren, die von einer solchen Ausdehnung der Nebentätigkeit ausgehen, liegen auf der Hand. Zusammenhänge zwischen Nebentätigkeit, Besoldung und Arbeitszeit bestehen auch bei uns. Soll die private Nebentätigkeit nicht die amtliche Haupttätigkeit in den Hintergrund drängen, muß die Besoldung der Beamten so bemessen sein, daß sie nicht ständig den Wunsch nach einer finanziell einträglichen privaten Nebentätigkeit weckt. Der dem geltenden Nebentätigkeitsrecht innewohnende Grundsatz, Nebentätigkeiten zu verbieten, durch die dienstliche Interessen beeinträchtigt werden können, läßt sich deshalb nur aufrecht erhalten, wenn für eine angemessene Besoldung der Beamten gesorgt wird. M i t Recht hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, daß „Dienstbezüge, Ruhegehalt und Hinterbliebenenversorgung . . . die Voraussetzung dafür (bilden), daß sich der Beamte ganz dem öffentlichen Dienst als Lebensberuf widmen und i n rechtlicher und 70 71 72 73
Bd. I I , S. 189. Bd. I, S. 172. Ebenda, S. 172. Bd. IV, S. 180.
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wirtschaftlicher Unabhängigkeit zur Erfüllung der dem Berufsbeamtentum vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgabe, i m politischen Kräftespiel eine stabile, gesetzestreue Verwaltung zu sichern, beitragen kann" 7 4 . Aber auch für die Arbeitszeit gibt es eine untere Grenze, bei deren Erreichen, wie die Verhältnisse i n Italien lehren, die hauptberufliche Tätigkeit des Beamten diesen Charakter zu verlieren droht. Ob es unter diesem Gesichtspunkt erstrebenswert ist, auf die 35-Stunden-Woche i m öffentlichen Dienst hinzuarbeiten, ganz abgesehen davon, daß eine solche Verkürzung der Arbeitszeit zu einer weiteren Vermehrung der Zahl der öffentlichen Bediensteten führen müßte, wage ich zu bezweifeln. Ich habe auch Zweifel, ob die Verhältnisse i m öffentlichen Dienst Spaniens und Italiens als für uns vorbildlich angesehen werden können. Teilt man diese Bedenken, so muß man zu der Feststellung gelangen, daß allzu „fortschrittliche" Reformen i m Nebentätigkeitsrecht für den öffentlichen Dienst als Ganzen unheilvolle Folgen nach sich ziehen könnten.
74
Beschl. vom 11. 4.1967 E Bd. 21, S. 329 ff., 344 f.
Die Pflicht zur Ablieferung der Nebentätigkeitsvergütung Von Werner Thieme
I. Das deutsche Beamtenrecht — ebenso das Recht der Angestellten i m öffentlichen Dienst — ist gekennzeichnet durch eine Beschränkung der Nebentätigkeit i m dienstlichen Interesse 1 . Als solche Interessen nennt das Gesetz ausdrücklich die dienstlichen Leistungen, die Unbefangenheit und die Unparteilichkeit des Beamten (§ 65 Abs. 2 BBG). Das Thema dieser Abhandlung ist bedingt durch die mögliche Gefährdung der dienstlichen Leistungen. Der Staat gibt nach der noch i m mer herrschenden Alimentationstheorie 2 dem Beamten einen „standesgemäßen" Unterhalt auf Lebenszeit und erwartet dafür den vollen Einsatz der Arbeitskraft, die „volle Hingabe" an seinen Beruf (§ 54 BBG). Diese volle Hingabe fordert auch einen entschädigungslosen Dienst über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus (§ 72 Abs. 2 BBG). Sie schließt die Verpflichtung zur Übernahme von Nebenämtern und sonstigen Nebentätigkeiten ohne Vergütung ein (§ 6 Abs. 1 Satz 1 der
1 Die Abhandlung erörtert das Problem am Beispiel des Bundesrechts. Die landesrechtlichen Bestimmungen haben weitgehend den gleichen Inhalt: Baden-Württemberg: §§ 76 ff. L B G und Landesnebentätigkeitsverordnung (LNTVO) v. 12.7.1966 (GBl. S. 131/194); Bayern: Art. 73 ff. BayBG und BayN T V O v. 13.12.1966 (GVB1. S. 486); Hessen: §§ 78 ff. H B G und L N T V O v. 12.2.1965 (GVB1. S. 41); Nordrhein-Westfalen: §§ 67 ff. L B G N W und N T V O v. 9. 5.1967 für Beamte und Richter (GVB1. S. 64) sowie Hochschul-NTVO v. 5.12.1967 (GVB1. S. 244); Rheinland-Pfalz: §§ 72 ff. L B G und N T V O v. 21.12. 1964 (GVB1. S. 241); Schleswig-Holstein: §§ 80 ff. L B G und N T V O v. 13.9. 1965 (GVB1. S. 85); Hamburg: §§ 66 ff. HambBG und HambNTVO v. 13.3. 1966 (GVB1. I S. 85) i. d. F. v. 5.12.1967 (GVB1. I S. 330); in Bremen und im Saarland gelten neben den im wesentlichen inhaltsgleichen Bestimmungen der Landesbeamtengesetze die zu § 14 D B G erlassenen NTVOen v. 6. 7.1937 (RGBl. I S. 753), v. 3. 5.1938 (RGBl. I S. 501) und v. 18. 4.1939 (RGBl. I S. 797) sowie weitere Änderungsverordnungen. I n Berlin gelten §§ 28 ff. L B G mit den NTVOen v. 24. 7.1966 (GVB1. S. 1 202) und v. 23. 5.1966 (GVB1. S. 886), die grundsätzlich keine Ablieferungspflicht vorsehen. 2 BVerfGE 8, 1 (14); 16, 94 (112); 22, 387 (421); Thiele, ZBR 1963, 129 ff.; Wertenbruch, ebd. S. 200; Wiese, VerwArch 57, 1966, 240 ff.
40 Festschrift für Werner Weber
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Werner Thieme
Bundesnebentätigkeitsverordnung BNTVO —) 3 .
vom
22.4.1964 —
im
folgenden
I n dieses System beamtenpolitischer Austerity fügt sich auch die Vorschrift ein, daß ein Beamter, der i m öffentlichen Dienst oder auf Veranlassung oder Vorschlag seines Dienstherrn eine Nebentätigkeit ausübt, die hierbei erzielte Vergütung bis auf einen Rest an seinen Dienstherren abzuliefern hat. Diese Ablieferungspflicht ist ein eigenartiges Rechtsinstitut, das zwar schon Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung 4 , selten jedoch eingehender rechtsdogmatischer Untersuchung gewesen ist 5 . Dabei bietet diese Verpflichtung Anlaß zu einer nicht geringen Zahl von Fragen sowohl juristisch-konstruktiver als auch beamtenpolitischgrundsätzlicher A r t . Das Nebentätigkeitsrecht, das dem Außenstehenden als ein sehr technisches Recht erscheinen mag, ist an vielen Stellen Exempel, an dem grundsätzliche Fragen des öffentlichen Dienstes geprüft werden können. Daher ist es sicherlich auch nicht überraschend, daß das BVerwG eine Frage der Ablieferungspflicht der Nebentätigkeitsvergütung zum Anlaß nehmen konnte, u m sich mit dem Alimentationsprinzip und anderen Grundsatzfragen auseinanderzusetzen 6 . Freilich hat das B V e r w G i n seiner Entscheidung eine Frage nicht berührt, die als zentrales Problem allen anderen Fragen vorgeordnet ist: wie nämlich die Ablieferungspflicht i n das Abgabensystem einzuordnen ist, insbesondere i n welchem Verhältnis sie zur Steuer steht. Das ist umsomehr überraschend, als das BVerfG i n seiner umfangreichen Rechtsprechung zu dieser Frage wiederholt Stellung genommen hat und diese Rechtsprechung inzwischen aufgearbeitet worden ist 7 . II. Die erste Frage, die klärungsbedürftig ist, geht dahin, welchen Inhalt und Gegenstand die Ablieferungspflicht hat. Das B B G (§ 69 Satz 2 Nr. 2) enthält zu diesem Gegenstand nur eine Ermächtigungsvorschrift, bestimmt dagegen inhaltlich nichts selbst. I n einer Verordnung der Bun3 BGBl. I S. 299, geändert durch V O v. 19. 6.1969 (BGBl. I S. 685) und V O v. 7. 9.1972 (BGBl. I S. 1725). 4 BVerwG DVB1. 1973, 567 ff. = JZ 1974, 131 ff. m. Anm. Ule. 5 Vgl. Crisolli, Bad.-Württ.VerwBl. 1965, 49 ff.; Einweg, ZBR 1964, 244 ff., Görg, ZBR 1961, 161 ff., ZBR 1965, 178 ff., ZBR 1966, 169 ff.; Wilhelm, B N T V O Kommentar, 1968, § 6 Anm. 1 f.; Meyer, ZBR 1961, 305 ff. 6 Vgl. Anm. 4. 7 Insb. der Jubilar, dem dieser Beitrag gewidmet ist, hat mit seinem umfangreichen Bericht „Das Bundesverfassungsgericht und die Steuerordnung", AöR 90, 1965, 452 ff., hierzu beigetragen.
Die Pflicht zur Ablieferung der Nebentätigkeitsvergütung
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desregierung kann bestimmt werden, inwieweit der Beamte eine Vergütung abzuführen hat. Hier w i r d der Terminus „Abführung" benutzt. Etwas anders drückt es die BNTVO aus (§ 6 Abs. 3). Danach hat der Bundesbeamte bestimmte Vergütungen „abzuliefern". Dieser Wechsel i m Wortgebrauch dürfte ohne Bedeutung sein. Die i m Gesetz benutzte Vokabel „abführen" ist sonst i n der Rechtssprache ungebräuchlich, als Metapher auch reichlich unbestimmt. Daher kann das Wort „abliefern", das die BNTVO stattdessen gebraucht, hilfreich sein. Freilich erweist sich auch dieses Wort als unexakt. Abliefern kann man einen Gegenstand, insbesondere eine Sache, ζ. B. eine Waffe, Falschgeld, landwirtschaftliche Produkte. Gesetz und Verordnung verlangen aber die A b führung bzw. Ablieferung der Vergütung. Regelmäßig dürfte als Vergütung eine Geldleistung vereinbart werden. Möglich sind aber auch Sachleistungen, die der Beamte nutzt: Wohnung, Beköstigung u. a. m. 8 . Hier ist eine Ablieferung schlechterdings unmöglich. Die auf eine unmögliche Leistung gerichtete Verpflichtung ist, wenn sie durch Gesetz angeordnet wird, nichtig 9 . Entsprechendes muß wohl auch gelten, wenn eine auf einer Verordnung beruhende Leistungspflicht unmöglich ist. Denkbar wäre, daß i n solchen Fällen „Ablieferung" des Wertes angeordnet würde. Freilich bieten Gesetz und Verordnung für solche „ E r satzablieferungen" keine Grundlage. Daher fallen Naturalleistungen, die der Beamte unmittelbar nutzt, aus dem Gegenstand der VO heraus. Der Regelfall ist jedoch die Vergütung i n Geld. Dabei dürfte der Fall, daß die Vergütung i n bar gezahlt wird, höchst selten sein. Und es dürfte wohl auch kaum auf Seiten des Dienstherrn die Erwartung bestehen, daß Geldscheine oder Schecks, die dem Beamten oder Empfänger der Nebentätigkeitsleistungen übergeben werden, i n natura bei der Amtskasse abgeliefert werden. Auszugehen ist davon, daß die Vergütung dem Beamten auf dessen Konto gezahlt w i r d und der Beamte die Zahlungen, soweit sie den i n der Verordnung genannten Höchstbetrag übersteigen, an den Dienstherrn weiterleitet. I n diesem Zusammenhang ist auch die Abrechnungspflicht nach § 9 BNTVO zu erwähnen, die nach Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres zu erfüllen ist. Nach Ablauf des Jahres stellt sich heraus, ob der Höchstsatz überschritten ist, d. h., ob eine Ablieferungspflicht besteht. Bis dahin freilich ist die ursprünglich geleistete Vergütung auch nicht mehr vorhanden. Fraglich ist, ob sie überhaupt jemals real vorhanden war. Die Zahlung des Empfängers der Nebentätigkeitsleistung t r i t t ja kraft der Überweisung auf das Konto des Beamten nur als Erhöhung der Giralforderung des Beamten gegen seine Bank i n Erscheinung. Noch weniger t r i t t sie real 8 9
40*
Davon geht auch die weite Definition des § 4 B N T V O aus. Entwurf V w V f G § 40 Abs. 2 Nr. 4 (BT-Drucksache 7/910).
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i n Erscheinung, wenn der Beamte sein Konto überzogen hat und die Zahlung zu einer Minderung der Forderung der Bank gegen den Beamten führt. Diese Überlegungen führen zu dem Ergebnis, daß mit der „Abführung" oder „Ablieferung" nicht etwa die Leistung eines bestimmten Gegenstandes (Sache oder Forderung) an den Dienstherrn gemeint sein kann, sondern schlicht eine Geldzahlungspflicht. III. Dieses Zwischenergebnis hat für den hier behandelten Gegenstand weitreichende Folgen. Es kann schwerlich ein Zweifel bestehen, daß es sich u m eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung handelt und daß eventuell darüber entstehende Streitigkeiten vor den Verwaltungsgerichten auszutragen wären. Das aber führt zu dem weiteren Ergebnis, daß i m Nebentätigkeitsrecht m i t der Abführungs- bzw. Ablieferungspflicht eine abstrakte öffentlich-rechtliche Geldforderung des Dienstherrn, also des Staates, einer Gemeinde oder eines sonstigen mit Dienstherrnfähigkeit ausgestatteten Verbandes 10 , statuiert ist. I n der Systematik der öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen handelt es sich u m eine A b gabe 11 . Diese Zusammenhänge gelten allerdings nicht bei den Angestellten des öffentlichen Dienstes. Zwar ist auf sie auch das Beamten-Nebentätigkeitsrecht anzuwenden 12 . Aber ihr Rechtsverhältnis bleibt ein zivilrechtliches Vertragsverhältnis. Sie übernehmen die i m Tarifvertrag zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften ausgehandelten Arbeitsbedingungen kraft Vertrages. Für sie stellt sich daher die A b führungs- bzw. Ablieferungspflicht nicht als eine Pflicht dar, zu der sie kraft einseitig gesetzter Norm verbunden sind, sondern als eine arbeitsrechtliche Verpflichtung. Daher gelten insoweit die folgenden Ausführungen nicht. Freilich bleibt anzumerken, daß es sich u m eine i m Arbeitsrecht höchst ungewöhnliche Regelung handelt, da der Arbeitnehmer Zahlungen an seinen Arbeitgeber zu erbringen hat für Arbeiten, die der Arbeitnehmer geleistet hat. Die Transponierung des Themas in das Arbeitsrecht zeigt von vornherein die ganze Zweifelhaftigkeit der Regelung, die i m folgenden zu erörtern ist: Beim Beamten ist zu fragen, unter welche der möglichen Kategorien die Abgabe gemäß § 6 BNTVO fällt. I n der Gesetzgebung sind insoweit 10
Vgl. BRRG § 121. Vgl. Kruse, Steuerrecht I, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1973, § 3 I I ; Wölfl Verwaltungsrecht I, 8. Aufl. 1971, § 42 I I a. 12 Bundesangestelltentarif (BAT) § 11. 11
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drei Kategorien entwickelt: Steuer, Beitrag und Gebühr 1 3 . Es handelt sich hierbei grundsätzlich u m ein geschlossenes System, das alle denkbaren Abgaben umfaßt. Als Steuern werden dabei diejenigen Abgaben bezeichnet, die ohne Gegenleistung seitens des Abgabeberechtigten gefordert werden 1 4 . Allerdings hat die abgabenrechtliche Theorie und Rechtsprechung zusätzliche Kategorien entwickelt. Sie knüpft vor allem an den Begriff der Erzielung von Einnahmen an, den sie für die Steuer für begriffsnotwendig hält. Aus diesem Begriff fallen heraus: Geldleistungen zum Zwecke der Sanktion (Strafen, Bußen) 15 , Ausgleichsabgaben, die dem Ertragsausgleich zwischen privaten W i r t schaftssubjekten dienen 16 . Für den Begriff der Steuer braucht der Zweck, Einnahmen zu erzielen, nicht einziger Zweck zu sein. Steuern haben oft noch weitere Zwecke, ζ. B. dienen sie der Lenkung, insbesondere der Wirtschaftslenkung 17 , d. h. der Motivation Dritter zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen. Fragt man nun, ob es sich bei der nebentätigkeitsrechtlichen Ablieferungspflicht um eine Steuer i m materiellen Sinne handelt, so ist einerseits zu prüfen, ob eine Gegenleistung des Dienstherrn vorliegt, andererseits, ob die Abgabe der Einnahmenerzielung dient. Denkbar ist (da der Dienstherr dem Beamten keine nutzbare Veranstaltung oder individualisierbare Verwaltungsleistung bietet) als Gegenleistung nur die Minderung der sonstigen Dienstleistungspflicht, d. h. ein Verzicht des Dienstherrn auf Leistungen, die er an und für sich fordern könnte. Davon ist aber nirgends die Rede. Das Hauptamt bleibt bestehen ohne Rücksicht auf die Nebentätigkeit. Der Beamte ist zu zusätzlicher Leistung verpflichtet. Die zusätzliche Leistung führt zu einem Anspruch des Beamten regelmäßig gegenüber einem Dritten. Die kraft dieses A n spruchs gezahlten Beträge beansprucht der Dienstherr — abgesehen von einem Sockelbetrag — für sich. Es ist sicherlich denkbar, daß der Dienstherr einem Beamten, der i m Interesse des Dienstherrn bei einem Dritten tätig wird, eine verminderte Dienstpflicht i m Hauptamt zugesteht. Von dieser theoretischen Möglichkeit ist jedoch nichts ins Gesetz eingeflossen, so daß sie als rein theoretische Erwägung für den weiteren Gedankengang ausgeschieden werden muß. 13
RAO § 1. So schon der von Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1914, § 27, S. 331 f., entwickelte Begriff der Steuer. 15 BVerfGE 22, 49; Kruse, § 3 I I 1 c. 16 Vgl. BVerfGE 13, 167 (170); BVerwGE 6, 134, 282 (288), E 7, 304 (307), VerwRspr 18, 367; O V G Münster E 22, 203 (230ff.); zweifelhaft ist, wo die Abschöpfungsabgaben auf Grund des Abschöpfungserhebungsgesetzes i. d. F. V. 14. 5.1965 (BGBl. I S. 386) einzuordnen sind. 17 BVerfGE 16, 147 (161); 30, 250; B F H 75, 302; 97, 456. 14
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Die Frage, ob der Zweck der Ablieferungspflicht i n der Einnahmenerzielung liegt, w i r d man bejahen können. Sicherlich ist das nicht der einzige Zweck. Der Beamte soll durch die Abgabepflicht motiviert werden, sich nicht übermäßig der Nebentätigkeit zu widmen. Aber dieser Zweck steht nur i m Hintergrund. Denn Vergütungen aus Nebentätigkeit außerhalb des öffentlichen Dienstes, ja sogar viele Vergütungen, die von öffentlichen Dienstherren bezogen werden, bleiben ablieferungsfrei (§ 6 Abs. 1 Satz 2 BNTVO). Daß der Beamte primär von Nebentätigkeiten abgehalten werden soll, die öffentlicher Dienst sind oder auf Vorschlag oder Veranlassung des Dienstvorgesetzten durchgeführt werden, ist kaum anzunehmen, wenn entsprechende Regelungen für Leistungen, die irgendeinem Privaten nützen, nicht bestehen. Die Regelung geht von der Erwägung aus, daß der Beamte für Leistungen i m öffentlichen Dienst nur einmal alimentiert werden soll, daß darüber hinausgehende Aufwendungen aus der Kasse des Dienstherrn nicht gerechtfertigt sind, daß die — außer dem Sockelbetrag — die Alimentation überschießenden Nebeneinnahmen daher dem Staat zustehen. Das Problem könnte rechtlich geregelt werden durch Gehaltskürzungen. Es kann aber technisch auch durch die Ablieferung der Vergütung bewältigt werden. Gerade die alternative Möglichkeit zur konstruktiven und damit verwaltungsmäßigen Regelung des Problems zeigt, daß für die Einführung der Ablieferung nur fiskalische Gesichtspunkte maßgeblich sind. Dann aber ist auch das Merkmal der Einnahmenerzielung i m Sinne des Steuerbegriffs erfüllt. IV. Ist damit geklärt, daß die Ablieferungspflicht unter den Steuerbegriff fällt, so ergeben sich weitreichende Folgen. Denn das Steuerrecht ist i n nicht ganz geringem Umfang verfassungsrechtlich geordnet. Alle dem Steuerrecht zuzuordnenden Sachverhalte sind auf ihre Verfassungskonformität zu überprüfen. Insoweit stellt sich zunächst die Frage nach der Gesetzgebungszuständigkeit. Diese ist i n A r t . 105 Abs. 2 GG geregelt: diese Regelung verweist auf A r t . 106. Von den i n A r t . 106 erwähnten Steuern ist die Ablieferungspflicht als Einkommensteuer zu qualifizieren, da sie individuelle Besteuerung natürlicher Personen ist und an die Leistungsfähigkeit anknüpft, wobei der Gesetzgeber nicht notwendig das Nettoprinzip zugrunde legen muß 1 8 . Die Vergütungen aus der Nebentätigkeit sind Einkommen i. S. des EStG. Als solche unterliegen sie der konkurrierenden Gesetzgebung von Bund und Ländern 1 9 . Indem der Bund nur eine Regelung für die Bundesbeamten 18 BVerfGE 27, 58 (65); Vogel - Walter, Art. 106 m. w. N. 19 Art. 105 Abs. 2 GG.
Bonner Kommentar, Rdnr. 246 zu
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trifft, läßt er den Ländern einen Freiraum für die Regelung der A b lieferungspflicht der Landesbeamten — freilich nur unter der Voraussetzung, daß die Frage nicht bereits i m EStG abschließend geregelt ist. Das allerdings w i r d man annehmen müssen. Denn das System der EStG ist in seiner umfassenen Ausgestaltung, i n der Aufzählung der Einkommensarten, dem Tarif und weiterer Normierung so ausgestaltet, daß es Lücken nicht läßt, sondern überall dort, wo nicht eine ausdrückliche Regelung besteht, zu dem Umkehrschluß führt, daß entsprechende Einkünfte steuerfrei sein sollen 20 . Einkünfte aus Nebentätigkeit sind aber Einkünfte aus selbständiger oder aus unselbständiger Arbeit 2 1 . Es handelt sich u m bundesrechtlich bereits geregelte Sachverhalte. Das schließt es nicht aus, daß der Bundesgesetzgeber i m B B G bzw. i n der BNTVO Sondervorschriften gibt, die das EStG für spezielle Fälle ergänzen. Es schließt es aber aus, daß der Landesgesetzgeber noch tätig wird. Landesrechtliche „Ablieferungs"-Vorschriften verstoßen daher gegen A r t . 72 Abs. 1 GG und sind nichtig. Für die Frage der Ertragshoheit sind die folgenden Erwägungen anzustellen: Sind die abgelieferten Vergütungen als Einkommensteuer i. S. v. A r t . 106 zu qualifizieren, so ergeben sich sogleich die Konsequenzen des A r t . 106 Abs. 3 und der jeweils auf Grund dieser Vorschriften ergehenden Gesetze. Es gelten weiter die Zuständigkeitsvorschriften des § 21 F V G und die Verfahrensvorschriften der RAO (vgl. § 3). Wenn man gegen diese für den Beamtenrechtler unkonventionellen Behauptungen Bedenken geltend machen, insbesondere gegen die Richtigkeit dieser Ergebnisse Zweifel anmelden w i l l , müßte man darlegen, daß es sich u m eine Abgabe handele, die nicht Steuer ist und die deshalb den Vorschriften des GG nicht unterliege. Aber gerade das ist — wie oben dargestellt — nicht begründbar. Denn die Zahlungen auf Grund der Ablieferungspflicht des Beamten sind primär motiviert durch die Tatsache, daß der Beamte ja schon sein Amtsgehalt bekommt, daß er daher über dieses Amtsgehalt hinaus nicht i n erheblichem Umfang Einkünfte beziehen soll. Wenn er seine Arbeitskraft für Dritte derart einsetzt, daß der Dritte i h m eine Vergütung zahlt, so sei er insoweit alimentiert. Es bestehe kein Anlaß, i h m aus allgemeinen Staatsmitteln eine Alimentation zuteil werden zu lassen. Dieser gedankliche Zusammenhang macht deutlich, daß i m Hintergrund fiskalische Erwägungen, d. h. Erwägungen der Einnahmenerzielung, stehen. Daher kann aus diesem Zusammenhang der Charakter der Steuer nicht geleugnet werden. 20 31
§§ 2, 3 EStG. §§ 18, 19 EStG.
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V. Ein weiteres grundsätzliches Problem der beamtenrechtlichen A b lieferungspflicht w i r f t A r t . 80 Abs. 2 GG auf. Das BVerfG hat ausgesprochen, daß aus dem ermächtigenden Gesetz erkennbar und vorhersehbar sein muß, was vom Bürger gefordert werden kann 2 2 . Es fehlt an der notwendigen Beschränkung, wenn die Ermächtigung so unbestimmt ist, daß nicht mehr vorausgesehen werden kann, i n welchen Fällen und m i t welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden w i r d und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können 2 3 . Der Gesetzgeber muß die Entscheidung selbst treffen, daß bestimmte Fragen geregelt werden sollen, er muß die Grenzen einer solchen Regelung festsetzen und angeben, welchem Teil die Regelung dienen soll. Dabei ist nicht erforderlich, daß Zweck, Inhalt und Ausmaß der Ermächtigung sich ausdrücklich aus dem Text des Gesetzes ergeben. Es genügt, wenn es möglich ist, dies durch Auslegung zu ermitteln 2 4 . Legt man diese Grundsätze der Rechtsprechung des BVerfG zugrunde, so w i r d es sehr zweifelhaft, ob die Ermächtigung des § 69 B B G den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht. Daß der reine Wortlaut des § 69 B B G nicht hinreichend bestimmt ist, dürfte unschwer einsehbar sein. Der Inhalt der Regelung ist hier zwar angegeben. Über Zweck und Ausmaß schweigt jedoch das Gesetz. Das Thema w i r d auch i n den anderen Bestimmungen des BBG nicht aufgegriffen, so daß diese zur Auslegung der Ermächtigungsbestimmung nicht heranziehbar sind. Allenfalls könnte man A r t . 33 Abs. 5 und das i n i h m enthaltene Alimentationsprinzip heranziehen. Doch ist dieses i n seinem Inhalt so undeutlich, daß es schwerfällt, aus i h m durch Auslegung zu entnehmen, inwieweit die Ermächtigung des § 69 Satz 2 Nr. 2 reicht 25 . Dann aber sind mangels einer geeigneten Ermächtigungsgrundlage alle auf diese Bestimmung gestützten Vorschriften der BNTVO rechtlich nicht zu halten. VI. Ein weiteres Problem w i r f t der Gleichheitssatz auf (Art. 3 Abs. 1 GG). Er ist dann beachtet, wenn die Regelung am Gerechtigkeitsgedanken 22
BVerfGE 7, 282 (302); 10, 258. BVerfGE 1, 14 (60); 7, 282 (301); 15, 153 (160 f.). 24 BVerfGE 7, 282 (291); 8, 274 (307); 10, 20 (51); 19, 17 (30); 19, 354 (362); 20, 304; 24,1 (15). 25 Ebenso: BVerwG ZBR 1970, 184 ff.; a. A. Eschenburg, Das Nebentätigkeitsrecht der Bundes- und Landesbeamten der Bundesrepublik Deutschland, 1970, S. 67. 23
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orientiert, d. h. nicht w i l l k ü r l i c h ist 2 6 . Wann ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vorliegt, ist dem Sachzusammenhang, dem Lebensbereich zu entnehmen 27 . Danach ist zu fragen, welche Struktur der Lebensbereich „Beamtenrecht", insbesondere „Beamtenbesoldung" und „Nebentätigkeit", hat. Er ist durch das Alimentationsprinzip bestimmt. Wenn dieses Prinzip bedeutet, daß es Sache des Dienstherrn ist, den Beamten materiell auszustatten und i h m soviel zu geben, wie er zu seinem standesgemäßen Unterhalt benötigt und damit die Höchstgrenze für seine Einkünfte zu setzen, so wäre es folgerichtig, eine Abführungspflicht anzuordnen. So aber ist der Alimentationsgrundsatz nicht zu verstehen. Denn bei anderen Nebentätigkeiten bestehen derartige Einkommensgrenzen nicht. Der Beamte kann ohne Begrenzung nach oben Einnahmen aus genehmigter oder genehmigungsfreier Nebentätigkeit erzielen, wenn Auftraggeber ein Privater ist. Das Alimentationsprinzip kann daher nicht als Begründung für eine sachgerechte Lösung herangezogen werden. Wollte man fragen, ob die Regelung unter dem A l i mentationsprinzip systemgerecht, d. h. dem Gleichheitssatz entsprechend ist, so wäre diese Frage zu verneinen. Der Gleichheitssatz wäre allerdings beachtet, wenn sich andere sachliche Gründe finden lassen, die die Regelung stützen 28 . Die Motivation des Verordnungsgebers könnte i n folgender Erwägung liegen: Es gibt insbesondere bei Dienstposten, die die Leitung von Behörden oder Behördenteilen zum Gegenstand haben, oft keine feste Abgrenzung des Aufgabenumfanges. Der Inhaber der Leitungsposition kann i n erheblichem Umfang Aufgaben delegieren und dadurch Freiraum für eine Nebentätigkeit gewinnen, die er i n der Dienstzeit wahrnimmt. Wenn er dann i n der Dienstzeit für den Dienstherrn tätig wird, so ist es verständlich, daß der Dienstherr einen Teil der aus der Nebentätigkeit fließenden Einnahmen einfordert. Diese verständliche und an sich b i l l i genswerte Motivation kommt allerdings nicht i n dem Text der Verordnung zum Ausdruck. Auch w i r d dieses Anliegen nicht konsequent behandelt. Bestimmte Tätigkeiten i m öffentlichen Dienst unterliegen überhaupt keiner Beschränkung hinsichtlich der Einnahmen wie ζ. B. solche der Lehre an der Hochschule, als Sachverständiger für Gerichte und Staatsanwaltschaften, als wissenschaftlicher Forscher u. a. m. (§ 7 BNTVO). Die Abgrenzung ist zu skurril, als daß sie noch als sachgerecht angesehen werden kann. W i r d ein technischer Sachverständiger in einem Widerspruchsverfahren von einer Behörde als Gutachter herangezogen, so unterliegt er der Abführungspflicht, wenn die Behörde eine solche 26 27 28
BVerfGE 15, 167 (201); std. Rspr., vgl. bereits E 1, 117 (140). BVerfGE 1, 14 (52 f.); 17, 122; 18, 37 (46 ff.). Vgl. z. B. BVerfGE 16, 332 (338 f.); 27, 364 (371).
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seines Dienstherrn ist — und sei es eines ganz anderen Ressorts. Erfolgt die Heranziehung erst in der nächsten Instanz, d. h. vor dem Verwaltungsgericht, so kann der Beamte die Gebühren voll behalten. Es ist unverständlich, warum der von der Staatsanwaltschaft herangezogene Beamte privilegiert ist gegenüber dem Sachverständigen, der für eine Verwaltungsbehörde arbeitet. Für die Heraushebung strafprozessualer Verfahren gibt es keinen sachlich einleuchtenden Grund. Die Sonderbehandlung der Fälle des § 7 läßt sich nur so erklären, daß die öffentlichen Auftraggeber von Gutachten Schwierigkeiten haben, die benötigten Gutachten zu erhalten, wenn sie keinen finanziellen Anreiz geben. Damit aber werden die dienstlichen Anliegen, unter denen das Nebentätigkeitsrecht steht, nicht beachtet. Die Motive, unter denen das Nebentätigkeitsrecht konzipiert ist, die i m B B G (§ 65 Abs. 2) genannt sind, sind nicht beachtet. Systemgerechte, d. h. aus dem betreffenden Lebensbereich entnommene Argumente, sind jedenfalls für die Differenzierungen der Ablieferungspflicht nicht nachweisbar. Betrachtet man die Abführungspflicht unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten, so bestehen auch insofern Bedenken, als der Tarif so konstruiert ist, daß die Einkünfte bis D M 6 000 je Jahr abgabenfrei bleiben, die darüber hinausgehenden Einkünfte jedoch mit 100 % zur Abgabe herangezogen werden. Der Betrag kann sogar über 100 % liegen, weil die Berechnung vom Bruttobetrag ausgeht 29 . Sicherlich w i r k t das i m Regelfall nicht als eine 100 °/o übersteigende Abgabe, w e i l die ersten D M 6 000 abgabenfrei bleiben und die Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben aus diesem Betrag entnommen werden können. Immerh i n erscheint es unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit nicht erträglich, eine Einnahme m i t einem u. U. sehr hohen durchschnittlichen Abgabensatz nach den Bruttoeinnahmen zu belegen, d. h. i n den Berechnungsfaktor auch Beträge einzubeziehen, die der Abgabenschuldner effektiv nicht zur Verfügung hat. VII. Dieses Problem hat noch einen weiteren Aspekt, nämlich den der Enteignung. Wenn man einmal von folgendem Beispielsfall ausgeht, i n dem ein Beamter neben seinem Hauptamt ein Dienstverhältnis zu einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft als Nebenbeschäftigung wahrnimmt und hieraus D M 6 000 an Vergütung erhält und sodann ein weiteres Nebentätigkeitsverhältnis hat, daß § 6 Abs. 3 unterfällt, so hat er die Vergütung aus diesem Verhältnis voll abzuliefern. Diese Vergütung ist eine selbständige Forderung, sie ist Eigentum i. S. Art. 14 GG. Diese 29
§ 6 Abs. 2, 3 BNTVO.
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Vergütung w i r d enteignet. Enteignungsrechtlich kann sie nicht mit der Vergütung aus anderen Nebentätigkeitsverhältnissen verrechnet werden. Das geht ebensowenig wie sonst unter dem Gesichtspunkt des A r t . 14 GG; der Staat kann nicht eine Forderung, die ein Kaufmann hat, einer Ablieferungspflicht unterwerfen mit dem Hinweis darauf, der Kaufmann habe ja noch weitere Forderungen, die nicht ablieferungspflichtig seien. Inwieweit der hier gebrachte Fall i n der Praxis repräsentativ ist, kann dahingestellt bleiben. Er zeigt nur das Problem. Auch die Ablieferungspflicht eines Teilbetrages von D M 2 000 bei einer Gesamtforderung von D M 8 000 ist bei einem Kaufmann Enteignung, sofern es sich nicht u m eine Steuer handelt 3 0 . Der Versuch des BVerwG, die Problematik des A r t . 14 auszuklammern 3 1 , geht demgegenüber an der eigentlichen Frage vorbei. Wenn man m i t der Rechtsprechung des BVerfG davon ausgeht, daß die Bezüge der Beamten ihren verfassungsrechtlichen Schutz nicht i n A r t . 14, sondern i n A r t . 33 Abs. 5 finden 3 2 , so bedeutet das, daß sich der Beamte gegenüber einer Kürzung seiner Dienstbezüge nicht auf A r t . 14, sondern allenfalls auf A r t . 33 Abs. 5 berufen kann. Die Zweifelhaftigkeit dieser Rechtsprechung soll hier nicht vertieft werden 3 3 . Jedenfalls aber ist gegenüber dem B V e r w G einzuwenden, daß die Fälle, die das BVerfG behandelt hat, hier nicht einschlägig sind. Das BVerfG hat den Begriff „öffentlicher Dienst" i. S. A r t . 33 Abs. 5 stets eng ausgelegt und unter i h m unter Hinweis auf den Zusammenhang m i t A r t . 33 Abs. 4 nur das Beamtenrecht verstanden 34 . Nur für Beamtenverhältnisse gelten die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums. I m Nebentätigkeitsverhältnis ist der Beamte aber nicht Beamter, weil ein doppeltes Beamtenverhältnis grundsätzlich unmöglich ist 3 5 . Er hat hier ein p r i vatrechtliches oder besonderes öffentlich-rechtliches Verhältnis, auf das A r t . 33 Abs. 5 nicht anzuwenden ist, das auch ohne Beachtung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums geregelt werden kann. Ist das aber so, so verdrängt hier die Sondervorschrift des A r t . 33 Abs. 5 nicht den A r t . 14. Dann aber ist die Ablieferungspflicht unter dem Gesichtspunkt des A r t . 14 zu prüfen und nicht unter A r t . 33 Abs. 3. 30 Nach der Auffassung des BVerfG läßt die Auferlegung von Steuern die Eigentumsgarantie grundsätzlich unberührt: E 19, 119 (128 f.); 19, 253 (267 f.). 31 BVerwG DVB1. 1973, 567 ff., 569 mit Hinweis auf BVerfGE 3, 58 (153). 32 BVerfGE 3, 58 (153); 3, 288 (341 f.); 4, 219 (242f.); 8, 332 (360); 15, 167 (199 ff.); 16, 94 (144ff.); 17, 337 (355). 33 Vgl. Thieme, Der öffentliche Dienst in der Verfassung des Grundgesetzes, 1961, S. 77 f. 34 Also z. B. nicht für Angestellte, BVerfGE 3, 162 (186), oder Berufssoldaten, BVerfGE 3, 288 (334); 16, 94 (116). 35 Das ergibt sich aus § 22 Abs. 2 BRRG, § 29 Abs. 1 Nr. 3 BBG.
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Vili. Die Tätigkeiten, an die sich die Ablieferungspflicht anschließt, sind i n § 6 Abs. 3 B N T V O genannt. Es sind das: 1. Der Bundesdienst Hierunter fallen alle Dienstverhältnisse, d. h. Beamten-, Angestellten- u n d (was praktisch bedeutungslos sein dürfte) Arbeiterverhältnisse. Die Abgrenzung erfolgt gegenüber Werkvertragsverhältnissen oder sonstigen Leistungspflichten, die nicht als Dienst i m Rechtssinne (§ 611 ff. BGB) zu qualifizieren sind. Bundesdienst ist sowohl der unmittelbare als auch der mittelbare Bundesdienst. Betroffen sind n u r Nebentätigkeiten: Hat ein Beamter zwei Hauptämter inne, so regelt der Bundesminister des Innern bzw. die Dienstherren i m E i n vernehmen miteinander die Frage, welche Bezüge i h m verbleiben 3 6 . 2. Sonstiger öffentlicher Dienst 37. Der Begriff w i r d bestimmt durch die Rechtsnatur des Dienstherrn, d. h. es unterfallen i h m n u r Dienstverhältnisse, bei denen der Dienstherr eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist 3 8 . Nicht dazu gehören Dienstverhältnisse bei p r i vatrechtlichen (handelsrechtlichen) Gesellschaften, auch wenn das K a p i t a l sich vollständig i n öffentlicher Hand befindet. Die Frage, i n w i e w e i t hier Abführungspflichten bestehen, ist i n § 8 B N T V O gesondert geregelt. So ist auch der Dienst für einen gemeinnützigen, vom Dienstherrn subventionierten Verein nicht öffentlicher Dienst. Zweifelhaft kann sein, i n w i e w e i t der Dienst für verbandsmäßige Zusammenschlüsse von Körperschaften des öffentlichen Rechts öffentlicher Dienst ist. Das w i r d man grundsätzlich auch verneinen müssen, w e i l diese Zusammenschlüsse i n der Regel rechtsfähige oder nichtrechtsfähige Vereine des bürgerlichen Rechts sind 3 9 . 3. Eine Ablieferungspflicht aus Nebentätigkeiten,
ist ferner vorgesehen für
die dem öffentlichen
Dienst
Vergütungen
gleichstehen
40
.
Gegen
diese Regelung bestehen Bedenken. Zunächst fehlt es an der gesetzlichen Ermächtigung, eine Ablieferungspflicht für diese Tätigkeiten anzuordnen. § 69 Abs. 2 N r . 2 ermächtigt n u r zur Regelung der Frage, ob u n d i n w i e w e i t der Beamte für eine i m öffentlichen Dienst ausgeübte Nebentätigkeit zur Ablieferung verpflichtet ist. Die Frage der Gleichstellung ist i n § 69 Abs. 2 Nr. 1 angesprochen. Hiernach kann durch Ver36
§§ 49, 124 BRRG, § 83 Abs. 3 BBG. Vgl. hierzu Pfennig, Der Begriff des öffentlichen Dienstes und seiner Angehörigen, 1960, S. 40 ff. 38 BVerfGE 6, 246 (250 f.); 6, 257 (266 ff.); BVerwGE 30, 81 (84 f.). 39 Zahlreiche Beispiele bei Pohle, Interessenverbände der öffentlichen Hand, VerwArch 53, 1962, 201 ff. und 333 ff., S. 205 ff. 40 §§ 2 Abs. 2, 6 Abs. 3 BNTVO. 37
Die Pflicht zur Ablieferung der N e b e n t ä t i g k e i t s e r g ü t u n g
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Ordnung bestimmt werden, welche Tätigkeiten dem öffentlichen Dienst gleichstehen. Diese Bestimmung macht deutlich, daß der dem öffentlichen Dienst gleichstehende Dienst nicht öffentlicher Dienst i m Sinne des Nebentätigkeitsrechts, sondern eine weitere Kategorie ist. Dann aber betrifft die Ermächtigung der Nr. 2 nicht den „gleichgestellten" Dienst. I m übrigen hat der Verordnungsgeber auch von der Möglichkeit der Gleichstellung nicht Gebrauch gemacht. I n der BNTVO gibt es keine Bestimmung, die sagt, welcher Dienst dem öffentlichen Dienst gleichsteht. Handhabbar wäre die Vorschrift über die Ablieferung von Nebentätigkeitsvergütungen aus dem „gleichstehenden" Dienst nur, wenn die Verwaltung von sich aus entscheidet, was darunter fallen soll. Dagegen aber bestehen Bedenken, w e i l i n der Verordnung oder i m Gesetz überhaupt keine Maßstäbe genannt sind, an denen die Verwaltung erkennen kann, was dem gleichsteht. Daher ist diese Vorschrift nicht anwendbar. 4. Schließlich sollen Vergütungen für Nebentätigkeiten w e r d e n , w e n n sie auf Vorschlag
oder auf Veranlassung
des
abgeführt Dienstvor-
gesetzten ausgeübt werden 4 1 . Diese Fassung ist uferlos weit und führt u. U. zu unangemessenen Ergebnissen, wie der folgende Fall zeigen mag: Eine juristische Person des Privatrechts bittet einen Behördenleiter, ihr einen nachgeordneten Beamten zu benennen, der bereit und i n der Lage ist, gegen Vergütung für sie tätig zu werden. Der Behördenleiter benennt den Beamten A, dem er damit einen Gefallen t u n w i l l , und erteilt — da er zugleich Dienstvorgesetzter ist — die notwendige Nebentätigkeitsgenehmigung. Nach Beendigung der Tätigkeit muß sich nun der Dienstherr den 6000 D M übersteigenden Betrag der Vergütung aus der Nebentätigkeit abliefern lassen, da sie j a auf Veranlassung des Dienstvorgesetzten übernommen worden ist. Es gibt dabei keine Ermessensmöglichkeit. Der Rechnungshof muß darauf dringen, daß die Ablieferung erfolgt. Sicherlich sind derartige Fälle von der Verordnung nicht gemeint. Aber sie werden mit betroffen. IX. Die Fassung der Verordnung erweist sich damit als nicht sonderlich gelungen. Wenn man das Anliegen der Ablieferungspflicht berücksich41
§ 6 Abs. 3 BNTVO.
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tigen w i l l , müßte man legislatorisch ganz anders vorgehen. Zunächst besteht an sich kein Interesse daran, die Einkünfte der Beamten aus Nebentätigkeit niedrig zu halten. I m Gegenteil, der Staat hat z. T. ein erhebliches Interesse an den Beamten-Nebentätigkeiten. Das gilt insbesondere für Ärzte i m öffentlichen Gesundheitsdienst. Angesichts des ungeheueren Gefälles zwischen den Einkünften der niedergelassenen Ärzte und der beamteten Ärzte kann der Staat seine Planstellen für Ärzte m i t qualifizierten Personen überhaupt nur dann besetzen, wenn er ihnen die Chance zum Nebenverdienst läßt. Andernfalls müßte er die Besoldungen für Ärzte ganz erheblich heraufsetzen. Auch sonst kann der Dienstherr kein grundsätzliches Interesse an einer Niedrighaltung der Einkünfte seiner Beamten haben. Diese Erwägungen gelten freilich nicht mehr, wenn das Interesse der Beamten an den Nebentätigkeitseinkünften so groß wird, daß der Beamte seine dienstlichen Pflichten vernachlässigt. Daß von der Höhe der erzielbaren Nebeneinnahmen ein Einfluß auf die Ablenkung von den dienstlichen Aufgaben ausgehen kann, ist nicht zu verkennen. Allerdings gilt das nicht nur für die Nebentätigkeiten i m öffentlichen Dienst, sondern ebenso für die Nebentätigkeiten für Private. Die Regelung der BNTVO ist nicht nur deshalb inkonsequent, weil die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Dienst ungeeignet ist, sondern auch deshalb, weil sie gerade bestimmte Tätigkeiten für öffentliche Dienstherrn wie wissenschaftliche und Gutachtertätigkeiten erlaubt, die kaum kontrollierbar sind und u .U zu erheblichen Nebeneinnahmen führen, also ein erhebliches Interesse beim Beamten hervorrufen. Diese Erwägungen zeigen, daß die Ablieferungspflicht an sich ein ungeeignetes M i t t e l ist, u m die Ziele des Nebentätigkeitsrechts zu erreichen. Sie ist nicht nur prinzipiell rechtlich angreifbar, sondern führt i n ihrer konkreten Ausgestaltung zu manchen Ungereimtheiten. Vor allem ist sie dem Einwand ausgesetzt, daß sich der Dienstherr an der Nebentätigkeit seiner Beamten bereichert, ohne daß dem Beamten dafür wirklich eine Entlastung i m Hauptamt zuteil wird. Die Tatbestände, an die die Ablieferungspflicht geknüpft ist, treffen vor allem Beamte i n Spitzenpositionen. Diese haben aber i n aller Regel eine Arbeitsbelastung, die weit über das Maß der Arbeitszeitverordnung 4 2 hinausgeht. Bei ihnen ist daher Nebentätigkeit zumeist zusätzlicher Dienst. Die Vergütung so rigoros wegzusteuern, wie es die BNTVO vorsieht, ist
42 Verordnung über die Arbeitszeit der Bundesbeamten i. d. F. v. 27. 4.1965 (BGBl. I S. 349), geändert durch VO v. 6.12.1968 (BGBl. I S. 1 319), BGBl. I I I 2030 - 2 - 1.
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nicht zu rechtfertigen. Das M i t t e l zur Lösung des Problems liegt bei der Frage, inwieweit die Nebentätigkeit genehmigungsfrei ist bzw. genehmigt wird, ferner bei der Kontrolle über die Amtstätigkeit. Die Beschränkung bestimmter, nicht einmal konsequent ausgewählter Einnahmemöglichkeiten oder gar das Prinzip beamtenpolitischer Austerity sind sicherlich ungeeignet.
V I I I . Umweltschutz
Ein Grundrecht auf saubere Umwelt? Von Hans H. K l e i n
„Der oszillierende Begriff des Umweltschutzes bezeichnet eine Herausforderung von hoher Realität" 1 , die auch zu einer Herausforderung des verfassungsändernden Gesetzgebers werden könnte. Verschiedene Autoren sind dafür eingetreten, i n das Grundgesetz ein Grundrecht auf saubere Umwelt aufzunehmen, Politiker haben sich ihnen angeschlossen 2 und eine politische Partei, die FDP, hat i m Rahmen ihres sog. Freiburger Programms gar schon einen Formulierungsvorschlag unterbreitet. Dieser lautet: „Jeder hat ein Recht auf eine menschenwürdige Umwelt. Die Naturgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die Grenze der i m Allgemeininteresse zulässigen Umweltbelastung wird durch Gesetz bestimmt."
Obgleich die Formulierung sich i n Teilen an geltendes Verfassungsrecht anlehnt (vgl. A r t . 6 I GG) 3 und sich eine gewisse Parallele beispielsweise auch i n A r t . 141 der Bayerischen Verfassung 4 findet 5 , und überdies niemand an der Unerläßlichkeit eines wirksamen Umweltschutzes zweifelt, verdient die Frage, ob ein Grundrecht auf menschenwürdige (heile, saubere, gesunde) Umwelt i n der von der FDP vorgeschlagenen oder einer ähnlichen Formulierung i n das GG Aufnahme finden soll, dennoch eine sorgfältige Prüfung. Sie geht i n eine doppelte 1
W. Weber, Umweltschutz im Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Stand und Tendenzen der Gesetzgebung, DVB1. 1971, 806 ff. (806). 2 Bundesinnenminister H.-D. Genscher, Soziales Grundrecht auf eine gesunde Umwelt, Bulletin Nr. 34 v. 28.3.1973, S. 305 ff.; R. Hanauer, Zum Grundrecht auf eine heile Umwelt, Natur und Landschaft 1970, 427 f. 8 Vgl. ferner Art. 150 I WRV. Hinzuweisen ist auch auf Art. 15 I I D D R V 1968: „Im Interesse des Wohlergehens der Bürger sorgen Staat und Gesellschaft für den Schutz der Natur. Die Reinhaltung der Gewässer und der Luft sowie der Schutz der Pflanzen- und Tierwelt und der landschaftlichen Schönheiten der Heimat sind durch die zuständigen Organe zu gewährleisten und sind darüber hinaus auch Sache jeden Bürgers." 4 s. ferner Art. 86 B W - L V ; Art. 62 Hs. L V ; Art. 18 I I N R W - L V ; Art. 40 I I I RhPf. LV. 6 Vgl. auch Art. 11 der Europäischen Sozialcharta, der die Vertragsparteien zu Maßnahmen im Interesse „des Rechtes auf Schutz der Gesundheit" verpflichtet. 41*
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Richtung: Zum einen ist zu ermitteln, ob ein Bedürfnis für eine Verfassungsänderung dieser A r t besteht. Ein solches kann nicht schon dann bejaht werden, wenn — wie i n diesem Fall — alle politischen Kräfte sich i m Ziel einig sind; die Verfassung ist nicht der geeignete Ort zur Plakatierung aktueller programmatischer Vorstellungen der politischen Parteien. Ein Bedürfnis für die Aufnahme eines Grundrechts auf saubere Umwelt i n das GG bestünde vielmehr nur, wenn anders die notwendigen rechtlichen Vorkehrungen für einen wirksamen Schutz der erwünschten ökologischen Bedingungen unseres Lebens nicht getroffen werden könnten. Zumal — und dies zum anderen — die möglichen Auswirkungen der Aufnahme eines solchen Grundrechts i n das GG auf die Struktur unserer Verfassung zu bedenken sind. I. Schon Werner Weber 6 hat darauf aufmerksam gemacht, daß das GG i n einer Reihe von Zuständigkeitsnormen sowohl i m Bereich der konkurrierenden als auch der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes wesentlicher Teile des Umweltschutzes gedenkt. Naturschutz und Landschaftspflege, Raumordnung und Wasserhaushalt (Art. 75), Wirtschaft, Kernenergie, Land- und Fortwirtschaft, Bodenrecht, Gesundheitswesen, der Verkehr m i t Lebens- und Futtermitteln, Pflanzenschutz, Straßenverkehr und Kraftfahrwesen, Schienenbahnen, Abfallbeseitigung, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung (Art. 74) sind dem Bundesgesetzgeber zu mehr oder minder intensiver Regelung zugewiesen. Und m i t Recht hat derselbe Autor daraus, zumal auch i m Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip des A r t . 20 GG, auch einen Verfassungsauftrag entnommen, i m Sinne des Umweltschutzes tätig zu werden, soweit er eben nach Maßgabe dieser Vorschriften dem Bund anvertraut ist 7 . Daß dieser auch auf den Vollzug solcher Gesetze i n der einen oder anderen Weise Einfluß zu nehmen vermag, zeigt ein Blick i n den 8. A b schnitt des GG 8 . Die Frage, ob das dem Bund damit an die Hand gegebene Instrumentarium genügt, u m den Belangen des Umweltschutzes gerecht zu werden, oder ob es dazu weiterer Kompetenzverlagerungen von den Ländern auf den Bund bedarf 9 , ist von der hier untersuchten 6
Ebenda. Vgl. auch E. Rehbinder, Grundfragen des Umweltrechts, ZRP 1970, 250 ff. (251). 8 Man denke an die Errichtung des Umweltbundesamtes. 9 Z u erinnern ist an den Vorschlag, die bisherigen Rahmenkompetenzen des Bundes für den Wasserhaushalt sowie den Naturschutz und die Landschaftspflege zu konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten zu machen (BT-Drucks. 7/885 und 7/887). 7
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durchaus zu trennen. Denn ein Grundrecht auf saubere Umwelt i m Sinne des einleitend zitierten Vorschlags der FDP würde eine Stärkung der Zuständigkeiten des Bundes nicht zur Folge haben. Die verfassungsrechtliche Position des Umweltschutzes leidet indessen, unabhängig von dem Problem zureichender Kompetenzausstattung des Bundes, an einer dreifachen Schwäche, die freilich mindestens zum Teil eine gewollte ist: — Das Sozialstaatsprinzip enthält keine Festlegung der Verfassungsorgane auf bestimmte gesellschaftspolitische Leitbilder; es überläßt den Umweltschutz der „freie(n) politische(n) Gestaltung, die von der Kräftekonstellation i m politischen Gemeinwesen abhängig ist" 1 0 . — Bei Ausübung der zum Schutze der Umwelt nutzbaren Kompetenzen bleiben Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte gebunden (Art. 1 I I I GG). — Die Rechtsstellung des einzelnen ist i m Falle seiner Bedrohung durch Veränderungen der U m w e l t von Verfassungs wegen nur wenig gesichert. 1. Daß der Umweltschutz der freien politischen Gestaltung überlassen bleibt, ist freilich eine Feststellung, die ihrerseits mit Einschränkungen zu versehen ist. Sie darf zunächst — rechtlich — nicht übersehen lassen, daß — wie erwähnt — dem GG ein Auftrag entnommen werden kann, daß sich der Staat des Umweltschutzes annimmt. Dem Auftrag fehlt allerdings die Sanktion. Indessen ist — i n tatsächlicher Hinsicht — zu sagen, daß sich der Staat (bzw. die ihn tragenden politischen Kräfte, zum wenigsten die politischen Parteien) den Herausforderungen der technischen Realisation, i n deren Bereich der Umweltschutz fällt, so wenig zu entziehen vermag wie er sich denen der sozialen Realisation entziehen konnte und kann 1 1 . M. a. W.: der Druck auf die Organe von Gesetzgebung und Verwaltung, der Gefährdung der U m w e l t durch Z i vilisation und Technik m i t geeigneten Maßnahmen zu begegnen, ließe sich durch eine Präzisierung des dem geltenden Recht schon zu entnehmenden Verfassungsauftrags durch eine speziell dem Problem des Umweltschutzes gewidmete Verfassungsnorm nicht wesentlich verstärken. Zu einer geschwinderen und konsequenteren Lösung der anstehenden Fragen trüge sie nur wenig bei. 2. Die Grundrechtsbindung der Gesetzgebung wie der anderen staatlichen Gewalten aufzuheben, kann niemand ernsthaft i n Betracht zie10
Rehbinder, a.a.O. Z u den Begriffen „technische" und „soziale Realisation" s. E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971. 11
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hen wollen, auch nicht, soweit es u m Maßnahmen zum Schutze der Umwelt geht. Andererseits stehen die grundrechtlichen Freiheitsgewährleistungen einem wirksamen staatlichen Umweltschutz nicht i m Wege. „Denn die Verfassung gewährleistet nicht die Freiheit zu umweltschädigendem Verhalten" 1 2 , und H. H. Rupp hat zutreffend darauf aufmerksam gemacht, daß Umweltschutz „eine bisher wahrscheinlich noch unbekannte Sozialpflichtigkeit aller Grundrechte" bedeutet 13 . Davon bleibt unberührt, daß staatliche Vorkehrungen zum Schutze der Umwelt, wo sie einzelnen unzumutbare Sonderopfer auferlegen, die Schwelle zur entschädigungspflichtigen Enteignung überschreiten können. A n ders ausgedrückt: der Titel Umweltschutz vermag die staatliche Gew a l t zwar von der Pflicht zur Beachtung der Grundrechte nicht freizustellen, die Grundrechte können andererseits den Umweltschutz aber auch nicht entscheidend behindern. A n der gegenwärtigen Rechtslage würde durch ein Grundrecht auf Umweltschutz auch daran wenig zu ändern sein, da A r t . 1 I I I GG der Verfassungsänderung entzogen ist. 3. A m ehesten ließe sich, so scheint es, die dritte der oben festgestellten Schwächen der Position des Umweltschutzes i m geltenden Verfassungsrecht korrigieren, wenn man sich entschlösse, ein Grundrecht auf saubere Umwelt i n das GG aufzunehmen. Indessen lohnt auch hier die Analyse des bereits geltenden Rechts, ehe man die Frage nach dem Bedürfnis für ein solches Grundrecht bejaht. Die von der Verfassung intendierte reale Freiheit des Individuums ist, wie ich an anderer Stelle nachgewiesen habe 14 , mehrdimensional. Sie erschöpft sich nicht i n der Freiheit von staatlichem Zwang, sondern umfaßt (neben anderem) auch die Teilhabe an staatlichen Leistungen. Unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft ist der einzelne i n vielfältiger Form darauf angewiesen, daß i h m der Staat die materiellen und ideellen Voraussetzungen verschafft und erhält, ohne die seine Freiheit leerliefe. Die Würde des Menschen, die zu schützen die Verfassung aller staatlichen Gewalt zur Pflicht macht, gebietet, daß dem einzelnen insoweit auch Rechtsansprüche zustehen. Aus rechtsgrundsätzlichen Erwägungen, für die ich noch einmal auf meine soeben zitierte Schrift verweise, können allerdings die Grundrechte i n der Regel nicht zugleich Teilhabe- und Abwehrrechte sein. Immerhin hat die Rechtsprechung i n Einzelfällen den Grundrechten auch Ansprüche auf staatliche Leistungen entnommen. 12 18
W. Weber, S. 807. Die verfassungsrechtliche
Seite des Umweltschutzes, JZ 1971, 401 ff.
(403). 14
H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, bes. S. 53 ff.
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a) Dabei bleibe der Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) außer Betracht, aus dem sich unstreitig, aber i n jeweiliger Abhängigkeit von der bestehenden Gesetzeslage bzw. Verwaltungspraxis, Ansprüche des einzelnen auf staatliches Handeln ergeben können. Dies hängt m i t der derjenigen der übrigen Grundrechte nicht vergleichbaren Struktur dieser Verfassungsnorm zusammen, der seit der Weimarer Zeit materiale Gerechtigkeitskriterien für das staatliche Handeln entnommen werden. Aber die heutige Auslegung des Gleichheitssatzes stellt, wie E. Forsthoff 15 zu Recht bemerkt hat, „den einzigen Fall dar, i n dem eine dem rechtsstaatlichen Konzept nicht mehr kongruente Wirklichkeit eine aus diesem Konzept heraustretende Auslegung eines Grundrechts angezeigt erscheinen läßt". b) Einschlägig ist dagegen die von Rechtsprechung 16 und L i t e r a t u r 1 7 entwickelte Auffassung, aus A r t . 1 bzw. 2 GG — insoweit bestehen Meinungsverschiedenheiten — ergebe sich ein positives Recht auf Gewährung des Existenzminimums i m Notfall. c) Die vom BVerfG 1 8 für den Fall nicht rechtzeitiger Änderung des Unehelichenrechts durch den Gesetzgeber angekündigte unmittelbare Aktualisierung des A r t . 6 V GG ist hingegen i m vorliegenden Zusammenhang deshalb nicht von wesentlicher Bedeutung, weil sich i n ihrer Folge weniger Ansprüche gegen den Staat als vielmehr gegen Private ergeben hätten. Für die strukturelle Betrachtung ist auch erheblich, daß das Gericht A r t . 6 V GG als eine besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes ansieht 19 . d) Beispielhaft ist dagegen der vom B V e r w G 2 0 bejahte Subventionsanspruch genehmigter privater Ersatzschulen 21 . Aufmerksamkeit ver15 Zur heutigen Situation einer Verfassungslehre in: Epirrhosis, Festg. f. C. Schmitt, 1968, S. 185 ff. (189). 16 BVerwGE 1, 159 ff. 17 Dürig in: Maunz - Dürig - Herzog, Das Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 43 f., Art. 2 Rdnr. 2 6 - 2 8 ; Hamann - Lenz, Grundgesetz, 2. Aufl. 1970, Art. 1 Anm. 35 jeweils m. W. Nachw. 18 BVerfGE 25, 167 ff. 19 Ebenda, S. 173. 20 BVerwGE 23, 347 ff.; 27, 360 ff. 21 I n der Literatur hat diese Rechtsprechung eine unterschiedliche Aufnahme gefunden. Während etwa H. Hechel, Deutsches Privatschulrecht, 1955, S. 253 ff.; ders., Entwicklungslinien i m Privatschulrecht, DÖV 1964, 595 ff. (596), schon früher einen Anspruch der Privatschulen auf staatliche finanzielle Förderung befürwortet hatte (weitere Nachweise für positive Stimmen bei Maunz in Maunz - Dürig - Herzog, Art. 7 Rdnr. 86), haben andere — etwa H. Barion, Gleich und ungleich in der Schulfinanzierung, DÖV 1967, 516 ff.; Maunz, a.aO., m. w. Nachw.; H. Weber, Anmerkung in NJW 1966, 1798 ff. — Bedenken erhoben, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Mei-
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dient die Begründung: w e i l private Ersatzschulen mit der Entwicklung der öffentlichen Schulen nicht Schritt halten könnten und deshalb ihren Charakter als Ersatzschulen über kurz oder lang verlieren müßten, sei der Einrichtungsgarantie des A r t . 7 I V 1 GG ein Anspruch auf staatliche Hilfe zu entnehmen. Ohne diese Hilfe würde entgegen dem Willen des GGes das Ersatzschulwesen zum Erliegen kommen. „Der Rechtsgrund für diesen Anspruch liegt i n der verfassungsrechtlich verankerten Notwendigkeit und Verpflichtung des Staates, die Einrichtung der privaten Ersatzschulen zu erhalten; sie ist ohne staatliche Hilfe nicht mehr gewährleistet 2 2 ." e) Von entscheidender Bedeutung für die hier angestellten Überlegungen sind die Gedankengänge, die der verfassungsrechtlichen Beurteilung des numerus clausus durch das BVerfG 2 3 zugrunde liegen. Ausgehend von dem Hinweis, daß i m Verhältnis zwischen Bürger und Staat, je stärker sich der moderne Staat der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die grundrechtliche Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen trete, stellt das Gericht fest, das Recht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte ziele seiner Natur nach auf den freien Zugang zu Einrichtungen. „Das Freiheitsrecht wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es i n A n spruch nehmen zu können, wertlos." „Dabei kann dahingestellt bleiben", so fährt das BVerfG fort, „ob ,Teilhaberechte 4 i n gewissem Umfang bereits daraus hergeleitet werden könnten, daß der soziale Rechtsstaat eine Garantenstellung für die Umsetzung des grundrechtlichen Wertsystems i n die Verfassungswirklichkeit einnimmt . . . Selbst wenn grundsätzlich daran festzuhalten ist, daß es auch i m modernen Sozialstaat der nicht einklagbaren Entscheidung des Gesetzgebers überlassen bleibt, ob und wieweit er i m Rahmen der darreichenden Verwaltung Teilhaberechte gewähren w i l l , so können sich doch, wenn der Staat gewisse Ausbildungseinrichtungen geschaffen hat, aus dem Gleichheitssatz i n Verbindung m i t A r t . 12 I GG und dem Sozialstaatsprinzip Ansprüche auf Z u t r i t t zu diesen Einrichtungen ergeben". Das gelte besonders, wo — wie i m Bereich des Hochschulwesens — der Staat ein nicht beliebig aufgebbares faktisches Monopol besitze und wo — wie i m Bereich der Ausbildung zu akademischen Berufen — die Beteiligung an staatlichen Leistungen zugleich notwendige Voraussetzung nung, der Staat habe dort, wo er Freiheiten einräumt, stets die erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen derselben mitgarantiert, im GG keine Stütze finde. 22 BVerwGE 27, 364. 23 BVerfGE 33, 303 ff.
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für die Verwirklichung von Grundrechten ist. Die Entscheidung stellt also klar, daß, wo der Staat Leistungen anbietet und der Bürger auf sie zur Verwirklichung seiner Freiheit angewiesen ist, i h m insoweit auch ein Rechtsanspruch auf Gewährung dieser Leistungen einzuräumen ist. Wesentlich zurückhaltender beantwortet das BVerfG demgegenüber die Frage, ob dem einzelnen auch ein Anspruch auf Erweiterung der vorhandenen, zur Aufnahme aller Ausbildungswilligen nicht mehr hinreichenden staatlichen Ausbildungskapazitäten zuzuerkennen sei. Ob „ein objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag" zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten besteht und sich daraus „unter besonderen Voraussetzungen" ein einklagbarer Individualanspruch auf Schaffung von Studienplätzen herleiten ließe, blieb offen. Dies, so das Gericht, käme allenfalls bei einer evidenten Verletzung jenes Verfassungsauftrages in Betracht. Und es fügt an: „Auch soweit Teilhaberechte nicht von vornherein auf das jeweils Vorhandene beschränkt sind, stehen sie doch unter dem Vorbehalt des Möglichen i m Sinne dessen, was der einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft banspruchen kann. Dies hat i n erster Linie der Gesetzgeber i n eigener Verantwortung zu b e u r t e i l e n . . . " f) Letztlich sei hier auf die Entscheidung des BVerfG zur Wissenschaftsfreiheit i m Hochschulbereich Bezug genommen 24 . Aus der i n A r t . 5 I I I GG enthaltenen objektiven Wertentscheidung folgert das Gericht, der Staat habe die Pflege der Wissenschaft durch die Bereitstellung von personellen, finanziellen und organisatorischen Mitteln zu fördern. Dies — und die Notwendigkeit der Funktionsfähigkeit der bereitgestellten Organisationen — ergebe sich daraus, daß ohne solche Mittel, über die heute i m wesentlichen nur noch der Staat verfüge, i n weiten wissenschaftlichen Bereichen unabhängige Forschung und Lehre nicht mehr möglich seien. Aus dem faktischen Monopol des Staates w i r d wiederum geschlossen, daß die Ausübung des i n A r t . 5 I I I GG garantierten Grundrechts notwendig m i t einer Teilhabe an staatlichen Leistungen verknüpft sei. Und wenig später abermals: Die durch die Wertentscheidung des A r t . 5 I I I GG i n Richtung auf Teilhaberechte verstärkte Geltungskraft des Freiheitsrechts rechtfertige sich aus der Überlegung, daß (u. a.) die Beteiligung am öffentlichen Leistungsangebot zunehmend zur notwendigen Voraussetzung für die Verwirklichung der Wissenschaftsfreiheit wird. Das Freiheitsrecht w i r d sogar zum Anspruch auf organisatorische Maßnahmen, die zum Schutz des auch i n der Korporation der Hochschule unantastbaren Freiheitsraumes erforderlich sind.
24
BVerfGE 35, 79 ff. (114 f.).
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Insgesamt scheint die Rechtsprechung i n drei Fällen geneigt, aus Grundrechten Teilhabeansprüche abzuleiten: — wenn der einzelne i n Not geraten und auf staatliche Hilfe angewiesen ist; — wenn eine verfassungsrechtlich garantierte Einrichtung ohne staatliche Förderung Gefahr liefe, ihre Existenzgrundlage einzubüßen; — wenn der Staat Leistungen vergibt, insoweit über ein faktisches Monopol verfügt und ohne Teilhabe an diesen Leistungen die Freiheitsgarantie leerliefe. Die Frage, ob der Staat überhaupt, u m die Verwirklichung der individuellen Freiheit zu ermöglichen, tatsächliche Vorkehrungen zu treffen habe und darauf Rechtsansprüche des Bürgers bestehen, w i r d jedenfalls vom BVerfG sehr zurückhaltend beurteilt. Unter diesen Prämissen sind die Versuche zu würdigen, dem geltenden Verfassungsrecht ein Grundrecht auf saubere Umwelt zu entlocken. Solche Versuche haben vor allem H. H. Rupp 25 und E. Rehbinder 26 unternommen. Rupp möchte den Grundrechten Schutzansprüche auf Schaffung derjenigen Bedingungen entnehmen, unter denen i n der heutigen Umwelt noch ein freies menschenwürdiges Leben möglich ist. I m Prinzip ergebe sich aus A r t . 1 und 2 GG ein Grundrecht auf unschädliche Umwelt, bei dem es sich allerdings nicht u m unmittelbar einklagbare Ansprüche auf ganz bestimmte staatliche Maßnahmen handele. Wer ein Grundrecht auf menschenwürdiges Leben bejahe und dieses nicht nur als defensivnegatorisches Abwehrrecht verstehe, müsse anerkennen, daß die Verwirklichung eines i m Rahmen des Möglichen liegenden Sofortprogramms eine grundrechtliche Pflicht der staatlichen Gemeinschaft sei. — Rehbinder verweist auf die Einschätzung der Gesundheit als absolutes Gemeinschaftsgut i n der Rechtsprechung des BVerfG und folgert: „Persönliche Freiheit, Leben, Körperintegrität lassen sich i n einer komplexen Industriegesellschaft nur aktualisieren, wenn der Staat die ökonomischen wie ökologischen Voraussetzungen schafft und erhält, u m sie realiter auszuüben." R. möchte aus A r t . 1 I und I I GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip ein positives, gegen den Staat gerichtetes Recht auf Gestaltung der Umweltbedingungen ableiten. Das Sozialstaatsprinzip w i r k e hier i n Richtung auf eine Verpflichtung des Staates zur Schaffung jedenfalls minimaler materieller Grundrechtsvoraussetzungen. 25 26
Vgl. Anm. 13.
Grundlagen des Umweltrechts in: Umweltschutz — aber wie? Rechtliche Hindernisse — rechtliche Möglichkeiten, 1972, S. 21 ff.
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Beiden Autoren geht es erkennbar darum, eine Rechtsgrundlage zu gewinnen, von der aus das Potential der durch Umweltschäden betroffenen Bürger gegen die mannigfaltigen Hemmnisse wirksamer Umweltschutzpolitik aktiviert werden kann. Beide befürworten die Zulassung eines Klagerechts von unabhängigen Umweltschutzverbänden, „die statuarisch keine andere Aufgabe haben als die, gesetzwidrigen Umweltbelastungen auf die Spur zu kommen und gegen sie gerichtlich vorzugehen" 27 — wozu es allerdings einer Verfassungsänderung gewiß nicht bedürfte 2 8 . Rehbinder 29 macht indessen zutreffend darauf aufmerksam, daß die Anerkennung eines Grundrechts auf das ökologische M i n i m u m ohne weiteres demjenigen ein Klagerecht gäbe, der sich durch umweltbelastende Maßnahmen des Staates betroffen sieht. Die letzterwähnte Konsequenz dem geltenden Recht zu entnehmen, möchte ich' nicht zögern. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 I I 1 GG), bei dessen Inhaltsbestimmung nicht außer acht gelassen werden darf, daß es sich nach dem Willen der Verfassung (Art. 1 I GG) u m ein menschenwürdiges Leben handeln muß, dessen Existenz da gewährleistet wird, ist auch auf Abwehr nicht gesetzlich abgedeckter umweltbelastender Maßnahmen des Staates gerichtet. Daraus ergeben sich die entsprechenden Klagebefugnisse. Schwerer ist es, dem einzelnen M i t t e l an die Hand zu geben, gegen die Unterlassung notwendiger Maßnahmen zum Schutze der Umwelt seitens des Staates vorzugehen. Immerhin bietet sich auch insoweit eine Lösung an, wo es darum geht, daß es die Verwaltung unterläßt, gegen die gesetzwidrige Verursachung von Umweltschäden vorzugehen. Die i m vorigen Absatz dargestellte grundrechtliche Position des einzelnen läßt es möglich, je geboten erscheinen, die jeweils verletzte Norm regelmäßig dahin auszulegen, daß sie dem betroffenen Bürger einen A n spruch (ein Reflexrecht) auf die Ergreifung der gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen der Verwaltung gewährt. Dies wäre ggf. durch eine entsprechende Verdeutlichung der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften klarzustellen. So bleibt nur der Fall ungelöst, daß der Gesetzgeber selbst untätig bleibt oder aber zwar tätig wird, aber die Verwirklichung der i m Gesetz vorgesehenen Maßnahmen sei es überhaupt, sei es hinsichtlich des Zeitpunktes, dem Ermessen der Exekutive überläßt. Die Anerkennung eines aus den geltenden Grundrechtsnormen abgeleiteten Individual27
Rupp, S. 402; Rehbinder, ZRP 1970, 255. s. dazu auch E. Stein, Grundfragen des Umweltschutzrechts in: Fragen der Freiheit Nr. 90 (1971), S. 3 ff. (22 f., 24). 29 Grundlagen des Umweltrechts. S. 31. 28
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rechts auf die Verwirklichung eines Umweltsofortprogramms (Rupp) bzw. auf die Schaffung/Erhaltung des ökologischen Minimums (Rehbinder) i. S. eines auch gegen den Gesetzgeber wirksamen, bei dessen Untätigbleiben m i t der Verfassungsbeschwerde geltend zu machenden subjektiven öffentlichen Rechts ist gewiß das äußerste, was de lege lata angenommen werden kann. Aber schon dieses stößt auf Bedenken. Während i m Falle des Fürsorgeanspruchs (BVerwGE 1, 159 ff.) der A n spruchsgegenstand m i t Hilfe von Statistiken doch irgendwie konkretisierbar ist, läßt sich der notwendige Inhalt eines ökologischen Sofortprogramms auch nicht m i t annähernd gleicher Bestimmtheit angeben: aus durchaus vertretbaren Gründen w i r d es unterschiedliche Auffassungen über die Prioritäten, die A r t und Wirksamkeit der zu treffenden Maßnahmen u. v. a. m. geben, worüber nur der Gesetzgeber entscheiden kann. Allenfalls eine evidente Verletzung des Verfassungsauftrages könnte das BVerfG veranlassen, den Gesetzgeber durch Urteilsspruch zu einem bestimmten Tun zu verpflichten. Insgesamt erweist sich die verfassungsrechtliche Position des Umweltschutzes 30 als weniger schwach, als verschiedentlich angenommen zu werden scheint. Sieht man von der nicht aufhebbaren Bindung an die Grundrechte ab, bleibt als eine allenfalls zu schließende Lücke die relative Schwäche des nur mittelbar aus dem GG abgeleiteten, aber nicht ausdrücklich i n i h m enthaltenen Verfassungsauftrages zum Umweltschutz — eine Schwäche freilich, die weit mehr durch tatsächliche als durch rechtliche Umstände bedingt ist und folgeweise durch eine neue Rechtsnorm auch kaum zu beheben wäre. Auch die individuelle Rechtsstellung wäre durch eine Verfassungsänderung der vorgeschlagenen A r t nur schwerlich verbesserungsfähig, während durch einfachgesetzliche Maßnahmen einiges zu gewinnen wäre. Das Bedürfnis für die Aufnahme eines Grundrechts auf saubere Umwelt i n das GG ist nach alledem nicht groß.
II. Neigt man desungeachtet zu einer entsprechenden Änderung des GGes, muß man vorweg sagen, welche sachliche Änderung der bestehenden Rechtslage dadurch bewirkt werden soll. Aus den hier denkbaren Möglichkeiten sollte eine von vornherein ausscheiden; ein Grundrecht auf menschenwürdige Umwelt würde nicht als Kompetenzzuweisung, etwa als eine gegenständlich — nämlich auf den Umweltschutz — begrenzte Umkehrung der Kompetenzvermutung der A r t . 30, 70, 83 GG 30 Der föderalistische Aspekt ist hier ebenso außer Betracht gelassen wie der organisationsrechtliche; s. dazu W. Weber, S. 807 f.
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zugunsten des Bundes verstanden werden dürfen. Wer Zuständigkeitsverschiebungen für geboten hält, mag dies an der Stelle zum Ausdruck bringen, die sich dafür anbietet, das ist i m Bereich der Gesetzgebung der 7. und i m Bereich der Verwaltung der 8. Abschnitt des GGes. Man sollte auch darauf verzichten, die Verfassung m i t bloßen Programmsätzen ohne rechtsnormativen Gehalt zu belasten. Das GG zeichnet sich durch einen erfreulichen Mangel an solchen Scheinnormen vor der Weimarer Reichsverfassung wie vor einer Reihe von Landesverfassungen aus. Soweit es Programmsätze enthält (Art. 3 I I i. V. m. A r t . 117 I, A r t . 6 V), hat die Rechtsprechung Möglichkeiten gesehen, ihnen einen Grad von inhaltlicher Bestimmbarkeit zu attestieren, der es ermöglichte, ihnen ggf. auch ohne den Gesetzgeber Geltung zu verschaffen, sie m i t h i n als verbindliche Aktionsanweisung zu verstehen. Die Aktualisierung eines Programmsatzes durch die Rechtsprechung setzt nach dem BVerfG 3 1 voraus, „daß die Verfassungsnorm einen hinreichend klaren positiven Rechtsgehalt hat, u m ohne unerträgliche Gefährdung der Rechtssicherheit als unmittelbar anwendbare Generalklausel zu fungieren". Das hiernach erforderliche Maß an Bestimmtheit ließe sich einer auf den Umweltschutz zielenden Verfassungsnorm aus den schon oben angeführten Gründen jedoch schwerlich verleihen, und die von der FDP vorgeschlagene Formulierung weist es schon allein deshalb nicht auf, weil sie das Maß der zulässigen Umweltbelastung ausdrücklich der Bestimmung durch den Gesetzgeber überläßt. Es wäre gewiß hocherfreulich, gelänge es, ein echtes subjektives I n dividualrecht, aus dem sich durchsetzbare Ansprüche auf ein konkretes Handeln des Staates zum Schutze der Umwelt ergeben, zu begründen. A n einer solchen Möglichkeit ist indes, sofern man an eine über das dem geltenden Recht schon zu Entnehmende hinausgehende „große Lösung" denkt, zu zweifeln. Der FDP-Vorschlag faßt sie gar nicht erst ins Auge; denn er stellt, wie gesagt, das Recht auf menschenwürdige Umwelt unter den uneingeschränkten Vorbehalt des Gesetzes, das seinen Inhalt allererst definiert. Das „Grundrecht" w i r d so zur bloßen Deklamation, ähnlich jenem eindrucksvollen Katalog sozialer Rechte, der den Entwurf eines Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuchs 32 eröffnet, allerdings m i t dem Zusatz: „Aus ihnen können Ansprüche nur insoweit geltend gemacht oder hergeleitet werden, als deren Voraussetzungen und Inhalt durch die Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches i m einzelnen bestimmt sind" (§ 2 Satz 2). Für ein einfaches Gesetz mag dies erträglich sein, die recht verstandene Funktion 51 32
BVerfGE 25, 167 ff. (182). BT-Drucks. 7/868.
