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German Pages [620] Year 2010
Grundlagen der österreichischen Rechtskultur Festschrift für Werner Ogris zum 75. Geburtstag
Herausgegeben von Thomas Olechowski, Christian Neschwara und Alina Lengauer
Böhlau Verlag Wien . Köln . Weimar
Gedruckt mit Unterstützung durch:
Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Amt der Niederösterreichischen Landesregierung Bundeskanzleramt Österreichische Notariatskammer Juristenverband
Frontispiz / Foto: ÖAW / R. Herbst, point of view
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78628-3 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: Prime Rate kft., Budapest
Inhalt Vorwort ....................................................................................................... IX Abkürzungsverzeichnis ............................................................................... XI Die Verschleppung der Akten des Reichshofrates durch Napoleon LEOPOLD AUER ..........................................................................................
1
Akkreditierung von Privatuniversitäten in Österreich WILHELM BRANDSTÄTTER .........................................................................
15
Irrtümer der Rechtsgeschichte – Rechtsgeschichte der Irrtümer WILHELM BRAUNEDER ...............................................................................
31
Marginalien zur tschechoslowakischen Bodenreform in der Zwischenkriegszeit. Am Beispiel der Besitzungen des Deutschen Ordens ERNST BRUCKMÜLLER ................................................................................
49
Hans Kelsen an der Exportakademie in Wien (1908–1918) JÜRGEN BUSCH ...........................................................................................
69
Haupt- und Zusatzaufgaben der Jurisprudenz FRANZ BYDLINSKI ....................................................................................... 109 Zugang zu Universitäten in der Europäischen Union – Rückblick und Ausblick FRIEDRICH FAULHAMMER / ALINA LENGAUER ....................................... 129 Der Fall Neusohl (Banská Bystrica) gegen Bergbauunternehmen der Thurzo 1519 PETER FISCHER ........................................................................................... 139 „Von recht und landgebrauchs wegen“ im Testamentsrecht der Landtafel ob der Enns URSULA FLOSSMANN / HERBERT KALB .................................................... 157 Zwei Töpfe Schmalz, ein Pfund Safran und alle Äpfel im Keller GERHARD JARITZ ........................................................................................ 179 Vom Wort zum Bild – die „andere“ rechtsgeschichtliche Information GERNOT KOCHER....................................................................................... 191
VI
Inhalt
Überlegungen zur „Gemeinde“ der Tiroler Forstregulierung GERALD KOHL ............................................................................................ 201 Sieben Postulate zur Juristenausbildung in Österreich HEINZ KREJCI.............................................................................................. 219 Naturrechtsdenken im Banne Kelsens. Erwägungen zum Verhältnis von Kelsen und Verdross GERHARD LUF ............................................................................................ 239 Zum Beamtenbegriff des Strafgesetzbuches HEINZ MAYER ............................................................................................. 255 De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil FRANZ STEFAN MEISSEL ............................................................................. 265 habent sua fata fontes iuris: Zur „Wiederentdeckung“ einer österreichischen Advokatenordnung aus 1648 CHRISTIAN NESCHWARA ........................................................................... 293 Zur Entstehung des österreichischen Strafgesetzes 1852 THOMAS OLECHOWSKI .............................................................................. 319 Reichshofrat und Reichstage EVA ORTLIEB............................................................................................... 343 Volksabstimmungen über Europa THEO ÖHLINGER ........................................................................................ 365 Das Islamgesetz 1912 und der religionsrechtliche Diskurs in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts RICHARD POTZ ........................................................................................... 385 Vom gemeinrechtlichen Mandat zum Europäischen Mahnverfahren (VO [EG] Nr 1896/2006) WALTER H. RECHBERGER .......................................................................... 409 Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen: ein Element europäischer Rechtskultur im 20. Jahrhundert? ILSE REITER-ZATLOUKAL ........................................................................... 433 Zu den Anfängen der staatlichen Stiftungsaufsicht in Österreich GABRIELE SCHNEIDER ................................................................................ 459 Gab es im Hochmittelalter eine „gesetzespositivistische Umwälzung“? THOMAS SIMON .......................................................................................... 477
Inhalt
VII
Zur Geschichte des europäischen Datenschutzrechts EVA SOUHRADA-KIRCHMAYER .................................................................. 499 Die „Schülerszene“ in Goethes „Faust“ GERHARD STREJCEK ................................................................................... 519 Mündelgut: Verpachtung im antiken Athen GERHARD THÜR ......................................................................................... 533 Bleibende Erinnerungszeichen an eine Rechtslehre ROBERT WALTER ........................................................................................ 543 Merkwürdiges und Denkwürdiges im Recht RUDOLF WELSER ........................................................................................ 563 Zu den Anfängen der Historischen Rechtsschule romanistischer Richtung in Österreich – vornehmlich zu Ludwig Arndts von Arnesberg (1803–1878) GUNTER WESENER ..................................................................................... 577 Schriftenverzeichnis von Werner Ogris 2003–2010, zusammengestellt von CHRISTOPH SCHMETTERER und KAMILA STAUDIGL-CIECHOWICZ ........ 601
Vorwort Beatus ille, qui procul negotiis! Vielleicht dachte Werner Ogris an dieses Wort von Horaz, als er 2003, im Jahr seiner Emeritierung, bemüht war, alle noch laufenden Forschungsarbeiten abzuschließen und keine neuen mehr zu beginnen. Eine Reihe von Publikationen wurde in jenem Jahr noch in Druck gegeben; im Oktober 2003 erschien im Verlag Böhlau unter dem Titel „Elemente Europäischer Rechtskultur“ ein Sammelband mit Aufsätzen von Prof. Ogris,1 der im Rahmen eines Symposiums, das zu seinen Ehren in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und am Wiener Juridicum stattfand, der Öffentlichkeit präsentiert wurde. So schien es, als könnte Ogris nach 83 Semestern Lehrtätigkeit an der Universität Wien und an der Freien Universität Berlin seinen wohlverdienten Ruhestand genießen. Wäre da nicht die Akademie gewesen, der Werner Ogris seit 1972 als korrespondierendes, seit 1975 als wirkliches Mitglied angehörte, und deren Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs (KRGÖ) er auch weiterhin zu leiten hatte. Dem Drängen seiner Freunde und Kollegen nachgebend, stellte er seine Akademietätigkeit nicht ein, im Gegenteil, er weitete sie aus und begann ein, wie er es selbst bezeichnete, „Mammutprojekt“: die Erschließung der – in etwa 12.000 Kartons im Haus-, Hof- und Staatsarchiv gelagerten – Akten des kaiserlichen Reichshofrates, ein rechtshistorisches Forschungsdesiderat ersten Ranges. Auch andere Akademieprojekte wurden vorangetrieben, und die KRGÖ selbst wandelte sich dank des unermüdlichen Einsatzes von Prof. Ogris von einer Honoratiorenversammlung zu einem Forschungsinstitut mit fest angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Und wären da nicht die zahlreichen Auslandskontakte gewesen, die Werner Ogris in seiner „aktiven“ Zeit immerhin zwei Ehrendoktorate (Prag und Bratislava) sowie zwei auswärtige Akademiemitgliedschaften (Leipzig und Amsterdam) eingebracht hatten. Nicht einmal ein Jahr nach seiner Emeritierung,
WERNER OGRIS, Elemente Europäischer Rechtskultur. Rechtshistorische Aufsätze aus den Jahren 1961–2003, hrsg v THOMAS OLECHOWSKI (Wien/Köln/Weimar 2003). Daselbst auch ein Lebenslauf des Geehrten und ein Schriftenverzeichnis. Im gegenständlichen Band wurde dieses Schriftenverzeichnis auf den Seiten 601–606 bis zum heutigen Tag fortgeführt.
1
X
Vorwort
im Juli 2004, wurde in Bratislava eine Privatuniversität, die Bratislavská vysoká škola práva (BVŠP), gegründet, und Werner Ogris wurde von den Gründervätern eingeladen, jungen Studierenden in der nur 60 km von Wien entfernten Donaumetropole Grundzüge der europäischen Rechtsgeschichte – „Elemente Europäischer Rechtskultur“ – nahe zu bringen. Aus dieser Einladung hat sich mittlerweile eine dauerhafte Lehrtätigkeit in Bratislava sowie neuerdings auch an der BVŠP-„Tochter“ in Prag entwickelt, und als die BVŠP 2005 ihren Fächerkanon ausweitete und eine Fakultätsstruktur einführte, wurde Werner Ogris für das akademische Jahr 2005/06 zum ersten Dekan der juristischen Fakultät der BVŠP gewählt! Von Ruhestand kann also keine Rede sein. Vielmehr ist unser Jubilar nach wie vor in einem Ausmaß aktiv, das Bewunderung abverlangt – und auch Dank: Für die wertvolle Arbeit, die er in Forschung und Lehre weiter leistet, und für das leuchtende Vorbild, das er uns allen damit abgibt. Äußeres Zeichen dieses Dankes soll die gegenständliche Festschrift sein, die Werner Ogris zu seinem 75. Geburtstag gewidmet ist. Das Herausgeberteam hat lange gezögert, welche Autorinnen und Autoren zur Mitarbeit in dieser Festschrift einzuladen wären, denn es war klar, dass aus der Fülle hervorragender Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die hierzu in Frage kamen, eine kleine Auswahl getroffen werden musste. Der Entschluss ging schließlich dahin, nur Kolleginnen und Kollegen der Wiener Rechtsfakultät, die Mitglieder der KRGÖ sowie last but not least ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Werner Ogris anzuschreiben. Die Fülle der positiven Rückmeldungen sprengte unsere kühnsten Erwartungen. Allen Autorinnen und Autoren sagen wir unseren aufrichtigen Dank! Für die Mithilfe bei der Betreuung der Manuskripte danken wir herzlich Frau Mag. Kamila Staudigl-Ciechowicz und Frau Bakk. Tanja Svjetlanović. Für großzügige finanzielle Zuwendungen danken wir dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, der Niederösterreichischen Landesregierung, dem Bundeskanzleramt, der Österreichischen Notariatskammer und dem Juristenverband. Schließlich danken wir dem Verlag Böhlau, besonders Frau Dr. Eva Reinhold-Weisz und Herrn Dr. Peter Rauch, dass sie nach den „Elementen Europäischer Rechtskultur“ nun auch die „Grundlagen der österreichischen Rechtskultur“ in ihr Verlagsprogramm übernommen haben und für die vielfältige Unterstützung, die wir bei der Verwirklichung des Projekts erfuhren. Wien, im August 2010
Die Herausgeber
Abkürzungsverzeichnis ABGB ABl ADB AEUV AGO AHStG ALR AnwBl AVA AVG BGB BGBl BlgAH, BlgHH
= = = = = = = = = = = = =
BlgNR
=
BVerfGE CA CC DOZA DSG, DS-RL EG(V) EMRK EuGH EUV EWGV
= = = = = = = = = =
FHStG FS GBGB HfD HHStA HK
= = = = = =
Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch Amtsblatt Allgemeine Deutsche Biographie Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Allgemeine Gerichtsordnung Allgemeines Hochschulstudien Gesetz Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten Österreichisches Anwaltsblatt Allgemeines Verwaltungsarchiv Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Beilage zu den stenografischen Protokollen des Abgeordnetenhauses / des Herrenhauses Beilage zu den stenografischen Protokollen des Nationalrates Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Codex Austriacus Code civil Deutsch-Ordens-Zentral-Archiv Datenschutzgesetz, Datenschutz-Richtlinie Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäische Menschenrechtskonvention Europäischer Gerichtshof Vertrag über die Europäische Union Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Fachhochschulstudien Gesetz Festschrift Galizisches Bürgerliches Gesetzbuch Hofdekret Haus-, Hof- und Staatsarchiv Hofkanzlei
XII
Abkürzungsverzeichnis
HRG1, HRG2
=
JBl JGS JN ks Pat MIÖG
= = = = =
mwN NDB NJW NR öarr ÖBL OGH ÖJZ ÖStA PGS ProvGSTirVbg RHR RL Rs RGBl Ssp Ldr StG, StGB StGG-ARStB
= = = = = = = = = = = = = = = = = =
StPHH = StPO = UG, UniAkkG = UniStG = VfGH, VwGH = WGGB = ZfRV = ZNR = ZPO = ZRG GA/KA/RA
Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (1. Aufl Berlin 1971–1998, 2. Aufl Berlin 2004 ff) Juristische Blätter Justizgesetzsammlung Jurisdiktionsnorm kaiserliches Patent Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung mit weiteren Nachweisen Neue Deutsche Biographie Neue juristische Wochenschrift Nationalrat österreichisches archiv für recht & religion Österreichisches Biographisches Lexikon Oberster Gerichtshof Österreichische Juristen-Zeitung Österreichisches Staatsarchiv Politische Gesetzessammlung Provinzialgesetzsammlung für Tirol und Vorarlberg Reichshofsrat Richtlinie Rechtssache Reichsgesetzblatt Sachsenspiegel Landrechtsteil Strafgesetz; Strafgesetzbuch Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger Stenographische Protokolle des Herrenhauses Strafprozessordnung Universitätsgesetz, Universitäts-Akkreditierungsgesetz Universitäts-Studiengesetz Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof Bürgerliches Gesetzbuch für (West-)Galizien Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte Zivilprozessordnung = Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische / Kanonistische / Romanistische Abteilung
Die Verschleppung der Akten des Reichshofrats durch Napoleon LEOPOLD AUER, Wien Raubkunst und Beutearchive sind Schlagworte unserer jüngsten Vergangenheit, der ihnen zugrunde liegende Tatbestand hat aber eine weit zurückreichende Geschichte und ist seit langer Zeit Gegenstand internationaler, nicht zuletzt völkerrechtlicher Diskussion, auch wenn diese Diskussion durch Internationalisierung und Globalisierung in unseren Tagen eine neue Qualität erreicht hat.1 Was die Archive betrifft, sind sie vor allem durch Kriegsereignisse und im Rahmen des völkerrechtlichen Instruments der Staatennachfolge Gegenstand internationalen Rechts geworden. Zahlreiche Verträge seit der frühen Neuzeit dokumentieren diesen Umstand,2 die Friedensschlüsse von Münster und Osnabrück sind eines der frühen und bekannten Beispiele dafür.3 Nicht zuletzt wird daran der hohe Wert deutlich, den man Archiven als Nachweis von Rechtstiteln, Verwaltungshilfsmittel und historische Informationsquelle immer wieder zugemessen hat.
Vgl dazu aus der bereits unüberschaubar gewordenen Literatur LYNN H. NICHOThe Rape of Europa (New York 1994; deutsch: Der Raub der Europa, München 1995); ERNST KUBIN, Raub oder Schutz. Der deutsche militärische Kunstschutz in Italien (Graz/Stuttgart 1994); KONSTANTIN AKINSCHA / GRIGORI KOSLOW, Beutekunst. Auf Schatzsuche in russischen Geheimdepots (München 1995); PATRICIA KENNEDY GRIMSTED, Trophies of War and Empire (Cambridge, Mass 2001); THOMAS FITSCHEN, Das rechtliche Schicksal von staatlichen Akten und Archiven bei einem Wechsel der Herrschaft über Staatsgebiet (= Saarbrücker Studien zum Internationalen Recht 25, Baden-Baden 2004); THOMAS ARMBRUSTER, Rückerstattung der Nazigüter. Die Suche, Bergung und Restitution von Kulturgütern durch die westlichen Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg (Berlin 2008). 1
LAS,
Vgl BERNARD MAHIEU, Tableau historique des accords portant sur des transferts d’archives, Actes de la dix-septième conférence internationale de la Table ronde des archives (Paris 1980) 39 ff. 2
3
Dazu zuletzt FITSCHEN, Schicksal 53 ff.
2
LEOPOLD AUER
Mit den Umbrüchen im Gefolge der Französischen Revolution war von Frankreich ausgehend auch ein Einschnitt in der Entwicklung des Archivwesens verbunden, indem die historische Quellenfunktion in den Vordergrund gerückt und den Bürgern ein Recht auf Einsichtnahme eingeräumt wurde.4 Die Betonung ihres kulturell-wissenschaftlichen Wertes neben dem rechtlichadministrativen machte die Archive zusätzlich zu einem Objekt der Begierde und führte während der napoleonischen Kriege in großen Teilen Europas zu Verschleppungen und Verlagerungen von Archiven bis dahin unbekannten Ausmaßes, die einerseits nicht unerhebliche Verluste verursachten,5 aber andererseits auch zur Entwicklung eines völkerrechtlichen Instrumentariums auf diesem Gebiet und der dafür notwendigen Terminologie beigetragen haben. Neben dem Musée Napoléon, dem späteren Musée du Louvre, wo die geraubten Kunstschätze zahlreicher europäischer Sammlungen zusammengetragen wurden, sollte nach den Vorstellungen Napoleons auf dem Marsfeld auch ein europäisches Zentralarchiv errichtet werden.6 Wahrscheinlich ging die Idee auf den Generaldirektor der französischen Archive Pierre-Claude-François Daunou zurück,7 aber der imperiale Gestus des Projekts war auch ganz nach dem Geschmack des französischen Kaisers, der dann die entsprechenden Anweisungen dazu erteilte. Während hinsichtlich des Kunstraubs in jüngster Zeit gerade auch von französischer Seite eine umfassende Erforschung eingesetzt hat,8 sind für die gleich-
4
Ebenda 67 f mit weiteren Hinweisen.
LEOPOLD AUER, Archival losses and their impact on the work of archivists and historians, Archivum 42 (1996) 1–10, hier 3 mit Anm 32 und 33.
5
REMIGIUS RITZLER, Die Verschleppung der päpstlichen Archive nach Paris unter Napoleon I. und deren Rückführung nach Rom in den Jahren 1815 bis 1817, Römische historische Mitteilungen 6/7 (1962–64) 147 und in Anm 25. Man darf daneben aber auch nicht vergessen, daß durch die napoleonische Herrschaft über große Teile Europas für einige Jahre in Paris eine archivalische Überlieferung von europäischem Charakter entstanden ist, die von Spanien bis Polen reichte; vgl LEOPOLD AUER, L’importance du patrimoine archivistique européen au niveau national et local, Janus. Revue archivistique (1992/2) 265–269, hier 267. 6
Zur Person Daunous vgl Dictionnaire de biographie française 10 (Paris 1965) Sp 287–288, zur Idee eines europäischen Zentralarchivs MARQUIS DE LABORDE, Les archives de la France, leurs vicissitudes pendant la Révolution, leur régénération sous l’Empire (Paris 1867) 179–194. 7
BENEDICTE SAVOY, Patrimoine annexé. Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800, 2 Bände (Paris 2003). Vgl auch SABINE PÉNOT, Der napo8
Die Verschleppung der Akten des Reichshofrats durch Napoleon
3
zeitige Verschleppung der Archive noch kaum eingehende Untersuchungen angestellt worden. Zu den betroffenen Institutionen gehörten nicht zuletzt die Wiener Archive und Registraturen, die 1809 ebenso wie die Kunstsammlungen nicht zur Gänze vor den heranrückenden Franzosen in Sicherheit gebracht werden konnten. Während die Plünderung der kaiserlichen Sammlungen durch den Direktor des Musée Napoléon Dominique-Vivant Denon etwa einen Monat nach der Kapitulation Wiens einsetzte, blieben die Archive und Registraturen bis knapp vor dem Friedensschluß von allen Übergriffen verschont. Erst zwischen dem 11. und 25. Oktober, knapp vor und nach dem Abschluß des Schönbrunner Friedens vom 14. Oktober, kam es überfallsartig zur Beschlagnahme und zum anschließenden Abtransport von Akten in den Gebäuden der HK, der Staatskanzlei und der Reichskanzlei, in deren Gebäude auch das HHStA untergebracht war.9 Die Beschlagnahme erfolgte als Akt der Gewalt; rechtliche Argumente wurden während der Aktion allenfalls en passant vorgebracht. Trotzdem war die rechtliche Situation von Bedeutung. Wie Metternich in einer späteren Weisung ausführte,10 könne man feststellen, „daß die abgeführten Schriften und Dokumente in drey Gattungen zerfallen, nämlich solche zu deren Auslieferung uns der Wiener Frieden verpflichtet hätte, andere auf welche schon in Folge des Presburger Friedens ein Anspruch gegründet werden könnte, und jene endlich, deren Abführung ganz widerrechtlich war, da sie entweder nicht abgetretene Provinzen, oder solche Gegenstände betreffen, die dem französischen Gouvernement fremd, und von keinem Nutzen sind“. Diese Feststellung Metternichs entspricht der völkerrechtlichen Staatenpraxis seiner Zeit hinsichtlich der Übergabe von Archiven bei territorialen Veränderungen, also dem was als Staatennachfolge bei Archiven bezeichnet werden kann.11 Abgetreten wurden dabei Archive, die entweder das abgetretene Terleonische Kunstraub im Belvedere (1809) und seine Folgen, in: Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H. (Hrsg), Napoleon. Feldherr, Kaiser und Genie (Katalog zur Ausstellung, Schallaburg 2009) 111–119. Die Bezeichnung des Archivs schwankte damals noch, doch sind gelegentlich schon alle heutigen Bestandteile des Titels enthalten, wenn auch eher in der Reihenfolge Staats-, Hof- und Hausarchiv.
9
Weisung an Schwarzenberg vom 1. 1. 1810, Gesandtschaftsarchiv Paris, Karton 26. Alle im Folgenden zitierten Archivalien befinden sich, sofern nicht anders angegeben im HHStA in Wien.
10
LEOPOLD AUER, Staatennachfolge bei Archiven, Archives et Bibliothèques de Belgique 57 (1986) 51–68; MICHAEL SILAGI, Staatennachfolge und Archive, Archivali11
4
LEOPOLD AUER
ritorium betrafen oder für dessen Verwaltung notwendig bzw wie es bei Metternich heißt, von Nutzen sind. In den zeitgenössischen Verträgen wird das durch Formulierungen wie „les actes concernant les objets d’administration qui se rapportent exclusivement aux dits pays“ (Lunéville) oder „les…archives, plans et cartes des différents pays,…cédés par le présent traité“ (Preßburg) zum Ausdruck gebracht.12 Üblicherweise wurde diese Bestimmung so verstanden, daß mit einem Gebiet seine Archive abgetreten wurden, von jenen auf einer höheren Verwaltungsebene allenfalls solche Dokumente, die für die Verwaltung dieses Gebietes unumgänglich nötig waren. Die Formulierung ließ aber auch eine weiter gefaßte Auslegung zu, die alles miteinschloß, was in den zentralen Archiven eines Staates auf das abgetretene Gebiet Bezug hatte. Diese mögliche Auslegung führte in weiterer Folge zu einer Präzisierung der Beziehung zwischen abgetretenen Territorien und den auf sie bezüglichen Archiven – des sogenannten archives-territory-link13 –, bei der die Archivverschleppungen der napoleonischen Zeit eine wichtige Rolle spielten. Die sich im Zuge der napoleonischen Kriege und der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches ergebenden territorialen Veränderungen hatten erhebliche Auswirkungen auf die Archivverhältnisse.14 In einer Zeit, in der das Provenienzprinzip noch so gut wie unbekannt war, und die meisten Staaten eine Politik der Zentralisierung ihres Archivbesitzes verfolgten, kam es damit bei Änderungen des territorialen Besitzstandes automatisch zu Archivverlagerungen. So brachte Österreich nach dem Frieden von Campo Formido von 1797 und dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803 große Teile der venezianischen, Brixener und Trienter Archive nach Wien. Da im Preßburger Vertrag Tirol und die erst acht Jahre zuvor erworbenen venezianischen Gebiete abgetreten werden mußten, hätten gemäß Artikel 16 auch deren Archive an Bayern und das Königreich Italien übergeben werden müssen.15 Österreich hat diese Übergabe aber nur sehr unvollständig durchgeführt,16 so sche Zeitschrift 85 (2003) 9–84; zuletzt FITSCHEN, Schicksal. 12
Zitiert nach FITSCHEN, Schicksal 70.
13
AUER, Staatennachfolge 53 in Anm 9 und 67 in Anm 69.
Das Folgende nach LEOPOLD AUER, Die Archive der Bistümer Brixen und Trient als Gegenstand der Staatennachfolge, Studi Trentini di Scienze Storiche 86 (2007) 333–344, hier 339.
14
RUDOLFINE FREIIN VON OER, Der Friede von Preßburg. Ein Beitrag zur Diplomatiegeschichte des napoleonischen Zeitalters (Münster 1965) 212 und 276.
15
Im Falle der venezianischen Archive wurde Italien durch die Übergabe der vereinbarten Zahl von Kisten, die aber kleiner waren als bei der seinerzeitigen Übernahme 16
Die Verschleppung der Akten des Reichshofrats durch Napoleon
5
daß es sich bei einem Teil der 1809 beschlagnahmten Archivalien um solche handelte, auf welche nach den oben zitierten Worten Metternichs „schon in Folge des Presburger Friedens ein Anspruch gegründet werden könnte“. Zu der dritten Kategorie, „deren Abführung ganz widerrechtlich war“, gehörten nach Ansicht der Wiener Regierung schließlich die Registraturen des RHR und der reichshofrätlichen Aktenkommission, die sowohl hinsichtlich der zeitlichen Abfolge wie ihrem Umfang nach bei der französischen Verschleppungsaktion an vorderster Stelle zu nennen sind. Zur Betreuung der Akten des RHR war mit kaiserlichem Dekret vom 4. Februar 1807 unter der Leitung des früheren Reichshofratspräsidenten Grafen Philipp von ÖttingenWallerstein17 eine Aktenkommission eingerichtet worden, die aus diesem Material Anfragen für laufende Verfahren beantworten und Anträge auf Auslieferung von Akten bearbeiten sollte.18 Diese Kommission hat auch während der Zeit der französischen Besetzung Wiens ihre Arbeit fortgesetzt und den französischen Behörden die linksrheinischen Gebiete betreffende Akten übergeben, darunter Anfang Juli auf Ansuchen des Staatssekretärs Maret Akten, die für ein Verfahren vor dem Oberappellationsgericht Düsseldorf benötigt wurden. Die letzte Sitzung der Kommission fand am 9. Oktober statt; mit diesem Tag begannen die Vorbereitungen zur Beschlagnahme und zum Abtransport der reichshofrätlichen Registraturen. Die Einzelheiten der französischen Maßnahmen werden in einem ausführlichen Schreiben des Stellvertreters des Grafen Öttingen und präsidierenden Rats der Aktenhofkommission Konrad Friedrich Freiherrn von Pufendorf19 an den von Kaiser Franz für das besetzte Niederösterreich als Hofkommissar eingesetzten Grafen Wrbna20 vom 20. Oktober 1809 geschildert.21 Danach erschien unmittelbar nach der Kommissionssitzung am 9. Oktober der fran-
aus Venedig, getäuscht; vgl LUDWIG BITTNER, Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 1 (Wien 1936) 552 ff. Vgl zu ihm OSWALD VON GSCHLIEßER, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806 (Wien 1942) 497 f.
17
Zur Tätigkeit der Aktenkommission vgl LOTHAR GROSS, Die Reichsarchive, in: BITTNER, Gesamtinventar 1, 275–280 und 283–295.
18
19
Vgl zu ihm GSCHLIEßER, Reichshofrat 485 und GROSS, Reichsarchive 278 und 286.
Rudolf Graf Wrbna-Freudenthal (1761–1823); CONSTANT VON WURZBACH, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich 58 (Wien 1889) 190–195. 20
21
Kurrentakten, Karton 21, Zahl 12/1809, fol 1r–12v (mit mehreren Beilagen).
6
LEOPOLD AUER
zösische Generalgouverneur Andréossy22 in Begleitung eines Dolmetschers und ließ sich vom Heizer der Kommission deren Zimmer zeigen. Zwei Tage später ließ der für die Polizeiangelegenheiten Wiens zuständige französische Minister Bacher,23 der im Reichskanzleitrakt der Wiener Hofburg seine Wohnung hatte, den Sekretär der Aktenkommission, Johann Nikolaus von Schwabenhausen24 zu sich rufen und kündigte ihm für den folgenden Tag seinerseits eine Besichtigung der Räumlichkeiten der Kommission und der Registraturen des RHR an. Bacher erschien wie angekündigt am 12. Oktober um neun Uhr in Begleitung des Kommissars und Auditors des französischen Staatsrats Capei und ließ von diesem gemeinsam mit Schwabenhausen die Räume versiegeln. Gleichzeitig eröffnete er Schwabenhausen, daß am folgenden Tag mit dem Abtransport der Akten des RHR begonnen würde. Auf die Mitteilung Schwabenhausens wandte sich Pufendorf unverzüglich an den die Friedensverhandlungen für Österreich führenden Fürsten Johann Liechtenstein und erhielt tags darauf die Antwort, daß es unter den gegebenen Umständen – knapp vor Abschluß des Friedensvertrags – mehrere Gründe gebe, sich „einer Einschreitung für diesen Gegenstand zu enthalten“.25 Inzwischen war mit dem Abtransport der Judicialia tatsächlich begonnen worden und auch durchgesickert, daß der Transport nach Paris gehen sollte. Pufendorf wies daraufhin den Registrator Nikolaus von Wolf26 an, den Abtransport, der nach Capei innerhalb von 24 Stunden abgeschlossen werden sollte, was völlig unrealistisch war, nach Möglichkeit in die Länge zu ziehen, um dadurch vielleicht die Akten der Lehens- und Gratialregistratur zu retten, welche, wie Pu-
Antoine-François comte d’Andréossy (1761–1828) war Teilnehmer am Ägyptenfeldzug Napoleons, 1802/3 Botschafter in London, 1805–8 in Wien, dort französischer Generalgouverneur während der Besetzung 1809, 1812–14 Botschafter in Konstantinopel; vgl Dictionnaire de biographie française 2 (Paris 1936) Sp 974–976. 22
Theobald-Jacques-Justin Bacher (1748–1813) war seit 1773 in französischen diplomatischen Diensten. 1794/95 führte er die Basler Friedensverhandlungen mit Preußen, 1798 wurde er französischer Gesandter in Regensburg, 1807 beim Rheinbund. Nach der Besetzung Wiens 1809 übertrug ihm Napoleon die Aufsicht über die Wiener Polizei; vgl Dictionnaire de biographie française 4 (Paris 1948) Sp 1074–1076. 23
Vgl zu ihm LOTHAR GROSS, Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559 bis 1806 (Wien 1933) 445 f.
24
Schreiben Pufendorfs an Liechtenstein vom 12. 10. 1809 (Abschrift), Kurrentakten Zahl 12/1809, fol 2r. Abschrift der Antwort Liechtensteins vom 13. 10. ebenda fol 4r.
25
Vgl zu ihm GROSS, Reichshofkanzlei 304 und 361 und 291 f. 26
DERSELBE,
Reichsarchive
Die Verschleppung der Akten des Reichshofrats durch Napoleon
7
fendorf ausführte, „die Gerechtsamen des durchlauchtigsten Erzhauses zum Theil unmittelbar berühren“.27 Da am 15. Oktober auch mit der Verpackung der Unterlagen der Aktenkommission begonnen wurde, wandte sich Pufendorf auf den Rat Capeis auch an den Staatssekretär Maret und sandte zusätzlich Schwabenhausen mit der Bitte zu Bacher, die Akten der Hofkommission zumindest bis auf eine endgültige Entscheidung nicht aus Wien wegzubringen. Eine kurze ausweichende Antwort des inzwischen von Wien abgereisten Maret vom 16. Oktober ließ ihn allerdings die Aussicht dafür sehr skeptisch beurteilen.28 Der Abtransport der Akten dauerte über den 20. Oktober hinaus, da an diesem Tag die Lehens- und Gratialregistratur noch an Ort und Stelle war, wurde aber spätestens mit dem 25. Oktober beendet, ebenso wie die am 17. Oktober begonnene Verbringung von Archivalien des HHStA.29 Dabei wurden die „Judizial-Akten mit der größten Eilfertigkeit und ohne Beobachtung der höchst nothwendigen Ordnung in Kisten gepackt“.30 Zwischen dem 12. und 20. Oktober wurden Akten aus der Vereinigten HK31 und wahrscheinlich auch aus der Staatskanzlei abtransportiert. Einzig die Übergabe von Tiroler Akten an den bayerischen Kommissar Johann Christoph von Aretin hat schon einige Zeit früher stattgefunden.32 Alle diese Verschleppungen erfolgten gegen den Protest der zuständigen österreichischen Beamten und ohne nähere rechtliche Begründung. Lediglich Bacher hat einmal während des Abtransports von Archivalien aus dem HHStA bemerkt, daß „nur zur Reichskanzley und zum Venezianischen Archive gehörige Stücke, welche ohnehin nicht als Eigentum des Österreichischen Archivs betrachtet werden könten (sic!), bei dieser Ausscheidung beabsichtet würden“.33 Entgegen der sich in der Literatur findenden Behauptung, daß die Rückstellung der verschleppten Akten erst nach dem Sieg über Napoleon betrieben
27
Schreiben Pufendorfs (wie Anm 21) fol 12r.
Schreiben Pufendorfs an Maret und dessen Antwort, beide vom 16. 10., ebenda fol 6r und 8r. 28
Vgl die Berichte der Archivare Gassler und Emmert vom 17., 24. und 28. 10., Kurrentakten Zahl 12/1809, fol 13r–14r, 28r–29r und 33r/v. 29
30
Schreiben Pufendorfs vom 20. 10., ebenda fol 12r.
Vgl die Übernahmebestätigung des französischen Kommissars Lange vom 20. 10. ebenda fol 21r.
31
32
Bericht Emmerts vom 24. 10., ebenda fol 15r/v.
33
Bericht Gasslers vom 27. 10., ebenda fol 30r.
8
LEOPOLD AUER
wurde,34 haben die österreichischen Stellen sofort nach Auswechslung der Ratifikationen des Schönbrunner Friedens Ansprüche auf Restitution erhoben. In einer Note vom 8. November35 unterrichtete Wrbna Metternich über seine diesbezüglichen Schritte bei Andréossy, von dem er jedoch nach mehrfachem Drängen lediglich eine ausweichende und nicht den Tatsachen entsprechende Antwort erhalten hatte, in der der Versuch gemacht wurde, die Verschleppungsaktionen als im beiderseitigen Einvernehmen durchgeführte Übergaben darzustellen.36 Da Andréossy auch nicht der Aufforderung nachkam, Verzeichnisse der abtransportierten Akten zu übergeben, beauftragte Wrbna am 18. November die betroffenen Stellen, selbst solche Verzeichnisse anzufertigen,37 die er mit Schreiben vom 20. Dezember an Metternich übermittelte.38 Für die reichshofrätlichen Akten hatte Pufendorf durch Schwabenhausen ein umfangreiches Protokoll anfertigen lassen,39 das vier Listen über den Abtransport der Akten und Protokolle des RHR, der Quittungen der reichshofrätlichen Depositenkasse sowie der Akten und Protokolle der Aktenkommission im Geamtumfang von ungefähr 2500 Kisten umfaßt. Auf der ersten Liste sind auch die auf ausdrücklichen Wunsch Bachers miteingepackten Reichstaxbücher vermerkt. Nicht abtransportiert wurden lediglich jene internen Akten, die heute unter der Bezeichnung Verfassungsakten aufgestellt sind.40 In der Einleitung des Protokolls wurden nochmals die bei der Verpackung zu Tage getretene Eile und mangelnde Sorgfalt hervorgehoben.41 So HANNS SCHLITTER, Die Zurückstellung der von den Franzosen im Jahre 1809 aus Wien entführten Archive, Bibliotheken und Kunstsammlungen, MIÖG 22 (1901) 108–122, hier 113, und RICHARD BLAAS, Die Tätigkeit der k. k. Aktenrückführungskommision in Paris 1814 und 1815, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 14 (1961) 18–1, hier 20. 34
Konzept in Staatenabteilung Frankreich, Varia, Karton 61 (alt Faszikel 75), Konvolut 10 (Archiv), fol 8r–14v. 35
36
Schreiben Andréossys vom 26. 10., ebenda fol 5r–6r.
Eine Abschrift des Schreibens liegt dem Schreiben an Metternich bei; vgl ebenda fol 17r–18r. 37
38
Ebenda fol 15r–86v mit umfangreichen Listen der verschleppten Akten.
Ebenda fol 52r–67r. Das Protokoll wurde am 21. 10. im Gebäude der Reichskanzlei aufgenommen, Wrbna erhielt eine gleichfalls von Schwabenhausen am 24. 11. beglaubigte Abschrift. 39
40
Vgl zu ihnen GROSS, Reichsarchive 283–285.
Protokoll fol 55r: „übrigens aber seye die Verpakung der Akten in ohngefähr 2500 Kisten besonders gegen Ende des Geschäfts mit solcher Unordnung, Eile und Fahrlä41
Die Verschleppung der Akten des Reichshofrats durch Napoleon
9
Treibende Kraft hinter den österreichischen Bemühungen um die Rückgabe der verschleppten Akten war zweifellos Metternich; vielleicht kommt darin auch eine gewisse Mißbilligung der Haltung Liechtensteins bei den Friedensverhandlungen zum Ausdruck. Bereits am 29. Oktober hatte Metternich Wrbna zur Berichterstattung aufgefordert und, noch ehe ihm dessen umfangreiches Dossier vom 20. Dezember vorlag, von seinem Aufenthaltsort im kaiserlichen Hoflage in Totis den österreichischen Botschafter in Paris, Schwarzenberg,42 angewiesen, beim französischen Außenminister Champagny wegen der Verschleppung der Archive vorstellig zu werden.43 Am 25. Dezember konnte Metternich Schwarzenberg bereits die bevorstehende Übersendung der von Wrbna in Auftrag gegebenen Verzeichnisse ankündigen,44 die dann wenige Tage später, mit Weisung vom 1. Jänner 1810 erfolgte.45 Schon in der Weisung vom 25. Dezember werden dabei zwei Argumente für die Rückforderung von Akten ins Treffen geführt, die in der Folge mehrfach wiederkehren sollten, nämlich der für Frankreich fehlende Nutzen eines Großteils dieser Materialien und das im Gegensatz dazu an ihnen bestehende Interesse von Privatpersonen. Die Wegnahme der Registratur des RHR wird dabei als einziges Beispiel ausdrücklich erwähnt.46 ßigkeit geschehen, daß ein großer Teil nicht unversehrt in Paris ankommen könne, und daß menschliche Kräfte schwerlich hinreichen würden, sie je wieder in Ordnung zu bringen“. Karl Philipp Fürst zu Schwarzenberg (1771–1820), seit 1810 Botschafter in Paris, 1813 Oberkommandierender der alliierten Armeen gegen Napoleon; vgl zu ihm ÖBL XII (Wien 2005) 22–23. 42
Weisung Metternichs an Schwarzenberg vom 14. 11., Staatenabteilung Frankreich, Karton 206 (Weisungen 1809), fol 75r. Am 3. 12 berichtete Schwarzenberg über seine diesbezügliche Unterredung mit Champagny: „La spoliation des archives fut le second article de la conférence, le ministre passa sous silence toutes nos justes plaintes sur l’illégalité de cet odieux acte et il s’obstina…à vouloir me prouver que tout ce qui avait enlevé appartenait aux provinces cédées“. Vgl Staatenabteilung Frankreich, Karton 205 (Berichte 1809), fol 24v (Ausfertigung) und Gesandtschaftsarchiv Paris, Karton 1, Konvolut 1806–10, fol 47v (Konzept). 43
Weisung Metternichs an Schwarzenberg, Staatenabteilung Frankreich, Karton 206 (Weisungen 1809), fol 269r.
44
Ausfertigung der Weisung Gesandtschaftsarchiv Paris, Karton 26, Konvolut Jänner (unfoliiert). 45
„…des papiers qui ont été emportés, et parmi lesquels il s’en trouve sans nulle valeur pour les Français, et qui compromettent les intérêts d’une foule des particuliers. De ce nombre sont les enlèvemens faits à la régistrature du Conseil Aulique d’Empire“. 46
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Die ergänzende Weisung vom 1. Jänner 1810 erweitert die Argumente für die Rückstellung der Akten durch den Hinweis, daß Österreich andernfalls die Möglichkeit genommen würde, Artikel 8 des Schönbrunner Friedens über die Abtretung der Archive der abgetretenen Provinzen zu erfüllen, und betont den Schaden für die aktuelle Verwaltung durch den Verlust wichtiger Unterlagen. Daneben wird erneut der mangelnde Nutzen für Frankreich und das verletzte Interesse von Privatpersonen hervorgehoben, das „besonders durch die Abführung der reichshofräthlichen Judizial-Akten auf eine unwiederbringliche Art gefährdet wird, während von Seiner Majestät noch vor kurzem durch die Einsetzung der diesfälligen Extradirungs-Commission die zweckmässigste Maßregel war getroffen worden, um dieses Interesse der Partheyen mit den Oberstrichterlichen Rechten der neuen Souveraine in Deutschland zu vereinbaren“. Diese Betonung der Interessen von Parteien oder Privatpersonen (particuliers) ist ein Hinweis auf die völkerrechtliche Praxis des Schutzes von Privatpersonen und ihres Eigentums, wie er in einem anderen Zusammenhang in einem Bericht Schwarzenbergs expressis verbis formuliert wird.47 Möglicherweise hat auch die Überlegung eine Rolle gespielt, daß im CC dem Schutz von Personenrechten und von Privateigentum eine besondere Bedeutung zukommt. Auf die völkerrechtliche Praxis bzw deren Verletzung weist auch die Betonung des für Frankreich nicht vorhandenen Nutzens der verschleppten Akten, da es in diesem Fall üblich war, von böswilliger Rechtsverletzung zu sprechen.48 Nicht zuletzt macht die Weisung Metternichs richtigerweise auf den Umstand aufmerksam, daß bei Zentral- und Provinzialbehörden weitgehend gleichartige Archive entstehen, von denen nur die zweiteren bei einer Gebietsabtretung für eine Übergabe in Frage kommen: „Da die Hofstellen mit den Regierungen der Provinzen in fortlaufender Correspondenz stehen, so folget nothwendig, daß dieselben Akten in duplo bei den Regierungen und bei den Stellen vorfindig waren; aller Wahrscheinlichkeit nach sind die ersteren mit der Provinz übergeben, die letzteren zurückbehalten worden… So
Bericht Schwarzenbergs vom 3. 7. 1810 an den die Staatskanzlei in Vertretung leitenden Vater Metternichs, Staatenabteilung Frankreich, Karton 207 (Berichte 1810), Konvolut Juli, fol 67r/v: „Ainsi que j’ai eu l’honneur de Vous l’annoncer Mon Prince, j’avois pris dans le tems un soin particulier de bien établir la thèse que les avances faites par S. M. aux Négocians de Trieste étoient une proprieté particulière, et j’avois reclamé en conséquence, le respect que le droit de gens en général et les stipulations expresses du Traité (scil. de Vienne) commandent de porter à ce genre de propriétés“. 47
48
Vgl FITSCHEN, Schicksal 80 unter Hinweis auf völkerrechtliche Literatur.
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konnten und mußten manche Papiere unter den Rubriken der abgetretenen Provinzen zurückbleiben, ohne dem Zweck jeder Akten-Auslieferung, nämlich das neue Gouvernement in die Kenntniß der Verwaltungs-Maßregeln des abtrettenden zu setzen, zu nahe zu kommen“. Metternich will hier naturgemäß dem französischen Vorwurf, Österreich hätte vertragswidrig Akten zurückbehalten, vorbauen. De facto unterscheidet er zwischen den archives concernant des pays cédés und den archives appartenant aux pays cédés und wirft damit gleichzeitig die Frage auf, welche Art von Archiven im Hinblick auf eine Staatennachfolge in Betracht kommt, eine Frage, die bis heute in der Diskussion um die Staatennachfolge bei Archiven unterschiedlich beantwortet wird.49 Man darf wohl annehmen, daß die Frage der verschleppten Archive auch bei dem langen Aufenthalt Metternichs in Paris von Anfang April bis Ende September 1810 zur Sprache gekommen ist. Leider sind wir über den Verlauf von Metternichs Pariser Mission nur sehr unvollständig unterrichtet, so daß eine quellenmäßige Bestätigung dieser Annahme bisher nicht festgestellt werden konnte.50 Zwar schildert Metternich in seinen „Nachgelassenen Papieren“ – die damit einmal mehr ihre Fragwürdigkeit beweisen – eine Unterhaltung mit Napoleon, in der dieser die Vereinigung der europäischen Archive in Paris als ein Lieblingsprojekt bezeichnet habe,51 doch die Art der Schilderung würde nie den Gedanken aufkommen lassen, daß es tatsächlich zu einer Verschleppung von Archiven gekommen ist, deren Rückgabe von Österreich verlangt wurde. Allerdings waren die Aussichten auch für eine nur teilweise Rückgabe in der Zwischenzeit durch das Dekret Napoleons vom 2. Februar 1810 weiter gesunken, in dem der Transport der aus Wien weggebrachten
Vgl etwa zur Diskussion um diese Frage bei der UN-Staatennachfolgekonferenz in Wien 1983 AUER, Staatennachfolge 64 und in Anm 59. 49
Ein großer Teil seiner Berichte aus dieser Zeit ist zumindest im Archiv der Staatskanzlei nicht vorhanden, so daß man sich mit den Angaben in seinen „Nachgelassenen Papieren“ begnügen muß. Auch die Forschung hat sich – vielleicht eben deshalb – mit der Zeit der Pariser Mission nicht sehr eingehend beschäftigt, am ehesten noch EMIL LAUBER, Metternichs Kampf um die europäische Mitte (Wien 1939) 38 ff, wobei der Zeitpunkt des Entstehens zu berücksichtigen ist, und JOSEPHINE BUNCH STEARNS, The Role of Metternich in Undermining Napoleon (University of Illinois Press 1948) 106–112. Nachforschungen für die vorliegende Studie im MetternichArchiv in Prag waren mir leider aus Zeitgründen nicht möglich. 50
RICHARD METTERNICH-WINNEBURG (Hrsg), Aus Metternich’s nachgelassenen Papieren 1 (Wien 1880) 110.
51
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und anscheinend vorübergehend in Nassau gelagerten Dokumente nach Paris verfügt wurde.52 Nach dem Eintreffen wurde sofort mit ihrer Aufstellung im Hôtel de Soubise begonnen, über die Daunou Napoleon im Oktober einen ersten Bericht vorlegen konnte.53 Trotzdem hat Metternich zwei Monate nach seiner Rückkehr aus Paris Schwarzenberg neuerlich angewiesen, zumindest Teile der verschleppten Akten zurückzuverlangen und dazu mit Weisung vom 9. Dezember zwei Listen übermittelt, die ebenso wie die Weisung selbst leider nicht erhalten sind. In seiner Antwort hat sich Schwarzenberg pessimistisch geäußert und gemeint, daß man eher mit der Betonung des mangelnden Nutzens für Frankreich als mit dem Beharren auf dem Rechtsstandpunkt Aussicht habe, etwas zu erreichen.54 Damit waren die Möglichkeiten, die österreichischen Ansprüche durchzusetzen vorderhand ausgeschöpft, weitere Versuche scheinen in der Folge nicht mehr unternommen worden zu sein. Der Rußlandfeldzug Napoleons konfrontierte dann die österreichische Regierung mit ganz anderen Problemen, und die österreichische Kriegserklärung an Frankreich vom August 1813 entzog allen weiteren Vorstellungen die Grundlage. So konnten die österreichischen Ansprüche erst nach dem Sieg über Napoleon durchgesetzt werden. In Artikel 31 des Pariser Friedens vom 30. Mai 1814 wurde bestimmt: „Les archives, cartes, plans et documents quelconques, appartenans aux pays cédés ou concernans leur administration, seront fidèlement rendus“. Um allen möglichen Einwänden vorzubeugen, ließ sich Metternich außerdem in einem geheimen Zusatzartikel von Frankreich versprechen „à faire remettre…tous les actes qui ont rapport à l’ancien Empire Germanique, à la Belgique et d’autres provinces qui ont fait partie de la Monarchie Autrichienne et qui ont été enlevés des archives de Vienne“.55 Damit wurde zwar das von Talleyrand vorgebrachte Argument, Österreich habe keinen Anspruch auf die Reichsarchive, weil das Reich ohne Rechtsnachfolger zu
52
LABORDE, Archives de la France 194 in Anm 1, und 413.
Bericht Daunous vom 10. 10. 1810, LABORDE, Archives de France 415 f: „On est parvenu à decaisser et à placer dans les combles de l’hôtel de Soubise les papiers contenus dans 2266 caisses venues de Vienne; il en reste 933 qui composent une même série et qui ne pourront être ouvertes que lorsque les dispositions locales seront plus avancées“. Weitere Unterlagen enthält die Serie AB VE 8 der Archives Nationales in Paris; vgl Les Archives Nationales, Etat Général des fonds 4 (Paris 1980) 314. 53
Bericht Schwarzenbergs vom 28. 1. 1811, Staatenabteilung Frankreich, Karton 211 (Berichte 1811), fol 121r/v. 54
55
FITSCHEN, Schicksal 75 f.
Die Verschleppung der Akten des Reichshofrats durch Napoleon
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bestehen aufgehört habe,56 nicht grundsätzlich widerlegt aber wirkungslos, und die von Kaiser Franz bestellte Kommission zur Rückführung der Akten konnte mit ihrer Arbeit beginnen.57 Die gewaltigen Ausmaße der napoleonischen Archivverlagerungen haben die Problematik derartiger Maßnahmen bewußt werden lassen und ganz wesentlich zur weiteren Entwicklung völkerrechtlicher Bestimmungen auf diesem Gebiet beigetragen.58 Die meisten Handbücher des Völkerrechts der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stimmen darin überein, daß Archive im Kriegsfall weder beschlagnahmt noch zerstört werden dürfen, und bei Gebietsabtretungen nur Archive des betreffenden Gebiets oder die zu seiner Verwaltung notwendigen Dokumente von einem Nachfolgerstaat beansprucht werden können. Der archives-territory-link wird dabei durch die Verwendung des Begriffes appartenant / belonging weiter präzisiert.59 Ungeachtet dessen haben Erster wie Zweiter Weltkrieg die napoleonische Epoche in ihren Auswirkungen auf die Archive und die Kulturgüter überhaupt bei weitem übertroffen. Inwieweit die von den Vereinten Nationen und ihren Teilorganisationen zur Verfügung gestellten rechtlichen Instrumentarien ähnlichen Aktionen in Zukunft werden entgegenwirken können, bleibt abzuwarten.
56
Vgl zur Argumentation SCHLITTER, Zurückstellung 119 und in Anm 1.
57
Dazu im einzelnen BLAAS, Aktenrückführungskommission.
58
Das Folgende nach FITSCHEN, Schicksal 78 ff.
Zur Diskussion dieses Begriffes vgl AUER, Staatennachfolge 67 und in Anm 67–69 und FITSCHEN, Schicksal 80 f.
59
Akkreditierung von Privatuniversitäten in Österreich1 WILHELM BRANDSTÄTTER, Wien
I. Vorbemerkungen Mit dem Begriff der Privatuniversität werden in erster Linie wohl immer noch angloamerikanische postsekundäre Bildungseinrichtungen assoziiert. Die Vorstellungen über Wesen, Größe und Aufgabenbereiche einer Privatuniversität werden daher häufig auch mit diesen Institutionen in Verbindung gebracht. Diese Betrachtungsweise ist natürlich etwas einseitig. Denn auch in Kontinentaleuropa haben sich Privatuniversitäten etabliert, etwa im benachbarten Deutschland (beispielsweise genannt seien Witten/Herdecke oder die Jacobs University in Bremen). Auf Grund der Vielfalt ist es dementsprechend schwierig, ein allgemeingültiges Bild von Privatuniversitäten zu zeichnen. Letztlich bewegt sich eine Privatuniversität innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen, die je nach Staat betrachtet ganz unterschiedlich sein können. Und selbst innerhalb eines Staates kann es sehr abweichende Vorstellungen darüber geben (wie so manche Wortmeldungen im Wissenschaftsausschuss des NR zum Thema Privatuniversität gezeigt haben). Die Voraussetzungen für die Zulassung einer Privatuniversität können ebenfalls stark differieren. So ist ein staatliches Genehmigungsverfahren im Sinne einer externen Qualitätssicherung, eine Betriebsgenehmigung oder auch gar keine erforderliche Zulassung denkbar. Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch, einen Einblick in die in Österreich relevanten Rahmenbedingungen der externen Qualitätssicherung für Privatuniversitäten zu geben.
Das Thema dieses Beitrages ist zwar nicht rechtshistorischer Natur, steht aber insofern mit den Verdiensten des zu Ehrenden in Zusammenhang, als Herr emer.O.Univ.-Prof. Dr.iur. DDr.h.c. Werner Ogris nach seiner Emeritierung in Wien Vortragender und Dekan an der Bratislavská Vysoká Škola Práva, einer privaten Universität in Bratislava, war.
1
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II. Entstehung Der tertiäre Bildungssektor in Österreich war lange Zeit fast ausschließlich von den staatlichen Universitäten getragen. Zwar gab es immer wieder Bestrebungen, eine Diversifikation der postsekundären Bildungslandschaft zu schaffen. Echte Erfolge konnten jedoch erst knapp vor dem Ende des 20. Jahrhunderts verzeichnet werden. Ein erster kleiner Schritt erfolgte mit der Schaffung der Möglichkeit für private Bildungseinrichtungen, sogenannte „Lehrgänge universitären Charakters“ anzubieten.2 Ein wirklicher Meilenstein in der Erweiterung des tertiären Bildungssektors war die Etablierung von Fachhochschul-Studiengängen.3 Die Einführung dieses Systems einer praxisorientierten Ausbildung auf Hochschulniveau war aus mehreren Gründen bemerkenswert. Erstmals war eine verpflichtende externe Qualitätssicherung durch ein weisungsfreies Expertengremium (Fachhochschulrat) vorgesehen, das für die Zulassung (Akkreditierung) als Fachhochschul-Studiengang entscheidend ist. Weiters richtet das Materiengesetz nicht selbst Fachhochschulen ein, sondern ermöglicht lediglich juristische Personen des öffentlichen und des privaten Rechts, Erhalter von Fachhochschul-Studiengängen zu sein. Derzeit gibt es fast ausschließlich private Erhalter.4 Knapp vor Beginn des 21. Jahrhunderts wurde ein weiteres bildungspolitisches Vorhaben realisiert, die Zulässigkeit der Errichtung von Privatuniversitäten. Bis zu diesem Zeitpunkt war es lediglich ausländischen, anerkannten Bildungseinrichtungen gestattet, in Österreich ihre Studienprogramme anzubieten. Diese Abschlüsse waren aber nicht nach österreichischem Recht, sondern nach dem Recht des Sitzstaates der ausländischen Bildungseinrichtung zu beurteilen. Es konnten daher ausschließlich ausländische Abschlüsse vergeben werden. Inländische Bildungseinrichtungen hingegen konnten zum Anbot von Studienprogrammen nur den Umweg über Lehrgänge universitären Charakters nehmen. Die Unterschiede zu den staatlichen Universitäten waren sehr groß. Sogenannte ordentliche Studien, die mit einem Bachelor-, Master-, Diplom- oder Doktoratsgrad abschließen, durften als Lehrgang universitären Charakters nicht angeboten werden. Vergleichbar den Universi-
2
AHStG-Novelle, BGBl 1990/369.
3
FHStG, BGBl 1993/340.
Von den derzeit 21 Erhaltern von Fachhochschul-Studiengängen werden lediglich die der militärischen Führung vom Bundesministerium für Landesverteidigung betrieben. 4
Akkreditierung von Privatuniversitäten in Österreich
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tätslehrgängen können nur akademische Bezeichnungen bzw „Weiterbildungsmaster“ vergeben werden. Mit der 1999 erfolgten Öffnung des gesamten postsekundären Bildungsbereichs für private Anbieter war es nun sowohl ausländischen als auch inländischen Bildungsanbietern möglich, als Privatuniversität akkreditiert zu werden und international vergleichbare Studienprogramme anzubieten.5 Die gesetzliche Grundlage für die Zulassung als Privatuniversität ist das Bundesgesetz über die Akkreditierung von Bildungseinrichtungen als Privatuniversitäten (UniAkkG, BGBl I 1999/168 idF BGBl I 2000/54).6 Das UniAkkG ist ein sehr schlankes Gesetz, dass gerade einmal mit neun Paragrafen das Auslagen findet. Das Kernstück bildet das Akkreditierungsverfahren, in dem die Voraussetzungen und die Wirkungen der Akkreditierung genannt sind. Weiters regelt das Gesetz die Zusammensetzung der Qualitätssicherungsbehörde, des Akkreditierungsrates. Für die Durchführung des Akkreditierungsverfahrens ist das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG) heranzuziehen. So sehr kurz gehaltene Gesetze grundsätzlich zu begrüßen sind, so lässt gerade die Knappheit des UniAkkG einige Fragestellungen nicht eindeutig beantworten. Im Zusammenhang mit dem Bestimmtheitsgebot werden die gesetzlichen Ausführungen von der Lehre teilweise kritisch gesehen. Im Sinne der Rechtssicherheit und auch als Handlungsanleitung für antragstellende Bildungseinrichtungen hat der Akkreditierungsrat mittels Richtlinien bekannt gegeben, in welcher Weise er die größtenteils unbestimmten Gesetzesbegriffe interpretiert. Diese Richtlinien, die ein Ausdruck der bestehenden Qualitätsstandards sind, können daher durchaus auch unter die zu beachtenden Rahmenbedingungen subsumiert werden.7
Korrekterweise muss darauf hingewiesen werden, dass die Abschlüsse von Privatuniversitäten erst mit der Novelle BGBl I 2000/54 als österreichische galten. In der Stammfassung hatten sie noch die Wirkung wie ausländische akademische Grade und wären zu nostrifizieren gewesen.
5
6
Zur Gesetzwerdung vgl BETTINA PERTHOLD-STOITZNER / KARL STÖGER / MARUniversitäts-Akkreditierungsgesetz (Wien 2001) 16 ff.
TINA SZÜSZ,
Die Richtlinien sind unter [http://www.akkreditierungsrat.at/cont/de/downloads. aspx#Richtlinien] (online 1. 6. 2010) aufrufbar.
7
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III. Der Akkreditierungsrat als Qualitätssicherungsorgan Zur Entscheidung über die Akkreditierung (=Zulassung) als Privatuniversität ist eine eigene, weisungsfreie Behörde eingerichtet. Diese setzt sich aus acht ExpertInnen des internationalen Universitätswesens zusammen. Sie werden von der Bundesregierung bestellt, vier von ihnen auf Vorschlag der österreichischen Universitätenkonferenz. Bei der Bestellung sind Frauen in angemessener Anzahl zu berücksichtigen. Die Funktionsperiode beträgt fünf Jahre, bezüglich einer Verlängerung gibt es keine Beschränkungen.8 Aus dem Kreis der Mitglieder ist ein Präsident/ eine Präsidentin sowie ein Vizepräsident/ eine Vizepräsidentin zu ernennen. Diese Mitglieder haben keine besonderen Rechte, ihre Stimmen zählen gleich viel wie die der anderen Mitglieder. Es gibt also kein Dirimierungsrecht. Bemerkenswert ist die Frage der Entscheidungsfindung im Akkreditierungsrat gelöst worden. Das UniAkkG legt ausdrücklich fest, dass mindestens fünf Mitglieder für einen Antrag stimmen müssen (§ 4 Abs 8 UniAkkG). Mit dieser Maßnahme ist gewährleistet, dass keine Stimmenthaltungen möglich sind (sie haben die Wirkung von Gegenstimmen) und keine Entscheidungen von so grundsätzlichem bildungspolitischen Interesse bei einem geringfügigen Anwesenheitsquorum gefällt werden können. Das Handeln des Akkreditierungsrates ist hoheitlich, er entscheidet über Akkreditierungsverfahren in Bescheidform (§ 5 Abs 1 UniAkkG). Für manche ausländische Mitglieder war die Rolle als Behörde zunächst noch ungewohnt. Insbesondere die Heranziehung der so empfundenen starren Verfahrensvorschriften des AVG wurden anfänglich sehr hinterfragt, da die Bestimmungen über Qualitätssicherungsverfahren in den Herkunftsländern der ausländischen Mitglieder anders gestaltet sind. Zunehmend verstärkt wird die Einbindung der betroffenen Stakeholder. So werden sämtliche Grundsatzentscheidungen des Akkreditierungsrates den Privatuniversitäten mitgeteilt und über die Webseite zugänglich gemacht. Weiters gibt es Round-Table Gespräche mit den Privatuniversitäten und den Studierenden. Diese Einbeziehung von Elementen des New Public Management führt zu einer Transparenz und Konsistenz der Entscheidungen. Unterstützung in den operativen Aufgaben erfährt der Akkreditierungsrat durch eine Geschäftsstelle, die von der zuständigen Bundesministerin bzw
Bei den Mitgliedern des Qualitätssicherungsgremiums im FH-Bereich, dem Fachhochschulrat, kann die dreijährige Funktionsperiode hingegen nur einmal verlängert werden (§ 7 Abs 3 FHStG).
8
Akkreditierung von Privatuniversitäten in Österreich
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vom zuständigen Bundesminister einzurichten ist sowie die notwendige Personal- und Sachausstattung bereit zu stellen hat. Im Errichtungsjahr 1999 war für diese Aufgaben zunächst lediglich eine A-wertige Kraft im Ausmaß von 20 Stunden vorgesehen. Mit der steigenden Zahl der Akkreditierungsverfahren, der zu betreuenden Privatuniversitäten und den damit verbundenen Reakkreditierungsverfahren ist auch die Geschäftsstelle personell auf vier vollbeschäftigte A-Kräfte und zwei halbbeschäftigte B-Kräfte angewachsen.9
IV. Die Akkreditierungsvoraussetzungen Zur Erlangung der Akkreditierung als Privatuniversität muss eine Bildungseinrichtung zwingend die in § 2 UniAkkG festgelegten Voraussetzungen erfüllen. Diese sind in 5 Punkten zusammengefasst. Die antragstellende Bildungseinrichtung muss demnach
eine juristische Person mit Sitz in Österreich sein,
jedenfalls Studien oder Teile von solchen in einer oder mehreren wissenschaftlichen oder künstlerischen Disziplinen, die zu einem akademischen Grad führen, welcher im internationalen Standard für mindestens dreijährige Vollzeitstudien verliehen wird, oder darauf aufbauende Studien anbieten,
in den für die durchzuführenden Studien wesentlichen Fächern ein dem internationalen Standard entsprechendes, wissenschaftlich oder künstlerisch ausgewiesenes Lehrpersonal verpflichten. Bei der erstmaligen Antragstellung müssen zumindest rechtsverbindliche Vorverträge in dem für die geplanten Studien ausreichenden Ausmaß vorliegen,
die für das Studium erforderliche Personal-, Raum- und Sachausstattung ab dem Beginn des geplanten Studienbetriebes zur Verfügung haben,
ihre Tätigkeit an folgenden Grundsätzen orientieren: Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre (Art 17 StGG-ARStB), Freiheit des künstlerischen Schaffens, der Vermittlung von Kunst und ihrer Lehre (Art 17a StGG-ARStB), Verbindung von Forschung und Lehre sowie Vielfalt wissenschaftlicher und künstlerischer Theorien, Methoden und Lehrmeinungen.
Auf Grund der Erfahrungen in den Akkreditierungsverfahren und der Anregungen des Wissenschaftsausschusses des österreichischen NR interpretiert Jahresbericht Akkreditierungsrat 2008 [http://www.akkreditierungsrat.at/ files/downloads_2009/AR_Jahresbericht_2008.pdf], Anlage 2, 45 f (1. 6. 2010) 9
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der Akkreditierungsrat einige der im § 2 UniAkkG genannten Basiskriterien in folgender Weise: Akademische Freiheit: Die Privatuniversität muss autonom sein und akademische Freiheit gewährleisten. Sie hat durch ihre Verfassung und Organisationsstruktur sicherzustellen, dass die Freiheit im Bereich der Forschung (hinsichtlich der Fragestellungen, Theorien und Methoden sowie der Verbreitung der Forschungsergebnisse und ihrer Bewertung) und die Freiheit der Lehre (hinsichtlich der Vielfalt der inhaltlichen und methodischen Gestaltung der Lehrveranstaltungen sowie des Rechts auf Äußerung von wissenschaftlichen und künstlerischen Lehrmeinungen) gewährleistet ist (§ 2 Abs 1 Z 5 UniAkkG). Breite und Vielfalt: Die Institution (im Sinne von § 2 Abs 1 UniAkkG) sollte innerhalb einer oder mehrerer Disziplinen (gem § 2 Abs 1 Z 2 UniAkkG) über eine Breite und Vielfalt des Studienangebots verfügen, die sich am Verständnis des europäischen Universitätsbegriffs orientieren (§ 2 Abs 1 Z 5 UniAkkG). Als Disziplin kommen traditionelle Bereiche wie zB Medizin, Musik, Jura oder Theologie sowie neuartige Fächerkombinationen mit einer vergleichbaren Breite in Betracht. Forschung in der Institution: Die Forschung muss in der Institution geleistet werden. Das bedingt das Vorhandensein einer kritischen Masse (siehe Pkt 4) mit institutionalisierter Wissensproduktion und eine entsprechende Rückkoppelung zur Lehre (§ 2 Abs 1 Z 5 UniAkkG). Personal: Die Institution muss über wissenschaftliches oder künstlerisches Stammpersonal verfügen, das mit Verträgen für eine Dauer von mindestens zwei Jahren in einem Dienstverhältnis mindestens halbtägig verpflichtet ist. Dieses Stammpersonal muss mindestens 50% des gesamten Lehrvolumens jedes Studienganges abdecken und promoviert oder künstlerisch ausgewiesen sein. Zur Sicherung der Verknüpfung von Forschung und Lehre muss dieses Stammpersonal pro Studiengang mindestens drei Personen umfassen, wovon mindestens eine ganztägig beschäftigt sein muss und die Voraussetzungen zu erfüllen hat, die für die Berufung auf eine Professur erforderlich sind. Das heißt, dass diese Person eine entsprechend hohe wissenschaftliche oder künstlerische Qualifikation aufzuweisen hat (§ 2 Abs 1 Z 3 UniAkkG). Personalauswahlverfahren: Das Personalauswahlverfahren für das gesamte wissenschaftliche Personal muss transparent, wettbewerbsorientiert und qualitätsgeleitet sein (§ 2 Abs 1 Z 3 und 4 UniAkkG). Studienplan: Studienpläne (detaillierte Curricula) und Prüfungsordnungen müssen materiellen, fachlichen und formalen Anforderungen nach internationalen Standards genügen. Die Zulassung zum Studium muss mindestens den
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österreichischen Regelungen der allgemeinen Zulassungsvoraussetzungen entsprechen (§ 2 Abs 1 Z 2 UniAkkG). Raum- und Sachausstattung: Unter Raum- und Sachausstattung wird eine Ausstattung mit adäquaten Studienmitteln nach internationalen Standards verstanden (§ 2 Abs 1 Z 4 UniAkkG). Finanzierung: Die Sicherung der mittelfristigen Finanzierung der Institution muss mittels eines detaillierten Business-Plans nachgewiesen werden (§ 2 Abs 1 Z 3 und 4 UniAkkG). Entwicklungsplan: Die Erfüllung der in Z 1 bis 8 formulierten Voraussetzungen ist von der Institution in einem auf drei Jahre angelegten Entwicklungsplan darzutun.
V. Das Akkreditierungsverfahren Die Durchführung des Akkreditierungsverfahrens ist ein Verwaltungsverfahren und erfolgt nach den Bestimmungen des AVG (§ 5 Abs 5 UniAkkG). Nach Antragseinreichung wird der Antrag einer ersten formellen Prüfung unterzogen und gegebenenfalls eine Verbesserung ermöglicht. Für die Koordination und Begleitung des Verfahrens und der Begehung bestellt der Akkreditierungsrat eines seiner Mitglieder als BerichterstatterIn. Diese steht als direkter Ansprechpartner während des gesamten Verfahrens zur Verfügung. Im Rahmen der Begutachtung werden im Regelfall Sachverständige bestellt. Die Namen der Sachverständigen werden der antragstellenden Bildungseinrichtung mit der Möglichkeit zur Stellungnahme bekannt gegeben, um eine mögliche Befangenheit auszuschließen. Auf Basis der schriftlich eingereichten Dokumentation wird eine Begehung der Bildungseinrichtung durch das Expertenteam durchgeführt, dem auch ein Mitglied des Akkreditierungsrates (BerichterstatterIn) und ein Mitglied der Geschäftsstelle angehören. Die Begehung dauert in der Regel eineinhalb Tage. Jede/r der Sachverständigen verfasst ein selbständiges schriftliches Gutachten. Die Gutachten werden der Institution übermittelt. Die Institution kann im Rahmen des Parteiengehörs innerhalb einer festgesetzten Frist zu den Gutachten schriftlich Stellung zu nehmen. Der Akkreditierungsrat trifft auf Grundlage der Antragsunterlagen, der Begehung, der Gutachten und der Stellungnahme der Institution mit einer notwendigen Mehrheit von mindestens fünf Stimmen eine Entscheidung über den Antrag. Diese kann entweder positiv oder negativ sein, eine Erteilung von Auflagen ist nach dem UniAkkG nicht vorgesehen. Nur wenn alle Ak-
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kreditierungsvoraussetzungen kumulativ vorliegen, erfolgt eine positive Entscheidung des Akkreditierungsrates, die mittels Bescheid zugestellt wird. Dieser Bescheid legt jedenfalls folgende Punkte fest:
Bezeichnung der Privatuniversität
Bezeichnung und Art des Rechtsverhältnisses, welches zwischen der Privatuniversität und ihren Studierenden eingegangen werden muss
Bezeichnung, Art, Stundenumfang und Dauer der an der Privatuniversität durchzuführenden Studien
Wortlaut der akademischen Grade, die von der Privatuniversität verliehen werden können
Dauer der Akkreditierung
Die antragstellende Bildungseinrichtung muss für das Akkreditierungsverfahren die Kosten der Sachverständigen gemäß dem AVG ersetzen. Diese umfassen die Reise- und Aufenthaltskosten sowie ein Honorar für die Begehung und Erstellung des Gutachtens.10 In den bisher durchgeführten Akkreditierungsverfahren haben sich für antragstellende Institutionen vor allem folgende Problemfelder gezeigt:
ausreichend qualifiziertes wissenschaftliches Stammpersonal
Berufungsverfahren für wissenschaftliches Personal
Zulassungsbedingungen für Studierende
Organisationsstruktur (betreffend Gewährleistung der akademischen Freiheit)
Forschung an der Privatuniversität
plausibler Nachweis der garantierten Finanzierbarkeit für den Akkreditierungszeitraum
Die externe Qualitätssicherung liegt ausschließlich im Zuständigkeitsbereich des weisungsfreien Akkreditierungsrates. Dennoch gibt es im UniAkkG unter der in § 7 normierten Aufsicht der Bundesministerin bzw des Bundesministers eine eng begrenzte Eingriffsmöglichkeit, der allerdings eine wesentliche Bedeutung für den Ausgang eines Akkreditierungsverfahrens zukommen kann: den bildungspolitischen Genehmigungsvorbehalt. Demnach bedürfen Entscheidungen des Akkreditierungsrates, die sich auf die Akkreditierung, Reakkreditierung einer Privatuniversität oder eines dort angebotenen
Ein geschätzter Richtwert für die zu ersetzen Gesamtkosten liegt erfahrungsgemäß ungefähr in der Höhe von € 7.000,00. 10
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Studienganges bzw auch auf einen entsprechenden Widerruf beziehen, der Genehmigung durch die Bundesministerin bzw den Bundesminister für Wissenschaft und Forschung. Aus nationalen bildungspolitischen Interessen kann diese Genehmigung untersagt werden. Mit dieser auch dem FH-Bereich bekannten „Reißleine“11 ist gewährleistet, dass missbräuchliche oder nicht gewünschte Entwicklungen verhindert werden können. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass bislang weder im Bereich der Privatuniversitäten noch im Bereich der Fachhochschul-Studiengänge Erfordernis bestand, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.12 Einige antragstellende Bildungseinrichtungen haben an diesen Genehmigungsvorbehalt der Bundesministerin bzw des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung eine falsche Erwartungshaltung. Mit diesem Gestaltungsrecht kann nur eine positive Akkreditierung verhindert werden. Das UniAkkG gewährt aber keine Handhabe, eine negative Akkreditierungsentscheidung (mangels Vorliegen der Akkreditierungsvoraussetzungen) in eine positive umzuwandeln.
VI. Wirkungen der Akkreditierung Auf Grund einer Akkreditierung als Privatuniversität ergeben sich Wirkungen, die an unterschiedliche Adressaten gerichtet sind. Zunächst einmal ist die Bildungseinrichtung berechtigt, sich als „Privatuniversität“ zu bezeichnen. Wichtigste Auswirkung für die Privatuniversität ist sicher das Recht, dass sie die im Akkreditierungsbescheid angeführten Studienprogramme durchführen und akademische Grade verleihen darf. Zudem sind die Privatuniversität und auch die dort tätigen Personen berechtigt, Bezeichnungen und Titel des Universitätswesens mit dem Zusatz „der Privatuniversität ….“ zu verwenden. Damit sind auch schon die weiteren Adressatenkreise der Wirkungen angesprochen: die Lehrenden und Studierenden der Privatuniversität. Beide Gruppen sind hinsichtlich der Bestimmungen des Fremdengesetzes und des Ausländerbeschäftigungsgesetzes den Lehrenden und Studierenden staatlicher Universitäten gleichgestellt. Weiters sind auf Studierende an Privatuniversitäten anzuwenden: das Studienförderungsgesetz sowie die auf seiner Grundlage erlassenen Verordnungen, das Studentenheimgesetz, das Familienlasten11
§ 6 Abs 5 FHStG.
Ohne ausdrückliche Genehmigung erlassene Bescheide sind mit einem mit Nichtigkeit bedrohten Fehler behaftet und können gemäß § 68 Abs 4 Z 4 AVG aufgehoben werden. 12
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ausgleichsgesetz hinsichtlich des Anspruchs auf Familienbeihilfe, die sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen hinsichtlich der Mitversicherung von Kindern sowie die steuerrechtlichen Bestimmungen. Zu beachten ist, dass die genannten Wirkungen nur für die Dauer der Akkreditierung wirksam sind. Durch eine nicht erfolgte Verlängerung der befristeten Akkreditierung bzw auch durch einen Widerruf der Akkreditierung gehen diese verloren.
VII. Ausgewählte Rechtsfragen Wenngleich schon in den bisherigen Ausführungen darauf aufmerksam gemacht wurde, dass etliche Fragen im Zusammenhang mit der Akkreditierung auf den ersten Blick nicht eindeutig zu lösen sind, so soll auf zwei ausgewählte, in der Praxis immer wieder relevante Rechtsfragen besonders Augenmerk gelegt werden: akademische Ehrungen an Privatuniversitäten und das Finanzierungsverbot des Bundes.13 A. Akademische Ehrungen an Privatuniversitäten Der Akkreditierungsrat ging in einer Richtlinie grundsätzlich von der Zulässigkeit der Vergabe akademischer Ehrengrade an Privatuniversitäten aus, sofern die Privatuniversität den Grad auch nach einem Regelstudium vergeben hat, der im Akkreditierungsbescheid genannt ist. Das Interesse von Privatuniversitäten an akademischen Ehrungen ist durchaus nachvollziehbar. Akademische Ehrengrade haben nicht nur den Zweck, eine besondere Nahebeziehung der Privatuniversität mit der zu ehrenden Person zum Ausdruck zu bringen, sondern können auch eine nicht unbedeutende Rolle beim „fundraising“ einnehmen. Auf Grund der Vergabe eines Ehrendoktorates im Jahre 2003 durch eine Privatuniversität, die selbst keine Doktoratsstudien im Akkreditierungsbescheid genannt hatte, erfolgte ein verwaltungsrechtliches Straferkenntnis durch die zuständige Bezirksverwaltungsbehörde gegen den handelsrechtlichen Geschäftsführer. Begründet wurde die Entscheidung, dass weder im Akkreditierungsbescheid, noch im UniAkkG die Verleihung von akademischen Ehrengraden vorgesehen ist. Gegen diesen Strafbescheid wurden alle zulässigen Mit einigen weiteren Fragestellungen hat sich der VwGH bereits auseinandergesetzt, so etwa zur sachlich in Betracht kommenden Oberbehörde des Akkreditierungsrates (Zl 2000/12/0227) und zur Kommunalsteuerpflicht von Privatuniversitäten (Zl 2006/15/0071). 13
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Instanzen angerufen, letztlich bestätigte der VwGH die Entscheidung.14 Allerdings hat die Begründung der Rechtsansicht des Höchstgerichts weitreichende Auswirkungen. Denn vereinfachend gesagt kam der VwGH zu dem Schluss, dass auf Grund des Fehlens einer gesetzlichen Ermächtigung im UniAkkG zur Vergabe von akademischen Ehrengraden und akademische Ehrungen solche generell nicht vergeben werden dürfen. Demnach ist es aber unabhängig von im Akkreditierungsbescheid genannten Studiengängen und den dazugehörigen akademischen Graden nicht zulässig, diese auch ehrenhalber zu vergeben. Indirekt bedeutet das Erkenntnis für andere postsekundäre Bildungseinrichtungen ebenfalls ein Verbot der Vergabe von akademischen Ehrengraden und Ehrenbezeichnungen, sofern nicht eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung besteht. Auch Erhalten von FH-Studiengängen ist es somit verwehrt, akademische Ehrengrade und Ehrenbezeichnungen zu vergeben.15 B. Finanzierungsverbot des Bundes Der Betrieb einer Privatuniversität erfordert wie auch an staatlichen Universitäten Mittel für Personal, Raum- und Sachausstattung. Im Rahmen des Akkreditierungsverfahrens wird daher die Frage der erforderlichen Ausstattung für einen Universitätsbetrieb geprüft, ein entsprechender Finanzierungsplan ist vorzulegen. Der Bund spielt bei der Finanzierung als ein potentieller Fördergeber für eine Privatuniversität eine untergeordnete Rolle, da im Materiengesetz ein Finanzierungsverbot des Bundes ausdrücklich festgelegt ist (§ 8 UniAkkG). Nach dieser Norm darf einer Privatuniversität keine geldwerte Leistung des Bundes zuerkannt werden. Zweck der Bestimmung ist zu verhindern, dass die Zahl der vom Bund finanzierten Universitäten erhöht wird.16 Allerdings gibt es einen Ausnahmetatbestand. Bei Vorliegen der drei (kumulativen) Voraussetzungen 14
Erbringung bestimmte Lehr- und Forschungsleistungen Ergänzung des Studienangebotes an staatlichen Universitäten Bedarf
Zl 2005/10/0156
Vgl die sehr ausführliche Abhandlung der Fragestellung bei BETTINA PERTHOLDSTOITZNER / KARL STÖGER, Zur Zulässigkeit der Vergabe von akademischen Ehrungen durch Privatuniversitäten und andere postsekundäre Bildungseinrichtungen, Zeitschrift für Hochschulrecht (2007) 26–30. 15
16
Vgl 1914 BlgNR 20. GP, 13.
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ist auch eine Bundesfinanzierung zulässig. So würde etwa die Finanzierung einer Stiftungsprofessur an einer Privatuniversität wohl unter die Erbringung von Lehr- und Forschungsleistungen zu subsumieren sein. Zu hinterfragen wäre freilich, ob damit das staatliche Studienangebot auch tatsächlich ergänzt wird. Und selbst wenn diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind, so muss auch ein Bedarf gegeben sein. Eine diesbezügliche Entscheidung kann nur von dem für Privatuniversitäten zuständigen Ressort getroffen werden. Dies ergibt sich einerseits aus § 9 UniAkkG, wonach die Bundesministerin bzw der Bundesminister für Wissenschaft und Forschung für die Vollziehung des UniAkkG zuständig ist, andererseits aus § 7 Abs 2 UniAkkG, der einen bildungspolitischen Genehmigungsvorbehalt festlegt. Die Frage einer mit den Anforderungen des UniAkkG konforme Bundesförderung ist bislang eine akademische gewesen, seit der Einrichtung der ersten Privatuniversitäten ist kein Fall bekannt, wo Bundesmittel an eine Privatuniversität geflossen sind. Allerdings gibt es zunehmend Anfragen zu Bundesförderungen für Privatuniversitäten. Auf Grund des Finanzierungsverbots des Bundes sind Privatuniversitäten gezwungen, andere Finanzierungsquellen zu erschließen. Auf den ersten Blick könnte nun aus der Bezeichnung „Privatuniversität“ verbunden mit dem Bundesfinanzierungsverbot der Schluss gezogen werden, dass auf Grund privater Trägerschaft eine Finanzierung mit ausschließlich privaten Mitteln wie etwa Studiengebühren und Sponsorgeldern erfolgt. Bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, dass diese Interpretation unzutreffend ist. Von den derzeit 12 Privatuniversitäten verfügen etwa die Hälfte über relevante öffentliche Mittel von Ländern und Gemeinden. Das erwähnte Finanzierungsverbot bezieht sich nämlich nur auf den Bund, anderen Gebietskörperschaften ist es grundsätzlich nicht verwehrt, öffentliche Mittel an Privatuniversitäten fließen zu lassen. Hauptquelle der Erlöse bei den nicht mit öffentlichen Mitteln unterstützten Privatuniversitäten sind die Studiengebühren. Die Höhe bei den einzelnen Institutionen ist dementsprechend sehr unterschiedlich sind. So betragen sie an der vom Land Oberösterreich mitfinanzierten Anton Bruckner Privatuniversität € 100,– pro Semester und gehen bis € 6.975,– pro Semester für Bachelorstudien an der Webster University Vienna.17 Die Finanzmittel der Privatuniversitäten bestehen daher hauptsächlich aus privaten Geldern wie Studiengebühren und Sponsorgeldern als auch teilweise aus öffentlichen Mittel von Ländern und Gemeinden.
17
Jahresbericht Akkreditierungsrat 2008, 37.
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VIII. Bewertung und Ausblick Nach zehn Jahren Erfahrung mit dem österreichischen Modell der Qualitätssicherung im privaten Hochschulsektor ist es durchaus gerechtfertigt, dieses grundsätzlich als vorbildhaft zu bezeichnen. Seit der Implementierung wurden beim Akkreditierungsrat bis zum Jahresende 2008 45 Anträge auf Akkreditierung bzw Reakkreditierung als Privatuniversität eingebracht. Weiters waren 70 studiengangsbezogene Akkreditierungsverfahren bei bestehenden Privatuniversitäten zu führen. Nicht allen Anträgen war Erfolg beschieden, der Akkreditierungsrat prüft die Akkreditierungsvoraussetzungen sehr genau. So haben es bis Ende 2009 lediglich 15 Bildungseinrichtungen geschafft, eine Akkreditierung als Privatuniversität zu bekommen. Einer wurde nach zwei Jahren die Akkreditierung wieder entzogen, einer anderen die beantragte Reakkreditierung nicht verlängert und eine Privatuniversität stellte von sich aus keinen Antrag auf Reakkreditierung. Derzeit gibt es 12 nach dem UniAkkG akkreditierte Privatuniversitäten. Mit Jahresende 2008 studierten in 148 Studiengängen etwas mehr als 5000 Personen.18 Das Angebotsspektrum der Studienprogramme ist breit gefächert und beinhaltet Theologie, Medizin, Public Health, Pflegewissenschaften, Psychotherapiewissenschaft, Wirtschaft, Recht, Musik und Kunst.19 Aus Sicht der Bildungseinrichtungen kann die institutionelle Akkreditierung verbunden mit den Programmakkreditierungen zwar als sehr umfassend und dementsprechend aufwändig gesehen werden. Dennoch ist es damit gelungen, einen Wildwuchs in der österreichischen Bildungslandschaft zu verhindern und ein rein nach qualitativen Kriterien ausgerichtetes Zulassungsmodell zu verwirklichen. Auch international wird das Modell sehr positiv bewertet. So ist etwa im Bericht der Europäischen Kommission über den Fortschritt der Umsetzung der Qualitätssicherung im Hochschulsektor die internationale Glaubwürdigkeit und Objektivität der Entscheidungsprozesse des österreichischen Akkreditierungsrats als Beispiel der guten Praxis im internationalen Zusammenhang besonders hervorgehoben.20
18
Statistisches Taschenbuch 2009, 43.
Alle Privatuniversitäten und ihre akkreditierten Studienprogramme können unter [http://www.akkreditierungsrat.at/cont/de/pu_institutionen.aspx] (27.08.2010) abgerufen werden. 19
Bericht der Kommission an den Rat, das europ Parlament, den europ Wirtschaftsund Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Bericht über die Fortschritte bei der Qualitätssicherung in der Hochschulbildung, KOM (2009) 487, 8. 20
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Wie die Jahresberichte des Akkreditierungsrates deutlich zeigen, ist das Interesse von privaten Bildungseinrichtungen an einer Akkreditierung als Privatuniversität weiterhin sehr hoch. Darunter sind einerseits ausländische Anbieter, die auf diese Weise versuchen, am österreichischen Bildungsmarkt Fuß zu fassen. Zudem bauen bereits bestehende Privatuniversitäten ihre Studienprogramme stetig aus.21 Es ist daher auch zukünftig mit weiteren Akkreditierungsverfahren zu rechnen. Zwei Aspekte werden die Qualitätssicherung und damit auch die Rahmenbedingungen für Privatuniversitäten kurz- bis mittelfristig maßgeblich beeinflussen. Damit ist zunächst einmal die Qualitätssicherung neu gemeint, die als eigenes Vorhaben im Regierungsprogramm genannt ist.22 Beabsichtigt ist, die derzeit bestehenden externen Qualitätssicherungseinrichtungen (Österreichische Qualitätssicherungsagentur, Fachhochschulrat, Akkreditierungsrat) in einer Einrichtung zusammenzufassen. Viele Punkte sind hier noch in Diskussion. Ein Konsultationspapier zur Neuordnung der externen Qualitätssicherung im Hochschulbereich wurde zur Vorstellung für eine breite Öffentlichkeit (Adresse) ausgesendet und auch auf der Webseite des BMWF zur Verfügung gestellt. Nahezu aller relevanten Interessensvertretungen haben Stellungnahmen abgegeben und sich so an einer impulsreichen Diskussion beteiligt.23 Nach dem vorliegenden Konzept soll eine Erst-Akkreditierung als „Privatuniversität“ künftig nicht mehr möglich sein, sondern nur mehr über die Vorstufe „privates hochschulisches Institut“ erfolgen können. Voraussetzungen für eine Akkreditierung als „Privatuniversität neu“ sind:
Mindeststudienangebot (mindestens drei akkreditierte Bachelor-Studiengänge in mindestens zwei wissenschaftlichen oder künstlerischen Disziplinen sowie mindestens zwei darauf aufbauende akkreditierte MasterStudiengänge) sowie ein Konzept zur Einführung von Doktorats/PhDStudiengängen
Nachweis und externe Evaluierung der bisherigen Forschungsleistungen
21
Jahresbericht Akkreditierungsrat 2008, 12.
Regierungsprogramm 2008–2013 [http://www.bka.gv.at/DocView.axd?CobId= 32965], 203 f (1. 6. 2010). 22
Der Akkreditierungsrat hat seine Überlegungen zu einem neuen Modell der Qualitätssicherung bereits in seinem Positionspapier vom 30. 6. 2009 festgehalten (vgl Jahresbericht Akkreditierungsrat 2008, Anlage 18, 93 ff). 23
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Detaillierter Entwicklungsplan, der den Aufbau einer kritischen Masse an Personal glaubhaft nachweist. Die Durchführung eines qualitätsvollen Studienangebots sowie kompetitiver Forschung nach internationalen Maßstäben sollen dadurch gewährleistet werden. Weiters ist ein adäquater Businessplan inklusiver aller wirtschaftlicher Faktoren (Finanzierung, Infrastruktur etc) vorzulegen
Im künftigen System der Qualitätssicherung sollen Privatuniversitäten neu einer institutionellen Akkreditierung unterzogen werden, in deren Rahmen beispielhaft auch Überprüfungen bestehender Studiengänge zu integrieren sind. Mit der Akkreditierung wird das befristete Recht zum Betrieb einer „Privatuniversität“ und hochschulischer Studiengänge verliehen. Neue Studiengänge müssen sich einem Akkreditierungsverfahren unterziehen. Bereits bestehende Privatuniversitäten müssen innerhalb einer festzulegenden Übergangsfrist die neuen Akkreditierungsvoraussetzungen erfüllen, ansonsten ist eine Re-Akkreditierung als Privatuniversität neu nicht möglich. Eine Nichterfüllung der Voraussetzungen führt zu einer Aberkennung der Bezeichnung „Privatuniversität“. Es besteht aber die Möglichkeit eines befristeten Weiterbestandes als „privates hochschulisches Institut“. Generell hat ein negatives Ergebnis einer institutionellen Akkreditierung zur Folge, dass die Bezeichnung „Privatuniversität“ aberkannt wird und die Institution als „privates hochschulisches Institut“ innerhalb eines Zeitraumes von zwei Jahren alle Programme einer studiengangsbezogenen Akkreditierung unterziehen muss, um diese weiter führen zu können. Der Weiterbestand als „privates hochschulisches Institut“ ist für die Dauer von sechs Jahren befristet möglich. Werden innerhalb dieses Zeitraums die Akkreditierungsvoraussetzungen für eine „Privatuniversität neu“ nicht erfüllt, so führt dies zum Widerruf aller Akkreditierungen der betroffenen Institution. Für neue Anbieter ist eine sofortige Akkreditierung als Privatuniversität nicht mehr möglich. Sie können durch Akkreditierung für einen befristeten Zeitraum (6 Jahre) als „privates hochschulisches Institut“ das Recht zur Durchführung von hochschulischen Studiengängen zu erlangen. Diese Institutionen sollen sich in weiterer Folge zu Privatuniversitäten entwickeln. Die junge Bildungseinrichtung muss sich daher auf eine gewisse Bewährungsphase einlassen, um eine „kritische Masse“ entstehen zu lassen. Für neue Anbieter hochschulischer Studiengänge sind laut Konsultationspapier folgende Voraussetzungen vorgesehen:
Mindeststudienangebot: Es sind mindestens drei Bachelor-Studiengänge in mindestens zwei wissenschaftlichen oder künstlerischen Disziplinen
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sowie mindestens zwei darauf aufbauende Master-Studiengänge anzubieten, Lehrgänge zur Weiterbildung können ausschließlich ergänzend angeboten werden.
Entwicklungsplan: Entwicklungskonzept für den Ausbau der betreffenden Bildungseinrichtung in Richtung Privatuniversität unter Berücksichtigung der Zielsetzungen, Schwerpunkte und Perspektiven in Lehre und Forschung.
Einen weiteren wesentlichen Einfluss auf die Rahmenbedingungen wird die Diskussion um die Gestaltung des österreichischen Hochschulraumes haben.24 Bei diesem Vorhaben sollen die Rollen und Aufgabenbereiche der tertiären Bildungseinrichtungen offen diskutiert und auch hinterfragt werden, um eine zukunftsorientierte und nachhaltige Weiterentwicklung des österreichischen Hochschulraumes sicherzustellen. Der Qualitätssicherung wird dabei eine wichtige Bedeutung zuzumessen sein.
Regierungsprogramm 2008–2013, 214 f; vgl auch Entschließung des NR vom 12. 11. 2009, 54/E XXIV. GP. 24
Irrtümer der Rechtsgeschichte – Rechtgeschichte der Irrtümer WILHELM BRAUNEDER, Wien
I. Einleitung Wie jede Wissenschaftsdisziplin ist auch die Rechtsgeschichte nicht davor gefeit, Irrtümer zu produzieren, und dies möglicherweise in einem höheren Maße als andere Teile der Rechtswissenschaften, da neue Quellenfunde bisher gesichert scheinende Bilder zu widerlegen vermögen. Zum Nachteil des Wissenstandes wird dieser Umstand dann, wenn derartige Irrtümer trotz neuerer Einsichten weiter transportiert werden, wenn also aus den Irrtümern der Rechtsgeschichte eine Rechtsgeschichte der Irrtümer wird. An Beispielen dafür mangelt es nicht. So dauerte es beispielsweise reichlich lange, bis die Erkenntnisse über eine heimische rechtswissenschaftliche Produktion schon im Mittelalter in die Privatrechtsgeschichte Eingang gefunden und damit das Bild der sogenannten Rezeption relativiert haben. Besonders resistent erweisen sich oft Einleitungshistorien in Lehrbüchern geltenden Rechts, deren Wert sich auf die Konservierung eines Wissensstandes beschränkt, wie er vor Dutzenden von Jahren bestanden hat. In der Folge soll anhand von Beispielen zum Titel erst aus der Privatrechtsgeschichte und sodann aus der Verfassungsgeschichte nicht nur dies, sondern der Fortschritt rechtshistorischer Forschung geschildert werden.
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WILHELM BRAUNEDER
II. Experimentierfeld Westgalizien A. Das Westgalizische Gesetzbuch Die Habsburger-Monarchie1 hatte 1772 Ostgalizien und 1775 das Buchenland (Bukowina) erworben, das 1786 mit Ostgalizien vereinigt wurde, so dass es nun ausdrücklich in „Rechtsangelegenheiten mit diesem … ganz gleich gehalten und nach gemeinschaftlichen Gesetzen geleitet“ werden sollte: Hier überall galten daher das Erbfolgepatent 1786 und das Teil-ABGB 1786. Als das Buchenland 1790 als eigenes Kronland wieder von Ostgalizien abgetrennt wurde, blieb es bei der bisherigen Situation, da gerade in der „Rechtsverwaltung“ der „Zusammenhang“ aufrecht zu bleiben hatte. Im Jahre 1795 erfolgte schließlich der Erwerb Westgaliziens. Da die Kodifikationsentwicklung mittlerweile weiter fortgeschritten war, entschied man sich dafür, nicht das bisherige, durch die neuere Entwicklung bereits veraltete Recht auf Westgalizien zu erstrecken, sondern die neuen Texte in Kraft zu setzen. Da aber West- mit Ostgalizien zu einem Kronland vereinigt wurde, ergriff dieser Vorgang dieses insgesamt, also auch den ostgalizischen Landesteil sowie das identisch zu behandelnde Buchenland (Bukowina). So wurden seit 1796 in ganz Galizien samt dem Buchenland die umgearbeitete Gerichtsordnung sowie das erneuerte Strafgesetz in Kraft gesetzt. Gleiches geschah im Prinzip nun auch hinsichtlich des Privatrechts, wenngleich offenkundig überhastet, andererseits ein wenig zögerlich. In der Entwicklung der Privatrechtsgesetzgebung stand man, verglichen mit dem in der Habsburger-Monarchie allgemein und damit auch in Ostgalizien und dem Buchenland geltenden Teil-ABGB 1786, bereits auf einer weiteren Stufe der Entwicklung, und zwar mit dem neuen Entwurf Martini. Das Überhastete zeigt sich in zum Teil eingestampften Druckausgaben, das Zögerliche im Entscheid des Kundmachungspatents vom 13. Februar 1797 (JGS 337), das Gesetzbuch zum 1. Jänner 1798 nur in Westgalizien in Kraft zu setzen, erst das weitere Kundmachungspatent vom 18. September Das Folgende nach den Hofdekreten bzw Patenten vom 1. 11. 1786, (Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II. für die K. K. Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze in einer Sistematischen Verbindung, XI, 925), 17. 8. 1790 (Gesetze und Verordnungen im Justizfache [= JGS] Nr 53), 29. 9. 1790 (Sammlung der Gesetze welche unter der glorreichsten Regierung des Ks Leopold des II. in den sämmtlichen K. K. Erbländern erschienen sind, in einer chronologischen Ordnung, 3. Band 387); WILHELM BRAUNEDER, Das Galizische Bürgerliche Gesetzbuch: Europas erste Privatrechtskodifikation, in: HEINZ BARTA / RUDOLF PALME / WOLFGANG INGENHAEFF (Hrsg), Naturrecht und Privatkodifikation. Tagungsband des Martini–Colloquium 1998 (Wien 1999) 303–320. 1
Irrtümer der Rechtsgeschichte – Rechtsgeschichte der Irrtümer
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1797 (JGS 373) ordnete das Inkrafttreten auch für Ostgalizien und das Buchenland an, aber gleichfalls zum 1. Jänner 1798. Diese territorial getrennten Anordnungen zeichnen verantwortlich dafür, dass anfangs nur westgalizische Druckausgaben veranstaltet wurden, dann ergänzend eine ostgalizische und schließlich eine gesamtgalizische. Unbeschadet dieser unterschiedlichen Druckausgaben trat mit Jahresbeginn 1798 im gesamten Kronland Galizien sowie im Kronland Buchenland (Bukowina) inhaltlich nur eine Zivilrechtskodifikation in Kraft, eben das galizische Bürgerliche Gesetzbuch (GBGB). Das GBGB ersetzte in Ostgalizien und im Buchenland das Teil-ABGB und das Erbfolgepatent 1786 sowie, in den anderen Teilen des Privatrechts, bisheriges Gesetzes- und Gewohnheitsrecht, in Westgalizien allein letzteres. Insgesamt besehen waren in den Kronländern Galizien und Buchenland im Strafrecht samt Strafprozessrecht, im Zivilprozessrecht sowie im Privatrecht ab 1798 die neuesten Textvarianten der Kodifikationsarbeiten in Kraft getreten. Westgalizien ging 1809 verloren, das Kronland Galizien beschränkte sich nun auf das ehemalige Ostgalizien. Mit Jahresbeginn 1812 wurde das GBGB in (Ost)Galizien und dem Buchenland vom ABGB abgelöst. Kurioserweise galt also das meist „Westgalizisches Gesetzbuch“ genannte GBGB in Ostgalizien 3 Jahre länger als im – zum Teil – namensgebenden Landesteil! Trotz all dem behielt die Sekundärliteratur die sowohl örtlich wie zeitlich unzutreffende, weil verengende Bezeichnung „Westgalizisches Gesetzbuch“ meist bei.2 Tatsächlich aber hatte es sowohl nach Wirkung wie auch nach Druckausgaben eine (gesamt-)galizische Zivilrechtskodifikation gegeben. B. Kodifikation auf Probe Das GBGB stellt die erste vollständige europäische Zivilrechtskodifikation dar. Zwar war schon 1794 das ALR in Kraft getreten, stellte aber keine reine Zivilrechtskodifikation dar, sondern als „Landrecht“ bewusst mehr, während, was seine Schöpfer auch als Gegensatz zu ihrem ALR bewusst hervorhoben,
Zu ihm ua GERHARD WESENBERG / GUNTER WESENER, Neue deutsche Privatrechtsgeschichte4 (Wien/Köln/Graz 1985) 158 ff; FRANZ WIEACKER, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2 (Göttingen 1967, 2. Neudruck 1996) 322 ff; URSULA FLOß5 MANN, Österreichische Privatrechtsgeschichte (Wien/New York 2005) 13 ff; HANS SCHLOSSER, Grundzüge der neueren Privatrechtsgeschichte8 (Heidelberg 1996) 95 ff. 2
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das „österreichische Gesetzbuch sich einzig auf das bürgerliche Privatrecht beschränke“.3 Die stiefmütterliche Behandlung des GBGB verstärken zwei Umstände. Zum Ersten unterstreicht den auf ein fernes Land eingeschränkten örtlichen Geltungsbereich noch die verbale Verengung der Bezeichnung „Westgalizisches Gesetzbuch“: Lehrbücher aus unterschiedlichen Zeiten verwenden nur sie, manche selbst dann, wenn sie von einer Geltung „auch in Ostgalizien“ sprechen!4 Dazu tritt zweitens die Meinung, diese entlegenen Landstriche hätten bloß als Experimentierfeld gedient: Das GBGB sei dort – vorgeblich – nur „probeweise“, „zur Probe“ in Geltung gesetzt worden, „zur Erprobung mit beschränkter örtlicher Wirksamkeit“.5 Dies ist ebenso Legende wie die westgalizische Beschränkung. Wie eben erwähnt, war das GBGB nicht das erste in Galizien und im Buchenland in Kraft gesetzte österreichische Recht, vor allem nicht die erste österreichische Privatrechtskodifikation. Zehn Jahre lang hatten hier bereits das Erbfolgepatent und das Teil-ABGB 1786, etwas länger sogar das in dieses inkorporierte Ehepatent 1783 gegolten. Zu keinem Zeitpunkt des Kodifikationsprozesses hatte man dies als eine Geltung auf Probe angesehen. Erfahrungen mit dem Neugeschaffenen lieferten nicht nur diese beiden östlichen Kronländer, sondern der gesamte Geltungsbereich jener Gesetze mit seinen vielen und oft weiter entwickelten Kronländern. Bis zum Inkrafttreten des GBGB waren ja bereits zahlreiche Stellungnahmen bei der Gesetzgebungshofkommission eingelangt und zufolge ihrer repräsentativen Streuung sicherlich wesentlich wertvoller als eine Probe in nur einem und noch dazu neu erworbenen Kronlandsteil. Warum sollte denn just auch gera-
Zitiert nach FRIEDRICH KORKISCH, Die Entstehung des österreichischen allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 18 (1953) 266–294.
3
ERNST SWOBODA, Das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch I2 (Wien 1944) 8; ARMIN EHRENZWEIG, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, etwa in den Auflagen von 1905–1951 (1. und 2. Auflage) 31; FRANZ GSCHNITZER, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts2 (neubearbeitet von CHRISTOPH FAISTENBERGER / HEINZ BARTA, Wien/New York 1992) 16; HELMUT KOZIOL / RUDOLF WELSER, Grundriss des bürgerlichen Rechts I10 (Wien 1995) 10; auch der Beitrag zum GBGB im HRG V1 (Berlin 1995), 1308–1314 (CHRISTIAN NESCHWARA), ist unter dem Schlagwort „Westgalizisches Gesetzbuch“ zu finden. 4
Ua WESENBERG / WESENER, Privatrechtsgeschichte 164; behutsamer etwa RODESTINTZING / ERNST LANDSBERG, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft III/1 (München/Leipzig 1898) 522: „gewissermaßen zur Probe“.
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de Westgalizien zum Experimentierfeld werden? Warum nicht etwa Böhmen oder die Steiermark? Oder: Man hätte ja bereits Ostgalizien als Experimentierfeld auswerten können – was eben so gar nicht geschah. Gegen die vorgebliche Probe spricht vor allem, dass sich dafür keinerlei quellenmäßige Anhaltspunkte finden, weder vor dem Inkraftsetzen des GBGB noch nach diesem, nämlich Rückmeldungen über das Bestehen oder Nichtbestehen dieser Probe.6 Übrigens gab es zum GBGB wesentlich weniger authentische Interpretationen und demnach weniger Zweifel als zum Teil-ABGB. Und vor allem: Ein probeweises Inkraftsetzen mit der Folge, darüber Gutachten einzuholen, hatte mehrmals strikte Ablehnung gefunden.7 Tatsächlich wurde das Inkraftsetzen anders motiviert. Was Westgalizien anlangt, so waren nach dem westgalizischen Kundmachungspatent die „Unterthanen“ der „Wohlthat so geschwind als möglich theilhaft zu machen“, wonach der Einzelne durch das Gesetzbuch im „Genuß seiner Rechte befestiget, (ihm) die Erfüllung seiner Pflichten erleichtert, seine Person und sein Eigenthum gegen ungerechten Anfall geschützt“ werde; nach Zeiller sollte überdies mit dem GBGB dem „durch die vorhergegangenen inneren Unruhen ganz zerrütteten Westgalizien eine mehr geordnete Verfassung“ gegeben werden,8 wobei „Verfassung“ nicht als Konstitution zu verstehen ist, sondern als „Verfaßtsein“, als „Ordnung“. Das Herstellen von Rechtssicherheit und Schutz, das eines geordneten Zustandes ist also das Motiv für das Inkraftsetzen, und zwar auf Dauer, nicht bloß zur Probe. Was Ostgalizien anlangt, so hielt das hiefür ergangene Kundmachungspatent fest, dass „die polnischen sogenannten Statuten und Konstitutionen, die bisher in Ost-Galizien Gesetzeskraft hatten, einer ordentlichen Rechtpflege nicht angemessen sind“, so dass „gegenwärtiges bürgerliches Gesetzbuch, welches schon in West-Galizien kundgemacht wurde, auch in Ost-Galizien einzuführen“ sei. Auch hier also gilt als Motiv die bisherige Rechtsunsicherheit, aber weiters auch das der Rechtsvereinheitlichung in West- und Ostgalizien. Von einem Erproben ist nirgends die Rede. Jene Motive meint wohl Zeiller mit der Feststellung, dass Vgl PHILIPP HARRAS VON HARRASOWSKY, Der Codex Theresianus und seine Umarbeitungen IV (Wien 1886) 11.
6
PHILIPP HARRAS VON HARRASOWSKY, Geschichte der Codifikation des österreichischen Civilrechtes (Wien 1868) 127, 141. 7
LEOPOLD PFAFF / FRANZ HOFMANN, Commentar zum österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch I/1 (Wien 1877) 22; JULIUS OFNER, Der Ur-Entwurf und die Berathungs-Protokolle des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (Wien 1889) I, 3. 8
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der Entwurf Martini in Galizien „aus einem dringenden Bedürfnisse sogleich als Gesetzbuch eingeführt“ wurde,9 da er in seinem Bericht über die Kodifikationsarbeiten von 1801 die eben zitierten Motive der Unruhe und Zerrüttung nennt!10 Knapp motiviert Zeiller die Sanktion für Westgalizien damit, dass sie „die Umstände forderten“, jene für Ostgalizien mit „der Gleichförmigkeit“.11 Insgesamt galt es, einem „staatlichen Bedürfnis“ nachzukommen.12 Allerdings scheint es eine Wurzel für das – irrtümlich angenommene – probeweise Inkraftsetzen zu geben. Am 5. März 1796 genehmigte nämlich der Kaiser den Vorschlag des sogenannten „Justizeinrichtungskommissärs“ für Westgalizien, es solle mit den „verbesserten Judizialgesetzen“ „in Westgalizien ein Versuch“ gemacht werden.13 Dieser „Versuch“ bezieht sich aber darauf, dass man versuchen solle, das neu konzipierte Recht in Kraft zu setzen, ist nicht aber so zu verstehen, als ob Westgalizien als Provinzbühne der Erprobung eines Stückes zu dienen habe, welches, bei entsprechendem Erfolg, sodann auf die Bühne der gesamten Habsburgermonarchie käme. Außerdem kann der Vorschlag sowie dessen Genehmigung gar nicht das GBGB meinen: Zu diesem Zeitpunkt wurde der erste Teil des Entwurfs Martini in der sogenannten Überprüfungskommission erst diskutiert, der zweite und dritte Teil waren noch gar nicht fertig! Aus der Sekundärliteratur könnte Schey14 den Irrtum mit seiner Feststellung verstärkt haben, es sollte der Entwurf Martini in Westgalizien „die praktische Probe bestehen“, womit er aber nach all dem bisher Gesagten wohl nur meinte, es habe sich – nachträglich besehen! – dort bewährt, etwa in dem Sinne wie schon das Teil-ABGB 1786 ebenfalls eine praktische Probe in der gesamten Habsburger-Monarchie bestanden hatte, denn es war teilnovelliert, aber nicht aufgehoben worden. FRANZ VON ZEILLER, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie I (Wien/Triest 1815) 10 in Fußnote *.
9
JOSEF SCHEY, Einleitung, in: HEINRICH KLANG (Hrsg), Kommentar zum Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch I/1 (Wien 1933) 11 f. 10
FRANZ VON ZEILLER, Jährlicher Beitrag zur Gesetzkunde und Rechtswissenschaft in den österreichischen Erbstaaten I (Wien 1806) 28 f in Fußnote *.
11
SIGMUND ADLER, Die politische Gesetzgebung in ihren geschichtlichen Beziehungen zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch in FS zur Jahrhundertfeier des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches I (Wien 1911) 107: Diese 1912 getroffene Feststellung hat die Sekundärliteratur übersehen. 12
13
HARRASOWSKY, Codex IV 11.
14
SCHEY, Einleitung 11.
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Wohl in diesem Sinne und in Hinblick auf seine schon zitierte Begründung des Inkraftsetzens des GBGB ist Zeillers Bemerkung,15 das GBGB gewähre „zugleich den Vortheil, daß mittlerweile auch die Praxis zur Vervollkommnung des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches benutzt werden konnte“, ein Hinweis auf ein willkommenes Nebenprodukt, nicht aber auf den Hauptzweck einer Probegeltung! Und dies trifft auch auf den eben zitierten Schey zu: „Gleichzeitig aber sollte der Entwurf die praktische Probe bestehen“ – sie war also bestenfalls ein Nebenzweck. Mit Hinweisen auf eine „vorläufige“ Geltung der GBGB wird ein Zeitmoment angesprochen: Das Inkraftsetzen erfolgte auf die Gesamtmonarchie bezogen „vorläufig“ im Sinne von „vorgezogen“. Was für die (nichtungarische) Habsburgermonarchie insgesamt gedacht war, sollte in Galizien und dem Buchenland bereits jetzt realisiert werden. Sozusagen wenige Meter vor dem Ziel wollte man sich im neu erworbenen Westgalizien nicht mehr mit den damit erworbenen alten Rechten beschäftigen. C. Stadt mit Landrecht Eine der im Zuge der Kodifikationsarbeiten eingelangten Stellungnahmen wurde Ursache für eine – weitere – Legendenbildung zum ABGB, nämlich die des Einflusses des „Landrechts von Tarnow“. Dies entpuppt sich sogar als doppelte Legende: Tarnow ist eine östlich von Krakau gelegene Kleinstadt. Etwa zur Zeit der ABGB-Entstehung war sie Kreishauptstadt und besaß eine Bevölkerung unter zehntausend Einwohnern. Als Stadt hatte Tarnow natürlich kein Land-Recht hervorgebracht, ein solches gab es überhaupt nicht. Sehr wohl aber war die Stadt Sitz eines Gerichts und dieses hieß „Landrecht“ wie in anderen Städten auch, etwa in Prag. Im Zuge des Kodifikationsprozesses hatte sich diese Institution selten zu Wort gemeldet16 und stand damit absolut im Schatten vieler anderer Stimmen aus anderen Städten und Gerichten – die alle so gut wie nicht berücksichtigt wurden!
III. Die Chinesische Mauer Mit großem Selbstbewusstsein pflegte die Historische Rechtsschule angesichts der eigenen Leistungen nahezu verächtlich auf ihren Vorgänger, die Exegeti-
15
ZEILLER, Commentar 10 f, in Fußnote *.
16
OFNER, Ur-Entwurf II 309, 312: zum Bestandvertrag.
38
WILHELM BRAUNEDER
sche Schule herabzublicken.17 Dies übernahm die rechtshistorische Forschung reichlich unüberprüft. Von den quellenmäßig nicht aufrecht zu haltenden Feststellungen sei auf jene eingegangen, die eine geistige Isolierung Österreichs gegenüber dem Ausland behauptet. Das Bild einer die Habsburgermonarchie vom übrigen Europa abschließenden Chinesischen Mauer, wie oft zu lesen, das einer geografischen und historischen Abgeschlossenheit wurde auch auf die Rechtswissenschaft übertragen: Es sei zu einer geistigen Isolierung gekommen, zu einem „Stagnationszustand“.18 Es verzeichnet aber aus mehreren Gründen die zeitgenössische Situation.19 Ihm stehen einmal die rechtswissenschaftlichen Zeitschriften entgegen. Schon Carl Joseph Pratobeveras „Materialien für Gesetzkunde und Rechtspflege“ (1814/15–1824) wandte den „Blick nach außen“.20 Das Programm der 1825 von August Vinzenz Wagner begründeten und herausgegebenen „Zeitschrift für österreichische Rechtsgelehrsamkeit und politische Gesetzkunde“ sah eigene Berichte über „die neuesten Fortschritte der Gesetzgebung des Auslandes“ vor und es sollte „dem wissenschaftlichen Juristen und Politiker Österreichs die herrliche Ausbeute der ausländischen Literatur nicht (fremd) bleiben“. Tatsächlich blieb ausländisches Recht den österreichischen Juristen keineswegs fremd. Beispielsweise verwies Zeiller in seinem ABGB-Kommentar von 1811/13 mehrfach auf den CC und das ALR, nachdem er in seinem „Probekommentar“ von 1809 angekündigt hatte, jener werde Hinweise auch auf die „preußischen, französischen und bayerischen Zivilgesetzbücher“ enthalten.21 Auch konnte man in Pratobeveras erwähnten „Materialen“ etwa die Kritiken von
JOSEF UNGER, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts I (Wien 1856), Vorrede III f.
17
Ua HANS LENTZE, Die Eingliederung der österreichischen Zivilrechtswissenschaft in die deutsche Pandektenwissenschaft, in: ANDOR CSIZMADIA / KAROLY KOVÁCS (Hrsg), Die Entwicklung des Zivilrechts in Mitteleuropa (Budapest 1970) 60, 69; allerdings räumt LENTZE ein, es habe die Exegetische Schule „noch keinen Bearbeiter gefunden“: ebenda 61.
18
So allgemein auch HUGO (Graz/Wien/Köln 1962) 310.
19
HANTSCH,
Die
Geschichte
Österreichs
II2
Vgl BARBARA DÖLEMEYER, Zur Frühgeschichte des juristischen Zeitschriftenwesens in Österreich, in: MICHAEL STOLLEIS / THOMAS SIMON (Hrsg) Juristische Zeitschriften in Europa (Frankfurt aM 2006) 274 f. 20
WILHELM BRAUNEDER, Kommentare und Bemerkungen Franz von Zeillers zum ABGB zwischen 1809 und 1822 in: DERSELBE, Studien II (Frankfurt aM/ua 1994) 33 f. 21
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Gönner und vor allem Savigny am ABGB erfahren, nämlich durch Zeillers Stellungnahmen dazu 1815 bzw 1822.22 Die ABGB-Kommentare von Schuster 181823 und Winiwarter 1831/3824 sowie Ellingers Handbuch 184325 verwiesen auf das ALR als subsidiäre Quelle des Bürgerlichen Rechts in Österreich, auch in Zeillers Kommentar finden sich derartige Äußerungen (ua §§ 1047, 1107, 1110). In seiner Monografie „Das österreichische Frauenrecht“ berief sich Joseph Linden 1834 (2. Auflage 1839) ausdrücklich auf drei ähnliche französische Titel und auf das „Preußische Frauenrecht“ von Hesse aus 1829. Georg von Scheidleins Abhandlungen über den Kauf- sowie den Mietund Pachtvertrag von 1818 und 1819 wiesen schon im Titel den Vergleich mit ua „dem preußischen Landrecht und dem französischen Civil-Codex“ aus. Die Beispiele lassen sich fortsetzten. Das Fehlbild einer Chinesischen Mauer rund um Österreich gründet sich unter anderem auf ein falsches Bild der Zensur und somit des Zugangs zu ausländischer Literatur. Dazu sei darauf hingewiesen, dass Zensur nicht Verbot schlechthin bedeutete.26 Vielmehr sollten den verschiedenen Schichten der Gesellschaft Druckerzeugnisse auf unterschiedliche Weise zugänglich sein. Selbst der strengste Zensurvermerk „erga schedam“ erlaubte die Benützung von Büchern durch Wissenschafter gegen einen Revers. Tatsächlich war ausländische Literatur, obwohl mit Zensurenvermerken belegt, der juristischen Fachwelt sehr wohl zugänglich, nämlich in Lesevereinen.27 Dies traf vor allem in Wien für den 1840 gegründeten Juridisch-politischen Leseverein zu. Nach sechs Jahren hatte seine Bibliothek einen Bestand von etwa 1900 Titeln erreicht, während der Hamburger Leseverein 1836 nach acht Jahren seines Bestehens auf nur etwa 1700 Titel gekommen war.28 Nach der Fächerverteilung von 1844 enthielt die Bibliothek 54 Prozent an juristisch-
22
BRAUNEDER, Bemerkungen Franz von Zeillers 34 f.
MICHAEL SCHUSTER, Theoretisch-praktischer Kommentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch I (Prag 1818) XXIII.
23
24
JOSEPH WINIWARTER, Das Oesterreichische bürgerliche Recht I (Wien 1831) 22 f.
25
JOSEPH ELLINGER, Handbuch des österreichischen Zivilrechts (Wien 1843) 12.
WILHELM BRAUNEDER, Leseverein und Rechtskultur, Der juridisch-politische Leseverein zu Wien 1849–1990 (Wien 1992) 42.
26
Vgl auch MARLIES RAFFLER, Bürgerliche Lesekultur im Vormärz. Der Leseverein am Joanneum in Graz (1819–1871) (= Rechts- und Sozialwissenschaftliche Schriftenreihe 6, Frankfurt aM 1993). 27
28
BRAUNEDER, Leseverein 121, 142.
40
WILHELM BRAUNEDER
politischen Titeln, an historischen 13 Prozent. Anders sah dies bei den Zeitschriften aus: Den 87 Prozent juristisch-politischer Journale standen nur 3,3 Prozent für Geschichte gegenüber. Besonders wertvoll erwies sich die Bibliothek nun eben dadurch, dass sie zensurierte Werke leicht zugänglich machte.29 Von zensurierten Titeln gab es im Leseverein anonym „Bürokratismus und Liberalismus“, „Das Ehegesetz in seiner historischen Bedeutung“, von dem Strafrechtswissenschafter Anselm von Feuerbach „Öffentlichkeit und Mündlichkeit“, zwei damals in Österreich verpönte Grundsätze des Prozessrechts, von dem liberalen Schriftsteller Karl von Rotteck das „Lehrbuch des Vernunftsrechts“. Bei den mit der Zensurstufe „damnatur“ versehenen Werken hatte ein Verzeichnis der ausnahmsweise berechtigten Personen angelegt zu werden. Mit diesem Zensurvermerk belegt waren im Leseverein vorhanden etwa Aretin - Rotteck „Staatsrecht der constitutionellen Monarchie“, von Rotteck - Welcker das „Staatslexikon“, das als Verfassungsbibel der Liberalen galt. Unter dem schwächeren Zensurvermerk „non admittitur“ standen unter anderem Georg von Beselers „Volksrecht und Juristenrecht“ und Heinrich Matthias Zöpfels Werke über konstitutionelles Staatsrecht. Vor allem profitierten die Lesevereinsmitglieder vom Bestand der ausländischen Werke:30 Knapp 57 Prozent der Bestände kamen aus Staaten des Deutschen Bundes außerhalb Österreichs, aus diesem 31 Prozent. Dies gibt eines der wichtigen Indizien dafür ab, dass die geistige Welt Österreichs im Vormärz vom Ausland keinesfalls wie mit einer Chinesischen Mauer abgeschlossen, in einen juridischen Schlaf gefallen war.31 Neben den schon unter den zensurierten Werken erwähnten Titeln standen beispielsweise der Juristenwelt aus neuester Produktion die Werke Savignys zur Verfügung, Bluntschlis Entwurf eines Zivilgesetzbuches für den Kanton Zürich, Puchtas Pandekten, von Gans das „Erbrecht in seiner universalhistorischen Entwicklung“, Gerbers Werke über gemeindeutsches Privatrecht sowie aus dem öffentlich-rechtlichen Bereich von Buss „Vergleichendes Bundesstaatsrecht USA-Deutschland-Schweiz“, von Christ „Badisches Gemeindegesetz“, das seit 1836 ein Dreiklassenwahlrecht vorgesehen hatte – später wird es auch für Österreichs Ortsgemeinden eingeführt werden, von Klüber „Öffentliches Recht des Deutschen Bundes“ und vieles andere mehr, darunter etwa Beccarias „Dei delitti e delle pene“. Die Beispiele sollen zeigen, dass nahezu die gesamte zeit-
29
BRAUNEDER, Leseverein 141 f.
30
BRAUNEDER, Leseverein 136 ff.
31
BRAUNEDER, Leseverein 143.
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41
genössische juristische Literatur auch des Auslands der juristischen Weiterbildung zur Verfügung stand. Aus einem noch zu erwähnenden Grund sei auf die rechtshistorischen Werke hingewiesen,32 zumal Rechtsgeschichte kein Fach der damaligen juristischen Studienordnung war. Insbesondere gab es neben Quelleneditionen wie etwa Grimms „Deutsche Rechtsaltertümer“ schon jene Werke, welche die Rechtsgeschichte dem geltenden Recht nutzbar machten wie vor allem Eichhorns „Einleitung in das deutsche Privatrecht“ von 1845. Diese Durchbrüche in der Chinesischen Mauer, wenn nicht überhaupt ihr Fehlen zeitigten Folgen in mehrfacher Weise. Dazu zählte einmal der Unterricht an der Juristenfakultät.33 Die Studienordnung 1810 hatte Professoren wie Studierenden „Vorlesebücher“ vorgeschrieben. Die Professoren verwendeten diese zwar, aber oft bloß als Ausgangspunkt für eigene, den Text der Bücher widerlegende Darstellungen. So wird berichtet, in der Vorlesung des Professors Kudler kamen „nicht die zahmsten Dinge zur Erörterung“, man habe hier „mehr von fremden Zuständen, als eigenen gehört“. Kein Wunder, dass die Studenten nach anderen Werken als nach den Vorlesebüchern lernten. So befand sich unter Alexander Bachs sechs Titeln, nach denen er laut eigener Angabe eben studierte, nur ein einziges Vorlesebuch! Besonders signifikant ist etwa, dass man statt der vorgeschriebenen Werke des 1817 verstorbenen Josef von Sonnenfels das bereits erwähnte Rotteck-Welckersche Staatslexikon benützte. Schließlich nahm die juristische Studienordnung ein damals modernes Fach auf, nämlich „Rechtsgeschichte“34 ab dem Wintersemester 1847/48, nachdem schon ab 1846 als erster Dozent für dieses Fach Emil Franz Rössler wirkte. Sein Lesevereins-Kollege August Chabert hinterließ nach seinem frühen Tod 1849 unvollständig die erste Darstellung der „Staatsund Rechtsgeschichte Österreichs“. Für die gewandelte Gestalt des juristischen Studiums ist eine Doktor-Disputation aus dem Jahre 184735 bezeichnend. Unter der Leitung des Strafrechtsprofessors Anton Hye kam die jüngst, 1846, stattgehabte Annexion Krakaus durch Österreich in einem nahezu parlamentarisch durchgeführten Verfahren zur Verhandlung mit dem Ergebnis, dass die Regierung Metternichs wegen „Mordes“ sozusagen verurteilt wurde. Dies brachte nicht nur Hye eine schließlich glimpflich verlau-
32
BRAUNEDER, Leseverein 139.
33
BRAUNEDER, Leseverein 52–60.
34
BRAUNEDER, Leseverein 105 f.
35
BRAUNEDER, Leseverein 58 f.
42
WILHELM BRAUNEDER
fende Untersuchung ein, sondern fand sich sogar in Londons „Times“ berichtet. Vor allem hatte man sich äußerst intensiv mit modernen Verfassungsformen, insbesondere der konstitutionellen Monarchie, in der Bibliothek vertraut gemacht. Aber nicht nur Lektüre sorgte für diese Kenntnisnahme, sondern auch Vorlesungen, Vorträge und Berichte über Bildungsreisen, welche Parlamentsbesuche etwa in Paris, Brüssel und London mit einschlossen.36 Diese Kenntnisse ermöglichten es dem Leseverein wie seinen einzelnen Mitgliedern, in der Revolution 1848 eine führende Rolle zu spielen. Am Eingangstor des Lesevereins hing damals eine Tafel mit der Aufschrift: „Hier bekommt man Minister“.37
IV. Historische Rechtsschule schon vor 1848 Erst spät habe der ehedem moderne Zauberstab der Historischen Rechtsschule Österreichs Juristenwelt aus dem exegetischen Dornröschenschlaf aufgeweckt. Genannt wird dazu vor allem Josef Ungers „System des österreichischen allgemeinen Privatrechts“ ab 1856 und als auslösendes Moment die Revolution von 1848.38 Nach39 dem Vorbild des Werkes von Gans „Das Erbrecht in seiner universalhistorischen Entwicklung“ waren allerdings schon 1847 von einem J. Swoboda „Die Bergwerkshoheit in ihrer welthistorischen Entwicklung“ und 1850 Ungers Dissertation „Das Eherecht in seiner universalhistorischen Entwicklung“ erschienen. Aber bereits im Jahre 1842 schrieb Johann von Perthaler an seinen Vater: Nun „studiere ich Rechtsgeschichte, … allen anderen Plunder, vor allem die mir verhassten Erläuterungen habe ich dem Kuckuck übergeben“; bereits 1843 erschien sein Buch „Recht und Geschichte“ als „Einführung in das rechtswissenschaftliche Studium“ und in der Folge mehrere rechtshistorisch fundierte Aufsätze. Der erwähnte Rössler folgte in seinen Werken um 1840 ausdrücklich der „von Savigny neu eingeschlagenen Bahn“, ebenso der Strafrechtler Würth: Es war dies die Historische Rechtsschule, und zwar geraume Zeit vor der Revolution von 1848!
36
BRAUNEDER, Leseverein 113, 150, 154.
37
BRAUNEDER, Leseverein 170.
38
Vgl zB SCHLOSSER, Privatrechtsgeschichte 140; LENTZE, Eingliederung 61, 65.
Zum Folgenden WILHELM BRAUNEDER (Hrsg), Juristen in Österreich 1200–1989 (Wien 1987) 105 ff, 156 ff, 177 ff; DERSELBE, Leseverein 154 f. 39
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V. Das „Junipatent“ Ältere verfassungshistorische Terminologie, nur zum Teil im Zeitgenössischen wurzelnd, hat für Verfassungstexte nahezu alle Monatsbezeichnungen des Jahres in Beschlag genommen. Da gibt es die Märzverfassung (1849), die Aprilverfassung (1848), das Oktoberdiplom (1860), die Dezemberverfassung (1867), die Sylvesterpatente (1851) und, was hier besonders interessiert, das Februarpatent (1861).40 Astronomie ist nun wahrlich kein probates Mittel zur Charakterisierung von Verfassungstexten. Im Falle jener von 1860 und 1861 wohnt wenigstens dem nicht-astronomischen Wortteil ein gewisser Aussagewert inne: Diplom, Patent. Gerade „Patent“ erweist sich hier aber als eine höchst törichte Charakterisierung. Schon allein die Einzahl ist irreführend.41 Am 21. Februar 1861 (RGBl 20) wurden nämlich insgesamt 46 Verfassungsgesetze, zumindest im materiellen Sinne, erlassen und als „Verfassung Unseres Reiches“ bezeichnet, eben als Reichsverfassung. Auf die Fülle der sehr unterschiedlichen Rechtsakte in Bezug auf die Gesamtmonarchie, auf deren nichtungarischen Teil sowie auf die ungarischen Länder sei hier im Detail nicht eingegangen. Zur Charakteristik dieses Verfassungswerks genügt der Hinweis, dass zu ihm die Pragmatische Sanktion 1713, das Oktoberdiplom 1860 und in dessen Durchführung ein neues „Grundgesetz über die Reichsvertretung“ zählten sowie für Cisleithanien Landesordnungen samt Landtagswahlordnungen. Dies alles als „Patent“ zu bezeichnen – eine Vielfalt mit der Einzahl – wirkt an sich schon kurios.42 Initiiert wurde dieses umfassende Grundgesetzekonvolut durch das Oktoberdiplom 1860, das für sich genommen keine Verfassung darstellt, weil in vielfältigster Weise auf Ausführungen angewiesen, wozu es auch kein starres Korsett abgab. Seine isolierte Betrachtung als Verfassungstext ist daher, das sei nebenbei bemerkt, verfehlt. Es stellt den Auftakt zu einer ausgreifenden Verfassungsgebung dar, eben zur Reichsverfassung 1861. Sie charakterisiert die Bezeichnung Februarpatent auch wesensmäßig nicht. Die Eigenartigkeit der Reichsverfassung 1861 wurzelt nicht etwa in einer Verlegenheits-
Besonders deutlich zu letzteren EDMUND BERNATZIK, Die österreichische Verfassungsgesetze (Wien 1911); FRITZ FELLNER, Das „Februarpatent“ von 1861, MIÖG 61 (1955) 549 ff. 40
Ua ERNST MISCHLER / JOSEF ULBRICH (Hrsg), Österreichisches Staatswörterbuch II2 (Wien 1906) 3 f; ERNST CARL HELLBLING, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte2 (Wien 1971) 358.
41
42
So etwa auch HANTSCH, Geschichte 363: „Februarverfassung“.
44
WILHELM BRAUNEDER
lösung als eines der verschiedenartigen „Verfassungsexperimente“ von 1848 bis 1867, wie dies so auch charakterisiert zu werden pflegte. Vielmehr liegt ihr die Idee des Historischen Staatsrechts, eines Ablegers der Historischen Rechtsschule, zugrunde, welche – was das Oktoberdiplom klar ausspricht – die Grundlagen des Staates nur auf historische Rechtstitel aufgebaut sehen will: „Nur solche Institutionen und Rechtszustände, welche den geschichtlichen Rechtsbewußtsein, der bestehenden Verschiedenheit Unserer Königreiche und Länder und den Anforderungen ihres unteilbaren und unzertrennlichen kräftigen Verbandes gleichmäßig entsprechen, können diese Bürgschaften in vollem Maße gewähren“! Dass damit weder eine konstitutionelle Verfassung erlassen werden sollte – die sich zur historisch fundierten Reichsverfassung wie der Teufel zum Weihwasser verhält – und keine konstitutionelle Monarchie zu etablieren war, sei am Rande erwähnt: Schließlich fehlen nahezu alle Elemente einer konstitutionellen Verfassung. Allein schon die Äußerlichkeit der Reichsverfassung 1861 zeigt ein so ganz anderes Bild wie etwa zuletzt die Verfassung 1849, zuvor der Kremsierer Verfassungsentwurf und die Verfassung 1848. Es fehlt nicht nur an einer einheitlichen Verfassungsurkunde, sondern an einer planmäßigen und vor allem umfassenden Grundordnung. Sämtliche Elemente einer konstitutionellen Monarchie fehlen: Gewaltentrennung mit Regelung auch der Exekutive und Judikative, Katalog an Grundrechten, wenn auch noch so beschränkte Volkswahl des Abgeordnetenhauses, Ministerverantwortlichkeit, um die Hauptelemente zu nennen. So gehört es denn auch zu den Irrtümern der Rechtsgeschichte, mit 1861 sei Österreich in den Kreis der konstitutionellen Staaten eingetreten. Dass dies eben nicht der Fall war, zeigt die Reaktion der Liberalen, welche diese Grundordnung ablehnten. Schließlich verkennt die Bezeichnung Februarpatent schon schlicht die legistische Technik. Sie beruht darauf, dass ein kaiserliches Patent, eben hier dieses vom 26. Februar 1861, nachfolgenden Texten durch kaiserliche Sanktion die normative Kraft von Gesetzen verleiht. Eine parallele Fehlleistung wäre etwa die, wenn man das ABGB zufolge des vorangestellten Kundmachungspatents vom 1. Juni 1811 als „Junipatent“ bezeichnen würde.
VI. Staatsgründung mit Staatsgesetzblatt Nr 5 Am 25. April 1919 (StGBl 246) wurde neben dem 1. Mai auch der „12. November eines jeden Jahres als allgemeiner Ruhe- und Festtag erklärt“, und zwar mit folgender gesetzlicher Begründung: „Zum immerwährenden Gedenken an die Ausrufung des Freistaates Deutsch-Österreich“ an eben
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diesem Monatstag des Jahres 1918. Am 6. November 1919 wurde der Franzensring auf seiner gesamten Länge zwischen Bellaria, also knapp vor dem Parlamentsgebäude, bis zur Schottengasse bei der Universität in „Ring des 12. November“ umbenannt.43 Dem Anlass der Zehnjahrfeier der Staatsgründung 1928 verdankt in unmittelbarer Nähe des Parlamentsgebäudes ein Denkmal an der Wiener Ringstraße seine Existenz; es trägt die Aufschrift „Der Erinnerung an die Errichtung der Republik am 12. November 1918“. Vor allem durch den Staatsfeiertag am 12. November prägte sich Generationen dieses Datum als Gründungstag des republikanischen Österreich ein, in jungen Jahren durch entsprechende Schulfeiern an eben diesem Tage. Historikergenerationen datieren daher den Geburtstag der österreichischen Republik auf den 12. November 1918. Die „Wissenschaftliche Kommission zur Erforschung der Geschichte der Republik Österreich“ gab 1986 den Protokollband ihres Symposiums über die „Entstehung der Ersten Republik“ schlicht den Titel „Österreich November 1918“ und die Einleitung dazu zeigt klar, dass der 12. November gemeint war. Wer allerdings ohne allzu große juristische oder mathematische Kenntnisse die entsprechende Quelle zum 12. November 1918 nachschlägt, muss eigentlich stutzig werden: Das für dieses Datum so einschlägige „Gesetz über die Staats- und Regierungsform“ war im Staatsgesetzblatt als Nr. 5 verlautbart worden. Abgesehen von derartigen Fachkenntnissen müsste doch, so sollte man meinen, reine Neugierde zur Frage und vielleicht sogar zum Nachforschen bewegen, was denn in den vier vorausgehenden Nummern des Staatsgesetzblattes zu lesen war, dies vielleicht gar die kardinale Frage initiieren, warum denn die Staatsgründung erst mit dem fünften Rechtsakt des neuen Staates stattfindet. Eine derartige „Quellenrecherche“ endet beim Staatsgesetzblatt Nr. 1 und dem hier vorfindlichen „Beschluß über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt“. Wie in einem Lehrbuch des Staatsrechts sind hier die einzelnen Elemente der Staatsgewalt festgelegt. In § 1 geht es um ihren Träger und er legt in Hinblick auf eine künftige „Konstituierende Nationalversammlung“ fest, dass „einstweilen die oberste Gewalt des Staates Deutschösterreich durch die … Provisorische Nationalversammlung ausgeübt“ werde. Nun folgt man dem Kriterium der Teilung dieser „obersten Gewalt“. Daher setzt § 2 fest, es werde die Legislative „von der Provisorischen Nationalversammlung selbst ausgeübt“. Das Wörtchen „selbst“ erklärt sich aus dem nachfolgenden § 3, der sich mit der „Regierungs- und VollzugsZum Folgenden WILHELM BRAUNEDER, Deutschösterreich 1918 (Wien 2000) 56 ff, 294 f.
43
46
WILHELM BRAUNEDER
gewalt“ beschäftigt, denn mit dieser „betraut die Provisorische Nationalversammlung einen Vollzugsausschuß, den sie aus ihrer Mitte bestellt“ und der den Namen „Deutschösterreichischer Staatsrat“ trägt. Mit dieser kompletten Regelung der Staatsspitze erhielt der neue Staat „den Charakter einer demokratischen Republik“.44 Nach der Regelung der Legislative und, sehr eingehend, der Exekutive bedurfte es keiner Bestimmungen über die Judikative, denn sie ist durch die Rezeptionsklausel von § 16 erfasst: „Insoweit Gesetze und Einrichtungen, die in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern in Kraft stehen, durch diesen Beschluß nicht aufgehoben oder abgeändert sind, bleiben sie bis auf weiteres in vorläufiger Geltung“ und damit auch die Gerichte. Übrigens ging man an diesem 30. Oktober 191845 auch insoferne nahezu nach einem Handbuch des Staatsrechts vor, als sich die Provisorische Nationalversammlung vor dem eben zitierten Beschluss über die Staatsgewalt mit einem anderen Aspekt des Staates beschäftigt hatte, nämlich dem Staatsgebiet. Der sogar erste Beschluss an diesem Tag betraf eine Note an den US-Präsidenten Wilson mit der Mitteilung, dass die Abgeordneten aus den deutschen Reichsratswahlkreisen sich zu einem neuen Staat unter dem Namen Deutschösterreich zusammengeschlossen haben, dessen Staatsgebiet sich damit aus der Summe dieser Wahlkreise ergab. Neben Staatsgewalt und Staatsgebiet war mit letzterem im Wesentlichen auch das Staatsvolk bestimmt, späterhin folgten dann so wie zum Staatsgebiet noch nähere Regelungen über die Staatsbürgerschaft. Vor allem die Note an den US-Präsidenten betonte die Staatsneugründung: Die Nationalversammlung habe beschlossen, „einen selbständigen deutschösterreichischen Staat zu bilden“, es habe sich „auch die Deutsche Nation in Österreich als selbstständiger Nationalstaat“ konstituiert und in der Plenardebatte darüber wurde wie selbstverständlich „der neugeschaffene deutschösterreichische Staat“ angesprochen. Ein Aufruf der drei Nationalversammlungspräsidenten vom darauffolgenden 31. Oktober 1918 im „Namen des deutschösterreichischen Staatsrates“ hielt ebenfalls fest, es habe die Nationalversammlung am Vortag „das provisorische Grundgesetz des neuen deutsch-österreichischen Staates beschlossen“ und mit der Wahl des Staatsrates, „der nunmehr die Regierungs- und Vollzugsgewalt übernimmt“, ist „der deutsch-österreichische Staat zu lebendiger Wirklichkeit geworden“. Entsprechend waren auch Formulierungen und Feststellungen in den Zeitungen dieser Tage. Zum 30. Oktober hielt beiSo zB LEOPOLD WERNER (Hrsg), Die österreichischen Bundesverfassungsgesetze2 (Wien 1963) 10.
44
45
Das Folgende bei BRAUNEDER, Deutschösterreich 55 ff.
Irrtümer der Rechtsgeschichte – Rechtsgeschichte der Irrtümer
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spielsweise auch Hans Kelsen sogleich 1918 fest: Mit dem Staatsgründungsbeschluss war „die Konstituierung des Staates Deutsch-Österreich vollendet“, es hatte sich dieses „als ein Staat konstituiert“, es war „als souverän erklärter Staat entstanden“. Wie sehr man im Herbst 1918 den 30. Oktober als Staatsgründungstag betrachtete, zeigt der Umstand, dass der Beschluss von diesem Tag als Nummer 1 in das Staatsgesetzblattes gesetzt wurde und nicht erst das Gesetz vom 12. November. Letzteres wäre durchaus im Bereich des Möglichen gelegen, denn das Gesetz über das Staatsgesetzblatt erging erst nach dem 12. November 1918, nämlich am 15. November (StGBl 7). Man hatte sich aber eben als Beginn mit der „Nummer 1“ für den 30. Oktober entschieden, und zwar im Einklang mit den damaligen Ereignissen. Von all den zeitgenössischen Quellen, die ausschließlich für den 30. Oktober 1918 als Staatsgründungstag sprechen, sei ein Bild erwähnt. Als Karl Renner in seiner Funktion als Bundespräsident die Initiative zu einem „Museum der Ersten und Zweiten Republik“ ergriff, beauftragte er den Maler Max Frey, die Szene der Republikgründung im Bild festzuhalten. Das entsprechende Ölbild von 1949 zeigt die Szene in der Herrengasse, das Bild trägt die Aufschrift „Die Ausrufung der 1. Republik am 30. Oktober 1918 vom Balkon des Landhauses in Wien“.
Marginalien zur tschechoslowakischen Bodenreform in der Zwischenkriegszeit. Am Beispiel der Besitzungen des Deutschen Ordens* ERNST BRUCKMÜLLER, Wien
I. Der Ordensbesitz Die Besitzungen des Deutschen Ordens im Bereich der Tschechoslowakei wurden zumeist im 17. Jahrhundert erworben. Die Herrschaft Freudenthal (Bruntal) wurde 1620 als Rebellengut von Kaiser Ferdinand II. eingezogen und 1621 an den damaligen Hochmeister (Erzherzog Karl) verkauft, Troppau (Opava) wurde 1634 dem Orden zurückgegeben, dort gab es schon früher einen Ordenssitz. Mährisch-Eulenberg (Sovinec) wurde 1623 angekauft, Busau 1696.1 Im 18. und 19. Jahrhundert wurden einige weitere Güter erworben, so dass der Ordensbesitz in der Tschechoslowakei zum 1. Jänner 1919 24.555,7216 ha ausmachte.2 Dieser Besitz unterstand dem Hochmeister direkt („Meistertum“), also nicht einer Ordensprovinz, einer „Ballei“.
Dass der Autor seinen hoch geschätzten Kollegen Werner Ogris mit dieser kleinen Miszelle zwar mit einer Fülle spannender rechtlicher Probleme und Fragestellungen konfrontiert, aber zu einer korrekten Durchdringung dieser Stoffe als Nichtjurist leider unfähig ist, möge der Jubilar gütigst verzeihen. – Gleichzeitig ist dem geschäftsführenden Archivar des Deutschen Ordens, P. Frank Bayard und dem im Archive selbst in steter „stabilitas loci“ weilenden Dr. Friedrich Vogel für die Bereitstellung des Materials herzlichst zu danken. *
BERNHARD DEMEL, Der Deutsche Orden in der ČSR 1918–1939, in: DERSELBE, Der Deutsche Orden einst und jetzt. Aufsätze zu seiner mehr als 800jährigen Geschichte (= Europäische Hochschulschriften Reihe III, Bd 848, Frankfurt ua 1999) 303–334, hier 303–306. 1
DOZA, Wien, Karton 134, maschinschriftliche Aufzeichnung über die Verkleinerung des Deutschordens-Grundbesitzes durch die „Bodenreform“ vom 16. 4. 1928, gezeichnet vom Oberforstrat Fr. ULLMANN.
2
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ERNST BRUCKMÜLLER
II. Bodenreform, Zwangsverwaltung, Beschlagnahme Bis 28. Oktober 1918 lagen die Güter des Meistertums in Mähren und Österreichisch-Schlesien im österreichischen Teilstaat der Habsburgermonarchie. Ab diesem Tag lagen sie in einem neuen Staat, der Tschechoslowakei. Dieser neue Staat wurde von der Entente als Krieg führender Staat und somit als Verbündeter gegen die Mittelmächte anerkannt, stand also auf der Siegerseite. Die Stimmung in der jungen Tschechoslowakei war gekennzeichnet vom Stolz, zu den Siegern zu gehören, die Freiheit vom habsburgischen Joch erlangt zu haben, von überschwänglichem Nationalismus, von einer optimistischen Grundstimmung, aber auch von lebhaften sozialen Forderungen, die nicht zuletzt aus der Erfahrung vieler ehemaliger (tschechischer) Kriegsgefangener in der Russischen Revolution resultierten. Das Verlangen nach Bodenreform stand dabei im Vordergrund. In einem Land, in dem der Großgrundbesitz traditionell eine so bedeutende Rolle gespielt hatte, nicht ganz unverständlich. Die Fürstenhäuser Schwarzenberg und Liechtenstein, ColloredoMannsfeld, Fürstenberg, Lobkowitz, Kinsky, Thurn und Taxis, WindischGraetz (usw), die gräflichen Geschlechter Waldstein, Czernin, Clam-Gallas, Harrach und viele andere, daneben die Erzbistümer Olmütz und Prag verfügten über riesige Besitzungen. Zu den Latifundienbesitzern (10.000 ha oder mehr) wurde auch der Deutsche Ritterorden gezählt.3 Diesen Großgrundbesitzern wehte ein scharfer Wind ins Gesicht: Der neue Staat war antihabsburgisch und antikatholisch ausgerichtet, er deklarierte sich als Nationalstaat der Tschechen und Slowaken, und er versuchte, die gehobenen sozialen Positionen des „deutschen“ bzw (in der Slowakei) „ungarischen“ Adels bzw großen Grundbesitzes möglichst zu schwächen. Der Deutsche Orden stand da sozusagen in jeder möglichen Schusslinie – wegen seines „deutschen“ Namens, wegen des erzherzoglichen Hoch- und Deutschmeisters (Erzherzog Eugen4) und als kirchliche Institution. Dass aber der erste Eingriff in die Eigentumsrechte des Ordens ausgerechnet auf der Basis einer Verordnung der kaiserlichen Regierung aus dem Jahre 19165 erfolgte, gehört schon zu den Treppenwitzen der Weltgeschichte. Jene Verordnung ermöglichte die zwangsweise Verwaltung von Unternehmungen und
ROMAN SANDGRUBER, Österreichische Agrarstatistik 1750–1918 (Wien 1978), 235 f.
3
Der letzte Ritterhochmeister des Ordens, Erzherzog Eugen von Österreich (1863– 1954), ein Enkel des Erzherzogs Karl, bekleidete dieses Amt von 1894 bis 1923.
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VO vom 29. 7. 1916 RGBl 245.
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Vermögenschaften, die „feindlichen Ausländern“ gehörten. Schon am 9. November 1918 erging das Verbot der Veräußerung, Verpfändung oder Belehnung des landtäflichen Großgrundbesitzes. Am 10. März 1919 erschien in Freudenthal eine Abordnung des tschechoslowakischen Ackerbauministeriums wegen Einführung der Zwangsverwaltung auf den Hoch- und Deutschmeisterlichen Gütern auf Grund der Verordnung aus 1916. Alle Kassen und Ämter waren zu übergeben, die Beamten auf den tschechoslowakischen Staat anzugeloben. Als Zwangverwalter wurde Karl Peyer, Ökonomiebeamter, eingesetzt, als Forstbeamter Josef Šeplavy.6 Kaum war dieser erste Schock vorüber, erfolgte bereits der nächste. Am 16. April 1919 erließ die provisorische Nationalversammlung der Tschechoslowakei das Gesetz über die Bodenreform. Es deklarierte die Beschlagnahme des Großgrundbesitzes über 150 ha (Ackerland) bzw 250 ha (Forst), mit Ausnahmebewilligung konnten bis zu 500 ha von der Bodenreform ausgenommen werden.7 Über Urbarialgemeinden und Kompossessorate sollte ein besonderes Gesetz erlassen werden.8 Durch die Beschlagnahme erlangte die tschecholowakische Republik das Recht, den beschlagnahmten Besitz zu übernehmen und zuzuteilen. Personen, die nach bürgerlichem Recht zur Bewirtschaftung der beschlagnahmten Besitzungen berechtigt waren (also die bisherigen Eigentümer bzw Pächter), „sind in Hinkunft zu dessen ordentlicher Bewirtschaftung verpflichtet“ – man durfte die beschlagnahmten Güter also auch nicht verkommen lassen. Veräußerung und Verpachtung, Belastung und Teilung bedurften der behördlichen Zustimmung. Hinsichtlich der Entschädigung wurde auf ein eigenes Gesetz verwiesen. – Eine Beschreibung des „Vorgang(s) bei der Durchführung der sogenannten Bodenreform“ verfasst aus der Sicht des betroffenen Deutschen Ordens in den späteren 1920er Jahren, sah am Beginn DOZA, Karton 134, „čs Gesandtschaft – Bodenreform“, maschinschriftliche Nachricht, am 12. 3. durch Boten in Wien eingelangt. – In späteren Erlässen wurde allerdings das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 1917 als Rechtsgrundlage für diese Eingriffe genannt!
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Kurz und prägnant informiert über die tschechoslowakische Bodenreform ALICE TEICHOVÁ, Kleinstaaten im Spannungsfeld der Großmächte. Wirtschaft und Politik in Mittel- und Südosteuropa in der Zwischenkriegszeit (Wien 1988), 45–47. Sicherheitshalber wurde in einem Schreiben des Bodenamtes in Prag vom 20. 5. 1920 festgestellt, dass es sich im Falle der Besitzungen des Deutschen Ordens nicht um Kompossessorate handelte. Vgl DOZA, Karton 134, „čs Gesandtschaft – Bodenreform“, Mappe „Bodenreform“.
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des ganzen Vorganges einen über Weisung des staatlichen Bodenamtes durch die ordentlichen Gerichte vorgenommenen „Vermerk der beabsichtigten Übernahme“ in den Grundbüchern bzw in der Landtafel, davon wurde auch der Eigentümer verständigt. Der konnte darauf die Ausscheidung einzelner Teile (bis maximal 500 ha) beantragen. Wurde die Kündigung eines beschlagnahmten Gutsbestandteiles ausgesprochen, erfolgte die Enteignung und Übernahme durch das Staatsbodenamt, gleichzeitig wurde der Verkaufswert von 1913/1915 geschätzt – das war die Grundlage der Entschädigung. Da die Tschechische Krone um 1920 gerade noch den Wert eines Zehntels der Friedenskrone hatte, erlitt der Eigentümer dabei von vornherein einen Verlust von 90%. Die Entschädigung erfolgte aber erst nach Begleichung aller Steuerschulden und einer Vermögensabgabe, „die zumeist den Zuteilungspreis aufzehrt“.9 Entschädigungslos wurden die Habsburger und „Angehörige feindlicher Staaten“ enteignet – beides für den Deutschen Ritterorden durchaus drohende und bedrohliche Formulierungen. In einigen Nachfolgestaaten bestand ja die Auffassung, es handle sich beim Deutschen Orden um einen Ehrenorden des Hauses Habsburg, deshalb falle sein Vermögen den neuen Staaten zu. Das traf freilich, nach den Veränderungen des 19. Jahrhunderts (Neuschaffung von Priesterkonventen und Schwesterhäusern, päpstliche Anerkennung dafür) kirchenrechtlich nicht mehr zu.10 In Troppau war man jedenfalls im Juni 1920 der Meinung, dass „die Sache gar nicht rosig stehe“. Hintergrund dieses Pessimismus: Das tschechoslowakische Bodenamt (das die Güterverteilung vornahm) gab an die Bezirkshauptmannschaften Freudenthal und Römerstadt einen Erlass hinaus, nach welchem die Güter des Deutschen Ordens „nicht Kirchengut und Ordensgut“ seien, sie
DOZA, Karton 134, „čs Gesandtschaft – Bodenreform“, „Vorgang bei der Durchführung des sogenannten Bodengesetzes“.
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BERNHARD DEMEL, Der deutsche Orden im Spiegel seiner Besitzungen und Beziehungen in Europa (= Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Bd 961, Frankfurt aM ua 2004), Schlesien und Mähren 379–537, verweist auf die Wiederbelebung des Priester- und Schwesterninstituts durch den Hochmeister Erzherzog Maximilian Joseph: 1855 wurde der erster Priesterkonvent zu Lana in Südtirol gegründet, 1866 jener in Troppau; die von P. Peter Rigler entworfenen Konventsregeln wurden 1866 von kaiserlicher, 1871 von päpstlicher Seite approbiert. Seit 1858 existierte ein eigenes Knabenseminar des Ordens in Eulenberg. In dieser Zeit wurden auch sieben Pfarren dem Orden inkorporiert und zunehmend mit Ordenspriestern besetzt. – Zur rechtlichen Situation des Ordens vor und nach 1918 folgt Weiteres unten! 10
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würden daher vom Bodenamt aufgeteilt, nur mit der Einschränkung, dass das Ackerbauministerium seine Einwilligung zu geben habe.11 Wie diese Beschlagnahme samt Zwangsverwaltung tatsächlich aussah, wird aus den Akten nur teilweise deutlich. So teilte der Verwalter Bruchschlögl am 3. Dezember 1921 mit, dass 26.000,– KČ zur freien Verfügung stünden, 170.000,– bis 180.000,– für die Ordensanstalten, für Dezember sollten es 218.000,– sein.12
III. Die Reaktion des Ordens Der Orden betonte unablässig, dass er eine rein religiöse Institution sei. So wird in einer maschinschriftlichen Zusammenfassung vom 14. Juli 1920 festgehalten: „Der Deutsche Ritterorden ist ein von Kirche (zuletzt mit päpstlicher Bulle ddo Rom, 16. März 1886) und Staat (mit kaiserlichem Patente ddo Wien, 28. Juni 1840) anerkanntes selbständiges geistliches Institut. Seine Mitglieder sind Religiose.“13 Es war ein glücklicher Zufall, dass der Orden in der Tschechoslowakei einen nicht unbedeutenden Politiker in seinen Reihen hatte: P. Robert Schälzky, Abgeordneter, Mitglied des Klubs der Deutschen Christlichsozialen Volkspartei, für die er im Senat (dem Oberhaus) saß.14 Unter anderem setzte er sich DOZA, Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform“, darin Papiermappe „Zwangsverwaltung“, hier die entsprechende Abschrift. 11
DOZA, Karton 134, Mappe „čs Gesandtschaft – Bodenreform“, darin Papiermappe „Bodenreform“, hier das zitierte Schreiben. 12
DOZA, Karton 134, Mappe „čs Gesandtschaft – Bodenreform“, Aufstellung vom 5. 7. 1920. – Hier auch der damalige Status: „In Österreich: unversehrter Bestand. In Italien (Südtirol): unversehrter Bestand. Im Königreiche der Serben, Kroaten und Slowenen: unter Zwangsverwaltung. In der Tschecho-Slowakei: unter Zwangsverwaltung.“ 13
Johann (P.Robert) Schälzky (1882–1948), aus Braunseifen (Ryžovište) in Mähren, trat 1903 in den Deutschen Orden ein, studierte Theologie in Brixen; nach der Priesterweihe (1907) Kooperator in Freudenthal (Bruntál), Katechet in der Bürger- und Mittelschule, seit 1929 Pfarrer und Dechant. 1909 bis 1921 war er Präses des katholischen Volksvereins, 1914–1922 stellvertretender Diözesanpräses für Jugendarbeit, 1918-1926 Obmann der Deutschen Christlich-Sozialen Volkspartei in MährenSchlesien, 1919–1921 Vizebürgermeister von Freudenthal, 1920–1925 Abgeordneter im Prager Parlament, ab 1927 Präsident des Volksbundes deutscher Katholiken in Mähren und Schlesien; ab 1926 in führenden Ordenspositionen bei der Umwandlung 14
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auch erfolgreich für die Vorlage und Verabschiedung eines Rentengesetzes für Alter oder Invalidität ein.15 Er teilte am 17. Jänner 1921 eine Äußerung des Präsidenten des Bodenamtes nach Wien mit, die doch wieder gewisse Hoffnungen wecken konnte. Danach sollte der Orden nachweisen, dass der trotz der Aufhebung des Adels noch existenzberechtigt sei, „daß er noch seinen Zweck erfülle und in der Tschechoslowakei eine rechtliche Leitung habe.“16 Die Fragen des Bodenamtes der Tschechoslowakischen Republik vom Februar 1921 an das Prager Ministerium für Unterricht und Volkskultur lauteten daher auch wie folgt: 1. Ist der Deutsche Orden bei Aufhebung des Adels noch existenzberechtigt? 2. Erfüllt der Orden noch seinen Zweck? 3. Hat er in der Tschechoslowakischen Republik eine rechtliche Leitung? In Wien nahm dazu der Archivrat Dr. Vinzenz Schindler Stellung. Er ging auf die drei Punkte ausführlich ein: Zu 1: Der Deutsche Orden ist ein selbständiges geistlich-ritterliches Institut, zuletzt von Papst Leo XIII. mit einem Breve vom 16. März 1886 in aller Form bestätigt, 1894 den Maltesern gleichgestellt. Das Gesetz über die Aufhebung des Adels berühre die Existenzfähigkeit nicht: Jetzt, im Februar 1921, stünden acht Ritter ca 100 Priestern und 350 Ordensschwestern gegenüber; auch bei „Erledigung des ritterlichen Elements“ bleibe das geistliche bestehen. Zu 2: Der Orden sei bestimmt zu Mildtätigkeit und Nächstenliebe. Er unterhalte daher gemeinnützige Wohlfahrtsanstalten wie Spitäler, Hospitale, Pfründnerhäuser und Kinderbewahranstalten. Zu 3: Die Leitung des Deutschen Ordens in der Tschechoslowakischen Republik obliegt dem Prior des Priesterkonventes in Troppau, der im Namen
des Ordens in einen rein klerikalen Orden (1929) tätig, 1936 zum Generaloberen gewählt, als Hochmeister inthronisiert und zum Abt geweiht. Nach der Enteignung und Auflösung des Ordens in Troppau konfiniert, wurde er 1942 vom Papst bestätigt. Trotz seiner Gegnerschaft zu Nationalsozialismus wurde er Anfang 1946 nach Österreich abgeschoben und versuchte von Wien aus, den Orden zu sammeln und auf ein neues Fundament zu stellen. Er starb in Lana bei Meran. Vgl BERNHARD DEMEL, Schälzky Robert, in: ÖBL X (Wien 1994) 26. 15
DEMEL, Der Deutsche Orden in der ČSR 307 f.
DOZA Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft - Bodenreform 1918/19–1930“, darin Papiermappe „Zwangsverwaltung“, in dieser die genannte Mitteilung. 16
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des Ordensoberhauptes zur Ordensvertretung in spritualibus et temporalibus bevollmächtigt ist.17 Dieses Schreiben ging an den Unterrichtsminister in Prag, an Bischof P. Norbert Klein von Brünn (der spätere erste Priesterhochmeister war damals der letzte noch vom Kaiser ernannte Bischof von Brünn!)18 und an den Prior P. Hubert Hanke in Troppau. Offenbar war diese Argumentation nützlich, denn etwa ein Jahr später wandte sich der Zwangsverwalter, Karl Peyer, an den Archivrat Schindler in einer „persönlichen Angelegenheit“. Peyer wurde offensichtlich klar, dass die Zwangsverwaltung bald ein Ende haben würde und bemühte sich vermutlich um eine Weiterverwendung, er ist aber beim „Bischof“ (wohl Klein) gescheitert, obwohl er doch, dank der „Verbindungen, die ich in Prag habe“, dem Orden so nützlich gewesen sei und verhindert habe, dass noch größere Gutsbestandteile zur Verteilung gelangt wären.19 Aber die Gefahr war noch keineswegs gebannt. Am 29. November 1922 richtete der tschechische Abgeordnete Univ.-Prof. Dr. Karel Engliš eine Interpellation an den Ackerbau- ebenso wie an den Innenminister bezüglich des
DOZA, Karton 134, Mappe „čs Gesandtschaft - Bodenreform 1918/19–1930“, darin Papiermappe „Bodenreform“, Konzept SCHINDLERS vom 10. 2. 1921. 17
Johann (P. Norbert) Klein (1866–1933) stammte (wie Schälzky) aus Braunseifen (Ryžovište) in Mähren, aus einem Ort mit beträchtlichem Besitz des Ordens. Nach Theologiestudium, Eintritt in den Deutschen Orden 1887, mehreren Positionen in der Pfarrseelsorge wurde er 1916 Bischof von Brünn (Brno), 1921 Großkapitular des Deutschen Ordens, Stellvertreter des Hochmeisters und Generalvisitator, am 30. 4. 1923 Koadjutor, am 21. 5. 1923 Hochmeister. Im Dezember desselben Jahres resignierte er als Bischof von Brünn, führte aber die Diözese bis 1926 als apostolischer Administrator. Seit Juli 1926 Residenz in Freudenthal (Bruntál). Unter seiner Leitung hatte sich der Orden mit zentralen Existenzfragen auseinander zu setzen. 1925 und 1927 wurde in Verträgen zwischen Österreich und der Tschechoslowakei, Italien und dem SHS-Staat festgehalten, dass der Orden als geistlicher Orden nicht unter die Bestimmungen des Art 273 (Möglichkeit der Aufteilung des Eigentums von aufgelösten Organisationen unter die Nachfolgestaaten) falle; 1929 erfolgte die päpstliche Anerkennung des jetzt ausschließlich geistlichen Ordenscharakters. Vgl BERNHARD DEMEL, Klein Norbert, in: ÖBL III, 1965 (ND 1993) 384. 18
DOZA, Karton 134, Mappe „čs Gesandtschaft – Bodenreform“, Papierumschlag „Zwangsverwaltung“, Brief Peyers vom 22. 3. 1922. 19
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Deutschen Ordens.20 Engliš war kein No-name-Hinterbänkler, sondern ein bedeutender Wissenschaftler und ein wichtiges Mitglied der politischen Klasse.21 Er stützte sich auf ein ausführliches Rechtsgutachten von Miloslav Stieber,22 der zu dem Schluss gekommen war, dass die ČSR den Besitz des Deutschen Ordens jedenfalls sofort und zur Gänze einziehen könne. Engliš verweist auf ein HfD von 1840, nach welchem nur ein Habsburger zum Hochmeister gewählt werden könne. Das Ordensvermögen galt demnach als Lehen vom Hause Österreich. Bei Aufhebung des Lehensbandes 1867 sei nur der Deutsche Ritterorden davon ausgenommen worden (!).23 Diese Gesetze seien nach wie vor in Kraft, da die ČSR den gesamten Rechtsbestand des alten Österreich übernommen habe. Der Hochmeister habe nach dem Kriege unter Missachtung dieser Gesetze (!) Priester in das Ritter-Kapitel aufgenommen und ihnen das Stimmrecht verliehen; dieses so veränderte Kapitel habe am 3. Oktober 1922 in Basel eine wesentliche Änderung der Statuten beschlossen, in Richtung eines rein geistlichen Ordens. Diese Änderungen sollten sofort durchgeführt werden, wenn einer der Nachfolgestaaten das OrdensVermögen beschlagnahmen wolle. Außerdem dränge das geistliche Element darauf, dass der Hochmeister resigniere. Der Interpellant bezweifelt, dass es möglich sei, ein staatliches Gesetz (das HfD von 1840!) einfach durch einen Kapitelbeschluss zu ändern. – Ferner gestatte die Zwangsverwaltung die
Eine Übersetzung ins Deutsche in DOZA, Karton 134, Mappe „čs Gesandtschaft – Bodenreform“. 20
Karel Engliš (1880–1961) stammte aus Hrabin (Hrabyň) im ehemaligen Bezirk Troppau (also aus jener Gegend, in welcher der Orden seine Besitzungen hatte), studierte in München und Prag (1903 Dr. iur.), war dann Beamter des Statistischen Landesamtes in Prag, zeitweilig auch im Wiener Handelsministerium. Er habilitierte sich ziemlich jung und wurde 1911 Professor für Nationalökonomie an der tschechischen Technik in Brünn (Brno), ab 1919 an der neuen Masaryk-Universität in Brünn und deren erster Rektor. Vor 1918 mährischer Landtagsabgeordneter, war er 1918 bis 1925 Abgeordneter der Nationaldemokratischen Partei im Prager Parlament, mehrfach tschechoslowakischer Finanzminister (1920 bis März 1921, Dezember 1925 bis September 1928, Februar 1929 bis April 1931), von 1934 an Gouverneur der tschechoslowakischen Nationalbank. 21
22
MILOSLAV STIEBER, Němectí rytíři dobré zdání (Praha 1921).
Tatsächlich galt der Deutsche Orden bis 1918 als „selbständiges geistlich-ritterliches Institut unter dem Band eines unmittelbaren kaiserlichen Lehens“, vgl DEMEL, Der Deutsche Orden im Spiegel seiner Besitzungen 418. 23
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Überweisung von 25.000,– tschechischen Kronen monatlich nach Wien, zur Erhaltung der dortigen Beamtenschaft. Das sei freilich ganz unnötig, denn der Orden besitze in Wien das bekannte Palais am Parkring, das Deutsche Haus in der Singerstraße und drei Zinshäuser am Rennweg. – Und nun kommt es ganz dick: Die čechoslovakische Republik habe das unbestrittene Recht, das ganze Vermögen des Deutschen Ritterordens sofort und ohne Entschädigung zu beschlagnahmen und als Staatseigentum zu erklären, weil das Oberlehenseigentum (Dominium directum) dieses Besitzes in der Hand des österreichischen Kaisers gelegen sei, das Nutzungseigentum (Dominium utile) in der Hand des ehemaligen Erzherzogs Eugen. Beide seien Habsburger, und deren Besitz sei nach dem Friedensvertrag von St. Germain ohne Ersatz zu Gunsten der čechoslovakischen Republik verfallen. Außerdem sei der Ordensbesitz als erledigtes Lehen mangels eines Lehensherrn ebenfalls an die Republik – als Rechtsnachfolger des Lehensherrn – gefallen. Und nicht zuletzt beruhe die ganze Einrichtung auf dem Adelsrechte, und da der Adel aufgehoben sei, sei damit auch der Orden erledigt. Außerdem sei die von der Staatsverwaltung verhängte Zwangsverwaltung für den Staat keineswegs von Vorteil. Also wurde der Minister interpelliert, ob er das alles denn nicht wisse. – Um den Ackerbauminister Šramek, einen Priester, der die katholische Agrarpartei leitete,24 mit Gegenargumenten zu versehen, reiste Dr. Schindler nach Prag, wo P. Robert (Schälzky) jene dem Minister persönlich überreichte. Diese Argumente gingen, wie stets in diesen Jahren, in die Richtung, im Orden sei das ritterliche Element nur mehr ganz unbedeutend, die seelsorgliche und insbesondere caritative Arbeit stehe im Vordergrund usw (diese Argumentationslinie wird uns noch mehrfach begegnen).25 Im April 1923 wurde die Zwangsverwaltung vom Ackerbauministerium dem Bodenamt übergeben, im Juli 1924 jedoch aufgehoben und durch die Einführung einer „dauernden Aufsicht“ ersetzt. Nun konnte der Orden immerhin
Über Šramek vgl Biographisches Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder IV/3 (München/Wien 2008) 211 f. 24
DOZA, Karton 134, Mappe „čs Gesandtschaft – Bodenreform“, Brief Schindlers an P. Prior vom 13. 4. 1923, hier auch die im nächsten Absatz (Anm 24) berührte Übergabe der Zwangsverwaltung an das Staatliche Bodenamt (17. 4. 1923) angesprochen. 25
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die Wirtschaft wieder selber führen. Aber die Bodenreform sollte erst so richtig anlaufen.26 Inzwischen war der vom Abgeordneten Prof. Engliš, der offenbar ausgezeichnet informiert war, angesprochene Wechsel an der Ordensspitze tatsächlich vor sich gegangen. Nach der Resignation des letzten habsburgischen Hochmeisters, des Erzherzogs Eugen, wurde der Brünner Bischof P. Norbert Klein zum Hochmeister gewählt (30. April 1923), der am 27. September 1923 in Freudenthal inthronisiert wurde.27 Aber auch durch diesen Wechsel an der Spitze waren die Bedrohungen noch nicht vorüber. 1925 braute sich wieder etwas zusammen. In Wien intervenierte man im Bundeskanzleramt, das damals auch die auswärtigen Geschäfte führte. Am 9. Juli 1925 antwortete der Gesandte Wildner:28 Es seien Schritte des österreichischen Gesandten in Prag – Ferdinand Marek29 – unternommen worden. Marek sei bei Beneš gewesen, der ihm zugesagt habe, die Angelegenheit an kompetenter Stelle studieren zu lassen. Er „präzesierte (sic) aber sofort seinen prinzipiellen Standpunkt, der dahin geht, daß die Durchführung der innerstaatlichen Bodenreform durch außenpolitische Einflüsse oder Rücksichten im Prinzip nicht gefährdet werden dürfe. Es sei also keine Aussicht vorhanden, daß die Güter des Deutschen Ritterordens in der Tschechoslowakei von der Bodenreform verschont bleiben. Die Ausländer könnten in dieser Hinsicht nicht günstiger behandelt werden als die Inländer. Anders liege die Frage etwaiger Konzessionen, namentlich in finanzieller Hinsicht, über die man werde gewiß reden können. – Auch eine in derselben Sache DOZA, Karton 134, Mappe „čs Gesandtschaft – Bodenreform“, Zl 61.403/24-II/6. Angelegenheit Großgrundbesitz des Deutschen Ritterordens in Olmütz (Prag 18. 7. 1924). Hier wird übrigens die Einführung der Zwangsverwaltung mit dem Gesetz vom 24. 7. 1917, RGBl 307, also dem kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz, argumentiert! 26
27
DEMEL, Der Deutsche Orden in der ČSR 310.
Nicht klar, ob es sich um Clemens (1892–1965) oder um Heinrich Wildner (1879– 1957) handelt, beide standen im diplomatischen Dienst, der letztere war seit 1922 Leiter der Wirtschaftspolitischen Abteilung des BKA - Auswärtiges Amt. Eher wohl dieser.
28
Ferdinand Marek (1881–1947?) war während der gesamten Zeit der Ersten Republik österreichischer Vertreter in Prag, von 1922 bis 1938 als Gesandter, von 1938 bis 1945 lebte er in Prag (ohne Pension), nahm im Frühjahr 1945 sofort wieder die Interessen Österreichs wahr, wurde aber schon am 23. 5. 1945 von den Sowjets verschleppt und verstarb in sowjetischer Gefangenschaft. 29
Marginalien zur tschechoslowakischen Bodenreform
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geführte Unterredung unseres Gesandten mit dem Präsidenten des staatlichen Bodenamtes Dr. Viškovsky zeitigte kein anderes Resultat. Herr Dr. Viškovsky bemerkte, daß nur hinsichtlich des Waldbesitzes des Deutschen Ritterordens eine Intervention möglicherweise erfolgreich sein könnte, weil das staatliche Bodenamt an den Wäldern nicht interessiert sei. Allerdings bestehe in dieser Hinsicht ein Interesse des Ackerbauministeriums, und da wäre zur gegebenen Zeit ein Einschreiten vielleicht opportun. Was den Landwirtschaftsbesitz anbelangt, so könne er kaum Konzessionen machen. Der Artikel 273 des Staatsvertrages von St. Germain könne nicht so ausgelegt werden, daß der Landbesitz des Deutschen Ritterordens vielleicht von der allgemeinen innerstaatlichen Bodenreform auszunehmen wäre(...)“30 Am 1. September 1925 wurde das noch unterstrichen. Zwar sei die tschechoslowakische Regierung nicht dagegen, dass Erträgnisse der in der Tschechoslowakei gelegenen Güter des Ordens auch zur Bestreitung von Auslagen für die in den anderen Nachfolgestaaten gelegenen Einrichtungen verwendet werden, sofern der Orden seine finanziellen Verpflichtungen dem tschechoslowakischen Staat gegenüber erfülle. Aber diese Besitzungen seien allen Gesetzen dieses Landes, daher auch der Bodenreform, unterworfen.31 1927 wandte sich der Archivar des Ordens in Wien, Dr. Schindler, in einem sehr interessanten Schreiben an Bundeskanzler Ignaz Seipel. Schindler erinnert an das Patent von 1840, nach welchem die österreichische Regierung auch „beständiger Schutz- und Schirmherr“ des Ordens sei. Nunmehr gehe man, im „Vollzuge des unseligen č.slov.Bodenreform-Gesetzes vom 16. April 1919“, daran, den landwirtschaftlichen Boden des Ordens zu beschlagnahmen. Das sei eine Vorwegnahme der Durchführung der Bestimmungen des Artikels 273 des Staatsvertrags von St. Germain, wonach die Verteilung des Eigentums von Vereinigungen, das durch die neuen Grenzen zerteilt werde, durch Sonderabkommen zu regeln sei, was aber bisher nicht geschehen sei.32 Diese Intervention ist ein bisschen rätselhaft, denn tatsächlich hatten sich Österreich und die Tschechoslowakei ja schon im Dezember 1925 darauf geeinigt (der Vertrag trat im Juni 1926 in Kraft), dass der Deutsche Orden ein DOZA, Karton 134, Mappe „čs Gesandtschaft – Bodenreform“, Bundeskanzleramt, Auswärtige Angelegenheiten Zl 97.985-234 vom 7. 7. 1925. Betreff: Deutscher Ritterorden, Güterkonfiskation in der Tschechoslowakei. 30
DOZA, Mappe „čs Gesandtschaft – Bodenreform“, Bundeskanzleramt, Auswärtige Angelegenheiten, Zl 106.030/14 Li, gleicher Betreff wie Anm 28. 31
DOZA, Mappe „čs Gesandtschaft – Bodenreform“, handschriftliches Konzept Schindlers, adressiert an Seine Exzellenz, Herrn Dr. Ignaz Seipel, Bundeskanzler. 32
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„geistlicher Orden“ sei, dessen Vermögen einer Regelung nach Art 73 St. Germain nicht unterliege.33 Am 1. März 1928 schreibt jemand (wohl Schälzky) auf dem Briefpapier des Klubs der Abgeordneten und Senatoren der Deutschen christlichsozialen Volkspartei an den Hochmeister (Bischof Norbert Klein), er habe eine Vorsprache bei Minister Šramek gehabt, mit dem Zweck, „vor der drohenden Aufkündigung“ über die Erhaltung des Ordensbesitzes zu sprechen. Der Minister habe ihm aber mitgeteilt, „... dass er das Schicksal der geistlichen Waldbesitze sich vorbehalten habe und derzeit die Regelung des Olmützer Waldbesitzes vorhabe. Er gedenkt aus politischen Gründen nach Prag, Olmütz und so weiter erledigen zu lassen, so dass der Deutsche Orden jetzt überhaupt noch nicht darankommt.“ Auf die Einwendung, dass die Aufforderung zur terminierten Übergabe des Waldbesitzes zufolge eingelangter Information bereits auf dem Wege sein soll, erwiderte er, dass diese amtliche Zuschrift durch seine Hände gehen muss und er einen solchen Antrag jetzt sistieren würde. Als „äußerste Möglichkeit“ wurde vom Schreiber dieser Zeilen die Abtretung der Waldkomplexe in Busau und Hrabin in Erwägung gezogen.34 Dem Minister wurde ein Aide mémoire überreicht, in dem sich bereits wörtlich viele jener Formulierungen finden, die 1929 Eingang in eine hoch interessante gedruckte Broschüre gefunden haben.
Der zitierte Artikel 273 des Staatsvertrages von St. Germain sah folgendes vor: Die Verteilung von Gütern, die Vereinigungen oder öffentlich-rechtlichen juristischen Personen gehören, welche ihre Tätigkeit auf Gebieten, die durch den gegenwärtigen Vertrag zerschnitten, werden, ausgeübt haben, wird durch Sonderabkommen geregelt. – Vgl DEMEL, Klein 384. (Ferner DOZA, Mappe „čs Gesandtschaft – Bodenreform“, Durchschlag des Art XVIII des Abkommens vom 7. 12. 1925 zwischen Österreich und der ČSR, nach Ratifikation in Kraft getreten am 6. 6. 1926. - Bleistiftnotizen auf dem Blatt halten fest, dass der Durchschlag vom Bundeskanzleramt am 28. 12. 1925 übermittelt wurde, ebenso das Inkrafttreten.) 33
Die wurden später tatsächlich geopfert! Vgl weiter unten! Das Aide mémoire wahrscheinlich weitgehend identisch mit jenem Konzept, „das im Auftrag des Hochmeisters für Minister Schramek wegen der Wälderenteignung“ am 3. 5. 1927 erstellt wurde. DOZA, Karton 134, Mappe „čs Gesandtschaft – Bodenreform“. 34
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IV. Ein Buch, ein Besuch und seine Folgen Das Buch trägt den Titel: „Kurze Übersicht über die Tätigkeit des Deutschordens in der čechoslowakischen Republik in den letzten Jahren.“ Als Erscheinungsort wird Freudenthal genannt, als Erscheinungsjahr 1929.35 Dieses Buch listet penibel alle Tätigkeitsfelder des Deutschen Ordens auf, die er in der damaligen Tschechoslowakei wahrnahm, samt den damit verbundenen Kosten. „Die Ordenssatzungen“ – heißt es einleitend – „definieren den Deutschorden als eine auf Mildtätigkeit und Nächstenliebe gegründete geistliche Gesellschaft.“ Gemäß dem Ideale christlicher Humanität liege der Zweck des Ordens darin, „allen ohne Unterschied zu dienen.“ Und: “... in seinen Reihen findet als Ordenspriester und Ordensschwester jeder Platz, der sich zu diesem erhabenen Ziele bekennt.“ Mit Rücksicht darauf sei er auch durch das gegenseitige Übereinkommen der ČSR und Österreich vom 7. Dezember 1925 als geistlicher Orden anerkannt (daher auch die Habsburg-Klausel nicht anwendbar!).36 Der Orden besitze nach Durchführung der Bodenreform 23.091 ha beschlagnahmten Bodens. Der ganze Ertrag dieses Bodens diene der Erhaltung der kulturhistorischen Denkmäler, der Seelsorge und größtenteils der caritativen und kulturellen Tätigkeit. Die Erhaltung der vier Schlösser Busau und Eulenberg in Mähren sowie Freudenthal und Ober-Langendorf in Schlesien erfordere KČ 627.000,– pro Jahr. Für die Krankenhäuser in Troppau, Freudenthal, Würbenthal, Unter-Langendorf und Braunseifen sowie für die Armenhäuser in Freudenthal und Busau seien pro Jahr im Schnitt etwas mehr als KČ 2,213.700,– erforderlich, wobei die Schwestern und Wärterinnen sowieso Schwestern des Deutschen Ordens waren. In Karlsbrunn unterhält der Orden ein Bad, das jährlich einen Verlust von KČ 300.000,– einträgt.
35
DOZA, Varia 437.
36
DEMEL, Der Deutsche Orden in der ČSR 311.
62
ERNST BRUCKMÜLLER
Tabelle 1: Auslagen für caritative Anstalten 1924–1928 und im Durchschnitt dieser Jahre Anstalt
1924–1928 in KČ
Jahresdurchschnitt in KČ
Krankenhaus in Braunseifen
588.808,71
117.761,74
Krankenhaus in Unter-Langendorf
589.900,02
117.980,00
Krankenhaus in Freudenthal
2,350.670,24
470.134,05
Krankenhaus in Würbenthal
1,050.758,58
210.151,72
Krankenhaus in Troppau
4,360.791,90
872.158,38
682.642,39
136.528,48
55.596,17
11.119,23
1,389.429,06
277.885,81
11,068.597,07
2,513.719,41
Armenhaus in Freudenthal Armenhaus in Busau Geld- und Naturalunterstützungen Zusammen
Die Kindergärten in Würbenthal, Engelsberg und Ober-Langendorf, die Mädchenvolksschulen in Troppau, Freudenthal, Würbenthal, Engelsberg, Braunseifen und Unter-Langendorf, die Mädchen-Bürgerschulen in Troppau, Freudenthal, Würbenthal sowie die Haushaltungsschule in Ober-Langendorf verursachen Kosten von KČ 1,085.869,–. Tabelle 2: Auslagen für kulturelle Fürsorge 1924–1928 Anstalt
1924–1928 in KČ
Jahresdurchschnitt in KČ
Mädchenschule in Braunseifen
341.627,52
68.325,50
Mädchenschule in Unter-Langendorf
258.381,68
51.676,34
1,365.729,03
273.145,61
Mädchenschule in Engelsberg
464.749,65
92.949,93
Mädchenschule in Würbenthal
738.683,39
149.736,68
1,873.539,16
374.707,84
Haushaltungsschule in Ober-Langendorf
180.519,07
36.103,81
3 Kindergärten in Unterlangendorf, Engelsberg und Würbenthal
196.116,66
39.223,32
5,249.345,16
1,085.869,03
Mädchenschule in Freudenthal
Krankenhaus in Troppau
Zusammen
63
Marginalien zur tschechoslowakischen Bodenreform
Ferner betreute der Orden die Seelsorge in acht inkorporierten Pfarren, dazu kam die materielle Belastung durch 11 weitere Patronatspfarren. 1928 betrug der Personalstand 32 Geistliche, 6 Kleriker und 1 Novizen. Ihnen standen 231 Schwestern, acht Novizinnen und 16 Kandidatinnen gegenüber. Die Erhaltung dieses geistlichen Personals betrug pro Jahr im Durchschnitt KČ 937.883,–. Die Summe dieser Auslagen beträgt daher pro Jahr KČ 5,164.971,58,–. Tabelle 3: Auslagen für die Seelsorge Anstalt
1924–1928 in KČ
Jahresdurchschnitt in KČ
Erhaltungskosten für acht inkorporierte und elf Patronatspfarren
1,483.926,49
296.785,30
Gehalt der Geistlichkeit
1,453.275,17
290.655,03
Priesterkonvent in Troppau
1,752.214,03
350.442,81
Zusammen
4,689.415.69
973.883,14
Dazu kamen noch Pensionen, Invalidenunterstützungen für Ordensbeamte und alle Arbeiter, die einmal dort gearbeitet haben, in Summe noch einmal 1,6 Millionen KČ. „Mit diesen Ausgaben ist der Normalertrag des Gesamteigentums des Deutsch-Ordens in der ČSR regelmäßig verbraucht (...)“. So der lapidare Schluss des insgesamt gegenüber dem Bildteil nur relativ kurzen Textes. Tabelle 4: Gesamtauslagen für Erhaltung kulturhistorischer Denkmäler, karitative und kulturelle Anstalten sowie Seelsorge (in KČ) Kulturhistorische Denkmäler (drei Schlösser)
627.500,00
Caritative Einrichtungen incl Bäder
2,513.719,41
Kulturelle Anstalten (Schulen u Kindergärten)
1,085.869,03
Seelsorge Für gemeinnützige öff Zwecke insgesamt
937.883,14 5,164.971,58
Die Einrichtungen des Ordens kamen gut an. So war der Andrang zur Mädchenschule in Würbenthal so groß, dass eine Bürgerschule eingerichtet wer-
64
ERNST BRUCKMÜLLER
den musste. Mit 1. August 1919 übernahmen die Ordensschwestern auch die Krankenpflege in Mährisch-Neustadt, 1920 auch das Spital zu Hof in Nordmähren. 1930 weihte Hochmeister Norbert Klein den Erweiterungsbau des Spitals in Troppau (St. Elisabeth) ein.37 Dieses Buch galt einem besonderen Anlass, es sollte nämlich einem besonderen Gast überreicht werden, niemand geringerem als dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomas Garrigue Masaryk, der 1929 auf Schloss Busau (Busov) empfangen wurde.38 P. Norbert Klein, seit 1923 Hochmeister des Deutschen Ordens, begrüßte den Präsidenten, wobei er wiederum die Tätigkeit des Ordens in der Seelsorge, im Spitalsdienst, im Schuldienst und in der Erhaltung von Kulturgütern hervorhob. Wie es zu diesem Besuch Masaryks kam, ist nicht ganz geklärt. Der bedeutende Historiker des Ordens, P. Bernhard Demel, verweist einerseits auf den Hochmeister, P. Norbert Klein, der ja die Einladung ausgesprochen haben muss, aber auch auf P. Robert Schälzky.39 Wie auch immer: Jedenfalls kam es nach dem Besuch der Präsidenten im Jahre 1930 offensichtlich zu einer – auch in österreichischen Zeitungen kommentierten – Einigung zwischen dem Orden und der ČSR. So schrieben die „Freien Stimmen“ am 20. August 1930, dass seitens der Herrschaft Liechtenstein und des Deutschen Ritterordens „ein Großteil des Waldbesitzes von den beiden Herrschaften an das tschechoslowakische Bodenamt freiwillig(?) abgetreten (...)“ worden sei. Die Herrschaft Liechtenstein hätte dabei insgesamt 110.000 ha verloren, nur etwa 50.000 seien ihr geblieben; beim Deutschen Orden seien 9.000 von insgesamt 21.000 ha abgetreten worden. Eine Tschechisierung bislang deutscher Gebiete wurde befürchtet. Die „Wiener Neuesten Nachrichten“ vom 19. August 1930 berichteten nicht von der Größe, sondern vom Wert der abgetretenen Besitzungen – bei der Herrschaft Liechtenstein 1,5 Milliarden KČ, beim Deutschen Orden etwa 80 Millionen KČ. Die Entschädigung betrage nur kleine Teile dieser Summen. Gleichlautend die „Grazer Tagespost“".40 Die „Neue Freie Presse“ vom 19. August 1930 beziffert die vom Orden vorgenommene Abtretung auf 12.000 ha, so dass ihm von vorher etwa 21.000 ha nur 9.000 geblieben wären. Darunter befinde sich auch der Forst von Busau (die Presse 37
DEMEL, Der Deutsche Orden in der ČSR 315 f.
38
DEMEL, Der Deutsche Orden in der ČSR 304–306.
39
DEMEL, Der deutsche Orden im Spiegel seiner Besitzungen 433.
DOZA, Zeitungsausschnitte in: Karton 134, Mappe „čs Gesandtschaft – Bodenreform“. 40
Marginalien zur tschechoslowakischen Bodenreform
65
schreibt „Gusau“), etwa 2.500 ha, das Schloss müsse der Orden jedoch erhalten und öffentlich besichtigen lassen. Die Herrschaft Stettin bei Troppau werde zur Gänze abgetreten. Faktisch hat diese Einigung einen guten Teil des Ordensbesitzes gerettet. Schälzky hat übrigens auch einen Nachruf auf Masaryk geschrieben, was mit jenem Besuch und mit der weitgehenden Lösung der Bodenreform-Frage zusammenhängen dürfte. Auch der Nachfolger Masaryks, Präsident Benesch, wurde auf Busau eingeladen. Er kam 1937, über Einladung des Hochmeisters Robert Schälzky.41
V. Die tatsächlichen Veränderungen durch die Bodenreform Ein Verzeichnis aus dem Jahre 1928 listet die Veränderungen zwischen 1919 und 1927 auf. Danach betrug der Besitz des Deutschen Ordens in der Tschechoslowakei (die Güter Busau, Langendorf, Freudenthal und Troppau-Stettin samt dem Besitz der Pfarren und Anstalten) zum 01. 01. 1919
24.555,7216 ha,
zum 31. 12. 1927
23.121,3769 ha.
Das klingt nicht dramatisch. Anders, wenn man die „Ökonomie“, die landwirtschaftlichen Betriebe, also die Meierhöfe, betrachtet. Hier gab es sehr beträchtliche Verluste: Tabelle 5: Ökonomieverwaltungen 1. 1. 1919
Ökonomieverwaltungen 31. 12. 1927
Busau
309,42 ha
Rest Busau
26,09 ha
Aichen
271,56 ha
Langendorf
343,55 ha
Rest Langendorf
46,09 ha
Freudenthal
567,16 ha
Freudenthal
558,58 ha
Troppau
228,37 ha
Klüppelhof-Troppau
206,87 ha
Stettin
581,68 ha
Rest Hrabin
Summe 1919
41
2.301,74 ha
Summe 1927
DEMEL, Der Deutsche Orden in der ČSR 307.
5,07 ha 843,51 ha
66
ERNST BRUCKMÜLLER
Insgesamt wurden 1.343,3764 ha abgetreten, die Entschädigung dafür betrug KČ 4,090.097,93,–. In dieser Aufstellung nicht enthalten waren freiwillige Grundverkäufe und Abtauschungen im Ausmaß von etwa 20 ha. Man sieht, es kam der tschechoslowakischen Bodenreform in erster Linie auf das Ackerland an, weniger auf den Forstbesitz. Der größte Teil der Verluste (1.400 ha) entfielen auf Zwangsabtretungen an das Staatsbodenamt, der kleine Rest (32 ha) waren Zwangsverkäufe anderer Art. Noch 1937 standen zahlreiche Ordensbesitzungen grundsätzlich unter Beschlagnahme, und zwar der größte Teil der in diesem Jahre von der Zentralkanzlei in Freudenthal verwalteten 17.460 ha.42 Stellt man dieser Zahl die noch etwas mehr als 23.000 ha gegenüber, die 1929 verzeichnet wurden, dann sind in diesen Jahren etwa 5.500 ha verloren gegangen. Zwar standen die übrig gebliebenen Besitzungen theoretisch weiterhin unter Beschlagnahme, doch hat man das offenbar nur mehr als theoretische Gefährdung befunden.
Busau
2.506 (1933)
weiterhin beschlagnahmt
freigegeben
privat
Restgüter (neuer Mittelgrundbesitz)
parzelliert (Kleinbauern)
verstaatlicht
unter Bodenreform
Tabelle 6: Der Stand der Ordensbesitzungen in ha 193743
28,58
Langendorf- 7.397,77 Eulenberg
377,28
506,38
364,50 1.129,60
Stettin u 2.062,58 Kommende
135,30
485,66
137,98
81,30 4.938,58 3,38 1.300,65
Troppau Freudenthal 12.273,82 1.165,21
47,40 11.108,61 (zugekauft)
42
DOZA, HM 549, Deutsch-Orden 1937. (Großgrundbesitz-Schematismus).
43
DOZA, HM 549, Deutsch-Orden 1937.
Marginalien zur tschechoslowakischen Bodenreform
67
In Freudenthal gab es auch je eine Brauerei, Mälzerei und Brennerei in eigener Regie, vier Sägewerke, eine Holzindustrie (Fassdauben und Binderei) in Ludwigsthal, einen Erzbergbau in Vogelseifen, das Bad in Karlsbrunn mit Kurhaus, Hotel- und Restaurationsbetrieb, alles in eigener Regie. Allein in Freudenthal rechnete man mit einem forstlichen Jahresetat von 43.000 m3 (Fichte, Tanne, Kiefer, Buche, Lärche). Damit blieb die Bodenreform auf den Gütern des Meistertums des Deutschen Ordens im Allgemeinen etwa im Rahmen dessen, was auch auf gesamtstaatlicher Ebene ablief. Insgesamt waren 4 Millionen ha (29% des gesamten Staatsgebietes) unter die Bodenreform gefallen, davon 1,3 Millionen Ackerland. Tatsächlich umverteilt wurden etwa 1,8 Millionen ha. 226.306 ha davon entfielen auf die sogenannten „Restgüter“ mit durchschnittlich 100 ha Besitzgröße.44 Eine Stärkung des Kleinst- und Kleinbauerntums wurde wohl kaum erreicht. Sieht man von den Ökonomien ab, lagen die Verluste des Ordens im Forstbereich im Gesamtvergleich wohl sogar etwas unter dem Durchschnitt. Die ertragreichen Agrarökonomien waren freilich auf weniger als ein Drittel reduziert worden. Die Geschichte dieser Bodenreform endet mit der ersten Tschechoslowakischen Republik. Dann kam das Münchener Abkommen vom 29. September 1938. Die Ordensbesitzungen lagen plötzlich im Deutschen Reich. Mit Verfügung vom 27. Februar 1939 wurde der Deutsche Orden in diesen Gebieten aufgelöst, die Schwestern wurden aus dem Schuldienst entlassen, durften aber in der Krankenpflege weiterhin tätig bleiben (und dafür sogar ihre regulare Lebensweise weiter führen), die Ordenspriester blieben in der Pfarrseelsorge. Das Vermögen wurde requiriert.45
TEICHOVÁ, Kleinstaaten 46. – Die Idee dahinter war die Schaffung eines neuen, rein tschechisch-nationalen „Adels“ aus solchen „Rittergutsbesitzern“. Tatsächlich waren diese Güter zu groß zur Selbstbewirtschaftung, aber meist zu klein, um eine eigene Gutsverwaltung zu tragen. 44
45
DEMEL, Der Deutsche Orden in der ČSR 323–334.
Hans Kelsen an der Exportakademie in Wien (1908–1918)1 JÜRGEN BUSCH, Wien
I. Einleitung Hans Kelsens Zeit an der Exportakademie – die Ursprungs- und Vorläuferinstitution der nachmaligen Hochschule für Welthandel und heutigen Wirtschaftsuniversität Wien –, die am 1. Juli 1908 beginnt2 und mit seiner Anstellung als Extraordinarius an der Universität Wien am 1. Oktober 1918 endet,3 bildet einen oft übersehenen (institutionellen) Grundstein der Anfangsjahre der Reinen Rechtslehre: Als es zur Zeit seines Studienabschlusses 1906 für einen jüdischen – heute würde man sagen – „Nachwuchswissenschafter“ fast unmöglich war, inmitten des konservativen katholischen bis deutschnationaIm Jahr 2000 bin ich als Letzter einer langen Reihe von Assistentinnen und Assistenten von Professor Werner Ogris am Institut für Rechtsgeschichte der Universität Wien eingetreten. Unter der Leitung des Jubilars dieser Festschrift fand ich dort ein vielgestaltiges, kollegiales Umfeld vor, das ich stets als sehr motivierend und lehrreich für den Beginn meiner wissenschaftlichen Tätigkeit empfand. Der gegenständliche, Professor Werner Ogris in Dankbarkeit für die Erfahrungen dieser „Lehrjahre“ an der Universität und an der Akademie der Wissenschaften gewidmete, Beitrag greift einen Aspekt eines Themas auf, dem er sich einerseits schon sehr lange widmet – Juristenbiographien als Quelle der Rechtsgeschichte –, andererseits in Bezug auf Hans Kelsen aber zu seinen jüngsten und neuen (Akademie-)Aktivitäten zählt: die Biographie Kelsens und ihr Nutzen für ein besseres Verständnis seines Werkes und dessen Entstehungskontexts. Dementsprechend enthält dieser Beitrag Ergebnisse des von Thomas Olechowski geleiteten FWF-Projekts „Biographische Untersuchungen zu Hans Kelsen“ (P19287-G14) am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien, das in Kooperation mit der bis 2010 unter der Leitung von Prof. Ogris stehenden Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der ÖAW durchgeführt wird. 1
Hans Kelsen-Institut Wien, Ordner Persönliches, Diensttabellen (1911, 1913 u 1914/15) Hans Kelsen des Handelsmuseums bzw der Exportakademie Wien.
2
ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Fasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 27211/1918.
3
70
JÜRGEN BUSCH
len – und daraus resultierend schwelenden und auch offen antisemitischen – Milieus4 der Wiener Juristenfakultät das Auskommen zu finden, waren es in den entscheidenden zehn Jahren seines wissenschaftlichen Durchbruchs zwischen Habilitation und Professur an der Universität Wien das Handelsmuseum und die angeschlossene Exportakademie als Dienstgeber, die ihm eine Existenz und ein Arbeiten (überwiegend) als Wissenschafter ermöglicht und so eine Basis für sein späteres Reüssieren gelegt haben. Die letzten Jahre dieser Periode in Kelsens Berufsleben an der Exportakademie waren freilich vom Ersten Weltkrieg und der damit einhergehenden Kriegsdienstleitung im Kriegsministerium und seinen dortigen Tätigkeiten überlagert; diese waren erst jüngst Gegenstand einer Veröffentlichung des Autors dieses Beitrags und kann hier außer Betracht bleiben.5 Er setzt daher mit der „Vorgeschichte“ von Kelsens wissenschaftlicher Laufbahn und der Anstellung am Handelsmuseum nach der Promotion ein, fokussiert dann auf die Jahre 1908–14 und bezieht verbleibende (Lehr-)Aktivitäten an der Exportakademie bis 1918 mit ein. Entsprechend werden im Folgenden insbesondere Kelsens berufliches Umfeld von Studienabschluss bis zum Ausbruch des Weltkrieges, seine Lehrund Forschungstätigkeit in diesem Zeitraum (die Lehre an der Exportakademie betreffend auch bis 1918) und schließlich ein bislang unbekanntes Gutachten, das Kelsen als akademischer Funktionär an der Exportakademie über deren rechtliche Stellung als Hochschule verfasst hat und das im Anhang erstmals veröffentlicht wird, behandelt.
Vgl dazu die Ergebnisse des genannten FWF-Projekts [http://www.hanskelsen.eu (18. 06. 2010)] und des ebenfalls von Thomas Olechowski geleiteten FWF-Projektes „Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918–1938“ [http://www.univie.ac.at/restawi (18. 06. 2010)]. 4
Vgl JÜRGEN BUSCH, Hans Kelsen im Ersten Weltkrieg. Achsenzeit einer Weltkarriere, in ROBERT WALTER / WERNER OGRIS / THOMAS OLECHOWSKI (Hrsg), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 32, Wien 2009) 57–80, dort auch zur Bedeutung seiner Tätigkeit im Kriegsministerium für den Sprung in eine Professur trotz der zuvor angesprochenen generellen Widerstände gegen jüdische Wissenschafter; grundlegend und kritisch dazu auch: GERHARD OBERKOFLER / EDUARD RABOFSKY, Hans Kelsen im Kriegseinsatz der k.u.k. Wehrmacht (Frankfurt aM ua 1988). 5
Hans Kelsen an der Exportakademie in Wien
71
II. Kelsens akademische Laufbahn bis zum Eintritt in das Handelsmuseum 1908 Am 18. Mai 19066 promoviert Kelsen zum Doktor der Rechte (damals noch J.Dr. abgekürzt); aber schon davor hatte er nach eigenen Angaben mit den (Vor-)Arbeiten zu seiner späteren Habilitationsschrift begonnen. Der Entschluss Kelsens, sich im wissenschaftlichen Arbeiten zu probieren, muss um 1903 – im Zusammenhang mit dem tragischen Tod seines Jugendfreundes Otto Weininger gereift sein: „Weininger’s Persoenlichkeit und der posthume Erfolg seines Werkes haben meinen Entschluss wissenschaftlich zu arbeiten wesentlich beeinflusst.“7 In einer Vorlesung zur Geschichte der Rechtsphilosophie von Leo Strisower8 – die einzige Lehrveranstaltung, die er regelmäßig besucht habe – sei er dann mit Dantes staatsphilosophischer Schrift „De Monarchia“ bekannt geworden. Strisower habe ihm abgeraten darüber zu arbeiten, da die Dante-Literatur bereits Bibliotheken fülle und Kelsen zunächst sein Studium abschließen solle. Um seine Lust am Rechtsstudium durch bloßes Prüfungslernen nicht zu verlieren, machte sich Kelsen dennoch an die Arbeit. – Soweit seine eigene Darstellung.9 Ein Vergleich dieser Angaben mit den Quellen ergibt: Kelsen war offiziell nie für eine RechtsphilosophieVorlesung von Strisower eingeschrieben sondern im Sommersemester (SoSe) 1903 in Edmund Bernatziks „Geschichte der Rechtsphilosophie“; bei Strisower inskribierte er im SoSe 1904 „Völkerrecht“, im Wintersemester (WS) 1904/05 Internationales Privatrecht und im SoSe 1905 die dazugehörigen „Übungen aus dem int. Privatrecht“. Außerfakultär – wohl schon durch die Arbeit am Dante-Buch motiviert – trug er sich im WS 1904 auch beim romanischen Philologen von Ettmayer für dessen Vorlesung „Dante und seine Zeit“ ein.10 Tatsächlich hat auch Strisower im WS 1903/04 eine „Geschichte der Rechtsphilosophie“ angeboten,11 die Kelsen demnach inoffiziell – etwa
Vgl Archiv der Universität Wien (im Folgenden AUW), Jur. Rigorosenprotokoll, Mikrofilm Sig J13.16 (Eintrag Hans Kelsen, Nr 762 am 18. 5. 1906).
6
Hans Kelsen, Autobiographie (1947), in: MATTHIAS JESTAEDT (Hrsg), Hans Kelsen Werke (im Folgenden HKW) 1 (Tübingen 2007) 29–91, hier 35. 7
Zu diesem neuerdings die Erstinformationen in THOMAS OLECHOWSKI, Strisower Leo, in ÖBL (62. Lieferung 2010, im Druck).
8
9
KELSEN, Autobiographie 35 f.
AUW, Nationale Hans Kelsen für die betreffenden Semester (Juristen, jeweils Band enthaltend „K“). 10
11
Vgl das Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien für das WS 1903/04.
72
JÜRGEN BUSCH
um Kolleggeld zu sparen – und ohne Belegung im Inskriptionsblatt für dieses Semester besucht haben dürfte. Aus dem Nachlass von Bernatzik und den dort enthaltenen Vorlesungsmanuskripten wissen wir, dass aber auch er Dante in seinen Lehrveranstaltungen behandelt hat.12 Kelsens Dante-Buch13 ist dann noch während seiner Studienzeit erschienen und geht in Grundzügen bereits auf das Verhältnis von Landesrecht und überstaatlichem Recht ein, das zu einem Grundthema bei der Entwicklung der Reinen Rechtslehre14 und insgesamt im Lebenswerk werden sollte. Während seiner Arbeit an Dante, also zwischen dem WS 1903/04 und dem Erscheinen 1905, habe er sich für Probleme der Rechtstheorie zu interessieren begonnen.15 Darauf dürfte sich dann auch sein folgender Passus in der Autobiographie beziehen: „Bald nach Ablegung der ersten (rechtshistorischen) Staatspruefung16 begann ich eine breit angelegte Arbeit, in der ich die wichtigsten Probleme der Staatsrechtslehre einer kritischen Untersuchung zu unterziehen beabsichtigte. Der Fundamentalbegriff einer wissenschaftlichen Rechtslehre schien mir der Begriff des Rechtssatzes zu sein – in Parallele zum Begriff des Kausalgesetzes als dem Fundamentalbegriff der Naturwissenschaft.“17 Wir können wohl davon ausgehen, dass er sich aber erst nach Beendigung des „Dante“ intensiv und systematisch mit diesen Fragen auseinandersetzte: ab etwa 1905 trug er nämlich durch juristische Nachhilfestunden zum Haushaltseinkommen der Familie bei und musste sich zu diesem Zeitpunkt zudem für die letzten Prüfungen vorbereiten.18 Im Bernatzik-Seminar,19 wo er verschiedene kleinere Arbeiten
Vgl Nachlass Edmund Bernatzik am Institut für Rechtsgeschichte der Universität Graz, etwa in Mappen 4 (Vorlesung Staatslehre III) und 21 (Soziologie-Vorlesung). 12
HANS KELSEN, Die Staatslehre des Dante Alighieri (Wien/Leipzig 1905); jetzt in HKW 1, 134–300.
13
So in HANS KELSEN, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer Reinen Rechtslehre (Tübingen 1920, 2. Aufl Tübingen 1928). 14
KELSEN, Autobiographie 36. Insbesondere Probleme des subjektiven Rechts; der juristischen Person und des Begriffs des Rechtssatzes; Kelsen konstatierte bei all dem einen Mangel an Exaktheit und systematischer Grundlegung in den gängigen Darstellungen, eine „heillose Konfusion“ der Fragestellung und „permanente Vermengung“ von positivem Recht selbst und Wertmaßstäben, die an dieses angelegt werden, sowie eine „Verwischung der Grenzen“ der Frage, wie sich die Subjekte verhalten sollen, und wie sie sich aber tatsächlich verhalten. 15
16
Am 13. 7. 1903.
17
KELSEN, Autobiographie 37 f.
18
Ebenda 38 f.
Hans Kelsen an der Exportakademie in Wien
73
vortrug und zunächst auf das Wohlwollen Bernatziks und anderer (angehender) Privatdozenten stieß, ist dann Kelsens Entschluss gereift, eine Habilitation zu versuchen.20 Und dabei griff er nun auf seine schon begonnenen, „breit angelegten“ Überlegungen über theoretische Probleme der Staatsrechtslehre zurück. Die Äußerungen seiner akademischen Lehrer, wie es um seine Aussichten auf eine Professur selbst nach erfolgter Habilitation stehen würde,21 mussten ihm früh alle diesbezüglichen Illusionen nehmen. So wendete er sich – wohl um dementsprechend abgesichert zu sein – parallel auch praktischen Berufsmöglichkeiten zu und nahm zunächst am 9. Juni 1906 sein Gerichtsjahr am Bezirksgericht Leopoldstadt auf. Am 27. Dezember 1906 wechselte er an das Landesgericht für Strafsachen Wien. Von 4. bis 16. Februar unterbrach er das Gerichtsjahr und setzte es am 17. d. M. für ein weiteres Monat wieder fort (bis 17. März 1907).22 Nach dem Tod seines Vaters und der damit verbundenen Einleitung der Liquidierung des Familienbetriebes23 ging Kelsen zum Zweck der konzentrierten und ausschließlichen Arbeit an seiner Habilitationsschrift für das WS 1907/08 nach Heidelberg, wo er auch die Seminare von zwei damals führenden Staatsrechtslehrern, Georg Jellinek und Gerhard Anschütz, besuchte.24 Zunächst bis 30. April
Laut Vorlesungsverzeichnissen der Universität Wien: „Staats- und verwaltungsrechtliches Seminar“, angekündigt in jedem Semester nach Kelsens erster Staatsprüfung; da Kelsen im SoSe 1903 bei Bernatzik erstmals eine Vorlesung hörte („Geschichte der Rechtsphilosophie“), dann im WS 1903/04 „Allgem. und österr. Staatsrecht“, im SoSe 1904 „Verwaltungslehre“ und sein „Staatsrechtl. Conversatorium“, im WS 1904/05 schließlich Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht und von diesen Lehrveranstaltungen allgemein „sehr beeindruckt“ war (vgl KELSEN, Autobiographie 37), ist anzunehmen, dass er auch um das SoSe 1904 herum mit dem Seminarbesuch bei Bernatzik begonnen hat. 19
20
KELSEN, Autobiographie 37.
21
Aussage Bernatziks wiedergegeben in KELSEN, Autobiographie 38 u 40.
22
Rechtsanwaltskammer Wien, Rechtsanwaltsanwärterliste V/326, Hans Kelsen.
Adolf Kelsen stirbt am 12. 7. 1907. Nach KELSEN, Autobiographie 38, war nach dem Tod des Vaters die Liquidierung der Firma unvermeidlich. Sein Bruder Ernst war erst 22 Jahre alt und konnte trotz äußerstem Einsatzes die Firma nach der Herzerkrankung des Vaters 1905 nicht über Wasser halten; Die Löschung aus dem Handelsregister erfolgte infolge Geschäftsübertragung am 27. 12. 1907 (ebenda 31, dort Anm 7). 23
Ebenda 38 u 41. „Aber es war eine glückliche Zeit. Nach Jahren wirtschaftlicher Bedraengnis und schweren Kummers am Krankenbett meines armen Vaters konnte 24
74
JÜRGEN BUSCH
und dann von 29. Mai bis 22. Juni 1908 schloss er die vorgeschriebenen zwölf Monate der Gerichtspraxis ab.25 Nach eigenen Angaben habe Kelsen nach seiner durch die finanzielle Not der Familie bedingten frühzeitigen Rückkehr aus Heidelberg zunächst eine Stelle in einer Anwaltskanzlei angenommen, um bald festzustellen, dass ihm der Anwaltsberuf nicht liege und er ihm auch keine Zeit für seine wissenschaftliche Arbeit lassen würde. Daraufhin sei er einige Monate im Sekretariat der Kaiser-Jubiläumsausstellung beschäftigt gewesen. Nach Zusammenbruch dieses Unternehmens sei er schließlich als „provisorischer Konzeptsadjunkt“ im Wiener Handelsmuseum angestellt worden.26 Ganz so haben sich die Dinge aber offensichtlich nicht ereignet, denn, wie erwähnt, absolvierte Kelsen nach seiner Rückkehr aus Heidelberg zunächst auch noch im März, April und Juni 1908 sein restliches Gerichtsjahr. Weiters hatte er bereits von März bis Juni 1906 – also bis unmittelbar vor Antritt des Gerichtsjahres – sowie von April 1907 – nach der zweiten Unterbrechung des Gerichtsjahres – bis offiziell 28. Februar 1908 (Wiederantritt des Gerichtsjahres nach Rückkehr aus Heidelberg) Praxiszeiten in Anwaltskanzleien zurückgelegt.27 Letztere Tätigkeit erlaubte ihm offensichtlich einen parallelen Forschungsaufenthalt in Heidelberg, ohne von seiner Kanzlei bei der Kammer von Anwartschaftszeiten abgemeldet zu werden; die Abmeldung dieser Periode in der Kanzlei Löwy erfolgte erst mit Wiederaufnahme des Gerichtsjahich mich ganz und gar dem Buche widmen, von dem ich hoffte, dass es mir den Weg in eine wissenschaftliche Laufbahn eroeffnen werde.“; ebenda 41. Der Seminarbesuch bei Anschütz ist dokumentiert in seinem handschriftlichen Lebenslauf in der Beilage zum Habilitationsgesuch 1911, ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Fasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 30728 aus 1911. Rechtsanwaltskammer Wien, Rechtsanwaltsanwärterliste V/326, Hans Kelsen. Die angeführten Perioden von 8+1+2+1 Monaten ergeben in Summe die vorgesehenen 12 Monate. Unrichtig daher KELSEN, Autobiographie 42, er habe das Gerichtsjahr bereits vor seiner Reise nach Heidelberg absolviert. Bis zum WS 1907/08 hatte er nur 8 Monate zu Buche stehen und nahm am 28. 2. 1908 – offensichtlich nach Rückkehr aus Heidelberg – die restlichen vier Monate wieder auf (mit einer neuerlichen einmonatigen Unterbrechung im Mai 1908). 25
KELSEN, Autobiographie 42. Der seinem Habilitationsgesuch beigefügte Lebenslauf gibt korrekt Juli 1908 als Beginn seiner Tätigkeit im Handelsmuseum an. ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Fasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 30728 aus 1911. 26
In den Kanzleien eines Heinrich Singer (2. 3. 1906–7. 6.1906) und eines Alois Löwy (9. 4.1907–28. 2.1908); Rechtsanwaltskammer Wien, Rechtsanwaltsanwärterliste V/326, Hans Kelsen. 27
Hans Kelsen an der Exportakademie in Wien
75
res per 28. Februar. Und erst nach Beendigung des zwölften Monats im Gerichtsjahr mit 22. Juni 1908 scheint Kelsen wieder mit RechtsanwaltsAnwärterzeiten im Register der Kammer auf: von 24. Juni 1908 bis 22. September 1908 (Kanzlei Josef Beth).28 Die „Monate“ bei der KaiserJubiläumsausstellung musste er also parallel zur Beendigung seines Gerichtsjahres und/oder zur Tätigkeit in den Kanzleien Löwy (bis 28. Februar 1908) und Beth (ab 24. Juni 1908) verbracht haben. Nur im Mai 1908 besteht eine knapp einmonatige Lücke, wo er gleichsam „vollzeit“ für das Ausstellungsbüro hätte tätig sein können. Diese Möglichkeit scheidet allerdings aus, da er von 1. bis 28. Mai 1908 in Folge seiner Verpflichtungen als Reserveoffizier an einer Waffenübung seines Traintruppenkörpers teilnahm.29 Das ergibt alles in allem folgende, am wahrscheinlichten erscheinende Variante, wie Kelsen diese Periode beruflicher Unsicherheit tatsächlich zugebracht hat: Bei Rückkehr aus Heidelberg etwa zu Jahresbeginn 1908 – „früher als beabsichtigt“30 – nimmt er seine aufgrund der Situation des schweren Leidens des Vaters schon im April 1907 begonnene Anwaltspraxis31 in der Kanzlei Löwy wieder auf. Da sie ihm keine Zeit für seine Habilitationsarbeit erlaubt, entschließt er sich aber bald zur Fortsetzung seines finanziell weniger einträglichen, aber auch weniger zeitintensiven Gerichtsjahres. Parallel dazu wird er für das Ausstellungsbüro tätig. Nach Beendigung des Gerichtsjahres Ende Juni 1908 tritt er vorsorglich abermals in eine Anwaltskanzlei ein.32
28
Ebenda.
ÖStA Kriegsarchiv, Grundbuchblätter (Landsturmevidenzblatt im Unterabteilungsgrundbuchblatt Johann Kelsen, geb. 11. 12. 1881 in Prag).
29
30
KELSEN, Autobiographie 42.
Das entsprechende Einkommen aus dieser Tätigkeit von April 1907 bis zur Reise nach Heidelberg im Wintersemester 1907/08 könnte auch die Grundlage für deren Finanzierung gebildet haben. Vgl. zur Verwirrung um den Zusammenhang seiner zwei Reisestipendien mit den zwei Forschungsaufenthalten in Deutschland noch unten bei Fn 42 ff. 31
Letztlich können über die genaue Abfolge in Abweichung zu Kelsens in seiner Autobiographie von 1947 aus der Distanz von mehreren Jahrzehnten gemachten Angaben nur Vermutungen anhand dieser gesicherten Eckdaten angestellt werden, die wie im Fall der offiziell eingetragenen Anwartschaftszeiten während des Heidelberg-Semesters 1907/08 ganz offensichtlich auch nicht die tatsächlich in den Kanzleien zugebrachte Zeit wiedergeben. Bemerkenswerter Weise erwähnt Kelsen die Anwaltsanwartschaft und das Ausstellungsbüro in seinem dem Habilitationsgesuch beigefügten hs. Lebenslauf von 1911 nicht; vgl ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, 32
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III. Kelsen im Handelsmuseum und an der Exportakademie (1908–1918) 1. Laufbahn Überschneidend mit der (offiziellen) Periode dieser neuerlichen Anwartschaftszeit bei Josef Beth nimmt Kelsen am 1. Juli 1908 seine Stellung als „vertragsmäßiger Konzeptsbeamter am k.k. österr. Handelsmuseum“33 auf. Damit verbunden ist seine Bekanntschaft mit Adolf Drucker, seinem späteren Schwager, und Hermann Schwarzwald, dem Gatten der bekannten Schulreformerin Eugenie Schwarzwald.34 Es dürfte kein Zufall sein, dass Kelsen ausgerechnet in jener Institution eine dauerhafte Anstellung findet, die ihm endlich auch mehr Zeit und institutionelle Absicherung für die wissenschaftliche Arbeit erlaubt, wo diese beiden schon etabliert und in leitender Position tätig sind. Die Enkeltochter Kelsens Anne Feder-Lee berichtet, dass die Begegnung zwischen ihm und Drucker wohl schon zuvor über NachhilFasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 30728 aus 1911. Letzteres vermutlich deshalb, da es sich wie bei den ebenfalls unerwähnten Nachhilfestunden ab etwa 1905 bis in die Anfangsjahre am Handelsmuseum hinein um einen bloßen „Nebenjob“ zur Aufbesserung des Einkommens aus Gerichtspraxis und/oder Anwaltspraxis gehandelt hat; ersteres vermutlich, da er darin keine Verbindung zur bzw. keinen Nutzen für die angestrebte Venia sah bzw er die eingetragenen Anwartschaftszeiten tatsächlich gar nicht in der Form absolviert hat. Dass sich Kelsen allerdings die Option Rechtsanwalt zu werden zumindest theoretisch weiter offenhielt, zeigt die offensichtlich wie schon während des WS 1907/08 auf einem „Gentlemen‘s Agreement“ mit der Kanzlei Löwy beruhende Eintragung nicht unerheblicher weiterer Anwartschaftszeiten parallel zu seinem zunächst provisorischen Status am Handelsmuseum: Für den Zeitraum 24. 9. 1908, also anknüpfend an die am 22. 9. endende Anwartschaft in der Kanzlei Beth, bis 20. 5. 1910 existiert ein weiterer Eintrag von Praxiszeiten als Rechtsanwaltsanwärter, wiederum in der Kanzlei Alois Löwy. Dieser letzte Eintrag wird aber nachträglich gestrichen. Am 3. 1. 1911 erfolgt die „Löschung der Praxis“; Rechtsanwaltskammer Wien, Rechtsanwaltsanwärterliste V/326, Hans Kelsen. Diensttabellen 1911 u 1913, Hans Kelsen-Institut Wien, Ordner Persönliches, Diensttabellen Hans Kelsen des Handelsmuseums Wien. 33
Zu Kelsens Beziehung mit der Schwarzwald-Schule und deren Begründerin vgl DEBORAH HOLMES, Die Schwarzwalschule und Hans Kelsen, in: WALTER / OGRIS / OLECHOWSKI, Kelsen 97–109. Laut Standesausweis des Handelsministeriums ist sie (geb. Nussbaum) seit 16. 12. 1900 mit Hermann Schwarzwald verheiratet. Dieser war 1899 in das Handelsmuseum eingetreten und 14. 7. 1905 dessen Vizedirektor geworden. ÖStA, Archiv der Republik, Handel, Standesausweise (Hermann Schwarzwald, 13. 2. 1871). 34
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feunterricht für einen Cousin Kelsens durch Drucker stattgefunden hat.35 Jedenfalls lernt Kelsen über die – sich nun im Handelsmuseum intensivierende – Bekanntschaft mit Adolf Drucker seine Frau Margarethe kennen.36 Als Kelsen in das Handelsmuseum eintritt, ist Drucker37 dort bereits Sekretär des kommerziellen Dienstes unter der Leitung des Vizedirektors Schwarzwald. Es erscheint aufgrund der – spärlichen – Quellenlage am wahrscheinlichsten, dass sich Kelsen und die Schwarzwalds über den gemeinsamen akademischen Mentor Edmund Bernatzik kennen gelernt haben, und zwar in dessen Universitätsseminaren, in denen Hermann Schwarzwald ab 1897 für einen längeren Zeitraum bereits als „postgradualer“ Teilnehmer – wohl um die Möglichkeiten einer wissenschaftliche Laufbahn auszuloten – anzutreffen war.38 Mit Interview von Anne Feder-Lee mit Thomas Olechowski und Jürgen Busch v 15. 10. 2006 (Manuskript erliegt in den Unterlagen des FWF-Projekts P19287.G14 am Institut für Rechts und Verfassungsgeschichte der Universität Wien). MÉTALL, Hans Kelsen (Wien 1969) 16 gibt an, Kelsen habe Drucker im Handelsmuseum „näher kennengelernt“, wonach sie also schon vorher zumindest flüchtig bekannt gewesen sein dürften. 35
Für Details zur Eheschließung vgl ANNA L. STAUDACHER, Zwischen Emanzipation und Assimilation: Jüdische Juristen im Wien des Fin-de-Siècle, in: WALTER / OGRIS/ OLECHOWSKI, Kelsen 41–53, hier49. 36
Er hatte am 13. 2. 1909 Karoline, geb. Bondi, geheiratet, die Schwester von Kelsens späterer Frau Margarethe Bondi. Nach Absolvierung des Gerichtsjahres in Wien tritt er 1900 zur vertragsmäßigen Dienstleistung in das Handelsmuseum ein und wird dort am 28. 3. 1901 beamtet (Konzeptsadjunkt in der X. Rangklasse). Am 3. 7. 1907 wird er zum Sekretär des HM ernannt (IX. Rangklasse). ÖStA, Archiv der Republik, Handel, Standesausweise (Adolf Drucker, 27. 08. 1876). Drucker wird auch führend in der österreichischen Freimaurerei, vgl GÜNTER K. KODEK, Unsere Bausteine sind die Menschen. Die Mitglieder der Wiener Freimaurerlogen 1839–1938 (Wien 2009), 71, der auch Kelsens Vater angehört hat (ebenda 178, entsprechend zieren die Freimaurersymbole seinen Grabstein in Wien). Zu Druckers doppelter Gefährdung ob dieses Umstandes und seiner jüdischen Herkunft im Nationalsozialismus vgl PETER DRUCKER, Schlüsseljahre. Stationen meines Lebens (Frankfurt aM ua) 2001 (ein die Fakten ansonsten oft undeutlich und unrichtig wiedergebender biographischer Roman). Eine Zugehörigkeit Hans Kelsens erscheint den lebenden Familienmitgliedern unwahrscheinlich, im zitierten Lexikon scheint er derart nicht auf. 37
Vgl HOLMES, Schwarzwaldschule 99 f. Aus dem Standesausweis von Schwarzwald, ÖStA, Archiv der Republik, Handel, Standesausweise, Hermann Schwarzwald (geb 13. 2. 1871), geht hervor, dass dieser 1895 in Czernowitz promoviert hatte und nach einer Richteramtsanwartschaft bis April 1897 ebendort 1901 in den Staatsdienst im Handelsministerium in Wien eingetreten ist. 38
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Eugenie Schwarzwald war Bernatzik seit 1901 zumindest durch den „Verein für erweiterte Frauenbildung“ verbunden, in dessen Jahresbericht er im gleichen Jahr ein Gutachten über „Die Zulassung der Frauen zu den juristischen Studien“ veröffentlicht.39 Eine Verbindung, die wohl über seinen langjährigen Seminaristen und ihren Gatten Hermann Schwarzwald zustande gekommen sein dürfte. Diese Bekanntschaften Kelsens – vermutlich alle aus dem Kreis um Bernatzik resultierend40 – werden dann wie gesagt nicht unerheblich für die Erlangung seiner Stelle im Handelsmuseum mit Schwarzwald und Drucker als unmittelbar Vorgesetzte gewesen sein. Die wissenschaftlichen Ambitionen Kelsens werden dort von Anfang an gefördert, immerhin wird er offensichtlich für zwei weitere (kürzere) wissenschaftliche Forschungsaufenthalte in Heidelberg und Berlin freigestellt – womöglich schon in Hinblick auf seine bald einsetzende nebenamtliche Lehrtätigkeit an der vom Handelsmuseum betriebenen Exportakademie:41 Nach eigenen Angaben42 verwendete Kelsen für seinen zuvor bereits erwähnten, sein Gerichtsjahr und seine Anwaltspraxis unterbrechenden, ersten Heidelberg-Aufenthalt im WS 1907/08 ein erstes Reisestipendium, das er von der Universität Wien „1907 oder 1908“ erhalten habe. Tatsächlich wird ihm das Universitäts-Jubelfeier-Reisestipendium in Höhe von 1.200,– Kronen zugesprochen, allerdings erst im Mai 1908 für das Studienjahr 1908/09.43 Ebenfalls laut seiner eigenen autobiographischen Darstellung von 1947 erhielt er 1909 ein weiteres Stipendium,44 welches ihm einen zweiten, kürzeren Heidelberg-Aufenthalt und einen kurzen Berlin-
39
HOLMES, Schwarzwaldschule 100.
Auch Drucker hat bis 1899 in Wien Rechtswissenschaften studiert, vgl ÖStA, Archiv der Republik, Handel, Standesausweise (Adolf Drucker, 27. 08. 1876). Seine Bekanntschaft mit Schwarzwald könnte daher zeitlich wie fachlich ebenso aus dem Bernatzik-Seminar rühren. 40
41
Zu diesen beiden Institutionen und deren Verhältnis unten in Abschnitt III.2.
42
KELSEN, Autobiographie 39.
AUW, Personalakt Hans Kelsen, Sig J PA 631. Kelsen bezeichnet es als „Universitäts-Jubiläums-Reisestipendium“; vgl Lebenslauf 1911, ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Fasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 30728 aus 1911; 600,- Kronen werden ihm im Juni 1908, weitere 600,- Kronen „nach Erfüllung der Bedingungen“ am 22. 1. 1909 ausbezahlt. 43
44
KELSEN, Autobiographie 42 f.
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Aufenthalt45 ermöglicht habe (das Haber-Linsbergische Reisestipendium). Im diesen Begebenheiten aber weitaus näher liegenden handschriftlichen Lebenslauf aus 191146 gibt er die Verleihung – wohl richtig – mit 1910 an. Demnach war er jeweils in den WS 1907 und 1908 – nunmehr schon während seiner Anstellung am Handelsmuseum – in Heidelberg, im WS 1910 dann in Berlin.47 Als dritte „Auszeichnung“ seitens des Professorenkollegiums aus dieser Zeit neben den beiden Reisestipendien führt Kelsen einen „Seminarpreis“ an.48 Neben seiner hauptamtlichen Stellung am Handelsmuseum wird er – als „Assistent“ des nachmaligen Ministerpräsidenten Ernst Seidler,49 Hauptvertreter
Besuch des staatsrechtlichen Seminars; vgl Lebenslauf 1911, ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Fasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 30728 aus 1911. Während dort der Besuch der Seminare von Jellinek und Anschütz in den WS 1907 und 1908 in Heidelberg angeführt ist, spricht Kelsen in einem maschinschriftlichen Lebenslauf für seine Ernennung zum – nebenamtlichen – Dozenten an der Exportakademie vom Mai 1911 (Beilage zu ÖStA AVA, Handel, Dep 25, 1911, Fasz 1185, Z 17949) davon, dass er nach Beendigung des Studiums noch zwei Semester in Heidelberg im staatsrechtlichen Seminar Jellineks und dann kurze Zeit in Berlin bei Anschütz studiert habe. Zweiteres entspricht eher den Tatsachen der Zeitpunkte der Stipendienverleihungen. 45
Hs. Lebenslauf in Beilage zum Habilitationsakt, ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Fasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 30728 aus 1911. 46
Kelsens diesbezügliche Erinnerung im Jahr 1947 scheint also nicht mehr richtig gewesen zu sein, denn offenbar hatte er für 1907/08 kein Stipendium erhalten, sondern verwendete jenes aus 1908 für einen – aufgrund seiner Stellung im Handelsmuseum möglicher Weise kein volles Semester andauernden – Heidelberg-Aufenthalt während des WS 1908/09 und eben nicht für den ersten im WS 1907/08. Aus ersterem ist er aufgrund des Auszahlungszeitpunkts der 2. Rate spätestens um den 20. 1. 1909 nach Wien zurück gekommen. Folglich muss das Stipendium aus 1910 dann dem – aufgrund seiner Stellung im Handelsmuseum ebenfalls kein volles Semester andauernden – Aufenthalt in Berlin während des WS 1910/11 gedient haben. 47
Ms. Lebenslauf 1911 für das Handelsministerium in Beilage zu ÖStA AVA, Handel, Dep. 25, 1911, Fasz 1185, Z 17949. 48
1862–1931; Seidler war ua Leiter der handelspolitischen Abteilung im Ackerbauministerium, bevor er sich 1901 an der Universität Wien für Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht habilitierte und ab 1905 an der Exportakademie als nebenamtlicher „Professor“ (als Privatdozent und später tit. Prof. der Universität Wien) die öffentlich-rechtlichen Rechtsfächer vertrat. 1909 wurde er auch Sektionschef wiederum im Ackerbauministerium. 1917 kurzzeitig Ackerbauminister und daraufhin Ministerprä49
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des „öffentlichen Rechts“ an der Exportakademie – auch bald als „Kursleiter“ mit ersten Lehraufträgen betraut.50 Rein äußerlich gestaltet sich seine Laufbahn an der Exportakademie folgendermaßen: Nach der Einstellung als „vertragsmäßiger Konzeptsbeamter“ wird er nach eigenen Angaben im November 1909 dort zum Konzeptsadjunkten ernannt.51 Aus der Beantragung einer außerordentlichen finanzielle Aushilfe der Direktion des Handelsmuseums für Kelsen beim Handelsministerium im Juni 1909 ergibt sich, dass Kelsen ab 1. Juli 1908 zunächst nur vertragsmäßig gegen ein jährliches Honorar von 1.800,- Kronen für das Handelsmuseum tätig war, die spätere Regelung der Dienstverhältnisses des „Advokaturscandiaten“ auf der Stufe der X. Rangklasse der Bezüge von Staatsbeamten vom Ergebnis einer Probezeit abhängig gemacht wurde. Dies sei von Kelsen deshalb akzeptiert sident (bis Juli 1918), widmet er sich als solcher und dann auch als Kabinettsdirektor von Kaiser Karl bis zum Zusammenbruch der Monarchie vor allem dem Versuch einer Verfassungsreform der Habsburgermonarchie; vgl. Peter Broucek, Seidler von Feuchtenegg Ernst, in ÖBL XII (Wien 2005) 131–132. Kelsen schreibt, Seidler habe ihn zu seinem Assistenten gemacht, bevor er (1911) nebenamtlicher Dozent wurde; vgl KELSEN, Autobiographie 46. Der Ausdruck „Assistent“ bezieht sich dabei wohl auf das Faktum, dass Kelsen nun neben Seidler ebenfalls öffentlich-rechtliche Kurse hielt, mitunter auch mit Seidler gemeinsam. Seine Förderung am Handelsmuseum erfährt er zunächst eher von Drucker und Schwarzwald, die ihm wohl den Eintritt als Vortragender von Rechtskursen an der Exportakademie ermöglichen. Die „Beförderung“ vom Kursleiter zunächst zum nebenamtlichen, später hauptamtlichen Dozenten wird schließlich auch das fördernde Wohlwollen Seidlers gefunden haben, gegen dessen Willen als zuständiger Fachprofessor die Laufbahn Kelsens sicher nicht durchsetzbar gewesen wäre (zu den Karrieresprüngen Kelsens an der Exportakademie sogleich unten). Es ist nicht auszuschließen, dass Seidler ob seiner Involvierung in die Verfassungsreformversuche der Habsburgermonarchie an höchster Stelle gegen Ende des Ersten Weltkriegs und der Verbindung zu Kelsen an der Exportakademie im Hintergrund zu einer treibenden Kraft für dessen Aufstieg als „Verfassungsreformreferent“ im Kabinett des Kriegsministers Stöger-Steiner wurde und Kelsen diese Stellung Seidlers Fürsprache verdankt. 50
Dazu unten in Abschnitt III.3.
Vgl Lebenslauf 1911, ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Fasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 30728 aus 1911. Kelsens hs. Diensttabelle aus 1911 (Hans KelsenInstitut Wien, Ordner Persönliches, Diensttabellen Hans Kelsen des Handelsmuseums Wien) spricht davon, dass er seit Juli 1908 vertragsmäßiger Konzeptsbeamter mit dem Titel eines Konzeptsadjunkten sei; diese Beifügung des Amtstitels dürfte sich auf die ansonsten in den Diensttabellen nicht dokumentierte „Ernennung“ aus 1909 beziehen. 51
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worden, da er bis März 1909 im Genuss eines größeren Universitätsstipendiums gewesen sei, das zusammen mit dem provisorischen niedrigen Gehalt am Handelsmuseum zur Bestreitung des Lebensunterhalts ausgereicht habe. Nach Wegfall des Stipendiums sei Kelsen genötigt gewesen, zusätzlich Nachhilfestunden zu geben bzw als juristischer Korrepetitor an der Juristenabteilung der k.k. Theresianischen Akademie tätig zu sein. Da diese zusätzliche Einnahmequelle aufgrund der Ferienmonate bis November wegfallen würde und der Zeitpunkt für die definitive Regelung seiner Dienststellung noch nicht gekommen sei, wird um einen einmaligen Zuschuss in Höhe von 300,– Kronen ersucht.52 Ob dieser Situation scheint dann mit November die Entlohnung in der X. Rangklasse und die Verwendung als Konzeptsadjunkt erfolgt zu sein. Im Mai 1910 wird er Mitglied der k.k. staatswissenschaftlichen Staatsprüfungskommission in Wien53 und am 21. Juli 191154 – nebenamtlicher55 – Dozent für Verfassungs- und Verwaltungslehre an der Exportakademie.56 Der entsprechende Antrag des Professorenkollegiums der Exportakademie vom April 1911 führt dazu aus, dass es einer seit der Gründung der Exportakademie bestehenden Gepflogenheit entspräche, die Leiter der Spezialkurse nach dreijähriger erfolgreicher Tätigkeit zur Bestellung als Dozenten in Vorschlag zu bringen. Die Anstellungsverhältnisse und Bezüge werden durch diese Verleihung des Dozententitels jedoch nicht berührt.57 Diese beliefen sich für Kelsen für die Abhaltung von viereinhalb Unterrichtsstunden 1913 auf 1.350,– Kronen.58 Am 23. Dezember 1911 wird Kelsen dann (definitiv) 52
ÖStA AVA, Handel, Dep. 25, Fasz 1106, Z 15779 aus 1909.
Für die Prüfungsfächer allgemeines und österreichisches Staatsrecht; vgl. Lebenslauf 1911, ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Fasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 30728 aus 1911. Die Mitgliedschaft in der Staatsprüfungskommission ab Mai 1910 ist auch in der ms. Diensttabelle 1914/15 dokumentiert; vgl Hans Kelsen-Institut Wien, Ordner Persönliches, Diensttabellen Hans Kelsen des Handelsmuseums Wien.
53
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Maschinschriftliche Diensttabelle 1914/15, ebenda.
55
KELSEN, Autobiographie 46.
Offenbar steht diese Ernennung im Zusammenhang mit seiner im gleichen Monat im Unterrichtsministerium bestätigten Habilitation an der Universität Wien (ÖStA AVA Unterricht Allgem. Fasz. 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 30728/1911), an der der fortan und parallel zu seiner hauptberuflichen Stellung im Handelsmuseum als Privatdozent lehrt. 56
57
ÖStA AVA, Handel, Dep. 25, Fasz 1185, Z 17949 aus 1911.
58
Ebenda, Fasz 1246, Z 21782 aus 1913.
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zum k.k. Konzeptsadjunkten des k.k. österreichischen Handelsmuseums in provisorischer Eigenschaft (weiterhin X. Rangklasse),59 mit Erlass des Handelsministeriums vom 10. Juni 1914 zum Adjunkten in der IX. Rangklasse ernannt – dahinter verbirgt sich seine Beförderung in eine hauptamtliche Stellung als Dozent an der Exportakademie (in der Diensttabelle nunmehr geführt als „Adjunkt und Dozent an der Exportakademie“). Mit diesem Eintritt in die hauptamtliche Dozentur – den Titel eines Dozenten an der Exportakademie trägt er ja schon seit 1911 – vollzieht sich also sein Wechsel aus dem Handelsmuseum in dessen „Expositur“ Exportakademie).60 Der Vollblutwissenschafter Kelsen hatte damit erstmals eine hauptamtliche Stellung als Wissenschafter erreicht. Als das Handelsministerium 1913 die Exportakademie dazu aufrief, einen Dozentensprecher zu wählen, der die Anliegen dieser Gruppe im Professorenkollegium vertreten sollte, wurde Kelsen in Vorschlag gebracht und im Oktober 1913 für das begonnenen Studienjahr 1913/14 auch als solcher bestätigt.61 Wiederholte Versuche der AkademieleiHandschriftliche Diensttabelle 1913, Hans Kelsen-Institut Wien, Ordner Persönliches, Diensttabellen Hans Kelsen des Handelsmuseums Wien. Im „Hof- und Staatshandbuch der österreichisch-ungarischen Monarchie“ scheint Kelsen als Bediensteter des Handelsministeriums ab dem Jahr 1910 auf: unter „Konzeptsadjunkten“ ist er mit dem Zusatz „in Verwendung“ aufgelistet. In diesem Jahr scheint er – wohl ob seines Lehrauftrages – parallel dazu auch bereits in der Rubrik Exportakademie unter „ao. Prof. und Dozenten“ auf. Mit der dienstrechtlichen Änderung mit Dezember 1911 wird er ab 1911 weiter unter den Konzeptsadjunkten geführt, aber nun auch selbst als solcher und ohne den Zusatz „in Verwendung“ bezeichnet. 59
ÖStA AVA, Handel, Dep 25, Fasz 1279, Z 44063 (Entnahme der Diensttabelle Kelsens und Übermittlung von 2 Parien – jene von 1911 und 1913 – an die Direktion der Exportakademie aufgrund des Ausscheidens Kelsens als Konzeptsbeamter aus dem Handelsmuseum und seines Eintritts als Adjunkt in die Exportakademie). Das Einkommen Kelsens betrug nunmehr 4.000,- Kronen; vgl Diensttabelle 1913, Hans Kelsen-Institut Wien, Ordner Persönliches, Diensttabellen Hans Kelsen des Handelsmuseums Wien. 1915 bezieht er dann in der 2. Gehaltsstufe der IX. Rangklasse 4.200,– Kronen; vgl ÖStA AVA, Handel, Dep 25, Fasz 1306, Z 2281 aus 1915 (Beilage). 60
ÖStA AVA, Handel, Dep. 25, Fasz 1246, Z 34866. Schon zuvor hatte Kelsen als (offenbar noch nicht auf offiziellen Erlass des zuständigen Ministeriums beruhend und inoffiziell) „gewählter Vertreter der Dozenten“ als deren Sprecher und als Schriftführer an Sitzungen des Professorenkollegiums teilgenommen, so am 30. 9. 1913. In der Sitzung vom 25. 10. 1913 stellt der jetzt frischgebackene offizielle Dozentenvertreter Kelsen den Antrag, dass Bewerber um Betrauung mit Spezialkursen, die vorläufig keine Lehrtätigkeit nachweisen können, in Hinkunft vor Beginn der 61
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tung, für Kelsen eine Professur an der Exportakademie zu kreieren, sind gescheitert: Schon im April 1913 hatten sich die Rechtsprofessoren Ernst Seidler und Rudolf Pollak62 vergeblich um die Ernennung von Kelsen zum ao. Prof mit der Begründung der geplanten Einrichtung eines Balkan- und Orientinstituts bemüht.63 Auch die Diskussion der Ausgestaltung seiner Dozentur für Rechtsfächer zu einer ordentlichen Professur 1917 scheiterte offenbar bzw kam spätestens mit seinem Übertritt als etatmäßiger ao. Prof. an die Universität Wien zum Erliegen.64 Für Kelsen ist aber schon der erstmalige Eintritt in eine hauptamtliche wissenschaftliche Stellung 1914 an der Exportakademie nach eigenem Bekunden ein „hoechst bedeutungsvoller Schritt“, da er nun seine „ganze Zeit dem Ge-
Kurse zu einem Probevortrag vor das Professorenkollegium einzuladen seien. Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen; vgl ebenda. In einem Fall zweifelt er die wissenschaftliche Qualifikation eines in Aussicht genommenen Vortragenden für einen Spezialkurs für Holzhandel an, woraufhin der Beschluss gefasst wird, der Kandidat möge eingeladen werden, zunächst wissenschaftliche Arbeiten sowie Nachweise einer praktischen Tätigkeit im fraglichen Gebiet vorzulegen; vgl ÖStA AVA Handel, Dep 25, Fasz 1279, Z 26462 aus 1914 (Protokoll der Sitzung des Professorenkollegiums vom 10. 6. 1914). k.k. o. Prof. an der Exportakademie und Oberlandesgerichtsrat; vertritt die zivilund handelsrechtlichen Fächer. 62
Hans Kelsen-Insitut Wien, Mitteilung Robert Walter an Rudolf Métall vom 10. 4. 1967, erliegt in Ordner Persönliches, Diensttabellen Hans Kelsen des Handelsmuseums Wien. 63
ÖStA AVA, Handel, Fasz 1422, Z 22253 aus 1917 (Empfangsschein zum nicht mehr enthaltenen Akt, aus dem ein solches Vorhaben aufgrund der Angaben im „Gegenstand“ hervorgeht). Die in der Diensttabelle 1914/15, Hans Kelsen-Institut Wien, Ordner Persönliches, Diensttabellen Hans Kelsen des Handelsmuseums Wien, handschriftlich vorgenommene Ergänzung „1914 zum ao. Prof. ernannt“ ist ein offensichtlicher Irrtum und bezieht sich auf die Ernennung Kelsens zum tit. ao. Prof. an der Universität Wien 1915 (dazu ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Fasz 588, Personalakt Rudolf Herrnritt, Z 28493/1915; vgl auch ebenda, Fasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 28493/1915, Deckblatt mit Verweis auf die Verleihung des Titels eines ao. Prof. an Kelsen erliegend im PA Herrnritt, in Verbindung mit Z 14841/1919, Begründung der Berufung Kelsens als o. Prof. mit Hinweis auf die Verleihung des Titels eines ao. Prof. 1915). Aufgrund dieses fehlerhaften Eintrags an der Exportakademie findet sich in vielen biographischen Abrissen zu Kelsen die falsche Angabe, er sei 1914 zum ao. Prof. ernannt worden. 64
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genstande widmen konnte, dem meine wissenschaftliche Arbeit galt.“65 Seine Freude „ueber diesen Erfolg“ währte aber nicht lange: „Denn kurz nach meiner Ernennung zum Dozenten an der Exportakademie brach der Krieg aus, und ich musste als Reserveoffizier zu meiner Truppe einruecken.“66 Der bald darauf für die aktive Kriegsdienstleitung untauglich erklärte Kelsen trifft dann auf seiner ersten Station bei der (ersatzweisen) Dienstleitung in den Wiener Zentralstellen des Kriegsministeriums, im Kriegsfürsorgeamt, einen alten Bekannten: Der Direktor und Vorsitzende des Professorenkollegiums der Exportakademie, HR Prof. Anton Schmid, wird dort Leiter der Gruppe VIII,67 während Kelsen bis zu seinem Übertritt in den Militärjustizdienst im August 1915 der Gruppe XIV (Statistik und Verkehr mit den Zweigstellen) vorsteht.68 2. Institutionelles Umfeld Welches institutionelle Umfeld fand Kelsen mit dem Handelsmuseum und der von diesem betriebenen Exportakademie vor? Zur Förderung der Handelsbeziehungen mit dem Orient wurde 1874 das „Orientalische Museum“ in Wien gegründet, das sich zum „k.k. österreichischen Handelsmuseum“, einem Verein der maßgeblichen Außenhandelsakteure des cisleithanischen Österreichs unter der Kontrolle des Handelsministeriums mit dem Hauptzweck, den Außenhandel Österreichs zu fördern, weiterentwickelte (1887). Seinen Sitz hatte es im Palais Festetits in der Wiener Berggasse 16, später auch erster Sitz der Exportakademie. Sein Personal rekrutierte sich aus Beamten des Handelsministeriums, die für die Erfüllung der administrativen Aufgaben gleichsam vom Ministerium zur Dienstverrichtung im Handelsmuseum abge-
KELSEN, Autobiographie 46. Dass ihm das Handelsmuseum schon zuvor viel Freiräume für seine wissenschaftlichen Bestrebungen einräumte wird auch durch den Umstand unterstrichen, dass ihn eine sonst nicht sonderlich vielsagende Qualifikationsbeschreibung aus 1914 als „aus Gründen wissenschaftlicher Tätigkeit bis Ende Juni 1914 gegen Karenz der Gebühren“ als beurlaubt ausweist; zu welchem konkreten Zweck erhellt daraus leider nicht. Vgl ÖStA, Archiv der Republik BM UuV 1. Republik, Standesausweise, Qualifikationsbeschreibung Hans Kelsen für das Jahr 1914. 65
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KELSEN, Autobiographie 46 f.
ÖStA AVA, Handel, Fasz 1534, Z 38322 aus 1918 (Protokoll der Sitzung des Professorenkollegiums v 8. 4. 1918). 67
Zu Kelsens Lebensweg 1914–1918 vgl ausführlich BUSCH, Kelsen im Ersten Weltkrieg. 68
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stellt waren.69 Über Kelsens hauptamtliche Tätigkeit im Handelsmuseum ist nichts bekannt; einen Gutteil der Zeit konnte er wie schon angesprochen offenbar auch schon vor seiner Transferierung als hauptamtlicher Dozent an die Exportakademie 1914 seinen wissenschaftlichen Interessen wie insbesondere der Fertigstellung der Habilitationsschrift und der unten noch näher zu beschreibenden Lehrtätigkeit – neben der Exportakademie zunächst als Privatdozent und dann als tit. ao. Prof. auch an der Universität Wien – widmen. Die vom Verein k.k. österreichisches Handelsmuseum geführte Exportakademie wurde 1898 gegründet70 und stand unter der (Hoch-)Schulaufsicht des k.k. Handelsministeriums, welches das diese Aufsicht vorsehende Organisationsstatut im Einvernehmen mit dem Unterrichtsministerium per Erlass vom 22. Mai 1898 bewilligte.71 Damit konnte mit dem Beginn des Wintersemesters 1898/99 im Oktober der Betrieb aufgenommen werden. Heimstätte war bis zum Zeitpunkt der Neuerrichtung und Inbetriebnahme eines eigenen Akademiegebäudes 191772 der Sitz des Handelsmuseums im Palais Festetits in der Berggasse 16, in unmittelbarer Nachbarschaft zu früheren Wohnadressen von Hans Kelsens Eltern Adolf Kelsen (Berggasse 18 Mitte der 1870er-Jahre) und Auguste (geborene Löwy, bei Verwandten in der Berggassse 20 laut Heiratsurkunde 1880). „Gründungsauftrag“ der Exportakademie war es, dem „Handel das gesamte moderne Rüstzeug commercieller Bildung zur Verfügung zu stellen, das ihn befähigen soll, mit aller durch seine genaue Kenntnis der Ver-
Vgl zum k.k. österreichischen Handelsmuseum allgemein Direktion des Handelsmuseums Wien (Hrsg), Das Handelsmuseum in Wien. Darstellung seiner Gründung und Entwicklung 1874–1919 (Wien 1919); im Zusammenhang mit der Gründung der Exportakademie auch ULRIKE MORTSCH, Die Hochschule für Welthandel und ihre Vorläuferin – Die wissenschaftliche Lehre in der Zeit von 1898–1945 (wirtschaftswiss Diss Wien 1976) (sehr oberflächlich und unzureichend belegt). 69
Vgl zur Geschichte der Exportakademie allgemein MORTSCH, Hochschule für Welthandel; IRENE SICHRA, Die Exportakademie in Wien von 1898 bis 1920 (DiplArb Wien 1997); Exportakademie Wien (Hrsg), Denkschrift über die Action des General-Comités für die Gründung der Export-Akademie (Wien 1900).
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Vgl Abschnitt II des im Anhang abgedruckten Gutachtens.
Die offizielle Eröffnung des nach Plänen des Architekten Alfred Keller in der damals so bezeichneten Exportakademiestraße (heute Franz Klein-Gasse) errichteten neuen Gebäudes erfolgte am 20. 3. 1917; vgl Export Akademie Wien (Hrsg), Bericht über die feierliche Eröffnung des neuen Akademiegebäudes am 20. März 1917, Wien 1917. 72
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hältnisse möglichen Voraussicht auf dem Weltmarkte aufzutreten und dort unserer Industrie die ihr gebürende Stellung zu erringen.“ In einem Rundschreiben zur Notwendigkeit der Erhöhung des „commerziellen Bildungswesens“ des Handelsministers vom Mai 1898 wird die relative Bedeutungslosigkeit Österreichs und das Nichtvorhandensein österreichischer Waren auf dem Weltmarkt, insbesondere im Fern- und Überseehandel, bemängelt. Dadurch komme in besonderer Weise das Bedürfnis zum Ausdruck, „weitere Kreise der Geschäftswelt planmäßig für den Export zu erziehen und dem Mangel initiativer kaufmännischer Organisation durch eine Ausgestaltung unseres commerziellen Bildungswesens in der speciellen Richtung zu begegnen, wo die Lücke praktisch empfunden wird, weil sie auf unser ganzes Mitthun in den Erscheinungen des Weltverkehres zurückwirkt.“ Anstatt wie bisher nur kaufmännische Beamte auszubilden, bedürfe es der Ausstattung von Unternehmern mit freiem und weitem Blick, welche „zur selbständigen und verständnisvollen Leitung eines Weltgeschäftes befähigt sein“ sollen. Während diese Notwendigkeit etwa in Frankreich, England und den Vereinigten Staaten längst erkannt worden sei und selbst im Deutschen Reich jüngst hochschulartige Fachlehranstalten errichtet worden wären, würde hierzulande erst jetzt mit der Schaffung der Exportakademie durch „die im Vereine mit dem frei gebildeten Comité von Kaufleuten und Industriellen unternommene Action des österreichischen Handels-Museums“ die entsprechende Initiative ergriffen. Die Schule sei als integrierender Bestandteil des Handelsmuseums gedacht, „um die commerzielle Sammlungen sowie die Bibliothek des Institutes dafür verwenden zu können und den Hörern Gelegenheit zu bieten, in das vom Museum seit einer Reihe von Jahren betriebene kaufmännische Informationswesen Einsicht zu nehmen, welches sich mit der Ertheilung von Auskünften und Rathschlägen über Bezugs- und Absatzverhältnisse, über die Creditfähigkeit ausländischer Firmen, über Zollund Frachtverhältnisse u.s.w. beschäftigt.“ Zudem werde der Zweck verfolgt, die Absolventen bei ihrem Eintritt in die Berufspraxis „mit geeigneten Firmen bekanntzumachen und bei ihrer eventuellen Thätigkeit im Auslande unterstützen, aber auch überwachen zu können.“ Insgesamt sei das Ziel „der zu gründenden Anstalt dahin abgesteckt, dem für die international arbeitenden Kreise von Handel und Industrie bestimmten Nachwuchse, bei welchem neben einer allgemeinen kaufmännischen Vorbildung Geschäftsroutine und Praxis dermalen nicht mehr genügen, eine den heutigen Anforderungen an diesen Stand entsprechende Bildung zu bieten, (…) welche die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Aufnehmen des Mitbewerbes im Auslande bilden.“ Dementsprechend solle der Lehrstoff neben der Beherrschung der wichtigs-
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ten Handelssprachen maßgebende Fächer aus der Volkswirtschaftslehre und politik, Unterweisung über die Produktionsverhältnisse des Auslandes (internationale Handelskunde und -geographie), den internationalen Handelsverkehr (inklusive der Handelsusancen und Platzverhältnisse) sowie Warenkunde umfassen. Diese seien noch um Einzelkurse über Disziplinen zu ergänzen, welche nicht gut in den Seminarunterricht aus diesen Fächergruppen eingefügt werden könnten. Rechtsfächer, überhaupt öffentlich-rechtliche (keine etatmäßige Professur!), nehmen dementsprechend einen geringeren Stellenwert im Regelprogramm ein. Als echte Innovation ist auch ein „Mustercomptoir“ vorgesehen, in dem Vorkenntnisse „durch Übungen über die Geschäftsführung, insbesondere unter der Supposition von Exportgeschäften auf fremden Handelsplätzen, in der jeweiligen Fremdsprache“ ergänzt werden.73 Zum Zeitpunkt des Eintritts Kelsens in das Handelsmuseum bzw zu Beginn der Aufnahme seiner Lehrtätigkeit bedeutet das für die bereits weiterentwickelte Organisation der Exportakademie: Es bestehen drei Jahrgänge, unterteilt in die „Allgemeine Abteilung“ und die eigentliche, zweijährige Exportakademie. Darüber hinaus bietet die Akademie „Konversationsübungen“, „Spezialkurse für das Bankgeschäft“, „Kommerzielle Kurse für Juristen“74 und „Allgemein zugängliche Spezialkurse und Abendvorlesungen“ an.75 Als ordentliche Hörer können in die „Allgemeine Abteilung“ Absolventen einer österreichischen Mittelschule (Gymnasium oder Realschule) mit Reifezeugnis, Absolventen einer höheren Staatsgewerbeschule mit Reifezeugnis und „selbstredend“ Absolventen von Handelsakademien und höheren Handelsschulen aufgenommen werden. Sie haben mindestens 26 Vorlesungsstunden pro Woche zu belegen, die auch auf zwei Jahre aufgeteilt werden können, wenn wöchentlich mindestens 17 Stunden inskribiert werden.76 Das Kursk.k. österr. Handelsmuseum (Hrsg), Programm für die Exportakademie. Studienjahr 1899/1900 (Wien 1899) 3 ff. (Abschnitt „Aufgaben und Ziele der Akademie“), UB Wirtschaftsuniversität Wien, Sammelsignatur 17.689-B. 73
Es handelt sich um die Vermittlung von Wirtschaftskompetenzen an absolvierte Juristen: Handelskunde und kaufmännische Arithmetik, Allgemeine Buchhaltungstheorie und praktische Anwendung der einfachen und doppelten Buchhaltung, sowie Buchhaltung bei Handelsgesellschaften, Bilanzen, Kontokorrente und Technik der kaufmännischen Korrespondenz. Vgl ebenda 38 f.
74
Vgl das Programm und Vorlesungsverzeichnis für die Export-Akademie, 12. Studienjahr 1909/1910 (UB Wirtschaftsuniversität Wien, Sammelsignatur 17.689-B). 75
76
Ebenda 10.
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programm umfasst Fremdsprachen, Handelsgeographie, Warenkunde, Volkswirtschaftslehre, Handels- und Wechselrecht, Kaufmännische Arithmetik, Korrespondenz und Kontorarbeiten, Buchhaltung, Stenographie, Sprachgeschichtliche Exkurse, Deutsche Grammatik, Gesundheitspflege, Kalligraphie und Maschinenschreiben; darüber hinaus können die Spezialkurse für das Bankgeschäft, Seewesen und Seerecht, Transport- und Tarifwesen, Bücher- und Bilanzrevision, ein Seminar für das Textilgeschäft und weitere fremdsprachliche Kurse gewählt werden.77 In den ersten Jahrgang der Akademie werden außer den Hörern der Allgemeinen Abteilung, welche die Jahresprüfung mit gutem Erfolg bestanden haben, Absolventen von Handelsakademien, höheren Handelsschulen oder eines Abiturientenkurses einer solchen Anstalt ohne Aufnahmeprüfung aufgenommen. Mittelschulabsolventen können bei erfolgreicher Aufnahmeprüfung in kommerziellen Gegenständen (kaufmännisches Rechnen, Korrespondenz, Buchhaltung, Handels- und Wechselkunde) und in französischer Sprache direkt in den ersten Akademiejahrgang aufgenommen werden. In den zweiten Jahrgang werden nur solche Hörer aufgenommen, welche die Vorlesungen des ersten Jahrgangs besucht und die Jahresprüfung in allen Gegenständen mit Erfolg abgelegt haben. Die Anzahl der Studierenden ist mit je 30 in beiden Jahrgängen begrenzt. Die Studiengebühren belaufen sich auf 150,– Kronen pro Semester und einen jährlichen Lehrmittelbeitrag von 30,– Kronen.78 Der Studienplan umfasst im ersten wie im zweiten Jahrgang der Akademie: I. Sprachen (Französisch und Englisch in beiden Jahren; Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch im zweiten Jahr); II. Seminarien (Wirtschaftliches Seminar; Kommerzielles Seminar; Juristisches Seminar: Zivilrecht inkl. Handelsrecht sowie Wechsel- und Scheckrecht); III. den Musterkontor; IV. Kurse (im ersten Jahrgang Verfassungs- und Verwaltungslehre und Statistik, Seewesen und Seerecht sowie Versicherungswesen; im zweiten Jahrgang Rechtsverfolgung im In- und Auslande sowie Transport- und Tarifwesen); an Wahlfächern stehen weiters Russisch, Gesundheitspflege, Stenographie, Kalligraphie und Maschinenschreiben zur Auswahl.79 Die juristischen Fächer, die Kelsen (später) unterrichten sollte, sind folgendermaßen definiert: Handels- und Wechselrecht in der Allgemeinen Abteilung (Systematische Darstellung des österr. Handelsrechts; Einleitung: Die
77
Ebenda 18 ff.
78
Ebenda 10 f.
79
Ebenda 56.
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Stellung des Handelsrechts im Rechtssystem. Die Gründe dieses Sonderrechts und seine Erfordernisse. Geltungsbereich des Handelsrechts, Abgrenzung zwischen Zivil- und Handelsrecht.; Quellen des in- und ausländischen Handelsrechts; Begriff des Kaufmanns: Das Verhältnis des Handelsrechts und Gewerberechts zum Kaufmannsbegriff, Rechte und Pflichten der Vollkaufleute, die Firma, Prokura, die Handelsvollmacht, Handlungsangestellte, das Handelsregister, der Makler; Gesellschaftsrecht: Die Handelsgesellschaften des österreichischen Handelsrechts, Grundzüge des deutschen Aktienrechts und der deutschen GmbH; Rechtserwerb: ua Abschluss von Verträgen, das Offert, der Handelskauf, der Kommissionär; Wechselrecht: Stellung des Wechsels im Rechtssystem, ua Wechselfähigkeit, Wechselerfordernisse, Zahlung des Wechsels);80 Verfassungs- und Verwaltungslehre und Statistik im ersten Jahrgang der Akademie (Das Wichtigste aus der Verfassung und Verwaltung der österreichisch-ungarischen Monarchie. Diplomatische Vertretung im Ausland. Der Konsulardienst. Übersicht der Verwaltungseinrichtungen in den wichtigsten Kulturstaaten, mit besonderer Rücksicht auf jene Staaten, welche für den österreichischen Außenhandel von Bedeutung sind. Das Wichtigste aus der Verwaltungsstatistik mit besonderer Berücksichtigung der Gewerbe- und Handelsstatistik).81 Über die – problematischen – rechtlichen Umstände der Exportakademie als Privat(hoch)schule aufgrund der privaten Trägerschaft des Vereins Handelsmuseum gibt das im Anhang abgedruckte Gutachten Kelsens über die rechtliche Stellung der Exportakademie als Handelshochschule sehr gut Auskunft. Es handelt sich dabei um ein juristisches Schlüsseldokument im Bemühen und im Zuge der Auseinandersetzungen um eine formelle Klärung des prekären Status der Akademie im Jahrzehnt 1910 bis 1920. Vor allem Initiativen der Studierenden und Absolventen drängten auf eine Anerkennung der Exportakademie als vollwertige Hochschule und einen Abschlusses mit einem vollwertigen akademischen Grad,82 welche die Unterstützung des Lehrkör-
80
Ebenda 19.
81
Ebenda 28.
Vgl etwa Exportakademie Wien (Hrsg), Die Anerkennung der Export-Akademie des k.k. österreichischen Handelsmuseums in Wien als Handelshochschule, Wien 1912 (Publikation zur am 21. 11. 1912 stattgefundenen Versammlung des Vereins diplomierter Export-Akademiker und der Hörerschaft der Exportakademie) oder der Hinweis auf Studierenden-Proteste im Protokoll der Sitzung des Professorenkollegiums v 20. 1. 1914 in ÖStA AVA, Handel, Dep. 25, Fasz 1279 (Abschrift zu HMZ 2608 aus 1914). 82
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pers fanden. In diesem Sinne dürfte vom Professorenkollegium auch der Auftrag an den engagierten und vor allem im öffentlichen Recht habilitierten Dozenten Hans Kelsen ergangen sein, 1913 ein entsprechendes Gutachten zum Status der Exportakademie als Hochschule und der damit verbundenen Frage nach der Berechtigung zur Führung eines entsprechenden (neuen) Namens zu erstellen. In dem Gutachten erinnert einiges an aktuelle Debatten in der österreichischen Hochschullandschaft, wie etwa die Abgrenzung zwischen Universitäten und Fachhochschulen und deren gemeinsamer Hochschulbegriff. Dann kommt die Unterscheidung von Sein und Sollen anhand des Beispiels der faktischen Funktion der Exportakademie als Handelshochschule und deren Unterscheidung von den rechtlich gesollten Kriterien für die Berechtigung der Führung des Titels einer Hochschule zum Ausdruck. Schließlich ist das Gutachten von der für Kelsen typischen und auch in machen von ihm geführten wissenschaftlichen Kontroversen verfolgten83 Argumentationsstrategie geprägt: „Wer A sagt, muss auch B sagen“; will im konkreten Fall heißen: Hat man die Exportakademie aus zwei grundsätzlichen Möglichkeiten einmal der kaiserlichen Verordnung von 1850 und nicht dem niederösterreichischen Landesgesetz betreffend die Handelsschulen von 1873 unterstellt, dann muss man die (juristischen) Konsequenzen, die sich aus dieser Grundsatzentscheidung ergeben, auch strikt durchhalten. Man kann dann, etwa aus politisch opportunen Gründen oder weil es für die Aufsichtsbehörde wünschenswert erscheint, nicht mehr einmal so handeln als wäre ersteres, ein andermal wieder so als wäre zweiteres der Fall – je nach augenblicklicher Vorteilhaftigkeit. Mit seiner entsprechend kohärenten Argumentation, die Exportakademie sei einerseits faktisch eine Handelshochschule und sei aber davon unabhängig juristisch als Privathochschule im Sinne der von den Verwaltungsbehörden bei der Errichtung angewendeten und daher auch konsequent weiter anzuEtwa jene mit den Wiener Fakultätskollegen Alexander Hold-Ferneck und Ernst Schwind: vgl JÜRGEN BUSCH/KAMILA STAUDIGL-CIECHOWICZ, „Ein Kampf ums Recht“? Bruchlinien in Recht, Kultur und Tradition in der Kontroverse zwischen Kelsen und Hold-Ferneck an der Wiener Juristenfakultät, in: SZABOLCS HORNYÁK / BOTOND JUHÁSZ / KRISZTINA KORSÓSNÉ DELACASSE / ZUSZSANNA PERES (eds), Turning Points and Breaklines (= Jahrbuch Junge Rechtsgeschichte 4, München 2009) 110–138 sowie THOMAS OLECHOWSKI, Rechtsphilosophie gegen Rechtsgeschichte? Ein Juristenstreit aus der Zwischenkriegszeit an der Wiener Rechtsfakultät, in GERALD KOHL / CHRISTIAN NESCHWARA / THOMAS SIMON (Hrsg), Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive (Wien 2008) 425–442. 83
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wendenden kaiserlichen Verordnung von 1850 zu qualifizieren und dementsprechend befugt, sich den in diesem Fall freien Hochschultitel zuzulegen, setzen sich Kelsen und seine Auftraggeber aber nicht unmittelbar gegen das Handelsministerium und die involvierten Interessenvertretungen durch. Nachdem zunächst auch erwogen wurde, eine (Außen-)Handelshochschule unabhängig von der Exportakademie zu begründen,84 als die sich letztere ja selbst bereits sah und definierte, kam es 1919 mit der gesetzlichen Umwandlung zur „Hochschule für Welthandel“ durch die Nationalversammlung und damit einhergehender organisatorischer und struktureller Änderungen85 schließlich doch zur von der Exportakademie präferierten „Aufwertung“ und/oder „Anerkennung“, die aber erst 1930 mit der gesetzlichen Verleihung des Promotionsrechts und der Einführung eines akademischen Grades für das Grundstudium („Diplomkaufmann“) abgeschlossen wurde.86 Die von Kelsen aufgezeigten juristischen Grundmängel bei der Gründung der Exportakademie waren damit durch einen „Federstrich“ des Gesetzgebers einige Jahre später beseitigt. 3. Lehre und Forschung Kelsen beginnt seine Lehrtätigkeit an der Exportakademie im WS 1909/10 mit einem Lehrauftrag in der Rubrik der „allgemein zugänglichen Spezialkurse und Abendvorlesungen“, für die er jeden Dienstag abends zweistündig „Die Verfassung und Verwaltung der Balkanländer mit besonderer Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse und der handelspolitischen Beziehungen zu Österreich-Ungarn“ vorträgt.87 Inhaltlich bezieht sich diese Vgl ua ÖStA AVA, Handel, Dep. 25, Fasz 1246, Z 12609 aus 1913 und die dort zusammengefassten Stellungnahmen diverser industrieller und handelspolitischer Interessengruppen und Vertretungen zur Frage der Umwandlung der Exportakademie in eine Handelshochschule bzw die parallele Neugründung eines solchen, die hier vorerst favorisiert wird. 84
Vgl Exportakademie/Hochschule für Welthandel (Hrsg), Programm (Wien 1919) enthaltend die neue Studienordnung, Disziplinarordnung, Bibliotheksordnung und die Vorschriften über die Abhaltung der Diplomprüfung. 85
86
BGBl 1930/234.
Vgl ÖStA AVA, Handel, Dep 25, Fasz 1106, Z 22786 aus 1909 sowie Programm und Vorlesungsverzeichnis für die Export-Akademie, 12. Studienjahr 1909/1910 (UB Wirtschaftsuniversität Wien, Sammelsignatur 17.689-B) 41. Kelsen wurde per Beschluss der Studienkommission vom 19. 12. 1908 mit der Abhaltung von Spezialkursen aus dem Gebiet der Verfassungs- und Verwaltungslehre betraut; vgl Diensttabelle 1914/15, Hans Kelsen-Institut Wien, Ordner Persönliches, Diensttabellen Hans Kel87
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Lehrveranstaltung auf die politische Geschichte der Balkanländer; die Verfassung und Verwaltung von Serbien, Montenegro, Bulgarien, Rumänien, Griechenland und der Türkei; auf die landwirtschaftliche und industrielle Produktion, sowie den Handel und die Handelspolitik der genannten Länder.88 Im folgenden Studienjahr 1910/11 bietet Kelsen als Spezialabendkurs wiederum am Dienstag und zweistündig „Die staatsrechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des osmanischen Reiches“ an und geht dabei ein auf: die Verfassungsgeschichte, das Verfassungsrecht, das Verwaltungsrecht, die wirtschaftlichen Verhältnisse, insbesondere auf Landwirtschaft, Industrie, Handel und Handelspolitik.89 Hinzu kommt nun gemeinsam mit Ernst Seidler der Kurs im ersten Akademiejahrgang „Verfassungs- und Verwaltungslehre sowie Statistik“.90 Im WS 1910/11 hielt er daneben auf Einladung des Wiener Volksheims auch erstmals einen Kurs „Allgemeine Staatslehre“ in der Volksbildung,91 die mit der Exportakademie kooperiert haben dürfte. So wird in der Sitzung des Professorenkollegiums vom 6. Februar 1918 berichtet, dass die Akademie einerseits den Hörsaal 1 unentgeltlich für Vorträge der Urania überlässt; umgekehrt ist der Lehrkörper eingeladen, Vorträge in der Urania zu halten.92 1911/12 wiederholt Kelsen den Abendkurs zum osmanischen Reich;93 ebenso den zweistündigen Kurs aus Verfassungs- und Verwaltungslehre mit Seidler, sen des Handelsmuseums Wien. Lt Lebenslauf 1911, ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Fasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 30728 aus 1911, ist irrtümlich SoSe 1909 angeführt; demnach las er ab dem WS 1909/10 auch das ordentliche Kolleg über österr. Verfassung und Verwaltung (was entweder ebenfalls einen Irrtum Kelsens darstellt oder aber 1909 zunächst inoffiziell gemeinsam oder in Vertretung mit/von Seidler erfolgt ist, wie ab 1910/11 auch offiziell im Vorlesungsverzeichnis der Exportakademie angeführt). Programm und Vorlesungsverzeichnis für die Export-Akademie, 12. Studienjahr 1909/1910 (UB Wirtschaftsuniversität Wien, Sammelsignatur 17.689-B) 41. 88
89
Ebenda, 13. Studienjahr 1910/1911, 40 f.
90
Ebenda 50.
Vgl Lebenslauf 1911, ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Fasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 30728 aus 1911. Zu Kelsens Engagement in der Volksbildung vgl Tamara Ehs, Hans Kelsen und politische Bildung im modernen Staat (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 29, Wien 2007). 91
92
ÖStA AVA, Handel, Fasz 1534, Z 13229 aus 1918.
Programm und Vorlesungsverzeichnis für die Export-Akademie, 14. Studienjahr 1911/1912, 39 f. 93
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der jeweils Freitag morgens stattfindet.94 Im Studienjahr 1912/13 folgt wie gewohnt das osmanische Reich als Abendkurs95 und es tritt in dieser Rubrik neu ein zweiter solcher Spezialkurs Kelsens aus „Bürgerkunde“ hinzu.96 Hier setzt er sich zunächst im Wintersemester auseinander mit den politischen Verhältnissen Österreich-Ungarns: Grundbegriffe der Staats- und Gesellschaftslehre (die menschliche Assoziationsform, das Recht, der Staat, kurze Geschichte der Staatstheorien, Entstehung und Untergang des Staates, Zweck und Rechtsfertigung des Staates, Staatsformen, Staatenverbindungen), kurze Verfassungsgeschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, das staatsrechtliche Verhältnis zwischen Österreich und Ungarn, österreichische Verfassung und Verwaltung, ungarische Verfassung und Verwaltung; im Sommersemester folgen: die politischen Verhältnisse der wichtigsten Kulturstaaten in enzyklopädischer Darstellung: das Deutsche Reich, Frankreich, Russland, England, Italien, Vereinigte Staaten, Türkei und Balkanstaaten.97 Mit Seidler hält er gewohnt die Verfassungs- und Verwaltungslehre.98 Neu hinzu tritt ein zweistündiger Handelsrechtskurs in der Allgemeinen Abteilung Montag morgens.99 Im folgenden Studienjahr 1913/14 bleibt es bei der Bürgerkunde;100 daneben bietet er als zweiten Abendspezialkurs diesmal im Wintersemester „Die öffentlichen rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Balkanstaaten“ an: Überblick über die politische Geschichte der Türkei und der christlichen Balkanstaaten in der Neuzeit; Verfassung und die Grundzüge der Verwaltung (osmanisches Reich, Rumänien, Griechenland, Bulgarien, Serbien, Montenegro, die politische Stellung Albanien, als Anhang die Rechtsverfolgung in den Balkanstaaten); die wirtschaftlichen Verhältnisse der Balkanstaaten
94
Ebenda 52.
95
Ebenda, 15. Studienjahr 1912/1913, 48.
Ebenda 57 f. Ganzjährig Donnerstag von 6 bis 8 abends. Zur Einrichtung dieses Kurses für Kelsen vgl ÖStA AVA, Handel, Dep. 25, Fasz 1306, Z 21316 aus 1912. 96
Programm und Vorlesungsverzeichnis für die Export-Akademie, 15. Studienjahr 1912/1913, 57 f. 97
98
Ebenda 68.
Ebenda 78; vgl auch Diensttabelle 1914/1915, Hans Kelsen-Institut Wien, Ordner Persönliches, Diensttabellen Hans Kelsen des Handelsmuseums Wien. 99
100
Ebenda, 16. Studienjahr 1913/1914, 57; diesmal am Dienstag.
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(Landwirtschaft, Industrie, Außenhandel).101 In der Allgemeinen Abteilung liest er wie im Semester zuvor Handels- und Wechselrecht;102 mit Seidler teilt er sich wie gehabt die Verfassungs- und Verwaltungslehre.103 1914/15 und 1915/16 sind ident mit 1913/14.104 Im Studienjahr 1916/17 hält er nur die beiden Abendveranstaltungen,105 1917/18 nur die Verfassungs- und Verwaltungslehre.106 Im Bereich der Forschung sind die am Handelsmuseum und in der Exportakademie zugebrachten Jahre Kelsens zumindest bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 sehr fruchtbar. Neben der Habilitationsschrift als zentrales Werk dieser Periode,107 das er nicht zuletzt dank der Freiräume für wissenschaftliche Arbeit bei seinem Dienstgeber fertig stellen kann, erscheinen 1908 bis 1914 eine Reihe wichtiger Abhandlungen wie etwa seine intensive Auseinandersetzung mit der Rechtssoziologie, die dann während des Ersten
Ebenda 59 f, Donnerstag von 6 bis 8 Uhr abends. Zur Einrichtung dieses Spezialkurses als Teil einer Reihe von Kursen zum Balkan vgl ÖStA AVA, Handel, Dep. 25, Fasz 1246, Z 2115 sowie die dort anliegenden Vorakten.
101
Programm und Vorlesungsverzeichnis für die Export-Akademie, 16. Studienjahr 1913/1914, 63; dreistündig Montag 8–10 und Samstag 9–10.
102
103
Ebenda 66.
Vgl die Vorlesungsverzeichnisse für die betreffenden Studienjahre; UB Wirtschaftsuniversität Wien, Sammelsignatur 17.689-B.
104
Aus ÖStA AVA, Handel, Dep. 25, Fasz 1340, Z 23347 aus 1916 geht hervor, dass der o. Prof. Pollak die Vorlesung in der Allgemeinen Abteilung nicht mehr halten kann und der zu seinem Ersatz berufene Dozent Hans Kelsen durch seinen Militärdienst an der Supplierung verhindert ist. Für die Dauer der Verhinderung wird daher der Dozent Siegmund Grünberg mit der Vertretung betraut.
105
Nunmehr ohne Seidler; vgl. die Vorlesungsverzeichnisse für die betreffenden Studienjahre. Aus ÖStA AVA, Handel, Fasz 1429, Z 24890 aus 1917 geht hervor, dass die Exportakademie das Handelsministerium um Intervention beim Kriegsministerium ersucht, um die Erlaubnis für Kelsen zu erwirken, die Vorlesung aus Verfassungsund Verwaltungslehre vom zum Ministerpräsidenten ernannten Ernst Seidler zu übernehmen; diese wird für das vorgesehene Ausmaß von 2 Stunden wöchentlich vom Kriegsministerium auch erteilt.
106
HANS KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (Tübingen 1911); jetzt in HKW 2.
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Weltkrieges in der Debatte mit Eugen Ehrlich gipfelt,108 oder seine grundlegende erziehungspolitische Schrift „Weltanschauung und Erziehung“.109 Einige Male macht sich die für Kelsen ungewohnte Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen und handelsrechtlichen Fragen bemerkbar, die im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit am Handelsmuseum und an der Exportakademie stehen; so die Beiträge über „Industrieförderung in Rumänien“110 und „Der Buchforderungseskont und die inakzeptable deckungsberechtigte Tratte“.111 Bedeutung und Stellenwert der wissenschaftlichen Arbeiten Kelsens in dieser „Achsenzeit“ seiner Karriere sind erst kürzlich von Matthias Jestaedt in den ersten drei Bänden der „Hans Kelsen Werke“ ausführlich gewürdigt worden. Nicht außer Acht bleiben darf, dass in die Jahre der ersten – relativen – materiellen Stabilität Kelsens aufgrund seiner Fixanstellung am Handelsmuseum auch seine Familiengründung mit Margarete Bondi und der Umzug in eine neue Familienwohnung in der Wickenburggasse 23 fällt.112 Mit dieser Adresse ist untrennbar auch die Begründung des Privatseminars und der damit einhergehenden Bildung eines engen (Schüler-)Kreises um Hans Kelsen verbunden. Die persönlichen und wissenschaftlichen Bande zwischen Kelsen, Merkl, Verdross, Pitamic, Sander und anderer hängen – mit Ausnahme des letzteren – aber weniger mit Kelsens (Dozenten-)Tätigkeit an der Exportakademie denn mit seiner Lehrtätigkeit als frischgebackener Privatdozent an der Universität Wien ab 1911 zusammen. Aus den besten Hörern der ersten Lehrveranstaltungen Kelsens an der Universität Wien erstehen ab etwa Ende 1913, Anfang 1914 die regelmäßigen Treffen in seiner Privatwohnung.113 Schließlich erfährt Kelsen ebenso gerade um die Zeit nach der Ernennung zum Konzeptsadjunkten und Dozenten mit der „Entdeckung“ des Marburger Neukantianismus (1912) den entscheidenden Anstoß114 zur Weiterentwicklung seiner „Hauptprobleme“ zu dem, was die weltweit diskutierte Reine Rechtslehre Für eine Zusammenschau der im Betrachtungszeitraum erschienenen Abhandlungen Kelsens vgl jetzt HKW 3, enthaltend die veröffentlichten Schriften von 1911 (nach der Habilitationsschrift) bis 1917.
108
109
HKW 3, 112 (ursprünglich erschienen 1913).
110
HKW 3, 65 (ursprünglich erschienen 1912).
111
HKW 3, 93 (ursprünglich erschienen 1913).
Eheschließung am 25. 5. 1912; Geburt der Töchter (H)anna (23. 11. 1914) und Maria (5. 12. 1915).
112
Vgl zur zeitlichen Fixierung der Anfänge von Kelsens Privatseminars BUSCH, Kelsen im Ersten Weltkrieg 73 f, dort auch die Belege. 113
114
Ebenda 73.
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werden sollte und wovon bereits einiges in den weiteren Schriften ab 1911 steckt – all das hat wie gesagt nicht unmittelbar mit der Exportakademie und seinen dortigen Aufgaben zu tun; Einblicke in die (handels)rechtliche Praxis sowie Muse und die existentielle Absicherung für die Begründung seines Lehrgebäudes hat sie ihm aber allemal vergönnt.
IV. Ausblick Was Kelsen an Förderung seitens der Exportakademie empfangen hat, versuchte er auch anderen dort zuteil werden zu lassen: Als seinen Nachfolger hat er mit Erfolg seinen damaligen – und dann „gefallenen“ – „Meisterschüler“ Fritz Sander115 vorgeschlagen, der 1918 die Dozentur Kelsens übernehmen konnte. Nachdem letzterer, dem bereits 1915 der Titel eines ao. Univ.Prof. verliehen wurde,116 als Privatdozent der Universität Wien Anfang Juli 1918 von Kaiser Karl daselbst per 1. Oktober 1918 zum hauptamtlichen ao. Univ.-Prof. für Staats- und Verwaltungsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Militärrechts sowie für Rechtsphilosophie ernannt wurde,117 bewarb sich Sander – wohl auf Anregung Kelsens – im August 1918 als dessen Nachfolger an der Exportakademie. Kelsen unterstützte diese Bewerbung um die Verleihung einer Lehrstelle für Rechtsfächer mit einem äußerst wohlwollen-
Zu diesem und seinem Verhältnis zu Kelsen einführend CHRISTOPH KLETZER, Fritz Sander, in ROBERT WALTER / CLEMENS JABLONER / KLAUS ZELENY (Hrsg), Der Kreis um Hans Kelsen. Die Anfangsjahre der Reinen Rechtslehre (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 30, Wien 2008) 445–470; sowie THOMAS OLECHOWSKI / JÜRGEN BUSCH, Hans Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag. Biographische Aspekte der Kelsen-Sander-Kontroverse, in KAREL MALÝ / LADISLAV SOUKUP (Hrsg), Československé právo a právní věda v meziválečném období 1918-1938 a jejich místo v Evropě (Praha 2010) 1106–1134 (im Druck, online abrufbar unter: [http://www.univie.ac.at/kelsen/workingpapers/kelseninprag.pdf (18. 08. 2010)]; und AXEL KORB, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsund Staatstheorie (1911–1934) (Tübingen 2010), insbes 55 ff, 166 ff, 235 ff u 276 ff. 115
ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Fasz 588, Personalakt Rudolf Herrnritt, Z 28493/1915; vgl auch ebenda, Fasz 589, Personalakt Hans Kelsen, Z 28493/1915 (handschriftliches Deckblatt mit Verweis auf die Verleihung des Titels eines ao. Prof. an Kelsen erliegend im PA Herrnritt) iVm Z 14841/1919 (Begründung der Berufung Kelsens als o. Prof. mit Hinweis auf die Verleihung des Titels eines ao. Prof. 1915).
116
Ebenda, Z 27211/1918. Zur Rolle seiner Tätigkeit für den Kriegsminister im k.u.k. Kriegsministerium für die Errichtung einer „Militärrechts“-Professur an der Universität Wien und Kelsens Ernennung darauf siehe schon die Verweise oben in Fn 5. 117
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den dreiseitigen Gutachten. Sander sei „ein ausserordentlich begabter, selten gründlich und gewissenhaft arbeitender Jurist, der bei seinem grossem Fleisse zu den besten Hoffnungen berechtigt.“ Was ihn „besonders für ein Lehramt an einer hauptsächlich den praktischen Rechtsunterreicht benötigenden Anstalt“ befähige, sei neben dem sorgfältigen Eingehen auf Gerichtsjudikatur, Verwaltungspraxis und rechtsgeschäftliche Übung in seine Grundanschauung vom Wesen des Rechts die mehrjährige Praxis als Rechtsanwalt und seine Tätigkeit im militärischen Verwaltungsdienst sowie die damit einhergehende – und an der Exportakademie besonders gefragte – Verbindung von öffentlichem und Privatrecht. Das zuständige Handelsministerium folgte der Empfehlung Kelsens und dem darauf basierenden Antrag der Exportakademie und ernannte Sander in Nachfolge seines Lehrers zum Dozenten für Rechtsfächer, wenn „auch nicht übersehen werden kann, dass Sander vorderhand noch vom Vorbilde Kelsens allzu stark abhängig ist“.118 Damit konnte Sander seine Lehrtätigkeit an der Exportakademie mit dem Studienjahr 1918/1919 im Oktober 1918 mit der Fortsetzung von Kelsens Kurs „Verfassungs- und Verwaltungslehre und Statistik“ aufnehmen. 1919/20 tritt eine Vorlesung aus Handels- und Gewerberecht gemeinsam mit Siegmund Grünberg hinzu.119 Sanders Tätigkeit an der Exportakademie bleibt ein Zwischenspiel, denn 1921 wird er – wieder auf Empfehlung von Kelsen – (zunächst ao.) Professor an der Deutschen Technischen Hochschule in Prag.120 Für Kelsen selbst bedeuten die Jahre an der Wiener Exportakademie va in dreierlei Hinsicht viel: Da ist zum Einen das persönliche Netzwerk; und da ist zum Anderen die – davon wohl kaum zu trennende – SicherheitsnetzFunktion, die das Einkommen aus der Anstellung im Handelsmuseum und der damit verbundenen Lehrtätigkeit an der Exportakademie in materieller
ÖStA AVA, k.k. Handelsministerium 1918, Fasz 1583, Z 61837/IV aus 1918. Die „Tätigkeit im militärischen Verwaltungsdienst“ im Kelsen-Gutachten bezieht sich auf den Umstand, dass er Sander während des Ersten Weltkrieges zu seinem Mitarbeiter in dem von ihm geleiteten Feldgerichtsarchiv, einer Abteilung des Militärjustizdienstes des Kriegsministeriums, gemacht hatte. Vgl. dazu schon BUSCH, Kelsen im Ersten Weltkrieg 74 (dort bei Anm 103 ff) sowie OLECHOWSKI / BUSCH, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag, dort bei Anm 53. 118
Vgl Exportakademie Wien, Vorlesungsverzeichnis für die Studienjahre 1918/19 und 1919/20 (Universitätsbibliothek Wirtschaftsuniversität Wien, Sammelsignatur 17.689-B).
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Vgl OLECHOWSKI / BUSCH, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag, dort bei Anm 57.
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Hinsicht darstellt. Drittens schließlich – und hier schließt sich der Kreis – erlaubte ihm die durch die im Bernatzik-Seminar an der Universität angeknüpfte Bekanntschaft mit Hermann Schwarzwald und Adolf Drucker neben der Existenzsicherung auch die derart abgesicherte Arbeit an der Fertigstellung der Habilitation, mithin an den Grundlagen der Reinen Rechtslehre sowie der Universitätskarriere, und die Begründung seines eigenen Schülerkreises noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Es wäre müßig zu spekulieren, ob es Kelsen als Begründer der Reinen Rechtslehre auch ohne Exportakademie gegeben hätte. Fest steht, dass die zehn Jahr von 1908 bis 1918, in denen Kelsen damals eine „akademische Grundsicherung“ an der heutigen Wirtschaftuniversität Wien in Anspruch nehmen konnte, tatsächlich mit zu den entscheidenden Rahmenbedingungen für die Begründung einer der einflussreichsten rechtstheoretischen Lehrgebäude des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart zählen und somit in die „Achsenzeit einer Weltkarriere“121 einbezogen werden müssen. Was die Frage aufwirft: Trotz – oder eben gerade wegen – der praktischen Ausrichtung seiner damaligen Wirkungsstätte und der Auseinandersetzung mit damit verbundenen Rechtsfragen wie sie auch in dem im Anhang abgedruckten Gutachten zum Ausdruck kommt?
So die Qualifizierung der Bedeutung des Umfeldes und des Werkes während Kelsens Jahren im Kriegsministerium 1914 bis 1918 in BUSCH, Kelsen im Ersten Weltkrieg.
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Anhang Die rechtliche Stellung der Export-Akademie als Handelshochschule Gutachten erstattet im Auftrage des Professorenkollegiums der Export-Akademie von Dr. Hans Kelsen Privatdozent an der Universität Wien, Dozent an der Exportakademie.122 In dem Kampfe um Anerkennung der Exportakademie als Handelshochschule sind zwei Fragen immer wieder mit einander vermengt worden, deren deutliche Scheidung geeignet ist, eine gewisse Klärung des Problems herbeizuführen: 1.) Ist die Exportakademie eine Handelshochschule? 2.) Darf sich die Exportakademie als Handelshochschule bezeichnen?
I. Was die erste Frage betrifft, so muss betont werden, dass sie keine Rechtsfrage ist. Zu ihrer Beantwortung genügt es festzustellen, was der übliche Sprachgebrauch unter dem Terminus „Handelshochschule“ versteht. Eine Handelsschule mit Hochschulcharakter. Dass die Exportakademie eine Handelsschule ist, scheint mit Rücksicht darauf, dass ihr Zweck die Heranbildung von Kaufleuten ist, selbstverständlich zu sein. Immerhin ist es nicht überflüssig, diese Selbstverständlichkeit ausdrücklich festzustellen, weil – wie aus dem Folgenden ersichtlich sein wird – der Charakter der Exportakademie als Handelsschule gewisse rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann, die speziell für die Titelfrage von Bedeutung sind. Ob nun die als „Exportakademie“ bezeichnete Handelsschule auch eine Hochschule sei, das hängt davon ab, wie man den Begriff der Hochschule fasst. Die älteste Bedeutung des Wortes „Hochschule“ fällt zusammen mit dem Begriffe der Universität, denn die Universitäten waren ursprünglich die einzigen “Hohen Schulen“. Wesentlich für den Begriff Hochschule waren daher diejenigen Momente, die das Charakteristicum (sic!) der Universität waren: Autonomie der Lehrenden und der Lernenden, Lehr- und Lernfreiheit, eine spezifische Organisation und die Pflege ganz bestimmter Maschinschriftliches Gutachten in Beilage zu ÖStA AVA, Handel Dep 25 (Fasz 1246), Z 12609 aus 1913 (Gutachten selbst undatiert; aus dem Zusammenhang ergibt sich aber ebenfalls 1913 als Jahr der Entstehung: dem Datum des Aktes nach zu schließen, dem das Gutachten anliegt (14./15. 4. 1913), dürfte es im ersten Quartal 1913 entstanden sein). Offensichtliche Tippfehler wurden stillschweigend ausgebessert, ansonsten aber die ursprüngliche Schreibweise und Interpunktion beibehalten. Im Original unterstrichene Textteile wurden hier in kursiver Schrift wiedergegeben.
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Wissenschaften. Nicht wesentlich war ursprünglich ein Moment, das erst später in den Vordergrund trat: Die Vorbildung der Lernenden. Die Absolvierung einer Mittelschule ist als Aufnahmsbedingung verhältnismässig erst sehr spät zu konstatieren, denn es gab früher eben keine „Mittelschulen“. Jenes dreigliederige System von Schulen, Volks-, Mittel- und Hochschulen, das für das gesamte Bildungswesen des Kontinents charakteristisch ist, ist erst jüngeren Datums. Mit der Entwicklung dieses Systemes aber und des weiteren mit der Entstehung anderer Hochschulen neben den Universitäten, deren Organisation mangels historischer Tradition den modernen Bedürfnissen angepasst, sich von der der Universitäten unterschied, vollzieht sich mit dem Worte „Hochschule“ ein gewisser Bedeutungswandel. Als wesentliches Charakteristikum tritt gerade jenes Moment in den Vordergrund, das den alten Hohen Schulen überhaupt fremd war: Die Vorbildung der Studierenden (Absolvierung einer Mittelschule); während die ursprünglich wesentlichen Elemente: Spezifische Organisation der Lehrer und Lernenden, spezifische Lehrdisziplinen in den Hintergrund treten. Das letztere dieser beiden Momente, weil eben auch andere Wissenszweige als Jurisprudenz, Medizin, Philosophie und Theologie nach einer hochschulmässigen Pflege verlangen, das erstere, weil es als ein historisches Requisit den gänzlich geänderten Bedürfnissen der modernen Kultur längst nicht mehr entspricht und darum selbst auf den Universitäten Stück für Stück abbröckelt. Von grösserer Bedeutung freilich als das rein äusserliche Moment der Organisation ist ein anderes , das gerade dann am deutlichsten ins Bewusstsein tritt, wenn sich die Tendenz geltend macht, den Begriff „Hochschule“ über den engen Kreis der Universitäten auszudehnen. Zweck der Hochschule ist, was der Zweck der alten Universitäten war: Die Pflege der Wissenschaft. Die Hochschule soll eine Institution sein, die Lehrern und Lernenden die Möglichkeit selbstständiger wissenschaftlicher Arbeit gibt. Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, dass – wie die Entwicklung nun einmal vor sich gegangen ist – gerade dieser Zweck der Hochschule tatsächlich hinter jenem der Vorbereitung für bestimmte Berufe zurückgetreten ist. Sind die technischen, die landwirtschaftlichen und montanistischen Hochschulen nicht in aller erster Linie und fast ausschliesslich Anstalten zur höheren, wenn man will zur höchsten Ausbildung von Ingenieuren, Landwirten, u. s. w.? Und sind nicht auch die Universitäten heute tatsächlich Fachschulen für Aerzte, Juristen, Lehrer und Priester? Und je mehr sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die Universitäten und anderen Hochschulen – wie sie nun einmal notwendig geworden sind – keineswegs mehr die einzigen, ja vielleicht nicht einmal mehr die geeignetsten Stätten zur selbstständigen Pflege der Wissenschaften sind – immer deutlicher wird die Tendenz, wissenschaftliche Forschungsinstitute ohne Schulcharakter neben den Hochschulen zu schaffen – desto sicherer muss auch die Pflege der Wissenschaft als ein spezifischer Kriterium des Hochschulbegriffes verblassen. Da wir heute noch mitten in dieser Entwicklung stehen, die ein Absterben des alten historischen überlebten Universitätstypus und die Ausbildung neuer Formen bedeutet, ist bis jetzt ein fester, scharf abgegrenzter Begriff der Hochschule noch nicht zu konstatieren. Was aber sicher steht, das ist die immer deutlicher werdende Tendenz,
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mit dem Worte „Hochschule“ eine bestimmte Stellung in Systemen der Schulen zu bezeichnen, unter Hochschule eine Schule zu verstehen, die eine auf Volks- und Mittelschulunterricht gegründete Ausbildung vermittelt und deren Lehr- und Lernbetrieb eben dem Grade geistiger Reife entspricht, den die Lernenden gemäss ihrer Vorbildung aufzuweisen haben. Das ist übrigens auch die Auffassung, die unserer österreichischen Gesetzgebung zugrunde liegt. Die einzige Stelle, an der sich der Gesetzgeber mit dem Begriffe der Hochschule befasst, ist der § 17 der kaiserlichen Verordnung vom 27. Juni 1850, R.G.Bl. No. 309 ex 1850. Dieser Paragraph will Hochschulen, die nicht vom Staate, sondern von Privaten errichtet werden, treffen (vergl. dazu die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 28./XI. 1908 Budw.A. No. 6325) und lautet: „Privatanstalten, welche einen Unterricht beabsichtigen, der in dem Systeme der Staatsschulen seinem Wesen nach nur an Anstalten erteilt wird, die den Unterricht der Gymnasien oder Realschulen schon voraussetzen, können nur mit besonderer Bewilligung der Regierung errichtet werden.“ In dieser Bestimmung wird der Begriff der Hochschule in der Weise umschrieben, dass darunter jene Schulen zusammengefasst werden, die auf Grund ihrer Stellung im Schulsystem den Unterricht der Gymnasien oder Realschulen (damals der einzigen Mittelschulen) voraussetzen. Von diesem Gesichtspunkte aus muss nun die die Exportakademie auf Grund ihrer gegenwärtigen Organisation zweifellos als Hochschule gelten. Nach § 13 des provisorischen Organisationsstatuts können als ordentliche Hörer der Exportakademie nur Absolventen einer österreichischen Mittelschule mit Reifezeugnis aufgenommen werden. Der Unterricht wird an der Exportakademie wie an allen Hochschulen, zum Unterschied von den Mittelschulen in zusammenhängenden Vorlesungen, die nicht durch Einzelprüfungen unterbrochen werden, von wissenschaftlich qualifizierten Lehrern abgehalten. Die Prüfungen finden als Kolloquien wie an den anderen Hochschulen am Schlusse des Semesters statt; dass sie obligatorisch sind, bedeutet nur, dass die Exportakademie in der Entwicklung des Hochschulwesens jenen Schritt bereits gemacht hat, den die anderen Hochschulen noch machen werden. Schliesslich sei noch hervorgehoben, dass die ordentlichen Professoren der Exportakademie als Staatsbeamte den gleichen Rang wie die ordentlichen Professoren der Universitäten, technischen Hochschulen u.s.w. haben. Gerade mit Rücksicht auf jenes Moment, das gegenwärtig für den Hochschulcharakter das massgebendste ist, steht die Exportakademie sogar höher als alle diejenigen Handelslehranstalten, die heute im Deutschen Reiche den anerkannten Hochschultitel führen. Dort können bekanntlich als ordentliche Hörer nicht nur absolvierte Mittelschüler, sondern mitunter auch Personen inskribiert werden, die ein EinjährigFreiwilligen-Recht, eine Aufnahmsprüfung, einen Nachweis einer entsprechenden Praxis und ähnliches nachweisen. (Vgl. dazu Dlabac-Zolger, Das kommerzielle Bildungswesen in europäischen und aussereuropäischen Staaten, 6. Band, S. 356.)
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So hat denn auch der Sprachgebrauch die Frage, ob die Exportakademie eine Handelshochschule sei, längst in bejahendem Sinne entschieden. Die Exportakademie wird nämlich tatsächlich als Handelshochschule bezeichnet. Als Sympton (sic!) dafür, diene die Tatsache, dass in dem kürzlich erschienenen von ersten Autoritäten herausgegebenen „Handbuch der Politik“ in dem Artikel „Handelshochschulen“ (II. Band S.592 ff.) von dem ehemaligen Rektor der Berliner Handelshochschule, Prof. Dr. Jastrow, unter den ausserdeutschen Handelshochschulen die Exportakademie an erster Stelle angeführt wird. Und – was hier von besonderem Interesse ist – in dem Oesterreichischen Staatswörterbuch von Mischler-Ulbrich findet sich in dem vom Leiter der Exportakademie Regierungsrat Prof. Schmid verfassten Artikel „Handelsschulen“(II. Band, 2. Auflage, S. 686 ) der Satz:„Derzeit bestehen in Oesterreich zwei Handelshochschulen: Exportakademie in Wien und Revoltella-Stiftung in Triest. All dies genügt wohl um zu erkennen, dass, wenn irgend eine Schule als Handelshochschule angesprochen werden kann, gerade die Exportakademie in erster Linie als solche zu gelten hat.
II. Daraus, dass die Exportakademie eine Handelshochschule ist, muss nun keineswegs folgen, dass sie sich auch als solche offiziell bezeichnen darf. Wenn der Titel „Hochschule“ oder „Handelshochschule“ insoferne rechtlich geschützt ist, als die Rechtsordnung die Verleihung desselben dem Staate vorbehält, dann wäre die Möglichkeit gegeben, dass eine Schule zwar „Hochschule“ oder Handelshochschule ist, sich aber nicht so nennen darf, wenn ihr die Führung dieses Titels nicht vom Staate gewährt wurde. Natürlich nur soweit, als es sich um eine nicht staatliche Schule handelt. Denn eine Schule, deren Subjekt der Staat ist, hat eben nur jenen Titel zu führen, unter dem sie der Staat – den Gesetzen entsprechend – betreibt. Die Titelfrage steht somit im engsten Zusammenhange mit der rechtlichen Stellung der Schule und diese soll zunächst untersucht werden. Die Exportakademie, die seit dem 1. Oktober 1898 besteht, war von Anfang an ein Bestandteil des Vereins „K.k. österr. Handels-Museum“, d. h. der Betrieb dieser Schule bildet seit 1898 einen Zweck dieses Vereines. Die Exportakademie ist also rechtlich eine von einem privaten Vereine betriebene Handelsschule. In dem zur Zeit der Gründung der Exportakademie geltenden Statute des Vereins „K.k. österr. HandelsMuseum“ ddo. 1887 findet sich unter den Zwecken des Vereines weder die Führung einer Handelsschule im allgemeinen, noch der Betrieb der Exportakademie im besonderen. Durch die Gründung und Uebernahme der Exportakademie hat der Verein zweifellos seine Tätigkeit auf einen neuen Zweck ausgedehnt. Eine Aenderung der Statuten, die auf Grund des Vereinsgesetzes vom 26./XI. 1867 die Zwecke des Vereines enthalten müssen, wäre schon im Jahre 1898 notwendig gewesen. Eine solche Statutenänderung ist jedoch damals nicht erfolgt und auch späterhin niemals rechtsgültig vorgenommen worden. Denn ein im Jahre 1906 gedruckter Entwurf eines neuen Statutes enthält unter anderen Abänderungen auch die Aufnahme der Exportakademie unter die Zwecke des Vereines. Dieser Entwurf ist auch im Jahre
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1907 einer Generalversammlung des Vereins vorgelegt worden. Diese Generalversammlung vom 15. März 1907 war aber, wie aus dem Protokolle hervorgeht, mangels der erforderlichen Anzahl anwesender Mitglieder Beschlussunfähig ; überdies wurde der Beschluss dieser Beschluss unfähigen Generalversammlung niemals – wie es bei einem ordnungsgemässen statutenändernden Beschlusse erforderlich gewesen wäre – der k.k. Statthalterei vorgelegt. Und selbst wenn eine solche Vorlage stattgefunden hätte, wäre eine Untersagung seitens der Statthalterei unvermeidlich gewesen, die die neuen Statuten, abgesehen davon, dass sie nicht rechtgültig beschlossen wurden, wesentliche im Vereinsgesetze ausdrücklich geforderte Voraussetzungen nicht erfüllten. Es kann somit keinem Zweifel unterliegen, dass die Exportakademie zu Unrecht vom Verein k.k. österr. Handelsmuseum geführt wird, da die erforderliche Rechtsbasis für die Verfolgung dieses Vereinszweckes fehlt. Und es bedarf wohl keiner besonderen Hervorhebung, dass vor allem das Professorenkollegium der Anstalt das stärkste Interesse hat, dass diese grundlegenden Mängel in der rechtlichen Basierung der Anstalt sobald als möglich behoben werden. Erhebt man nunmehr die Frage, nach welchen Rechtsnormen die Exportakademie als Schule zu beurteilen ist und welche Vorschrift bei ihrer Gründung beobachtet wurde, so ergibt sich das Folgende. Da es sich um die von einem Privatvereine getriebene „Handelsschule“ handelt, käme auf den ersten Blick das niederösterreichische Landesgesetz, betreffend die Handelsschulen, vom 27./II. 1873, Landesgesetzund Verordnungsblatt für das Erzherzogtum Oesterreich u.d.Enns, Jahrgang 1873, XIX. Stück, No. 36, in Betracht. Als Handelsschule müsste die Exportakademie diesem Gesetze unterstellt sein. Dieses Gesetz unterscheidet zwischen privaten und öffentlichen Handelsschulen und bezeichnet als öffentliche diejenigen, welche das Recht haben, staatsgiltige (sic!) Zeugnisse auszustellen. (§3). Dieses Recht, das Oeffentlichkeitsrecht, wird den Handelsschulen vom Unterrichtsminister verliehen (§6). Die Frage, ob die Exportakademie das Oeffentlichkeitsrecht hat, und weiter, on sie im Sinne dieses Landesgesetzes eine öffentliche oder private Handelsschule ist, hängt somit davon ab, ob ihr seitens des Unterrichtsministers das Oeffentlichkeitsrecht verliehen wurde. Dies ist aber tatsächlich merkwürdigerweise niemals geschehen. Die Exportakademie muss daher als private Handelsschule des privaten Vereins K.k. österr. Handelsmuseum angesehen werden. An dieser Tatsache kann auch der Umstand nichts ändern, dass das Organisationsstatut der Exportakademie – das „provisorische“ Organisationsstatut, das mit gewissen Aenderungen noch heute gilt – vom k.k. Handelsministerium im Einvernehmen mit dem k.k. Unterrichtsministerium durch Erlass des k k. Handelsministeriums vom 22./5. 1898 Z. 1529 genehmigt wurde. Denn die Verleihung des Oeffentlichkeitsrechtes ist ein Verwaltungsakt, der ausschliesslich in die Kompetenz des k.k. Unterrichtsministers steht und nach dessen freiem Ermessen erteilt wird. Dieser Verwaltungsakt kann nicht durch die seitens des Handelsministeriums – wenn auch im Einvernehmen mit dem Unterrichtsministerium – erfolgte Genehmigung von Schulstatuten ersetzt werden. Ohne die Frage nach der Kompetenz des Handelsministeriums zu dieser Genehmigung von Schulstatuten
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aufzuwerfen, sei nur auf die möglichen Konsequenzen aufmerksam gemacht, die der Mangel des Oeffentlichkeitsrechtes für die Anstalt und insbesondere für die von ihr augestellten Zeugnisse hat, die nicht den Charakter von staatsgiltigen (sic!) Zeugnissen haben können. Für die Frage, ob die Exportakademie des k.k. österr. Handelsmuseums eine private oder eine öffentliche Schule sei, ist auch die Tatsache bedeutungslos, dass der Lehrkörper zum grossen Teil aus k.k. Staatsbeamten besteht. Betont werden muss nur, dass, wenn die Exportakademie als private Handelsschule des Vereines k.k. österr. Handelsmuseum im Sinne des n.ö. Landesgesetzes von 1873 anzusehen wäre, die Anstalt auf Grund des § 26 dieses Gesetzes die Bezeichnung: „Privathandelsschule des Vereines etc.“ zu führen verpflichtet wäre. Nun ist aber die Exportakademie bei ihrer Gründung diesem Gesetze tatsächlich nicht unterstellt worden. Die Vorschriften dieses Gesetzes wurden nicht beachtet (Z.B. § 25: Genehmigung des Lehrplanes durch den Landesschulrat und die Handelsund Gewerbekammer, etc.); und auch heute fällt es niemanden ein, die Exportakademie nach diesem Gesetze zu beurteilen. Auch ist die Eximierung der Exportakademie aus dem Geltungsbereiche des zitierten Landesgesetzes, betreffend die Handelsschulen, von einem politischen Standpunkte aus durchaus wünschenswert. Es bedeutete eine wesentliche Herabdrückung des Niveaus der Anstalt und eine empfindliche Unterbindung ihrer Entwicklungsfähigkeit, wenn sie neben Handelsschulen niederer oder mittlerer Kategorie sich den Bestimmungen des Landesgesetzes anpassen müsste. Um aber die Exportakademie der Einflussphäre des n.ö. Landesgesetzes von 1873 zu entziehen – und schon bei Gründung der Anstalt hat diese Auffassung als selbstverständlich gegolten, da niemand daran dachte, die Schule diesem Gesetze zu unterwerfen – bieten sich nur zwei Eventualitäten: Entweder man spricht ihr den Charakter einer Handelsschule ab; d. i. aber, weil im offenbaren Widerspruch mit den Tatsachen, undenkbar, oder aber man erklärt das niederösterreichische Landesgesetz nur für Handels-Mittel-Schulen anwendbar und unterstellt die Exportakademie als Handelshochschule einer anderen Norm. Diese letztere Argumentation entspricht auch am meisten den tatsächlichen Verhältnissen wie den Bestimmungen des n.ö. Landesgesetzes. Denn dieses erklärt ausdrücklich in seinem § 5, dass die auf Grund seiner Bestimmungen errichteten Handelsschulen Mittelschulen sind; bezieht diese Beschränkung zwar ausdrücklich nur auf öffentliche Handelsschulen, doch kann nicht ernstlich bezweifelt werden, dass dem Sinne des Gesetzes nach diese Einschränkung auch auf die privaten Handelsschulen Anwendung findet. Dies geht übrigens schon daraus hervor, dass gerade zur Zeit, als das Gesetz erlassen wurde, in Wien bereits eine Handelshochschule – die 1871/72 gegründete Handelshochschule des Vereines der Wiener Handelsakademie – bestand, dem Gesetzgeber also die Kategorie der Handelshochschule bekannt sein musste, da er sich in keiner Weise auf Handelshochschulen bezieht und überdies ausdrücklich eine Einschränkung auf Mittelschulen vornimmt, so ist zu schliessen, dass er Handelshochschulen gar nicht in den Kreis seiner Normierung ziehen wollte. Zumal er ja dazu vielleicht überhaupt gar nicht kompetent war. Denn ob die Regelung des Hochschulwesens mit Ausnahme des
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Gesetzgebung für Universitäten zum Wirkungskreise der Landtage gehört oder dem Reichsrate vorbehalten bleibt, ist eine offene Frage. Nur weil die Exportakademie eine Handelshochschule ist, kann sie also dem n.ö. Landesgesetz, betreffend die Handelsschulen nicht unterstellt sein. Und in vollkommener Harmonie zu dieser Argumentation steht die Lösung der Frage, nach welcher anderen Norm nunmehr die Exportakademie zu beurteilen ist. Da es sich um eine nicht staatliche Schule eines privaten Vereines handelt, kommt mangels eines neueren Spezialgesetzes nur die bereits zitierte kaiserliche Verordnung vom 27. Juni 1850 R.G.Bl. No.309 ex 1850 in Betracht, womit ein „provisorisches Gesetz über den Privatunterricht“ erlassen wurde; und zwar ist es der bereits obenerwähnte § 17, der für die rechtliche Stellung der Exportakademie massgebend ist: „Privatanstalten, welche einen Unterricht beabsichtigen, der in dem Systeme der Staatsschulen seinem Wesen nach nur an Anstalten erteilt wird, die den Unterricht an Gymnasien oder Realschulen schon voraussetzen, können nur mit besonderer Bewilligung der Regierung errichtet werden.“ Nach herrschender – und ernstlich auch nicht bezweifelten Meinung – will dieser § 17 Privathochschulen treffen und jede Errichtung an eine staatliche Konzession binden. Es mag dahingestellt bleiben, on durch den Wortlaut dieses Paragraphs 17 für die Errichtung aller Privathochschulen eine staatliche Konzession gefordert wird oder nur jener, die im Systeme der Staatsschulen bereits bestehen. Der Wortlaut spricht zweifellos nur aus, dass jene Privatanstalten bei ihrer Errichtung einer Genehmigung der Regierung benötigen, die einen Unterreicht beabsichtigen, der im System der Staatsschulen nur an bestimmt qualifizierten Anstalten erteilt wird. Es muss sich also um Hochschulen handeln, die im System der Staatsschulen bereits bestehen. Und es muss bei einer strengen Interpretation sehr zweifelhaft erscheinen, ob zum Beispiel Handelshochschulen, die eben einen Unterricht erteilen, der in dieser besonderen Zusammenstellung und Eigenart im Systeme der Staatsschulen noch an gar keiner Anstalt erteilt wird, weil es eben noch keine staatlichen Handelshochschulen gibt, – ob Handelshochschulen tatsächlich auf Grund dieses Gesetzes einer Konzession bedürfen, oder – wie andere Schul-Kategorien des zitierten Gesetzes bloss zu einer Anmeldung verpflichtet sind. Wie dem auch immer sein möge: Tatsächlich hat die Exportakademie bei ihrer Gründung die Bewilligung der Regierung erhalten, indem ihr Statut durch Erlass des Handelsministeriums im Einvernehmen mit dem Unterrichtsministerium genehmigt wurde. Der Vorschrift des § 17 hat die Exportakademie bei ihrer Gründung jedenfalls Genüge geleistet. Und indem man die Exportakademie nicht dem n. ö. Landesgesetz, sondern der kaiserlichen Verordnung, betreffend den Privatunterricht von 1850, und zwar dem § 17 dieser Verordnung tatsächlich unterstellt hat, der sich zweifellos auf private Hochschulen bezieht, hat man die Exportakademie schon bei der Gründung als Handelshochschule anerkannt. Wie steht es nun aber mit dem Rechte, den Hochschultitel zu führen? Für die Frage des Titels bei Privatschulen (im Sinne von nicht staatlichen Schulen) ist gegenwärtig gleichfalls die kaiserliche Verordnung von 1850 betreffend den Privatunterricht massgebend. In dieser Verordnung werden gewisse Schultitel insoferne rechtlich geschützt, als die Führung derselben an die Genehmigung des Ministeriums für Kul-
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tus und Unterricht gebunden wird. Es sind dies ausdrücklich nur „die Namen eines Gymnasiums oder einer Realschule“ (§ 5 und § 6). Alle übrigen Schultitel sind frei. Dies entspricht durchaus dem Geiste dieser kaiserlichen Verordnung, die bekanntlich das Prinzip der Schulfreiheit realisieren wollte. Es setzt daher insbesondere die Bezeichnung Hochschule oder Handelshochschule nicht eine Verleihung oder Genehmigung seitens der staatlichen Unterrichtsverwaltung voraus. Tatsächlich gibt es auch in Oesterreich mehrere private Unterrichtsanstalten, die sich als „Hochschule“ bezeichnen, ohne dass ihnen dieser Titel vom Staate verliehen worden wäre. Aus dem Nachschlageregister zu den Reichsgesetzen etc. von Merfort und Hofer, Erg. B. S. 116 ff, der mehr Kategorien von Hochschulen anführt, als solche mit staatlichen Charakter bestehen, sei hier nur die „Čechische Hochschule für politische Wissenschaften“ in Prag erwähnt. Dass in Wien eine Hochschule für Friseure besteht, möge nur der Kuriosität wegen bemerkt sein. Der entgegengesetzten Auffassung der Unterrichtsverwaltung, dass auch andere Schultitel als die des Gymnasiums und der Realschule staatlicherseits zu verleihen seien, hat der V.G.H. in mehreren Fällen bereits ausdrücklich widersprochen. So bezüglich des Titels „Handelsschule“ und bezüglich des Titels „Handelsakademie“. Aus der Entscheidung des V.G.H. vom 28./XI. 1908 No. 6335 (Budw. A.), durch welche dem Unterrichtsministerium das Recht abgesprochen wird, einer Anstalt die Führung des Titels „Handelsschule“ zu untersagen, ist mutatis mutandis auch für die Frage des Handelshochschultitels von Bedeutung, was der V.G.H. speziell mit Beziehung auf die kaiserliche Verordnung von 1850 ausführt, nämlich: „Dass die Bezeichnung „Handelsschule“ nicht deshalb als unzulässig bezeichnet werden kann, weil die in Rede stehende Anstalt in Beziehung auf den Unterrichtsbetrieb und die Lehrmetode von anderen ebenso benannten und insbesondere von öffentlichen oder staatlich subventionierten Handelsschulen abweicht. Uebrigens trägt die Staatsverwaltung in der Richtung, ob in dieser Anstalt der Unterrichtserfolg ebenso erreicht wird, wie in anderen als Handelsschulen bezeichneten Anstalten nach der ausdrücklichen Bestimmung des § 11 keine Verantwortung, und es fehlt daher jeder rechtliche Titel für die Erlassung eines solchen Verbotes (den Titel „Handelsschule“ zu führen).“ Insbesondere aber ist das bezüglich des Handelsakademietitels erflossene Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes per analogiam auch auf den Handelshochschultitel anwendbar. Was der Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 8. Mai 1912 No. 5841 ex 1912 erklärt: „Dafür aber, dass der vom Ministerium auch für höhere Handelslehranstalten an sich als zulässig bezeichnete Titel „Akademie“ an eine besondere Verleihung durch dieses Ministerium bedungen wäre, vermag keine gesetzliche Bestimmung angeführt werden,“ dass gilt durchaus auch für den Titel „Handelshochschule“. Eine Anstalt, die eine Handelshochschule ist, kann sich ohne weiteres auch als solche bezeichnen und das Ministerium für Kultus und Unterricht kann ihr diesen Titel umsoweniger entziehen, als es gar nicht in der Lage ist, diesen Titel zu verleihen. Zumal einer Anstalt gegenüber, die zu jener Kategorie von Schulen gehört, auf die sich der § 17 der kaiserlichen Verordnung von 1850 bezieht, nämlich zur Kategorie der privaten Hochschulen.
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Dagegen bleibt natürlich die Kompetenz der Unterrichtsverwaltung, das Oeffentlichkeitsrecht nach freiem Ermessen zu erteilen oder zu entziehen, unberührt. Da aber nach dem Prinzipe der Gesetzmässigkeit der Verwaltung auch das freie Ermessen rechts-pflichtgemäss, d.h. in Uebereinstimmung mit den Gesetzen ausgeübt werden soll, darf streng genommen die Erteilung oder die Entziehung des Oeffentlichkeitsrechtes nicht an Bedingungen geknüpft werden, die mit den ausdrücklichen Bestimmungen oder dem Geiste des Gesetzes nicht harmonieren. Es darf also das Oeffentlichkeitsrecht nicht entzogen oder verweigert werden, weil eine Privatschule sich einen Titel beilegt, der den Tatsachen entspricht und rechtlich frei ist. Nur weil auf Grund unserer Verfassung eine verwaltungsgerichtliche Ueberprüfung des freien Ermessens und der Motive seiner Handhabung noch nicht möglich ist – die moderne Theorie des Verwaltungsrechtes fordert längst schon eine solche Ausdehnung der Verwaltungsgerichtsbarkeit nach französischem Muster – kann die Verwaltung faktisch durch die die Praxis der Oeffentlichkeitsrechts-Erteilung auch auf die Titelführung der Privatschulen, einen Einfluss nehmen, der das von der Rechtsordnung gewagte Prinzip der Titelfreiheit aufhebt. Da nun auch die nach § 17 der kaiserlichen Verordnung von 1850 zu beurteilenden Privathochschulen eine „Bewilligung der Regierung“ erhalten müssen, diese Bewilligung nach der Anschauung der Praxis nach freiem Ermessen erteilt wird, so könnte vielleicht gerade der Exportakademie gegenüber geltend gemacht werden, dass die Statuten, auf Grund deren die Bewilligung erteilt wurde, die Bezeichnung „Handelshochschule“ nicht enthalten, und dass anderen Falles die Bewilligung nicht erteilt worden wäre, resp. zurückgezogen werden müsste. Dieser Standpunkt ist aber ganz angesehen von allen anderen Einwänden schon deshalb unhaltbar, weil die Unterrichtsverwaltung unmöglich eine Schule auf der einen Seite als Hochschule qualifizieren kann, indem sie sie den Bestimmungen des nur auf private Hochschulen bezüglichen § 17 unterstellt und durch Erteilung der Bewilligung dokumentiert, dass die Anstalt die vom Gesetze geforderten Bestimmungen für die Errichtung und den Bestand einer Hochschule erfüllt, um auf der anderen Seite eben dieser als Hochschule qualifizierten Anstalt zu verbieten, sich als das zu bezeichnen, wofür die Verwaltung sie stets genommen hat und nehmen muss, wenn die Schule nach § 17 der kaiserlichen Verordnung von 1850 beurteilt werden soll. Die Exportakademie kann sich daher als Handelshochschule bezeichnen, ohne für diese Bezeichnung die Bewilligung der Unterrichtsverwaltung zu benötigen, geschweige dann dass sie, um diese Bewilligung zu erlangen, irgendwelche Organisationsveränderungen durchzuführen hätte. Denn sie erfüllt alle Bedingungen, die das Gesetz von einer privaten Hochschule fordert und die in dem zitierten § 17 ausdrücklich angeführt sind: 1.) Dass kein Lehrer bestellt werde, welcher nicht mit Rücksicht auf seine wissenschaftliche Befähigung und auf sein moralisches und politisches Betragen von der Regierung als befähigt anerkannt worden ist, 2.) Dass die Subsistenzmittel der Anstalt für eine Reihe von Jahren wenigstens mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit gedeckt sind.
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Das Vorhandensein dieser Bedingungen hat ja die Regierung durch Erteilung der Genehmigung dokumentiert. Wenn sich aber die Exportakademie als Handelshochschule bezeichnen darf, so bedeutet das allerdings nicht, dass sie den Titel „Exportakademie des k.k. österr. Handelsmuseums“ gegen den Titel Handelshochschule eintauschen darf. Denn der Titel „Exportakademie des k.k. österr. Handels-Museums“ ist durch § 1 der juristisch allerdings sehr zweifelhaften Organisationsstatuten festgelegt und wie jede Bestimmung derselben auf Grund der Bestimmung dieser Statuten selbst nur mit Zustimmung des Handelsministeriums und des Unterrichtsministeriums abzuändern. Auch wäre es vielleicht gar nicht zweckmässig, auf den Titel „Exportakademie“ zu verzichten. So problematisch sein Wert vom sprachästethischen Standpunkt aus sein mag – die Vorstellung etwa einer „Import-„Akademie dürfte das Fragliche dieser Wort- und Begriffsbildung vielleicht am besten zum Bewusstsein bringen –, so sehr auch die tatsächliche Entwicklung der Anstalt ihren Namen lügen straft – ist es doch nur der allerkleinste Teil der Hörerschaft, den der österreichische Exporthandel absorbieren kann – so hat sich doch die Schule unter dieser Firma im öffentlichen Leben eingeführt und ein Renommée erworben, das weit über die Grenze unseres Vaterlandes hinausreicht. Wenn aber auch eine Eliminierung des Titels „Exportakademie“ ohne Statutenänderung nicht möglich und abgesehen davon auch gar nicht wünschenswert ist, so steht doch keinerlei rechtliches Hindernis im Wege, die Bezeichnung „Handelshochschule“ dem Titel: „Exportakademie des k.k. österr. Handels-Museums“ als Ober- oder Untertitel voran oder nachzusetzen. Sowie einer durch Eintragung in das Handelsregister rechtlich gebundenen Firma etwa A. Mayer & Co., die Bezeichnung „Schuhfabrik“ hinzugefügt werden darf, wenn unter dieser Firma wirklich Schuhe fabriksmässig erzeugt werden, und ohne Rücksicht darauf, ob die Inhaber der Firma noch A. Mayer & Co. sind. Und so kann das Ergebnis der vorstehenden Ausführungen dahin zusammengefasst werden, dass der Kampf um die Anerkennung der Exportakademie als Handelshochschule ein Versuch ist, weit offene Türen einzurennen.
Haupt- und Zusatzaufgaben der Jurisprudenz FRANZ BYDLINSKI, Wien
I. Zu meiner Freude bin ich eingeladen worden, an der Ehrung meines langjährigen Fakultäts- und Akademiekollegen Werner Ogris durch eine Festschrift teilzunehmen, wofür jedenfalls und vor allem Gründe persönlicher Verbundenheit sprechen. Schwierig erschien mir freilich die Auffindung eines geeigneten Themas: Unsere wissenschaftlichen Arbeitsgebiete liegen ja relativ weit auseinander. Rechtshistorisches Dilettieren verbot sich für mich von selbst; ein gewöhnliches und festschriftgerechtes rechtsdogmatisches Thema versprach nicht unbedingt, den Jubilar zu interessieren. Als Ausweg habe ich mich zu einem neutralen, weil sehr allgemeinen, in dieser Art meines Wissens noch unbehandelten Thema entschlossen, über das ich daher ziemlich frei (und mit einem Minimum an Anmerkungen) reflektieren möchte: Mir scheint, dass die Jurisprudenz zu ihren üblichen Aufgaben einige zusätzliche übernehmen sollte; natürlich im Rahmen des Möglichen und mit aller Unterstützung, die sie dafür mobilisieren kann. Der verdeutlichenden Kontrastierung wegen bedarf es aber zunächst einer kurzen Beschreibung der genuinen Aufgaben der Jurisprudenz. Das sind zunächst jene der Rechtsdogmatik. Sie ist am besten – und im Gegensatz zu teilweise abenteuerlichen abweichenden Äußerungen („Glaubensgehorsam“!) – als Suche nach möglichst rational aus dem Recht begründbaren Antworten auf real oder möglicherweise in der jeweiligen Sozietät auftretende Rechtsfragen (zwischenmenschliche Problemsituationen) zu verstehen. Hilfsmittel dafür sind ein für den Zweck dieser „Rechtsgewinnung“ im Einzelfall geeigneter, also weiter Rechtsbegriff, der das „positive Recht“ des staatlich verfahrensmäßig korrekt geäußerten oder erkannten Normwillens samt seinen Zweck- und Prinzipiengrundlagen (Grundwertungen) bis hinauf zu den allgemeinsten Rechtswerten der Rechtsidee (Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit) umfasst. Die „Rechtsidee“ ist alles andere als eine bloße oder gar verstiegene Idee, sondern vielmehr die Zusammenfassung der Maximen, die in den meisten Rechtsordnungen am breitesten wirksam und die zugleich durch die Zustimmungsfähigkeit jedes rationalen Urteilers legiti-
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miert sind. Ihre einzelnen Elemente lassen sich sprachlich mit Ergiebigkeit für das Recht analysieren und weiter differenzieren. Dazu kommen die bewährten Rechtsgewinnungsmethoden der wörtlichen, der systematischen, der historischen und der objektiv-teleologischen Auslegung sowie der ergänzenden Rechtsfindung durch Analogie oder Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze, die in sich weiter differenzierungsfähig sind. Die elementarste, aber nur in besonders einfachen Fällen unmittelbar ausreichende Methode ist die Subsumtion: Die sprachlich beschriebenen konkreten Merkmale des zu beurteilenden Sachverhalts werden mit den abstrakteren Merkmalen des gesetzlichen Tatbestandes verglichen. Soweit die ersteren als Unterfälle des letzteren erwiesen werden, ist die Subsumtion gelungen und die Rechtsfolge der Norm für den konkreten Fall deduktiv abgeleitet. Sie lässt sich allerdings nur in den unzweifelhaften „Begriffskernen“ der gesetzlichen Tatbestandsbegriffe ohne weiteres vollziehen. Darüber hinaus ist Interpretation zwecks Vorbereitung subsumtionsfähiger Regeln erforderlich. Zur Vorbereitung rationaler Rechtsgewinnung muss das ganze „Rechtsgewinnungsmaterial“ an Regeln, Zwecken, Grundsätzen und (unwiderlegten) Präjudizien von der Jurisprudenz systematisch so geordnet werden, dass die jeweils im Einzelfall benötigten Normen möglichst leicht und schlüssig aufgefunden und in ihrem Verhältnis zueinander erkannt werden können.1 Das zweite genuine Aufgabenfeld der Jurisprudenz war und ist immer die juristische Arbeit de lege ferenda („Rechtspolitik“), soweit dabei rationale Überlegungen Platz finden und nicht bloß freie, „unmethodische“2 politische Wertungen und Parolen miteinander konkurrieren. Für einen reinen Rechtspositivismus, für den Recht und positives (staatliches erzeugtes oder anerkanntes) Recht identisch sind, ist die Beteiligung des „Juristen als solchem“3 an der Gesetzgebungsarbeit schwer erklärbar: Denn das für ihn allein maßgebende positive Recht steht ja gerade zur Veränderung an. Tatsächlich aber Zur Rechtsdogmatik (Jurisprudenz im engeren Sinn) und gegen die damit häufig verbundenen Missverständnisse ausführlich und mit vielen kritischen Auseinandersetzungen FRANZ BYDLINSKI, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2 (Wien 1991) 8 ff.
1
2
Formulierung von REINHOLD P. HOTZ, Einflüsse des Unmethodischen auf die Methode der Rechtssetzung, Recht – Zeitschrift für juristische Ausbildung und Praxis 2 (1984) 41 ff.
3
Formulierung von BERNHARD WINDSCHEID, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft (1894), (veröffentlicht ua) in: PAUL OERTMANN (Hrsg), Bernhard Windscheid, Gesammelte Reden und Abhandlungen (Leipzig 1904) 111.
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entspricht ganz zentrale Beteiligung von Juristen, insbesondere von bedeutenden Rechtswissenschaftlern, an der Entstehung großer Gesetzeswerke Jahrtausende alter rechtlicher Erfahrung. Ein positivistischer Ausweg liegt in der strengen Beschränkung des juristischen Beitrages bei der Arbeit an der lex ferenda auf die „Gesetzestechnik“, also auf die Beschaffenheit des künftigen Gesetzes „abgesehen von ihrem Inhalt“.4 Es geht dann um die leichte „Erkennbarkeit“ des Gesetzes und damit um leichte und verlässliche Anwendung im Einzelfall und um einen möglichst ökonomischen, dh mit möglichst wenigen Gesetzesvorschriften auskommenden Aufbau des Rechtssystems. Systemimmanent zurückführen lässt sich diese zwar „technische“, aber durchaus normative Maxime mit einiger Anstrengung auf den Verfassungsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit (der freilich in umfassender Gestalt auch erst mit Hilfe von Zusatzargumenten aus der „positiven“ Verfassung gewonnen werden kann und der seinerseits eine Ableitung aus dem Fundamentalgrundsatz der Rechtssicherheit ist). Für die Realisierung wurde die Methode der „umgekehrten Subsumtion“ empfohlen.5 Die möglicherweise neu und anders zu beurteilenden realen Fälle des Rechtslebens sollen (politisch) mit den gewünschten Ergebnissen ausgezeichnet und sodann soll juristisch die allgemeine Regel gesucht werden, die, wenn sie in Kraft gesetzt ist, diese Ergebnisse hervorbringt. Wäre diese Arbeitsteilung strikt durchzuhalten, so könnte man die Mitarbeit der Juristen an neuen Gesetzen in der Tat als eine (zwar gewichtige, aber doch) bloß technische bezeichnen. So verhält es sich aber nur in dem irrealen Modellfall, in dem die politischen „Problemimpulse“, die der jeweiligen Arbeit de lege ferenda zugrunde liegen, tatsächlich alle in Frage kommenden Fallsachverhalte erfassen und in bestimmter Weise bewerten. Tatsächlich erschöpfen sich die politischen „Impulse“ aber oft in ganz unscharfen Anregungen (etwa unter dem Motto: „Mehr Rechte“ für irgendeine Bevölkerungsgruppe), die bloß eine große Linie, aber keine Einzelfallergebnisse vorgeben, oder orientieren sie sich umgekehrt an Einzelfällen, die öffentliche Aufmerksamkeit erregt haben. Umfassende Abgrenzungsbemühungen im Zusammenhang mit der Neuorientierung und deren bestmögliche Einpassung in das verbleibende System sind praktisch immer Aufgaben der beteiligten Juristen. Diese sind also durchaus auch, aber sozusagen in zweiter Linie, inhaltlicher Natur. Eine Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Politikern und Juristen, die darin besteht, dass 4
Vgl ROBERT WALTER, Die Lehre von der Gesetzestechnik, ÖJZ 1963, 85 mit Angaben. 5
Vgl PETER NOLL, Gesetzgebungslehre (Reinbek bei Hamburg 1973) 18, 290.
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die letzteren die ersten bei jedem neu als problematisch entdeckten Fall um ihre Bewertung befragen müssten, ließe sich nur als Satire vorstellen. Selbstverständlich mündet ein fertiger Gesetzesentwurf immer in die parlamentarische Behandlung und Beschlussfassung ein, so dass in der auch inhaltlichen Beteiligung juristischer Experten an der Gesetzgebung wahrhaftig nichts Aufregendes liegen kann. Die kürzlich an einem Diskussionsentwurf für eine Schadenersatzreform in Österreich, den eine Sachverständigengruppe im Justizministerium ausgearbeitet hat, geübte grundsätzliche Kritik, dass die Gesetzgebung doch dem Gesetzgeber vorbehalten sei, liegt daher in erstaunlichem Umfang neben der Sache; umso mehr, als sie von professionellen Rechtswissenschaftlern stammt. Im Übereifer der Kritik ist anscheinend alles möglich. Die vorstehenden Überlegungen lassen erkennen, warum die Mitarbeit der Jurisprudenz an der lex ferenda unentbehrlich ist: Für rein technische Aufgaben könnte manchmal die Substitution der Juristen durch besonders Sprachkundige, durch Logiker oder Systematiker reizvoll erscheinen. Tatsächlich können solche aber allenfalls in besonders geeigneten Fällen Korrekturaufgaben übernehmen. Die ganz zentrale Notwendigkeit des ständigen In-Beziehung-Setzens von Fallsachverhalten und – hier zunächst hypothetisch erwogenen – Regeln unter den Leitzielen der normativen Konsistenz und Sachgerechtigkeit bleibt jedoch eine genuine Aufgabe der Jurisprudenz. Niemand kann sie ihr abnehmen. Dass sie oft unter dem Einfluss der vielen und meist gegensätzlichen „unmethodischen“ (politischen) Einwirkungen auf die Gesetzgebungsarbeit sowie unter dem Einfluss eines meist künstlich erzeugten unmäßigen Zeitdrucks auf diese Arbeiten alles andere als optimale Ergebnisse, nämlich häufig mangelhafte Gesetze, hervorbringt, steht auf einem anderen Blatt. Selbstverständlich sind daran nicht selten, aber seltener als man denkt, auch fachliche Unzulänglichkeiten mitarbeitender Juristen beteiligt. Am Rande versteht sich, dass als faktische Prämissen bei der Gesetzgebungsarbeit die gegenwärtig bestbegründeten Ergebnisse der jeweils zuständigen Natur- oder Sozialwissenschaften zugrunde zu legen sind; in zweifelhaften Fällen aber gerade nicht die Ergebnisse bloß einer ideologisch unterlegten Strömung in diesen Wissenschaften, die gerade politisch bevorzugt wird. Auch dabei kommt der Jurisprudenz bei der Arbeit de lege ferenda schon aufgrund ihres uralten Grundsatzes „audiatur et altera pars“ eine Art Wächteramt zu, mit dem sie freilich nicht selten auf verlorenem Posten steht. Mehr als sorgfältige und beharrliche Bemühung ohne Erfolgsgarantie kann aber niemand leisten. Besonders nachdrücklicher Widerstand sollte gegenüber den
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Versuchen geleistet werden, normative Fragen durch – wie immer geartete – empirische Aussagen zu entscheiden. Kurz zusammengefasst: Wenn die Jurisprudenz primär die Aufgabe hat, aus dem abstrakten Rechtssystem mit bestmöglicher rationaler Begründung konkrete Fallergebnisse zu gewinnen, liegt es nahe, dass sich ihr Dienst am Recht auch darauf erstreckt, das Rechtssystem dazu bestmöglich geeignet zu machen, soweit es in ihren Kräften steht. Die dabei benötigte Technik des InVerbindung-Bringens von abstrakten Regeln und konkreten Sachverhaltselementen ist mutatis mutandis in Rechtsdogmatik und rationaler Rechtspolitik (Subsumtion bzw umgekehrte Subsumtion) ähnlich. Auch die Arbeit de lege ferenda erweist sich somit nicht nur historisch als genuine Aufgabe der Jurisprudenz. Sie setzt durchaus eine kritische Haltung gegenüber zur Änderung anstehenden Teilen der bisherigen Rechtsordnung voraus, die freilich auf nachweisliche Verbesserung, nicht einfach auf bloße „Veränderung“ der Rechtslage abzielen muss. Die Unterscheidung zwischen der Arbeit de lege lata und jener de lege ferenda beruht selbst auf unabweisbaren Gründen der Rechtssicherheit, was hier nicht näher ausgeführt zu werden braucht. Eine dritte genuine Aufgabe der Jurisprudenz, die freilich in der juristischen Literatur und in der Lehre häufig vernachlässigt wird, stellt die „Kautelarjurisprudenz“6 dar, also die vorsorgliche Beratung und Anleitung der Rechtsgenossen bei der Gestaltung ihrer Rechtsverhältnisse, insbesondere durch private Rechtsakte. Sie ist vor allem das außergerichtliche Geschäft der Anwälte und Notare, aber auch der angestellten Wirtschaftsjuristen, in der Praxis zum Teil auch der Steuerberater, die sich dabei manchmal überfordern. In der Literatur ist häufig von einer „ganz anderen Denkweise“ des Kautelarjuristen die Rede. Das ist aber sehr missverständlich, weil es nur zum Teil stimmt. Zentral hat auch der rechtliche Berater Subsumtion und deren Vorbereitung zu betreiben, nämlich hypothetische, sich möglicherweise in der Zukunft ereignende Fallsachverhalte mit vorläufig erwogenen Regeln, insbesondere Vertragsklauseln, in Verbindung zu bringen und die hypothetischen Ergebnisse abzuleiten und sodann vom Interesse des Beratenen her zu bewerten. Je nachdem müssen die erwogenen Regeln geändert und gegebenenfalls die Sachverhalte anders gestaltet werden. Das allerdings ist daher das bedeutende und schwierige Plus gegenüber der Rechtsdogmatik: Die maßgebenden Regeln sind solche des präsumtiven Rechtsgeschäfts und daher – insoweit ähnlich wie bei der Gesetzgebung – von der künftigen Rechtsgestaltung abhängig. Der beratende Jurist bekommt vom Beratenen dessen Wünsche (Zwecke) „gelie6
Vgl BYDLINSKI, Methodenlehre 609 ff mit Angaben.
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fert“ und soll eine Regel finden, deren Rechtsfolge diesen Zweck realisiert. Dazu muss natürlich zunächst geprüft werden, ob das gewünschte Ergebnis vertraglich überhaupt möglich ist, also nicht etwa gegen zwingendes Recht verstößt; ferner vor allem, mit welchen künftigen Sachverhaltsveränderungen wahrscheinlich oder doch möglicherweise (und dann für den Beratenen gefährlich) zu rechnen ist, welche unangenehmen Neben- oder Spätfolgen einer erwogenen Rechtsgestaltung eintreten können sowie ob und wie unerwünschte Wirkungen durch entsprechende vertragliche Regelbildung vermieden oder reduziert werden können. Mehrere Möglichkeiten sind auf ihre relativen Vorzüge und Nachteile zu untersuchen. Das setzt häufig erhebliche wirtschaftliche Erfahrung und juristische Fallphantasie voraus. Sehr erschwerend kommt hinzu, dass eine für den Beratenen noch so ideale Vertragsgestaltung praktisch ausscheidet, wenn sie voraussehbar keine Chance hat, die Zustimmung eines vertraglichen Gegenbeteiligten zu finden, so dass auch dessen Interessenlage sorgfältig berücksichtigt werden und der Vorschlag ihm unzumutbarer Vertragsbestimmungen vermieden werden muss. Das kann wieder den Kautelarjuristen gegenüber seinem Auftraggeber ins Dilemma bringen, wenn dieser bedingungslose Identifikation mit seinen Interessen erwartet. Hier wird häufig schon der Hinweis auf die Aussichtslosigkeit zu einseitiger Gestaltung des Vertragsentwurfes als Abhilfe genügen. Will der Auftraggeber trotzdem für ihn optimale Lösungen versuchen, so ist der Berater jedenfalls außer Obligo, wenn er deutlich auf die geschilderte Problematik hingewiesen hat. Eine besonders schwierige Situation entsteht freilich für den beratenden Juristen, wenn der präsumtive Vertragspartner aus intellektueller oder wirtschaftlicher Schwäche oder Gleichgültigkeit voraussehbar nahezu alles hinzunehmen bereit ist. Versteht man den beteiligten Juristen bloß als Gehilfen seines Auftraggebers, so muss er natürlich voll „zuschlagen“. Sieht man ihn aber, wie dies geboten ist, auch als Organ des Rechts, so muss er seinen Auftraggeber vor allem auf alle in Betracht kommenden Institute des zwingenden Rechtes hinweisen, die ein Minimum an Vertragsäquivalenz gewährleisten sollen, und sich weigern, solchem Recht zuwider zu handeln. Notfalls muss die Auflösung des Auftrages hingenommen oder sogar ausgesprochen werden. Wo nicht die Verletzung konkreter Rechtsregeln, wohl aber die Mitwirkung an einer echten Gemeinheit zulasten eines Schwächeren droht, bietet sich eine entsprechende Konkretisierung der „guten Sitten“ mit denselben Ergebnissen an. Wer sich, etwa wegen wirtschaftlichen Angewiesenseins auf den betreffenden Auftraggeber, zur geschilderten Konsequenz nicht ent-
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schließen kann, muss das mit seinem juristischen Gewissen und seinem Ansehensverlust unter den Berufs- und Rechtsgenossen abmachen. Die erörterten Besonderheiten der juristischen Tätigkeit des Kautelarjuristen ändern nichts an den schon dargelegten Gründen dafür, dass es sich auch dabei um eine genuin juristische Aufgabe handelt. Für die hypothetische Rechtsanwendung auf mögliche Fallgestaltungen kann daran kein Zweifel sein. Bestätigt wird auch dies durch sehr alte und durchgängige juristische Erfahrung. Es gibt keine andere Disziplin, deren Vertreter bei der Rechtsberatung ernsthaft mit den Juristen konkurrieren. (Die Zuziehung von Sachverständigen verschiedenster Fächer zur Klärung von implizierten Tatsachenfragen ist natürlich etwas anderes.) Auch die heute so aktuelle Mediation hält sich institutionell mit gutem Grund von Aufgaben der eigentlichen Rechtsberatung fern. Für zahllose erfahrene Richter und Anwälte ist übrigens die Aufgabe, Streitparteien tunlichst zu einer beidseits vertretbaren einvernehmlichen Lösung ihrer Probleme zu bringen, alles andere als neu oder aufregend. Die Rede ist dann allerdings häufig von einer „wirtschaftlichen“ Lösung im Gegensatz zu einer „juristischen“ durch autoritative Streitentscheidung. Diese Terminologie ist aber falsch und irreführend, da der – außergerichtliche und gerichtliche – Vergleich, um den es geht, selbstverständlich gerade ein rechtliches Institut der Streitbeilegung ist. Zusammenfassend ergibt sich: Rechtsdogmatik, juristische Arbeit an der lex ferenda und Rechtsberatung stellen genuine juristische Aufgaben dar, weil sie jedenfalls das spezifisch juristische Denkverfahren der Zusammenfügung von – realen oder hypothetischen – Fallsachverhalten mit – geltenden oder erwogenen – Rechtsnormen mindestens einschließen und weil sie weiter darauf ausgerichtet sind, das bestehende Recht rational bestmöglich zu realisieren oder die Rechtslage zu verbessern. Die Erörterung von Zusatzaufgaben der Jurisprudenz muss sich ebenfalls an der Nähe zu diesen beiden Kriterien, nämlich der juristischen Urmethode der Verbindung von Sachverhalten und Normen einerseits und der tunlichsten Realisierung oder Verbesserung der Rechtslage andererseits, orientieren.
II. A. Beratung gefälligkeitshalber Wohl jeder erfahrene Jurist, der in seinem Verwandten- und Freundeskreis und unter seinen Nachbarn als solcher bekannt ist, wird häufig mit Rechtsfragen konfrontiert, die sich dazu gehörigen Personen gerade praktisch stellen, oder
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mit der Bitte, Vertragsentwürfe, behördliche Zusendungen oder Entwürfe für Eingaben an Behörden anzusehen und gegebenenfalls Korrekturen vorzuschlagen etc. Meist geht es um kleine Rechtsfragen des Alltags oder um die vorsichtige Einholung einer „zweiten Meinung“. Angestrebt wird also eine Gefälligkeit des befragten Juristen. Von der mit gutem Grund verbotenen entgeltlichen „Winkelschreiberei“ ist also hier nicht die Rede. Vielmehr geht es meist um Rechtsangelegenheiten, in denen professionelle Rechtsberatung zu aufwändig erscheint bzw den Betroffenen finanziell überfordert. Methodisch bietet die beschriebene Situation keine Besonderheiten: Es handelt sich meist um einen (unentgeltlichen) Sonderfall kautelarjuristischer Beratungspraxis; bei Mitwirkung am Kontakt mit Gerichten oder Behörden aber um einen solchen rechtsdogmatischer Arbeit, die anstrebt, das zu ermitteln, was sich aus dem geltenden Rechtssystem in Anwendung auf den jeweils vorliegenden Sachverhalt ergibt; als praktische Vorfrage natürlich auch und häufig ganz vorrangig, wie dieser Sachverhalt beschaffen bzw feststellbar ist. Unter dem Aspekt des Dienstes am Recht sollte sich die Jurisprudenz aber sehr wohl fragen, ob und welche Empfehlungen sie auf rationaler Grundlage für die beschriebenen Situationen geben kann und soll. Um solche Empfehlungen, nicht um irgendwelche rechtliche Formalisierungen oder Instrumentalisierungen, sollte es im vorliegenden Zusammenhang gehen, der durch Gefälligkeit und dementsprechende Freiwilligkeit geprägt ist. Zunächst sollten solche Empfehlungen von vornherein nur an solche Juristen gerichtet werden, die sich über ihre aktuellen oder vergangenen (Pensionisten!) Berufstätigkeiten hinaus dem Dienst am Recht (und das heißt natürlich an ihren jeweils betroffenen Mitmenschen) verpflichtet fühlen. Anderenfalls wären solche Empfehlungen, die mit keinem staatlichen oder sonstigen Druck verbunden sind, zwecklos. Unter der gegebenen Voraussetzung sollte die Empfehlung mE – vorbehaltlich näherer Ausarbeitung, die vielleicht auch „nachbarwissenschaftliche“ Erfahrungen mobilisieren könnte –, differenziert ausfallen: Der Vorrat an juristischer Kompetenz, der durch Auslegung und Erfahrung beim befragten Juristen angesammelt wurde, wird zum Vorteil der Nachfrager besser genützt, wenn sie die gewünschte Gefälligkeitsleistung erlangen, als wenn das nicht der Fall ist. Der Befragte gewinnt immerhin zusätzliche Erfahrungen und kann sich sagen, dass er seinem Dienst am Recht und damit an seinen Mitmenschen über seine „positiven“ Verpflichtungen hinaus nachgekommen ist. Im Vergleich mit den Beratungsleistungen selbsternannter vorgeblich Rechtskundiger, deren Erfahrung sich oft auf einen, dazu häufig auch missverstandenen Einzelfall beschränkt, muss die Qualität der Auskunftsleistung von Juristen im Durchschnitt notwendigerweise besser sein. Selbst schwa-
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chen Juristen wird zB kaum einfallen, die Gültigkeit mündlicher Vertragsschlüsse generell zu leugnen oder Eltern schlechthin für ihre Kinder haften zu lassen. Damit ist auch schon die Richtung notwendiger Einschränkungen angedeutet, die dem an sich zur Gefälligkeit bereiten Juristen empfohlen werden müssen: Er soll die Finger von Materien lassen, von denen er nichts versteht, und von Problemen, die so schwierig sind, dass man sich zu ihnen nur nach gründlichem Judikatur- und Literaturstudium äußern sollte, wenn er zu einem solchen nicht bereit ist. Ein solches Studium überschreitet aber oft die Grenzen einer zumutbaren Gefälligkeit. Kurz: Der befragte Jurist sollte – ungeachtet einer etwaigen Versuchung, sich als großer Fachmann des Rechtes insgesamt aufzuspielen – selbstkritisch sorgfältig prüfen, ob er in der Lage ist, die erwartete Gefälligkeitsleistung mit dem Aufwand, zu dem er bereit ist, korrekt zu erbringen. Im Falle der Verneinung fehlt es offenbar an den oben angedeuteten Vorteilen der juristischen Gefälligkeitsleistung und muss die einschlägige Empfehlung daher lauten: „Finger weg!“.7 Sorgfältige Selbstkontrolle ist umso wichtiger, als in reinen Gefälligkeitsverhältnissen, wie sie hier vorausgesetzt werden, eine Schadenshaftung für Rat und Auskunft, um die es in der Sache geht, nur bei wissentlicher Unrichtigkeit der Äußerung besteht (§ 1300 ABGB). Anderenfalls wären Gefälligkeitsleistungen auch schwerlich überhaupt zu erwarten. Für schwerste Fahrlässigkeit, also eine culpa dolo proxima, ist Analogie zu Wissentlichkeit zu erwägen. Das ansonsten drohende Bewusstsein von der völligen schadensrechtlichen Immunität des juristischen Gefälligkeitsberaters für Fahrlässigkeit wäre dem Postulat sorgfältiger Selbstkontrolle ja nicht gerade dienlich. Andererseits dürfte die Haftung bei Beschränkung auf besonders schwere und daher jedenfalls ganz unverkennbare Fahrlässigkeit für erfahrene Juristen keine besondere Abschreckungswirkung haben.8
Der Verfasser hat in diesem Sinn Erfahrungen gemacht, die bis zur Notwendigkeit komplizierter Vertragskonstruktionen und – in einem tragischen Fall – bis zu einer völlig bizarren Anfrage reichten.
7
Das eben erwogene Problem zeigt übrigens, wie wenig mit der zeitweise bis zum Überdruss strapazierten Kategorie der „Berufshaftung" eigentlich anzufangen ist. Die hier gemeinte Problematik darf selbstverständlich auch nicht mit dem Fall verwechselt werden, in dem der zu Beratende entgeltlich ein wissenschaftliches Rechtsgutachten in Auftrag gibt.
8
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B. Aufklärung Ein zweiter zusätzlicher Aufgabenkomplex für die Jurisprudenz ist die (allgemeine) Aufklärungsarbeit gegenüber der Öffentlichkeit der juristischen Laien. Er ist an sich sehr differenziert. Abzuleiten ist er unmittelbar aus dem Dienst der Jurisprudenz am Recht, weil dieses ersichtlich Schaden nehmen muss, wenn es in der Öffentlichkeit „dank“ entsprechender Politik- oder Medienaktivitäten zunehmend als belanglos oder sogar ablehnenswert dargestellt wird oder wenn inhaltlich falsche Informationen über die Rechtslage verbreitet werden, die gegebenenfalls zur Enttäuschung der darauf vertrauenden Rechtsgenossen führen müssen, die diese sogleich auf das Recht selbst übertragen. Am einfachsten argumentativ bekämpfbar, aber trotzdem in der Realität fast nicht auszurotten sind eingewurzelte Falschbehauptungen über praktisch durchaus bedeutsame Normeninhalte. Dass Eltern schlechthin – und nicht nur, wie dies zutrifft, bei schuldhafter Verletzung ihrer eigenen Aufsichtspflichten – für ihre Kinder haften; dass Mitglieder eines Vereinsvorstandes für die Vereinsschulden einstehen müssen (und nicht nur, wie dies natürlich zutrifft, wenn und soweit sie dafür etwa eine Bürgschaft oder Garantie übernommen haben); dass mündliche Verträge (und zwar keineswegs nur besonders formgebundene!) nicht gültig sind; dass ein Ehegatte für Schulden des anderen mit haftet: das alles ist im „Volksglauben“ mehr oder weniger tief „eingefressen“. Jeder Jurist sollte also in seinem Dienst am Recht aufklärend wirken, wo immer er auf solche Fehlvorstellungen trifft. Werden sie in Zeitungen verbreitet, so sollte vom Institut des aufklärenden Leserbriefes massiv Gebrauch gemacht werden. Grobe Fehlinformationen finden sich in Presseerzeugnissen freilich auch in komplexeren und daher nicht ganz so leicht aufklärbaren Formen. Über Jahrzehnte ist mir zB ein Artikel eines damals bekannten Journalisten in Erinnerung geblieben, in dem er Unmengen an Hohn und Spott über ein österreichisches Gericht ausgoss, das sich erdreistet hat, einen in Arabien stattgefundenen Unfall zwischen Kamel und Auto schadenersatzrechtlich zu beurteilen. Die Anmaßung, in einem völlig fremden Milieu zu judizieren, schien ihm unglaublich. Er hatte offenbar noch nie etwas davon gehört, dass ein Zivilgericht sich seine Fälle nicht aussuchen kann, sondern über jede Klage entscheiden muss, die bei ihm im Rahmen seiner Zuständigkeit und Gerichtsbarkeit eingebracht wird. Daher hat er auch seinen Lesern diese einfache Einsicht nicht etwa vermittelt, sondern massiv verbaut. Das milieufremde und daher jedenfalls mühsame Judizieren hat nicht das Gericht, son-
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dern der Kläger veranlasst, vermutlich im Rahmen seines Rechtsschutzbedürfnisses mit gutem Grund. Eine Verallgemeinerung der hier besprochenen Kritik führt zu dem in vielen Zusammenhängen, zB in der Scheidungs- und in der Euthanasiediskussion, beliebten Argument, der Staat möge sich doch nicht in private Angelegenheiten einmischen. Dazu ist immer wieder klarzustellen, dass es nicht um den Staat, sondern um die beteiligten Menschen und ihre Rechte und Rechtsgüter geht. Auch ist es inkonsequent, wenn teilweise dieselben, die das bekämpfte Argument verwenden, wo es ihnen passt, in anderem, insbesondere wirtschaftlichem Zusammenhang auch bezüglich privater und daher privatrechtlicher Angelegenheiten alles Heil von staatlichen Interventionen erwarten. Ein anderes Beispiel für eine gewaltige, aber einigermaßen komplexe Fehlinformation bietet ein viel neuerer Presseartikel in einer normalerweise seriösen Zeitung, dessen Verfasserin sich ua als Juristin deklarierte. Es geht um folgenden Sachverhalt: Ein Autofahrer hatte eine Autostopperin mitgenommen und begann sie alsbald während der Fahrt sexuell zu bedrängen. Ihr Ersuchen, aufzuhören und ihr Widerstand halfen nichts. Bei geeigneter Gelegenheit, als das Auto langsamer fuhr, ist sie daher aus dem fahrenden Auto gesprungen und hat sich dabei verletzt. Der Schadenersatzanspruch der Frau wurde wegen Mitverschuldens, das in dem erkennbar selbstgefährdenden Aussteigen erblickt wurde, reduziert. Der kritische Artikel konzentrierte sich auf den in letzter Instanz entscheidenden Senat des OGH. In der Sache wurde primär scharf kritisiert, dass der OGH offenbar meine, die Frau müsse sich die Zudringlichkeiten gefallen lassen. Die Schuld werde ihr statt dem Täter angelastet. Das ist eine öffentliche und daher wohl publikumswirksame krasse Verdrehung der Rechtslage, die bei einer absolvierten Juristin beinahe den Verdacht der Absichtlichkeit erwecken muss: Bei der Schadensteilung wegen Mitverschuldens des Geschädigten wird der Schädiger selbstverständlich gerade nicht exkulpiert: Sein Verhalten bleibt rechtswidrig und schuldhaft. Das wirkt sich ua strafrechtlich aus. Lediglich der Umfang seiner Schadenshaftung wird proportional zum beiderseitigen Verschulden reduziert. Der ganze primäre Kritikansatz ist also abwegig und nur geeignet, Missverständnisse und eine breite Ablehnung einer vollkommen vernünftigen Rechtslage zu erzeugen. Dazu kommt aber noch, wie sich bald nach dem Artikel durch den Leserbrief eines am betreffenden Prozess beteiligten Anwaltes herausstellte: Bereits das Berufungsgericht hatte Vorliegen und Ausmaß eines Mitverschuldens festgestellt. Die Revision der Klägerin an den OGH hatte offenbar nur andere Teile des Berufungsurteils angegriffen. So war die Entscheidung über das Mitverschulden nicht mehr überprüfbar geworden und konnte der OGH
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daran beim besten Willen nichts mehr ändern. Die wilden Tiraden des Presseartikels gegen den entscheidenden Senat des OGH hätten also gegen das Berufungsgericht und vor allem gegen den Anwalt der Klägerin gerichtet werden müssen, der einen aussichtsreichen Revisionsgrund nicht geltend gemacht hat. Umso unangebrachter waren daher auch die feministischen Reflexionen in dem Presseartikel, die daran anknüpften, dass im entscheidenden Senat des OGH nur Männer vertreten waren. Dieser Zufall hatte mit der Beurteilung des Falles nichts zu tun. Beleg dafür ist, dass der Verfasser der vorliegenden Zeilen, obwohl auch Mann, das fragliche Urteil im Ergebnis für ein schweres Fehlurteil hält, das aber gewiss nicht dem OGH angelastet werden kann und schon gar nichts mit irgendwelchen Verschiebungen des Schuldvorwurfes im Rahmen der Mitverantwortlichkeitsprüfung zu tun hat. Vielmehr stellt sich die einfache Frage, ob einer nachhaltig bedrängten und dadurch zweifellos verängstigten Frau aus ihrem – wenn auch selbstgefährdenden – Fluchtverhalten überhaupt ein Verschuldensvorwurf gemacht werden kann und vor allem, wie sich der etwaige Schuldvorwurf zum Verschulden des jedenfalls vorsätzlich-rechtswidrig handelnden Schädigers verhält. Meines Erachtens ist schon die erste Frage zu verneinen. Zur zweiten ist aber jedenfalls die ständige Rechtsprechung einschlägig, wonach bei Gegenüberstehen eines unverhältnismäßig geringen Verschuldens auf der einen Seite mit einem viel schwereren Verschulden, insbesondere Vorsatz, auf der anderen Seite das erstere bei der Mitverschuldensbeurteilung zu vernachlässigen ist. Zu dem besprochenen Fall gibt es also auch andere als unsinnige und die Öffentlichkeit irreführende Kritik zu üben. Vielleicht war es der feministische Rahmen, in den der Presseartikel überflüssigerweise gestellt wurde, der so krass in die Irre geführt hat. Überhaupt sind Fehlinformationen und diesen zugrunde liegende Vorurteile aus ideologischer Einseitigkeit für Recht und Rechtsgesinnung besonders bedenklich und sollten daher Gegenstand besonders intensiver Aufklärungsarbeit der Jurisprudenz sein. Auch dazu ein Beispiel: Das weitgehend problematische Verhältnis der „linken Reichshälfte“ in Österreich zur Justiz als zentraler Institution des Rechtes wird weithin auf den politischen Schock durch ein freisprechendes Strafurteil („Schattendorf“) in einer politisch ganz aufgeheizten Situation in der Ersten Republik zurückgeführt: Eine Gruppe von „rechten“ Milizionären hatte in einem kleinen burgenländischen Ort auf eine „linke“ Demonstration geschossen; die Folgen waren Tote (darunter ein Kind) und Verletzte. Im Strafprozess gegen die Todesschützen wurden diese von einem Geschworenengericht freigesprochen. Das führte zu bürgerkriegsartigen Zuständen und zur berühmten Brandstiftung am Justizpalast in Wien.
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Soweit rückblickend erkennbar, handelte es sich tatsächlich um ein katastrophales, politisch motiviertes Fehlurteil. Nach damaligem Strafprozessrecht war aber das allein von den Geschworenen, also ausgelosten Laien aus dem Volke, gefällte Urteil von den drei Berufsrichtern im Geschworenengericht überhaupt nicht korrigierbar und mangels ihrer Teilnahme an den Beratungen der Geschworenen auch nicht vorweg verhinderbar. Erst später wurde ja die Möglichkeit für die Berufsrichter geschaffen, einstimmig den „Wahrspruch“ der Geschworenen auszusetzen, wenn sie ihn für evident verfehlt halten. Das Fehlurteil und seine Folgen beruhten also ausschließlich auf der Entscheidung der beteiligten Volksrepräsentanten. Mit der „Justiz“ in einem engeren, professionellen Sinn hatte es nichts zu tun. Dennoch richtete sich die revolutionäre Empörung genau gegen diese und gilt das Fehlurteil bis heute als Motiv und Rechtfertigung für eine nicht selten folgenreiche Distanzierung „linker“ politischer Kräfte von der Justiz. Das geht so weit, dass in einem intellektuellen Presseartikel vor einiger Zeit der eben beschriebene Sachverhalt korrekt wiedergegeben, aber dessen ungeachtet die übliche politische Konsequenz des Misstrauens gegen die Justiz aufrechterhalten wurde. Das ist nicht verständlich und zeigt dadurch, dass die gebotene juristische Aufklärungsarbeit auch sehr schwierige Aufgaben umfasst. Sie bezieht sich offenbar nicht nur auf die Aufdeckung von Fehlvorstellungen an sich, sondern auch auf die Bekämpfung selbständig verfestigter scheinbarer Konsequenzen daraus.9 Ähnliches gilt, wo „bloß“ für die Rechtsgesinnung und damit für die Wirksamkeit des Rechts schädliche Übertreibungen zu bekämpfen sind, was durch Relativierung und insbesondere durch Vergleich mit (realisierbaren!) Alternativen geschehen muss. Als Beispiel diene die Vorstellung bzw. Suggestion, dass Prozesse so langwierig und teuer sind, dass sie für einen „normalen Sterblichen“ gar nicht in Frage kommen, insbesondere wenn auf der GegenDas besprochene Beispiel beleuchtet auch die Problematik der Geschworenengerichte überhaupt, die immer wieder diskutiert wird. Meines Erachtens kann es nicht sachgerecht sein, komplexe und folgenreiche Entscheidungen gerade über die schwersten Delikte Personen zu überlassen, die von der betreffenden Materie per definitionem nichts verstehen und nichts verstehen können, zumal die historischen Gründe (Schlagwort: Vermeidung von Kabinettsjustiz des Herrschers) weggefallen sind. Doch hat der heute führende österreichische Strafrechtler gerade kürzlich umfassend für das Institut der Geschworenengerichte plädiert; vgl MANFRED BURGSTALLER, Argumente für die Geschworenengerichtsbarkeit, JBl 128 (2006) 69–75. Seine Gründe sind sehr ernst zu nehmen, doch entkräften sie das primäre Gegenargument der unausweichlichen Ignoranz der Urteiler mE letztlich nicht. 9
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seite ein „mächtiger Konzern“ steht. Das kann natürlich einen realen Gehalt haben, wenn die Prozessmaterie zur Sachaufklärung teure und vielleicht langwierige Sachverständigengutachten voraussetzt, wird aber selbst in diesen und erst recht in günstiger gelagerten Fällen durch Verfahrenshilfe, Rechtsschutzversicherungen, Prozessfinanzierung und Unterstützung durch einschlägige Verbände (etwa für Arbeitnehmer, Mieter, Konsumenten etc) stark gemildert. Die juristische Aufklärungsarbeit ist hier durch die Notwendigkeit gekennzeichnet, nicht etwa in realitätsfremde Idealisierungen zu verfallen. Gemessen an den Extremen, in denen sich die öffentliche Diskussion längst abzuspielen pflegt, um überhaupt Aufmerksamkeit zu finden, muss man daher die aufklärende Stimme der Jurisprudenz relativ schwach finden. Skandalisierende Übertreibung „zieht“ viel leichter. Jeder entsprechend aufbereitete Bericht über eine wirklich oder vermeintlich übermäßig lange Verfahrensdauer in bestimmten Einzelfällen findet mehr Aufmerksamkeit als die Statistiken, die ausweisen, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer in Österreich im internationalen Vergleich sehr vorzeigbar ist oder dass in dem betreffenden Einzelfall eine Vielzahl objektiver Umstände für die Verzögerung verantwortlich ist. Doch darf es sich die Jurisprudenz nicht verdrießen lassen, aufklärend auf all dies hinzuweisen; freilich auch nicht, umfassend dafür zu sorgen, dass wirklich skandalöse Einzelfälle nachdrücklich bekämpft werden. Eine Reform im Sinne einer Mäßigung der Gerichtsgebühren könnte übrigens durchaus am Platz sein. Zum Abschluss dieses Abschnitts über die Notwendigkeit juristischer Aufklärungsarbeit ist ein Hinweis auf den berühmtesten juristischen Vortrag der Rechtsgeschichte notwendig, der zugleich eine Arbeit eines mit Recht berühmten Rechtswissenschaftlers ist, die sich in Aufklärungsabsicht gerade an die „gewöhnlichen“ Rechtsgenossen, also nicht an den „Rechtsstab“ oder den Gesetzgeber richtet. Gemeint ist Iherings Vortrag (und Schrift) über den Kampf ums Recht.10 Eine kritische Untersuchung dieser originellen und bedeutenden, teils aber auch widersprüchlichen und manchmal zu Missverständnissen (als Aufruf zu aggressivem oder geradezu querulatorischem Verhalten) beinahe einladenden Schrift ergibt als Kern die wichtige und zutrefZuerst in seinem berühmten Vortrag in der Wiener Juristischen Gesellschaft „Der Kampf um das Recht“, veröffentlicht, JBl 1 (1872), 29; jetzt auch bei FELIX ERMACORA, Der Kampf ums Recht (Berlin 1992), 32 ff: Die volle Publikationsfassung ist in der Folge in zahlreichen Auflagen unter dem Titel „Der Kampf ums Recht" erschienen, die 18. Auflage von 1913 ist bei ERMACORA, Kampf 61 ff, wieder abgedruckt und wird hier zitiert. 10
Haupt- und Zusatzaufgaben der Jurisprudenz
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fende Einsicht, dass Recht ohne das eigene Engagement der einzelnen, nicht juristischen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft für ihre eigenen subjektiven Rechte (und damit indirekt auch für das dahinterstehende objektive Recht) nicht funktionieren kann; dass dieses Engagement eine individualethische Pflicht jedes Einzelnen gegen sich selbst und zugleich eine sozialethische gegenüber der Gemeinschaft ist.11 Selbstverständlich zielt dies nicht, wie die plakative Formulierung von Ihering vielleicht vermuten lassen könnte, auf maximale Förderung des Rechtsstreites vor Gericht. Wie bei Ihering selbst deutlich ersichtlich, ist auch die Beachtung von einvernehmlicher, vergleichsweiser Streiterledigung erfasst und manchmal vorzuziehen. Entscheidend und hoffentlich unverlierbar ist die Einsicht, dass die Wohltaten eines funktionierenden Rechts nicht oder jedenfalls nicht allein von einer bestimmten Gruppe von Menschen für alle bereitgestellt werden können, so dass den anderen nach Art eines juristischen Schlaraffenlandes die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, sondern dass sich jedermann zur Mitarbeit aufgerufen fühlen muss. Die Verbreitung dieser weithin verschütteten Einsicht ist im Rahmen der hier postulierten juristischen Aufklärungsarbeit wohl das dringendste Desiderat. Solange die meisten Menschen, wenn sie Zeugen eines möglicherweise rechtlich relevanten Vorganges werden, krampfhaft wegschauen oder eilig die Flucht ergreifen; solange die Zeugenpflicht selbst relativ gebildeten Menschen eher als staatlicher Übergriff denn als selbstverständlicher Dienst am Recht und vor allem am betroffenen Mitmenschen erscheint; solange viele glauben, dass selbst ihre eigenen Angelegenheiten sie nichts angehen, weil sie doch von anderen erledigt werden müssen, muss der Rechtsbetrieb sehr und unnötig defizitär bleiben. Auf längere Sicht müsste die verbreitete Meinung, das Recht geht mich nichts an, wenn es mich aber etwas angeht, müssen andere für die Durchsetzung meiner Rechte sorgen, doch etwas erschüttert werden können. C. Rechtserziehung Gemeint ist hier nicht die allfällige besondere Pädagogik für das Rechtsstudium oder in späteren Vertiefungsveranstaltungen für Juristen. Nur in sehr beschränktem Umfang ist gemeint die Vermittlung von elementarem Auf diesen zutreffenden Kern von Iherings Schrift wird diese in kritischer Auseinandersetzung zurückgeführt bei FRANZ BYDLINSKI, Suche nach der Mitte versus Kampf ums Recht?, in: STEPHAN LORENZ / ua (Hrsg), FS für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag (München 2005) 1091 ff. Die berühmte Schrift Iherings zielt selbstverständlich nicht, wie die plakative Formulierung von Iherings Titel viele vermuten ließ, auf eine maximale Förderung des Rechtsstreites vor Gericht. 11
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Rechtswissen an juristische Laien. Zwar ist deren Rechtsunkenntnis in aller Regel so groß und so verbreitet,12 dass immer wieder das Bedürfnis nach einer gewissen Abhilfe erkennbar wird. Doch erscheinen Bestrebungen, aus möglichst vielen Rechtsgenossen eine Art von extrem schmalspurigen Juristen zu machen, aussichtslos oder sogar kontraproduktiv; ersteres schon wegen des verbreiteten Desinteresses an ernsthaftem und daher mühsamem Zugang zum Recht bis zum Zeitpunkt stark empfundener eigener Rechtsprobleme. Dazu kommt, dass ein umfassender Versuch der rechtlichen Information nur in komprimiertester und daher sehr abstrakter Form überhaupt denkbar wäre. Gesetzesextrakte wirken aber erfahrungsgemäß äußerst abschreckend, weil langweilig. Im ungünstigen Fall wird einem übertrieben optimistischen und wenig selbstkritischen Adepten solcher Schmalspurjurisprudenz womöglich suggeriert, dass er fortan in der Lage sei, seine Rechtsangelegenheiten (und womöglich auch die anderer) auch in nicht ganz banalen Fällen selbst zu erledigen, was zur Gefahr massiver Selbstschädigung führen kann. Besser scheinen solche Informationen, die nach Umfang und Präsentation solche Missverständnisse gar nicht aufkommen lassen und andererseits eher Interesse wecken. Nach eigener Erfahrung ist dafür geeignet eine kurze Darstellung, die von alltäglichen, daher jedermann zugänglichen und rechtlich einfachen Fallsachverhalten ausgeht, an deren Lösung wichtige Rechtssätze verdeutlicht werden.13 Als Ergebnis wäre bloß ein gewisses Anfangsverständnis für juristische Fragestellungen und ein Gefühl dafür anzustreben, wann es geboten ist, einen juristischen Fachmann zu fragen. Mehr sollte gar nicht versucht werden. Vgl dazu JOHANNES W. PICHLER (Hrsg), Rechtsakzeptanz und Handlungsorientierung (Wien ua 1998) mit zahlreichen Beiträgen, darunter THOMAS RAISER speziell zur Rechtskenntnis 118 ff. Wie problematisch es mit dieser bestellt ist, zeigt sich besonders in empirischen Untersuchungen über die Frage, wie oft die Befragten glauben, persönlich mit Recht oder einer rechtlichen Situation zu tun zu haben und bei welchen Gelegenheiten („Lebenssituationen“) dies geschehen sei; vgl JOHANNES PICHLER / KARIM J. GIESE, Rechtsakzeptanz II (Wien ua 1993), 24 ff bzw 33 ff. 12
Dazu, für den Laien bestimmt, FRANZ BYDLINSKI (unter Mitarbeit von MICHAEL BYDLINSKI), Einführung in das österreichische Privatrecht2 (Eisenstadt 1983). (Die weitere Einführungsliteratur zielt schon eher auf juristische Studienanfänger.) Diese kleine Darstellung hat nach meiner Erfahrung manchen positiven Einfluss auf den Entschluss zu einem vorher bloß erwogenen Rechtsstudium genommen; gelegentlich aber auch abschreckend gewirkt, weil deutlich wurde, dass auch der bloß mündliche Vertragsschluss eines Kunden mit einem Unternehmer auch den ersteren binden kann. 13
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Beim hier gemeinten Erziehungsproblem geht es aber überhaupt um etwas anderes als um mehr oder weniger rudimentäre Wissensvermittlung: Es sollte mit möglichst breiter Wirksamkeit verdeutlicht werden, dass und warum Recht überhaupt und insbesondere Recht mit einer bestimmten rationalen Qualität notwendig, grundsätzlich wohltätig und daher anerkennungs- und befolgungswürdig ist. Dabei ist es nicht etwa als Versuch zu verstehen, in den Rechtsgenossen unmittelbar positive Emotionen gegenüber dem Recht zu erzeugen. Wenn dies überhaupt möglich sein sollte, was ja zweifelhaft ist, könnte dies doch nicht die Aufgabe der Jurisprudenz als einer auf tunlichste Rationalität gerichteten Veranstaltung sein. Vielmehr geht es darum, durch Erörterung von Alternativen zum Rechtszustand oder zu einzelnen seiner grundlegenden Elemente aufzuzeigen, dass diese im Vergleich zum Rechtszustand stark defizitär wären, wenn man von den allgemeinen und durchschnittlichen menschlichen Interessen ausgeht. Dabei darf keineswegs verschwiegen werden, dass eben dieser – gegenwärtige oder realistisch vorstellbare – Rechtszustand selbst ebenso defizitär ist, wenn man ihn an idealen und eben deshalb irrealen Wunschvorstellungen über die zwischenmenschlichen Zustände bemisst, weil anderenfalls zu billige Varianten des „Auch-Du“-Einwandes eröffnet werden. Wunschvorstellungen sind aber eben kein geeignetes Kriterium für die Beurteilung realer menschlicher Zustände, auch wenn theoretisch eine Phase der Erziehung der Menschen zu einem neuen, diesen Wunschvorstellungen entsprechenden Menschentypus eingeschoben wird. Das hat zuletzt der ein Dreivierteljahrhundert andauernde, viele Millionen von Toten mit sich bringende Versuch, im kommunistischen Herrschaftssystem den neuen, „sozialistischen Menschen“ zu produzieren, zur Evidenz gezeigt. Ausschließliche Begründung des Rechts aus dem Oberwert der Rechtssicherheit darf aber, wie schon angedeutet, nicht erwartet werden. Vielmehr bietet das universale Leitziel der Rechtsordnungen die Trias der Leitzwecke, also Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit, somit die „Rechtsidee“, die die unabweisbaren Entscheidungen zu konkreten Sachverhalten weiterführt, unauflösbare rechtspolitische Konflikte weithin verhindert und das Aggressionspotenzial unter den Menschen reduziert. In der „Rechtsidee“ finden die Aufgaben der Jurisprudenz ihre einheitliche Grundlage.14 Vgl HANS KELSEN, Reine Rechtslehre2 (Wien 1960), Anhang: „Was ist Gerechtigkeit?“. Zu den eigenen, rechtspraktisch ausgerichteten Vorstellungen insbesondere von Gerechtigkeit vgl näher FRANZ BYDLINSKI, Gerechtigkeit als rechtspraktischer Maßstab kraft Sach- und Systemzusammenhanges, in: MARGARETHE BECK-MANNAGETTA 14
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Um die hier skizzierten Zusatzaufgaben der Jurisprudenz mit einigem Erfolg verfolgen zu können, müsste diese ein längst wünschenswertes Bündnis mit der Pädagogik eingehen, der sie immerhin die besprochenen grundlegenden Funktionen des Rechtes als Zwischen-Erziehungsziele anbieten könnte. Die Zweifel innerhalb der Pädagogik, ob es überhaupt so etwas wie Erziehungsziele geben darf und worin diese bestehen könnten,15 führen zu dem ständigen organisatorischen „Reform“-Murks im Schulwesen, der mangels materieller Richtpunkte sogar die Bemühungen zahlreicher engagierter und befähigter Lehrer eher versanden lässt und selbst zahlreiche zunächst gutwillige Schüler in den schulischen Nihilismus treibt. Ohne dass deswegen die einschlägigen Bemühungen um letzte Erziehungsziele irgendwie eingeschränkt werden sollten, dürfte es beim gegenwärtigen Stand nützlich sein, die rechtlichen Grundfunktionen als Zwischen-Erziehungsziele zu behandeln und für sie zu werben, die erheblich zu einem friedlichen und wohlgeordneten menschlichen Zusammenleben beitragen können. Kritik am Detail der rechtlichen Regelungen ist damit selbstverständlich sehr vereinbar, wenn sie nicht in ahnungsloser Naivität von bloß wünschenswerten, aber angesichts der conditio humana nicht realisierbaren Zielen aus erfolgt, die die individuellen Verschiedenheiten der menschlichen Begabungen und Interessen fiktiv ausklammern. Wo aber, sei zum Abschluss gefragt, bleibt bei alldem die eigene Rechtsdisziplin unseres Jubilars, die Rechtsgeschichte? Ausdrücklich war von ihr ua (Hrsg), FS für Theo Mayer-Maly zum 65. Geburtstag (Wien 1996), 107 ff; DERSELBE, Die Gerechtigkeit des Gesetzgebers, in: JOHANNES STABENTHEINER (Hrsg), Mietrecht in Europa (Wien 1996), 1 ff.
Überzeugend ist dazu gezeigt worden, dass – entgegen extremer „progressiver“ Ablehnung der Beeinflussung von außen – Erziehung ohne Erziehungsziele nicht möglich ist und dass sich als umfassendes, in sich aber sehr differenziertes Erziehungsziel die „Tüchtigkeit“ zu den jeweils in Betracht kommenden Aufgaben (Erfordernissen) anbietet, WOLFGANG BREZINKA, Erziehungsziele in der Gegenwart (Donauwörth 1985), Tüchtigkeit (München ua 1987). Der Verfasser greift dabei auch auf die ausdrücklichen Erziehungsziele in verschiedenen Rechtsquellen zurück. (Definition und Erläuterung der „Tüchtigkeit“: Ebenda 53 ff) Berücksichtigenswert sind aber auch die Grundwertungen und Grundfunktionen allen Rechts mit ihren spezifischen Vorteilen für den Einzelnen und die Sozietät. Insbesondere ist in der Erziehung allen Verharmlosungen willkürlicher Gewalt entgegenzutreten, unter welchen Vorwänden immer sie geübt oder verteidigt werden. Positiv lassen sich die unterschiedlichen Varianten der „Tüchtigkeit“ vielleicht als Summe der Eigenschaften zusammenfassen, die zu einem wohlgelungenen Leben beitragen können. 15
Haupt- und Zusatzaufgaben der Jurisprudenz
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bisher nicht die Rede. Implizit war sie aber dauernd im Spiel. Für die rechtsdogmatischen Aufgaben liefert sie das „historische Argument“16 bei der Auslegung und bei der gesamten Rechtsanwendung, aber vor allem das nötige Verständnis für die Entstehung und Entwicklung von Rechtsinstituten und Rechtsgebieten; im Gegensatz zu der fast unglaubwürdigen Ignoranz, die es bereits für ein zureichendes Gegenargument gegen eine bestimmte Regelung hält, dass diese schon dreißig oder gar hundert Jahre alt ist. Etwa der Kaufvertrag, das Testament, das Pfandrecht etc etc sind in ihrer Grundstruktur viel älter und unverändert aktuell! Erst recht liefert die Rechtsgeschichte (neben der Rechtsvergleichung) viel an Erfahrungsmaterial und Lösungsmöglichkeiten für die Arbeit de lege ferenda. Man denke als Beispiel nur an das Wohnungseigentum, das die Vorzüge (Eigentumsstreuung!) alter Formen des geteilten Eigentums wiederbelebt hat, aber in Beachtung der dogmatischen Entwicklung und der Systemverträglichkeit. Für die Notwendigkeit bzw Erwünschtheit einer friedlichen, wirtschaftlich erfolgreichen und tunlichst gerechten Ordnung vermag die Rechtsgeschichte in positiver wie in negativer Beziehung laufend deutliche Belege zu liefern. Ungeachtet der zeitgenössischen Abneigung gegen die Pflege der Rechtsgeschichte (und weithin der Geschichte überhaupt außer jener kurzer zeitgeschichtlicher Perioden) braucht sich also Werner Ogris in der Substanz keine großen Sorgen um sein Fach zu machen: Auf irgendeine Weise werden die rechtsgeschichtlichen Fragestellungen auch die primitiven Elemente der heutigen Wissenschaftsmode überleben, und zwar wegen ihrer sachlichen Notwendigkeit. Auf rechtshistorische Details erstreckt sich diese freilich nur sehr beschränkt, nämlich soweit sie als Exempel dienen müssen. Davon abgesehen, darf man aber nicht nur dem Jubilar, sondern auch seinem Fach wünschen: Ad multos annos!
Dazu insbesondere THOMAS HONSELL, Historische Argumente im Zivilrecht (Ebelsbach 1982), mit engem Verständnis dieser Argumente.
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Zugang zu Universitäten in der Europäischen Union – Rückblick und Ausblick FRIEDRICH FAULHAMMER, Wien / ALINA LENGAUER, Wien
I. Einleitende Bemerkungen Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, eine knappe Analyse der Rechtslage zu dem Problemkreis europarechtlicher Regelung des Zugangs zu Universitäten zu bieten und sei dem Jubilar, der im Verlaufe seiner Karriere (auch) zahlreiche hochschulpolitische Funktionen ausgeübt hat, herzlich zugeeignet. Mit seinem Urteil in der Rs C-147/03 Kommission gegen Republik Österreich1 erklärte der EuGH die in § 36 UniStG2 getroffene Regelung über den Zugang zu Universitäten in Österreich für EG-rechtswidrig. Damit musste das in Österreich bislang bestehende System allgemeinen und freien Universitätszuganges einer grundlegenden Überarbeitung unterzogen werden. Eine Analyse bisher ergangener Rechtsprechung des EuGH zu der angesprochenen Frage soll vor eine Erörterung des genannten Urteils gestellt werden und im Hinblick auf etwaige dogmatische Aussagen analysiert werden. Schließlich soll das jüngst ergangene Urteil in der Rechtssache C-73/08 Bressol3 dargelegt und in die Schlussbetrachtungen einbezogen werden. Fragen der Gewährung sozialer Leistungen an Unionsbürger im Allgemeinen und an Studierende im Besonderen sollen bloß im Zusammenhang mit der Fragestel-
EuGH Rs C-147/03 Kommission und Finnland gegen Österreich, Urteil des EuGH vom 7. 7. 2005, Slg 2005, I-6427.
1
§ 36 UniStG ist die im Wesentlichen übereinstimmende Vorgängerbestimmung zu § 65 UG. 2
EuGH Rs C-73/08 Nicolas Bressol ua gegen Gouvernement de la Communauté Française, Urteil des EuGH (Große Kammer) vom 13. 4. 2010, noch nicht in der amtlichen Sammlung erschienen; vgl die Glossierung von ALINA LENGAUER, ZfRV-LS, LS 2010/24 sowie DIESELBE, Zur Zulässigkeit von Kontingentierungen bei der Studienzulassung (Anmerkung), ZfRV 2010, 122. 3
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FRIEDRICH FAULHAMMER / ALINA LENGAUER
lung des Zugangs von Unionsbürgern zu öffentlich finanzierten Hochschulen angesprochen werden.
II. Problemstellung Die vermutete EG-Rechtswidrigkeit der Regelung des § 36 UniStG sowie der in diesem Verfahren von der Europäischen Kommission eingeschlagene Argumentationsweg kamen bereits in zwei weiteren, zeitlich erheblich vorgelagerten Rs zur Sprache: Die Rs C-204/01 Tilmann Klett, ein Vorabentscheidungsersuchen des VwGH, befasst sich mit der Frage nach der Zulassung eines deutschen Staatsbürgers und Arztes zu dem Lehrgang Zahnheilkunde an der Universität Graz. Dieser Lehrgang wurde aufgrund des Art 19b der RL 78/686/EWG4 eingerichtet, um jenen Personen, die ab 1994 in Österreich ein Medizinstudium begonnen haben, die Ausbildung zum Zahnarzt zu ermöglichen. Nach der VO zur Einrichtung des zahnärztlichen Lehrganges besteht als Voraussetzung für den Zugang ein „an einer österreichischen Universität erworbenes Doktorat der gesamten Heilkunde“. Hingegen sollen nach dem Zweck der Bestimmung jene Personen keine Rechte ableiten können, die ihr Diplom in Mitgliedstaaten erworben haben, welche über eine eigenständige Ausbildung zum Zahnarzt verfügen. Sowohl im Vorlagebeschluss Tilmann Klett als auch in den Mahnschreiben der Kommission wird die Anwendung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und des Diskriminierungsverbotes auf den Zugang zu Universitäten vorgeschlagen. In Bezug auf § 36 UniStG meint die Kommission, eine mittelbare Diskriminierung von Unionsbürgern festzustellen. In seinem Urteil beschränkt sich der EuGH allerdings auf die Auslegung der genannten Vorschrift, ohne über die von dem Kläger angesprochene allgemeine Problematik abzusprechen.5
RL 78/686/EWG des Rates vom 25. 7. 1978 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Zahnarztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr, ABl L 233/1978, 1.
4
EuGH Rs C-204/01 Tilmann Klett gegen Bundesministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Slg 2002, I-10007.
5
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In der Rs C-65/03 Kommission gegen Belgien,6 einem Verfahren nach Art 226 EGV, bekämpft die Kommission eine Regelung der Französischen Gemeinschaft, die für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die bereits Inhaber eines Nachweises über den Abschluss höherer Schulbildung waren, zusätzlich die Absolvierung einer Eignungsprüfung erforderte. Diese Eignungsprüfung ist nur dann erforderlich, wenn ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates nicht nachweisen kann, dass er in seinem Herkunftsland ohne Zulassungsprüfung oder eine weitere Zugangsvoraussetzung zum Studium an einer Hochschule zugelassen sei. Des Weiteren ist die genannte Eignungsprüfung auf die Studien Medizin, Zahnmedizin, Tiermedizin und Agraringenieurswesen beschränkt. Der EuGH stellt in seinem Urteil fest, dass das Erfordernis einer zusätzlich zu dem Abschluss höherer Schulbildung zu bestehenden Eignungsprüfung für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten gem Art 12 EGV als mittelbare Diskriminierung von Unionsbürgern einzustufen sei.7 An dieser Stelle erscheint eine Anmerkung zu der Faktenlage am Platze: Das Problem der finanziellen und zahlenmäßigen Überforderung des Hochschulsystems eines Mitgliedstaates besteht im Grundsatz dann, wenn ein Mitgliedstaat mit geringerer Bevölkerung und Wirtschaftskraft eine Sprache mit einem Mitgliedstaat teilt, der eine höhere Bevölkerung besitzt und darüber hinaus besondere Zugangsschranken zu seinem Universitätssystem errichtet hat. Auf dem Territorium der Europäischen Unions handelt es sich im Wesentlichen um Österreich und Belgien. Es überrascht daher nicht, dass die zwei folgenden, nun anzusprechenden Verfahren, diese Mitgliedstaaten betreffen.
III. Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Kommision gegen Österreich Die aufgrund eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art 226 EGV (Art 258 AEUV) in Prüfung gezogene Vorschrift des § 36 UniStG entspricht
EuGH Rs C-65/03 Kommission gegen Belgien, Urteil des EuGH vom 1. 7. 2004, Slg 2004, I-6427.
6
EuGH Rs C-65/03 Kommission gegen Belgien, Urteil des EuGH vom 1. 7. 2004, Slg 2004, I-6427, I-6440, Rz 29.
7
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in ihrem Ansatz der oben angeführten belgischen Regelung:8 Für die Zulassung eines jeden Unionsbürgers zu einem Hochschulstudium wird zunächst die allgemeine Universitätsreife und die Erfüllung der studienspezifischen Zulassungsvoraussetzungen gefordert; zusätzlich ist das Recht zur unmittelbaren Zulassung zum Studium in jenem Mitgliedstaat der Europäischen Union nachzuweisen, der die Urkunde für die allgemeine Universitätsreife ausgestellt hat; im Gegensatz zu der belgischen Regelung findet sich jedoch keine Einschränkung auf bestimmte Studienzweige. Der EuGH hält zunächst fest, dass gemäß ständiger Rechtsprechung die Voraussetzungen für den Zugang zu Berufsausbildung in den Anwendungsbereich des EGV fallen; daher sei die inkriminierte Regelung einer Prüfung nach Art 12 EGV (Art 18 AEUV) zu unterziehen. Die Regelung des § 36 UniStG stelle eine mittelbare Diskriminierung dar; es werde nicht bloß zwischen österreichischen Staatsangehörigen und Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten diskriminiert, sondern auch zwischen den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten je nach Ausgestaltung des Systems in ihrem Herkunftsland. Die von Österreich vorgetragenen Rechtfertigungsgründe, nämlich Verhütung von Missbräuchen des Gemeinschaftsrechts, völkerrechtliche Übereinkommen und die unbestimmte Sorge um das finanzielle Gleichgewicht des österreichischen Systems der Hochschulbildung werden in differenzierter Weise abgelehnt. Während die Ablehnung der ersten zwei genannten Rechtfertigungsgründe mit unzutreffender rechtlicher Beurteilung begründet wird, wird der dritte Rechtfertigungsgrund wegen mangelnder Bestimmtheit abgelehnt: Der EuGH weist darauf hin, dass es Sache eines Mitgliedstaates sei, bei Berufung auf einen Rechtfertigungsgrund von dem allgemeinen Grundsatz der Freizügigkeit der Unionsbürger dessen Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit nicht bloß zu behaupten, sondern durch entsprechende Studien im Detail darzulegen.9
§ 65 UG erfordert im Gegensatz zu § 36 UniStG nicht den Nachweis eines konkreten Studienplatzes.
8
EuGH Rs C-147/03 Kommission und Finnland gegen Österreich, Urteil des EuGH vom 7. 7. 2005, I-5969, I-6013, Rz 63–65.
9
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IV. Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Nicolas Bressol Die dem Urteil in der Rechtssache Bressol10 zugrunde liegende Sachverhalt weist deutliche Parallelen zu dem vorhin angesprochenen: Die Kläger sind französische Staatsangehörige, die in der Französischen Gemeinschaft Belgiens Studiengänge des ersten Zyklus des Hochschulunterrichts absolvieren möchten. Bei den in Aussicht genommenen Studienrichtungen handelt es sich um Bakkalaureats-Ausbildungen im medizinischen und paramedizinischen Bereich. Der Zugang zu derartigen Studiengängen ist in Frankreich, dem Herkunftsmitgliedstaat der Kläger, durch ein qualitatives Auswahlverfahren beschränkt. Der Verfassungsgerichtshof Belgiens befasst den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 234 EGV (Art 267 AEUV) mit Fragen zu der Rechtmäßigkeit eines Dekrets der Französischen Gemeinschaft11 (im Folgenden: Dekret der Französischen Gemeinschaft), das eine Beschränkung der Anzahl von nicht in Belgien ansässigen Studierenden vorsieht. Eine solche Beschränkung kann dann vorgenommen werden, wenn die Anzahl von in Belgien ansässigen Studierenden ein im Dekret der Französischen Gemeinschaft vorgesehenes Verhältnis erreicht bzw. überschreitet. Ab diesem Zeitpunkt findet die Vergabe von Studienplätzen unter nicht ansässigen Studierenden durch Verlosung statt. Das vorlegende Gericht bezweifelt die Rechtmäßigkeit dieser Vorschrift mit Bezug auf Art 12 EGV (Art 18 AEUV) und 18 EGV (Art 21 AEUV). Der EuGH hält zunächst fest, dass es sich bei der angesprochenen Regelung um eine mittelbare Diskriminierung handle und schreitet – im Sinne des oben dargelegten Konzeptes – zu einer Überprüfung des Vorliegens eines sachlichen Grundes des allgemeinen Interesses. Wie bereits von Generalanwältin Sharpston vorgeschlagen,12 lehnt der Gerichtshof eine Rechtfertigung mit übermäßiger Belastung des öffentlichen Haushaltes zur FinanzieEuGH Rs C-73/08 Nicolas Bressol ua, Céline Chaverot ua gegen Gouvernement de la Communauté Française, Urteil des EuGH (Große Kammer) vom 13. 4. 2010, noch nicht in amtl Slg veröffentlicht. 10
Dekret der Französischen Gemeinschaft vom 16. 6. 2006 zur Regelung der Studierendenzahl in bestimmten Studiengängen des ersten Zyklus des Hochschulunterrichts, Moniteur Belge vom 6. 7. 2006, 34055. 11
EuGH Rs C-73/08 Nicolas Bressol ua, Céline Chaverot ua gegen Gouvernement de la Communauté Française, Schlussanträge der Generalanwältin E. Sharpston vom 25. 6. 2009, noch nicht in amtl Slg veröffentlicht, Rz 87 ff. 12
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rung des Hochschulunterrichtes mit dem Hinweis auf die Pauschalierung („geschlossene Dotierung“) des Hochschulbudgets ab, da das genannte System der Finanzierung öffentlicher Hochschulen gerade nicht auf die Anzahl der betreuten Studierenden abstelle. Unter Bezugnahme auf das Erfordernis des Fortbestandes und der Sicherung der Qualität der öffentlichen Gesundheit stellt der Gerichtshof fest, dass dieser im Grundsatz geeignet sei, eine derartige mittelbar diskriminierende Regelung zu rechtfertigen. Jedoch muss ein Mitgliedstaat in jeglichem Verfahren Argumente sowie Untersuchungen vorlegen, die eine tatsächliche Gefährdung dieses Schutzgutes vermuten lassen. Im Zuge der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der angefochtenen Regelung müssen derartige Angaben von dem vorlegenden Gericht gewürdigt werden. Der EuGH gelangt daher zu der Schlussfolgerung, dass bei Vorliegen sämtlicher erforderlicher Nachweise und Gesichtspunkte eine Rechtfertigung der Vorschriften des Dekretes der Französischen Gemeinschaft zulässig und möglich sei.
V. Das Konzept von Diskriminierung: Unionsbürgerschaft versus Herkunftslandprinzip Das Verbot von Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit im Rahmen des EGV findet sich als Generalklausel in Art 18 AEUV sowie als spezielle Vorschrift in den in den Grundfreiheiten enthaltenen Diskriminierungsverboten. Darüber hinaus wird das Verbot von Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit nach Ansicht von Rechtsprechung und Lehre als übergeordneter Grundsatz des Gemeinschaftsrechts betrachtet, der strukturell die Anwendung des Gleichheitssatzes im Verhältnis zwischen der EG, ihren Organen und ihren Mitgliedstaaten auf der einen Seite vorsieht, und der zugleich Diskriminierungen von Unionsbürgern hintan halten soll.13 Bislang herrschende Lehre und Rechtsprechung betrachten Diskriminierung und Rechtfertigung wie folgt: Während bei Vorliegen einer direkten Diskriminierung, also bei Anknüpfen an das Merkmal der Staatsangehörigkeit, eine Rechtfertigung bloß mit im EGV – oder im jeweiligen Sekundärrechtsakt – vorgesehenen Rechtfertigungsgründen möglich ist, ist bei Vorliegen einer indirekten Diskriminierung, demnach bei Anknüpfen an ein vorgeblich
KOEN LENAERTS, L’égalité de traitement en droit communautaire – Un principe unique aux apparences multiples, Cahiers de droit européen 1991, 3–12. 13
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neutrales Kriterium, eine Rechtfertigung mit sachlichen Gründen des Allgemeininteresses möglich; diese Rechtfertigungsgründe müssen jedoch angemessen, notwendig und nicht auf das verpönte Unterscheidungsmerkmal bezogen sein.14 Bemerkenswert ist in der Rechtssache Kommission gegen Österreich der dogmatische Vorstoß der Kommission, welche nunmehr auch bei indirekten Diskriminierungen bloß im EGV vorgesehene Rechtfertigungsgründe zulassen möchte;15 dieser Vorstoß wird vom EuGH nicht aufgriffen und von Generalanwalt Jacobs in seinem Schlussantrag ausdrücklich abgelehnt.16 An diesem Urteil sowie an dem oben angeführten Präzedenzfall fällt weiters auf, dass im Bereich des allgemeinen Diskriminierungsverbotes die bloße Übertragung der Cassis de Dijon-Formel – wie in der belgischen und österreichischen Regelung des Hochschulzuganges – auf die Ausübung der Freizügigkeit von Unionsbürgern als mittelbar diskriminierend eingestuft wird. Generalanwältin Sharpston geht in ihrem Schlussantrag an dieser Stelle noch zwei Schritte weiter: Eine Anwendung des Herkunftslandprinzips auf Personen, die sich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer bedienen wollen, sei nicht bloß als eine Form mittelbarer Diskriminierung einzustufen, sondern sogar als unmittelbare Diskriminierung, sofern eine der Eigenschaften, auf die in der verpönten Regelung ausdrücklich abgestellt wird, ein Merkmal oder aber eine untrennbare Eigenschaft von Mitgliedern der benachteiligten Gruppe darstelle.17 Auf die möglichen Auswirkungen dieser Tendenz in der Rechtsprechung kann an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingegangen werden.
Vgl etwa Art 2 Abs 2 RL 97/80/EG des Rates vom 15. 12. 1997 über die Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, ABl L 14/1998, 6: „[...] liegt eine mittelbare Diskriminierung dann vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren einen wesentlich höheren Anteil der Angehörigen eines Geschlechts benachteiligen, es sei denn die betreffenden Vorschriften sind angemessen und notwendig und sind durch nicht auf das Geschlecht bezogene Gründe gerechtfertigt.“ 14
EuGH Rs C-147/03 Kommission und Finnland gegen Österreich, Urteil des EuGH vom 7. 7. 2005, Slg 2005, I-5969, I-6009, Rz 51. 15
EuGH Rs C-147/03 Kommission und Finnland gegen Österreich, Schlussantrag von Generalanwalt F. Jacobs vom 20. 1. 2005, Slg 2005, I-5979, Rz 23.
16
EuGH Rs C-73/08 Nicolas Bressol ua, Céline Chaverot ua gegen Gouvernement de la Communauté Française, Schlussanträge der Generalanwältin E. Sharpston vom 25. 6. 2009, noch nicht in amtl Slg veröffentlicht, Rz 43 ff; kritisch dazu NORBERT REICH, 17
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Schließlich ist dem Rechtfertigungsgrund der Störung des finanziellen Gleichgewichts im Universitätssystem eines Mitgliedstaates Augenmerk zu schenken: In seinem Schlussantrag erwägt Generalanwalt Jacobs unter Heranziehung zweier Präzedenzfälle zu dem öffentlichen Gesundheitswesen18 die Anwendbarkeit dieses Arguments auf das öffentliche Hochschulwesen. Der Generalanwalt weist jedoch darauf hin, dass der EuGH bereits in der Urteilen Grzelczyk19 und D’Hoop20 den Anspruch von Studenten aus einem anderen Mitgliedstaat qua Unionsbürger auf soziale Vergünstigungen bejaht habe. Die zuletzt angeführten Entscheidungen beziehen ihre Unterscheidungskraft aus den Bestimmungen über Rechte und Pflichten eines Unionsbürgers, den Art 18 ff EGV (Art 21 ff AEUV). Generalanwältin Sharpston nimmt an diesem Punkt ausdrücklich auf den vorangegangenen Schlussantrag Bezug und schlägt einen zurückhaltenden Umgang mit dem letztgenannten Rechtfertigungsgrund vor, da ansonsten die effektive Durchsetzung der durch die Verträge garantierten Freiheiten massiv beeinträchtigt wäre.21
VI. Folgerungen und Ausblick Eine Neuregelung des Universitätszuganges in Österreich kann sich nach Ansicht der Verfasser zweier Varianten bedienen, wobei eine Kombination oder zeitliche Staffelung möglich und sinnvoll erscheint: Die erste Variante bestünde in einer Regelung des Hochschulzuganges auf europäischer Ebene – gerade im Gefolge der Umsetzung der Bologna-Prinzipien22 – durch ausdrückliche Verankerung der anzuwendenden Regeln etwa Herkunftslandprinzip oder Diskriminierung als Maßstab für Studentenfreizügigkeit, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2009, 637–638, hier 638. EuGH Rs C-368/98 Abdon Vanbraekel gegen Alliance nationale des mutualités chrétiennes, Slg 2001, I-5363; EuGH Rs C-158/96 Raymond Kohll gegen Union des caisses de maladie, Slg 1998, I-1931. 18
EuGH Rs C-184/99 Rudy Grzelczyk gegen Centre public d’aide sociale d’Ottignies – Louvain-la-Neuve, Slg 2001, I-6193. 19
EuGH Rs C-224/98 Marie-Nathalie D’Hoop gegen Office national de l’emploi, Slg 2002, I-6191. 20
EuGH Rs C-73/08 Nicolas Bressol u.a., Céline Chaverot u.a. gegen Gouvernement de la Communauté Française, Schlussanträge der Generalanwältin E. Sharpston vom 25. 6. 2009, noch nicht in amtl Slg veröffentlicht, Rz 87 ff.
21
Vgl dazu FRIEDRICH FAULHAMMER, Der Bologna-Prozess – Wege zu einem europäischen Hochschulraum, Zeitschrift für Hochschulrecht, Hochschulmanagement und Hochschulpolitik 2005, 57–64.
22
Zugang zu Universitäten in der Europäischen Union
137
im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und/oder der Unionsbürgerschaft im AEUV. Diese Variante hätte den Vorteil für sich, dass die derzeit im Fluss befindliche Rechtslage für sämtliche Rechtsanwender klar ersichtlich wäre. Die zweite Variante ist jene, die bereits von Generalanwalt Jacobs angesprochen wurde,23 und mittlerweile faute de mieux an österreichischen Universitäten Anwendung findet: Es handelt sich hier um die Einführung allgemeiner, einheitlicher Zulassungsbedingungen für jene Studien, die eine überhöhte Nachfrage aufweisen; diese Zulassungsbedingungen können etwa das Erfordernis einer Mindestnote oder (qualitative) Aufnahmeprüfungen sein. Solche Maßnahmen werden freilich bloß auf einzelstaatlicher Ebene zu ergreifen sein. Diese Zulassungsbedingungen dürfen jedoch aufgrund allgemeinen Europarechts weder direkt noch indirekt gegen Staatsbürger anderer Mitgliedstaaten diskriminieren. Reich diskutiert in seinem Beitrag die grundsätzliche Entscheidung des EuGH, in den oben angeführten Rechtssachen und den ihnen zugrunde liegenden Sachverhaltskonstellationen für die Anwendung der Regeln über Unionsbürgerschaft und Diskriminierung zu optieren, und gerade nicht für die Anwendung des Herkunftslandprinzips.24 Während dieser Autor letzteres mit Hinweis auf die übermäßige Strapazierung öffentlicher Finanzen durch die notwendige Gewährung eines Studienplatzes an sämtliche interessierte Unionsbürger bei allgemeinem und freiem Hochschulzugang bevorzugen würde, und überdies festhält, dass es sich bei der Regelung dieser Frage um eine grundlegende Wertung eines Gemeinwesens handle, hält Generalanwältin Sharpston in ihrem Schlussantrag zu Bressol pointiert fest, dass freier und gleicher Zugang zu Bildung gerade innerhalb der Europäischen Union nicht – von der Warte eines Mitgliedstaates aus betrachtet „freier und gleicher Zugang zur Bildung für alle meine Staatsangehörigen“ unter Ausschluss der übrigen Unionsbürger bedeuten dürfe.25 Die Debatte um den Zugang zu öffentlich finanzierter Ausbildung ist innerhalb der Mitgliedstaaten der EU noch in vollem Gange; es sollte jedoch mit-
EuGH Rs C-147/03, Kommission und Finnland gegen Österreich, Schlussantrag von Generalanwalt F. Jacobs vom 20. 1. 2005, Slg. 2005, I-5969, I-5988, Rz 52.
23
NORBERT REICH, Herkunftslandprinzip oder Diskriminierung als Maßstab für Studentenfreizügigkeit, EuZW 2009, 637. 24
EuGH Rs C-73/08 Nicolas Bressol ua Céline Chaverot ua gegen Gouvernement de la Communauté Française, Schlussanträge der Generalanwältin E. Sharpston vom 25. 6. 2009, noch nicht in amtl Slg veröffentlicht, Rz 142. 25
138
FRIEDRICH FAULHAMMER / ALINA LENGAUER
telfristig gelingen, eine klare und den Bedürfnissen der Union, der Mitgliedstaaten und nicht zuletzt des tertiären Sektors entsprechende Lösung zu finden.
Der Fall Neusohl (Banská Bystrica) gegen Bergbauunternehmen der Thurzo 1519 Gleichzeitig ein Beitrag zur Geschichte des internationalen Investitions- und Konzessionsrechts PETER FISCHER, Wien und Bratislava
I. Einleitung Wesentliches Merkmal der heutigen Globalisierung ist die Beseitigung oder zumindest die Herabsetzung von Handelshemmnissen, also insbesondere von Zöllen und zollgleichen Abgaben, von mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung. Im Weiteren auch der Kapital- und Technologietransfer über nationale Grenzen hinweg. Hier spricht man von internationalen oder Auslandsinvestitionen, die allgemein als „Transfer von Kapital oder Sachleistungen von einem Staat (dem Kapital exportierenden Land) in ein anderes (dem Kapital importierenden Land) zum Zwecke der Gründung und des Betriebs eines Unternehmens“ definiert werden, wobei der Investor naturgemäß Anteil am Gewinn dieses Unternehmens erwirbt.1 Solche Direktinvestitionen2 können einerseits ohne individuelle Rechtsgrundlage durchgeführt werden, wie es in der Europäischen Union (EU) weitgehend der Fall ist, deren Rechtsordnung hinreichend transparent, effizient und daher für den Investor relativ risikolos, dh zumindest frei von „souveränen Risken“ ist.3 Dienstleistungsunternehmen, wie Banken, Sparkassen, LuftSTEFAN A. RIESENFELD, Foreign Investments, in: RUDOLF BERNHARDT (Hrsg), Encyclopedia of Public International Law, Bd II (Amsterdam 1995) 435–439.
1
Im Gegensatz zu den Portfolio-Investitionen, bei denen der Investor keine Kontrolle über seine Investition besitzt. Dies ist bei Wertpapierinvestitionen der Fall, die, wie die jüngste Finanz- und Bankenkrise gezeigt hat, Investoren Schäden in bisher nie dagewesener Höhe zugefügt haben.
2
Unter diesem erst in jüngerer Zeit verwendeten Begriff versteht man staatliche, zT unvorhersehbare Eingriffe in die Direktinvestition, etwa (einseitige) Erhöhung der Steuerlast („Würgesteuer“) oder überhaupt die Enteignung des ausländischen Investors.
3
140
PETER FISCHER
fahrtunternehmen, Reisebüros oder Versicherungen, sei es von Drittstaaten oder anderen EU-Mitgliedern, können sich EU-weit ipso facto in jedem Mitgliedsstaat niederlassen,4 wobei für EU-Unternehmen überdies das Diskriminierungsverbot gilt. Andererseits kann aber die Investition auch auf der Rechtsgrundlage eines besonderen bilateralen Vertrages zwischen dem Anlagestaat und dem ausländischen Investors erfolgen. Dies ist heute bei Investitionen in Staaten mit einem instabilen politischen Investitionsklima oder – sachlich allgemein – in der Montanindustrie der Fall. Dabei spielen heute die Erdöl- und Erdgaskonzessionsverträge5 in ihren modernen Rechtsstrukturen weltweit die wichtigste Rolle.6 Neben bergrechtlichen und fiskalischen Vorschriften ist wesentlicher Bestandteil aller dieser Verträge die Regelung von künftigen Streitigkeiten zwischen dem Investor und dem Anlagestaat, wobei hiefür zumeist Schiedsgerichte vorgesehen werden. Diese können nun nationale, also dem Recht des Anlagestaates unterworfene, oder internationale, also dem Völkerrecht unterworfene sein, die Völkerrecht bzw. die allgemeinen Rechtsgrundsätze anzuwenden haben. Die Zuständigkeit des für solche Zwecke bereits 1966 im Rahmen der Weltbank eingerichteten „Zentrums zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten und ausländischen Investoren“ (ICSID),7 das für solche Investitionsstreitigkeiten internationale Schiedsgerichte zur Verfügung stellt, wird heute häufig zur Sicherheit der jeweiligen Auslandinvestition in
Zur Niederlassungsfreiheit vgl SIGMAR STADLMEIER, Das materielle Recht der EG, in: PETER FISCHER / HERIBERT FRANZ KÖCK / MARGIT M. KAROLLUS, Europarecht4 (Wien 2002) 796–816.
4
Als ein internationaler Konzessionsvertrag wird eine Vereinbarung zwischen einem Staat und einem ausländischen Investor angesehen, durch welche letzteren die Ausübung staatsvorbehaltener Rechte (zB Exploration und Gewinnung von Mineralien) für eine bestimmte Zeit für eine festgesetzte Gegenleistung eingeräumt wird. PETER FISCHER, Concessions, in: BERNHARDT, Encyclopedia I, 715–721, hier 715. 5
Dazu jüngst PETER FISCHER, Neuere Entwicklungen im Internationalen Konzessionsrecht der Erdöl- und Ergasindustrie. Gleichzeitig ein Beitrag zum Internationalen Wirtschaftsrecht; in: JOSEF AICHER / SIEGFRIED FINA (Hrsg), Festschrift Manfred Straube zum 65. Geburtstag (Wien 2009) 287–310. 6
International Center for Settlement of Investment Disputes. Dazu IRMGARD MAREinzelpersonen, in: PETER FISCHER / HERIBERT FRANZ KÖCK, Völkerrecht. Das Recht der universellen Staatengemeinschaft6 (Wien 2004) 245–270, hier 265.
7
BOE,
Der Fall Neusohl gegen Bergbauunternehmen der Thurzo 1519
141
solchen Konzessionsverträgen durch sog ICSID-Klauseln8 vereinbart. Im Rahmen des ICSID wurden bislang 181 Investitionsstreitigkeiten erledigt und 124 Fälle sind derzeit anhängig,9 wobei ein beachtlicher Teil die Anwendung und/oder Auslegung von Konzessionsverträgen betrifft.10 Da somit Konzessionsverträge und daraus resultierende internationale Investitionsstreitigkeiten sowie deren schiedsgerichtliche Beilegung heute einem wesentlichen Bestand des internationalen Rechts- und Wirtschaftslebens darstellen, ergibt sich die Frage, ob es hiefür nicht schon historische Vorbilder gibt. In der Tat sind internationale Konzessionen – sei es in Form von einseitigen Privilegien des Souveräns an fremde Kaufleute oder in vertraglicher Form – bereits seit dem Mittelalter nachweisbar.11 Und der bislang wohl erste Fall einer internationalen Investitionsstreitigkeit, der durch eine übergeordnete Instanz entschieden wurde, findet sich in der Rechtsgeschichte bereits zu Beginn des 16. Jh in der heutigen Slowakei. Es ging hier um einen langjährigen Rechtsstreit zwischen der Bergstadt Banská Bystrica (ehem Neusohl) in der Mittelslowakei und dem ausländischen Bergbauunternehmen der Gebrüder Thurzo, der 1519 vom ungarischen König Ludwig II. entschieden wurde. Was liegt nun näher, als diese frühen, damit im Zusammenhang stehenden Konzessionsverträge und diesen Fall in einer Festschrift für Werner Ogris
Darunter versteht man eine in einem zwischen dem ausländischen Investor und dem Anlagestaat abgeschlossenen Vertrag vereinbarte Klausel, durch die sich beide Parteien verpflichten, sich im Falle künftiger Streitigkeiten der Jurisdiktion eines im Rahmen des ICSID errichteten Schiedsgerichts zu unterwerfen.
8
[http://icsid.worldbank.org/ICSID/FrontServlet?requestType=CasesRH&action Val=ListCases] und [http://icsid.worldbank.org/ICSID/FrontServlet?requestType= GenCaseDtlsRH&actionVal=ListPending] (6. 1. 2010). 9
Für viele vgl den Fall Trans-Global Petroleum, Inc. v. Hashemite Kingdom of Jordan (ICSID Case No. ARB/07/25), der 2009 mit einem Vergleich („Settlement Agreement“) beendet wurde.
10
Etwa das Handelsprivileg des englischen Königs Heinrich II. an die Kölner Kaufleute 1157. PETER FISCHER, Die Heiligkeit der Verträge zwischen Souverän und ausländischer Privatperson im Zeitalter Machiavellis, in: ALEXANDER BÖHM / KLAUS LÜDERSSEN / KARL-HEINZ ZIEGLER (Hrsg), Idee und Realität des Rechts in der Entwicklung internationaler Beziehungen. Festgabe für Wolfgang Preiser (Berlin 1983) 45–60, hier 47. 11
142
PETER FISCHER
näher12 zu behandeln, mit dem mich eine langjährige Lehrtätigkeit und kollegiale Freundschaft an der Rechtswissenschaftlichen Hochschule zu Bratislava seit ihrer Gründung im Jahre 2004 verbinden? Dabei stützt sich die folgende Abhandlung auf zum Teil erstmals in meiner Reihe „A Collection of International Concessions and Related Instruments“13 seinerzeit veröffentlichten Thurzo- und Fugger-Verträge, die den „ungarischen Handel“ an der Wende des 15. zum 16. Jh betreffen und zum Großteil dem Fugger-Archiv in Dillingen (in der Folge F.A.), Bayern, entstammen.
II. Rechtlicher und wirtschaftlicher Hintergrund des internationalen Investitionskonflikts Hintergrund des hier zu erörternden Investitionsstreites bildet das zwischen den sieben ehemals ungarischen, heute slowakischen Bergstädten Kremnitz,14 Biestritz,15 Schemnitz,16 Königsberg.17 Pukancz,18 Dilln19 und Libethen20 und den Krakauer Bürgern Johann Thurzo,21 Hans Schütz, Seyfried Betmann, Paul Beer, Johann von Tegel, sowie dem Thorner22 Heinrich Schnellenberg und dem Danziger Bergbauingenieur23 Meister Peter van Felsan (als Thurzos Beteiligte) am 24. April 1475 in Schemnitz abgeschlossene Abkommen zur Vgl auch PETER FISCHER, Das internationale Bergrecht im Lichte historischer, gegenwärtiger und zukünftiger vertraglicher Rechtsgestaltung, in: Zeitschrift für Bergrecht 1976, 74–90, 78 ff.
12
Insbes die Bde IV (1376–1493), V (1492–1503) und VIII (1518–1524), erschienen in Dobbs Ferry/NY 1977–1979. In der Folge FISCHER, Concessions.
13
Das heutige Kremnica in der Mittelslowakei. Diese Stadt zählt zu den wichtigsten Bergbaustätten der Welt und wird auch als „goldenes Kremnitz“ bezeichnet. 14
15
Heute Banská Bystrica.
16
Heute Banská Štiavnica.
17
Heute Nová Baňa.
18
Das heutige Pukanec (ungarisch Bakabánya) am Fuße der Schemnitzer Berge.
19
Heute Banská Bela.
20
Heute Ľubietová.
Vom (heute) slowakischen Levoča übersiedelte Johann I. Thurzo (Ján Thurzo) 1464 ins polnische Krakau, wo er 1465 das Bürgerrecht erwarb, bald das Amt eines Ratsherrn bekleidete und später sogar in seiner Wahlstadt Bürgermeister wurde. 21
22
Ehemals preußische Stadt (bis 1945), das heutige Toruń in Polen.
23
Magister petri.
Der Fall Neusohl gegen Bergbauunternehmen der Thurzo 1519
143
Wiederinbetriebnahme der seit dem Ende des 14. Jahrhunderts ersoffenen Gruben in der Niedrigen Tatra bzw Fatra in der heutigen Mittelslowakei.24 Diese Gruben wurden bereits im Hochmittelalter auf Wunsch des ungarischen Königtums durch sächsische Gewerken und Knappen primär zur Gewinnung von Gold und Silber errichtet,25 doch hinderten die deutschpolnischen Auseinandersetzungen, durch die die Verkehrs- und damit die Absatzwege in den hanseatischen Wirtschaftsraum versperrt wurden, eine sachgerechte Ausbeutung. Die Bergwerke verfielen. In der Person des Krakauer Bürgers Thurzo wurde der Mann gefunden, der, wie das Gerücht ging, den Venezianern ihr Geheimnis des Scheidens, Schmelzens, Frischens, Seigerns und Darrens der Metalle abgelistet hatte26 und der überdies über Kenntnisse zur fachmännischen Entwässerung von Gruben verfügte. Waren sodann Thurzo und einige seiner Partner daher reich an technischem skill und fachmännischem Know how, so fehlte es ihm jedoch an Kapital. Aus eigenen Mitteln konnte Thurzo daher die Modernisierung der slowakischen Gruben nicht in Angriff nehmen und stützte sich zunächst auf die im Vertrag genannten Personen als seine vermutlichen Geldgeber.27 An ihre Stelle traten später die Fugger, die fortan in Gemeinschaft mit den Thurzos bis zum Jahre 1525 die ungarischen Bergwerke betrieben28 und dann als Alleinkonzessionäre auftraten. Der in deutscher Sprache abgeschlossene Vertrag wurde ins Lateinische übersetzt und findet sich in dieser Form in der von König Matthias Corvinus von Ungarn am 15. Mai 1475 in Buda ausgestellten Ratifikationsurkunde. Es ist Das Abkommen findet sich inseriert in der Ratifikationsurkunde des Königs Matthias Corvinus vom 15. 5. 1475 im Original im Fuggerarchiv, Dillingen, Bayern F. A. 37, 2. FISCHER, Concessions IV, 349–361 mit einem Faksimile der Urkunde. 24
Dazu GÖTZ Freiherr VON PÖLNITZ, Jakob Fugger. Kaiser, Kirche und Kapital in der oberdeutschen Renaissance, Bd I (Tübingen 1949) 50; vgl auch MAX JANSEN, Jakob Fugger der Reiche. Studien und Quellen I. Studien zur Fugger-Geschichte (Leipzig 1910) 132. 25
26
PÖLNITZ, Fugger 51.
27
So PÖLNITZ, Fugger II, Quellen und Erläuterungen (Tübingen 1951) 21.
1495 wurde durch die Familien Thurzo und Fugger die „Ungarische Handelskompagnie“ gegründet. Dazu FRIEDRICH DOBEL, Der Fugger-Bergbau in Ungarn, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben und Neuburg VI (1897), 33. Heft; JAKOB STRIEDER, Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen (München 1925) 10. Vgl den Vertrag vom 16. 3. 1495, abgedruckt in FISCHER, Concessions V, 105. Dazu unten Anm 48 und 49. 28
144
PETER FISCHER
dabei bemerkenswert, dass der ungarische König im Gegensatz zum sonst üblichen Abschlussverfahren von internationalen Konzessionsverträgen29 eine Erweiterung und nähere Ausführung der konzessionären Vorschriften und Bedingungen durch seine Ratifikation des Abkommens mit den sieben Bergstädten vorgenommen hatte. Der Konzessionsvertrag sieht im Wesentlichen Folgendes vor: Nach Betonung der technischen Fertigkeiten des Thurzo und seiner Mitarbeiter30 gewähren die sieben Städte ihnen das Recht, mittels moderner Hebemaschinen das Wasser aus den Minen zu entfernen;31 ein Sechstel der in der Folge gewonnenen Mineralien jedweder Art32 wird Thurzo und seinen Mitarbeitern zugesprochen;33 neben diesem Anteil am Gewinn erhalten die fremden Bergleute eine feste Entschädigung in der Höhe eines ungarischen Goldguldens pro Woche.34 König Matthias Corvinus bestätigt diese in deutscher Sprache35 getroffenen Vereinbarungen und fügt in seiner Ratifikationsurkunde vom 15. Mai 1475
Wie auch bei zwischenstaatlichen Verträgen beschränkt sich die Ratifikation als feierlicher Akt des Staatsoberhauptes, durch den Vertrag gebunden zu sein, seit alters her auf die Akzeptanz des Vertragstextes als solchen. Nur bei multilateralen Verträgen können in der Ratifikationsphase allenfalls Vorbehalte, aber keineswegs Ergänzungen oder Erweiterungen gemacht werden. Dazu allgemein PETER FISCHER, Die internationale Konzession (Wien 1974) 363. 29
Sie werden als „famosi cives de Cracovia“ und als „artifices“ tituliert, die ihre „artesi et ingenia“ zur Verfügung stellen. 30
„...eum huismodi artibus ingenijs et instrumentis aque de quibuscunque fodinis per aquarum inundaciones in preseneiarum submersis vel in posterum submergendis sufficienter extrahi...“ 31
„...sive talis minera auri aut argenti, cupri vel plumbi sive mercurij aut lazurij sive alterini metalli fuerit et quocunque nomine vocitetur.“ 32
„...sextam partern minerarum ex tali labore et cultura proveniencium libere et sine contradictione dare et assignare...“ 33
„...singulis Ebdomadis unum florenum auri solvere et absque ulla renitencia dare debet et tenebitur...“ 34
Bemerkenswert ist hier die Anerkennung der deutschen als der authentischen Sprache des Vertragswerks („...confectas, non abrasas, non cancellatas ... et de ipsa lingua theutonica inquantum possibile extitit, de verbo ad verbum in Latinam translatas...“), auch wenn dieses durch Bestimmungen in lateinischer Sprache ergänzt wird. Für diesen Teil der Konzession wird letztere Sprache wohl als authentische zu betrachten sein. 35
Der Fall Neusohl gegen Bergbauunternehmen der Thurzo 1519
145
noch eine Reihe wichtiger bergrechtlicher Bestimmungen hinzu: So erhält Thurzo als zusätzliche Gegenleistung für jede Mark36 produzierten Silbers vier Goldgulden;37 darüber hinaus das Recht zur Schlägerung des notwendigen Grubenholzes38 und das Recht zum abgabefreien Kauf von Wein und anderen Lebensmitteln für sich und die eingesetzten Arbeitskräfte,39 die Freiheit von den allgemeinen und besonderen Steuern,40 das Recht auf freies und ungehindertes Betreten und Verlassen ungarischen Territoriums in Krieg und Frieden,41 persönlichen Schutz42 und schließlich die Befreiung von Abgaben (Tributaria et Tricesimaria) auf Personen, Pferde und Handelswaren.43 Die „Heiligkeit“ des Abkommens wird dabei durch den König im Dritten Teil der Ratifikationsurkunde durch folgende Wendung deutlich hervorgehoben: ... praescriptas litteras annotarorum Judicium Juratorumque Civium et Communitatum praefatarum Civitatum nostrarum in lingua theutonica confectas non cancellatas nec in aliqua sui parte suspectas...44
36
Gewichtseinheit von 276,89 Gramm.
„ut pro unaquaque marca argenta ... quatuor floreni turn medio in puro auro in ipsa Camera ... habuerint.“ Diese neue Währung, die dem Rheinischen und dem Florentinischen Goldgulden nachgebildet ist, wurde von Matthias Corvinus selbst eingeführt. Sie entwickelte sich zur bedeutendsten Währung Mitteleuropas im Spätmittelalter. Dazu neuestens MÁRTON GYÖNGYÖSSY, Medieval Hungarian Gold Florins (Budapest 2005). 37
„...quia ad ipsam erectionem talium arcium et ingeniorum et culturam Moncium seu fodinarum copiam lignorum necessarium esse intelligimus concessimus et concedimus...“ 38
17 „...vino eciam et alia victualia tam pro ipsorum quam ceterorum laboratorum personis necessaria ... liberam emendi ... habeant facultatem...“ 39
„...decernimus quod ipsi ipsorumque heredes ad nullam solucionem Censuum ordinatiorum extraordinatiorum contribucionumque aut aliquarum aliarum collectarum instar aliorum Regnicolarum nostrorum compelli et astringi debeant...“ 40
19 „... Johannes Turzo ... cunctique ipsorum heredes ... tam pacis quam guerrarum (sic!) tempore hoc Regium nostrum Hungarie intrare et de eodem exire iuxta ipsorum voluntatem libere tute secure...“ 41
42
„...sub nostra protectione et tutela speciali...“
43
„...ab omnique solucione Tributaria et Tricesimaria de personis et equis ipsorum ...
tricimonialibus exempti sint...“ 44
Hervorhebung von mir.
146
PETER FISCHER
Beachtenswert ist die bereits erwähnte Erweiterung der konzessionären Rechte des Thurzo und seiner Beteiligten durch die königliche Ratifikation. Sie erklärt sich aus der Struktur des Abkommens: als Konzedent fungieren die sieben urkundlich genannten Bergstädte, die im Rahmen der ihnen seit dem 14. Jh erteilten autonomen Rechte und Privilegien auch über die Rechtsgewalt über die Bergwerke verfügten. Keineswegs konnten sie aber über darüber hinausgehende Rechte gebieten, die aber für die bergbauliche Tätigkeit selbst und die nachfolgende Vermarktung der gewonnenen Rohstoffe essentiell waren. Mit Ausnahme von den von den Städten erhobenen Abgaben konnten sie keine Befreiung gewähren. Dasselbe gilt für die Erteilung von Ein- und Ausfuhrberechtigungen, wohl auch für die Beschaffung des für den Abbau und die Verarbeitung des Erzes notwendigen Holzes, sowie für den generellen Schutz des Bergbau treibenden ausländischen Konzessionärs. Diese Rechte waren weiterhin Bestandteile der souveränen Gewalt des Königs und deren Ausübung konnte daher nur von ihm übertragen werden, wie es ja dann auch in der Ratifikationsurkunde erfolgt ist. In späteren ungarischen Konzessionen spielen gerade diese Rechte eine besondere Rolle, da das ungarische (slowakische) Kupfer und Silber sowohl über den Seeweg von Lübeck aus in den Niederlanden, als auch in Venedig vermarktet wurde. Ausfuhrberechtigungen und insbesondere spätere Transitkonzessionen dienten diesem wirtschaftlichen Ziel.45 Dieses Instrument aus 1475 wurde in der Folge durch weitere Verträge erneuert und modifiziert,46 wobei nach dem Tode von Matthias Corvinus 1490 ein Konflikt über Konzessionsberechtigung über die reichen Silber- und Kup-
So das Privileg vom 15. 8. 1497 des Herzogs Kasimir von Teschen (heute das polnische Cieszyn) betreffend Kupferdurchfuhr, Wegbau und Zoll zu Teschen und Freistadt (heute das polnische Kożuchów) an das Haus Thurzo, FISCHER, Concessions V, 305. F. A. 37, 4; ebenso der Transitvertrag vom 7. 9. 1497 zwischen dem Grafen Prangepani und den Thurzos. F. A. 37, 4, FISCHER, Concessions V, 309. Vgl auch JANSEN, Fugger 139; PÖLNITZ, Fugger II, 53. 45
Vgl den Vertrag zwischen König Wladislaus II. (vgl die folgende Anm) und den Thurzos vom 28. 9. 1497, in dem auch dessen Nachfolger zur Achtung der Rechte der Konzessionare (also der Thurzos) verpflichtet werden! FISCHER, Concessions V, 315. Diese Konzession wurde „de verbo ad verbum“ am 8. 6. 1507 und 8. 10. 1515 vom Jagellonenkönig bestätigt, erneuert und verlängert. Im letztgenannten Instrument scheint schon Jakob Fugger (der Reiche) als Konzessionär auf. Abgedruckt bei FISCHER, Concessions VI, 87 und VII, 199. 46
Der Fall Neusohl gegen Bergbauunternehmen der Thurzo 1519
147
fergruben von Banská Bystrica entbrannte.47 Nach dessen Beilegung wurde auch das Augsburger Großunternehmen der Fugger 1495 in die Neusohler Bergwerkstätigkeiten eingebunden.48 Intern wurden von den Thurzos später auch einzelne Konzessionsrechte an die Fuggern übertragen,49 deren finanzielle Unterstützung für die Weiterführung der Grubenproduktion schließlich unentbehrlich wurde. Auch der Souverän bestätigte diese internen Transaktionen der – nunmehr – beiden Konzessionsunternehmen, nämlich der Thurzos und der Fugger.50 Im modernen Konzessionsrecht spricht man hier von einer Konsortiumskonzession.51 Wiewohl dem Buchstaben der Verträge nach zwar die Thurzos im Vordergrund standen, so sind sich die Quellen darüber einig, dass de facto die Fugger die alleinige Führung der ungarischen FuggerThurzo-Gesellschaft innehatten.52 Für sie waren aber die Thurzos unentbehr-
Nach dem Tode von Matthias Corvinus vereinbarte sein (unehelicher) Sohn Johannes Corvinus eine auf 16 Jahre beschränkte Bergbaukonzession betreffend „alle Silber- und Kupferminen in und um“ Banská Bystrica (Neusohl) mit Johann I. Thurzo und dessen Sohn Georg I. Dieser Vertrag bedurfte der Ratifikation durch den böhmischen Jagellonenkönig Wladislaus II, dem die ungarischen Gebiete zugefallen waren. Abgedruckt in FISCHER, Concessions V, 85. Aus dieser Konzession entbrannte jedoch ein Konflikt mit dem Bischof von Pecz (Fünfkirchen), der für sich die Bergbaurechte über die Gruben von Banská Bystrica beanspruchte. Durch Vermittlung des Königs Maximilian I. von Österreich wurde der Konflikt zugunsten des Bischofs gelöst. Ein neuer Konzessionsvertrag mit allerdings ungünstigeren Bedingungen für die beiden Konzessionäre wurde in der Folge geschlossen. Vgl die Konzession des Bischofs Sigmund Ernst von Fünfkirchen an Johann I. und Georg I. Thurzo betreffend die Bergwerke Neustollen und Erbstollen in Banská Bystrica vom 26. 12. 1494. Auch dieser Vertrag bedurfte der Ratifikation des Jagellonenkönigs, die am 21. 3. 1495 auch erfolgte. Beide Instrumente finden sich in FISCHER, Concessions V, 99 und 111. Vgl im Weiteren dazu JANSEN, Fugger 133; PÖLNITZ, Fugger II, 22. 47
Vgl den Gesellschaftsvertrag zwischen Johann I. und Georg I. Thurzo einerseits und Jakob Fugger (dem Reichen) und Kilian Auer (an Stelle von dessen Bruder Ulrich Fugger) andererseits vom 16. 3. 1495, FISCHER, Concessions V, 105. Vgl auch den Thurzo-Fugger-Vertrag vom 29. 10. 1496, ebenda 219, aus dem klar hervorgeht, dass die Fugger als Geldgeber des „ungarischen Handels“ fungierten. 48
49
Vgl das Instrument vom 1. 3. 1498, FISCHER, Concessions V, 325.
Vgl die Bestätigungsurkunde des Königs Ladislaus II. vom 9. 3. 1498, mit einer Faksimile-Kopie vom F. A. in FISCHER, Concessions V, 329. 50
51
PETER FISCHER, Die internationale Konzession (Wien 1974) 227 ff.
So auch neuerdings PETER KALUS, Die Fugger in der Slowakei (Augsburg 1999) 60 unter Berufung auf PÖLNITZ, Fugger I, 77.
52
148
PETER FISCHER
lich, da diese nicht nur durch König Wladislaus II. einen „eifrigen Beschützer“53 hatten, und dadurch national-magyarischen Widerständen gegen die Fremdunternehmen Einhalt gebieten, sondern auch durch ihre Vermittlung am polnischen Hofe Konzessionen hinsichtlich der Ausfuhr des ungarischen (slowakischen) Kupfers erlangen konnten.54
III. Die Causa Neusohl (Banská Bystrica) gegen Thurzo Das Verhältnis zwischen den ausländischen Konzessionären und den slowakischen Bergstädten war keineswegs konfliktfrei. Im Gegenteil: So konnte Jansen bereits 1501 eine gehässige Stimmung gegen das Fremdunternehmen nachweisen.55 Im Laufe der Zeit eskalierte der Konflikt, wobei als Ursache die modernen Produktionsmethoden und die „ungeheure Ausbeute aus dem Neusohler Gebiet“56 als Gründe für die Animositäten der Bewohner der Bergstädte anzusehen waren. Denn diese wollten nach mittelalterlicher Lebensauffassung von den Erträgnissen eines nicht allzu intensiv betriebenen Bergbaus behaglich leben. Es waren dies die Gewerken und Inhaber kleiner Bergwerksanteile sowie Arbeiter und kleine Händler. Diese wurden von den Großindustriellen immer mehr abhängig, die überdies die Mittel zum Lebensunterhalt, wie Getreide, Wein und Bier selbst herbeiführten oder an Ort und Stelle erzeugten. Darüber hinaus genossen die Thurzos und die Fugger aufgrund der Konzessionen des Bischofs Sigmund Ernst von Fünfkirchen Abgabenfreiheit in den Bergstädten.57 Allerdings erstreckte sich die Ablehnung des Fremdunternehmens nicht auf alle Einwohner der Städte, sondern nur auf die privilegierten Schichten, die um ihre Vorteile bangten und nicht flexibel genug waren, sich den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen.58
53
JANSEN, Fugger 170.
Vgl oben Anm 45. So meint KALUS, Fugger 60 f in Bezug auf Banská Bystrica: „Die Bevölkerung Neusohls hatte sich durch die Übernahme der Bergwerke und Verarbeitungsbetriebe durch die Fugger dergestalt verändert, dass das freie Unternehmertum und damit das eigentliche Waldbürgertum weitgehend verschwunden bzw. in die Abhängigkeit der Fugger-Thurzo geraten war.“ 54
55
JANSEN, Fugger 161.
56
JANSEN, Fugger 152.
57
Vgl oben Anm 47.
58
KALUS, Fugger 66.
Der Fall Neusohl gegen Bergbauunternehmen der Thurzo 1519
149
Ein weiterer Konfliktstoff war die im Verhältnis zu den gewaltigen Gewinnen relativ geringe Gegenleistung der beiden Konzessionäre an die ungarische Kammer und die sonstigen Auslagen, wie sie in den obgenannten Privilegien am Ende des 15. Jh festgelegt wurden, die zwar dem Risiko der damaligen Zeit entsprachen, aber in der Folge nicht mehr zeitgemäß waren, was die Gegner der Fugger-Thurzo Gesellschaft besonders „störte“.59 Dieses Problem findet sich auch heute, wenn der Konzessionär zunächst ein hohes Explorations- und Produktionsrisiko hat, aber nach Fündigwerden uU unvorhersehbare Gewinne erzielt. In modernen Konzessionsverträgen wird zu diesem Zweck eine sog Revisionsklausel60 (revision clause) eingebaut, die eine periodische Überprüfung der Gegenleistung des Konzessionärs an den Anlagestaat vorsieht. Aufgrund dieser Gravamina erhob im Laufe der Zeit die Stadt Banská Bystrica beim König zahllose Klagen und Beschwerden (formell nur) gegen das Thurzo-Unternehmen, die sich von der Behinderung der Grubenholzschlägerung über die Münzverschlechterung bis zur Autarkiepolitik des Großunternehmens im Lebensmittelbereich erstreckten.61 Georg I. Thurzo widerlegte in zumindest einer längeren Denkschrift62 die Vorwürfe. Durch Klageerhebung und Klagebeantwortung war somit ein Verfahren vor dem König eingeleitet, der aber während des Verfahrens 1516 verstarb. Es war nun anzunehmen, dass durch den Tod Wladislaus II. und der Unmündigkeit seines Sohnes Ludwig II. die Großen des Reiches, die aus vielen „Feinden und Neider“63 des Großunternehmens bestanden, nun einen bedeutenden Einfluss auf die Führung Ungarns und damit auch auf die zu treffende Entscheidung haben würden. Dem war, wie gleich zu zeigen sein wird, aber nicht so.
59
KALUS, Fugger 79.
Auch das Unterorgan des Wirtschafts- und Sozialrates der UNO, die Commission on Transnational Corporations (UNCTC) befasste sich mit diesem Problem und empfahl den Förderländern, auf die Einfügung solcher Klauseln in die Verträge mit den ausländischen Konzessionären zu bestehen. 60
Dazu eingehend JANSEN, Fugger 165 ff, KALUS, Fugger 66 ff, der allerdings auf Grund der Steuerlisten, Testamente etc nachweist, dass die wirtschaftliche Lage der der Biestritzer Bürger im Allgemeinen keineswegs schlecht war, vgl ebenda 69 ff.
61
62
JANSEN, Fugger 166 ff.
63
JANSEN, Fugger 170.
150
PETER FISCHER
Der junge64 ungarische König Ludwig II. fällte mit seinen Beratern am 4. Oktober 151965 seine Entscheidung. Als Parteien in dem Verfahren standen sich die Bergstadt Banská Bystrica (Neusohl) als Klägerin und als Beklagte die Söhne des 1508 verstorbenen Johann I. Thurzo, nämlich Johann V. Thurzo,66 Georg I. Thurzo67 und Alexius Thurzo,68 gegenüber. Die Entscheidung ist dreigeteilt: im ersten Teil werden die Klagen der Stadt und ihrer Bürger kurz zusammengefasst, im zweiten die Gegenargumente der Thurzos dargelegt und im dritten Teil erfolgt dann der eigentliche Spruch des Königs. 1. Die Vorwürfe der Bergstadt Banská Bystrica und seiner Einwohner gegen die Thurzos Wie bereits angedeutet, war langjährige Hauptursache der Animositäten der Bergstadt Neusohl und deren Bewohner gegen das nun etablierte Großunternehmen die Tatsache, dass die Mittel zum Lebensunterhalt für die von ihm nun abhängig gewordenen kleinen Gewerken und Arbeiter nicht auf den Märkten der Städte besorgt, sondern teils von auswärts hergebracht, und teils, wie Bier, in eigenen Brauereien erzeugt wurde. Darüber hinaus eröffnete das Unternehmen in der Stadt selbst zwei Bierschenken, was ganz und gar – so die Bergstadt – „contra consuetudinem et Jura predicte Civitatis Bistriciensis“69 sei. Sodann kaufen die Thurzos die für den Bergbau benötigten Waren und Ausrüstungen nicht mehr bei den Händlern in der Stadt, sondern besorgten sie von woanders her, wodurch den Bürgern einschließlich der Bierbrauereien großer Schaden entstanden war. Weiters hinderten Thurzo und Der am 1. 7. 1505 in Prag geborene Ludwig II. war zum Zeitpunkt der Entscheidung knapp 14 Jahre alt.
64
Abgedruckt in FISCHER, Concessions VIII, 105; transkribiert von einer Abschrift vom 14. 9. 1527 im F. A. 37, 7. Sie ist auch abgedruckt bei G. WENZEL, Okmánytar a Fuggereck, in: Törtenélmi Tár (Budapest 1882) 660. Vgl auch Janseon, Fugger 171.
65
66
Professor und Rektor der Krakauer Akademie.
Er war mit Anna Fugger, der Tochter des Ulrich Fugger, verheiratet und hatte die Funktion des obersten Münzmeisters von Ungarn inne. 67
Er war der Halbbruder von Georg I., wurde wie ein Ungar aufgezogen und beherrschte die Landessprache vollkommen. JANSEN, Fugger, 170. 1519 wurde er zum königlichen Schatzmeister am ungarischen Hof ernannt. KALUS, Fugger, 87. 68
Diese nicht konkret begründete Behauptung wird auch im Protest der Stadt gegen die königliche Entscheidung wortwörtlich vorgebracht. Vgl dazu unten Anmerkung 80. 69
Der Fall Neusohl gegen Bergbauunternehmen der Thurzo 1519
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seine Beamten die städtischen Untertanen an der Entrichtung der herrschaftlichen Abgaben an die Stadt,70 wodurch auch dieser selbst ein großer Schaden zugefügt wurde. Schließlich gewährte Thurzo Personen, die in der Stadt ein Verbrechen begangen haben und in der Folge in die außerhalb der Stadt gelegenen Bergbaubetriebe71 geflohen waren, Asyl und Immunität. 2. Die Gegenargumente der Brüder Thurzo Diesen Vorwürfen trat Alexius Thurzo im Namen seiner Brüder Georg und Johann mit folgenden Argumenten entgegen: nach allgemeinem und überall gültigem Bergrecht könne er seine Arbeiter entlohnen, wo immer und womit er wolle;72 nach demselben Bergrecht könne er Rinder schlachten und Lebensmittel und Getränke für seine Leute einführen, woher er wolle; wegen der Höhe der Preise und der weiten Entfernung zum städtischen Markt könnten die Arbeiter sich ihren Lebensunterhalt hier selbst verschaffen;73 er sei nicht in der Lage, den Bergleuten so lange freie Zeit zu geben, um auf den weit entlegenen Märkten ihre Einkäufe zu besorgen. Die Folge würde sein, dass man die Arbeiten ruhen lassen oder mit weniger Arbeitern erledigen müsse, beides zum Schaden für das ganze Reich. Es wäre „wahnsinnig und allem Bergrecht fremd“, wolle man Dinge, die man um einen geringeren Preis in der Nähe haben kann, um einen höheren aus der Ferne besorgen.74 Was die Weißbierausschank in der Stadt anlange, so besitze er in Biestritz ein Haus, für welches er wie jeder andere Bürger Abgaben leiste. Daher habe Thurzo alle Bürgerrechte, wozu auch der Betrieb einer Bierschank gehöre. Hinsichtlich der städtischen Untertanen auf den Gütern Chaktornyas machte Thurzo geltend, dass die Thurzos gleichzeitig auch Untertanen dieses Edel-
„...ab aliquo autem iam annis, prefati Georgius, Alexius et Johannes Thurzo, eorumque offitiales, predictos colones villarum prescriptarum, ab omni obedientia Civitati prestanda avertissent...“ 70
Eine Karte des Bergbaugebietes um Biestritz (Neusohl) zu Beginn des 16. Jh, in der die Bergwerke, Schmelzhütten, Saigerhütten (zur Trennung des Silbers vom Kupfer), Raffinierhütten, Kohlenmeiler, Straßen und Hammerwerke des Thurzo-Fugger Großunternehmens eingezeichnet sind, findet sich bei KALUS, Fugger 57. 71
„…Iure montium quod tam in hoc Regne nostro, quam in alijs omnibus Regnis exteris observatur, licuisse semper et licere sibi, suos laboratores solvere undecumque ... posset ...“. 72
73
„...magnitudinem precij ... et distancia plusque duorum miliarum ...“
„...esset illud extreme dementie, et ab omni Jure presertim montium alienum, ut quod prope minore precio habere posset, id a remotis cum maiore ductitaret...“ 74
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PETER FISCHER
herrns Johann Ernst von Chaktornya75 seien und daher von den Abgaben befreit wären; hinsichtlich der Verbrecher stünde es der Stadt nicht zu, die Auslieferung zu begehren, denn er sei Herr der Grafschaft Biestritz (Neusohl) und besitze daher die strafrechtliche Jurisdiktion ebenso wie ein Richter der Stadt.76 Nur wenn der Richter77 die Verbrecher, die in der Stadt selbst festgenommen seien, aburteilen wolle, dann würde er sich dieser Praxis nicht widersetzen. 3. Die Entscheidung König Ludwigs II. von Ungarn Nach Konsultation der Prälaten und Edlen des Reiches sowie seiner Räte, gelangte der König nach reiflicher Überlegung zur Erkenntnis, dass die Sache des Bergbauunternehmens eine viel gerechtere sei als die der Stadt.78 Denn die Thurzos handelten nicht so sehr in eigener, sondern in der Sache aller Bergwerksunternehmer, die unter hohem Kapitaleinsatz zu ihrem, als auch des Reiches Nutzen Bergwerke betreiben und jene bergrechtlichen Normen beobachten, die nicht nur in allen christlichen, sondern auch in den heidnischen Staaten gelten.79 Die Biestritzer verfolgen hingegen nur ihr eigenes Interesse („privatam ... commodidatem respicere et querere ... videbantur“) und wollen die Rechte der Bergwerksunternehmer beschränken. Die Thurzos seien nicht verpflichtet, Nahrungsmittel in der Stadt zu kaufen und können überall Rinder züchten, schlachten und verkaufen. Sie dürfen dunkles und helles Bier für den eigenen und ihrer Bergleute Konsum brauen. Ausrüstungen für den Bergwerksbetrieb brauchen auch nicht bei den Handwerkern in der Stadt gekauft werden. Verbrecher, denen die Organe der Stadt habhaft werden, können von dieser der Gerichtsbarkeit zugeführt werden. Gelingt ihnen aber die Flucht in die Berge, so brauchen sie von den Thurzos nicht ausgeliefert zu
Bruder des Bischofs Sigmund Ernst von Fünfkirchen, in dessen Namen die Bergbaukonzession vom 26. 12. 1494 erteilt wurde. Vgl oben Anm 47. 75
„...ipse esset comes comitatus Zoliensis ... cui ratione honoris et offitij non minor, est comessa potestas puniendi, quoscunque malefactores quam Judicij Bistdciensi...“ 76
Die Führung einer Bergstadt oblag dem Richter (richtár) und den Geschworenen (Stadträte). 77
78
„...Thurzonum causam multis ex causis, esse iustiorem...“
„... quod Thurzones ipsi, non tam suam quam pro publica tocius Regni utilitate et commodo montana ipsa, cum larga facultatum suarum profusione colere, et non tam sua quam, montium Jura, que in toto orbe non solum Christiano, sed etiam gentili, amplissima semper extiterunt, tutari...“ (Hervorhebung von mir). FISCHER, Concessions VIII, 155. 79
Der Fall Neusohl gegen Bergbauunternehmen der Thurzo 1519
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werden, und können von diesen bestraft werden. Die Bergleute der Thurzos sind nicht zu Dienstleistungen an die Stadt Biestritz verpflichtet. Der König stimmte somit in seiner Entscheidung praktisch in allen Punkten80 der Argumentation der Beklagten zu und wies demgemäß die Klage vollem Umfang ab. Die Stadt wollte sich aber nicht mit dieser für sie offensichtlich verheerenden Entscheidung abfinden und brachte gegen diese am 1. Dezember 1519 eine scharfe Protestnote beim König ein.81 Darin beschuldigten sie die Thurzos, dass sie ein rechtswidriges Urteil gegen die Stadt erschlichen hätten. Die Rechtswidrigkeit bestünde in der mangelhaften Zusammensetzung des Gerichts, dem Objektivität und Unparteilichkeit fehlte. So war Vorsitzender des Gerichts der Bischof Georg von Fünfkirchen, ein Verwandter der Thurzos;82 im Gerichtskollegium fehlten juristische Experten und auch Maria,83 die Gemahlin des Königs. Im Weiteren wurde auch das „zarte und mangelhafte Alter“ des Königs moniert.84 Auch die schon in der Klage vorgebrachten Argumente wurden wiederholt, denen gemäß die Entscheidung gegen Jus Divinum und gegen die Rechte und Privilegien der Stadt verstoße.85
Der Schiedsspruch verbot den Thurzos lediglich die Errichtung von Bierschenken in Neusohl und verpflichtete sie hinsichtlich des Weinverkaufs zur Beachtung des in dieser Stadt gültigen Gewohnheitsrechts. 80
Der Protest wurde vom Richter Andreas Kolman in seinem und im Namen aller Stadträte, also Geschworenen (universorum juratorum) sowie der gesamten Bürgerschaft von Biestritz/Neusohl in einer Note vom 1. 12. 1519 vorgebracht. FISCHER, Concessions VIII, 128. 81
In der Tat war die Nichte des Bischofs mit Alexius Thurzo verheiratet, wie zu Recht KALUS, Fugger 88, Anm 311, anmerkt.
82
Maria von Ungarn, Enkelin Kaiser Maximilians I. und Schwester des späteren Kaiser Ferdinand I. wurde am 17. 9. 1505 in Brüssel geboren und war somit beim Erlass der Entscheidung 14 Jahre alt! Sie war aber noch nicht Königin von Ungarn und hatte daher keinerlei Verfügungsgewalt über die Bergstädte. KALUS, Fugger 88, nimmt an, dass mit diesem juristischen Argument die Stadt vielleicht eine Überprüfung der Entscheidung ihres Gemahls herbeiführen wollte. In der Tat stand die Königin später den Fuggern eher kritisch gegenüber. 83
Der am 1. 7. 1505 in Prag geborene Ludwig II. war zum Zeitpunkt der Entscheidung knapp 14 Jahre alt! Da ja auch Maria kaum älter war als ihr Gemahl, erscheint dieses Argument der Stadt nicht schlüssig.
84
Hier muss angemerkt werden, dass sowohl in dem Parteienvorbringen, als auch in der Entscheidung und in dieser Protestnote zwar immer wieder auf die Rechte und 85
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Diese Protestnote bewirkte allerdings keinerlei Reaktion seitens des königlichen Hofes. Der Konflikt ruhte dann für eine Weile. Doch 1525 kam es nach dramatischen Entwicklungen in Neusohl86 zur Enteignung der Fugger durch die Krone, die aber König Ludwig II. knapp ein Jahr vor seinem Tode87 rückgängig machen musste. Er wurde zu diesem Schritt durch gesamteuropäischen diplomatischen Druck, den Jakob Fugger (der Reiche), ebenfalls ein Jahr vor seinem Tode, initiierte, dazu gezwungen. Aber das ist eine andere Geschichte.88
IV. Schlussbetrachtung Dieser Fall Neusohl (Banská Bystrica) gegen Bergbauunternehmen Thurzo ist auch für das heutige internationale Investitions- und Konzessionsrecht von Interesse, da ähnliche Probleme in diesem Rechtsbereich auch heute auftreten. So zeigt bereits dieses frühe Beispiel, dass Auslandsinvestitionen im Bereich der extraktiven Industrie dem Prinzip des adequate share entsprechen sollen, dh dass auch der Anlagestaat einen gerechten Anteil am oft unvorhersehbar hohen Gewinn erlangen soll. In unserem Fall sind es nicht nur die ungarische Krone, sondern auch die unmittelbar betroffenen Bergstädte. Eine Revisionsklausel in den mannigfachen Privilegien hätte hier vielleicht die offenkundigen und unterschwelligen Animositäten gegen das Großunternehmen in den Bergstädten und auch im national-ungarischen Lager am Hofe gemildert. Im Weiteren ist heute Hauptmotiv des Anreizes für Auslandsinvestitionen der job-creating effect, dh dass mit jeder Investition aus dem Ausland im Anlagestaat Arbeitsplätze geschaffen werden sollen. Im weiteren soll auch die nationale Wirtschaft dadurch belebt werden, dass die materiellen Bedürfnisse des ausländischen Konzessionärs durch Waren und Dienstleistungen aus dem Anlagestaat selbst – und nicht von wo anders her wie in unserem Fall – befriedigt werden. Das ist auch das Kernstück moderner Erdölkonzessionen.89 Grundprivilegien der Stadt Bezug genommen wird. Ein näherer Hinweis, welche Vorschriften in concreto damit gemeint sind, fehlt jedoch. Wegen gravierender Münzverschlechterung und damit erheblichen Lohnkürzungen kann es zu einem bewaffneten Aufstand der Berg- und Minenarbeiter in Neusohl. KALUS, Fugger, 104 ff. 86
87
Im Verlauf der Schlacht von Mohacs 1526.
88
KALUS, Fugger 107 ff, JANSEN, Fugger 186 ff.
89
Fischer, Konzessionsrecht 306 ff.
Der Fall Neusohl gegen Bergbauunternehmen der Thurzo 1519
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Aus heutiger Sicht wäre daher in diesem Punkt der Argumentation der Bergstadt Neusohl als Klägerin zuzustimmen, deren Gewerbebetriebe und Kleinkaufleute durch das autark operierende Großunternehmen offensichtlich zu Schaden kamen. Von Interesse sind schließlich auch die in der königlichen Entscheidung gemachten materiellrechtlichen Aussagen über den Bestand eines universell geltenden Bergrechts, in welchem die Prinzipien des Gemeinwohls und des öffentlichen Interesses im Mittelpunkt der juristischen Überlegungen standen. Auch in modernen Schiedsgerichtsfällen in Konzessionsstreitigkeiten spielen diese Grundsätze im Zusammenhang mit den völkerrechtlichen „Allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ eine bedeutende Rolle.90 Es ist nur schade, dass beide Parteien und auch der König nicht konkret spezifiziert haben, was eigentlich unter dem „ius divinum“ bzw dem „universellen Bergrecht“ zu verstehen ist.
Vgl den 1977 entschiedenen Fall Texaco/Calasiatic v. Republik Lybien, in dem ua der Grundsatz „pacta sunt servanda“ auch für diese Verträge zur Anwendung kam. Vgl RUDOLF HOLZER, Lybia Oil Companies Arbitration, in: BERNHARDT, Encyclopedia III, 215–218, hier 217. 90
„Von recht und landgebrauchs wegen“ im Testamentsrecht der Landtafel ob der Enns URSULA FLOSSMANN, Linz / HERBERT KALB, Linz
Es ist das Verdienst von Werner Ogris, bereits zu einer Zeit, als an österreichischen Universitäten um die Etablierung der wissenschaftlichen Disziplin „Österreichische Privatrechtsgeschichte“ im Verbund einer „Österreichischen Rechtsgeschichte“ gerungen wurde, in seinen Hauptvorlesungen an der Universität Wien zur „Österreichischen und Europäischen Privatrechtsentwicklung“ den Weg einer der europäischen Rechtstradition verpflichteten und in ihr verwurzelten eigenständigen Österreichischen Privatrechtsentwicklung gewiesen zu haben. Seine interdisziplinäre Arbeitsweise im Fach Rechtsgeschichte verband früh das traditionell romanistisch belegte Forschungsfeld des ius commune mit einer klaren Standortbestimmung des mittelalterlichen deutschen Rechts für die österreichische Rechtsentwicklung und bereitete eine heute allgemein anerkannte eigenständige Forschungsstrategie mit entwicklungsgeschichtlicher Perspektive auf. Darüber hinausgehende transdisziplinär unterfütterte Untersuchungsschwerpunkte zur europäischen Rechtsgeschichte ließen die historisch gewachsenen wissenschaftstheoretischen Grenzlinien zwischen „germanistischer“, „romanistischer“ und „kanonistischer“ (Privat)Rechtsgeschichte in den Hintergrund treten. Eine Synthese der Forschungsergebnisse und neue problemgeschichtlich orientierte Fragestellungen wurden vorstellbar. Der „modernen“ Rechtsgeschichte war es erlaubt, danach zu fragen, welches Recht zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Gebiet, unter den dieser Zeit eigenen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen gegolten hat, ohne die gesamteuropäische Kulturentwicklung auszublenden. Gerade in den zahlreichen privatrechtsgeschichtlichen Beiträgen des Jubilars im Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, das schon in seiner 1. Auflage von einem „weiteren Begriff des Wortes deutsche Rechtsgeschichte“ ausging und die gesamte „Rechtsgeschichte …, mit hin auch die Romanisierung unseres Rechts“, sowie die Mitbestimmung durch die „Kanonistik“ als Leitlinien vorgab, wird seine besondere Fähigkeit, gesamteuropäische Entwicklungsstrukturen mit territorialge-
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URSULA FLOSSMANN / HERBERT KALB
schichtlichen Besonderheiten so zu verknüpfen, dass eine facettenreiche und doch geschlossene rechtshistorische Skizze eines Rechtsinstituts entsteht, offenkundig. Forschungsergebnisse aus den „österreichischen Ländern“ finden sich durchgängig mit Verweisen auf die Spezialliteratur eingeschlossen. Werner Ogris ist der Wegbereiter einer wissenschaftstheoretisch offenen, der europäischen Rechtsidee verpflichteten Österreichischen Privatrechtsgeschichte.1 Seine erbrechtsgeschichtlichen Gesamtschauen im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, insbesondere zum „Testament“,2 belegen dies eindrücklich. Grundlegende gesamteuropäische Rechtstraditionen und durch die einheimische Rechtspraxis gefestigte Besonderheiten verdichten den Befund, dass auch im österreichischen Rechtsraum das mittelalterliche Testamentsrecht „die mit der Rezeption vordringenden römisch-gemeinrechtlichen Grundsätze begierig“3 aufnahm, wohingegen im Verwandtenerbrecht die traditionale Behandlung des Nachlasses als „Erbgut“ mit den entsprechenden Spezifika „Erbengemeinschaft“, „Erbenlaub“, „Erbenlosung“ oder „Erbenwartrecht“ nur ausnahmsweise Lücken füllende Weiterentwicklungen auf gemeinrechtlicher Basis in der frühen Neuzeit zuließ. Vertiefend dazu hat Wesener in seiner „Geschichte des Erbrechtes in Österreich seit der Rezeption“4 auf die notwendige Unterscheidung zwischen gesetzlicher und gewillkürter Erbfolgeordnung bezüglich gemeinrechtlicher Rezeptionsvorgänge aufmerksam gemacht,5 vor allem aber auch darauf, dass Differenzierungen
WERNER OGRIS, Elemente Europäischer Rechtskultur. Rechtshistorische Aufsätze aus den Jahren 1961–2003, hrsg v THOMAS OLECHOWSKI (Wien/Köln/Weimar 2003).
1
2
WERNER OGRIS, Testament, in HRG1 V, 152–165.
3
OGRIS, Testament 157.
GUNTER WESENER, Geschichte des Erbrechts in Österreich seit der Rezeption (Graz 1957).
4
Vgl zu dieser Thematik auch PETER LANDAU, Die Testierfreiheit in der Geschichte des deutschen Rechts im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, ZRG GA 114 (1997) 55–72; ULRIKE SEIF, Römisch-kanonisches Erbrecht in mittelalterlichen deutschen Rechtsaufzeichnungen, ZRG GA 122 (2005) 87–112; THEODOR BÜHLER, Die Methoden der Rezeption des römisch-gemeinen Rechts in die Erbrechte der Schweiz, ZRG GA 120 (2003) 1–60; spezifisch zu privilegierten Testamenten JOSEF PAUSER, „in sterbenden leuffen, der wir dann teglich nach dem willen des allmechtigen gewartten muessen“, in GERALD KOHL / CHRISTIAN NESCHWARA / THOMAS SIMON 5
„Von recht und landgebrauchs wegen“
159
zwischen den einzelnen österreichischen Erbländern auszumachen sind. Insbesondere lasse ein Vergleich der frühneuzeitlichen Kodifikationsvorhaben in den Ländern ob und unter der Enns hinsichtlich der Intensität der Rezeption auf dem Gebiete des Erbrechts erkennen, dass sich der obderennsische Landsbrauch mitunter stärker behaupten konnte als das Gewohnheitsrecht im Umfeld der Residenz- und Universitätsstadt Wien.6 Ob dem so ist, soll im Folgenden näher untersucht werden. Die primäre Erkenntnisquelle für die im Umbruch befindliche oö Rechtslandschaft im 16. und 17. Jh ist der Landtafelentwurf ob der Enns aus 1616. Diese Rechtsquelle ist Bestandteil der 1987 am Institut für Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz eingerichteten Datenbank und kann dank umfassender Register wertvolle Unterstützungsarbeit bei Erbrechtsrecherchen leisten. Im Folgenden werden daher die landrechtlichen Belege nach der dort erfassten Sammlung Chorinsky, ergänzend dazu mit den entsprechenden Stellen der Landtafelbearbeitung von Strätz,7 zitiert. Der Tradition mittelalterlicher Landrechtsordnungen verpflichtet, welche das in den einzelnen Ländern geltende Gewohnheitsrecht im Zusammenwirken von Landesherrn und Landständen fixierten und den Wandlungsprozess von der stammesmäßigen zur territorialen Herrschaftsausübung verfassungsrechtlich absicherten, sollte das frühneuzeitliche Landtafelvorhaben zu einer Grundordnung des Landes ob der Enns entsprechend dem dualistischen Staatsverständnis der Landstände vordringen. Primär ging es um die Sicherung der landständischen Freiheitsrechte beim Aufbau einer (früh)modernen Staatsorganisation, daneben auch um die Sichtung und rechtsdogmatische Aufarbeitung des heimischen Quellenmaterials zu Rechtsfällen alltäglicher Art. An die Übernahme des ius commune war nur in jenen Bereichen gedacht, in denen der heimische Landsbrauch Mängel aufwies. Der aus Württemberg stammende und im Dienst des protestantischen Landadels stehende Verfasser Abraham Schwarz konnte zwar auf Vorarbeiten aus dem 16. Jh zurückgreifen, so auf den Versuch einer systematischen Rechtsdarstellung durch den ebenfalls evangelischen Stadtschreiber und Notar von Linz und (Hrsg), FS für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive (Wien 2008) 477–499 mit weiterführenden Literaturhinweisen. 6
WESENER, Geschichte des Erbrechts 193.
HANS-WOLFGANG STRÄTZ, Landtafel des Erzherzogtums Österreich ob der Enns (= Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 17, Linz 1990); Sammlung CHORINSKY, Landtafel des Erzherzogthums Österreich ob der Enns I-VI (1608). 7
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URSULA FLOSSMANN / HERBERT KALB
Freistadt Veit Stahel und auf Landesordnungsentwürfe des Landes unter der Enns, schuf aber ein eigenständiges, in sechs Teile (Landesverfassungsrecht, Zivilprozessrecht, Vertragsrecht, Testamentsrecht, Intestaterbrecht, Lehenrecht) gegliedertes Gesamtwerk. Ausgehend vom verfassungsrechtlichen Standpunkt, dass das „ganze land ob der Ennß ausser ihrer landsfürstlichen hochheit und cammergüeter … den landstenden freißaign oder lehensweiß … unterworfen …“ ist und die Stände, was immer sie „für sonderbahre landsfreiheiten haben von unsern hochgeehrten vorfahren den römischen kaisern und erzherzogen zu Öesterreich ihnen gegebenen, wie auch was sie sonsten von alten löblichen gueten gewohnheiten und gebreuchen hergebracht, darbei … sie iederzeit … unbetriebt und ingevehrt vessticlich gelassen geschuzt und handgehabt werden“,8 nimmt Abraham Schwarz auf dem Gebiete des Privatrechts nur dort die Hilfestellung des ius commune in Anspruch, wo sie ihm für die dogmatische und systematische Durchdringung des Rechtsstoffes unentbehrlich war: „… da aber bei ainen oder den anderen puncten nichts sonderbahres abgeredt noch gewisse ding beschlossen worden, soll die handlung und schluß nach inhalt und außweißung deß üeblichen landgebrauchs und gewohnhait, auch in mangl dessen der algemainen geschriben rechten verstanden“ werden.9 Für das Verwandtenerbrecht bedeutete dies im Grundsätzlichen das ungebrochene Festhalten am Ausschluss der Aszendenten sowie der Töchter im Herren- und Ritterstand von der Erbfolge, die Weitergeltung eines unbeschränkten Repräsentationsrechts in allen Linien und die schriftliche Fixierung der fallrechtlichen Prinzipien. Soweit sich im 5. Teil des Landtafelentwurfs zu den „erbnembungen ab intestato oder außer und ohne testament, allain dem gebliet und verwandschaft nach“10 Bezüge zum gemeinen Recht finden, sind es entweder Nachweise für eine Übereinstimmung zwischen den „kaiserlichen rechten und landsgebrauch“11 oder explizite Bekenntnisse zum „uralten landsgebrauch“ bzw „uralten und jederzeit erhaltnen landsgebrauch“ im Widerspruch zu den „algemainen geschriebenen rechten“.12 Im Regelfall aber
8
Sammlung CHORINSKY I 2 § 1, § 8; STRÄTZ I 2 § 1, § 5.
9
Sammlung CHORINSKY III 14 § 12; STRÄTZ III 14 § 14.
10
Sammlung CHORINSKY V 1; STRÄTZ V 1.
So bei der Verwandtschaftszählung als Absage an die Komputation nach den „geistlichen rechten“ in Sammlung CHORINSKY V 3 § 4; STRÄTZ V 3 §§ 10 bis 16.
11
Beispiele sind zu finden im Erbrecht unehelicher Kinder in Sammlung CHORINSKY V 6 § 1; STRÄTZ V 6 § 1; Eintrittsrecht der Geschwisterkinder nach Stämmen in
12
„Von recht und landgebrauchs wegen“
161
wird zur Untermauerung der im Land anerkannten Erbrechtsstrukturen bloß die Weitergeltung des bisherigen Landsbrauchs festgeschrieben,13 mitunter unter Hinweis auf den Landsbrauch als „gemaine regl“.14 Wird ausnahmsweise ein positiver Bezug zum gemeinen Recht hergestellt,15 fällt die zusätzliche Begründung auf, dass diese Regelung auch der „natürlichen billichkeit gemäß“ ist. Selbst bei der ausschließlichen Berufung auf das gemeine Recht, wonach im Falle einer längeren nachrichtenlosen Abwesenheit eines Erben die Miterben dessen Erbteil in Besitz nehmen können, wird an der „landsgebreichigen verjährungszeit“ von 32 Jahren festgehalten, innerhalb derer das Erbteil samt Nutzungen auszufolgen ist.16 Wie stark die schriftliche Fixierung des landsbräuchigen obderennsischen Verwandtenerbrechts von der Vorstellung einer dauerhaften und gerechten Ordnung bestimmt wurde, die einer Rechtsbesserung grundsätzlich nicht bedurfte, zeigt ein Beispiel aus dem Repräsentationsrecht. Eine der zentralen Frage war, ob den Geschwisterkindskindern neben Geschwistern des Erblassers ein Eintrittsrecht zukommt oder nicht. In einem Formularienbuch des 16. Jh17 findet sich im Vorfeld der landtäflichen Kodifikationsarbeiten bereits eine eingehende Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen land- und gemeinrechtlichen Positionen. Im Ergebnis wird festgestellt: „... Est autem consuetudo optima legum interpres, die gewohnheit, und gebreuch der Landt und fleckhen sein die allerbeste außlegerin, und Tollmätschung der gesaz, ergo so mueß man soliche Landtsgewohnheiten und gebreuch halten, wan sie haissen dz Landtsrechten und dieweill dz geschriben recht ruehen lassen“. Auch in einer landesfürstlichen Anfrage an den Landeshauptmann in ÖsterSammlung CHORINSKY V 8 § 3; STRÄTZ V 8 §§ 6 bis 9; oder Fallrecht Sammlung CHORINSKY V 15 § 5; STRÄTZ V 15 § 6. Beim Ausschluss der Aszendenten von der Erbfolge in Sammlung CHORINSKY V 7 § 1; STRÄTZ V 7 § 1; ebenso beim Pflichtteilsrecht in Sammlung CHORINSKY V 14 § 8; STRÄTZ V 14 § 16; oder im Verbund der eintrittsrechtlichen Besonderheiten nach Sammlung CHORINSKY V 8 § 4; STRÄTZ V 8 §§ 10 bis 11 und Sammlung CHORINSKY V 9 § 3; STRÄTZ V 9 §§ 7 bis 10. 13
Sammlung CHORINSKY V 12 § 5 zum grundsätzlichen Verjährungsausschluss des Widerfallrechts in Bezug auf das Heiratsgut der “verzichtenden“ Tochter; STRÄTZ V 12 § 8.
14
Wie bei Vorausempfängen von Kindern in Sammlung CHORINSKY V 16 § 3; STRÄTZ V 16 § 12.
15
16
Sammlung CHORINSKY V 14 § 2; STRÄTZ V 14 § 5.
17
Herrschaftsarchiv Eferding, Starhemberger HS 86.
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reich ob der Enns aus dem Jahr 1554, „ob dem landsbrauch nach ... die uberblibent schwester der erbschaft allain fähig sei oder ob das enikhl neben ir umb gleichen thail billich einsteen muge und solle“, führte der Landeshauptmann zur Geltung des heimischen Rechts die Unvordenklichkeit der Übung („ie und albeg in diesem land ob der Ennß also gehalten worden“), Weisung und Bestätigung der Übung durch Gerichtsentscheidungen („... auch auf ... appellation durch eur khun. maj. etc. regierung der niderösterreichischen lande zu creften erkhennt worden“) und eindeutigen Beweis der Unverbrüchlichkeit dieses Rechtssatzes durch Befragung jener Personen, „… so die landsrecht lange jar her besessen und in solchem fall die pest erfarenhait haben“, ins Treffen. Diese solcherart vom Landeshauptmann bestätigte Rechtsregel wurde in die obderennsische Landtafel unverändert aufgenommen und nochmals betont: „… aber im uralten und iederzeit erhaltnen landsgebrauch nach erstreckht sich solch eintrittrecht an der eltern statt auch auf die Kindskinder, also daz auch dieselben oder in deren mangl ihre Kinder mit deß verstorbnen erblaßers noch lebenden geschwistrigten iederzeit zu gleichen erben in die stämb zuegelaßen worden; dabei es noch auch hinfüroan verbleiben und in begebunden erbfällen also gehalten solle werden.“18 Vor diesem gemeinrechtlichen Hintergrund gewinnt die frühneuzeitliche Kodifikationsgeschichte zum Repräsentationsrecht der Nachkommenschaft vorverstorbener Geschwister eine umfassendere Aussagekraft: an einem den gemeinrechtlichen Anforderungen an die Normgeltung genügenden Landsbrauch kann festgehalten werden. Der Geltungsanspruch einer (landsbräuchigen) Norm erhöht sich, je länger sie in Kraft war, sich bewährt hat und je geschlossener ihre Annahme durch die Rechtsgemeinschaft ist. Untersucht man den 4. Teil der Landtafel ob der Enns, der „Von den testamenten und letsten willen handlt“, im Hinblick auf das Verhältnis zwischen landsbräuchigem Gehalt und gemeinrechtlichen Bezügen, so vermitteln bereits Titelüberschriften, im Text verwendete Rechtsbegriffe und Definitionen den Eindruck einer intensiven Befruchtung dieses Rechtsgebietes durch das gemeine Recht. Beispiele sollen das verdeutlichen: Das Testament wird klar vom Kodizill unterschieden und dazu in IV 2 § 1 und IV 25 § 119 festgehalten: „Es ist aber ain testament nichts anders alß ein rechtmeßige erclärung und mainung aines freien, ungezwungenen willens von allen dem, was ainer nach seinen todt seiner hinderlaßnen güeter, gerech-
18
Sammlung CHORINSKY V 8 § 3; STRÄTZ V 8 §§ 7 bis 9.
19
STRÄTZ, IV 2 § 1, IV 25 § 1.
„Von recht und landgebrauchs wegen“
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tigkhaiten und anders halber durch seine eingesezte erben will volzogen und gehalten haben“, ein „codicil … ain begriff aines lesten willens darin kein erb eingesezt noch die zierlichkheiten aines testaments gebraucht, sondern allain particulargeschäft durch den geschäftherren verordnet werden, daher sie auch zu latein codicilli oder kleine testament genent werden.“ Neben dem schriftlichen Testament, das „solenne in scriptis“ errichtet werden musste, figuriert das mündliche Testament, welches „in erlicher leüth beisein und zeügen allain von mund außgesprochen wirdt, nuncupativum genant.“20 Während das Testament einer Erbeinsetzung bedarf und starren Formvorschriften unterliegt (eigenhändig geschriebene [holographe] Testamente sowie fremdhändig verfasste [allographe] werden besonders hervorgehoben), entbehrt das Kodizill einer Erbeinsetzung und ist von einer wesentlich geringeren Formstrenge bestimmt. Zur wirksamen Beerbung bedurfte es einer gültigen „institution und einsetzung der erben.“21 Das Testament ist grundsätzlich widerruflich, entsprechend der Formulierung: „… daß ainem ieden testierer bevorstehet und zuegelaßen bei seinen lebzeiten sein testament zu ändern und zu mindern und zu mehren, oder auch ganz oder gar wider abzuthuen und zu widerruefen…“.22 Das im 15. Titel „Von aftererbsatzungen sive de substitutionibus“ normierte Substitutionenrecht entspricht im Wesentlichen gemeinrechtlichen Lehrsätzen und unterscheidet zwischen Ersatzerbschaft und Nacherbschaft. Zur „vulgaris substitutio“ hält die Landtafel fest, „…daß iedem testierer frei stehen soll, zu dem benenten und eingesetzen ersten oder haubterben auf den fall, da solcher des testierers todt nit erleben wuerde oder auch anderer ursachen und verhinderung halb sich der erbschaft nit annemen wolte, noch ainen oder mehr aftererben zu substituieren und nachzusetzen …“23 und regelt eingehend die Vulgarsubstitution als bedingte Erbeinsetzung. Als „andere“ Form der Nacherbschaft wird die Pupillarsubstitution behandelt, „da nemblich ein vatter seinen unvogtbaren kindern substiuiert und nacherben benent, dann weil die unvogtbarn nit testieren dörfen.“24 Die im Anschluss an die direkten
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Sammlung CHORINSKY IV 2 § 2; STRÄTZ IV 2 § 2.
21
Sammlung CHORINSKY IV 13; STRÄTZ IV 13.
22
Sammlung CHORINSKY IV 19 § 2; STRÄTZ IV 19 § 2.
23
Sammlung CHORINSKY IV 15 § 1; STRÄTZ IV 15 § 1.
24
Sammlung CHORINSKY IV 15 § 5; STRÄTZ IV 15 § 9.
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Substitutionsarten geregelte fideikommissarische Substitution25 entspricht den systematischen Vorgaben der gemeinen Rechtslehre. In den Titeln 26 bis 29 und 32 werden die Legate in Übereinstimmung mit dem gemeinrechtlichen Vermächtnisrecht detailliert geregelt. Das gilt für die Definition in § 1 des 26. Titels: „Legata sein sonderbare geschäft und gleichsamb geschankhnuß und gaben, welche ein testirer oder sterbender auß sonderer freündschaft und zu beßerer gedächtnus ainem andern dergestalt verordnet und außgezaigt, daß es ihme nach seinem todt von seinem erben zuegestelt und außgericht solle werden“26 und für die tragenden Prinzipien. So ist für die Gültigkeit eines Legats die Testierfähigkeit des Testators und die testamenti facti passiva des Legatars erforderlich;27 werden einem Testamentserben Legate auferlegt und schlägt dieser die Erbschaft aus, sind die Legate hinfällig; ausnahmsweise müssen die Legate erfüllt werden, wenn der testamentarische Erbe die Erbschaft ausschlägt und danach als Intestaterbe den Nachlass erhält;28 es ist zulässig, Legate zur Schuldentilgung zu erteilen;29 Le-
Sammlung CHORINSKY IV 16 „Von erbschaften so mit der nachsetzung auf widerfall gerichtet sein, fideicommißa genant“; STRÄTZ IV 16. 25
26
STRÄTZ IV 26 § 1.
Sammlung CHORINSKY IV 26 § 3: Welche personen nun cräftig testament aufrichten können, dieselbigen khönnen auch legata und sonderbare geschäft cräftig verordnen; welchen aber (wie hieoben von aufrichtung der testamenten vermeldt worden) daß testieren verbotten, die können auch nit cräftig legiern., § 4: Wie dan ingleichem allen denjenigen, welche zu erben in testamenten künnen benent und eingesezt werden, dennen kan auch kräftig legiert oder solch sonderbare geschäft verordnet werden. darunter dan auch die testamentszeugen nit mögen außgeschloßen werden, inmaßen hieoben unter dem titul von dennen personen welche zu zeugen im testament können gebraucht werden" angezaigt worden.; STRÄTZ V 26 § 3, § 4. 27
Sammlung CHORINSKY IV 28 § 2: …wann aber der eingesezte erb sich der erbschaft entschlagen wolte, so mögen die andern volgende nechste bluetserben welche sich hierzue legitimieren können zu entrichtung solcher ihm testament gesezten legaten und geschäften (als welche mitsambt dem testament und genzlichen testamentlichen erbsatzungen und ordnung auch allerdings fallen und uncräftig worden) nit gedrungen werden… es wäre dan sach daß der nechste bluetserb welcher also ab intestato die erbschaft anzutretten begehrt auch zumall ihm testament zum erben eingesezt wäre worden, und aber zu seinem sondern vortel sich deß testaments entschlagen wolte damit er die vermachten legata nit entrichten därfte: dan in solchem fall ist ain solcher aigennutziger erb alle geschäft und legata ainen weeg alß den andern zu bezahlen schuldig; STRÄTZ IV 28 §§ 5 bis 7.
28
„Von recht und landgebrauchs wegen“
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gate können nicht über zukünftige, erhoffte Güter verordnet werden und sowohl in Testamenten als auch in Kodizillen enthalten sein;30 es ist möglich, die Erfüllung eines Legats an eine Bedingung zu knüpfen,31 diese darf bei sonstiger Nichtigkeit aber nicht gegen die guten Sitten verstoßen;32 ein Legat, bei dem der eingesetzte Erbe dem Legatar eine Sache zu verschaffen hat, die sich nicht im Nachlass des Erblassers befindet, ist erlaubt.33 Ebenso stehen die
Sammlung CHORINSKY IV 26 § 8: Es stehet auch ainem ieden testirer frei nit allain seine bewegliche und unbeweglichen güetern, sondern auch seine schulden und andere habende gerechtigkeiten zu verschaffen und zu legiren.; STRÄTZ IV 26 § 8. 29
Sammlung CHORINSKY IV 26 § 12: Vill weniger können und mögen auch iejenige sachen, welche noch nit vorhanden sein sondern allain in hoffnung stehen und erst erwartet oder werden sollen, als künftig wachsende frücht, viech und anders cräftig verschafft und legirt worden…; § 13: Es können aber dergleichen sonderbare geschäft nit allain durch testament sondern auch außer und ohne testament durch codicill oder auch mündlich verordnet werden; STRÄTZ IV 26 § 12, § 15. 30
Etwa „ich verschaff und vermach mein hauß meinem vettern n., sovern er daß burgerrecht annemen und sich in daß burgerlich wesen einlaßen wueret“ oder „ich verschaff meiner muemben hundert Gulden, wann sie sich nach ihrer nechsten befreündten willen ehrlich verheurathen wierdt.“ Sammlung CHORINSKY IV 27 § 2; STRÄTZ IV 27 § 2. 31
Sammlung CHORINSKY IV 27 § 2: …iedoch, wo daß angehenkht geding oder condition auf unmügliche oder auch unehrliche und ihm rechten verbottne sachen gestelt wäre, alß so ainem hundert gulden verschafft wann er den Traunstain abtragen und eben machen wuerde, oder daß er sich zu den zigeünern schlagen und mit ihnen herumbzüehen solt, oder wan mir mein brueder sein hauß verschafft so will ich ihm daß mein dargegen auch verschafft haben, oder so ainer ainer ehrlichen junkhfrauen oder wittib tauzent gulden verschaffte wann sie zu ainem unehrlichen und unredlichen man heurathen wuerde, oder also: „ainer meiner muemben n. verschaffe ich 100 fl wann sie sich zu keinem andern verheurath dann zu dem welcher meinem nachbarn n. und nit ihr gefallen wierdt.“ dann solche geding, weilen sie wider die erbarkheit guete sitten und recht, werden sie für nichtig gehalten, und ist der erb daß legat ainen alß den andern weeg zu raichen schuldig…; STRÄTZ IV 27 § 3. 32
Sammlung CHORINSKY IV 28 § 3: Wo auch der testierer ain bewegliches stuckh verschafft welches er zur zeit seines tötlichen abgangs nit bei handen gehabt, so ist der erb schuldig dasßelbig ohne des legatarii entgelt zu handen zu brüngen und ihme zuezustellen…; STRÄTZ IV 26 § 12. 33
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Bestimmungen über die Belastung des Nachlasses mit Legaten im Einklang mit dem gemeinen Recht.34 Allein diese der gemeinen Rechtslehre vertrauten Aussagen zum Testamentsrecht in der Landtafel scheinen den Meinungsstand in der Forschung zu untermauern, dass im 16. Jh „das römische Recht das deutsche Erbrecht mehr als jedes andere Rechtsgebiet“ umgestaltet habe.35 In diese Richtung zielen auch die beiden Grundsatzbestimmungen in der obderennsischen Landtafel, dass die testamentarische Erbfolge den ersten Rang in der Berufungsfolge einzunehmen hat („… die erbschaften so durch testament und lesten willen verschafft werden den andern erbschaften welche ohne testament der freündund bluetverwanthnuß nach gefallen in alweg fürgezogen werden“36) und die testamentarische Erbfolge die Intestaterbfolge ausschließt („… ob gleich ainer in seinem testament nur allain in etliche stuckh oder thail seiner haab und güeter zu ainem oder mehr erben eingesezt und dem übrigen thail nichts verordnet noch derselbigen gedacht hete, das dannoch auch die übrige thail oder stuckh des testatoris verlaßung auf die eingesezte erben und deren ieden nach seiner angebier verstanden und zuegehören sollen. alles verrern inhalts gemainer geschribenen rechten“37), sind sie doch anerkannte Gradmesser einer „Vollrezeption“. Dieser erste Eindruck einer grundlegenden Neugestaltung des Testamentsrechts in der Landtafel ob der Enns relativiert sich allerdings, wenn die Prüfungskategorien, deren sich der Gesetzgeber bei der systematischen und dogmatischen Durchdringung dieses Rechtsstoffes im 16. Jh bediente und die er in sein Kodifikationswerk aufgenommen hat, in den Blick genommen werden. Zunächst fällt auch im Testamentsrecht die durchgehende systemkonforme Bezugnahme auf den heimischen Landsbrauch auf. Diese ergibt sich quasi selbstverständlich aus der Verschränkung mit den verwandtschaftsrechtlichen Regelungen im 5. Teil der Landtafel. So wird korrespondierend zu den erbgüterrechtlichen Bestimmungen im Herren- und Ritterstand die Testierbefugnis des ultimus familiare derart eingeschränkt, dass er nur über das Selbst-
Sammlung CHORINSKY IV 32 „Von überheüften legaten und sonderbaren geschäften, wie und wan dem eingesezten erben zuegelaßen den vierten thail davon abzuziehen“; STRÄTZ IV 32. 34
35
LANDAU, Testierfreiheit in der Geschichte des deutschen Rechts 71.
36
Sammlung CHORINSKY IV 1 § 1; STRÄTZ IV 1 § 2.
37
Sammlung CHORINSKY IV 13 § 10; STRÄTZ IV 13 § 14.
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erworbene und über jenen Teil der Erbgüter, der ihm ohne Erbverzichte zustünde, letztwillig verfügen kann.38 Gleiches gilt für die Erbunfähigkeit unehelich Geborener, „die aus dem ehebruch und in rechten verbottnen ehe erzeugt sein.“39 Wenn sie mit ehelichen Kindern konkurrieren, können sie von ihrem biologischen Vater weder als Erben im Testament benannt noch als solche eingesetzt werden. Fehlt eine eheliche Nachkommenschaft, ist es dem Erblasser gestattet, „ehrliche“ Enkel40 als Erben einzusetzen unter der Voraussetzung, „das des ennenkhels vatter von derselben erbschaft nichts zu guetem verschafft werde.“41 Weitere Zurücksetzungen finden sich bei der Qualifizierung von Testamentszeugen, die „ehrliche und unverwerfliche“ Personen zu sein hatten,42 im Fideikommissrecht – hier wird vermutet, dass „eheliche leibserben“ die Nacherbschaft außer Kraft setzen43 – und im Pflichtteilsrecht. Bei Fehlen „ehelaiblicher leibserben“ hat der Erblasser seine „nechsten freünd“, also seine Geschwister, zu bedenken.44 In dieser Ausnahmebestimmung wird ausdrücklich auf den Unterschied zu den „allgemainen
Sammlung CHORINSKY IV 3 § 12: …ain lester seines namens und stamenß in herrnoder ritterstand diß lands der mag von seinen güetern, so er erheirath erobert oder sonsten gewonnen und erspart, wol testiren…; STRÄTZ IV 3 § 18. 38
39
Sammlung CHORINSKY IV 13 § 7; STRÄTZ IV 13 § 9.
STRÄTZ IV 13 § 10; Sammlung CHORINSKY IV 13 § 7 (ohne Hinweis auf „ehrliche“). 40
41
Sammlung CHORINSKY IV 13 § 7; STRÄTZ IV 13 § 10.
Sammlung CHORINSKY IV 25 § 5: Wo aber ain dergleichen geschäft oder enderung mündlich außgesprochen und aufgericht wolt werden, so ist von nöthen, das es in beisein zum wenigisten zwaier ehrlicher und unverwerflicher personen gescheche, die solches nachmaln auf befragung mit ihren aiden bestättigen können…; STRÄTZ IV 25 § 8. 42
Sammlung CHORINSKY IV 16 § 5: Demnach ist zu wißen, daß wo schon dergleichen außlaßung des eingesezten notherben kinder stillschweigent sich befinden, daß doch (in erwegung der natürlichen affection lieb und zuenaigung, welche eheleibliche eltern gegen ihren kindern enenkhl und absteigenden bluetserben haben) die vermuetung gebe, daß die kinder vor allen andern vermaint sein, und sie anderer gestalt ihr erbschaft nit haben wollen auf andere weiter richten oder verschaffen, dann sovern das zum erben eingesezte kind ohne eheliche leibserben verbleiben oder abgehn wuerde. derowegen, wo solch eingesezter erb und kind selbst auch widerumben kinder oder enickhel hette, so gehet solche erbschaft und fideicommiß auf seine kinder; STRÄTZ IV 16 § 4. 43
44
Sammlung CHORINSKY IV 17 § 8; STRÄTZ IV 17 § 15.
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rechten“ hingewiesen und festgehalten, dass „solcher unterschied dem landsgebrauch nach nit gehalten“ wird. Gerade die ausdrückliche Berufung auf „alters herkhomen“, „landsgebrauch“, „herkhomenen landsbrauch“ oder „uralten wißentlichen landsgebrauch“ – sei es im ausdrücklichen Widerspruch zu „allgemaine rechten“, „rechten“, „recht“, „geschribnen rechten“ oder „heilsamen rechten“, sei es ohne Verweis auf das gemeine Recht – findet sich in zahlreiche Einzelbestimmungen integriert, ohne den Eindruck von Ausnahmen im Verbund einer fremden Grundregel zu vermitteln. Sie prägt durchgängig die Bestimmungen des 4. Titels „Wie die testament aufgericht sollen werden, und erstlich von schriftlichen testamenten“ und 5. Titels „Von mindlichen geschäften sive nuncupativis testamentis“45 mit wesentlich geringeren Anforderungen an die Förmlichkeiten einer Testamentserrichtung,46 modifiziert ebenso die privilegierten Testamente47 und schließt bei den gemeinschaftlichen Testamenten von Eheleuten48 die „landsgebreuchige ordentliche“ Form der Beiziehung von Testamentszeugen durch „betzetteln“ ein; die eingehende Regelung dieser landsbräuchigen Formvorschrift findet sich in einem eigenen Abschnitt unter der Überschrift „Von den betzetteln und ersuechungen der zeugen“ geregelt.49 Im pflichtteilsrechtlichen Teil „Von der legitimationspflicht und rechtthail, so die eltern ihren kindern zu verlassen schuldig“,50 hier wieder im aus-
45
STRÄTZ IV 4 und 5.
Dazu eingehend GUNTER WESENER, Geschichte des Erbrechts in Österreich seit der Rezeption (Graz 1957) 129 ff. 46
Sammlung CHORINSKY IV 7 „Von sonders privilegirten testamenten, und erstlich von denen welche den gmainen nutzen, khirchen schuelen armen und dergleichen zum bessten gemacht werden“; IV 8 „Von testamenten so in sterbensleüfen oder andern nothfählen aufgericht werden“; IV 9 „Von testamenten der eltern so sie zwischen iren khindern aufrichten“ (hier mit stärkerer Anlehnung an die „kais. rechten und darin gegebenen freiheiten“ in § 8); STRÄTZ IV 7, 8, 9. 47
Sammlung CHORINSKY IV 10 § 1: Die eheleüth mögen auch in stehender ehe nit allain auf obgeschribne algemaine weiß und formb wie andere des testierens befuegte personen ihres lesten willens ordnungen und geschäft, und zwar iedes absonderlich ohne des andern wißen ir oder verhinderung cräftigt aufrichten; sondern zumal beede mit einander in ainem act und auf ainmal, und zwar solches sowol schriftlich in ainem libell oder brief als mündlich vor erbettnen zeugen…; STRÄTZ IV 10 § 1. 48
Sammlung CHORINSKY IV 12 Von den betzetteln und ersuechung der zeugen; STRÄTZ IV 12.
49
50
Sammlung CHORINSKY IV 17; STRÄTZ IV 17.
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drücklichen Widerspruch zum gemeinen Recht, wird auf den „uhralten“ Landsbrauch berufen, wonach zum Kreis der Pflichtteilsberechtigten die „nechsten freünd“, also Geschwister und Geschwisterkinder und nicht die Vorfahren, zu zählen sind51 und kein Anspruch der pflichtteilsberechtigten Kinder auf Erbeinsetzung besteht, „sondern wie und was gestalt die eltern ihren kindern die legitimam im testament benenen und außzaigen, mit dennen sein sie sich ersetigen zu laßen schuldig, …“.52 Weitere Verweise auf den Landsbrauch sind in Bestimmungen zur nachträglichen Unwirksamkeit eines zunächst gültigen Testaments eingeschlossen,53 verbunden mit der generellen Anmerkung, dass im Falle der Ungültigkeit eines Testaments die im Land übliche Verwandtenerbfolgeordnung zu greifen hat,54 dann bei der Fristsetzung für die Antrittshandlung zum Erbschaftserwerb55 sowie im ZusamSammlung CHORINSKY IV 17 § 8: Ob auch woll die legitimae von rechts wegen allain auf die absteigende und aufsteigende lini, als kinder enickhel uhrenickhel, oder vatter oder mueter, anherren oder dergleichen verordnet, sonsten aber die nechsten seitenfreünd auch gar leübliche geschwistrigt (außer des falß da ein unehrliche persohn benent und eingesezt wär worden) woll khönnen überschritten werden, so ist dem uhralten landsgebrauch nach von nöthen, daß da iemand ein testament schriftoder mündlich cräftig aufrichten will, daß er darin (da er keine eheleibliche leibserben verläst) auch seiner nechsten freünd meldung thue, und denselben es seien vill oder wenig anstatt der legitimae zum wenigisten fünf gulden, fünf schilling, fünf phening im testament verschaffe; sonsten möchte das testament auf der nechsten befreündten widerfechtung nit bestehen; STRÄTZ IV 18 § 18. 51
52
Sammlung CHORINSKY IV 17 § 7; STRÄTZ IV 18 § 15.
Sammlung CHORINSKY IV 19. Im ausdrücklichen Gegensatz zum gemeinrechtlichen Standpunkt wird in § 13 darauf verwiesen, dass „vermüg der landsfreiheit niemant zugleich an guet und bluet kan gestrafft werden“ und daher das Testament eines Selbstmörders, der aus Furcht vor peinlicher Bestrafung den Freitod gewählt hat, aufrecht bleibt, sofern er darin seine „intestato“-Erben eingesetzt hat. 53
Sammlung CHORINSKY IV 19 § 14: Wo dan auß obangezognen ursachen ain testament uncräftig und aufgehebt wierdt, da fallen zumal auch die sonderbaren geschäft und legata damit, also daß auß ainem solchen uncräftigen testament (welches aintweder erscheinenden mangels halber von anfang gleich nichtig ist, oder auß nachvolgenden ursachen craftloß wierdt) weder der eingesezte erb noch die legatorii etwaß zu gewarten, sondern felt die ganze verlaßenschaft auf die nechste bluetsfreünd welche den verstorbnen von landgebrauchs wegen wann er gar nie kein testament gemacht hette geerbt hetten…; STRÄTZ IV 19 § 18. 54
In Sammlung CHORINSKY IV 21 § 2 wird ausdrücklich statt der gemeinrechtlichen Frist von 1 Jahr eine kürzere landesübliche Frist vorgegeben: Demnach, damit sich die unverstendigen erben nit etwo gleichsamb unwißent in gefahr einsteckhen, so
55
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menhang mit der „guetthat oder beneficio inventarii“.56 Hier erfolgt die Festlegung jener Vermögen, die nicht in ein Inventar aufzunehmen sind, und die Bestimmung des Personenkreises, dem die Inventarisierung vorbehalten ist, nach Landsbrauch, ebenso die Vorgabe, dass im Falle des ausdrücklichen Verbots einer Inventarerrichtung dem Willen des Erblassers zu entsprechen ist.57 Dazu kommen noch heimfallsrechtliche Sonderbestimmungen betrefhaben die allgemaine rechten ain ganzes jahr frist bestimbt und zuegeben, in welcher zeit er sich der erbschaft halber erkhundigen, und bedenkhen möge ob er vermain dass ihme die erbschaft anzunemben und zu behalten thunlich sein wolle oder nit. auf daß aber des abgestorbnen glaubigers legatorii und andere welche rechtmäßige zuesprüch zu des verlaßung zu setzen nit beschwärlich aufgehalten, noch die außrichtung der testament und lesten willen durch muethwilligen und gefährlichen aufzug der erben mit solcher deliberation wider gebüer aufgezogen oder gespört werden, so soll dises lands altem herkhomen nach unser landshaubtman oder iedes orths ordentliche obrigkheit darunter sich der erbfall begeben auf erstes der befreündten glaubiger oder anderwerts intereßierten anmelden demjenigen welcher ihm testament zum erben eingesezt worden oder in mangel deßen den nechsten bluetsfreünden welche ohne testament der mehrern sipschaft und landsgebrauch nach erben wären nach gelegenheit aller umbständ ainen benentlichen termin bestimen, iedoch der süch zum wenigisten auf ein halbes jahr erstreckhe, und auferlegen, daß er sich in solcher zeit gewißlich erclären thue ob er die erbschaft antretten wolle oder nit…; STRÄTZ IV 21 § 2. 56
Sammlung CHORINSKY IV 22; STRÄTZ IV 22.
Sammlung CHORINSKY IV 22 § 8: Was aber ainem wittiber bei inventur seiner verstorbnen hausfrauen von seinen leibskleidern wehren waffen, guldenen ketten, petschaft ring insigl reitroßen oder in ander weeg landsgebreuchig von unverthailter vahrnus allain gebüert, daß darf keiner inventierung. wie auch ingleichem, waß ainer wittib von ihren weibskleidern geschmukhen enden benden frauenzier gutschen oder koplwägen vermähelring in ander weeg nach landsgebrauch zuestehet soll auch uninventiert bleiben, es wolte dan die wittib solche beschreibung guetwillig zuegeben. und wie sich auch nun kein erb der inventur selbst unterstehen kann, dass er sich dardurch des beneficii inventarii mit fueg behelfen wolte: also und vill weniger mag sich ain wittib ihres verstorbnen ehemans verlaßung zu inventieren oder derselbigen ihres gefallens unterfangen oder mächtigen, sondern sie soll es (es sei ein testament vorhanden oder nit) alßbald den todfall ihres abgeleibten ehemans den nechsten befreündten verkhünden, oder da dieselben außer lands und der verstorbne des herren- oder ritterstands gewest, unpartheiische benachbarte leith deßwegen beruefen, und begehrn daß dieselbige die inventur fürnemen. dann da sie solches nit thue, ligt ihr nit allain alle kunftige verantwortung hieob vermeldter maßen ob, sonder sie soll auch darzue damit ihr heürathvermächt verwürkht haben; also das es mit dergleichen wittiben (wegen der agnaten praejudicium so in dergleichen geschlechten darauß
57
„Von recht und landgebrauchs wegen“
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fend „gemaine bauerngueter“,58 wiederholte Hinweise auf landsbräuchige Testamentsformen59 und im vorletzten Kapitel die Aufnahme des Instituts der Testamentsvollstreckung60 mit zahlreichen Klarstellungen zum Landsbrauch.61 volgen möchte) nit die mainung hatt, daß in ihrem freien willkier stünde sich der inventur zu begeben; es wär dann sach daß der verstorbne keine landgüeter sondern allain in vahrendem sein vermögen verlaßen, und mit namen die spörr und inventur im testament verbotten hette; § 9: Dergestalt, wann auch sonst ein testirer die inventierung seiner verlaßung ihm testament außtrukhlich verbeuth, so solle dieselb dem landsgebrauch nach unterlaßen werden; es geschehe dan solches verbott in fraudem creditorum und seinen glaubigern zu wissentlicher gefahr und nachtl; und sei der eingesezt erb nit statthaft begüetet oder genuegsamb geseßen, daß er von seinem vermügen den abgang der erbschaft den glaubigern zu erstatten noch auch genuegsambe caution deßwegen zu laisten habe: dann solcher gestalt hat solches verbott nit statt; STRÄTZ IV 22 §§ 17 bis 20, § 21. In Sammlung CHORINSKY IV 3 § 1 und IV 24 § 2 wird dem landesfürstlichen Heimfallsrecht „in unsern landsfürsstlichen stetten und aignen märkhten“ das grundherrliche Heimfallsrecht „wie von alters herkhomen“ an die Seite gestellt; STRÄTZ IV 3 § 2, IV 24 § 2. 58
Typisch Sammlung CHORINSKY IV 30 § 12: …im gegenspill, ob sich schon ainer aines lesten willens vernemen laßen, denselben aber vor seinem tötlichen abgang nit dergestalt und auf obgeschribene maß und weiß wie es der landsbrauch erfordert zu werkh gezogen hette, so ist die vermuetung daß es ihne hernach wider gereuet habe, und ist auf solche unvollzogene erclärung nicht zu erkhennen; STRÄTZ IV 30 § 20.
59
Sammlung CHORINSKY IV 31 „Von dennen executorn oder vollziehung aines testamentlichen und andern lesten willen“; STRÄTZ IV 31.
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Sammlung CHORINSKY IV 31 § 1: Wann ein geschäftsherr oder testator in seinem lesten willen neben dem instituierten erben andere personen zu executorn oder außrichtern verordnet, so solle ihnen der eingesezte erb in der execution kein eintrag thuen da aber der testator keinen außrichter seines lesten willens gesezt hette, so stehet die außrichtung dennen instituierten erben nach landsgebrauch zue…; § 2: Wann ein executor vor angefangener oder beschloßner volziehung des lesten willens mit todt abgeht, so ist sein nachgelaßener erb dieselb zu verrichten oder zu beschließen nit schuldig, sondern die außrichtung felt auf die andern mitexecutorn. wo aber derselben keiner vorhanden, so soll die obrigkheit an des verstorbenen statt ainen andern dem landsgebrauch nach verordnen; iedoch außgenomen des herren- oder ritterstands, da die befreündte sich selbst der sachen ohne die mehrere obrigkheit anzumen von alters her gebracht; § 4: Die verordneten executorn sollen auch ihrer kunftigen verwaltung und darauf gehörigen raitung halber der ordentlichen obrigkheit zu thuen schuldig sein; aber andere caution ist dem landsgebrauch nach unvonnöthen. und dieweil derlai testamentliche executorn dem landsgebrauch nach ver61
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Die parallele Nachforschung, inwieweit im testamentsrechtlichen Teil der Landtafel ausdrücklich auf das gelehrte Recht hingewiesen wird, legt ein besonders interessantes Spektrum an Beurteilungskriterien des Gesetzgebers frei. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass nur ausnahmsweise, in ganz wenigen Regelungszusammenhängen, die ausschließliche Berufung auf das gemeine Recht zu entdecken ist. Folgt man dem systematischen Aufbau des 4. Teils sind es zunächst zwei Stellen im Verbund der privilegierten Testamente. Mit dem allgemeinen Hinweis auf die Zulässigkeit geringerer Formerfordernisse nach den „algemaine(n) rechten“, wird die „mehrere milterung“ der landsbräuchigen Vorgaben für Testamente „so in sterbensleüfen oder andern nothfählen aufgericht werden“62 abgesichert.63 Das gleiche Verweisungsmuster auf die „kais. rechten und darin … gegebnen freiheiten“ liegt der Erleichterung der Formvorschriften bei „testamenten der eltern so sie zwischen iren khindern aufrichten“64 zu Grunde.65 Gewichtiger ist die an den Beginn des 13. Titels gestellte Bestimmung, die Erbeinsetzung im Testament „vermüg der rechten“ als „fürnembst und weßentlich stuckh und haubtgrund aines ieden testaments“ zu verstehen und „dahero von nötten daß in denselben ein gewißer erb benent und eingesezt werde.“66 Die Berufung auf die „heilsamen rechten“ im Zusammenhang mit der Rechtswohltat der Inventarerrichtung, welche „die gewalt und guetthat des inventarii (oder ordentliche beschreibung aller erbgüeter) den erben zum besten erfunden und bevor gesezt“67 haben, ist das letzte Glied in dieser Argumentationskette.
schiedlich sein, so mag demnach dergleichen außrichtung von ainem ungeacht des andern saumbsall oder wägerung woll furgenomen werden; STRÄTZ IV 31 §§ 1 bis 2, §§ 5 bis 6 (in diesen Stellen ohne Hinweis auf den Landsbrauch), §§ 9 und 10. 62
Sammlung CHORINSKY IV 8; STRÄTZ IV 8.
Sammlung CHORINSKY IV 8 § 1 und § 2; demnach konnte auch „ain weibsbild (da sie doch ehrlich und ihr im testament nichts verschafft werden …)“ Testamentszeugin sein; STRÄTZ IV 8 §§ 1 und 2. 63
64
Sammlung CHORINSKY IV 9 und IV 9 § 8; STRÄTZ IV 9 und IV 9 § 13.
Bei mündlichen Erbteilungsanordnungen sollte die Zuziehung „zwaier tauglichen personen manns- oder weibs geschlecht“ genügen; Sammlung CHORINSKY IV 9 § 8; STRÄTZ IV 9 § 13. 65
Sammlung CHORINSKY IV 13 § 1; STRÄTZ IV 13 § 1. Auf die zwei (bei STRÄTZ drei) §§ später normierte Erweiterung der Form der Erbeinsetzung wegen „herkhombnen landsgebrauch“ wird noch einzugehen sein.
66
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Sammlung CHORINSKY IV 22 § 1; STRÄTZ IV 22 § 1.
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Die darüber hinausgehenden direkten Vergleiche mit dem gemeinen Recht stehen in einer anderen Verbindung und erwecken den Eindruck eines geschlossenen Systems testamentsbezogener Regeln, von dem der Landtafelgesetzgeber geleitet war: Grundsätze, aber auch Einzelbestimmungen erfließen aus der Einheit von „algemainen rechten und ieblichen landsgebrauch“, „recht und landsgebrauch“, „rechten und herkhomenen landgebrauch“, „heilsamen rechten (welchen dan der herkhomene landsgebrauch dis orths nit züwider)“, „geschribnen rechten und dises erzherzogtumbs hergebrachten landgebrauchs“, „heilsamen rechten und bißhero erhaltene iebliche landsgebrauch“,68 in Erweiterung auch aus „allgemainen landsbrauch, der rechten und natürlichen billich- und erbarkheit“.69 Die legistische Form für die ausdrückliche Zusammenschau der aus unterschiedlichen Quellen gespeisten Rechtstraditionen variiert. In der Regel sind es singuläre Einschaltungen in Teilstücken zum Testamentsrecht. So werden die schriftlichen und mündlichen Testamente ausdrücklich mit dem Hinweis unterschieden, dass dies nach Landsbrauch und den „algemainen rechten“ üblich ist.70 Fehlt in einem elterlichen Testament die Kodizillarklausel, soll diese „tacite darin begriffen sein… als ob es vermüg allgemainer recht und landsgebrauch wär aufgericht worden“ und somit die väterlichen Erbteilungsvorschriften wirksam bleiben.71 Nach „außweisung der rechten und herkhomenen landgebrauchs“, soll das gesamte Vermögen nach der testamentarischen Anordnung verteilt werden, selbst wenn der Erblasser nur über einen Teil seines Vermögens verfügt und das übrige Vermögen in seinem
Nachweise: Sammlung CHORINSKY IV 2 § 2, IV 3, IV 3 § 3, IV 9 § 7, IV 13 § 10, IV 15 § 1, IV 16 § 13, IV 17 § 3, IV 17 § 7, IV 19 § 2, IV 32 § 2; STRÄTZ IV 3, IV 3 § 5; IV 9 § 12, IV 13 § 14; IV 16 § 18, IV 17 § 6, IV 17 § 15, IV 19 § 3, IV 32 § 1.
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Sammlung CHORINSKY IV 30 § 2; STRÄTZ IV 30 § 3.
Sammlung CHORINSKY IV 2 § 2: Davon sein vermüg algemainer rechten und ieblichen landsgebrauch fürnemblich zwaierlai: ainß so in schriften aufgericht wirdt, zu latein solenne in scriptis genant, daß ander aber so in erlicher leüth beisein und zeügen allain von mund außgesprochen wirdt, nuncupativum genant…; STRÄTZ IV 2 § 2 (ohne Hinweis auf die Übereinstimmung von gemeinem Recht und Landsbrauch). 70
Sammlung CHORINSKY IV 9 § 7: Es ist auch bei disen der eltern testamenten sonderlich zu merkhen, das wan gleich in denselben clausula codicillaris (vel omni meliori modo, zum besten und cräftigten gelten solle, als ob es vermüg allgemainer recht und landsgebrauch wär aufgericht worden, oder wie es sonsten auf ainicherlei weiß zum bindichsten sein kunte oder möchte ) nit außtrukhentlich vermeldt, das iedoch dieselbige tacite darin begriffen zu sein verstanden wuerden…; STRÄTZ IV 9 § 12. 71
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Testament unerwähnt lässt.72 Auch die Freiheit des Erblassers, Nacherben berufen zu können, wird mit der übereinstimmenden gemeinrechtlichen und landsbräuchigen Tradition abgesichert,73 ebenso dass die gesetzliche Erbfolge nach Widerruf eines Testaments zum Tragen kommt.74 Derselben Systematik Sammlung CHORINSKY IV 13 § 10: Es sollen auch alle obvermelte und andere rechtmäßige erbsatzungen und institutiones auf die ganze erbschaft und verlaßung und nit nur auf etliche thail, auf etliche aber nit angestelt werden, in bedenkhung daß es wider alle notturft und recht wäre, das ainer nur zum thail testiert und zum thail untestirt absterben solte. darumb wür dan auch hiemit nach außweisung der rechten und herrkhomenen landgebrauchs erleütern ordnen und wollen daß, ob gleich ainer in seinem testament nur allain in etliche stuckh oder thail seiner haab und güeter zu ainem oder mehr erben eingesezt und dem übrigen thail nichts verordnet noch derselbigen gedacht hete, das dannoch auch die übrige thail oder stuckh des testatoris verlaßung auf die eingesezte erben und deren ieden nach seiner angebier verstanden und zuegehören sollen. alles verrern inhalts gemainer geschribenen rechten; STRÄTZ IV 13 §§ 13 und 14.
72
Sammlung CHORINSKY IV 15 § 1: Demnach sich oftermalen zuetregt, daß ain erblaßer oder testator sich zu besorgen, es möchten villeicht die in seinem testament benente und eingesezte erben (bevor ab da derselben noch unvogtbar sein) des testatoris todt nit erleben, auß fürfallenden bedenkhen ursachen und gelegenhaiten die erbschaft nit annemen und antretten können oder wolten, dardurch dan sein verlaßenschaft etwo auf solche person komen wuerde, dennen es nit vergunt, haben derowegen die heilsamen rechten (welchen dan der herkhomene landsgebrauch dis orths nit zuwider) die fürsehung gethan, daß iedem testierer frei stehen soll, zu dem benenten und eingesezten ersten oder haubterben auf den fall, da solcher des testierers todt nit erleben wuerde oder auch anderer ursachen und verhinderung halb sich der erbschaft nit annemen wolte, noch ainen oder mehr aftererben zu substituieren und nachzusetzen, welche sich auf ungezwungen fall, da nemblich der haubt- oder zum ersten benente erb die erbschaft nit erlebte annemen oder antretten könte oder wolte, nachmallen an desßelbigen statt die verlaßene erbschaft unternemen und aller erblichen gerechtigkheit unterfangen sollen; STRÄTZ IV 15 § 1 (ohne Hinweis auf die Übereinstimmung von gemeinem Recht und Landsbrauch).
73
Sammlung CHORINSKY IV 19 § 2: …dahero, wo iemant sein alberaith völlig und ordentlich aufgericht und verfertigt testament mit ernstlichem fürsatz und gueter vernunft aintweder vor der obrigkheit oder aber in gegenwarth dreier ehrlicher unverwerflicher personen welche (wie hieoben angezaigt) testamentzeugen sein können widerrueft, und solches durch den hinderlaßnen erben genuegsamb erwisen kan werden, so soll dasßelbig hernach kein kraft mehr haben; ungeacht solcher testirer hernach kein anders testament macht, oder sich lauter dahin erclärt daß er haben wöll, das sein guet ohne testament auf seine nechste bluetsfreünd die ihne ohne daß von recht und landgebrauchs wegen erbten fallen solte; STRÄTZ IV 19 § 3. 74
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folgt die Landtafel bei der Beschränkung von Legaten75 zur Sicherung eines Viertels des reinen Nachlasses für den Erben. Bei Auslegung des Testaments soll – um ein letztes Beispiel zu nennen –, der wahre Wille des Erblassers „nach dem allgemainen landsbrauch, der rechten“ und darüber hinaus auch der „natürlichen billich- und erbarkheit gemäß“ erforscht werden, wenn weder die Wortinterpretation noch die Sinnermittlung des gesamten Textes zu einem klaren Ergebnis führen.76 Neben diesen punktuellen Entsprechungen stehen Abschnitte, die durch eine intensive Verflechtung gemein- und landrechtlicher Aussagen als einheitliches Normgefüge charakterisiert werden, bis hin zu einer schon die Titelüberschrift prägenden Synthese. Beispielgebend für das harmonische Ineinanderfließen heimischer und gemeinrechtlicher Regelungselemente im Rahmen einer den wissenschaftlichen Anforderungen entsprechenden Systematik ist das Pflichtteilsrecht. Ausgehend vom beiden Rechtstraditionen inhärenten Grundgedanken, dass die Eltern verpflichtet sind, ihren Nachkommen einen Pflichtteil zukommen zu lassen,77 wird das Ausmaß des Pflichtteilsrechts ausdrücklich „vermüg der geschribnen rechten und dises erzherzogtumbs herge-
Sammlung CHORINSKY IV 32 § 2: Demnach damit die erbschaft sovil müglich erhalten werden, so haben die heilsamen rechten (alß auch denselben gemäß) der bißhero erhaltene iebliche landsgebrauch die fürsehung gethan, daß ainem ieden erben erlaubt und zuegelaßen sein solle den vierten thail von dem verlaßnem ganzen vermögen sovill nach abzahlung aller und ieder glaubiger verbleibt abzuziehen, und alß sein erbgerechtigkheit auch an statt seiner bemüehung auf nachvolgende weiß für sich selbsten zu behalten…; STRÄTZ IV 32 § 1.
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Sammlung CHORINSKY IV 30 § 2: Demnach, wo die worth in ainem testament codicill oder andern lesten willen lauter verständiglich und unzweiflich, auch den rechten und erbarkheit nit zuwider und zu volziehen müglich, so solle demselben in allweeg nachgangen und kein frembde außlegung zuegelaßen werden. wo aber daß worth unlauter undeutlich oder zweiflich gesezt sich befündten, so solle fürnemblich erkhundigt und gesehen werden waß der testierer in andern seinen geschäften und handlungen für worth und weiß zu gebrauchen und ain oder daß ander zu benennen und seinen willen in schreiben und reden zu erclären gepflegt habe, und demselben nach die außlegung gemacht; darbei aber auch allwegen mehrer auf den ganzen context dan nur auf ein oder daß ander wort gesechen werden. oder da man deßwegen kein aügentliche nachrichtung haben kan, so sollen die undeutliche und zweifliche reden nach dem allgemainen landsbrauch, der rechten und natürlichen billich- und erbarkheit gemäß verstanden und außgelegt werden…; STRÄTZ IV 30 §§ 1 bis 3.
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Sammlung CHORINSKY IV 17 § 2: Dann die eltern seint schuldig ihrer kinder mit der legitima in ihrem testament zu gedenkhen…; STRÄTZ IV 17 § 2. 77
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brachten landgebrauchs“ festgelegt,78 den pflichtteilsberechtigten Kindern „dem landsgebrauch nach“ kein Anspruch auf Erbeinsetzung gewährt und im ausdrücklichen Widerspruch zum gemeinen Recht den Seitenverwandten dem „uhralten“ Landsbrauch nach „anstatt der legitimae zum wenigisten fünf gulden, fünf schilling, fünf phening im testament“ gesichert, „sonsten möchte das testament auf der nechsten befreündten widerfechtung nit bestehen“.79 In diesem Zusammenhang vergisst der Landtafelgesetzgeber nicht zu erwähnen, dass „von rechts wegen“ der Testator eigentlich „die absteigende und aufsteigende lini“ zu berücksichtigen hätte. Bei den Rechtsfolgen einer stillschweigenden Übergehung Pflichtteilsberechtigter, unbegründeten Enterbung sowie Verkürzung des Pflichtteils setzt sich die juristische Koordinierung gemeinrechtlicher und landsbräuchiger Rechtssätze, hier allerdings ohne Verweisungstechnik, fort. Im Unterschied dazu kündigt bereits der Titel „Was für personen von recht und landgebrauchs wegen testiren und ire geschäft creftig aufrichten mögen oder nit“80 die kodifikatorische Einheit in der Ausprägungsvielfalt zur Testierfähigkeit an. Ausgehend vom gemeinschaftlichen Hinweis, dass „von recht und landgebrauchs wegen“ bestimmte Personen von der Errichtung einer letztwilligen Anordnung ausgeschlossen sind,81 wird in Einzelfällen ausdrücklich der landsbräuchigen Regelung der Vorzug gegeben. So verweist die Landtafel bei der „voggtbarkheit“ zwar auf die „geschribnen algemainen rechten“ und nennt dafür Alter von 14 Jahren für Männer und 12 Jahren für Frauen. In bewusster Ablehnung dieser Altersgrenze für die Testierfähigkeit wird diese „dem uralten wißentlichen landsgebrauch nach“ auf 18 Jahre für Männer und 16 Jahre für Frauen und, ebenfalls im Sinne des Landsbrauchs, nur für den Fall der früheren Verehelichung auf den Zeitpunkt der Ehe-
Sammlung CHORINSKY IV 17 § 3: Die legitima aber und gebierende erbthail, welche die eltern ihren kindern im testament außzuzaigen und zu verschaffen schuldig sein, ist vermüg der geschribnen rechten und dises erzherzogtumbs hergebrachten landgebrauchs dergestalt zu verstehen…; STRÄTZ IV 17 § 6. 78
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Sammlung CHORINSKY IV 17 § 8; STRÄTZ IV 18 § 18.
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Sammlung CHORINSKY IV 3; STRÄTZ IV 3.
Sammlung CHORINSKY IV 3 § 3: Ob aber nun wol die aufrichtung lester willen und geschäft iedermeniclich frei sein solle, so sein doch etliche persohnen, welchen auß billichen und vernünftigen ursachen von recht und landgebrauchs wegen solches verbotten und nit zueläßig; STRÄTZ IV 3 § 5.
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schließung festgesetzt.82 Nach demselben Muster geht der Landtafelgesetzgeber bezüglich der Testierfähigkeit von Kindern, die unter väterlicher Gewalt stehen, vor. Es wird die Testierunfähigkeit entsprechend den „geschribnen rechten“ festgehalten, den Kindern aber die Testierfähigkeit dem „landsgebrauch nach“ gesichert. Dieser kursorische Einblick in das landtäfliche Testamentsrecht lässt den Schluss zu, dass der spätmittelalterlichen Rechtspraxis bereits ein entwickeltes Testamentsrecht zur Verfügung stand, das aus landsbräuchigen und gemeinrechtlichen Rechtssätzen zusammengewachsen war. Deutlich kommt dies bei den Konkordanzregelungen in der Landtafel zum Tragen, lässt sich aber auch aus jenen Teilen des Testamentsrechts herausfiltern, in denen der Gesetzgeber keine ausdrückliche Zuordnung im Normenbestand vorgenommen hat. Auch diesen Partien liegt die Überzeugung zu Grunde, dass gemeines und landsbräuchiges Recht eine Einheit bilden.83 Überträgt man diese Erkenntnis auf die oben genannten Grundsatzbestimmungen,84 anhand derer traditionell die Rezeptionsdichte gemessen wird, könnte der Landtafelentwurf zum Testamentsrecht auch so verstanden werden, dass der Vorrang des Testaments unter den erbrechtlichen Berufungsgründen bei gleichzeitiger Fortschreibung von Sondererbfolgeordnungen zu gebundenen Erbgütern85 einer gesicherten Rechtspraxis entsprach, ebenso die zwingend vorgegebene
Sammlung CHORINSKY IV 3 § 4: Alß erstlich, die mannßpersohnen so noch nit völlig achtzehen jahr alt, wie auch weibspersohnen so noch nit völlig sechzehen jahr erfült haben. dann obwol in den geschribnen algemainen rechten die voggtbarkheit der mannßpersohnen nur auf vierzehen, der weibspersohnen aber nur auf zwelf jahr gestelt ist, so wirdt sie doch dem uralten wissentlichen landsgebrauch nach auf achtzehen und sechzehen jar, und biß auf den lesten tag derselben gerechnet. iedoch, da sich ainer oder aine vor erfillung solcher jahr in den heiligen ehestand würkhlich begibt und darin lebt, so wirdet solche persohn nach landgebrauchs gestrakhs für voggtbar erkhent, also daß sie dann cräftig und wie sie gelusstet frei testiren khann und geschäft aufrichten; STRÄTZ IV 3 §§ 6 und 7.
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In Sammlung CHORINSKY IV 19 § 8 wird beispielsweise auf die Rechtspraxis Bezug genommen, dass mitunter Testamente mit einer Unwiderruflichkeitsklausel versehen werden. Eine solche Bindung wird zwar für ungültig erklärt, dennoch ist „von nöthen, daß solchen versprechens in dem jüngern gedacht und also daß eltere müt namen caßiert und wider aufgehebt werde.“; STRÄTZ IV 19 § 10. 83
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Vgl FN 36 und 37.
Für den Herren- und Ritterstand in Sammlung CHORINSKY V 4 §§ 5 ff; STRÄTZ V 4 §§ 11 ff.
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Erbeinsetzung im Testament. Die in IV 13 § 386 wiedergegebene Formel zur Erbeinsetzung, „was über mein geschäft verbleibt es sei ligends oder vahrends wie das namen haben mag nichts davon außgenomen, das alles verschaff ordne und laßen ich n. und n.“, bediente sich zwar nicht der rechtswissenschaftlichen Begrifflichkeit, stand aber als „Hauptgeschäft“ in der Tradition einer Erbeinsetzung. Um die wissenschaftliche Pflege des Kodifikationsvorhabens zu sichern, waren daher die landsbräuchigen Eigenheiten des entwickelten Testamentsrechts auf ein strukturelles Niveau zu heben und entsprechend in der Systematik auszuweisen. Dass die römisch-gemeinrechtlichen Grundsätze „begierig“ bei der frühneuzeitlichen Kodifizierung des Testamentsrechts aufgenommen wurden, ist in dieser Perspektive zutreffend.87
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STRÄTZ IV 13 § 3.
Die mitunter intensivere Verankerung ausdrücklich landsbräuchiger Bestimmungen im oö Landtafelprojekt im Vergleich zu den nö Gesetzesvorhaben könnte dann das Ergebnis einer nicht auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse eines großstädtischen Raumes zugeschnittenen Rechtsentwicklung sein. 87
Zwei Töpfe Schmalz, ein Pfund Safran und alle Äpfel im Keller GERHARD JARITZ, Budapest und Krems/Donau Spätmittelalterliche letztwillige Verfügungen eröffnen eine breite Palette an Information zur Lebenshaltung und Sachkultur verschiedenster Schichten der Bevölkerung. Sie vermitteln damit auch wertvolle Nachrichten zu Wert, Wertstruktur sowie Wertschätzung von Objekten der materiellen Kultur und zeigen dementsprechende Bevorzugungen und Muster. Bestimmte Objektgruppen und Lebensbereiche spielen dabei wichtigere Rollen als andere. So ist zu konstatieren, dass Kleidung und deren Accessoires als vererbungswürdigen Objekten besondere Relevanz zukam.1 Andererseits muss jedoch betont werden, dass es allgemein kaum Sachgüter gibt, welche Erblassern nicht mitunter wert zu sein schienen, letztwillig vermacht zu werden. Wiener und niederösterreichische letztwillige Verfügungen („Geschäfte“) seien herangezogen, um sich einem Bereich der Lebenshaltung und des Lebensstandards des Spätmittelalters zu widmen, welcher allgemein neben dem Kleidungswesen im Zusammenhang mit der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse zu sehen ist, aber auch – genauso wie die Kleidung – als Repräsentationsmittel zur Erlangung oder Aufrechterhaltung von Prestige dienen konnte und sollte: es sind dies Ernährung und Lebensmittel.2 Paul Baur hat in seiner Studie zur Sachkultur in den letztwilligen Verfügungen des spätmittelalterlichen Konstanz hervorgehoben, dass die Lebensmittellegate in der Regel jene Waren umfassten, die einen gewissen finanziellen Wert repräsentierten, vor
Zur Hierarchie von Sachgruppen der vererbten Objekte materieller Kultur in spätmittelalterlichen letztwilligen Verfügungen aus dem spätmittelalterlichen Österreich vgl GERHARD JARITZ, Österreichische Bürgertestamente als Quelle zur Erforschung städtischer Lebensformen des Spätmittelalters, Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 8 (1984) 249–264, hier 253 f. 1
Zum Phänomen Ernährung und Repräsentation im Mittelalter und in der frühen Neuzeit vgl LOTHAR KOLMER / CHRISTIAN ROHR (Hrsg), Mahl und Repräsentation. Der Kult ums Essen (Paderborn 2000). 2
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dem Verderben geschützt schienen und in größerer Menge vorhanden waren.3 Dies gilt natürlich auch für den österreichischen Raum. Das Phänomen der Kurzlebigkeit vieler Sachgüter aus dem Bereich des Nahrungswesens begründet wohl am stärksten die geringe Anzahl von diesbezüglichen direkten Vergabungen. Nichtsdestoweniger findet sich eine Reihe von Vermächtnissen, die bezeugen, dass auch der Bereich der Ernährung und die Objektgruppe der Lebensmittel mitunter eine wichtigere Rolle spielen konnten.4 Diese Situation betrifft vor allem die Stiftungen und Spenden an Arme und Bedürftige. Auch in Bezug auf die materiellen Vermächtnisse an jene kann im österreichischen Raum zwar oft erkannt werden, dass die Unterstützung derselben mit Kleidung augenscheinlich am quantitativ wichtigsten war. Daneben spielte jedoch auch die letztwillige Verwirklichung von zwei anderen Werken der Barmherzigkeit, das Speisen der Hungrigen und das Tränken der Durstigen, eine deutlich nachweisbare Rolle. Es finden sich regelmäßige Geldstiftungen, um damit die Armen mit Lebensmitteln, Speisen und Getränken zu versorgen.5 Jene Stiftungen konnten im Rahmen der sehr allgemeinen Verfügung
PAUL BAUR, Testament und Bürgerschaft. Alltagsleben und Sachkultur im spätmittelalterlichen Konstanz (Sigmaringen 1989) 226. Zur allgemeinen Rolle einer diesbezüglichen Kurzlebigkeit des Objekts vgl auch GÜNTER WIEGELMANN, Alltags- und Festspeisen. Wandel und gegenwärtige Stellung (Marburg an der Lahn 1967) 13. 3
Zur vergleichbaren Situation der Werthierarchie in Bezug auf Vermächtnisse von Objekten der materiellen Kultur im westungarischen städtischen Raum des Spätmittelalters und die diesbezügliche Rolle von Lebensmitteln vgl KATALIN SZENDE, Otthon a városban. Társadalom és anyagi kultúra a középkori Sopronban, Pozsonyban és Eperjesen (Zu Hause in der Stadt. Gesellschaft und materielle Kultur im spätmittelalterlichen Ödenburg, Pressburg und Eperjes im Spiegel von Testamenten) (= Társadalom- és müvelödéstörténeti tanulmányok 32, Budapest 2004), besonders 302 ff. Für den französischen Raum vgl allgemein MARIE-TH. LORCIN, La consommation de viande d’après les testaments foréziens des XIVe et XVe siècles, in: FABIENNE RAVOIR / ANNE DIETRICH (Hrsg), La cuisine et la table dans la France de la fin du Moyen Age. Contenus et contenants du XIVe et XVe siècle (Caen 2009) 99–106, hier 99: „En fait, le testateur a plusieurs occasions de descendre à l’humble niveau des menus et rations alimentaires.” 4
Vgl GERHARD JARITZ, Die realienkundliche Aussage der sogenannten „Wiener Testamentsbücher“, in: Das Leben in der Stadt des Spätmittelalters. Internationaler Kongress Krems an der Donau 20. bis 23. September 19763 (= Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 325, Wien 1997) 171–190, hier 188. Für Böhmen vgl JOHN KLASSEN, Gifts for the Soul and Social Charity in Late Medieval Bohemia, in Materielle Kultur und religiöse Stiftung im
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geschehen, dass die Bedürftigen gespeist6 oder dass sie mit Brot, Wein oder auch Fleisch versorgt werden sollten.7 Dies vermittelt eine ähnliche Situation, wie sie etwa Johannes Schildhauer aus Stralsunder Bürgertestamenten nachweisen konnte, wenn auch dort natürlich das Bier die Rolle des Weins übernahm.8 Hier wie dort konnte es auch zur Stiftung von gesamten Mahlzeiten an die Armen kommen, welche entweder unaufgeschlüsselt vermacht oder auch detaillierter beschrieben wurden.9 Im Jahre 1400 etwa bestimmte der Spätmittelalter (= Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 554, Wien 1990) 63–81, hier 75; für Frankreich vgl MARGUERITE GONON, Culture matérielle et donations pieuses au bas Moyen Age en Forez, in: ebenda 83–93; für den katalanischen Raum vgl EQUIP BROIDA, Els àpats funeraris segons els testaments vers al 1400, in: Alimentació i societat a la Catalunya medieval (= Anuario de estudios medievales 20, Barcelona 1988) 263–269, hier 264. Vgl zB den Letzten Willen des Retzers Wolfgang Hulbinger vom 28. 4. 1473 (Stadtarchiv Retz, Geschäftsbuch I, 1449–1500, fol 42r): Man solle vier Mal arme Menschen mit Essen und Trinken speisen.
6
Vgl zB die letztwillige Verfügung des Eggenburger Bürgers Nikolaus Gundl vom 20. 11. 1426 (Stadtarchiv Eggenburg, Urkunde AII/28–56v): an seinem Jahrtag seien an die Armen Fleisch für 40 Pfennig und Brot für 20 Pfennig zu reichen. Die Weinspenden an Arme basierten meist nicht auf Geldvermächtnissen, sondern repräsentierten Wein aus dem Besitz des Erblassers: zB Geschäft des Wieners Andreas Mawrperger vom 9. 1. 1399 (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Handschrift 9/1, fol 54r; WILHELM BRAUNEDER / GERHARD JARITZ [Hrsg], Die Wiener Stadtbücher 1395– 1430, Teil 1: 1395–1400 [= Fontes Rerum Austriacarum, Dritte Abteilung: Fontes Iuris 10/1, Wien/Köln 1989], 207, Nummer 325): Stiftung von vier Fuder Wein an die Armen im Wiener Bürgerspital, dass man ihnen davon täglich „Speisewein“ gebe. 7
JOHANNES SCHILDHAUER, Hansestädtischer Alltag. Untersuchungen auf der Grundlage der Stralsunder Bürgertestamente vom Anfang des 14. bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts (= Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte 28, Weimar 1992), 35: In 664 Testamenten mit Armenlegaten bis 1525 tritt 120 Mal Bier auf: „Die gespendete Menge reicht von einer Flasche an jeden Armen, bis zum Quart, zu mehreren Tonnen sowie zur Last für die Armen und Kranken in dem einen oder anderen Hospital bzw. Gasthaus.“
8
Zur allgemeinen Angabe ohne detaillierter Aufschlüsselung vgl zB das Wiener Geschäft des Hans Paternustrer vom 11. 12. 1403 (Wiener Stadt-und Landesarchiv, Handschrift 9/1, fol 155v; WILHELM BRAUNEDER / GERHARD JARITZ / CHRISTIAN NESCHWARA [Hrsg], Die Wiener Stadtbücher 1395–1430, Teil 2: 1401–1405 [= Fontes Rerum Austriacarum, Dritte Abteilung: Fontes Iuris, 10/2, Wien/Köln/Weimar 1998], 194, Nummer 920: „ein gutes Mahl zu geben in das Spital“; letztwillige Verfügung der Margarethe, Gattin von Peter Riemer, in Korneuburg vom 9. 6. 1434 9
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Wiener Bürger Hans von Pressburg, dass von seiner Geldstiftung an das Wiener Bürgerspital alle Quatember ein Mahl und ein Bad gereicht werden sollte, ersteres jeweils mit fünf Eimer Wein, zwei „Essen“ Fleisch und Kraut, und einem Brot für jeden Beteilten. In den Fastenquatembern seien jedem Spitalsinsassen zwei „Essen“ Kraut und Erbsen sowie ein Hering zu geben und darüber hinaus acht Pfund Öl zur Verfügung zu stellen.10 Mitunter wurde eine derartige Stiftung noch detaillierter festgelegt: So stiftete im Jahr 1396 in Wien Heinrich der Gradniczer zehn Pfund für sein Begräbnis: Davon „sol man haben sechczig armew mensch und dieselben sullen gen zu öpher yeds mit aynem phenning. Darnach sol man die armen lewt zü haws weysen und sol sew zu tysch ausrichten mit dreyn ezzen und sullen ymer vyrew siczen zu ayner schuzzel und für das erst ezzen sol man geben zu yeder schuzzel ayn hüenn, für das ander ezzen ein güt chrawt, für das drit ezzen ein gut gemües, dann nach tysch sol man geben yedem aynen phenning.“11 Das Wiener Geschäft des Konrad von Gars aus dem Jahr 1369 schlüsselt seine Armenspende einer Mahlzeit gleichfalls auf. Aus der Schenkung zweier Häuser an das Wiener Bürgerspital seien Jahrtage für ihn zu begehen. Unter anderem sollten an diesen Tagen die Armen im Spital eine Mahlzeit erhalten. Dieselbe bestehe jeweils aus Rindfleisch um neun Schilling, Wein und Brot um neun Schilling sowie Kraut und Fleisch um drei Schilling.12 In Wiener Neustadt bestimmte Jakob Hayden letztwillig im Jahr 1392, dass die Spitalsarmen jede Mittwoch Nacht einen Eimer Wein erhalten sollten, und jedem einzelnen ein Stück Fleisch in die Suppe zu reichen sei. Falls der Mitt-
(Stadtarchiv Korneuburg, Handschrift 3/159: Geschäftsbuch 1401–1444, fol 55r): Aus einem Teil des Erlöses aus ihrer Fahrhabe soll ihr Mann „speysen 30 arme mensch ain mal“. Zur „geradezu klassischen“ Verbindung von Totengedenken und Mahlzeiten im Kontext mit Armenspenden vgl BRIGITTE POHL-RESL, Rechnen mit der Ewigkeit. Das Wiener Bürgerspital im Mittelalter (= MIÖG, Ergänzungsband 33, Wien 1996), 77–82. Zur Stralsunder Situation vgl SCHILDHAUER, Hansestädtischer Alltag 37; zu Augsburger Mahlzeitstiftungen vgl ROLF KIESSLING, Vom Pfennigalmosen zur Aussteuerstiftung. Materielle Kultur in den Seelgeräten des Augsburger Bürgertums während des Mittelalters, in: Materielle Kultur und religiöse Stiftung im Spätmittelalter 40 f; zu Frankreich vgl GONON, Culture matérielle et donations pieuses 85 f. 23. 8. 1400 (Wiener Stadt-und Landesarchiv, Handschrift 9/1, fol 111r; BRAUNEDER / JARITZ/ NESCHWARA, Wiener Stadtbücher 2, 35 f, Nummer 648).
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28. 9. 1396 (Wiener Stadt-und Landesarchiv, Handschrift 9/1, fol 14r; BRAUNEDER / JARITZ, Stadtbücher 1, 71 f, Nummer 85). Vgl auch JARITZ, Realienkundliche Aussage 188. 11
12
POHL-RESL, Rechnen mit der Ewigkeit 77 f.
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woch ein Fasttag war, sollte die Fleischspende am nächsten Tag durchgeführt werden. In der Fastenzeit wäre das Fleisch durch einen Hering zu ersetzen.13 Neben dem Vermächtnis von Geldbeträgen zur Speisung der Bedürftigen findet sich, wenn auch selten, die Armenspende von Naturalien aus dem Besitz des Erblassers selbst. So vermachte etwa 1425 der Wiener Maler Kaspar Durchelstainer zwei Töpfe mit Schmalz an die Armen,14 1436 ein Korneuburger ein Fass heurigen Weins15 und 1504 spendete eine Tullner Bürgerin letztwillig Fleisch aus ihrem Besitz an die Bedürftigen.16 Die Stralsunder Situation erweist sich hier als variantenreicher und konnte über die Grundbedürfnisse hinausgehen. Dort werden unter den Legaten an die Armen vereinzelt „Speckseiten und Butter, Fleisch, Stockfisch, Getränke, Wein, Getreide, Weizen, Mehl, aber auch Feigen und Rosinen, hin und wieder auch lebende Tiere: Schafe, Schweine, Kühe“ genannt.17 Verlässt man den Bereich der letztwilligen Armenspende und fragt nach anderen Lebensmittellegaten, so zeigt sich einerseits, dass diese viel seltener auftreten, und andererseits, dass sie dennoch eine gewisse Varietät repräsentieren konnten. Die verschiedenen überlieferten Einzelfälle beweisen damit neuerlich eine explizite Breite von Wertstrukturen, Wertbeurteilung und Relevanzhierarchie im Rahmen der letztwilligen Verfügungen des Spätmittelalters.
HELGA RIST, Leben für den Himmel. Spätmittelalterliche bürgerliche Seelgerätstiftungen aus Wiener Neustadt, in: MARKUS WENNINGER (Hrsg), du guoter tôt. Sterben im Mittelalter – Ideal und Realität (= Schriften der Akademie Friesach 3, Klagenfurt 1998) 230. 13
20. 10. 1425 (Wiener Stadt-und Landesarchiv, Handschrift 9/3, fol 184v): „Item man sol durch goteswillen geben armen leuten von der essunden speis 2 hafen smalcz und ander ding, das nicht genant ist, hefen und holcz, daz er gekaufft hat.“ 14
Verfügung des Korneuburgers Wolfgang Menndl von 22. 12. 1436 (Stadtarchiv Korneuburg, Handschrift 3/159, fol 64r): armen Leuten ein Fass heurigen Weins. Vgl auch Anm 7. 15
28. 3. 1504 (St. Pölten, Niederösterreichisches Landesarchiv, Buch Tulln Nummer 9: Geschäftsbuch 1454–1557, fol 142r): „das pechell fleisch“ an arme Leute. Vgl auch das Geschäft der Wienerin Anna Sunnberger vom 26. 7. 1404 (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Handschrift 9/1, fol 170r; BRAUNEDER / JARITZ / NESCHWARA, Wiener Stadtbücher 2, 246, Nummer 997), in dem sie einer Taufpatin ein Viertel Bachenfleisch vermacht; Letzter Willen des Wieners Lienhart Maczinger vom 15. 2. 1429 (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Handschrift 9/3, fol 310r), in welchem er armen Leuten einen Bachen vererbt. 16
17
SCHILDHAUER, Hansestädtischer Alltag 36.
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GERHARD JARITZ
Hinsichtlich allgemein als wertvoll anerkannter Lebensmittel sind im Besonderen die importierten Gewürze zu nennen, die es wert erscheinen konnten, letztwillig vergeben zu werden, wenn sie in entsprechender Menge vorhanden waren. So vererbte im Jahr 1429 der Wiener Lienhart Maczinger 17 Pfund Pfeffer.18 Einer der Ächter von Sankt Stephan in Wien vermachte 1404 dem dortigen Kirchenpropst und einer Frau jeweils ein Pfund Safran.19 Die offensichtlich im Handel tätige Tullnerin Margarethe Tanhawser bedachte in ihrem Letzten Willen eine andere Frau mit „ain halben vierdung saffran und 1 lb. pfeffer aus der kram“.20 Im Geschäft der Wiener Händlerin Kunigunde Schreyber von 1401 wird vermerkt, was sie „in der chram“ hinterließ. Es sind dies, neben anderen Waren, die folgenden genannten Gewürze: Ingwer, Muskat, Nelken, Pfeffer, Safran, Muskatblüte.21 1419 vererbte der Korneuburger Hans Fewstel seiner Gattin 20 Lot Safran.22 Selbst der Adelige Sigmund Eizinger von Loosdorf verfügte 1487 über seinen „beraitten saffran“, mit dem er seine Gattin bedachte.23 Gerade bei jenen Safranvermächtnissen kann jedoch nicht eindeutig erkannt werden, ob es sich dabei um von der Qualität her höhere, importierte Ware oder um jenen Safran handelte, der in Niederösterreich selbst gepflanzt wurde.24 Es ist jedoch wahrscheinlich Letzteres anzunehmen. Dass niederösterrei-
15. 2. 1429 (Wiener Stadt-und Landesarchiv, Handschrift 9/3, fol 310r): „Item und schafft das man geben sol Wolfharten dem Kursner 17 lb. pheffer oder was sein da ist. Davon sol er geben seinem bruder 1 lb. pheffer.“ 18
20. 3. 1404 (ebenda, Handschrift 9/1, fol 164r; BRAUNEDER / JARITZ / NESCHWARA, Wiener Stadtbücher 2, 223, Nummer 954): Geschäft des Geistlichen Stephan Kurcz, Ächter von St. Stephan zu Wien. 19
6. 5. 1445 (Stadtarchiv Tulln, Buch Nummer 13: Geschäftsbuch 1414–1454, fol 111r). 20
24. 11. 1401 (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Handschrift 9/1, fol 123v; BRAUNE/ JARITZ / NESCHWARA, Wiener Stadtbücher 2, 84, Nummer 730): „Von erst 1 lb. ingewer und 1 ½ vierdung pro 70 dn. Item ½ lb. muscat pro 45 dn., 3 lot negel pro 15 dn., …, 1 vierdung pheffer pro 13 dn., 1 lot saffran pro 20 dn., muscadplüt pro 6 dn. …“. 21
DER
Stadtarchiv Korneuburg, Handschrift 3/159, fol 19v (5. 11. 1419); der Eintrag ist durchgestrichen. 22
St. Pölten, Niederösterreichisches Landesarchiv, Ordner 92: Archiv Maissau, Urkunde Nummer 36. 23
Zum niederösterreichischen Safrananbau vgl MORIZ KRONFELD, Vergangenheit und Gegenwart des niederösterreichischen Safranbaus, Blätter des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich NF 26 (1892) 69–73. Zur Unterscheidung von heimischem „Landsafran“ und importiertem „welschen Safran“ vgl GERHARD JARITZ, 24
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chischer Safran als wichtig für die gehobenere Nahrungsmittelkultur angesehen wurde, erweist sich auch aus den nicht so seltenen Vermächtnissen von Safrangärten in den letztwilligen Verfügungen.25 In einem Wiener Geschäft aus dem Jahre 1398 vererbte Elsbeth, die Frau des Christian Salczpurger, ihrem Gatten den Safrangarten in Als vor Wien, damit er aus dessen Erlös jährlich an den Tagen der heiligen Barbara und Dorothea jeweils 24 Arme speise.26 Mitunter finden sich auch andere, allgemein gängigere Würzmittel, die es wert waren vererbt zu werden. Die überaus reichhaltige Verfügung des wohlhabenden Korneuburger Stadtrichters Caspar Strasser von 1460 vermittelt so etwa ein Fass Essig, das derselbe nach Sankt Diebold in Wien vermachte.27 1427 nennt der Letzte Wille dessen Vaters Hans Strasser die Verfügung über „alles varund-
Zwischen Augenblick und Ewigkeit. Einführung in die Alltagsgeschichte des Mittelalters (Wien 1989) 171. Vgl zB Letzter Wille der Tullnerin Elsbeth Huenburger (7. 11. 1429; Stadtarchiv Tulln, Buch Nummer 13, fol 54r); der Tullnerin Katharina Mawrbeck (17. 7. 1461; Niederösterreichisches Landesarchiv, Buch Tulln Nummer 9, fol 48r); des Ybbser Bürgers Niclas Stadler (27. 9. 1482; Stadtarchiv Ybbs, Buch 3/1: Stadtbuch 1469– 1532, fol 62r); der Korneuburger Hans Klinsler (29. 1. 1434 Stadtarchiv Korneuburg, Handschrift 3/159, fol 51v), Konrad Reutlinger (5. 4. 1440; ebenda, fol 76r: Safrangarten in Tulln, wird an die armen Bedürftigen im Tullner Spital vermacht), Elsbeth Schricker (4. 6. 1462; Stadtarchiv Korneuburg, Handschrift 3/160, Geschäftsbuch 1444–1493, fol 93v) und Dorothea Negel (25. 2. 1463; ebenda, fol 98v); in Retzer Vermächtnissen vom 20. 4. 1469 (Niclas Pheylestorffer; Stadtarchiv Retz, Geschäftsbuch I, fol 37v), 9. 4. 1480 (Wernhart Müchsniczer; ebenda fol 57v), 15. 2. 1501 (Thomas Kalichtorffer; Stadtarchiv Retz, Geschäftsbuch II, 1500-1554, fol 3r), 16. 11. 1502 (Thomas Kalichtorffers Witwe Dorothe; ebenda, fol 6r), 6. 2. 1509 (Martin Munich, Mitbürger zu Wuldersdorf; ebenda, fol 35r); usw. Vgl GERHARD JARITZ, Zur Lebenshaltung in niederösterreichischen Kleinstädten des Mittelalters, in: HERWIG EBNER (Hrsg), FS Friedrich Hausmann (Graz 1977) 249–264, hier 263. 25
16. 4. 1398 (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Handschrift 9/1, fol 43r; BRAUNEDER / JARITZ, Stadtbücher 1, 170, Nummer 253). 26
Stadtarchiv Korneuburg, Urkunde 1/190 (9. 7. 1460, Wien). Von Caspar Strasser existieren zwei letztwillige Verfügungen, dieses Original und eine weitere vom 27. 2. 1464, die sich im Korneuburger Stadtbuch eingetragen findet (vgl dazu CORNELIA HOLZNER-TOBISCH, Investitionen für die Ewigkeit. Die Seelenheilstiftungen in den letztwilligen Verfügungen der Stadt Korneuburg im 15. Jahrhundert [= Medium Aevum Quotidianum, Sonderband XIX, Krems 2007] 96–98). In der zweiten Fassung (Stadtarchiv Korneuburg, Handschrift 3/160, fol 102v–104r) findet sich kein vererbter Essig mehr. 27
186
GERHARD JARITZ
gut, wein und salcz“ an seine Frau und drei Kinder.28 Im Jahr 1483 verfügte der Ybbser Bürger Hans Hafner über 60 Küfel Salz.29 Bei jenen vorgenannten Beispielen zeigt sich eindeutig die Relevanz der vorhandenen Quantität der Lebensmittel, welche sie zu vererbungswürdigen Objekten machte. Jene Menge konnte augenscheinlich erwähnenswerte „Wertgegenstände“ aus Nahrungsmitteln kreieren, von denen man dies sonst keinesfalls erwarten würde. So hinterließ etwa im Jahre 1419 der Wiener Gärtner Jakob Haug an seine Gattin alle Äpfel, die im Keller lagen.30 1461 vererbte eine Korneuburger Erblasserin 10 Metzen Mehl, ein Gefäß (tese) mit Honig und einen kleinen Eimer mit Schmalz an das Bernhardinerkloster in Klosterneuburg.31 Häufiger als Honig selbst findet sich die Vererbung von Bienenstöcken.32 Ebenfalls häufiger als in den Einzelfällen von vererbten Äpfeln und Honig findet sich die Verfügung von größeren Mengen Weins. Katalin Szende stellte in ihrer Untersuchung zu den spätmittelalterlichen Testamenten von Ödenburg, Pressburg und Eperjes fest, dass der in den Ödenburger und Pressburger Weingärten produzierte Wein in den Testamenten allerdings kein Getränk oder keinen Genussartikel bedeutete, sondern ein zu jeder Zeit mobilisierbares „fließendes Kapital“, eine Art Ersatzgeldquelle, die sich fast in jedem Haushalt befand.33 Dies kann wohl zum großen Teil auch für den behandelten niederösterreichischen Raum erkannt werden. So vererbte etwa in Wien 28
7. 1. 1427 (Stadtarchiv Korneuburg, Handschrift 3/159, fol 32r).
29
13. 9. 1483 (Stadtarchiv Ybbs, Buch 3/1, fol 67r).
29. 12. 1419 (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Handschrift 9/3, fol 37r). Vgl JARITZ, Realienkundliche Aussage 184.
30
Regina, Gattin des Wolfgang Halbember, 12. 6. 1461 (Stadtarchiv Korneuburg, Urkunde 1/192a; Handschrift 3/160, fol 88r): „10 meczen mel, ain tesen mit honig und ain emperl smalcz“. Vgl GERHARD JARITZ, Religiöse Stiftungen als Indikator der Entwicklung materieller Kultur im Mittelalter, in: Materielle Kultur und religiöse Stiftung 13–35, hier 22. 31
Vgl zB 5. 1. 1465 (Niederösterreichisches Landesarchiv, Buch Tulln Nummer 9, fol 61r ): Der Tullner Bürger Mert Hewsnabl vermacht zwei Bienenstöcke an die dortige Pfarrkirche; ebenfalls in Tulln vererbt Michael Schawr von Wien acht Bienenstöcke (26. 8. 1485; ebenda, fol 110r); 5. 8. 1507 schafft Jakob Achtailler von Oberretzbach einen kleinen Garten und vier Bienenstöcke (Stadtarchiv Retz, Geschäftsbuch II, fol 38v). Zu Honig und Bienenstöcken in westungarischen letztwilligen Verfügungen vgl SZENDE, Otthon a városban 219 f. 32
33
SZENDE, Otthon a városban 304 und 213–216.
Zwei Töpfe Schmalz, ein Pfund Safran und alle Äpfel im Keller
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Margarethe, die Witwe des Meisters Pilgram von Wuldesdorf, „drew fueder hewrigs weins, die in meinem cheller ligent, … und … drew fueder weins virdigs“.34 Der Retzer Bürger Veit Kaindl vermachte 1517 seinen drei Kindern zehn Fässchen heurigen Weins, „lygund nocheinander im keller“.35 Sechs Jahre davor hatte ebendort der Bürger Peter Brunner letztwillig vier Eimer Rotwein an die Eggenburger Barfüßermönche gestiftet.36 In Korneuburg verfügte Hans Setelein im Jahre 1425, dass 4 Dreilinge und 3 halbe Fuder Weins verkauft werden sollten, um damit seine Schulden zu bezahlen.37 Auch andere Lebensmittel, die in größeren Mengen vorhanden waren, konnten als Kapital genutzt werden. So nennt etwa im Jahr 1399 in Wien Katharina, die Witwe des Martin Haymlein, Kraut, Schweine und Weizen, deren Erlös, wenn nötig, zur Ausrichtung des Geschäftes herangezogen werden sollten:38 „Und ob daz geschefft nicht auzgerichtet möchte werden als vorgeschriben stet, daz sol man erstatten von den siben vassen krawts und von den vir potigen krawts, die si hinder ir lazzen hat. … Item ir swein und den waicz in dem vass sol man auch nehmen demselben gescheft ze hilf.“ Der Letzte Wille der bereits angeführten Tullnerin Katharina Mawrbeck nennt ihre Verfügung von Hafer, Korn, Dinkel und anderem vorhandenen Getreide.39 Obwohl hier nicht dezidiert angeführt, so ist es doch als offensichtlich anzusehen, dass auch hinsichtlich der Verfügungen von Getreide die vorhandene Menge eine wichtige Rolle spielte.40 Quantität erweist sich auch im Kontext mit der letztwilligen Verfügung von für die Ernährung wichtigen Tieren als relevant, obwohl anzumerken ist, dass etwa vor allem in Bezug auf Kühe oder mitunter auch Schweine, Schafe oder Ziegen bereits ein einziges hinterlassenes Tier erwähnungswürdige Relevanz repräsentieren konnte.41 Von besonderer Bedeutung konnte die „beste Kuh“ sein.42 Wur-
20. 6. 1396 (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Handschrift 9/1, fol 9r; BRAUNEDER / JARITZ, Stadtbücher 1, 57, Nummer 62). Vgl auch JARITZ, Realienkundliche Aussage 184. 34
35
12. 9. 1517 (Stadtarchiv Retz, Geschäftsbuch II, fol 68r).
36
27. 8. 1511 (ebenda, fol 63v).
37
8. 5. 1425 (Stadtarchiv Korneuburg, Handschrift 3/159, fol 27r).
38
1. 12. 1399 (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Handschrift 9/1, fol 76v; BRAUNEStadtbücher 1, 287, Nummer 463).
DER / JARITZ, 39
17. 12. 1461 (Niederösterreichisches Landesarchiv, Buch Tulln Nummer 9, fol 48r).
40
Vgl dazu für den westungarischen Raum SZENDE, Otthon a városban 216–218.
41
Vgl zB 19. 4. 1469: Katharina, Witwe des Jörg Rawcz, früheren Richters von Mau-
188
GERHARD JARITZ
den Hühner vererbt, dann mochte natürlich die größere Zahl von Bedeutung werden, oder man vermachte einfach „alle Hühner“.43 Der Retzer Bürger Thomas Vireckl vererbte seiner Frau im Jahr 1477 sechzig Hühner. Daneben zeigt sich in seinem Geschäft eine sonst recht seltene größere Varietät von Lebensmitteln: Neben den sechzig Hühnern vermachte er seiner Gattin auch 1 Mut breiten Hafer, 24 Metzen Mehl, eine Kuh, zwei Seiten Bachenfleisch, die Hälfte vom Käse und Schmalz sowie zwei kleine Schweine.44
tern, vermacht „meine Kuh“ und drei Schafe an eine Frau und deren Kinder (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Handschrift 14889: Stadtbuch Mautern, 1432– 1550, fol 39r; zu ihrem Vermächtnis vgl auch HEINRICH DEMELIUS, Aus dem Stadtbuch von Mautern an der Donau (1432–1550) [Wien/Köln/Graz 1972], 36 f); 1466 schafft der Retzer Bürger Christoph Teufel eine große Anzahl von Sachgütern, darunter dem Oder, seinem Winzer, eine Geiß sowie unter anderem auch „die kue, die saw, die gays … an seine diern Agnes“ (Stadtarchiv Retz, Geschäftsbuch I, fol 24r–24v); 27. 8. 1468: Laurenz Nötleich vererbt eine Kuh und ein Schwein an seine „Dienstdirne“ (ebd, fol 36r); 6. 2. 1495 vermacht Gerdraut Arczt Hühner und ein Ferkel (ebd, fol 83v): „So schaff ich meinem geuattern dem Giligen von dem gut 4 tl. d., auch kraut, huenner und ain farel, …“; 25. 5. 1411: Preyd Underkeuffl schafft der Mutter eines Vetters eine Kuh, eine Sau mit Ferkel und Hühner (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Handschrift 9/2, fol 122r; GERHARD JARITZ / CHRISTIAN NESCHWARA (Hrsg), Die Wiener Stadtbücher 1395–1430, Teil 3: 1406–1411 [= Fontes Rerum Austriacarum, Dritte Abteilung: Fontes Iuris 10/3; Wien/Köln/Weimar 2006], 380, Nummer 1793); 11. 2. 1435 vermacht Niclas Heczel in Korneuburg seiner Frau „Kuh und Schaf“ (Stadtarchiv Korneuburg, Handschrift 3/159, fol 58v). Vgl zB die letztwillige Verfügung des Mert Prunner im Stadtbuch von Mautern von 14. 11. 1521 (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Handschrift 14889, fol 139v; DEMELIUS, Aus dem Stadtbuch von Mautern 61), in welchem er neben sechs Hennen auch seine beste Kuh vermacht. Vgl auch den Letzten Willen des Tullner Bürgers Thomas Peck von 1461, welcher die „bessere Kuh“, zwei weitere Kühe und die ältere Kuh vererbt (St. Pölten, Niederösterreichisches Landesarchiv, Buch Tulln Nummer 9, fol 47v–48r). 42
2. 4. 1464 vererbt Margret, die Frau des Peter Pischoff zu Wuldersdorf, unter anderem siebzig Hühner (Stadtarchiv Retz, Geschäftsbuch I, fol 18r–18v); 24. 9. 1501 vermacht Magdalena, Witwe des Hans Weber, ihrem Knecht Paul Pernecker „die huenner allesambt“ (Stadtarchiv Retz, Geschäftsbuch II, fol 5r); 28. 3. 1504 schafft die Tullner Bürgerin Hedwig Gwärdläkin zweimal fünf Hühner an die Geschäftsherren und sieben Hühner an den Stadtschreiber (St. Pölten, Niederösterreichisches Landesarchiv, Buch Tulln Nummer 9, fol 142v). 43
44
26. 5. 1477 (Stadtarchiv Retz, Geschäftsbuch I, fol 51r).
Zwei Töpfe Schmalz, ein Pfund Safran und alle Äpfel im Keller
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Das letztgenannte Beispiel belegt wieder deutlich die vereinzelt auftretende Breite der Relevanz, welche Lebensmitteln als Erbgütern in städtischen letztwilligen Verfügungen des Spätmittelalters zukommen konnte. Man kann zwar keinesfalls von Regelmäßigkeiten und nachweisbaren Mustern sprechen, wie sie sich etwa bezüglich der Vermächtnisse von Kleidung oder auch Bett und Bettzeug erkennen lassen. Dennoch bestätigt und bestärkt eine detailliertere Untersuchung die am Anfang dieses Beitrages geäußerte Bemerkung, dass es allgemein kaum Sachgüter gegeben zu haben scheint, welche Erblasser nicht mitunter für wertvoll genug hielten, um sie zu vermachen und dezidiert in der letztwilligen Verfügung anzuführen. Teure und auch weniger kostspielige Objekte des Nahrungswesens wurden an nähere oder weiter entfernte Verwandte und Freunde vererbt, zur Bezahlung von Schulden herangezogen, zur Verbesserung klösterlicher Kost geschafft oder als Armenspende gestiftet. Trotz ihres meist zu erkennenden Auftretens als Einzelfall sind jene Vergabungen dennoch als Phänomene anzuerkennen, die eine wichtige Rolle für die Sachkultur und Lebensführung spätmittelalterlicher Menschen spielen konnten und es daher auch wert sind, in der rechts- und kulturhistorischen Forschung genauer untersucht zu werden.
Vom Wort zum Bild – die „andere“ rechtsgeschichtliche Information GERNOT KOCHER, Graz
I. Das Schriftenverzeichnis von Werner Ogris ist umfangreich und auch vielseitig, sowohl vom zeitlichen wie auch vom sachlichen Spektrum her gesehen.1 Was aber besonders ins Auge sticht, sind die Beiträge zu Handwörterbüchern und Lexika, darunter als Spitzenreiter das Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte.2 Insgesamt 133 Beiträge hat Werner Ogris zur ersten Auflage dieses Handwörterbuches beigetragen. Der Schwerpunkt liegt dabei im Bereich der Privatrechtsgeschichte mit einer zeitlichen Bandbreite von den mittelalterlichen Quellen bis ins 20. Jahrhundert, wobei auch immer wieder der Sachsenspiegel als klassische mittelalterliche Quelle zum Deutschen Recht ins Spiel kommt. Nun liegt der Sachsenspiegel aber nicht nur in schriftlicher, sondern auch in bebilderter Form vor und es soll hier der Versuch unternommen werden, an Hand von fünf von Werner Ogris verfassten Stichwörtern zu zeigen, wie leistungsfähig die Illustrationen im Hinblick auf doch mehr oder weniger
Drei Bilderhandschriften des Sachsenspiegels werden herangezogen, die Heidelberger (= H), die Oldenburger (= O) und die Wolfenbütteler (= W). Zitiert werden jeweils die Folioseiten und die Bildzeile: WALTER KOSCHORRECK (Hrsg), Die Heidelberger Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Kommentar zum Faksimile von CPG 164 (Frankfurt aM 1970). – Die Oldenburger Bilderhandschrift des Sachsenspiegels, hrsg von der Kulturstiftung der Länder in Verbindung mit der niedersächsischen Sparkassenstiftung durch RUTH SCHMIDT-WIEGAND, Redaktion FRIEDRICH SCHEELE (Berlin-Hannover 1993). – RUTH SCHMIDT-WIEGAND (Hrsg), Eike von Repgow, Der Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift Cod. Guelf. 3.1. Aug. 2º, I Faksimile, II Texte (Berlin 1993). Vgl dazu WERNER OGRIS, Elemente europäischer Rechtskultur. Rechtshistorische Aufsätze aus den Jahren 1961–2003, hrsg v THOMAS OLECHOWSKI (Wien/Köln/ Weimar 2003), Inhaltsverzeichnis als Spiegel der zeitlichen und sachlichen Bandbreite, 826 ff der Hinweis auf „Lexikalische Artikel“.
1
2
HRG1 I–V.
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GERNOT KOCHER
abstrakte privatrechtsgeschichtliche Begriffe sind. Folgende Stichwörter wurden dafür ausgewählt: Abschichtung, Auflassung, Forderung, Gewere und Schadenersatz. Zugleich ist der Beitrag aber auch ein Versuch, die Einordnung der Illustrationen zum Sachsenspiegel als „Fachbuch“3 einmal aus juristischer Sicht näher auf die Stichhaltigkeit zu überprüfen. A. Abschichtung4 Der Grundtatbestand ist klar, es geht um die vermögensrechtliche Verselbständigung eines Hauskindes, wobei hier die Söhne als Familiengründer im Vordergrund standen, die Töchter wurden mit der Aussteuer bedacht. Eine direkte Darstellung der Abschichtung des Haussohnes durch den Hausvater findet sich in Ssp Ldr II, 19 § 1: Der Sohn bekommt „Geld und Gut“, das Geld mit der Waage und das Gut mit einem Wappen angesprochen.
Abbildung 15
Vgl RUTH SCHMIDT-WIEGAND, Text und Bild in den Codices picturati des Sachsenspiegels. Überlegungen zur Funktion der Illustration, in: DIESELBE (Hrsg), Text-BildInterpretation. Untersuchungen zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, I (München 1986) 11–31. 3
4
WERNER OGRIS, Abschichtung, in: HRG1 I, 13–17.
5
W fol 30v/5 zu Ssp Ldr II, 19 § 1.
Vom Wort zum Bild – die „andere“ rechtsgeschichtliche Information
193
Der Sohn zeigt durch entsprechende Gebärden seine Bereitschaft an, die Abschichtung in dieser Form zu akzeptieren. Der Graf – übrigens in der klassischen Haltung mit überkreuzten Beinen – ist hier sozusagen die Schaltstelle des ganzen Vorganges, denn er fungiert sowohl als Träger der Rechtssicherheit (Vornahme vor Gericht), anderseits aber auch als Publizitätsträger, der mit Rede- und Zeigefingergebärde die rechtliche Bedeutung dieses Aktes unterstreicht. Die Abschichtung bedeutete ja die Entlassung aus der hausväterlichen Munt und damit schwerwiegend auch eine Verlagerung von Verantwortung vom Hausvater auf den verselbständigten Sohn – Konsequenzen die für die Allgemeinheit von großem Interesse sein konnten. Die Oldenburger Bilderhandschrift6 ist hier noch wesentlich bodenständiger, es gibt kein Geld, sondern nur Grund und Boden, als Ährenfeld dargestellt und eine Ähre übergibt der Vater dem Sohn als Zeichen der Tradition, eine ausgeprägte „Hand zu Hand-Übergabe“, während in der Wolfenbütteler Darstellung dieser körperliche Weg durch weisende Gesten stark abgeschwächt erscheint. B. Auflassung7 Die ursprünglich auf der Liegenschaft selbst durchgeführte Auflassung im Sinne einer Räumung des Grundstückes durch den früheren Eigentümer, war ein symbolträchtiger Akt, beispielsweise durch das Werfen eines Stabes in den Schoß des Erwerbers. Mit der seit dem Frühmittelalter langsam erfolgenden Verlagerung vor Gericht war im Grunde genommen die äußere Form noch mehr gefragt als vorher, um die Allgemeinverständlichkeit des Vorganges im Sinne einer Publizitätswirkung aufrecht zu erhalten. Eine solche Auflassung vor Gericht stellen sowohl die Wolfenbütteler8 als auch die Oldenburger Bilderhandschrift (Abbildung 2) dar. Zu beachten ist, dass bei der Wolfenbütteler Illustration das ursprüngliche Funktionskonzept für die Personen (Richter beziehungsweise Erwerber) durch mangelndes Verständnis des Illustrators9 verloren gegangen ist. Im Vordergrund kniet die Frau, die mit Hilfe eines Handschuhes die Auflassung an den Richter und damit mittelbar an den am Bildrand stehenden Käufer vollzieht.
6
O fol 46r/12 zu Ssp Ldr II, 19 § 1.
7
WERNER OGRIS, Auflassung, in: HRG1 I, 251–253.
8
W fol 20v/2 zu Ssp Ldr I, 45 § 2.
KARL VON AMIRA, Die Dresdner Bilderhandschrift des Sachsenspiegels, Zweiter Band Erläuterungen, Teil I (Leipzig 1925) 252 f. 9
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Abbildung 210
Die im Text angesprochene Zustimmung des Mannes zu diesem Geschäft wird einerseits durch seine rechte Hand, welche die linke Schulter der Frau anfasst, anderseits durch den in der linken Hand gehaltenen Stab verdeutlicht. Der Stab ist hier wohl in zweifacher Funktion zu sehen, einerseits als Zeichen der Gewalt des Ehemannes und anderseits als ebenfalls an der Liegenschaft Berechtigter. In der Endaussage treffen sich beide Stabfunktionen: Legitimierung in personenrechtlicher und sachenrechtlicher Hinsicht. Die Gebärde des Richters wird vielleicht doch nicht als Friedensgebot (so Amira11) zu sehen sein, sondern als Annahmegeste für den Handschuh zwecks Weiterreichung an den Käufer,12 der mit dem rechten, auf seine Brust gerichteten Zeigefinger sich als Zielperson der Auflassung identifiziert.
10
O fol 25r/2 zu Ssp Ldr I, 46.
11
Wie Anmerkung 9.
Vgl dazu den Auflassungsmodus mit der Übergabe einer schwarzen Kappe in St. Gallen bei WALTER MÜLLER, Ein Auflassungs- und Investitursymbol des Klosters St. Gallen (Zürich 1972). 12
Vom Wort zum Bild – die „andere“ rechtsgeschichtliche Information
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C. Forderung13 Schulden und Forderungen sind unkörperliche Gegenstände, deren Umsetzung ins Bild nicht ganz einfach ist und naturgemäß nur auf dem Umweg über den entsprechenden Einsatz von Personen, Gebärden und Realien erfolgen kann. Das geschieht in ausführlicher Weise in der Illustration zu Ssp Ldr II, 58 § 3, wo es um die Frage geht, unter welchen Voraussetzungen ein volljährig Gewordener vom bisherigen Bewirtschafter der Güter die Einnahmen zu Recht fordern kann.
Abbildung 314
Das Bild ist ein sogenanntes „textüberschreitendes“ weil es mehr zeigt, als der Text fordert.15 Der Illustrator belegt aber anderseits damit, dass er die Problematik der rechtlichen Grundlage einer fundierten Forderung erkannt hat, die sich für ein adeliges, also lehnberechtigtes Kind ergibt. Erste Forderungsvoraussetzung ist eine Belehnung, die im rechten Bildteil vollzogen wird, wofür aber die Volljährigkeit gegeben sein muss. Diese Volljährigkeit ist Gegenstand des Eides in der Bildmitte, wobei dieser Eid insofern spezifiziert erscheint, als der Termin der Volljährigkeit als zweite Forderungsbedingung beschworen wird. Diese Wechselbeziehung des Eides hat bei den bisherigen Interpretationen des Bildes teilweise zu Irritationen geführt – man hat dabei
13
WERNER OGRIS, Forderung, in: HRG1 I, 1154–1157.
14
H fol 9v/2 zu Ssp Ldr II, 58 § 3.
In der Textstelle ist von einer Belehnung nicht die Rede – lediglich aus der Bezeichnung des bisherigen Bewirtschafters als „Herr“ kann man auf ein adeliges Kind und damit auf ein Lehenverhältnis schließen. 15
196
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übersehen, dass der Konzipist des Bildes ökonomisch vorgehen musste und mit einem Eid zwei Tatbestände abzudecken hatte, um auch einen der im Text beispielhaft genannten Forderungsgegenstände im Bild mit unterbringen zu können, nämlich die Nutzung des Weingartens, angesprochen in Gestalt des Rebstockes im Bild links. Die Illustration visualisiert zusätzlich die Beziehung zwischen Schwörendem und Forderungsgegenstand durch den Rebentrieb, der über den Kopf des jungen Mannes hinübergeht. Auch hier beim Rebstock ist noch eine Forderungsvoraussetzung eingebaut, nämlich in der linken oberen Ecke die Haube (Gugel) für den Tag des Heiligen Urban (25. Mai), an dem die Weingartenarbeiten als abgeschlossen16 gelten. Ist das Kind davor volljährig geworden, kann es mit Recht die Nutzung fordern, danach nicht mehr. Die Forderung des sowohl Volljährigkeit als auch Zeitpunkt beschwörenden Kindes liegt in der Gestik der linken Hand, die bei prozessualen Szenen klägerisches Begehren ausdrückt. – Angemerkt sei jedoch jedenfalls zu diesem Bild, dass es ohne die Basisinformation des Textes wohl schwerlich auf diese Weise lesbar wäre! D. Gewere17 Die Arten der Gewere und ihr Zustandekommen sind sehr vielfältig – gemeinsam ist jedoch den Tatbeständen das Kriterium einer für die Öffentlichkeit sichtbaren und damit erkennbaren Herrschaftsbeziehung und eine dingliche Berechtigung. Allerdings kann das äußerlich sichtbare Element praktisch auf Null reduziert sein (ideelle Gewere), hier springt dann die nachweisbare dingliche Berechtigung ein, die damit eine Doppelfunktion bekommt. SSp Ldr II, 25 § 1 visualisiert die raubliche Gewere, bei der nur die äußerlich sichtbare Beziehung Person–Sache durch Ergreifen der Halme mit (ausgedrehter!) rechter Hand wiedergegeben wird, die dingliche Berechtigung fehlt, denn die linke Hand weist über den Bildrand hinaus. Wie die dingliche Berechtigung ins Bild gebracht werden kann, zeigt etwa O 10v/5 zu Ssp Ldr I, 7 wo Erwerber und Verkäufer gemeinsam eine halmbesetzte Scholle vor dem Richter halten und damit erkennen lassen, dass hinter dem Transfer der Gewere auch eine Rechtsbeziehung steckt – interpretierbar als Verkauf wegen des mitbestimmenden Erben in der Mitte zwischen den beiden Akteuren. Auch hier war der Illustrator genau: Das ordentliche Anbinden der Reben ist wesentlicher Pflegefaktor, der hier im Bild exakt zum Ausdruck kommt, denn die Bindung ist markant ausgeführt. 16
17
WERNER OGRIS, Gewere, in: HRG1 I, 1658–1667.
Vom Wort zum Bild – die „andere“ rechtsgeschichtliche Information
Abbildung 418
197
Abbildung 519
Das illegale Element in O 48r/3 wird auch vom rechtmäßigen Gewereinhaber durch das blanke Schwert verdeutlicht,20 mit dem der Illustrator die Erhebung des Gerüftes und damit die Klageerhebung auf Grund handhafter Tat ins Bild setzt. E. Schadenersatz21 Auch wenn es nicht angebracht ist, mit modernen Vorstellungen des Schadenersatzrechtes im Mittelalter zu operieren, so ist die Ausgangsposition für Vergangenheit und Gegenwart doch immer gleich, es geht grundsätzlich um die Frage eines Ausgleiches für eine Störung der Rechtsgüter einer Person, die mit einem Nachteil verbunden ist. Dieser Ausgleich (Buße22) hat im Mittelalter oft noch mehr straf- als privatrechtliche Züge. Die Illustration zu Ssp Ldr II, 65 § 1 geht in der Darstellung der Heidelberger Bilderhandschrift davon aus, dass ein Minderjähriger jemanden verletzt oder getötet hat. 18
O fol 48r/3 zu Ssp Ldr II, 25 § 1.
19
O fol 10v/5 zu Ssp Ldr I, 7.
Ob das den Kopf des Räubers berührende Schwert in die Interpretation mit einbezogen werden kann, ist fraglich, das könnte auch die Folge notwendiger Platzökonomie sein, da Raum für die Illustrationen sehr knapp ist. In der Wolfenbütteler Illustration zur gleichen Stelle (fol 32r/5) schwebt das Schwert über dem Kopf, was doch den Eindruck verstärkt, dass die Positionierung des Schwertes über dem Kopf des Friedbrechers doch eine Rechtsbeziehung andeuten soll. 20
21
WERNER OGRIS, Schadenersatz, in: HRG1 IV, 1335–1340.
22
EKKEHARD KAUFMANN, Buße, in: HRG1 I, 575–577.
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Abbildung 623
Der nächste Angehörige am rechten Bildrand drückt mit der Schwurgeste der linken Hand aus, dass die Sachlage klar beweisbar ist. Mit der rechten Hand empfängt er das für den konkreten Fall vorgesehene Wergeld24 oder Manngeld, während der Vormund des jugendlichen Täters mit der herabhängenden linken Hand andeutet, dass er gegen die Beweislage nichts einwenden kann, deshalb also zahlt. Auch wenn man diese Leistung in Geld für die Verletzung oder Tötung nicht hundertprozentig einem zivilrechtlichen Schadenersatz gleichhalten kann, so ist doch der Grundgedanke „Ausgleich eines rechtswidrig zugefügten Nachteiles“, also im weitesten Sinne ein Schadenersatz dargestellt, zumal in der Textstelle selbst in der Folge noch von weiteren „Schäden“, die aus dem Kindesvermögen ausgeglichen werden sollen, spricht.
II. Wenn man den Titel „vom Wort zum Bild“ auf den Prüfstand stellt, so ist keine Frage, dass die Bilder durchaus im Stande sind, Kompliziertes beziehungsweise Abstraktes wiederzugeben und dass sie daher geeignet sind, neben der wörtlichen auch eine bildliche Information zu vermitteln. Nicht übersehen kann man natürlich den Faktor der Momentaufnahme, der durch die Illustration gegeben erscheint, das Wort ist eben stärker und vielseitiger in der inhaltlichen wie entwicklungsgeschichtlichen Dimension. Nachteilig
23
H fol 11r/1 zu Ssp Ldr II, 65 § 1.
24
WOLFGANG SCHILD, Wergeld, in: HRG1 V, 1268–1271.
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kann sich auch die interpretative Textabhängigkeit der Bilder auswirken, wenngleich man auch nicht bestreiten kann, dass es möglich ist, Rechtstexte so zu verfassen, dass der Streit um die Aussage zum Broterwerb für Juristen werden kann.
Überlegungen zur „Gemeinde“ der Tiroler Forstregulierung1 GERALD KOHL, Wien
I. Allgemeines Im 19. Jahrhundert waren die Rechtsverhältnisse an den Tiroler Wäldern so unübersichtlich geworden, dass man sich zu einer Bereinigung entschloss. Die mit kaiserlicher Entschließung vom 6. Februar 1847 befohlene „Regulirung der Tiroler Forstangelegenheiten“2 ordnet sich in eine ganze Reihe von Gesetzgebungsakten des 19. Jahrhunderts ein, mit denen die überkommenen geteilten Berechtigungen beseitigt und durch moderne Eigentumsrechte ersetzt werden sollten, wie etwa Grundentlastung oder Lehensallodifikation.3 Konkret sollten die Tiroler Wälder, abgesehen von individuell benannten Aus-
Dieser Beitrag enthält zentrale Überlegungen eines vom Verfasser 2009 erstatteten Gutachtens. Aus Anlaß von dessen Präsentation im Rahmen einer Pressekonferenz gab auch der Jubilar eine gutachtliche Stellungnahme ab (vgl Tiroler Tageszeitung vom 8. 9. 2009). Diese aktuelle Entwicklung motivierte den Verfasser, einen ursprünglich für diese FS geplanten Text über den frühneuzeitlichen Streit um ein in Wien gelegenes Haus einer späteren Publikation vorzubehalten. Vgl nunmehr auch GERALD KOHL / BERND A. OBERHOFER / PETER PERNTHALER (Hrsg), Die Agrargemeinschaften in Tirol (= Schriften zum Tiroler Agrarrecht 1, Wien 2010).
1
Provinzialgesetzsammlung für Tirol und Vorarlberg [= ProvGSTirVbg] für das Jahr 1847/XXXVI, 253 ff; auch in Tiroler Landesarchiv (= TLA), Landesregierungsarchiv für Tirol, Gub 1847, Forst 9357. Vgl FRANZ JOSEPH SCHOPF, Die Forstverfassung, das Forstrecht und die Forstpolizei I (Graz 1853) 203 f; WALTER SCHIFF, Österreichs Agrarpolitik seit der Grundentlastung I (Tübingen 1898) 52; EBERHARD W. LANG, Tiroler Agrarrecht II: Das Recht der Einforstungsrechte (Wald- und Weideservituten) und der agrargemeinschaftlichen Grundstücke (= Institut für Föderalismusforschung, Schriftenreihe Verwaltungsrecht 2, Wien 1991) 24 f. 2
HANS-RUDOLF HAGEMANN, Eigentum, in: HRG1 I, 882–896, hier 891 ff; mwN WERNER OGRIS, Die Rechtsentwicklung in Cisleithanien, in: ADAM WANDRUSZKA / PETER URBANITSCH (Hrsg), Der Habsburgermonarchie 1848–1918 II: Verwaltung und Rechtswesen (Wien 1975) 538–662, hier 594 ff. 3
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GERALD KOHL
nahmen, von dem bisher behaupteten landesfürstlichen Hoheitsrecht – das zum Teil übrigens gar nicht verspürt worden war4 – befreit werden, im Gegenzug auch dessen Belastungen durch die „untergeordneten“ Berechtigungen enden. In diesem Sinne wurden jene „Wälder Tirols, welche bisher [dem Monarchen] aus dem Hoheitsrechte vorbehalten waren, unter gleichzeitigem Erlöschen der auf denselben wider das Aerar bestandenen Holzbezugs- oder sonstigen Rechte, … den bisher zum Holzbezuge berechtigten oder mit Gnadenholzbezügen betheilten Gemeinden, als solchen, in das volle Eigenthum … überlassen“.5 Daneben sollten auch „in den künftig vorbehaltenen Staatswäldern die Holzbezugsrechte oder Gnadenholzbezüge der Unterthanen … durch Ausscheidung und Ueberweisung einzelner Forsttheile in das volle Eigenthum, und zwar nicht der einzelnen Unterthanen, sondern der betreffenden Gemeinden, so weit es nur immer zulässig ist, abgelöst werden.“6 Schon den Zeitgenossen erschien dies als eine Form der Servitutenablösung: Es sei demnach „angeordnet [worden], auch in den Regalitätsforsten die Servituten und Gnadenholzbezüge der Unterthanen … durch Ausscheidung und Überweisung einzelner Forsttheile in das volle Eigenthum der betreffenden berechtigten Gemeinden abzulösen.“7 Zu Recht wurde das Forstregulierungspatent (in der Folge: FRP) daher auch noch später als ein „älterer Versuch zur Lösung der Servitutenfrage“8 beurteilt, womit „zahlreiche wirkliche Privateigentumswaldungen“9 geschaffen worden waren. Die von der Waldzuweisung betroffenen Wälder wurden zunächst von der Kameralgefällenverwaltung an die politische Landesstelle übergeben und erst danach jenen zugewiesen, die aufgrund bisheriger Berechtigungen Ansprüche erhoben: „Die Extradirung der ... an die bisher zum Holzbezuge berechtigten, oder mit Gnadenholz betheilten Gemeinden als Eigenthum überlassenen Wälder, wird von der KammeralGefällen-Verwaltung Tirols im Ganzen an die Landesstelle als Kuratelsbehörde der Gemeinden geschehen“.10 Von weiteren Streitigkeiten wollte die Staatsverwaltung verschont bleiben: „Alle Besitz-, Eigenthums- oder was immer für sonstige Rechtsansprüche Einzelner, oder anderer Gemeinden (!) auf Forste,
4
STEPHAN FALSER, Wald und Weide im tirolischen Grundbuche (Innsbruck 1896) 16.
5
ProvGSTirVbg 1847 / XXXVI, Art 6.
6
ProvGSTirVbg 1847 / XXXVI, Art 3.
7
SCHOPF, Forstverfassung 203 f.
8
SCHIFF, Agrarpolitik 50 ff.
9
FALSER, Wald und Weide 35.
10
ProvGSTirVbg 1847 / XXXVI, Art 8; vgl dazu FALSER, Wald und Weide 23 ff.
Überlegungen zur „Gemeinde“ der Tiroler Forstregulierung
203
die bisher dem allerhöchsten Landesfürsten gehörten, aber nunmehr den holzbezugsberechtigten Gemeinden (!) abgetreten werden, sollen hinfort nur gegen diese Letzern gestellt ... werden können“.11
II. Zum „Gemeinde“-Begriff des Forstregulierungspatents Damit ist eine Kernfrage berührt, nämlich jene nach dem der Forstregulierung zugrundeliegenden Gemeindebegriff. Dieser Begriff ist nach den herkömmlichen juristischen Auslegungsregeln unter Berücksichtigung des sachlichen Zusammenhanges und des zeitgenössischen Verständnisses auszulegen.12 So etwa war im öffentlichen Recht in der Mitte des 20. Jahrhunderts – und wohl auch noch heute – „nach dem Sprachgebrauch der österreichischen Gesetzgebung … unter dem Ausdruck Gemeinde grundsätzlich die politische Gemeinde zu verstehen“,13 womit der VwGH eine widerlegliche Vermutung für einen bestimmten Begriffsinhalt aufstellte. Hier hilft diese allerdings nicht weiter, denn es ist eine in wesentlichen Aspekten privatrechtliche Frage für die Mitte des 19. Jahrhunderts zu beantworten. In diesem Sinne hatte der VwGH 1894 festgestellt, dass „der Ausdruck ‚Gemeinde’ [auch] als gleichbedeutend mit ‚Ortschaft’ aufzufassen“ sein könne.14 Der Gemeindebegriff war 11
ProvGSTirVbg 1847 / XXXVI, Art 9.
Bemerkenswert, aber für die folgende Argumentation von untergeordneter Bedeutung, sind dazu die Ausführungen eines vom Tirolischen Gubernium 1784 an die Wiener Zentralstellen erstatteten Gutachtens: „In Tyroll wird unter der Benambsung [Gemeinde] eine gewisse, bald größere bald kleinere Anzahl beysammen liegender oder auch einzeln zerstreuter Häuser verstanden, die gewisse Nutzbarkeiten an Weyden, Waldungen und beurbarten Gründen gemeinschaftlich und mit Ausschluß anderer Gemeinden genießen, einen gemeinschaftlichen Beutel oder Cassa führen und also gewisse gemeinschaftliche Schuldigkeiten haben z.B. eine bestimmte Strecke eines Wildbaches oder Stromes zu verarchen.“ TLA, OÖ Hofkammer, Kopialbuch Gutachten an Hof 1784, Band 2, fol. 249; vgl WILFRIED BEIMROHR, Die ländliche Gemeinde in Tirol aus rechtsgeschichtlicher Perspektive, Tiroler Heimat 2008, 161– 178, hier 162, Fußnote 2. 12
13
VwSlg 3560/1954.
ADAM BUDWINSKI (Red), Erkenntnisse des k.k. Verwaltungsgerichtshofes 1894, Nr 8032. – Gelegentlich sah sich später auch der Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts zu einer Klarstellung gezwungen; so in § 35 Abs 2 RGBl 1874/50: „Alle einen kirchlichen Gegenstand betreffenden Rechte und Verbindlichkeiten, welche in den Gesetzen den Gemeinden zugesprochen oder auferlegt werden, gebühren und obliegen den Pfarrgemeinden.“
14
204
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also unscharf und interpretationsbedürftig. – Die zentrale Quelle des Privatrechts bildete 1847 das ABGB.15 Auf das „allgemeine bürgerliche Recht“ verweist etwa auch Artikel 9 FRP. Die Frage nach dem Gemeindebegriff des ABGB ist schon seit vielen Jahren gründlich untersucht: „Unter dem Begriff ‚Gemeinde’ versteht das ABGB keineswegs die Ortsgemeinde oder ein ähnliches territoriales Gebilde“, sondern es „gilt ... als ‚Gemeinde’ eine Moralische Person, die als ‚Gemeinschaft’, ‚Körper’ aus ‚Mitgliedern’ (§§ 337, 1482), ‚Gliedern’ (§§ 539, 867) besteht, durch ‚Stellvertreter’ handelt (§ 867), über ein eigenes ‚Gemeindevermögen’ bzw. über ‚Gemeindegüter’ verfügen kann (§ 290) und von ‚weltlichen und (= oder) geistlichen Vorsteher(n)’ (§ 189) geleitet wird.“16 Demnach kennzeichnet der Begriff „Gemeinde“ also jede organisierte Personenmehrheit. Dies kann durch zahllose zeitgenössische Quellen belegt werden; schon die Register zum ABGB oder zur PGS zeigen die Vielfalt verschiedener „Gemeinden“. Zitiert sei hier bloß, stellvertretend für dieses Verständnis, der wichtigste Redaktor und erste Kommentator des ABGB, Franz von Zeiller. Er erläuterte zu § 27 ABGB:17 „Die unter öffentlicher Authorität zu gemeinnützigen Zwecken verbundenen Gemeinden, wie die (!) der Städte, Märkte, Dörfer, oder der geistlichen Gemeinden, haben ihre besondere, durch politische Gesetze und Statuten bestimmte Verfassung, sie stehen, weil die einzelnen Glieder ihre in dem Gemeindevermögen begriffenen Rechte nicht verwahren können, unter einem besondern Schutze des Staates, sind in der Verwaltung ihres Vermögens eingeschränkt und genießen besondere (auf Sachen) angewandte Personen-Rechte. Die Vorsicht fordert demnach, daß diejenigen, welche mit Gemeinheiten (!) Rechtsgeschäfte eingehen, sich zuvor genaue Kenntniß erwerben, ob und inwieweit dieselben oder ihre Vorsteher in der Verwaltung des Vermögens eingeschränkt oder begünstiget seyn.“18 Zeiller Zur Inkraftsetzung des ABGB in Tirol: MARTIN P. SCHENNACH, „Kein Volk österreichischer Staaten kömmt einer ähnlichen Mannigfaltigkeit einheimischer Rechte und Gewohnheiten gleich.“ Von der Rechtsvielfalt zur Rechtseinheit – der lange Weg Tirols zum ABGB, Tiroler Heimat 2008, 249–279.
15
MwN WILHELM BRAUNEDER, Von der moralischen Person des ABGB zur Juristischen Person der Privatrechtswissenschaft, in: WILHELM BRAUNEDER, Studien II: Entwicklung des Privatrechts (Frankfurt aM 1994) 159–200, Zitat 165. 16
§ 27 ABGB lautet: „In wie fern Gemeinden in Rücksicht ihrer Rechte unter einer besondern Vorsorge der öffentlichen Verwaltung stehen, ist in den politischen Gesetzen enthalten.“ 17
18
FRANZ ZEILLER, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch I
Überlegungen zur „Gemeinde“ der Tiroler Forstregulierung
205
kennt also eine Vielzahl verschiedener Gemeinden, für die er bloß Beispiele anführt („wie die“) und die er synonym auch als „Gemeinheiten“ bezeichnet. In diesem Sinne verweist auch das Register von Zeillers Kommentar unter „Gemeinden“ auf „Gesellschaft“ und umgekehrt von „Gesellschaft“ auch auf „Gemeinden“ und „Gemeinschaft“.19 Nicht wenige der ABGB-Bestimmungen beziehen sich beispielsweise auf die von Zeiller genannten „geistlichen Gemeinden“.20 Auch die Literatur zu einer der im Vormärz umstrittensten Fragen bei der Auslegung des ABGB, nämlich zur Redlichkeit oder Unredlichkeit des Besitzes von „Gemeinden“, zeigt deutlich, dass man dabei an ganz unterschiedliche Verhältnisse dachte.21 Gerade diese mögliche Vielfalt machte es erforderlich, im Rahmen des FRP die zweifellos recht sperrige Formulierung von den „bisher zum Holzbezuge berechtigten, oder mit Gnadenholz betheilten Gemeinden“ mehrfach zu wiederholen bzw abzuwandeln („holzbezugsberechtigte Gemeinden“22) und zu betonen, dass das Eigentum „den bisher zum Holzbezuge berechtigten oder mit Gnadenholzbezügen betheilten Gemeinden, als solchen“ (!) überlassen werden sollte.23 Im Zuge der Forstregulierung tritt uns unter dem Etikett „Gemeinde“ also die Gemeinschaft der (früher nur) Holzbezugsberechtigten gegenüber.24 Rechtsansprüche „anderer Gemeinden“ waren gegen die neuen Eigentümer geltend zu machen.25
(Wien/Triest 1812) 132 f. FRANZ ZEILLER, Alphabetisches Register zu dem Commentare über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch (Wien/Triest 1813) 99, 104 f; ebenso synonym erschienen die Begriffe „Gemeinde“ und „Gesellschaft“ bei JOSEPH LINDEN, Das früher in Österreich übliche gemeine und einheimische Recht nach der Paragraphenfolge des neuen bürgerlichen Gesetzbuches I (Wien/Triest 1815) 101. 19
Vgl dazu auch GEORG SCHEIDLEIN, Handbuch des österreichischen Privatrechts I (Wien/Triest 1814) 22. 20
THOMAS DOLLINER, Über die Beurtheilung der Redlichkeit oder Unredlichkeit des Besitzes einer Gemeinde nach dem § 337 des b. G. B., Zeitschrift für österreichische Rechtsgelehrsamkeit und politische Gesetzkunde 1835/II, 103–130; FRANZ MINASIEWICZ, Noch Einiges über die Redlichkeit und Unredlichkeit des Besitzes einer Gemeinde, ebenda 1836/I, 100–103; THOMAS DOLLINER, Gegenbemerkungen zur (…) Abhandlung über die Redlichkeit des Besitzes bey Gemeinden, ebenda 1836/I, 104–114. 21
22
ProvGSTirVbg 1847 / XXXVI, Art 9.
23
ProvGSTirVbg 1847 / XXXVI, Art 6.
24
Vgl AVA, HK, Karton IV G 11, 300/3 vom 25. 9. 1842.
25
ProvGSTirVbg 1847 / XXXVI, Art 9.
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Man mag in diesem Zusammenhang, unter anderem gestützt auf eine unfundierte Behauptung Stephan Falsers26 von 1932, an jene Gemeinden denken, die mittels kaiserlicher Entschließung vom 14. August 1819 zur „Regulierung des Gemeindewesens in Tirol und Vorarlberg“27 geregelt wurden. Mit diesen gab es tatsächlich auch Gemeinden mit öffentlich-rechtlichen Funktionen (zB §§ 12 bis 14) und eigens bestimmten Funktionären; die genannte Norm sah einen „Gemeindevorsteher“, zwei „Gemeindeausschüsse“, einen „Gemeindecassier“ und einen eigenen „Steuereintreiber“ vor (§§ 5 f). Allerdings wurden gerade diese Organe nicht mit Aufgaben betraut: Der von den Wiener Zentralstellen für die Forstservitutenablösung entworfene „Verhandlungsmodus“28 macht dies deutlich: Für diese Ablösungsverfahren hatten die „Gemeinden“ nämlich Vertreter zu wählen, die als Bevollmächtigte aufzutreten und die Ansprüche der Berechtigten anzumelden hatten; es handelte sich dabei eben um „Stellvertreter“ im Sinne des § 867 ABGB. Man griff also nicht auf gesetzlich bereits konstituierte Organe, nämlich die Funktionäre der 1819 „regulierten“ Gemeinden als solche, zurück. Dies wäre wohl geschehen, hätte man diese mit öffentlich-rechtlichen Funktionen ausgestattete Gemeinde auch zur Eigentümerin aufgrund des FRP machen wollen; statt dessen sah man eigens eine besondere Wahl von „Vertretern“ – übrigens in einer von der Zahl der Funktionäre der 1819 regulierten Gemeinden sogar abweichenden Anzahl – vor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Anordnung solch spezieller Wahlvorgänge nicht in eine Zeit besonders hochentwickelter basisdemokratischer Tendenzen fiel, sondern in die Blütezeit des vormärzlichantidemokratischen Systems. „Vertreter“ mussten demnach einfach deshalb gewählt werden, weil die (erst durch das FRP konstituierten) „holzbezugsberechtigten Gemeinden“ solche noch nicht hatten. Die Bevollmächtigung wurde von den Unterzeichnern vielfach mit einer typisch privatrechtlichen Formulierung „für sich und ihre Erben“ erteilt; auch sollten die Bevollmächtigten „alles vor[…]kehren, damit sie [dh die Unterzeichner und ihre Erben] in dem Besitze ihrer Güter verbleiben können“. Dazu wurden die „Gewählten ... ermächtigt, alles das anzubringen, was ihnen von der Gemeinde oder von den Einzelnen aufgetragen wird“; sie STEPHAN FALSER, Wald und Weide im tirolischen Grundbuch2 (Innsbruck 1932) 20, lieferte keinerlei Begründung für seine Meinung, die mit dem Wortlaut des FRP in klarem Widerspruch steht und offenkundig in Unkenntnis der (hier verwendeten) archivalischen Materialien gefasst wurde!
26
27
ProvGSTirVbg 1819 / CLXVIII.
28
AVA Wien, HK, 20968/1847.
Überlegungen zur „Gemeinde“ der Tiroler Forstregulierung
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sollten nach ihrem „besten Wissen und Gewissen im Interesse der Gemeinde“ tätig werden – damit war, wenngleich indirekt, die aus der Summe individueller Berechtigungen konstruierte, überzeitliche Gemeinde definiert.29 Diesen privatrechtlich-korporativen Charakter der FRP-Gemeinde zeigen auch die Bestimmungen über die „Ausübung der Weide ... in den vorbehaltenen Staatswaldungen“ gemäß Punkt „Drittens“ der (formularhaften) Vergleichsprotokolle. Diese sollte in der Regel „nach der bisherigen Übung“ gestattet werden, und zwar „mit der Beschränkung auf jenen Viehstand, welchen die Gemeinde auf ihren eigenen Gütern zu überwintern vermag“. Gelegentlich wurde diese Standardformulierung durch Bezugnahme auf die bis dahin „versteuerten Grasrechte“ ersetzt; dies resultierte möglicherweise daraus, dass die erteilte Vollmacht hinsichtlich der Viehauftriebsrechte den Verhandlungsspielraum der Bevollmächtigten durch die „ausdrückliche Bestimmung“ einschränkte, „dass so viel Austriebsrecht erhalten werde, als Vieh auf den Gütern der Gemeinde überwintert werden kann“.30 Wie auch immer: Einen derart zu überwinternden eigenen Viehstand als Ausdruck eines eigenen Wirtschaftsbetriebes hatte eine „Gemeinde“ als solche in der Regel nicht – „Gemeinde“ ist hier eben die Summe der Berechtigten. Die Bezugnahme auf die der gesamten Aktion ab 1847 letztlich zugrundeliegenden individuellen Rechtspositionen wird nicht zuletzt dann deutlich, wenn „mit den ... gewählten Bevollmächtigten eine Ausgleichung nicht zu Stande käme“: Diesfalls sollte „die individuelle Berufung der Servitutsberechtigten, oder mit Gnadenholzbezügen betheilten Gemeindeglieder vorbehalten“ bleiben „und dann über die Annahme der von der Kommission vorgeschlagenen Abfindung die Stimmen der Mehrheit der als servitutsberechtigt oder bisher mit Gnadenbezügen betheilt anerkannten Gemeinde Glieder für die ganze Gemeinde bindend erscheinen, die formellen Vergleichsabschlüße aber in diesem Falle, wo dieselben nicht mit den Bevollmächtigten, sondern unmittelbar mit der Mehrzahl der Gemeindeglieder zu Stande kommen, von eben dieser Mehrzahl gefertigt werden“.31
So die Vollmacht von Unterlangkampfen. Noch deutlicher wird dieser „private“ Charakter der Bevollmächtigung in andernorts verwendeten Vollmachtsformularen, wobei die Vollmacht darauf lautete, „Sie (!) Gemeinde resp. sie Gemeindeglieder“ – letztere bildeten also die Gemeinde – zu vertreten: zB Vollmacht Lermoos (Beilage zum Vergleichsprotokoll Lermoos vom 20. 10. 1848). 29
30
Vollmacht Unterlangkampfen.
31
TLA Innsbruck sub Forst 20.16.413 IN Zl 9357 ex 1847.
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III. Gründe für „Gemeinde“-Eigentum im Rahmen des FRP Im FRP tritt uns als „Gemeinde“ – allenfalls, jedoch nicht zwingend, auch unter dem Etikett „Gemeinde“ – also die Gemeinschaft der (zuvor) Bezugsberechtigten gegenüber,32 die – ähnlich wie bei der Regulierungsgesetzgebung des ausgehenden 19. Jahrhunderts – im Gegenzug für den Verlust ihrer bisherigen (individuellen) beschränkten privatrechtlichen Ansprüche ein (gemeinschaftliches) moderneres Eigentumsrecht erhielten. In diesem Sinne sprechen archivalische Quellen ausdrücklich von „Servitutenablösung“ bzw von Abfindung der bisher Servitutsberechtigten.33 Dieses Eigentumsrecht sollte allerdings im Sinne einer Nachhaltigkeit der Forstbewirtschaftung „nur unter den Beschränkungen genossen werden dürfen, welche die zum Behufe der Erhaltung der Kultur und Bestände der Forste Tirols sobald als möglich zu erlassende Forstpolizei ... feststellen“ würde.34 Solche Nachhaltigkeitsüberlegungen sind nun auch dafür verantwortlich, dass die Übertragung nicht an einzelne, bis dahin berechtigte Individuen oder Güter erfolgte, sondern an die holzbezugsberechtigten Gemeinden „als solche“: Damit wurde nämlich einerseits die Verfügungsmöglichkeit der Einzelnen beschränkt, indem man sie in einer gesetzlichen Zwangskorporation zusammenschloß (in deren Rahmen sie sich schon zu Beginn Mehrheitsbeschlüssen zu beugen hatten), andererseits blieb eine Aufsicht der „Landesstelle als Kuratelsbehörde“35 gewährleistet. Die Summe der individuellen, beschränkten Berechtigungen wurde also in Eigentum umgewandelt; die konkreten Berechtigten behielten ihre Rechte, die sich aber nun gegen die aus ihnen genossenschaftlich gebildete „Gemeinde“ als überzeitliche Eigentümerin richteten. Diese Konstruktion schuf eine dem „geteilten Eigentum“ verwandte genossenschaftliche Struktur, wobei die auf Dauer36 eingerichtete „Gemeinde“ als Eigentümerin, die einzelnen Angehörigen als Nutzungsberechtigte erscheinen. Nur diese Struktur wahrte das Interesse der Nachhaltigkeit; bei einem modernen (romanistisch geprägten) Quotenmiteigentum wären durch die potentielle Kommerzialisierung der Anteile zahllose Probleme
32
Vgl AVA, HK, Karton IV G 11, 300/3 vom 25. 9. 1842.
33
Siehe oben Fußnote 31.
34
ProvGSTirVbg 1847 / XXXVI, Art 7.
ProvGSTirVbg 1847 / XXXVI, Art 8; vgl die „besondere Vorsorge der öffentlichen Verwaltung“ in § 27 ABGB.
35
Vgl die Charakterisierung als „unsterblich“ bei FERNAND STAMM, Das Gemeindegesetz vom 17. März 18492 (Prag 1850) 53.
36
Überlegungen zur „Gemeinde“ der Tiroler Forstregulierung
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entstanden, etwa aufgrund des jedem Miteigentümer zustehenden Teilungsanspruchs (§ 830 ABGB) mit der (im Falle agrargemeinschaftlicher Verhältnisse für die übrigen Berechtigten existenzbedrohenden) Gefahr einer Zivilteilung (§ 843 ABGB). Die Bestimmungen über das Miteigentum (16. Hauptstück des ABGB) waren und sind für derartige Verhältnisse ungeeignet, sodass im Rahmen des FRP eben nicht gewöhnliches Miteigentum, sondern Eigentum einer „Gemeinde als solche“ geschaffen werden sollte.
IV. FRP-„Gemeinde“ und „politische Ortsgemeinde“ A. Zur Entstehung der „politischen Ortsgemeinde“ Die Annahme,37 1847 habe „die politische Gemeinde“ längst existiert, nämlich in Gestalt der 1819 regulierten Gemeinde, würde schon nach den oben getroffenen Feststellungen für die Frage der Eigentumszuweisung an die „holzbezugsberechtigte Gemeinde“ als moralische Person im Sinne des ABGB ohne Bedeutung sein. Um aber jeden Zweifel an der Person des Eigentümers auszuschließen, ist auch noch darauf hinzuweisen, dass nach der einhelligen und bislang unangefochtenen Verfassungsgeschichtslehre38 „die politischen Gemeinden“ erst durch das Provisorische Gemeindegesetz 1849 entstanden sind: „Die ‚Ortsgemeinde’ im heutigen Verständnis wurde in Österreich erst 1849 begründet; vorher gab es nicht eine ‚Politische Gemeinde’ ..., sondern mehrere wie etwa die Katastralgemeinde, die Steuergemeinde, denen es aber an Selbstverwaltung ermangelte! Vor allem aus diesem Grund kann die ‚Gemeinde’ des ABGB mit der Gemeinde im heutigen Sprachgebrauch nicht gleichgestellt
37
Vgl oben bei Fußnote 26.
WILHELM BRAUNEDER, Österreichische Verfassungsgeschichte10 (Wien 2005) 130, bezeichnet die „Gemeinden als einheitliche Lokalgewalten“ für das Land als „etwas völlig Neues“; mit „der Errichtung der Gemeinden im heutigen Österreich wird 1850 (…) begonnen“. OSKAR LEHNER, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte4 (Linz 2007) 196 f; ERNST C. HELLBLING, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte2 (Wien-New York 1974) 367 f; WERNER OGRIS, Die Entwicklung des österreichischen Gemeinderechts im 19. Jahrhundert, in: WILHELM RAUSCH (Hrsg), Die Städte Mitteleuropas im 19. Jahrhundert (Linz 1983) 83–101; RUDOLF HOKE, Gemeinde, in: HRG1 I, 1494–1496; vgl auch HANS NEUHOFER, Gemeinderecht2 (Wien-New York 1998) 3 f. Selbst nach WALTER SCHIFF „schuf [der Gesetzgeber von 1849] die moderne polit. Ortsgemeinde“: WALTER SCHIFF, Agrarische Gemeinschaften, in: ERNST MISCHLER / JOSEF ULBRICH (Hrsg), Österreichisches Staatswörterbuch I2 (Wien 1905) 73–84, hier 75. 38
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werden.“39 Ergänzend sei bemerkt, dass das Gemeindegesetz 1849 neben der „Ortsgemeinde“ auch noch die „Bezirksgemeinde“ und die „Kreisgemeinde“ kannte. Der Begriff „Gemeinde“ fand also selbst im öffentlichen Recht 1849 noch nicht ausschließlich für eine „politische“ Gemeinde im Sinn der heutigen Ortsgemeinde Verwendung. Erst in den 1860er-Jahren zeichnete sich diese Begriffsverengung ab; das Gemeindegesetz 1862 sah, an das Provisorische Gemeindegesetz von 1849 anknüpfend, noch die Möglichkeit zur Einrichtung von „Bezirksvertretungen“ vor, wovon in Tirol mit einem Gesetz vom 29. 11. 1868 (LGBl 1868/56) Gebrauch gemacht wurde.40 Diese „Bezirksvertretungen“ galten aber nur noch umgangssprachlich als „Bezirksgemeinden“.41 Die ab 1849 konstituierten Ortsgemeinden traten an die Stelle der in Tirol seit 1819 regulierten und mit einzelnen öffentlichen Aufgaben betrauten „Gemeinden“, diese bestanden also nicht weiter. Dementsprechend lösten neue Organe die vom Gemeinderegulierungspatent 1819 vorgesehenen Funktionäre ab und die Ortsgemeinden von 1849 übernahmen auch das allenfalls vorhandene Vermögen der 1819 regulierten Gemeinden.42 Dieser Vermögensübergang betrifft allerdings nicht jedes einer „Gemeinde“ gehörige Vermögen, wie schon am Fortbestand des Vermögens von Pfarrgemeinden deutlich wird. B. Zur Abgrenzung von Gemeindegut der „politischen Ortsgemeinde“ und Eigentum anderer „Gemeinde“-Gemeinschaften Der natürliche Wirkungskreis der freien Gemeinde „umfaßt[e] Alles, was das BRAUNEDER, Von der moralischen Person 165, Fußnote 21; vgl LEHNER, Verfassungsgeschichte 196, Fußnote 54: „Die Ortsgemeinden waren nicht identisch mit den für die Einhebung der Grundsteuer bestehenden Katastralgemeinden.“ – 1917 stellte man im Ministerium des Innern aus Anlaß eines konkreten Falles historische Nachforschungen über die „Gemeindeverhältnisse (…) in Tirol“ an und kam zum Ergebnis, „für die früheren Zeiten [könne] nur auf Grund spezieller Untersuchung jedes einzelnen Falles ein Urteil über das Verhältnis zweier Gemeinden gefällt werden. Steuergemeinde, Wirtschafts- und politische Gemeinde fallen in jener Zeit nicht immer zusammen, sondern stehen zu einander in verschiedenartig abgestuftem Verhältnisse“: AVA Wien, Ministerium des Inneren (MdI), 14181/1917.
39
BRAUNEDER, Verfassungsgeschichte 152; Das Gemeinde-Gesetz vom 5. März 1862 (MTA IX, Wien 1869) 191 ff.
40
41
Gemeinde-Gesetz 1862 (MTA IX) 312 (Registerverweis „Bezirksgemeinde“).
Vgl JOSEF HÄRDTL, Der Wirkungskreis der Ortsgemeinden, nach dem provisorischen Gemeindegesetze vom 17. März 1849 (Wien 1851) 26 ff. Eine konkrete Norm für diesen Vermögensübergang fehlt jedoch, man wird wohl Okkupation anzunehmen haben. 42
Überlegungen zur „Gemeinde“ der Tiroler Forstregulierung
211
Interesse der Gemeinde zunächst berührt, und innerhalb ihrer Grenzen vollständig durchführbar ist.“43 Die „Grenzen“ ergaben sich aus § 1: „Unter der Ortsgemeinde versteht man in der Regel die als selbständiges Ganze[s] vermessene Katastralgemeinde, insoferne nicht mehrere derselben bereits factisch eine einzige selbstständige Ortsgemeinde bilden.“ Auch die Tiroler Gemeindeordnungen von 1866 (LGBl 1866/1) und 1928 (LGBl 1928/36) nehmen bei Bestimmung des selbständigen Wirkungsbereichs Bezug darauf, was die Interessen der Gemeinde zunächst berührt und innerhalb ihrer Grenzen durch eigene Kräfte besorgt werden kann. Dazu konnte der Gemeinde als Selbstverwaltungskörper Eigentum zustehen, wofür das Provisorische Gemeindegesetz 1849 detaillierte Bestimmungen enthielt (§§ 72 ff). Die Finanzierung der Gemeinden sollte teils durch Vermögenserträgnisse, teils durch Entgelte für Nutzungen des Gemeindegutes, teils durch Umlagen auf direkte und indirekte Steuern erfolgen.44 Vom „Gemeindevermögen“ war allerdings das Vermögen einzelner Klassen von Gemeindeangehörigen zu unterscheiden. § 26 des Provisorischen Gemeindegesetzes 1849 hielt dazu eigens fest: „Die privatrechtlichen Verhältnisse überhaupt und insbesondere die Eigenthums- und Nutzungsrechte ganzer Classen oder einzelner Glieder der Gemeinde bleiben ungeändert.“ (Wortident ist später § 12 Tiroler Gemeindegesetz 1866, LGBl 1866/1.) Schon die Zeitgenossen ahnten die hier verborgene Gefahr von Begriffsverwirrung, denen die Staatsverwaltung bald entgegenzutreten trachtete: Ein Erlass vom 11. Dezember 1850 (Z. 13353) lieferte eine „Anleitung zur Verwaltung des Gemeinde-Eigenthums“ und erläuterte dabei auch die Bestimmung des § 26 Prov. Gemeindegesetz 1849: „Zum Gemeinde-Eigenthume können nicht jene Sachen gerechnet werden, welche gewissen Classen von Gemeindegliedern angehören. So haben in manchen Gemeinden bloß die Bauern mit Ausschluß der Häusler den Genuß gewisser Waldungen, Weiden etc, so haben an anderen Orten Zünfte, Innungen, die Besitzer gewisser Häuser, wie z.B. die brauberechtigten Bürger, ein eigenes Vermögen oder besondere Rechte. Hierauf bezieht sich der § 26 des Gemeindegesetzes, der verfügt, daß die privatrechtlichen Verhältnisse überhaupt und insbesondere die Eigenthums- und Nutzungsrechte ganzer Classen, oder einzelner Glieder der Gemeinde ungeändert bleiben.“45 Diese ministerielle Erläuterung zeigt, dass die Gemeindegesetzge43
Art III Abs 1 des Provisorischen Gemeindegesetzes 1849.
44
STAMM, Gemeindegesetz 51 ff.
§ 8 des Erlasses des MdI vom 11. 12. 1850, Zahl 13353: Gemeinde-Gesetz 1862 (MTA IX) 224 ff (226). – Kritisch zur Formulierung des § 26 JULIUS WEISKE, Über 45
212
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bung eben gerade keine „Kommunalisierung“ bisheriger Privatrechtspositionen bezweckte, sondern deren Bewahrung anerkannte. Auch die zeitgenössische juristische Literatur widmete sich dieser Abgrenzungsproblematik: „Die meiste Schwierigkeit wird hier die Trennung des Gemeindevermögens von dem Vermögen einzelner Classen der Gemeindeglieder bieten, weil man es auch Gemeindevermögen nannte (!), ohne daß es diesen Namen im Sinne des G[emeinde-]Gesetzes verdient“.46 „Wir finden in den Gemeinden, besonders in größeren Stadtgemeinden wieder besondere Gesellschaften, Innungen, Zünfte, und Genossenschaften, welche eigene, selbstständige Zwecke verfolgen, die mit jenen der Gemeinde nicht zusammenfallen, z.B. in Dörfern die Bauern, welche gewisse sogenannte Gemeindegründe (!), Felder, Waldungen, Wiesen, Hutweiden, Fischteiche als eine besondere Gemeinschaft genossen und benützt haben, wovon die Häusler oder andere Gemeindeglieder ausgeschlossen waren. Das Recht ist dort mit dem Besitz des Hauses verbunden, der Auszügler verliert es. ... Obgleich diese Rechtsverhältnisse hier und dort mit dem Gemeindewesen in Verbindung stehen, so sind doch die Rechte dieser einzelnen Verbindungen und Classen von Gemeindegliedern streng abzuscheiden aus den allgemeinen Rechtsverhältnissen der Gemeinde, und sie unterliegen nicht diesem Gesetze“.47 Die österreichische Gesetzgebung war mit dieser Abgrenzung nicht allein, diese war „gemeines deutsches Privatrecht“: „Wo nun ... die politische Ortsgemeinde eingeführt ist, da bleibt jenen Theilnehmern [an anderen Gemeinden] ihr besonderes Recht vorbehalten; sie bilden wie die altbegründeten agrarischen Corporationen regelmäßig innerhalb der neuen Gemeinde eine eigene Privatgenossenschaft, welche ihre bedeutenderen Interessen selbständig wahrnehmen kann.“48 Es galt daher auch außerhalb Österreichs „zwei Arten der Gemeindegüter in derselben Gemeinde“ zu unterscheiden: „So findet es sich denn nun auch nicht selten, daß in einer Ortsgemeinde ein doppeltes Gemeindevermögen im weiteren Sinne vorhanden ist, nämlich das wirkliche Gemeindegut und die alten gemeinen Güter, die den Altberechtigten verblieben.“49
Gemeindegüter (Leipzig 1849) 145 ff. 46
FERNAND STAMM, Die wichtigsten Angelegenheiten der Gemeinde (Prag 1850) 23.
47
STAMM, Gemeindegesetz 27.
48
GEORG BESELER, System des gemeinen deutschen Privatrechts2 (Berlin 1866) 302.
JULIUS WEISKE, Über Corporationen nach römischen und teutschen Rechtsbegriffen, sowie über Gemeindegüter und deren Benutzung durch die Mitglieder (Leipzig 1847) 176 f. Vgl in diesem Sinne auch WEISKE, Gemeindegüter 12 f (allgemein), 145 ff 49
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Es stand also 1849/50 (und auch noch in den folgenden Jahrzehnten) außer Zweifel, dass es neben dem gemeinderechtlichen Gemeindevermögen auch ein nicht den eben erst neu konstituierten politischen Ortsgemeinden gehöriges „Gemeindevermögen“ wie insbesondere „Gemeindegründe“ geben konnte. In diesem Sinne erweist sich das Eigentum der FRP-„Gemeinde“ als Beispiel für Vermögen einer „gewissen Classe von Gemeindegliedern“ der politischen Ortsgemeinde, einer „agrarischen Corporation“. Diese Abgrenzung des Gemeindevermögens der politischen Ortsgemeinde von anderen „Gemeinde“-Gemeinschaften hat eine hier ebenfalls beachtenswerte Kehrseite: Es gehört nämlich zu den wesentlichen Charakteristika des Gemeindeeigentums der politischen Ortsgemeinde, dass alle Gemeindeglieder daran Anteil haben. Dies kommt etwa in der erwähnten „Anleitung zur Verwaltung des Gemeinde-Eigenthums“ von 1850 zum Ausdruck: § 4 dieses Erlasses definiert als „Gemeindegut im weiteren Sinne“ „alle der Gemeinde eigenthümlichen Sachen, die entweder zum Gebrauche eines Jeden in der Gemeinde, oder ausschließend nur zum Gebrauche der Gemeindeglieder dienen“. § 6 nennt als Beispiel für „Gemeindegut im engeren Sinne“ unter anderem „Viehweiden, insoweit jedes (!) Gemeindeglied berechtiget ist, sein Vieh darauf zu treiben“.50 Die zeitgenössische Literatur sah das ebenso: „Immer aber bleibt es ein wesentliches Merkmal des Gemeindeeigenthumes, daß alle Gemeindeglieder daran Antheil haben. Wo dieses nicht der Fall ist, wo Gemeindeglieder rechtlich von der Benützung eines Gutes, von dem Rentenbezug oder Nutzen eines Vermögens ausgeschlossen sind, da haben wir es nicht mehr mit einem Eigenthum der Gemeinde, sondern nur mit einem bald größeren bald kleineren GesellschaftsEigenthum zu thun.“51 Diese allgemeine Aussage52 wurde sogleich durch ein Beispiel illustriert: „In den Landgemeinden ist der Antheil an dem Gemeindeeigenthume gewöhnlich nur mit dem größern Grundbesitze der Hübner oder Lehner verbunden. Die Kleinhäusler ... waren entweder ganz ausgeschlossen oder sie waren nur zur Benützung einiger Theile des Gemeindegutes z.B.
(Österreich). Vgl oben Fußnote 45; weiters: Das Gemeinde-Gesetz vom 17. März 1849 sammt allen dazu erflossenen Nachträgen und Erläuterungen (Wien 1861) 44. 50
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STAMM, Angelegenheiten 24.
Auch sie steht mit dem (zeitgenössisch formulierten) „gemeinen deutschen Privatrecht“ in Einklang: Ein „Eigenthum der Gemeinde kann nur angenommen werden, insofern sie eben aus sämmtlichen Berechtigten gebildet wird“: BESELER, System 302. 52
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der Brunnen, der Hutweide zugelassen.“53 Auch das Vermögen der FRP„Gemeinde“ ist als solches „Gesellschafts-Eigenthum“ aufzufassen. Waren also nicht alle „Gemeindeglieder“ der politischen Ortsgemeinde berechtigt, so schloss dies die Eigenschaft als „Gemeindegut“ der politischen Ortsgemeinde aus.54 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Zahl der Vollmachtunterzeichner für das Verfahren der Forstservitutenablösung in aller Regel deutlich unter der Einwohnerzahl der jeweiligen politischen Ortsgemeinde blieb.55 Es erscheint als Widerspruch zur allgemeinen Lebenserfahrung, dass diese Differenz auf bloßes Desinteresse potentieller „Profiteure“ an der geplanten Eigentumsübertragung zurückzuführen sein könnte. Die Zahlendiskrepanz zeigt vielmehr, dass die FRP-Gemeinde von 1847 eben deutlich kleiner als die 1849 begründete politische Ortsgemeinde war, das Vermögen der privatrechtlich-korporativen FRP-Gemeinde daher kein Gemeindegut im Sinne der gemeinderechtlichen Bestimmungen sein konnte.56 C. Zum Sonderproblem „Fraktion“ Die berechtigte „Gemeinde“ trägt in manchen Fällen den Namen einer
53
STAMM, Angelegenheiten 24.
Vgl zur verwandten Thematik von „Jagdgemeinde“ und Gemeindejagd mwN GEKOHL, Otto Bauer und das Jagdrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der Gemeindejagd, Zeitschrift für Jagdwissenschaft 40 (1994) 253–262; GERALD KOHL, Zur Rechtsnatur des österreichischen Jagdrechts, JBl 1998, 755–767. 54
RALD
So war im Fall von Unterlangkampfen die Vollmacht von bloß 36 Personen (einschließlich der dem Kreis der Berechtigten entnommenen Bevollmächtigten) unterzeichnet worden. Rund 20 Jahre später zeigte die Volkszählung von 1869 für die politische Ortsgemeinde Langkampfen 421 männliche und 407 weibliche Einwohner; für diese 828 Einwohner wurden 131 Häuser gezählt, also im Vergleich zu den 36 Unterzeichnern der Vollmacht die mehr als dreieinhalbfache Zahl von Einheiten (363,88%): Orts-Repertorium der gefürsteten Grafschaft Tirol und Vorarlberg (Innsbruck 1873) 34. 55
Dies bestätigt auch der Umstand, dass „den Ansassen, welche keine Wälder besitzen, [weiterhin] der Bezug des zum Haus- und Gutsbedarf benöthigenden [recte: benötigten] Holzes in den Staatsforsten eingeräumt“ war: SCHOPF, Forstverfassung 204. Wäre im Rahmen der Forstregulierung das Waldeigentum an die politischen Gemeinden übertragen worden, hätte an derartigen Einforstungsrechten kein Bedarf bestanden. – Widersprüchlich EBERHARD W. LANG, Tiroler Agrarrecht II: Das Recht der Einforstungsrechte (Wald- und Weideservituten) und der agrargemeinschaftlichen Grundstücke (= Institut für Föderalismusforschung, Schriftenreihe Verwaltungsrecht 2, Wien 1991) 25, 27. 56
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„Fraktion“.57 Im Rahmen des öffentlichen Gemeinderechts setzte die Bedeutung dieses Begriffes erst mit dem Provisorischen Gemeindegesetz 1849 ein:58 Fraktionen durften demnach nur bei „bedeutender Volkszahl“ gebildet werden, was sich nicht nur aus dem ausdrücklichen Wortlaut, sondern auch aus ihrer Zweckbestimmung, nämlich der „Erleichterung der Verwaltung“ ergab. Die Fraktionsbildung trat nicht ex lege ein, sondern erforderte ein Handeln der Gemeinde sowohl zur Begründung der Fraktionen („sich in Fractionen zu theilen“) als auch bei der Definition ihrer jeweiligen Aufgaben („einen gewissen Wirkungskreis zuzuweisen“). Die Geschichte des Fraktionsbegriffs ist zwar erst zu schreiben, fest steht aber, dass dieser Begriff – neben jenem der „Parzelle“59 – bereits von der Waldservituten-Ausgleichungskommission verwendet wurde.60 Als Synonyme für „politische“ Gemeinden, deren Vorläufer oder Teile waren beide Ausdrücke hingegen zunächst unbekannt, wie einschlägige Untersuchungen schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts gezeigt haben.61 Vgl in diesem Zusammenhang Punkt 7 Absatz 2 der Verordnung des Justizministeriums vom 19. 10. 1897, Z. 23089 (Verordnungsblatt des kk Justizministeriums 1897/37): „Von dem Eigenthum der Gemeinden sind jene Liegenschaften, die allenfalls einzelnen Gemeindefractionen oder gewissen Classen von Gemeindemitgliedern als Sondervermögen gehören (…) genau auseinanderzuhalten.“ 57
§ 5 RGBl 1849/170: „Gemeinden mit bedeutender Volkszahl steht das Recht zu, sich in Fractionen zu theilen, und denselben zur Erleichterung der Verwaltung einen gewissen Wirkungskreis zuzuweisen.“ – In den GRP-Gemeinden von 1819 hatte es keine Fraktionen gegeben. Vgl weiters § 65 LGBl/Tirol 1866/1; LGBl/Tirol 1893/32 (dieses sogenannte „Fraktionsgesetz“ setzte Fraktionen nur mehr voraus); LGBl/Tirol 1895/19. 58
Er findet wiederholt Verwendung zB in den Forsteigentumspurifikationstabellen 8 ff des LG Silz; später in § 4 der Tiroler Gemeindeordnung LGBl 1866/1: „Die Bestimmungen der §§ 2 und 3 [Vereinigung und Trennung von Ortsgemeinden] finden auch Anwendung bei der Trennung der Parzellen von Gemeinden und deren Vereinigung mit anderen Gemeinden.“ Hier wurde also gerade nicht der Begriff „Fraktion“ gebraucht.
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So etwa im Vergleichsprotokoll betreffend Lermoos vom 20. Oktober 1848, Punkt „Zehntens“, die Fraktionen Obergarten und Untergarten; die Fraktion Obergarten gab sich 1857/58 sogar ein eigenes Statut. Ebenso das Vergleichsprotokoll betreffend Ehrwald, das ein „Eigenthum der Fraktion Ober-Ehrwald“ (Punkt „Zehntens“) von einem „Eigenthum der Fraktion Unter-Ehrwald“ (Punkt „Eilftens“) unterschied. 60
Vgl AUGUST UNTERFORCHER, Wie man in Tirol in früherer Zeit die Theile der Gemeinde oder die Gemeinden selbst benannte, Zeitschrift des Ferdinandeums für Ti61
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Jene „Fraktionen“, die ihre Rechte als private (FRP-)Gemeinden auf die Zeit vor der Möglichkeit zur Begründung politischer Gemeindefraktionen zurückführen können, sind daher von diesen unbedingt zu unterscheiden. Vor „fatalen Verwechslungen“ warnte schon vor über einem halben Jahrhundert Theodor Veiter: „Von diesem [gemeinderechtlichen] Begriff der Ortschaft (Fraktion), der kaum mehr einen Inhalt hat, streng zu unterscheiden ist jene Ortschaft (Fraktion), die Träger von Sondervermögen ist. ... Ortschaften als Träger von Sondervermögen (Fraktionen als Vermögensrechtsträger) sind kein bestimmter Gebietsteil einer Gemeinde, sondern die rechtspersönliche Gemeinschaft der nutzungsberechtigten Bürger räumlich bestimmter, mit den Gemeindegrenzen nicht notwendig zusammenfallender, in der Regel aber nur Gemeindeteile umfassender Gemeindegebiete, wobei diesen Bürgern nach alter Übung Vermögensnutzung und ideeller Anteil an der NutzungsSubstanz des Sondervermögens zukommt.“62 Dabei ist zu beachten, dass nur die gemeinderechtlichen Fraktionen 1938 als „Einrichtungen gemeinderechtlicher Art“ von § 1 der Verordnung über die Einführung der Deutschen Gemeindeordnung im Lande Österreich erfasst waren und beseitigt wurden, nicht aber jegliche, allenfalls „Fraktion“ benannte „moralische Person Gemeinde“ im Sinne des ABGB als Körperschaft des Privatrechts.63 Die durch das FRP konstituierten gesetzlichen Zwangsgenossenschaften waren als „moralische Personen“ des Privatrechts von diesem Akt gemeinderechtlicher Gesetzgebung nicht betroffen. Vermögensgegenstände, die als Eigentum einer derartigen privatrechtlichen Fraktion nicht im Eigentum der gesamten politischen Gemeinde standen, waren daher weder ursprünglich Gemeindegut der politischen Gemeinde noch wurden sie dies in späterer Folge.
rol und Vorarlberg, 3. Folge, 41. Heft, Innsbruck 1897, 187–216; JOSEF EGGER, Die alten Benennungen der Dörfer, Gemeinden und ihrer Unterabtheilungen sowie die gleichlaufenden Namen von Gerichtsbezirken und Gerichtstheilen in Tirol, Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg, 3. Folge, 41. Heft, Innsbruck 1897, 217– 277, erwähnt nur abschließend die „neuen Namen Fractionen oder Parzellen“ (277). THEODOR VEITER, Die Rechtsstellung der Ortschaft (Gemeindefraktion), Zeitschrift für Öffentliches Recht NF 8 (1957/58), 488–511, hier 497 f.
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DRGBl I 1938, S. 1167 f (§ 1). Davon abgesehen traten die vor 1938 bestandenen gemeinderechtlichen Normen 1945 ohnehin wieder (kurzzeitig) in Kraft. 63
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V. Conclusio Die aktuellen Auseinandersetzungen um die Tiroler Agrargemeinschaften machen erneut deutlich, welchen Beitrag die rechtshistorische Perspektive für das Verständnis des geltenden Rechts zu leisten vermag.64 Für die Wissenschaftsdisziplin Rechtsgeschichte bleibt zu hoffen, dass sich diese Erkenntnis wieder stärker verbreitet; dem Jubilar sei gewünscht, dass er an einer solchen Trendumkehr noch Anteil nehmen kann.
Ohne solches Verständnis zu vollkommen verfehlten und den sozialen Frieden gefährdenden Ergebnissen kommend: ALEXANDRA KELLER, Schwarzbuch Agrargemeinschaften (Innsbruck/Wien 2009). 64
Sieben Postulate zur Juristenausbildung in Österreich HEINZ KREJCI, Wien Wenn ein Vertreter des geltenden Rechts die Einladung erhält, an einer Festschrift für einen herausragenden Vertreter der Rechtsgeschichte mitzuwirken, hat er gewisse Probleme. Vom Dilettieren in fremdem Revier ist abzuraten; Bemerkenswertes aus dem eigenen Metier zu berichten, könnte leicht als fehl am Platze empfunden werden. Da Werner Ogris stets nicht nur ein begeisterter Wissenschafter, sondern auch ein engagierter akademischer Lehrer war und immer noch ist, könnten ihn, so dachte ich mir, einige, freilich sehr subjektive Reflexionen über den Stand der österreichischen Juristenausbildung, vor allem in Wien, interessieren, zumal die universitäre See, auf der auch das Schiff der Rechtsfakultäten bemüht ist, Kurs zu halten, in jüngster Zeit immer rauer geworden ist. Im Folgenden werden sieben Postulate zur Juristenausbildung in Österreich zur Diskussion gestellt. Sie sind als kritische Standortbestimmung zu verstehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Postulate durchsetzen werden, ist zwar gering, doch wäre schon viel erreicht, wenn sie zur gegenwärtigen Bewusstseinsbildung beitragen könnten.
I. Wieder mehr Einheitlichkeit statt immer mehr Zersplitterung Die Qualität des Rechtslebens hängt nicht nur von formal-organisatorischen Einrichtungen ab, sondern vor allem auch vom Können und Ethos jener Fachleute, die dazu berufen sind, das Recht zu gestalten, zu wahren und ihm zum Durchbruch zu verhelfen. Das sind nicht nur die Legisten in den Ministerien, sondern vor allem auch die Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Notare und Verwaltungsjuristen. Dass es auch vielen anderen Berufen, wie zB Steuerberatern und Wirtschaftstreuhändern, aber auch Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern von Wirtschaftsunternehmen, gut ansteht, sich im Gefüge der Rechtsordnung korrekt zu bewegen, sollte sich von selbst verstehen, ändert aber nichts daran, dass die letztlich im wahrsten Sinne des Wortes entscheidende Verantwortung
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dafür, dass das Rechtssystem funktioniert, bei den juristischen „Kernberufen“ liegt. Die Qualität der Ausbildung all derer, die diese Berufe ausüben, ist für die Qualität des Rechtsstaats von grundlegender Bedeutung. Für die juristischen Kernberufe sind (wie für vergleichbare andere Berufe wie etwa Ärzte, Apotheker oder Ziviltechniker) einschlägige, spezielle Berufsausbildungen vorgesehen, die den Anwärtern den nötigen „letzten Schliff“ geben sollen. Diese speziellen juristischen Berufsausbildungen setzen voraus, dass ihre Absolventen schon vorweg eine juristische Grundausbildung mitbringen, die man auch „rechtswissenschaftliche Berufsvorbildung“ nennen darf. Sie hat gewissen Mindestanforderungen zu entsprechen. Dies betrifft schon die Art und Weise sowie die Intensität der Vermittlung von Kenntnissen über das österreichische Recht, gilt aber erst recht angesichts des Trends zur Internationalisierung universitärer Ausbildung. Diese sollte österreichweit einheitlich sein, weil die an sie anschließende spezielle Berufsausbildung auf einem Fundament aufbauen muss, das bei allen Kandidaten im Wesentlichkeit gleich ist. Daher müssen entweder die einzelnen Universitäten ein gemeinsames Ausbildungsprogramm haben, oder die Kernberufe müssen sich überlegen, auf welche Weise sie unabhängig von den Universitäten erreichen, dass die Berufsanwärter über eine geeignete rechtswissenschaftliche Berufsvorbildung verfügen.1 Denkbar wäre freilich auch, dass der Staat eine eigene, seinen Zwecken adäquate Rechtsausbildung außerhalb der Universitäten etabliert. Die universitäre juristische Berufsvorbildung hat im Zusammenhang mit der zunehmenden Verselbständigung der Universitäten eine Entwicklung genommen, die das Gebot der Einheitlichkeit rechtswissenschaftlicher Berufsvorbildung zunehmend missachtet.2 Früher legte der Staat aus guten Gründen größten Wert darauf, dass die Universitäten ein einheitliches Ausbildungsprogramm einhielten. In extremer Form zeigte sich dies unter Josef II., unter dessen Regentschaft die Universi-
Dessen sind sich die Repräsentanten der juristischen Kernberufe bewusst: vgl MIENZINGER, Perspektiven der künftigen universitären Juristenausbildung, AnwBl 2006, 89–94; diese Publikation gibt einen Vortrag wieder, den ENZINGER am 6. 10. 2005 anlässlich des Anwaltstages 2005 in Innsbruck gehalten hat.
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CHAEL
Vgl HEINZ KREJCI, Österreichs Juristenausbildung zwischen Rechtsstaatserfordernis und universitärer Gestaltungsfreiheit, in: FERDINAND KIRCHHOF / HANSJÜRGEN PAPIER / HEINZ SCHÄFFER, Rechtsstaat und Grundrechte. FS für Detlef Merten (Heidelberg 2007) 247–264. 2
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täten Innsbruck und Graz zu „Lyceen“ mit juristischen Kurzstudien wurden, die nicht der Wissenschaftlichkeit dienten, sondern einer den Staatsinteressen dienenden Rechtsausbildung. Im 19. Jh wurde den Rechtsfakultäten wieder freies wissenschaftliches Forschen und Lehren gewährt. Die Thun-Hohenstein’sche Universitätsreform führte sodann zu einer Art „Doppelgleisigkeit“ der österreichischen Juristenausbildung: Einerseits waren Staatsprüfungen vorgesehen, die den Staatsanforderungen angepasst waren; andererseits gab es akademische Rigorosen, welche die Wissenschaftlichkeit der Juristenausbildung absichern sollten. Das war jedenfalls die Theorie des Konzepts. Die Zweiteilung des Rechtsstudiums wurde trotz bewegter Zwischenzeiten bis zur Reform des Rechtsstudiums im Jahre 19783 beibehalten. Diese Reform nahm dem Rechtsstudium weitgehend seine bisherige Struktur. Der Staat übertrug die Qualitätskontrolle der Juristenausbildung ausschließlich den Universitäten. Diese verabschiedeten sich umgehend von der Einrichtung der stets mehrere Fächer umfassenden kommissionellen Prüfungen. An ihre Stelle traten Einzelprüfungen, die einerseits nur jeweils ein einziges Fach betreffen und von einem einzelnen Prüfer abgenommen werden. Überdies führte die Liberalität des neuen Ausbildungssystems dazu, dass die Studierenden begannen, die Einzelprüfungen ohne sinnvolle Ordnung abzulegen. Weder die Wiener juristische Studienordnung 1999, die auf bessere Strukturierung bei gleichzeitiger Straffung des Rechtsstudiums aus war, noch die neue Studienordnung des Jahres 2006, welche die Anforderungen an die Studierenden erhöhte, kehrten zur kommissionellen Prüfung zurück. Da der Staat in Anerkennung der akademischen Gestaltungsfreiheit der Universitäten auf eine österreichweit einheitliche universitäre Juristenausbildung verzichtete, drifteten die Studienpläne der Rechtsfakultäten zunehmend auseinander. Noch bieten die meisten Rechtsfakultäten zwar dieselben Fächer an. Doch weisen die Studienordnungen längst unterschiedliche Strukturen auf. Bei manchen Fakultäten spielt dabei das „Bologna-Modell“ bereits eine Rolle, bei manchen nicht. Es hat jedoch ein Entwicklungsprozess eingesetzt, der auch das Fächeranbot erheblich modifiziert. So hat sich insbesondere die Wirtschaftsuniversität Wien zu einem von allem bisher Dagewesenen auffallend abweichenden juris-
BG 2. 3. 1978 BGBl 140 über das Studium der Rechtswissenschaften; vgl dazu WALTER H. RECHBERGER / HELMUT FUCHS, Das Neue Rechtsstudium. Ein Wegweiser4 (Wien 1986).
3
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tischen Studiensystem entschlossen und sich auf diese Weise weitgehend von der bisherigen Ausbildung in klassischen Rechtsfächern verabschiedet.4 Auch wenn sich die neuen Wege vorerst darauf konzentrieren, der traditionellen Juristenausbildung Sonderprogramme lediglich zur Seite zu stellen, so wird sich auf Dauer nicht vermeiden lassen, dass Absolventen solcher Sonderprogramme vor allem dann, wenn sie wie alle anderen als „Mag. iur.“ auftreten, an die Tore der juristischen Kernberufe pochen werden. Diese werden dann mit Juristen konfrontiert sein, die höchst unterschiedliche wissenschaftliche Berufsvorbildungen aufweisen. Das ist alles andere als gut. Denn die anschließenden Berufsausbildungen bedürfen einer nach Art, Umfang und Tiefgang gleichen universitären Berufsvorbildung. Dazu kommt, dass unterschiedliche Ausbildungsmodelle das Wechseln der Studierenden von einer Fakultät an die andere erschwert, weil diese Modelle nicht kompatibel sind. Einerseits soll Bologna europaweite Lehr- und Wanderjahre ermöglichen, andererseits passen schon allein in Österreich die Rechtsausbildungssysteme nicht zusammen. Daher das Postulat: Die wissenschaftliche Berufsvorbildung für die juristischen Berufe soll österreichweit möglichst einheitlich und nicht zersplittert sein. Dies ist freilich nur dann erreichbar, wenn die österreichischen Rechtsfakultäten sich auf ein einheitliches Ausbildungsprogramm einigen. Damit war und ist realistischer Weise nicht zu rechnen. Der Staat wird an der Autonomie der Universitäten nicht rütteln, auch nicht im Hinblick auf die Rechtswissenschaften. Er könnte jedoch für die juristischen Kernberufe ein eigenes staatliches Ausbildungsprogramm außerhalb der Universitäten anstreben. Das wird er schon aus Gründen mangelnder Ressourcen nicht tun. Die einschlägigen Berufsrechte haben einen an sich erfreulichen Versuch unternommen, die Berufszulassung von einem bestimmten Ausbildungsprogramm abhängig zu machen, doch hat das Ergebnis dieser Bemühung in letzter Minute sinnwidriger Weise so sehr an Kontur verloren, dass das Postulat nach einer einheitlichen wissenschaftlichen Berufsvorbildung im Bereich der Rechtswissenschaften derzeit als rechtspolitischer Wunsch auf neue Rechnung vorgetragen werden muss.
Dazu STEFAN GRILLER/ ROMAN PUFF, Das Wirtschaftsrechtstudium an der WUWien, ÖJZ 2006, 706–718. 4
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II. Wieder mehr Universalität statt immer mehr Spezialisierung Die derzeitige Hochschulpolitik neigt vor allem angesichts des allseits herrschenden Geldmangels dazu, den Universitäten zu empfehlen, sich zu spezialisieren. Nicht jede Universität solle gleichsam alles machen wollen; vielmehr solle sich jede Universität auf solche Forschungsschwerpunkte konzentrieren, in denen sie Herausragendes leisten könne. Alles Weitere möge anderen Universitäten oder Forschungseinrichtungen überlassen werden. Die Universitäten mögen sich also spezialisieren. Ein solches Konzept mag für die Naturwissenschaften empfehlenswert sein, nicht aber für die Jurisprudenz. Zum einen ist juristische Forschung (wie andere Geisteswissenschaften) bei weitem nicht so aufwändig wie die Naturwissenschaften. Juristen brauchen keine Weltraumteleskope, keine Teilchenbeschleuniger, keine sonstigen komplexen technischen Ausrüstungen, chemische Labors und dergleichen, sondern kommen mit einer einigermaßen ausgestatteten Bibliothek aus. Zum anderen ist es undenkbar, dass die einzelnen juridischen Fakultäten nur eine auf einige wenige oder gar nur auf ein einziges Rechtsfach beschränkte Ausbildung anbieten (siehe das erste Postulat). Will man aber die für eine akademische Ausbildung unerlässliche Verbindung zwischen Forschung und Lehre aufrechterhalten, darf man die Forschung nicht auf Weniges konzentrieren und die Lehre der übrigen Fächer Ausbildern überlassen, die in diesen Fächern nicht zugleich auch forschen dürfen. Um dies zu vermeiden, müssten sich die Fakultäten für jene Fächer, in denen sie nicht selbst forschen, Lehrende ausleihen, die ihre Forschung in anderen Einrichtungen betreiben. Dies aber würde zu „Wanderprofessoren“ führen, die, um ihrer Lehrtätigkeit an mehreren Fakultäten nachkommen zu können, ihre Forschung überhaupt vernachlässigen müssten. Das ist also kein Ausweg. Was bleibt, ist daher das Postulat, dass die einzelnen juridischen Fakultäten ihre Forschungstätigkeit keineswegs auf einige wenige Fächer oder gar innerhalb solcher Fächer auf einzelne ihrer Problemkreise beschränken, sondern weiterhin gehalten bleiben, sämtliche Rechtsfächer nicht nur zu lehren, sondern auch soweit zum Gegenstand eigener Forschung zu machen, dass man auch weiterhin sagen kann, dass Forschung und Lehre eine Einheit bilden. Wer lediglich gehalten ist, aus fremder Erkenntnis zu schöpfen, ohne diese durch eigene Forschung kritisch zu überprüfen, und überdies nicht auf eigene Forschungsergebnisse zurückgreifen kann, ist kein akademischer Lehrer,
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sondern bleibt darauf beschränkt, fremde Quellen zu tradieren. Das können auch Kursleiter. Dazu braucht man keine Universität. Auch wenn man sich längst an die Merkwürdigkeit gewöhnt hat, Hochschulen mit fachlicher Spezialisierung „Universitäten“ zu nennen („Technische Universität“, „Medizinische Universität“, „Wirtschaftsuniversität“), so sollte man nicht noch einen Schritt weitergehen und Fakultäten, die ja bereits eine fachliche Ausrichtung haben, auf Forschungsbereiche beschränken, die jenen eines Instituts entsprechen. Der Trend zur Spezialisierung setzt sich leider unaufhaltsam fort. Noch vor einigen Jahrzehnten wurden Professoren einer Rechtswissenschaftlichen Fakultät nicht für ein bestimmtes Fach ernannt; sie waren vielmehr Professoren der Rechtswissenschaften insgesamt, auch wenn sie ihre Forschung auf eines oder mehrere ausgewählte Fächer konzentrierten. Später wurde die Fachprofessur eingeführt. Es war aber klar, dass ein Ordinarius das gesamte Fach zu vertreten hatte, für das er ernannt wurde. Wer also zB Professor für Handels- und Wertpapierrecht (das nunmehr Unternehmensrecht heißt) wurde, hatte das Allgemeine Handelsrecht, das Recht der Handelsgeschäfte (einschließlich Versicherungs-, Bank- und Börserecht sowie Kapitalmarktrecht) das gesamte Gesellschaftsrecht (einschließlich Vereins- und Stiftungsrecht), das Wertpapierrecht, das Wettbewerbs- und Kartellrecht sowie das gesamte Immaterialgüterrecht (einschließlich Urheberrecht) zu vertreten: also zu lehren und zu prüfen. Es blieb ihm überlassen, ob und inwieweit er sich in der Forschung auf einen oder mehrere dieser Teilbereich spezialisierte. Nunmehr ist die Wiener Fakultät dazu übergegangen, noch speziellere Professuren ins Leben zu rufen. So wurde einer der bisherigen Unternehmensrechtslehrstühle auf „Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht“ eingeschränkt, ein anderer soll sich in Zukunft auf das Recht des UGB und seine Zivilrechtsbeziehungen konzentrieren. Solche Beschränkungen färben zwangsläufig auf die Forschungsfreiheit ab. Denn ein Vertreter eines Lehrstuhls für Gesellschaftsund Kapitalmarktrecht wird sich, sollte er nach einigen Jahren seine Liebe für das Urheberrecht entdecken und sich vom Gesellschaftsrecht abwenden, den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass er sein eigentliches Gebiet, für das er unter Vertrag genommen wurde (öffentlich-rechtliche Ernennungen auf eine beamtete Position gibt es ja nicht mehr), nicht gehörig betreue. Wer sich schon aufgrund seiner Verpflichtungen nur mit einem Teil eines Rechtsgebietes beschäftigen soll und pflichtgemäß auch beschäftigt, wird als Prüfer des gesamten Faches dazu neigen, seinen Prüfungsschwerpunkt gleichfalls auf sein Teilgebiet zu verlagern.
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Das Aufbauen von hoch umzäunten Schrebergärten hindert den Blick auf einen weiteren Horizont. Die allseits bestehenden Zusammenhänge werden immer weniger gesehen. Dies schränkt die Assoziationsmöglichkeiten und damit die Kreativität ein. All das fördert letztlich die Unübersichtlichkeit der Rechtsordnung und ihre Disharmonie. Nicht nur die Studierenden sollen im Rahmen der akademischen Berufsvorbildung zu „Universaljuristen“ erzogen werden; auch die Forschenden und Lehrenden sollen nicht nur isoliertes Tiefenwissen auf einem kleinen Fleck repräsentieren, sondern die größeren Zusammenhänge sehen und in der Lage sein, die Rechtsordnung, trotz all ihrer Gliederungen, als eine Einheit mit unzähligen Querverbindungen und strukturellen wie ordnungspolitischen Zusammenhängen zu begreifen. Daher das Postulat: Die Rechtsfakultäten sollen ihre Universalität beibehalten und keine Zentren monopolbildender Spezialisierung werden. Das soll grundsätzlich auch für die Fachvertreter gelten. Adler sind gefragt, nicht Maulwürfe.
III. Wieder mehr Umfeld- statt reines Rechts-Wissen Ehe sich die Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten von den Rechtswissenschaftlichen trennten, bot die Juristenausbildung zu einem erheblichen Ausmaß auch wirtschaftswissenschaftliche Fächer an; überdies wurden Rechtssoziologie und Kriminologie – wenn auch beides nur in bescheidenem Maße – gelehrt. Zu jener Zeit herrschte auch das sogenannte „Juristenmonopol“. Juristen übten nicht nur die ihnen vorbehaltenen, klassischen Rechtsberufe aus, sondern waren auch in der Privatwirtschaft in verantwortungsvollen, insbesondere auch höchsten Positionen tätig. Dies änderte sich in den letzten Dezennien erheblich. Das Aufblühen der Betriebswirtschaftslehre einerseits und der zunehmende Verlust der Wirtschaftskompetenz der Juristen andererseits führten dazu, dass vor allem im Wirtschaftsleben die Juristen in hohem Maße von den Betriebswirten verdrängt wurden. Die mehrmaligen Reformen der Juristenausbildung hatten dazu geführt, dass die Wirtschaftsfächer immer mehr an Bedeutung verloren. Ebenso verschwanden andere nichtjuristische Fächer, die allesamt geeignet waren, den Juristen vorzuführen, dass eine ausschließliche Orientierung am gesatzten Recht den Blick der Juristen auf die Realität, in der sich das Recht bewegt und zu bewähren hat, verkürzt. Wer sich mit Regeln beschäftigt, die das menschliche Zusammenleben ordnen und steuern sollen, sollte mehr vom menschlichen Zusammenleben kennen als nur diese Regeln. Ein Bildhauer ist
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schlecht beraten, sich nur über Meißel und Hammer zu informieren, nicht aber über den Stein, den er behauen soll. Ein Fischer sollte nicht nur seine Angel und sein Boot kennen, sondern auch die Fische, die er fangen will. Die heutige Rechtsausbildung gewährt den Juristen keinen ausreichenden Einblick in das Wirtschaftsleben und über die darin wirkenden Kräfte. Die Studierenden erfahren nichts mehr über Nationalökonomie und viel zu wenig über die Betriebswirtschaft. Auch die wirtschaftsnahen Rechtsfächer, also vor allem das Unternehmensrecht, spielen immer noch, gemessen an ihrer praktischen Bedeutung, eine höchst bescheidene Rolle. Ganz zu schweigen von auch nur bescheidensten Einblicken in die Soziologie und Psychologie sowie Kriminologie. So produzieren die Rechtswissenschaftlichen Fakultäten Normenkenner mit höchst beschränktem Einblick in die das Zusammenleben der Menschen ansonst treibenden Kräfte. Es ist kein Trost, sondern gleichfalls Ärgernis, dass die Betriebswirte viel zu wenig vom Recht verstehen und daher ihr Metier auf eine mitunter höchst rechtsferne Art und Weise betreiben. Wenn man heute angesichts erschütternder Skandale, die mit eine Triebfeder derzeit herrschender Krisen sind, mehr Ethik in der Wirtschaft fordert, so hängt dies mitunter auch damit zusammen, dass vielen in der Wirtschaft Tätigen oft grundlegende Rechtskenntnisse fehlen, so dass sie nicht einmal jene Grenze zwischen gut und böse zu erkennen vermögen, die der Gesetzgeber selbst klar und deutlich festhält. Wer heute für das Wirken im Wirtschaftsleben solide ausgebildet sein will, muss sowohl Rechtswissenschaften als auch Betriebswirtschaft studieren. Das tun erfreulicherweise auch viele. Das Erfordernis eines Doppelstudiums stellt aber weder der Juristenausbildung noch der betriebswirtschaftlichen Ausbildung ein gutes Zeugnis aus. Ob die Ausbildung zum „Wirtschaftsjuristen“ eine befriedigende Lösung bietet, darf bezweifelt werden. Der Vorteil dieses Studienzweiges liegt sicherlich darin, dass hier eine wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung in erheblich höherem Maße, als dies beim eigentlichen betriebswirtschaftlichen Studium der Fall ist, auf das Recht Bezug nimmt. Das Problem dieses Kombinationsstudiums liegt aber darin, dass dieser Ausbildung maßgebliche Fundamente einer klassischen Rechtsausbildung fehlen, dessen ungeachtet aber behauptet wird, dass dieses Studium auch für die Ausübung der klassischen Rechtsberufe ausreiche. Es ist hier nicht der Ort, im Einzelnen nachzuweisen, warum dies nicht der Fall ist. Um sich selbst ein Bild zu machen, genügt es, die Ausbildung im gesamten Privatrecht, wie sie an einer Rechtswissenschaftli-
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chen Fakultät vorgeschrieben ist, mit der korrespondierenden Wirtschaftsrechtsausbildung an der Wirtschaftsuniversität Wien zu vergleichen. Derzeit wirkt sich das Ausbildungsmanko, das ein Wirtschaftsrechtsstudium gegenüber einem allgemeinen Rechtsstudium aufweist, auf die klassischen Rechtsberufe insofern noch nicht aus, als bisher sehr viele jener Studierenden, die sich zum „Wirtschaftsjuristen“ ausbilden lassen, zugleich auch den traditionellen Weg der Juristenausbildung gehen. Positiv am Wirtschaftsrechtsstudium ist jedoch, dass den Studierenden ein guter Einblick in das wirtschaftliche Umfeld des Rechtslebens geboten wird. Daher das Postulat: Auch die allgemeine Juristenausbildung soll in höherem Maße Einblick in das Umfeld des Rechts bieten und sich nicht zunehmend ausschließlich auf das Studium von Rechtsregeln konzentrieren, weil dies den Blick auf jene Realität trübt, in welcher sich das Recht zu bewähren hat.
IV. Mehr Können statt immer mehr Kennen Der Verlust der Juristenausbildung insbesondere an Wirtschaftskompetenz hängt auch damit zusammen, dass einerseits die Rechtsordnung immer umfangreicher und komplexer wird und man andererseits bestrebt ist, das Rechtsstudium – zumindest, was den theoretischen Weg zum Magisterium betrifft – nicht zu verlängern. Zum einen wurde im Laufe der Jahre das Rechtsstudium um weitere Rechtsfächer angereichert. So kamen insbesondere das Arbeits- und Sozialrecht, das Finanzrecht (das früher in den gestrichenen Wirtschaftsfächern eine bescheidene Heimat hatte) und das Europarecht zum bisherigen Fächerkatalog hinzu. Darüber hinaus führt die Emsigkeit des Gesetzgebers zu einem permanenten Aufblähen so gut wie aller Rechtsfächer. Der Ruf nach Deregulierung hat diesbezüglich bislang noch kaum zu einer Normenreduktion geführt. Er verhallt wirkungslos wie das stets beschworene, bisher aber erfolglose Streben nach einer Verwaltungsvereinfachung. Die Rechtsordnung bläht sich immer mehr auf. Die Gesetzesausgaben, Lehrbücher und Kommentare werden allesamt von Auflage zu Auflage immer dicker. Die Studierenden sehen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Sich durch hunderte Seiten zu fressen, führt zwangsläufig dazu, dass immer weniger Zeit dafür verwendet wird, sich mit ausgewählten Problemlagen rechtsdogmatisch vertieft auseinanderzusetzen und so das eigentliche juristische Arbeiten zu erlernen. Darunter leidet die Entwicklung dessen, was man juristische Kreativität nennen kann. Die Fähigkeit, den Geist hinter den mitunter verkürz-
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ten, verfehlten und missglückten Formulierungen des Gesetzgebers zu erkennen, wird nicht hinreichend gefördert. Die Studierenden würgen kaum bewältigbare Stoffmengen in sich hinein, durchschauen dabei die Hintergründe und Zusammenhänge nicht, verstehen daher kaum, was sie sich da aneignen und vergessen daher all das auch schnell, kaum dass die Prüfung vorbei ist. An sich sollten Universitätsabsolventen selbständig juristisch arbeiten können, die juristischen Methoden und Denkweisen beherrschen und den Aufbau der (vor allem eigenen, nationalen) Rechtsordnung sowie das System und die Institutionen und Figuren der einzelnen Rechtsgebiete einschließlich ihrer Grundbegriffe so eingehend kennen, dass alle Voraussetzungen für den Einsatz des Betreffenden in der praktischen Rechtsanwendung gegeben sind. Das bestehende Ausbildungssystem ist im Grunde weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Dazu müssten sich die Studierenden längere Zeit hindurch mit einem Fach eingehend auseinandersetzen und anhand von Beispielen, die nicht nur durch das Auffinden einer bestimmten Gesetzesbestimmung gelöst werden können, ihren Rechtsverstand schärfen. Dabei sollten sie sich mit einschlägiger Judikatur und Literatur auseinandersetzen, die anstehenden Ordnungsprobleme begreifen und auf methodisch korrekte Weise eigenständige Lösungen entwickeln lernen. Zu all dem haben die Studierenden aber zu wenig Zeit. Konfrontiert man sie mit einem wirklich interessanten, weil im Gesetz nicht hinreichend geregelten Fall, zeigen sie idR eine traurige Hilflosigkeit. Rechtsdogmatisches Arbeiten ist ihnen weitgehend fremd. Darauf nehmen dann auch die Prüfungsarbeiten Rücksicht. Statt den Studierenden ein (durchaus kurz formulierbares) kniffliges Problem vorzulegen, das ihre juristische Lösungskompetenz fordert, bekommen sie einen vielfältigen Sachverhalt vorgesetzt, der eine ganze Reihe von einzelnen Fragen birgt, die im Grunde durch das Auffinden der einschlägigen Rechtsnorm gelöst werden kann. Der akademisch gebildete Jurist sollte jedoch auch solche Fragen lösen können, deren Antwort nicht ausdrücklich im Gesetz steht. Dies überfordert jedoch viele; leider auch noch nach erfolgreichem Abschluss ihres Studiums. Weit mehr als bisher müsste im Rahmen des Studiums Raum für vertiefte rechtsdogmatische Arbeit geschaffen werden. Die jüngste juristische Studienordnung der Wiener Fakultät fördert dies dadurch, dass die Zahl der Pflichtübungen drastisch erhöht wurde und nunmehr so gut wie aus jedem Fach eine Übung absolviert werden muss. Damit wäre die Chance gegeben, Studierenden die Kunst des Falllösens auf intensivere Weise beizubringen als bisher.
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Es besteht jedoch die Gefahr, dass in den Übungen so viele Fälle wie nur möglich im Eiltempo erörtert werden, um die Studierenden weit mehr auf die anstehenden Prüfungen vorzubereiten, als ihnen kreatives juristisches Denken beizubringen. Auch hier wird die Quantität zum Feind der Qualität. Fragen zum Stoff fallorientiert zu behandeln, ist ohne Zweifel auch von Vorteil, darf aber nicht mit dem Bemühen verwechselt werden, den Studierenden dabei zu helfen, eigenständige juristische Kreativität bei der Lösung von Rechtsfragen zu entfalten, die nicht allein mit dem Auffinden eines einschlägigen Gesetzestextes beantwortet werden können. Wie sehr Studierende den festen Boden gesatzten Rechts wünschen und höchst unangenehm berührt sind, wenn es für die Lösung eines Falles keinen Gesetzestext gibt, an den sie sich klammern können, zeigt auch der Umstand, dass vielen das Verwaltungsrecht sympathischer ist als das Privatrecht oder das Gebiet der Grundrechte. Die Jurisprudenz wird aber erst dort zur „Kunst“, wo man mit dem bloßen Gesetzestext kein Auslangen findet, sondern als Jurist gehalten ist, das Recht praeter legem fortzuentwickeln, bestehende Rechtslücken zu schließen oder teleologische Reduktionen vorzunehmen. Leider bleibt vielen der hinter den Buchstaben des Gesetzes wirkende Geist (Sinn, Zweck) verborgen, der auch dort zum Tragen kommt und daher weiterhilft, wo der Gesetzgeber übersehen hat, ihm ein Textkleid anzumessen. Daher das Postulat: Steigerung der Fähigkeit zu selbständigem, methodisch korrektem juristischen Denken anhand vertiefter Erörterung „schwieriger“ Fälle, statt Überschütten der Studierenden mit Stoffmassen, mit denen sie letztlich wenig anfangen können.
V. Wieder mehr vernetztes statt bloß isoliertes Fächerstudium Eine rechtswissenschaftliche Berufsvorbildung sollte den Studierenden vor allem die Augen für das Ganze, also für die Einheit der Rechtsordnung in ihrer zweckmäßigen Gliederung öffnen. Es ist wichtig, die zahlreichen Zusammenhänge und Querverbindungen, die zwischen den einzelnen Rechtsgebieten bestehen, sichtbar zu machen. Die Studierenden sollen erfassen, warum es überhaupt unterschiedliche Rechtsgebiete gibt, worin sie sich unterscheiden und was sie gemeinsam haben. Die Studierenden sollen zB nicht nur wissen, worin sich das Zivilgerichtliche Verfahren vom Strafverfahren und vom Verwaltungsverfahren unterscheidet, sondern sie sollen auch die Gründe
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verstehen, deretwegen es diese Unterschiede gibt. Sie sollen zB begreifen, worin und warum sich die Gesetzes- und die Vertragsinterpretation unterscheiden und warum die Auslegung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder von Kollektivverträgen zusätzliche Besonderheiten aufweist. Die intensiven Querverbindungen zwischen Zivil-, Unternehmens- und Arbeitsrecht liegen auf der Hand. Das Rechtsstudium hat jedoch im Laufe seiner Reformen zunehmend die Fähigkeit verloren, den Studierenden diese Querverbindungen sichtbar zu machen. