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German Pages 655 Year 1983
Von der freien Gemeinde zum föderalistischen Europa
Von der freien Gemeinde zum föderalistischen Europa Festschrift für Adolf Gasser zum 80. Geburtstag
Herausgegeben von
Fried Esterbauer, Helmut Kalkbrenner, Marku8 Mattmüller und Lutz Roemheld
DUNCKER &
HUMBLOT / BERLIN
Gesamtredaktion: Helmut Kalkbrenner Die übersetzung aus dem Französischen der Beiträge von Jean Baneal, Hendryk Brugmans, Guy Heraud, Denis de Rougemont und aus dem Italienischen der Beiträge von Orio Giarini, Dacirio Ghizzi-Ghidorzi, Giordano Formizzi besorgte Lutz Roemheld
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Von der freien Gemeinde zum föderalistischen Europa : Festschr. für Adolf Gasser zum 80. Geburtstag / hrsg. von Fried Esterbauer ... - Berlin : Duncker und Humblot 1983. ISBN 3-428-05417-2 NE: Esterbauer, Fried [Hrsg.]; Gasser, Adolf: Festschrift
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Prlnted in Germany ISBN 3428054172
Inhaltsverzeichnis Geleitwort Helmut Kalkbrenner
Adolf Gasser zum 80. Geburtstag
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Einleitung Hendryk Brugmans
Eine gute Fee und ein guter Geist standen nach dem Zweiten Weltkrieg an der Wiege des Föderalismus. Persönliche Erinnerungen an Adolf Gasser ...................................................... 43 I. Teil
Geschichte in föderalistischen Perspektiven Edgar Bonjour
Föderalismus und Außenpolitik in der schweizerischen Vergangenheit
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Ulrich Im Hof
Freiheit der Untertanen? Aus den Diskussionen in der Helvetischen Gesellschaft ........................................................ 63 Jean Bancal
Freiheit, Person und Eigentum nach Proudhon
Lutz Roemheld Zu Proudhons Friedens- und Konflikttheorie ......................
77 93
Helmut Kalkbrenner
Die föderative Konzeption der Gemeinde bei Constantin Frantz .... 121 Markus Mattmüller
Föderalismus aus der Bibel. Ein Beitrag zum Staatsverständnis des Schweizer Theologen Leonhard Ragaz .............................. 159 Hans Kühner
Friedrich Wilhelm Foerster. Ein Lebensweg gegen den preußischen Militarismus ........................................................ 169
Inhaltsverzeichnis
6 Helmut Donat
Zur preußischen Wende der deutschen Geschichte: Die Unterredung Bernhardi - Roon im Februar 1862 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 187 Lothar Wie land
Emigration und Revolution. Die deutsche Revolution von 1918 im Spiegel der "Freien Zeitung" ........................................ 223 Bemd F. Schulte
Die Kaisermanöver 1893 bis 1913. Evolution ohne Chance ............ 243 Fritz Fischer
Die Neutralität Englands als Ziel deutscher Politik 1908/09 - 1914 .... 261
II. Te i I Gegenwartsfragen föderalistischer Gestaltung Franz-Ludwig Knemeyer
Gemeindefreiheit - kommunale Selbstverwaltung - als Stütze der Demokratie ........................................................ 285 Peter Cornelius Mayer-Tasch
Zur Frage der sog. inneren Demokratie in Bürgerinitiativen und Vereinen 303 Otto Kimminich
Der Staat als Organismus: Ein romantischer Irrglaube .............. 319 Leopold Kohr
Das Newton'sche Gravitationsgesetz in der Staatssphäre. Vom Wirksamkeitsschwund der Macht mit dem Quadrat der Distanz .......... 333 Peter Saladin
Zur Organisations- und Verfahrenshoheit der schweizerischen Kantone 339 Wilfried Haslauer
Der Föderalismus Österreichs in der politischen Praxis ........ . ..... 357 Franz Horner
Regionalbewußtsein und politische Identität im Bundesland Salzburg 381 Guy Heraud
Die Dezentralisierungsreform in Frankreich ... . .................... 393 Heinrich Scholler
Entwicklungstendenzen und geistesgeschichtliche Lage der Selbstverwaltungskonzeption der Kommunen in Bayern ...................... 405
Inhaltsverzeichnis
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Heinz Laufer
Föderalismus und Verfassungs gerichtsbarkeit. Die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts .......................................... 419
III. Te i I Zukunftsperspektiven föderalistischer Neuordnung Herbert Dachs
Die neue Sehnsucht nach "Heimat" ................................ " 435 Ernst Maste
Vom Staat zum
(;emein~esen
...................................... 445
Vollrath v. Hesse-Hessenburg
Von der einseitig nationalen zur europäischen (;eschichtsauffassung " 467 Dacirio Ghizzi-Ghidorzi
Prolegomena zu einer föderalistischen Wirtschaftspolitik ............ 477 (;iordano Formizzi
Perspektiven für einen sprachlichen Föderalismus .................. 489 Peter Pernthaler Föderalismus als moderner Weg inter regionaler Aufgabenteilung .... 505 Denis de Rougemont
Die Devise des Regionalismus: Keine Freiheit ohne
Verant~ortung!
.. 519
Karl Möckl
Föderalismus und Regionalismus im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine Skizze .............................................. 529 Martin Usteri
Die Entfaltung von Sch~eizer Art und Staat für die kommenden (;enerationen. (;edanken eines Zürchers ............................ 551 Jürgen Gebhardt
Der Stadtstaat als Modell der politischen Kultur des Westens ........ 571 Orio (;iarini Ökologie, Wirtschaft und die Suche nach Wohlfahrt - Elemente eines für Europa .............................................. 583
Ent~urfes
Fried Esterbauer Die institutionelle Sackgasse der Europäischen (;emeinschaft auf dem Wege zur Föderation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. fi03
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Inhaltsverzeichnis
Anhang Gesamtschrifttum Adolf Gassers in den Bereichen Geschichtswissenschaft und Politologie ........................................................ 631
Autoren-Verzeichnis .................................................. 651
Adolf Gasser zum 80. Geburtstag Unsere Zeit ist arm an verpflichtenden Vorbildern, da sie weitgehend die Orientierung an den echten Werten und das Verständnis für die wahren Sinngehalte des Lebens verloren hat. Unter der Flut der Masseneinflüsse werden falsche Idole im Sport, im Film, in der Kunst, in der Literatur, in der Politik hochstilisiert, während die wirklich bedeutenden Persönlichkeiten in diesen Bereichen oftmals der Kenntnis der Allgemeinheit vorenthalten oder dem Vergessen preisgegeben werden. Angesichts dieser Umstände ist es vielfach nicht leicht, in den Gefilden der Geistigkeit diejenigen Persönlichkeiten auszumachen, die in unserm Zeitalter die eigentlich zukunftweisenden Denker darstellen, zumal diese selbst sich in der Regel nicht vordrängen, sondern es vorziehen, dem Lärm des Tages zu entfliehen und in der Stille zu wirken. Demgemäß gehört auch Professor Dr. Adolf Gasser nicht zu den Zeitgenossen, die im grellen Rampenlicht der publizistischen Öffentlichkeit stehen und sich in eitlem Starruhm sonnen, sondern zeichnet er sich guter schweizerischer Art getreu - durch Zurückhaltung, Bescheidenheit und Schlichtheit aus, Eigenschaften, die noch allemal den wahrhaft Großen zu eigen waren. Sie haben auch nicht zuletzt dazu beigetragen, ihn zu einem der überragenden Leitbilder unserer Zeit werden zu lassen. Wenn sein Name auch nicht der breiten Masse geläufig ist, so hat er doch Klang in ganz Europa bei allen denjenigen, denen es um eine fundamentale freiheitlich-demokratische Neugestaltung unseres Kontinents in föderalistischem Geiste geht. Aus diesem Grunde haben sich zu seinem 80. Geburtstag Historiker, Politiker, Juristen, Politologen, Publizisten und Wirtschaftler aus der Schweiz, aus Österreich, Italien, Frankreich, Belgien und der Bundesrepublik Deutschland - also aus allen Ländern, in denen seine Werke vor allem Verbreitung gefunden haben - zusammengefunden, um ihm in einem wissenschaftlichen Gemeinschaftswerk den Dank für sein verdienstvolles Wirken abzustatten und ihn mit dieser Festschrift zu ehren. Eine Reihe von ihnen hat sich aus Verbundenheit mit Professor Gasser unaufgefordert spontan bereiterklärt, an der Festschrift mitzuwirken, als sie von deren Projektierung erfahren haben. Diese vereinigt die seinem Gedankengut am nächsten stehenden Akademiker in Europa. Die Beteiligung an ihr ist dementsprechend nicht nur eine literarische
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Huldigung gegenüber dem verehrten Jubilar, sondern zugleich ein Bekenntnis zu seiner Gedankenwelt.
Verkörperung besten Schweizertums Die spezifische Leistung Adolf Gassers besteht darin, daß er den reichen politischen Erfahrungsschatz der Schweiz zu generellen politischen Lehren verarbeitet und diese Erkenntnisquellen dem übrigen Europa zugänglich gemacht hat. Dazu war er besonders praedestiniert, weil er das Schweizertum in seiner besten Ausprägung verkörpert. Die Liebe zu seinem Schweizer Vaterland leuchtet auch aus allen seinen Schriften. Adolf Gasser wurde inmitten der Schweiz, im Städtchen Burgdorf in dem traditionsreichen Kanton Bern mit seiner schweizerischen Bundeshauptstadt, am 25. November des Jahres 1903 geboren. Sein Vater entstammte dem Hirten- und Säumertum des bernischen Voralpengebiets, seine Mutter einer Großbauernfamilie des norddeutschen Kleinstädtchens übigau (Elster) - in ihm vereinigen sich also schweizerisches und deutsches Blut, offenbar eine besonders geistig fruchtbare Verbindung. Die beiden Elternteile - der Vater als Mathematiker und Physiker, die Mutter als Studentin - hatten sich 1902 an der Universität Bern durch Vermittlung Albert Einsteins, des späteren Nobelpreisträgers für Physik und engagierten Vorkämpfers des Pazifismus'l, der damals als Experte zum "Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum" in Bern wirkte, kennengelernt. Von 1910 bis 1922 besuchte der junge Adolf Gasser die Schulen der Stadt Winterthur im Kanton Zürich, wo sein Vater in diesen Jahren als Professor am Technikum amtierte. Anschließend studierte er Geschichtswissenschaft, und zwar zunächst ein Semester in Heidelberg, dann in Zürich. Hier promovierte er im Jahre 1927 in Geschichte und Latein zum Doktor der Philosophie.
Lehrmeister der Geschichte Noch nicht 25jährig wurde Adolf Gasser 1928 als Geschichtslehrer an das Humanistische Gymnasium Basel berufen und war dort bis 1969, über 40 Jahre lang, tätig. 1 Vielleicht rührt von daher eine geistige Verbindungslinie zu dem bemerkenswerten Verständnis Adolf Gassers für den Pazifismus, den er auch als Grundbedingung und Wesenselement der Welt der Gemeindefreiheit und des lebendigen Selbstverwaltungswillens charakterisiert (vgl. "Gemeindefreiheit als Rettung Europas" , 2. Auflage [im folgenden abgekürzt "Gemeindefreiheit"], S. 244 und 245). Vgl. dazu auch "Albert Einstein als Mensch, Wissenschafter und Pazifist und in seinem Verhältnis zur Schweiz und zu Israel. Gedenkrede in der Universität Basel zur 100. Jährung seiner Geburtstags am 14. März 1979" von Adolf Gasser, abgedruckt in "Verhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft Basel", Bd. 89 (1979/80), S. 63 ff. - Neuabdruck unter verkürztem Titel in: "Ausgewählte historische Schriften", Basel 1983.
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1930 veröffentlichte er sein erstes wissenschaftliches Werk, "Entstehung und Ausbildung der Landeshoheit im Gebiete der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte des deutschen Mittelalters"2, eine Arbeit, die heute noch hohes Ansehen in wissenschaftlichen Kreisen genießt. Zwei Jahre darauf gab er (zusammen mit Ernst Keller) das Lehrbuch "Die territoriale Entwicklung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1291-1797"3 heraus. 1933 hielt er vor dem Internationalen Historikerkongreß in Warschau ein Referat über das Thema "Strukturwandlungen des mittelalterlichen Staates". Im nächsten Jahr wurde er eingeladen, vor der Internationalen Konferenz für Geschichtsunterricht in Basel einen Vortrag über "Die Bedeutung des universal geschichtlichen Unterrichts an den Schweizer Gymnasien" zu halten.
Daneben verfaßte er eine Reihe von Aufsätzen über historische Themen und Rezensionen geschichtswissenschaftlicher Publikationen. Diese wissenschaftlichen Leistungen veranlaßten, daß er im Jahre 1936 als Privatdozent an der Universität Basel habilitiert wurde. Dort betreute er fortan das Fach der Allgemeinen Verfassungsgeschichte der mittleren und neueren Zeit. Seinen Habilitationsvortrag hielt er über "Landständische Verfassungen in der Schweiz". 1942 wurde er zum Lehrbeauftragten und 1950 zum Extraordinarius an der Universität Basel ernannt. Während der gesamten Zeit seiner Lehrtätigkeit bis heute verfaßte er - wie aus der dieser Festschrift angefügten Bibliographie im einzelnen hervorgeht - zahlreiche Abhandlungen zu den mannigfaltigsten Gegenständen der Geschichte und erbrachte er damit einen beachtenswerten Beitrag zur Fortentwicklung des historischen Erkenntnisstandes.
Universeller Gelehrter Gasser beschränkte seine Tätigkeit jedoch nicht auf sein berufliches Fachgebiet im engeren Sinn, sondern richtete darüber hinaus auf Grund seiner universalhistorischen Schau den Blick auch auf andere Disziplinen: die Staats-, Rechts-, Wirtschafts-, Sozial-, Militär-, Kirchen- und Geistesverfassung sämtlicher Jahrhunderte, und erstreckte auch darauf seine publizistische Aktivität. Er wurde damit zum Gelehrten im universellen Sinn, eine in unserer Zeit äußerst seltene Erscheinung. Ansporn dazu war ihm die innerlich übernommene Ver2 Aarau 1930, XIX 497 Seiten; ein Teildruck von 111 Seiten war 1928 als Zürcher Dissertation erschienen. 3 Aarau 1930, VII, 196 Seiten.
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pflichtung und Verantwortung, die er als Staatsbürger gegenüber seiner Umwelt fühlte, ihr aus seinem Wissen Wege in eine bessere Zukunft zu weisen.
Leitartikler der Basler "National-Zeitung" In diesem Sinne erklärte er sich Ende Juni 1940 - unmittelbar nach der Kapitulation Frankreichs vor der Hitler-Wehrmacht - auf Anfrage des Geschäftsleiters der Basler "National-Zeitung", Dr. Fritz Hagemann, bereit, regelmäßig an diesem Blatt mitzuarbeiten, weil er nach seinem eigenen Bekenntnis - "glaubte, angesichts der damaligen, für die Eidgenossenschaft so kritischen Zeitlage sich dem ergangenen Appell nicht entziehen zu dürfen"4. Jeweils für die Sonntags-Ausgabe dieser führenden, in der ganzen Schweiz verbreiteten Zeitung verfaßte er seit August 1940 bis zum Jahre 1957 Leitartikel, allein bis Kriegsende deren 260 5 • Sie waren während des Krieges in erster Linie dem geistigen Abwehrkampf gegen die nationalsozialistische Bedrohung und der Festigung des freiheitlich-demokratischen Selbstverständnisses seiner schweizerischen Landsleute gewidmet. Zum Zeitpunkt der politischen und militärischen Kulmination der Macht des Dritten Reiches wie des faschistischen Italien erwies sich Gasser als völlig immun gegenüber der gefährlichen Faszination dieser beiden nationalistisch-autoritären Systeme, denen so viele andere Zeitgenossen - darunter nicht wenige Wissenschaftler - damals erlagen, geblendet von der überwältigenden Kraftentfaltung und der unaufhörlichen Erfolgsserie dieser Regimes. Soweit es die damalige schweizerische Pressezensur (die es den kriegführenden Mächten verwehren wollte, unter dem Vorwand eines pressemäßigen Angriffs auf sie in der Schweiz zu intervenieren) zuließ, übte Adolf Gasser Kritik an der Politik der Achsenmächte, geißelte er deren rechtsbrecherisches Vorgehen und ihre undemokratische Herrschaftsstruktur. Wie er selbst bekundete, formte sich in dieser Abwehr des Unmenschentums des Hitlerreiches sein föderalistisches, am "ethischen Kollektivismus" der autonomen Kleinräume orientiertes Geschichtsbild. Es wird für immer ein Ehrenschild Professor Gassers bleiben, daß er in dieser sturmdurchtobten Zeit als Bannerträger der föderalistischen Geistesbewegung unbeirrbar das Banner der Freiheit, der Demokratie und des Rechts allen dämonischen Gewalten zum Trotz hochgehalten hat. Vorwort zu "Für Freiheit und Recht", S. 5. Von denen die 50 wichtigsten in dem Buch "Für Freiheit und Recht 1940 - 1945. Ausgewählte Leitartikel der Basler National-Zeitung", Bern 1948, 204 Seiten, zusammengefaßt neu veröffentlicht worden sind. 4
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"Geschichte der Volksjreiheit und der Demokratie" Schon vor Beginn des Krieges hatte Adolf Gasser 1939 sein grundlegendes Werk "Geschichte der Volks freiheit und der Demokratie"6 veröffentlicht, das aus einer allgemeinbildenden Vorlesung erwachsen war, die er im Wintersemester 1938/39 an der Universität Basel gehalten hatte. Die Erstauflage, die wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Druck gegangen war, wurde alsbald (im Januar 1940) im nationalsozialistischen Deutschland verboten. Dafür aber wurde sie vor Kriegsende von der antifaschistischen Opposition Italiens als Geheimausgabe übersetzt und gedruckt7. Das Werk erfuhr im Jahre 1949 eine zweite Auflage, erweitert um den zukunftweisenden Nachtrag "Der Weg zur dauernden Demokratisierung Europas" . In Widerlegung der totalitären Staatsideen der damaligen Zeit leistete das Buch den historischen Nachweis, daß die ganze abendländische Kultur, im Gegensatz zu den Kulturen des Orients und Rußlands, auf dem Boden der Freiheitsidee emporgewachsen und ohne diese Idee nicht lebensfähig ist. Durch die gesamte Weltgeschichte hindurch und - gestützt auf ihre Lehren - auch in die Zukunft hinein verfolgte sein Verfasser den Kampf zwischen dem Freiheits- und dem Machtideal, zwischen der genossenschaftlichen und der herrschaftlichen Staatsgesinnung, zwischen der zivilen und der militärischen Ordnungsidee, zwischen dem Geist des Vertrauens und dem Geist des Befehlens. Gemäß der von ihm herausgearbeiteten Grundidee huldigten die Völker des Abendlandes seit Jahrhunderten zwei völlig verschiedenen Staatsauffassungen: Auf der einen Seite standen die Volks- und Rechtsstaaten der angelsächsischen und skandinavischen Welt, Hollands und der Schweiz; die geistespolitischen Traditionen der antiken und mittelalterlichen Stadtrepubliken weiterführend, waren diese "altfreien" Volksstaaten bis heute Welten der föderativen Selbstverwaltung, der politischen Volkserziehung, des kollektiven Verantwortungsbewußtseins geblieben und stehen als wahrhaft volkstümliche Demokratien künftig vor der Aufgabe, eine genossenschaftliche Synthese von Individualismus und Kollektivismus zu begründen. Alle anderen Völker des Abendlandes lebten seit dem Zeitalter des Absolutismus unter dem Regiment zentralistischer Kommando- und Machtstaaten, die in administrativer Hinsicht gemäß militärischen Subordinationsprinzipien organisiert waren und daher auch unter freiheitlichen Verfassungen immer nur Welten der hierarchischen Befehlsverwaltung, der politischen Volksbeherrschung, der kollektiven Gewaltgläubigkeit verkörAarau 1947. Unter dem Titel "Storia della liberta popolare edella democrazia", Edizione clandestina, Casa editrice "La Fiaccola", Milano. 8
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perten. Rechts- wie Linksparteien werden dort immer wieder gemeinsam dem Totalitarismus, Militarismus und Nationalismus zustreben und niemals volkstümliche Demokratien errichten können, sofern man nicht - wie Professor Gasser angelegentlich empfahl - ernsthaft dazu schreitet, alle diese zentralistischen Kommandostaaten in strikt dezentralisierte Volksstaaten umzuwandeln 8 • Dazu urteilte Professor Wilhelm Röpke - selbst einer der großen geistigen Wegweiser dieses Jahrhunderts - in seinem klassisch gewordenen Werk "Civitas Humana"9: "Adolf Gasser hat mit vollem Recht von den ,altfreien Demokratien' gesprochen, die alle das gemeinsam haben, daß hier (d. h. in den angelsächsischen Ländern, in der Schweiz, in den Niederlanden und in den skandinavischen Ländern) das Staatsund Rechtsleben sich auf die alten Volksrechte und Volksfreiheiten gründet, die gegen die absolutistisch-bürokratischen Einflüsse des Herrschaftsstaates behauptet werden konnten. So hat sich hier in der segensreichsten Weise das genössische Prinzip gegenüber dem herrschaftlichen durchgesetzt." Und die "Neue Schweizer Rundschau" schrieb in ihrer Rezension der ersten Auflage dieses Werkes: "In streng wissenschaftlicher Gestalt, mit einer Grundsätzlichkeit, die man eisern nennen möchte, dabei mit einer musterhaften Gerechtigkeit, die alles, was nicht der eigenen Parteinahme entspricht, ebenso nüchtern und lauter sachlich behandelt, hat sich der Dozent für Verfassungsgeschichte an der Universität Basel, Dr. Adolf Gasser, an ein Werk gemacht, dessen Gehalt in der heutigen Zeit zündend, begeisternd und befestigend wirken kann, ja muß. Als hohes Verdienst ist dem Werke anzurechnen, daß es trotz einer eindeutigen und charaktervollen Stellungnahme, die sich uns Schweizern als selbstverständlich ergibt, den Einrichtungen und der Gedankenwelt von nicht altfreien Völkern, der Staaten, die vorwiegend auf dem Prinzip der Macht, des Befehlens und Gehorchens aufgebaut sind, volle Gerechtigkeit und sachliches Verständnis entgegenbringt und widerfahren läßt. Deswegen wird der Standpunkt des Verfassers nicht weniger klar und teilt sich mit nicht geringer Festigkeit dem Leser mit, der von der sittlichen Kraft der Ausführungen Gassers stark ergriffen und mitgerissen wird. Die Erscheinungen auf politischem und gesellschaftlichem Gebiet sind mit einem so umfassenden Blick fest gehalten und gewürdigt, daß man sagen darf, daß das Buch ,Geschichte der Volksfreiheit und der Demokratie' nicht nur eine Ausbildung und Fundierung der historischen Hilfswissenschaft, die des Verfassers Spezialgebiet ist, bedeutet, sondern darüber hinaus und von 8 Siehe insbesondere darin das Kapitel "Die geistespolitische Weltlage im Sommer 1939", S. 208 ff., und den Nachtrag zur 2. Auflage unter der überschrift "Der Weg zur dauernden Demokratisierung Europas", S. 225 ff. D 3. Auflage, Erlenbach - Zürich 1949, S. 204.
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ihr ausgehend, eine Formung und stellenweise sogar eine Umformung des gesamten historischen Weltbildes." "Gemeindejreiheit als Rettung Europas"
Seit dem Erscheinen der "Geschichte der Volksfreiheit und der Demokratie" hatten ihm seine Vorlesungsverpflichtungen an der Universität Basel, daneben auch seine Mitarbeit an der Basler "NationalZeitung" , immer wieder neuen Anlaß zur Herausarbeitung der entscheidenden Kernprobleme gegeben. So wie sich inzwischen das Weltgeschehen gestaltet hatte, drängte sich immer stärker die Notwendigkeit auf, die von ihm im Gegensatz zur machiavellistischen Politik der faschistischen Machthaber vertretene "ethische Geschichtsauffassung" nicht nur in den maßgebenden Grundrissen wie 1938/39, sondern auch in den eigentlichen Grundlinien sichtbar zu machen und zugleich die sich aus ihr ergebenden aktuellen Folgerungen zu ziehen. Zur Publizierung dieser Vorstellungen verfaßte er sein zweites epochales Werk, das im Herbst des Jahres 1943 unter dem Titel "Gemeindefreiheit als Rettung Europas" mit dem Untertitel "Grundlinien einer ethischen Geschichtsauffassung" auf dem Markte erschien. Ihm liegt der Grundgedanke zugrunde, daß unserer Zeit im allgemeinen zwei Formen des sozialen Denkens geläufig sind: das Verfassungsdenken und das Wirtschaftsdenken. Mittels verfassungsmäßiger Garantien sucht man die politische Freiheit, die politische Demokratie zu sichern; mittels wirtschaftlicher Reformen sucht man zur sozialen Freiheit, zur sozialen Demokratie vorzudringen. Im Gegensatz zu diesen landläufigen Meinungen soll hier gezeigt werden: Politische wie soziale Freiheit können nie von Dauer sein, solange sie nicht mit administrativer Freiheit, mit Gemeindefreiheit verbunden sind. So wichtig das Verfassungsdenken und das Wirtschaftsdenken auch sind - der Weg zur richtigen Erkenntnis, zur lebendigen Erfassung der staatsbildenden geistigen und sittlichen Kräfte führt immer nur über das Verwaltungsdenken. Was den Haupttitel des Buches anbelangt, so handelt es sich dabei um die Kurzform eines Gedankenganges, der nach der Vorstellung des Verfassers in ausführlicher Fassung lauten müßte: "Umfassende kommunale Ermessensfreiheit als unentbehrliche Voraussetzung für jede politische, soziale, moralische Gesundung Europas" . Waldemar Kurtz, selbst Verfasser einflußreicher Schriften über die Gemeindefreiheit - wie vor allem der bekannten Schrift "Gemeinden sind wichtiger als Staaten"lO, die er "dem Basler Lehrer und Freund Adolf Gasser als Dank und Gruß" gewidmet hatte - kommentierte in 10
Stuttgart-Degerloch 1951.
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seinem Geleitwort zu Adolf Gassers Buch "Von den Grundlagen des Staates" 11: "Professor Gasser ist durch sein auch in Deutschland bekanntgewordenes Buch ,Gemeindefreiheit als Rettung Europas' als Anwalt der abendländischen Gemeindefreiheit hervorgetreten." Und Wilhelm Röpke wies seine Leser im Zusammenhang mit der Gegenüberstellung von herrschaftlichem und genossenschaftlichem Staat1 2 "auf die ausgezeichneten Schriften von Adolf Gasser ,Geschichte der Volksfreiheit und der Demokratie' (Aarau 1939) und ,Gemeindefreiheit als Rettung Europas' (Basel 1943)" hin. Das Werk wurde im Jahre 1947 in zweiter, stark erweiterter Auflage in Basel neuaufgelegt. Es erschien auch in französischer Sprache 1946 in Neuchatel ta mit dem Titel "L'Autonomie communale et la reconstruction de l'Europe" und im gleichen Jahr in italienischer Sprache 14 mit dem Titel "L'Autonomia comunale e la riconstruzione dell'Europa".
Ausgedehnte Vortragstätigkeit in Deutschland Die Bücher Adolf Gassers hatten auch in Westdeutschland Aufsehen erregt und das Augenmerk der Selbstverwaltungsfreunde auf deren Verfasser gelenkt. Seit dem Frühjahr 1949 wurde er deshalb häufig eingeladen, im Kreise deutscher Legislativ- und Exekutivbehörden über seine Grundauffassungen zu sprechen. So hielt er Vorträge vor dem Bayerischen und dem Niedersächsischen Landtag, vor Bürgermeisterund Kreisbeamtenkonferenzen in Württemberg, Baden, Hessen, Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, vor der Juristischen Fakultät der Universität Marburg, vor dem Internationalen Presseklub Heidelberg, in den Selbstverwaltungsschulen Ettingen, Lindenfels und Hahnenklee, vor der Sparkassenakademie Stuttgart und an anderen Orten. Insgesamt hielt er von 1949 bis 1961 rund 250 Vorträge vor deutschen Selbstverwaltungsbehörden und Reformbewegungen. "Durch zahlreiche Vorträge vor Fachleuten und Laien hat er sich", so berichtet Waldemar Kurtz 15 , "als warmherziger, auf Grund der langen geschichtlichen Erfahrung der Schweiz aber auch kritisch mahnender Freund der deutschen Selbstverwaltung erwiesen .... Es ist das erste Mal in der Geschichte der deutschen Selbstverwaltung, daß Anregungen aus der benachbarten und sprachverwandten Schweiz das deutsche Denken beeinflussen. Die Erneuerung der deutscheri Selbstverwaltung durch den Freiherrn vom Stein war durch englische Vorbilder angeregt. 11
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Siehe dazu näher unten. In seinem schon erwähnten Buch "Civitas humana". Editions de 1a Baconniere. Casa editrice "La Fiacco1a", Milano. a.a.O.
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Während des ganzen 19. Jahrhunderts war der Blick der deutschen Selbstverwaltungstheoretiker vor allem nach den angelsächsischen Ländern gerichtet. Daß in der Schweiz aus gemeinsam germanisch-deutscher Wurzel bis heute Selbstverwaltungseinrichtungen weiterbestehen, die bis zu einem gewissen Grad immer Bestandteile des deutschen Staatslebens geblieben sind, ist merkwürdig wenig beachtet worden. Erst das Buch und die Vorträge Professor Gassers haben in der nach neuer Orientierung bedürftigen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Augen nach der Schweiz als dem Urland der Gemeindefreiheit gelenkt." Die Ausführungen eines Referates vor dem Niedersächsischen Landtag in Hannover am 8. November 1949 erfuhren im Druck ihre Ausgestaltung zu dem dritten grundlegenden Werk Adolf Gassers, "Von den Grundlagen des Staates"16. In ihm ging es ihm vor allem um die Veranlassung der Hinwendung Deutschlands zur volksstaatlich genossenschaftlich Lebensordnung. Zu diesem Zweck riet er eindringlich zu einer überwindung der bisherigen zentralistisch-bürokratischen Herrschaftsstruktur und ihrer Ersetzung durch einen volksstaatlichen Aufbau von unten nach oben. Solange in Deutschland das autoritätsgläubige Untertanendenken vorherrsche, sei an die Realisierung einer echten Demokratie nicht zu denken. Entscheidende Voraussetzung hierfür sei die Einführung einer direkten Gemeindedemokratie wie in der Schweiz. In Frankreich bildete sich 1949 ein "Comite national pour la Defense des Libertes communales et departementales" , das sich auf die Anschauungen Adolf Gassers stützte und dem zahlreiche Bürgermeister und Parlamentsabgeordnete angehörten.
Politische Aktivität und Bewährung Im Unterschied zu vielen anderen politischen Denkern war Professor Gasser nicht nur Theoretiker, sondern verließ er den elfenbeinernen Turm der Wissenschaft und wurde er auch im praktischen politischen Leben aktiv. Er schöpfte daraus für seine Gedankenarbeit nützliche Anregungen und konnte andererseits seine Ideen in die Praxis umsetzen. In den Spuren seines Vaters - der von 1928 bis 1935 schweizerischer Nationalrat gewesen war - diente er dem Kanton Basel-Stadt wie der Schweizerischen Eidgenossenschaft in zahlreichen Ehrenämtern: So als Großrat des Kantons-Parlaments von Basel-Stadt in den Jahren 1953 bis 16
Stuttgart 1950 [im folgenden abgekürzt "Grundlagen"].
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1968, als Mitglied der Basler Theaterverwaltung von 1960 bis 1968 und als Präsident der zweitgrößten Basler Kantonspartei, der Freisinnig-Demokratischen ParteP7, von 1955 bis 1960. Lange Jahre gehörte er auch als Vorstandsmitglied dem Zentralvorstand des schweizerischen Landesverbandes des von ihm mitbegründeten 18 "Rates der Gemeinden Europas" an. Noch in hohem Alter wurde er Präsident des Dachverbandes aller Basler Vereinigungen des Umweltschutzes (1970 - 1977), in welchem Amt er sich nachhaltig für die Belange des Umweltschutzes, speziell auch gegen die Errichtung eines Atomkraftwerkes in Kaiseraugst1 9 , einsetzte. In diesem Sinne verband er die Aufgaben eines Kommunaltheoretikers mit denen eines Kommunalpraktikers.
Ein großer Europäer Adolf Gasser dachte aber nicht nur in Schweizer Kategorien, sondern weit darüber hinaus in europäischen Dimensionen. Schon lange bevor die europäische Einigung zur offiziellen Doktrin in vielen anderen Ländern erhoben wurde, bekannte sich Adolf Gasser zur Vereinigung Europas und trat er aktiv für sie ein. Bereits im Jahre 1934 - ein Jahr, nachdem das Deutsche Reich unter Hitler aus dem Völkerbund ausgetreten war und damit der europäischen Schicksalsgemeinschaft eine Absage erteilt hatte - beteiligte er sich an der Gründung der Schweizerischen Europa-Union in Basel. Diese entstand unter seiner Mitwirkung durch den Zusammenschluß einer Basler Europa-Gruppe (der Adolf Gasser und der Redakteur Dr. Hans Bauer angehört hatten) mit der schweizerischen Sektion der "Paneuropa-Union". Sie erlebte unter dem Präsidium des Basler Landsmannes Dr. Gassers und Redakteurs Dr. Hans Bauer in den Jahren anwachsender Kriegsgefahr eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung mit eigener Monatszeitschrift sowie steigenden Mitgliederzahlen und entfaltete angesichts des Krieges eine gesteigerte Aktivität. In vielfacher Hinsicht war ihr Organ, "Der Europäer", mit weitem geistigem 17 Vgl. seine Charakterisierung der "Freisinnig-Demokratischen Partei" in seiner Abhandlung "Der ,Freiwillige Proporz' im kollegialen Regierungssystem der Schweiz", in: Politische Studien, 17. Jhg., München 1966, Heft 167, S. 269 - wieder abgedruckt in "Staatlicher Großraum und autonome Kleinräume. Gemeindeautonomie und Partizipation. Ausgewählte Aufsätze", herausgegeben von Paul Trappe, Vol. 3 der Monographien zur Soziologie und Gesellschaftspolitik" ("Social Strategies"), Basel 1976, S. 135. 18 Vgl. dazu näher unten. 19 Vgl. dazu seine Abhandlungen "Weg mit den Ansätzen zum Unrechtsstaat! (Zum Bau eines Atomkraftwerkes in Kaiseraugst)" in: "Doppelstab" vom 30. Mai 1975, Basel, und "Verbrechen am Schweizer Staatsgedanken: Atomkraftwerk-Standort Kaiseraugst", in: "Basler Zeitung" vom 3. Mai 1982.
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Horizont um volkstümliche Verbreitung und Propagierung ihrer Ziele bemüht. Zu ihren häufigsten Leitartiklern gehörte neben ihrem Präsidenten, Dr. Hans Bauer, der Basler Universitätsdozent Dr. Adolf Gassero So schrieb er im Oktober 1936 einen Artikel zum aktuellen Thema "Demokratie und Völkerfriede". 1939 erschien in den von der schweizerischen Europa-Union herausgegebenen Schriften von ihm eine Broschüre unter dem Titel "Der Kampf um das europäische Freiheitsideal in Geschichte und Gegenwart". Auch sein großes Werk von 1943 war der Gemeindefreiheit als "Rettung Europas" gewidmet. Zur Zeit scheinbar unabsehbarer faschistischer Herrschaftsmacht beschrieb er im Februar 1940 im "Europäer"2o unter der überschrift "Dreierlei ,Neues Europa'" seine grundsätzliche Auffassung zur europäischen Neuordnung wie folgt: "Unsere Europa-Union hat sich seit ihrer Gründung im Jahre 1934 ziel bewußt für den Gedanken einer europäischen Einigung eingesetzt. Sie hat dies getan, weil sie in der Verwirklichung dieses Gedankens eine geschichtliche Notwendigkeit erblickte. Die Ereignisse haben unserer Bewegung nur allzu recht gegeben ... Eines steht heute auch für den Blindesten fest: der jetzige Krieg wird eine neue europäische Einigung als wichtigstes Ereignis hervorbringen ... Das ,Neue Europa' wird kommen; die große Frage ist nur die, wie es aussehen wird ... Am ehesten dürfte sich eine dauernde Friedensordnung errichten lassen, falls es gelingen sollte, ganz Europa in einem freien Staatenbunde zu vereinigen. ,Europa als Eidgenossenschaft': dieser Gedanke liegt uns Schweizern naturgemäß besonders nahe. Ein solcher europäischer Staatenbund müßte genügend Macht besitzen, um gegen Friedensstörer wirksam zu intervenieren; mit anderen friedliebenden Weltmächten könnte er ewige Bündnisse abschließen, z. B. im Rahmen eines universellen Völkerbundes. Als Mittelpfeiler, geschaffen zwecks überwindung der europäischen Balkanisierung, wird ein geeinter Kontinent allein dem Völkerbundsgedanken wirksame Dienste leisten können ... Wenn das ,Neue Europa' der Rechtsidee dienen will, so muß es sich natürlich hüten, nach außen hin irgendwie Expansionspolitik zu treiben oder in die Innenpolitik seiner Gliedstaaten unnötig einzugreifen (es sei denn, um alle Kriegsgefahren durch Präventivmaßnahmen auszuschalten)." Im Winter 1939/40 erarbeitete ein "Aktionsausschuß" der schweizerischen Europa-Union unter dem Vorsitz von Dr. Hans Bauer eine umfassende Formulierung ihrer Ziele auf politischem, kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet. Diese "Leitsätze für ein neues Europa" wurden auf einer Delgiertenversammlung im Februar 1940 als Programm 20
Nr. 2/1940, S. 1 f.
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der Vereinigung angenommen 21 • Sie tragen so unverkennbar die Handschrift Adolf Gassers (teilweise stimmen ihre Formulierungen wörtlich mit denen in seinen Publikationen überein) und atmen so sehr seinen Geist, daß er als ihr "spiritus rector" angesehen werden muß. In Anbetracht ihrer fortdauernden hohen Bedeutung für die Konzeption eines effektiv vereinigten Europas und ihres informativen Werts für das diesbezügliche Vorstellungsbild Professor Gassers erscheint es zur Vervollständigung seiner Charakterisierung geboten, dieses Programm in seinen wesentlichen Zügen hier wiederzugeben: Die Leitsätze gehen von dem Gedanken aus, daß die Gesundung Europas und die Vermeidung neuer Kriege nur durch eine grundlegende Neuordnung der europäischen Verhältnisse herbeigeführt werden können. Diese Neuordnung soll die Basis für die Einigung der Völker im einer Europäischen Union, die Ersetzung des Krieges durch eine Schiedsgerichtsbarkeit, die Befreiung der Wirtschaft von den sie einengenden Fesseln, die Lösung sozialer Spannungen, die Freiheit des Individuums und des Geisteslebens abgeben.
Europa stellt - dem Konzept der Leitsätze gemäß - auf Grund seiner geschichtlichen Entwicklung eine geistige und kulturelle Schicksalseinheit dar. Nur eine europäische Bundesgemeinschaft ist heute imstande, die geistigen Daseinsgrundlagen der abendländischen Kultur vor den sie bedrohenden, zerstörerischen Gewalten zu schützen. Das eine geistige Grundideal, das die Ausbildung einer abendländischen Kultur ermöglichte, ist die Idee der Individualfreiheit. Die abendländische Kulturentwicklung geht überall aus von der freien wehrhaften Volksgemeinde, die in ihrer Willensbildung auf die freie sittliche Mitverantwortung der einzelnen Volksgenossen angewiesen war. Auf der Grundlage ursprünglicher Volksfreiheit sind die kleinstaatlichen Bürgergemeinden der Antike und des Mittelalters zu ihren grundlegenden Kulturleistungen fähig geworden. Das zweite Grundelement, auf dem insbesondere die moderne Kultur aufbaut, ist die Idee der Menschenliebe. Der überbordende Machtwille der modernen Staaten kann nur gezähmt werden, wenn die Idee der Gewissensfreiheit überall in Europa wieder zum höchsten Wert erhoben wird. Dieses Ziel und damit die Rettung der abendländischen Kultur ist praktisch nur zu erreichen durch Beschränkung der einzelstaatlichen Souveränität und Bildung eines europäischen Bundesstaates. 21 Sie wurden im Organ der Europa-Union "Der Europäer", VI. Jhg., 1940, Nr. 1 vom Januar 1940, S. 1 f. veröffentlicht (die ,,18 Punkte" erneut ebd., VII. Jhg., 1941, Nr. 7 vom Juli 1941); vollständig erneut abgedruckt in "Die Friedenswarte" , Heft 1/2 vom April 1940, S. 109 - 113, und in der von Walter Lipgens herausgegebenen Dokumentation "Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940 - 1945" (Band 26 der "Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V."), S. 345 ff.
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Der Europäische Bund hat sich deshalb eine bundesstaatliche Verfassung zu geben. Die Souveränität der einzelnen Bundesglieder ist soweit einzuengen, als es die europäische Sicherheit sowie die freie menschliche Entwicklung in wirtschaftlicher, sozialer und geistiger Hinsicht erfordert. Die Verfassung des Bundes hat demokratisch zu sein. Politische Gesinnungsfreiheit und vollkommene Geistesfreiheit sind verfassungsmäßig zu garantieren. Das Bundesparlament besteht aus zwei Kammern. Der Senat wird von den Regierungen der einzelnen Länder besetzt. Die Kammer der Abgeordneten wird von den wahlberechtigten Männern und Frauen der einzelnen Länder im Verhältnis zur Bevölkerungszahl gewählt. Die Bundesregierung besteht aus einem Kollegium von Bundesräten, die vom Bundesparlament auf eine bestimmte Zeit gewählt werden. Die Bundesregierung wählt den jeweiligen Bundespräsidenten für die Dauer eines Jahres aus ihrer Mitte. Zur Sicherung der Zusammenarbeit unter den europäischen Ländern und zur Regelung von Differenzen wird ein Bundesschiedsgericht bestellt, dessen Inanspruchnahme für alle Mitgliedsstaaten obligatorisch ist. Die Tätigkeit des Schiedsgerichts regelt sich nach den bewährten Erfahrungen des Schweizer Bundesgerichts. Zur Sache des Bundes sind zu erklären u. a. die Außenpolitik, die Zoll- und Währungspolitik, die Kontrolle über die gesamte Rüstungsindustrie und das Flugwesen. Die militärische Macht des Bundes besteht aus einer internationalen Polizei. Zu deren Bewaffnung übernimmt der Bund von den einzelnen Ländern die gesamten schweren Waffen, Tanks, Flugzeuge usw., nebst Munition und Zubehör. Den Ländern ist es verboten, derartige Waffen selbst zu halten. Sie sind verpflichtet zum stufenweisen Abbau ihrer Zollpolitik und ihrer stehenden Herre. Der Bund führt eine einheitliche europäische Währung ein. Verfassungsmäßige Gegenstände der Bundesgesetzgebung sind weiter die Gleichstellung aller Bürger, Geschlechter und Sprachen, Einführung einer völkerverbindenden Einheitssprache, die Sicherstellung der Freiheitsrechte aller Bürger, die Niederlassungsfreiheit in allen Bundesgebieten, die Schaffung eines europäischen Bürgerrechts. Die Selbstverwaltung ist in überkommenen und in neuen Formen weitgehend zu pflegen. Das Schulwesen ist im Sinne der Erziehung einer europäisch und demokratisch denkenden Jugend zu reformieren. Das Geschichtsbild ist im Sinne einer europäischen Geschichtsbetrachtung einer zeitgemäßen Reform zu unterwerfen. -
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Auch in allen seinen sonstigen größeren Publikationen hat sich Professor Adolf Gasser stets für die Bildung eines föderativ vereinigten Europas eingesetzt. So befürwortete er bereits in der "Geschichte der Volks freiheit und der Demokratie"22 eine europäische Bundesordnung, die ihre Unterverbände allesamt im Geiste der justizstaatlichen, genossenschaftlichen Volkserziehung zusammenhält und eine Föderation von Föderationen verkörpert. Bemerkenswert sind vor allem auch seine Aufsätze "Kein Weltfriede ohne Europa-Union" von 194423 und "Die Einigung Europas - ein Problem des Vertrauens" von 1950 24 . In Verwirklichung dieser Ziele nahm er 1947 teil an der Gründung der "Europäischen Föderalisten-Union" zu Härtenstein25 und 1950 an der Gründung des "Rates der Gemeinden Europas", der heute im europäischen Kommunalleben bezüglich der Wahrung der Selbstverwaltung und der Rechte der Gemeinden eine vielbeachtete Rolle spielt; nicht zufällig erfolgte seine Konstituierung zu Seelisberg, d. i. in derjenigen schweizerischen Gemeinde, auf deren Boden das Rütli liegt. Vor der 3. Mitgliederversammlung der Deutschen Sektion des "Rates der Gemeinden Europas" in Mannheim am 13. März 1962 hielt Professor Adolf Gasser - "von der Versammlung lebhaft begrüßt"26 - ein grundsätzliches Referat "Für ein Europa der Brüderlichkeit", in dem er sich zum "großen und weiten Vaterland Europa als einer Welt der Freiheit" bekannte und seiner "innigen" Verbundenheit mit "dem freiheitlichen und föderativen Europagedanken" nachdrücklich Ausdruck gab. Er bekundete seine "Freude und Genugtuung" darüber, daß die vor Jahrzehnten gestreute Saat für die Vereinigung Europas heute so machtvoll aufgegangen sei. Der "Rat der Gemeinden Europas" sei entschlossen, "dem verderblichen Irrwahn des aggressiven Nationalismus und Hegemoniestrebens ein für allemal abzusagen". "Mit heißem Herzen" gelte es, sich zur europäischen Brüderlichkeit und zur europäischen Föderation zu bekennen. "Was das föderalistische Europa braucht, ist die Synthese des lebendigen föderalistischen Geistes mit der starken föderalistischen Form. Der künftige europäische Föderalismus muß es fertigbringen, nicht nur Staatsform zu sein, sondern auch Lebensform. Eine solche föderalistische Lebensform zu schaffen, das ist und bleibt die heilige Aufgabe und das oberste Ziel unseres ,Rates der Gemeinden Europas'!" 22
2. Auflage, S. 250.
In "Der Europäer", Nr. 9 vom September 1944. In Basler "National-Zeitung" vom 1. Dezember 1950. 25 Vgl. dazu in der vorliegenden Festschrift den Beitrag von Hendryk Brugmans "Eine Fee und ein guter Geist standen nach dem Zweiten Weltkrieg an der Wiege des Föderalismus". 26 "Der Europäische Gemeindetag" , 1962, Nr. 5/6 vom Mai 1962, S. 219. 23
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Professor Walter Lipgens führt im Hinblick hierauf Adolf Gasser und seine Schriften in seiner 1968 erschienenen, für die Politik- und Geschichtswissenschaft fundamentalen, Dokumentation "Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940 - 1945"27 unter den "Namen und Werken von großer Bedeutung" der schweizerischen Schriftsteller auf, die sich mit der europäischen Einigung beschäftigt hatten, und attestiert Gassers Publikationen, daß sie "gründlich das Konzept der überschaubaren Selbstverwaltungs-Einheiten als Grundelement europäischer Föderation durchdacht" hätten.
Unermeßliches publizistisches Werk Über ein halbes Jahrhundert - von 1929 bis 1983- erstreckt sich die publizistische Wirksamkeit Adolf Gassers. Sie reicht von den Rezensionen historischer und politischer Neuerscheinungen über Leitartikel, Aufsätze in Zeitungen, Zeitschriften und wissenschaftlichen Periodika, gedruckte Vorträge, selbständige Broschüren bis zu umfangreichen wissenschaftlichen und politologischen Büchern. Geradezu unübersehbar ist die Vielzahl seiner Publikationen und die Vielgestaltigkeit der darin behandelten Themen. Allein seine Zeitungskommentare zum Zeitgeschehen übersteigen die Zahl von 700. Daneben verfaßte er 28 Jahre lang (von 1949 bis 1977) "Kurzbetrachtungen" für die Wochenzeitung der Coop-Genossenschaft. Auch die Titel der von ihm besprochenen Bücher zeigen die mannigfaltige Palette seiner Interessen auf. Er ist damit einer der produktivsten und vielseitigsten Autoren unserer Tage. Vordenker der föderalistischen Bewegung Das Schwergewicht der Bedeutung Adolf Gassers liegt in seinem wissenschaftlichen Beitrag zur Fortentwicklung der föderalistischen Konzeption. Hier hat er so Wesentliches geleistet, daß er heute als einer der führenden Repräsentanten des Föderalismus' gilt. Als solcher zählt er - neben Leopold Kohr, Alexandre Mare, Guy Heraud, Walter Ferber, Denis de Rougemont, Robert Lafont, Altiero Spinelli - zu den "großen alten Männern" der föderalistischen Bewegung in Europa. Schon vor einem Vierteljahrhundert konnte Ernst Maste konstatieren2B : "Im ganzen hat Gasser einen der bedeutsamsten Beiträge zur gegenwärtigen Aussprache über das [föderalistische] Ordnungsproblem geleistet." Ein zentraler Gedanke beherrscht das gesamte Wirken Professor Gassers: die Oberwindung der Unfreiheit des Menschen und die Ver27 Band 26 der "Schriften des Forschungsinstitus der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V.", S. 341. 28 In "Die Republik der Nachbarn", Gießen 1957, S. 175.
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wirklichung seiner größtmöglichen Selbstbestimmung in einer menschenwürdigen Ordnung, die dauerhaft nur durch eine föderative Strukturierung aller Gemeinwesen gewährleistet werden kann. Ausbildung einer politischen Gemeinschaftsethik Gassers Denken ist hierbei von einer tief ausgeprägten Ethik getragen. Denn nicht so sehr bestimmte Formen als vielmehr die geistige Haltung steht für ihn im Vordergrund. Gegenüber dem seit Jahrhunderten so verhängnisvoll wirkenden Machiavellismus der nationalstaatlichen Politik kam es ihm auf die Durchsetzung eines ethischen Politikverständnisses an. Insofern steht er auch in der Reihe der großen philosophischen Moralisten des Abendlandes. In diesem Sinne wollte er mit seinem berühmt gewordenen Werk "Gemeindefreiheit als Rettung Europas" - wie in dessen Untertitel expressis verbis zum Ausdruck kommt - die Grundlinien einer ethischen Geschichtsauffassung vermitteln. Er berührt sich in diesem Bemühen insbesondere mit einem andern hervorragenden föderalistischen Denker unseres Jahrhunderts, Friedrich Wilhelm Foerster29 • Ebenso wie Foerster wußte Professor Gasser aus den geschichtlichen Erfahrungen um die unabdingbare Notwendigkeit der Ethik in der Politik. Er ließ es sich deshalb besonders angelegen sein, die Gemeinschaftsethik auszubilden. Dazu forderte er auch ein neues Denken: dieses hielt er für erforderlich, um die Probleme des Gemeinschaftslebens in richtiger Weise erkennen und in konstruktivem Sinn lösen zu können 3o • Und zwar sollte man vor allem lebensnäher denken lernen; dies hieß für ihn rational statt rationalistisch, organisch statt mechanisch, psychologisch statt abstrakt, historisch statt gegenwartgebunden, verwaltungsmäßig statt verfassungsund wirtschaftsmäßig. 31
Idee der Humanität Urquell seines Denkens ist ihm dabei die Humanitätsidee - man möchte fast sagen "naturgemäß", denn sie entspricht der traditionellen Pflege des humanistischen Gedankenguts in seiner Wirkungsstätte Basel seit dem Beginn der Neuzeit, verbunden mit Namen wie Erasmus von Rotterdam, Jacob Burckhardt, Karl Barth, Karl Jaspers - , die er den "höchsten abendländischen Kulturwert" genannt hat 32 • Sie erscheint 29 Vgl. besonders sein Werk "Politische Ethik und politische Pädagogik", München 1910, das mehrere Auflagen erlebt hat. 30 "Der Europäische Mensch in der Gemeinschaft", in: "Europa Aeterna. Eine Gesamtschau über das Leben Europas" ("Kultur, Wirtschaft, Staat und Mensch"), Band III, S. 141 - 149 (erneut abgedruckt in "Staatlicher Großraum und autonome Kleinräume" , S. 3 ff./4). 31 "Gemeindefreiheit" , S. 168. 32 Ebd., S. 29.
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ihm mit der schweizerischen Idee weitgehend verwandt 33 • Nachdrücklich betont er die Verpflichtung, den Idealen der Freiheit, Demokratie und Humanität nach besten Kräften nachzuleben34 • Freiheit und Toleranz sind ihm "die Schicksalswerte der abendländischen Kultur" 35. Die wichtigsten der "tief-sittlichen Lebenswerte" sind für ihn: das Bekenntnis zu Freiheit und Recht, die Bereitschaft zu Vertrauen und Vertragstreue, der Sinn für Verträglichkeit und Maßhalten, die Achtung vor den Lebensrechten des Schwächeren36 • Als höchstes Ziel sieht er daher dem einzelnen die Arbeit an der eigenen sittlichen Vervollkommung gestellt37 • Darüber hinaus betrachtet er es als die Aufgabe unserer Zeit, "gleichsam über Montesquieu und Marx hinaus, den Weg zu einer Staats- und Gesellschaftslehre von höherer Lebenswahrheit zu erschließen, unbehindert von aller festgefahrenen Parteidogmatik, aber dafür ausgerichtet auf die wahrhaft schicksalsentscheidenden Grundwerte allen menschlichen Gemeinschaftslebens, auf die Gewissenskräfte des Rechts und der Moral: Freiheit, Verantwortung und Vertrauen"38. Im Einsatz für diese Werte geht es um die Wahrung "der heiligsten Traditionen des Abendlandes"39.
Optimistische Geschichtsauffassung Seine Geschichtsauffassung ist optimistisch ausgerichtet: er glaubt an das Gute und selbsttätig Verbesserungsfähige im Menschen40 und spricht dem Glauben an den menschlichen Fortschritt - "solange es noch eine Welt des Kommunalismus und des ethischen Kollektivismus gibt" - seine "tiefe Berechtigung" zu 41 • In seinem Denken ist er keiner bestimmten Ideologie verhaftet, sondern gibt er grundsätzlich dem gesunden Menschenverstand in der Beurteilung der Erscheinungen dieser Welt den Vorrang42 • 33 Ebd., S. 87. Bemerkenswert ist dazu sein Bekenntnis: "Und es hat seinen tiefen Sinn, wenn wir Eidgenossen auf Mitbürger wie Nikolaus von Flüe, Nikolaus Wengi, Heinrich Pestalozzi, General Dufour, Henri Dunant ganz besonders stolz sind; verkörpert sich in ihnen doch in selten reiner Form der Geist der Menschlichkeit." ("Gemeindefreiheit", S. 86.) 34 Ebd., S. 187. 35 "Großräume", S. 3. 3& "Gemeindefreiheit", S. 29. 37 Ebd. 38 "Grundlagen", S. 95. 39 "Rußland eine andere Welt", Leitartikel in Nr. 517 der Basler "NationalZeitung" vom 4. November 1944 (erneut abgedruckt in "Für Freiheit und Recht", S. 184 ff./187). 40 "Gemeindefreiheit", S. 29. 41 Ebd., S. 29. 42 Vgl. insbesondere "Bürgermitverantwortung als Grundlage echter Demokratie", Vortrag gehalten in Heidelberg am 21. März 1959 (abgedruckt in "Staatlicher Großraum und autonome Kleinräume" , S. 31 ff./47).
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Die Gemeinde als humanitäre Bürgerschule42a Als Grundbedingung für die Verwirklichung der genannten Werte hebt er das Vorhandensein wahrer Gemeindefreiheit hervor. Die sittlichen Kräfte, die jeder auf Gemeindefreiheit fußenden Staatsbildung zugrundeliegen, sind in ihrem Wesenskern durch einen hohen Glauben gekennzeichnet: durch den Glauben an das Gute im Menschen42b • Aus dem lebendigen Selbstverwaltungswillen und der ihm entstammenden kollektiven Bereitschaft zur Gesetzestreue, zum Vertrauen, zur Verträglichkeit fließt von selbst der Glaube an das Verantwortungsbewußtsein der Mitmenschen: an ihre Einsicht, ihre Tatkraft, ihren Opfermut. Nur dort, wo geistespolitische Voraussetzungen solcher Art bestehen, können sich Freiheit und Demokratie bewähren; denn nur dort ist es möglich, das freie politische Mitspracherecht aller Mitbürger gemeinhin als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten 43 • Jedes genossenschaftlich-kommunale Gemeinwesen verkörpert eben deshalb eine humanitäre Bürgerschule, weil in ihm alle Staats- und Rechtsordnung seit jeher auch vom einfachen Mann mitgetragen worden ist 44 • Nur im übersichtlichen Kleinraum der Gemeinde können nach seiner Überzeugung jene geistigen und sittlichen Kräfte erwachsen, die imstande sind, Individualismus und Kollektivismus miteinander zu versöhnen. 45 Die Gemeinde ist ihm daher die Quelle der Gemeinschaftsethik: "Von vornherein sind in der kommunalen Gemeinschaftsethik zwei kulturschöpferische sittliche Kräfte keimhaft enthalten und zu einem unteilbaren Ganzen verbunden: Individualfreiheit und Nächstenliebe."46 Auf Grund der die freien Gemeinden beseelenden Ethik besteht hier auch eine überaus innige Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft 47 . Ohne umfassende Gemeindeautonomie kann es deshalb keine festgegründete und entwicklungsfähige Gemeinschaftsmoral geben, keinen 42" Vgl. dazu insbesondere seinen Aufsatz "Die Schweizer Gemeinde als Bürgerschule", in: Hanspeter Mattmüller (Hrsg.), Gespräch und Begegnung. Gabe der Freunde zum 70. Geburtstag von Fritz Warteweiler, Zürich 1959, S. 35 ff. (Neuabdruck in "Staatlicher Großraum und autonome Kleinräume", S. 83 ff.). - Vgl. grundsätzlich hierzu über Adolf Gassers Einstellung: Emil Egli, Im Bergschnitt, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.), Lob des Kleinstaates. Vom Sinn überschaubarer Lebensräume (Herder Initiative 32), München 1979, S. 101: "Die Gemeinde ist die Bürgerschule. Das ist der Kerngedanke von Adolf Gassers Büchern über die Gemeindefreiheit, die nach dem Zweiten Weltkrieg europäisch hilfreich waren." 42b So die ausdrückliche Überschrift des Schlußkapitels in "Gemeindefreiheit als Rettung Europas" . 43 "Gemeindefreiheit", S. 255. 44 Ebd., S. 29 f. 45 Ebd., S. 224. 46 Ebd., S. 29. 47 Ebd., S. 27.
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allgemeinen Glauben an die Geltung der Rechtsidee, keine Gewöhnung an überparteiliche Vertrauens- und Verantwortungsbereitschaft, keine lebendige Volkserziehung zu Toleranz und Humanität - und damit auch keine freiheitliche Demokratie!48 Das Selbstverwaltungsprinzip ist dementsprechend "schlechtweg als die Urzelle der abendländischen Kultur zu bewerten"49.
Für umfassende Gemeindeautonomie Adolf Gasser setzte sich im Hinblick hierauf - und das macht seine unvergängliche geschichtliche Leistung aus - wie kein anderer föderalistischer Denker vor ihm für die Schaffung, den Ausbau und die Sicherung einer umfassenden Gemeindeautonomie ein. In den Gemeinden erblickte er die tragenden Fundamente des Staatsaufbaues und in ihrer Freiheit die Voraussetzung jeder wirklichen Demokratie. Gemeinschaft in der Freiheit ist auf Grund seiner Erfahrungen nur dort wahrhaft lebensfähig, wo eine Gemeinschaft wie gerade die Gemeinde ein übersichtliches Gebilde darstellt, in dem man einander persönlich kennt und gewohnt ist, die Menschen nicht nach ihrer Parteizugehörigkeit, sondern vorab nach ihren Fähigkeiten und noch mehr nach ihrem Charakter zu beurteilen50 . Die kleinräumige Überschaubarkeit der Gemeinde also ist es in erster Linie, die hier eine reale politische Mitbestimmungsmöglichkeit der Bürger gewährleistet und das Verständnis für Entscheidungsverantwortung im öffentlichen Bereich erfahren lehrt. "Anders als der herrschaftliche Staat wurzelt der genossenschaftliche seinem Wesen nach notwendig stets im kleinen Raum. Und zwar ist es die kleine, übersichtliche Raumeinheit der Gemeinde, in der allein lebendige genossenschaftliche Selbstverwaltung sich entfalten kann."5t Diese Entdeckung des kleinen Raumes und der Überschaubarkeit als Grundvoraussetzungen einer funktionierenden Demokratie gehört zu den "Grundlagen", S. 96. a.a.O. (Anm. 30), S. 5. 50 "Gemeindefreiheit" , S. 166 f. 51 Ebd., S. 13. Vgl. auch seine Ausführungen in seinem Artikel "Zum Problem der autonomen Kleinräume. Zweierlei Staatsstrukturen in der freien Welt", in: "Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 31/77 vom 6. August 1977, S. 4: "Nur in einer übersichtlichen, lebensnahen Gemeinschaft vermag sich der Normalbürger das zu erwerben, was man als politisches Augenmaß, als Sinn für die menschlichen Proportionen zu bezeichnen pflegt. Nur hier lernt er im täglichen Gespräch die berechtigten Anliegen seiner andersgesinnten und andersinteressierten Nachbarn einigermaßen begreifen und ihnen Rechnung tragen; nur hier entwickelt sich auf dem Boden der Freiheit jenes Minimum an Gemeinschaft, das den Hang zum Autoritarismus wie zur Anarchie wirksam einzudämmen vermag. In diesem Sinne sind und bleiben autonome Kleinräume unersetzliche Bürgerschulen, ohne die gerade der freiheitlich-demokratische Staat in seinen Wurzeln verdorren müßte." 48 49
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fundamentalen Erkenntnissen der Lehren Gassers. 51 " Auch dem Kleinwie sein Landsmann Jacob Burckhardt52 - den Vorrang vor dem Großstaat. Er stand damit in frontalem Gegensatz zur herrschenden Staatsauffassung, namentlich des 19. Jahrhunderts. die in möglichst großen Staaten das Endziel der anzustrebenden politischen Entwicklung erblickte und geringschätzig auf die kleineren politischen Einheiten herabsah. Wenn heute zunehmend in der Öffentlichkeit das Verständnis für die Zuträglichkeit des "menschlichen Maßes" - auch dafür ist Professor Gasser stets eingetreten53 - auch im politischen Bereich und damit für das kleinstaatliche Ideal wächst, so ist dies - neben Leopold Kohr 53 & und Ernst
staat gab er unter diesen Gesichtspunkten -
51,. Vgl. dazu vor allem seine Abhandlung "Staatlicher Großraum und autonome Kleinräume" , in: "Politische Rundschau", 54. Jhg. (1975), Heft 4, S. 153 bis 1959, nach welchem der oben (Anm. 17) erwähnte Sammelband seiner Aufsätze - in welchem auch dieser veröffentlicht ist (S. 145 ff.) - benannt ist, sowie seinen eben (Anm. 51) zitierten Artikel "Zum Problem der autonomen Kleinräume" . 52 Vgl. insbesondere "Weltgeschichtliche Betrachtungen" (Ausgabe Alfred Kröner Verlag in Leipzig, o. J.), S. 34: "Der Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die größtmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne sind ... (S. 35). Der Kleinstaat hat überhaupt nichts als die wirkliche tatsächliche Freiheit, wodurch er die gewaltigen Vorteile des Großstaates, selbst dessen Macht, ideal völlig aufwiegt." Die Vorteile des Kleinstaates gegenüber dem Großstaat hoben u. a. auch Montesquieu ("De l'Esprit des Lois", VIII. Buch, 16. Kapitel), Rousseau ("Contrat Social", 11. Buch, 9. Kapitel, und 111. Buch, 2. Kapitel), Tocqueville ("De la Democratie en Amerique", I. Teil, 8. Kapitel), Constantin Frantz ("Die Naturlehre des Staates", S. 422 ff.) hervor. Vgl. auch Eduard Sieber, Die Idee des Kleinstaates bei den Denkern des 18. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland, Diss. Basel 1920; Oscar Bernhard Cappis, Die Idee des Kleinstaates im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Basel 1923; Fritz Ernst, Die Sendung des Kleinstaates, Zürich 1940; Werner Kaegi, Der Kleinstaat im europäischen Denken, Zürich 1942; Walter Ferber, Die Würde des Kleinstaates, in: Bayerische Staatszeitung, 1957, Nr. 30 vom 27. Juli 1957, S. 2; Jan Huizinga, Im Banne der Geschichte, Basel 1943 (zit. nach Adolf Gasser, Gemeindefreiheit als Rettung Europas, 2. Auflage, S. 259). Neuerdings insbesondere Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.), Lob des Kleinstaates. Vom Sinn überschaubarer Lebensräume (Herderbücherei INITIATIVE 32, Band 9532), München 1979, m. w. N. 53 Vgl. z. B. "Gemeindefreiheit" , S. 165: "Je kleiner die Gemeinschaft, um so mehr entspricht sie dem Maße des Menschen"; "Zum Problem der autonomen Kleinräume" , a.a.O. (Anm. 51), S. 4: "Nur der politische Kleinraum verkörpert eine auf das Maß des Menschen zugeschnittene Organisation." (Unter Hinweis auf Arthur Morgan, The small Community. Foundation of democratic Life, London 1942.) Vgl. auch "Staatlicher Großraum und autonome Kleinräume" , S. 147: "Mehr denn je ist der politische Großraum heute darauf angewiesen, daß die ihn konstituierenden und zusammensetzenden Kleinräume ihre Lebenskraft bewahren. Von Natur aus kann der Einzelne mit seinem politischen Erkenntnisvermögen und Solidaritätsbewußtsein des lebendigen Kleinraums nicht entbehren, vor allem, weil nur dieser eine auf das Maß des Menschen zugeschnittene Organisation verkörpert." 53& Vor allem in seinen Werken "Die ,überentwickelten' oder die Gefahr der Größe", Düsseldorf - Wien, 1965; "Weniger Staat. Gegen die übergriffe der Obrigkeit", Düsseldorf - Wien, 1963; "The Breakdown of Nations", London, 1957.
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Friedrich Schumacher53b - vor allem dem geistigen Pionierwirken Adolf Gassers zu verdanken. Die freie Gemeinde ist ihm Ausgangsbasis einer jeden auf Selbstverwaltung beruhenden Staatsbildung54 . "Administrative Selbstverantwortung und Selbsterziehung ist ihrem Wesen nach identisch mit volksstaatlicher Selbstverwaltung - und echte volksstaatliche Selbstverwaltung kann alleweil lediglich aus dem kleinen, überschaubaren Raum der freien Gemeinde emporwachsen. Einzig auf dem Boden echter Lokalautonomie können die Bürger lernen, in gemeinsamer Verantwortung zusammenzuarbeiten, in wahrhaft überparteilichem Geiste aufeinander Rücksicht zu nehmen."55 Das freiheitlich-föderative Ordnungsprinzip der lokalen Selbstverwaltung ist deshalb für ihn "der einzige Mutterboden wahrer, dauerhafter Demokratie"56. Nur die kommunale Selbstregierung bietet "in der Tat die einzige dauerhafte Sicherung eines freiheitlich-demokratischen Staatsideals"57.
Das staatliche Gemeinwesen eine Föderation freier Gemeinden Ausgangspunkt einer genossenschaftlich-dezentralisierten Staatsbildung im föderalistischen Sinne ist für Adolf Gasser - und insofern unterscheidet er sich grundlegend vom Liberalismus und seinem atomistischen Individualismus - nicht die Individualfreiheit, sondern die Gemeindefreiheit58 . Nicht vom Einzelnen her, sondern von den kommunalen Körperschaften her muß sich der Staat als föderalistisches "Gemeinwesen" der Zukunft58a bilden, und zwar - und hier decken sich seine Anschauungen vor allem mit denen von Johannes Althusius, Constantin Frantz und Gustav Landauer - durch eine freiwillige vertragliche Föderation von Gemeinden: "Nur dort, wo Staatswesen eine Vereinigung freier Gemeinden verkörpern, wo sie in genossenschaftlichem Geist von unten her aufgebaut sind, auf föderative Selbstverwaltung und Koordination gegründet sind, nur dort können sich die schwächeren, aber lebendigeren Gemeinschaften vor unnötigen Staatseingriffen unbedingt geschützt fühlen, und nur dort werden die Bürger immer mehr 53b "Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wirtschaft und Technik" ("Small is beautiful"), Reinbek bei Hamburg, 1977. 54 a.a.O. (Anm. 30; in "Staatlicher Großraum und autonome Kleinräume" ,
S.4).
"Grundlagen", S. 34. "Gemeindefreiheit" , S. 30. 57 a.a.O. (Anm. 30 und 54; S. 7). 58 "Gemeindefreiheit" , S. 2'7. 58a Vgl. dazu in dieser Festschrift den Beitrag von Ernst Maste "Vom Staat zum Gemeinwesen". 55
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,gemeinschaftsgläubig' als ,apparatgläubig' sein."59 Um auf dem Boden der Freiheit eine "volkstümliche Ordnung" begründen zu können, darf der Staat seinem Wesen nach nichts anderes sein als eine Vereinigung lokaler Vertrauensgemeinschaften60 •
Aufbau von unten nach oben Einer der wesentlichen Bestandteile im Lehrgebäude Professor Gassers ist die These des notwendigen Aufbaues der öffentlichen Gemeinwesen von unten nach oben. Immer wieder betont er an unzähligen Stellen seiner Schriften dieses Erfordernis als Grundbedingung funktionsfähiger Volksherrschaft. Er sieht darin die einzig mögliche organische Staatsbildung61 • Sie stellt er dem bisher in den "obrigkeitlichen" Staaten herrschenden Staatsverständnis gegenüber, nach welchem zuerst die "eine und unteilbare Republik" - die "republique une et indivisible" der Französischen Revolution - vorhanden ist, die sich dann nach unten in die einzelnen Verwaltungs einheiten - als welche auch die Gemeinden und die sonstigen kommunalen Verbände verstanden werden - gliedert. Sie hat die Staatsauffassung des fürstlichen Absolutismus' übernommen, derzufolge die eigentliche Staatsgewalt in der staatlichen Spitze liegt und mit Hilfe des Beamtenapparats das Volk "von oben her" regiert wird. Demgegenüber vertritt Adolf Gasser mit Nachdruck die Anschauung, daß sich von den Gemeinden her in fortlaufender Stufenfolge nach oben über die jeweils weiteren Verbände der staatliche Zusammenschluß vollziehen muß. Auch damit hat er einen maßgeblichen Beitrag zu einer wahrhaft demokratischen Gestaltung unseres Gemeinlebens erbracht.
Durchgängige föderalistische Strukturierung Auch zum richtigen Verständnis des Föderalismus' und zur Vervollständigung des föderalistischen Weltbildes hat er damit in verdienstvoller Weise beigetragen. Denn vielfach herrscht die Ansicht vor nicht zuletzt auch in wissenschaftlichen Kreisen - , daß der Föderalismus eine Angelegenheit der Beziehungen zwischen Staaten, namentlich im bundesstaatlichen Verhältnis, sei und sich darin erschöpfe. In Berichtigung dieses weitverbreiteten Mißverständnisses hat Professor Gasser klargestellt, daß der Föderalismus ein durchgängiges Strukturprinzip ist, das bei den kleinsten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einheiten beginnt und sich bis in die umfassendsten 59
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"Geschichte der Volksfreiheit und der Demokratie", S. 231. "Gemeindefreiheit" , S. 22 f. Ebd., S. 15.
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Gemeinschaftsbildungen auf internationaler Ebene erstreckt. "Soll das föderative Ordnungsprinzip", so betont Adolf Gasser 62 , "nicht in der Luft hängen bleiben, so muß es in den Fundamenten des Staates wirksam sein und nicht erst in einem oberen Stockwerk!" Es hat deshalb auszugehen von der freien, wehrhaften Volksgemeinde, d. h. von dem auf sich selbst gestellten, von keiner autoritären Beamten- und Herrschaftsapparatur abhängigen Kommunalverband 63 . Denn im Grunde lebt in echter kommunaler Selbstregierung nichts Geringeres als das geistige Prinzip allen echten Föderalismus', nicht zuletzt deswegen, weil jede autonome Gemeinde im Wesenskern selbst nichts anderes als eine Föderation freier Bürger darstellt 64 • Der erste Schritt, der allein die Voraussetzungen für einen lebendigen Föderalismus zu schaffen vermag, ist infolgedessen die Einführung der Gemeindefreiheit65 • Auf keinen Fall darf man sich damit begnügen - wie dies vor allem in Deutschland der Fall war - , einen großräumigen Föderalismus ins Leben zu rufen, ohne in der Folge für die Ausbildung einer umfassenden und rechtlich fest gesicherten Gemeindeautonomie besorgt zu sein. 66 Das Wesen jeden echten Föderalismus' beruht Gassers Lehre gemäß vielmehr auf dem politischen Willen, möglichst viel administrative Verantwortung auf die kleineren Gemeinschaften zu delegieren und dergestalt einen organischen Staatsaufbau von unten her zu realisieren. "Und zwar muß jeder Föderalismus, wenn er echt und dauerhaft sein will, den Hauptrückhalt an einer echten Gemeindeautonomie finden."67 Auf Grund seiner Feststellungen nimmt in unserer Zeit allenthalben die Erkenntnis zu, daß einzig der in umfassender Gemeindeautonomie verwurzelte Föderalismus ein gesundes Gemeinschaftsleben zu gewährleisten vermag. 68 Nur mit Hilfe einer solchen organischen föderalistischen Gliederung auf der Grundlage der Gemeindefreiheit kann wirksam auch einer der bedrohlichsten Erscheinungen unseres Zeitalters, der Vermassung der Menschen69 , begegnet werden: "Einzig eine organisch gegliederte Demo62 63 64
"Grundlagen", S. 47. "Gemeindefreiheit" , S. 14. a.a.o. (Anm. 30; in: "Staatlicher Großraum und autonome Kleinräume" ,
S.l1).
"Gemeindefreiheit" , S. 144. Ebd., S. 205. 67 "Grundlagen", S. 47. 68 "Gemeindefreiheit" , S. 192. 69 Ihre Symptome wurden hauptsächlich erkannt von Constantin Frantz ("Louis Napoleon"), Gustave Le Bon ("Psychologie der Massen"), Artur Mahraun ("Das Jungdeutsche Manifest"), Ortega y Gasset ("Aufstand der Massen"), Hendrik De Man ("Vermassung und Kulturverfall"), Wilhelm Röpke ("Gesellschaftskrisis der Gegenwart" und "Civitas humana"). 65 66
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kratie vermag bannen."7o
die
modernen
Vermassungsgefahren
wirklich
zu
Kritik des Verwaltungszentralismus' und des Subordinationsprinzips Die Verwirklichung dieser erstrebten Ordnung sieht Professor Gasser am gravierendsten behindert durch den aus den Zeiten des Absolutismus' fortdauernden Verwaltungszentralismus und das diesem kongruente Subordinationsprinzip in den meisten kontinentalen Nationalstaaten. "Bis heute war es dort immer eine von oben her eingesetzte Beamtenschaft, eine ortsfremde, mit umfassender Befehlsgewalt ausgestattete Bürokratie, die in entscheidender Weise über die regionalen und lokalen Verwaltungsgeschäfte bestimmte."71 Die Bürgerschaft wurde dadurch nicht nur politisch entmündigt und entrechtet, sondern gewöhnte sich auch daran, die Besorgung der öffentlichen Angelegenheiten dem Staat und seinen Bediensteten zu überlassen. Wo immer aber ein System der zentralistischen Beamtenhierarchie und der obrigkeitlichen Befehlsverwaltung besteht, da wird der Staatskörper im tiefsten Grunde durch eine autoritäre, freiheitsfeindliche Ordnungsklammer zusammengehalten: durch den Herrschajtswillen. Daraus folgt: Auf dem Boden des Verwaltungszentralismus' und des ihm zugehörigen Subordinationsprinzips können freiheitlich-parlamentarische Verfassungseinrichtungen eigentlich nur dazu dienen, das wahre System der Dinge zu verschleiern,72 und bleibt jeder Parlamentarismus "dazu verurteilt, zum Quell der Unordnung zu werden"73. Auch muß, wo der Staat als Befehlsapparat empfunden wird, der Volkskörper zutiefst vom Machtdenken vergiftet bleiben74 . Ebenso wie sein Basler Landsmann Jacob Burckhardt steht Adolf Gasser dem Phaenomen der Macht durchaus skeptisch gegenüber. Er argwöhnt, daß sie allzu leicht zu ihrem Mißbrauch verführt und die Freiheit unterdrückt. Insbesondere lehnt er die Konzentration der Macht in der Staatsspitze als demokratiewidrig ab. Die obrigkeitlich-zentralistische Staatstheorie gründet sich nach seiner Erkenntnis auf die Idee der hierarchischen Befehlsverwaltung und geht daher ihrem Wesen gemäß einseitig vom apparat- und machtmäßigen Denken aus. Danach ist der Staat Selbstzweck und hat demzufolge zu seiner Erhaltung primär auf ein Maximum an Macht bedacht zu sein. Damit ist aber der Mensch als Mittel zum Zweck 70
a.a.O. (Anm. 30; in: "Staatlicher Großraum und autonome Kleinräume" ,
S. 12). 71
72 73 74
Ebd., S. 13. "Gemeindefreiheit" , S. 143 f. Ebd., S. 152. "Geschichte der Volksfreiheit und der Demokratie", S. 230.
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erklärt und gerät er in Gefahr, zum Objekt der Gewaltgläubigkeit und der Machtgier herabzusinken. 75 Jedes beamtenstaatliche, im Grunde militärähnlich organisierte "regime administratif" läuft nach der Anschauung Professor Gassers auf eine übermacht des Befehlsprinzips hinaus. Völker aber, die an die Herrschaft des administrativen Kommando- und Subordinationsprinzips gewohnt sind, vermögen sich staatliche Ordnung allzu leicht nur in den Kategorien des Befehlens und Geharchens vorzustellen und fühlen sich deshalb verpflichtet, jeden amtlichen Befehl widerspruchslos auszuführen - unter Ausschaltung sogar des eigenen GewissensF6 Damit tötet aber jedes System des Befehlens die Gewissen des Volkes ab und erscheint insofern als "ein Werk des Teufels"77. Mit all dem ist das eigentliche Krebsübel diagnostiziert, das alle anderen politisch-sozialen Krankheiten erst unheilbar werden läßt: der zentralistische Verwaltungsaufbau und das ihm wesenseigene, militaristischem und bürokratischem Denken entspringende, die Eigenverantwortung der Staatsbürger aushöhlende hierarchische Befehls- und Subordinationsprinzip. "Wo immer ein Staatswesen es versäumt, seine Bürger zu einem volksstaatlich-genossenschaftlichen Verwaltungs- und Ordnungsideal zu erziehen, da muß die kommandostaatlich-herrschaftliche Machtidee zwangsläufig alle politischen und sozialen Denkvorstellungen überwuchern."78
Parlamentarische Scheindemokratie Ein besonderes Verdienst Professor Gassers ist es, aufgezeigt zu haben, daß beim Vorliegen eines solchen hierarchisch-zentralistischen Verwaltungs systems auch eine formell freiheitliche Verfassung nur eine vorgelagerte Attrappe ist. Das eigentliche Sagen in einem solchen System hat der bürokratische Befehlsapparat, nicht das Parlament und nicht das Volk. Die demokratischen Institutionen vermögen sich letzten Endes nicht gegenüber den Kräften durchzusetzen, die den obrigkeitlichen Staatsapparat in der Hand haben. Solange nicht ein dezentralisierter, freiheitlich-genossenschaftlicher Unterbau geschaffen ist, drohen parlamentarische Regierungsformen nur immer wieder, die Idee der Demokratie zu diskreditieren. 79 Denn "Parlamentarismus" heißt "Gemeindefreiheit", S. 257. "Grundlagen", S. 31. 17 Ebd., S. 94. 78 "Geschichte der Volksfreiheit und der Demokratie", S. 242; ebenso "Gemeindefreiheit", S. 71, und "Grundlagen", S. 92. 79 "Gemeindefreiheit" , S. 198, 75
78
3 Festschrift Gasser
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unter solchen Umständen nur: Kampf der Parteiklüngel um die Regierungsgewalt, um die eigenen Parteianhänger im ganzen Land mit Beamtenste1.1en zu belohnen. Bo Der zentralistische Parlamentarismus stellt demgemäß bloß "einen Tummelplatz der Ideologien, der Abstraktion, der Maßlosigkeit, des verbalen Aufruhrs und der reinen Demagogie" dar B1 . Gasser spricht in Anbetracht dessen vom "Wechselbalg der bisherigen Formaldemokratie" in den zentralistischen Obrigkeitsstaaten mit ihrer "widersinnigen Verknüpfung von Verwaltungszentralismus und Parlamentarismus"B2.
Versagen der herkömmlichen Parteien Adolf Gasser wirft den überkommenen Ideologie-Parteien vor, daß sie in der Erkenntnis und Bewältigung dieses Problems seit der Französischen Revolution allesamt versagt hätten: "In sämtlichen zentralistisch organisierten Staatswesen haben Klerikale, Liberale und Sozialisten, wo immer sie Anteil an der Macht erhielten, gemeinsam am Ordnungssystem der Beamtenhierarchie und der Befehlsverwaltung festgehalten und keine wahre Gemeindefreiheit aufkommen lassen. Auch die Kommunisten förderten überall das zentralistische Verwaltungsprinzip."B3 Mit anderen Worten kann man feststellen: "Außerhalb der kommunal-föderativen, von unten her aufgebauten Staatsbildungen blieben alle großen Parteien, die bürgerlichen wie die marxistischen, aufs stärkste dem feudalistischen Herrengeist verhaftet und arbeiteten daher in der Regel stramm und eifrig darauf hin, den Verwaltungszentralismus und das ihm zugrundeliegende Subordinationsprinzip zu stärken. Und eben dadurch verhinderten sie, in seltener Einigkeit, das Aufkommen jeder dauerhaften Freiheit und machten sie den Sieg des Totalstaates ganz unvermeidlich."B4 Nach Auffassung Gassers zeugen daher "die klerikalen, liberalen, sozialistischen Denksysteme von bedenklicher Lebensfremdheit, ja Lebensfeindlichkeit. Nur zufolge solch lebensfremder Einstellung konnte man übersehen, daß im großräumigen Machtbereich einer zentralistischen Beamtenhierarchie und obrigkeitlichen Befehlsverwaltung keine freiheitlich konservative Gemeinschaftsethik und damit auch keine volkstümliche Demokratie zu erwachsen vermag."B5 In allen liberalisierten Obrigkeitsstaaten zeigte 80 81
Ebd., S. 139. a.a.O. (Anm. 42; in: "Staatlicher Großraum und autonome Kleinräume"
S.37). 82
83
8' 85
"Gemeindefreiheit" , S. 126. Ebd., S. 163. Ebd. Ebd., S. 165.
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sich dementsprechend immer wieder das gleiche Bild: Rechts- wie Linksparteien wiesen sich jeweils gemeinsam als Stützen der zentralistischen Herrschaftsidee aus. So heiß sie auch sonst ihre gegenseitigen Rivalitäten auszutragen pflegten - im Festhalten an der autoritären Verwaltungsordnung blieben Konservative, Liberale und Sozialisten in ihrer überwältigenden Mehrheit grundsätzlich einig!86 Professor Gasser wies hierzu informativ nach, in wie vielen Fällen das System einer solchen zentralistischen Parteienherrschaft mit formaldemokratischen Strukturen allein im Zeitraum zwischen 1920 und 1940 in Europa zusammengebrochen ist (dazu gehörten Italien, Spanien, Portugal, Polen, Lettland, Litauen, Ungarn, Griechenland, Deutschland, Österreich, Rumänien, Frankreich). Man könnte dazu ergänzend auf die Zusammenbrüche der parteienstaatlichen Regimes nach 1945 (u. a. in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, alle bereits vor 1948 - , in Frankreich [1958], Griechenland [1967], zweimal in der Türkei, in Argentinien, Chile, Brasilien usw.) hinweisen. Sie alle hatten mangels Fundierung in einer echten Gemeindeautonomie und einem föderalistischen Verwaltungsaufbau keine echte Demokratie zu entwickeln und dementsprechend auch dem Zugriff der diktatorialen Kräfte nicht zu widerstehen vermocht. Adolf Gasser macht deshalb warnend darauf aufmerksam, daß auch in Zukunft überall dort, wo kein organischer Aufbau von unten nach oben mit einem echten Mitbestimmungsrecht der Bürger erfolgt ist, wieder die gleiche freiheitsfeindliche Entwicklung droht; denn "auf dem Boden des ,regime administratif' und des hierarchischen Verwaltungszentralismus wird die Zukunft zwangsläufig statt dem freiheitlichen dem autoritären Staatsprinzip gehören". 87
Gegen den Militarismus Besonders setzte sich Adolf Gasser kritisch mit der Militärherrschaft auseinander. An vielen Stellen seiner Schriften88 geißelte er den verderblichen Geist des Militärwesens mit seiner Gewaltgläubigkeit, seinem Befehlsprinzip und seiner Untertanengesinnung. Das dem militaristischen Denken entspringende hierarchische Befehlsprinzip nannte er "das eigentliche Krebsübel, das alle anderen Krankheiten erst unheilbar werden läßt"89. Unter allen Übeln, an denen die Menschheit kranke, sei der Militarismus weitaus das größte - gleichsam das Grundübel
88
Ebd., S. 144. "Grundlagen", S. 92. Allein in der "Gemeindefreiheit" auf den Seiten 44, 71, 99, 156, 158 f., 170,
89
"Gemeindefreiheit" , S. 71.
88 87
244,246,247.
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schlechtweg90 • Im Militarismus sah er eine Macht, von der, wie von keiner zweiten, entsittlichende und freiheitszerstörende Wirkungen ausgingen0 1 • Die "Macht an sich", wie sie sich im Militarismus und dem aus ihm erwachsenen obrigkeitsstaatlichen Bürokratismus verkörpert, sei eine dämonische Kraft. Gelinge es ihr irgendwo, über das Freiheitsdenken zu triumphieren, so müsse sie ihrem Wesen nach darnach streben, zum höchsten Wert schlechtweg zu werden u2 • Wo ein Volk aber im militärischen Machtwillen den höchsten Sinn des Daseins erblicke wie es etwa in Deutschland und Japan nach 1933 geschehen sei - und infolgedessen den Idealen der Freiheit und Gleichheit den Kampf ansage, da sei auch eine Korrektur des Mißbrauchs der Macht "ganz und gar unmöglich" 93. Herrschaft durch Militärgewalt habe noch immer in der europäischen Geschichte zu Haß und Auflehnung, zu Ausbeutung und Verarmung geführt. u3a Schon die antike Kultur ist nach den historischen Erkenntnissen Professor Gassers zwangsläufig zugrunde gegangen, nachdem der Militarismus die alte kommunale Ethik, auf der sie emporgewachsen war, zerstört hatte u4 • Mit der Gleichstellung von Recht und Nutzen zerstöre der Militärstaat die letzten Reste eines selbständigen Volksgewissens. Sinn dieser Praxis sei es nicht zuletzt, die Einzelmenschen dazu abzurichten, allen Glauben an ein objektives Recht fahren zu lassen. Der Einzelne solle sich endgültig selbst als frei wollende Individualität auslöschen; sein Gewissen solle nur noch solche Wertmaßstäbe kennen, welche die von oben her geleitete Staatsmaschine augenblicklich gerade für zweckmäßig halte. Ihre höchste Steigerung habe diese "Revolution des Nihilismus", deren Endziel die Erziehung auch der Zivilbevölkerung zum Kadavergehorsam bilde, notwendig im preußischen Militärstaat finden müssen. Das seit 1866 verpreußte Deutschtum habe sich denn auch in immer höherem Grade darauf angewiesen geglaubt, die Idee der kriegerischen Größe zu verherrlichen und den Herrschaftsgedanken ins Extrem zu erheben.us Alles in allem liegen - so konstatierte Adolf Gasser - auch im 20. Jahrhundert immer noch die gleichen geistespolitischen Vorausset90 "Von der Passion zur Auferstehung", Leitartikel vom 31. März 1945 in der Basler "National-Zeitung" (abgedruckt in "Für Freiheit und Recht", S. 200 ff./202). U "Gemeindefreiheit" , S. 44. 92 Ebd., S. 247. 93 a.a.O. (Anm. 90). 93a In "Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit", Leitartikel in der Basler "National-Zeitung", Nr. 125 vom 15. März 1941 (wieder abgedruckt in "Für Freiheit und Recht", S. 40 ff./41). 94 "Gemeindefreiheit" , S. 99. 95 Ebd., S. 158 f.
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zungen hierfür vor wie früher. Das heißt: Auf dem Boden alter Unfreiheit der Gemeinden, des Verwaltungszentralismus' und der Beamtenhierarchie gibt es nur eine einzige wahrhaft gemeinschaftsbildende Kraft, und das ist das kollektive Machtbewußtsein, zum al der militärische Erfolg. Wo seit alters ein hierarchischer Befehlsapparat einen Großteil der Verwaltungsbeziehungen kraft eigener Ermessensfreiheit, also auf autoritärem Wege von oben her, regelte, da besaßen die Gewaltgläubigkeit und damit auch der Militarismus von vornherein reichlich ungehemmte Entwicklungsmöglichkeiten. 96 Freiheitsfeindliche Regierungssysteme waren jeweils in besonders starkem Maße zu kriegerischer Machterweiterung geneigt. 97 Dieser drohenden Gefahr stellt Professor Gasser Geist und Verfassung der kommunal-föderativen, von unten her aufgebauten Demokratien gegenüber, die auch in der Gegenwart durch eine nichtmilitaristische Volks gesinnung gekennzeichnet sind. In ihnen herrscht traditionell eine pazifistische Grundströmung. 98 Die allgemeine Tendenz zum Pazifismus, wie sie der Welt der Gemeindefreiheit und des lebendigen Selbstverwaltungswillens eigen ist, ist gleichsam in der Natur der Sache begründet. Denn wo immer Volkskörper durch überparteiliche Gewissenskräfte, durch den kollektiven Geist des Vertrauens und der Verträglichkeit zusammengehalten werden, da stellen sie eben feste sittliche Einheiten dar und haben es nicht nötig, den Gemeinschaftssinn durch Reibungen an der Außenwelt zu stärken. 99
Der Gegensatz zweier verschiedener Welten: Herrschaft und Genossenschaft In diesen Erscheinungen stehen sich - so betont Professor Adolf Gasser immer wieder - zwei Welten gegenüber, die ganz verschiedenen Entwicklungsgesetzen unterstehen: die Welt der von oben her und die Welt der von unten her aufgebauten Staatswesen - oder mit anderen Worten: die Welt der Herrschaft und die der Genossenschaft, die Welt der Subordination und die der Koordination, die Welt des Zentralismus' und die des Kommunalismus', die Welt der Befehlsverwaltung und die der Selbstverwaltung, die Welt der Gemeindeunfreiheit und die der GemeindefreiheiUoo "Der Gegensatz Herrschaft Genossenschaft ist vielleicht der wichtigste Gegensatz, den die Sozialgeschichte kennt. Beim Gegensatz Obrigkeitsstaaat - Gesellschaftsstaat Ebd., S. 156. Ebd., S. 246. 98 Ebd., S. 244. 99 Ebd., S. 245. 100 Vgl. beispielsweise ebd., S. 168.
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geht es eben um schlechtweg fundamentale Dinge: nämlich um die elementaren Grundlagen des menschlichen Gemeinschaftslebens."lol
"Vom Obrigkeitsstaat zur freien Bürgergemeinschaft"102 Dieser verhängnisvolle Zustand der Staats- und Kriegsverherrlichung ist nach der Überzeugung Professor Gassers auf die Dauer nur zu überwinden, wenn es gelingt, die zentralistisch-hierarchischen Beamten- und Kommandostaaten von Grund auf umzubauen und sie in strikt dezentralisiert-föderative Volksstaaten zu verwandeln. l03 "Ein Ausweg aus allen diesen Schwierigkeiten bietet sich in Tat und Wahrheit nur dann, wenn alle Obrigkeitsstaaten Europas ernsthaft zur Verwirklichung eines durchgreifenden Enthierarchisierungs- und Kommunalisierungsprogramms schreiten, wenn sie sich aus Welten der bürokratischen Befehlsverwaltung in Welten der lebendigen Selbstverwaltung verwandeln, wenn sie aufhören, bloße Staaten der Beamten und Berufspolitiker zu sein, um endlich zu Föderationen freier Volkskollektivitäten zu werden."104 Was es dabei insbesondere zu überwinden gilt, ist die seit dem Zeitalter des Absolutismus' so stark durchgedrungene nationale Autoritätsgläubigkeit und Subordinationsgesinnung sowie das ihnen vorangehende Befehlsprinzipl05. "Nur kein hierarchisches Subordinationsprinzip mehr! - das muß oberstes Leitziel der kommunalen Verwal tungsreform bleiben." 106 Dieses Ziel wird nach Meinung Adolf Gassers nur dann zu erreichen sein, wenn das Volk langsam, aber konsequent - "und insofern radikal" - zur "wichtigsten aller staatsbürgerlichen Aufgaben herangeführt und herangezogen wird: zur administrativen Selbstverantwortung" 107. Europa kann nur dann eine Welt allgemeiner und wahrer Demokratie werden, wenn es gleichzeitig eine Welt des Kommunalismus, der lebendigen Selbstverwaltung und des Aufbaues von unten nach oben wird. los "Ohne einen solchen radikalen Staatsumbau von unten her werden die meisten Festlandsstaaten Europas unter freiheitlich-parlamentarischen Verfassungen auch weiterhin in den Augen der Bürger allzu schlecht funktionierende Befehlsapparate sein: bloße "Geschichte der Volksfreiheit und der Demokratie", S. 13. Dies ist die von Adolf Gasser selbst für diese erstrebenswerte Entwicklung ausgegebene Devise ("Grundlagen", S. 7). 103 "Geschichte der Volksfreiheit und der Demokratie", S. 243. 104 "Gemeindefreiheit" , S. 252. 105 "Grundlagen", S. 33 und 100. 10e Ebd., S. 83. 107 Ebd., S. 99. 108 "Gemeindefreiheit" , S. 189. 101
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Herrschaftsdomänen macht- und streitsüchtiger Berufspolitiker und Parteisekretäre, unvolkstümliche Formaldemokratien, drastisch ausgedrückt: Demokratien ohne Demokraten, und infolgedessen Wegbereiter aller Formen der Gewaltgläubigkeit: des Hypernationalismus' und Militarismus', des Massenmachiavellismus', des (rechts- oder linksgerichteten) Totalitarismus' und Nihilismus" .109 Die Überwindung aller obrigkeitsstaatlichen Ordnungen und der aus ihnen entspringenden Kommando- und Machtgläubigkeit beinhaltet so "die eigentliche Schicksalsfrage des Abendlandes"l1O. Verwirklichung der föderalistischen Ordnung
Für Professor Adolf Gasser hat "der Gang durch die Weltgeschichte" als wissenschaftlicher Historiker in erkenntnismäßiger Hinsicht das Fazit erbracht, daß es in der Welt des Abendlandes nur eine einzige Einrichtung gibt, um Freiheit und Ordnung in eine organische Verbindung zu bringen: diese ist die Gemeindefreiheit als Grundlage eines dezentralisierten Verwaltungsaufbaues oder in einem weiteren Sinne verstanden: der Föderalismus 111 • Denn unter diesem Begriff ist ein volksnahes Ordnungssystem zu verstehen, das sich auf die Idee der kommunalen Selbstverwaltung gründet, das den kleinen und schwachen Gemeinschaftsverbänden unantastbare Eigenrechte zuerkennt, das den Aufbau von unten her zum politisch-sozialen Lebensprinzip erhebt112 • In jeder gerechten, von den menschlichen Gewissen getragenen echt volkstümlichen Gemeinschaftsordnung kann daher immer nur das Föderativprinzip das eigentlich staatsbildende Grundelement darstellen 113 • Dieses freiheitlich-föderative Ordnungsprinzip ist demgemäß auch der "einzige Mutterboden wahrer, dauerhafter Demokratie" 114. In unserer Zeit mehrt sich nach den Beobachtungen Professor Gassers infolgedessen allenthalten die Erkenntnis, daß einzig der in umfassender Gemeindeautonomie verwurzelte Föderalismus ein gesundes Gemeinschaftsleben zu gewährleisten vermag 115 • Im Hinblick auf die kulturzerstörenden Gefahren, die der machtstaatliche Quantitätswahn in sich birgt, kann die Rettung Europas deshalb nur erfolgen durch den Sieg der vom Kleinraum her aufbauenden kommunal-föderativen 108 "Geschichte der Volksfreiheit und der Demokratie", S. 244; ebenso "Grundlagen", S. 83. 110 "Grundlagen", S. 99. 111 "Gemeindefreiheit" , S. 244. 112 Ebd., S. 192. 113 Ebd., S. 197 f. 114 Ebd., S. 30. 115 Ebd., S. 192.
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Staatsidee und der aus ihr fließenden Gemeinschaftsethik118. Demgemäß ist in einem künftigen föderierten Europa dafür zu sorgen, daß im Stufenbau Bürger - Gemeinde - Provinz - Staat - Bund die nächsthöhere Instanz immer nur genau umschriebenes und eindeutiges Recht handhaben darf, d. h. im Zweifelsfalle muß das Recht des Schwächeren grundsätzlich immer voranstehen oder - anders ausgedrückt - das Recht dessen, der sich im Stufenbau des Staates näher an der Basis befindet, nämlich näher beim Staatsvolk, von dem ja in der Demokratie die Staatsrnacht ausgeht. ll7
Die wichtigste Aufgabe Professor Gasser sieht in der Verwirklichung dieser Zielsetzung - so schwierig ihre Lösung auch sein mag - "die wichtigste, schöpferischste, heiligste Aufgabe, die sich ein Volk stellen kann". Denn - so fragt er - "was kann es denn überhaupt für demokratisch und christlich gesinnte Politiker und Beamte für ein herrlicheres Ziel geben, als unter Verzicht auf eigene Befehlspositionen dem eigenen Volk tatkräftig zu helfen, zur überparteilichen Verantwortungs- und Vertrauensbereitschaft, zur Freundschaft in der Freiheit heranzureifen?"118
Ein zukunftweisendes Programm Adolf Gasser hat damit ein wahrhaft zukunftweisendes Programm aufgestellt. Soll eine wirklich lebenswerte Ordnung in dauerhaftem Frieden verwirklicht werden, so kann sie nur gemäß den von ihm aufgezeigten Zielen erfolgen. Diese haben, auch Jahrzehnte nach ihrer Veröffentlichung, nichts von ihrer Aktualität und Bedeutung eingebüßt. Im Gegenteil, in Anbetracht der überall zu beobachtenden Zentralisierung und Konzentration von Aufgaben beim Staat, der überhandnehmenden Allmacht von Bürokratie und Technokratie, der zunehmendem Militarisierung und Kriegsgefahr kommt seinen Aussagen in unserer Gegenwart verstärktes Gewicht zu. Noch immer oder sogar noch vermehrt erfolgt die Entscheidung der öffentlichen Angelegenheiten "von oben" und harren die Bürger eines unmittelbaren Mitspracherechts, sogar in den Gemeinden (mit Ausnahme im wesentlichen der Schweiz). Die Bürger sind im politischen Bereich auf die Rolle der "Stimmabm Ebd., S. 260. 117 "Europa Aeterna. Eine Gesamtschau über das Leben Europas und seiner Völker" ("Kultur, Wirtschaft, Staat und Mensch"), Band III, S. 141 - 149 (erneut abgedruckt in "Staatlicher Großraum und autonome Kleinräume" , S. 3 ff./ll f.). Gasser verleiht damit dem Subsidiaritätsprinzip einen wesentlichen neuen Aspekt: daß nämlich im Zweifelsfall die Vermutung für dia Kompetenz der "unteren" bzw. bürgernäheren Gemeinschaft sprechen soll. 118 "Grundlagen", S. 102.
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geber" bei Wahlen 1l9 beschränkt, bei denen sie lediglich Blankettermächtigungen für die zu Wählenden abzugeben haben, die dann während der Wahlperiode nach Gutdünken schalten und walten können. Wie Professor Gasser treffend konstatiert hat, dauert hinter der formaldemokratischen Fassade der ererbte Absolutismus fort. An die Stelle der Fürsten sind lediglich neue Inhaber der absoluten Gewalt getreten: es sind dies das "absolute" (weil von Weisungen der Bürger unabhängige) Parlament, die nur ihm verantwortliche Regierung und die von oben eingesetzte Beamtenschaft. Die Bürger selbst haben keinen Einfluß auf die konkreten Entscheidungen selbst der wichtigsten Angelegenheiten und sind auf die Funktion von Zaungästen des politischen Geschehens verwiesen. Trotz aller "Kommunalreformen" kann auch von einer wirklichen "Gemeindefreiheit" im Sinne Gassers in den großen europäischen Kontinentalstaaten keine Rede sein. Die Gemeinden werden weiterhin in wesentlichen Beziehungen vom Staate bevormundet und finanziell ausgehöhlt. Desgleichen kann von einem Aufbau von unten nach oben nicht gesprochen werden. Der Staat wird nicht von unten her durch eine Föderation der Gemeinden und Kommunalverbände gebildet, sondern stellt weiterhin einen monolithischen Block dar, der die engeren Lebenskreise als seine Untergliederungen betrachtet und sie seiner Disposition unterwirft. Infolgedessen ist auch heute noch nicht eine wirkliche Demokratisierung Europas eingetreten und harren die von Adolf Gasser gesteckten Ziele noch ihrer Erfüllung. Es ist daher uns und unseren Zeitgenossen die Aufgabe gestellt, ihnen nach Kräften mit unserem Wirken gerecht zu werden. Dank und Glückwünsche zum 80. Geburtstag
Professor Adolf Gasser hat mit seinem Werk in maßgeblicher Weise den Weg ins "Föderalistische Zeitalter" gewiesen. Wir sind ihm für diese geschichtliche Leistung und die hierfür von ihm erbrachte Pionierarbeit zu tiefstem Danke verpflichtet. Es sei ihm daher an dieser Stelle dafür der herzlichste Dank ausgesprochen! In bescheidener Abstattung dieser Dankesschuld sei ihm diese Festschrift dargebracht. Mit dem dafür gewählten Titel "Von der freien Gemeinde zum föderalistischen Europa" soll die gewaltige Spannweite des Wirkens Professor Gassers gewürdigt und gleichzeitig der Rahmen für die Thematik der in ihr vereinigten Beiträge gesteckt werden. Diese Beiträge sind in seinem Geiste abgefaßt. In Anerkennung seines europaweiten Wirkens haben sich erstmals auf europäischer Ebene Föderalisten zur Erbringung 119 Vgl. dazu auch Adolf Gasser in "Grundlagen", S. 33: "Nicht das Wahlrecht des Volkes ist das eigentliche Kernstück aller freiheitlichen und lebendigen Demokratien, sondern die administrative Selbstverantwortung des Volkes."
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dieser Ehrengabe als föderalistisches Gemeinschaftswerk in der Festschrift als Herausgeber und Autoren zusammengefunden. Es wäre ihnen allen eine große Freude, wenn diese Festschrift sein Gefallen finden würde. Zur Vollendung seines 80. Lebensjahres seien dem hochverehrten Jubilar namens aller Teilnehmer an der Festschrift die allerbesten Glückwünsche ausgesprochen! Möge ihm die Zukunft alles Gute bringen und ihm auf seinem ferneren Lebensweg stets die Sonne scheinen! Möge ihm auch viel Freude und Annehmlichkeit beschieden sein! Mögen ihm vor allem seine Gesundheit und die erstaunliche körperliche und geistige Frische, mit denen er diesen hohen Jubeltag begehen kann, erhalten bleiben, nicht zuletzt, damit er mit unverminderter Arbeitskraft sein so fruchtbares und verdienstvolles Wirken fortsetzen kann! Möge er mit unseren Glückwünschen auch zugleich die Versicherung entgegennehmen, daß ihn unsere guten Gedanken auch fernerhin begleiten und wir auch künftig seinem leuchtenden Vorbild in Verwirklichung seiner Ideale nachfolgen werden. Helmut Kalkbrenner
Einleitung
Eine gute Fee und ein guter Geist standen nach dem Zweiten Weltkrieg an der Wiege des Föderalismus Persönliche Erinnerungen an Adolf Gasser Von Hendryk Brugmans Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Föderalisten während einer Konferenz, die zuerst in Bern, dann in Härtenstein am Vierwaldstätter See stattfand, versammelt. Eine Gedenktafel an dem Hotel, in dessen Mauern dieses Treffen stattgefunden hat, erinnert an dieses Ereignis. Das Ergebnis dieser Zusammenkunft war ein Manifest, ziemlich kurz, aber man findet da fast alle großen Richtlinien unserer Bewegung: gemeinsame Ausübung der Souveränität, Bundesgerichtshof, regionale Diversifizierung im Innern, eine auf die Einheit der Welt ("One World or None World") gerichtete Politik nach außen. Seit dieser Zeit sind vervollkommnete Formulierungen entstanden, aber es ist bemerkenswert, daß schon im August- September 1946 die Leitlinien des HandeIns mit so großer Klarheit gezogen worden sind. Die dort versammelte Gruppe dürfte jedoch weder ihre Übereinstimmung noch das Gewicht ihrer Erfahrung gekennzeichnet haben. In der Tat litt das Häufchen von 10, 20 Militanten unter offensichtlicher Zusammenhanglosigkei t. Während Italien das Land war, wo die Probleme Europas schon mit der am tiefsten gehenden Gründlichkeit umrissen worden waren, fehlte eine derartige Gründlichkeit bei uns. In Bern hatte sich wohl Professor Umberto Campagnolo gezeigt, aber auch in Härtenstein zu uns zu stoßen, hatte er nicht für sinnvoll gehalten. Später sollte er die Seele der Societa Europea della Cultura (Venedig) werden, die sich mit großem Mut darum bemühte, die Verbindungen zwischen den beiden Teilen unseres gespaltenen Kontinents aufrecht zu erhalten. Dagegen sollten die Verfasser des berühmten Manifesto di Ventotene erst auf dem Kongreß von Montreux, ein Jahr später, in Erscheinung treten: Altiero Spinelli und Ernesto Rossi.
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Hendryk Brugmans
Unter den Anwesenden konnten wir als einzige Vertretung Frankreichs ein Ehepaar begrüßen, Esperantisten und Mondialisten, sehr sympathisch, aber wenig an der Formulierung unserer Ziele interessiert. Belgien wiederum hatte den Baron Allard geschickt, der die Plakette "Stop War" trug, und ein paar weitere, etwas isolierte Persönlichkeiten, die sich eher am Zusammenkommen der Weltzivilisationen interessiert zeigten, als an den Mitteln, Europa den Zusammenhalt zu geben, der ihm fehlte. Was Deutschland betrifft, so war es noch zu früh, als daß es einen Delegierten als Sprecher einer organisierten Bewegung hätte schicken können. Aber mehrere Emigranten nahmen vollberechtigt an der Versammlung teil zusammen mit einigen Widerstandskämpfern aus Deutschland, so daß Deutsch eine der Verhandlungssprachen der Tagungwar. Erwähnen wir noch kurz, daß da auch noch ein Grieche war, der uns empfahl, uns auf die bürgerliche Klasse zu stützen, die seiner Meinung nach den Schlüssel zur Zukunft in Händen hielt; wir haben ihn danach nicht wieder gesehen. Schließlich gab es noch einen ehemaligen Colonel der britischen Indien-Armee, der während der Sitzung nie den Mund auftat, aber Beobachter der Bewegung "New Commonwealth" war, deren einziges Ziel war, dem Völkerbund "Zähne zu geben" (Churchill war die Haupttriebfeder dieser Bewegung). Unter diesen Umständen übten die niederländische Gruppe und die schweizerische Europabewegung den größten Einfluß auf die Versammlung aus. Die letztere war uns an Jahren weit voraus. Entstanden aus einer Spaltung von der Paneuropa-Bewegung des Grafen Coudenhove-Kalergi, dem man vorwarf, zu aristokratisch zu sein, hatte sie während des Kriegssturms weiter arbeiten können, da sie schon damals über eine beeindruckende Zahl von Ortsverbänden verfügte. Das war die "Europa Union Schweiz", die die Einladungen herausgeschickt hatte und uns jetzt willkommen hieß. Ihr gebührt unser aller Dank. Die Niederländer vertraten eine kleine Gruppe mit dem Namen "Europese Actie". Sie war durch eine Initiative entstanden, die von einem deutschen Einwanderer ausging: Dr. H. D. Salinger. Dieser hatte während des Krieges einen kleinen, mit Schreibmaschine geschriebenen Band herausgegeben, dessen besonderes inhaltliches Merkmal das war, was wir heute mit "Integralem Föderalismus" bezeichnen würden. In der Tat erklärte er die Vorstellung für falsch, daß der deutsche Staat nach Kriegsende wiedererrichtet werden solle - nicht etwa als Strafe, sondern weil seiner Meinung nach die Ära der zentralisierten
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und souveränen Staaten jetzt zu Ende war. Für ihn lag die Lösung des deutschen Problems in einem doppelten Regionalismus: einem makroeuropäischen einerseits und einem mikro-ethnischen andererseits. Seiner Meinung nach hatte das "Reich" niemandem Glück gebracht, und man sollte zu dem Konzept "der Deutschlands", also im Plural, zurückkehren. Der General de Gaulle sollte diese Idee später aufgreifen. Aber im Gegensatz zu ihm fügte Salinger hinzu, daß die Föderalisierung Deutschlands nur dann gerecht wäre und demzufolge von den Deutschen akzeptiert würde, wenn auch die anderen Länder, besonders Frankreich darin einwilligen würden, ebenfalls auf ihren gleichermaßen überholten Etatismus zu verzichten. Kurz, das war in seiner Vorstellung das "Europa der Ethnien", das Guy Heraud so am Herzen liegt. Die anderen Niederländer folgten Salinger, ohne jedoch in Wirklichkeit völlig an sein Konzept zu glauben. Unter ihnen waren mehrere Persönlichkeiten zu finden, die später den Einigungsprozeß mitgeprägt haben. Zunächst Dr. Hans-Robert Nord, der mehrere Jahre lang Generalsekretär des Europäischen Parlaments war, bevor er sich zum liberalen Abgeordneten nach Straßburg wählen ließ. Dann Alfred Maser, der Kabinettsleiter von Sicco Mansholt wurde. Weiterhin Willem Verkade, der an der Basis in der Provinz Geldern kämpfte, wo er die Seele der Kulturarbeit war. Schließlich war auch der Verfasser dieser Zeilen dabei. Was die Schweiz anlangt, so spielte dort ein deutscher Emigrant, Heinrich-Georg Ritzel, ehemaliger sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter, eine ganz hervorragende Rolle. Neben ihm der Vorsitzende der schweizerischen Europa-Union und Chefredakteur der NationalZeitung, Hans Bauer, und jener höchst bemerkenswerte Geist Ernst v. Schenck, der, während des Krieges schweizerischer Bürger, genau genommen nicht neutral war. Er leitete die Schweizerischen Monatshefte und hat uns ein kleines Buch hinterlassen mit dem Titel "Europa vor dem deutschen Problem", ins Französische von unserer Freundin Jeanne Hersch übersetzt (Cahiers de Traits, Editions des trois Collines, Geneve - Paris 1947). Der Untertitel des Büchleins lautete: "Briefe eines Schweizers an Deutsche". Dieser kleine Band verdiente es, neu herausgegeben zu werden. Schließlich wäre unter den Schweizern noch ein Journalist französischer Staatsangehörigkeit zu erwähnen, in Bern Vertreter der Agence Havas, Leon Van Wassenhove, der eine - leider nur kurzlebige - Zeitschrift für die europäische Aktion herausgab. Kurz, zusammen mit den Niederländern haben die Schweizer eine hervorragende Rolle gespielt bei der Gründung unserer "Internationale", die die "Union Europeenne des Federalistes (U. E. F.)" werden
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sollte (was zur Zeit ja nicht der Fall ist in der darauf folgenden Bewegung "Union des Federalistes Europeens (U. F. E.)"). Aber am Rande des eigentlichen Kongresses haben zwei Persönlichkeiten, die einfach nicht zu übersehen waren, durch die intellektuellen Beiträge, die sie lieferten, unser Treffen glänzend bereichert: Die erste war Anna Si emsen, die vor dem Nationalsozialismus auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie gekämpft hatte. Im Gegensatz zu so vielen anderen hatte sie niemals geglaubt, daß Hitler nur der Ausfluß des Großkapitals sei, ein Mann der äußersten Rechten, den man hätte besiegen können, indem man seinen sogenannten "Konservativismus" bzw. seine "reaktionäre" Haltung angriff. Als Marxistin teilte sie diese pseudo-materialistische Deutung nicht, die sie als "Vulgärmarxismus" bezeichnete. Sie wußte, daß dieser "Böhmische Gefreite", weit entfernt, ein Mann der Vergangenheit zu sein, ein militaristischer Preuße, ein Freund der Krautjunker, in Wirklichkeit ein Sohn des Volkes war, auf seine Weise revolutionär und unendlich viel gefährlicher als alle Nationalisten, die sich nach dem wilhelminischen Kaiserreich zurücksehnten, wie z. B. Hugenberg und Konsorten. Sie hatte sogar sehr schnell begriffen, daß dieser kleine Mensch von seinem Dämonen vorangetrieben wurde und niemandem zu Diensten war. In einer Broschüre, die unmittelbar nach der "Machtübernahme" erschien, suchte sie die Wurzeln des Nationalsozialismus zu bestimmen, nicht in einer träumerischen Sehnsucht nach Restauration oder in der Vorstellung, die Arbeitergewerkschaften in Ordnung zu bringen, sondern in der Tiefe der Kulturgeschichte des Landes: Hein van Wijk, später pazifistisch-sozialistischer Abgeordneter im Parlament in Den Haag, und meine Wenigkeit haben das kleine Werk ins Niederländische übersetzt. In Härtenstein trug Anna Siemsen nun nach dem Sturm die Frucht ihrer Überlegungen bei. Sie unterstrich die geschichtliche Krise des Nationalstaates an sich und die Notwendigkeit eines darüber hinausreichenden größeren wirtschaftlich-politischen Raumes. Wenn übrigens Hitler auch ein Ultra-Nationalist gewesen war, so hatte er doch auch seine eigene europäische Konzeption: die einer deutschen Vorherrschaft über den kontinentalen "Großraum". In diesem Zusammenhang überrascht es vielleicht, festzustellen, daß die erste Person, die den Begriff "Europäische Wirtschafts gemeinschaft" benutzt hat, Dr. Funk war, nationalsozialistischer Wirtschaftsminister des Dritten Reiches, der Mann, den man wegen seiner zahlreichen Reisen scherzhaft "Rundfunk" nannte. Ja, dachte Anna Siemsen, die moderne Welt und vor allem die Technologie unserer Zeit ließen den traditionellen Rahmen der National-
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staaten aufbrechen. Ein "Großraum" war in der Tat unverzichtbar, aber, um ihn zu schaffen, boten sich nur zwei Methoden an: die der nationalen Beherrschung und die des Föderalismus. Nun, im Europa der Gegenwart gab es - Gott sei Dank - keinen beherrschenden Nationalstaat mehr, und es blieb also nur der Föderalismus, um den Erfordernissen des Jahrhunderts zu entsprechen. Anna Siemsen machte großen Eindruck. Aber neben ihr trat ein Mann auf, der, weit davon entfernt, die gebieterische Notwendigkeit "großer kontinentaler Einheiten" zu verneinen, seiner Verbundenheit mit der kleinen örtlichen Gemeinschaft Ausdruck gab, der Grundlage und dem Ursprung unserer europäischen Demokratien. Dieser Mann hieß Adolf Gasser, und er sollte bald sein unvergeßliches Buch "Gemeindefreiheit als Rettung Europas" (Verlag Bücherfreunde, Basel 1947) veröffentlichen. Der Untertitel ging sogar noch über das hinaus, was der Titel zu versprechen schien (der seinerseits schon anspruchsvoll genug war): "Grundlinien einer ethischen Geschichtsauffassung". Es ist die reine Wahrheit und keineswegs ein banales Geburtstagskompliment, wenn ich behaupte, daß dieses grundlegende Werk ein Klassiker sowohl der Geschichtswissenschaft als auch des föderalistischen Gedankengutes bleibt. Es wurde ins Französische übersetzt und hatte in Pans zumindest eine Folge: die nämlich, daß es die Aufgabe erleichterte, an die U. E. F. die französische föderalistische Bewegung "La Federation" anzugliedern. In der Tat waren unsere Freunde "von der Rue Auber" an erster Stelle daran interessiert, das zentralistische Halseisen Frankreichs zu sprengen. Die europäische Föderation ist ihnen erst später in den Sinn gekommen, und sie haben diese Idee dann fortwährend durch gar manche politischen Widrigkeiten hindurch unterstützt. Ich sehe uns noch am Seeufer sitzen und die Worte Adolf Gassers in uns aufsaugen. Neben dem weiten Horizont Anna Siemsens war da nun die Stimme der kleinen, nach schweizerischer Art selbstverwalteten Gemeinschaften. Aber Gasser hatte völlig jene Wahrheit erfaßt, daß allein dezentralistische Länder fähig sind, sich der Idee einer demokratischen Föderation anzuschließen. Und eben hieraus ist unter uns die Konzeption einer zwiefachen Schleifung der Nationalstaaten entstanden: Schleifung einerseits "nach unten", in Richtung auf die örtlichen bzw. regionalen Autonomien, andererseits "nach oben", in Richtung auf europäische und weltweite kontinentale und interkontinentale Institutionen. Die europäischen und föderalistischen Bewegungen haben in der Folgezeit viel zu sehr die wissenschaftliche Forschung und philosophische
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Reflexion beiseite liegen lassen. Zu oft haben sie sich mit unmittelbarer Taktik, ja sogar nur Nachhutgefechten begnügt. Wir aber, die wir in Härtenstein waren, mit dieser Handvoll so verschiedenartiger Kämpfer, wir werden niemals die großen historischen und humanen Perspektiven des Föderalismus vergessen, der als große sowohl traditionelle als auch erz-moderne Lehre konzipiert ist. Dieses Geschenk ist uns von einer deutschen Fee marxistischen Herkommens und von einem schweizerischen guten Geist gemacht worden, der demokratische Freiheit und Toleranz ausstrahlte. Diesem guten Geist will ich an dieser Stelle meinen immerwährenden Dank sagen. Er hat mich bekehrt; er hat mich in den höchsten Bestrebungen des föderalistischen Ideals bestärkt.
Erster Teil
Geschichte in föderalistischen Perspektiven
Föderalismus und Außenpolitik in der schweizerischen Vergangenheit Von Edgar Bonjour Staatsstruktur und Außenpolitik bedingen einander weitgehend. Daß ein loses föderales Gebilde kaum eine feste, zielbewußte Außenpolitik führen kann, ist eine geschichtliche Erfahrung. Bevor die Französische Revolution erobernd über die Grenzen trat, haben die Jakobiner ihren Heimatstaat stärker zentralisiert. Und vor seinem Angriff auf die umliegenden Länder hat der deutsche Nationalsozialismus die deutschen Bundesstaaten straffer zusammengefaßt. Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung der schweizerischen Eidgenossenschaft zeigt diese Spannung zwischen Föderalismus und Außenpolitik in bestimmten Epochen besonders deutlich, und verantwortungs bewußte Zeitgenossen fragten sich jeweilen, ob die Organisation des Bundes und seine Entscheidungsmechanismen den Bedürfnissen der Außenpolitik entsprächen. Die einzelnen eidgenössischen Orte hatten sich untereinander verbündet, nicht um einen festen Bundesstaat zu bilden, sondern um ihr eigenes, selbständiges, unabhängiges Dasein zu sichern; demgemäß trug der eidgenössische Bund ausgesprochen gliedstaatlichen Charakter. Jeder Ort besaß in der Außenpolitik ein deutlich abgestuftes Maß von Bewegungsfreiheit. Zürich und Bern konnten sich mit größerer Unabhängigkeit bewegen als etwa Luzern und Basel, die bei ihrem Eintritt in die Eidgenossenschaft auf Bündnisfreiheit verzichten mußten. Die Stoßrichtungen der jeweiligen außenpolitischen Betätigung waren verschieden: Bern wachte über die Sicherheit an der Westgrenze, die Politik der Urkantone dagegen richtete sich nach Osten, gegen Österreich. Nur außergewöhnliche Gefahren konnten alle Orte zu einem gemeinsamen Schritt veranlassen. Als nach der Abwehr einer solchen außenpolitischen Bedrohung in den Burgunderkriegen die Städtekantone unter Anführung Berns danach strebten, den Knäuel eidgenössischer Bünde durch einen "gemeinen, gelichen und zimlichen" , das heißt einen einzigen, allumfassenden Bund zu ersetzen, um ihm zur Bewältigung außenpolitischer Aufgaben mehr Kraft zu verleihen, stießen sie auf den erbitterten Widerstand der Länderkantone, welche spürten, daß bei einer strammeren Zusammenfassung des eidgenössischen Gemeinwesens ihre eigenständige Bedeutung verloren ginge. Sie verzichteten lieber auf Eroberungen als auf örtische Unabhängigkeit. Die Außen-
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politik hatte sich in der Eidgenossenschaft nach der Innenpolitik zu richten, nicht umgekehrt. Das Stanserverkommnis von 1481, das den eidgenössischen Bruderzwist beilegte, führte zu einer Festigung des Bundesföderalismus; er drückte der eidgenössischen Außenpolitik der nächsten Jahrzehnte den Stempel der Zügellosigkeit auf. Um diese Zerfahrenheit zu verstehen, muß man sich vor Augen halten, daß die Eidgenossenschaft auch nach den Burgunderkriegen kein Bundesstaat war, auch nicht ein Staatenbund, sondern bloß ein loses Bündel von Kriegsallianzen, die in Friedenszeiten gerade noch fortbestanden. Die Eidgenossenschaft hatte nicht die Natur eines Gesamtstaates, hatte keine staatliche Organisation, keine Gesamtverfassung, die alle Orte umschlang, keine Kasse, keine Beamten, keine Gesamtbehörde mit Befehlsgewalt. Die Tagsatzung war kein Parlament; sie diente einfach als eidgenössischer Treffpunkt zu Aussprache und Beratung. Ihre Beschlüsse hatten keine zwingende Kraft, sie brauchten von keinem Ort angenommen zu werden. Mehrheitsbeschlüsse konnten eine Minderheit nicht verpflichten. Diese lockere Grundstruktur des eidgenössischen Bundes, diese Aufsplitterung in eigenwillige Orte bedingten die Richtungslosigkeit der eidgenössischen Außenpolitik. Es war der Eidgenossenschaft auch in der Zeit ihrer höchsten kriegerischen Kraftentfaltung nicht möglich, auf so brüchiger Basis ein Großreich zu errichten, ja, nicht einmal Eroberungen zu behalten. Sie erwies sich als unfähig, ihre überschäumende Wehrkraft einzufangen und zu nationalen Zwecken zu verwenden. Das lose Gefüge des Bundes, die Zwistigkeiten in seinem Schoß schlugen die Eidgenossenschaft mit außenpolitischer Ohnmacht. Die Eidgenossen verausgabten ihre kriegerische Kraft nicht zu eigenen Zwecken, sondern im Dienste anderer. Das eidgenössische Durcheinander und eifersüchtige Gegeneinander mußte notwendigerweise in der entscheidenden Niederlage von Marignano 1515 enden. Obgleich den Orten die Eroberung einiger Nachbarlandschaften leicht gefallen wäre, übten sie fortan Enthaltsamkeit. Die territoriale Genügsamkeit der Eidgenossen hat nicht nur die Geschicke der Schweiz, sondern auch Mitteleuropas bestimmt. Nach der Reformation, nach der Akzentuierung der inneren Gegensätze im Zeitalter des Konfessionalismus, war die Schweiz noch weniger imstande, geschlossene Außenpolitik zu treiben. Zwar hat nicht die Glaubensspaltung, wie oft gesagt wird, zur außenpolitischen Enthaltsamkeit geführt; der Entscheid war schon vor der Reformation unwiderruflich gefallen. Aber sie hat den Schweizerbund noch mehr gelokkert, eben zur Stunde, da die Staaten ringsum sich zu nationalen Gebilden zu verfestigen begannen, womit die internationalen Gegensätze
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sich verschärften. Ihre föderale Schwäche bewahrte die Schweiz davor, sich in den Widerstreit nationaler Interessengegensätze einzulassen. Hier liegt der Keim der langsam Gestalt annehmenden schweizerischen Neutralität, die mit der außenpolitischen Inaktivität innerlich zusammenhängt. Territoriale Sättigung und Glaubensspaltung haben unbeabsichtigt den Neutralitätsgedanken gestärkt. Aber die Une inheitlichkeit ihres staatlichen Gefüges hinderte die Eidgenossenschaft an einer einheitlichen Neutralitätspolitik. Die auswärtigen Interessen der einzelnen Bundesglieder standen einander entgegen, und deshalb nahmen diese für die Kriegführenden oft konträr Partei. Im Schmalkaldischen Krieg und in den Hugenottenkriegen war die Schweiz nahe daran gewesen, einzugreifen. Neutralität als Grundsatz gab es ja nicht, sondern es trat, mehr der Not gehorchend als dem eigenen Trieb, eine nach heutigen Begriffen unvollkommene Neutralität in Erscheinung. Wohl erzogen die europäischen Kriege die Schweiz zu einer deutlicheren Vorstellung von Neutralität, zwangen sie, sich von ihren Rechten und Pflichten Rechenschaft zu geben. Aber trotz aller Neutralitätserklärungen sahen die beiden Konfessionsparteien durch die Finger und gewährten auswärtigen Kriegführenden Lebensmittel und Söldner. Noch behielt sich die Schweiz im Verkehr mit dem Ausland alles vor. Das erhellt besonders aus der Unbekümmertheit, mit der einzelne Orte oder Ortsgruppen mit verschiedenen fremden Mächten Soldbündnisse, oft übers Kreuz, abschlossen. In ihrer Unbedenklichkeit gingen einige Bundesglieder so weit, Bündnisse mit ausländischen Mächten gegen ihre eidgenössischen Brüder zu schließen, so etwa die Innerschweiz mit Savoyen gegen Berns Ausdehnungsdrang in die Waadt oder die reformierten Städte mit süddeutschen Fürsten gegen die Bedrohung ihres Glaubens durch die katholischen Miteidgenossen. Alle Bündnisse hatten defensiven Charakter. Die Tagsatzung als gemeinsames Organ der Eidgenossen sah sich auch fürderhin außerstande, dieser wirren Bündnispolitik, diesem Widerstreit militärisch-politischer Abmachungen Einhalt zu gebieten. Sie mußte sich darauf beschränken, mit gewagter Auslegekunst zwischen den Verträgen zu lavieren. Ein Beschluß von zehn Kantonen im Jahr 1503, kein Ort dürfe ohne Zustimmung der andern sich mit fremden Fürsten verbünden, hätte zu einer einheitlicheren nationalen Außenpolitik führen können, wurde aber bald wieder außer Kraft gesetzt; man fiel in die alte Beliebigkeit zurück. Trotz dieser gefährlichen Verquickungen blieb der Bestand der föderalen Eidgenossenschaft erstaunlicherweise unversehrt. Die europäischen Kriege zogen an der Schweiz wie Ferngewitter vorüber. Seit dem 16. Jahrhundert war um die Schweiz herum etwas Neues im Werden, der nationale Staat. Die Monarchien streiften das Mittelalter
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ab und entwickelten eine Organisation, die befähigt war, die vorhandenen Kräfte, Geld und Menschen, durch Steuern und Aushebung zu erfassen, zu sammeln und für eine nationale Außenpolitik einzusetzen. Gegenüber diesen staatlichen Anstrengungen des Auslandes, gegenüber der gestrafften Staatsgewalt der umliegenden Länder geriet die Schweiz ins Hintertreffen. Die Eidgenossenschaft als Ganzes und in ihren Teilen schien der Verjüngung unfähig. Ihr republikanischer und genossenschaftlicher Charakter verboten der Eidgenossenschaft und ihren Gliedern, auf Kosten hergebrachter landschaftlicher Sonderrechte Vereinheitlichung anzustreben, wie es der moderne Staat verlangte. Gegenüber dem Ausland schien das eidgenössische und kantonale Staatsgefüge rückständig. Durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch blieb die Eidgenossenschaft eine lose buntscheckige Staatenvereinigung, entwickelte sich nicht zum Gesamtstaat. Man überschätzt gewöhnlich ihren Zusammenhang: Sie war eine Societas sine imperio, wie sie ein Göttinger Staatsrechtslehrer damals richtig nannte. Daher wurde sie in den europäischen Verträgen nicht als Einheit aufgeführt, sondern es wurden ihre Glieder aufgezählt. Die Tagsatzung unterhielt keine Gesandten im Ausland. In dringenden Fällen ließ man Gesuche durch hohe Offiziere der Schweizerregimenter überreichen. Damit war eine Folgerichtigkeit der Geschäfte fast ausgeschlossen und manches dem Zufall preisgegeben. Das wirkte sich besonders in den Beziehungen zur Großmacht Frankreich oft unheilvoll aus. Frankreich konnte der Schweiz einen einheitlichen Staatswillen entgegensetzen; aus der kantonalen Uneinigkeit bildete sich jedoch nur mühsam ein einheitlicher Wille, so daß die Schweizer das gesteigerte Machtbewußtsein der Franzosen schmerzhaft zu spüren bekamen. Zeichen eidgenössischen Selbstgefühls wurden aus Paris mit ein paar dürren Worten von oben herab im Keim erstickt. Weder in der Handels- und Söldnerpolitik noch in Flüchtlingsfragen konnte sich die Schweiz geschlossen dem Druck des Nachbarlandes widersetzen, dessen Botschafter bei Bedarf geschickt den einen eidgenössischen Ort gegen den andern ausspielte. Ihre ganze politische Kraft wandten die föderierten Eidgenossen nicht nach außen, sondern setzten sie bei inneren Streitigkeiten ein. Sowohl die Eidgenossenschaft als auch die Kantone huldigten der außenpolitischen Idylle; diese wurde allerdings mehr als einmal während der europäischen Erbfolgekriege durch Furcht vor Eingriffen gestört. In der Helvetischen Gesellschaft beklagte man wiederholt die "eigennützige" Zerfahrenheit des schweizerischen Bundes und erhob den Ruf nach einem starken Bund. In seiner Eröffnungsrede von 1777 wünschte der Präsident, "daß doch unsere Freistaaten nicht nur, wie sie wirklich
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sind und ewig bleiben sollen, durch Bündnisse unauflöslich verknüpft, sondern durch einen ganzen Staat zusammengeschmolzen sein möchten". Nur auf diesem Wege könne die Schweiz aus ihrer Ohnmacht gegenüber dem Ausland erlöst werden. Die Helvetik verwandelte den alten, holperigen Staatenverein in einen glatten Einheitsstaat mit zentralistischer Beamtenhierarchie. Dies beleidigte den föderalen Geist, der das Leben des losen Bundes ausgemacht hatte. In dem Zeitpunkt, da das Volk zur Selbstbestimmung, zu neuem Dasein erweckt und instandgesetzt werden sollte, außenpolitisch geeint zu handeln, wurde diese Entwicklung durch die französische Militärdiktatur geknickt. Wohl erhielt die Schweiz zum erstenmal ein eigenes Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, das den außenpolitischen Gesamtwillen hätte zum Ausdruck bringen sollen. Aber der helvetische Außenminister hatte als Funktionär eines französischen Satellitenstaates mehr nur Weisungen und Befehle aus Paris entgegen zu nehmen. Die Schweiz, die nun konstitutionell und institutionell in die Lage versetzt wurde, selbständig eine einheitliche Außenpolitik zu führen, konnte dies infolge eines vollständigen Wechsels in den europäischen Machtverhältnissen nicht tun. Sie verlor durch den erzwungenen Abschluß eines Offensivbündnisses ihre jahrhundertealte Neutralität und wurde, außenpolitisch gefesselt, zum Schauplatz fremder Heere und ihrer Kriege. Der Absturz aus der altvertrauten Welt in unbekanntes Neuland war jäh und grausam. Mit seiner Mediation zwischen Föderalisten und Unitariern gab Napoleon der Schweiz eine Gesamtverfassung, das Mehrheitsprinzip an der Tagsatzung, ein Bundeshaupt, ein Bundesheer. Der Landammann leitete den Verkehr mit dem Ausland und empfing die fremden Gesandten. Die Tagsatzung entschied über Krieg, Frieden und Bündnisse mit Dreiviertelmehr der Kantone. Daß trotz dieser günstigen Voraussetzungen die Außenpolitik zwar einheitlich, aber nicht selbständig war, lag an Napoleon, der sich den Schweizern als Schutzherr aufzwang und sie als seine Adoptivkinder betrachtete. Immerhin war, verglichen mit der alten Eidgenossenschaft, doch eine gehörige Annäherung der Kantone und damit eine größere Wirksamkeit der Tagsatzung erreicht. Das änderte sich, als auf dem Wienerkongreß die Grundlagen der restaurierten Schweiz geschaffen wurden. Wieder drängten sich die kantonalen Begehrlichkeiten vor, schoben die gemeinsamen eidgenössischen Fragen beiseite; wieder bot die Eidgenossenschaft das Bild der Zerfahrenheit, der inneren Verfeindung. Alter und neuer Geist rangen miteinander, bis die Großmächte eingriffen. Das alte Herkommen siegte fast ganz. Unter dem Einfluß der Großmächte, ihrer Ratschläge und
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Ermahnungen, sind der Bundesvertrag von 1815 und die Verfassungen der Kantone zustande gekommen. Es war ein Vertrag zwischen Kantonen, nicht ein Werk des Gesamtvolkes. Die Tagsatzung ernannte zwar die eidgenössischen Repräsentanten ins Ausland; daß sie allein aber auch die fremden Gesandten empfange, war nicht festgesetzt; diesen stand es infolgedessen frei, sich auch an die einzelnen Kantone zu wenden. Auch den Kantonen war nicht untersagt, Gesandte im Ausland zu beglaubigen, sie durften also Außenpolitik treiben. Aber sie mußten sich nach der gemeinsamen außenpolitischen Maxime richten. Diese war eben international fixiert worden. In der Erklärung der Mächte vom 20. November 1815 anerkannten sie die immerwährende Neutralität der Schweiz und gewährleisteten ihr den unverletzlichen Bestand ihres Staatsgebiets. Sie "anerkennen" die Neutralität, das heißt sie versprechen nur, sie nicht anzutasten; schützen muß sie die Schweiz selbst. Dagegen gewährleisten sie das Staatsgebiet Der Schweizer Unterhändler hat hier so subtil differenziert, daß man später gelegentlich die Meinung vertrat, die Neutralität sei garantiert. Das würde bedeuten, daß die Schweiz in ihrer Außenpolitik unfrei sei. Zur vollen Souveränität indessen gehören Bündnisfähigkeit und Bündnisfreiheit, und deshalb können die Mächte aus der Tatsache, daß sie das Staatsgebiet garantieren, kein Aufsichtsrecht ableiten. Der Unterschied zwischen der Auffassung der Schweiz und derjenigen der Mächte über die Freiheit schweizerischer Außenpolitik führte zu Spannungen, die die Schweiz bis 1848 belasteten. Es ist bezeichnend: Von der Zeit an, da die Kantone zur Eigenständigkeit zurückkehrten - sie setzten den Bund in Bewegung, nicht der Bund die Kantone -, da also die Schweiz sich der früheren Föderation wieder näherte, sank die Eidgenossenschaft in ihre alte außenpolitische Ohnmacht zurück. Man hat die Epoche von 1815 -1830 nicht mit Unrecht eine Zeit außenpolitischer Bevormundung genannt. Schon die Formen des diplomatischen Verkehrs zeigen dies: Die beiden ständigen schweizerischen Vertreter in Wien und Paris waren bloße Berichterstatter und übermittIer. Im Gegensatz dazu agierten die fremden Gesandten in der Schweiz ungehemmt, überwachten das politische Leben, mischten sich ein. Früher mußten ausländische Diplomaten der Schweiz schmeicheln, wenn sie von ihr die ersehnten Söldner bekommen wollten. Jetzt zwangen sie der Schweiz einen fremden Willen auf, was ihnen infolge der Uneinigkeit der Kantone nicht schwer wurde. Wenn die Schweiz diesem außenpolitischen Druck nicht durchwegs erlag, so deshalb, weil auch die Mächte nicht immer einig waren. Bereits spürte man wieder den alten Wettstreit zwischen den beiden Nachbarn Frankreich und Österreich um den "präponderierenden" Einfluß in der Schweiz.
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Die fremden Gesandten setzten in Bern das politische Spiel in Bewegung. Da der Bundesvertrag den Kantonen gestattete, auf eigene Faust mit dem Ausland Militärkapitulationen abzuschließen, kapitulierten einzelne Kantone mit Preußen, Holland, Frankreich. Das vollzog sich ohne Schwierigkeiten. Einem Wirtschaftskrieg aber war das föderierte Land nicht gewachsen. Während sich die Nachbarmächte der Schweiz bereits zu geschlossenen Wirtschaftskörpern umbildeten, blieb die schweizerische Volkswirtschaft im Gegensatz dazu bei ihrer Offenheit. Zentralismus in jeder Gestalt war in der Schweiz von jeher übel angesehen. Die Auffassung, daß der Staat den Rahmen für eine nationale Volkswirtschaft bilden müsse, war hier noch nicht allgemein anerkannt. Wohl sprach man seit Jahren von einer Vergeltungspolitik, von Retorsionszöllen gegen Frankreich. Aber zu heftig standen sich die Interessen der Landwirtschafts- und Industriekantone entgegen, bekämpfte sich interkantonale Eifersucht. Als die Quälereien Frankreichs mit Zollerhöhungen und Einfuhrverboten ihren Höhepunkt erreichten, kam endlich ein Retorsionskonkordat zustande. Jedoch nahmen es nur vierzehn Kantone an. Als indessen die Beschwerden des Zollkrieges sich nicht nur in Frankreich, sondern auch in der Schweiz fühlbar machten, fielen einzelne Kantone wieder ab, und der Vorsitzende der Tagsatzung stellte resigniert fest, daß Einigkeit allein zu günstigen Handelsverbindungen hätte führen können. Die föderale Schweiz hatte ihren Zol1krieg verloren, weil die alte Uneinigkeit wie ein Bleigewicht ihr Handeln hemmte. So heftig auch der Zollkrieg geführt worden war, so hatte er doch nicht die tiefsten nationalen Leidenschaften erweckt. Das taten indessen die Flüchtlingsangelegenheiten. Das schweizerische Asylrecht war ein Gewohnheitsrecht, das durch keine internationale Abmachung garantiert wurde. Der Polizei druck in Deutschland, Frankreich, Italien, Rußland schwemmte Wellen von Flüchtlingen über die Grenze: Studenten, Lehrer, Redaktoren, Professoren. Sie agitierten von ihrem Asylland aus gegen ihr Vaterland. Darob empört, verlangten die Mächte ihre Auslieferung. Von den fast ausnahmslos radikalen Flüchtlingen als feige verhöhnt, von den Konservativen des In- und Auslandes Freunde der Revolution gescholten ging die Tagsatzung unter dem Druck der Mächte 1823 das Press- und Fremdenkonklusum ein. Es hellt die internationale Lage der föderalen Schweiz auf: Fremder Machtspruch schrieb ihr den staatlichen Willen vor; ihre Souveränität wurde ausgeschaltet. Weniger schwächlich, aber immer noch uneinheitlich und deshalb erfolglos suchte die Schweiz in der Epoche der Regeneration die Eingriffe des Auslandes abzuwehren. In den FlüchtIingsangelegenheiten, besonders im Einfall der Polen nach Savoyen, im Steinhölzlihandel, im
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Wirbel um den Emigranten Prinz Louis-Napoleon, forderten die radikalen Kantone das Ausland überheblich heraus, verhaspelten sich im Netz der ihnen unvertrauten Außenpolitik, unterlagen und mußten kleinmütig den Rückzug antreten. Die innere Spaltung, wie sie unter anderem in den Freischarenzügen zum Ausdruck kam, lähmte die Schweiz außenpolitisch vollends. Aber die erlittenen Demütigungen stärkten das Nationalgefühl, und im Streben der Radikalen und Liberalen nach dem Bundesstaat wirkte der Wunsch, dem Ausland geeint die Stirn bieten zu können, als kräftige Triebfeder. Das kam demonstrativ in der weithinhallenden Rede zum Ausdruck, mit welcher Ulrich Ochsenbein am 5. Juli 1847 die Tagsatzung eröffnete. In Anwesenheit aller fremden Gesandten kündigte er die Bildung des Bundesstaates an und holte zum Schluß zu einer herausfordernden Abwehr fremder Einmischungsversuche aus: "Die Welt soll wissen, daß die Schweiz, stark durch ihr gutes Recht, groß durch die Sympathie aller freien und nach Freiheit ringenden Völker, die letzte Kraft und das letzte Herzblut aufzuopfern wissen wird, ihre von den Vätern in so mancher Schlacht erkämpfte Unabhängigkeit zu wahren". So selbstsicher und kräftig hatte ein Tagsatzungspräsident noch nie gesprochen. Ein Bürger der bisher vom Ausland mißhandelten Schweiz hielt - so hat man damals Ochsenbeins Worte charakterisiert - "die Thronrede der Revolution an das alte Europa" . Die Rede machte jedem klar, daß der schweizerische Radikalismus die fremde Intervention nicht zu fürchten hatte, weil er um die revolutionären Gefühle der Völker wußte. Im Windschatten des europäischen Gewittersturmes konnte sich denn auch die Schweiz neu einrichten. Den Mächten war die Bildung eines starken schweizerischen Bundesstaates schon deshalb zuwider, weil sie einen schwachen Staatenbund eher ihrem Willen gefügig machen konnten; sie hatten bisher seine Stellung in Europa bestimmt. Und ferner fürchteten sie von einem starken Bundesstaat eine Radikalisierung der Schweiz und damit eine Ansteckungsgefahr für ihre gärenden Völker. Es ist das Verdienst der Radikalen, die günstige außenpolitische Konstellation - Uneinigkeit und Ohnmacht der Mächte - so hochgemuten Herzens und gewandten Geistes benützt und damit der Bevormundung durch das Ausland ein Ende bereitet zu haben. Die Entschlossenheit und militärische Machtentfaltung der Radikalen blieb jenseits der Grenzen nicht ohne Eindruck. Im Ausschuß zur Revision der Bundesverfassung drängten die Wesensmerkmale des Radikalismus zum Ausdruck, vorwiegend die nationale Komponente. Sie war infolge der wiederholten Demütigungen durch das Ausland mächtig angeschwollen und zu einer starken Gegen-
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wartskraft geworden. Die Erneuerer wollten die Vielfalt des locker gefügten eidgenössischen Bundes in einer freiheitlich durchgebildeten Einheit überwinden. Sie wollten die Nation aus ihrer Ohnmacht zu wacher Tätigkeit aufrütteln. Von jetzt an sollte ein selbstbewußter, durch Straffung im Innern gekräftigter, mit eigenem Militär und eigenen Finanzen ausgestatteter Bundesstaat die äußere Sicherheit wahren und den Drohungen der Mächte fest gegenüber treten als Repräsentant einer ebenbürtigen Nation. Diese nationale Komponente hat sich im Bezirk der Außenpolitik durchgesetzt. Damit gelang den Radikalen die Verwirklichung eines ihrer nächsten Anliegen. Dank der Bundesverfassung ist die außenpolitische Lage der Schweiz geklärt und verbessert worden. Fortan besaß nur noch eine einzige Stelle in der Eidgenossenschaft, der Bundesrat, außenpolitische Befugnis. Allein dem Bundesrat stand nun das Recht zu, nicht nur Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, sondern auch Bündnisse und Verträge mit dem Ausland einzugehen. Dadurch verloren die Kantone die Möglichkeit, selbständig Außenpolitik zu treiben. Das war eine Entmündigung der Kantone, die sich zum Teil bloß widerwillig fügten. Es blieb ihnen noch die Kompetenz, ausnahmsweise mit fremden Mächten über Fragen der Staatswirtschaft, des nachbarlichen Verkehrs und der Polizei Verträge abzuschließen, die natürlich dem Bundesrecht nicht zuwiderlaufen durften. Auch war ihnen erlaubt, mit untergeordneten Behörden auswärtiger Staaten unmittelbare Beziehungen aufzunehmen. Diese Vereinheitlichung sollte bald dazu dienen, die nationale Unabhängigkeit besser zu wahren. Jetzt erhob sich eine außenpolitisch zuständige Zentralgewalt über außenpolitisch gegensätzlich eingestellte Parteien und verbürgte Einheit des Entschlusses sowie Stetigkeit des Kurses. Indem die Kantone verfassungsmäßig in ihrer außenpolitischen Bewegungsfreiheit gebunden wurden, erschwerte man es dem Ausland, mit Hilfe einzelner Kantone und Parteien sich in der Schweiz einzumischen. Jetzt standen die Schweizer dem Ausland geeint gegenüber, als national höchst empfindlich reagierendes Voll;'
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