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der Verfassung, zumal ihres Grundrechtsteils ist nicht die eines Registers wichtiger Gesetzgebungsakte oder -wünsche. Darunter litte das Ansehen der Verfassung. Die i n ihr verbürgten Rechte müssen jederzeit durchsetzbar sein. Anderenfalls läuft sie Gefahr, als ganze nicht mehr ernst genommen zu werden. Die sich hier offenbarende Schwierigkeit ist dieselbe, auf die man bei der Formulierung sozialer Teilhaberrechte regelmäßig stößt und der sich kein Verfassunggeber, der sich eines solchen Versuches unterfängt, bisher zu entziehen vermocht hat. Diese Schwierigkeiten sind, wie besonders übersichtlich G. Brunner 3 3 gezeigt hat, von dreifacher Art: — Leistungsansprüche sind nur unter der Voraussetzung funktionsfähig, daß der Anspruchsgegner über das Anspruchsobjekt zu verfügen imstande ist. I m Falle eines Grundrechts aus saubere Umwelt verfügt der Staat — als der zumindest primäre Anspruchsadressat — i n der Tat über die Mittel, Störungen der Umwelt entgegenzutreten und zumindest langfristig auf die Wiederherstellung eines ökologischen Gleichgewichts hinzuwirken. Der Wirkungsgrad der klassischen Grundrechte ist demgegenüber stärker: Der Staat vermag sie jederzeit zu aktualisieren, da er nur bestehende rechtliche Sperren aufzuheben braucht, u m der Freiheit ihren Lauf zu lassen. Zur Wiederherstellung einer menschenwürdigen Umwelt bedarf es hingegen da, wo es sie nicht mehr gibt, jahrelanger Anstrengungen. Von einer unmittelbaren und jederzeitigen Aktualisierbarkeit eines Grundrechts auf saubere Umwelt könnte also keine Rede sein, und dies u m so weniger, als gewisse Belastungen der Umwelt auch künftig unvermeidlich werden i n Kauf genommen werden müssen, wie es die Formulierung des FDP-Vorschlags auch zum Ausdruck bringt. Daraus folgt zusätzlich, daß die Grundrechtsberechtigten nur i n sehr unterschiedlicher Weise i n den Genuß dessen gelangen können, was ihnen das Grundrecht auf menschenwürdige Umwelt garantieren soll, während es doch gerade der Sinn der Grundrechte ist, jedermann das gleiche Maß an Rechten zu gewährleisten 34 . 33 Die Problematik der sozialen Grundrechte, 1971, S. 14ff.; zur Problematik ferner: Th. Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, 1967; H. Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, 1969; K. Korinek, Betrachtungen zur juristischen Problematik sozialer Grundrechte in: Fragen des sozialen Lebens. Die sozialen Grundrechte, hrsg. von der Kath. Sozialakademie Österreichs, 1971, S. 9 ff.; F. van der Ven, Soziale Grundrechte, 1963. 34 Der zu gewärtigende Einwand, es gebe ja trotz des gleichen Eigentumsrechts Arme und Reiche, trotz der jedermann zustehenden Pressefreiheit Pressezaren und andere, die allenfalls die Kosten für den Druck eines Flug-
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— Eine notwendige Schranke sozialer Grundrechte bildet die Knappheit der Anspruchsobjekte, der Staat vermag m i t anderen Worten den an i h n gerichteten Ansprüchen stets nur i m Maße des Möglichen gerecht zu werden. Bezeichnend ist es deshalb, daß A r t . 53 der t ü r kischen Verfassung einen umfangreichen Katalog sozialer Grundrechte dadurch konterkariert, daß er die Erfüllung der dem Staat durch sie übertragenen Aufgaben davon abhängig macht, daß es die wirtschaftliche Entwicklung und die zur Verfügung stehenden Geldquellen erlauben. Auch ein Grundrecht auf saubere Umwelt w i r d die Erfüllung des i n i h m enthaltenen Auftrags nur der politischen, rechtlich kaum überprüfbaren Verantwortung des Gesetzgebers bzw. dem Ermessen der Verwaltung anheimgeben können 3 5 . — Schwer oder gar nicht zu bestimmen ist schließlich der Leistungsumfang sozialer Grundrechte. Dies gälte auch und gerade für ein Grundrecht auf saubere Umwelt. Folgerichtig überläßt der FDPVorschlag auch die Bestimmung des Maßes der i m Allgemeininteresse zulässigen Umweltbelastung der grundsätzlich diskretionären Entscheidung des Gesetzgebers. Einem Grundrecht auf saubere Umwelt gebräche es also zwangsläufig an einem aktualisierbaren und konkretisierbaren Gehalt. Verliehe man i h m gleichwohl unmittelbare Verbindlichkeit i. S. von A r t . 1 I I I GG, würde sowohl das Prinzip der Gewaltenteilung verletzt — insofern die vollziehende Gewalt zur Inhaltsbestimmung des Grundrechts gezwungen wäre und sich damit legislative Funktionen anmaßen w ü r de — als auch die Rechtssicherheit gefährdet. M i t Recht führt Brunner aus: „Durch die Verbindlicherklärung eines unvollziehbaren Verfassungssatzes würde eine erhebliche Rechtsunsicherheit entstehen, da es jedem Gericht und jeder Verwaltungsbehörde freistünde, den Umfang der grundrechtsmäßigen Leistung nach eigenen subjektiven Überlegungen zu bestimmen 3 6 ." I m übrigen wäre die Frage einer möglichen D r i t t w i r k u n g eines Grundrechts auf saubere Umwelt zu bedenken. Wäre sie zu bejahen, stünde jedermann gegen jeden Umweltstörer bzw. gegen jeden, der durch sein Verhalten die „Menschenwürdigkeit" der Umwelt gefährdet (sofern nicht der Gesetzgeber die Umweltbelastung i m Allgemeininteresse erlaubt!), ein Unterlassungsanspruch zu. Es liegt auf der blattes erschwingen können, verschlägt nichts. Es geht nicht um die unterschiedlichen tatsächlichen Voraussetzungen für den Gebrauch von Grundrechten, sondern darum, daß jedes Grundrecht jedermann die gleiche rechtliche Chance seiner Nutzung eröffnen muß. 36 Vgl. auch W. Weber, S. 806. 36 Brunner, S. 20.
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Hand, daß nicht n u r auch dieser Anspruch sich der verfassungsunmittelbaren Konkretisierung entzieht, sondern daß damit ein wesentliches Prinzip unseres gesamten Prozeßrechts, nach dem n u r derjenige eine Klagebefugnis hat, der selbst i n seinen Rechten betroffen ist, zwar nicht formaliter, w o h l aber realiter preisgegeben würde. H i n z u kommt, daß aus bekannten Gründen für eine unmittelbare D r i t t w i r k u n g von Grundrechten i n unserer Rechtsordnung kein Raum ist, also auch insoweit m i t einem Grundrecht auf saubere U m w e l t ein systemsprengendes Element i n das GG hineingetragen würde. Nach alledem würde die Einführung eines Grundrechts auf saubere Umwelt, sofern i h m unmittelbare Verbindlichkeit zukäme, auf aus dem Rechtsstaatsprinzip sich ergebene verfassungsrechtliche Bedenken stoßen. Sie sind n u r dadurch zu beheben, daß man ihm, w i e es i m V o r schlag der F D P denn auch nicht zufällig geschehen ist, einen umfassenden Gesetzesvorbehalt beigibt, der der Legislative die Bestimmung des Grundrechtsinhalts einschließlich des von anderer Seite nicht definierbaren ökologischen M i n i m u m s überläßt. Das aber bedeutet nichts anderes, als i n die Unverbindlichkeit des Grundrechts auszuweichen, als dessen positiver Rechtsgehalt nicht mehr u n d nichts anderes übrigbliebe als das, was nach dem oben Ausgeführten schon als I n h a l t des geltenden Rechts angesehen werden kann: — ein verbindlicher, an die Adresse des Gesetzgebers gerichteter, freilich n u r von diesem zu konkretisierender (und deshalb grundsätzlich unsanktionierter) Verfassungsauftrag, sich des Umweltschutzes anzunehmen; — das Recht Betroffener, sich gegen rechtswidrige u n d umweltbelastende Maßnahmen des Staates i m Klagewege zur Wehr zu setzen; — die Notwendigkeit, gesetzgeberisches Unterlassen i n extrem gelagerten Ausnahmefällen durch Verfassungsbeschwerde zu rügen; — der Zwang, die Grundrechte so auszulegen, daß umweltbeschädigendes Verhalten durch sie nicht gedeckt w i r d . Nach diesen Überlegungen kann das Bedürfnis für die Einführung eines Grundrechts auf saubere U m w e l t n u r erneut verneint, j a es muß n u n darüber hinausgehend von einem solchen Schritt abgeraten w e r den. Auch f ü r das Grundrecht auf menschenwürdige U m w e l t t r i f f t die Feststellung K . Korineks 37 zu, nach der die Methode der Formulierung sozialer Grundrechte als subjektive Forderungsrechte dem dahinter stehenden Anliegen ganz einfach inadäquat ist. Klassische u n d soziale Grundrechte, sagt er m i t Recht, passen nicht i n das gleiche Schema. Das 37
K. Korinek, S. 18.
E i n Grundrecht auf saubere Umwelt?
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Gesagte läßt deutlich werden, daß ein Grundrecht auf saubere Umwelt Erwartungen auslösen würde, die unerfüllbar bleiben müssen. Versteht man die Verfassung, wie es der Grundgesetzgeber getan hat, nicht i n erster Linie als politisches Programm, sondern als die mit unmittelbarer Geltungskraft ausgestattete rechtliche Grundordnung des Staates, dann ist in ihr für derartige Experimente kein Raum. Wenn es das Verdienst der Verfassungsväter i m Parlamentarischen Rat war, die Grundrechte aus dem sie zur Weimarer Zeit verdunkelnden Zweifel zwischen unmittelbarer Verbindlichkeit und erst noch zu realisierendem Programm befreit zu haben, dann kann es nicht Sache ihrer Nachfahren sein, sie erneut i n das Zwielicht dieses Zweifels zu rücken. Mißverständnissen wäre ein Grundrecht auf saubere Umwelt indessen nicht nur von seiten der Grundrechtsberechtigten ausgesetzt; auch die Interpreten der Verfassung wären vor ihnen schwerlich gefeit. Dabei könnte der Versuchung, i n ein solches Grundrecht mehr hineinzulesen, als der verfassungsändernde Gesetzgeber mit i h m gemeint haben kann, namentlich i h m einen höheren Verbindlichkeitsgrad beizulegen, als es vernünftigerweise haben kann, weder durch eine entsprechende Formulierung noch durch eine noch so sorgfältige Begründung wirksam und verläßlich vorgebeugt werden. Das schon i m Umgang m i t der Sozialstaatsklausel gelegentlich zu beobachtende Bestreben, ihr die rechtsstaatlichen Gewährleistungen der Verfassung unterzuordnen, erführe gewissermaßen eine neue Legitimation, wobei auch an das — gewiß nicht immer grundlos aufgestaute — emotionale Potential zu denken ist, welches ggf. gegen wirkliche oder angebliche Umweltsünder zu mobilisieren wäre. Allzuleicht könnte durch die Aufnahme eines Grundrechts auf saubere Umwelt i n die Verfassung die Vorstellung erweckt werden, der Staat erlange dadurch plein pouvoir zur Bewältigung i n diesem Bereich anstehender Probleme, ohne daß die von i h m zum Einsatz gebrachten M i t t e l sich am Maßstab der Grundrechte messen lassen müßten, m i t der Folge, daß, wer i h m dabei i n den A r m zu fallen wagt, die Vermutung der Rechtswidrigkeit gegen sich hätte. Es ist, so scheint mir, nicht die Zeit, dieses Risiko auch nur i m Ansatz einzugehen. Dabei ist auch zu bedenken, daß, wie i m Schrifttum 3 8 zutreffend beobachtet worden ist, kommunistische wie faschistoide Regime eine nicht zufällige gemeinsame Vorliebe für soziale Grundrechte haben. Dies hat seine U r sache i n ihrer antiliberalen Grundhaltung und i n ihren allerdings meist wenig ernstgemeinten, aber aus propagandistischen Gründen gerne plakatierten sozialen Absichten. Außerdem erweisen sich soziale Grundrechte als bestens geeignet, die staatlichen Machtbefugnisse auf Kosten der individuellen Freiheit auszudehnen, da der Schluß von der 38
Brunner y S. 22 m. Nachw.
42 Festschrift für Werner Weber
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durch sie gestellten Aufgabe auf die zu deren Erfüllung notwendige Zuständigkeit und Handlungsvollmacht naheliegt. Daß daneben die klassischen Grundrechte dann ganz oder weitgehend leerlaufen — soweit sie nicht wie i m marxistischen Rechtsdenken sogar i n Untertanenpflichten umfunktioniert werden 3 9 —, erleichtert nur die Etablierung und Behauptung des jeweiligen Regimes. F. van der Ven 40 erklärt daher zu Recht, daß eine Formulierung der sozialen Grundrechte als subjektives Recht, wenn dabei die Relativität der gegebenen Verhältnisse nicht i n Betracht gezogen wird, i n unsere Rechtsordnung ein verwerfliches absolutes und totalitäres Element hineintrüge. Da dies sicherlich niemand wünscht, sollte man das Risiko gar nicht erst eingehen und auf die Aufnahme eines Grundrechts auf saubere Umwelt verzichten. Wenn sich i m Grundgesetz nur eine geringe Zahl sozialer Teilhaberechte findet und das BVerfG, wie gezeigt, bei der Entwicklung solcher Rechte aus den vorhandenen Verfassungsnormen mit äußerster Zurückhaltung verfährt, so hat das, über die schon erwähnten Gründe hinaus, eine noch wesentlich tieferliegende Ursache. Seit dem Beginn kontinentaleuropäischen Verfassungsdenkens liegen zwei i m Ansatz fundamental verschiedene Richtungen miteinander i m Streit, zwischen denen sich jeder konkrete A k t der Verfassunggebung unweigerlich entscheiden muß. Streitgegenstand ist das Verhältnis der Gleichheit zur Freiheit der Menschen. Der Unterschied ist exemplarisch versinnbildlicht i n der Formulierung des A r t . 1 der i n der Französischen Verfassung vom 3. September 1791 enthaltenen Erklärung der Menschenund Bürgerrechte einerseits und des A r t . 3 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung der Verfassung vom 24. Juni 1973 andererseits. Heißt es dort: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits", so lautet es hier: „Tous les hommes sont égaux par la nature et devant la loi". Lorenz von Stein 41 hat daran die folgende, unverändert gültige Betrachtung geknüpft: „Jede Idee der Gleichheit hat zwei wesentlich verschiedene Ausgangspunkte. Der erste ist der rein negative. Nach diesem sind alle Menschen rechtlich gleich, und der positive Inhalt der Gleichheit besteht nur darin, daß jedem die rechtliche Fähigkeit gegeben werde, seine Individualität in vollster Freiheit aus eigener Kraft herauszubilden. Die negative Gleichheit setzt daher eine Ungleichheit der Individualitäten wenigstens als möglich; sie muß jedenfalls aber anerkennen, daß, wenn diese Ungleichheit aus der freien Entwicklung der Individuen entsteht, sie vollkommen berechtigt ist; das ist, daß jene negative Idee der Gleichheit durchaus nicht mit der wirklichen U n 39
Vgl. dazu die Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1972, B T Drucks. VI/3080, S. 59 unter Nr. 134. 40 F. van der Ven, S. 96. 41 Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 1. Band, Darmstadt 1959, S. 277, 278.
E i n Grundrecht auf saubere Umwelt?
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gleichheit im Widerspruche steht, sie nicht bekämpft, sondern im Gegenteil sich unterwirft. Das bei weitem Gewöhnliche und Allgemeine unter denen, welche diese Gleichheit fordern, ist aber, daß sie geradezu das Dasein einer natürlichen Ungleichheit anerkennen, ja sie sogar als ein vernünftigerweise ganz Unentbehrliches ansehen.... Es gibt aber auch eine zweite Auffassung der Idee der Gleichheit. Wir nennen sie die positive. Diese positive Gleichheit geht von dem Prinzip aus, daß die Individualitäten gleich sind, und daß jede Ungleichheit der Menschen nur von äußeren Umständen, namentlich von Besitz und Erziehung, herrührt. Die wirkliche, allerdings nicht zu leugnende Ungleichheit ist daher, statt daß sie bei der negativen Gleichheit das Natürliche und Organische ist, hier die reine Unnatur. Die Aufgabe der Menschen ist deshalb die, diese Unnatur zu verbannen. Und da dieselbe wesentlich von Besitz und Erziehung herrührt und sich in allen den verschiedenen Gütern des Lebens erhält, so muß jene Gleichheit notwendig zur Aufhebung des Eigentums und zur Vernichtung aller Verschiedenheit in Besitz und Arbeit gelangen . . . " D i e deutsche Verfassungsgesetzgebung
h a t sich stets
unzweideutig
z u r n e g a t i v e n G l e i c h h e i t i m S i n n e Steins b e k a n n t u n d d i e a u f zurückgehende, später v o n Karl
Marx
Rousseau
und dem Kommunismus wie dem
Sozialismus a u f g e n o m m e n e I d e e d e r p o s i t i v e n G l e i c h h e i t
verworfen.
E i n besonders e i n d r u c k s v o l l e s Z e u g n i s d a f ü r ist d i e Ä u ß e r u n g des d e r g e m ä ß i g t e n L i n k e n z u z u r e c h n e n d e n A b g e o r d n e t e n i n der F r a n k f u r t e r N a t i o n a l v e r s a m m l u n g v o n 1848 Heinrich
Ahr ens, der i n d e r D i s k u s s i o n
u m d e n Gleichheitssatz sagte: „Es handelt sich hier allein um die bürgerliche Gleichheit, nicht um jene rohe, materialistisch-kommunistische Gleichheit, welche alle natürlichen U n terschiede in den geistigen und physischen Fähigkeiten aufheben, und auch die Folgen derselben in bezug auf Arbeit und Vermögenserwerb vertilgen will 4 2 ." Es k a n n k e i n e m Z w e i f e l u n t e r l i e g e n , daß d i e I d e e d e r sozialen G r u n d r e c h t e i m besonderen dieser auch v o m Grundgesetz a b g e l e h n t e n R i c h t u n g , genauer gesagt: d e n G r u n d v o r s t e l l u n g e n der m a r x i s t i s c h e n R e c h t s t h e o r i e 4 3 zuzurechnen ist. D e n n i n e i n e r diesen V o r s t e l l u n g e n entsprechenden p o l i t i s c h e n O r d n u n g , i n d e r das menschliche D a s e i n vergesellschaftet i s t 4 4 u n d i n d e r F r e i h e i t die F r e i h e i t n i c h t des e i n z e l nen, s o n d e r n des ganzen m e i n t , i n d e m es n u r d a r a u f a n k o m m t , e i n e m j e d e n d e n gleichen A n t e i l a n dieser F r e i h e i t zuzumessen 4 5 , ist i n d e r T a t das Recht a u f T e i l h a b e d e r einzige W e r t . 42 Quelle: Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, hrsg. v. Heinrich Scholler, 1973, S. 233. 43 Vgl. auch W. Leisner, SPD und Recht. Rechtsgrundsätze und Rechtspolitik der Sozialdemokraten, Sozialwissenschaftl. Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung (als Manuskript vervielfältigt), o. J. 44 Vgl. Max Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, 1964, S. 143. 45 S. 140.
42«
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N u n sollen diese Ausführungen gewiß weder die soziale Inpflichtnahme des v o m Grundgesetz verfaßten Staates für ein nicht gering zu veranschlagendes Maß auch „positiver" Gleichheit der Menschen i n A b rede stellen noch etwa gar die These begründen, die Einführung eines Grundrechts auf saubere U m w e l t sei geeignet, den individualistischen (liberalen) Ansatz des geltenden Verfassungsrechts i n einen k o l l e k t i vistischen (marxistischen) zu verkehren. Sie sollen jedoch einen Fingerzeig darauf geben, i n welche Richtung die Übernahme auf Teilhabe gerichteter Grundrechte i n den Verfassungstext weist, wobei noch einmal an die Unberechenbarkeit künftiger Interpretationen erinnert sei. Nach alledem wögen gegenüber den möglichen Nachteilen, so w i l l m i r scheinen, die denkbaren Vorteile gering. Da, wie gezeigt worden ist, eine Verfassungsänderung etwa des von der F D P vorgeschlagenen Inhalts eine Änderung des materiellen Verfassungsrechts nicht b e w i r ken würde — anderenfalls setzte sie sich durchgreifenden rechtsstaatlichen Bedenken aus! —, bliebe n u r eine Verdeutlichung des bisherigen Verfassungsinhalts übrig. H ä l t man diese für geboten, sollte man nicht den für das magere Ergebnis m. E. v i e l zu aufwendigen u n d anspruchsvollen Weg der Schaffung eines neuen Grundrechts gehen. Die damit notwendig verbundene Täuschung der Form über den I n h a l t kann niemand ernstlich wollen. Sie hätte zur Folge, daß der mögliche Integrationswert einer solchen Vorschrift alsbald i n sein Gegenteil umschlüge. Statt dessen bleibt eine objektive Rechtsnorm zu erwägen, wie sie i n Satz 2 des FDP-Vorschlags enthalten ist. Sie könnte etwa den folgenden Wortlaut haben: „Natur und Landschaft, insbesondere die Reinheit der Luft und des Wassers, sowie die Pflanzen- und Tierwelt, genießen im Interesse der Menschen den Schutz und die Pflege des Staates."
Die Formulierung „ i m Interesse der Menschen" würde klarstellen, daß der Verfassungsauftrag auch die erwähnten subjektiven Rechtsreflexwirkungen einschließt. Indessen bleibt am Ende skeptische Zurückhaltung auch gegenüber diesem Vorhaben. U n d zwar nicht zuletzt deshalb, w e i l die Aufnahme einer solchen Vorschrift i n das GG die Illusion hervorrufen könnte, es sei zum Schutze unserer gefährdeten U m w e l t bereits wesentliches geleistet. Demgegenüber ist oftmals v ö l l i g zu Recht betont worden, daß der Umweltschutz eine Aufgabe ist, die sich zunächst dem einfachen Gesetzgeber stellt, daß das eigentliche Hauptproblem jedoch i n der Ausführung der Gesetze, i n der Erzwingung ihres Vollzuges liegt. Z u seiner Lösung trägt eine Verfassungsänderung nichts bei. Z u Recht macht E. Rehbinder 46 darauf aufmerksam, daß A r t . 15 D D R V 1968, der den 46
ZRP 1970, 255.
E i n Grundrecht auf saubere Umwelt?
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Schutz der Natur zur Pflicht von Staat und Gesellschaft erklärt, nicht verhindert hat, daß die Umweltschäden dort zum Teil erheblich größer sind als i n der Bundesrepublik Deutschland. Das sollte ebenso zu denken geben wie der auch sonst zu beobachtende Leerlauf ähnlicher Verfassungsvorschriften. Einen wirksamen Schutz der Umwelt vermag allein ein darauf gerichteter unumstößlicher politischer Wille zu garantieren. I h n unter Beweis zu stellen, bedarf es anderer Taten — wie ζ. B. der entschlossenen Überwindung gruppenegoistischer Renitenz — als der Aufnahme eines i n seinem positiven Rechtsgehalt so fragwürdigen „Grundrechts" auf saubere Umwelt i n den Text des Grundgesetzes. Eine solche „Verankerung" 4 7 eines politischen Postulats i n der Verfassung wäre nur ein weiterer Schritt zur Verunsicherung des Verfassungsrechts.
47 Zum „Verankerungswesen" s. E. Forsthoff, Einiges über Geltung und Wirkung der Verfassung, in: Festschrift für E. R. Huber, 1973, S. 3 ff. (7 f.).
Umweltrechtliches Verursacherprinzip und Raumordnung Von Martin Bullinger
I. Das umweltrechtliche Verursacherprinzip und die Raumordnung stimmen i n dem wesentlichen Teilziel überein, eine übermäßige Inanspruchnahme der natürlichen Umwelt zu verhindern. Sie verfolgen dieses Ziel auf verschiedenen Wegen. Sollen die getrennten Wege zum gemeinsamen Ziel hinführen, müssen sie koordiniert werden. I m Rahmen der Raumordnung ist der Umweltschutz eine Gestaltungsaufgabe des staatlichen Gemeinwesens. Alle Nutzungen der Umweltmedien Boden, L u f t und Wasser müssen räumlich so verteilt und begrenzt werden, daß sie weder sich gegenseitig noch die Qualität der Umwelt über ein tragbares Maß hinaus beeinträchtigen. Nur wenn dies gelingt, versprechen weitere staatliche Maßnahmen Erfolg, die eine übermäßige Inanspruchnahme einzelner Umweltmedien durch Verbote, generelle und individuelle Auflagen oder andere M i t t e l der Gefahrenabwehr zu verhindern suchen. Darauf hat Werner Weber eindringlich hingewiesen 1 . Das Verursacherprinzip soll einer übermäßigen Nutzung der Umwelt gerade nicht durch direkte staatliche Steuerung, sondern dadurch entgegenwirken, daß die Selbststeuerungskräfte der Wirtschaft und Gesellschaft mobilisiert werden. Solange Umweltmedien kostenlos i n A n spruch genommen werden können, besteht ein Anreiz zu extensiver Nutzung. Deshalb soll nach dem Verursacherprinzip die Nutzung der natürlichen Umwelt ebenso wie die Nutzung anderer Güter zu einem Kostenfaktor jeder Wirtschaftseinheit (Unternehmen, Haushalt, öffentliche Hand) werden, damit bei rationalem, kostenminderndem Verhalten eine exzessive Nutzung vermieden wird. Wer verschmutzt, zahlt — so lautet das Verursacherprinzip i n seiner Originalfassung 2 . M i t seiner 1 DVB1 1971, S. 806 (812 f.). Vgl. 1 Nr. 7 des RaumordnungsG und (BImschG) v. 21. 3.1974, BGBl. I S. 2 Polluter-pays-principle. Dem principe pollueur-payeur.
ferner Steiger, ZRP 1971, S. 133 f.; § 2 Abs. § 50 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes 721. entspricht auch die französische Version:
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M a r t i n Bullinger
speziellen Zielrichtung, das Umweltproblem über die Steuerungsmechanismen des Marktes zu lösen oder doch lösen zu helfen, ist das Verursacherprinzip von den Wirtschaftswissenschaften theoretisch entwickelt worden 3 , während ihm gerade namhafte Kenner des Verwaltungsrechts und der Verwaltungspraxis skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen 4 . Übernationale und nationale Umweltprogramme haben das wirtschaftswissenschaftlich konzipierte Verursacherprinzip zum Leitbild erhoben 5 . Umweltabgabengesetze wie ζ. B. das geplante Abwasserabgabengesetz und andere Umweltgesetze sollen die finanzielle Verantwortlichkeit des Verursachers realisieren. Damit w i r d es unumgänglich, das Prinzip auch rechtswissenschaftlich zu durchdringen und den Modifizierungen zu unterwerfen, die sich von der Rechtsordnung her als notwendig erweisen 6 . Zu den Fragen, die es dabei zu klären gilt, gehört auch das Verhältnis des Verursacherprinzips zur Raumordnung. Die indirekte Steuerung mittels des negativen finanziellen Anreizeffekts einer finanziellen Verantwortlichkeit des Verursachers und die direkte Steuerung m i t den M i t t e l n der Planung können nicht zusammenhanglos oder nach abweichenden Zielvorstellungen eingesetzt werden, ohne das Maß an Systemgerechtigkeit zu gefährden, das rechtlich von Maßnahmen der Umwelt3
Grundlegend: Pigou, The Economics of Welfare, 4. Aufl. 1952; Kapp, Volkswirtschaftliche Kosten der Privatwirtschaft, 1958. Speziell unter dem Gesichtspunkt des Umweltschutzes: Jürgensen, Operationale Verfahren zur Anwendung des Social Costs-Prinzips im Umweltschutz, Gutachten für den Bundesminister des Innern, 1971; Hans K. Schneider und Schürmann, Glückauf, Jg. 108 (1972), S. 1 f. Einen kritischen Überblick über das Schrifttum gibt Eckard Rehbinder, Politische und rechtliche Probleme des Verursacherprinzips, 1973. 4 Vgl. etwa Werner Weber (Fn. 1), S. 877; Konow, Das Parlament B. 38/71, S. 3 f. (10 f.); Kloepfer, Zum Umweltschutzrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1972, S. 24 f.; Soell, Wirtschaftsrecht 1973, S. 72 (78 f.); Steiger (Fn. 1), S. 36; Rabeneick, DVB1 1971, S. 260. Für das Verursacherprinzip hat sich vor allem Salzwedel eingesetzt (Studien zur Erhebung von Abwassergebühren, 1972, S. 52 f. und passim. Befürwortend auch Rehbinder (Fn. 4), doch wendet er sich gegen eine Verabsolutierung des Verursacherprinzips (vgl. etwa S. 176). 5 Umweltprogramm der Bundesregierung von 1971 (BTDr VI/2710), S. 10f.; Leitsätze der OECD betr. die wirtschaftlichen Aspekte der Umweltpolitik in internationaler Sicht, verabschiedet vom Ministerrat am 26. 5.1972, Leitsätze 2 - 5 (abgedr. in: Zur Problematik des Verursacherprinzips, 1972, S. 55); Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften für den Umweltschutz, gebilligt vom Ministerrat am 22.11.1973, ABl. Nr. G 112, Teil I Titel I I Nr. 5. β Dazu näher an anderer Stelle: Bullinger - Oberhauser - Rincke - Schmidt, Das Verursacherprinzip und seine Instrumente — Eine interdisziplinäre U n tersuchung —, 1974, Teil C.
Umweltrechtliches Verursacherprinzip u n d Raumordnung
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politik erwartet werden muß 7 . Diese Harmonisierung von Verursacherprinzip und Raumordnung w i r d teilweise als Aufgabe erkannt, aber nicht unbedingt auch verwirklicht. Durch eine entsprechende Bemessung von Umweltabgaben könne, so heißt es i m Umweltprogramm der Bundesregierung 8 , die Standortwahl der Industrie i m Sinne der Ziele und Grundsätze der Raumordnung beeinflußt werden. I m Referentenentwurf eines Abwasserabgabengesetzes 9 aber fehlt eine raumordnungsbezogene Staffelung der Abgaben. Um den Zusammenhängen zwischen dem Verursacherprinzip und der Raumordnung nachzugehen, sollen zunächst aus rechtlicher Sicht die wirtschaftswissenschaftlichen Denkansätze dargestellt werden, die das Verursacherprinzip tragen. Sodann w i r d zu prüfen sein, wie es sich von diesen Denkansätzen her auf das Verursacherprinzip auswirkt, wenn die Raumordnung i n die theoretischen Überlegungen einbezogen wird.
II. Dei w r s t ic h a s t fw s is e n s c h a c i l t f h e n D e n k a n s ä z t e des V e r u r s a c h e r p n r iz p is in r e c h c i t lh e r S c ih t 1. Führt man die Vielzahl der wirtschaftswissenschaftlichen Einzeläußerungen zum Verursacherprinzip auf ihre theoretischen Grundvorstellungen zurück, so ergeben sich zwei prinzipiell verschiedene Denkansätze 10 . I n der Sprache der Rechtswissenschaft lassen sie sich vereinfacht als Theorie des Schadensausgleichs und Theorie des Nutzungsentgelts verdeutlichen. a) Der erste Denkansatz ergibt sich aus der Theorie der sozialen Zusatzkosten (social costs, externe Kosten). Danach gehören zu den Kosten einer Wirtschaftseinheit auch die Umweltschäden, die sie zum Nachteil anderer verursacht. Diese externen Kosten oder sozialen Zusatzkosten sollen der Wirtschaftseinheit als dem Verursacher angelastet werden, damit u. a. kein einzelwirtschaftlicher Kostenvorteil entsteht, der tendenziell eine volkswirtschaftlich nicht optimale, übermäßige Inanspruchnahme der Umwelt zur Folge hat. So entsteht z.B. eine überhöhte Nachfrage nach Produkten, deren Herstellung nicht m i t den Kosten der Vermeidung oder eines Ausgleichs von Umweltschäden belastet ist und die daher i m Vergleich zu umweltfreundlich hergestellten Produkten preisgünstig sind (Fehlsteuerung des Marktes). 7 Zum Erfordernis der Systemgerechtigkeit BVerfGE 18, 315 (329) vom 27.1.1965 (Ausgleichsabgabe für Trinkmilch); VerfGH Rh-Pf vom 5.5.1969, DVB1 1970, S. 780 (kommunale Neugliederung). 8 BTDr VI/2710, S. 10 f. 9 Ausgewertet nach der Fassung vom 20. 8.1972. 10 Zum folgenden näher Bullinger - Oberhauser - Rincke - Schmidt, a.a.O., (Fn. 6), Teile A (Oberhauser) und C (Bullinger).
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Hechtlich geht es darum, den Verursachern einen Schadensausgleich für alle Umweltschäden aufzuerlegen. Dies kann nur i n engen Grenzen dadurch erreicht werden, daß die Haftung für Umweltschäden verschärft und eine Gefährdungshaftung eingeführt wird, wie sie § 22 des Wasserhaushaltsgesetzes für einen Teilbereich schon vorsieht. Einmal werden solche individuellen Schadensersatzansprüche lediglich zu einem kleinen Teil tatsächlich durchgesetzt, zumal Umweltschäden vielfach nur schwer auf individuelle Verursacher zurückgeführt werden können; diese Durchsetzungsschwäche läßt sich durch gesetzliche Reformen wohl verringern, nicht aber beheben 11 . Zum anderen entziehen sich Umweltschäden zu Lasten der Allgemeinheit wie ζ. B. Klimaänderungen dem individuellen Schadensausgleich. Ein voller finanzieller Ausgleich für alle Umweltschäden kann so nur durch öffentliche Abgaben erreicht werden. Die Theorie der sozialen Zusatzkosten w i r d zumeist allein als Grundlage des Verursacherprinzips angesehen. Von ihr geht etwa auch die Begründung des Referentenentwurfs eines Abwasserabgabengesetzes aus. Sollen aber Umweltschäden finanziell ausgeglichen werden, so muß ihre Höhe wenigstens schätzungsweise ermittelt und i n Geldwerten ausgedrückt werden. Eine solche Quantifizierung stößt auf große Schwierigkeiten, sobald der Bereich der unmittelbar feststellbaren materiellen Schäden verlassen wird. Eine Klimaveränderung mit ihren Fernwirkungen oder eine Beeinträchtigung des Erholungswerts der Landschaft zu bewerten und als Schaden zu berechnen ist ζ. B. nur, schwer möglich 12 . Deshalb versucht der Entwurf eines Abwasserabgabengesetzes überhaupt nicht, den durch die Einleitung von Abwässern hervorgerufenen Schaden an Oberflächengewässern zu schätzen und von den Verursachern entsprechend ihrem Kausalanteil finanziell ausgleichen zu lassen. Statt dessen orientiert sich die Abgabe daran, welche Kosten ein Verursacher mittlerer Größe aufwenden müßte, u m die A b wässer angemessen (vollbiologisch) zu reinigen. Die Abgabe w i r d also nicht nach dem Umweltschaden berechnet, den die Abwässer hervorrufen, sondern nach dem ersparten Aufwand für die Vermeidung des Umweltschadens. Das entspricht kaum noch der Theorie der sozialen Zusatzkosten. b) Die Berechnungsschwierigkeiten der Theorie des Schadensausgleichs (Theorie der sozialen Zusatzkosten) vermeidet ein zweiter w i r t 11 Vgl. etwa Roth, NJW 1972, S. 921, 925 f.; Engler, Agrarrecht 1972, S. 371, 376 f.; Simitis, VersR 1972, S. 1087 (1089 f.); Rehbinder (Fn. 4), S. 161 f., 165 f.; Bullinger, VersR 1972, S. 599 (600 f.). 12 Zu den Schwierigkeiten, Umweltschäden zu ermitteln, zu quantifizieren und auf Verursacher zuzurechnen, vgl. etwa Simitis (Fn. 11), S. 1090; Rehbinder (Fn. 3), S. 137 f.
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schaftswissenschaftlicher Denkansatz des Verursacherprinzips. Danach soll die Umwelt nicht mehr als freies Gut, sondern als öffentliches Gut angesehen und vor einer übermäßigen Inanspruchnahme dadurch bewahrt werden, daß von Seiten des Staates ein Nutzungsentgelt (Preis) gefordert wird. Das Nutzungsentgelt muß der Knappheit des Umweltgutes entsprechend so festgelegt werden, daß für die Verursacher i m Durchschnitt ein genügender Anreiz besteht, die Nutzung i n dem Umfang zu vermeiden, i n dem gesamtwirtschaftlich die Kosten der Vermeidung einer Umweltbelastung den Gewinn für die Umweltqualität nicht übersteigen (volkswirtschaftliches Optimum). Diese theoretische Grundvorstellung w i r d vielfach nicht klar von der Theorie der sozialen Zusatzkosten geschieden 13 . Sie läßt sich als Theorie der Umweltnutzung gegen Entgelt oder vereinfacht als Theorie des Nutzungsentgelts kennzeichnen. Rechtlich geht es nicht darum, die Umweltmedien aus „freien", d. h. gewissermaßen herrenlosen und beliebiger Benutzung offenstehenden Gütern, i n öffentliche Einrichtungen zu verwandeln. Für Wasser, L u f t raum und Boden besteht durchweg eine private oder öffentliche Sachherrschaft. Teilweise sorgt also bereits die private Eigentumsordnung dafür, daß Umweltgüter nicht nach Belieben und nicht kostenlos i n Anspruch genommen werden können. I m übrigen ist vielfach eine besonders intensive Nutzung von Umweltgütern zu Lasten der Allgemeinheit oder individuell Betroffener von einer staatlichen Genehmigung abhängig gemacht. So bedarf jede Nutzung eines Gewässers, die über den typischerweise unschädlichen Gemeingebrauch hinausgeht, einer Erlaubnis oder Bewilligung. Gewerbliche Anlagen, von denen erhebliche Geräusche oder Luftverunreinigungen ausgehen können, unterliegen der Genehmigungspflicht nach den §§ 16 f. GewO. Umweltgüter sind also zu einem erheblichen Teil behördlich rationiert, u m eine übermäßige Nutzung zu verhindern. Diese Rationierung hat bisher aber nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Deshalb soll nach dem Verursacherprinzip die direkte Rationierung durch eine indirekte Rationierung unterstützt oder ergänzt werden, und zwar dadurch, daß für die 13 So will ζ. B. der Initiativentwurf der CDU/CSU-Fraktion für ein Viertes Gesetz zur Änderung des WasserhaushaltsG (BTDr 7/1088) zwar ein Entgelt für die Gewässerbenutzung (Reinhalteabgabe) einführen (§ 37 c), gleitet aber in der Begründung wieder in die Vorstellung eines Ausgleichs von Schäden ab (vgl. die Begründung zu den §§ 37 c bis g, im Gegensatz zur Vorbemerkung zum Sechsten Teil). Der Grundgedanke einer Nutzung der U m welt als eines öffentlichen Gutes gegen Entgelt tritt vor allem hervor bei Kneese, American Economic Review, 1971, S. 153 f.; Frey, Umweltökonomie, 1972; Schneider und Schürmann (Fn. 3), S. 443 f. Salzwedel (Fn. 4), S. 73 f., hat eine Abwassergebühr i. S. einer Sondernutzungsgebühr vorgeschlagen.
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Nutzung der Umwelt ein ihrer Knappheit entsprechender Preis (Nutzungsentgelt) gefordert wird. Lenkungsgebühren dieser A r t für die Nutzung öffentlicher Umweltgüter sind dem geltenden Recht noch verhältnismäßig wenig bekannt 1 4 , sind aber Gegenstand umweltpolitischer Reformbestrebungen. So sieht der Oppositionsentwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes eine gebührenähnliche Abgabe für erlaubnispflichtige Gewässerbenutzungen (Gewässerbenutzungsabgabe) und speziell für das Einleiten oder Einbringen von Stoffen i n ein Gewässer vor (Reinhalteabgabe) 15 . Eine solche Umweltabgabe stößt freilich rechtlich auf Schwierigkeiten, soweit das Umweltmedium überhaupt nicht ein öffentliches Gut ist oder nicht ausschließlich den Interessen der Allgemeinheit dient, sondern individuellen Rechtsträgern zugeordnet ist. Die Emissionen von Industriebetrieben, Kraftwerken und häuslichen Heizungsanlagen nehmen ζ. B. nicht nur den öffentlichen Lufthaushalt, sondern auch die Eigentumssphäre der näheren und entfernteren Nachbarn belastend i n Anspruch, nutzen also das Umweltmedium L u f t sowohl i n seiner Eigenschaft als öffentliches wie auch als privates Rechtsgut 16 . Nicht allein an privaten Gewässern, sondern auch an öffentlichen Gewässern bestehen individuelle Rechte oder rechtlich geschützte Interessen 17 . Soweit das Umweltmedium zu Lasten solcher individueller Rechte benutzt wird, ist eigentlich nur der individuelle Rechtsträger, nicht aber der Staat legitimiert, ein Nutzungsentgelt zu verlangen. Ein Umweltabgabengesetz, das ein gebührenähnliches Nutzungsentgelt erheben w i l l , muß also entweder den Anteil der individuell belastenden Nutzung des Umweltmediums aussparen oder aber dafür Sorge tragen, daß den Betroffenen ein angemessener Teil des Abgabenaufkommens zufließt, i n Form etwa einer Entschädigung 18 ; i n diesem Falle muß der Nutzende» 14 Gebühren für die Einleitung von Abwässern in öffentliche Gewässer, wie sie in unterschiedlicher Weise in Bayern und Hamburg bestehen, sind von so geringer Höhe, daß sie kaum einen wesentlichen Lenkungseffekt erzielen können; vgl. Salzwedel, (Fn. 4), S. 17 f. 15 Vgl. Fn. 13. Die Reinhalteabgabe soll bundeseinheitlich vorgeschrieben, die allgemeine Gewässerbenutzungsabgabe dagegen den Ländern freigestellt werden. 16 Vgl. § 16 GewerbeO, § 3 Abs. 1 BImschG: Als von schädlichen Umweltwirkungen Betroffene erscheinen neben der Allgemeinheit jeweils auch die Nachbarn. 17 Vgl. insbesondere §§ 7, 8, 15, 18, 24 W H G . 18 Wird individuell eine Umweltnutzung bewilligt, die Dritte in ihren Rechten über die Sozialbindung hinaus beeinträchtigt, so müssen diese Betroffenen entschädigt werden; vgl. § 8 Abs. 3 WHG.
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von Ansprüchen des individuell Betroffenen freigestellt werden, damit er nicht doppelt für die Nutzung zu zahlen hat 1 9 . Eine weitere Frage wäre, ob die gebührenähnliche Abgabe für die Benutzung eines Umweltmediums als einer öffentlichen Sache allein nach einem Lenkungszweck statt nach den Kosten des Trägers der öffentlichen Sache oder dem wirtschaftlichen Vorteil für den Benutzer berechnet werden darf 2 0 . Zulässigkeit und Grenzen lenkender Gebühren brauchen dazu nicht generell geklärt zu werden. Denn auf jeden Fall hält es sich i m Rahmen der Zweckbestimmung einer öffentlichen Sache, wenn das Entgelt für ihre Benutzung so bemessen wird, das kein Anreiz entsteht, die Sache exzessiv i n Anspruch zu nehmen und dadurch i n ihrer Benutzbarkeit irreparabel zu beeinträchtigen. I n der Regel können öffentliche Einrichtungen, wenn die Gebühren kostendeckend sind, aus dem Gebührenaufkommen jeweils wieder instand gesetzt und dadurch für die weitere Benutzung offengehalten werden. W i r d dagegen ein Umweltmedium übermäßig genutzt, lassen sich die Folgen eines solchen Raubbaus i m allgemeinen gerade nicht wieder ausgleichen, auch nicht durch Einsatz erheblicher finanzieller Mittel. Soll also die Gebühr so festgelegt werden, daß sie das Umweltmedium langfristig benutzbar erhält, kann sie nicht an einem finanziellen Erhaltungsaufwand orientiert werden, sondern muß einen hinreichenden Anreiz schaffen, eine übermäßige Nutzung m i t irreparablen Auswirkungen von vornherein zu vermeiden. Beschränkt sich der Lenkungszweck der gebührenähnlichen Umweltabgabe auf dieses Ziel, kann die Abgabe nicht als m i t dem Äquivalenzprinzip oder mit anderen Rechtsprinzipien unvereinbar beanstandet werden 2 1 . 2. I n dieser wie i n mancher anderen Hinsicht muß sich das w i r t schaftswissenschaftlich konzipierte Verursacherprinzip den Gegebenheiten der Rechtsordnung anpassen, wenn es i m Wege der Gesetzge19 Die Rechtslage ist im Ergebnis nicht anders, wenn die Abgabe auf die Theorie der sozialen Zusatzkosten gestützt wird. Soll nämlich der gesamte Umweltschaden durch die Abgabe ausgeglichen werden, so müssen die Schädiger im Prinzip von individuellen Schadensersatzansprüchen entlastet werden, weil andernfalls eine Doppelbelastung eintritt. Dazu ist Näheres an anderer Stelle ausgeführt (vgl. Fn. 6). 20 Zur Frage der lenkenden Gebühr mit eingehenden Nachweisen Kloepfer AöR 97 (1972), S. 232 f.; Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz, 1973, insbes. S. 256 f., 267 f., 303 f., 313 f. 21 Das BVerwG hat ζ. B. ungeachtet seiner Bedenken gegen „abschreckend" lenkende Gebühren eine Gewässerbenutzungsabgabe als angemessen und damit auch mit dem Äquivalenzprinzip vereinbar angesehen, deren prohibitive Wirkung einer Verunstaltung der Natur entgegenwirken soll (Entsch. vom 22. 1. 1971, DÖV 1971, S. 422, 424).
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bung verwirklicht und so zum umweltrechtlichen Verursacherprinzip ausgestaltet werden soll. Einiges an rechtlichen Modifikationen ergibt sich, je nachdem, ob die finanzielle Verantwortlichkeit des Verursachers i m Sinne eines Schadensausgleichs oder eines Nutzungsentgelts verstanden wird, aus den für diese beiden Rechtsformen allgemein anerkannten Rechtsregeln. Verfassungsrechtliche und europarechtliche Grundsätze treten hinzu. I m folgenden seien nur einige Aspekte dieser Verrechtlichung des Verursacherprinzips herausgegriffen, die m i t der staatlichen Raumordnung zusammenhängen.
III. Dei R a u m o d r n u n g as l m o d z e i f i i r e n d e s E e l m e n t des u m w e r t e lc h c i l t h e nV e r u r s a c h e r p n r iz p is 1. Staffelung
der
finanziellen
Verantwortlichkeit
des
Verursachers
nach Nutzungszonen. Das Verursacherprinzip als marktwirtschaftlich wirkendes Instrument und die Raumordnung als staatliches Gestaltungsmittel eines Schutzes der natürlichen Umwelt müssen so koordiniert werden, daß sie gleichen Zielvorstellungen folgen und sich wechselseitig unterstützen oder doch jedenfalls nicht behindern. Die Raumordnung strebt das Ziel einer optimalen Umweltnutzung dadurch an, daß Nutzungszonen gebildet werden, i n denen Nutzungen bestimmter Störintensität oder Schutzbedürftigkeit zusammengefaßt und entsprechende Anforderungen für die Umweltqualität festgelegt sind, ζ. B. Immissionsgrenzwerte oder Güteklassen. So werden für Gewerbebetriebe mit unvermeidlich hohen Emissionen Industriegebiete und für das schutzbedürftige Wohnen an anderer Stelle Wohngebiete ausgewiesen, i n denen nur Anlagen mit verhältnismäßig geringen Emissionen zugelassen sind 2 2 . Für Gewässer werden Bewirtschaftungspläne ins Auge gefaßt, i n denen festgelegt ist, welchen Nutzungen ein Gewässer dienen und welche Beschaffenheit es i m ganzen oder i n einzelnen Abschnitten aufweisen soll 2 3 . Zonen verschiedener Nutzung und dementsprechend unterschiedlicher Anforderung an die Umweltqualität müssen einander so zugeordnet werden, daß sie sich möglichst nicht gegenseitig beeinträchtigen 24 . Eine Umweltnutzung w i r d dabei nicht 22
§§ 1 ff. BaunutzungsVO. Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des WHG, BRDr 201/73, § 36 b Abs. 2 Nr. 1. 24 So jetzt ausdrücklich für einen Teilbereich § 50 BImschG. Dies bedeutet ζ. B. auch, daß Wohngebiete möglichst nicht dort angelegt werden sollten, wo sie entweder durch die Emissionen vorhandener Industriegebiete, Fernstraßen oder Flughäfen beeinträchtigt werden oder aber für diese Anlagen schwerwiegende Nutzungsbeschränkungen zur Folge haben. Je dichter freilich ein Gebiet besiedelt ist, desto weniger ist es möglich, Uberwirkungen von einer Nutzungszone auf eine andere zu vermeiden. 23
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einfach gemessen, sondern bewertet. Für jede Zone erhalten bestimmte unvermeidliche Nutzungen eine Priorität, andere unvermeidliche N u t zungen werden eingeschränkt oder ausgeschlossen und auf die ihnen gemäßen Zonen verwiesen. Von dieser Optimierung der unvermeidlichen Umweltnutzung durch räumliche Verteilung und zonenweise festgesetzte Prioritäten muß auch die finanzielle Verantwortlichkeit des Verursachers nach dem Verursacherprinzip ausgehen. Dies ergibt sich ohnehin, wenn die finanzielle Belastung des Verursachers aus Auflagen folgt, die i h m zur Durchsetzung des Nutzungscharakters einer bestimmten Zone gemacht werden. Wer ζ. B. einen seiner A r t nach störenden Gewerbebetrieb durchführen w i l l , muß sich entweder i n einem Industriegebiet ansiedeln oder aber auf eigene Kosten derart weitgehende Vorkehrungen gegen Lärmbelästigung und Luftverunreinigungen treffen, daß er ausnahmsweise i n einem Gewerbegebiet oder gar i n einem allgemeinen Wohngebiet zugelassen werden kann 2 5 . Dieselbe Meßeinheit derselben A r t von Emissionen führt also, wenn nicht aus falsch verstandenem Gleichheitsstreben oder allzu großer Rücksicht auf die Praktikabilität für alle Nutzungszonen schematisch die gleichen Anforderungen an die Vermeidung von Umweltbelastungen gestellt werden 2 6 , je nach der A r t der Nutzung und des Nutzungscharakters des Gebiets zu einer abgestuften Belastung des Verursachers mit Vermeidungskosten. Diese Abstufung muß folgerichtig auch dann gelten, wenn eine raumordnungsgerechte Standortwahl und die einem jeden Nutzungsgebiet entsprechenden Vermeidungsmaßnahmen nicht durch direkte Auflagen erreicht werden sollen, sondern durch Umweltabgaben, die der Verursacher für seine Emissionen zu entrichten hat. Von der Theorie der sozialen Zusatzkosten her ist der Umweltschaden höher zu bewerten, wenn Emissionen dem Nutzungscharakter eines Gebiets zuwiderlaufen. Von der Theorie der Umweltnutzung gegen Entgelt her muß die gebührenähnliche Abgabe für zonenfremde Emissionen so hoch festgelegt werden, daß ein genügender Anreiz entsteht, sie i n der für sie nicht bestimmten Zone besonders weitgehend zu vermeiden oder i n eine Zone zu verlegen, i n der sie Vorrang oder Gleichrang genießen. 25 § 4 Abs. 2 Nr. 2 BaunutzungsVO läßt Gewerbebetriebe in allgemeinen Wohngebieten nur ausnahmsweise und lediglich dann zu, wenn sie „nicht störend" sind. Gewerbegebiete beschränken sich auf „nicht erheblich belästigende Gewerbebetriebe" (§ 8 Abs. 1 BaunutzungsVO). 26 So aber für die Luftverschmutzung die Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft (zu § 16 GewO), Nr. 2.32, während die Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm ihre Anforderungen nach Nutzungsgebieten abstuft; vgl. Feldhaus, Umweltschutz, 1971, S. 37 f., 64 f.
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Freilich genügt es nicht, für jede Nutzungszone eine Rangordnung der Nutzungen und dementsprechend abgestufte Bewertungsfaktoren für die Emissionseinheiten jeder Nutzungsart festzulegen. Denn einmal bleiben die Auswirkungen der Emissionen vielfach nicht auf das Nutzungsgebiet beschränkt. Produktionsgeräusche können ζ. B. nicht voll i n den Genuß eines „Vorzugstarifs" für Industriegebiete kommen, wenn sie den Nutzungscharakter eines benachbarten Wohngebiets beeinträchtigen. Abwässer einer Industriezone können eine flußabwärts gelegene Erholungszone und über das Grundwasser ein Wasserschutzgebiet i n Mitleidenschaft ziehen. Zu den nachbarschaftlichen Überwirkungen gesellen sich die Fernwirkungen einer L u f t - oder Gewässerverschmutzung. Schwefelabgase eines Industriereviers, die i n einer Entfernung von hunderten von Kilometern schwefelhaltige Niederschläge hervorrufen können, und salzhaltige Abwässer, die i m Unterlauf des Flusses i n einer für die T r i n k - und Brauchwasserversorgung nicht mehr tragbaren Salzfracht kulminieren, dürfen nicht allein nach dem Nutzungscharakter ihres Ausgangsgebiets bewertet werden. Ihrem Zweck werden die Raumordnung und das mit ihr koordinierte Verursacherprinzip erst gerecht, wenn auch die Über- und Fernwirkungen der Umweltnutzung berücksichtigt sind. Schließlich muß bedacht werden, daß eine Emissionseinheit weder in ihrer Ursprungszone noch i n den von ihr erreichten näheren oder ferneren Nutzungszonen eine gleichmäßig belastende Wirkung ausübt. Das Ausmaß der Umweltbelastung durch eine Emissionseinheit ergibt sich jeweils erst aus ihrem Zusammenwirken mit anderen Emissionen, d. h. aus der Gesamtbelastung eines Gebiets mit Immissionen. Durch die Konzentration von Immissionen bestimmter A r t kann, wie ζ. B. i m Falle des Lärms, der Belastungswert der einzelnen Emissionseinheit sinken 2 7 . I n der Regel erhöht sich dagegen der Belastungswert einer Emissionseinheit m i t steigender Konzentration von Immissionen. Je mehr ζ. B. L u f t und Wasser m i t Abfallstoffen belastet sind, desto geringer w i r d i m allgemeinen ihre Fähigkeit, Stoffe abzubauen oder schadlos aufzunehmen, die ihnen zugeführt werden, desto größer w i r d folglich ihre Belastung durch die einzelne Emissionseinheit. Eine Umweltabgabe, die dem Sinn des Verursacherprinzips entsprechend die finanzielle Verantwortlichkeit des Verursachers am Belastungswert der Umweltnutzung orientieren und die erforderlichen A n reize für eine raumordnungsgerechte Standortwahl und Beschränkung der Umweltnutzung geben w i l l , müßte also jedenfalls für ortsfeste A n 27
Treffen ζ. B. zwei Lärmquellen von 100 db (A) zusammen, so erhöht sich der Gesamtlärm auf nur wenig über 100 db; der anteilige Belastungswert der einzelnen Lärmquelle nimmt also mit fortschreitender Konzentration ab.
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lagen mehrere Bewertungsfaktoren einsetzen und miteinander verbinden: (1) einen Bewertungsfaktor für die Emissionsart je nach dem N u t zungscharakter des Gebiets, ζ. B. für Abgase häuslicher Heizung oder aber gewerblicher Anlagen i n einem Wohngebiet; (2) einen weiteren Bewertungsfaktor für die Überwirkungen auf benachbarte Nutzungszonen, ζ. B. für die Auswirkungen eines Industriegebiets, eines Flughafens oder einer Fernstraße auf ein angrenzendes Wohngebiet; (3) einen zusätzlichen Bewertungsfaktor für die zu erwartenden FernWirkungen auf weiter abgelegene Gebiete unterschiedlicher N u t zung, ζ. B. für eine Gefährdung der Trinkwasserversorgung am Unterlauf eines Flusses durch die Einleitungen stark salzhaltiger A b wässer am Oberlauf; (4) einen Bewertungsfaktor für das Ausmaß der belastenden Wirkung einer Emissionseinheit, das von der Gesamtbelastung des örtlich oder überörtlich betroffenen Nutzungsgebiets m i t Immissionen abhängt (sog. Immissionskoeffizient) 28 . Die Umweltabgabe in dieser Weise nach dem Nutzungscharakter und der Nutzungsdichte (Immissionsbelastung) der von den abgabepflichtigen Emissionen betroffenen Gebiete und so mit der Raumordnung zu harmonisieren, stößt freilich auf praktische Schwierigkeiten. Wo noch keine Nutzungszonen festgelegt sind, wie fast allgemein bei den Gewässern, werden die Auseinandersetzungen um die Zoneneinteilung noch verschärft, wenn von ihr die Höhe einer Umweltabgabe abhängt 29 . Der Erlaß eines Umweltabgabengesetzes kann sich erheblich verzögern, wenn die verschiedenen Nutzungen je nach Nutzungsgebieten bewertet werden müssen. Um die belastende Wirkung einer abgabepflichtigen Emissionseinheit auf das eigene Nutzungsgebiet, auf benachbarte und entferntere Nutzungsgebiete je nach deren Nutzungsdichte und Immissionsbelastung beurteilen zu können, bedarf es nicht nur umfangreicher Messungen, sondern auch umfassender Kenntnisse und Erfahrungswerte über die Wirkungsweise der verschiedenen Emissionen, wie sie selbst i n dem verhältnismäßig weitgehend erforschten Bereich der Gewässerverschmutzung ζ. T. noch fehlen. So w i r d man sich auf längere Sicht m i t Schätzungen und Pauschalierungen behelfen müssen, die erst nach und nach aufgrund fortschreitender Erkenntnisse verfeinert und schließlich durch nachprüfbare Zahlenwerte ersetzt werden können. 28 29
Vgl. Jürgensen (Fn. 3), S. 34 f. Dazu Salzwedel (Fn. 4), S. 49 f.; Rehbinder
43 Festschrift für Werner Weber
(Fn. 3), S. 143 f.
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Diese vielfältigen praktischen Schwierigkeiten können es u. U. rechtfertigen, i n einer ersten Phase überhaupt auf eine raumordnungsgerechte Staffelung der Abgaben zu verzichten. Sie ganz aufzugeben, würde aber bedeuten, Emissionen auf Dauer i m Verhältnis zu ihrer realen Auswirkung auf die Umwelt grundlos über- oder unterzubelasten. Außerdem würde nicht durch abgestufte finanzielle Anreize dazu beigetragen, daß entweder die Emissionen der Raumordnung entsprechend eingeschränkt werden oder die emittierende Anlage an einen günstigeren Standort verlegt wird. Die Abgabe würde also sachlich Ungleiches ohne rechtfertigenden Grund gleich behandeln und mit der Raumordnung ein wesentliches Element des Umweltschutzes verfehlen, somit dem Hauptzweck des Verursacherprinzips nicht gerecht werden. Diese verfassungsrechtlichen Mängel beeinträchtigen die Wirksamkeit des Abgabengesetzes nur dann nicht, wenn sie als in einem Übergangsstadium praktisch unvermeidlich erscheinen und wenn nach einem mittelfristigen Zielplan alle Schritte unternommen werden, um i n einer zweiten Phase die erforderliche Differenzierung der Abgabe zu verwirklichen. A n einem solchen Plan für die zweite Phase fehlt es für das geplante Abwasserabgabengesetz sowohl nach dem Referentenentwurf wie nach dem Oppositionsentwurf. Auch für die Emissionen beweglicher Anlagen ist eine raumordnungsbezogene Abstufung der finanziellen Verantwortlichkeit des Verursachers denkbar. Wie ζ. B. die Kfz-Versicherung in typisierte Gefahrenklassen je nach der Größe des Wohnorts des Halters eingeteilt ist, ließe sich auch eine Abgas-Abgabe der Kraftfahrzeughalter i n entsprechender Abstufung nach der Größe oder Kraftfahrzeugdichte des Wohnortes denken. Angesichts der nur lockeren und zumeist nicht kontrollierbaren räumlichen Zuordnung beweglicher Anlagen wäre eine zonenweise Abstufung aber i m allgemeinen kaum angebracht. 2. Toleranzbereich. Eine Koordination zwischen der Raumordnung und dem Verursacherprinzip erweist sich weiter als notwendig, wenn es darum geht, ob ein Tolereanzbereich anerkannt werden soll, innerhalb dessen Umweltbelastungen als unvermeidliche und zumutbare Folge des Zusammenlebens i n einer industriell-technischen Gesellschaft angesehen und nicht den einzelnen Verursachern zur Last gelegt werden. Der wirtschaftswissenschaftlichen Konzeption des Verursacherprinzips ist eine solche Toleranzgrenze fremd. Der Verursacher soll grundsätzlich für jede belastende Inanspruchnahme der natürlichen Umwelt finanziell einstehen, selbst wenn sie weder allein noch i m Zusammenwirken mit anderen Umweltbelastungen etwas daran ändert, daß angemessene Lebensbedingungen bestehen. Dementsprechend sehen so-
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wohl der Referentenentwurf wie auch, von einer Übergangsperiode abgesehen, der Oppositionsentwurf einer Abwasserabgabe vor, die A b gabe für sämtliche Abwassereinheiten eines Einleiters zu erheben. Die Abgabepflicht soll nicht entfallen, wenn alle gebotenen Vermeidungsmaßnahmen getroffen sind, etwa eine vollbiologische Kläranlage eingesetzt ist, und zwar selbst dann nicht, wenn die Abwässer so weitgehend gereinigt werden, daß das Gewässer in einem für die angestrebten Nutzungen angemessenen Gütezustand verbleibt 2 9 a . Damit w i r d jede Veränderung des Gewässers gegenüber einem gedachten Naturzustand, also die gesamte Auswirkung der menschlichen Zivilisation als Beeinträchtigung der Umwelt eingestuft und individuellen Verursachern finanziell angelastet. Demgegenüber geht die Raumordnung davon aus, daß i n einer industriell-technischen Gesellschaft ein gewisses Maß von belastenden Nutzungen der natürlichen Umwelt unvermeidlich ist, es also darauf ankommt, Nutzungen derselben A r t in Nutzungszonen zu gruppieren und dadurch die wechselseitige Belastung jedenfalls innerhalb des Nutzungsgebiets (Wohngebiet, Industriegebiet usw.) möglichst auf solche Störungen zu beschränken, die von den Gestörten wiederum auf die anderen Mitbenutzer ausgehen, die sich also i m Ergebnis zumindest teilweise ausgleichen. Zu den angemessenen Lebensbedingungen i n einer industriell-technischen Gesellschaft gehören die unvermeidlichen nutzungstypischen Immissionen des eigenen Nutzungsgebiets und die unvermeidlichen überörtlichen Immissionen, soweit sie die für das betroffene Nutzungsgebiet kennzeichnende Umweltqualität nicht unzumutbar beeinträchtigen. Unvermeidliche Emissionen wie ζ. B. L ä r m oder Abgase, die auch zusammen mit anderen Emissionen weder örtlich noch überörtlich das für die Betroffenen tragbare Immissionsniveau der je nach Nutzungszone angemessenen Lebensbedingungen überschreiten, halten sich noch i m Rahmen der Zielvorstellungen der Raumordnung und müssen als Grundlast des Lebens i n einer industriell-technischen Gesellschaft hingenommen werden. Solche zumutbaren Umweltbelastungen lösen daher auch keine finanziellen Ausgleichsansprüche aus. Das Nachbarrecht als die bürgerlich-rechtliche Seite der Raumordnung 3 0 geht von einem entsprechenden Toleranzbereich aus, der i n der grundlegenden Vorschrift des § 906 BGB formuliert ist: Ortsübliche Immissionen, die vom Verursacher 29a Eine neuere Fassung des Referentenentwurfs kennt nunmehr abgabenfreie „Grundwerte", die aber anders ermittelt werden als hier (Gewässergüte 2 des Abwassers selbst). 30 Dazu Westermann, in: Festschrift für Larenz, 1973, S. 1003 f., insbes. 1013 f.
43*
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zu vertretbaren Kosten nicht verhindert werden können, verpflichten diesen nur insoweit zu einem angemessenen finanziellen Ausgleich, als sie den Betroffenen i n seiner ortsüblichen Nutzung unzumutbar beeinträchtigen. Finanziell ausgeglichen w i r d also nur derjenige Teil der Immissionsbelastung, der über die Toleranzgrenze hinausgeht. Kaum anderes gilt i m Ergebnis für den finanziellen Ausgleich der nachteiligen Folgen, die sich aus einer Einleitung von Abwässern i n ein Gewässer ergeben: Nach der Gefährdungshaftungsnorm des § 22 Abs. 1 W H G ist nicht Ersatz für jede Veränderung der Wassergüte als solche zu leisten, sondern nur dann, wenn daraus ein Schaden erwächst. Ein solcher Schaden w i r d erst anzunehmen sein, wenn die Gewässernutzung eines Dritten stärker beeinträchtigt wird, als dies nach der Gewässergüte, die dem Charakter des Nutzungsgebiets entspricht, von jedem Benutzer laufend hingenommen werden muß. Wenn ζ. B. ein Wasserwerk T r i n k wasser aus einem Flußlauf entnimmt, für den seiner Nutzungsart und Nutzungsdichte entsprechend nur eine mäßige Gewässergüte vorgesehen 1st, kann nicht das Mehr an Aufbereitungskosten, das sich gegenüber einem Gewässer m i t Trinkwasserqualität ergibt, gem. § 22 Abs. 1 W H G als Schaden geltend gemacht werden. Damit ergibt sich auch hier ein Toleranzbereich von Umweltbelastungen, der finanziell nicht ausgeglichen zu werden braucht. Der nach Nutzungszonen gestaffelte Toleranzbereich unvermeidlicher und zumutbarer Umweltbelastungen müßte rechtlich noch stärker aus den Einzelansätzen des Schadensersatz- und Entschädigungsrechts heraus zu einer einheitlichen Kategorie des Umweltrechts entwickelt und dabei i n mancher Hinsicht modifiziert werden. Rechtsprechung und Gesetzgebung sind teilweise noch allzu sehr der pauschalen und räumlich undifferenzierten Vorstellung verhaftet, jedermann müsse m i t den Vorteilen auch die Nachteile der industriell-technischen Entwicklung in Kauf nehmen 31 . I n seinen wesentlichen Ansätzen ist der raumordnungsbezogene Toleranzbereich aber eine gesicherte und kaum entbehrliche Grundlage des gesamten Umweltrechts. Soll sich das Verursacherprinzip systemgerecht i n das Umweltrecht und speziell i n die Raumordnung einpassen, kann der Toleranzbereich nicht außer Betracht bleiben. Sieht man die finanzielle Verantwortlichkeit des Verursachers unter dem Gesichtspunkt eines finanziellen Ausgleichs des Umweltschadens (Theorie der sozialen Zusatzkosten), so müßte der 31 RG vom 9.1.1939, RGZ 154, 129 (AutobahnE); B G H vom 22.12.1967, Β GHZ 49, 149 (151 f.) (BergnaseE). Das Fluglärmgesetz und der Entwurf eines neuen § 8 Abs. 8 des BFernstrG (BTDr 261/73) sehen einen Beitrag zu Schallschutzmaßnahmen an Wohngebäuden erst bei einer Lärmbelästigung von über 75 db (A) vor, d. h. mehr als dem Doppelten des Immissionsgrenzwerts für Industriegebiete.
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Schadensausgleich dort enden, wo für den individuellen Schadensausgleich die Toleranzgrenze beginnt. Ein gebührenähnliches Entgelt für die Umweltnutzung (Theorie der Umweltnutzung gegen Entgelt) läßt sich seitens des Staates kaum fordern, soweit die individuell Betroffenen eine solche Nutzung unentgeltlich dulden müssen, weil ihre Lebensbedingungen der A r t ihres Nutzungsgebiets entsprechend angemessen bleiben. Der angestrebte finanzielle Anreiz, Umweltbelastungen zu vermeiden, braucht nicht über die Toleranzgrenze hinaus aufrechterhalten werden. Ein Umweltabgabengesetz müßte also die Emissionen von der A b gabepflicht ausnehmen, soweit sie die Toleranzgrenze nicht überschreiten. U m diese Toleranzgrenze festzustellen, müßte (a) für jedes typische Nutzungsgebiet (Wohngebiet, Industriegebiet usw.) ein Immissionsgrenzwert festgelegt werden, der angemessene Lebensbedingungen gewährleistet, (b) die tatsächliche Gesamtbelastung der einzelnen m i t Immissionen festgestellt,
Nutzungsgebiete
(c) zumindest schätzungsweise das Verhältnis ermittelt dem die einzelnen Emissionen örtlich und überörtlich sionsbelastung beitragen,
werden, i n zur Immis-
(d) daraus erschlossen werden, i n welchem Ausmaß die Einzelemissionen anteilig unterhalb der Toleranzschwelle bleiben, wie sie sich für alle Emissionen zusammen aus dem Immissionsgrenzwert ergibt. Die Schwierigkeiten sind also eher noch größer, als sie für die raumordnungsgerechte Staffelung der Umweltabgabe i m allgemeinen bereits aufgezeigt werden mußten 3 2 . Sie dürften sich kurzfristig kaum beheben lassen. So w i r d es sich rechtfertigen, für eine Umweltabgabe zunächst auf eine Toleranz-Freigrenze zu verzichten und sie erst mittelfristig anzustreben. Damit entsteht aber i n der Zwischenphase eine Überbelastung der Verursacher, die nach Möglichkeit ausgeglichen werden muß. Hierzu bietet es sich etwa an, das Abgabenaufkommen i n Höhe einer geschätzten Toleranzquote den Verursachern wieder zufließen zu lassen, und zwar durch eine Finanzhilfe für solche Verursacher, die ihre Emissionen über die Pflichtgrenze hinaus vermeiden und sich damit der Toleranzgrenze zumindest nähern. 3. Staatliche Mitverantwortung. Hängt die belastende Wirkung von Emissionen, wie gezeigt, i n erheblichem Maße von der Raumordnung ab, so sind diejenigen öffentlichen Körperschaften mitverantwortlich, 32
Dazu oben unter 1.
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die diese Raumordnung gestaltet oder genehmigt haben, ohne ihre Umweltfolgen hinreichend zu berücksichtigen. I n einem Ballungsgebiet m i t übermäßiger Konzentration und gesundheitsgefährdender Mischung von Wohn- und Industriezonen haben ζ. B. die einzelnen Emissionen einen besonders hohen Belastungswert und bewirken entsprechend hohe Umweltkosten für den Verursacher. Zu der ungesunden Ballung und Mischung von Nutzungszonen haben i n aller Regel öffentliche Körperschaften wesentlich beigetragen, insbesondere durch Bauleitpläne, Wohnungsbauförderung und Industrieansiedlung. A u f die drohenden Belastungen für Wasser und L u f t ist vielfach nicht genügend Rücksicht genommen. Fast durchweg dürfte sich das staatliche Gemeinwesen mit seinen Untergliederungen wegen unsachgemäßer Raumordnung als Mitverursacher für die Umweltbelastung erweisen, wenn auch i m einzelnen i n unterschiedlichem Maße. Da der individuelle Verursacher für die Emissionen finanziell verantwortlich gemacht wird, ohne daß es auf Rechtswidrigkeit oder Verschulden ankäme, darf auch für den mitwirkenden Planfehler öffentlicher Körperschaften nicht verlangt werden, daß er nach der für die Planung maßgebenden Gesetzeslage als rechtswidrig oder gar als schuldhaft anzusehen war. Die planerische Mitverantwortung des Staates fehlt i n den wirtschaftswissenschaftlichen Grundvorstellungen vom Verursacherprinzip, auf denen die Entwürfe für Umweltabgabengesetze aufbauen. Soweit die Umweltbelastung i n ihrem Ausmaß auf staatlicher Fehlplanung beruht, soweit also das staatliche Gemeinwesen als planerischer Mitverursacher für die Umweltbelastung verantwortlich ist, kann dieses staatliche Gemeinwesen nicht von dem individuellen Verursacher der Emissionen verlangen, den Umweltschaden finanziell a b zugleichen oder ein Entgelt für die Inanspruchnahme der Umwelt zu entrichten 33 . U m die finanzielle staatliche Mitverantwortung so zu gestalten, daß daraus ein Anreiz zu umweltfreundlicher Planung erwächst, müßte freilich der Verursachungsanteil jedes einzelnen Planungsträgers individuell ermittelt und diesem Planungsträger finanziell angelastet werden. Dies ist vorerst kaum möglich. So w i r d man zunächst darauf verwiesen sein, einen pauschal bemessenen Planungsanteil der Umweltkosten aus allgemeinen Haushaltsmitteln öffentlicher Körperschaften abzudecken und die finanzielle Belastung der in33 Allerdings wäre zu prüfen, wie weit sich eine Belastung der individuellen Verursacher daraus rechtfertigt, daß sie durch die sachwidrige Planung unentgeltliche Vorteile erlangt haben, infolgedessen auch die finanziellen Nachteile dieser Planung nicht voll geltend machen können (Vorteilsausgleichung).
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dividuellen Verursacher, etwa mit Umweltabgaben, entsprechend zu verringern. Das Städtebauförderungsgesetz sieht bereits eine Sanierung ungesunder Misch- und Verdichtungsgebiete unter Einsatz erheblicher öffentlicher M i t t e l vor 3 4 ; ähnliche Sanierungsprogramme mit gemischter Finanzierung sind auch sonst angebracht, etwa bei öffentlichen Gewässern.
IV. Z u s a m m e n a f s s u n g Nach alledem bedarf das wirtschaftswissenschaftlich geprägte Verursacherprinzip i n seinen beiden Denkansätzen, dem des Umweltschadensausgleichs und dem eines Entgelts für die Umweltnutzung, einer Koordination und Harmonisierung mit den Gegebenheiten des Rechts und vor allem m i t der Raumordnung, bevor es als umweltrechtliches Verursacherprinzip zur Grundlage der Gesetzgebung gemacht werden kann. Das Verursacherprinzip als das marktwirtschaftlich orientierte Instrument des Umweltschutzes und die Raumordnung als dessen planerisches Instrument sind zielgleich und stehen i n einem Wirkungszusammenhang, können also nicht isoliert ausgestaltet und eingesetzt werden. Die finanzielle Verantwortlichkeit des Verursachers nach dem Verursacherprinzip, wie sie besonders ausgeprägt i n Umweltabgabengesetzen verwirklicht werden soll, muß nach der unterschiedlichen Ausw i r k u n g der Emissionen gestaffelt werden, die sich aus dem N u t zungscharakter der örtlich wie überörtlich betroffenen Gebiete und deren Gesamtbelastung mit Immissionen ergibt. Emissionen, die i n den betroffenen Nutzungsgebieten angemessene Lebensbedingungen bestehen lassen, fallen i n den Toleranzbereich und müssen finanziell nicht ausgeglichen oder abgegolten werden. Soweit das staatliche Gemeinwesen durch unsachgemäße Raumordnung die Umweltbelastung erhöht hat, können nicht die individuellen Verursacher zu den Umweltkosten herangezogen werden; vielmehr müssen allgemeine staatliche Haushaltsmittel eingesetzt werden, beispielsweise i m Rahmen einer Sanierung. W i r d das Verursacherprinzip i n dieser Weise an der Raumordnung orientiert, verschieben sich ein wenig die Aspekte. Die Belastung der natürlichen Umwelt erscheint nicht mehr so sehr als das zufällige Ergebnis unzähliger Kausalvorgänge der Schädigung oder Nutzung, bei denen es sich nur darum handelte, sie individuell zu registrieren und finanziell ausgleichen oder abgelten zu lassen. Vielmehr w i r d deutlich, 34 § 3 Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 1 b, §§ 38 ff., mit einem Vorteilsausgleich nach § 41 Abs. 4, § 42.
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daß es darum geht, vielfältige legitime Ansprüche auf eine Nutzung der Umwelt, die miteinander i n Widerstreit treten, zu einem Ausgleich zu bringen und optimal zu befriedigen, die Bedürfnisse der Wasserversorgung und die Erholung ζ. B. ebenso wie die der Produktion und der Abwasserableitung. Wesentlich ist dafür eine Raumordnung, die unterschiedliche Nutzungen zonenweise zusammenfaßt und zugleich so begrenzt, daß gegenseitige Störungen der verschiedenen Nutzungen auch langfristig möglichst vermieden bleiben. Das Verursacherprinzip verfehlte seine Aufgabe, wenn nicht i m Rahmen des praktisch Durchführbaren die finanzielle Verantwortlichkeit des Verursachers so gestaffelt würde, daß ein finanzieller Anreiz entsteht, den Standort oder das Ausmaß von Emissionen auf die Raumordnung und damit auf eine optimale Umweltnutzung auszurichten.
Der heutige Stand des Rechts der Landschaft und seines Vollzugs Von Rudolf Stich
I. I m Jahre 1958 hat Werner Weber zur Festschrift für Paul Gieseke die Abhandlung „Das Recht der Landschaft" beigetragen 1 . Beginnend m i t dem preußischen Verunstaltungsgesetz von 1902 und endend beim Wasserhaushaltsgesetz von 1957 hat er die reichs-, bundes- und landesrechtlichen Vorschriften zusammengefaßt und erläutert, mögen sie sich m i t Schwergewicht auf die Landschaft bezogen haben oder beziehen, wie etwa das Reichsnaturschutzgesetz von 1935, oder die Belange der Landschaft nur am Rande ansprechen, wie beispielsweise das Schutzbereichgesetz von 1956 und das Landbeschaffungsgesetz von 1957. Werner Weber ist zu der Feststellung gelangt, daß es ein „Recht der Landschaft" gibt, wenn es auch nicht als geschlossenes System aus einem Guß geschaffen, sondern zu den verschiedensten Zeiten und aus unterschiedlichen Anlässen entstanden ist. Die sich damit aufdrängende Frage, ob man das überall verstreute Recht der Landschaft nicht zu einer
gesetzgeberischen
Einheit
zusammenfassen
könne, hat
Werner
Weber m i t überzeugender Begründung verneint. Dem Ruf nach einer besonderen Gesetzgebung über den Schutz und die Pflege der Landschaft hat er entgegengehalten, daß es nur zu einem geringen Teil an den Mängeln der Gesetzgebung und weit mehr an den Grenzen und Schwächen ihrer Durchführung liege, wenn die Gefahr für die Landschaft trotz der zahlreichen zu ihrem Schutz bestehenden Rechtsvorschriften gleichwohl als unvermindert groß empfunden werde. I n diesem Zusammenhang sind Werner Weber einige bittere Erfahrungen und Überlegungen aus der Feder geflossen 2 : „Der entscheidende Mangel der Landschaftspflege liegt i n ihrer hinkenden Effektivität. W i r schöpfen nicht die Möglichkeiten aus, die uns das Recht der Landschaft bietet. Der industrielle Fleiß, der Erwerbstrieb, das Hingegebensein an den technischen Fortschritt haben uns alle so sehr ergriffen, daß w i r i m 1 2
S. 95 - 113. S. 112.
682
Rudolf Stich
Konfliktsfalle doch eher für unsere neuen Pläne und Unternehmungen optieren als dafür, die Landschaft i n Frieden zu lassen oder Kosten und Muße aufzuwenden, u m ihr gestörtes Gleichgewicht wiederherzustellen." Diese harten Aussagen sind heute noch so zutreffend, wie sie es damals waren. Ja man muß sagen, daß uns ihre Bedeutung und Tragweite erst jetzt vor dem Hintergrund der allgemein beschrienen „Umweltmisere" richtig bewußt werden. Wenn Werner Weber nämlich weiter darauf hinweist, daß sich der forcierte Erwerbs- und Unternehmungsgeist i m deutschen Volk der Gegenwart nur m i t starker Hand zur Besinnung darauf lenken lasse, wie sorgsam die überforderte Natur unseres Landes gehegt werden müsse, und dann die Frage anfügt: „Aber wer t r i t t i h m i m Namen der Landschaft und der Heimatkultur entgegen?", so hat er damit fast prophetisch schon 1958 das Hauptproblem der heutigen Umweltschutzdiskussion gekennzeichnet. Deshalb können sich die folgenden Betrachtungen auch nicht darauf beschränken, die Bestandsaufnahme des Rechts der Landschaft über das Jahr 1958 hinaus i n der Weise weiterzuführen, daß lediglich die neuen Rechtsvorschriften i n chronologischer Folge aufgezeigt und kurz erläutet werden. Damit würde außer acht gelassen — worauf Werner Weber ebenfalls nachdrücklich aufmerksam gemacht hat 3 —, daß das Recht der Landschaft i n besonderem Maße zum Verwaltungsrecht als e i n e m Gebiet
der Ermächtigungen
und offenen
Gestaltungsmöglichkei-
ten gehört, die nur i m zupackenden Handeln realisiert werden können. Oder anders ausgedrückt: Das Recht der Landschaft bleibt wie das gesamte Umweltschutz-Verwaltungsrecht solange bloße Wunschvorstellung des Gesetzgebers, als es nicht vollzogen, also durch aktives Verwaltungshandeln i n den drei Dimensionen der Überwachung, der Leistung und der planenden Gestaltung 4 i n die Lebenswirklichkeit umgesetzt wird. Ein Situationsbericht über den heutigen Stand des Rechts der Landschaft bliebe daher ohne rechte Aussagekraft, wenn sich i n i h m nicht auch das verwaltungswissenschaftliche Bemühen niederschlüge, zu Feststellungen darüber zu kommen, i n welchem Umfange es mit Hilfe der dem Recht der Landschaft zuzurechnenden Vorschriften bisher gelungen ist, zur Erhaltung, Gestaltung und Pflege der Landschaft als Teil der menschlichen Umwelt beizutragen. Es muß deshalb, soweit dies möglich ist, auch der Vollzug i n die Untersuchung einbezogen wer3
S. 113. s. dazu H. Steiger, Umweltschutz durch planende Gestaltung, Zeitschrift für Rechtspolitik 1971, S. 133 ff. 4
Der heutige Stand des Rechts der Landschaft und seines Vollzugs
683
den, wenn es insoweit auch noch an wissenschaftlichen Erhebungen und Forschungen fehlt und man gewissermaßen nur auf Grund eines nicht systematisch gewonnenen Erfahrungswissens urteilen kann. II. Da Werner Weber seine Übersicht über das Recht der Landschaft m i t dem Wasserhaushaltsgesetz von 1957 schließt, ist als nächste einschlägige Rechtsnorm das Bundesbaugesetz vom 23. Juni 1960 (BGBl. I S. 341) anzuführen. U m es vorwegzunehmen: Kein anderes neueres Gesetz berührt m i t seinen Regelungen die Landschaft mehr als diese bundesrechtliche Ordnung des Städtebaues und kein anderes Gesetz bringt i n seinem praktischen Vollzug i n negativer wie i n positiver H i n sicht nachhaltigere Auswirkungen auf die Landschaft mit sich als das Bundesbaugesetz 5 . Dieses Gesetz hebt schon i n seinen Grundsätzen und Leitlinien für die Bauleitplanung (§ 1 Abs. 5) hervor, daß der das ganze Gemeindegebiet umfassende Flächennutzungsplan und die für Teile des Gemeindebereiches aufgestellten Bebauungspläne auch den Belangen des Naturund Landschaftsschutzes sowie der Gestaltung des Orts- und Landschaftsbildes zu dienen haben. Der Flächennutzungsplan hat diesen öffentlichen Belangen mit seinen Darstellungen Rechnung zu tragen (§ 5 Abs. 1), mit denen auch — die Grünflächen, wie Parkanlagen, Dauerkleingärten, Sport-, Spiel-, Zelt- und Badeplätze sowie Friedhöfe, — die Wasserflächen und die für die Wasserwirtschaft vorgesehenen Flächen, — die Flächen für Aufschüttungen, Abgrabungen oder für die Gewinnung von Steinen, Erden und anderen Bodenschätzen, — die Flächen für die Landwirtschaft und für die Forstwirtschaft ausgewiesen werden können. I m Flächennutzungsplan können allerdings auch, soweit dies für die städtebauliche Entwicklung der Gemein5
Mit den Wechselwirkungen zwischen dem Raumplanungsrecht und dem Natur- und Landschaftsschutzrecht habe ich mich schon früher eingehend befaßt: Naturschutz in Raumordnung und Landesplanung, Natur der Landschaft (NuL) 1965, S. 181 ff.; Der Schutz von Bäumen in Baugebieten, N u L 1965, S. 181 ff.; Bauplanungsrecht und Naturschutzrecht, N u L 1966, S. 207 ff. S. auch die Abhandlung: Notwendigkeit und Inhalt eines modernen Naturschutz· und Landschaftspflegerechts, DVB1. 1972, S. 201 ff., hier S. 203 ff. (Naturschutz und Landschaftspflege im Raumordnungs- und Baurecht). Zuletzt: Die Rechtsgrundlagen einer umweltschutzwirksamen Gemeinde- und Regionalplanung und ihres Vollzuges, N u L 1974, S. 3 ff.
684
Rudolf Stich
de erforderlich ist und nicht überwiegende Belange des Natur- und Landschaftsschutzes entgegenstehen 6 , für Flächen, die dem Landschaftsschutz unterliegen (§§ 5, 19 des Reichsnaturschutzgesetzes), Regelungen über die Nutzung für bauliche und sonstige Zwecke getroffen werden; wenn daraufhin ein Bebauungsplan mit entsprechendem I n halt rechtswirksam wird, treten i n seinem Geltungsbereich Regelungen, die dem Landschaftsschutz dienen, insoweit außer Kraft, als sie der Durchführung des Bebauungsplanes entgegenstehen 7 . Die mehr leitlinienhaften und programmatischen Darstellungen des Flächennutzungsplanes 8 werden i n den Bebauungsplänen durch rechtsverbindliche Einzelfestsetzungen konkretisiert (§§ 8 - 1 0 des Bundesbaugesetzes). Deshalb müssen die letztlich verbindlichen planerischen Einzelheiten, die aus dem Blickwinkel des Natur- und Landschaftsschutzes sowie der Gestaltung des Orts- und Landschaftsbildes für die Ordnung der städtebaulichen Entwicklung erforderlich sind (vgl. § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 des Bundesbaugesetzes), i n den Bebauungsplan einfließen. Von den i m Gesetz genannten Gegenständen rechtsverbindlicher Planfestsetzungen kommen dafür vor allem i n Betracht (vgl. § 9 Abs. 1 des Bundesbaugesetzes) : — die Grundstücke, die von einer Bebauung freizuhalten sind, und ihre Nutzung, — die Grünflächen, wie Parkanlagen, Dauerkleingärten, Sport-, Spiel-, Zelt- und Badeplätze sowie Friedhöfe, — die Flächen für Aufschüttungen, Abgrabungen oder für die Gewinnung von Steinen, Erden und anderen Bodenschätzen, — die Flächen für die Landwirtschaft und für die Forstwirtschaft, — die bei einzelnen Anlagen, welche die Sicherheit oder die Gesundheit der Nachbarschaft gefährden oder erheblich beeinträchtigen, von der Bebauung freizuhaltenden Schutzflächen und ihre Nutzung, — das Anpflanzen von Bäumen und Sträuchern, — die Bindungen für Bepflanzungen und für die Erhaltung von Bäumen, Sträuchern und Gewässern 9 . 8
Näheres hierzu in N u L 1966, S. 207 ff. (s. oben Anm. 5). s. zu den Wirkungen des Inkrafttretens des Bebauungsplanes auf den Landschaftsschutz: BVerwG, 3.6.1971, BRS 24 Nr. 1 = BauR 1971, S. 179 = BVerwGE 38, S. 152 = DVB1. 1972, S. 119. 8 Zum rechtlichen Wesen des Flächennutzungsplanes als „Verwaltungsprogramm" s. meine Abhandlung: Die Planstufen der Orts-, Regional- und Landesplanung, DVB1. 1973, S. 589 ff., hier S. 592 ff. 7
Der heutige Stand des Rechts der Landschaft und seines Vollzugs
685
I n einem Bebauungsplan müssen selbstverständlich nicht alle vom Gesetz genannten Festsetzungsmöglichkeiten enthalten sein. Obwohl der Plan mit den Einzelfestsetzungen „Bebauungsplan" heißt, muß i n i h m nicht unbedingt Bauland festgesetzt werden 1 0 . Er kann auch als Landschafts- und Grünordnungsplan etwa für ein Erholungsgebiet aufgestellt werden, so daß i m Vordergrund nicht Festsetzungen für die Bebauung, sondern für Grün- und Wasserflächen, das Anpflanzen von Bäumen und Sträuchern und die Bindungen für Bepflanzungen und für die Erhaltung von Bäumen, Sträuchern und Gewässern stehen können. Damit gibt das Bundesbaugesetz den Gemeinden als Trägern der Bauleitplanung nicht nur die Möglichkeit, sondern er legt ihnen bei entsprechender Sachlage zugleich die Pflicht auf, die Bauleitplanung auch in den Dienst der Landschafts- und Grünordnung zu stellen. Ein Blick auf die städtebauliche Praxis zeigt allerdings, daß bis jetzt nur ein recht schwaches Bewußtsein dafür besteht, wie bedeutsam diesbezügliche Planfestsetzungen für die Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse sind. Selbst wenn für den Umweltschutz aufgeschlossene Planer i n ihren Entwürfen Grünfestsetzungen vorschlagen, finden sie dafür wegen der Kosten, die mit der Einrichtung und Unterhaltung durchgrünter Freiräume verbunden sind, kaum oder gar nicht das Verständnis der Kommunalparlamente oder der großen Wohnungsbaugesellschaften, für die die Bebauungspläne aufgestellt werden. Es bleibt nur die Hoffnung, daß i m Zuge der Erstarkung des sogenannten Umweltbewußtseins auch erkannt wird, welchen Beitrag die Stadtplanung durch Maßnahmen der Landschafts- und Grünordnung dazu leisten kann, daß auch i n den Siedlungsbereichen eine menschenwürdige Umwelt geschaffen und erhalten w i r d 1 1 . Die Vorschriften über die Verpflichtung der Gemeinden zur Landschaftsplanung i m Rahmen der Bauleitplanung, die in den neuen Landesgesetzen über die Landschafts- bzw. Landespflege enthalten sind und auch i n das Bundesgesetz über Naturschutz und Landschaftspflege aufgenommen werden sollen (Näheres s. unter V), werden dabei sicher mithelfen, wenn die zuständigen staatlichen Behörden dieser Landschaftsplanung den gebotenen Nachdruck verleihen. Weiter kann die Aktivierung der Raumordnung, 9 Dazu Näheres in meiner Abhandlung: Der Schutz von Bäumen in Baugebieten, NuL 1965, S. 181 ff. 10 Näheres bei H. Schrödter, Bundesbaugesetz, Kommentar, 3. Aufl. 1973, 9 RdNr. 4. 11 s. dazu den Bericht von J. Kühling über den 34. Kursus des Instituts für Städtebau Berlin, der unter dem Generalthema „Umweltschutz in der Bauleitplanung" stand, DVB1. 1971, S. 733ff.; auch W. Damkowski, Die Planung unserer Städte, DÖV 1972, S. 82 ff., hier S. 85 ff.
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686
vor allem der Regionalplanung (Näheres s. unter III), dazu führen, daß die Belange der Landschaftsordnung und Landschaftspflege, wenn sie i n den überörtlichen Plänen verankert werden, über die bundesgesetzliche Anpassungspflicht (§ 1 Abs. 3 des Bundesbaugesetzes) von den Gemeinden bei der Bauleitplanung beachtet werden müssen. Hat bis jetzt der Blick i n Recht und Praxis des Städtebaues vom Standpunkt des Rechts der Landschaft nicht zu erfreulichen Erkenntnissen geführt, so ist doch eine Regelung des Städtebaurechts ganz dick auf der Aktivseite des Rechts der Landschaft und seines Vollzugs zu verbuchen. Es handelt sich dabei um § 35 des Bundesbaugesetzes, die V o r s c h r i f t ü b e r die Zulässigkeit
von
Bauvorhaben
im
Außenbereich.
Zwar ist die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte aus verfassungsrechtlichen Gründen (s. A r t . 14 des Grundgesetzes) nicht den Ministerialerlassen gefolgt, die aus dieser Gesetzesbestimmung ein grundsätzliches Bauverbot i m Außenbereich herleiten wollten. Sie hat sich aber sowohl für die i n den Außenbereich gehörenden, sogenannten privilegierten Bauvorhaben (Abs. 1) als auch für die sonstigen Bauvorhaben (Abs. 2) zum „Gebot größtmöglicher Schonung des Außenbereiches" bekannt 1 2 und daran ihre Grundhaltung bei der Beurteilung von Bauvorhaben i m Außenbereich ausgerichtet. Von besonderer Tragweite ist i n diesem Zusammenhang die gerichtliche Spruchpraxis zu der Bestimmung, die besagt, daß eine Beeinträchtigung öffentlicher Belange, die zur Untersagung eines Bauvorhabens i m Außenbereich führen kann, unter anderem vorliegt, wenn die natürliche
Eigenart
der
Landschaft
beeinträchtigt
w i r d oder w e n n
die
Entstehung einer Splittersiedlung zu befürchten ist (Abs. 3). Es wurde zunächst aus Rücksicht auf die Gesetzgebungsbefugnis der Länder für Naturschutz und Landschaftspflege (der Bund hat nur die Rahmenkompetenz, A r t . 75 Nr. 3 des Grundgesetzes) angenommen, daß die Frage nach der Beeinträchtigung der Eigenart der Landschaft nur zu der Prüfung berechtige, ob das Bauvorhaben der Landschaft „wesensfremd" sei. Das Bundesverwaltungsgericht hat aber i n der Entscheidung vom 29. A p r i l 196813 klargestellt, daß eine Verletzung der Eigenart der Landschaft — unabhängig vom förmlichen Landschaftsschutz — auch dann vorliegen kann, wenn ein Bauvorhaben einem schutzwürdigen Landschaftsbild i n ästhetischer Hinsicht grob unangemessen ist. Ein Fall, i n dem es i m weiteren Sinne um die Erhaltung einer Erholungslandschaft und i n diesem Zusammenhang auch um den Schutz der natürlichen Eigenart der Landschaft ging, gab dem Bundesverwal12 13
s. dazu neuerdings BVerwG, 3.11.1972, BRS 25 Nr. 60 = BauR 1973, S. 101. BRS 20 Nr. 59 = DBV1. 1969, S. 261 = BBauBl. 1969, S. 241.
Der heutige Stand des Rechts der Landschaft und seines Vollzugs
687
tungsgericht Gelegenheit, wichtige Aussagen über die Bedeutung der öffentlichen Belange bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Bauvorhaben i m Außenbereich zu machen. I n dem Urteil vom 9. Mai 197214 hat das höchste Verwaltungsgericht ausgesprochen, daß öffentliche Belange auch einem privilegierten, standortgebundenen Vorhaben (hier einem Sandsteinwerk) entgegenstehen können. Der Unterschied zwischen der Zulässigkeit der privilegierten und der sonstigen Bauvorhaben liegt nicht i n der generellen Andersartigkeit der jeweils berücksichtigungsfähigen öffentlichen Belange, sondern in der grundsätzlichen Verschiedenheit ihres Verhältnisses zu den öffentlichen Belangen. Die i m Gesetz beispielhaft genannten öffentlichen Belange können daher die Zulässigkeit eines privilegierten wie auch eines sonstigen Bauvorhabens berühren, jedoch ist bei den privilegierten Vorhaben eine Abwägung zwischen dem Zweck der Privilegierung und dem öffentlichen Belang erforderlich, die bei den sostigen Vorhaben nicht geboten ist. Daraus hat das Bundesverwaltungsgericht den wichtigen Schluß gezogen, daß der Begriff
der „natürlichen
Eigenart
der Landschaft"
für
beide Arten von Bauvorhaben einheitlich und zwar wie folgt zu bestimmen ist: Er umfaßt den Schutz der Außenbereichslandschaft vor einer i m Vergleich zu ihrer Umgebung wesensfremden Nutzung und i n gewissem Umfang auch den Schutz einer i m Einzelfall schutzwürdigen Landschaft vor ästhetischer Beeinträchtigung, und zwar dies grundsätzlich unabhängig vom förmlichen Landschaftsschutz. Dabei ist i m Zusammenhang mit der Eigenart der Landschaft i m ästhetischen Sinn zu berücksichtigen, daß die Funktion gewisser privilegierter Vorhaben ihre äußere Gestaltung und Größe prägt. Ob sich der ästhetische Schutz der Landschaft gegenüber einem privilegierten Vorhaben durchsetzt, ist jedoch wiederum nach den gesamten Umständen des Einzelfalles zu beurteilen. Außerdem hat das Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung zum Schutz der natürlichen Eigenart der Landschaft vor Beeinträchtigung durch Bauvorhaben i n der Entscheidung vom 26. M a i 197215 m i t folgendem Ausspruch abgerundet: Beeinträchtigt ein Bauvorhaben i m Außenbereich die Eigenart der Landschaft, so kann hiervon bei der Entscheidung über die Bebauungsgenehmigung nicht deshalb abgesehen werden, weil erwartet werden kann, daß mit der künftigen Entwicklung diese Beeinträchtigung wieder entfallen wird. Das Gericht hat sich dabei auf seine Rechtsprechung zur gleichen Problematik bei Splittersiedlungen bezogen, zu denen es i n dem Urteil vom 15. Januar 196916 14 15 16
BRS 25 Nr. 78 = DBV1. 1972, S. 685. BRS 25 Nr. 77 = BauR 1972 S. 286. BRS 22 Nr. 77 = DÖV 1969, S. 645.
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688
ausgeführt hat: Die Gefahr der Entstehung einer unerwünschten Splittersiedlung entfällt nicht schon deshalb, weil mehr oder weniger verläßlich zu erwarten ist, daß eine künftige bauliche Entwicklung die zunächst unorganische Bebauung später i n einen organischen Zusammenhang einfügen werde. Wenn die vorhandene Bebauung nicht die A n nahme rechtfertigt, daß es an einem Vorgang der Zersiedlung fehlt, muß die Ausführung eines Vorhabens solange zurückgestellt werden, bis eine i n Richtung auf die organische Siedlungsstruktur andere Lage eingetreten ist 1 7 . Insgesamt hat die Spruchpraxis der Verwaltungsgerichte, vor allem des Bundesverwaltungsgerichts, zur Beeinträchtigung der natürlichen Eigenart der Landschaft wie auch zur Entstehung von Splittersiedlungen entscheidend dazu beigetragen, daß sich die städtebaurechtliche A u ßenbereichsregelung i n § 35 des Bundesbaugesetzes zu dem entwickelt hat, was gerade aus Kreisen des Naturschutzes und der Landschaftspflege von Anfang an erhofft worden ist: zu einem weitreichenden Schutz
der gesamten
unbebauten
Landschaft
v o r z w e c k - u n d gebiets-
fremder sowie ästhetisch grob unangemessener Bebauung. Die Gesetzesbestimmung über die Zulässigkeit von Bauvorhaben i m Außenbereich hat damit für die Landschaft eine viel umfassendere Schutzwirkung entfaltet, als sie m i t Hilfe der Schutzanordnungen des Reichsnaturschutzgesetzes (besonders §§ 5, 19), die immer an besondere Schutzwürdigkeitsvoraussetzungen geknüpft sind, hätte erreicht werden können. Stellt man diese Erkenntnis i n den größeren Rahmen des Umweltschutzes, zu dem als wichtiger Teilbereich auch der Natur- und Landschaftsschutz gehört, so ist § 35 des Bundesbaugesetzes eine der wichtigsten Umweltschutzv or Schriften. Er kann außerdem bezüglich der Effektivität des Vollzugs, für die sonst i m Umweltschutzrecht weithin ein großes Defizit festzustellen ist, ohne Zweifel den ersten Rang beanspruchen. III. Obwohl es für eine zweckmäßige und sinnvolle gesamträumliche und städtebauliche Entwicklung notwendig wäre, daß zuerst die Ordnung der größeren Räume und danach die der kleineren Räume rechtlich geregelt worden wäre, verlief die rechtliche und damit auch die planungspraktische Entwicklung umgekehrt. Die Regelung der städtebaulichen Planung und Erschließung i m Bundesbaugesetz war bereits fünf Jahre alt, als das Raumordnungsgesetz des Bundes vom 8. A p r i l 17
Gegen die Möglichkeit der Kompensation von Nachteilen mit möglichen Vorteilen auch BVerwG, 16. 2.1973, BauR 1973, S. 170.
Der heutige Stand des Rechts der Landschaft u n d seines Vollzugs
689
1965 (BGBl. I S. 306) i n K r a f t trat. Gewiß hatten einige Länder schon vorher Landesplanungsgesetze erlassen 18 , aber insgesamt gesehen kann man den eigentlichen Beginn des raumordnerischen Bemühens nicht vor dem Jahre 1965 ansetzen. Und selbst das ist nur m i t der gebotenen Zurückhaltung möglich, weil das Bundesgesetz eine Rahmenregelung ist (Art. 75 Nr. 4 des Grundgesetzes), deren Mindestforderungen über die Raumordnung i n den Ländern und Regionen (vgl. § 5) erst durch entsprechende Vorschriften i n den i m Anschluß an das Bundesgesetz erlassenen oder geänderten Landesplanungsgesetzen 19 ergänzt werden mußten. I n der Zwischenzeit haben zwar alle Länder raumordnerische Landesentwicklungsprogramme oder -pläne aufgestellt; dagegen fehlt es noch für nicht wenige Regionen und vergleichbare Teilbereiche an Raumordnungsplänen 20 . Gerade die Raumordnung i n den Regionen ist aber die entscheidende Ebene, um überörtliche öffentliche Belange m i t Bindungswirkung für die Bauleitplanung der Gemeinden (s. § 1 Abs. 3 des Bundesbaugesetzes) festzulegen. Zu diesen überörtlichen Anliegen der Allgemeinheit gehören die Grundsätze
der Raumordnung,
die i n § 2 des B u n d e s - R a u m o r d n u n g s -
gesetzes ihren Niederschlag gefunden haben. I n ihrem Rahmen hat auch die Ordnung der Landschaft einen festen Platz, indem sie ausdrücklich bestimmen, daß für die Erhaltung, den Schutz und die Pflege der Landschaft einschließlich des Waldes sowie für die Sicherung und Gestaltung von Erholungsgebieten zu sorgen ist. I m rheinland-pfälzischen Landesplanungsgesetz ist dieser Grundsatz weiter vertieft und zu einem Grundsatzprogramm der Landschaftsordnung erweitert worden, das über Rheinland-Pfalz hinaus Beachtung verdient (§ 2 Nr. 10 und
12): — A u f eine dem Wohl der Bevölkerung dienende Ordnung der Landschaft ist Bedacht zu nehmen. a) Die Landschaft soll so erhalten und gestaltet werden, daß ihre nachhaltige Leistungsfähigkeit und ihr Wert für das körperliche und seelische Wohl der Bevölkerung gesichert und möglichst verbessert werden. Der Landschaftshaushalt und die Gestalt der Landschaft sollen möglichst nicht nachteilig verändert werden. Wesentliche Be18
Ζ. B. Nordrhein-Westfalen schon im Jahre 1950. Eine Übersicht über das geltende Landesplanungsrecht findet sich im Raumordnungsbericht 1972 der Bundesregierung, Bundestagsdrucksache V I / 3793, S. 138 ff. 20 s. dazu die Übersicht „Zusammenfassende Programme und Pläne im Aufgabenbereich der Landesplanung" im Bundesraumordnungsbericht 1972 (s. oben Anm. 19), S. 68 ff. 19
44 Festschrift für Werner Weber
Rudolf Stich
690
einträchtigungen sollen durch landespflegerische Maßnahmen ausgeglichen werden. b) Eine Zersiedlung der Landschaft soll verhindert werden. c) Waldungen sollen nach Lage, Ausdehnung und A r t so erhalten und geschaffen werden, daß eine bestmögliche Einwirkung auf K l i ma und Wasserhaushalt zu erwarten ist und der Bevölkerung i n zumutbarer Entfernung vom Wohnort ausreichend große Erholungsgebiete zugänglich sind; auf die Wirtschaftlichkeit forstlicher Nutzung soll dabei angemessen Rücksicht genommen werden. Waldungen i n der Nähe größerer Baugebiete sind besonders schutzwürdig. Ein Wald soll bei wesentlicher Bedeutung für K l i m a und Wasserhaushalt oder als Erholungsgebiet nur dann und insoweit vermindert werden, als es zur Verwirklichung von Planungen unvermeidlich ist, die besonders wichtigen Belangen der Allgemeinheit dienen. — Gebiete
von
besonderer
Schönheit
oder
Eigenart
sollen nach Maß-
gabe der einschlägigen Vorschriften unter Natur- und Landschaftsschutz gestellt werden. Gebiete, die sich besonders zur Erholung für größere Bevölkerungsteile eignen und hierfür benötigt werden, sollen als Landschaftsschutzgebiete zu Naturparks erklärt und zu Erholungsgebieten ausgestaltet werden; dabei sollen abseits der Ortschaften gelegene, überwiegend bewaldete Gebiete eine Erholung i n der Stille ermöglichen (Kernzonen des Naturparks). Als Naherholungsgebiete sollen Gebiete vorgesehen werden, die sich nach ihrer landschaftlichen Beschaffenheit und Lage zur Erholung der nahe wohnenden Bevölkerung besonders eignen und hierfür benötigt werden. Die i n Satz 1 bis 3 genannten Gebiete sollen der Allgemeinheit zugänglich sein, soweit nicht für einzelne Teilflächen ein Bedürfnis nach allgemeiner Zugänglichkeit ausscheidet. I n Naturparks und Naherholungsgebieten soll auf die Erhaltung und Fortentwicklung der wirtschaftlichen Lebensbedingungen der ansässigen Bevölkerung Rücksicht genommen werden. Es kann damit keinem Zweifel unterliegen, welche bedeutsamen Wirkungen von der Raumordnung i n den Ländern und i n den Regionen auf die Ordnung der Landschaft ausgehen kann. Bis jetzt sind solche Wirkungen raumordnerischer Pläne allerdings noch nicht i n größerem Umfang zu verzeichnen. Dies liegt einerseits daran, daß die RegionalPlanung als die maßgebende Ebene für die Umsetzung der Raumordnungsgrundsätze in die einzelräumliche Ordnung weitgehend noch in den Anfängen steckt. A u f der anderen Seite sind die regionalen Raumordnungspläne, soweit sie endgültig fertiggestellt sind, zum großen Teil nur sogenannte A u f fang- und Fortschreibungspläne, die ihren Inhalt
Der heutige Stand des Rechts der Landschaft u n d seines Vollzugs
691
weitgehend einer Summierung gemeindlicher Planungen und Planvorstellungen verdanken. Auch insoweit erwächst die Hoffnung, daß sich die Verhältnisse bessern mögen, aus den i n einigen neuen Landesgesetzen enthaltenen Bestimmungen über die m i t der Raumordnung zu verbindende Landschaftsplanung, die auch vom Bundesgesetz über Naturschutz und Landschaftspflege vorgeschrieben werden soll (Näheres unter V.). IV. Als letztes und neuestes Bundesgesetz ist i m Rahmen dieser Übersicht über den heutigen Stand des Rechts der Landschaft das Gesetz über
die
Beseitigung
von
Abfällen
(Abfallbeseitigungsgesetz)
vom
7. Juni 1972 (BGBl. I S. 873) zu würdigen. I n der Bundesrepublik sollen i m Zeitpunkt des Erlasses dieses Gesetzes rund 50 000 meist ungeordnete Müllablagerungsplätze bestanden haben. Dies zeigt deutlich genug, i n welchem Umfang die Problematik der geordneten Beseitigung von Abfällen das Recht der Landschaft berührt. Es ist deshalb nur folgerichtig, daß das Abfallbeseitigungsgesetz unter den Belangen, die durch die Beseitigung von Abfällen i m Hinblick auf das Wohl der AllgemeinNaturschutzes und der Landschaftspflege sowie des Städtebaues nennt (§ 2). Und es hebt i n diesem Zusammenhang weiter hervor, daß die Zieheit nicht beeinträchtigt werden dürfen, auch die Gesichtspunkte des le der Raumordnung und Landesplanung zu beachten sind, von denen gerade dargelegt worden ist, daß sie auch den Schutz und die Pflege der Landschaft umfassen müssen. U m den Gefahren einer ungeordneten Ablagerung von Abfällen w i r k sam zu begegnen, w i r d angeordnet (§ 4), daß Abfälle nur noch i n den dafür zugelassenen Anlagen oder Einrichtungen ( = Abfallbeseitigungsanlagen) behandelt, gelagert und abgelagert werden dürfen. Die Länder h a b e n f ü r i h r e n B e r e i c h Pläne
zur Abfallbeseitigung
nach
überört-
lichen Gesichtspunkten aufzustellen, i n denen geeignete Standorte für die Abfallbeseitigungsanlagen festzulegen sind (§ 6). Ortsfeste Abfallbeseitigungsanlagen dürfen grundsätzlich nur nach vorheriger Planfeststellung errichtet und betrieben oder wesentlich geändert werden (§ 7). Ein Planfeststellungsverfahren kann nur dann zur Genehmigung einer Abfallbeseitigungsanlage führen, wenn das Wohl der Allgemeinheit nicht beeinträchtigt, wenn also auch auf die Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege sowie des Städtebaues Rücksicht genommen und der Inhalt des überörtlichen Abfallbeseitigungsplanes beachtet wird. Das neue Abfallbeseitigungsrecht des Bundes ist erst zu kurze Zeit i n Kraft, als daß bereits umfassende Erfahrungen m i t der Effektivität 44*
Rudolf Stich
692
seines Vollzuges vorliegen könnten. I n Rheinland-Pfalz, das bereits vor dem Bundesgesetz ein eigenes Landesgesetz über die geordnete Beseitigung von Abfällen (Abfallgesetz) vom 17. Januar 1972 (GVB1. S. 81) erlassen hatte, ist die überörtliche Planung der Abfallbeseitigung bereits m i t der Maßgabe vorgenommen worden, daß an die Stelle von mehreren tausend durchweg ungeordneten Müllablagerungsplätzen nicht
ganz
hundert
Abfallbeseitigungsanlagen
(Müllverbrennungsan-
lagen, Müllkompostierungsanlagen und Mülldeponien) treten sollen. Diese Konzentration w i r d dadurch zu verwirklichen sein, daß nach dem rheinland-pfälzischen Gesetz die Landkreise (25) und kreisfreien Städte (12) als Pflichtaufgabe der kommunalen Selbstverwaltung die i n ihrem Gebiet anfallenden Abfälle zu beseitigen haben, die Müllabfuhr also nicht wie früher jeder, auch der kleinsten Gemeinde überlassen bleibt. Die Mittelstädte und die kleineren und kleinsten Gemeinden haben jedoch dafür zu sorgen, daß die i n ihren Gemarkungen bestehenden, inzwischen zum größten Teil geschlossenen Müllplätze zugeschüttet und die m i t ihnen verbundenen Eingriffe i n die Landschaft ausgeglichen werden. Die Gemeinden versuchen allgemein, dieser Pflicht zunächst einmal dadurch nachzukommen, daß sie die Mülldeponien m i t Erde abdecken. Sie machen dabei allerdings die traurige Erfahrung, daß sich offenbar manche B ü r g e r nicht neten Abfallbeseitigung
mit
den Möglichkeiten anfreunden wollen,
und Vorteilen einer geordsondern bei Nacht u n d Ne-
bel vor allem Gegenstände, die der Sperrmüllabfuhr zu übergeben wären, j a sogar ganze Altautos, auf die geschlossenen Mülldeponien verbringen. Teilweise kann man diesen Auswüchsen dadurch abhelfen, daß bei entsprechender Erhöhung der Abfallbeseitigungsgebühren die Sperrmüllabfuhr ohne die Erhebung von Einzelgebühren durchgeführt wird. Für die Beseitigung von Altautos und Altreifen zeichnen sich ebenfalls gangbare Wege ab 2 1 . Insgesamt ist damit zu rechnen, daß mit der Ordnung der Abfallbeseitigung, die bei weitem nicht die finanziellen Aufwendungen fordert wie die Ordnung der Abwasserbeseitigung, auch ein wichtiger Beitrag zur Ordnung und Pflege der Landschaft geleistet wird.
V. Das wichtigste Bundesgesetz auf dem Gebiet des Rechts der Landschaft, n ä m l i c h d i e bundesrechtliche 21
Neuordnung
des Naturschutz-
und
s. dazu das Gutachten „Auto und Umwelt" des Sachverständigenrates für Umweltfragen; Kurzdarstellung in: Umwelt, Informationen des Bundesministers des Innern zur Umweltplanung und zum Umweltschutz, 1973, Heft 26, S. 4 ff.
Der heutige Stand des Rechts der Landschaft u n d seines Vollzugs
693
Landschaftspflegerechts, ist bis heute wegen der Streitigkeiten über das Erfordernis einer umfassenden Gesetzgebungsbefugnis des Bundes für diese Materie nicht zustande gekommen. Unumstritten
ist d i e Notwendigkeit
eines
modernen
Naturschutz-
und Landschaftspflegerechts 22. Nicht daß die m i t dem Reichsnaturschutzgesetz von 1935 geschaffenen Schutzmöglichkeiten für Pflanzen und Tiere, Naturschutzgebiete, Naturdenkmale und ihre Umgebung sowie für sonstige Landschaftsteile überholt wären. I m Gegenteil, sie haben sich nach allgemeiner Überzeugung i m wesentlichen bewährt und werden auch i n Zukunft nach einigen rechtsstaatlichen Korrekturen ihres Sachinhalts und der Verfahrensregelungen unentbehrlich sein. Sie sind aber doch i m wesentlichen nur Werkzeuge eines erhaltenden Natur- und Landschaftsschutzes. Was fehlt, sind die Möglichkeiten einer umfassenden Ordnung der Landschaft i m Sinne einer planenden und gestaltenden Erhaltung, Pflege und Wiedergesundung der die Siedlungsbereiche umgebenden Landschaften. Von dieser Erkenntnis ist auch die Bundesregierung sie i m J a h r e 1970 d e n Entwurf
eines
ausgegangen, als
verfassungsändernden
Gesetzes
auf den Weg der Gesetzgebung brachte, der das Ziel hatte, dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit unter anderem auf dem Gebiet des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu eröffnen 23 . Zur Begründung führte sie dabei aus, daß es nicht mehr nur darum gehe, die Gefahren abzuwehren, die der Natur durch entstellende Eingriffe drohten, sondern daß i m Vordergrund die Aufgabe stehe, die Landschaft aktiv zu gestalten, zu verschönern, sie zum Teil wieder funktionsfähig zu machen, damit sie den vielfältigen und noch immer wachsenden Ansprüchen der Gesellschaft angesichts der ebenfalls zunehmenden Umweltbelastungen gerecht werden könne. Das Hauptanliegen der Neuordnung des Naturschutz- und Landschaftspflegerechts muß deshalb darin bestehen 24 , durch Gesetz Instrumente zu schaffen, m i t denen die Natur nicht nur i n ihren einzelnen Gegenständen wirksam geschützt, sondern auch i n ihrer Erscheinung als Landschaft einer planend vorbedachten, nachhaltig wirksamen Pflege zugeführt wird. Das Wort Landschaftspflege ist dabei i m weitesten Sinne zu verstehen: Zu ihr gehört die bewahrende Pflege noch gesunder Landschaften, die für die Gesunderhaltung des menschlichen 22 Näheres in meiner Abhandlung: Notwendigkeit und Inhalt eines modernen Naturschutz- und Landschaftspflegerechts, DVB1. 1972, S. 201 ff. 23 Bundestagsdrucksache VI/1298. 24 Die folgenden Gedanken sind im wesentlichen aus DVB1. 1972, S. 203 (s. oben Anm. 22) übernommen.
Rudolf Stich
694
Lebensraumes und für die Erholung der Menschen unentbehrlich sind. Weiter erstreckt sie sich darauf, von solchen Landschaften durch vorbeugende Schutz- und Planungsmaßnahmen soweit wie möglich schädigende Eingriffe abzuwehren, die ihnen aus der Gewinnung von Bodenbestandteilen (Sand, Kies, Lava, Bims, Steine, Braunkohle etc.) oder aus der Bebauung oder gewerblichen Nutzung (etwa als Lagerplatz für Altautos) drohen. Ferner muß es die Aufgabe der Landschaftspflege sein, Landschaften, die durch Eingriffe geschädigt sind oder i n denen Eingriffe i m Interesse der Allgemeinheit (Beschaffung von Baustoffen) gestattet werden müssen, nach dem Eingriff wieder i n den alten oder vielleicht sogar i n einen besseren neuen Zustand zu versetzen, damit von ihnen wieder die Ausgleichswirkungen einer gesunden Landschaft ausgehen können. Die Bundesregierung hat dem Bundesrat erstmals i m Mai 1972 den Entwurf
eines Gesetzes
über
Naturschutz
und Landschaftspflege
zuge-
leitet 2 5 , der den Anforderungen an ein modernes Naturschutz- und Landschaftspflegerecht i m wesentlichen entsprochen hat. I n der Hoffnung, daß die bisherige Rahmenkompetenz i n eine konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis umgewandelt würde, war der Entwurf als Vollregelung ausgestaltet. Da sich jedoch i m Bundesrat nicht die für die Verfassungsänderung notwendige Mehrheit fand, war auch der Gesetzentwurf zum Scheitern verurteilt. Obwohl die Bundesregierung darauf hingewiesen wurde, daß der Bund auch mit einem Rahmengesetz die wesentlichen Züge eines neuen Naturschutz- und Landschaftspflegerechts prägen und damit die Rechtseinheit sichern könne 2 6 , kam es nicht zu dem Entwurf eines Rahmengesetzes für Naturschutz und Landschaftspflege. Da sich aber die Notwendigkeit einer umfassenden Landschaftsordnung und Landschaftspflege i n der praktischen Regierungs- und Verwaltungstätigkeit i n den Ländern immer deutlicher zeigte, wurden die Landesregierungen und Landesparlamente allmählich ungeduldig. Sie hatten das Reichsnaturschutzgesetz, obwohl es als Landesrecht fortgalt, mehr oder weniger nur i n Einzelheiten abgeändert, vor allem den K a talog der Schutzmöglichkeiten nicht angetastet und damit die grundsätzliche Rechtseinheit auf dem Gebiete des Naturschutz- und Landschaftspflegerechts nicht zerstört. I m Jahre 1972 begann jedoch der Damm zu brechen. Einen wichtigen neuen Teilbereich der Ordnung der Landschaft, n ä m l i c h d i e Bewältigung 25 26
des Brachlandproblems,
Bundesratsdrucksache 311/72. s. DVB1. 1972, S. 211 (vgl. oben Anm. 22).
versuchte
Baden-
Der heutige Stand des Rechts der Landschaft u n d seines Vollzugs Württemberg
mit
seinem
Landwirtschafts-
und
695
Landeskulturgesetz
vom 14. März 1972 (GesBl. S. 74) zu regeln 27 . Zweck dieses Gesetzes ist es, durch gezielte Maßnahmen dazu beizutragen, daß die L a n d w i r t schaft und die Forstwirtschaft innerhalb der Gesamtwirtschaft ihre gesellschaftspolitischen Aufgaben zum Wohl der Allgemeinheit erfüllen können (§ 1). Zu den Aufgaben der Landwirtschaft und der Forstwirtschaft rechnet das Gesetz auch die Gestaltung und Pflege der K u l t u r und Erholungslandschaft (§ 2). I n einem eigenen Abschnitt „ B e w i r t schaftung und Pflege der K u l t u r - und Erholungslandschaft" (§§ 22 - 29) w i r d die „Bewirtschaftungsund Pflegepflicht" normiert (§26): Zur Verhinderung von Beeinträchtigungen der Landeskultur und der Landespflege sind die Besitzer von landwirtschaftlich nutzbaren Grundstücken verpflichtet, ihre Grundstücke zu bewirtschaften und dadurch zu pflegen, daß sie für eine ordnungsgemäße Beweidung sorgen oder mindestens einmal i m Jahr mähen. Die Bewirtschaftung und Pflege müssen gewährleisten, daß die Nutzung benachbarter Grundstücke nicht, insbesondere nicht durch schädlichen Samenflug, unzumutbar erschwert wird. Allerdings kann diese Bewirtschaftungs- und Pflegepflicht auf Antrag des Besitzers, der zugleich Eigentümer ist, ausgesetzt werden, solange es i h m nicht zugemutet werden kann, das Grundstück zu bewirtschaften oder zu pflegen und er den Nachweis führt, daß es i h m trotz wiederholtem Versuch nicht gelungen ist, das Grundstück einem Bewirtschaftungswilligen oder einer Verpächtergemeinschaft möglichst langfristig zu einem ortsüblichen Entgelt und, wenn ein Entgelt nicht gewährt wird, kostenlos zur Bewirtschaftung zu überlassen (Näheres i n § 28). Die baden-württembergische Regelung stellt einen ersten A n satz zur Heilung einer weitverbreiteten Krankheit unserer Landschaft dar, die erst i n unserer Zeit entstanden ist und für die deshalb auch i m neuen Naturschutz- und Landschaftspflegerecht bundesweit die Heilmittel bereitgestellt werden müssen. Nichts anderes gilt für die Ordnung der Landschaft i n bezug auf den Abbau von Steinen und Erden, dem Niedersachsen sein Bodenabbaugesetz vom 15. März 1972 (GVB1. S. 137) gewidmet h a t 2 7 a . Es stellt den Grundsatz (§ 1) auf, daß Bodenschätze wie Kies, Sand, Mergel, Ton, Lehm, Moor oder Steine nur so abgebaut werden dürfen und daß die abgebaute Fläche so hergerichtet werden muß, daß den folgenden A n forderungen entsprochen w i r d : 27
Vgl. auch das Gesetz zur Förderung der bayerischen Landwirtschaft vom 27. Oktober 1970 (BayGVBl. S. 504). 27a vgl. auch das nordrhein-westfälische Gesetz zur Ordnung von Abgrabungen (Abgrabungsgesetz) vom 21.11.1972 (Nachrichtenblatt N u L 1973 Nr. 12).
696
Rudolf Stich
— Das Wirkungsgefüge der Landschaft darf nicht durch Eingriffe i n den Boden, die Tier- und Pflanzenwelt, das Kleinklima, den Wasserhaushalt und andere Landschaftsfaktoren nachhaltig geschädigt werden. Es ist insbesondere geschädigt, wenn die Nutzbarkeit der Landschaft, ihre Eignung für die Erholung oder sonstige i n der Landschaft begründete Lebensbedingungen für den Menschen beeinträchtigt werden. — Die Landschaft darf nicht auf Dauer verunstaltet werden. — Landschaftsteile von besonderem Wert sollen erhalten bleiben. — Die abgebaute Fläche muß entsprechend der Bauleitplanung und den Zielen der Raumordnung und Landesplanung wieder genutzt werden können. Herzurichten sind auch Betriebsflächen, die dem Abbau gedient haben. Für den Abbau nicht mehr erforderliche Gebäude, Maschinen und sonstige Anlagen und Geräte sind zu beseitigen, wenn sie nicht i n zulässiger Weise für einen anderen Zweck genutzt werden. Grundsätzlich dürfen Bodenschätze nur mit Genehmigung der Landespflegebehörde abgebaut werden, wenn die abzubauende Fläche größer als 30 qm ist (§ 4). Dem Genehmigungsantrag (§ 5) ist ein Abbauund Landschaftspflegeplan beizufügen, aus dem alle wesentlichen Einzelheiten des vorgesehenen Abbaus ersichtlich sind, namentlich — Lage, Umgebung und räumliche Ausdehnung des Abbaus, — durchgeführte Untersuchungen, — Unterbringung des Abraums, — Sicherung und Wiederverwendung des Mutterbodens, — Gestaltung und Verwendung des Grundstücks während und nach Beendigung des Abbaus, — Kosten der Herrichtung sowie — ein Zeitplan für den Abbau und die Herrichtung. Die Genehmigung (§ 6) ist zu erteilen, wenn die Erfüllung der bereits angeführten grundsätzlichen Anforderungen gewährleistet und der Abbau auch m i t sonstigem öffentlichem Recht vereinbar ist. Sie kann m i t Auflagen, unter Bedingungen oder befristet erteilt werden, soweit dies erforderlich ist, u m die Erfüllung der grundsätzlichen A n forderungen oder die Beachtung sonstigen öffentlichen Rechts zu sichern. Bei größeren Vorhaben kann der Abbau von Teilflächen davon abhängig gemacht werden, daß für den Abbau nicht mehr erforderliche Flächen zuvor hergerichtet werden. Die Genehmigung ist außerdem da-
Der heutige Stand des Rechts der Landschaft u n d seines Vollzugs
697
von abhängig zu machen, daß der Landespflegebehörde eine die voraussichtlichen Kosten der Herrichtung deckende Sicherheit geleistet wird, die auch i n einer Bankbürgschaft bestehen kann (§ 7). Z u erwähnen sind noch die Bestimmungen über die Änderung, das Erlöschen und den Widerruf der Genehmigung, die vorzeitige Beendigung eines genehmigten Abbaus, die Anordnungen bei genehmigungsfreiem A b bau, die Verpflichtung zum Abbau und die Maßnahmen bei ungenehmigtem und verbotenem Abbau (§§8-12). Baden-Württemberg und Niedersachsen haben sich 1972 noch auf die Regelung neuer Teilbereiche der Landschaftspflege beschränkt und zugleich eine begrüßenswerte Vorarbeit für die bundesweite Ordnung dieser Problembereiche geleistet. Das Jahr 1973 dagegen hat bezüglich des bisherigen Naturschutz- und Landschaftspflegerechts das Auseinanderbrechen der Rechtseinheit und hinsichtlich der Regelung der neuen Landschaftspflegeprobleme, wie sie bereits umrissen worden sind, das weitgehende Auseinanderlaufen landesrechtlicher Vorschriften gebracht. Hessen beschränkte sich zwar i n seinem Landschaftspflegegesetz vom 4. A p r i l 1973 (GVB1. I S. 126), wie man schon der Gesetzesbezeichnung entnehmen kann, auf die Regelung der Landschaftspflege, die alle Maßnahmen erfassen und erstreben soll, die dazu dienen, die nachhaltige Leistungsfähigkeit des Landschaftshaushaltes und die ausgewogene Vielfalt des Landschaftsbildes zu erhalten und zu gestalten sowie bereits eingetretene Landschaftsschäden zu beseitigen und auszugleichen. Deshalb bringt das Gesetz unter anderem Bestimmungen über — das Betreten von Wald, Flur und Gewässerufern, — die Landschaftsplanung, — Eingriffe i n die Landschaft, — die Pflegepflicht von Grundstückseigentümern und Nutzungsberechtigten, — die Bildung von Pflegegenossenschaften, — die Förderung der Land- und Forstwirtschaft, — die Landschaftspflege bei öffentlichen Maßnahmen. M i t diesem Inhalt ergänzt das hessische Landespflegegesetz das Reichsnaturschutzgesetz, das es deshalb i n seiner Geltung unberührt läßt. D e m g e g e n ü b e r h e b e n das schleswig-holsteinische schutz
und
Landschaftspflege
(Landschaftspflegegesetz)
Gesetz
für
Natur-
v o m 16. A p r i l
Rudolf Stich
698
1973 (GVB1. S. 122)28, das rheinland-pfälzische 14. J u n i 1973 (GVB1. S. 147) 2 9 u n d das bayerische der Natur, Natur
die Pflege
(Bayerisches
der Landschaft
Naturschutzgesetz)
und
Landespflegegesetz Gesetz über den
die Erholung
in der
vom Schutz freien
v o m 27. J u l i 1973 (GVB1. S. 437)
das Reichsnaturschutzgesetz auf. M i t diesen Gesetzen sind i n drei Bundesländern nicht nur die planend-gestaltende Ordnung und Pflege der Landschaft und die Festlegung ihrer Erholungsfunktion erstmals geregelt, sondern auch die bisherigen Vorschriften des Naturschutz- und Landschaftspflegerechts i n unterschiedlichem Umfang abgeändert worden. Es würde zu weit führen, den Inhalt dieser Gesetze i m einzelnen zu erläutern und die mehr oder weniger voneinander abweichenden Aussagen zu den Einzelbereichen der Landschaftspflege miteinander zu vergleichen. Darauf w i r d i n der Hoffnung verzichtet, daß gerade das Erscheinen dieser Landesgesetze dazu führt, den Bund schnellstens zu veranlassen, die Rechtseinheit auf dem Gebiet des Naturschutzes und der Landschaftspflege wiederherzustellen — und sei es durch ein Rahmengesetz. Die neuen Landesgesetze zeigen nämlich, daß sich eine heillose Rechtszersplitterung ausbreiten wird, wenn sich die begonnene Entwicklung ohne das Dazwischentreten des Bundes fortsetzt. Schon die Gesetzesbezeichnungen weisen eine Buntscheckigkeit auf („Landschaftspflegegesetz", „Landespflegegesetz" und „Naturschutzgesetz"), die einen nicht m i t den Einzelheiten vertrauten Bürger zu der Annahme verleiten muß, daß jedes dieser Gesetze eine andere Sachmaterie regelt. Die Verwirrung setzt sich m i t den Behördenbezeichnungen fort („Landschaftspflegebehörden", „Landespflegebehörden" und „Naturschutzbehörden"). Mögen Gesetzes- und Behördenbezeichnungen auch — allerdings nicht unwesentliche — Äußerlichkeiten sein, so treten die Unterschiede i n den landesrechtlichen Bestimmungen vor allem i n den neuen — und besonders wichtigen — Vorschriften über die planend-gestaltende Ordnung und Pflege der Landschaft hervor. So ist etwa die entscheidende Frage, wie die Landschaftsplanung für den örtlichen Bereich m i t der Bauleitplanung der Gemeinden zu verknüpfen ist, ganz unterschiedlich und i n keinem Falle zufriedenstellend beantwortet. Da der Bund das Recht der Bauleitplanung i m Bundesbaugesetz abschließend geregelt hat, kann nur er — durch eine Änderung des Bundesbaugesetzes oder i n einem Bundesgesetz für Naturschutz und Landschaftspflege (auch i n einem Rahmengesetz) — rechtswirksame Wechselbe28
Dazu C. Carlsen, Neues Naturschutz- und Landschaftspflegerecht in Schleswig-Holstein, N u L 1973, S. 172 ff. 29 Dazu F. Weber, Das neue „Landespflegegesetz" in Rheinland-Pfalz, N u L 1973, S. 243 ff.
Der heutige Stand des Rechts der Landschaft und seines Vollzugs
699
Ziehungen zwischen der Bauleitplanung und der Landschaftsplanung herstellen. Nach allem ist es dringend geboten, daß ein Bundesgesetz über Naturschutz und Landschaftspflege erlassen wird. Ein Gesetzentwurf m i t diesem Titel liegt dem Bundestag wiederum seit J u l i 1973 vor 3 0 . Erneut ist die Bundesregierung allerdings davon ausgegangen, daß ihr durch eine Änderung des Grundgesetzes die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis zugesprochen werde. Der Bundesrat hat seine Stellungnahme zu dem Entwurf auf den Hinweis beschränkt, daß m i t einer Änderung des Grundgesetzes nicht zu rechnen sei, weil er — der Bundesrat — ein Bedürfnis für diese Grundgesetzänderung nicht zu erkennen vermöge. Weiter hat der Bundesrat sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, daß die Bundesregierung angesichts dieser bekannten Sachlage von ihrer Rahmenkompetenz noch keinen Gebrauch gemacht und noch kein Rahmengesetz vorgelegt habe, das für die unaufschiebbare Neuregelung dieses Gebietes durch die Länder die notwendige Bundeseinheitlichkeit sichere, soweit sie zwingend geboten sei 31 . Es ist darum an der Zeit, daß der Bund seine Befugnis, zur Wahrung der Rechtseinheit Rahmenrecht zu setzen (Art. 72 und 75 des Grundgesetzes), nicht nur als eine verfassungsrechtliche Möglichkeit, sondern bei der geschilderten Entwicklung der Dinge als eine Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit ansieht, deren Erfüllung wegen der Bedeutung von Naturschutz und Landschaftspflege für die Erhaltung und Gestaltung einer menschenwürdigen Umwelt nicht länger aufgeschoben werden kann. Deshalb sollte die Bundesregierung umgehend den Entwurf eines Rahmengesetzes für Naturschutz und Landschaftspflege vorlegen. Sie könnte i n dieses Gesetz, wie das Beispiel anderer Rahmengesetze verdeutlicht 3 2 , alle wichtigen Bestimmungen über Zweck, Begriff, Rechtsform und Rechtswirkungen der Schutz-, Planungs- und Pflegemaßnahmen einschließlich der tragenden Verfahrensregelungen aufnehmen — und zwar mit unmittelbarer Rechtsverbindlichkeit —, so daß den Ländern i m wesentlichen nur die weitere Ausgestaltung der Verfahrensregelungen, die Ordnung der Behördenorganisation und die Regelung der Landesbesonderheiten überlassen blieben.
VI. Bewegen w i r uns damit schon i m Bereich des werdenden Rechts, so müssen w i r auch den Entwurf eines Bundeswaldgesetzes 33 i n unsere Be30 31 32 33
Bundestagsdrucksache 7/886. S. 47. Wasserhaushaltsgesetz, Bundesjagdgesetz, Bundestagsdrucksache 7/889.
Beamtenrechtsrahmengesetz.
700
Rudolf Stich
trachtung einbeziehen. Dieses Gesetz interessiert uns weniger insoweit, als es die Forstgesetze der Länder überlagern soll. Aus dem Blickwinkel des Rechts der Landschaft sind i n erster Linie jene Regelungsvorschläge bedeutsam, die die Erhaltung des Waldes, die Erklärung von Wald zu Schutzwald und das Betreten des Waldes betreffen (§§ 8,11 und 12). Wald soll danach nur mit Genehmigung der nach Landesrecht zuständigen Behörde gerodet und i n eine andere Nutzungsart umgewandelt werden dürfen. Bei der Entscheidung über einen Umwandlungsantrag sollen die Rechte, Pflichten und wirtschaftlichen Interessen des Waldbesitzers sowie die Belange der Allgemeinheit gegeneinander und untereinander abgewogen werden. Die Genehmigung soll versagt werden, wenn die Erhaltung des Waldes überwiegend i m öffentlichen I n teresse liegt, insbesondere wenn der Wald für die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts, die forstwirtschaftliche Erzeugung oder die Erholung der Bevölkerung von wesentlicher Bedeutung ist oder wenn die nachteiligen Wirkungen der Umwandlung nicht durch Bedingungen oder Auflagen abgewendet oder auf ein erträgliches Maß herabgemildert werden können. Wald soll zu Schutzwald erklärt werden können, wenn es zur A b wehr oder Verhütung von Gefahren, erheblichen Nachteilen oder erheblichen Belästigungen für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist, insbesondere zum Schutz gegen schädliche Umwelteinwirkungen i m Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes 34 , Erosion durch Wasser und Wind, Austrocknung, schädliches Abfließen von Niederschlagswasser und Lawinen. Das Betreten des Waldes soll zum Zwecke der Erholung — allerdings auf eigene Gefahr — grundsätzlich gestattet sein. Reiten, Fahren, Zelten und Abstellen von Wohnwagen sollen dagegen i m Wald nur zulässig sein, soweit hierfür ein besonderes Bedürfnis vorliegt oder Wege und sonstige Flächen dazu besonders bestimmt sind. Wenn das Bundeswaldgesetz vom Bundestag beschlossen w i r d und i n i h m diese Bestimmungen enthalten sind, werden sie i m Recht der Landschaft einen beachtenswerten Platz einnehmen. VII. Der Gesamteindruck, den man aus der Übersicht über den heutigen Stand des Rechts der Landschaft und seines Vollzugs gewinnt, ist alles andere als ermutigend. I m Vordergrund steht die Feststellung, daß sich 34 Bundestagsdrucksache 7/179; vom Bundestag verabschiedet am 18.1.1974, s. Bundesratsdrucksache 58/74.
Der heutige Stand des Rechts der Landschaft u n d seines Vollzugs
701
das Recht der Landschaft i n einer starken Unruhe und Bewegung befindet. Die Hauptrichtung dieser Bewegung zielt leider nicht auf eine Stärkung des Rechts der Landschaft. G e w i ß h a b e n w i r einige
brauchbare
bundeseinheitliche
Ansätze
im
Recht der Bauleitplanung sowie der Regional- und Landesplanung finden können. Zugleich mußten w i r jedoch feststellen, daß diese Ansätze bis heute — m i t Ausnahme der Regelung über die Zulässigkeit von Bauvorhaben i m Außenbereich — von den Planungs- und Vollzugsbehörden weitgehend unbeachtet gelassen worden sind, so daß sie bisher kaum positive Auswirkungen auf die Landschafts- und Grünordnung innerhalb und außerhalb der Siedlungsbereiche gezeigt haben. Immerh i n wurden auch für die Abfallbeseitigung i n Bezug auf die Ordnung der Landschaft zukunftsträchtige bundesrechtliche Normen verzeichnet, die jedoch noch zu neu sind, als daß man über die Chancen ihrer Verwirklichung schon jetzt urteilen könnte. Erschütternd ist das Bild, das der eigentliche Kernbereich des Rechts der Landschaft, eben das Naturschutz- und Landschaftspflegerecht, bietet. Der Bund hat nicht rechtzeitig von seiner Befugnis Gebrauch gemacht, die auf der Grundlage des Reichsnaturschutzgesetzes von 1935 faktisch noch fortbestehende Rechts- und damit Verwaltungseinheit i n eine durch Bundesrahmengesetz abgesicherte Rechts- und Verwaltungseinheit überzuleiten. Als Folge dieses Zögerns ist nicht nur das Reichsnaturschutzgesetz seit einigen Monaten i n verschiedenen Bundesländern durch eigenständige und nicht aufeinander abgestimmte landesgesetzliche Regelungen abgelöst worden. Die neuen Landesgesetze haben auch für die aktuellen Anliegen der Landschaftsordnung Bestimmungen getroffen, die beträchtliche Unterschiede aufweisen. Wenn diese Entwicklung ungehindert weitergeht, w i r d bald der Punkt erreicht sein, an dem die für Naturschutz und Landschaftspflege zuständigen (unterschiedlich bezeichneten) Behörden i n den einzelnen Ländern m i t verschiedenartigen materiell- und verfahrensrechtlichen Gesetzesbestimmungen arbeiten müssen und ihnen ein fruchtbarer Erfahrungsaustausch über die Landesgrenzen hinweg kaum noch möglich sein w i r d . D i e Unterschiedlichkeit mit auch der Verwaltungspraxis
der gesetzlichen Regelungen und davon Land zu Land f ü h r t e r f a h r u n g s -
gemäß zu einer Vernachlässigung des betreffenden Rechts- und Verwaltungsbereiches durch die Verwaltungsrechtswissenschaft. Die fehlende wissenschaftliche Durchdringung der landesrechtlichen Probleme w i r k t sich wiederum lähmend auf die Verwaltungstätigkeit aus, weil die Verwaltungsbehörden m i t den Auslegungsproblemen des Landesrechts, für das es kaum Vergleichsmöglichkeiten gibt, allein fertig werden müssen. Sie weichen i n dieser Situation der Rechtsunsicherheit lie-
702
Rudolf Stich
ber einer harten Entscheidung zugunsten der Natur und der Landschaft aus und fügen damit der Allgemeinheit Nachteile zu. Das zuständige Oberverwaltungsgericht als höchste Instanz i n landesrechtlichen Fragen kommt nur selten dazu, klärende Aussagen über die landesrechtlichen Besonderheiten zu machen. Unsere Übersicht über den heutigen Stand des Rechts der Landschaft und seines Vollzuges kann daher nur m i t dem Appell an den Bundesgesetzgeber enden, die Rechtseinheit auf dem Gebiet des Naturschutzes und der Landschaftspflege bald m i t einem Bundesgesetz wiederherzustellen. A m wirksamsten wäre zweifellos eine Vollregelung auf der Grundlage der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz, m i t deren Übergang auf den Bund aber zur Zeit nicht gerechnet werden kann. Deshalb muß der Weg der Rahmengesetzgebung beschritten werden, der es ermöglicht, die Rechtseinheit i n allen grundlegenden Sach- und Verfahrensfragen des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu gewährleisten. M i t der Rechtseinheit würde für die zuständigen Behörden auch das sichere Fundament für eine gedeihliche Weiterarbeit i m Bereich des schützenden und bewahrenden Natur- und Landschaftsschutzes sowie für eine fruchtbare Inangriffnahme der neuen Planungs-, Gestaltungs- und Pflegemaßnahmen i m Sinne einer umfassenden Landschaftsordnung zum Wohle der Allgemeinheit gelegt.
öffentliche Leistungspflichten als Instrumente der Umweltgestaltung Von Harry Ebersbach I. I m Jahre 1973 sind i n den Ländern Hessen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Bayern Gesetze über Naturschutz und Landschaftspflege ergangen 1 , die das Reichsnaturschutzgesetz von 1935 ersetzen oder (wie i n Hessen) ergänzen. M i t diesen Landschaftspflegegesetzen 2 ist eine neue Entwicklungsphase i m „Recht der Landschaft" eingeleitet worden, auf deren N o t w e n d i g k e i t u n d erste Ansätze Werner
Weber
schon vor anderthalb Jahrzehnten hingewiesen hat und i n der neben die „traditionell gewordenen Aufgaben des Landschaftsschutzes die heute wichtigeren der Landschaftsp/iege" treten 3 . Hierfür ist kennzeichnend, daß sich die neuen Gesetze nicht m i t den konservierenden und abwehrenden Regelungen des bisherigen Naturschutzrechts begnügen. Vielmehr treffen sie vorrangig Bestimmungen über vorsorgende Landschaftsplanung und über Maßnahmen zur aktiven Pflege und Gestaltung der natürlichen Umwelt. M i t dieser Ausrichtung erweist sich das Landschaftspflegerecht als ein Natur und Landschaft erfassendes Pendant zum modernen Bauplanungs- und Städtebaurecht, das sich m i t der Planung und Lenkung der Bodennutzung 4 und i n steigendem Maße m i t der städtebaulichen Gestaltung und Entwicklung 5 befaßt und 1
Hessisches Landschaftspflegegesetz vom 4.4.1973 (GVB1. I S. 126), Gesetz für Naturschutz und Landschaftspflege (Landschaftspflegegesetz-LPflegG) von Schleswig-Holstein vom 16.4.1973 (GVB1. S. 122), Landespflegegesetz (LPflG) von Rheinland-Pfalz vom 14. 6.1973 (GVB1. S. 147), Gesetz über den Schutz der Natur, die Pflege der Landschaft und die Erholung in der freien Natur (Bayerisches Naturschutzgesetz-BayNatSchG) vom 27.7.1973 (Bay. GVB1. S. 437). 2 Vgl. auch den Entwurf der Bundesregierung zu einem Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege, Bundesrat-Drucks. 311/72 vom 30. 5.1972 und Bundestag-Drucks. 7/886 vom 9. 7.1973. 3 W. Weber, Das Recht der Landschaft, Festschr. Gieseke (1958), S. 95; O. Kimminich, Das Recht des Umweltschutzes (1972), S. 67 ff. 4 V. Götz, Bauleitplanung und Eigentum (1969), S. 13. 5 J. J. Hesse, Stadtentwicklungsplanung: Zielfindungsprozesse und Zielvorstellungen (2. Aufl. 1972), S. 72ff.; E Schmidt-Aßmann, Grundfragen des Städtebaurechts (1972), S. 167.
704
H a r r y Ebersbach
das m i t h i n auch i m Dienst des Umweltschutzes und der Umweltgestaltung steht 6 . Bei dem verwaltungsrechtlichen Instrumentarium, m i t dessen Hilfe die aktuellen Aufgaben der Umweltgestaltung bewältigt werden sollen, stehen i m Landschaftspflegerecht ebenso wie i m Städtebaurecht die Planungsinstrumente an erster Stelle. Die Gesetze7 sehen Landschaftsrahmenprogramme auf Landesebene, Landschaftsrahmenpläne auf regionaler und Landschaftspläne auf örtlicher Ebene vor, die i n die entsprechenden Raumordnungs- und Bauleitpläne zu integrieren sind. Sie sollen die Grundlage bilden für eine geordnete und pflegliche Nutzung und Entwicklung von Natur und Landschaft. Dieses Ziel und die daraus abzuleitenden, i n der Landschaftsplanung formulierten Teilziele und Aufgaben lassen sich m i t den weithin nur gefahrenabwehrenden und schrankensetzenden Verwaltungsmitteln des herkömmlichen Naturschutzrechts nur unvollkommen realisieren. Daher haben die Landschaftspflegegesetze weitere Instrumente zum Schutz, zur Pflege und zur Entwicklung von Natur und Landschaft geschaffen. Diese sollen die Verwaltung i n die Lage versetzen, dem Auftrag zu aktiver Ordnung und Gestaltung der Landschaft durch eigene Vollzugshandlungen, durch Lenkungsmaßnahmen oder durch Inpflichtnahme Privater nachzukommen. Verwaltungseigener Vollzug landschaftspflegerischer oder -gestalterischer Aufgaben erfolgt zumeist i m Zusammenhang m i t Vorhaben des Verkehrswesens, der Wasserwirtschaft, des Forstwesens und ähnlichen öffentlichen Maßnahmen und Planungen 8 , darüber hinaus aber auch als selbständige Verwaltungsfunktion, namentlich bei der Pflege von Brachland durch eine staatliche Behörde oder deren Beauftragten 9 , eine Gemeinde 10 oder einen Landschaftspflegeverband 11 . Soweit durch derartige Maßnahmen der Verwaltung private Grundstückseigentümer oder Nutzungsberechtigte betroffen werden, bestehen für sie lediglich
6 W. Weber, Umweltschutz im Verfassungs- und Verwaltungsrecht, DVB1. 1971, 806 (812). 7 Vgl. § 3 Hess.LPflG; §§ 5, 6 LPflegG. Schl.-Holst. ; § § 9 - 1 1 LPflG. Rh.-Pf.; Art. 3 BayNatSchG; § § 4 - 7 LPflG.-Entw.d.BReg. ; zum folgenden auch H. Steiger, Umweltschutz durch planende Gestaltung, ZRP 1971, 133. 8 Vgl. z. B. § 8 Hess.LPflG, § 3 LPflegG. Schl.-Holst, § 3 LPflG. Rh.-Pf. Z u den Vorläufern dieser Bestimmungen, insb. zu § 20 RNG, W. Weber, Das Recht des Landschaftsschutzes (1938), S. 15ff.; derselbe, Festschr. Gieseke, S. 103 f. 9 Art. 4 BayNatSchG, § 5 LPflG.Rh.-Pf. 10 § 13 LPflegG. Schl.-Holst. 11 § 23 LPflegG. Schl.-Holst.
öffentliche Leistungspflichten als Instrumente der Umweltgestaltung 705
Duldungspflichten 12 , die allerdings unter bestimmten Voraussetzungen m i t einer Kostenlast verbunden sein können 1 3 . Darüber hinaus eröffnen die neuen Gesetze die Möglichkeit, die Privaten selbst unmittelbar zur Durchführung landschaftspflegerischer Aufgaben heranzuziehen. I n diesen Fällen w i r d die Verwaltung nur initiativ, lenkend und überwachend tätig. Als Lenkungsmittel m i t umweltgestaltender Wirkung kommen hauptsächlich gezielte finanzielle Förderungsmaßnahmen i n Betracht, ζ. B. i n der Form von Zuschüssen für die Bewirtschaftung von Grenzertragsböden, für das Abmähen von Bergwiesen oder für die Aufforstung von Ödland. Außerdem setzt das moderne Landschaftspflegerecht auch das M i t t e l direkter Inanspruchnahme von Privatpersonen ein, indem es für Grundstückseigentümer und Nutzungsberechtigte öffentlich-rechtliche Leistungspflichten begründet, insbesondere eine umfassende Rekultivierungspflicht nach Eingriffen i n die Landschaft 14 und eine Pflegepflicht für ungenutzte Grundstücke 15 . Die Rekultivierungspflicht w i r d durch Eingriffe i n die Landschaft ausgelöst, die den Naturhaushalt oder das Landschaftsbild erheblich beeinträchtigen. Sie soll bewirken, daß nach Beendigung des Eingriffs keine Schäden i m Naturhaushalt zurückbleiben und das Landschaftsbild erhalten, wiederhergestellt oder neu gestaltet wird. Die Pflicht zur Pflege von Öd- oder Brachland ist für die Fälle vorgesehen, i n denen ungenutzt liegende Grundstücke nicht dem natürlichen Bewuchs überlassen werden können, weil dadurch Schäden oder schwerwiegende Beeinträchtigungen für Natur und Landschaft entstünden. M i t der direkten Inpflichtnahme von Privaten folgt das Landschaftspflegerecht dem Beispiel des Städtebaurechts 16 , das m i t dem Baugebot (§ 20 StBauFG) und dem Modernisierungsgebot (§ 21 StBauFG) ebenfalls Leistimgspflichten m i t umweltgestaltender Wirkung eingeführt hat 1 7 . Die beiden baurechtlichen Gebote können von der Gemeinde er12
Art. 5 Abs. 2 BayNatSchG; § 13 Abs. 1 Satz 3 LPflegG.Schl.-Holst., § 5 Abs. 1 LPflG.Rh.-Pf. 13 Vgl. § 5 Abs. 3 LPflG.Rh.-Pf. 14 § 4 Abs. 2 Hess.LPflG, § 8 Abs. 1 LPflegG.Schl.-Holst., § 4 Abs. 1 LPflG. Rh.-Pf., Art. 5 Abs. 1 BayNatSchG, § 9 Abs. 2 LPflG-Entw. d. BReg. 15 § 5 Hess.LPflG, § 26 Landwirtschafts- und Landeskulturgesetz (LLG) von Baden-Württemberg vom 14. 3.1972 (GBl. S. 74), § 12 LPflG-Entw. d. BReg. 16 Gesetz über städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen in den Gemeinden (Städtebauförderungsgesetz) vom 27.7.1971 (BGBl. I S. 1125). 17 Das sog. Abbruchgebot des § 19 StBauFG ist nicht als Leistungspflicht, sondern als Duldungspflicht konstruiert worden. 45 Festschrift für Werner Weber
706
H a r r y Ebersbach
lassen werden, u m i n einem förmlich festgelegten Sanierungsgebiet eine zügige Durchführung der Sanierungsmaßnahmen zu sichern. Durch das Baugebot w i r d der Eigentümer verpflichtet, sein Grundstück entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplanes zu bebauen oder eine vorhandene Bebauung solchen Festsetzungen anzupassen. M i t dem Modernisierungsgebot w i r d dem Eigentümer die Verpflichtung auferlegt, Mängel seines Gebäudes m i t Rücksicht auf den Sanierungszweck zu beseitigen. Durch die Einführung umweltgestaltender Leistungspflichten ist sowohl das Städtebaurecht als auch das Recht der Landschaft tiefgreifend verändert worden; denn i n der Vergangenheit haben sich beide mit wenigen Ausnahmen darauf beschränkt, den Eigentümern oder Nutzungsberechtigten von Grundstücken Unterlassungs- und Duldungspflichten aufzuerlegen. Es ist zu prüfen, ob die Begründung solcher Leistungspflichten verfassungsrechtlich zulässig ist 1 8 und ob gegebenenfalls den Verpflichteten Entschädigungsansprüche zustehen.
Π. Die Leistungspflichten des Städtebaurechts wurden anfangs für verfassungswidrig gehalten; denn positive Handlungspflichten seien grundsätzlich m i t der Eigentumsgarantie des A r t . 14 GG unvereinbar und dürften den Grundeigentümern nur zur Abwehr polizeilicher Gefahren oder zur Beseitigung dringender öffentlicher Notstände auferlegt werden 19 . Demgegenüber läßt schon ein Blick auf die Rechtswirklichkeit erkennen, daß die Sach- und Dienstleistungspflichten zwar überwiegend i m „Bereich der Ausnahmesituationen (Katastrophen, Unglücksfälle, Verteidigungsfall) liegen, aber nicht darauf beschränkt" sind 2 0 . Bekannte Beispiele dafür bieten die Hand- und Spanndienste 21 , die Gewässerunterhaltungslast 22 , die Pflicht zu Bau, Unterhaltung und
18 Vgl. die grundlegende Untersuchung von W. Weber, Das Eigentum und seine Garantie in der Krise, Festschr. f. Michaelis (1972), S. 316, zum folgenden insb. S. 325 f. 19 M. Seilmann, Neue bodenrechtliche Vorschriften für die städtebauliche Sanierung, Schriften des Zentralverbandes der Deutschen Haus- und Grundeigentümer, Heft 25 (1969), S. 53; ähnlich W. Schiitz/G. Frohberg, Kommentar zum Bundesbaugesetz (3. Aufl. 1970), Anm. V I I zu § 86 BBauG. 20 ψ Weber, Artikel „öffentliches Leistungsrecht", Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 6 (1959), S. 572. 21
Vgl. dazu BVerwGE 2, 313; Β GHZ 28, 310. § 29 Gesetz zur Ordnung des Wasserhaushalts (Wasserhaushaltsgesetz) vom 27. 7.1957 (BGBl. I S. 1110). 22
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Reinigung von Wegen 23 oder die „Indienstnahme Privater für Verwaltungsaufgaben" 24 . Überdies lassen sich auch für die umweltgestaltenden Leistungspflichten Vorläufer oder ältere ähnliche Rechtsinstitute nachweisen. So konnte das Städtebauförderungsgesetz an Bau- und Modernisierungspflichten des früheren Baurechts und des Wohnungs- und Mietrechts anknüpfen 2 5 . Die Rekultivierungspflicht des Landschaftspflegerechts hat unmittelbare Vorläufer i m traditionellen Naturschutzrecht 26 , i m Bergrecht 27 sowie i m Bauordnungs- und Bodenabbaurecht 28 , allerdings gegenständlich beschränkt auf Landschaftsschutzgebiete, auf Tagebaue und Abraumhalden und auf den Abbau von Kies, Sand und anderen Bodenbestandteilen. Auch die von den Landesforstgesetzen 29 vorgeschriebene Wiederaufforstungspflicht für abgeholzte oder verlichtete Waldflächen ist als eine besondere A r t der Rekultivierungspflicht aufzufassen. Was schließlich die Pflicht zur Pflege brachliegender Grundstücke anbelangt, so kann sie zwar nicht m i t der agrarrechtlichen Landbewirtschaftungspflicht der Kriegs- und Nachkriegszeit gleichgesetzt werden, da diese nicht ökologischen Zielen, sondern der Sicherstellung der Ernährung diente 3 0 . Aber i m Bereich des Umweltschutzrechts sind 23 Diese Pflicht hat sich zwar gegenwärtig zumeist in eine Geldleistungspflicht verwandelt, ist i m Grunde aber eine „Naturalleistungspflicht" geblieben. Vgl. dazu BVerwGE 22, 26. 24 Vgl. die gleichnamige Untersuchung von H. P. Ipsen, Festg. E. Kaufmann (1950), S. 141; weitere Beispiele bei W. Weber, Die Dienst- und Leistungspflichten der Deutschen (1943), S. 11 f.; E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht (2. Aufl. 1953/54), Bd. 1, S. 70; H. J. Wolff, Verwaltungsrecht I (8. Aufl. 1971), § 42 I I . 25 BVerwGE 7, 297 (299); Schmidt-Aßmann, S. 237; W. Söfker, Sanierung, modernes Städtebaurecht und Eigentumsgarantie (Diss. Göttingen 1972), S. 136 ff. 26 §§ 5, 19 RNG; dazu OVG Lüneburg, DÖV 1971, 212; W. Weber, Das Recht des Landschaftsschutzes, S. 32 f.; derselbe, Festschrift Gieseke, S. 103. 27 Vgl. z. B. § 196 Abs. 2 preuß. Allg. Berggesetz in der in Nordrhein-Westfalen geltenden Fassung des Gesetzes vom 25.4.1950 (GVB1. S. 73); dazu W. Weber, Festschr. Gieseke, S. 107. 28 Vgl. § 14 Abs. 2 Musterbauordnung und die entsprechenden Bestimmungen der Landesbauordnungen, z. B. § 53 Satz 2 Nds.BauO v. 23. 7.1973 (Nds. GVB1. S. 259); ferner Bimsvorkommen-Gesetz von Rheinland-Pfalz vom 13.4.1949 (GVB1. S. 143); Nds. Bodenabbaugesetz vom 15.3.1972 (GVB1. S. 137); Abgrabungsgesetz von Nordrhein-Westfalen vom 21.11.1972 (GVB1. S. 372); zur Verunstaltung der Landschaft durch Kiesgruben Hess.VGH, GemT 1968, 263; OVG Lüneburg, DÖV 1971, 212. 29 § 46 ForstG.NW vom 29.7.1969 (GVB1. S. 588); § 6 Hess.ForstG i. d. F. vom 13. 5.1970 (GVB1. I S. 343); § 20 LWG-Schl.-Holst. vom 18. 3.1971 (GVB1. S. 94); § 18 LForstG.Rhld.-Pf. i. d. F. vom 19.3.1971 (GVB1. S. 115); Nds. L W G vom 12. 7.1973 (GVB1. S. 233).
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schon seit langem ähnliche Pflichten zur Herstellung und Erhaltung eines bestimmten Grundstückszustandes geläufig. So sind nach dem Bauordnungsrecht unbebaute Flächen von Baugrundstücken prinzipiell gärtnerisch oder als Grünfläche, auf jeden Fall aber so zu gestalten, daß sie keine verunstaltende Wirkung haben 31 . Das Forstrecht kennt eine Pflicht zur Aufforstung von Ödland 3 2 , vor allem aber die Pflicht zur Erhaltung und Pflege des Waldes 33 , die nicht nur die nachhaltige Holzerzeugung zu sichern hat, sondern auch i m Dienst der Landschaftsordnung steht und den vielfältigen Schutz- und Erholungsfunktionen des Waldes Rechnung trägt 3 4 . Zu alledem ist allerdings zu bemerken, daß die vom Städtebauförderungsgesetz und von den Landschaftspflegegesetzen geschaffenen Leistungspflichten zum Planausführungs-, Lenkungs- und Gestaltungsinstrumentarium der modernen Verwaltung gehören, während es sich bei ihren Vorläufern zumeist u m Rand- und Ausnahmeerscheinungen eines am Leitbild polizeirechtlicher Gefahrenabwehr orientierten Verwaltungsrechts handelt 3 5 . Daher ist die entwicklungsgeschichtliche Reflexion nur imstande, die Zeit- und Wertungsgebundenheit der einzelnen Rechtsinstitute zu beleuchten und die Tatsache zu verdeutlichen, daß die Verwaltungspraxis schon seit altersher Leistungspflichten außerhalb von Gefahrenabwehr und Nothilfe kennt. I n Anbetracht des vielfältigen und aktuellen Rechtstatsachenmaterials kann m i t der herrschenden Meinung davon ausgegangen werden, daß die Auferlegung von Leistungspflichten als solche ebensowenig verfassungswidrig ist wie die Auferlegung von Unterlassungs- und Duldungspflichten 36 . Dabei ist nach den berührten Grundrechtsverbürgungen zu beurteilen, inwieweit dem Bürger i m Bereich des Städte30 VO zur Sicherung der Landbewirtschaftung vom 23.3.1937; Art. V I I Kontrollratsgesetz Nr. 45; dazu K. Kroeschell, Landwirtschaftsrecht (2. Aufl. 1966), Rd.-Nr. 38, 127; P. C. Storm , Das baden-württembergische Landwirtschafts- und Landeskulturgesetz, AgrarR 1973, 97 (103). 31 Vgl. § 10 Musterbauordnung und die entsprechenden Bestimmungen der Landesbauordnungen, z. B. § 14 NdsBauO. 32 § 10 Hess.ForstG; ähnlich § 52 ForstG.NW; § 14 LForstG. Rhld.-Pf.; § 23 LWG.Schl.-Holst. 33 Vgl. insb. § 6 Nds.LWG. 34 K. Hasel, Waldwirtschaft und Umwelt (1971), S. 59 ff. H. Ebersbach, Eigentumsbeschränkungen i m Hinblick auf die Sozialfunktion des Waldes, AgrarR 1972, 129. 35 w . Weber, Planende Verwaltung als Aufgabe der Gegenwart, Veröffentlichungen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Band 78 (1972), S. 9 (10). 36 BVerfGE 30, 292 (311); F. Ossenbühl, Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, V V D S t R L 29 (1971), S. 137 (181); Schmidt-Aßmann, S. 237 ff.; W. Rüfner, Bodenordnung und Eigentumsgarantie, JuS 1973, 595.
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baus und der Landschaftspflege über die Grenzen polizeilicher Gefahrenabwehr hinaus planausführende, pflegerische und gestalterische Obliegenheiten übertragen werden können. Da diese Obliegenheiten zumeist m i t dem Grundeigentum verbunden sind, ist für ihre Verfassungsmäßigkeit hauptsächlich A r t . 14 GG maßgebend. Daneben kommt auch A r t . 12 GG i n Betracht, ζ. B. bei der Pflicht der Forstbetriebe zur Walderhaltung oder bei der Rekultivierungspflicht eines Unternehmens, das auf fremden Grundstücken Rohrleitungen verlegt. Als Beschränkungen der Eigentums- oder Berufsfreiheit bedürfen die umweltgestaltenden Leistungspflichten gesetzlicher Grundlage 3 7 , und zwar muß das Gesetz entweder selbst die betreffende Pflicht unmittelbar begründen 38 oder es muß die Verwaltung ermächtigen, die Leistungspflicht i m Einzelfall durch Verwaltungsakt zu aktualisieren 80 . I n materieller Hinsicht ist die Auferlegung der Leistimgspflichten an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden, und zwar unabhängig davon, ob dem Verpflichteten ein Entschädigungsanspruch zusteht. Eine entschädigungsfreie Inpflichtnahme ist als Inhaltsbestimmung des Grundeigentums oder als Regelung der Berufsausübung verfassungsrechtlich zulässig, sie muß aber unter dem Gesichtspunkt der Lastengleichheit für den Verpflichteten zumutbar sein 40 . Die Inanspruchnahme des Leistungspflichtigen ist verhältnismäßig, wenn sie durch ein adäquates Gemeinschaftsinteresse an der konkreten Umweltgestaltung gerechtfertigt erscheint und wenn die geforderte Leistung geeignet und erforderlich ist, u m das Ziel der Umweltgestaltung zu erreichen. Für die Wertung und Abwägung der i n Rede stehenden individuellen und öffentlichen Belange ist bedeutsam, daß i n der modernen Industriegesellschaft an der Lösung der Umweltprobleme ein Gemeinschaftsinteresse von erheblichem Gewicht besteht. Bevölkerungszuwachs und fortschreitende technisch-industrielle Entwicklung verursachen tiefgreifende Strukturveränderungen und lebensbedrohliche Umweltgefahren i n Stadt und Land. Daraus ergeben sich für die Bereiche des Städtebaus, des Naturschutzes und der Landschaftspflege neue und äußerst dringliche Aufgaben, zu deren Bewältigung nicht nur eine Funktionsausweitung der Verwaltung notwendig 37
Weber, HdSW, Bd. 6, S. 574; H. J. Wolff , Verwaltungsrecht I, § 42 I I I . Vgl. z. B. §§ 4 und 5 Hess.LPflG für die Rekultivierungs- und die Grundstückspflegepflicht. 39 Vgl. §§ 20 und 21 StBauFG für die Bau- und die Modernisierungspflicht oder §§ 9 und 12 LPflG-Entw. der BReg. für die Rekultivierungs- und die Grundstückspflegepflicht. 40 W. Weber, HdSW, Bd. 6, S. 574; F. Ossenbühl, S. 182; BVerfGE 30, 292 (316, 327); zum Prinzip der Lastengleichheit U. Scheuner, in Reinhardt!Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums (1954), S. 105. 38
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ist, sondern auch eine stärkere Inpflichtnahme des einzelnen Bürgers. Die Verwaltungstätigkeit muß sich über die polizeiliche Gefahrenabwehr hinaus zunehmend auf vorausschauende Planung und aktive Gestaltung der besiedelten und unbesiedelten Umwelt erstrecken. Dementsprechend hat der Bürger nicht nur die Pflicht, sein Grundstück durch Beseitigung von Unrat oder durch Schädlings- und Unkrautbekämpfung i n polizeimäßigem Zustand zu halten 4 1 . Er kann sein Grundstück nicht mehr nach Belieben verwildern, versumpfen, veröden oder nach der Ausbeute von Bodenbestandteilen devastiert liegen lassen; denn angesichts der gegenwärtigen Umweltbedrohung setzt die Sozialschädlichkeit des jeweiligen Grundstückszustandes nicht erst m i t seiner Polizeiwidrigkeit, sondern schon m i t seiner Situations- und Funktionswidrigkeit ein. Daher muß von dem Grundstückseigentümer oder sonstigen Nutzungsberechtigten verlangt werden, daß er über die Polizeipflichtigkeit hinaus auch diejenigen Rekultivierungs-, Bewirtschaftungs- oder Pflegemaßnahmen trifft, die mit Rücksicht auf die Lage des Grundstücks und auf dessen Funktion i m Wirkungsgefüge von Natur und Landschaft nötig sind. Entsprechendes gilt für den städtebaulichen Bereich. Hier müssen von dem Grundstückseigentümer zur Sicherung gesunder Lebens- und Arbeitsbedingungen die notwendigen Bau- oder Modernisierungsmaßnahmen gefordert werden. Es ist evident, daß diese Maßnahmen für das Wohl der Allgemeinheit unerläßlich sind. Die ihnen entsprechenden öffentlichen Leistungspflichten sind daher als erforderliche und geeignete Instrumente für die lebenswichtige Pflege und Gestaltung der Umwelt anzusprechen. III. Aber nicht nur i m allgemeinen, sondern auch i n ihrer gesetzlichen Einzelausprägung müssen die umweltgestaltenden Leistungspflichten den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen, und zwar insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Bestimmtheitsgebot. A m besten w i r d diesen Anforderungen dort entsprochen, wo das Gesetz Voraussetzungen und Inhalt der Leistungspflicht genau fixiert. So w i r d beispielsweise i n § 26 des Landwirtschafts- und Landeskulturgesetzes von Baden-Württemberg die Grundstückspflegepflicht zunächst gegenständlich auf landwirtschaftlich nutzbare, aber unbewirtschaftete Grundstücke beschränkt, sodann inhaltlich auf ein „Pflichten41 Zur Verantwortlichkeit des Eigentümers Grundstücks z. B. OVG Münster, DVB1. 1971, 828.
für
die
Sauberkeit
seines
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m i n i m u m " 4 2 festgelegt, nämlich darauf, daß das Grundstück entweder ordnungsgemäß beweidet oder mindestens einmal jährlich abgemäht werden muß, und zwar so rechtzeitig, daß die Nutzung benachbarter Grundstücke nicht, namentlich nicht durch schädlichen Samenflug, unzumutbar erschwert wird. Vorschriften dieser A r t 4 3 entsprechen zwar den Erfordernissen der Verhältnismäßigkeit und der Bestimmtheit i n hohem Maße, dürften aber wegen ihres relativ engen Wirkungsbereichs und ihrer geringen Flexibilität nur für begrenzte Anliegen der Umweltgestaltung geeignet sein. Aus diesem Grunde umschreiben die Gesetze die umweltgestaltenden Leistungspflichten und ihre Voraussetzungen zumeist m i t unbestimmten Rechtsbegriffen 44 . So hat ζ. B. bei der Rekultivierungspflicht derjenige, der durch einen Eingriff i n Natur oder Landschaft den Naturhaushalt oder das Landschaftsbild erheblich 45 beeinträchtigt, diese Beeinträchtigung zu beseitigen oder abzugleichen. Die Unbestimmtheit dieser Formulierung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da sie genügend Anhaltspunkte für eine Konkretisierung bietet und damit den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normklarheit und Justitiabilität entspricht 46 . Wenn der Gesetzgeber gleichwohl Beispiele für relevante Eingriffe anführt 4 7 oder den Umfang der gebotenen Rekultivierungsmaßnahmen näher bestimmt 4 8 , so erleichtert er die Rechtsanwendung, was zumindest i n den Fällen nützlich ist, i n denen die Verpflich42
Storm , AgrarR 1973, 103. Vgl. auch § 4 Abs. 1 Hess.LPflG, der die für die Rekultivierungspflicht relevanten Eingriffe in Natur und Landschaft abschließend fixiert. 44 Vgl. die Zusammenstellung von C. H. Ole, Unbestimmte Begriffe und Ermessen im Umweltschutzrecht, DVB1. 1973, 756. 45 § 7 LPflegG.Schl.-Holst.; andere Gesetze enthalten gleichbedeutende Bezeichnungen wie „wesentlich", „schwerwiegend", „nachteilig", „nachhaltig". 46 BVerfGE 21, 73 (79). Das gleiche gilt für die Regelung der Modernisierungspflicht (§ 21 StBauFG). Vgl. dazu Schmidt-Aßmann, S. 241; L. Birnbaum, Die Entschädigung für Planungsschäden nach dem Bundesbaugesetz und Art. 14 Grundgesetz (Diss. Kiel 1972), S. 87; Söfker, S. 142; H. Clasen, Die drei Gebote des Städtebauförderungsgesetzes, NJW 1973, 1249 (1254); a. A. Seilmann, S. 52. 47 § 7 LPflegG.Schl.-Holst. nennt u. a. Abbau von Bodenschätzen, Abgrabungen oder Aufschüttungen, Errichtung von Bauten, Straßen, Lager- oder Zeltplätzen oder von Einfriedungen im Außenbereich, Lagerung von Abfällen, Ausbau von Gewässern, Errichtung von Freileitungen, Entwässerung von Mooren oder Sümpfen. 48 Nach § 8 Abs. 1 Satz 2 LPflegG.Schl.-Holst. und § 4 Hess.LPflG sollen die Maßnahmen bewirken, daß keine Schäden im Landschaftshaushalt zurückbleiben und das Landschaftsbild erhalten, wiederhergestellt oder neu gestaltet wird. 43
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tung dem Einzelnen nicht durch einen individualisierenden Verwaltungsakt, sondern unmittelbar durch Gesetz auferlegt wird. Besondere Probleme treten bei jenen umweltgestaltenden Leistungspflichten auf, die nicht wie die handlungsbedingte Rekultivierungspflicht an ein Verhalten des Verpflichteten anknüpfen, sondern als zustandsbedingte Leistungspflichten darauf gerichtet sind, einen sozialadäquaten, insbesondere situations- und funktionsgerechten Grundstückszustand herzustellen und zu erhalten, also etwa brachliegende Grundstücke zu pflegen, Ödland aufzuforsten, i n einem Sanierungsgebiet liegende Baugrundstücke zu bebauen (§ 20 StBauFG) oder Gebäude m i t baulichen Mängeln zu modernisieren (§ 21 StBauFG). Hier soll ein ökologisch oder städtebaulich erwünschter Zustand erreicht, eine bestimmte Zielvorstellung realisiert werden. Daher impliziert die Regelung zustandsbedingter Leistungspflichten i n ihren unbestimmten Gesetzesbegriffen vielfach zukunftsorientierte Lenkungs- und Gestaltungsfunktionen. Als Beispiel sei die Aufforstungspflicht nach § 14 des Landesforstgesetzes von Rheinland-Pfalz erwähnt, die zur Voraussetzung hat, daß die Aufforstung von Öd- oder Brachland „aus landespflegerischen Erfordernissen i m überwiegenden öffentlichen Interesse liegt". Die Interpretation solcher unbestimmten Begriffe bedarf prognostischer Wertung, insbesondere i m Hinblick auf die künftige Entwicklung und die anzustrebende Gestaltung des jeweiligen Gebietes. Die dazu nötigen authentischen Informationen lassen sich heute vor allem aus den Plänen gewinnen, die die erwünschte sozialadäquate Ordnung und Gestaltung des Raumes ausweisen und damit verbindliche Orientierungsmaßstäbe für die Anforderungen an einen situationsund funktionsgerechten Zustand der Grundstücke i m Plangebiet setzen 49 . So kann beispielsweise aus dem jeweiligen Landschaftsplan gemäß § 11 Landespflegegesetz von Rheinland-Pfalz ermittelt werden, ob i n einem konkreten Fall die Aufforstung eines brachliegenden Grundstücks aus landespflegerischen Erfordernissen i m überwiegenden öffentlichen Interesse liegt 5 0 . Bei einigen Leistungspflichten ist die Planakzessorietät ausdrücklich i m Gesetz festgelegt worden. Nach § 20 StBauFG kann ein Baugebot nur für Grundstücke i n einem Sanierungsgebiet und nur gemäß den Festsetzungen eines rechtswirksamen Bebauungsplanes ergehen 51 . Das 49
W. Weber, Planende Verwaltung als Aufgabe der Gegenwart, S. 13,19. Auch die Rechtsprechung zum Grundstückverkehrsgesetz vom 28. 7. 1961 (BGBl. I S. 109) zeigt, daß das Problem unbestimmter Gesetzesbegriffe durch Ausfüllen mit Planaussagen befriedigend gelöst werden kann; vgl. H. Ebersbach, Das Grundstückverkehrsrecht im Wandel der Agrarstrukturpolitik, Berichte über Landwirtschaft, Bd. X L I X (1971), S. 550 (558, 565). 51 Dazu Schmidt-Aßmann, S. 238, Clasen, NJW 1973, 1253. 50
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Hessische Landschaftspflegegesetz bestimmt, daß die Grundstückspflegepflicht nur für solche Flächen besteht, die i n einem Landschaftsplan gemäß § 3 Abs. 5 Hess.LPflG als Grünflächen oder als Flächen für Land- oder Forstwirtschaft ausgewiesen sind 5 2 . Überdies ist der Landschaftsplan auch für Inhalt und Umfang der Pflegepflicht maßgebend 53 . Die Vorzüge solcher planakzessorischen Konstruktionen sind evident; denn damit erlangt die gesetzliche Regelung sowohl eine für umweltgestaltende Leistungspflichten praktikable Flexibilität als auch die unerläßliche Gewähr der Verhältnismäßigkeit und Voraussehbarkeit. IV. Für die Beurteilung der Entschädigungsbedürftigkeit umweltgestaltender Leistungspflichten fehlen allgemein anerkannte, verläßliche Maßstäbe. Die gesetzlichen Regelungen divergieren, zum Teil begnügen sie sich mit Härteklauseln 5 4 . Nach allgemeinem Verwaltungsrecht sind die öffentlichen Leistungen i n der Regel unentgeltlich zu erbringen, da sie entweder alle Verpflichteten i n gleicher Weise treffen (gemeine Lasten) oder einen Ausgleich für besondere Vorteile darstellen (Vorzugslasten). Nur wenn i m Widerspruch zum Gleichheitssatz eine individuelle Sonderleistung verlangt wird, steht dem Verpflichteten ausnahmsweise ein öffentlich-rechtlicher Entschädigungsanspruch zu, der als Aufopferungsanspruch (§ 75 Einl. z. preuß. ALR), neuerdings auch als Anspruch auf Enteignungsentschädigung bezeichnet w i r d 5 5 . Abgesehen davon, daß die Auferlegung einer Leistungspflicht, mit der weder Güter weggenommen noch Rechte beschränkt werden, schon begrifflich keine Enteignung darstellt 5 6 , kommt hier als Entschädigung nicht oder nicht nur ein Wertausgleich für i n Anspruch genommene Sachgüter oder Rechte i n Betracht, sondern vor allem eine Abgeltung von Aufwendungen und ein Ersatz von Auslagen 57 . Immerhin gleicht die Auferlegung einer umweltgestaltenden Leistungspflicht i n ihrer wirtschaftlichen Wirkung regelmäßig einer eigentumsbeschrän52
§ 5 Abs. 1 Hess.LPflG. § 5 Abs. 1 Satz 2 Hess.LPflG i. V. m. § 3 DVO vom 27. 7.1973 (GVB1. I. S. 320). 54 Vgl. z. B. § 5 Abs. 5 Hess.LPflG, § 12 Abs. 2 LPflG-Entw. der BReg. 55 B G H Z 28, 310 (312); J. F. Bartels, öffentlich-rechtliche dingliche Rechte und dingliche öffentliche Lasten (1970), S. 157; H. P. Ipsen, Gesetzliche I n dienstnahme Privater, S. 155; F. Schach, Die öffentliche Last im Enteignungsrecht. DVB1. 1967, 280; W. Weber, HdSW, Bd. 6, S. 574; H. J. Wolff, § 42 I I und V. 56 B G H M D R 1958, 493; B G H DÖV 1960, 463. 57 Ipsen, a.a.O., S. 156, 158. 53
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kenden Unterlassungs- oder Duldungspflicht 5 8 , so daß sich hier für die Abgrenzung zwischen entgeltlich und unentgeltlich zu bewirkenden Leistungen enteignungsrechtliche Grundsätze heranziehen lassen. Danach löst die Auferlegung einer Leistungspflicht eine Entschädigung aus, wenn sie für den Verpflichteten ein unzumutbares Sonderopfer darstellt 5 9 . Die Grenze der Zumutbarkeit w i r d bei öffentlich-rechtlichen Leistungspflichten, die dem Schutz und der Gestaltung der Umwelt dienen, grundsätzlich nicht überschritten. Bei handlungsbedingten Leistungspflichten wie der Rekultivierungs- oder der Wiederaufforstungspflicht ist dies ohne weiteres einsichtig; denn hier w i r d lediglich i m Sinne des Verursacherprinzips verlangt, daß der Verpflichtete die von i h m selbst hervorgerufenen erheblichen Beeinträchtigungen der Umwelt, namentlich des Naturhaushalts oder des Landschaftsbildes, wieder beseitigt oder ausgleicht, so daß i h m i m Regelfall sogar eine Belastung m i t hohen Kosten zuzumuten ist 6 0 . Auch die zustandsbedingten Leistungspflichten sind prinzipiell unentgeltlich zu erfüllen. Von ihnen liegen die meisten nicht nur i m Interesse der Allgemeinheit, sondern vorwiegend auch i m Interesse des Verpflichteten selbst, da sie zu einer Steigerung des Grundstückswertes oder der Grundstückserträge führen 6 1 . Das ist beispielsweise bei der Baupflicht und der Modernisierungspflicht der §§ 20, 21 StBauFG oder bei der forstgesetzlichen Pflicht zur Ödlandaufforstung der Fall. M i t der Erfüllung dieser Pflichten w i r d i n der Regel kein wirkliches Opfer gebracht, so daß nur ausnahmsweise eine unzumutbare wirtschaftliche Belastung des Grundeigentümers anzuerkennen ist, namentlich bei ungewöhnlich hohen, seine Leistungsfähigkeit übersteigenden Aufwendungen. Das Städtebauförderungsgesetz trägt dem i n § 43 dadurch Rechnung, daß es die Belastung des Eigentümers m i t Modernisierungskosten unter Bezugnahme auf dessen Finanzierungsmöglichkeiten und auf die Höhe der Grundstückserträge limitiert. Bei der Baupflicht hat der Eigentümer nach § 20 Abs. 1 StBauFG gegen die Gemeinde einen Anspruch auf Übernahme des Grundstücks, wenn ihm eine tragbare Finanzierung nicht möglich ist 6 2 . Problematisch ist die Anwendung dieses Maßstabes allerdings bei solchen Leistungspflichten, die wie die Pflicht zur Pflege ungenutzter 58
Weber, Die Dienst- und Leistungspflichten der Deutschen, S. 114. BVerwGE 5, 143; B G H Z 54, 296; 60, 130; BayVerfGH. DÖV 1965, 820. 60 B G H Z 60, 126 (143). 61 BVerwGE 7, 297 (299); O V G Lüneburg, DÖV 1961, 623 (625); W. Weber, a.a.O., S. 136; abweichend O V G Münster, OVGE 23, 112 (116). 62 Ausführlicher Schmidt-Aßmann, S. 238, 241. 59
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Grundstücke ausschließlich oder überwiegend i m Interesse der A l l gemeinheit liegen, deren Kosten aber die Nutzungen des Grundstücks übersteigen. Für prinzipielle Unentgeltlichkeit könnte hier die Überlegung sprechen, daß es sich bei der Grundstückspflegepflicht, die auf Herstellung und Erhaltung eines sozialadäquaten Grundstückszustandes gerichtet ist, grundsätzlich u m eine dem Grundeigentum immanente Sozialpflichtigkeit handelt, die sich aus der ökologischen Funktion und der naturgegebenen Lage des Grundstücks i n der Landschaft ergibt. Neuerdings ist sogar darüber hinaus die Auffassung vertreten worden, daß aus der Sozialpflichtigkeit eine Verpflichtung zur Grundstücksnutzung herzuleiten sei 63 . Es mag hier dahingestellt bleiben, ob sich eine so weitreichende Eigentumsbindung mit der grundsätzlichen Wertentscheidung des Grundgesetzes zugunsten des Privateigentums und der Privatautonomie vereinbaren läßt. Zumindest kann dieser Auffassung für den ländlichen Bereich nicht gefolgt werden, da sie i m Widerspruch zu dem landwirtschaftlichen Strukturwandel steht, bei dem regelmäßig Grenzertragsböden und andere unrentable land- oder forstwirtschaftliche Grundstücke in erheblichem Umfang ungenutzt bleiben. I n der gegenwärtigen agrarwirtschaftlichen Situation erfordert das Gemeinwohlinteresse keine Bewirtschaftung, sondern allenfalls eine Pflege solcher Brach- und ödflächen oder Berg- und Waldwiesen, die aus ökologischen Gründen nicht dem natürlichen Bewuchs überlassen werden können. Die hiernach erforderliche situationsbedingte Pflicht zur Grundstückspflege liegt i m Rahmen der Sozialpflichtigkeit, es sei denn, daß sie für den Verpflichteten wirtschaftlich unzumutbar ist. Für die Ermittlung der Zumutbarkeitsgrenze ist davon auszugehen, daß Eingriffe i n die Substanz des Eigentums enteignenden Charakter haben, da sie die Privatnützigkeit des Eigentums 6 4 aufheben und damit das Eigentum seinem Zweck entfremden 65 . Hiernach ist dem Grundeigentümer eine öffentliche Leistung nur insoweit unentgeltlich zuzumuten, als die dadurch verursachten Arbeits-, Kapital- und Folgekosten aus den Nutzungen, insbesondere aus den Erträgen des Grundstücks, vielleicht auch aus dessen Wertzuwachs gedeckt werden können 6 6 . Diesem Maßstab entspricht die Regelung der Grundstückspflegepflicht i n einigen Lan-
63 W. Rüfner, JuS 1973, 593 (595); dagegen BVerwG-Urteil vom 2.3.1973, BauR 1973, 166; Götz, S. 35. 64 R. Reinhardt, in Reinhardt - Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums (1954), S. 14. 65 E. R. Huber, Ztschr. f. d. ges. Staatswiss., Bd. 96 (1936), S. 463; W. Weber, Eigentum und Enteignung, in: Die Grundrechte, Bd. 2 (1954), S. 374. 66 I n diesem Sinne BVerwGE 7, 297 (300); BVerwG M D R 1969, 333.
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desgesetzen. Da nämlich Brachflächen i m allgemeinen keine Nutzungen gewähren, die für ihre Pflege eingesetzt werden könnten, ist die A u f gabe der Grundstückspflege i n Bayern (Art. 5 NatSchG) und RheinlandPfalz (§ 5 LPflG) der staatlichen Verwaltung, i n Schleswig-Holstein (§ 13 LPflegG) den Gemeinden übertragen und den Grundstückseigentümern lediglich eine Duldungspflicht auferlegt worden. Indessen kennt das geltende Recht (ζ. B. i n der polizeirechtlichen Zustandshaftung) ausnahmsweise auch Pflichtenbindungen des Grundeigentums, die den Eigentümer u. U. mit Kosten belasten, denen keine entsprechenden Nutzungen gegenüberstehen. Die Zumutbarkeit solcher gesteigerten Belastungen ist abhängig von dem Gewicht des Gemeinschaftsinteresses an der geforderten Leistung 6 7 . Die Grundstückspflegepflicht dient der Sicherung einer gesunden Umwelt, an deren Herstellung, Erhaltung und Entwicklung ein Gemeinschaftsinteresse höchsten Ranges 68 besteht, da es sich bei ihr u m ein von der jeweiligen Politik des Gemeinwesens unabhängiges „absolutes" Gemeinschaftsgut 69 handelt. Ein vernünftiger und einsichtiger Eigentümer w i r d von sich aus die notwendigen und i n seinen Kräften stehenden Maßnahmen treffen, u m zu verhindern, daß der Zustand seines Grundstücks den Naturhaushalt oder das Landschaftsbild schädigt oder wesentlich beeinträchtigt; denn Schutz, Pflege und Gestaltung von Natur und Landschaft bilden angesichts der ständig steigenden Anforderungen der modernen Industriegesellschaft an die natürliche Umwelt zwingende, jedermann einleuchtende Erfordernisse einer sinnvollen, dem Wohle der Allgemeinheit dienenden Ordnung 7 0 . Demzufolge erscheint es gerechtfertigt, daß sowohl nach dem Hessischen Landschaftspflegegesetz als auch nach dem Landwirtschafts- und Landeskulturgesetz von Baden-Württemberg die Grundstückspflegepflicht grundsätzlich unentgeltlich zu erfüllen ist, und zwar auch dann, wenn die Pflegekosten aus den Nutzungen des Grundstücks nicht gedeckt werden können 7 1 . Solche Opfer für das Gemeinwohl sind den Grundeigentümern allerdings nur unter Berücksichtigung ihrer Leistungsfähigkeit zuzumuten. Diese oberste Belastungsgrenze ist mangels ausdrücklicher Normierung aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz herzuleiten. Überdies ist sie für eine der Grundstückspflegepflicht ähnliche Leistungspflicht des Denkmalschutzrechts gesetzlich fixiert wor-
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BVerfGE 30, 292 (316). BVerfGE 25, 1 (16). BVerfGE 13, 97 (107). Β GHZ 23, 30 (33); 60, 126 (130). Ebenso § 12 LPflG.-Entw. der BReg.; vgl. auch BVerwG M D R 1969, 333.
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den, nämlich für die den Eigentümern von Baudenkmälern obliegende Instandhaltungs- und Erhaltungspflicht 7 2 . Die Rücksichtnahme auf die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten trägt zugleich den Erfordernissen des Gleichheitssatzes Rechnung 73 ; denn damit w i r d bei der Entscheidung über die Entschädigung auf die konkreten wirtschaftlichen Verhältnisse abgestellt, so daß unzumutbare Härten vermieden werden. Die Grundstückspflegepflicht t r i f f t zwar alle Eigentümer, die ihr Grundstück nicht nutzen, i n gleicher Weise, aber sie führt zu einer ungleichen Belastung der Leistungspflichtigen, da deren wirtschaftliche Verhältnisse sehr unterschiedlich sind. Vor allem für landwirtschaftliche Betriebe i n sog. Problemgebieten, die wegen ihres großen Anteils an Grenzertragsböden und Brachflächen ohnehin benachteiligt und existenzgefährdet sind, bedeutet die Pflicht zu unentgeltlicher Grundstückspflege vielfach eine stärkere wirtschaftliche Belastung 74 als für leistungsfähige landwirtschaftliche Betriebe m i t geringem Brachlandanteil oder für Nichtlandwirte, die die Grundstücke als Kapitalanlage, Bauerwartungsland, Ferien- und Wochenendgrundstücke, Reserveflächen für Betriebserweiterungen u. ä. erwerben und unbewirtschaftet liegen lassen. Nach alledem kann m i t Rücksicht auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und auf das Gleichheitsgebot die Grundstückspflege nur insoweit unentgeltlich gefordert werden, als sie die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten und damit das Maß der zumutbaren wirtschaftlichen Belastung nicht überschreitet. Über diese Grenze hinaus darf der Eigentümer prinzipiell nicht i n Anspruch genommen werden, da das neue Landschaftspflegerecht für diese Fälle keine Entschädigungsregelung aufweist. Statt dessen sehen die Gesetze vor, daß anstelle des leistungsunfähigen oder auch leistungsunwilligen Eigentümers die zuständige Behörde oder die Gemeinde die Pflegemaßnahmen durchführt, und zwar entweder auf eigene Kosten 7 5 oder als Ersatzvornahme, wobei i n Härtefällen auf die Kostenerstattung verzichtet werden kann 7 6 . Eine Sonderregelung enthält § 5 Abs. 6 des Hessischen Landschaftspflegege72
Art. 4, 22 Bay.DenkmSchutzG vom 25.6.1973 (GVB1. S. 328); vgl. auch § 6 DenkmSchutzG. Bad.-Württ. vom 25. 5.1971 (GBl. S. 209), § 12 DenkmSchutzG.Schl.-Holst. i. d. F. vom 18.12.1972 (GVB1. S. 165); dazu Th. Adriani, Das Recht der Kulturdenkmalpflege (Diss. Göttingen 1962), S. 82,105; H. Dörge, Das Recht der Denkmalpflege in Baden-Württemberg (1971), Anm. zu § 6. 73 Dazu W. Weber, HdSW, Bd. 6, S. 574; F. Ossenbühl, S. 182; BVerfGE 30, 292 (332); Β G H Z 28, 310 (312). 74 Die Kosten für das Abmähen betragen 50 bis 400 D M je Hektar; P. C. Storm, AgrarR 1973, 103, Fn. 68. 75 § 27 Abs. 2 LLG. Bad.-Württ.; dazu Storm, ebd. 76 § 5 Abs. 2 - 5 Hess.LPflG, ebenso § 12 Abs. 2 LPflG.-Entw. d. BReg.
H a r r y Ebersbach
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setzes, nach dem der Eigentümer berechtigt ist, vom Staat die Übernahme des Grundstücks zum Verkehrswert zu verlangen, wenn er aus finanziellen oder persönlichen Gründen außerstande ist, seiner Pflegepflicht nachzukommen. Dieser Übernahmeanspruch ist eine m i t Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG zu vereinbarende, besondere Form eines Entschädigungsanspruchs 77 .
77
B G H Z 50, 93 (97).
Ein internationales Menschenrecht auf Schutz der Umwelt? Von Dietrich Rausehning I. Die Sorge für eine menschenwürdige Umwelt und damit der Umweltschutz ist heute unumstritten eine wesentliche Aufgabe der öffentlichen Gewalt 1 . Auch wenn der Umweltschutz als modische Welle verebbt und der Energiemangel der Öffentlichkeit als Beispiel die Alternative, rauchlos zu frieren, vor Augen führt, kann das Bemühen u m den Schutz der Umwelt nicht i n Frage gestellt werden. I n den letzten Jahren hat sich zudem die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Probleme des Umweltschutzes den nationalen Rahmen überschreiten und ihre Lösung i n international organisierter Zusammenarbeit zu betreiben ist 2 . Diese Erkenntnis findet ihren Ausdruck i n der zunehmenden Tätigkeit internationaler Organisationen i n diesem Bereich 3 , die i n der Stockholmer Umweltkonferenz der Vereinten Nationen am deutlichsten i n die Öffentlichkeit trat 4 . Einzelaspekte des U m weltschutzes werden nach mühseligen diplomatischen Verhandlungen i n internationalen Konventionen geregelt 5 . Die mangelnde Effektivität der Fischschutzabkommen oder auch des Übereinkommens zur Verhü1
Siehe dazu W. Weber, Umweltschutz im Verfassungs- und Verwaltungsrecht, DVB11971, S. 806. 2 Zu den Gründen siehe Rausehning, Umweltschutz als Problem des Völkerrechts, Europa-Archiv 1972, S. 567 f. 3 Eine Übersicht darüber gibt H. van E dig, Koordinierung nationaler und internationaler Maßnahmen zum Umweltschutz, Referat auf der Arbeitstagung des Instituts für Völkerrecht Göttingen zum internationalen Umweltrecht, November 1973; davor zusammenfassend der Bericht des UN-Generalsekretärs, Problems of the Human Environment vom 26. M a i 1969, — E/4667 — und die entsprechenden Berichte zur Stockholmer Konferenz vom 10. Januar 1972, A/Conf. 48/11 und vom 17. Dezember 1971, A/Conf. 48/12. 4 Materialien der Konferenz A/Conf. 48/1-14; Bericht der Konferenz A / Conf. 48/14 vom 3. Juli 1972. 5 Siehe dazu Th. Oppermann, Gesetzte Normen des Völkerrechts zum Umweltschutz und die Grundlagen und Verfahren ihres Erlasses und E. Diez, Internationaler Gewässerschutz als europäisches Problem, Referat auf der Arbeitstagung des Instituts für Völkerrecht Göttingen zum internationalen Umweltrecht, November 1973.
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tung der Verschmutzung der See durch ö l von 19546 zeigen aber zum einen den nur erreichbaren beschränkten Regelungsumfang und zum anderen die Schwierigkeiten der Durchsetzung. I m internationalen Bereich gilt verstärkt die von Werner Weber für die nationale Rechtsordnung zum Ausdruck gebrachte Erkenntnis, daß die Rechtsetzung für sich allein zumeist nur wenig auszurichten vermöge, sondern daß die executivische Durchsetzung der darin ausgeformten Gebote, Verbote und Gestaltungsinitiativen entscheidend sei 7 . Angesichts dessen erscheint auf den ersten Blick die Lösung bestechend, die langwierigen diplomatischen Verhandlungen u m zwischenstaatliche Regelungen dadurch weitgehend zu ersetzen, daß international dem Individuum ein Menschenrecht auf Umweltschutz zuerkannt wird; dieses Individualrecht soll national und dann international gerichtlich verfolgbar sein. A u f diese Weise w i r d zum einen die Durchsetzung i n die Initiative der betroffene Individuen vor nationalen und internationalen Organen gelegt, zum anderen sollen i n den so eingeleiteten Verfahren die Kriterien und Maßstäbe für die Umweltschutzanforderungen i m Wege einer Spruchpraxis maßgebend für alle Konventionsstaaten entwickelt werden. A m weitesten zielt i n diese Richtung der Vorschlag, ein Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention über das Recht auf eine menschenwürdige Umwelt abzuschließen. Der Vorschlag wurde auf den Bericht von H. Steiger h i n vom Arbeitskreis für Umweltrecht (Bonn) verabschiedet und von Bundesminister Genscher m i t seiner Rede auf der Umweltministerkonferenz des Europarats i n Wien vorgelegt 8 . Allerdings erscheint es nicht angebracht, vor allem diesen Vorschlag daraufhin zu untersuchen, ob er verwirklicht werden kann oder sollte. Eine vorwiegende Beschäftigung m i t i h m verengte die Fragestellung nach der menschenrechtlichen Sicherung des Umweltschutzes, ist er doch nur ein Teil i n der politischen und juristischen Diskussion u m eine solche Sicherung. II. Während bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges das Völkerrecht sich praktisch nicht m i t dem Verhältnis der Staaten zu ihren Bürgern be6
BGBl 1956 I I 381; U N T S Bd. 327, S. 3. So W. Weber (Anm. 1), S. 806. Dokument vorgelegt aus Anlaß der Rede von Bundesminister H. D. Genscher: Das Recht auf eine menschenwürdige Umwelt — Vorschlag eines Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention vom Arbeitskreis für Umweltrecht; veröffentlicht in der Reihe Beiträge zur Umweltgestaltung, Heft A 13, Berlin 1973. Siehe insbesondere die Begründung, Veröffentlichung S. 44. 7
8
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schäftigte — die Arbeitsschutzkonventionen i m Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation waren zugleich Verpflichtungen der Staaten untereinander aus Gründen des Wettbewerbs auf internationalen Märkten — ist seit diesem Zeitpunkt entsprechend dem 2. Absatz der Präambel und Art. 1 Abs. 3 der UN-Charta die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten u m der Würde und des Werts der Persönlichkeit des Menschen w i l l e n Gegenstand zwischenstaatlicher Vereinbarungen. I n der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNGeneralversammlung 9 findet sich unter den als Abwehrrechte gegen die öffentliche Gewalt formulierten Freiheitsrechten der A r t i k e l 3 - 2 0 kein Ansatz für ein Recht auf Umweltschutz. Die Grundsätze der A l l gemeinen Erklärung wurden i n der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 zu Völkervertragsrecht 10 . Schwerlich können das Recht auf Leben (Art. 2 I) oder das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 3) als Kern eines auf Umweltschutz gerichteten Rechts angesehen werden. Gleichermaßen ist i n dem UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 196611 aus dem Recht auf Leben (Art. 6 I) und dem Verbot der inhumanen oder erniedrigenden Behandlung kein Individualrecht i m Bereich des Umweltschutzes abzuleiten. Schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formulierte Ansprüche jedes Menschen auf soziale Leistungen. I n A r t . 25 I heißt es: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung (standard of living), die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden . . . gewährleistet." Solch allgemeine Leistungsansprüche sind nicht i n die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder i n den UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte aufgenommen worden. Sie finden sich wieder i m UN-Pakt über w i r t schaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16. Dezember 196612. Schon A r t i k e l I I I kann den Bereich des Umweltschutzes betreffen: (1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten unternehmen geeignete Schritte, um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten.
I n A r t i k e l 12 w i r d dann das Wort Umwelt ausdrücklich genannt: (1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an. 9
Text bei Berber, Völkerrechtliche Verträge, 1973, S. 149. Text bei Berber (Anm. 9), S. 160. 11 Deutsch bei Khol, Der Menschenrechtskatalog der Völkergemeinschaft, Wien 1968; jetzt auch Bundesratsdrucksache 304/73. 12 Text bei Khol (Anm. 11) und Bundesratsdrucksache 305/73. 10
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(2) Die von den Vertragsstaaten zu unternehmenden Schritte zur vollen Verwirklichung dieses Rechts umfassen die erforderlichen Maßnahmen zur Verbesserung aller Aspekte der Umwelt- und der Arbeitshygiene;
Die Formulierungen der beiden A r t i k e l zeigen schon, daß es sich bei den genannten Rechten u m Gestaltungsaufgaben der Konventionsstaaten gerade auch i m Interesse des einzelnen Bürgers handelt. Aus dem Wortlaut der Vorschriften und der Eingangsverpflichtung i n A r t . 2 I, „unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen,"
ist jedoch zu entnehmen, daß es sich nicht u m einen self-executingVertrag handelt, der den Bürgern unmittelbare Rechte zuerteilt. Es w i r d ein Ziel für die staatliche Tätigkeit gesteckt, und es ist gemäß A r t . 16 I über den erzielten Fortschritt bei den hierin anerkannten Rechten zu berichten. Entsprechend enthält die Konvention keine Bestimmungen über ein Durchsetzungsverfahren auf Initiative des Einzelnen. Es darf also nicht übersehen werden, daß dieses „Anerkennen von Rechten" keine den liberalen Menschenrechten vergleichbare Rechtspositionen schafft. — Ein Menschenrecht auf Umweltschutz selbst i n dem verhältnismäßig bescheidenen Rahmen und bei der dort bevorzugten Unschärfe der Formulierungen in den A r t . 11 und 12 ist zudem nicht international gesichert, weil für das Inkrafttreten dieser Konvention nach ihrem A r t . 27 erforderlich ist, daß 35 Staaten die Ratifikations- oder Beitrittsurkunde hinterlegen; bislang ist sie nicht i n K r a f t getreten, bis Mitte 1973 hatten erst 19 Staaten die Konvention angenommen. Seit 1965 ist dagegen i n K r a f t die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 196113. Von ihrem Inhalt her ist sie als völkerrechtlicher Vertrag nicht self-executing, sondern verpflichtet die Vertragsstaaten zu einem bestimmten Verhalten; sie schafft nicht subjektiv-öffentliche Rechte, sondern enthält den näher spezifizierten Auftrag zu einer Sozialgestaltung 14 . A u f den Umweltschutz bezogen enthält sie nach Teil I Ziff. 11 die Verpflichtung, „eine Politik zu verfolgen, die darauf abzielt, geeignete Voraussetzungen zu schaffen, damit die tatsächliche Ausübung der folgenden Rechte und Grundsätze gewährleistet ist: 13 14
97.
BGBl. 1964 I I , 1262. So z.B. H. Schambeck,
Grundrechte und Sozialordnung, 1968, S. 79ff.,
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11. Jedermann hat das Recht, alle Maßnahmen in Anspruch zu nehmen, die es ihm ermöglichen, sich des besten Gesundheitszustandes zu erfreuen, den er erreichen kann.
I n A r t . 11 des Teiles I I heißt es dann um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Schutz der Gesundheit zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien, . . . geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die u. a. darauf abzielen, 1. soweit wie möglich die Ursachen von Gesundheitsschäden zu beseitigen;
Nach der vom Ministerkomitee des Europarats gegenüber dem nach A r t . 25 gebildeten Sachverständigenausschuß 1970 geäußerten Ansicht kann darin die Grundlage gesehen werden, das Verhalten der Staaten i m Bereich der Gesundheitssicherung durch Umweltschutz zu überwachen. Der Sachverständigenausschuß räumte zwar ein, daß i n jenem A r t i k e l allgemeine Verpflichtungen betreffend den Schutz der Umwelt enthalten seien, war dennoch aber davon überzeugt, daß die Formulierung keine ins Einzelne gehende Maßnahmen rechtfertige 15 . Der Sachverständigenausschuß hat bei der Prüfung der nach A r t . 21 der Sozialcharta vorzulegenden nationalen Berichte der ersten beiden Berichtsperioden keine Ausführungen zum Umweltaspekt des A r t . 11 gemacht und auch das Fehlen von Angaben darüber i n den nationalen Berichten nicht beanstandet; auch i n den Bemerkungen des Regierungssozialausschusses nach Art. 27 findet sich nichts darüber 1 6 . I n der gegenwärtigen Praxis hat der einzige vielleicht einschlägige A r t i k e l der Sozialcharta also keinen Einfluß auf den Umweltschutz i n den Vertragsstaaten. Dem Inhalt nach gewährte er zudem eben kein individuelles Menschenrecht i m Sinne1 eines subjektiv-öffentlichen Rechtes. Nicht i n einer Konvention, sondern i n einer Allgemeinen Erklärung ist jüngst ein fundamentales Recht auf Leben i n einer menschenwürdigen Umwelt festgestellt worden: i n der Erklärung der UN-Konferenz über die Umwelt des Menschen i n Stockholm vom 16. Juni 1972 geben die 113 vertretenen Staaten ihrer gemeinsamen Überzeugung i n den 15 Siehe für das Ministerkomitee CM/Del/Coud. (70) 191, Item I X (b), S. 37; Antworten EXP/Ch. Soc (70) 8, S. 4; dazu siehe auch die Vorlage des Sekretariats zur Wiener Ministerkonferenz CM. Env/CO (73) 16. 16 Siehe Council of Europe, Committee of Independent Experts on the European Social Charter, Conclusions I, Straßburg 1969/70, S. 59 ff.; Conclusions I I , Straßburg 1971, S. 45; Governmental Committee of the European Social Charter, Report containing the conclusions, CE/Ch. Soc. (70) 24 Final und Second Report containing the conclusions . . . , CG/Ch. Soc (72) 40.
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formulierten Prinzipien Ausdruck. Als Principle 1 steht i n der Erklärung: Man has the fundamental right to freedom, equality and adequate conditions of life, in an environment of a quality that permits a life of dignity and well-being, and he has a solemn responsibility to protect and improve the environment for present and future generations. I n this respect, policies promoting or perpetuating apartheid, racial segregation, discrimination, colonial and other forms of oppression and foreign domination stand condemned and must be eliminated.
Schon die Bezeichnung des Subjekts zeigt, daß die erklärenden Staaten w o h l kaum an ein Menschen- oder Grundrecht als Individualrecht gedacht haben. Während i n der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der UNO von 1948 wie auch i n den Menschenrechtspakten von 1966 der Rechtsinhaber stets als „everyone, all, every human being" oder verneinend „no one" bezeichnet wird, heißt es i m Principle 1 „Man", was hier als „Die Menschheit" zu übersetzen ist 1 7 . Damit w i r d aber deutlich, daß es sich u m einen politischen Grundsatz und nicht u m ein subjektives Recht handeln soll; der Gebrauch des Ausdrucks „fundamental right" zeigt, daß einem politischen Prinzip m i t der Bezeichnung „Recht" eine gewisse Erhabenheit beigelegt werden soll und heute noch kann, dem Menschen oder der Menschheit w i r d damit dennoch kein subjektives Recht eingeräumt. Eine Erklärung einer Staatenkonferenz ist zudem keine Rechtsquelle; diese Erklärung ist nicht einmal Anhaltspunkt für eine Rechtsüberzeugung, auf der sich völkerrechtliches Gewohnheitsrecht entwickeln könnte, da sie deutlich als politische Aussage über ein für die Menschheit anzustrebendes Ziel beschlossen ist. Diese Übersicht läßt erkennen, daß ein Recht des Einzelnen auf eine menschenwürdige Umwelt international nicht gewährleistet ist. Das gilt i m engeren Sinne derart, daß keine allgemeine menschenrechtliche Konvention ein subjektiv-öffentliches Recht auf Schutz oder Erhaltung der Umwelt gewährt, noch ist i n zwischenstaatlichen Verpflichtungen zur Formulierung von Staatsaufgaben i m Interesse des Einzelnen der Umweltschutz hinreichend bestimmt genannt. Parallel ist darauf hinzuweisen, daß bisher kein Staat einen subjektiven Anspruch des Einzelnen auf Schutz und Verbesserung der Umwelt zu einem Grundrecht der Verfassung ausgestaltet hat 1 8 . Die 17
Bundesminister Genscher spricht in seiner Rede in Wien vom Grundrecht des Menschen (fundamental right sollte man hier auch nicht mit dem Fachausdruck Grundrecht übertragen) und läßt dann in seinem Zitat das Subjekt einfach weg. 18 Für die Mitgliedstaaten des Europarates siehe dazu Das Recht auf eine menschenwürdige Umwelt (Anm. 8), Begründung S. 44.
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Schweiz hat 1971 als A r t i k e l 24 septies eine Bestimmung über Umweltschutz i n die Bundesverfassung aufgenommen: 1) Der Bund erläßt Vorschriften über den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt gegen schädliche oder lästige Einwirkungen. Er bekämpft insbesondere die Luftverunreinigung und den Lärm. 2) Der Vollzug der Vorschriften wird, soweit das Gesetz ihn nicht dem Bund vorbehält, den Kantonen übertragen 19 .
Nach der Formulierung und der Stellung dieses Artikels i n der Bundesverfassung handelt es sich eindeutig u m eine — durch die Kompetenzvermutung zugunsten der Kantone i n A r t . 3 der Bundesverfassung erforderliche — Zuständigkeitsvorschrift. Sie mag zugleich einen Verfassungsauftrag an den Bund enthalten, dem als Staatszielbestimmung auch rechtlich erhebliches Gewicht zukommt 2 0 . Sie verleiht aber kein subjektiv-öffentliches Recht auf Vollzug des angegebenen Programmes. Als Unterstützung einer menschenrechtlichen Konzeption umweltrechtlicher Vorschriften w i r d auch zuweilen auf sec. 101 c des US-amerikanischen National Environment Policy Act 1969 hingewiesen 21 . The Congress recognises that each person should enjoy a healthful environment and that each person has a responsibility to contribute to the preservation and enhancement of the environment 22 .
Dieser Text stellt aber deutlich eine i n Gesetzesform gefaßte Grundsatzaussage dar und zieht den Befund nicht i n Frage, daß auch keine bekannte nationale Umweltgesetzgebung den Weg beschritten hat, ein allgemeines subjektives Individualrecht auf Umweltschutz zu statuieren. III. Die Feststellung, daß ein allgemeines subjektives Recht auf Umweltschutz bisher nicht ausgebildet ist, hat die Bestrebungen, es international menschenrechtlich zu schaffen, nicht etwa entmutigt, sondern eher verstärkt 2 3 . I m Bereich der Erklärungen bleibt der Vorschlag der 1. I n 19
Eidg. Ges. Slg 1971, S. 906. Zum Grundgesetz W. Weber (Anm. 1), S. 806 und zur Geltung Rausehning, Die Sicherung der Beachtung von Verfassungsrecht, 1969, insbesondere S. 22 ff. und 283. 21 So CM. Env/CO (73) 16 f. (Anm. 15), S. 3. 22 42 U. S. C. §§ 4321 ff. ; deutsche Übersetzung in Ausländisches Umweltrecht I, Beiträge zur Umweltgestaltung Heft A 3, 1971, S. 9 ff. mit der zutreffenden Fassung, daß „jedermann . . . sollte". 23 In: Das Recht auf eine menschenwürdige Umwelt (Anm. 8) wird die Notwendigkeit der Erweiterung der Europäischen Menschenrechtskonvention ausdrücklich mit durch diesen Hinweis begründet, S. 43 f. 20
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ternationalen Parlamentarierkonferenz zu Umweltfragen i n Bonn vom Juni 1971, „ein Recht auf eine Umwelt i n bestem Zustand" als ergänzenden Punkt i n die Allgemeine Menschenrechtserklärung der UNO von 1948 aufzunehmen 24 . Unbestritten kommt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 i m Gegensatz zu den UN-Menschenrechtspakten von 1966 — nach deren hinreichender Ratifikation —, zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zur Europäischen Sozialcharta keine rechtliche Verbindlichkeit zu. Wenn die Parlamentarierkonferenz dennnoch gerade die Aufnahme eines „Rechts auf eine Umwelt i m besten Zustand" i n die Allgemeine Erklärung vorschlug, dann i n dem Bewußtsein, daß damit zwar die weitestmögliche Annahme gesichert sein mag 2 5 , daß aber ein solches Recht sich nicht für die Aufnahme i n die Menschenrechtskonventionen eigene oder kaum eine Chance dafür bestehe. I m europäischen Bereich werden die Vorschläge, dem Individuum ein subjektives Recht auf die Erhaltung und den Genuß einer menschenwürdigen Umwelt menschenrechtlich einzuräumen, u m so vorsichtiger, je mehr Entscheidungskompetenz die vorschlagende Einrichtung hat. Die vom Europarat nach Straßburg zum Februar 1970 einberufene Europäische Naturschutzkonferenz m i t rund 350 Sachverständigen und Politikern schlug dem Europarat vor, ein „Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention auszuarbeiten, i n dem jedem das Recht auf eine gesunde und unversehrte Umwelt garantiert w i r d " 2 6 . Die Beratende Versammlung des Europarates empfahl i m Anschluß an die Parlamentarische Konferenz über Menschenrechte i n Wien vom Oktober 1972 dem Ministerkomitee, einen Sachverständigenausschuß einzusetzen; der soll u. a. „consider . . . whether the right to an adequate environment should be raised to the level of a human r i g h t . . ," 2 7 . A u f Ministerebene hat sich die Umweltministerkonferenz des Europarats i n Wien vom 28. - 30. März 1973 m i t der Frage befaßt. I n der vorbereitenden Ausarbeitung aus dem Sekretariat über Legal Protection of the Individual and his Environment w i r d den Ministern vorgeschlagen zu empfehlen, daß das Ministerkomitee ein entsprechendes rechtliches Instrument zum rechtlichen Schutz des einzelnen gegen Umwelt24 Prioritäten für internationale Maßnahmen, Bericht über die 1. Internationale Parlamentarierkonferenz zu Umweltfragen, Beiträge zur Umweltgestaltung Heft A 2, 1971, S. 137. 25 Allerdings haben sich bei der Schlußabstimmung über die Erklärung 1948 die Sowjetunion und drei osteuropäische Staaten sowie zwei andere Staaten enthalten; siehe Sonnewald, Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10.12.1948, 1955, S. 16. 26 Mitteilungen des Europarats 1970, S. 28. 27 Recommendation 683 (1972).
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gefahren ausarbeitet 28 . Auch nachdem Bundesminister Genscher die menschenrechtliche Lösung noch einmal nachdrücklich befürwortet hatte 2 9 , konnten sich die Minister zu einer so entschiedenen Empfehlung nicht entschließen. Selbst der Entwurf der Schlußfolgerungen, der die Empfehlung vorsah, „Die Prüfung der Möglichkeiten . . . i n Betracht zu ziehen" 3 0 wurde weiter relativiert. Die Empfehlung lautet i n der Endfassung: „Die Minister . . . empfehlen dem Ministerkomitee des Europarates . . . (III) unter Berücksichtigung der nationalen Gegebenheiten hinsichtlich des Schutzes der Hechte des Einzelnen eine Untersuchung über die Möglichkeiten zur Ausarbeitung eines einschlägigen Rechtsinstruments zum Zwecke der Definition der Rechte und Pflichten des Einzelnen auf dem Gebiete des U m weltschutzes und der Umweltverbesserung in Betracht zu ziehen,.. ." 3 1
IV. Ein Recht auf eine gesunde Umwelt oder auf deren Schutz kann i n die Europäische Menschenrechtskonvention nur unmittelbar oder i n Form eines Zusatzprotokolls aufgenommen werden, wenn es den Menschenrechten und Grundfreiheiten jener Konvention nach Subjekt, Pflichtträger und Geltungsart entspricht und geeignet ist, auf dem i n der Konvention vorgesehenen Wege national und international durchgesetzt zu werden. Die Europäische Menschenrechtskonvention gewährt nach A r t . 1 allen der Herrschaftsgewalt der Vertragsstaaten unterstehenden Personen unmittelbare, subjektiv öffentliche Rechte gegen die die Herrschaftsgewalt ausübenden Staaten 32 . Die i n der Konvention verbrieften Rechte sind so abgegrenzt, daß ihre Verletzung durch die Staaten national und gegebenenfalls international justiziabel ist 3 3 . So begründet die Konvention gegenüber den Staaten keine Leistungsansprüche, die regelmäßig weitere gesetzliche und administrative Ausgestaltungen voraussetzen und so nicht Gegenstand von self-executing und justiziabelen Konventionsbestimmungen sind 3 4 . Auch enthält sie keine 28
CM. Env/CO (73) 16, S. 13. 29 Siehe oben S. 720 (bei Anm. 8). 30 CM. Env (73) 6, S. 2. 31 CM. Env (73) 6, Endgültige Fassung, S. 3. 32 So z. B. Partsch, Die Rechte und Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, 1966, S. 32 f., 63 f., 96. 33 Partsch, S. 97 f. 34 Gerade durch die negative Formulierung des Rechts auf Bildung in Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls wurde bewußt der Leistungsanspruch ausgeschlossen, vielmehr der Charakter eines Abwehrrechts erhalten. Siehe dazu Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, 1968, S. 261 und Partsch. S. 237.
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Verpflichtungen von Bürgern, besitzt keine D r i t t w i r k u n g i m Sinne der deutschen Grundrechtsdogmatik 35 . Für Leistungs- und Gestaltungsaufträge i m Interesse des einzelnen ist nach der europäischen Menschenrechtssystematik, der sich die UNO angeschlossen hat, die Sozialcharta der angemessene Ort. Nach diesen Kriterien kann ein allgemeines Recht auf die Erhaltung, den Schutz oder auch nur den Genuß einer gesunden oder menschenwürdigen Umwelt nicht i n die Europäische Menschenrechtskonvention inkorporiert werden. Er handelt sich bei einer solchen Fassung nicht u m eine Bestimmung, die self-executing und justiziabel wäre, sondern u m einen als Menschenrecht formulierten Gestaltungs- oder Leistungsauftrag. Es steht natürlich den Vertragsstaaten frei, eine solche Vorschrift i n die Konvention aufzunehmen. Damit würden jedoch Gefahren i n zwei Richtungen heraufbeschworen: Zum einen würden die europäischen Völker irregeführt derart, daß sie annehmen müßten, es sei eine rechtliche Garantie wie die der Grundfreiheiten nun auch für die Erhaltung der Umwelt gegeben — u m darin begründet und i m System des Schutzes der Menschenrechte ungerechtfertigt enttäuscht zu werden. Zum anderen eröffnet die Aufnahme eines deutlichen Gestaltungsauftrages i n die Menschenrechtskonvention die Möglichkeit, auch andere Bestimmungen der Konvention als Gestaltungsauftrag auszulegen und sie so der unmittelbaren Verbindlichkeit und der gerichtlichen Überprüfung zu entziehen. Die deutliche Zurückhaltung des Europarats auf Ministerebene dürfte mit diese Gründe haben. Bei der Beschwörung eines Menschenrechtes auf Umweltschutz auf Tagungen i m europäischen oder nationalen Rahmen sollte man sich dessen bewußt sein, daß schon aus den genannten Gründen ein solcher Anspruch nicht den Verbürgungen von Menschenrechten und Grundfreiheiten gleichsteht und es unangemessen erscheint, hier eine Gleichartigkeit zu suggerieren. Der schon erwähnte Vorschlag über ein Recht auf eine menschenwürdige Umwelt geht auch von den Kriterien der Verbürgungen der Europäischen Menschenrechtskonvention aus und erkennt an, daß A u f nahme finden kann nur ein gegen den Staat gerichtetes Abwehrrecht und nicht ein Anspruch auf eine Leistung oder ein solcher gegenüber Dritten 3 6 . Er geht davon aus, daß das Recht auf Leben nach A r t . 2 I der Konvention näher ausgestaltet werden soll zu einem Recht auf Leben i n besonderer Weise. U m als Abwehrrecht zu erscheinen, w i r d als A r t . 1 1 eines Zusatzprotokolls vorgeschlagen: 35 36
Partsch, S. 64f.; Guradze, S. 22. Das Recht auf eine menschenwürdige Umwelt (Anm. 8), S. 46, 50 f.
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Niemand darf durch nachteilige Veränderung der natürlichen Lebensgrundlagen in seiner Gesundheit verletzt oder unzumutbar gefährdet oder in seinem Wohlbefinden unzumutbar beeinträchtigt werden.
Eine Gesundheitsverletzung durch Umweltveränderung ist damit absolut verboten, eine Gesundheitsgefährdung oder Beeinträchtigung des Wohlbefindens ist bei Unzumutbarkeit untersagt, wozu i n Abs. 2 erläutert wird, daß Erwägungen zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Gemeinwesens nur bei der Beurteilung der Zumutbarkeit von Beeinträchtigungen des Wohlbefindens, nicht aber bei Gesundheitsgefährdungen berücksichtigt werden können. Diese Vorschrift soll zunächst als Abwehrrecht des Einzelnen gegen den Staat verstanden werden und erfüllt so das entsprechende Kriterium für die Aufnahme i n die Menschenrechtskonvention. Ob diese Vorschrift justiziabel und von daher die Voraussetzung für die Aufnahme in die Konvention gegeben ist, hängt von der inhaltlichen Bestimmtheit ab. Staatliche Tätigkeit verändert unmittelbar zunächst über Lärm, ζ. B. beim nächtlichen Postverladen oder i m Verkehr, durch Emission von Schadstoffen von staatlichen Fahrzeugen und Gebäuden und durch den Anfall von Abfällen aus staatlichem Bereich die Umwelt. I n größerem Maße umweltverändernd ist die Anlage von Verkehrswegen oder Flugplätzen oder von Abfallbeseitigungsanlagen oder Truppenübungsplätzen, die jeweils bei der Benutzung wieder Umweltstörungen zur Folge haben können. Letztlich ist jede bedeutende Umweltveränderung heute an staatliche Planung, Genehmigung oder Freigabe gebunden. Nach der Begründung 3 7 soll Abs. 1 gerade auf alle diese staatlichen Tätigkeiten anwendbar sein. Andererseits w i r d die Gesundheitsverletzung von der -gefährdung nicht nach der Schwere, sondern danach abgegrenzt, ob eine Gesundheitsbeeinträchtigung schon eingetreten ist oder erst droht 3 8 . Bei wörtlicher Anwendung muß eine staatliche Tätigkeit absolut unterbleiben, wenn überhaupt eine Gesundheitsverletzung bei auch nur einem Berechtigten, und sei es wegen dessen besonderer Empfindlichkeit, eintritt. Diese rigorose Entscheidung des Konfliktes zwischen dem Allgemeininteresse am Funktionieren des Staates und dem Individualinteresse ist so utopisch, daß die Praxis, sollte die Menschenrechtskonvention dergestalt ergänzt werden, diesem Rigorismus nicht folgen würde. Diese Erkenntnis hat wohl auch zunächst i m Arbeitskreis für Umweltrecht (Bonn) vorgeherrscht, denn i n einer früheren Fassung war die Unzumutbarkeit allgemein Voraussetzung für ein Abwehrrecht. Die nationalen Gerichte wären aber damit 37 38
ebd., S. 46 f. ebd., S. 48.
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überfordert, die Abwägung zwischen Allgemeininteresse und dem Individualschutz ohne weiteren Hinweis i n der Konvention vorzunehmen. Entsprechend ihrem jeweiligen nationalen Rechts- und Gerichtssystem kämen sie i n den Konventionsstaaten notwendig zu verschiedenen Ergebnissen; eine europäische Rechtsvereinheitlichung oder parallele nationale Entwicklungen, die nach der Begründung 3 9 m i t dem Menschenrecht erreicht werden sollen, sind auf diese Weise nicht zu erzielen. Auch kann diese Leistung nicht von den Organen der Europäischen Menschenrechtskonvention erbracht werden. Wenn die Bestimmung also nicht dem Wortlaut nach rigoros angewandt werden soll, so bedarf sie für die Abwägung einer weitgehenden Konkretisierung entweder i n dem Zusatzprotokoll oder aber i n staatlichen Gesetzen. I m letzteren Fall ist sie nicht unmittelbar vollziehbar und gehört deshalb nicht i n das System der Menschenrechtskonvention. M i t der Intention oder der Gefahr einer rigorosen Anwendung hat der A r t i k e l aber keine Chance, i n die Menschenrechtskonvention inkorporiert zu werden. Ein Maßstab für die Bereitschaft der Konventionsstaaten, sich i m Gesundheitsschutz grundrechtlich zu binden, mag i n den Grundrechtsbestimmungen der nationalen Verfassungen gesehen werden. Unter allen Verfassungen der Konventionsstaaten schützt nur A r t . 2 I I des Grundgesetzes in der Form eines Abwehrrechtes gegen Eingriffe i n die körperliche Unversehrtheit, läßt aber Ausnahmen auf der Grundlage eines Gesetzes zu. Nur die durch Umweltveränderung herbeigeführte Gesundheitsbeeinträchtigung wäre bei Annahme jenes Vorschlages grundrechtlich absolut abgewehrt, während andere Arten jedenfalls auf gesetzlicher Grundlage zulässig blieben, womit doch wohl auch eine unangemessene Gewichtung vorgenommen würde. A r t . 2 I des Vorschlages soll die mangelnde D r i t t w i r k u n g der Menschenrechtskonvention dadurch ausgleichen, daß jedermann „von den zuständigen Organen Überprüfung und unter den Voraussetzungen des Artikels 1 Abhilfe verlangen (können soll), wenn nachteilige Veränderungen der natürlichen Lebensgrundlagen innerhalb seines Lebensbereiches durch das Handeln anderer eintreten können."
Abs. 2 gewährt dazu noch ein Recht auf materiellen Bescheid. Die Vorschrift war zunächst nur als Initiativrecht mit Bescheidungsanspruch konzipiert und unterliegt insoweit keinen systematischen Bedenken. Problematisch ist vor allem der Anspruch auf Abhilfe. Die A r gumentation i n der Begründung, daß es sich nicht u m einen der Menschenrechtskonvention fremden Anspruch auf Leistung handele, son89
ebd., S. 44.
E i n internationales Menschenrecht auf Schutz der Umwelt?
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dern nur u m eine Konkretisierung des Abwehrrechts aus A r t . I 4 0 , überzeugt nicht. Soweit bei einem Inkrafttreten Dritte erlaubtermaßen Umweltveränderungen i m Sinne von A r t . 1 vornehmen, w i r d der Staat durch ein Bestehenlassen des Zustandes nicht selbst verletzend tätig. Es geht auch nicht u m eine Korrektur einer fehlerhaften Genehmigung einer umweltverändernden Tätigkeit, wenn die Gesundheitsbeeinträchtigung erst dadurch akut wird, daß der Betroffene nach Genehmigung i n den gestörten Umweltbereich hinzuzieht oder dort hineingeboren wird. Schließlich wäre auch der Anspruch auf die Korrektur einer fehlerhaften Genehmigung ein Leistungsanspruch. Dabei würde der Staat nicht einwenden können, daß die Rechtsordnung i h m einen späteren Eingriff nicht mehr gestattet oder die Rücknahme einer genutzten, aber fehlerhaft erteilten Genehmigung rechtlich unzulässig ist. Soll dem Abhilfeanspruch nicht rechtliche Unmöglichkeit entgegenstehen, so wäre er mittelbar doch auf eine andere Rechtsgestaltung, nämlich auf das Einführen einer jederzeitigen Eingriffsbefugnis gegenüber dem Dritten, gerichtet. Die daraus herzuleitenden Bedenken gegen die Aufnahme eines A b hilfeanspruches als Recht auf eine Leistung oder Rechtsgestaltung können aber überwunden werden. Ausgeschlossen sind nach dem System der Menschenrechtskonvention Ansprüche auf eine Sozialgestaltung oder eine nicht unmittelbar bestimmbare Leistung. Es entspricht durchaus der Menschenrechtskonvention, daß die Staaten aus Anlaß auch von Einzelfällen ihr Recht ändern müssen, u m den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu entsprechen. Die Justiziabilität des Abhilferechts nach Art. 2 krankt jedoch an der mangelnden Justiziabilität des Art. 1, wenn er nicht i n einem utopischen Rigorismus angewandt werden soll. Nicht nur wegen der Argumente zu A r t i k e l 1 erscheint es ausgeschlossen, daß ein solcher menschenrechtlicher Abhilfeanspruch von den Staaten akzeptiert werden wird. Die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen sind nämlich i n dieser Hinsicht unterschiedlich, aber gerade nicht so ausgestaltet, daß die Staaten damit dem Abhilferecht entsprechen könnten. Es t r i f f t zu, daß die europäischen Staaten i n der einen oder anderen Nuance ihre Rechtsordnung geändert haben, um eine Übereinstimmung m i t der Menschenrechtskonvention herzustellen. Aber während es sich bei den Rechten der Konvention bisher um die handelt, die als gemeinsamer Besitz von allen am Europarat beteiligten Staaten i n ihrer Rechtsordnung weitgehend verwirklicht waren 4 1 , wer40 41
ebd., S. 51. So etwa Partsch (Anm. 32), S. 97.
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den hier erhebliche Rechtsänderungen vorausgesetzt. Eine Übernahme des Abhilferechts würde für Deutschland ζ. B. voraussetzen, den Bestandschutz der Genehmigung oder Erlaubnis nach § 25 I Gew Ο und bei der Auflagenermächtigung des § 25 I I I Gew Ο die Wirtschaftlichkeitsklausel zu streichen; Entsprechendes gilt für die wasserrechtliche Bewilligung nach den §§ 5, 8 V WassHaushG. Der Ausschluß von Stilllegungsansprüchen des Betroffenen nach § 26 GewO oder § 11 WassHaushG würde praktisch aufgehoben werden. Zusammenfassend muß festgestellt werden, daß auch der Vorschlag des Arbeitskreises für Umweltrecht (Bonn), unter der nicht ganz zutreffenden Bezeichnung ein „Recht auf eine menschenwürdige Umwelt" einzuführen, aus rechtssystematischen und rechtspolitischen Gründen nicht geeignet ist, die Europäische Menschenrechtskonvention zu erweitern. V. Zu erwägen ist, ob ein Recht auf eine angemessene Umwelt i n der A r t einer der Sozialrechtskonventionen staatliche Ziele und Aufgaben zur Umweltsicherung festlegen kann und soll, deren Verwirklichung nach dem dafür angewandten Verfahren international zu überwachen wäre. Für diese Betrachtung ist auf einen Unterschied zwischen der Europäischen Sozialcharta und dem UN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hinzuweisen. Nach A r t . 20 der Sozialcharta übernimmt jeder Teilnehmerstaat eine Anzahl von Bestimmungen als rechtlich bindend und hat nach A r t . 21 über deren Anwendung zu berichten; Gremien prüfen, ob der Staat seinen Verpflichtungen nachgekommen ist. Nach A r t i k e l 2 der UN-Konvention haben die Teilnehmer „unter Ausschöpfimg aller Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach . . . die volle Verwirklichung der i n diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen". Sie sollen nach A r t . 16 über die getroffenen Maßnahmen und über den erzielten Fortschritt bei der V e r w i r k lichung der Rechte berichten. Die Sozialcharta kann also nur von Staaten angenommen werden, die bei der erforderlichen Mindestzahl von Bestimmungen i m Zeitpunkt des Verbindlichwerdens jenen Bestimmungen schon genügen; können sie weitere Bestimmungen erfüllen, so nehmen sie diese nachträglich gemäß A r t . 20 I I I an. Die Verpflichtung nach der UN-Konvention betrifft nur das Ziel und das Mühen u m den Fortschritt, der Beitritt setzt nicht die Verwirklichung der Rechte voraus. I m Bereich des Umweltschutzes dürfte kaum ein Mitgliedstaat des Europarates gegenwärtig schon i n der Position sein, den Anforderun-
E i n internationales Menschenrecht auf Schutz der Umwelt?
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gen, die wert sind, i n einer Europäischen Umweltcharta festgelegt zu werden, zu entsprechen. Eine Europäische Umweltcharta könnte also gegenwärtig nicht Verpflichtungen zu einem Erfolg wie die Sozialcharta enthalten, sondern wäre eine Zusammenfassung von Zielen staatlicher Politik, die nach bestem Können angestrebt werden sollen. Diese A r t der Verpflichtung bleibt i m Kreise der Mitgliedstaaten des Europarates aber unterhalb jener Ebene, i n der die Menschenrechte ihren Platz haben. VI. Das Ergebnis lautet, daß selbst i m Kreise der Staaten des Europarates es gegenwärtig nicht möglich ist, ein Recht auf eine angemessene Umwelt menschenrechtlich zu sichern, weder i n der Form der Menschenrechtskonvention noch i n der A r t der Sozialcharta. Das bedeutet jedoch nicht, daß Rechtsprobleme des Umweltschutzes nicht auch gerade i n diesem Kreis international geregelt werden müßten und daß die Position des Einzelnen dabei nicht einheitlich bestimmt und gestärkt werden könnte. Die Diskussion unter der Formel des Menschenrechts auf Umweltschutz verdunktelt die Erkenntnis, daß das Recht des Umweltschutzes kein geschlossenes System oder eine juristische Disziplin darstellt, sondern viele verstreute Detailfragen umfaßt 4 2 . Es ist eine vordringliche internationale Aufgabe, eine völkerrechtliche Einigung über Einzelbereiche zu erzielen, die sich nur international regeln lassen. I m Rahmen des Europarats gehören dazu neben überregionalen Aspekten des Naturschutzes vor allem eine Konvention zur Reinhaltung wenigstens der internationalen Binnengewässer. A n den Bemühungen und Verhandlungen u m diese Konvention seit dem Jahre 1965 zeigt sich, wie zurückhaltend die Staaten nur bereit sind, konkrete Verpflichtungen zu übernehmen oder praktische Maßnahmen zu ergreifen 4 3 : Es ist i n den Verhandlungen nicht gelungen, alle Binnengewässer oder auch nur die hydrologischen Einzugsgebiete internationaler Flüsse i n den Geltungsbereich der Konvention einzubeziehen — sie soll jetzt nur die internationalen Wasserläufe selbst betreffen. Die Aufnahme gehobener Gütestandards wurde nicht erreicht, lediglich Mindeststandards und deren Anhebung i n Sonderabkommen vorgesehen. Über Haftungsbestimmungen wurde keine Einigung erzielt. Die Position des Bürgers ließe sich gerade auch i n einer solchen Wasserschutzkonvention bestimmen oder festigen, wenn darin international vorgesehen würde, daß er an Genehmigungsverfahren für die Nutzung internationaler 42 43
So W. Weber (Anm. 1), S. 806. Dazu Diez (Anm. 5).
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Dietrich Rauschning
Gewässer nach A r t der Planfeststellungsverfahren deutschen Rechts beteiligt würde; es ist nicht bekannt geworden, daß einer der Staaten oder das Sekretariat des Europarats diesen Gedanken überhaupt vorgebracht haben. Das Beispiel zeigt, daß es angemessen ist, die internationalen A n strengungen auf die Einigung über praktische und dringliche Probleme des Umweltschutzes i n Bereichen zu konzentrieren, die nur international lösbar sind. Pläne für ein internationales Menschenrecht auf Umweltschutz sind verfrüht. Angesichts der zögernden Haltung auch der Mitgliedstaaten des Europarates bei der Übernahme von praktischen Verpflichtungen klingt es nicht besonders seriös, gegenwärtig von der Einführung oder gar Verwirklichung eines Menschenrechts auf Umweltschutz zu sprechen. Man würde an den Mann erinnert, der eine Beteuerung abgibt m i t dem Erbieten, sie zu beschwören, der aber auf das Angebot, darum zu wetten, erschreckt zurückfährt.
I X . Wirtschaftsverwaltung
Verschmelzung freier Sparkassen E n ie körperschaftsrechtliche H a m b u g r e n s e i Von Hans Peter Ipsen
„Von der juristischen Öffentlichkeit kaum beachtet, hat sich jüngst i n Hamburg ein körperschaftsrechtlich wohl einmaliger Vorgang abgespielt: die Verschmelzung der beiden bis dahin i n Hamburg bestehenden Sparkassen 1 ." Es handelt sich u m die Verschmelzung der Hamburger Sparcasse von 1827 (Haspa) m i t der Neuen Sparcasse von 1864 (Neuspar) zur Hamburger Sparkasse auf Grund des vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg am 14. Juni 1972 genehmigten Verschmelzungsvertrages vom 26. A p r i l 19722. Die Verschmelzung hat sich vollzogen i m Wege der l i quidationslosen Aufnahme der Neuspar durch die Haspa, die ihrerseits durch Beschluß vom 21. A p r i l 1972 ihren Namen i n Hamburger Sparkasse und ihre Satzung entsprechend änderte 3 . Die Besonderheit des Vorgangs besteht darin, daß die Verschmelzung zunächst die neuerliche Klärung der eigenartigen Rechtsstellung der beiden jetzt fusionierten freien Sparkassen voraussetzte und auf ihrer Grundlage dann ermöglicht wurde, die Bestimmungen des neuen Umwandlungsrechts von 1969 über die Verschmelzung durch Aufnahme unter Ausschluß der Abwicklung entsprechend anzuwenden. Der Jubilar, dem diese Zeilen gewidmet sind, hat sich seit seiner grundlegenden und gesetzespolitisch so nachhaltig wirksam gewordenen Monographie über die „Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts" 4 nicht nur der eindeutig öffentlich-rechtlichen juristischen Personen, sondern auch gerade jener Aufgabenträger angenommen, die — nur aus Herkunft, Überlieferung oder Monopolstellung öffentlich-rechtlich qualifiziert — wegen Assimilierung ihrer A u f 1
Droese, Verschmelzung von zwei Sparkassen, M D R 1973, S. 25. Hamb. Amtl. Anzeiger 1972, S. 839. Hamb. Amtl. Anzeiger 1972, S. 738. 4 Werner Weber, Die Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts. Eine rechtstechnische Untersuchung ihrer gegenwärtigen Ordnung (1940); 2. Aufl. (1943) mit dem geänderten Untertitel: Eine Darstellung ihrer gegenwärtigen Ordnung. 2 3
47 Festschrift für Werner Weber
738
Hans Peter Ipsen
gaben an zweckgleiche Wettbewerbsunternehmen der Privatwirtschaft frühere Bindungen zur staatlichen Verwaltungsorganisation verloren haben 5 . Es handelt sich dabei insbesondere um Einrichtungen des Kredit- und Versicherungswesens. Der Hamburger Sparkassenvorgang — eine rechte juristische Hamburgensie — gehört i n den Zusammenhang dieser Fragestellungen: er verdeutlicht die i m Laufe der Entwicklung immer wieder i n Frage gestellte, von der stadtstaatlichen Verwaltungsorganiation distanzierte Rechtsstellung der freien Sparkassen, und er praktiziert für ihre Fusionierung i n abgewandeltem Sinne Werner
Webers
Empfehlung, sie
müßten „einfach nach Analogie der juristischen Personen des Privatrechts behandelt werden" 6 . I. 1. Beide Sparkassen gehörten vor ihrer Verschmelzung zu den sog. Freien Sparkassen, die i m deutschen Sparkassenwesen eine rechtliche Sonderstellung einnehmen 7 . Die i m Zuge der Verschmelzung neubenannte Hamburger Sparkasse ist i n dieser Stellung verblieben. Ihre Rechtsbesonderheit zeigt sich i n ihrer Stellung i m Rechtssystem und i n ihrer Verfassung gegenüber denjenigen Sparkassen, die als j u ristische Person öffentlichen Rechts der sog. mittelbaren Staatsverwaltung zugehören, i n dem für sie maßgeblichen Rechtsstatut, ihrer Autonomie, ihrer Finanzverfassung und dem Inhalt und den Grenzen der über sie bestehenden Staatsaufsicht. 5 Werner Weber, Der nicht staatsunmittelbare öffentliche Organisationsbereich, Juristen-Jahrbuch Bd. 8 (1967/68), S. 137 ff.; insbes. S. 147, 154 ff. — Den landschaftlich radizierten Versicherungsunternehmen Niedersachsens, die in diesen Organisationsbereich gehören, gilt mein Beitrag „Landschaftliche Elemente in der öffentlich-rechtlichen Versicherung Niedersachsens" in: Grundprobleme des Versicherungsrechts, Festgabe für Hans Möller (1972), S. 311 ff. 6 Juristen-Jahrbuch Bd. 8 (1967/68) S. 155. 7 Vgl. die letzte zusammenfassende Darstellung in der Hamburger Dissertation (1956) von Stolzenburg: Die rechtliche Sonderstellung der Freien Sparkassen im deutschen Sparkassenwesen; dort S. 11-15 zu den beiden hamburgischen freien Sparkassen; dort auch alle Nachweise zur einschlägigen Spezialliteratur im Anschluß an Ipsen, Zum Recht der freien Sparkassen, in: Festschrift für Hans Wüstendörfer (1949), S. 73 - 110; ferner: Meyer - König, Der verfassungsrechtliche Standort der Freien öffentlichen Sparkassen und der Charakter der Aufsicht, der sie sich unterstellt haben (1972); zum kommunalen Sparkassenrecht vgl. Frick, Die Staatsaufsicht über die kommunalen Sparkassen (1962); Lohr, Satzungsgewalt und Staatsaufsicht. Eine kommunalund sparkassenrechtliche Untersuchung (1963) ; Stern - Burmeister, Die kommunalen Sparkassen (1972); Gesamtüberblick über das deutsche Sparkassenwesen bei Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht I I , 3. Aufl. (1970), S. 353 - 358.
Verschmelzung freier Sparkassen
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Alle danach einschlägigen Rechtsfragen sind für die beiden Hamburger freien Sparkassen i m Verlauf ihrer Geschichte vielfältig i n Schrifttum, Rechtsprechung und Staatspraxis erörtert worden, so i n Bezug auf die Substanz ihrer „freien" Stellung und Einwirkungsmöglichkeiten des hamburgischen Gesetzgebers insbesondere i m Zusammenhang m i t einem (nicht verabschiedeten) Entwurf eines hamburgischen Gesetzes über die Sparkassenreform vom August 1947, der beide Sparkassen zu einer Anstalt des öffentlichen Rechts verschmelzen und die damalige Hansestadt Hamburg zu ihrem Gewährträger machen wollte. Neuerlich war — wenn auch nicht i n Gestalt einer Gesetzesinitiative — wiederum davon die Rede. Jene legislatorischen Absichten aus der Besatzungszeit waren nach Gegenvorstellungen der Sparkassen nicht weiter verfolgt worden. Abgesehen von der Regelung des K W G vom 10. J u l i 1961 m i t ihren auf alle Sparkassen anwendbaren Vorschriften hat eine bundesrechtliche Vereinheitlichung des Sparkassenrechts n i i t stattgefunden. Landesrechtliche Neuregelungen sind i n mehreren anderen Ländern insbesondere für die dortigen öffentlich-rechtlichen Sparkassen, nicht dagegen i n Hamburg ergangen 8 . a) Spätestens seit der Entscheidung des Reichsgerichts vom 15. Juni 1927 (RGZ Bd. 117 S. 257 ff.) konnte kein Zweifel mehr daran geltend gemacht werden, daß die Haspa (und ebenso die Neuspar) „als eine j u ristische Person des alten Hamburger Rechts" anzusehen ist, „deren Rechtsfähigkeit der Hamburger Senat ausdrücklich anerkannt hat" 0 . b) Ebenso war vor der Verschmelzung und ist heute nicht bestreitbar, daß die einschlägigen Vorschriften des bürgerlichen Rechts, die die Sparkassen betreffen (§ 1807 Abs. 1 Ziff. 5 BGB und A r t . 99 EGBGB), m i t der von ihnen genannten „öffentlichen Sparkasse" eine dem Landesrecht angehörige Figur verwenden i n Bezug auf ihre Funktion im Kreditwesen, ihre Teilnahme am „öffentlichen Verkehr", nicht aber als Kategorie des Verwaltungsrechts zur Bestimmung ihrer öffentlichrechtlichen Rechtsnatur 10 . Was der Begriff „öffentlich", auf Sparkassen 8
Vgl. die Nachweise bei Hans J. Wolff, S. 354 ff. Ipsen, S. 82; Stolzenburg, S. 11/12: „Aus den Gründungsvorgängen läßt sich hinsichtlich der Rechtsnatur der Sparcasse (von 1827) mit den heutigen juristischen Begriffen kaum eine Qualifizierung treffen. Ersichtlich ist allein so viel, daß die Kasse von Anbeginn Rechtsfähigkeit besaß, die ihr gemäß Art. 163 EGBGB auch nach 1900 verblieb, ohne daß es eines besonderen staatlichen Aktes bedurfte. Da zur Zeit ihrer Gründung in Hamburg Korporationsfreiheit herrschte, ist sie später einfach als « juristische Person alten hamburgischen Rechts » bezeichnet worden; als solche ist sie auch in das Handelsregister eingetragen und neuerdings in ihrer Satzung bezeichnet." 10 Treffend: Wolff, S. 358: „Auch sie (die Freien Sparkassen) dienen dem öffentlichen Kreditverkehr und haben einen unbeschränkten Einlegerkreis." 9
47*
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bezogen und insoweit aus dem Bezirk des Kreditwesens auf das Verwaltungsrecht überwirkend, allein zur Klärung der Rechtsnatur beitragen kann, ist die i n i h m zum Ausdruck kommende Respektierung besonderer Solidität der Kasse und ihrer staatlichen Sicherung. Die Einbeziehung einer Sparkasse unter die „öffentlichen Sparkassen" eines Landes besagt aber weder deklaratorisch noch konstitutiv Entscheidendes über ihre öffentlich-rechtliche Natur. Ob diese oder ihre Zugehörigkeit zu den Personen des Privatrechts gegeben ist, hängt von anderen, außerhalb des § 1807 BGB liegenden Entscheidungen ab, die nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen zu treffen sind 1 1 . Auch hier gilt die heute gesicherte Erkenntnis, daß „öffentlich" ebensowenig mit „öffentlich-rechtlich" wie mit „staatlich" gleichgesetzt wer-
den darf. Eine Gleichsetzung dieser A r t ist „schon i m Ansatz verfehlt" 1 2 . Selbstverständlich bedurfte es staatlich-hoheitlich einer Entscheidung, daß die Sparkassen als öffentliche Sparkassen fungieren: eine solche ist ergangen i n Gestalt der Errichtungs- und Satzungsgenehmigungen durch den Senat i n Verbindung mit ihrer Eignungserklärung zur Anlegung von Mündelgeld gemäß § 1807 BGB. Die Aufgaben der Kasse haben „durch die staatliche Entscheidung Anerkennung, Förderung und Aufwertung (erfahren), ohne dadurch i n die Qualität von Staatsfunktionen umzuschlagen" und die Kassen damit als öffentlichrechtliche Aufgabenträger i n den Bereich der sog. mittelbaren Staatsverwaltung einzugliedern 13 . Das ergibt sich i m einzelnen aus dem Folgendem: aa) Normative oder exekutive hoheitliche Entscheidung, deren es zur Kreation öffentlich-rechtlicher selbständiger Aufgabenträger der sog. mittelbaren Staatsverwaltung (als Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen) bedarf, und entsprechende Zuordnung so geschaffener Rechtsträger zur öffentlichen Verwaltung haben hinsichtlich beider Sparkassen nicht stattgefunden, so daß sie als juristische Personen des privaten Rechts zu qualifizieren waren. bb) Kreation und Zuordnung der Sparkassen als öffentlich-rechtliche Rechtsträger i m modernen Verständnis der verwaltungsrechtlichen Dogmatik und Gesetzgebung ist weder bei der Gründung der Kassen noch jemals danach erfolgt, insbesondere auch nicht durch reichsrechtliche Regelungen der Notverordnungspraxis oder der ns-Zeit oder auf ihrer Grundlage. 11
Ipsen, S. 85; Stolzenburg, S. 12. Martens, öffentlich als Rechtsbegriff (1969), S. 118, dort S. 118 - 123 auch zum Folgenden. 13 Martens, S. 121. 12
741
Verschmelzung freier Sparkassen
cc) Solche Einwirkung kann auch nicht stattgefunden haben aus finanzieller Anteilnahme des Staates an den Kassen, da ihre Finanzverfassung jede
staatliche
Ingerenz
irgendwelcher
Art
w ä h r t r ä g e r s c h a f t , G a r a n t i e o. dgl.) stets ausgeschlossen
(insbes. eine G e hat u.
c) Daraus folgt, daß beide Sparkassen seit ihrer Gründung juristische Personen des Zivil-,
nicht
des öffentlichen
Rechts w a r e n , ohne daß
ihre
zivilrechtliche Qualifikation durch ausdrückliche normative Regelungen näher
bestimmt
worden
wäre.
U m i h r für die Verschmelzung maßgeb-
liches Statut zu ermitteln, war indes eine nähere Qualifikation erforderlich. 2. Beide Kassen waren ohne satzungsmäßige Klärung ihrer Rechtsnatur am 1. Januar 1900 i n die Rechtslage des BGB eingerückt, das seinerseits die Vereine und die Stiftungen als einzige juristische Personen des Privatrechts — neben denen des Handelsrechts — behandelt und anerkennt. Ihre Einordnung i n das geltende Recht mußte deshalb davon ausgehen, welche einzelnen Vorschriften des Privatrechts, soweit sie juristische Personen betreffen, auf sie anwendbar sind 1 5 . a) Die handelsrechtlichen Kategorien der juristischen Personen einschließlich der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften waren für die Qualifizierung der Kassen ohne weiteres auszuscheiden. Es fehlte ihnen an der hierfür spezifischen A r t der Kapitalgrundlage und ihrer Aufbringung durch Beteiligungen von Gesellschaftern oder Genossen. Die Einlagen der Sparer waren m i t ihnen nicht vergleichbar. b) Für die verbleibenden, bei Inkrafttreten des BGB bestehenden juristischen Personen (des Zivilrechts) bestimmt Art. 163 EGBGB, daß fortan auf sie die Vorschriften der §§ 25 bis 53, 85 bis 89 BGB Anwendung finden, soweit sich aus den A r t . 164 bis 166 EBGGB nicht ein A n deres ergibt. Damit hat das BGB die vorgefundenen juristischen Personen, und unter ihnen die beiden Sparkassen, dem „neuen Recht unterstellt" 1 6 . Von diesen für anwendbar erklärten Vorschriften betreffen §§ 25 - 53 die Verfassung und das Erlöschen eines Vereins, §§ 85 - 86 die Verfassung und das Erlöschen einer Stiftung. § 89 ist hier ohne Interesse. Diese Vorschriften sind indes nur anwendbar und insoweit bindend, als sie zwingendes Recht enthalten. Das sind die §§ 26, 27 Abs. I I Satz 2, 28 Abs. II, 29, 31, 34, 35, 39 Abs. I sowie fast sämtliche Vorschriften über A u f lösung und Verlust der Rechtsfähigkeit. Entsprechendes gilt für die 14
Nähere Begründung zu aa) bis cc) bei Ipsen S. 83 ff. Vgl. Ipsen, S. 91 ff. 16 Staudinger - Gramm, BGB-Komm. 11. Aufl. Anm. 1 zu Art. 163 EGBGB; dort Anm. 4 zum Folgenden. 15
742
Hans Peter Ipsen
für anwendbar erklärten Vorschriften des Stiftungsrechts, das seinerseits (vgl. § 86) z. T. auf das Vereinsrecht verweist. Soweit das anwendbare Vereins- und Stiftungsrecht nachgiebiges Recht darstellt, ist es auf die alten juristischen Personen nicht anwendbar, falls deren Satzung anderes bestimmt. c) Von den beiden einzigen Rechtstypen des Vereins und der Stiftung, denen die Sparkassen danach zugerechnet werden konnten, und zwar nach dem Maßstab ihrer Struktur und Zweckbestimmung, konnte schon bei den 1947/48 angestellten Erörterungen einhellig allein der der Stiftung als für die Sparkassen in Betracht kommend erkannt werden 1 7 . aa) Die Bestimmungen der Satzungen über die Kassenorgane, ihre Zusammensetzung und Berufung, ihre rechtsgeschäftliche Vertretung, ihren Geschäftsverkehr und die Finanzgebarung entsprachen i m wesentlichen der Verfassung, die das Zivilrecht für Stiftungen verwendet. Der Stiftungscharakter trat i n der Bestimmung der Gemeinnützigkeit und i n den Vorschriften über Zuwendungen aus dem Reservefonds (Rücklagen) sowohl i m Gang der laufenden Verwaltung wie i m Falle der Liquidation und auch dadurch hervor, daß das personelle Element — wie beim Verein die Mitgliedschaft — ganz i n den Hintergrund trat. Die Sparkassen erschienen strukturell nicht als Zusammenschluß einer Personenmehrheit, und ein personelles Substrat ging ihnen ab, so daß es auch an Mitgliedern als den Trägern der sie umfassenden Gesamtpersönlichkeit eines Vereins fehlte. Daß die Einleger der Kassen nicht als ihre Mitglieder angesehen werden konnten, folgte aus ihrer allein schuldrechtlichen Beziehimg zu ihnen. bb) Die danach gebotene Ablehnung einer Vereins-Qualifizierung der Kassen führte zwangsläufig zu der Folgerung, sie als Stiftungen zu charakterisieren. Das stand auch i m Einklang m i t der Rechtslage anderer älterer Freier Sparkassen i m allgemeinen und speziellen Argumentationen des hamburgischen Landesrechts: „Ohne Ausnahme erlangten die Freien und Stiftungssparkassen als wohltätige Anstalten bei ihrer Gründung, sei es als Körperschaften, sei es als Stiftungen, die Rechte einer juristischen Person des Privatrechts 1 8 ." d) Aus ihrem derart angenommenen Stiftungscharakter ergab sich gemäß A r t . 163 EGBGB für die Sparkassen, daß das Stiftungsrecht der §§ 80 - 88 BGB und der §§ 8 - 12, 14 - 20 HambAGBGB auf sie anwendbar wurde (diese Bestimmungen deshalb, weil § 21 a.a.O. sie auch auf 17
Ipsen, S. 21 ff. Busch, Die deutschen Freien und Stiftungssparkassen (1922), S. 34; ebenso: Kleiner, Das Recht der öffentlichen Sparkassen (1930), S. 4 4 - 4 5 ; Nöldeke, Hamburgisches Landesprivatrecht (1907), S. 144. 18
Verschmelzung freier Sparkassen
743
die bei Inkrafttreten des BGB bestehenden Stiftungen für anwendbar erklärte). e) Andererseits durfte die Charakterisierung der Kassen als Stiftungen im rechtstechnischen Sinn nicht überschätzt und überfordert werden. Denn A r t . 163 EGBGB besagt lediglich, daß Stiftungsrecht auf sie anzuwenden
ist, nicht
a u s d r ü c k l i c h , daß sie Stiftungen
seien.
Es t r i f f t
daher zu anzunehmen, daß §§ 80 - 88 BGB und die einschlägigen landesrechtlichen Vorschriften „unter Berücksichtigung der aufgezeigten Besonderheiten für ihre rechtliche Behandlung den Rahmen abgeben" 19 . Es war demnach jeweils geboten, diesen Rechtsrahmen adäquat auszufüllen und die Eignung des eigentlichen Stiftungsrechts zur Anwendung auf die Sparkassen i m Einzelzusammenhang zu überprüfen. Auch die übliche Kennzeichnung der Sparkassen als Stiftungen, die lediglich eine Abkürzungsformel darstellt, enthebt — auch künftig — nicht dieser Aufgabe 2 0 . Π.
Die Verschmelzung der beiden Sparkassen, deren Rechtsstellung — als wesentlichem Element ihres Verschmelzungs-Statuts — die bisherigen Erörterungen (unter I) dienten, war aus zwingenden Gründen auf den Weg einer liquidationslosen Aufnahme der Neuspar durch die Haspa verwiesen. I n Ermangelung positiv-rechtlicher Rechtsgrundlagen hierfür stellte sich die Frage, ob dieser Vorgang seine Rechtfertigung i n allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu finden vermochte, die i n auf andere Rechtsträger bezüglichen Regelungen ihren Niederschlag gefunden hatten. Ihrer Beantwortung gilt das Folgende. 1. Die Entwicklung der Gesetzgebung, die die liquidationslose Verschmelzung zweier Rechtsträger als Unternehmen der Wirtschaft ermöglicht, hat m i t dem Erlaß des Bundesgesetzes zur Ergänzung der handelsrechtlichen Vorschriften über die Änderung der Unternehmensform vom 15. August 1969 (BGBl. I S. 1171) einen weiteren Fortschritt und einstweiligen Abschluß erfahren. I m Gesamtrahmen des sog. U m wandlungsrechts stellen die Regelungen, die nicht nur auf die Änderung der äußeren Rechtsform des Unternehmens (formwechselnde U m wandlung) und auf eine übertragende Umwandlung, sondern auf eine Verschmelzung
( V e r e i n i g u n g ) rechtlich
gleichförmiger
Rechtsträger
ab-
stellen, einen Ausschnitt dar. Aber auch eine derartige Verschmelzung 19
So Stolzenburg, S. 34. Das gilt insbes. auch, nachdem die Hamburger Sparkasse bei der Eintragung in das Handelsregister am 16. 6.1972 schlicht als „Stiftung" bezeichnet worden ist; vgl. die Angaben hierüber bei Droese, M D R 1973, S. 25. 20
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Hans Peter Ipsen
gehört zu den Erscheinungen, die von der Gesamtentwicklung des Umwandlungsrechts mitbestimmt worden sind. Diese geht eindeutig dahin, alle Umwandlungsmöglichkeiten mit Gesamtrechtsnachfolge auszuschöpfen. a) Das neueste Beispiel des Entwicklungsabschlusses hierzu liefert A r t . 4 des oben genannten Gesetzes, der durch Einfügung der §§ 44 a bis 44 c und 53 a i n das Gesetz über die Beaufsichtigung der privaten Versicherungsunternehmen und Bausparkassen jetzt die Verschmelzung von Versicherungsvereinen a. G. ausdrücklich geregelt hat. Der Gesetzgeber hat damit eine Entwicklung der Rechtsprechung und Lehr e b e s t ä t i g t , d i e s c h r i t t w e i s e d i e Geltung
allgemeiner
ungeschriebener
Rechtsgrundsätze nachgewiesen hatte, auf Grund deren die Verschmelzung von Versicherungsvereinen a. G. auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung zulässig erschien. Dieses Beispiel eines Entwicklungsabschlusses ist geeignet, die Existenz allgemeiner Rechtsgrundsätze aufzuzeigen, die auch die liquidationslose Verschmelzung von Stiftungen bürgerlichen Rechts gestatten, als welche die beiden Sparkassen als Unternehmensträger zu behandeln waren, obwohl das positive Recht eine derartige Verschmelzung ausdrücklich nicht vorsieht und insbesondere auch m i t dem genannten neuen Gesetz nicht gebracht hat. b) Der Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages 21 legt zutreffend dar, i n der Rechtsprechung habe sich i m wesentlichen die Auffassung durchgesetzt, eine entsprechende Anwendung der aktienrechtlichen Vorschriften auf die Verschmelzung von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit sei zulässig. Da gleichwohl i n der Praxis h i n und wieder Schwierigkeiten aufgetreten seien, schlage der Ausschuß vor, „die überwiegend von der Rechtsprechung bereits anerkannte sinngemäße Anwendung der aktienrechtlichen Verschmelzungsvorschriften auf die Fusion von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit gesetzlich vorzuschreiben". Der Gesetzgeber ist dem gefolgt und hat m i t seiner Regelung also bestätigt, was die Rechtsprechung als bereits ungeschriebenes geltendes Recht anerkannt hatte. c) Diese Entwicklung hatte — nach einer der späteren Rechtsprechung bereits vorgreifenden Entscheidung des Kammergerichts vom 22. A p r i l 191522 — zunächst zur Entscheidung des Reichsgerichts vom 19. Juni 1931 (RGZ Bd. 133 S. 102) geführt, das die Zulässigkeit der Verschmelzung ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung für unzulässig erklärte. Unter dem Eindruck gegenteiliger Praxis des Bundesaufsichtsamtes i n den Jahren 1954 und 195823 und sich mehrender zustim21 22 23
Drucksache V/4 253 zu Art. 3 a Nr. 1 S. 7. Veröff. d. RAufsAmtes f. Privatversicherung — V A — 1915, S. 53. Veröff. d. B A A 1954, S. 64 ff.; 1958, S. 253 ff.
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mender Meinungen der Lehre 2 4 hat dann i n der letzten hierzu ergangenen obergerichtlichen Entscheidung vom 15. März 196625 das Bayerische Oberste Landesgericht unter ausführlicher Begründung und sorgfältiger Exegese von Judikatur, Schrifttum und Gesetzesentwicklung die liquidationslose Verschmelzung solcher Vereine für zulässig erachtet. Diese Auffassung hat sich, wie der zitierte Ausschußbericht zutreffend sagt, durchgesetzt. d) Die hier anstehende Prüfung liquidationsloser Verschmelzung der beiden von der Hechtsordnimg als Stiftungen behandelten Sparkassen kann i n der Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze, die solche Verschmelzung rechtfertigen, von den Erwägungen ausgehen, die zu der (unter c) geschilderten) Entwicklung und schließlich zu ihrer Bestätigung i m neuen Umwandlungsrecht geführt haben. Denn methodisch stellen sich hinsichtlich der Verschmelzungs-Fähigkeit der beiden als Stiftungen zu behandelnden Kassen i m Grundsatz keine anderen Auslegungs- und Rechtsfindungsprobleme, als sie für die Fusionsfrage der Versicherungsvereine zu beantworten waren. Unter Zusammenfassung insbesondere der Entscheidungsgründe des Beschlusses des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 15. März 1966 und der i n der Lehre hierzu erwogenen Gesichtspunkte kommt es für die Ermittlung eines allgemeinen, ungeschriebenen rechtsgrundsätzlichen „Verschmelzungs-Statuts" auf folgendes an: aa) Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze über liquidationslose Verschmelzung, wie sie i m positiven Umwandlungsrecht ihren Niederschlag gefunden haben, setzt voraus, daß die derartige Schließung der Gesetzeslücke i m Wege der Analogie von einer Rechtsähnlichkeit der ungeregelten und der geregelten Tatbestände ausgehen kann. bb) Es bedarf des Nachweises, daß die Nichtregelung einer Stiftungs-Verschmelzung durch den Gesetzgeber von diesem nicht als ein stillschweigend bekundetes gesetzliches Verschmelzungsverbot verstanden worden ist, das eine Analogie ausschließen müßte; ebenso des Nachweises, daß die Erscheinung der liquidationslosen Verschmelzung i m Licht der Gesamtrechtsordnung nicht als eine Ausnahme zu werten 24
Insbes. von Raiser, Verschmelzung von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit, in: VR 1952, S. 329 ff.; Kassner, Zur liquidationslosen Verschmelzung zweier W a G , in: VR 1954, S. 338 ff.; Prölss, VAG-Komm. 5. Aufl. (1966) Anm. 5 zu § 44 VAG, S. 383-384. — Auch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs hat keine Veranlassung gesehen, „von dieser handelsrechtlichen Beurteilung (des BAA, die das BayObLG bestätigt hatte und der auch die Registergerichte gefolgt waren) abzuweichen"; vgl. BFinH Urt. v. 25. 5.1962, BStBl. 1962 I I I S. 354. 25 NJW 1967, S. 52 ff.
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ist, so daß ihre rechtliche Zulassung eben ausdrücklicher Normierung bedürfte. cc) Die Anerkennung eines ungeschriebenen allgemeinen Verschmelzungs-Statuts für die Fusionierung bestimmter Rechtsträger setzt voraus, daß seine Anwendung nicht ihre grundlegenden Struktur elemente außer Acht läßt, wie sie sich aus ihrer Verfassung ergeben. dd) Sie setzt ferner voraus, daß durch die Verschmelzung keine berechtigten Vermögensinteressen der von der Verschmelzung Betroffenen gefährdet oder verletzt werden. ee) Schließlich setzt die Annahme eines allgemeinen VerschmelzungsStatuts voraus, daß die positiven Rechtsregelungen, deren Aussagen dieses Statut materiell-rechtlich ausfüllen, sich als geeignet erweisen, rechtstechnisch und i n einer nach der Interessenlage zweckmäßigen Weise auf den i n Frage stehenden Verschmelzungstatbestand sinngemäß angewendet zu werden. 2. Nach diesen Gesichtspunkten durfte angenommen werden, daß ein auf die freien Sparkassen anwendbares Verschmelzungs-Statut zur Verfügimg stand. a) Die Verschmelzung der beiden Sparkassen stellte einen Tatbestand dar, der i n seinen wesentlichen Elementen solchen Verschmelzungstatbeständen rechtsähnlich war, die gesetzliche Regelung erfahren hatten. aa) Hierfür ist m i t Vorrang erheblich, daß für die beiden freien Sparkassen m i t ihrer Charakterisierung als Stiftungen jedenfalls u m die Jahrhundertwende, als sie durch A r t . 163 EGBGB erfolgte, eine damals für ein wirtschaftliches Unternehmen ihrer Aufgabe anomale Rechtsfigur verwendet wurde. Daß Stiftungen als Rechtsträger w i r t schaftlicher Unternehmungen i n der Vielfalt handelsrechtlicher Unternehmensverfassungen auftreten, hat sich erst später und schrittweise eingestellt und erst i n jüngster Zeit intensivere Förderung und Praktizierung erfahren 2 ·. 26
Vgl. den Überblick über die Entwicklung der unternehmensverbundenen Stiftungen, insbes. der Stiftung als Unternehmensträgerin, bei: Berndt, Stiftung und Unternehmen (1969), S. 6 6 - 8 0 : „Die . . . Übersicht zeigt, daß das Erscheinungsbild der Stiftungen in ihrer Bedeutung für Unternehmen recht vielfältig sich entwickelt hat und die unternehmerisch tätigen Stiftungen . . . innerhalb der Volkswirtschaft eine beachtliche Stellung eingenommen haben." — Ferner: Strickrodt, Stiftungsrecht und Stiftungswirklichkeit, JZ 1961, S. 113; ders., Probleme zur rechtlichen Struktur von Stiftungsunternehmen (1960), S. 22; Goerdeler, Die Stiftung als Rechtsform für Unternehmungen, Z H R Bd. 113, S. 145.
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Was zur Zeit der Überleitung der beiden Sparkassen als rechtsfähiger Personen des alten hamburgischen Rechts i n das geschlossene System der juristischen Personen des bürgerlichen Rechts angesichts ihrer auch damals schon wahrgenommenen und bis heute unveränderten Aufgabenstellung als Sparkassen- und Kreditunternehmen noch ungewöhnlich erscheinen mochte, hat sich unter der modernen Entwicklung des Unternehmensverfassungsrechts der Wirtschaft als eine heute fortschrittlich-adäquate Lösung erwiesen. I n ihrer Aufgabenstellung konnten die beiden Sparkassen nunmehr unbesehen gleichartig eingeordnet werden i n den Kreis anderer handelsrechtlich verfaßter Unternehmen, die gleiche oder entsprechende Funktionen i n der Wirtschaft wahrnehmen. Wenn das für solche Unternehmen des Handelsrechts heute maßgebliche Umwandlungsrecht für eine Vielfalt verschiedener oder untereinander gleichförmiger Unternehmensträger die liquidationslose Verschmelzung vorsieht, kann der Tatbestand der Sparkassenverschmelzung insoweit als ein den gesetzlich geregelten Verschmelzungstatbeständen rechtsähnlicher angesehen werden. bb) Der Gesetzgeber hat die Rechtsähnlichkeit der wirtschaftlichen Funktion, u m die es hier ging, dadurch anerkannt, daß er die Sparkassen als Kreditinstitute i. S. des § 1 K W G diesem Gesetz und seiner A u f s i c h t u n t e r s t e l l t e , und
dies ohne Rücksicht
auf
die Rechtsform
des
Unternehmens, das die i n § 1 K W G bezeichneten Geschäfte betreibt, zu denen nach § 21 K W G insbes. auch das Spargeschäft gehört. Danach ist auch jede juristische Person — und auch die Stiftung — als Kreditinstitut dem K W G unterstellt, wenn sie Geschäfte i. S. des § 1 Abs. I Satz 1 K W G betreibt und nicht den Ausnahmen des § 2 zuzurechnen ist 2 7 . Da das geltende Umwandlungsrecht den als juristischen Personen verfaßten Kreditinstituten, die nicht Stiftungen sind, beim Vorliegen wirtschaftlicher Gründe hierfür die liquidationslose Verschmelzung ermöglicht, würde es unter den gesetzespolitischen Aspekten, die das K W G und seine Aufsicht motivieren, eine Außerachtlassung der Funktionsgleichheit, der Stellung i m Wettbewerb und der Teilnahme am Wirtschaftsverkehr bedeutet haben, wenn den als Stiftungen verfaßten Kreditinstituten gleicher KWG-Bindungen lediglich wegen ihrer abweichenden Rechts/orm eine aus entsprechenden wirtschaftlichen Gründen beabsichtigte Verschmelzung verboten sein sollte. b) Ein Verschmelzungsverbot und die Besonderheit eines Ausnahmetatbestandes konnte dem geltenden Umwandlungsrecht nicht entnommen werden. 27
Consbruch - Möller, K W G - K o m m (1965) Anm. 1 zu § 1 K W G , S. 43.
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aa) Der nächstliegende Grund dafür, daß die letzte Ausweitung des Umwandlungsrechts i m neuen Gesetz von 1969 nicht auch die Verschmelzbarkeit rechtsfähiger Stiftungsunternehmen ausdrücklich normiert hat, dürfte schlicht darin zu sehen sein, daß i m Kreis der Stiftimgsunternehmen ein Bedürfnis hierfür entweder nicht aufgetreten, nicht sichtbar geworden oder aus Interessentenkreisen den gesetzgebenden und den Initativinstanzen nicht rechtzeitig nahegebracht worden war. Wenn sich der Fünfte Abschnitt des neuen Gesetzes der Umwandlungsregelung selbst der Realgemeinden alten Rechts (Art. 164 EGBGB) und der alten Kolonialgesellschaften ausdrücklich angenommen, der Gesetzgeber außerdem noch nach Aufstellung seiner ersten Entwurfsfassung 28 auf Initiative aus Interessentenkreisen nachträglich (im Dezember 1968) die Umwandlung und Verschmelzung der VersicherungsGegenseitigkeits-Vereine i n seine Gesamtkonzeption aufgenommen hat, bestätigt das die Gesamttendenz der Gesetzgebung. Sie ging dahin, insgesamt „Vorschriften über die Umwandlung von Personenhandelsgesellschaften und von Unternehmen eines Einzelkaufmanns, von Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und Genossenschaften i n Kapitalgesellschaften" zu schaffen und auf diese Weise die bisherigen Umwandlungsregelungen des Aktiengesetzes (§§ 362 ff.) und des bisherigen Umwandlungsgesetzes vom 12. November 1956 tunlichst zu vervollständigen. I m Gesetzgebungsverfahren ist diese Tendenz weiterhin perfektioniert worden durch Regelungen über die Umwandlung von Betrieben der Gebietskörperschaften oder Gemeindeverbände oder von Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts i n Gesellschaften mit beschränkter Haftung, die Umwandlung bestimmter wirtschaftlicher Vereine i n Aktiengesellschaften, von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und von Genossenschaften i n Aktiengesellschaften sowie die Verschmelzung von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und die Übertragung ihres Vermögens auf Aktiengesellschaften oder öffentlich-rechtliche Versicherungsunternehmen 29 . Insgesamt ist diese Intensivierung und Perfektionierung des Umwandlungs- und Fusionsrechts das Resultat der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung, u m den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, „eine neue, den veränderten Größenverhältnissen angepaßte und für den Wettbewerb i m Gemeinsamen M a r k t geeignete Rechtsform zu wählen" 3 0 . bb) I n dieser Lage der geltenden Umwandlungsgesetzgebung und ihrer Intentionen konnte der entscheidende Grund, der bis zur Schwen28 29 30
S. 1.
BR-Drucks. 224/68. Vgl. den Auschußbericht Drucks. V/4 253, S. 1. Gesetzesbegründung Drucks. 224/68 S. 8; Auschußbericht Drucks. V/4 253
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kung der Verwaltungs- und Gerichtspraxis gegen die Annahme eines allgemeinen, rechtsgrundsätzlichen und ungeschriebenen Verschmelzungs-Statuts vorgebracht worden war, seine Geltung nicht mehr beanspruchen. Er hatte darin bestanden, eine positive Umwandlungsund Verschmelzungsregelung bilde den gesetzlichen AusnaTimetatbestand, impliziere ein i m übrigen geltendes Umwandlungs- und Verschmelzungsverbot und rechtfertige aus vorhandenen Regelungen dieser A r t nur den Umkehrschluß, auch i n rechtsähnlichen, aber nicht geregelten Tatbeständen seien Umwandlung und Verschmelzung folglich verboten. Für Umwandlungstatbestände i m Bereich des V A G konnte die A n nahme eines solchen Verschmelzungsverbots schon Anfang der 50er Jahre entkräftet werden, und wenn gleichwohl erst das Gesetz von 1969 durch Positivierung auch i m Bereich des V A G abschließende K l ä rung gebracht hat, konnte sie doch nur de lege lata bestätigen, was ohnehin bereits als Inhalt ungeschriebenen Rechts weit überwiegend Anerkennung gefunden hatte und von den Gerichten praktiziert worden war. Für die liquidationslose Verschmelzbarkeit zivilrechtlicher Stiftungsunternehmen hat es an Beispielen der Gesetzgebung, die diesen Tatbestand hätten einbeziehen können, die Einbeziehung aber unterließen und deshalb durch Umkehrschluß ein Verschmelzungsverbot hätten i m plizieren können, völlig gefehlt. Eben weil Stiftungsunternehmen aus den (unter aa) genannten Gründen noch nicht i n den Anschauungsbereich der Gesetzgebung eingetreten waren, konnte es keinen gesetzgeberischen Anlaß zur Ableitung eines gerade sie treffenden Verschmelzungsverbotes geben. cc) Aus allem durfte gefolgert werden, daß Entwicklung und Stand der geltenden Umwandlungsgesetzgebung weder dazu nötigten noch auch nur gestatteten, ein stillschweigendes, aus Umkehrschluß abgeleitetes Verschmelzungsverbot für Stiftungsunternehmen anzunehmen. Entsprechendes sprach gegen die Annahme, i n einer solchen Verschmelzung einen Ausnahme-Lebenstatbestand zu sehen, der als solcher nicht Anwendungsgegenstand allgemeiner ungeschriebener Rechtsgrundsätze sein könne und nur positiv-rechtlich von der Rechtsordnung honoriert werden dürfe. c) I n den existierenden gesetzlichen Regelungen des Umwandlungsrechts haben strukturelle Unterschiede der Verfassungen der beteiligten Rechtsträger teilweise besondere Schwierigkeiten bereitet, den Verschmelzungsvorgang zu bewältigen, ohne dabei den Verfassungsbesonderheiten des übertragenden und aufgenommenen Rechtsträgers Ge-
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wait anzutun. Insbesondere war das der F a l l bei den Versicherungsvereinen, wo die Verschmelzung nicht nur die Vereinigung der Versicherungsbestände, sondern auch eine solche der Mitgliederbestände erforderlich machte. Das genossenschaftlich-mitgliedschaftliche Strukturelement ihrer Verfassungen war bei dem Vollzug der Verschmelzung also zu berücksichtigen 31 . Lehre und Rechtsprechung haben hierzu aus allgemeinen rechtsdogmatischen Gründen des Körperschaftsrechts keine Bedenken gehabt, Mitglieder des aufgenommenen Vereins auch ohne oder gegen ihren Willen i n den Mitgliederkreis des übernehmenden Vereins zu überführen. §§ 44 a ff. V A G i. F. des neuen Umwandlungsgesetzes haben die entsprechende Regelung getroffen und ihre dogmatische Rechtfertigung bestätigt. Für die Verschmelzung der beiden Sparkassen bestanden, was für diese wesentliche Verfassungsfrage von entscheidender Bedeutung ist, i n dieser Hinsicht keine rechtlichen Schwierigkeiten. Dies aus folgenden Gründen: aa) Beide Sparkassen hatten i n ihrer Verfassungsstruktur ausgesprochenen Zwillingscharakter. Das galt insbesondere für ihre Rechtsnatur, ihre Aufgaben- und Zweckbestimmung, ihre Organisation, ihre Finanzverfassung und ihre Beaufsichtigung. Was i n ihren Satzungen an Unterschieden bestand, hatte i n keiner Beziehung strukturelle Relevanz. bb) Da beide Kassen aller genossenschaftlich—mitgliedschaftlichen Strukturen entbehrten und ausschließlich Organisationsformen eines beiden identischen objektivierten Zweckes darstellten, standen ihrer Verschmelzung keinerlei körperschaftliche Rechtshindernisse entgegen. cc) Insgesamt gesehen, gab es deshalb keine relevanten Rechtsunterschiede oder Rechtshindernisse der Sparkassenverfassungen, die der Verschmelzung auch nur hinderlich sein konnten. d) Vermögensinteressen standen bei der Verschmelzung der Sparkassen als solche der Sparkassen selbst, die Träger ihres eigenen Vermögens waren, solche der Sparer, der sonstigen Kunden und des Personals i n Frage, endlich — i n einem weiteren Sinne — solche der Destinatäre für den F a l l der Auflösung. aa) Zunächst war wesentlich, daß die Verschmelzung — außer der Genehmigung des Senats — der M i t w i r k u n g der KWG-Aufsichtsbehörde bedurfte 3 2 , die nach § 24 Abs. I I schon von der Absicht der Vereinigung rechtzeitig durch Anzeige zu unterrichten war. Ebenso wie 81
Vgl. hierzu Raiser, S. 330; BayObLG S. 54 unter 6 a). Zur Genehmigungsbedürftigkeit durch das B A A für Versicherungsvereine: Kassner VersR 1954, S. 339; heute: § 44 a Abs. I I Satz 4 VAG. 82
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für die Verschmelzung von Versicherungsvereinen i n der Genehmigungskontrolle der Versicherungsaufsicht und ihren Überwachungsund Prüfungsrechten eine denkbar sichere Vorsorge dafür gesehen worden ist, daß m i t der Verschmelzung eine Gefährdung berechtigter Vermögensinteressen vermieden wird, konnte i n der erforderlichen M i t w i r k u n g der Bankenaufsicht eine entsprechende, staatlich verantwortete Sicherung gesehen werden. bb) Indem m i t der Verschmelzung unter Gesamtrechtsnachfolge alle Forderungen und Verbindlichkeiten der Neuspar auf die Haspa übergingen, deren Sicherheit unter der Bankenaufsicht nicht i n Frage stand, blieben die Vermögensinteressen aller bei beiden Kassen, insbesondere auch der Neuspar, Interessierten unberührt. Entsprechendes konnte auch für die Interessen des Personals ohne Bedenken angenommen werden. Die Kontinuität beim Wechsel der Rechtssubjekte bot die Gewähr, daß den Gläubigern der Neuspar durch den Wegfall ihres Schuldners die Haftungsgrundlage nicht entzogen wurde. cc) Da beide Sparkassen sich i n ihrem Charakter der Gemeinnützigkeit, i n der Regelung ihrer Reingewinnverwendung und i m Ergebnis auch i n der Destination etwaigen Liquidationserlöses i m Falle der A u f lösung glichen, erfuhren die bezüglich der Neuspar existierenden w i r t schaftlichen und Vermögensinteressen durch ihre Verschmelzung keine schädigende oder sonst beeinträchtigende Veränderung. Schutzwürdige Interessen Beteiligter wurden also nicht berührt. e) „Ist somit die Analogie nicht durch einen Umkehrschluß verwehrt, stehen i h r weiter keine schutzwürdigen rechtlichen Interessen Beteiligter entgegen, so ist schließlich noch zu prüfen, ob die vorhandenen, positiv-rechtlichen Fusionsnormen rechtstechnisch auf die Verschmelzung (hier: der beiden Sparkassen) wegen der Rechtsähnlichkeit des Vorgangs dergestalt sinngemäß angewendet werden können, daß dies zu einer zweckmäßigen und der Interessenlage entsprechenden brauchbaren Gestaltung des nicht normierten Vorgangs f ü h r t " 3 3 . Diese Frage w a r unbedenklich
zu
bejahen.
f) Daß i m Falle der Verschmelzung der beiden freien Sparkassen i m Wege der Aufnahme der Neuspar durch die Haspa die Bezeichnung „Sparkasse" weiterhin geführt werden durfte, ergibt sich daraus, daß die hierzu nach § 40 Abs. I Ziffer 2 K W G bis zur Verschmelzung berechtigte Haspa als Rechtsperson i n erweitertem Umfang fortbestand und ihr Recht zur Führung der Bezeichnung „Sparkasse" unberührt blieb 3 4 . 83
So die zutreffende Fragestellung des BayObLG S. 53 - 54. Ebenso: Szagunn - Neumann, Gesetz über das Kreditwesen, 2. Aufl. (1967), Anm. 3 zu § 40 K W G , S. 479. 34
Versicherungsaufsichtsrecht in der Europäischen Gemeinschaft Von Hans Möller I. H o m m a g e à Weber Werner Weber, dem dieser Beitrag i n herzlicher kollegialer Verbundenheit gewidmet ist, hat sich seit 1940 auch literarisch immer wieder mit dem Versicherungsrecht und speziell dem Versicherungsaufsichtsrecht befaßt. Das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG), welches auf das Jahr 1901 zurückgeht, aber besonders 1931, 1937, 1943 und 1972 wesentlich geändert worden ist, hat Werner Weber mehrfach kritisch beleuchtet 1 . Besonders mutig war 1941/42 sein Vorstoß, „das Maß und die Grenzen der Versicherungsaufsicht dergestalt neu zu finden und zu umschreiben, daß der Bereich eigenverantwortlicher Daseinsgestaltung durch die Unternehmungen der Versicherungswirtschaft sich wieder abheben läßt von den Bindungen und Beziehungen, i n denen sie dem Zugriff der staatlichen Lenkung und Überwachung ausgesetzt sind" 2 . M i r ist deutlich i n Erinnerung, welches Aufsehen damals die kühnen Aufsätze Werner Webers erregt haben, ebenso wie ein i n Hamburg vor dem von m i r betreuten Versicherungswissenschaftlichen Verein 1942 gehaltener Vortrag über „Gegenwartsfragen des Versicherungsverwaltungsrechts" 3 . Jetzt w i r d i m Zuge der Schaffung des Gemeinsamen Marktes das Versicherungsaufsichtsrecht neuerlich geändert werden, und zwar zunächst aufgrund der nach langen Verhandlungen endlich vom Rat der Europäischen Gemeinschaften erlassenen „Ersten Richtlinie des Rates vom 24. J u l i 1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvor1 Besonders in: Grund- und Zeitfragen der Versicherungswirtschaft und Versicherungswissenschaft, 1941, S. 60 - 82, Die Bank 1941 S. 421 - 424, 996 1000, HansRGZ 1942 A Sp. 129 - 142, Querschnitt durch die Versicherungsforschung, 1949, S. 5 - 1 5 , 50 Jahre materielle Versicherungsaufsicht, Bd. 1, 1952, S. 48 - 72, ZVersWiss 1961 S. 333 - 350, 25 Jahre Institut für Versicherungswissenschaft an der Universität zu Köln, 1966, S. 51-71, ZVersWiss 1968 S. 227 - 249. 2 Weber HansRGZ 1942 A Sp. 133. 3 Veröffentlicht: HansRGZ 1942 A Sp. 129 - 142.
48 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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Schriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung)". Gleichzeitig ist eine „Richtlinie des Rates vom 24. J u l i 1973 zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit auf dem Gebiet der Direktversicherung m i t Ausnahme der Lebensversicherung" erlassen worden. Beide Richtlinien (im Folgenden: 1. KoordR und AufhebungsR) 4 verdienen einführende Bemerkungen, welche zunächst generell die vorzunehmenden Gesetzesänderungen betreffen sollen (II.), weiterhin speziell die i n Betracht kommenden Versicherungszweige (III.) und Versicherungsunternehmen (IV.) und schließlich Grundsätze der künftigen laufenden Beaufsichtigung (V.).
IL T r a n s o fr m a o i t n der R c ih n i t le in Es handelt sich u m Richtlinien, die an sämtliche Mitgliedstaaten gerichtet sind (Art. 38 1. KoordR, A r t . 7 AufhebungsR), aber nicht unmittelbar z. B. an die Versicherungsunternehmen oder andere „Marktbürger" 5 . Anders als eine Verordnung i. S. des A r t . 189 Abs. 2 EWGV w i r k t hiernach eine Richtlinie nicht m i t allgemeiner Geltung i n jedem M i t gliedstaat, sondern es bedarf einer Transformation in die nationalen Rechtsordnungen, damit der Inhalt der Richtlinie für die Marktbürger verbindlich werde. Was die Verordnung i n einem Schritt zu erreichen vermag, bedarf bei der Richtlinie des Weges über zwei Gestaltungsstufen, man kann auch von einer „gestuften Verbindlichkeit" sprechen 6. Der rechtstechnische Weg über die Richtlinien bietet den Vorteil, daß „den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der M i t t e l " überlassen bleibt; nur „hinsichtlich des zu erreichenden Ziels" sind die Richtlinien für die Mitgliedstaaten verbindlich (Art. 189 Abs. 3 EWGV). Die Rechtsharmonisierung erfolgt also nicht auf dem Wege der Schaffung einer überstaatlichen Rechtsquelle, hier eines EWG-Versicherungsaufsichtsgesetzes, sondern den Mitgliedstaaten bleibt — was die Form anlangt — die Möglichkeit offen, i n ihrer nationalen Rechtstechn i k den Richtlinieninhalt zu formen, wofür i n der Bundesrepublik Deutschland staatsrechtlich ein Gesetz vonnöten ist 7 . Dieses Gesetz 4
Abdrucke: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1973 Nr. L 228/3 22 = Veröffentlichungen des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen 1973 S. 276-288. — Aus dem Schrifttum vgl. Levie ZVersWiss 1973 S. 243 - 276. 5 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 455. 6 Ipsen S. 456, 458.
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könnte theoretisch den W o r t l a u t der Richtlinien übernehmen, also den Richtlinieninhalt zum innerstaatlichen Gesetz umschaffen. Aber die Richtlinien, welche z . B . stets generell von den Mitgliedstaaten sprechen u n d von deren Maßnahmen gegenüber den Versicherungsunternehmen, sind für diese F o r m der Transformation wenig geeignet. E i n eigenständiges neues einheitliches Versicherungsaufsichtsgesetz zu schaffen, würde eine totale Revision erforderlich machen; diese Aufgabe muß schon aus Zeitgründen der Z u k u n f t überlassen bleiben. Überdies bedeuten die beiden ersten Richtlinien n u r Stückwerk; denn sie betreffen n u r die Nichtlebensversicherung u n d n u r die Niederlassungsfreiheit, noch nicht die Dienstleistungsfreiheit. I n diesem Stadium ist der deutsche Gesetzgeber nicht berufen, eine Reform an Haupt u n d Gliedern zu realisieren. So bleibt w o h l n u r die Möglichkeit, das V e r sicherungsaufsichtsgesetz i n einer Novelle zu ergänzen u n d zu ändern, vielleicht auch ein Nebengesetz zu schaffen — eine nicht ganz einfache Aufgabe 8 ! War soeben von der W a h l der F o r m die Rede, so beläßt A r t . 189 Abs. 3 E W G V den Mitgliedstaaten überdies die „ W a h l der Mittel", die n u r geeignet sein müssen, daß „ Z i e l " der Richtlinie, also die angestrebten Ergebnisse, zu erreichen. Da die behandelten Richtlinien sehr detaillierte Normen bringen, da also die Regelungsintensität sehr stark ist, schrumpft der Spielraum für die M i t t e l w a h l bei den Mitgliedstaaten arg zusammen 9 . Zuweilen heben die Richtlinien ausdrücklich hervor, daß den Mitgliedstaaten ein Regelungsspielraum verbleibe. So heißt es ζ. B. i n A r t . 8 Abs. 3 (vgl. auch A r t . 10 Abs. 3) 1. KoordR: „Die derzeitige Koordinierung steht dem nicht entgegen, daß die Mitgliedstaaten Vorschriften anwenden, die die Notwendigkeit einer fachlichen Eignung der Mitglieder der Verwaltungsorgane sowie die Genehmigung der Satzung, der Allgemeinen und Besonderen Versicherungsbedingungen, der Tarife und aller anderen zur ordnungsgemäßen Ausübung der Aufsicht erforderlichen Dokumente vorschreiben."
Zuweilen — andererseits — gibt es Verbotsnormen, wonach eine bestimmte Regelung nicht erfolgen dürfe: So sollen z . B . die M i t g l i e d 7 Es genügt also nicht eine Durchführungsverordnung, und das erforderliche Gesetz sollte auch nicht als bloßes Durchführungsgesetz bezeichnet werden. Das „Überleitungsgesetz" könnte seinerseits gewisse flexible Einzelmaterien auf Verordnungen delegieren, ζ. B. Einzelfragen der finanziellen Anforderungen wie Solvabilitätsspanne und Garantiefonds (vgl. Art. 16 - 1 7 1. KoordR). 8 Die Schwierigkeit ergibt sich aus dem Nebeneinander der bisherigen Regelung (für die Lebensversicherung) und der Neuregelung (für die Nichtlebensversicherung), welche obendrein den Aufsichtsbereich (ζ. B. für die Transportversicherung) — mit Modifikationen — erweitert. Diese hoffentlich nur kurzfristige Aufspaltung ist allemal mißlich. • Ipsen S. 459.
48*
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Staaten keinerlei Vorschriften über die Anlage der Aktivwerte erlassen, soweit diese nicht zur Bedeckung der technischen Reserven dienen; ferner „sehen die Mitgliedstaaten davon ab, die freie Verfügung über die beweglichen und nicht beweglichen Vermögenswerte der zugelassenen Unternehmen zu beschränken" (Art. 18 Abs. 1, 2 Unterabs. 1 1. KoordR) 1 0 . Die Mitgliedstaaten t r i f f t aus ihrer Gliedstellung heraus eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur innerstaatlichen Rechtsetzung, eine (schuldrechtsähnliche) Vollzugspflicht 11 , die das deutsche Verfassungsrecht i n A r t . 24 Abs. 1 GG besonders anerkennt. Die Obligation ist befristet: „Die Mitgliedstaaten ändern ihre einzelstaatlichen Vorschriften . . . binnen achtzehn Monaten nach Bekanntgabe der Richtlinie" (Art. 35 Abs. 1 1. KoordR, auch Art. 6 Satz 1 AufhebungsR). Da die Bekanntgabe der Richtlinie i m Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften am 16. August 1973 erfolgt ist, muß die Transformation i n die nationalen Rechtsordnungen bis zum 17. Februar 1975 vor sich gehen 12 . Die geänderten Vorschriften werden (mit einigen wichtigen Einschränkungen) nach Ablauf einer Frist von 30 Monaten vom Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie an angewendet, also ab 17. Februar 1976 (Art. 35 Abs. 2 1. KoordR, vgl. auch A r t . 6 Satz 2 AufhebungsR). Schon taucht die Frage auf, ob alle Mitgliedstaaten ihre Vollzugspflicht pünktlich erfüllt haben werden. Trifft das nicht zu, so gilt nicht etwa unmittelbar für die Versicherungsunternehmen das Richtlinienrecht. Vielmehr greifen die (schwachen) Sanktionen der A r t . 169 -171 EWGV Platz: „Stellungnahme" der Kommission mit nachfolgender A n rufung des Gerichtshofes oder Anrufung des Gerichtshofes seitens eines anderen Mitgliedstaates, wiederum nach Einschaltung und Stellungnahme der Kommission. Die Urteile des Gerichtshofes sind gegen den Mitgliedstaat nicht vollstreckbar 13 . Retorsionsmaßnahmen durch andere Mitgliedstaaten sehen die Römischen Verträge nicht vor 1 4 . Sollte also ein Unternehmen mit Sitz i n einem anderem Mitgliedstaat die Genehmigung zur Errichtung einer Zweigniederlassung i n der Bundesrepub l i k Deutschland nachsuchen, obgleich i n jenem anderen Mitgliedstaat 10
Weitere Verbotsnormen: Art. 8 Abs. 4, 10 Abs. 4 1. KoordR (keine Prüfung der Marktbedürfnisse), Art. 2 Abs. 3 AufhebungsR (später: keine Hinterlegungen und Kautionen), Art. 5 AufhebungsR (keine Beihilfen). 11 Ipsen S. 456, 457. 12 Levie ZVersWiss 1973 S. 269, 270 stellt darauf ab, daß die Bekanntgabe an die Mitgliedstaaten bereits am 31. Juli 1973 erfolgt sei (ebenso der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft, 25. Geschäftsbericht 1972/73, S. 79). 13 Ipsen S. 535. 14 Ipsen S. 532.
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die Richtlinien noch nicht ins nationale Recht transformiert worden sind (so daß die Reziprozität fehlt), so müßte dem ausländischen Unternehmen die deutsche Zulassung gewährt werden — eine unbefriedigende, kaum zumutbare Lösung! Soweit ein Versicherungsunternehmen geschädigt wird, weil ein Mitgliedstaat seine Vollzugspflicht nicht erfüllt hat, richtet sich die Staatshaftung nach dem nationalen Recht jenes Staates. Es erscheint zweifelhaft, ob es gelingt, die Richtlinien vollständig und richtig i n das Recht der Mitgliedstaaten zu transformieren. Ergeben sich Auslegungszweifel bei der Anwendung des künftigen deutschen Rechts, so müssen sie i m Sinne der Richtlinien, ihrer Zielsetzung und der Zielbestimmungen des Gemeinschaftsrechts überhaupt geklärt werden 15 . Die deutschsprachige Fassung ist verbindlich (vgl. A r t . 248 Abs. 1 EWGV), aber die fremdsprachigen Fassungen können als Interpretationshilfe dienen. Der Auslegung steht eine etwa notwendige Ergänzung der künftigen deutschen Rechtsquellen gleich. Soweit aber diese Rechtsquellen den Richtlinien eindeutig widerstreiten, müssen sie zunächst angewendet werden, da die Richtlinien kein für die Marktbürger unmittelbar anwendbares Recht gesetzt haben. Nur i n dem langwierigen Verfahren, das wegen (Teil-)Verletzung der Vollzugspflicht i n Art. 169-171 EWGV vorgesehen ist, kann eine Rechtsänderung erreicht werden.
III. B e a u s f c ih g i te t V e r s c i h e r u n g s z w e g ie Die Richtlinien behandeln die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung). Sie verwenden sehr viel Mühe auf die A b grenzung ihres Anwendungsbereiches. 1. Ausgeschieden ist zunächst die Sozialversicherung (die Versicherung „ i m Rahmen eines gesetzlichen Systems der sozialen Sicherheit": A r t . 2 Ziff. 1 d l . KoordR). Die Sozialpolitik der Europäischen Gemeinschaft ist in Spezialvorschriften (Art. 117 - 128, 51 EWGV) behandelt. Die Abgrenzung der Individual- von der Sozialversicherung bereitet i m Blick auf gewisse Institutionen Schwierigkeiten 16 . Auch die Richtlinien bringen keine eindeutige Abgrenzung. Für Deutschland stellen sie aber ζ. B. klar, daß die Postbeamtenkrankenkasse und die Krankenversorgung der Bundesbahnbeamten durch die Richtlinien nicht betroffen würden (Art. 4 a 1. KoordR). 15
Ipsen S. 561. Weber in: Grundprobleme des Versicherungsrechts, Festgabe für Hans Möller, 1972, S. 499 - 509 hat sich mit solchen Abgrenzungsfragen befaßt. 16
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2. I m Bereiche der Nicht-Sozialversicherung gibt es gewisse Grenzgebilde, deren Versicherungscharakter streitig ist 1 7 . Die Richtlinien enthalten keine Definition des Versicherungs- oder Versicherungsunternehmensbegriffes, sondern beschränken sich darauf, gewisse „Geschäftsvorgänge" als nicht betroffen zu bezeichnen: Kapitalisationsgeschäfte, „Geschäfte der für Versorgungs- und Unterstützungszwecke geschaffenen Institutionen, deren Leistungen sich nach den verfügbaren M i t t e l n richten, während die Höhe der Mitgliedsbeiträge pauschal festgesetzt w i r d " und „Geschäfte eines Unternehmens ohne Rechtspersönlichkeit, deren Zweck der gegenseitige Schutz der Mitglieder des Unternehmens ohne Prämienzahlung und ohne Bildung technischer Reserven ist" (Art. 2 Ziff. 2 a - c 1. KoordR). Die Kapitalisationsgeschäfte sind besonders i n Frankreich zum Teil dem Versicherungswesen zugerechnet worden. Bei den Unterstützungseinrichtungen (§ 1 Abs. 2 VAG) stellt das geltende deutsche Recht auf das Nichtvorhandensein eines Rechtsanspruches der Mitglieder ab, während die Richtlinie auf die begrenzten verfügbaren M i t t e l abhebt. Bei den Schutzvereinen ohne Prämienzahlung ist z. B. an kommunale Schadenausgleiche (§ 1 Abs. 4 VAG) und an Gewerkschaften zu denken, die keine eigene Rechtspersönlichkeit besitzen, aber etwa bei Streiks oder Krankheit den Mitgliedern Hilfe gewähren. 3. Was nun die eigentlichen Versicherungsunternehmen der Individualversicherung, der Privatversicherung anlangt, so beziehen sich die R i c h t l i n i e n n u r a u f d i e Direktversicherung.
D i e Rückversicherung
ist
bereits behandelt durch die Richtlinie des Rats vom 25. Februar 1964 zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs auf dem Gebiet der Rückversicherung und Retrozession 18 . Diese Richtlinie gilt gemäß A r t . 2 Ziff. 2 auch bei „gemischten Unternehmen", welche zugleich Erst- und Rückversicherungsgeschäfte betreiben, für den Rückversicherungsteil ihrer Tätigkeit. Die Aufhebung der Beschränkungen hinsichtlich der Tätigkeitsaufnahme und -ausübung kann aber bei den gemischten Unternehmen m. E. nicht bedeuten, daß der Rückversicherungsteil völlig aufsichtsfrei bleibt. Nicht nur die sogen, mittelbare Aufsicht muß aufrechterhalten bleiben, sondern man w i r d auch fordern müssen, daß z. B. i m Tätigkeitsplan Angaben darüber gemacht werden, daß der Direktversicherer 17
Dazu Näheres bei Sieg ZVersWiss 1969 S. 495 - 516. Abdruck: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1964 S. 878/64 = Veröffentlichungen des Bundesaufsichtsamtes 1964 S. 105 - 106, vgl. auch Bekanntmachung zur Durchführung dieser Richtlinie vom 8. X I . 1965 BAnz Nr. 218 vom 20. X I . 1965 = Veröffentlichungen des Bundesaufsichtsamtes 1965 S. 261. 18
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auch die Rückversicherung betreiben wolle. Die finanziellen Garantien müßten bei einem „gemischten Unternehmen" i m Blick auf den Rückversicherungsteil verstärkt werden. I m ganzen klafft zwischen den Richtlinien zur Direktversicherung einerseits, zur Rückversicherung andererseits eine Regelungslücke, es fehlt durchweg an einer Verzahnung 1 9 . 4. Die Richtlinien behandeln noch nicht die Lebensversicherung und demzufolge auch noch nicht das Problem, ob der Grundsatz der Spartentrennung zwischen Lebensversicherung und anderen Versicherungszweigen, wie er von der deutschen Verwaltungspraxis entwickelt worden ist, künftig aufrecht erhalten oder ob eine „Allbranchengesellschaft" zugelassen werden soll. Eine vorzügliche Aufzählung der zur Lebensversicherung gehörigen Vertragsformen (Kapital- und Rentenversicherung, nebst Zusatzversicherungen) findet sich i n A r t . 2 Ziff. 1 a - c 1. KoordR. 5. A l l e übrigen Versicherungszweige werden durch die Richtlinien erfaßt. Es handelt sich dabei i n der Hauptsache u m Schadensversicherungen; deshalb hat man die 1. KoordR gelegentlich auch Schadensversicherungsrichtlinie genannt. Aber erfaßt werden durch sie auch alle Summenversicherungszweige außerhalb der Lebensversicherung, z.B. die Unfall- und Krankenversicherung m i t abstrakter Bedarfsdeckung 20 . Die erfaßten Versicherungszweige werden i m Anhang der 1. KoordR unter A aufgezählt. Die Aufzählung ist allerdings nicht ganz lückenlos und unproblematisch. Bemerkenswert ist neben der Unfall- und Krankenversicherung die Unterstellung der See- und Transportversicherung unter das EWG-Aufsichtssystem (entgegen dem bisherigen § 148 VAG). Der See- und Transportversicherung werden laut Anhang (unter Β c) zugerechnet: die Kaskoversicherung (außer bei L u f t - und Landfahrzeugen, speziell Kraftfahrzeugen), die Transportgüterversicherung (unabhängig vom Transportmittel) und die Haftpflichtversicherungen, die sich aus der Verwendung von Fluß-, Binnen- und Seeschiffen ergeben. Unberücksichtigt sind ζ. B. die Versicherung entgehenden und imaginä19 Immerhin berücksichtigt Art. 16 Abs. 3 1. KoordR in den Bestimmungen über die Solvabilitätsspanne beim Beitragsindex die „aus Rückversicherungen übernommenen Beiträge", beim Schadensindex auch den Betrag der Schadensersatzleistungen „für in Rückversicherung oder in Retrozession übernommene Verpflichtungen" (einschl. Rückstellungen). — Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, die nur die Rückversicherung betreiben, dürfen m. E. künftig (außer im Falle des Art. 3 Abs. 2 1. KoordR) nicht mehr beaufsichtigt werden; bisher galt für sie in § 148 Abs. 1 Satz 1 V A G eine Ausnahmeregelung. 20 Bei konkreter Bedarfsdeckung, also als Kostenversicherungen, zählen die Unfall- und Krankenversicherung sowieso zur Schadensversicherung.
760
Hans Möller
ren Gewinns und die Frachtversicherungen, welche man i m Wege der Analogie traditionell der See- und Transportversicherung zuordnen m u ß . Z u m V e r s i c h e r u n g s z w e i g „Feuer-
und andere
Sachschäden"
(An-
hang unter Β e) gehören wirtschaftlich nicht nur die Versicherungen von Sachinteressen (Eigentümerinteressen), ausgenommen Kasko- und Transportgüterversicherungen, sondern auch ζ. B. die Betriebsunterbrechungs- und Mietausfallversicherung, welche der Katalog der Versicherungszweige (unter A Ziff. 16) nur unter der Bezeichnung „Verschiedene finanzielle Verluste" erfaßt. Auch die Zuordnung gewisser technischer Versicherungszweige (ζ. B. Montage-, Bauwesenversicherung) ist insofern nicht geglückt, als es hier nicht u m die Versicherung von (sonstigen) Sachschäden (A Ziff. 9) zu Gunsten des Eigentümers geht, sondern besonders auch um die Gefahr von Werkvertragsunternehmen, „noch einmal leisten zu müssen" (Garantiemoment des Werkvertrages). Wenn man hier nicht die Gruppe „Allgemeine Haftpflicht" (A Ziff. 13) zum Zuge kommen lassen w i l l , bleibt nur die Gruppe „Verschiedene finanzielle Verluste" (mit der Untergruppe: „sonstige finanzielle Verluste") (A Ziff. 16) anwendbar. I n der Verwaltungspraxis werden sich diese Unstimmigkeiten überwinden lassen; denn die Zulassung w i r d regelmäßig für möglichst viele, womöglich alle Versicherungszweige der 1. KoordR beantragt werden 2 1 . Die Bezeichnung für solches Vielbranchenunternehmen läßt der A n hang (unter B h) noch offen: Sach- oder Schadensversicherungsgesellschaft wären zu enge Namen; vielleicht bürgert sich die schon gelegentlich benutzte Bezeichnung: Allgemeine Versicherungsgesellschaft ein. 6. Der Tätigkeitsbereich solcher allgemeinen Nichtlebensversicherungsunternehmung (in England spricht man von non-life-insurance) wäre sehr weit. I n Deutschland verlangt die Aufsichtspraxis bislang den getrennten Betrieb der Kranken-, Kredit- und Rechtsschutzversicherung. U m das Postulat solcher Spartentrennung ist bei der Entstehung der Richtlinien hart gerungen worden; man ist zu keiner Übereinstimmung gelangt. Die Richtlinien haben für eine Übergangszeit einen Kompromiß gefunden: es heißt i n der Präambel Abs. 5 1. KoordR: „Die Frage, ob es zulässig ist, daß Krankenversicherung, Kredit- und Kautionsversicherung sowie Rechtsschutzversicherung nebeneinander oder gleichzeitig mit anderen Versicherungszweigen betrieben werden, ist in den Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt; bei Fortbestehen dieser Unterschiede nach der Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit in den Versicherungszweigen außer der Le21 Mißlich ist es nur, daß eine geplante Verordnung über die Rechnungslegung von Versicherungsunternehmen eine vom Anhang der 1. KoordR stark abweichende Aufschlüsselung der Versicherungszweige vornimmt.
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bensversicherung würden Behinderungen der Niederlassungsfreiheit bestehen bleiben; eine Lösung dieses Problems muß im Rahmen einer späteren Koordinierung, die in verhältnismäßig naher Zukunft vorzunehmen ist, vorgesehen werden."
I n Art. 7 Abs. 2 c 1. KoordR w i r d für Deutschland eine befristete Sonderregelung getroffen: „Bis zu einer weiteren Koordinierung, die innerhalb von vier Jahren nach Bekanntgabe dieser Richtlinie erfolgen muß, ist die Bundesrepublik Deutschland berechtigt, das Verbot aufrechtzuerhalten wonach in ihrem Staatsgebiet die Zweige der Krankenversicherung, Kredit- und Kautionsversicherung oder Rechtsschutzversicherung nicht nebeneinander oder gleichzeitig mit anderen Zweigen betrieben werden dürfen."
Die Motive für das bisherige deutsche Gebot der Spartentrennung sind unterschiedlich. Bei der Krankenversicherung spielt eine Rolle, daß sie versicherungstechnisch der Lebensversicherung nahesteht; auch sie w i r d auf mathematischer Grundlage betrieben, die Prämientarife bilden auch hier einen Bestandteil des genehmigungsbedürftigen Geschäftsplanes (vgl. § 12 VAG). Infolge der steten Ausweitung der sozialen Krankenversicherung sind die privaten Krankenversicherungsunternehmen i n einer schwierigen Lage, die es vielleicht sogar erwünscht erscheinen läßt, die Verwaltungskosten durch Einbau i n ein allgemeines Versicherungsunternehmen zu verteilen. Eine Beibehaltung der mathematischen Grundlagen braucht dadurch ebensowenig gefährdet zu werden wie die dauernde Erfüllbarkeit der Verträge, zumal wenn die technischen Rückstellungen, ζ. B. die Alterungsrückstellung, als Sondervermögen dem Zugriff der übrigen Gläubiger des Versicherers entzogen werden. Bei der „heißen" oder „großen" Kreditversicherung findet das Gebot der Spartentrennung seine Rechtfertigung darin, daß besonders i n Zeiten der Depression die Kreditversicherung sich als ein sehr konjunkturempfindlicher Versicherungszweig erweisen kann; es soll verhindert werden, daß sich finanzielle Schwierigkeiten eines Versicherers zugleich auch zu Lasten der i n den Sachversicherungszweigen Versicherten auswirken. Mag sich auch dieses besondere Kreditversicherungsrisiko i m Rahmen einer Mehrbranchengesellschaft ausgleichen lassen 22 , so sprechen bei der Rechtsschutzversicherung ganz andere, inkompensable Gesichtspunkte für die Aufrechterhaltung der Spartentrennung: Ein Versicherer, der neben der Rechtsschutzversicherung andere Versicherungszweige, insbesondere die Haftpflichtversicherung betreibt, gerät i n interne Interessenkonflikte, welche den Belangen der Versicherten widerstreiten. Mindestens der Verdacht, 22
So muß ζ. B. der Mindestgarantiefonds bei Kreditversicherern besonders hoch sein (Art. 17 Abs. 2 a 1. KoordR).
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Hans Möller
nicht unparteiisch unterstützt zu werden, muß z. B. bei einem Verkehrsunfallgeschädigten und Rechtsschutzversicherten auftauchen, der einen Gegner i n Anspruch nehmen w i l l , welcher beim gleichen Versicherer haftpflichtversichert ist. Je wirkungsvoller nämlich der Rechtsschutzversicherer den Geschädigten unterstützen würde, desto höher würde die Entschädigung ausfallen, die er selbst als Haftpflichtversicherer aufzubringen hat. Da heute i m Kraftfahrzeughaftpflichtversicherungsrecht eine action directe zulässig ist, könnte der Rechtsschutzversicherte gegen seinen eigenen Versicherer qua Autohaftpflichtversicherer klagen, und dieser gleiche Versicherer wäre qua Rechtsschutzversicherer verpflichtet, die Agression gegen sich selbst nach Kräften zu unterstützen. Solche zwiespältige Doppelrolle kann kein Versicherer spielen. Auch beim Zusammentreffen der Rechtsschutzversicherung m i t Sach- und Unfallversicherungen ergeben sich Interessenkonflikte für einen Kompositversicherer. Deshalb steht zu hoffen, daß wenigstens für den Bereich der Rechtsschutzversicherung der Gedanke der notwendigen Spartentrennung sich i m Gemeinsamen M a r k t und international darüber hinaus durchsetzt 23 . Die Richtlinien führen dazu, daß mindestens bis zur späteren Koordinierung i n der Bundesrepublik Deutschland Kranken-, Kredit- und Rechtsschutzversicherungsunternehmen weiterhin nur als Spezialversïcherer zugelassen werden, solange Deutschland die Spartentrennung aufrechterhält. Das gilt auch für ausländische Unternehmen m i t Sitz i n der Gemeinschaft: Ein ausländischer Kompositversicherer, der i n Deutschland zugelassen werden möchte, kann z.B. für die Rechtsschutzversicherung nur die Konzession erhalten, falls er die anderen Branchen i n Deutschland nicht betreibt. 7. Wie schon erwähnt, gehört auch die Transportversicherung (einschließlich Seeversicherung) künftig zu den beaufsichtigten Versicherungszweigen. Aber die Präambel Abs. 7 1. KoordR hebt — zugleich auch für die Kreditversicherung — hervor, daß diese Versicherungszweige „angesichts der ständigen Veränderungen i m Waren- und Kreditverkehr einer elastischeren Regelung" bedürfen. Man hat immer zugleich auch angeführt, daß bei diesen Versicherungszweigen als Versicherungsnehmer Kaufleute auftreten, welche auf den Schutz der Versicherungsaufsichtsbehörden nicht so stark angewiesen seien. Die größere Elastizität der Regelung zeigt sich bei Transport- und Kreditrisiken z. B. darin, daß gemäß Art. 9 Abs. 2, 11 Abs. 1 Unterabs. 2, 23 Abs. 2 g 1. KoordR die Notwendigkeit gewisser Angaben i m Tätigkeitsplan 23
Näheres bei Weber - Möller - Koch - Rohrbeck, Kraftfahrzeug-Versicherung, 1959.
U m die Klarheit in der
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(Geschäftsplan) — etwa über Versicherungsbedingungen und/oder Tarife — entfällt 2 4 . Für die Kreditversicherung gelten auch gewisse weitere Sondernormen. A r t . 2 Ziff. 2 d l . KoordR n i m m t zunächst „die Ausfuhrkreditversicherungsgeschäfte für staatliche Rechnung oder m i t staatlicher Unterstützung" aus dem Anwendungsbereich der Richtlinien heraus. I n Deutschland unterfallen dieser Ausnahmeregelung die Ausfuhrgarantien und Ausfuhrbürgschaften sowie die Garantien und Bürgschaften zur Deckung des Fabrikationsrisikos, welche die Hermes Kreditversicherungs-Aktiengesellschaft als Mandatar des Bundes bearbeitet 2 5 . Für die gesamte Ausfuhrkreditversicherung ist bestimmt worden, daß bisherige Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit zunächst beibehalten werden können (Präambel Abs. 3, A r t . 1 Abs. 3 AufhebungsR).
IV. B e a u s f c ih g i te t V e r s c i h e r u n g s u n e t r n e h m e n 1. A r t . 8 Abs. l a i . KoordR zählt die Rechtsformen auf, i n denen i n den neun Mitgliedstaaten Versicherungsunternehmen gegründet und betrieben werden dürfen; i n Deutschland handelt es sich u m A k t i e n gesellschaften, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit oder öffentlichrechtliche Wettbewerbsunternehmen. Unternehmen, die eine andere Rechtsform haben, können ihre bisherige Tätigkeit noch drei Jahre lang, bis zum 16. August 1976, fortsetzen (§ 30 Abs. 4 Unterabs. 1 Satz 1 1. KoordR). Bis dahin muß eine Umwandlung oder Bestandsübertragung erfolgen. Das hat Bedeutung für einige Einzelversicherer und offene Handelsgesellschaften (im Bereich der Transportversicherung) sowie für einige Gesellschaften m i t beschränkter Haftung (im Bereich der Tierversicherung). Für das Vereinigte Königreich sind die unter der Bezeichnung „Lloyd's" zusammengeschlossenen Einzelversicherer als Unternehmungsform zugelassen (Art. 8 Abs. l a i . KoordR) 2 6 . 2. Die vierzehn deutschen öffentlichrechtlichen Monopolversicherungseinrichtungen werden durch die Richtlinien nicht betroffen, so24 Der Wortlaut ist allerdings insofern mißglückt, als er zu der Annahme verführt, diese Unternehmen bräuchten im Tätigkeitsplan nicht einmal anzugeben, daß sie Transport- und Kreditrisiken decken wollen. 25 Dabei wird unterstellt, daß es sich überhaupt um Versicherungsverhältnisse handelt. 26 Die Lloyd's-Versicherer können in den Mitgliedstaaten wie eine Einheit behandelt werden, z. B. kann ein einheitlicher einziger Hauptbevollmächtigter bestellt und verklagt werden (Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 2 1. KoordR); vgl. auch Art. 11 Abs. 2 Unterabs. 2, 16 Abs. 5 1. KoordR.
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lange ihre Zuständigkeit nicht geändert w i r d (Art. 4 a 1. KoordR) 2 7 . Die Monopole werden hierdurch als verfassungsbeständig anerkannt. Auch ausländischen Versicherungsunternehmen ist es verwehrt, i n die Monopolbereiche einzudringen. Neue oder erweiterte Monopole werden nicht zugelassen, aber generell bestimmt Art. 8 Abs. l a i . KoordR, es könnten „die Mitgliedstaaten gegebenenfalls Unternehmen jeglicher Form des öffentlichen Rechts schaffen, wenn diese Einrichtungen zum Ziel haben, Versicherungsgeschäfte unter gleichen Bedingungen wie private Unternehmen durchzuführen". Als Unternehmungsformen des öffentlichen Rechts dürften nur selbständige Körperschaften und Anstalten i n Betracht kommen. Der unmittelbare Staatsbetrieb wäre unzulässig, weil Art. 8 Abs. 1 b 1. KoordR fordert, daß das Unternehmen sich auf die Versicherungstätigkeit beschränke. Die öffentlich-rechtlichen Wettbewerbsversicherungsunternehmen unterfallen dem Richtlinienrecht (Art. 8 Abs. l a i . KoordR) 2 8 . 3. Die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit gehören auch als kleinere Vereine prinzipiell i n den Anwendungsbereich der Richtlinien, übrigens auch soweit sie i n Deutschland bisher landesrechtlich beaufsichtigt werden. Auch für Vereine, die keine „vocation européenne" verspüren, gelten grundsätzlich die Richtlinien, besonders auch hinsichtlich der erforderlichen finanziellen Garantien, die von kleinen und mittleren Unternehmen — besonders in der Krankenversicherung — schwer werden geboten werden können. Hier ist eine Welle von Verschmelzungen, Bestandsübertragungen und Liquidationen schon jetzt zu beobachten 29 . Bestandsübertragungen werden gemäß Art. 21 1. KoordR i m Gemeinsamen M a r k t — auch überstaatlich — dadurch erleichtert, daß der einzelne Versicherungsnehmer der Schuldübernahme, wie schon nach geltendem deutschem Recht (§ 14 Abs. 1 VAG), nicht zuzustimmen braucht; die aufsichtsbehördliche Prüfung und Genehmigung macht die 27 Die Richtlinien sprechen von „Monopolanstalten", obgleich es sich z. B. bei der Hamburger Feuerkasse m. E. um eine Körperschaft handelt. Zur Rechtsgestalt der öffentlich-rechtlichen Versicherungsunternehmen Weber HansRGZ 1941 A Sp. 161 - 172. 28 Es besteht keine Notwendigkeit, an der Zuständigkeit der Länderaufsichtsbehörden etwas zu ändern. — Soweit Monopolversicherungseinrichtungen traditionell gewisse freiwillige Versicherungen mit übernehmen, wird dieser Bereich durch das Richtlinienrecht nicht betroffen, solange die Zuständigkeit nicht geändert wird. 29 Vgl. Geschäftsberichte des Bundesaufsichtsamts 1971 S. 16 - 17, 1972 S. 13.
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Schuldübernahme rechtswirksam. Hier hat ein deutscher Rechtsgedanke das internationale Privatversicherungsrecht befruchtet. Trotz der grundsätzlichen Unterstellung der Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit unter die Richtlinien werden die Belange kleiner und mittlerer Unternehmen — nicht nur Gegenseitigkeitsvereine — i m Wege von Übergangsmaßnahmen geschont (Präambel Abs. 14 1. KoordR), ja es werden sogar einige Gegenseitigkeitsvereine vom A n wendungsbereich der Richtlinien völlig ausgenommen (Präambel Abs. 4 1. KoordR). Letzteres t r i f f t zu für Gegenseitigkeitsvereine, welche kumulativ vier Voraussetzungen erfüllen: Nachschußpflicht oder Möglichkeit der Leistungsherabsetzung; keine Versicherung von Haftpflichtoder Kreditversicherungsrisiken; niedriges Beitragsauf kommen; bei „gemischten" Vereinen, die auch Nichtmitglieder versichern, überwiegendes Mitgliedergeschäft (Näheres: Art. 3 1. KoordR) 3 0 . Auf kleine und mittlere Unternehmen ist die Möglichkeit zugeschnitten, den Mindestbetrag des Garantiefonds u m ein Viertel zu ermäßigen (Art. 17 Abs. 2 c 1. KoordR). Auch die finanziellen Übergangsbestimmungen (Art. 30 Abs. 2 1 KoordR) kommen vorwiegend kleineren Unternehmen zugute. 4. Nach Einführung der Niederlassungsfreiheit werden nicht mehr primär inländische und ausländische Versicherungsunternehmen unterschieden, sondern „Unternehmen mit Sitz in der Gemeinschaft" (Art. 16-22 1. KoordR) und „Unternehmen, welche ihren Sitz außerhalb der Gemeinschaft haben" (Art. 23 - 2 9 1. KoordR). Bei den Unternehmen mit Sitz i n der Gemeinschaft müssen dann allerdings doch sekundär in- und ausländische unterschieden werden, d. h. solche, die i m eigenen Staatsgebiet gegründet werden (Art. 8 - 9 1 . KoordR) und „Unternehmen m i t Sitz i m Staatsgebiet eines anderen Mitgliedstaats u (Art. 1 0 - 1 1 1. KoordR). D i e l e t z t g e n a n n t e n ausländischen
Unternehmen
aus
Mitgliedstaaten
sind die Begünstigten der Niederlassungsfreiheit; sie sind wie inländische Unternehmen zu behandeln, auch in der Verwaltungspraxis (Präambel Abs. 1, A r t . 2 AufhebungsR). Bisher konnte i n Deutschland der Bundesminister für Wirtschaft nach freiem Ermessen über die Konzessionierung aller ausländischen Versicherungsunternehmen entscheiden (§ 106 VAG), es sei denn, daß Niederlassungs- und Handelsverträge (ζ. B. m i t Frankreich und Italien) Bindungen enthielten. Künftig sind 30
Die Abgrenzung stimmt nicht überein mit jener des § 53 VAG. — Das Nichteingreifen der Richtlinie bedeutet keineswegs, daß das Recht der M i t gliedstaaten diese Gegenseitigkeitsvereine künftig aufsichtsfrei zu lassen habe.
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die §§ 106, 111 Abs. 2 V A G der neuen Hechtslage anzupassen (Art. 2 Abs. 1 a AufhebungsR). B e i d e n ausländischen
Unternehmen
aus sogen. Drittländern
können
die bisherigen Vorschriften — m i t Ermessensprinzip — fortgelten: „Der Mitgliedstaat kann diese Zulassung erteilen . . . " (Art. 23 Abs. 2 1. KoordR). Aber auch künftig können völkerrechtliche Verträge die Stellung von Drittländern verstärken (z. B. i m Verhältnis der Bundesrepublik zu den Vereinigten Staaten). Die Richtlinien sehen sogar A b kommen der Drittländer m i t der Gemeinschaft vor (Art. 29 1. KoordR) 3 1 . Niemals aber sollen Versicherungsunternehmen aus Drittländern günstiger behandelt werden als die i n der Gemeinschaft ansässigen Unternehmen (Präambel Abs. 13 1. KoordR). — Für Unternehmen aus D r i t t ländern, die zugleich i n mehreren Mitgliedstaaten der EWG (multinational) tätig sein wollen, gelten nach A r t . 26 1. KoordR gewisse Erleichterungen). Bei allen Arten von ausländischen Versicherungsunternehmen sprechen die Richtlinien von „Agenturen und Zweigniederlassungen" sowie von einem Hauptbevollmächtigten (Präambel Abs. 1, 12, A r t . 10 Abs. 1, A r t . 23 Abs. 2 1. KoordR, Präambel Abs. 2 AufhebungsR). I n Deutschland wurde von der Verwaltungspraxis 3 2 bislang stets die Begründung einer Zweigniederlassung m i t Eintragung i n das Handelsregister gefordert. Hieran sollte auch künftig der Rechtsklarheit wegen festgehalten werden. Die Richtlinien belassen ja den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der M i t t e l (§ 189 Abs. 3 EWGV). Bei den bislang i n Deutschland tätigen unbeaufsichtigten Transportversicherungsunternehmen ist bisher öfters keine Zweigniederlassung begründet worden, und der Bevollmächtigte wurde kein Hauptbevollmächtigter m i t der umfassenden Vertretungsmacht des § 106 Abs. 2 Ziff. 3 VAG. Hier werden m. E. Änderungen notwendig werden. Art. 10 Abs. 1 d l . KoordR macht übrigens ersichtlich, daß auch eine juristische Person Hauptbevollmächtigte werden kann, die dann aber „ihrerseits zu ihrer Vertretung eine natürliche Person benennen" muß; der Hauptbevollmächtigte kann künftig entgegen einer langen Verwaltungspraxis auch ein Ausländer sein, der i m Inland wohnt.
V. L a u e f n d e V e r s c i h e r u n g s a u s f c i h t Die Richtlinien haben für den Gemeinsamen M a r k t das i n Deutschland bewährte System der sogen, materiellen Staatsaufsicht übernom31
Über die Gemeinschaften als Subjekte des Völkerrechts: Ipsen
S. 200-
203.
32
Dazu Rundschreiben des Bundesaufsichtsamtes: Veröffentlichungen 1962 S. 74 - 75.
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men, so daß weiterhin Zulassung zum Geschäftsbetrieb bei der „ A u f nahme der Versicherungstätigkeit" (Art. 6 - 1 2 1. KoordR) und Überwachung der „Ausübung der Versicherungstätigkeit" (Art. 1 3 - 2 1 1. KoordR) zu unterscheiden sind. Bislang knüpft § 1 Abs. 1 V A G an den Zentralbegriff: „Betrieb von Versicherungsgeschäften" an. Bei der Neufassung des deutschen Versicherungsaufsichtsrechts w i r d man die EWG-Formulierung übernehmen müssen, nach der es auf „die Aufnahme und Ausübung der selbständigen Tätigkeit der Direktversicherung durch Versicherungsunternehmen" ankommt (Art. 1 1. KoordR; vgl. A r t . 52 Abs. 2 EWGV). Die unterschiedliche Fassung erlangt i m Rahmen der zu regelnden Dienstleistungsfreiheit und speziell für die sogen. Korrespondenzversicherung erhebliche Bedeutung. Bei der Korrespondenzversicherung handelt es sich um eine Dienstleistung, die m i t keiner Ortsveränderung für den Leistungsempfänger oder Leistungserbringer verbunden ist, nicht um einen Fall des A r t . 60 Abs. 3 EWGV 3 3 . Die Abstellung auf die Tätigkeit des Versicherers kommt auch darin zum Ausdruck, daß die Richtlinien den „Geschäftsplan" jetzt „Tätigkeitsplan" nennen (vgl. A r t . 8 Abs. 1 c, 9, 10 Abs. 1 c, 11, 23 Abs. 2 g 1. KoordR) 3 4 . Bestandteil des weichend von § 5 oder die Satzung; muß (neben dem (Art. 10 Abs. 1 a 1.
Tätigkeitsplans ist nach Gemeinschaftsrecht — abAbs. 3 V A G — nicht mehr der Gesellschaftsvertrag nur bei ausländischen Versicherungsunternehmen Tätigkeitsplan) noch die Satzung vorgelegt werden KoordR).
Während bislang die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (nicht aber die Besonderen Versicherungsbedingungen) vorläge- und genehmigungsbedürftig waren, müssen künftig die Allgemeinen und Besonderen 35 Versicherungsbedingungen als Bestandteile des Tätigkeitsplans vorgelegt werden (Art. 9 a, 11 Abs. 1 a, 23 Abs. 2 g 1. KoordR), aber eine aufsichtsbehördliche Genehmigung der Versicherungsbedingungen, welche bislang das deutsche Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen stark beansprucht hat und welche i m Interesse des „Verbrau33
Dazu Möller in: Lagrange - Möller - Sieg - Steindorff, Dienstleistungsfreiheit und Versicherungsaufsicht im Gemeinsamen Markt, 1971, S. 15 - 38. 34 Die Begriffe des (genehmigungsbedürftigen) Geschäftsplans und des Tätigkeitsplans stimmen nicht überein. 35 Versteht man unter Besonderen Versicherungsbedingungen nur individuelle, atypische Vereinbarungen, so ist ihre Vorlage im Vorwege unmöglich. Gedacht ist hier anscheinend an speziellere Allgemeine Versicherungsbedingungen.
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cherschutzes" höchst wichtig erscheint, ist i m EWG-Recht nicht mehr vorgesehen. Entsprechendes gilt für die Tarife, etwa i n der Krankenversicherung (§ 11 V A G ; A r t . 9 b 1. KoordR). Aber die Richtlinien ermöglichen es den Mitgliedstaaten, den bisherigen strengeren Standpunkt aufrechtzuerhalten. Der schon oben wiedergegebene A r t . 8 Abs. 3 1. KoordR bestimmt unter anderem, daß die Mitgliedstaaten Vorschriften weiterhin anwenden können, welche die Genehmigung der Satzung, der Allgemeinen (und Besonderen) Versicherungsbedingungen und der Tarife vorsehen (vgl. auch A r t . 10 Abs. 3 1. KoordR). Es ist dringend zu empfehlen, daß auch künftig das deutsche Versicherungsaufsichtsrecht die Genehmigung der Satzung, der Allgemeinen Versicherungsbedingungen und der Krankenversicherungstarife i m Interesse der Versicherten aufrecht erhält. Dagegen würde eine Genehmigung von echten Besonderen Versicherungsbedingungen, welche atypisch, i m Einzelfall Verwendung finden, den Abschluß von Versicherungsverträgen allzusehr verzögern. Für die Transport- und Seeversicherungsbedingungen erübrigen sich allerdings die Vorlage- und Genehmigungspflicht (vgl. Art. 9 Abs. 2, 11 Abs. 1 Unterabs. 2 1. KoordR). W i r d die Dienstleistungsfreiheit verwirklicht, so gewinnen für deutsche Versicherungsnehmer auch ausländische Versicherungsbedingungen große Bedeutung. Es wäre erwünscht, daß bis dahin alle Mitgliedstaaten eine materielle Prüfung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen einführen. Während hiernach die Richtlinien i m Hinblick auf die Genehmigung des Tätigkeitsplans, speziell der Versicherungsbedingungen und Tarife, für Deutschland m. E. einen Rückschritt bedeuten, ist positiv hervorzuheben, daß die Richtlinien sehr darum bemüht sind, die finanziellen Garantien zum „Schutz der Versicherten und der Dritten i n allen M i t gliedstaaten" auszubauen (Präambel Abs. 2 1. KoordR). Zwar bleibt es den Mitgliedstaaten überlassen, für das Vorhandensein ausreichender technischer Reserven zu sorgen (Art. 15 Abs. 1 1. KoordR), aber i m Gemeinschaftsrecht ist sehr eingehend die Bildung einer ausreichenden „Solvabilitätsspanne" und eines Mindestgarantiefonds geregelt (Art. 16, 17 1. KoordR). Die Beratungen gerade zu diesen Vorschriften haben sehr viel Zeit und Mühe beansprucht. Die Richtlinien fordern die Zubilligung gerichtlicher Rechtsbehelfe „gegen jegliche ablehnende Entscheidung" der Versicherungsaufsichtsbehörden, ferner „für den Fall . . . , daß die zuständigen Behörden über den Zulassungsantrag innerhalb von sechs Monaten nach Antragseingang noch nicht entschieden haben" (Art. 12 Abs. 2, 3 1. KoordR). Auch gegen Entscheidungen über einen Widerruf der Zulassung oder über
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eine vorübergehende Einstellung der Tätigkeit muß ein gerichtlicher Rechtsbehelf gegeben werden (Art. 22 Abs. 3 1. KoordR). Diesen rechtsstaatlichen Anforderungen (vgl. auch Präambel Abs. 6 1. KoordR) genügt das deutsche Recht, u n d es muß angemerkt werden, daß die heutige Ausgestaltung des Rechtsschutzes i n Versicherungsaufsichtssachen nicht zuletzt Anregungen von Werner Weber 36 zu verdanken ist.
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Besonders Weber in: Querschnitt durch die Versicherungsforschung, 1949, S. 5 - 15 (rechtspolitische Betrachtung des Verfahrens). 49 Festschrift für Werner Weber
Liberale Anlagebestimmungen in der Europäischen Gemeinschaft für Versicherungsunternehmen — ein Postulat Von Gottfried Matthes
I. Die Vorschriften für die Vermögensanlage i n den einzelnen M i t gliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft sind verwirrend. Eine einheitliche Grundauffassung ist nicht zu erkennen. Höchst- und Mindestsätze, prozentuale Begrenzungen — vorwiegend bei Aktien und solchen einer einzelnen Gesellschaft sowie für Guthaben bei Banken und für unterschiedliche Anlagearten wie Aktien und Liegenschaften —, Beschränkungen für Hypotheken nach einem bestimmten Wertsatz oder Anlagen nur i n inländischen Grundstücken u. a. wechseln miteinander ab. Finanz-, währungs- und wirtschaftspolitische Überlegungen haben bei diesen Bestimmungen Pate gestanden. Die allgemeine Devise ist „Sicherheit für die Versicherten", was darunter verstanden wird, aber recht unterschiedlich. Ein Musterbeispiel bietet der Entwurf zur Novelle zum deutschen Versicherungsaufsichtsgesetz 1. Die Vermögensanlagevorschriften sind derzeit weitgehend i n Richtlinien des Bundesaufsichtsamts für Versicherungswesen (BAV) enthalten, und können deshalb verhältnismäßig leicht jeweiligen Erfordernissen angepaßt werden. Nunmehr sollen sie gesetzlich geregelt werden. Ob der damit verbundene Mangel an Flexibilität den Versicherten wirklich dienlich ist, muß nach den Erfahrungen aus der Inflation der zwanziger Jahre bezweifelt werden. Damals wurde die Aufsichtsbehörde i n der Öffentlichkeit wegen Beachtung der — der Anlage von Mündelgeld nachgebildeten — engherzigen gesetzlichen Bestimmungen stark angegriffen. Erst am Schluß der I n flationszeit kam — viel zu spät — die gesetzliche Änderung. Durch allzuviel — noch dazu gesetzliche — Reglementierung kann beabsichtigter Schutz sich auch zum Nachteil der Versicherten auswirken. 1
49»
Bundesrat, Drucksache 7/72.
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Gottfried Matthes
II. I n diese Vielfalt sucht die „Erste Richtlinie des Rates vom 24. 7.1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) (73/239 EWG)" 2 eine gewisse Ordnung zu bringen. A r t i k e l 18 bestimmt: „Die Mitgliedsstaaten erlassen keinerlei Vorschriften über die Anlage der Aktivwerte", fährt aber fort „soweit diese nicht zu Bedeckung der technischen Reserven nach A r t i k e l 15 dienen." Die Richtlinie unterscheidet also zwischen freiem und gebundenem Vermögen. Für das freie Vermögen t r i f f t die Richtlinie eine abschließende für alle Mitgliedsstaaten verbindliche Regelung. Sie verpflichtet die M i t gliedsstaaten, auf Anlagevorschriften zu verzichten, und bringt insoweit einen ersten Liberalisierungsfortschritt. Für das gebundene Vermögen dagegen sieht die Richtlinie keine abschließende Regelung vor. Sie verpflichtet die Mitgliedsstaaten einige allgemeine Grundsätze zu beachten, läßt ihnen aber i m übrigen die Befugnis, die Anlage des gebundenen Vermögens i n eigener Zuständigkeit zu regeln. Nach A r t i k e l 15 hat jeder Mitgliedsstaat, i n dessen Staatsgebiet ein Unternehmen seine Tätigkeit ausübt, dieses zu verpflichten, ausreichende technische Reserven zu bilden, deren Höhe sich nach den jeweiligen nationalen Vorschriften richtet. Die rechnerischen Reserven sind durch Aktivwerte zu bedecken, die gleichwertig, kongruent und i m Tätigkeitsland gelegen sind, wobei Lockerungen für Kongruenz und Belegenheit möglich sind. Die nationalen Vorschriften legen also die A r t der Aktivwerte fest und bestimmen ggf., i n welchem Umfang sie zur Bedeckung der technischen Reserven zugelassen sind 3 . Nach der einleitenden „Erwägung" der Richtlinie ist die Koordinierung der Berechnung der technischen Reserven sowie der Bestimmung der Anlagearten einer späteren Richtlinie überlassen. Diese Koordinierung sollte möglichst bald nach Herstellung der Niederlassungsfreiheit für das Versicherungswesen erfolgen, da anderenfalls unterschiedliche Standortbedingungen innerhalb der EG erhalten werden, die das „ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Marktes" 4 zu be2 Amtsblatt der EG vom 16. 8. 73, Nr. L 228/3. Dazu Levie in ZVersWiss 1973, 243 ff. — Der Richtlinienentwurf für die Niederlassungsfreiheit der Lebensversicherung war bei Abschluß dieser Arbeit noch nicht verabschiedet. 3 Art. 15 Ziff. 2 - 4 der Ersten Richtlinie. 4 Art. 3 lit. h EWG-Vertrag.
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einträchtigen drohen. Die Koordinierung muß spätestens verwirklicht sein, wenn die Dienstleistungsfreiheit so hergestellt wird, wie es die Dienststellen der EG-Kommission gegenwärtig planen 5 . Jedes Unternehmen hätte dann für sein grenzüberschreitendes Geschäft nicht die Anlagevorschriften des jeweiligen Tätigkeitslandes, sondern seine einheimischen Bestimmungen zu beachten. Dadurch würden Wettbewerbsverzerrungen m i t unerträglichen Folgen entstehen. Innerhalb ein und desselben Marktes würden Versicherungsunternehmen konkurrieren, für die unterschiedliche Anlagevorschriften maßgeblich sind. Bei der Koordinierung der Anlagebestimmungen, sollten die besten Überlegungen aus allen Systemen übernommen, Überflüssiges aber entfernt werden. U m das Beste zu finden, ist ein Überblick über die verschiedenen Auffassungen der Aufsichtsfunktionen angezeigt.
III. Beim Publizitätssystem hat der Staat nur eine Mittlerrolle. Er beaufsichtigt nicht und trägt keine Verantwortung. Die Versicherungsunternehmen haben i h m lediglich gewisse Unterlagen einzureichen, die ohne materielle Prüfung — mindestens auszugsweise — veröffentlicht werden. Die Kontrolle obliegt allein dem Publikum, der Fachpresse und der Konkurrenz. IV. Die staatliche Aufsicht läßt sich trotz mancher Unterschiede auf einige wenige Systeme zurückführen, die i n der Praxis allerdings meist in der Mischung von verschiedenen Systemen vorkommen. Das System der Normativbestimmungen stellt bestimmte Normen für Entstehung, Betrieb und Auflösung der Unternehmen auf, über das Grundkapital bei Betriebsaufnahme, die Anlage der Reserven, deren Berechnung nach vorgeschriebenen Angaben, technische und zusätzliche Reserven sowie die Rechnungslegung. Die Aufsichtsbehörde hat lediglich für die dauernde Solvabilität zu sorgen. Sie prüft bei der Bewilligung des Geschäftsbetriebes die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen und sodann deren dauernde Einhaltung, kann aber nicht selbst eingreifen. 5
Vgl. „Errichtung des Gemeinsamen Marktes für Schadenversicherungen" — „Entwurf für eine zweite Richtlinie des Rates zur Koordinierung der die Direktversicherung (außer Lebensversicherung) betreffenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften" (EG-Dok. XIV/323/72 - D rev. 1)."
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Das System der materiellen Staatsaufsicht umfaßt Publizitäts- und Normativbestimmungen m i t materiellem Einfluß auf den Betrieb der Unternehmen (Genehmigung der Aufnahme des Geschäftsbetriebs, Geschäftspläne, Versicherungsbedingungen u. a.)· Reserven, deren Berechnung, für deren Anlage zulässige Werte, das Verhältnis der Werte untereinander, Jahresbericht u. a. unterliegen aufsichtsbehördlichen Bestimmungen. I m Rahmen der gesetzlichen Vorschriften handelt die Aufsichtsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen und kann Weisungen erteilen. Daneben besteht ein Mischsystem mit Normativbestimmungen für Gründung, Betrieb, Liquidation u. a. sowie einer materiellen Kontrolle m i t zahlreichen Bewilligungen. Das mit dem ausschließlichem Recht zum Betrieb von Versicherungsgeschäften verbundene Konzessionsprinzip 6 besteht i n der EG nicht — von einigen Monopolanstalten abgesehen. V. Die unterschiedlichen Aufsichtssysteme Theorien über die Aufsichtsfunktionen 7 .
führen
zu
verschiedenen
Ursprünglich war die „Gefahrentheorie" die Grundlage der Versicherungsaufsicht. Sie beschränkte sich auf den Schutz gegen wirkliche Schäden und Gefahren, war eine Polizei und durfte erst auf Anforderung eingreifen. Die „Schutztheorie" geht demgegenüber von dem Schutz oder der Wahrung der „Belange der Versicherten" aus. Neben die Verhinderung von Schäden t r i t t der Schutz des einzelnen Versicherten und der Gefahrengemeinschaft. Dem Massengeschäft, das eine stärkere Berücksichtigung der Gesamtheit als des Einzelnen verlangt, sucht die „soziale Theorie" zu ent8 Boss, Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, Berlin 1956, 92 ff. 7 Starke, „Die Entwicklungslinie der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts" in 50 Jahre materieller Versicherungsaufsicht I I I , Berlin 1955, 58 ff.; ders., Die Neuregelung der Bankaufsicht und ihre Bedeutung für die Versicherungswirtschaft, ZVersWiss 1960, 15 ff., 24 ff.; ders. y Die Versicherungsaufsicht und die neuere Aufsichtsgesetzgebung auf dem Gebiet von Geld und Kredit, V W 1963, 165 ff., 202 ff.; Weber, 40 Jahre Versicherungsaufsichtsgesetz, Die Bank 1941, 421 ff.; ders., Gegenwartsfragen des Versicherungsaufsichtsrechts in HDSW 1960; ders., Versicherungsaufsichtsrecht in der gegenwärtigen Rechtsentwicklung in ZVersWiss 1961, 334 ff.
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sprechen. Überspitzte, individualistische Auswirkungen der Schutztheorie möchte sie durch soziale Überlegungen ausräumen, die sie in der genossenschaftlichen Selbsthilfe der Versicherten erblickt. Die „Mehrzwecktheorie" von Mahr 8 vermag i n ihrer Vereinzelung die Aufsicht nicht zu rechtfertigen, zumal manche der ihr zugeschriebenen Eigenschaften auch i n Wirtschaftszweigen ohne Aufsicht vorkommen. Die „Strukturtheorie" 9 sieht in der Aufsicht einen Ersatz für mangelnden Wirtschaftsautomatismus und ein Korrektiv gegenüber einem für das gesamte Gewerbe schädlichen Wirtschaftsgebahren. Oberste Richtlinie ist für sie die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Versicherungswirtschaft insgesamt, nicht die Wahrung einzelner Interessen. Wirtschaftspolitische Steuerungs- und Lenkungsaufgaben kennt sie nicht. Strukturbedingte Besonderheiten sind vielmehr durch die Aufsicht zu korrigieren. Auf diese Vertrauensgrundlage hat schon Kisch 1 0 hingewiesen. Trotz gewisser Bedenken 11 w i r d damit die materielle Aufsicht am besten erklärt. Für das private Massengeschäft des Alltags führt allerdings die von Weber 1 2 entwickelte Theorie der „Jedermann-Privatversicherung" zu Einschränkungen. Nach ihr sind die Lebens-, Kranken-, Unfall- und Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung in eine sozialstaatliche Mitverantwortung hineingewachsen oder hineingedrängt. Deshalb sei die Aufsicht hier „breiter legitimiert", die „gesellschaftliche Selbsthilfe" der Individualversicherung durch eine Ordnung zu sichern. Ob daraus allerdings eine materielle Aufsicht i n der EG hergeleitet werden kann 1 3 , braucht hier nicht untersucht zu werden. Allgemeine Anlagevorschriften lassen sich damit jedenfalls nicht begründen. Vermögensanlagen sind flexibel und — mindestens i n ihrer Masse — jederzeit auswechselbar. Für sie genügt eine Legalitätskontrolle zur Wahrung von Sicherheit, Liquidität und Rentabilität bei angemessener Mischung und Streuung. Jede sonstige Beschränkung behindert den Wettbewerb. Nur wo die Sozialrelevanz durch Deckungsstöcke zum Schutz des „Jeder8 Mahr, Einführung in die Versicherungswirtschaft; Allgemeine Versicherungslehre, Berlin 1951, 382 ff. 9 Starke in „Die Entwicklungslinie pp." S. 67 ff. 10 Kisch, ZfW 1935, 282: Contractus uberrimae fidei; contract based upon the utmost faith; contrat essentiellement de bonne foi. 11 Schmidt, Europäisches Versicherungsaufsichtsrecht, Veröffentlichungen des Deutschen Vereins für VersWiss, Berlin 1964 Heft 71/1, 7 ff. 12 Weber, in: ZVersWiss. 1961, 347 ff.; ders., Die Frage der Fortgeltung der Verordnung über die Entwicklung Allgemeiner Versicherungsbedingungen v. 29. Nov. 1940, ZVersWiss 1963, 86 ff. 13 So Nowak, Zur Frage der Aufsichtssysteme in der EG, V W 1974, 12 ff.
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mann-Geschäfts" gesichert w i r d erscheinen vorsichtige Regelungen vertretbar. Dagegen sind gewerbliche Risiken der wettbewerblichen Selbstverantwortung von Versicherer und Versicherten zu überlassen 14 . VI. I n der EG sind sämtliche Aufsichtssysteme — meist i n gemischter Form — zu erkennen. I n Großbritannien, Irland und den Niederlanden verfolgt die bestehende Solvabilitätsaufsicht allein das Ziel, die Versicherungsnehmer vor einer Zahlungsunfähigkeit des Versicherungsunternehmens zu schützen 15 . Die Aufnahme des Geschäftsbetriebes setzt jeweils ein Bewilligungsverfahren voraus. Für Großbritannien bestehen neuerdings gewisse i m Gesetz einzeln aufgeführte Eingriffsbefugnisse 16 . Wenn die vorgesehenen Eingriffe zum Schutz der Versicherten nicht ausreichen, um eine Zahlungsunfähigkeit zu verhindern oder die vernünftigen Erwartungen der Versicherten beim langfristigen Geschäft nicht sichern, so kann die A u f sichtsbehörde weitergehende ihr geeignet erscheinende Maßnahmen ergreifen 17 . Auch i n den Niederlanden w i r d das dort geltende System der Normativbedingungen durch Einwirkungsbefugnisse der Aufsichtsbehörde ergänzt. Diese kann den Unternehmen ihr geeignet erscheinende „Ratschläge" erteilen, denen sie durch Veröffentlichung Nachdruck verleihen kann 1 8 . Für Unternehmen, die voraussichtlich nicht mehr sämtliche Verpflichtungen erfüllen können, darf eine „Notregelung" angeordnet werden 1 9 . I n Dänemark ist, wie i n den vorstehenden Ländern, die Schutztheorie erkennbar. Jede Gesellschaft ist zum Vereinsregister anzumelden, nachdem ihre Satzung vorher vom Handelsminister bestätigt worden ist 2 0 . I n der Lebensversicherung bedürfen allgemeine Versiche14
So auch Weber, 1961, 346 ff. Für Großbritannien: Insurance companies amendment act. 1973, v. 25. 7.1973, Art. 12. 16 Art. 13 - 20. 17 Art. 21 i. V. m. Art. 12 Abs. 5. 18 Gesetz v. 22.12.1922, Art. 24 - 36 für die Lebens-, und Gesetz v. 23. 9.1964 Art. 30 für die Schadenversicherung. 19 Gesetz v. 1922, Art. 39 ff., Gesetz v. 1964, Art. 32 ff. 20 §§ 7 u. 8 des Gesetzes über den Betrieb von Versicherungsgeschäften v. 13.5.1959 — deutsch in VerBAV 1962, 53 ff.; nicht anwendbar u.a. auf Feuervers, und die Staatsanstalt der Lebensversicherung. 15
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rungsbedingungen und technische Grundlagen staatlicher Anerkennung 2 1 . I n der Schadenversicherung sind von der Aufsichtsbehörde für nötig gehaltene Maßnahmen zu treffen, u. a. wenn sich die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft so verschlechtert, daß die Interessen der Versicherten i n Gefahr geraten, bei Nichterfüllung kann Liquidation angeordnet werden 2 2 . Belgien geht ebenfalls von der Schutztheorie aus. Für die Lebens- 23 Arbeiterunfall- 2 4 und die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung 25 besteht eine materielle Staatsaufsicht, die jedoch auf die allgemeine Unternehmensgestaltung beschränkt ist und nicht mit Einzelmaßnahmen auf die Unternehmensführung einwirken kann. Wirtschafts- und sozialpolitische Ziele werden m i t der Aufsicht nicht verfolgt. I n Luxemburg besteht materielle Staatsaufsicht. Aufgrund einer generellen Ermächtigung kann die Aufsichtsbehörde die zur Wahrung der Interessen der Versicherten erforderlichen Maßnahmen ergreifen 26 . Wirtschaftspolitische Zwecke werden nicht verfolgt. Italien hat eine umfassende materielle Staatsaufsicht, die sich auf alle Versicherungszweige, auch Transport- und Rückversicherung, erstreckt 27 . Eine generelle Ermächtigung zu Einzeleingriffen fehlt, ist aber infolge der mit Sanktionen verknüpften zahlreichen Zulassungsund Tätigkeitsbedingungen, die auch für die Kapitalanlage gelten, nicht erforderlich. Die Ver sicher ungs w i r tschaft ist i n wirtschafts- und finanzpolitische Ziele eingegliedert 28 . I n Frankreich w i r d die Staatsaufsicht „ i m Interesse der Versicherten, der Versicherungsnehmer und Begünstigten von Versicherungs- und Kapitalisations ver trägen" ausgeübt 29 . Neben den Schutzzweck treten wirtschafts- und finanzpolitische Ziele. Die Verstaatlichung von 34 großen Versicherungsunternehmen zeigt deutlich das Bestreben, die Versicherungswirtschaft für diese Ziele einzusetzen. I n der Bundesrepublik besteht materielle Staatsaufsicht, die von der Schutztheorie ausgeht. Die dauernde Erfüllbarkeit der Versicherungs21
§ 8 Abs. 2 u. § 20. § 96. 23 Loi de contrôle ν. 25. 6.1930 — Μ . Β. 18. 7.1930. 24 Loi sur les accidents du travail v. 10. 4.1971. 25 Agrément et contrôle des entreprises pratiquant la R. C. automobile A. R. v. 5. 7.1967 — M. B. 8. 7.1967. 26 Arrêté, grand — ducal v. 6. 7.1921 — Mémorial du Grand — duché de Luxembourg 1921 p. 797. 27 Testo unico pp. (TU) v. 13. 2.1959, G. U., n. 158 v. 6. 7.1959. 28 Schmidt, Heft 2, 564 mit weiteren Nachweisen. 29 Art. 1 des Décret (-Loi) v. 14. 6.1938, J. Ο., 16. 6.1938. 22
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Verträge ist sicherzustellen 30 . Zu diesem Zweck hat die Aufsichtsbehörde vor allem die versicherungstechnischen und finanziellen Grundlagen des Geschäfts zu überwachen. Darüber hinaus hat sie Mißstände zu beseitigen, die die Belange der Versicherten gefährden. Hierfür stehen ihr besondere Eingriffsmöglichkeiten zu 3 1 . VII. Die verschiedenartigen Auffassungen über Aufsichtssysteme, Theorien der Aufsichtsfunktion und Aufsichtszwecke beeinflussen naturgemäß die Kapitalanlagevorschriften. Diese i m einzelnen darzustellen, würde den für diesen Beitrag zur Verfügung stehenden Raum übersteigen. Es muß genügen, einen allgemeinen Uberblick zu geben. Grundsätzlich bestehen nicht nur in Deutschland, sondern auch i n allen anderen EG-Staaten unterschiedliche Vorschriften für die Bedeckung der Deckungsrückstellungen i n der Lebensversicherung und für die Bedeckung der technischen Reserven in der Schadensversicherung. Während i n der Lebensversicherung die Deckungsrückstellungen die Ersparnisse der Lebensversicherten sicherzustellen haben und somit die Grundsätze zu beachten sind, die aus den dargestellten sozialpolitischen Gründen einen besonderen Schutz dieser Vermögensanlagen rechtfertigen, sind für die technischen Reserven der Schadenversicherung andere Schutzkategorien maßgebend. I m einzelnen weichen die Anlagevorschriften sicherung stark voneinander ab.
für die
Lebensver-
Die liberalste Regelung findet sich i n Großbritannien, wo die Kapitalanlagen der Lebensversicherer keinen gesetzlichen oder aufsichtsbehördlichen Vorschriften unterliegen. Lediglich i m Einzelfall kann die Aufsichtsbehörde einschreiten und Anlagen bestimmter A r t verlangen oder verbieten 3 2 . Diese nahezu vollständige Freiheit i n der Vermögensanlage ist mit sehr liberalen Bewertungsregeln kombiniert. Praktisch die gleichen Grundsätze, jedoch ohne Eingriffsrechte i m Einzelfall, gelten in Irland 3 8 . A u f Ersuchen der Regierung haben die Versicherer zugestimmt, ihre Investitionen i n Irland soweit aufzustocken, bis diese mindestens 80 °/o der Anlagen des irischen Geschäfts 30 §§ 5 I I , 8 I Nr. 2, 89 I des Versicherungsaufsichtsgesetzes i. d. Fassung v. 6. 6. 1931 (RGBl. I, 315, 750). 31 Vor allem §§ 81, 81 a, 89 VAG. Dazu Starke „50 Jahre materielle Versicherungsaufsicht", 1952, 73 ff.; Sasse in Festschr. für Prölss, 1957, 231 ff. 32 Insurance Companies Act. Amendment 1973, Art. 15. 33 Assurance Companies Act. 1909, i. V. m. Insurance Acts 1936 u. 1964.
Liberale Anlagebestimmungen i. d. EG für Versicherungsunternehmen
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betragen, wobei die 80 % auf das Gesamtgeschäft, nicht auf das der einzelnen Gesellschaft bezogen werden 3 4 . Auch i n den Niederlanden ist die Vermögensanlage für Lebensversicherer durch keine gesetzlichen oder aufsichtsbehördlichen Bestimmungen eingeschränkt. Das dort geltende Publizitätsprinzip für die Vermögensanlagen zwingt jedoch die Versicherer, i n ihrem Geschäftsbericht alle Vermögensanlagen in einer detaillierten vollständigen Liste aufzuführen. Überdurchschnittliche Versicherungssummen sind das Ergebnis der Anlagefreiheit in diesen Ländern 3 5 . Die von den Unternehmen — auch ohne Vorschriften — betriebene vorsichtige Anlagepolitik verdeutlicht Tabelle I. I n Belgien unterliegen die Vermögensanlagen der Lebensversicherer zur Bedeckung der mathematischen Reserven und der gesetzlich vorgeschriebenen Kaution ins einzelne gehenden Anlagevorschriften. Es sind sehr detaillierte Mindest- und Höchstvorschriften für die Anlage i n festverzinslichen Wertpapieren, Aktien und Grundstücken zu beachten. I m Rahmen dieser Vorschriften ist eine vorherige Genehmigung der Aufsichtsbehörde nicht erforderlich; dieser bedarf es jedoch zum Erwerb ausländischer Wertpapiere und solcher Vermögensanlagen, die außerhalb des Anlagenkatalogs liegen (beispielsweise Beteiligungen). Die Vorschriften in Frankreich von 1936 wurden der Expansion der Versicherungswirtschaft und deren Rentabilitätserfordernissen, der industriellen Entwicklung und der Funktion der verschiedenen Sektoren des Kapitalmarktes immer weniger gerecht. Eine Lockerung brachte das Décret Nr. 72 — 1110 vom 6.12.1972 36 . Die Vorschriften gelten einheitlich für Leben- und Schadenversicherung, jedoch weder für das Eigenkapital, dessen Anlage frei bleibt, noch für den Teil der technischen Rückstellungen, den die Gesellschaften durch Beitragsaußenstände abdecken dürfen oder durch Forderungen an Agenten (durchschnittlich 5 - 1 0 °/o). Das Pflichtminimum der Anlagen i n Staatspapieren und Obligationen ist auf 33 °/o der gesamten Anlagen herabgesetzt worden. Dieser Mindestumfang soll sicherstellen, daß dem Rentenmarkt für die industrielle Expansion, für Infrastrukturinvestitionen und zum 34
D. Herlihy, in: „the Review" 1971, 1263 ff. „Life Assurance in the United Kingdom 1968 - 1972", S. 22: „Freedom to invest ensures a high yield which is to the benefit of policyholders and shareholders alike but, more than that, the voluntary savings which life assurance is able to attract, finance a wide range of industrial, commercial and Government projekts." 36 J. O., Nr. 291 v. 14. 12. 1972. 35
8,0 °/o
r
4,5 °/o 5,5 °/o
^bhga24,0 °/o
Aküen
υ
35,0 °M
23,0 %b)
A
,
1972 in Ländern ohne Anlagevorschriften
Direkte Darlehen an Unternehmen und Hypo(n^
der Anlagen in der Lebensversicherung
Invtüüonen
13,9 °/o
Festverzinsliche Wert-
34,8 °/o
28,6 W
papiereSchuldscheindarlehn öffentlicher Stellen, Vorzugsaktien 14,8 °/o
7,9 W)
E^fekTenohne Garantietheken
tionen
Invest?-
Irland
Die enge Verflechtung der irischen (und der britischen Versicherunjgswirtschaft schließt eine genaue Abgrenzung der allein das irische Geschäft betreffenden Vermögenswerte aus.
c) Dies ist der Buchwert. Der Börsenwert liegt sehr viel höher; Immobilien und Aktien überschreiten zusammen 50 ·/« bei weitem. 1964 betrug der Anteil der Realwerte nur 32,9 °/o gegenüber 42,5 ·/· in 1972. d) Davon 3,4 e/e in ausländischen, Commonwealth Staatspapieren und kommunalen Effekten.
Vereinigtes Königreich
Immobilien
a) Davon etwas mehr als die Hälfte an privaten Unternehmen, der Rest an verschiedene Institutionen (Lehranstalten, karitative Stätten, Krankenhäuser u. a.) mit staatlicher oder öffentlicher Garantie. b) Diese Kategorie schließt u. a. alle Immobilien- und Finanzierungsgesellschaften ein, die zu den Lebensversicherungsgesellschaften gehören, also auch Investitionen in Aktien.
Niederlande
Immobilien
Tabelle I: Prozentuale Verteilung
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Schutz der Sparer gegen Konjunkturumschwünge genügend M i t t e l zur Verfügung stehen. Streuung und Verteilung der A k t i v a w i r d verlangt und soll durch Begrenzungen erreicht werden 3 7 . Die Wesentlichsten von ihnen sind in der Tabelle II. aufgeführt. Zugelassen sind nunmehr vor allem 3 8 : bebaute Grundstücke i n Frankreich, Wertpapiere von Immobiliengesellschaften — selbst unnotierte — ausländische an der Börse zugelassene Wertpapiere, A k t i e n von Investmentgesellschaften m i t mindestens 20 °/oiger Beteiligung von französischen Versicherungsgesellschaften 89 , sowie Schatzanweisungen und sonstige kurz- oder m i t telfristige Werte gemäß einer aufsichtsbehördlichen Liste, m i t Genehmigung auch unbebaute Grundstücke und Grundstücke i n überseeischen französischen Gebieten. I n Luxemburg ist die Bildung von festen und beweglichen Kautionen vorgeschrieben (die bewegliche Kaution entspricht in der Lebensversicherung dem Betrag der mathematischen Reserven und der Garantiereserve). Die Anlage der Kautionen ist für die Lebens- und Schadenversicherung einheitlich geregelt. Als Anlagen sind nur festverzinsliche Wertpapiere, unter Bevorzugung öffentlicher Anleihen allgemein zulässig. Die Aufsichtsbehörde läßt jedoch i m Wege der Einzelgenehmigung auch andere Anlagearten zu 4 0 . I n Dänemark gelten Vermögensanlagevorschriften nur für die Lebensversicherung. Abgesehen davon, daß die Gesellschaft i n ihren Satzungen anzugeben hat, wie sie das Gesellschaftsvermögen anlegt 41 , bestehen Anlagevorschriften und Begrenzungen lediglich für die Bedeckung des Versicherungsfonds 42 . Die danach zulässigen Anlageformen stimmen i m wesentlichen mit denen des § 68 V A G überein, allerdings beschränkt auf dänische Werte. Für den Versicherungsfonds dürfen das Geschäftsgrundstück der Hauptverwaltung und weitere zur Anlage von Mündelgeld geeignete eigene Grundstücke eingesetzt werden, jedoch nur bis zu 8 0 % des Einheitswerts. Weitgehende Flexibilität besteht jedoch dadurch, daß die Versicherungsunternehmen bis zu 15 °/o der M i t t e l zur Deckung des Fonds absetzen und anderweitig anlegen können. Von den Beschränkungen können Abweichungen zugelassen werden. 37
Décret ν. 6.12.1972, Art. 154. Art. 153. 39 Technische Verbindlichkeiten dürfen mit ihnen nur zu von der Aufsichtsbehörde im Einzelfall festgelegten Bedingungen bedeckt werden. 40 Vgl. Schmidt, Heft 71/2, 1075. — Eine Neuregelung ist im Hinblick auf Art. 15 Ziff. 2 der Ersten Richtlinie zu erwarten. 41 Gesetz v. 13. 5.1959, § 13 i. V. m. § 5 Abs. 2. 38
42
§ 68.
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I n Italien sind die zulässigen Anlagearten zur Bedeckung der mathematischen Reserven i n der Lebensversicherung enumerativ vorgeschrieben: Wertpapiere des ital. Staates, Pfandbriefe der in Italien zugelassenen Bodenkreditinstitute, unbelastete Grundstücke, erstrangige H y pothekendarlehen i n Italien, Policendarlehen (jedoch nicht über Rückkaufswert) sowie Bardepots bei staatlichen Kassen, die auf 5 %> begrenzt sind 4 3 . Die Aktien der ital. Staatsbank und des ital. Bodenkreditinstitutes sowie anderer bestimmter öffentlicher Kreditinstitute sind unbegrenzt zugelassen; Aktien und Obligationen von ital. Aktiengesellschaften sind auf 15 % begrenzt, wobei die ausgebende A G seit mindestens 5 Jahren an der Börse notiert sein muß. Nicht mehr als 5 °/o dieser 15 °/o (d. h. nicht über 0,75 °/o der gesamten mathematischen Reserve) dürfen in Aktien oder Obligationen einer einzelnen Gesellschaft angelegt werden, wobei darüber hinaus die Beteiligung an einer Aktiengesellschaft 3 °/o des Kapitals nicht überschreiten darf 4 4 . Andere Anlageformen können auf Antrag und mit Einzelgenehmigung durch die Aufsichtsbehörde zugelassen werden, ζ. B. für ausländische Wertpapiere. Ein Verhältnis von 60 °/o Grundbesitz und 40 °/o beweglichen Vermögens erkennt die Aufsichtsbehörde im allgemeinen an 4 5 . Diese Vorschriften gelten zwingend auch für den Anfangsfonds und die gesetzliche Rücklage (sog. ordentlichen Reservefonds) der Lebensversicherung 4 ^ 1 . Allgemein gilt das Lokalisierungsprinzip 4 5 b . Für die INA, die nach ganz anderen Gesichtspunkten als die private Versicherungswirtschaft arbeitet, bestehen zum Teil abweichende Vorschriften 4 5 0 . Eine Darstellung aller Einzelheiten der aufsichtsrechtlich zu beachtenden Grundsätze für die Vermögensanlage in der Lebensversicherung i n der Bundesrepublik erscheint entbehrlich, da den meisten Lesern mehr Einzelheiten bekannt sein werden, als hier aus Platzgründen dargestellt werden kann 4 6 . Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß die Regelung in § 68 V A G vom Gesetzgeber des Jahres 1901 und von der bisherigen Fassung her an den Grundsätzen für die Mündelsicherheit orientiert ist. Die Aufsichtsbehörde verlangt in ihrer ständigen Praxis die Beachtung der übergeordneten allgemeinen Grundsätze optimaler 43
Art. 30 TU. Vgl. Gesetz 109 v. 25. 2.1965 („Lex Dosi") i. V. m. Décret Nr. 1265 v. 5. 8. 1966, G.U. Nr. 32 v. 6. 2. 1967 sowie Gesetz v. 13. 2. 1974 Nr. 44 G.U. u. Nr. 64 v. 8. 3. 1974. 45 Minist. Rundschr. Nr. 340 v. 25. 1. 1973 i. V. m. Nr. 326 v. 7. 2. 1973. 45a Art. 27 u. 59 TU. 45 b Art. 29 TU. 45 c Art. 15 T U sowie Gesetze v. 25. 2.1965 und v. 13. 2.1974. 46 Für einen Uberblick über die derzeitigen Bestimmungen: Matthes, „Die Vermögensanlagen in der VersicherungsWirtschaft", in: „Versicherungswirtschaftliches Studienwerk", 2. Aufl., Heft 26. 44
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Sicherheit, Rentabilität und Liquidität unter Berücksichtigung angemessener Mischung und Streuung der Vermögensanlagen 47 . Danach ist die Anlage des Vermögens ohne weiteres zulässig i n Staats- und Kommunalanleihen, staatlich garantierten Obligationen und Forderungen, mündelsicheren Pfandbriefen, Hypotheken, Policendarlehen, Forderungen, für die Hypotheken oder Wertpapiere verpfändet sind, sowie i n Guthaben bei öffentlichen Banken und Sparkassen. M i t Genehmigung sind zugelassen: börsenmäßig gehandelte Aktien und Investmentzertifikate (von Unternehmen mit einem Kapital von mindestens 10 Mill. DM) 4 8 , Guthaben bei privaten Banken und Sparkassen, Schuldverschreibungen und Schuldscheindarlehen, die dem — jedoch zu praktischer Bedeutung kaum gelangten — vereinfachten Genehmigungsverfahren entsprechen 49 . Vorheriger Zustimmung unterliegt der Erwerb von Grundbesitz (§ 54 VAG). Die Aufsichtsbehörde kann anderweitige Anlagen gestatten 50 . Kraft Gesetzes51 unterliegen die Vermögensanlagen der Krankenversicherung und der Unfallversicherung, „soweit sie Versicherungen nach A r t der Lebensversicherung auf Grund bestimmter Wahrscheinlichkeitstafeln betreiben" und damit eine Deckungsrückstellung erfordern, den gleichen Anlagevorschriften wie i n der Lebensversicherung. Auf Grund einer mangels gesetzlicher Grundlage umstrittenen Analogie werden die Haftpflicht-Renten i n gleicher Weise behandelt. Hinsichtlich der übrigen Vermögensanlagen in der Schaden- und Unfallversicherung i n der Bundesrepublik fehlt die gesetzliche Grundlage zur aufsichtsrechtlichen Regelung. Die Rechtsnatur des hierfür maßgeblichen Rundschreibens R 15/58 ist umstritten 5 2 . Darin werden alle Verbindlichkeiten gegenüber Versicherungsnehmern und geschädigten Dritten i n der Schaden- und Unfallversicherung weitgehend den gleichen Anlagegrundsätzen wie die Vermögenswerte der Lebensversicherung unterworfen. Angesichts der dem Bundestag vorliegenden Novelle zum V A G ist darauf hinzuweisen, daß R 15/58 weder aufgrund § 68 V A G Abs. 2 noch aufgrund § 81 Abs. 2 V A G gerechtfertigt erscheint. Die Aufsichtsbehörde darf Anordnungen nach § 81 Abs. 2 V A G nur insoweit treffen, als diese dazu geeignet sind, den Geschäftsbetrieb mit den gesetzlichen Vorschriften und dem Geschäftsplan i m Einklang zu 47
Rdschr. B A V v. 20.12.1958 — R 15/58, VerBAV 59/1. Rdschr. v. 20. 12. 1958 und R 3/69, VerBAV 69, 230. 49 Rdschr. B A V v. 2. 3. 1955 — R 4/55, VerBAV 55, 64. 50 § 68 Abs. 3 Satz 2 VAG. 51 § 79 VAG. 52 Prölss, VAG, Vorb. § 68 Fußnote 2; Peters, Festschr. für Lehmann, 1956, 900 läßt darüber hinaus die Rechtsgültigkeit von § 81 a V A G offen. 48
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erhalten. Solange keine Mißstände i n der Vermögensanlage vorliegen, ist sie weder allgemein noch i m Einzelfall ermächtigt, Vermögensanlagen i n der Schaden- und Unfallversicherung zu regeln. Nicht nur i n Deutschland, sondern auch i n den übrigen EG-Staaten gelten Anlagegrundsätze für die Schadenversicherung, gewähren aber i n den Staaten, welche die Lebensversicherung überhaupt Anlagevorschriften unterwerfen, mehr Freiheit. Damit ist zugleich gesagt, daß i n Großbritannien, Irland und den Niederlanden auch i n der Schadenversicherung keine Anlagevorschriften gelten. Das gleiche t r i f f t für Belgien zu m i t Ausnahme der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung und der Arbeiterunfallversicherung, für die weitgehend das gleiche wie für die Lebensversicherung gilt. I n Dänemark gibt es ebenfalls keine Anlagevorschriften Schadenversicherungsunternehmen.
für
die
I n Luxemburg ist eine bewegliche Kaution i n Höhe eines je nach Zweigen unterschiedlichen %-Satzes des Prämienvolumens zu bilden. Diese Kaution ist durch Staatspapiere zu bedecken. Der kautionsfreie Teil der technischen Rückstellungen unterliegt genauen Anlagebestimmungen. Andere Anlagearten bedürfen der Einzelgenehmigung. I n Italien haben die Schadenversicherer die gesetzlich vorgeschriebenen Kautionen i n der gleichen Weise wie i n der Lebensversicherung anzulegen; nur rückgedeckte Quoten bei I N A und UNIORIAS dürfen abgesetzt werden 5 3 . Sie sind gem. A r t . 40 T U zu berechnen und belaufen sich i m allgemeinen auf bloß 35 °/o der Brutto-Jahresprämien 5 4 . Die relativ niedrige Begrenzung der gebundenen Vermögensanlagen i n der Schadenversicherung zeigt, daß auch i n Italien für die Vermögensanlagen der Schadenversicherung der Bedarf an einer gesetzlichen Regelung für wesentlich geringer als i n der Lebensversicherung angesehen wird. I m übrigen sind die Schaden- und die Lebensversicherer i n ihrer Anlage — auch i m Ausland — frei. I n Frankreich gelten für die Vermögensanlagen i n der Nicht-Lebensversicherung die gleichen Vorschriften wie für die Lebensversicherung 5 5 . Der umfassenden Regelung in Art. 149, die die gebundenen Vermögensanlagen definiert, läßt kaum noch Raum für unreglementierte Vermögensanlagen, soweit es sich nicht u m Anlagen zur Bedeckung des freien Vermögens i. S. der Niederlassungsrichtlinie handelt.
53 54 55
Art. 40, 42 i. V. m. 30 TU. 50 °/o in der Kfz-Haftpflichtversicherung. Art. 152 i. V. m. Art. 153 - 155 des Décret ν. 30. 12. 1938.
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Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Vermögensanlage i n der Schadenversicherung i n sechs Mitgliedsstaaten der EG keiner gesetzlichen Regelung unterliegt, da die deutschen Richtlinien der gesetzlichen Grundlage entbehren. Lediglich zwei Staaten wenden über das Verlangen nach beweglichen Kautionen Anlagevorschriften der Lebensversicherung auf einen Teil der Vermögensanlagen der Schadenversicherung an. Schließlich ist nur i n Frankreich eine Regelung festzustellen, die praktisch die Gesamtheit der technischen Reserven der Schadenversicherung den gleichen Anlagevorschriften unterwirft, wie sie für die Lebensversicherung gelten. VIII. Als einheitliche Erwägung schält sich i n fast allen Ländern die Streuung und Mischung der Vermögensanlagen heraus. Aus der Beachtung dieses Grundsatzes folgt von selbst, daß die Versicherer das Risiko der einzelnen Vermögensarten ebenso berücksichtigen, wie wirtschaftspolitische Erwägungen i n ihre Anlagepolitik einbeziehen. Eine Verzettelung der Anlagewerte kann zu hohen Kosten und schlechterer Verwaltung führen. Je besser das Vermögen gestreut ist, u m so leichter kann eine schlechte Entwicklung überbrückt werden. Jede Kapitalanlage ist eine i n die Zukunft weisende Entscheidung, sie kann kontrolliert, darf aber nicht reglementiert werden. IX. Die Unterschiede i n den EG-Ländern lassen zugleich die Relativität der Anlagevorschriften erkennen. Selbst die besten Bestimmungen können nicht alles vorhersehen und i n jeder Situation das gleiche Gewicht haben. Gegen ungetreue Geschäftsführung gibt es kein M i t t e l 5 6 . Die durch die Vorschriften erstrebten vermeintlichen Sicherheiten sind subjektiv. Gemeinsam ist nur, daß Staat und öffentliche Institutionen stets vertrauenswürdig sind, während sich private Unternehmen weitgehenden Kautelen gegenübersehen. Die der Streuung dienende Vorschrift, die Anlage i n Wertpapieren derselben Gesellschaft zu begrenzen, ist nicht sinnvoll, wenn schon ein Betrag die Grenze für die fraglichen Wertpapiere erreicht oder überschreitet. Die wirkliche Grenze liegt i n der Kenntnis der Märkte, aus der Sicherheit und Liquidität zu beurteilen sind. Unterschiedliche Einflüsse aus den Beziehungen zwischen Versicherer und Darlehensnehmer können verschiedenartige 5e Hagen, Deutsche Juristen-Zeitung 1929, S. 1172 ff., im Zusammenhang mit dem „Favag"-Fall.
50 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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Gottfried Matthes
Folgen haben, ebenso kapitalmäßige Bindungen zwischen Banken und Versicherungen und schließlich gegenseitige Beteiligungen zwischen Versicherungsgesellschaften der selben Gruppe. Hieraus erwachsende Probleme sind — wenn überhaupt — i n den Vorschriften nur am Rande behandelt, können bei der Vielfältigkeit der Komplexe vom Staat selber auch nicht geregelt werden. Eine Liberalisierung kann nicht von der Anzahl und Bedeutung solcher Kapitalanlagearten ausgehen, für die Vorschriften oder Quoten festgesetzt sind. Dasselbe gilt für prozentuale Begrenzungen. Je detaillierter und umfassender etwas geregelt ist, desto weniger kann die Aufsichtsbehörde sich einschalten. Sie hat dann nur die richtige A n wendung der Vorschriften zu überprüfen. Bei Fehlen von Beschränkungen hat sie dagegen sehr viel weitergehende Eingriffsmöglichkeiten.
X. Die unterschiedlichen Regelungen beruhen auf der i n den einzelnen Ländern verschiedenartigen gesellschaftlichen und politischen Grundauffassung. Sie auf einen Nenner zu bringen, w i r d langwierig und schwierig sein. Nachstehend w i r d versucht, mögliche Tendenzen für Gestaltung und Liberalisierung der Anlagen aufzuzeigen: 1. Die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der VersicherungsWirtschaft insgesamt ist vorrangig, der Schutz des einzelnen Versicherten maßgeblich, t r i t t demgegenüber aber etwas zurück. 2. Oberstes Gebot jeder Kapitalanlage ist die traditionelle Wahrung von Sicherheit, Liquidität und Rentabilität. Angemessene Mischung und Streuung der Anlagen ist zu beachten. Dabei sind Absicherungen gegen inflatorische Tendenzen anzustreben. 3. Wirtschaftspolitische oder von Anlagevorschriften. Schon die Interessen der Versicherten gewogener Anlagepolitik und licher Belange.
sonstige Motive sind nicht Gegenstand aus der treuhänderischen Aufgabe für folgt die Pflicht der Versicherer zu auszur Berücksichtigung volkswirtschaft-
4. I m Einzelfall können etwaige Beschränkungen der Kreditvergabe, Abschöpfungen überflüssiger Liquidität oder Berücksichtigung einheimischer Anlagen zwischen Versicherungs Wirtschaft und der jeweiligen Zentralbank oder der sonst zuständigen Stelle vereinbart werden. 5. Eine Anlage i n bestimmten Werten oder Kategorien sollte nicht verlangt werden.
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6. Technische Reserven sind durch gleichwertige, kongruente und i m Tätigkeitsland belegene A k t i v w e r t e zu bedecken. Lockerungen i n bezug auf Kongruenz und Belegenheit durch die Aufsichtsbehörde sind nicht völlig auszuschließen, sollten aber nur m i t gebotener Vorsicht erlaubt werden. Für solche begrenzten Ausnahmen wären von den Behörden der EG-Länder gemeinsame Grundsätze aufzustellen, damit Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden. 7. Detaillierte Aufstellungen über Zu- und Abgänge sind der A u f sichtsbehörde periodisch vorzulegen; diese kann daraus die ihr geeignet erscheinende Folgerungen ziehen, die das Gesetz zuläßt. 8. Die Aufsichtsbehörde muß berechtigt und verpflichtet sein, a) in periodischen Abständen an Ort und Stelle zu prüfen und außerordentliche Kontrollen nach ihrem Ermessen vorzunehmen. b) Kapitalanlagen zu beanstanden und, wenn dem Verlangen nicht entsprechen wird, die Anweisung zu veröffentlichen. 9. Anstelle von Kapitalanlagebestimmungen ist die „Aufsicht des guten Rates" zu verwirklichen — eines Rates, der allerdings auch angenommen werden sollte. 10. Für die Schaden-, Transport- und Rückversicherung erübrigen sich Anlagevorschriften, wie dies i n den meisten Mitgliedsstaaten auch der Fall ist. I n der Schadenversicherung kommt der Sozialrelevanz außer den i n Ziff. 11 erwähnten Zweigen keine Bedeutung zu. 11. Soweit für „Jedermann-Versicherungen" die Bildung von Dekkungsstöcken vorgesehen ist, wie z. T. i n der Lebens-, Unfall-, K r a f t fahrzeughaftpflicht- und der Krankenversicherung nach A r t der Lebensversicherung, können wegen der Sozialrelevanz dieser Zweige sozialstaatliche Überlegungen berücksichtigt werden. Die Versicherer erbringen hier nicht nur Dienstleistungen, sondern häufen auch beträchtliche Vermögenswerte an. Als Kapitalsammelbecken wächst ihre Bedeutung für die verschiedenen Kapitalmärkte ständig. Insoweit erscheint eine angemessene Nutzung dieser Werte i m Interesse der Volkswirtschaft nicht unberechtigt. Jedoch sollte eine Legalitätskontrolle genügen, die sich auf eine mehr formelle Kontrolle beschränkt und vernehmlich auf die Beachtung der Grundsätze i n Ziff. 2 erstreckt. Bestimmungen über Maxima für einzelne Anlagekategorien entbehren der inneren Berechtigung, höchstens können unverbindliche Richtlinien einen Anhaltspunkt geben, der für kleinere Unternehmen von Wert sein mag. 12. Dagegen sind zu unterlassen: — prozentuale Beschränkungen (für denselben Wert ergeben sich diese schon aus dem Grundsatz der Mischung und Streuung). 50*
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— Vermischung von Begrenzungen für unterschiedliche Anlagearten, — Beschränkungen der Besicherung von Schuldscheindarlehen, ζ. B. durch Bestellung von Grundpfandrechten, wodurch Energie-, Transport-, Kernenergie- u. a. Bereiche mangels geeigneter Grundlagen ausgeschlossen würden. Die Kreditzusage des Versicherers ist zudem für viele Unternehmen ebenso bedeutsam wie der Versicherungsschutz; die Verbindung von beiden hat zur industriellen Entwicklung wesentlich beigetragen. — Beschränkungen für Bürgschaften geeigneter Kreditinstitute, Sicherungsübereignungen, Negativklauseln u. ä., — Beschränkungen über die freie Verfügung der Werte, auch ausländischen, soweit diese an anerkannt internationalen Börsen gehandelt werden, — Beschränkungen der Anlage von Aktivwerten i n der Wahrung eines Mitgliedsstaates, — Beschränkungen über die freie Verfügung der Werte, außer i m Rahmen von A r t . 20 der Ersten Richtlinie — Nachweise über dauerhafte Mindesterträge, ζ. B. bei Grundstücken. 13. Wohl aber sollte die Aufsichtsbehörde — wie in Großbritannien — durch Gesetz ermächtigt werden, i m Einzelfall für das langfristige Geschäft Anlagen bestimmter A r t zu verlangen oder zu verbieten. 14. Reglementierungen sollten sich auf Nettoverbindlichkeiten nach Abzug des rückversicherten Anteils beschränken. Für Forderungen gegen Rückversicherer kann Belegenheit nicht verlangt werden. 15. Unabhängig von der Rechtsform haben für alle Unternehmen einheitliche Vorschriften zu gelten, also auch für VVaG, öffentlich-rechtliche oder i m Staatsbesitz befindliche Unternehmen, auch soweit sie über ein Monopol verfügen. 16. Erweiterte Anlagemöglichkeiten sollten i m Einzelfall oder generell für bestimmte Anlagearten m i t Zustimmung der Aufsichtsbehörde zulässig sein, dürfen aber nicht i m voraus einem einzelnen Unternehmen zugestanden werden, da sonst der Wettbewerb verzerrt wird. 17. Bewertungsvorschriften sollten den sonst üblichen diesbezüglichen Bestimmungen des Mitgliedsstaats entsprechen. 18. Jedwede Vorschriften sollten schlechthin mehr von Erfahrung und Praxis der Unternehmen ausgehen, als die Kapitalanlagen durch Grenzen i n eine bestimmte Richtung lenken, Sonst bestimmen — möglicherweise überholte — Vorschriften die Entwicklungsrichtung der Volkswirtschaft.
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XI. Anlagevorschriften dürfen den Unternehmen nicht als Sündenbock für eigene Fehler ihrer Wirtschaftsführung dienen. Die Verantwortung liegt bei den Unternehmen, ist aber öffentlicher Kontrolle zu unterwerfen. Das setzt voraus, daß die Aufsichtsbehörden personell und materiell ausreichend ausgestattet sind, sich nicht i n Einzelheiten verlieren, sondern ihre Aufmerksamkeit auf das Wesentliche richten und sich auf künftige Entwicklungen einstellen. Eine wachsame Aufsicht bedarf keiner detaillierten Anlagevorschriften, sondern w i r k t durch ihren „guten Rat". XII. Die vorstehenden Postulate sind von der Erkenntnis getragen, daß Kapitalanlagen i n Grundlagen und Aufsichtspraxis ebenso wie i m nationalen auch i m internationalen M a r k t wettbewerbsneutral sein müssen. Das Fehlen koordinierter Vorschriften für die Bewertung der die A k t i v a bedeckenden technischen Rückstellungen und für die Besteuerung der Unternehmen unterstreichen diese Notwendigkeit. Die restriktiven Vorschriften für die Bedeckung der mathematischen Reserven sind darüber hinaus i n verschiedenen Mitgliedstaaten — vereinzelt auch für die Anlagen i n der Schadenversicherung — häufig von anderen Erwägungen geleitet als von der Sicherheit der Versicherungsnehmer. Ihre Beibehaltung führt besonders i n einem System der Dienstleistungsfreiheit zwischen solchen Vorschriften unterworfenen und davon freien Unternehmen zu einer nicht vertretbaren Wettbewerbsungleichheit m i t auf die Dauer für die Mitgliedsländer nicht tragbaren Folgen. Die Unternehmen müssen deshalb ein Höchstmaß von Freiheit i n der eigenverantwortlichen Verwaltung ihrer Portefeuilles erhalten 5 7 . Sinnvolle und liberale Koordinierung der Anlagebestimmungen i n der EG ist ein keinen Aufschub mehr duldendes Gebot an Versicherer, Kommission und Ministerrat.
57
Vgl. dazu: Eingaben des CEA über Dienstleistiungsfreiheit — Dokumente 7.63 und 7.637 an die Europäische Kommission, dieser vorgelegt am 6. 9.1973.
X . Arbeits- und Sozialrecht
Der Abschluß des Arbeitsvertrages im neuen Arbeitsvertragsgesetz Von Franz Gamillscheg
I. A g l l e m e n ie s 1. D e r
Anlaß
der
folgenden
Überlegungen
i s t recht k o n k r e t :
die
Vorarbeiten zur Schaffung eines ersten Teils eines Arbeitsgesetzbuches m i t einer umfänglichen Regelung des Arbeitsvertrages werden, wenn diese Festschrift erscheinen soll, i n ihr entscheidendes Stadium eingetreten sein. Die Kodifikation des Arbeitsrechts, schon i n A r t . 157 der Weimarer Verfassung vorgesehen, 1959 vom Bundestag einstimmig gefordert, 1969 i n der Regierungserklärung versprochen, ist i m Begriff, i n einem wichtigen Stück Wirklichkeit zu werden. Es tut der Bedeutung dieses Ereignisses keinen Abbruch, daß es sich hierbei nur um einen Teil des Gesamtwerkes handelt, der zudem zu jenen Bereichen zählt, i n denen bei aller Unterschiedlichkeit der Meinungen i m Einzelnen Übereinstimmung i m Wesentlichen am ehesten zu erwarten ist, während die Aufgabe der Kodifikation dort vorerst unerfüllt bleibt, wo sie, wie i m Arbeitskampf- und Koalitionsrecht, am dringlichsten wäre. Daß auch das Arbeitsvertragsgesetz ein wichtiger Fortschritt ist, bedarf keiner Vertiefung. Etliche Fragen des Arbeitsvertragsrechts sind z. Zt. noch i n verschiedenen Gesetzen mit zum Teil ärgerlichen, nur durch die Entstehungsgeschichte zu erklärenden Unterschieden geregelt (Beispiel: Lohnfortzahlung für Arbeiter und Angestellte); das A V G soll hier zusammenführen und vereinheitlichen. Andere Bereiche sind i m Laufe der letzten achtzig Jahre durch richterliche Rechtsbildung und Rechtsfortbildung durchorganisiert worden; sie sollen erstmals gesetzliche Form erhalten (Beispiel: Betriebsrisikolehre, Haftung des Arbeitnehmers u. a.). Wieder andere Bereiche sind schon jetzt i n Einzelgesetzen positiviert (Beispiel : Bundesurlaubsgesetz, Kündigungsschutzgesetz), die i n das Gesamtgesetz übernommen werden sollen. So nützlich dies freilich alles ist, würde es doch die große aufgewandte Arbeit nicht rechtfertigen, würde man nicht auch die Gelegenheit ergreifen, u m auch inhaltlich ein Stück auf dem Wege des sozialen Fortschrittes weiterzugehen. Einige Überlegungen zum Arbeitsvertrag und seinem Abschluß sollen hierzu beigesteuert werden.
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Franz Gamillscheg
2. Arbeitsrecht und Privatrecht. Als erstes muß der Gesetzgeber sich schlüssig werden, wohin das Arbeitsrecht gehört. Für den Arbeitsvertrag kann die A n t w o r t nicht zweifelhaft sein: Das Arbeitsvertragsrecht ist privates Recht, auch das Bestehen vielfältiger öffentlichrechtlicher Schutznormen ändert diesen Charakter nicht (zur Abhängigkeit vom BGB s. sogleich). Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des Hamburger Urlaubsgesetzes 1 steht dem nicht entgegen. I n ihr w i r d zutreffend die Verselbständigung des Arbeitsrechts gegenüber dem BGB geschildert, wie es sich neben und vielfach gegen dieses Gesetz zu einem eigenständigen Zweig des Rechts entwikkelt hat, u m daraus zu schließen, daß das (private) Urlaubsrecht von der Regelungssperre der A r t . 3, 55, 218 EGBGB nicht erfaßt wurde. Mehr wollte das Gericht sicherlich nicht sagen. Wenn es hierbei die Bemerkung Wieackers zitiert: Das Arbeitsrecht sei „aus dem Privatrecht ganz herausgelöst" 2 , so ist dies gewiß mißverständlich, doch w i l l auch Wieacker nichts anderes sagen, als daß das Arbeitsrecht vom BGB abgerückt ist. Wenn Zweifel an der Entscheidung bleiben, so werden sie durch die offensichtliche Vernünftigkeit ihres Ergebnisses besänftigt. Wie weit die privatrechtliche Qualifikation des kollektiven Arbeitsrechts berechtigt ist, ist eine andere Frage; sie wäre eine eigene Untersuchung wert, die hier nicht beabsichtigt ist. Der Jubilar hat für sie wichtige Grundlagenforschung geleistet 3 . 3. Arbeitsrecht und BGB. Daß das Arbeitsvertragsrecht Privatrecht ist, hat m i t seiner Abhängigkeit vom BGB als dem Gesetz von 1900 nichts zu tun. Diese ist für das geltende Recht eine vom Richter tagtäglich immer wieder neu zu entscheidende Grundfrage: Ob die Anfechtung des Arbeitsvertrages durch den Arbeitgeber wegen seines I r r tums über eine wesentliche Eigenschaft des Arbeitnehmers (etwa: seine Vorstrafe) möglich ist und die rückwirkende Vernichtung des Arbeitsvertrages gemäß § 142 BGB zur Folge hat, ob der Arbeitnehmer für jede, auch die leichteste Fahrlässigkeit einstehen soll, wie § 276 BGB dies vorschreibt, ob bei Unmöglichkeit seiner Arbeitsleistung auch die Pflicht zur Lohnzahlung entfällt, wie dies § 323 BGB entsprechen w ü r de, und wie alle die vielen anderen Fragen lauten, ist von der Rechtsprechung seit langem abweichend vom BGB entschieden worden, mag sie dafür auch stets zunächst m i t dem Hinweis auf ihre mangelnde Legitimation getadelt worden sein. Alle diese bekannten Streitfragen 1
BVerfGE 7, 342 (348 ff.). Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1. Aufl. 1952) 320 f. 3 Vgl. neben vielem anderen Weber, Die Sozialpartner in der Verfassungsordnung, Festschrift für das O L G Celle (1961) 239 ff.; ders., Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie als Verfassungsproblem (1965). 2
Der Abschluß des Arbeitsvertrages i m neuen Arbeitsvertragsgesetz
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w i r d das A V G bereinigen und insoweit Rechtsprechung und Gesetz wieder versöhnen. Andere Fragen werden neu auftauchen, die alle vorauszusehen der überlastete Gesetzesverfasser niemals i m Stande ist 4 . So bleibt das Verhältnis des A V G zum BGB nach wie vor zu klären; von der A n t w o r t w i r d die Orientierung abhängen, die die Rechtsprechung bei der Auslegung des neuen Gesetzes nehmen wird. W i l l man die Einstellung des Gesetzgebers zu unserem Problem aus seinem bisherigen Verhalten deuten, so ergibt sich ein gewisses Schwanken. Lange Jahre waren arbeitsrechtliche Vorschriften Gegenstand eigenständiger Gesetze: Kündigungsschutzgesetz, Bundesurlaubsgesetz, Lohnfortzahlungsgesetz, u m nur einige zu nennen. Man konnte daraus auf die Neigung zur Verselbständigung gegenüber dem BGB schließen. 1969 wurde hingegen das i n BGB, HGB und Gewerbeordnung (und anderen Gesetzen) verstreute Recht der Kündigungsfristen zusammengefaßt und i n § 622 BGB untergebracht; ebenso ist seither § 626 BGB der Ort, an dem allein die Kündigung aus wichtigem Grunde geregelt ist. Es wäre wohl weiser gewesen, beides ins Kündigungschutzgesetz zu übernehmen und damit aus diesem ein echtes arbeitsrechtliches Kündigungsgesetz zu machen; dies hätte auch erlaubt, das Gesetz über die Kündigungsfristen für Angestellte vom 9.7.1926 i n die Bereinigung mit einzubeziehen, das immer noch außerhalb steht. Wäre dies geschehen, wäre mit Wahrscheinlichkeit auch das Problem nicht übersehen worden, ob die verlängerten Fristen des § 622 I I BGB auch vom Arbeiter eingehalten werden müssen; denn hinsichtlich der verlängerten Fristen, die nach dem Gesetz von 1926 zugunsten des Angestellten wirken, ergab sich die A n t w o r t ohnehin stets aus dem Gesetz. — Der Gesetzgeber des Jahres 1972 hat sich i n der Frage der Zugehörigkeit des Arbeitsvertragsrechts zum BGB widersprüchlich verhalten. Zum einen ist hier auf die §§ 81 - 86 B V G hinzuweisen; diese betreffen Angelegenheiten des allgemeinen Arbeitsrechts, nicht der Betriebsverfassung, die Vorschriften sind i m B V G systematisch am falschen Platz 5 , so daß die Rechtsprechung nicht 4
Freilich hängt viel davon ab, ob der Entwurf, kaum veröffentlicht, auch schon Gesetz wird, oder ob man sich zunächst mit der Veröffentlichung begnügt und Wissenschaft und Praxis die Möglichkeit zu kritischer Mitarbeit gibt. Nur das zweite ist zu wünschen; schließlich kann auch der politische Lorbeer von den Verbesserungen, die eine breit gefächerte Erörterung in der Öffentlichkeit erwarten läßt, nur um so frischer werden. Auf keinen Fall sollte sich das feindselige Gegeneinander der politischen Parteien wiederholen, das zum Schaden des Gesetzes an der Wiege des B V G 1972 gestanden ist. 5 Vgl. Dietz - Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, Bern. 2 vor § 81 mit Nachweisen.
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Franz Gamillscheg
gehindert sein sollte, die dort geregelten Individualrechte auch A r beitnehmern i m öffentlichen Dienst oder i n einem betriebsratslosen Betrieb oder auch leitenden Angestellten zugute kommen zu lassen. Zum anderen ist auf die Einfügung von § 613 a BGB durch § 122 B V G hinzuweisen: eine sozialpolitisch wichtige Regelung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist wiederum ins BGB aufgenommen worden 6 . So läßt sich eine klare Linie i n unserer Frage beim Gesetzgeber wohl nicht feststellen. a) Prüfen w i r nun das künftige Verhältnis der beiden Gesetze zueinander, so zielt der m. E. gewichtigste Einwand gegen die unbesehene Heranziehung des BGB als Grundlage auch des Arbeitsvertragsrechts auf das folgende: Allgemeiner Teil und Allgemeines Schuldrecht des BGB sind nach dem Modell des Kaufvertrages gestaltet worden. Dieser ist der Prototyp des gleichgewichtigen Vertrages, den zwei Vertragspartner von wirtschaftlich gleicher Stärke zur Regelung ihrer Verhältnisse miteinander schließen. Hier steht m i t vollem Recht „das Gewollte für das Richtige": Stat pro ratione voluntas. Jeder ist seines Glückes Schmied und sorgt selbst für seine Interessen, so daß die Gesellschaft (der Richter) nicht das Recht hat, korrigierend einzugreifen, sofern nur der Wille der Beteiligten selbst keine Mängel aufweist, die Parteien m i t h i n geschäftsfähig waren, nicht unter dem Einfluß von Irrtum, Täuschung oder Drohung standen und nicht wegen ihres Leichtsinns oder ihrer Unerfahrenheit schutzbedürftig waren. Anders der Arbeitsvertrag: er ist typischerweise ungleichgewichtig, weil nicht zwischen w i r t schaftlich gleich starken Partnern ausgehandelt. Deshalb ist das A r beitsrecht zum Arbeitnehmer-Schutzrecht geworden, das den Einzel6 Zweifelhaft ist, ob § 613 a BGB auch auf leitende Angestellte anwendbar ist. Dagegen spricht einmal die frühere Rechtsprechung des BAG, A P Nr. 1 - 9 zu § 419 BGB Rechtsnachfolge, die bei leitenden Angestellten eine Pflicht des Erwerbers des Betriebes zur Übernahme verneint hatte; ebenso auch das gesetzestechnische Argument, daß § 613 a BGB durch § 122 B V G 1972 eingeführt wurde, der seinerseits unter dem Vorbehalt des § 5 I I I B V G steht, wonach „dieses Gesetz" — also auch § 122 — auf leitende Angestellte keine Anwendung findet. Dafür spricht jedoch das soziale Interesse der leitenden Angestellten, die sonst wieder einmal vom sozialen Fortschritt ausgeschlossen wären; die Übernahme kann dem Erwerber des Betriebes auch um so eher zugemutet werden, als er sich gemäß § 14 I I KSchG in jedem Fall, wenn auch u. U. gegen Zahlung einer Abfindung, vom leitenden Angestellten wieder trennen kann. Das oft gehörte Argument, bei einem sanierungsbedürftigen Betriebe seien die Leitenden für den Niedergang verantwortlich, mag in dem Kündigungsschutzprozeß vorgebracht werden; für sich genommen kann es die entgegengesetzte Lösung nicht tragen. Warum die Mitglieder der Gruppe des § 5 I I I Z. 3 B V G schließlich von der Wohltat des § 613 a ausgeschlossen sein sollten, wäre überhaupt nicht einzusehen. — Wie hier wohl Dietz - Richardi, Vorbem. vor § 122 BVG.
Der Abschluß des Arbeitsvertrages i m neuen Arbeitsvertragsgesetz
797
arbeitsvertrag inhaltlich durch staatliche Mindestnormen und die auf ihnen aufbauenden kollektiven Regelungen verdrängt; und i n den verbleibenden Bereichen einzelvertraglicher Vereinbarung hat sich die Rechtsprechung eine stets weitergehende Kontrollbefugnis zuerkannt, die den Arbeitsvertrag von den gleichgewichtigen BGB-Verträgen unterscheidet, die freilich ihre Parallelen i n anderen Bereichen wie den allgemeinen Geschäftsbedingungen oder (dies noch überwiegend i m Gewände des § 138 BGB) dem Wohnungsmietrecht findet. So sagt das Bundesarbeitsgericht i n seiner Entscheidung zur Dynamisierung deé Ruhegeldes 7 : Die „ . . . massenweise auftauchende Frage, ob erdiente Pensionsanwartschaften jedenfalls dann nicht verfallen dürfen, wenn der Arbeitnehmer nach mehr als 20jähriger Tätigkeit aus einem Betriebe nach Kündigung durch den Arbeitgeber ausscheidet, ist m i t den Mitteln des geltenden, auf Vertragsfreiheit angelegten Schuldrechts nicht zu lösen. Das Funktionieren der Vertragsfreiheit, bei der ohne Eingriff gesetzlicher Mindestbedingungen ein sachgerechter Ausgleich und die Berücksichtigung beiderseitiger berechtigter Belange i m Wege des Aushandelns erfolgt, setzt ein Gleichgewicht der Vertragspartner voraus . . . Der Vertragsinhalt w i r d i n diesen Fällen nicht durch ein Verhandeln zwischen gleichstarken Partnern gestaltet, sondern einseitig von einer Partei vorgeschrieben. Der Arbeitnehmer kann nur die angebotenen Bedingungen annehmen, oder er muß auf die Leistung ganz verzichten . . . " Ist so der Vertrag für eine angemessene Interessenwahrung beider Seiten ein untaugliches Mittel, so muß der Richter i n die Bresche springen. I m rechten Moment hat Söllner 8 uns i n § 315 BGB hierfür eine umfassende Handhabe präsentiert, die nicht nur früher schon zur Rechtfertigung richterlicher Eingriffe herangezogen worden war, sondern ihre Parallele auch i n der Kontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen hat. Freilich ist nicht zu übersehen, daß die Dinge auch dann keinen anderen Verlauf genommen hätten, hätte es diese Norm i m BGB nicht gegeben, und daß ihr selbst an ihrer Wiege eine solche Karriere wohl kaum gesungen worden ist 9 . Wenn es auch gewiß nicht ausgeschlossen ist, gemeinsame Rahmenregelungen für beide A r ten von Verträgen zu finden und eine von ihnen konkreter Kontrolle zu unterwerfen, so ist der Unterschied andererseits doch wohl so fun7
A P Nr. 156 zu § 242 BGB Ruhegehalt. Einseitige Leistungsbestimmung im Arbeitsverhältnis (1966); Arbeitsrecht (3. Aufl. 1973) 167 f. 9 Vgl. Lotmar, Der Arbeitsvertrag I (1902) 131; § 315 BGB setze eine Abrede voraus, daß die Bestimmung der Leistung in Ermangelung einer Vereinbarung einer Partei überlassen werde. Dies dürfte den Vorstellungen des Gesetzgebers entsprechen; an die Korrektur gegebener Vereinbarungen haben Lotmar und seine Zeit sicherlich nicht gedacht. 8
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damental, daß sich zumindest ernste Zweifel an der als grundsätzlich behaupteten Gemeinsamkeit erheben. Daß es bei uns ein System gleichgewichtiger und daneben ein solches ungleichgewichtiger Verträge gibt, w i r d mittelbar auch durch die Konkursvorrechte des Arbeitnehmers bestätigt, die nicht erklärbar wären, hätte der Gesetzgeber nicht die (gewiß vage) Vorstellung gehabt, daß das Geschehen i m „kapitalistischen" Bereich den Arbeitnehmer i m Grunde nichts angeht, so unmittelbar er davon auch berührt wird. Andererseits soll der Graben nicht tiefer gezogen werden, als vom Schutzauftrag des Arbeitsrechts gefordert wird. Zivilrecht und A r beitsrecht verfügen nach wie vor über eine große Anzahl gemeinsamer Grundsätze allgemeiner A r t , und wo diese i m BGB enthalten sind, gelten sie auch für den Arbeitsvertrag (Beispiel: der Grundsatz des § 817 BGB, wonach sich das Gericht nicht m i t der Abwicklung von Vermögensverschiebungen zwischen Ganoven befaßt; der Grundsatz, daß die vertragliche Haftung schon durch den E i n t r i t t i n Verhandlungen begründet werden kann; die allgemeinen Grundsätze des Schadenersatzrechts, usw.). M i t Gewinn w i r d das Arbeitsrecht sodann auf zahlreiche mehr technische Normen zurückgreifen (Beispiel: Hemmung der Verjährung). Schließlich ist zuzugeben, daß manche Verdrängung des BGB nur einseitig ist, nicht gilt, wenn sich der Anspruch gegen den Arbeitgeber richtet (Beispiel: auch wenn die Haftung des Arbeitnehmers summenmäßig begrenzt wird, bleibt es für die Haftung des Arbeitgebers beim Grundsatz des § 249 BGB; auch wenn die Anfechtung des Arbeitsvertrages durch den Arbeitgeber eingeschränkt wird, mag es für die Anfechtung durch den Arbeitnehmer bei der bisherigen Regelung bleiben). Wenn dennoch hier die These von der grundsätzlichen Selbständigkeit des Arbeitsvertrages gegenüber dem Vermögensrecht des BGB auch für das neue Recht aufrecht erhalten wird, so aus der Erkenntnis, daß vor jede Anwendung einer BGB-Norm ihre Prüfung durch den Richter darauf h i n t r i t t , ob sie ein den Zwecken des Arbeitsrechts angemessenes Ergebnis bringt, m i t der Eigenart des Arbeitsverhältnisses i n Einklang steht: Ein Filter, auf den nicht verzichtet werden kann. Freilich w i r d der Streit das meiste von seiner Bedeutung verlieren, wenn erst die Hauptpunkte der richterrechtlichen Sonderentwicklung i m neuen Gesetz positiviert sein werden. Die grundsätzliche Selbständigkeit des Arbeitsvertrages bedeutet keine splendid isolation. Sie hindert vor allem nicht, daß er für Mietrecht, allgemeine Geschäftsbedingungen, Abzahlungskauf und andere ungleichgewichtige Verträge zum Vorbild wird; einen Allgemeinen Teil des Arbeitsrechts können w i r uns durchaus als Vorstufe zu einem A l l -
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gemeinen Teil des Rechts der wirtschaftlich schwächeren Partei vorstellen. Beides, gleichgewichtige wie ungleichgewichtige Verträge sind Schuldrecht, nicht Personenrecht. Daß die Konstruktion des personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses heute an Anhängern verliert, hat m i t unserer Frage nichts zu tun. Es wäre indessen ein Fehlschluß, wollte man aus der Ablehnung dieser Hilfsfigur der Dogmatik, die zu ihrer Zeit ihren wichtigen Beitrag geleistet hat, schließen, daß deshalb wiederum BGB, so wie es dasteht, angewendet werden müßte. b) Das Arbeitsrecht ist aber auch nicht darauf angewiesen, daß es m i t den dogmatischen Figuren des Zivilrechts auskommt, die letztlich auf das römische Recht zurückgehen. Das Arbeitsrecht muß sich vorbehalten, eigene Denkfiguren zu entwickeln, wenn der überkommene Begriffsapparat nicht ausreicht, um insbesondere die Erscheinungen des kollektiven Bereichs zu erklären. Hierher gehört neben anderem das Nebeneinander der Arbeitsverhältnisse, das von der Wissenschaft bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde. M i t dem Abschluß des A r beitsvertrages begründet der Arbeitnehmer ein rechtliches Band zum Arbeitgeber: das ist so, und daran sollte sich auch als Begründungstatbestand für das Arbeitsverhältnis nichts ändern. M i t dem E i n t r i t t i n den Betrieb, der Aufnahme der Beschäftigung, begründet jedoch der neu Eingetretene Rechtsbeziehungen auch zu den anderen Arbeitnehmern des Betriebes. Eine wichtige Folge daraus ist der Haftungsausschluß des § 637 RVO; i m übrigen n i m m t das Recht die besondere Verbundenheit der Arbeitnehmer untereinander jedoch kaum zur Kenntnis. Für das A V G wäre statt dessen vorzuschlagen, diese Beziehung zu einem echten Rechtsverhältnis auszugestalten mit dem Inhalt, daß die Arbeitnehmer am gleichen Arbeitsplatz 1 0 einander Rücksicht und kollegiale Fürsorge schulden. Bei Verletzung der Rücksicht und Fürsorge entstünden Schadenersatzpflichten, die der vertraglichen Schadenersatzpflicht gleichzustellen sind (soweit sie nicht durch § 637 RVO ausgeschlossen sind). Wie i m Einzelnen diese Generalklausel m i t Leben zu erfüllen ist, muß die Rechtsprechung erweisen; daß die gegenseitige Verbundenheit der Arbeitnehmer bereits heute zu einer Fülle praktischer Konsequenzen geführt hat, ist an anderer Stelle näher beschrieben worden 1 1 . I m übrigen zeigt das Bürgerliche Recht m i t der Entwick10
M. E. braucht es hierbei keinen Unterschied zu machen, ob es sich um Arbeitnehmer desselben Arbeitgebers oder eines anderen Unternehmers handelt. Dies ist nur für den Haftungsausschluß nach § 637 RVO von Bedeutung. 11 Gamillscheg, Die Solidarität als Rechtsbegriff, Festschrift Fechner (1974) 135 ff.
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lung, die unter den Überschriften „Sozialer Kontakt", „Obhutspflicht" und „Vertrag m i t Schutzwirkung für Dritte" zu finden ist, daß die vom BGB vorgestellte Auschließlichkeit der Haftungsgründe „Vertrag" und „unerlaubte Handlung" usw. seit langem zugunsten von Mischformen überwunden ist. Eine Sonderform der zwischen den Arbeitnehmern als solchen bestehenden rechtlichen Bande bildet das Verhältnis des Arbeitnehmers zum gewählten Mitglied des Betriebsrats. Auch hier ist es unbefriedigend, daß die Wahl zum Betriebsrat überhaupt keine rechtliche Veränderung i m Verhältnis des Gewählten zu seinen Wählern herbeiführen soll; vielmehr liegt auch hier die Annahme näher, daß das Vertrauen des Wählers auf die ordnungsmäßige Amtsführung durch den Betriebsrat und auf die Wahrnehmung seiner Interessen eine rechtliche Kategorie begründet, die sich nicht i n der Möglichkeit einer Abberufung nach § 23 B V G erschöpft 12 . Daß aus der Bejahung einer solchen Rechtspflicht keine Folgerungen gezogen werden dürfen, die das Handlungsrisiko ungebührlich erhöhen und damit die Bereitschaft zur Wahrnehmung des Amtes gefährden, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Auch sonst besteht i m kollektiven Arbeitsrecht ein besonders großer Nachholbedarf an eigenständigen Denkfiguren zur Bewältigung dieses Gebietes. I m einzelnen kann dies hier nicht vertieft werden. c) Besonders deutlich w i r d die Verselbständigung des Arbeitsrechts gegenüber dem BGB i m Strukturwandel, den der Schutz der Willensfreiheit genommen hat. Ein Kernpunkt der Neuregelung w i r d die A b sage an die Abschlußfreiheit sein (unten I I 1); ist diese aber einmal vollzogen, dann muß auch der Schutz der Willenserklärung vor Irrtum, Täuschung und Drohung seinen Charakter verändern. Das BGB gestattet die Anfechtung, weil es den Willen des Erklärenden schützt: 12
Weitergehend Neumann - Duesberg, Betriebsverfassungsrecht (1960) 338 ff., der das Bestehen eines „Sozialrechtsverhältnisses" nicht nur zwischen dem Betriebsratsmitglied und dem einzelnen Arbeitnehmer, sondern auch im Verhältnis zum Arbeitgeber annimmt. Strikt ablehnend die h. M., vgl. statt vieler Dietz - Richardi (oben Anm. 5) Bern. 12 vor § 26: „Denn ein solches sozialrechtliches Rechtsverhältnis ist eine Konstruktion, die im Gesetz keine Grundlage hat, und daher abzulehnen." Wenn man alle Konstruktionen ablehnen wollte, die „im Gesetz keine Grundlage" haben, wäre unser Vorrat an juristischen Denkfiguren sehr viel ärmer als nötig und erwünscht. U m so wichtiger wäre es zudem, eine solche Grundlage zu schaffen. Dann mag man bei jedem einzelnen Haftungstatbestand das Bedürfnis nach Entschädigung gegenüber dem Freiheitsraum des Amtsträgers abgrenzen und auf diese Weise die eigentlich erheblichen Überlegungen offenlegen, statt jeweils darüber zu grübeln, ob diese oder jene im B V G positivierte Pflicht des Betriebsrats ein Schutzgesetz zugunsten des Geschädigten darstellt oder nicht.
Der Abschluß des Arbeitsvertrages i m neuen Arbeitsvertragsgesetz
801
Wenn die Rechtsordnung ihn mit allen Mitteln der Staatsgewalt zur Erfüllung des gegebenen Wortes anhält, so muß dafür gesorgt sein, daß nur ein wirklich freier und unverfälschter Wille zu dieser Verbindlichkeit führt. Es ist dagegen etwas wesentlich anderes, wenn der Richter zu prüfen beginnt, ob die Anfechtung mit ihrer (rückwirkenden) Vernichtung der Willenserklärung (des Vertrages) erwünscht ist. Freilich: Wenn i n § 119 BGB die Anfechtung wegen Irrtums davon abhängt, ob sie „bei verständiger Würdigung des Falles" gerechtfertigt wäre, so ist dies bereits ein Einbruch i n dieser Richtung. I m Arbeitsrecht ist die Rechtsprechung ganz ungeniert auf diesem Wege vorangeschritten: Seit langem w i r d die Anfechtung durch den Arbeitgeber daraufhin untersucht, ob ein verständiger Arbeitgeber sich vom Arbeitnehmer wieder lösen würde, und ob dies vielleicht mit übergeordneten Zielen wie der Resozialisierung (Beispiel: Anfechtung wegen Irrtums über das Vorhandensein einer Vorstrafe) oder der Versorgung des schutzbedürftigen Arbeitnehmers m i t einem Arbeitsplatz (Hauptfall: Schwangerschaft) i n Widerspruch gerät. Auch dieser Punkt soll unten ( I I 5) noch aufgenommen werden. — Auf der gleichen Linie der Abkehr vom W i l len als Maßstab liegt die Überwindung des § 139 BGB. I n dieser Vorschrift w i r d i m Zweifel die Gesamtnichtigkeit eines Geschäftes vorgesehen, wenn ein Teil nichtig ist. Für das Arbeitsrecht würde dies bedeuten, daß der Arbeitsvertrag überall dort i m Zweifel nichtig ist, wo Einzelabreden gegen Arbeitsschutznormen verstoßen: Ein offenbar sinnwidriges Ergebnis, das niemand billigt. Statt dessen t r i t t an die Stelle des gesetzwidrigen Teils des Vertrages der gesetzmäßige Inhalt, also etwa an die Stelle einer Vereinbarung über einen zu geringen Urlaub (Lohn usw.) der gesetzliche Urlaub (angemessene Lohn usw.), während der Arbeitsvertrag i m übrigen unberührt bleibt: auch wenn der Arbeitgeber glaubhaft darlegt, daß es i h m auf die Urlaubsabrede (Lohnabrede usw.) deshalb entscheidend angekommen ist, weil i h m die Gewährung der gesetzlichen Leistungen wirtschaftlich unmöglich ist 1 3 . Schließlich sind manche Lösungen des BGB auch zu wenig biegsam. Die Nichtigkeit des Arbeitsvertrages wegen Minderjährigkeit des A r beitnehmers, wegen Verstoßes gegen ein Arbeitnehmer-Schutzgesetz, wegen des gesetzwidrigen oder sittenwidrigen Inhalts des Vertrages, wegen eines Verstoßes gegen die Ausländergesetzgebung bis hin zur Nichtbeachtung einer vereinbarten Form ist vom BGB als Einheitsfolge ausgestattet, die es nicht gestattet, nach dem Grund der Nichtigkeit zu fragen und daraus die jeweils angemessenen verschiedenen Folgerungen zu ziehen. Das A V G w i r d dies ebenfalls i n größerem Detailreichtum nachholen müssen. 13
Vgl. Söllner, Arbeitsrecht (3. Aufl. 1973) 208 f.
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II. A b s c h u l ß des A r b e s t iv e r t a g e s Aus dem Bereich des Abschlusses des Arbeitsvertrages seien i m folgenden einige Punkte herausgegriffen, die bei der Kodifikation Erörterung verdienen. 1. Vertragsfreiheit. Die Vertragsfreiheit w i r d üblicherweise i n die inhaltliche Gestaltungsfreiheit und die Abschlußfreiheit unterteilt. Daß das zwingende Arbeitsrecht m i t seinem vielfältigen Geflecht von verfassungsgesetzlichen, gesetzlichen, tariflichen und betrieblichen Normen der inhaltlichen Gestaltungsfreiheit das meiste ihrer Anwendung inzwischen weggenommen hat, bedarf keiner näheren Beleuchtung; wo ein eigener Bereich vertraglicher Gestaltung verblieben ist, wie etwa bei den vertraglichen Einheitsregelungen und Gesamtzusagen, hat sich die Rechtsprechung das oben I 3 a erwähnte Kontroll- und Korrekturrecht zuerkannt. Dagegen w i r d die Abschlußfreiheit noch weithin als unangetastet angesehen. Abgesehen von den Ausnahmen des Schwerbeschädigtenrechts und etwaiger tariflicher Wiedereinstellungsgebote soll die Freiheit des Arbeitgebers, nach Gutdünken Arbeitnehmer einzustellen oder abzuweisen, ohne die Möglichkeit richterlicher Kontrolle bestehen und durch A r t . 2 GG abgesichert sein. Damit wäre dem Arbeitgeber eine Macht über Menschen gegeben, für die i h n sein Recht auf wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit oder sein Grundrecht auf Schutz des Eigentums am Unternehmen nicht legitimieren. Die Rechtsordnung kann nicht einerseits das Eigentum an den Produktionsmitteln schützen, andererseits dem Unternehmer jedoch gestatten, mit seiner Einstellungspolitik Unterscheidungen zu pflegen, die zu treffen der Staat sich selbst verbietet, und die der Arbeitgeber bei bestehendem Arbeitsverhältnis (entsprechend § 75 B V G und dem Gebot der Gleichbehandlung) ebenfalls nicht zugrunde legen darf. Es ist inzwischen gesicherte Erkenntnis, daß der Grundrechtsschutz gegenüber den sozialen Gewalten und intermediären Mächten vielleicht wichtiger ist als gegenüber einem Staat, der ohnehin demokratisch verfaßt ist und von einer freien und wachsamen Presse tagtäglich kontrolliert wird. Für das A V G ist deshalb eine Bestimmung unerläßlich, die dem Arbeitgeber die Auswahl bei der Einstellung eines Bewerbers um einen freien Arbeitsplatz nach anderen als sachbezogenen Gründen untersagt; insbesondere darf er nicht nach Eigenschaften unterscheiden, die i n A r t . 3 I I I GG als Unterscheidungsmerkmale ausgeschlossen sind; ebenso wenig darf er einen Bewerber, der die Voraussetzungen für die Einstellung erfüllt, ohne Grund oder aus nichtigem Grunde abweisen. Die Forderung ist nicht neu 1 4 , mag das unbeschränkte Recht des A r beitgebers, bei der Einstellung des Bewerbers nach Belieben zu ver-
Der Abschluß des Arbeitsvertrages i m neuen Arbeitsertragsgesetz
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fahren, auch noch meist als selbstverständlich dargestellt werden 1 5 . Daß dem nicht so ist, zeigt für einen Teilbereich § 95 BVG. Einstellungsrichtlinien bedürfen der Zustimmung des Betriebsrats; i n Betrieben m i t mehr als 1000 Arbeitnehmern kann ihre Aufstellung vom Betriebsrat erzwungen werden. § 75 B V G verbietet Arbeitgeber und Betriebsrat jede unterschiedliche Behandlung wegen der dort genannten Merkmale, ein Verbot, das einen widersprechenden Inhalt der Richtlinien nichtig machen würde. W i r d ein Bewerber wegen einer Eigenschaft nicht eingestellt, die zu berücksichtigen § 75 verbietet, so kann freilich der Betriebsrat m i t den i h m gemäß § 99 B V G gegebenen M i t teln nicht eingreifen, denn eine Nichteinstellung ist keine Einstellung i m Sinne dieser Vorschrift. Hierbei kann das Recht jedoch nicht stehen bleiben; das A V G sollte dem grundlos oder aus unzulässigem Grunde abgewiesenen Bewerber deshalb einen Anspruch auf Einstellung geben. Die Behauptungs- und Beweislast liegt hierbei zunächst beim abgewiesenen Bewerber, doch kann i h m der Beweis des ersten Anscheins zu Hilfe kommen, wenn eine Häufung ähnlicher Vorfälle den Verdacht einer entsprechenden gezielten Einstellungspolitik erregt. Der A n spruch auf Einstellung beschränkt sich auf den Arbeitsplatz, für den der Bewerber zunächst i n Aussicht genommen worden ist; seine Klage kann nicht darauf gestützt werden, er sei für einen anderen Arbeitsplatz i m Unternehmen geeignet und deshalb dort einzustellen. Nicht grundlos ist die Abweisung auch dort, wo das persönliche Vertrauen für die Arbeitsaufgabe eine Rolle spielt und der Arbeitgeber dieses Vertrauen nicht gewinnen konnte; insofern w i r d seiner unternehmerischen Entscheidungsfreiheit keine Fessel angelegt. Schließlich ist auch noch hinzuzufügen, daß jeder Arbeitsplatz natürlich nur einmal besetzt werden kann, die Einstellung des Bewerbers A m i t h i n für die Abweisung aller anderen Bewerber ein sachbezogener Grund ist. — Der vorliegende Vorschlag muß darüber hinaus den Zusammenhang m i t der Betriebsverfassung wahren. So sollte ein Einstellungsanspruch i n Betrieben m i t weniger als 20 ständig beschäftigten Arbeitnehmern entfallen, arg. § 99 BVG. Ebenso ist der Betriebsrat zu beteiligen; es empfiehlt sich, ihm i m Einstellungserzwingungsprozeß i n der Rolle eines Beigeladenen Gelegenheit für einen etwaigen Widerspruch gegen die Einstellung zu geben. Die Entscheidung des Arbeitsgerichts beendet 14
Vgl. Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, AcP 1964, 417 ff.; Leipold, AuR 1971, 161 ff.; Hanau - Adomeit, Arbeitsrecht (3. Aufl. 1974) 139 f.; Badura, Festschrift Berber (1973) 22 f. 15 Vgl. etwa Söllner (oben Anm. 13), wo zwischen dem Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes des Arbeitnehmers und der Einstellungsfreiheit des Arbeitgebers nicht unterschieden wird; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch (1972) 99: „Grundsätzlich steht allen Parteien frei, ob und mit wem sie einen A r beitsvertrag vereinbaren wollen." 5
804
Franz Gamillscheg
d a n n das V e r f a h r e n auch h i n s i c h t l i c h der M i t w i r k u n g des B e t r i e b s r a tes. D i e f r e i h e i t l i c h e O r d n u n g u n s e r e r Gesellschaft k a n n v o n e i n e r solchen R e g e l u n g n u r V o r t e i l e e r w a r t e n . Diese b r i n g t g e w i ß eine v e r s t ä r k t e B e l a s t u n g d e r A r b e i t s g e r i c h t e m i t sich; i n Z e i t e n der V o l l b e s c h ä f t i g u n g w i r d sie sich jedoch i n G r e n z e n h a l t e n u n d n u r oder v o r w i e g e n d d i e F ä l l e d e m R i c h t e r z u f ü h r e n , i n d e n e n der B e w e r b e r ü b e r d i e V o r e n t h a l t u n g des A r b e i t s p l a t z e s h i n a u s d u r c h d i e
Diskriminie-
r u n g eine K r ä n k u n g e r f a h r e n h a t . I n Z e i t e n d e r A r b e i t s l o s i g k e i t w i r d d e r A n d r a n g g e w i ß e r h e b l i c h sein. A b e r gerade d a n n i s t es besonders w i c h t i g , daß eine n e u t r a l e S t e l l e d a r ü b e r w a c h t , daß das b e g e h r t e G u t des A r b e i t s p l a t z e s gerecht v e r t e i l t w i r d ; d i e W a h l besteht n u r zwischen d e r K o n t r o l l e d u r c h d i e G e r i c h t e oder der Z u t e i l u n g des A r b e i t s p l a t z e s d u r c h d i e A r b e i t s m a r k t v e r w a l t u n g 1 6 . Jede d r i t t e L ö s u n g , d i e d i e V e r t e i l u n g der Arbeitsplätze i n die Hände u n k o n t r o l l i e r t e r P r i v a t e r legt, h a n d e l e es sich u m d e n A r b e i t g e b e r oder andere soziale G e w a l t e n , w ä r e demgegenüber v o n Übel. Z u d e m ist die A b k e h r v o m D o g m a der E i n s t e l l u n g s f r e i h e i t des A r b e i t g e b e r s e i n Schutz auch f ü r diesen: Schutz v o r d e r G e f a h r , daß m ä c h t i g e G r u p p e n i h n u n t e r D r u c k setzen, seine E i n s t e l l u n g s „ f r e i h e i t " i m S i n n e i h r e r G r u p p e z u gebrauchen. 16
Ein Beispiel der Vergabe der Arbeitsplätze durch das Arbeitsamt bietet das italienische Recht, Gesetz Nr. 264 vom 29. 4.1949. Der Arbeitgeber — einschließlich des öffentlichen Arbeitgebers —, der Arbeitnehmer einstellen will, richtet eine entsprechende zahlenmäßige Anforderung an das Arbeitsamt, das ihm die in der Rolle der Arbeitsuchenden eingetragenen Bewerber zuweist. Namentliche Anforderung eines eingetragenen Bewerbers ist nur unter engen Voraussetzungen möglich; gleiches gilt für die unmittelbare Einstellung durch den Arbeitgeber. Das Arbeitsamt ist in der Auswahl der Arbeitsuchenden durch Richtlinien gebunden, die im Rahmen der Förderung der staatlichen Beschäftigungspolitik eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Arbeitsplätze erstreben. Der Arbeitgeber kann den ihm zugewiesenen Bewerber nur zurückweisen, wenn er nicht der angeforderten Kategorie und Qualifikationsstufe entspricht oder wenn er vorher von ihm aus wichtigem Grunde entlassen worden war. Bemerkenswert ist schließlich, daß von den Bewerbern ein Vorrecht auf Einstellung vor allen anderen hat, wer im vergangenen Jahr von dem anfordernden Betrieb aus Gründen des Abbaus der Belegschaft entlassen worden war: Ausdruck der weiterwirkenden Verbindung aus der früheren Zugehörigkeit zum Betrieb, rechtspolitisch freilich nicht unbedenklich, werden doch dadurch die langfristig Arbeitslosen in ihrer Chance auf Zuteilung eines Arbeitsplatzes zugunsten derer zurückgesetzt, die dieses Schicksal noch nicht so lange teilen. — Vgl. Ghidini, Diritto del lavoro (5. Aufl. 1973) 238 ff.; Mazzoni , Manuale di diritto del lavoro (4. Aufl. 1971) 490ff.; Boldt - Durand -Horion - Kayser - Mengoni - Molenaar, Der Schutz der Arbeitnehmer bei Verlust des Arbeitsplatzes ( = Bd. X I der Sammlung des Arbeitsrechts der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl) 388 ff.
Der Abschluß des Arbeitsvertrages i m neuen Arbeitsvertragsgesetz
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I m übrigen ist schon heute die Einstellungsfreiheit des Arbeitgebers vielfältig beschnitten. Das beginnt m i t der Einstellungslast für Schwerbeschädigte und setzt sich fort bei Wiedereinstellungsgeboten, wie sie i n Tarifverträgen enthalten sind oder von der Rechtsprechung entwickelt wurden. Darüber hinaus hat die Rechtsprechung die A n fechtung des Arbeitsvertrages durch den Arbeitgeber häufig dort beschränkt, wo ihre Anerkennung zu rechtspolitisch unerwünschten Ergebnissen geführt hätte 1 7 , von den Fällen ganz zu schweigen, i n denen eine fehlgeschlagene familien- oder erbrechtliche Vergütungserwartung durch Annahme eines Arbeitsvertrages m i t entsprechender Lohnzahlungspflicht ausgeglichen 18 , oder eine Befristung des Arbeitsvertrages (davon unten 3) nicht anerkannt worden ist. 2. Die Form des Arbeitsvertrages ist kein Problem von großer Wichtigkeit, immerhin verdient sie eine Erwähnung i m neuen Gesetz. Man ist sich einig, daß der Arbeitsvertrag grundsätzlich keiner Form bedarf, daß aber i n besonderen Fällen auch ein vertragsbegründender Formzwang durch Einzelgesetz oder Tarifvertrag eingeführt werden kann. Ebenso können die Parteien grundsätzlich vereinbaren, daß ihr Vertrag erst mit seiner formgerechten Ausfertigung wirksam werden soll, eine Vereinbarung, die freilich der beweisen muß, der sich auf sie beruft, und bei der auch wieder alle Vorsorge zu treffen ist, daß das Schutzinteresse des Arbeitnehmers nicht verletzt wird. W i r d die Arbeit aufgenommen, obwohl der Arbeitsvertrag wegen Formverstoßes nichtig ist, so bleibt die Nichtigkeit für die Vergangenheit außer Betracht; eine auch nach geltendem (Richter-)Recht unbestrittene Aussage, Teil des größeren Problems der Nichtigkeit des Arbeitsvertrages, von dem unten 4. die Rede sein soll. Auch alle die Nebenabreden i m Arbeitsvertrag können formlos getroffen werden, soweit nicht Gesetz oder Tarifvertrag etwas anderes vorsehen; dies gilt auch für solche Vereinbarungen, die erst nachträglich, während der Dauer des Arbeitsverhältnisses, geschlossen werden. Von der Form des Arbeitsvertrages zu trennen ist die andere Frage, ob der Arbeitgeber verpflichtet sein soll, dem Arbeitnehmer mit A b schluß des Arbeitsvertrages eine schriftliche Übersicht über die i h n erwartenden Rechte und Pflichten zu geben. Als Grundsatz ist dies wohl zu bejahen; doch sollte man m. E. vom kleinen oder mittleren A r beitgeber nicht zu viel verlangen, bliebe doch ein zu weit gefaßtes Gebot sonst toter Buchstabe. Die Pflicht zur Aushändigung einer Übersicht über die Arbeitsbedingungen kann auch dann entfallen, wenn sich diese aus Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder betrieblicher 17 18
Nachweise oben Anm. 14. Vgl. zuletzt B A G 30. 8.1973, DB 1973, 2350 f.
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Einheitsregelung ergeben und der Bewerber bei Abschluß des Arbeitsvertrages i n sie Einsicht nehmen kann. Dagegen sollte das A V G an der hierfür systematisch gebotenen Stelle ausdrücklich vorsehen, daß die Verletzung der Pflicht zur Auslage von Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung, § 8 TVG, § 77 Abs. I I S. 2 BVG, die Grundlage für entsprechende Schadenersatzansprüche des Arbeitnehmers bildet. Die h. M., die zur Zeit anders entscheidet 19 , ist m. E. schon de lege lata unrichtig. 3. Befristete Arbeitsverträge. Folgt man dem Wortlaut von § 620 BGB, so scheint es, als wäre der Abschluß eines befristeten Arbeitsvertrages die Regel und der unbefristete Arbeitsvertrag die Ausnahme. Tatsächlich ist es umgekehrt; i m Zweifel ist ein Arbeitsvertrag unbefristet. Darüber hinaus hat die Rechtsprechung die Befristung selbst, da sie dem Arbeitnehmer den Kündigungschutz nimmt, der Kontrolle auf ihre Angemessenheit hin unterworfen 2 0 ; diese Abkehr von § 620 BGB kann inzwischen als Gewohnheitsrecht angesehen werden. Die Ergebnisse dieser Entwicklung sind i n das neue Gesetz aufzunehmen. Befristet ist ein Arbeitsvertrag dann, wenn er für eine bestimmte Zeit oder für ein bestimmtes Arbeitsvorhaben (Beispiel: Bau eines Hauses; Krankheitsvertretung) geschlossen wird. Die Befristung ist nur w i r k sam, wenn ihr objektive, arbeitsbezogene Gründe (Beispiel: Erprobung; Wegfall des Arbeitsplatzes; gesundheitliche Tauglichkeit; Rotation hinsichtlich der Arbeitsplätze; Ausländerbeschäftigimg; eigener Wunsch und Interesse des Arbeitnehmers u. a.) zur Seite stehen. Die Beweislast hierfür obliegt dem Arbeitgeber. Wie auch i n einigen ausländischen Rechten 21 sollte die Befristungsabrede (nicht der Arbeitsvertrag als ganzer) der Schriftform unterworfen werden; dabei muß das Ende des Arbeitsvertrages hinreichend deutlich erkennbar sein, wo es sich nicht aus dem Datum selbst bereits ergibt. Bei ganz kurzfristig eingegangenen Arbeitsverhältnissen, deren Ende ohne weiteres absehbar ist (Beispiel: Einstellung „für die letzten drei Tage des SchlußVerkaufs"), kann auf die Schriftform freilich verzichtet werden. Wie ist es, wenn ein sachlicher, betriebs- und arbeitsbezogener Grund für die Befristung fehlt, oder wenn die Schriftform verletzt wurde? 19
Vgl. BAG, AP Nr. 1 zu § 8 T V G 1969; Nr. 2 zu § 70 B A T ; Schaub (oben Anm. 15) 784. 20 Vgl. Söllner (oben Anm. 13), 228; Manfred Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970) 198 ff. 21 Vgl. etwa Belgien, Art. 2 des Anstellungsvertragsgesetzes von 1955, Art. 5 bis des Arbeitervertragsgesetzes von 1900; Italien, Art. 2097 c. c.
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Üblicher privatrechtlicher Denkungsweise würde es entsprechen, daß dann der Normalfall des unbefristeten Vertrages m i t Kündigungsschutz und Kündigungsfristen eintritt. I n der Tat ist dies auch die arbeitsrechtliche Grundregel; sie ist nur dort einzuschränken, wo sie den Schutzzweck der Vorschrift überdehnen, vielleicht sogar ins Gegenteil verkehren würde. Dies gilt zunächst dort, wo sich der Arbeitnehmer auf die Befristung beruft; Schriftform und Gebot der sachlichen Begründung, zur Erhaltung seines Kündigungsschutzes eingeführt, wollen ihn nicht gegen seinen Willen am Arbeitsplatz festhalten. Beruft sich der Arbeitnehmer auf den Ablauf der Befristung, so kann er die Arbeit beenden, ohne gezwungen zu sein, die Kündigung auszusprechen und die Kündigungsfrist abzuwarten. Fraglich ist dagegen, ob sich der Arbeitnehmer schon vor Ablauf der Frist auf ihre Unwirksamkeit berufen kann, um (nach Ablauf der Kündigungsfrist) vom Arbeitsvertrag vorzeitig loszukommen. Das B A G hat dies i n einer Entscheidung verneint 2 2 ; die A n t w o r t w i r d davon abhängen, ob man m i t der Regelung auch eine Sanktion verbindet, die mehr treffen w i l l als die Vorenthaltung des Kündigungsschutzes. Das dürfte zu verneinen sein. Ein anderes Problem tut sich auf, wenn der Arbeitnehmer während der Dauer des (zulässig) befristeten Arbeitsverhältnisses eine Eigenschaft erwirbt, die den Arbeitgeber an der ordentlichen Kündigung hindern würde. Als Beispiel diene der Fall, daß ein Arbeitsvertrag m i t einer Arbeitnehmerin, die später schwanger w i r d (Folge: absolutes Kündigungsverbot, § 9 MuSchG), zunächst wegen der Ungewißheit des Fortbestandes des Arbeitsplatzes zu Recht befristet abgeschlossen w u r de, der Arbeitsplatz später auch erhalten bleibt, der Arbeitgeber sich jedoch auf die Befristung beruft 2 3 ; i n jüngster Zeit haben andere Fälle viel böses B l u t gemacht, i n denen Lehrlinge nach Abschluß der Prüfung nicht i n dauernde Arbeitsverhältnisse übernommen wurden, w e i l sie sich als Jugendvertreter mißliebig gemacht hatten. Zur Behebung des letzteren Mißbrauchs der Einstellungsfreiheit des Arbeitgebers ist am 18.1.1974 ein entsprechendes Gesetz ergangen; es ist dies jedoch, wie das erste Beispiel zeigt, ein allgemeines Problem. Es sollte seine Lösung i n der Weise finden, daß der Arbeitgeber sich insoweit nicht auf die Befristung berufen kann, als i h m bei einem unbefristeten Arbeitsverhältnis die Kündigung versagt wäre; hierfür ist freilich Voraussetzung, daß das Arbeitsverhältnis eine gewisse M i n destzeit, für die man drei Monate veranschlagen kann, gedauert hat.
22
A P Nr. 27 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag. Vgl. BAG, Großer Senat, A P Nr. 16 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag; kritisch hierzu Gamillscheg, Festschrift Molitor (1961) 76 f. 23
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Dem Arbeitgeber geschieht durch eine solche Regelung kein Unrecht. Fällt der Arbeitsplatz nicht weg 2 4 , so ist nicht einzusehen, warum der besonders kündigungsgeschützte Arbeitnehmer ihn nicht endgültig einnehmen soll. Fällt der Arbeitsplatz weg, so ist wie bei jeder K ü n d i gung zu prüfen, ob eine Versetzung i m Betrieb möglich ist. Ist dies zu bejahen, so rechtfertigt sich die Überführung i n das unbefristete A r beitsverhältnis aus diesem Grund. Ist eine Überführung auf einen anderen Arbeitsplatz nicht möglich, so zeigt schon das geltende K ü n d i gungsrecht, wie der Gesetzgeber diesen Interessenwiderstreit geregelt wissen w i l l : Werdende Mütter muß der Arbeitgeber weiter entlohnen, nicht anders, wie i h m dies das Mutterschutzrecht zur Pflicht macht, wenn er wegen eines Beschäftigungsverbotes keine Arbeit erhält. Ebenso wie § 9 I I I MuSchG den kleinen und mittleren Betrieb vor ruinösen Belastungen bewahren w i l l , wäre i n einer Erweiterung dieser Vorschrift vorzusehen, daß der Arbeitgeber unter vergleichbaren Voraussetzungen von der Pflicht zur Übernahme freigestellt werden kann. Ist für den Amtsträger nach erfolgreichem Abschluß seiner Ausbildung ein Arbeitsplatz i m Betrieb nicht vorhanden, so findet die Übernahmepflicht ebenfalls ihre natürliche Grenze; diese Vorschrift träte § 15 I I I KSchG zur Seite, der die ordentliche Kündigung bei Stillegung des Betriebes gestattet. 4. Nichtigkeit
des
Arbeitsvertrages.
Mit
dem
Abschluß
des
Ar-
beitsvertrages ist zunächst nur das Zusammentreffen der beiden natürlichen Willen beschrieben; dieses genügt, u m die Eingliederung als selbständige Quelle der gegenseitigen Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis entbehrlich zu machen. Dem Zusammentreffen zweier entsprechender Willen sind jedoch die vielen Schranken gezogen, die das Gesetz der rechtlichen Wirksamkeit ihrer Einigung entgegensetzt. Hier w i r d das A V G die i m Spiel befindlichen Interessen i n das ihnen dann endgültig zukommende Verhältnis zu setzen haben. Die Nichtigkeitsfolgen sind so abzustufen, daß dem einen Interesse gedient und keinem anderen, höherwertigen, geschadet w i r d ; da es sich hier u m ein zerbrechliches Parallelogramm der Interessen handelt, ergibt sich schon daraus, daß eine Einheitslösung — Nichtigkeit für die Zukunft und Wirksamkeit für die i n der Vergangenheit geleistete Arbeit — ganz unbrauchbar wäre. Man muß vielmehr unterscheiden: a) Arbeitsvertrag des Minderjährigen. Ausgangspunkt der Regelung ist der Schutz des Minderjährigen. Dieser verlangt, daß der Minderjährige für die Zukunft nicht gebunden ist; da der gesetzliche Vertreter nicht gehindert ist, seine Zustimmung zum Arbeitsvertrag auch nach24 I n dem in Anm. 23 genannten Fall hatte der Arbeitgeber im Gegenteil andere Arbeitskräfte neu eingestellt.
Der Abschluß des Arbeitsvertrages i m neuen Arbeitsvertragsgesetz
809
träglich zu erklären, hat dies die gleiche Wirkung, als wenn der A r beitsvertrag einseitig bindend ausgestaltet wäre. Der Schutzzweck der Norm gebietet dagegen nicht, dem Minderjährigen die vertragliche Grundlage für Ansprüche zu entziehen, die i n der Vergangenheit erwachsen sind. Die Untauglichkeit der Verweisung des BGB auf den bereicherungsrechtlichen Ausgleich ist seit langen erkannt und durch die Lehre vom faktischen Arbeitsverhältnis 2 5 überwunden worden. Das A V G sollte vorsehen, daß dem Minderjährigen für die i n der Vergangenheit geleistete Arbeit alle vertraglichen Ansprüche verbleiben, auch wenn sie höher sind als der objektive Wert seiner Arbeitsleistung. Wie ist es, wenn das Vereinbarte darunterbleibt? I n diesem Fall ist zu prüfen, ob die Jugendlichkeit für die ungünstige Absprache ursächlich gewesen war, und dies mag auch vermutet werden; es t r i t t dann der objektive Wert der Arbeitsleistung an die Stelle des Vereinbarten. A u f einen etwaigen Wegfall der Bereicherung kann sich der Arbeitgeber auch i n diesem Fall nicht berufen. Hat der Minderjährige bei der Arbeit dem Arbeitgeber einen Schaden zugefügt, so entsteht daraus nach geltendem Recht, soweit ersichtlich, kein vertraglicher Anspruch aus Schlechterfüllung; die Nichtigkeit des Arbeitsvertrages bewahrt den Minderjährigen davor. Dies w i r d anders, wenn i n Zukunft die Nichtigkeit des Vertrages für die Vergangenheit kraft Gesetzes außer Betracht bleibt. Solange die Mündigkeitsgrenze bei 21 Jahren liegt, entspricht es einer angemessenen Interessenwahrung, den Minderjährigen von vertraglichen Schadenersatzansprüchen nur dort auszunehmen, wo gerade die Jugendlichkeit bei der Entstehung des Schadens ursächlich geworden ist (Beispiel: Schadenersatzanspruch des Arbeitgebers wegen Geheimnisverrats, es sei denn, er beruhe gerade auf jugendlichem Leichtsinn). Damit wäre auch Übereinstimmung m i t dem Schadenersatz aus unerlaubter Handlung hergestellt. Die skizzierten Regeln über die Minderjährigkeit des Arbeitnehmers gelten auch für die anderen Fälle der beschränkten Geschäftsfähigkeit. Wann eine solche vorliegt, ist dem BGB zu entnehmen. b) Die Ermächtigung des Minderjährigen wie nach § 113 BGB gehört ins AVG. Es empfiehlt sich, ausdrücklich zu klären, daß die Ermächtigung auch den Beitritt zu einer Gewerkschaft (oder einer selbständigen Vereinigung der Arbeitnehmer m i t sozial- und berufspolitischer Zwecksetzung) und die damit üblicherweise verbundenen Rechtsgeschäfte (also: Beitragszahlung; nicht: Übernahme der Stellung des Kassierers) deckt. Der gesetzliche Vertreter muß freilich das Recht haben, sich 25
Vgl. Söllner, (oben Anm. 13) 208 mit Nachweisen.
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demgegenüber die letzte Entscheidung vorzubehalten. Eine Verletzung der Koalitionsfreiheit des Minderjährigen liegt darin m. E. nicht 2 6 . Ebenso empfiehlt sich eine ausdrückliche Regelung, ob die Ermächtigung auch Verträge des Minderjährigen m i t Dritten (Wohnungsmiete, Eisenbahnfahrkarte) erfassen soll. c) Die Minderjährigkeit des Arbeitgebers hat bisher, soweit ersichtlich, die Gerichte noch nicht beschäftigt. Hier steht Minderjährigenschutz gegen Arbeitnehmer-Schutz; vielleicht kann man eine Lösung i n der Weise finden, daß erbrachte Leistungen nicht zurückgefordert werden können, ausstehende Ansprüche des Arbeitnehmers jedoch nur nach Bereicherungsrecht erfüllt zu werden brauchen. Eine Bindung für die Zukunft t r i t t auch hier nicht ein. § 112 BGB bleibt unberührt. Große praktische Bedeutung dürfte die Frage nicht besitzen. d) Verstoß
gegen
ein
Arbeitnehmer-Schutzgesetz.
O f t ist d e m
Ar-
beitgeber die Beschäftigung des Arbeitnehmers aus einem Grund, der den Arbeitnehmer schützen w i l l , verboten; wann daraus die Nichtigkeit des Arbeitsvertrages selbst folgt, ist jedoch unklar. Sicherlich sind Arbeitsverträge m i t Kindern nichtig; unter keinem Gesichtspunkt kann der Arbeitgeber das K i n d i n erlaubter Weise beschäftigen. Ebenso sicher ist, daß ein Arbeitsvertrag m i t einer werdenden Mutter gültig, ja sogar dringend erwünscht ist, sofern sie i n erlaubter Weise beschäftigt werden kann, auch wenn es i m Betrieb Arbeiten zu vergeben gibt, die ihr zu übertragen das Mutterschutzgesetz verbieten würde. Daß der Arbeitsvertrag einer Schwangeren dagegen nichtig ist, wenn i m Betrieb nur solche Arbeit vorhanden ist, die nach § 4, a.a.O., unzulässig ist, hat das B A G einmal ausgesprochen 27 ; wann jedoch ein Beschäftigungsverbot den Arbeitsvertrag unberührt läßt und wann es, wie gezeigt, i n seine Nichtigkeit umschlägt, wird, soweit ersichtlich, an keiner Stelle gründlich untersucht. Für das kommende Recht ist auch hier die Überlegung maßgeblich, daß die Verbote den Arbeitnehmer schützen und nicht schädigen wollen: deshalb ist für die verbotswidrig geleistete Arbeit der volle vereinbarte Lohn und nicht nur Bereicherungsausgleich geschuldet, wie dies der Lehre vom faktischen Arbeitsverhältnis entspricht. Für die Arbeit i n der Zukunft w i r d man trennen müssen: ist eine Umsetzung des Arbeitnehmers i m Betrieb möglich, dann ist der Arbeitsvertrag gültig. Die Pflicht zur Umsetzung w i r d dabei durch die A r t der Arbeit begrenzt, für die der Arbeitnehmer angenommen worden ist; eine Frau, die als Wäscherin eingestellt wurde, 28
A. A. Hueck - Nipper dey, Lehrbuch des Arbeitsrechts I I / l (6. Aufl. 1967) 126 Anm. 4. 27 A P Nr. 2 zu § 4 MuSchG.
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kann nicht Umsetzung auf den vakanten Platz einer Sekretärin verlangen 28 . Ist dagegen die Umsetzung i m Betrieb nicht möglich, dann ist der Vertrag nichtig, sofern sich aus dem Gesetz nicht ein anderes ergibt; denn der Arbeitgeber kann nicht gezwungen sein, etwaige K ü n digungsfristen einzuhalten, wenn er sich durch die Beschäftigung des Arbeitnehmers strafbar machen würde; ihn zur Entlohnimg ohne Beschäftigung zu verpflichten, dürfte als allgemeine Regel jedoch auch zu weit gehen. Freilich kann der Arbeitgeber sich aus dem Gedanken des Verschuldens beim Vertragsschluß haftbar machen, wenn er das Beschäftigungsverbot kannte oder hätte kennen müssen. Auch hier ist, wie beim minderjährigen Arbeitnehmer, Vorsorge dafür zu treffen, daß die Wirksamkeit des Arbeitsvertrages i n der Vergangenheit nicht zur Belastung mit Schadenersatzansprüchen führt, wenn die Schadenszufügung auf der Eigenschaft beruht hatte, zu deren Schutz das Verbot erlassen worden ist (Beispiel: ein Arbeitsverhältnis ist nichtig, weil es als Doppelarbeitsverhältnis die zulässige tägliche Beschäftigungszeit übersteigt; der Arbeitnehmer arbeitet trotzdem und schädigt den Arbeitgeber aus Übermüdung). e) Verbotsgesetz
im
öffentlichen
Interesse.
Neben
Beschäftigungs-
verboten zum Schutz des Arbeitnehmers gibt es auch solche i m öffentlichen Interesse 29 . Man kann hier die gleichen Grundsätze wie unter d) empfehlen. Dabei ist natürlich nicht zu verkennen, daß die Durchsetzungskraft des Verbots gesteigert würde, wenn der Arbeitnehmer für die verbotswidrig geleistete Arbeit Ansprüche nicht gewinnen würde, er m i t h i n auf eigenes Risiko tätig wird; sorgt das Gesetz für den Verfall dieser Gelder, würde daraus auch für den Arbeitgeber kein A n reiz entstehen. Doch glaube ich nicht, daß die einschlägigen Verbote eine so rigorose Sicherung benötigen. Der wohl wichtigste Unterfall dieses Bereiches ist die Beschäftigung von Ausländern aus Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Nach geltendem Recht ist der Arbeitsvertrag eines Ausländers, der keine Arbeitsgenehmigung gemäß § 19 A F G besitzt, nichtig. Als Folge kann der Arbeitgeber die Beschäftigung jederzeit einstellen; er tut dies ζ. B., wenn die Arbeitnehmerin schwanger wird, und entzieht sich damit den Lasten des Mutterschutzes 30 . Niemand verkennt, daß die Be28 Kann sie die Umsetzung auf einen Arbeitsplatz schlechterer Kategorie verlangen (Beispiel: eine technische Angestellte, die in ihrer Abteilung weiter nicht beschäftigt werden darf, ist mit ihrer Umsetzung auf einen Platz als Laborantin in einer anderen Abteilung einverstanden?) Dies wird man zumindest für werdende Mütter wohl bejahen können. 29 Vgl. BAG, A P Nr. 1 zu § 18 BSeuchG: Arbeitsvertrag mit einer Büffetgehilfin, die sich der ärztlichen Untersuchung nicht unterzogen hatte. 30 Vgl. L A G Hamm 29. 3. 1972, DB 1972, 1171.
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schäftigung der illegal eingewanderten Ausländer ein arbeitsmarktpolitisches Problem von großer Tragweite ist; dennoch sollte es auf der Ebene der Arbeitsmarktverwaltung und nicht des Arbeitsvertrages gelöst werden. Der Vorschlag geht deshalb dahin, den Vertrag zivilrechtlich gültig sein zu lassen, der Arbeitsmarktverwaltung jedoch das Recht zu geben, seine Beendigung (von hoher Hand) zu verfügen; die Behörde w i r d ihr Ermessen dabei in einer Weise gebrauchen, die öffentliche und soziale Interessen angemessen miteinander i n Einklang bringt. Eine Durchkreuzung der Arbeitsmarktpolitik ist davon nicht zu befürchten, auch wenn es sich bei der genannten Verfügung um einen Verwaltungsakt handelt, der auf dem Verwaltungswege anfechtbar ist; denn die sonstigen Behelfe der Behörde gegen den unerwünschten Aufenthalt des Ausländers werden von diesem Verfahren nicht behindert 3 1 . f) Es b l e i b t d e r Arbeitsvertrag
mit
verbotenem
oder
sittenwidrigem
Inhalt. Geringe Schwierigkeiten bereitet es, wenn beide Seiten bösgläubig sind; die Verdingung eines Graveurs zur Fälschung von Banknoten ist eine Kumpanei und begründet auch kein faktisches Arbeitsverhältnis; Arbeitsrecht findet keine Anwendung, die Vorstellung, der „Arbeitgeber" sei wegen Verstoßes gegen die Arbeitszeitordnung zu bestrafen, wenn er den Graveur länger als acht Stunden täglich beschäftigt, ist eine nicht gelinde Übertreibung 3 2 . Der Rückforderung erbrachter Leistungen steht § 817 BGB entgegen. Schwieriger ist der Fall, daß der Arbeitnehmer hinsichtlich des Charakters seiner Arbeit gutgläubig ist (Beispiel: der Kraftfahrer weiß nicht, daß er statt, wie von i h m vermutet, harmlose Kundenillustrierten verfassungsfeindliches Schrifttum befördert). Auch hier ist der Arbeitsvertrag als solcher nichtig und kann von beiden Seiten jederzeit beendet werden; fraglich mag sein, ob der Arbeitnehmer für die i n der Vergangenheit geleistete Arbeit nach den Regeln über das faktische A r beitsverhältnis die Vergütung verlangen kann 3 3 , oder ob er das Risiko trägt, daß das Arbeitsverhältnis einen erlaubten Inhalt hat („Scheinarbeitsverhältnis") 34 . Die erstere Lösung scheint geboten, sofern die Unkenntnis des Arbeitnehmers nicht auf grober Fahrlässigkeit beruht. 31 Eine vergleichbare Lage besteht im italienischen Recht, wenn die Vorschriften über die Arbeitsvermittlung durch das Arbeitsamt (oben Anm. 16) verletzt werden. Unabhängig von der vom Arbeitgeber verwirkten Strafe ist der Arbeitsvertrag wirksam, doch kann die Staatsanwaltschaft binnen eines Jahres auf Nichtigerklärung des Arbeitsvertrages klagen, Art. 2098 C. C., dazu Ghidini (oben Anm. 16) 183. 32 So mit Recht Nikisch, Arbeitsrecht I (3. Aufl. 1961) 217, aber umstritten. 33 I n diesem Sinn Hueck - Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts I (7. Aufl. 1963) 192. 34 So Nikisch (oben Anm. 32) ebd.
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5. Anfechtung des Arbeitsvertrages. Seit langem hat die Rechtsprechung die Anfechtung des Arbeitsvertrages durch den Arbeitgeber besonderen Regeln unterworfen und damit die §§ 119, 123 verdrängt, mögen ihnen auch immer noch Lippenbekenntnisse erwiesen werden. Wie schon oben I 3 c angedeutet, ist der Ausgangspunkt der Regelung verlassen worden: Diese w i l l die Willensfreiheit schützen, während die Rechtsprechung die Anfechtungserklärung des Arbeitgebers daraufhin prüft, ob die Auflösung des Arbeitsvertrages i m Lichte des Schutzes des Arbeitnehmers und der Wahrung sonstiger öffentlicher Interessen anerkennenswert ist; daß dies nur das Spiegelbild der Abkehr von der unkontrollierten Einstellungsfreiheit darstellt, wurde ebenfalls bereits erwähnt ( I I 1). Freilich sind Umfang und Begründung dieser Entwicklung i n allen Punkten streitig. Das A V G sollte hier Klarheit bringen. Einig ist man sich nur i n der Absage an § 142 BGB; die Anfechtung w i r k t , wo sie zulässig ist, ex nunc. a) Keine Bedenken bestehen dagegen, daß die §§ 119 ff. BGB für die Anfechtung durch den Arbeitnehmer erhalten bleiben. Hat man i h m goldene Berge vorgespiegelt und findet er einen miesen Laden vor, so kann er das Band wieder zerschneiden, ohne an Kündigungsfristen gebunden zu sein. b) Unbedenklich ist auch die Beibehaltung der Anfechtung nach §§ 119 I, 120 BGB, mögen praktische Fälle hier auch, soweit ersichtlich, nicht bekannt geworden sein. c) Aus dem Bereich des § 123 BGB kann die Anfechtung wegen Drohung aufrechterhalten bleiben. Auch ein noch so weitgespannter sozialer Schutz kann dem Arbeitnehmer nicht erlauben, sich seinen A r beitsplatz mit Drohungen zu verschaffen. Praktische Fälle sind auch hier, soweit ersichtlich, nicht bekannt geworden. d) Dagegen ist es an der Zeit, die Anfechtung des Arbeitgebers wegen Irrtums über eine wesentliche Eigenschaft des Arbeitnehmers zu beseitigen; dies gilt auch für solche Eigenschaften, die der Arbeitnehmer trotz entsprechender Verpflichtung zu offenbaren unterlassen hat. Entscheidend ist, ob die Eigenschaft, über die der Arbeitgeber sich geirrt hat, i m Augenblick, i n dem der I r r t u m aufgeklärt w i r d (und binnen der Frist des § 121 BGB), noch einen Kündigungsgrund darstellt. Ist dies der Fall, dann kann der Arbeitgeber kündigen, sofern dem nicht Kündigungsverbote entgegenstehen; ist die Eigenschaft aber für die Erfüllung des Arbeitsvertrages unerheblich geworden, so ist seine Auflösung nicht mehr gerechtfertigt 35 . 35
Die Bezüge der Anfechtung ex nunc zur fristlosen Kündigung sind vielfach erörtert, vgl. die kurzen Hinweise bei Söllner (oben Anm. 13) 208; so
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e) Es bleibt die Frage, ob auch die Anfechtung wegen arglistiger Täuschimg des Arbeitgebers durch den Arbeitnehmer beseitigt werden soll. Einschlägig sind hier immer wieder die häufigen Fälle des Verschweigens von Schwangerschaft und Vorstrafen, deren Offenbarung den Arbeitsuchenden m i t Sicherheit u m den begehrten Arbeitsplatz bringen würde. Das Problem w i r d gegenüber dem geltenden Recht, das i n der Begrenzung der Fragebogen erst erste tastende Schritte unternimmt, entschärft werden, wenn das Fragerecht des Arbeitgebers bei der Einstellung auf solche Fragen begrenzt sein wird, die für das A r beitsverhältnis von Bedeutung sind, ein Thema, das zwar zum A b schluß des Arbeitsvertrages gehört, hier jedoch aus Platzgründen unerörtert bleiben muß; denn die wahrheitswidrige A n t w o r t auf Fragen, die der Arbeitgeber zu stellen nicht berechtigt ist, ist dann nicht arglistig i. S. des § 123. Es bleiben genug Fälle, i n denen der Arbeitgeber die Frage stellen durfte — etwa i n angemessener Weise nach dem Bestehen einer Schwangerschaft —, und wo die Einstellung ohne die falsche A n t w o r t nicht erfolgt wäre. Die h. M. meint, auf die Anfechtung nicht verzichten zu können 3 6 , auch wenn eine nähere Betrachtung der Rechtsprechung namentlich der unteren Gerichte ergibt, daß sich die Praxis diesem Ergebnis, wo immer dies als möglich erscheint, auf vielen Wegen der Interpretation zu entziehen sucht. Man meint, mit einem Lügner kein Mitleid haben zu sollen; die Zwangslage, i n der sich der Arbeitslose, ganz besonders aber die Schwangere, befindet, w i r d hierbei wohl zu gering gewertet. Es mag für die werdende Mutter hinzugefügt werden, daß der Mutterschutz nicht nur ihr, sondern auch dem Kinde, also einem Dritten, zugewandt wird, der an der Täuschung unbeteiligt ist. M. E. sollte deshalb das A V G beherzt auch die arglistige Täuschung den unter d) skizzierten Grundsätzen unterwerfen; i n krassen Fällen mag der letzte Notanker des Rechtsmißbrauchs immer noch zur Verfügung stehen.
A n h a n g :F o r m u e i r l u n g s v o r s c h ä l g e Aus dem großen Bereich der für den Abschluß des Arbeitsvertrages bedeutsamen Fragen konnten nur einige wenige behandelt werden. Für sie soll i m folgenden der Versuch gesetzlicher Formulierungen unternommen werden. Diese beruhen auf den Beratungen der Arbeitsgesetzwird z.B. dem Arbeitnehmer auferlegt, sich binnen der Drei-Wochen-Frist des § 4 KSchG gegen die Anfechtung zur Wehr zu setzen, vgl. Hueck, Kündigungsschutzgesetz (9. Aufl. 1974) Bern. 58 zu § 1, ohne daß die h. M. in gleicher Weise auch die Kündigungsbeschränkungen auf die Anfechtung ausdehnen würde. 36 Nachweise in Fundhefte für Arbeitsrecht, jeweils unter dem Stich wort „Anfechtung".
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buchskommission, namentlich ihres Ausschusses I, stimmen jedoch nicht stets m i t den Lösungen überein, die dort jeweils die Mehrheit gefunden haben. Abschlußfreiheit, zu I I 1 I (1) Bei der Einstellung darf der Arbeitgeber Bewerber um einen Arbeitsplatz nur aus sachbezogenen, die Erfüllung des Arbeitsvertrages und die Einordnung im Betrieb betreffenden Gründen abweisen; insbesondere hat er jede Ungl'eiclibehandlung [i. S. von § 75 BVG] zu unterlassen. I I (2) Verletzt der Arbeitgeber diese Pflicht, so kann der Bewerber Klage auf Einstellung erheben, wenn in dem Betrieb mehr als 20 Arbeitnehmer ständig beschäftigt sind. (2) Besteht in dem Betrieb ein Betriebsrat, so ist er beizuladen; er hat die Gründe, die ihn zum Widerspruch gegen die begehrte Einstellung berechtigen (§ 99 I I BVG), in diesem Verfahren vorzutragen. (3) Wird der Arbeitgeber zur Einstellung verurteilt, so gilt damit die Zustimmung des Betriebsrats als erteilt. Form des Arbeitsvertrages, zu I I 2 I (1) Der Arbeitsvertrag und seine Nebenabreden bedürfen keiner Form, soweit nicht Gesetz oder Tarifvertrag etwas anderes bestimmen. (2) Wird im Arbeitsvertrag eine Form vorgesehen, so ist im Zweifel anzunehmen, daß die Wirksamkeit des Vertrages von der Einhaltung der Form nicht abhängen soll; die Parteien haben Anspruch auf nachträgliche Ausfertigung eines schriftlichen Vertrages. (3) I n Betrieben mit in der Hegel mehr als 20 ständig beschäftigten Arbeitnehmern hat der Arbeitgeber auf Verlangen des Arbeitnehmers die Arbeitsbedingungen schriftlich niederzulegen; dies gilt nicht, soweit sie sich aus Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarungen oder aus den im Betrieb üblichen Arbeitsbedingungen ergeben, die zur Einsicht des Arbeitnehmers ausliegen. I I (1) Ist der Arbeitsvertrag wegen Formverstoßes unwirksam, hat der Arbeitnehmer jedoch gearbeitet, so bleibt die Nichtigkeit des Vertrages für diese Zeit außer Betracht. I I I (1) Der Arbeitgeber hat die ihm vom Arbeitnehmer übergebenen A r beitspapiere sorgfältig aufzubewahren. (2) Wird diese Verpflichtung schuldhaft verletzt, so haftet er dem Arbeitnehmer für den Schaden, der aus der Beschädigung oder Zerstörung der Arbeitspapiere entsteht. Befristeter Arbeitsvertrag, zu I I 3 I (1) Der Arbeitsvertrag kann für eine bestimmte Zeit oder bis zur Erfüllung einer bestimmten Arbeitsaufgabe (befristeter Arbeitsvertrag) geschlossen werden, wenn dies durch Gründe in der Eigenart des Betriebes oder der zu erfüllenden Arbeitsaufgabe oder in der Person des Arbeitnehmers gerechtfertigt ist. (2) Die Beweislast für das Vorliegen der Gründe der Befristung obliegt dem Arbeitgeber.
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I I (1) Die Abrede über die Befristung bedarf der Schriftform; sie muß die Voraussetzungen des Endes der Arbeit hinreichend deutlich erkennen lassen. (2) Satz 1 gilt nicht, wenn die Dauer des Vertrages die gesetzliche Mindestkündigungsfrist nicht überschreitet oder erkennbar nicht überschreiten wird. I I I (1) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 1 nicht vor oder wird die gemäß Abs. 2 erforderliche Form nicht gewahrt, so gilt der Arbeitsvertrag mit Ablauf der Frist als auf unbestimmte Zeit abgeschlossen; der Arbeitnehmer kann sich jedoch statt dessen auf die Befristung berufen. I V (1) Der befristete Arbeitsvertrag endet mit dem Ablauf der Frist oder der Erfüllung der Arbeitsaufgabe. (2) Besitzt der Arbeitnehmer in diesem Augenblick eine Eigenschaft, die den Arbeitgeber in der ordentlichen Kündigung beschränken würde, und hat das Arbeitsverhältnis mindestens drei Monate gedauert, so kann sich der A r beitgeber auf die Befristung nicht berufen. (3) Satz 2 gilt auch bei einem befristeten Ausbildungsverhältnis, es sei denn, daß das Ausbildungsziel nicht erreicht wurde oder ein Arbeitsplatz nicht vorhanden ist. V (1) Der Arbeitgeber hat den Arbeitnehmer vor Ablauf des Arbeitsvertrages auf dessen bevorstehendes Ende hinzuweisen, sofern und sobald ihm dies nach den Umständen des Falles möglich ist. (2) Er hat hierbei die gesetzliche oder tarifliche Frist für die Kündigung eines unbefristeten Arbeitsvertrages einzuhalten. (3) Satz 1 gilt nicht, wenn der Ablauf des Arbeitsvertrages für den Arbeitnehmer ohne weiteres erkennbar ist. (4) Versäumt der Arbeitgeber den Hinweis, so verlängert sich der Arbeitsvertrag auf Verlangen des Arbeitnehmers um die in Satz 2 genannte Frist; der Arbeitnehmer hat das Verlangen spätestens mit Ablauf des Arbeitsvertrages zu stellen. V I Das befristete Arbeitsverhältnis gilt als auf unbestimmte Zeit verlängert, wenn die Arbeit nach Ablauf der vereinbarten Frist forgesetzt wird und der Arbeitgeber dies weiß oder wissen mußte und nicht unverzüglich widerspricht. Arbeitsvertrag des Minderjährigen und der anderen in der Geschäftsfähigkeit beschränkten oder geschäftsunfähigen Personen, zu I I 4 a I (1) Schließt ein Minderjähriger einen Arbeitsvertrag ohne Einwilligung von Vater und Mutter oder Vormund (gesetzlicher Vertreter), so hängt die Wirksamkeit des Vertrages von der Genehmigung durch die genannten Personen ab. (2) Der Arbeitgeber kann den gesetzlichen Vertreter zur Erklärung über die Genehmigung auffordern; antwortet dieser nicht in angemessener Frist, so gilt sein Schweigen als Zustimmung. I I (1) Hat der Minderjährige bereits gearbeitet, bevor die Genehmigung verweigert wurde, so richten sich seine Ansprüche für die in dieser Zeit geleistete Arbeit nach dem Vereinbarten; er hat jedoch keine geringeren Rechte, als sie der üblichen Regelung entsprechen. (2) Ansprüche des Arbeitgebers gegen den Minderjährigen auf Schadenersatz wegen Schlechterfüllung des Arbeitsvertrages bestehen insoweit nicht,
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als die Schlechterfüllung auf die Minderjährigkeit des Arbeitnehmers zurückzuführen ist. (3) Die Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis für die Zeit der tatsächlich geleisteten Arbeit werden vom Arbeitgeber durch Leistungen an den Minderjährigen erfüllt; dies gilt nicht für solche Verpflichtungen, die zur Zeit der Versagung der Genehmigung noch nicht erfüllt sind und deren Leistung der gesetzliche Vertreter an sich selbst verlangt. I I I (1) Schließt ein Minderjähriger den Arbeitsvertrag mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters, so kann er die Rechtsgeschäfte vornehmen, die die Erfüllung des Arbeitsvertrages üblicherweise mit sich bringt, soweit das Gesetz nicht ein anderes bestimmt. (2) Andere Rechtsgeschäfte verpflichten den Minderjährigen nur, wenn der gesetzliche Vertreter ihnen zustimmt. I V (1) Die Absätze 1 - 3 finden auch Anwendung, wenn der Arbeitnehmer aus anderen Gründen in der Geschäftsfähigkeit beschränkt ist. V (1) Ist der Arbeitnehmer geschäftsunfähig, so schließt der gesetzliche Vertreter den Arbeitsvertrag für ihn ab. (2) Hat der Geschäftsunfähige die Arbeit aufgrund einer Vereinbarung mit dem Arbeitgeber bereits aufgenommen und stimmt der gesetzliche Vertreter der Vereinbarung zu, so gilt sie von Anfang an als wirksam. (3) I m übrigen gilt Abs. 2 entsprechend. Ermächtigung des Minderjährigen durch den gesetzlichen Vertreter, zu I I 4 b I (1) Ermächtigt der gesetzliche Vertreter den Minderjährigen, einen A r beitsvertrag abzuschließen, so ist der Minderjährige für solche Rechtsgeschäfte unbeschränkt geschäftsfähig, die die Eingehung oder Aufhebung des Arbeitsverhältnisses der gestatteten Art oder die Erfüllung der sich aus einem solchen Verhältnis ergebenden Verpflichtungen betreffen. (2) Die Ermächtigung erfaßt auch die Entscheidung über die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder in einer selbständigen Vereinigung von Arbeitnehmern mit sozial- und berufspolitischer Zwecksetzung und die damit üblicherweise verbundenen Rechtsgeschäfte, soweit sich der gesetzliche Vertreter die Entscheidung hierüber nicht vorbehält. I I Die Ermächtigung kann von dem Vertreter zurückgenommen oder eingeschränkt werden. I I I ( = § 113 I I I BGB). I V ( = § 113 I V BGB). Minderjährigkeit des Arbeitgebers, zu I I 4 c I (1) Schließt ein minderjähriger Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag ohne Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters, so hängt die Wirksamkeit des Vertrages von dessen Genehmigung ab. (2) Wird die Genehmigung versagt, so richtet sich die Verpflichtung des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer für die vor dem Zeitpunkt, in dem die Versagung der Genehmigung dem Arbeitnehmer bekannt wird, geleistete Arbeit nach dem Wert der Arbeit, um den der Arbeitgeber noch bereichert ist. 52 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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I I Erbrachte Leistungen können nicht zurückgefordert werden. I I I Ist der Arbeitgeber aus einem anderen Grunde in der Geschäftsfähigkeit beschränkt oder ist er geschäftsunfähig, so gelten die Absätze 1 und 2 entsprechend. Verstoß gegen ein Arbeitnehmerschutzgesetz oder ein Verbotsgesetz im öffentlichen Interesse, zu I I 4 d, e I (1) Verstößt ein Arbeitsvertrag gegen ein im öffentlichen Interesse oder zum Schutz des Arbeitnehmers erlassenes Verbot und ist eine erlaubte Beschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb nicht möglich, so ist der Vertrag nichtig, sofern sich aus dem Verbot nicht etwas anderes ergibt. I I (1) Hat der Arbeitnehmer bereits gearbeitet, so bleibt die Nichtigkeit des Vertrages für diese Zeit außer Betracht. (2) Ansprüche des Arbeitgebers gegen den Arbeitnehmer auf Schadenersatz wegen Schlechterfüllung bestehen insoweit nicht, als die Schlechterfüllung des Vertrages auf der Eigenschaft des Arbeitnehmers beruht, zu deren Schutz das Verbot erlassen wurde. I I I Der Vertrag ist gültig, wenn eine erlaubte Beschäftigung im Betrieb möglich ist. Beschäftigung von Ausländern, zu I I 4 e (1) Schließt ein Ausländer einen Arbeitsvertrag ohne die erforderliche Genehmigung zur Arbeit (§19 AFG), so kann die Behörde sofortige Beendigung der Beschäftigung anordnen. (2) Die Anordnung hat die Wirkung einer fristlosen Kündigung. Arbeitsvertrag mit verbotenem oder sittenwidrigem Inhalt, zu I I 4 f I (1) Der Vertrag über eine Arbeit, deren Inhalt oder Ziel gegen ein gesetzliches Verbot oder die guten Sitten verstößt, ist nichtig. (2) Erbrachte Leistungen können nicht zurückgefordert werden. I I (1) Kannte der Beschäftigte die gesetzliche oder sittenwidrige Natur seiner Arbeit nicht und beruhte die Unkenntnis nicht auf grober Fahrlässigkeit, so kann er für die zurückliegende Zeit Erfüllung der vertraglich versprochenen Leistungen verlangen. Anfechtung des Arbeitsvertrages, zu I I 5 I Hat sich beim Abschluß des Arbeitsvertrages der Arbeitgeber über eine Eigenschaft des Arbeitnehmers geirrt, die im Verkehr als wesentlich angesehen wird, oder wurde er arglistig getäuscht, so kann der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag kündigen, sofern die Voraussetzungen für die Kündigung gegeben sind und ihr kein Ktindigungsverbot entgegensteht; eine Anfechtung ist ausgeschlossen. I I I m übrigen gelten für die Anfechtung des Arbeitsvertrages und der während der Dauer des Arbeitsverhältnisses abgegebenen Willenserklärungen die §§ 119-124 BGB; die Parteien können statt der Anfechtung die Kündigung wählen, wenn deren Voraussetzungen gegeben sind. I I I Hat der Arbeitnehmer vor dem Ausspruch der Anfechtung bereits gearbeitet, so bleibt die Anfechtbarkeit des Vertrages für diese Zeit außer Betracht.
Rechtsstaatliche und sozialstaatliche Aspekte der Sozialversicherung Von Georg Wannagat
Einen breiten Raum in den wissenschaftlichen Arbeiten des Jubilars nehmen Probleme der Rechts- und Sozialstaatlichkeit ein. Hierbei hat er sich dankenswerterweise — was für einen Ordinarius noch immer die Ausnahme bildet — auch mit zahlreichen Fragen des Sozialversicherungsrechts, insbesondere mit deren verfassungsrechtlicher Relevanz, beschäftigt. Deshalb erscheint es dem Verfasser angezeigt, sich an der Festschrift m i t einem Aufsatz zu beteiligen, der starke Bezüge zu dem erwähnten Bereich der wissenschaftlichen Untersuchungen des Jubilars aufweist.
I. R e c h s ts a ta c i l t h k e t i und S o z a is lt a a c i t lh k e t i Das Bonner Grundgesetz ist vom Sozialstaatsgedanken durchdrungen. Die dort enthaltene Sozialstaatsklausel hat bekanntlich normativen Charakter und bindet gleichermaßen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Sie strahlt auf alle Rechtspositionen und Rechtsverhältnisse aus und durchdringt die gesamte Rechtsordnung 1 . Jede Rechtsvorschrift, gleich welchem Rechtsgebiet sie zugeordnet wird, ist unter Berücksichtigung dieses Prinzips — dieser verfassungsrechtlichen Wertung — auszulegen. Ebenso wie die Sozialstaatlichkeit ist aber auch die Rechtsstaatlichkeit ein unabänderlicher Bestandteil der Verfassung. Der Begriff des Rechtsstaates ist ein Ergebnis der bürgerlichen Revolution. Sein Standort ist der Gegensatz zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Bei i h m geht es um die Freiheit vom Staate, u m die Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Anspruch auf Justizgewährung, auf Gewährleistung von öffentlicher Entschädigung, wenn der Staat rechtswidrig oder auch rechtmäßig in die Vermögenssphäre des einzelnen eingreift. Hier sind die klassischen Grundrechte, die Abwehrrechte (wie Schutz und Erhaltung 1 Werner Weber, Die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen, Der Staat, 1965 S. 409 ff.; BVerfGE 3, 381.
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der Menschenwürde, Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, Recht der freien Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Freiheit der Berufswahl, Unverletzlichkeit der Wohnung, Schutz des Eigentums) beheimatet. Sie sollen dem Bürger die Freiheit i m Staat und vom Staat sichern. Zu den Inhalten des Rechtsstaatsgebots gehören heute aber auch Rechtssicherheit (einschließlich der Verfahrenssicherheit), der Vertrauensschutz, das Übermaßverbot, die Interessenabwägung und die Systemgerechtigkeit. Demgegenüber erweist sich der Sozialstaat als ein Produkt der industriellen Revolution. Es ist der Wohlfahrtsstaat unserer Tage, der sich als ein Gebilde wechselseitiger Daseinshilfe und Daseinsvorsorge versteht. Er ist zugleich Ausdruck der zunehmenden schicksalhaften A b hängigkeit aller von allen und der engen Verflechtungen von W i r t schafts« und Sozialabläufen. Sein Standort ist der Gegensatz zwischen dem Staat und der industriellen Gesellschaft. Seine Grundwerte verdichten sich zu sozialen Grundrechten: Existenzsicherheit, Vollbeschäftigung, Erhaltung der Arbeitskraft, soziale Sicherheit, sozialkulturelle Entfaltung usw. Diese sozialen Grundrechte sind auf Leistungen des Staates gerichtet. Sie drängen den Staat zur „sozialen A k t i v i t ä t " 2 , zur Intervention, zur Einflußnahme auf Wirtschaft und Gesellschaft, um eine gerechte, angemessene Teilhabe aller an den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gütern der Gemeinschaft zu gewährleisten, um nach Möglichkeit gleiche Start- und Lebenschancen für alle Bürger zu schaffen. Das soll — anders als i n der Vergangenheit — kein Privileg auserwählter Schichten sein, sondern ein Anrecht aller, und zwar i n einem Mindestmaß auch unabhängig vom eigenen Erfolg. Das hat vor allem für alle diejenigen zu gelten, die durch eigenes Unvermögen oder durch besondere Umstände (z. B. die Behinderten) erst gar nicht an den Start, an die sich bietenden Chancen gelangen. Diese sozialen Grundrechte, die das Bonner Grundgesetz abweichend von vielen anderen Verfassungen nicht ausdrücklich erwähnt, werden aus dem Verständnis des Staates als eines sozialen Rechtsstaates hergeleitet. 3 Sie geben anders als die Freiheitsrechte dem Bürger keinen unmittelbaren Anspruch auf eine konkrete Leistung gegen den Staat. Sie bedürfen erst der Konkretisierung durch den Gesetzgeber (so z. B. 2 BVerfGE 1, 97 (105); Fechner, Freiheit und Zwang im sozialen Rechtstaat, 1953 S. 14 f.; Bachof, Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 1954 S. 37 ff.; Zacher, Soziale Gleichheit, AöR 1968 (93. Bd.) S. 341 (362 f.). 3 Willi Geiger, Die Wandlung der Grundrechte, Gedanke und Gestalt des demokratischen Rechtsstaates, Wien, 1965 S. 24.
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durch den Erlaß von Sozialversicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgegesetzen). Der Verfassungsnorm fehlt nämlich schon eine ausreichend konkrete Bezeichnung des Anspruchsobjekts, des Grundes und der Höhe der i n Betracht kommenden Leistungen. Das ist aber erforderlich, um dem Bürger einen rechtlich durchsetzbaren Anspruch zu geben 4 . So treten neben die Freiheitsrechte gleichrangig die sozialen Grundrechte. Sie verlangen vom Staat — i m Gegensatz zu den klassischen Grundrechten — nicht ein Unterlassen, sondern — wie dargelegt — ein positives Eingreifen, ein Tätigwerden. So verschieden sie auch sein mögen, haben sie jedoch einen gemeinsamen Nenner: die Angst, die Furcht. Trug zur Statuierung der klassischen Grundrechte die Angst vor dem Staat wesentlich bei, er könnte w i l l k ü r l i c h i n die geschützte persönliche Sphäre des Bürgers eingreifen, so ist heute vielfach die Angst vor den Wechselfällen des Lebens für die Entstehung der sozialen Grundrechte maßgeblich. Wie einst die politischen, monarchistisch-absolutistischen Verhältnisse eine liberale Gegenbewegung erzeugten, deren Ergebnis i n der Folgezeit die Kodifikation der klassisch-liberalen Grundrechte und der liberale Rechtsstaat war, führen jetzt die sozioökonomischen und technokratischen Verhältnisse zur Proklamation und Kodifikation von sozialen Grundrechten. Bezeichnend ist dabei, daß sowohl die klassischliberalen als auch die sozialen Grundrechte i n letzter Zeit eine Internationalisierung durch völkerrechtliche Verpflichtungen erfahren haben. Das geschah durch die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 zum Schutze der klassischen Grundrechte und durch die Europäische Sozialcharta von 1961 zum Schutze der sozialen Grundrechte. Beide Arten von Grundrechten stehen zwar i n einem natürlichen Spannungsverhältnis, sie bedingen und ergänzen sich aber auch vielfach. Das w i r d besonders deutlich i m Bereich des Sozialversicherungsrechts. Denn einmal hängt von der Verwirklichung des i n den sozialen Grundrechten vorgesehenen Standards ab, ob heute nicht nur einige wenige, sondern alle Staatsbürger von den klassischen Grundrechten Gebrauch machen können. Sekurität ist Voraussetzung für Liberalität. Es bedarf eines breiten materiellen Spieraumes, um die Freiheit nutzen zu können. Sichherheit hebt Freiheit nicht auf, sondern macht erst frei. Unsere freiheitliche Sozialordnung verlöre an Glaubwürdigkeit, wenn sie dem Menschen die Entfaltungsfreiheit seiner sittlichen Persönlichkeit verspräche, i h m aber gleichzeitig die ökonomische Sicherheit 4 Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, 1967 S. 7 f.; Wannagat, Das Sozialrecht im sozialen Rechtsstaat, in: Sozialrecht und Sozialpolitik (Festschrift Jantz), 1968 S. 59.
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versagte. Dem Ausspruch von Jaspers „Freiheit ist nur i n dem Maße, als alle frei sind" müßte für den Bereich der sozialen Sicherheit noch hinzugefügt werden: „ U n d als allen ausreichende Sicherheit und Geborgenheit gewährleistet ist." Zum anderen werden durch Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze nicht nur übermäßige Eingriffe durch die „Soziallasten" verhindert, sondern es w i r d auch der erreichte soziale Status geschützt.
II. Das S o z a i v le r s c ih e r u n g s r e c h t m i S p a n n u n g s v e r h ä n t l s i von S o z a is lt a a c i t lh k e t i und R e c h s ts a ta c i l t h k e t i Das Sozialversicherungsrecht 5 enthält Elemente der Eingriffsverwaltung oder genauer gesagt der Ordnungsverwaltung und solche der Leistungsverwaltung. Bei der Verwirklichung ihrer Zielsetzung — den Bürger vor den Wechselfällen des Lebens zu schützen und ihn i n seiner Wohlfahrt zu fördern, setzt die Sozialversicherung Maßnahmen ein, die sowohl seine Handlungsfreiheit einengen und i n seine Persönlichkeitssphäre empfindlich eingreifen (z. B. die Pflicht zur Entrichtung von Beiträgen und zur M i t w i r k u n g bei der Feststellung von Leistungen) als auch solche, die seine Handlungsfreiheit erweitern oder diese überhaupt erst ermöglichen. Bei den letzteren handelt es sich u m die vielfältigen Formen der Leistungsgewährung, die sich keineswegs nur auf den menetären Bereich erstrecken, sondern auch soziale Dienste sehr persönlicher A r t umfassen (Kranken- und Altenpflege, Stellung einer Hilfskraft i n der Krankenversicherung 6 ). Das daraus resultierende mehrfache Spannungsverhältnis zwischen Pflichten und Berechtigungen, zwischen Gebenden und Nehmenden läßt sich i n der Sozialversicherung leichter als i n anderen Bereichen überbrücken, weil der Personenkreis der Ausgleichs-,,opfer" und der Ausgleichsberechtigten weitgehend identisch ist. Die unterschiedlichen Rollen des Gebens und des Nehmens verteilen sich nur auf andere Lebensphasen. Das w i r d besonders deutlich in der Rentenversicherung. Die i m Erwerbsleben Stehenden sorgen für diejenigen, die aus dem Arbeitsprozeß (sei es infolge von Alter, Invalidität, Krankheit oder Arbeitslosigkeit) ausgeschieden sind und für diejenigen, die ihn noch 5 Zum Begriff: Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, 1965 S. 9 ff. 6 §§ 34, 35 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte — K V L G — vom 10. 8.1972 (BGBl. I S. 1433) —; § 185 des Leistungsverbesserungsgesetzes — K L V G — vom 19.12.1973 (BGBl. I S. 1925); Zacher, Bestimmungsgründe der Sozialpolitik, Die Neue Ordnung, 1972 S. 81 (91 f.).
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nicht begonnen haben (die i n Ausbildung Befindlichen). Dieses Prinzip bedeutet einen Konsumverzicht, ein Opfer der aktiven Arbeitskräfte zugunsten der nicht Erwerbstätigen. Das alles geschieht i n der gesetzlich verbürgten Erwartung, daß i n Zukunft ebenso verfahren wird, daß auch die dann i n den Arbeitsprozeß Nachrückenden die gleichen Verpflichtungen übernehmen. Dieses System, das auf dem Solidaritätsgedanken beruht, ist i n seinen wesentlichen Bestandteilen vom Sozialstaatsprinzip beherrscht. Andererseits bedarf es stets der Kontrolle und der Mitgestaltung durch Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, damit Pflichten und Berechtigungen i n einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen und für alle Beteiligten erträglich bleiben. Während die Rechtsordnung am Ende des 19. und i n den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts i m allgemeinen die Rechtsstaatlichkeit —: aber auch nur die formelle — i n den Vordergrund rückte und die Sozialstaatlichkeit vernachlässigte, war die Sozialversicherung bereits seit ihrer Entstehung vom Sozialstaatsprinzip durchdrungen, und zwar i n einer Zeit, i n der der Staat selbst noch lange nicht bereit war, sich als sozialstaatliches Gemeinwesen zu begreifen.
III. K u r z e r R ü c k b c i l k auf de i s o z a i v le r s c ih e r u n g s r e c h c i l t h e nE n w tc i k u ln g s e t n d e n z e n Die grundlegenden Sozialversicherungsgesetze der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatten die Aufgabe, den Schichten der Bevölkerung, deren Existenz bei vorläufigem oder dauerndem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß infolge von Krankheit, Unfall, Invalidität oder Alter besonders gefährdet war (den Fabrikarbeitern, den minderverdienenden Angestellten, den „kleinen" Selbständigen), ein menschenwürdiges — für unsere heutigen Begriffe gewiß ein sehr bescheidenes — Dasein i n Form eines staatlich garantierten Rechtsanspruchs zu gewährleisten. Diese Gesetzgebung war vom sozialen Schutzprinzip durchdrungen, das immer mehr verfeinert und vertieft bis auf den heutigen Tag unser gesamtes Sozialversicherungssystem beherrscht. Es findet seinen Ausdruck i n der Ausweitung auf immer neue Lebenstatbestände, i n der Erweiterung des sozialversicherungspflichtigen und -berechtigten Personenkreises, i m Ausbau der Leistungen und in der besseren Ausgestaltung des Verfahrensrechts. Die Sozialversicherungsgesetze, eingeleitet durch die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881, stellten i n der damaligen bürgerlich-liberalen Gesellschaft — i n jener weitgehend vom Individualismus und Liberalismus geprägten Wilhelminischen Zeit — einen Beginn, ja sie setzten ein Signal für ei-
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nen entscheidenden Durchbruch zur sozialen Verantwortung, wie sie jetzt nach langer mühseliger und schicksalhafter Entwicklung schließlich i n Form des sozialen Rechtsstaats unserer Zeit zum Ausdruck kommt. I h r liegt die Überzeugung zu Grunde, daß der Schutz der Würde des Menschen und die Sicherung der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit zwar nicht ohne sein eigenverantwortliches Handeln erreicht werden kann, daß dies aber ebenso ohne die Verpflichtung der Gemeinschaft, ihren Bürgern ein existenzsicherndes Dasein zu gewährleisten, nicht realisierbar ist. Die Sozialversicherung beruhte i n ihrer typischen Form auf öffentlich-rechtlichem Zwang. Die Höhe der Beiträge richtete sich nicht wie i n der Privatversicherung nach den eingetretenen Risiken, sondern nach der Leistungsfähigkeit (nach dem Arbeitseinkommen) der Versicherten. Für die Leistungen waren wiederum nicht allein die entrichteten Beiträge, sondern auch soziale Gesichtspunkte maßgeblich. Das galt z.B. für die ärztliche und medikamentöse Versorgung, die nach gleichen Grundsätzen und i n gleicher Höhe an alle Versicherten gewährt wurde. Dadurch beteiligten sich die Mehrverdienenden an den Kosten der Wenigerverdienenden. Dieser wirtschaftliche und soziale Ausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft wurde i n der Rentenversicherung durch den aus Steuermitteln finanzierten Reichszuschuß auf die Allgemeinheit ausgedehnt. Der Staat begann zu begreifen, daß er den besonders Schutzbedürftigen und sozial Schwachen i n erhöhtem Maße helfen müsse, daß i h m auch der Ausgleich krasser sozialer Spannungen und die Beseitigung gefährlicher Konfliktherde, die Zündstoff für soziale Revolutionen bergen, obliegt und daß (wie es i n der kaiserlichen Botschaft hieß) „die Heilung der sozialen Schäden auf dem Wege der Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sei". Das alles sind deutliche sozialstaatliche Züge, die die Sozialversicherung schon damals geprägt haben und jetzt immer wieder vom BVerfG bestätigt werden 7 . Ebenso wie das materielle Sozialversicherungsrecht wurde auch das seiner Durchsetzung dienende Verfahrensrecht vom Gesetzgeber i n seiner gesamten Anlage als Schutzrecht gestaltet und nach sozialstaatlichen Grundsätzen ausgebaut. Oberstes Ziel war, die am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Chancengleichheit i n der Verwirklichung des Rechtsschutzes für alle am Verfahren Beteiligten herzustellen. Die7
BVerfGE 10, 354 (369); 16, 286 (304); 21, 362 (375); 28, 324 (348).
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ser sollte nicht für diejenigen verkürzt werden, die keine M i t t e l hatten, u m sich rechtssachverständig beraten und vertreten zu lassen. Ein Problem übrigens, das heute unter sozialstaatlichen Aspekten neue Aktualität erlangt 8 . Es w i r d immer häufiger als ein verfassungsrechtliches Gebot die Forderung erhoben — so auch auf dem 37. Deutschen Anwaltstag i n Hamburg —, daß der Staat den Zugang zur Rechtsschutzgewährung von unzumutbaren Kostenbelastungen oder Kostenrisiken frei stellt. Öffentlich-rechtlicher Rechtsschutz müsse gerichtskostenfrei sein. Die Verwirklichung des Sozialstaates sei gestört, wenn die Wege zur Rechtserlangung oder Rechtserhaltung finanziell versperrt sind 9 . Dieser Grundsatz fand i m sozialversicherungsrechtlichen Gerichtsverfahren seit jeher volle Berücksichtigung; es war nämlich für den Versicherten kostenfrei. Sein Kostenrisiko beschränkte sich von vornherein auf die eigenen Aufwendungen. Diese Regelung gilt auch heute noch für das sozialgerichtliche Verfahren, nicht aber für die Prozeßordnungen der anderen Gerichtsbarkeiten 10 . Kennzeichnend für das Verfahren war aber auch der besonders umfassend ausgestaltete Rechtsschutz, den die Leistungen der Sozialversicherung genossen. Die Beständigkeit dieser Ansprüche wurde durch das Gesetz gewährleistet und durch die Rechtsprechung i m einzelnen konkretisiert. So konnte der einmal förmlich anerkannte Leistungsanspruch nur aus den i m Gesetz vorgesehenen Gründen ganz oder teilweise entzogen werden. Diese Grundsätze des verstärkten Vertrauensschutzes werden durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung fortentwickelt 1 1 . Die hier für die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte herausgestellten Prinzipien weichen von der für das allgemeine Verwaltungsrecht 1 2 entwickelten Abwägungstheorie (öffentliches Interesse und Vertrauensinteresse des Begünstigten) bewußt ab, weil die Leistungen der Sozialversicherung vielfach die Existenzgrundlage der Bürger sind und deshalb eines besonderen Schutzes bedürfen. Alle diese Verfahrensgrundsätze haben sich i n einer länger als ein halbes Jahrhundert währenden Praxis so bewährt, daß sie i m wesent8
BVerfGE 9, 124 (131); 10, 264 (270). Redeker, Bürger und Anwalt im Spannungsfeld von Sozialstaat und Rechtsstaat, NJW 1973, S. 1153. 10 Wannagat, Der Richter der Sozialgerichtsbarkeit und die Sozialordnung, Die Sozialordnung der Gegenwart, 1973 (Bd. 12), S. 43 (47 f.). 11 Haueisen, Betrachtungen über die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte, DVB1. 1959 S. 228ff.; Wannagat, Rechtsfortbildung durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung, Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung, Bern 1972, S. 153 (161 f.). 12 Grabitz, Vertrauensschutz als Freiheitsschutz, DVB1 1973 S. 675 (679 f.). 9
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lichen unverändert i n das Sozialgerichtsgesetz von 1953 übernommen werden konnten.
IV. E n ig r f e i in dei R e c h s t s p h ä e r des e n iz e n le n Die Verwirklichung des sozialen Schutzprinzips und die Förderung der Wohlfahrt der Bürger verlangt aber auch „Opfer", die von dem einzelnen und der Gemeinschaft erbracht werden müssen. Hierzu gehört die Pflicht zur Entrichtung von Beiträgen. Durch diese vollzieht sich eine breite Umverteilung der Einkommen (die zweitgrößte nach den Steuern). Ihre Berechtigung w i r d aus der Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes hergeleitet, die zu einem Ausgleich zwischen den wirtschaftlich und sozial stärkeren und schwächeren Bevölkerungsteilen verpflichtet. Dieser Solidarausgleich begegnet vielfach grundrechtlichen Einwänden, soweit er Finanzlasten überbürdet, kaum aber, soweit er Vorteile vermittelt 1 3 . Beitragsbegünstigungen lassen sich i n der Regel für leistungsschwache Personenkreise über das sozialstaatlich interpretierte Gemeinwohl vor dem Gleichheitssatz rechtfertigen. Diese Rechtfertigung erfaßt aber nur die Zuwendungen der Ausgleichsvorteile, nicht dagegen die Auferlegung von Pflichten, insbesondere der Ausgleichslasten. Das w i r d bei der Ausdehnung der Sozialversicherungspflicht auf Personengruppen deutlich, die herkömmlicherweise des Schutzes der Sozialversicherung nicht bedurften und die vielfach der Meinung sind, sie könnten ihn auch jetzt noch entbehren. So haben z. B. die bayerischen Ärzte geltend gemacht, ihre Zwangsmitgliedschaft i m Bayerischen Ärzteversorgungswerk verstoße gegen die Verfassung. Sie seien, wenn auch nicht rechtlich, so doch wegen der' Höhe der Beiträge tatsächlich außerstande, selbst darüber zu entscheiden, ob und wie sie ihre und ihrer Angehörigen Versorgung gestalten wollen. Sie könnten die Versorgung i n eigener Verantwortung nicht mehr völlig frei bestimmen 14 . Freiheit zu schützen und zu erhalten, wo sie bereits bestehe, sei aber eine eindeutige Absicht des Grundgesetzes. Dem ist das BVerfG zu Recht entgegengetreten 15 . Die Pflichtmitgliedschaft bei einer Altersversorgung für freiberufstätige Ärzte widerspräche nicht dem Grundgesetz. Der Gedanke einer kollektiven Zwangsversorgung sei mit der Idee des freien Berufes vereinbar; er entspräche 13
Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 60 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Werner Weber, Rechtsfragen der Ausgestaltung einer Rechtsanwaltszwangsversorgung, Vers R 1967 S. 329 f. 15 BVerfGE 10, 354 (363). 14
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auch einer zeitgemäßen, sich zu einer allgemeinen gesellschaftspolitisch ausweitenden Sozialpolitik. Ein Gesetz, das die Freiheit des einzelnen nur insoweit einschränke, als erforderlich sei, verletze nicht das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Ähnlich hat das BVerfG in einer weiteren Entscheidung 16 festgestellt, daß die Aufhebung der Jahresarbeitsverdienstgrenze i n der Rentenversicherung der Angestellten durch das Finanzänderungsgesetz 1967 nicht die Grundrechte der höherverdienenden Angestellten verletze. Die Eingliederung i n die Sozialversicherung nehme den höherverdienenden Angestellten nicht jede Möglichkeit, nach ihrem Willen und Vermögen auch eigene Vorsorge für ihre und ihrer Familie Sicherung zu treffen. Die Beitragsbemessungsgrenze lasse dem einzelnen, je höher sein Einkommen wächst, um so mehr wirtschaftlichen Spielraum, sich anderer Formen der Altersversorgung noch neben der Sozialversicherung zu bedienen. Dem dem steigenden Einkommen sich verringernden Bedürfnis nach Schutz durch die Sozialversicherung entspräche eine größere wirtschaftliche Freiheit zur eigenen Vorsorge. Aus dem Sozialstaatsprinzip erwächst gewiß nicht die Verpflichtung, den Begriff der „Sozialversicherung" so extensiv auszulegen und diese Einrichtung auf weite Kreise der Bevölkerung auszudehnen. Denn die Verwirklichung eines Höchstmaßes an sozialer Gerechtigkeit ließe sich auch auf andere Weise realisieren. Andererseits stünde der Ausdehnung der Versicherung auf alle Bevölkerungsschichten unter sorgfältiger Abwägung der Belange des einzelnen und der mit der Sozialversicherung verfolgten allgemeinen Interessen das Grundgesetz nicht entgegen. Dem Gesetzgeber verbleibt gerade i m sozial- und gesellschaftspolitischen Bereich ein breiter Raum zur freien Gestaltung 17 . Dieser ist jedoch nicht unbegrenzt; er enthält auch Schranken. Sie wären ζ. B. dann überschritten, wenn durch die Zwangsmitgliedschaft i n der Sozialversicherung denjenigen, die selbst ausreichend für sich Vorsorgen könnten, jede Möglichkeit der selbstverantwortlichen Eigenvorsorge genommen würde und eine derartige Abhängigkeit vom Staat und der Gemeinschaft entstünde, daß dadurch die i n A r t . 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit verletzt wäre. Ein derartiger Fall könnte eintreten, wenn ζ. B. die Beitragsverpflichtung einen Umfang annähme, der jede private Vorsorge ausschlösse. Denn auch Art. 14 GG würde gegen eine kompetenzwidrige und somit unzulässige Beitragserhebung schützen. Das wäre ζ. B. auch dann 16
BVerfGE 29, 221. BVerfGE 8, 274 (329); 26, 44 (61); BVerfG, Beschl. v. 16.10.1968, SozR GG Art. 14 Nr. 16. 17
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der Fall, wenn das grundrechtliche „Maß" überschritten würde, das sich am „grundrechtsschonenden" Übermaß auszurichten hat. Fraglich ist schon, ob der Gesetzgeber berechtigt wäre, ohne die Verfassung zu verletzen, unsere auf Beiträgen und der Selbstverwaltung beruhende Sozialversicherung durch eine Staatsbürgerversorgung zu ersetzen. Denn der Gesetzgeber wäre möglicherweise nach A r t . 3 Abs. 1 GG zu einem Mindestmaß von Systemtreue — ein Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit — verpflichtet. Der Gesetzgeber bindet sich durch bestimmte Ordnungsentscheidungen und durch die Festsetzung von Sachgesetzlichkeiten, die er noch in Freiheit vorgenommen hat, für die Zukunft 1 8 . Die Eingriffe der Sozialversicherung in die persönliche Sphäre des Bürgers beschränken sich nicht auf die Pflicht zur Entrichtung von Beiträgen, sondern umfassen auch den weiten Bereich der Auskunfts- und Mitwirkungspflicht, wie er jetzt zusammenfassend i m Allgemeinen Teil des Entwurfs eines Sozialgesetzbuchs 19 umschrieben ist. Danach hat sich derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, u. a. auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungen, einer Heilbehandlung, einer berufsfördernden Maßnahme usw. zu unterziehen. Diese Mitwirkungspflicht entfällt, soweit ihre Erfüllung in keinem angemessenen Verhältnis zu der i n Anspruch genommenen Sozialleistung steht oder den Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann. Bei fehlender M i t w i r kung kann der Leistungsträger die Leistung ganz oder teilweise versagen oder entziehen. Der Weigernde handelt in diesen Fällen nicht rechtswidrig, sondern er sieht sich nur gewissen mehr oder weniger schwerwiegenden w i r t schaftlichen Nachteilen gegenüber 20 . Mag es sich hierbei auch u m spezifische sozialversicherungsrechtliche Ordnungsgrundsätze handeln, die notwendig sind, um ein planvolles Funktionieren des Sozialversicherungssystems zu gewährleisten, sie müssen sich jedoch an der verfassungsrechtlichen Wertordnung messen lassen. Nur wenn diese sozialversicherungsrechtlichen Regelungen den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit (dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, des Übermaßverbots usw.) genügen, werden sie einer grundgesetzlichen Prüfung standhalten. 18 Harald Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, 1973 S. 623 mit weiteren Nachweisen. BT-Drucks. V I 3764, S. 10, § 59 f. 20 Lerche, Schutz der Persönlichkeitssphäre im Bereich der sozialen Sicherheit, 1972 S. 94 (96 f.) (Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, Bd. IX).
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Dieses Problem könnte sich verschärfen, wenn künftig eine Pflicht zur Erfüllung von Sozialleistungen i n Form eines Pflichteinsatzes in Krankenhäusern, Altenheimen, Rehabilitationszentren, Kinderpflegestätten, aber auch i n privaten Haushalten statuiert würde 2 1 . Diese Verpflichtung könnte notwendig werden, wenn sich für Aufgaben der persönlichen Dienstleistungen keine ausreichende Zahl von freiwilligen Arbeitskräften fände. Es müßte dann abgewogen werden zwischen dem Eingriff i n die persönliche Sphäre des einzelnen, zwischen dem Opfer, das dem einzelnen abverlangt wird, und dem Bedarf an Leistungen, ohne deren Erbringung die Gesellschaft nicht i n der Lage sein würde, ihre Aufgaben, die ihren sozialethischen, aber vor allem sozialstaatlichen Vorstellungen und Zielen entsprechen, zu erfüllen. Hier könnte der Grundsatz der Solidarität nutzbar gemacht werden. Denn wer heute das „Opfer" erbringt, kann morgen selbst schon auf ähnliche Leistungen anderer angewiesen sein. Für viele (die Behinderten, Kranken und Alten) ist die volle Teilhabe an den Grundrechten nur möglich, wenn ihnen ein hohes Maß an persönlicher Pflege und menschlicher Betreuung zuteil wird. Würden diese nicht gewährt, so könnte häufig die volle Entfaltung der Persönlichkeit, ja ein menschenwürdiges Dasein nicht gewährleistet werden. Könnte hierauf eine Gesellschaft verzichten, deren gesamte Sozialpolitik immer mehr darauf ausgerichtet zu sein scheint, nicht nur die Ungleichheiten zu korrigieren, sondern soziale Gleichheit zu konzipieren 22 ? Hier erhielte das Spannungsverhältnis zwischen Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit eine besonders prägnante, aber auch interessante Gestalt.
V. S c h u z t der e w ro b r e n e n R e c h s t p o o s i t i n e n Die Sozialstaatlichkeit ist gewiß der Sozialleistungsgewährung förderlich. Die einmal erworbenen Ansprüche und Leistungen bedürfen aber, u m v o l l wirksam zu sein, eines besonderen Schutzes. Dieser w i r d auf weiten Strecken m i t M i t t e l n der Rechtsstaatlichkeit sichergestellt. Dies geschieht weitgehend durch das Rückwirkungsverbot, das aus dem 21
Wannagat, Jugend und soziale Sicherheit, Die Sozialgerichtsbarkeit, 1973 S. 429 (430). 22 Zacher, Mitbestimmungsgründe der Sozialpolitik, S. 96 f.
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Rechtsstaatsprinzip abgeleitet und über Art. 2 Abs. 1 GG i n das Grundrechtssystem übertragen w i r d 2 3 . Zu den wesentlichen Elementen des Rechtsstaatsprinzips gehört die Rechtssicherheit; sie bedeutet für den Bürger i n erster Linie Vertrauensschutz. Der einzelne soll die i h m gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen und sich entsprechend einrichten können. Das staatliche Handeln, soweit es i n die Rechtssphäre des Bürgers eingreift, muß für ihn meßbar und voraussehbar sein, damit seine Dispositionen für ihn kalkulierbar bleiben. Deshalb sind rückwirkende Gesetze, die das Vertrauen des Bürgers i n das geltende Recht verletzen, grundsätzlich unzulässig 24 . Unter diesem Gesichtspunkt — und weniger unter dem Blickwinkel der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG 2 5 — sieht auch jetzt das BVerfG den Schutz der sozialversicherungsrechtlichen Positionen, insbesondere der Renten. Er muß bei diesen Leistungen, die vielfach die Existenzgrundlage des Bürgers bilden, stärker sein als die Kontrolle sonstiger Verkürzungen rechtlicher Positionen. Dies ist u m so mehr gerechtfertigt, als der Sozialversicherte weder die lang-, noch die mittelfristige Planung der Versicherungsträger und des Staates übersehen kann. Er muß auf die ihm bekanntgegebenen Berechnungen und Planungen 2 6 vertrauen können. Hierbei w i r d der Versicherte allerdings die Beachtung des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebotes nicht i n voller Breite, sondern nur i n seinem Kernbereich für sich i n Anspruch nehmen können. Denn sonst wäre jegliche Gestaltungsmöglichkeit des Gesetzgebers für die Zukunft gehemmt 27 . Die sozialversicherungsrechtlichen Positionen schützt — nur i n einem Mindestmaß — auch das Sozialstaatsprinzip. Allerdings obliegt seine 23
Vgl. hierzu: Salzwedel, Verfassungsrechtlich geschützte Besitzstände und ihre „Überleitung" in neues Recht, Die Verwaltung, 1972 S. 11 (14 f.) mit weiteren Nachweisen; ferner Harald Bogs, S. 612 f. 24 Zusammenfassend in BVerfGE 31, 222 (225 f.); Maunz - Dürig - Herzog, Grundgesetz, Kommentar Rdnr. 86 zu Art. 20. 25 Werner Weber, Die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, in: Rechtsschutz im Sozialrecht, 1965, S. 279 ff.; derselbe, öffentlich-rechtliche Rechtsstellungen als Gegenstand der Eigentumsgarantie in der Rechtsprechung, AöR 1966, S. 382. 20 Diers, Stand, Aufgaben und Zukunft der Sozialplanung in der Bundesrepublik Deutschland, Die Sozialordnung der Gegenwart, 1973 (Bd. 12) S. 89 ff. 27 BVerfGE 20, 52 (54) und Urteil des BVerfG vom 3.10.1973 — 1 BvL 30/ 71; Wannagat, Der Weg der unbedingten Witwenrente in die Zukunft, in: 60 Jahre Angestelltenversicherung, 20 Jahre Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, 1973 S. 83 (95).
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Ausgestaltung i m wesentlichen dem Gesetzgeber 28 , der insoweit nicht gehindert ist, Regelungen zu treffen, die für den einzelnen auch Härten und Unbilligkeiten bedeuten können 2 9 . Hier zeigt sich — trotz eines gewissen Spannungsverhältnisses — die enge Verflochtenheit zwischen dem Sozialstaatsprinzip und dem geläuterten materialen Rechtsstaatsprinzip unseres Grundgesetzes. Beide haben den verfassungsrechtlichen Auftrag, eine an der sozialen Gerechtigkeit orientierte Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, in deren Mitte die unantastbare Würde des freien, aber zugleich gesellschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Staatsbürger steht 3 0 . Bei Bewältigung dieser Aufgabe kommt der Sozialversicherung ein beachtlicher Rang zu.
28 29 30
BVerfGE 8, 274 (329). BVerfGE 26, 44 (61). BVerfGE 4, 17 (15 f.).
Gemeinsame Selbstgestaltung (Autonomie) im Kassenarztrecht Von Günther Küchenhoff
I. Unser Jubilar hat den Problemen der Selbstverwaltung stets seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Ausgehend von der typischen Form der Selbstverwaltung, der kommunalen Selbstverwaltung 1 , hat er — nach sorgfältigem Ausscheiden nicht dazugehörender Erscheinungen wie der Tarifvertragsnormen 2 — früh erkannt 3 , daß auch die „Selbstverwaltung i n der Sozial ver waltung" unter Begriff und Idee der Selbstverwaltung fällt, und über diese „Selbstverwaltung, ihre Aufgaben und Grenzen" auf der ersten Bundestagung des Deutschen Sozialgerichtsverbandes i n München am 27./28. Januar 1966 ein allen — die wie der Unterzeichnete daran teilnehmen durften — unvergeßliches Referat gehalten, i n welchem er Aufgaben und Formen der sozialen Selbstverwaltung von der Staatsaufsicht (Fach- und Rechtsaufsicht) abgrenzte. Seither sind — insbesondere an Hand des Selbstverwaltungsgesetzes4 vom 22. Februar 1951 (BGBl. I S. 124) — die Aufgaben
1
Vgl. Werner Weber, Staats- und Selbstverwaltung in der Gegenwart, 2. erweiterte Auflage, Heft 9 der Göttinger Rechtswissenschaftlichen Studien. 1967. 2 Ebenda, S. 147. 3 Ebenda, S. 143 f., 146, 152 oben. 4 Vollständige Bezeichnung: Gesetz über die Selbstverwaltung und über Änderungen von Vorschriften auf dem Gebiet der Sozialversicherung (GSV); dieses Gesetz wurde durch das Änderungs- und Ergänzungsgesetz vom 13. August 1952 (BGBl. I S. 427) geändert und neu gefaßt. Neben vielen Änderungen wurde das GSV durch das siebente Gesetz zur Änderung des Selbstverwaltungsgesetzes vom 3. Aug. 1967 (BGBl. I S. 845) ergänzt. Die nach Art. 3 § 5 7. Ä G GSV vorgesehene Neufassung mit der Überschrift „Gesetz über die Selbstverwaltung auf dem Gebiet der Sozialversicherung (Selbstverwaltungsgesetz — SVWG) wurde unter dem 23. Aug. 1967 in BGBl. I S. -917 veröffentlicht. Eine letzte Ergänzung und Änderung erfuhr das SVWG durch das achte Gesetz zur Änderung des Selbstverwaltungsgesetzes (Gesetz zur Weiterentwicklung des Selbstverwaltungsrechts und zur Vereinfachung des Wahlverfahrens v. 7. Aug. 1973 (BGBl. I S. 957)). 53 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
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u n d F o r m e n d e r sozialen S e l b s t v e r w a l t u n g 5 v i e l f a c h b e h a n d e l t 6 w o r d e n , rechtsgeschichtlich i n das a l l g e m e i n e gesellschaftliche Geschehen u n d rechtsdogmatisch i n e i n S y s t e m d e r O r g a n i s a t i o n u n d Staatsaufsicht geb r a c h t , schließlich z u a l l g e m e i n e n E i n s i c h t e n i n B e g r i f f u n d Wesen der sozialen S e l b s t v e r w a l t u n g i m S p a n n u n g s f e l d zwischen S t a a t u n d B e t e i l i g t e n , besonders d e n ö f f e n t l i c h r e c h t l i c h e n T r ä g e r n der S o z i a l v e r sicherung, e n t w i c k e l t w o r d e n . D e r w e i t r e i c h e n d e geistige E i n f l u ß v o n W e r n e r W e b e r zeigt sich auch hier. So b e r u h t m i t t e l b a r a u f seinen A r b e i t e n d i e i n F u ß n o t e 6 g e n a n n t e D i s s e r t a t i o n . Ebenso v e r d a n k t d e r U n t e r z e i c h n e t e d e n L e h r e n Webers d i e A n r e g u n g z u diesem B e i t r a g , d e r infolgedessen n i c h t n u r der V e r such sein soll, e i n e n G e d a n k e n g a n g Webers f o r t z u f ü h r e n , s o n d e r n d e m Ideenreichen zu danken.
II. A l s T h e m a l i e g t es nahe, v o n g e m e i n s a m e r Sozialversicherungsrecht 5
Selbstverwaltung
z u sprechen 7 : Doch v e r l a n g t
im
„intellektuelle
Zum Begriff der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung vgl. Maunz Schraft, Die Sozialversicherung und die Selbstverwaltung, Kommentar, Bd. 1, A l , Selbstverwaltung Bl. 10 R: Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung ist gesetzlich geordnete, mit Rechtsetzungsbefugnissen (Autonomie) verbundene Verwaltung durch als solche rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts, die durch Gesetz oder auf Grund gesetzlicher Vorschriften errichtet werden, um mit Organen, in denen gewählte Vertreter der Beteiligten, insbesondere der Versicherten und der Arbeitgeber, ehrenamtlich tätig sind, die ihren gesetzlich zugewiesenen Aufgaben öffentlicher Daseinsvorsorge als eigene, im eigenen Namen und in eigener Verantwortung nach Maßgabe von Gesetz und Satzung und unter staatlicher Aufsicht zu erfüllen. β Vgl. Dieter Leopold, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, Würzburger Jur. Diss. 1972, mit eingehenden Angaben über weiteres Schrifttum. 7 So auch noch der Unterzeichnete in der Diskussion zum Referat von Werner Weber, vgl. Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichts Verbandes, Bd. 1, 1966, S. 124 f., entsprechend der damals herrschenden Ansicht, vgl. Albrecht, Der Rahmen der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung, in: Zbl. Soz. Vers. 1954, S. 254 ff., 267; Verf., Das neue Kassenarztrecht, in RdA 1955, S. 413 ff., 420; Verf., Gesetzliche und kollektivrechtliche Grundlagen der kassenärztlichen Honorierung, in SGb 1969, S. 81 ff., 82, wo ich aber schon darauf hingewiesen habe, daß das Gesetz nur Richtlinien dafür gibt, „wie das Honorar im Kassenarztwesen in gemeinsamer Selbstverwaltung zu gestalten ist"; Leopold, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, Diss. Würzburg 1972, S. 20 f.
Gemeinsame Selbstgestaltung (Autonomie) i m Kassenarztrecht
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Ehrlichkeit" 8 , m i t klaren Begriffen zu arbeiten. Gemeinsame Selbstverwaltung findet sich i m Sozialversicherungsrecht zwar auch auf dem hier üblicherweise gemeinten Felde einer Zusammenarbeit von Sozialpartnern auf dem Gebiete des Kassenarztrechts, z . B . i n der Regelung der Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit (§§ 368 a - c RVO). Was aber von den Partnern i n diesem Bereich allgemein und grundsätzlich gemeinsam geschaffen w i r d , ist — wie i m Tarifvertragsrecht (siehe oben bei Ziff. 2!) — Norm, Nomos, Gesetz 9 u n d Eigentätigkeit (αυτός νόμος), also Autonomie, Selbstgestaltung, nicht lediglich Selbsteerwaltung.
III. Auch hiernach lohnt es sich, das Phänomen einer gemeinsamen Selbstgestaltung der Sozialpartner i m Bereich des Kassenarztrechts näher zu untersuchen. Denn bereits die Gemeinsamkeit bei der Rechtsgestaltung ist ein hohes Gut i m Rechts- u n d Sozialstaat (Art. 20, 28 GG) als einem Gemeinschaftsstaat würdigen Schaffens 10 , i n welchem Interessenverschiedenheiten nicht zu Gegensätzen u n d selbst bei Gegensätzlichkeit nicht zum Kampf der Interessengruppen führen dürfen, sondern m i t dem Ziele einer möglichst allseits befriedigenden Ordnung ausgeglichen werden müssen. Zugleich e r f ü l l t die gemeinsame Selbstgestaltung (gemeinsame A u tonomie) i m Verhältnis der Sozialpartner zum Staat das Lebens- u n d Rechtsprinzip der Subsidiarität 11 der je weiteren Gesellungen, deren 8
Begriff im Sinne von Werner Weber, (Fn. 1) S. 152. Auf die neuerdings von Acht erb erg vorgenommenen Einschränkungen des Gesetzesbegriffs (vgl. Achterberg, Problem der Funktionslehre, München 1970, S. 204ff.; derselbe, Kriterien des Gesetzesbegriffes unter dem Grundgesetz, in DÖV 1973, S. 289 ff.) braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Sie betreffen nur das staatliche Gesetz. Die Möglichkeit untergesetzlicher Normen (wie Tarifvertragsnormen, Ortsstatut) soll gewiß nicht geleugnet werden. Zum Begriff des Gesetzes allgemein vgl. Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970. 10 Vgl. Verf., Das Arbeitsverhältnis im Gemeinschaftsstaat würdigen Schaffens, in AuR 1964, S. 225 ff.; derselbe in Erman, Handkommentar zum BGB, 5. Aufl. 1972, Rdz. 6 vor § 611 BGB. 11 von Nell-Breuning, Das Subsidiaritätsprinzip als wirtschaftliches Ordnungsprinzip, in Saiger/Messner, Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Ordnung, Festschrift für Degenfeld-Schönberg 1952, S. 81 ff.; Verf., Staatsverfassung und Subsidiaritätsprinzip, in Bd. I I der Sammlung Politela, 1953, S. 67 ff.; ders., Bund und Gemeinde, BayVBl. 1958, S. 65 ff., 101 ff.; ders., Das Prinzip der staatlichen Subsidiarität im Arbeitsrecht, RdA 1959, S. 201 ff.; Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, S. 428 ff.; Ingo von Münch, Staatliche Wirtschaftshilfe und Subsidiaritätsprinzip, JZ 1960, S. 303 ff.; Herzog, Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung, in: Der Staat, Bd. 2, 1963, S. 399 ff.; Bernsen, Das Subsidiaritätsprinzip als Prinzip des deutschen Staats9
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Organisationen und Organträger erst dann zuständig und zum Helfen berufen sind, wenn die Träger der je engeren Bereiche eine oder mehrere Aufgaben trotz Aufbietung aller Kräfte nicht mehr bewältigen können. IV. Gegenstand der gemeinsamen Selbstgestaltung der Sozialpartner i m Kassenarztrecht sind zunächst die Honorarvereinbarungen, die nach § 368 f RVO zwischen den als öffentlichrechtliche Körperschaften geformten Sozialpartnern, den Verbänden der Orts-, Betriebs-, Innungskrankenkassen einerseits und den Kassenärztlichen Vereinigungen andererseits, getroffen werden 1 2 . M i t Hilfe dieser Honorarvereinbarungen sei nun das Wesen gemeinsamer Selbstgestaltung veranschaulicht, wofür auch einige praktische Einzelheiten dienen mögen. 1. Rechtlicher Ausgangspunkt für die Regelung der Vergütung für die kassenärztliche Versorgung (§ 368 RVO), die die ärztliche Behandlung, die Betreuung bei Mutterschaft, die Anordnung der Hilfeleistung anderer Personen, die Verordnung von Arznei, Heilmitteln, Krankenhauspflege u. ä. umfaßt, sind die §§ 368 f - 368 h der Reichsversicherungsordnung (RVO). Nach § 368 f Abs. 1 RVO entrichtet die Krankenkasse (§ 225 RVO) 1 3 für die gesamte ärztliche Versorgung eine Gesamtvergütung an die Kassenärztliche Vereinigung. Die Entrichtung der Gesamtvergütung erfolgt m i t befreiender Wirkung für die Krankenkassen; dies hat zur Folge, daß die finanziellen Ansprüche der Kassenärzte gegenüber den Krankenkassen erloschen sind 1 4 . Diese Gesamtvergütung w i r d dann von der Kassenärztlichen Vereinigung unter die Kassenärzte verteilt 1 5 . Unter dem Begriff der Gesamtvergütung i m Sinne rechts, Diss. Kiel 1966; Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, 1968, Bd. 80 der Schriften zum öffentlichen Recht; Körte, Die Aufgabenverteilung zwischen Gemeinde und Staat unter besonderer Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzip, VerwArch 1970, S. 3 ff.; Verf. und Erich Küchenhoff, Allgemeine Staatslehre, 7. Aufl. 1971, S. 34, 105 f., 227; Kalkbrenner, Die rechtliche Verbindlichkeit des Subsidiaritätsprinzips, in Festschrift für G. Küchenhoff, 1972, Bd. 2, S. 515 ff. 12 Vgl. Verf., Verbandsautonomie, Grundrechte und Staatsgewalt, in AuR 1963, S. 321 ff.; BVerfG, Beschl. v. 10. 5.1972, NJW 1972, S. 1509. 13 Krankenkassen nach dieser Vorschrift sind: Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen. 14 Verf., Gesetzliche und kollektivrechtliche Grundlagen der kassenärztlichen Honorierung, SGb 1969, S. 82. 15 Zur Rechtsnatur des Honorarverteilungsmaßstabes vgl. LSG Celle v. 22. Dezember 1955 in SGb 1956, S. 237; LSG Darmstadt v. 3. Juni 1957 in Ä M 1957, S. 816; LSG Berlin v. 16. Juni 1961 in Ä M 1962, 340; LSG Schleswig v. 11. Oktober 1967 in SE I I I / l Nr. 36 zu § 368 f. RVO; BSG v. 13. August 1964,
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des § 368 f RVO ist „lediglich die Summe der nach den Bestimmungen des Gesamtvertrages von der Krankenkasse an die Kassenärztliche Vereinigung für einen bestimmten Abrechnungszeitraum zur Abgeltung der kassenärztlichen Leistungen zu zahlenden Beiträge" 1 6 zu verstehen. Fauvet 1 7 faßt daher den Begriff der Gesamtvergütung zutreffend funktionell. Die Gesamtvergütung definiert er als „ein Korrelat zur kassenärztlichen Gesamtleistung"; „sie ist eine Vergütung für die Gesamtleistung der i n der Kassenärztlichen Vereinigung genossenschaftlich verbundenen Ärzte. Gleichzeitig ist sie die Gesamtsumme der einzelnen rechnerischen Vergütungsbeträge für die unterschiedlichen kassenärztlichen Leistungen an die differenzierten Mitgliedergruppen einer Krankenkasse" 18 . 2. Das Honorarsystem i m Kassenarztrecht sieht verschiedene Vergütungssysteme 19 dafür vor, wie die Gesamtvergütung berechnet werden kann. I n § 368 f Abs. 2 RVO werden drei Methoden zur Berechnung der Gesamtvergütung aufgezeigt: Das Kopfpauschale, das Fallpauschale und die Einzelleistungsvergütung. Nach § 368 f Abs. 3 ist abweichend vom Abs. 2 eine Gesamtvergütungsberechnung nach dem einen oder anderen System oder einem System, das sich aus der Kombination mehrerer Berechnungsarten ergibt, zulässig. a) Bei dem Kopfpauschalsystem „errechnet sich die Gesamtvergütung aus dem i m Gesamtvertrag vereinbarten Pauschalbetrag je Mitglied, multipliziert mit der Mitgliederzahl. Neben dem Pauschalbetrag je Mitglied muß der Vertrag die genaueren Abmachungen zur Berechnung enthalten, so darüber, für welchen Kreis diese Methode Anwendung finden soll und wie die Mitgliederzahl zu errechnen ist" 2 0 . Aus der Tatsache, daß § 368 f Abs. 2 RVO das Kopfpauschale an erster Stelle nennt BSGE 21, 235 ff.; v. 27. Januar 1965, BSGE 22, 218 ff.; v. 26. März 1967, BSGE 26, 124 ff. ( = arztrecht 1967, S. 105 ff.); Heinemann/Lieb old, Kassenarztrecht, Stand 1973, zu § 368 f, Anm. 4 S. I 27 g; Verf., Gesamtverträge und Schiedssprüche im Kassenarztrecht, in Festschrift für Molitor, 1962, S. 253 ff., S. 254; weitere Nachweise bei Fauvet (FW 17) S. 94 ff. 16 Jantz/Prange, Das gesamte Kassenarztrecht, 1955, zu § 368 f, S. 11. 17 Fauvet, Das Honorarsystem der Kassenärzte im Sozialversicherungsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Honorarverteilungsmaßstabes, Diss. Würzburg 1968, S. 39. 18 Fauvet, S. 40. 19 Vgl. Kastner, Kassenärztliche Vergütungssysteme — Pauschal- oder Einzelleistungsvergütung? in DOK 1965, S. 11 ff.; nach § 368 c a. F. RVO (neu gefaßt mit Wirkung vom 30. 8.1955 durch Art. 1 Nr. 2 Gesetz über Kassenarztrecht v. 17. 8.1955 (BGBl. I S. 513)) erfolgte die Berechnung der Gesamtvergütung nur nach einem Kopfpauschalsystem. 20 HeinemanniLiebold, Kassenarztrecht, Stand 1973, zu § 368 f, Anm. 8.
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und auch ausführliche Hinweise auf die Ausgestaltung des Kopfpauschale geben, schließen Heinemann - Liebold 2 1 , daß die Berechnung der Gesamtvergütung nach dem Kopfpauschale die Regel ist, was m. E. abzulehnen ist 2 2 , ohne daß die Erörterung hier vertieft zu werden braucht. b) W i r d das Fallpauschale angewandt, so ist für jeden Behandlungsfall ein bestimmter Pauschalbetrag vereinbart. Die Summe dieser Beträge für die einzelnen Behandlungsfälle ist die Gesamtvergütung 23 . Kastner 2 4 weist darauf hin, daß mit dem Fallpauschale die „Gefahr des Fällemachens" verbunden ist. c) Nach § 368 f Abs. 3 RVO kann die Gesamtvergütung auch nach der Vergütung von Einzelleistungen errechnet werden. M i t dieser Möglichkeit der Vergütung nach Einzelleistungen w i r d „eine alte grundsätzliche Forderung der Kassenärzte, i m Hinblick auf den Charakter der ärztlichen Tätigkeit als der eines freien Berufs ihre Leistungen wie bei den Privatpatienten auch bei den Kassenpatienten einzeln berechnen zu können" 2 5 , vom Gesetzgeber erfüllt. Bei dem System der Vergütung nach Einzelleistungen ist es notwendig, daß von den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassen vereinbart wird, welche ärztlichen Verrichtungen als honorarfähige Leistung gelten und nach welchem Vergütungsmaßstab sie zu honorieren sind 2 6 . Die Berechnung der Gesamtvergütung nach Einzelleistungen vollzieht sich wie folgt 2 7 : a) Abrechnung des Kassenarztes bei der Kassenärztlichen gung,
Vereini-
b) Prüfung der Abrechnung, c) Inrechnungstellung der Summe der geprüften Einzelleistungen durch die Kassenärztliche Vereinigung bei der Krankenkasse, d) Zahlung der Gesamtvergütung durch die Krankenkasse an die Kassenärztliche Vereinigung, e) Verteilung der Gesamtvergütung durch die Kassenärztliche Vereinigung an die Kassenärzte, 21
Heinemann/Liebold, au § 368 f, Anm. 8. Verf., F N 14, in SGb 1969, S. 82. 23 Vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 17. Aufl. Stand 1968, § 368 f RVO Anm. 7. 24 Kastner, (FN 19) S. 13. 25 Jantz/Prange, zu § 368 f Anm. 15. 26 Fauvet, S. 81. 27 Vgl. hierzu und zum weiteren HeinemanniLiebold, zu § 308 f RVO, Anm. 2. 22
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f) Nachprüfung der Abrechnung durch die Kasse und Stellung eventueller Berichtigungsanträge. Die Summe der Einzelleistungsbeiträge für die Patienten einer Kasse ergibt die von der zuständigen Kasse an die Kassenärztliche Vereinigung zu entrichtende Gesamtvergütung. Bei der Errechnung der Gesamtvergütung sind noch drei Abrechnungsmaßstäbe zu berücksichtigen: der Abrechnungsmaßstab für die Ärzte, der Versorgungsmaßstab für die Krankenkasse und der Verteilungsmaßstab für die Kassenärztliche Vereinigung 2 8 . Diese drei Maßstäbe können übereinstimmen; sie brauchen es aber nicht. Die Anwendung einer einheitlichen amtlichen Gebührenordnung kann erfolgen, sie ist aber nicht gesetzlich zwingend vorgesehen. Bei der kassenärztlichen Vergütung galt als Maßstab die amtliche Gebührenordnung für Ärzte vom 18. März 196529 vom 1. A p r i l 196530 an. Abrechnungsmaßstab, Vergütungsmaßstab und Verteilungsmaßstab wurden hiernach verschieden ausgestaltet 31 . Zum 1. Januar 1971 trat eine Veränderung ein. Seit diesem Zeitpunkt gilt eine allgemein verbindliche Anlage zum Bundesmantelvertrag für Ärzte (BMV Ä), der eine einheitliche Bewertung i m ganzen Bundesgebiet vorsieht, „so daß sich ein einheitlicher Abrechnungs- und Bewertungsmaßstab (BMÄ) ergab, der allgemein gleichzeitig i m wesentlichen Inhalt der Verteilungsmaßstäbe wurde" 3 2 . d) § 368 f Abs. 3 RVO gibt neben diesen Berechnungsarten die Möglichkeit, daß die Gesamtvergütung auch nach einem System berechnet wird, das sich aus der Verbindung mehrer Berechnungsarten ergibt 3 3 . 3. D i e Möglichkeiten
und
Grenzen
der gemeinsamen
Gestaltung
des
Kassenarztrechts bei Normenverträgen werden i m kassenärztlichen Kollektivvertragssystem des § 368 g RVO näher umrissen. a) Danach gibt es drei Stufen von Kollektivverträgen: den Gesamtvertrag, den Landes- und den Bundesmantelvertrag. aa) Der Gesamtvertrag setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Sein allgemeiner Inhalt w u r d durch die Bundes- und Mantelverträge bestimmt (§ 368 g Abs. 2 S. 2, 3 RVO), sein „besonderer Inhalt", also A r t und Höhe der Gesamtvergütung gemäß § 368 f RVO, durch die Vereinbarungen der Gesamtvertragspartner. Vertragspartner sind hierbei 28
HeinemannfLiebold, § 308 f RVO, Anm. 2. BGBl. I S. 89; für Zahnärzte: Gebührenordnung für Zahnärzte vom 18. 3.1965 (BGBl. I S. 123). 30 Bis zum 31. März 1965 galt die Preußische Gebührenordnung (PreuGO). 31 HeinemannfLiebold, zu § 368 f Anm. 2. 32 HeinemannfLiebold zu § 368 f Anm. 2. 33 Zur Verbindung mehrerer Berechnungsarten vgl. Peters, Anm. 9 zu § 368 f RVO. 29
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grundsätzlich die Kassenärztliche Vereinigung einerseits und die Krankenkassen andererseits. Lediglich die überregionalen Krankenkassen schließen gemäß §§ 368 g Abs. 3 RVO den Gesamtvertrag mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. A u f der Kassenseite kann gemäß § 414 e Buchst, c RVO ebenfalls ein Verband, einer der Landesverbände der Orts-, Innungs- und Betriebskrankenkassen, tätig werden. Ein Landesverband w i r k t hier aber nur als Stellvertreter der einzelnen Kasse, die selbst Vertragspartnerin bleibt 3 4 . bb) Die obligatorischen Bundesmantelverträge werden zwischen den Kassenärztlichen Bundesvereinigungen und den Bundesverbänden der Krankenkassen geschlossen, die fakultativen Landesmantelvertrüge werden von den Kassenärztlichen Vereinigungen m i t den Landesverbänden der Krankenkassen vereinbart (vgl. § 368 g Abs. 2, S. 2, 3 RVO). I m Verhältnis zu einander erweist sich der Landesmantelvertrag als ein Teil des Bundesmantelvertrags, indem er den vom Bundesmantelvertrag vorgegebenen Rahmen nach Maßgabe bezirklicher Bedürfnisse ergänzt 35 . I m Verhältnis zum Gesamtvertrag sind beide Mantelverträge als übergeordnete Einheit zu sehen, die den „allgemeinen Inhalt der Gesamtverträge" (§ 368 g Abs. 2 S. 2 RVO) unmittelbar bindend 3 6 festsetzen und damit den Rahmen für den Abschluß von Gesamtverträgen bilden. Der unbestimmte Rechtsbegriff des „allgemeinen Inhalts" läßt sich definieren als die Summe der Regelungen, „die für alle von diesen Regelungen Betroffenen aus der Natur der Sache heraus gleich sein sollten und gleich sein können" 3 7 . Daher sind i n die Mantelverträge alle die Bestimmungen aufzunehmen, die i m Interesse einer gleichmäßigen kassenärztlichen Versorgung einheitlich gehalten werden müssen. Daraus ergibt sich i m Anschluß an Heinemann - Liebold 3 8 folgende Dreiteilung der Verträge: (a) „Alles, was allgemein, d. h. gleichmäßig, für das ganze Bundesgegebiet regelbar ist und i m Interesse der gleichmäßigen kassenärztlichen Versorgung einheitlich geregelt werden sollte, ist i n den Bundesmantelverträgen zu vereinbaren; (b) alles, was nur gleichmäßig für einen Bezirk, d. h. ein Land, regelbar ist und gleichmäßig geregelt werden sollte, ist i n ergänzenden Landesmantelverträgen zu vereinbaren, und 34
Vgl. Verf., in SGb 1969, S. 83. Vgl. Verf., in SGb 1969, S. 85. 36 Vgl. Peters, Anm. 10 b zu § 368 g RVO. 37 Heinemann/Liebold, Anm. 11 zu § 368 g RVO. — Zur „Natur der Sache" und ihrer Akzessiorität zu den für ihre Gestaltung vorgegebenen Ideen und Entscheidungen vgl. G. u. E. Küchenhoff, Allgemeine Staatslehre, 7. Aufl. 1971, S. 157 f.; G. Küchenhoff, Rechtsbesinnung, 1973, S. 411 f., 529. 38 Ebenda, Anm. 11 zu § 368 g RVO. 35
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(c) was von diesen Verträgen nicht erfaßt werden kann, weil es auf Grund gesetzlicher Bestimmung ausdrücklich den örtlichen Vertragspartnern vorbehalten ist oder aus der Natur der Sache heraus nur unter Berücksichtigung der örtlichen s p e z i e l l e n Verhältnisse geregelt werden kann, ist zusätzlich von den Gesamtverträgen zu regeln". b) Gegenstand der Normenverträge des Kassenarztrechts ist gemäß § 368 g Abs. 1 RVO die gleichmäßige, ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Kranken und die allgemeine Vergütung der ärztlichen Leistungen unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage der Krankenkassen. Die schwierige Aufgabe der Vertragspartner aller Ebenen besteht darin, die zum Teil divergierenden Interessen der Krankenkassen und der Kassenärzte miteinander i n Einklang zu bringen. Dieser Ausgleich muß auf der Grundlage und i m Rahmen der gesetzlichen Vorschriften (§§ 368 Abs. 2, 368 d - f RVO) und der Richtlinien der Bundesausschüsse (§§ 368 ο, ρ RVO) erfolgen. So w i r d die primäre Rechtsgestaltung durch den Bundesgesetzgeber, der eine große Zahl unbestimmter Rechtsbegriffe m i t Beurteilungsspielraum verwendet (vgl. i n § 368 g Abs. 1 RVO die Begriffe „gleichmäßig", „ausreichend", „zweckmäßig", „wirtschaftlich", „angemessen"), i n einer zweiten Stufe durch Richtlinien 3 9 des Bundesausschusses als eines gemeinsamen Organs der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Bundesverbände der Krankenkassen erläutert und i n der dritten Ebene durch die Normenverträge über die Bundes- und Landesmantelverträge bis hin zum Gesamtvertrag der einzelnen Krankenkassen und der einzelnen Kassenärztlichen Vereinigung i n gemeinsamer gesetzesausfüllender Rechtsgestaltung der Vertragspartner konkretisiert 4 0 . Oberster Grundsatz für das gemeinsame Wirken der Vertragspartner ist dabei das Gebot „vertrauensvoller Zusammenarbeit". Dieses Prinzip, vom Gesetz selbst i n § 368 g Abs. 5 RVO als Aufgabe der paritätisch besetzten Vertragsausschüsse bei Durchführung der Verträge genannt, beherrscht das gesamte Recht der gemeinsamen Selbstgestaltung. Wie i n der Betriebsverfassung der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit der betriebsgestaltenden Kräfte Arbeitgeber und Betriebsrat seiner grundlegenden Bedeutung entsprechend an zentraler Stelle normiert ist 4 1 , führt er i m Kassenarztrecht zum Prinzip der Partnerschaft der Verbände als Vorstufe des Solidaritätsprinzips 42 . 39 Die Rechtsnatur dieser Richtlinien ist umstritten. Nach der einen A n sicht handelt es sich um Rechtsnormen, so Krauskopf, Das Kassenarztrecht, 2. Aufl. 1968, S. 31 und Hess/Venter, Das Gesetz über Kassenarztrecht, 1955, S. 308, während die herrschende Meinung den Normcharakter leugnet, vgl. ζ. B. Heinemann/Lieb old, Anm. 3 zu § 368 a u. Anm. 3 zu § 368 p, Peters, Anm. 3 u. 5 zu § 368 p. 40 Vgl. dazu auch Heinemann/Lieb old, Anm. 1 zu § 368 g RVO. 41 Vgl. § 2 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz vom 15.1.1972, BGBl. I S. 13.
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c) Auch i n der untersten Stufe dieses Systems zeigt sich die gemeinsame Selbstgestaltung. Hier werden ebenfalls abstrakte Regelungen und somit Rechtsnormen gesetzt. Dies gilt sowohl für die Gesamtverträge wie für die Mantelverträge. Der Rechtsnormencharakter der Gesamtverträge folgt schon aus § 368 a Abs. 4 letzter Halbsatz RVO, wonach „die vertraglichen Bestimmungen über die kassenärztliche Versorgung (§ 368 g)" für den Kassenarzt verbindlich sind. Danach sind die Gesamtverträge nicht nur obligatorischer, d. h. nur die Vertragspartner bindender, sondern normativer Natur, da sie auch außenstehende Personen berechtigen und verpflichten. Diese unmittelbare, über den Vertragspartner hinausgehende Verbindlichkeit von Vorschriften für dritte Personen ist das Wesensmerkmal einer Rechtsnorm. Nur ein Gesetz i m materiellen Sinn kann unmittelbar verbindliche, allgemeine Rechtswirkungen enthalten 4 3 . Diese Überlegungen gelten i n gleicher Weise für die Mantelverträge, da auch sie zu den „vertraglichen Bestimmungen" i m Sinne des § 368 a Abs. 4 letzter Halbsatz RVO gehören 44 . Die gegen diese Auffassung vor allem von Sieg 45 vorgebrachten Bedenken, wonach die Kassenärztliche Vereinigung bei Abschluß der Gesamtverträge nicht kraft einer ihr verliehenen Rechtsetzungsmacht, sondern als gesetzliche Vertreterin der Kassenärzte handelt, hat das Bundessozialgericht i n seinem klärenden Urteil vom 30. 5. 196946 mit überzeugender Begründung zurückgewiesen. Zum Normenvertrag als Instrument der Regelung der kassenärztlichen Versorgung führt das Gericht aus: „ M i t der Wahl der Vertragsform hat der Gesetzgeber — ähnlich wie i m Tarifvertragsrecht — lediglich die gleichberechtigte Beteiligung beider Seiten an der Normsetzung sichern wollen . . . Daß i m übrigen i m Vertrags- bzw. Vereinbarungswege Recht gesetzt werden kann, ist auch sonst nicht ungewöhnlich . . . Soweit hiernach die Vertragspartner auf Grund von der „ihnen gemeinsam erteilten Rechtsetzungsermächtigung" (BSG 28, 75 Mitte) Gebrauch machen, sie also nicht nur schuldrechtliche Verpflichtungen i m Verhältnis zueinander 42 Zum Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit im Betriebsverfassungsrecht vgl. Verf. in Betriebsverfassungsgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 1974, Einleitung S. 4 sowie Anm. 4 zu § 2. 43 Vgl. Verf. in SGb 1969, S. 85. 44 Vgl. ferner § 368 m Abs. 2 RVO sowie dazu BSG, Urt. v. 21. 9.1967, BSGE 27, 146, 150; Urt. v. 28.5.1968, BSGE 28, 73, 75; Urt. v. 30.5.1969, BSGE 29, 254, 257. 45 Einige Probleme zu den Gesamtverträgen zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen, SGb 1965, S. 289 f. 48 BSGE 29, 254 ff.
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begründen . . . , schaffen sie für die ihrer Rechtsetzungsmacht Unterworfenen objektives Recht" 47 . Die Mantelverträge binden als Normenverträge nicht nur die Kassenärzte 48 , sondern auch die Kassenärztlichen Vereinigungen, soweit sie Adressaten der Regelung sind 4 9 . Auf diese Weise w i r d der „allgemeine Inhalt der Gesamtverträge" inkorporiert, ohne daß hierüber eine zusätzliche Vereinbarung erforderlich wäre. Innerhalb eines derartig gestaffelten Normenvertragssystems erhebt sich die Frage nach den Folgen einer Kollision verschiedenrangiger Normenverträge sowie der Normenverträge mit anderen Rechtssätzen. Sowohl für die Mantelverträge wie für die Gesamtverträge ist insoweit der Gesetzesvorrang gemäß Art. 20 Abs. 3 GG maßgebend. Demnach dürfen die Mantelverträge nicht gegen die Verfassung oder ein übergeordnetes formelles Gesetz, hier insbesondere § 368 g Absatz 1 u. 2 RVO, verstoßen, die Gesamtverträge dürfen darüber hinaus den ihnen durch die Mantelverträge vorgegebenen Rahmen nicht durchbrechen. Anderenfalls sind diese Verträge fehlerhaft und damit unwirksam 5 0 . Prozessual ist dabei zu beachten, daß für eine von einem konkreten Sachverhalt losgelöste abstrakte Normenkontrollklage i n der Sozialgerichtsbarkeit — anders als nach § 47 VwGO i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit — kein Raum ist 5 1 . V. Ergänzend — ganz i m Sinne des Subsidiaritätsprinzips — t r i t t zu der gemeinsamen Autonomie der Verbände die Gestaltungsbefugnis der Schiedsämter. 1. Rechtsgrundlagen des Schiedsamtwesens sind die §§ 368 h, i RVO i n Verbindung mit der auf Grund des Absatzes 5 von § 368 i RVO erlassenen Schiedsamtsordnung vom 28. 5.1957 52 . Danach w i r d die korporative Regelungsbefugnis der Verbände durch die überkorporative Re47
Ebenda, S. 256. Vgl. oben Anm. 36. 49 Vgl. BSG, Urt. v. 30. 5.1969, BSGE 29, 254, 258. 50 Vgl. dazu im einzelnen Verf. in SGb 1969, S. 85 f. 51 Vgl. BSG, Urt. v. 24.9.1968, BSGE 28, 224, 225; v. 30.5.1969, BSGE 29, 254, 258 f. Nach der erstgenannten Entscheidung S. 255, gilt das nicht nur, wenn mit der Klage ausdrücklich die Feststellung der Nichtigkeit einer Norm beantragt wird, sondern auch dann, wenn die Gültigkeit der Norm zwar formal nur Vorfrage ist, die Hauptfrage — der prozessuale Streitgegenstand — jedoch ebenfalls keine Beziehung zu einem konkreten Anwendungsfall der Norm aufweist. 152 BGBl. I S. 570. 48
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gelungsbefugnis der Bundesschiedsämter und Landesschiedsämter ergänzt. Ihnen kommt die Aufgabe zu, eine Einigung über den Inhalt der Normenverträge (Landesschiedsämter: Gesamt- und Landesmantelverträge; Bundesschiedsämter: Bundesmantelverträge, vgl. § 368 i Abs. 4 RVO) herbeizuführen, und, wenn dies nicht fristgemäß gelingt, einen Vermittlungsvorschlag zu machen. W i r d dieser von den Vertragsparteien nicht innerhalb einer Monatsfrist nach Zustellung angenommen, dann setzt das Schiedsamt innerhalb von drei Monaten den Inhalt des Vertrages gemäß § 368 h Abs. 1 S. 3 mit „RechtsWirkung einer vertraglichen Vereinbarung i m Sinne des § 368 g Abs. 2 u. 3" fest. Zu einem derartigen Schiedsspruch kommt es sowohl dann, wenn bisher kein Vertrag vereinbart war, wie auch dann, wenn nach wirksamer Kündigung des alten Vertrages ein neuer nicht zustande gekommen ist, § 368 h Abs. 1, 2 RVO. 2. Bundes- und Landesschiedsämter werden i n gemeinsamer Selbstverwaltung von den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Verbänden der Krankenkassen gebildet; die Bundesschiedsämter von den jeweiligen Bundes-, die Landesschiedsämter von den jeweiligen Landeskorporationen. Wie aus § 368 i RVO weiter hervorgeht, bestehen die Bundes- wie die Landesschiedsämter aus einem Vorsitzenden mit der Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst, sowie aus Vertretern der Ärzte und der Krankenkassen in gleicher Zahl (je zwei). Während die Vertreter der beteiligten Korporationen von diesen bestimmt werden, soll der Vorsitzende i m Übereinkommen der Verbände bestellt werden. Wird keine Einigung erzielt, so entscheidet das Los. 3. Das Instrument der g e m e i n s a m e n Selbstgestaltung auf der — subsidiären — Ebene der Schiedsämter sind die Schiedssprüche. W i l l man ihre Rechtsnatur bestimmen, so müssen drei Fragen beantwortet werden: a) Welche Rechtsnatur haben die Schiedsämter? b) Welchen Rechtswert hat der Schiedsspruch? c) Welche Wirkungen gehen von i h m aus? Zu a): Es ist unbestritten, daß die Schiedsämter keine besonderen Gerichte sind. Ihre Aufgabe ist nicht Rechtsfindung, sondern vorwärtsblickende gestaltende Tätigkeit i m Sinne einer Friedensregelung 53 . Sie sind daher Verwaltungsbehörden besonderer A r t , wobei die Besonder-
53 Vgl. BSG, Urt. v. 30.10.1963, BSGE 20, 73, 76 sowie Verf. in SGb 1969, S. 86 m. w. N. in Anm. 35, 36.
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heit vor allem i n der verbindlichen gemeinsamen Regelung gemeinsamer Aufgaben zu finden ist 5 4 . Zu b): Ist damit klargestellt, daß der Schiedsspruch als A k t einer Verwaltungsbehörde kein richterlicher A k t ist, so bleibt aber noch offen, ob er einen Verwaltungsakt oder, was auf Grund der Normennatur der Verträge, die er ersetzt, nahe liegen könnte, eine Rechtsnorm darstellt. Diese Frage ist nach dem Inhalt des Schiedsspruches und dem von i h m angesprochenen Personenkreis dahin zu beantworten, daß er als konkrete Regelung, die sich ausschließlich an die beiden Partner des Gesamtvertrages richtet, i m Verhältnis zu ihnen nur Verwaltungsakt sein kann 5 5 . Diese Qualifizierung des Schiedsspruchs als Verwaltungsakt w i r d durch die gesetzlichen Vorschriften der §§ 70 Ziff. 4, 71 Abs. 4 SGG bestätigt, wonach die Schiedsämter am Verfahren vor dem Sozialgericht beteiligt werden können. Da dies regelmäßig in der Stellung als Beklagter geschieht, das Schiedsamt aber nur dann Beklagter sein kann, wenn der Schiedsspruch ein Verwaltungsakt ist, ist dies ein I n diz dafür, daß der Gesetzgeber den Schiedsspruch als Verwaltungsakt ansah und behandelt wissen wollte 5 6 . Zu c): Dem steht nicht entgegen, daß der Schiedsspruch die Aufgabe hat, einen nicht oder nicht mehr bestehenden Gesamtvertrag zu ersetzen. Dadurch hat der Schiedsspruch i m Verhältnis zu den Verbandsangehörigen und deren Mitgliedern dieselbe Bedeutung wie die Gesamtverträge, die er ersetzt. Auch durch die Schiedsämter werden infolgedessen Normen i m materiellen Sinne geschaffen 57 . Insofern liegt keine gemeinsame Selbstverwaltung, sondern eine gemeinsame Selbstgestaltung i m Wege der Normensetzung vor. VI. Während die erste Phase i n der Festsetzung des Kassenarzthonorars von der Krankenkasse und der Kassenärztlichen Vereinigung primär durch Normenverträge und subsidiär durch Schiedssprüche gemeinsam gestaltet wird, konkretisiert die Kassenärztliche Vereinigung i n der zweiten Stufe den vom staatlichen Gesetzgeber i n § 368 f Abs. 1 S. 4 und 5 RVO vorgegebenen Rahmen zur Verteilung des Kollektivhonorars unter die einzelnen Kassenärzte in alleiniger Autonomie. 54 Zum Unterschied der Schiedsämter von sonstigen Schiedsstellen und Schlichtungsstellen vgl. Peters, Anm. 3 b, c zu § 368 h RVO. 55 Vgl. Fauvet, S. 74. 56 Vgl. dazu im einzelnen Verf., Gesamtverträge und Schiedssprüche im Kassenarztrecht, in: Festschrift für Erich Molitor, 1962, S. 279. 57 Vgl. Verf., wie vorige Anm. S. 280 sowie in SGb 1969, S. 86.
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1. Auch i n diesem Bereich w i r d Recht gestaltet, denn die Honorarverteilungsmaßstäbe sind Normen 5 8 . Anders als beim Abschluß der Gesamtverträge als Normenverträge ist die Krankenkasse hier nicht als Vertragspartner und damit als gleichberechtigter Normgeber, wohl aber als Ratgeber beteiligt. Dies folgt aus der Vorschrift des § 368 f Abs. 1 S. 3 RVO, wonach die Kassenärztliche Vereinigung die Gesamtvergütung nach dem Maßstab verteilt, den sie i m Benehmen mit den Verbänden der Krankenkasse festgesetzt hat. 2. Dieses „Benehmen" wurde von der früheren Rechtsprechung als unverbindliche Fühlungnahme verstanden mit der Folge, daß sein Fehlen nicht die alleinige Entscheidungsbefugnis der Kassenärztlichen Vereinigung und auch nicht die Rechtsverbindlichkeit des Honorarverteilungsmaßstabes beeinträchtigte 59 . Das Bundessozialgericht hat jedoch i n seinem Urteil vom 21.1.1969 60 diese das Wesen der M i t w i r k u n g i m Normsetzungsverfahren verkennenden Ansicht korrigiert und i n überzeugender Weise dargelegt, daß die Herstellung des Benehmens zwar kein Einvernehmen der Beteiligten erfordere, aber gleichwohl unabdingbare Voraussetzung für das Wirksamwerden des Honorarverteilungsmaßstabes sei. Zum Inhalt des „Benehmens" führt das Gericht an gleicher Stelle aus 61 : „Stärker als die Anhörung setzt das Benehmen eine Fühlungnahme voraus, die von dem Willen getragen wird, auch die Belange der anderen Seite zu berücksichtigen und sich mit ihr zu verständigen (ähnlich BVerwG 11, 195, 200; Fickert, DVB1. 1964, 173; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 17. Aufl., § 368 f. Anm. 13 b). Das bedeutet, daß die Stelle, die die Norm zu erlassen hat, erhebliche Einwände oder Bedenken der anderen beteiligten nicht einfach „zu den Akten legen" darf, sondern sich mit ihnen „an einen Tisch setzen" muß, um die aufgetretene Differenz nach Möglichkeit a b z u gleichen."
Aus diesem Verständnis der M i t w i r k u n g der Krankenkasse bei der Festlegung der Honorarverteilungsmaßstäbe der Kassenärztlichen Vereinigung folgt zweierlei: Zum einen, daß die Krankenkassen als Ratgeber der Kassenärztlichen Vereinigung berufen sind, zum Zwecke einer Einigung gehört zu werden; so erweist sich § 368 f Abs. 1 S. 3 RVO als Ausfluß des im gesamten Staats- und Verwaltungsrechts, aber auch im Arbeitsrecht wirkenden Ratsprinzips 62 ; 58 So insbesondere die sozialgerichtliche Rechtsprechung, vgl. oben Anm. 15; die Frage noch offenlassend BGH, Urt. v. 13. 3.1956 in Ärztl. Mitteilungen 1956, S. 957, linke Spalte. 59 Vgl. Urt. des LSG Darmstadt v. 3. 6.1957, in Ärztl. Mitteilungen 1957, S. 816. 60 BSGE 29, 111 ff. 61 BSGE 29, 111, 113. 62 Zum Ratsprinzip vgl. Verf., Rechtsbesinnung, 1973, S. 298 ff.; Die Betriebsräte als Räte im Betrieb, ein Beitrag zum Ratsprinzip im Verfassungs-
Gemeinsame Selbstgestaltung (Autonomie) i m Kassenarztrecht
847
zum anderen, daß Entscheidungsträgerin die Kassenärztliche Vereinigung ist, da das wirksame Zustandekommen der Norm nicht von einer Willensübereinstimmung der erlassenden und der beteiligten Stelle abhängt. Denn, so führt das Bundessozialgericht weiter aus, „wenn sich bei der Fühlungnahme zwischen der K Ä V und den Kassenverbänden allerdings Meinungsunterschiede ergeben, die nicht zu überbrücken sind, muß letztlich der Wille der K Ä V als derjenigen Stelle, die das Honorar zu verteilen und die Verteilung normativ zu regeln hat, den Ausschlag geben" 63 .
3. Daher ist es berechtigt, diese Form der Selbstgestaltung mit notwendiger, aber begrenzter Gestaltungsteilhabe eines Ratgebers nicht als gemeinsame Selbstgestaltung i n der oben I dargelegten Weise zu bezeichnen, sondern als Form der Mit-Gestaltung, die zwischen der alleinigen und der gemeinsamen Selbstgestaltung angesiedelt ist 6 4 .
VII. Die vorstehenden Darlegungen haben das Kassenarztrecht als einen Modellfall gemeinsamer Selbstgestaltung gezeigt. Zusammengefaßt ergeben sich hieraus Prinzipien, die über das Kassenarztrecht hinausgreifende allgemeine Einsichten zum Verständnis gemeinsamer Selbstgestaltung vermitteln: 1. Grundlage jeder Selbstverwaltung und Selbstgestaltung ist das Subsidiaritätsprinzip, wonach die jeweils größere Einheit eine Aufgabe erst dann übernehmen darf, dann aber auch muß, wenn ihre Erfüllung die Kräfte der jeweils kleineren Einheit übersteigen. Hierauf beruht nicht nur die Zuständigkeit der Verbände des Kassenarztrechts zur gemeinsamen Selbstverwaltung insbesondere des Zulassungswesens, sondern vor allem auch das Recht zur gemeinsamen Selbstgestaltung. Dies bedeutet umgekehrt, daß es dem Staat nicht nur versagt ist, dort zu verwalten, wo die Verbände selbst verwalten können, sondern auch, daß seine Befugnis, Recht zu setzen und damit die Rechtsverhältnisse der Beteiligten abstrakt-generell zu gestalten, dort endet, wo dies den Verbänden aus eigener K r a f t möglich ist. Innerhalb der Selbstgestaltungsbefugnis der Verbände ist die gemeinsame Selbstgestaltung wiederum der alleinigen Selbstgestaltung gegenüber subsidiär. Demnach recht, in RdA 1962, S. 372, und Kommentar zum Betriebsverfassungsrecht, 1974, Einleitung S. 8. 63 BSGE 29, 111, 113. 84 Dem entspricht es, daß nach der Rspr. des BSG die Krankenkassen an der Verteilung der Gesamtvergütung unter die Kassenärzte nicht „beteiligt" i. S. des § 77 SGG und deshalb grundsätzlich nicht an die Honorarbescheide der Kassenärztlichen Vereinigungen gebunden sind, vgl. BSG, Urt. v. 18. 2. 1970, BSGE 31, 24, 28.
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stehen i m Kassenarztrecht folgende Rechtsträger zueinander i m Verhältnis der Subsidiarität: Einzelverbände mit Satzungsrecht — gemeinsam wirkende Verbände m i t Normenvertragsrecht — Staat m i t Gesetz — und Verordnungsgebungsbefugnis. 2. Inhalt der gemeinsamen Selbstgestaltung ist i m Arztrecht die kassenärztliche Versorgung, insbesondere das Recht der Honorarvereinbarungen. Demgegenüber steht die Honorarverteilung zwischen der alleinigen und der gemeinsamen Selbstgestaltung. Es w i r k t jedoch auch die prägende Kraft des Ratsprinzips, das i n der Gestalt des genossenschaftlichen Ratsprinzips jedes Zusammenwirken i n gemeinsamer Selbstgestaltung beherrscht. Das auch vom Gesetz geforderte vertrauensvolle Zusammenwirken der beteiligten Verbände verweist auf das Prinzip der Solidarität, das als Grundsatz wechselseitiger Fürsorge, Treue und Rücksicht nicht nur vertikal zwischen dem Staat und den dar i n befindlichen Menschen, Gesellungen und Verbänden w i r k t , sondern auch zwischen Gleichgestellten und dort in gemeinsamer Anspannung der Kräfte zur Gemeinsamkeit der Gesamthaltung und damit zur Solidarität der miteinander Wirkenden führt 6 5 . 3. Typisches Mittel gemeinsamer Selbstgestaltung ist der Normenvertrag, der dem Satzungsrecht bei alleiniger Autonomie entspricht. Der Vertrag ist das rechtstechnische Instrument, das überall dort verwendet wird, wo ein Ausgleich widerstreitender Interessen herbeizuführen ist. Er ist nicht auf die Regelung konkreter Einzelfälle beschränkt (in der Rechtsform des „öffentlich-rechtlichen" Vertrages), sondern eignet sich i n gleicher Weise für abstrakte, Rechts- und Lebensverhältnisse pro futuro gestaltende Entscheidungen. Das Normenvertragssystem w i r d abgesichert durch eine andere Form gemeinsamer Selbstgestaltung: die Schiedssprüche, die i m Gewände eines Verwaltungsakts materiell normative Wirkungen auslösen. Diese i n gemeinsamer Selbstverwaltung eingerichteten Schiedsämter sind damit nicht nur Garanten für ein lücken- und reibungsloses Funktionieren der kassenärztlichen Versorgung, sondern zugleich Beispiel einer gemeinsamen, den vom Subsidiaritätsprinzip gesetzten Rahmen voll ausschöpfenden Selbsthilfe innerhalb der gemeinsamen Selbstgestaltung.
65 Vgl. zum Verhältnis von Subsidiarität und Solidarität Verf., Subsidiarität und Solidarität im Betriebsverfassungsrecht, Der Betrieb, 1967, S. 765 ff.
X I . Kommunalverwaltung Verwaltungs- und Gebietsreform Raumordnung
54 Festschrift f ü r W e r n e r W e b e r
Die Entwicklung des kommunalen Selbstverwaltungsgedankens und seine Bedeutung in der Gegenwart Von Klaus Lange
I. Das u n h s i o ts r ic h eV e r s ä tn d n s i k o m m u n a e l rS e b ls v te r w a u t ln g Werner Weber hat wiederholt nachdrücklich auf die Veränderungen hingewiesen, denen kommunale Selbstverwaltung i m Lauf der Geschichte unterworfen gewesen ist. I n seiner Abhandlung über „Gegenwartsprobleme der Verwaltungsordnung" hat er darauf aufmerksam gemacht, daß die m i t dem Namen des Freiherrn vom Stein dauerhaft verflochtene Selbstverwaltungsinstitution heute nicht mehr von der bürgerschaftlichen Beteiligung getragen werde, die ihr ursprünglich entsprochen habe 1 . I n seiner Untersuchung der „Wandlungen der Kommunalverwaltung" hat er hervorgehoben, daß die kommunale Selbstverwaltung zwar aus dem demokratischen Machtergreifungskampf des Bürgertums gegen den monarchischen Staat erwachsen sei, daß aber m i t dem Wegfall der alten Staatsverwaltung und der politischen Kraft des ständisch geschlossenen staatlichen Berufsbeamtentums dem Dualismus von Staats- und Selbstverwaltung die frühere historisch-politische Grundlage endgültig genommen sei 2 . Diese Hinweise auf Änderungen der sachlichen und ideengeschichtlichen Grundlagen der kommunalen Selbstverwaltung scheinen weniger tief i n das allgemeine Bewußtsein gedrungen zu sein, als notgetan hätte. Die herrschende Meinung orientiert sich bei der Bestimmung der A n gelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft i m Sinne des A r t . 28 Abs. 2 GG noch immer weitgehend an dem historisch überkommenen Bestand 3 , ohne einen möglichen Bedeutungswandel der kommunalen Selbstverwaltung i n größerem Umfang i n Rechnung zu stellen. Ein i m 1
Werner Weber, Gegenwartsprobleme der Verwaltungsordnung, in: ders., Staats- und Selbstverwaltung in der Gegenwart, 2. Aufl. 1967, S. 17 f. 2 Werner Weber, Wandlungen der Kommunalverwaltung, in: ders., Staatsund Selbstverwaltung in der Gegenwart, S. 61 ff. 3 BVerfGE 1, 167 (178); 7, 358 (364); 17, 172 (182); 22, 180, (205); Maunz in Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 28 Rdnr. 30; zurückhaltender Stern in Bonner Kommentar, Art. 28 (Zweitbearbeitung) Rdnr. 87. 54*
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Jahre 1963 veröffentlichtes Standardlehrbuch des Gemeinderechts verbindet m i t der kommunalen Selbstverwaltung neben Heimatliebe und Bürgerstolz bedenkenlos die ganze Ideenwelt des Freiherrn vom Stein m i t Bürgersinn, Verantwortungsbereitschaft und dem Schutz vor dem „zudringliche(n) Eingreifen der Staatsbehörden i n Privat- und Gemeindeangelegenheiten" 4 . A u f der anderen Seite w i r d die Gemeinde als eine A r t demokratischen Urelements gefeiert 5 , ohne daß die historische oder gegenwärtige Berechtigung dieses Attributs m i t einiger Deutlichkeit nachgewiesen wäre. Damit zeigt sich eine i m Vergleich besonders zur Weimarer Zeit erstaunlich unreflektierte Einstellung zur kommunalen Selbstverwaltung. I n Wirklichkeit muß es sowohl für den Umfang der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie als auch für die Interpretation subkonstitutioneller kommunalrechtlicher Normen darauf ankommen, ob kommunale Selbstverwaltung einen geschichtlich tradierten Sinn behalten hat oder was sonst ihr Sinn heute ist. Dem soll i m folgenden nachgegangen werden.
II. S t a a t s o r e in e t ir t e S n in g e h a e t l k o m m u n a e l r S e b ls v te r w a u t ln gm i 19. J a h r h u n d e r t 1. Die Anschauung des Freiherrn
vom Stein
Die gestellte Frage verlangt einen Rückgriff auf die traditionellen Sinngehalte der kommunalen Selbstverwaltung. Dabei liegt es nahe, m i t dem Reformwerk des Freiherrn vom Stein zu beginnen, das allgemein als Markstein i n der Entwicklung der modernen kommunalen Selbstverwaltung angesehen wird 6 . Das Steinsche Reformprogramm zielte auf die Beteiligung des Bürgers an den Staatsgeschäften auf allen Ebenen, von den Gemeinden über die Kreise und Provinzen bis zur zentralen Staatsgewalt, hin 7 . Die Gesichtspunkte, die dem zugrunde lagen, lassen sich m i t Dieter Schwab 8 4
Otto Gönnenwein, Gemeinderecht, 1963, S. 39 f. Gönnenwein, S. 32, sowie die Nachweise in Fn. 80. Vgl. Erich Becker, Entwicklung der deutschen Gemeinden und Gemeindeverbände im Hinblick auf die Gegenwart, in: Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, hrsg. v. Hans Peters, Bd. I, 1956, S. 77 ff.; Gönnenwein, S. 12 ff. 7 Vgl. insbes. die „Nassauer Denkschrift", abgedruckt in: Freiherr vom Stein. Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen. Bearb. v. Erich Botzenhart, 1931 ff. (im folgenden lediglich mit der Bandangabe zitiert), Bd. I I , S. 210 ff. Zur Gesamtheit des Steinschen Reformprogramms vgl. Dieter Schwab, Die „Selbstverwaltungsidee" des Freiherrn vom Stein und ihre geistigen Grundlagen, 1971, S. 12. 8 Schwab, S. 13. 5
6
Entwicklung des kommunalen Selbstverwaltungsgedankens
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i n zwei Grundgedanken gliedern, nämlich i n a) die Belebung des Gemeingeistes zur moralischen Vervollkommnung der Bürger und b) die Verbesserung von Regierung und Verwaltung. Beide Elemente stehen allerdings keineswegs unverbunden nebeneinander. a) Den Zweck des Staates sieht Stein i n der religiösen, moralischen, geistigen und körperlichen Entwicklung des Menschen 9 . Hierzu findet er i n der Beteiligung zwar durchaus nicht aller Gemeindeeinwohner, aber der Eigentümer an der Verwaltung das geeignete Mittel. Indem den Kräften der Nation damit eine Richtung auf das Gemeinnützige gegeben wird, werden sie, wie Stein i n der „Nassauer Denkschrift" ausführt, vom müßigen sinnlichen Genuß oder von leeren Hirngespinsten der Metaphysik oder von der Verfolgung bloß eigennütziger Zwecke abgelenkt; die Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre werden wiederbelebt 10 . A u f diese Weise verbindet Stein die Sorge für die moralische Vervollkommnung der Menschen, die Anschauungen des 18. Jahrhunderts durchaus entsprach 11 und daher nicht nur als Scheinargument beiseite geschoben werden darf, m i t der Mobilisierung der Bezugspersonen für das i n der Staatstätigkeit zu realisierende Gemeinwohl. b) Die i n dem eben genannten Punkt schon durchschimmernde Staatsorientiertheit Steins kommt noch deutlicher i n den verschiedenen Elementen kommunaler Selbstverwaltung zum Ausdruck, die nach Stein der Verbesserung von Regierung und Verwaltung dienen. aa) Zunächst weist Stein auf die Vorteile hin, die eine Beteiligung der Eigentümer an der Verwaltung für die Lebensnähe und Beweglichkeit der Verwaltung hätte. So heißt es i n der „Nassauer Denkschrift": „Der Formenkram und Dienst Mechanism i n den Collégien w i r d durch Aufnahme von Menschen aus dem Gewirre des praktischen Lebens zertrümmert, und an seine Stelle t r i t t ein lebendiger, fort strebender schaffender Geist, und ein aus der Fülle der Natur genommener Reichthum von Ansichten und Gefühlen 1 2 ." Ähnlich ist i n Steins „Aufsätzen und Bemerkungen über mancherley Gegenstände" die Rede von der Tätigkeit des Bürgers, „der nicht i n Formen und Papier lebt, sondern kräftig handelt, weil i h n seine Verhältnisse i n das würkliche Leben hinrufen und zur Theilnahme an dem Gewirre der menschlichen Angelegenheiten nöthigen" 1 3 . 9
Brief an Kunth, 8.11.1821, Bd. V I , S. 44. Bd. I I , S. 221, 227. 11 Zu der Verbindung mit der englischen und schottischen Moralphilosophie vgl. Schwab, passim. 12 Bd. I I , S. 227. 13 Bd. I I I , S. 524 f. 10
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bb) Einen gewissen Zusammenhang mit der angesprochenen personellen Verbesserung der Verwaltung hat der Umstand, daß Stein unter Berufung auf d'Ivernois von der Übernahme eines Teils der Verwaltungsaufgaben durch ehrenamtlich tätige Eigentümer eine wesentliche Kostenersparnis der Verwaltung erwartet 1 4 . cc) Grundsätzlichere Bedeutung hat die Stärkung des Staates, die sich Stein von der Aktivierung der Bürger verspricht. Wiederholt hat Stein die Auffassung vertreten, daß ein Herrscher nicht gegen den W i l len seines Volkes wirksam regieren könne, sondern auf dessen Zustimmung angewiesen sei. So hat er i m Immediatbericht vom 23. November 1807 vor den Folgen einer Trennung von Staatsverwaltung und Nation gewarnt 1 5 . Daß die M i t w i r k u n g der Eigentümer an der Verwaltung den für notwendig erachteten „Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der Staats Behörden" zu fördern geeignet sei, hebt Stein in der „Nassauer Denkschrift" ausdrücklich hervor 1 6 , und er betont zugleich, daß dadurch die Möglichkeit geschaffen werde, „ein gut gebildetes Organ der öffentlichen Meynung zu erhalten, die man jetzt aus Aeußerungen einzelner Männer oder einzelner Gesellschaften vergeblich zu errathen bemüht ist" 1 7 . c) Stein setzt sein Programm wiederholt auch in Bezug zu einer freiheitlichen Zielsetzung. So heißt es i m Immediatschreiben Steins vom 18. Oktober 1808: „ . . . je pars du principe que Votre Majesté veut reorganiser la monarchie sur les principes de respect pour la liberté des personnes et des propriétés qu'elle a adopté jusqu'ici . . ." 1 8 . I n ähnliche Richtung zielt es, wenn Stein die Teilnahme der Eigentümer an der Staatsverwaltung auch mit den Worten motiviert: „Das zudringliche Eingreifen der Staatsbehörden in Privat und Gemeinde Angelegenheiten muss aufhören.. . " 1 9 oder wenn er i n seiner Denkschrift vom September 1826 „Ueber die Städte Ordnung dd. 11. November 1808" die Störung der inneren Ruhe der Familien rügt 2 0 . Indessen spielt der freiheitssichernde Aspekt der Beteiligung der Eigentümer an der Verwaltung in Steins Äußerungen eine zu beiläufige Rolle, als daß er den vorgenannten Gesichtspunkten an Bedeutung auch nur annähernd gleichkäme. Insgesamt w i r d festgestellt werden müssen, daß die Steinsche Begründung der Beteiligung der Eigentümer an der Verwaltung i m wesentlichen auf das Wohl der staatlichen Gesamtheit ausgerichtet war. 14 15 16 17 18 19 20
„Nassauer Denkschrift", Bd. I I , S. 219. Bd. I I , S. 304. Bd. I I , S. 227. Bd. I I , S. 221 f. Bd. I I , S. 550. Bd. I I I , S. 524. Bd. V I , S. 405.
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2. Die tatsächliche Relevanz der Anschauung des Freiherrn vom Stein Das Reformprogramm des Freiherrn vom Stein hat i n der preußischen Städteordnung vom 19. November 180821 einen — wenn auch unvollständigen — Niederschlag gefunden. Die Städteordnung beschränkte den staatlichen Einfluß auf die Verwaltung der Städte und wies einer unter Aufhebung der Wahl nach Zünften und Korporationen nunmehr aus der gesamten Bürgerschaft nach Stimmbezirken gewählten Stadtverordnetenversammlung die Rolle des städtischen Hauptorgans zu. Unangesessenen Bürgern, die nicht über ein jährliches Mindesteinkommen von 200 bzw. 150 Rthlr. verfügten, stand ein Stimmrecht zur Wahl von Stadtverordneten freilich nicht zu. Wie sehr die Städteordnung unter dem Einflüsse Steins stand, dokumentiert ihr Vorspruch, i n dem es heißt: „Der besonders i n neuern Zeiten sichtbar gewordene Mangel an angemessenen Bestimmungen i n Absicht des städtischen Gemeinwesens und der Vertretung der Stadt-Gemeine, das jetzt nach Klassen und Zünften sich theilende Interesse der Bürger und das dringend sich äußernde Bedürfnis einer wirksamem Theilnahme der Bürgerschaft an der Verwaltung des Gemeinwesens, überzeugen Uns von der N o t wendigkeit, den Städten eine selbständigere und bessere Verfassung zu geben, i n der Bürgergemeine einen festen Vereinigungs-Punkt gesetzlich zu bilden, ihnen eine thätige Einwirkung auf die Verwaltung des Gemeinwesens beizulegen und durch diese Theilnahme Gemeinsinn zu erregen und zu erhalten." Diese Staatsorientiertheit der preußischen Städteordnung zeigt, daß die moderne kommunale Selbstverwaltung nicht nur eine Errungenschaft des liberalen Bürgertums ist, sondern durchaus auch andere Wurzeln hat. Der Liberalismus, so sehr er die weitere Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung bestimmte, setzte sich erst später als die hier geschilderten Einflüsse durch 2 2 . 3. Spätere Vertreter eines staatsorientierten Verständnisses der kommunalen Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert Das primär staatsorientierte Verständnis der kommunalen Selbstverwaltung blieb trotz des baldigen Ausgreifens des Liberalismus nicht auf den Freiherrn vom Stein und die von i h m inspirierte preußische Städteordnung beschränkt. 21
GS 1806 - 1810 S. 324. Vgl. Becker, Entwicklung der deutschen Gemeinden und Gemeindeverbände im Hinblick auf die Gegenwart, S. 82. 22
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Zu den staatsorientierten Interpreten der kommunalen Selbstverwaltung ist vielmehr gerade auch der zu rechnen, der den Begriff der Selbstverwaltung i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts i n Deutschland erst heimisch machte 23 : Rudolf v. Gneist. I n seiner Schilderung des englischen selfgovernment hebt er hervor, daß die Selbstverwaltung das Problem löse, die vielgegliederten Interessen der Gesellschaft zu einem einheitlichen Staatswillen zusammenzufassen. Sie ermögliche die organische Verbindung der Gesellschaft m i t dem Staat 2 4 . Dabei stellt Gneist klar, daß Selbstverwaltung, wie er sie versteht, kein M i t t e l zur Wahrnehmung von Eigeninteressen ist, sondern „der staatliche Gegenorganismus, welcher die gesellschaftlichen Interessen sich unterordnet, vereinigt, und i n stetiger Übung den Menschen zur Erfüllung seiner staatlichen Pflichten zwingt und gewöhnt" 2 5 . Lorenz v. Stein steht der hier verfolgten Linie ebenfalls nicht fern. Er weist darauf hin, daß die Selbstverwaltung das Gefühl der Verantwortlichkeit für das, was innerhalb des Selbstverwaltungskörpers geschehe, erzeuge und damit jeden ansporne, für seinen Teil Unrecht zu vermeiden und sich als einzelner den Störungen des öffentlichen Lebens entgegenzustellen. So sei Selbstverwaltung ein mächtiger ethischer Faktor sowohl der Entwicklung als auch der Erhaltung 2 6 . Zugleich wendet sich Lorenz v. Stein gegen eine, wie er meint, zwar nicht falsche, aber unzulängliche Polarisierung von Staat und Gemeinde 27 . Prononciertere Unterstützung fand das vom Freiherrn vom Stein und von Gneist vertretene Verständnis der kommunalen Selbstverwaltung bei Männern wie Treitschke 28 und Yorck v. Wartenburg, wovon 23 Vgl. Erich Becker, Kommunale Selbstverwaltung, in: Die Grundrechte, hrsg. v. Karl August Bettermann/Hans Carl Nipperdey, Bd. I V , 2, 1962, S. 675; Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, 2. Aufl. 1969, S. 402. 24 Rudolf Gneist, Selfgovernment, 3. Aufl. 1871, S. 71. 25 Gneist, S. 881. Ob Karl Maria Hettlage, Der Gestalt- und Bedeutungswandel der gemeindlichen Selbstverwaltung seit 1919, in: Ordnung als Ziel, Festschrift für Peter van Aubel, hrsg. v. Robert Tillmanns, 1954, S. 108, recht hat, wenn er meint, für Rudolf v. Gneist sei die Selbstverwaltung mehr eine liberale Verfassungsinstitution gewesen, muß danach bezweifelt werden. 26 Lorenz v. Stein, Die Verwaltungslehre, Teil I, Abt. 2, 2. Aufl. 1869, Neudruck 1962, S. 129 f. Diese Komponente dürfte bei Ernst Forsthoff, Die Krise der Gemeindeverwaltung im heutigen Staat, 1932, S. 15 ff., 20, 54, der sich bei der Beschränkung der kommunalen Selbstverwaltung auf eine im wesentlichen verwaltungstechnische Bedeutung stark auf Lorenz v. Stein stützte, etwas zu kurz gekommen sein. 27 v. Stein, S. 222. 28 Vgl. Heinrich v. Treitschke, Das Selfgovernment, in: ders., Historische und Politische Aufsätze, Bd. IV, 1897, S. 38 ff. Zu Treitschke vgl. auch Thomas Ellwein, Das Erbe der Monarchie in der deutschen Staatskrise, 1954, S. 170.
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des letzteren Anliegen, daß „das obrigkeitliche Bewußtsein i m Volk lebendig und gekräftigt" werde, deutlich Zeugnis ablegt 29 . Auch i n der Praxis waren diese Gedanken nicht wirkungslos. Insbesondere Rudolf v. Gneists Vorstellung, den Gegensatz zwischen dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft durch Laienbeteiligung an der Verwaltung („politische Selbstverwaltung") zu überwinden, wurde in der preußischen Kreisordnung vom 13. Dezember 1872 3 0 ' 3 1 aufgenommen.
III. L b ie r a e l S n in g e h a e t l k o m m u n a e l r S e b ls v te r w a u t ln gm i 19. J a h r h u n d e r t 1. Die Anschauung υ. Rottecks Das dargestellte eher staatsorientierte Verständnis der kommunalen Selbstverwaltung wurde bald, nachdem seine Fundamente durch den Freiherrn vom Stein gelegt worden waren, von liberalen Elementen überlagert. Bereits K a r l v. Rotteck, der führende Theoretiker des süddeutschen Konstitutionalismus, nahm sich der kommunalen Selbstverwaltung lebhaft an. Er hebt hervor, daß die Gemeinden keine bloßen Staatsanstalten, sondern dem Staat vorgegebene natürliche Einheiten seien 32 . Heffter hat zu Recht betont, daß Rotteck sich zur Begründung dieser naturrechtlichen Gemeindetheorie nicht auf die Steinsche Städteordnung, wohl aber auf die französisch-belgischen Lehren vom „pouvoir municipal" beruft 3 3 . Auf dieser Grundlage erklärt Rotteck, daß den Gemeinden alle die Selbständigkeit und Freiheit i n ihrem eigenen Lebenskreis gelassen werden müsse, von der man nicht annehmen könne, daß sie nach dem durch die Vernunft gegebenen Inhalt des Staatsvertrages an die Staatsgewalt veräußert oder übertragen sei 34 . Sowenig wie die einzelnen seien die Gemeinden u m des Staates willen da, sondern vielmehr sei der Staat u m ihretwillen errichtet 3 5 . I n diesem Sinn plädiert Rotteck für eine weitgehende kommunale Autonomie. Die Gemeinden 29 nach Theodor Eschenburg, Tocquevilles Wirkung in Deutschland, in: Alexis de Tocqueville, Werke und Briefe, hrsg. v. J. P. Mayer, Theodor Eschenburg, Hans Zbinden, Bd. I, 1959, S. X L I I I f. 30 GS S. 661. 31 Zu deren Entstehungsgeschichte und insbesondere der staatsorientierten Einstellung ihres Vorkämpfers Friedenthal vgl. Ernst Rudolf Hub er, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I V , 1969, S. 352 ff., insbes. S. 355. 32 Joh. Christ. Freiherr v. Aretin/Karl v. Rotteck, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, 3. Theil, 1828, S. 22 ff., insbes. S. 25 f. 33 Heffter, S. 181 f. 34 v. Aretin/v. Rotteck, S. 23. 35 Ebenda, S. 36 f.
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müßten, wie er meint, ihre Magistrate grundsätzlich frei wählen dürfen 3 6 ; wahlberechtigt soll allerdings nur sein, wer über eine gewisse Bildung und ein gewisses Vermögen verfügt 3 7 . Die Ortspolizei soll, sofern es dabei nur um die Interessen der Gemeindeangehörigen geht, der Gemeinde kraft eigenen Rechts zustehen 38 . Zwar weist Rotteck schließlich darauf hin, daß die freie Gemeindeverwaltung den öffentlichen Geist erzeuge und nähre 3 9 . Doch hat dieser Gesichtspunkt i m Verhältnis zu der übrigen wesentlich gegen den Staat gerichteten Gemeindekonzeption Rottecks ähnlich wenig Gewicht wie die Betonung des freiheitlichen Moments beim Freiherrn vom Stein. Insgesamt w i r d man Rotteck als typischen Vertreter jenes liberalen Verständnisses ansehen müssen, welches die kommunale Selbstverwaltung als Eigenbereich bürgerlicher Freiheit gegenüber dem monarchischen Beamtenstaat abzugrenzen suchte 40 . 2. Die tatsächliche Relevanz des liberalen Verständnisses kommunaler Selbstverwaltung Der Druck, m i t dem das Bürgertum seine Interessen gegenüber dem Staat durchzusetzen versuchte, machte die liberale Bewegung bald zum politisch sicherlich wirksamsten Motor der kommunalen Selbstverwaltung. Die damit in den Vordergrund tretende Entwicklung einer kommunalen Selbstverwaltung gegen den Staat anstelle einer kommunalen Selbstverwaltung i m Staat und für den Staat wurde durch die restaurativen Tendenzen der deutschen Monarchien nach den Befreiungskriegen gefördert 41 . Das zeigte sich bereits deutlich an der re vidierten preußischen Städteordnung vom 17. März 183142, die einerseits stärkere staatliche Einwirkungsmöglichkeiten schuf und durch einen erhöhten Zensus den Einfluß der begüterten Schichten vermehrte, zugleich aber den Widerstand selbstverwaltungsfreundlicher Kräfte mobilisierte. Die Verhandlungen über die badische Gemeindeordnung von 1831 standen unter dem Einfluß der naturrechtlichen Gedankengänge Rottecks und der belgischen Gemeindefreiheit 43 . Das Verständnis der 36
Ebenda, S. 105. Ebenda, S. 107. 38 Ebenda, S. 118. 39 Ebenda, S. 123. 40 Vgl. Heffter, S. 181 f. Insofern setzt Ulrich Scheuner, Gemeindeverfassung und kommunale Aufgabenstellung in der Gegenwart, in: A f K 1962, S. 150 f., die Entstehung eines gegen den Staat gerichteten Verständnisses kommunaler Selbstverwaltung zu spät an. 41 Vgl. hierzu und zum folgenden Becker, Die Entwicklung der deutschen Gemeinden und Gemeindeverbände im Hinblick auf die Gegenwart, S. 83 f. 42 GS S. 10. 37
43
V g l . Becker,
S. 84.
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kommunalen Selbstverwaltung als gegen den Staat gerichtetes Grundrecht fand schließlich i n A r t . 184 der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 Eingang. 3. Spätere Vertreter eines liberalen Verständnisses der kommunalen Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert Das liberale Verständnis der kommunalen Selbstverwaltung gewann zahlreiche Anhänger, ja wurde, wie Erich Becker betont 4 4 , zur herrschenden Lehre. Typischerweise bezeichnet Zachariae die Gemeinde als „Analogon des Staats" mit auf ihre Sphäre beschränkten ursprünglichen Rechten 45 . Hervorzuheben ist die Charakterisierung, welche die kommunale Selbstverwaltung i n der Genossenschaftslehre Otto v. Gierkes erfährt. Gierke wendet sich gegen das Verständnis der Gemeinde als Staatsanstalt mit verliehener juristischer Persönlichkeit 46 . Er betont, daß der Gemeinde als einem genossenschaftlichen Gemeinwesen eine eigene, originäre Persönlichkeit zukomme, welche der Staat sowenig wie die des einzelnen Staatsbürgers schaffe 47 . Bezeichnend für Gierkes Stellung zur Selbstverwaltung ist folgende Formulierung: „Je stärker und voller sich i n dem neuerstehenden deutschen Staat eine centrale Einheit entwickelt, einer desto regeren Selbstbestimmung und Selbstverwaltung der einzelnen Volkskreise, eines desto volleren, freilich nicht von oben allein zu erweckenden, sondern von innen und unten erstehenden Gemeinlebens i n den Kreisen, Bezirken und Provinzen w i r d es bedürfen, wenn anders den Gefahren einer übermäßigen und undeutschen Centralisation begegnet werden soll, welche das Grab der Freiheit und m i t ihr zuletzt der nationalen K r a f t m i t Nothwendigkeit werden müßte 4 8 ." Hiervon ausgehend fordert Gierke insbesondere eine „sehr bedeutende Erweiterung und Befreiung des eignen und deshalb selbständigen Wirkungskreises der Gemeinde" 49 . I n Anbetracht des großen Einflusses, welchen das vorstehend skizzierte liberale Verständnis der kommunalen Selbstverwaltung i m 19. Jahrhundert gewann, w i r d der Auffassung von Ralf Zoll nicht gefolgt 44
Becker, S. 86. Heinrich Albert Zachariae, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Teil I, 3. Aufl. 1865, S. 575 f.; vgl. auch Ludwig v. Rönne, Das Staats-Recht der Preußischen Monarchie, 2. Aufl., Bd. I I , 1, 1864, S. 426. 46 Otto Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. I : Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, 1868, S. 714. 47 Ebenda, S. 759. 48 Ebenda, S. 801. 49 Ebenda, S. 762 f. 45
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Klaus Lange
werden können, daß i n Deutschland eine obrigkeitsstaatliche Tradition wie die auch davon geprägte spezifische Form der kommunalen Selbstverwaltung kein besonderes Interesse für Fragen einer Teilnahme der Bevölkerung an für sie wichtigen Entscheidungsprozessen und deren Strukturen habe hervorbringen können 5 0 . Der liberale Begriff der kommunalen Selbstverwaltung war gerade auf eine solche Teilnahme gerichtet; nur war diese Teilnahme einer bestimmten Bevölkerungsschicht vorbehalten.
IV. D e m o k r a s i t c h e S n in g e h a e t l k o m m u n a e l r S e b ls v te r w a u t ln g von der M t i e des 19. J a h r h u n d e s r t bsi zum E n d e der W e m ia e r r R e p u b k i l 1. Forderungen der Arbeiterbewegung
im 19. Jahrhundert
Schon seit Mitte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts gehörte eine weitgehend m i t dem demokratischen Prinzip identifizierte auf allgemeinen und gleichen Wahlen beruhende Selbstverwaltung i n den Gemeinden zu den programmatischen Forderungen der deutschen Arbeiterbewegung 51 . I n seiner K r i t i k des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891 verlangte Engels ausdrücklich die Einführung der vollständigen Selbstverwaltung „nach amerikanischem Muster" 5 2 . 2. Die Anschauung von Hugo Preuß Während die Arbeiterbewegung die kommunale Selbstverwaltung vor allem durch Aufhebung der Privilegien des Besitz- und Bildungsbürgertums demokratisieren wollte, unternahm Hugo Preuß einen Versuch, gesamtstaatliche Demokratie und kommunale Selbstverwaltung auf gleichartige Prinzipien zurückzuführen. Für Preuß ist Zentralisation das Prinzip des Obrigkeitsstaates 53 , den er durch den Volksstaat abgelöst sieht 5 4 . Die Eigenart des Volksstaates 50
Ralf Zoll in: ders., Gemeinde als Alibi, 1972, S. 30. Vgl. Chemnitzer Programm der Sächsischen Volkspartei, in: Programme der deutschen Sozialdemokratie, hrsg. v. Bundessekretariat der Jungsozialisten, 1963, S. 67 f.; Eisenacher Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands, ebd. S. 72; Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, ebd. S. 75; Erfurter Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, ebd. S. 79 f. 52 Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, hrsg. v. Institut für MarxismusLeninismus beim Z K der SED, Bd. 22, 1963, S. 236. 53 Hugo Preuß, Dezentralisation und Zentralisation, in: Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften, hrsg. v. Josef Brix u. a., Bd. I, 1918, S. 536. 54 Preuß, Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat, in: Handbuch der Politik, hrsg. v. Gerhard Anschütz u. a., Bd. I I I , 1921, S. 16 ff. 51
Entwicklung des kommunalen Selb s t v er wa lt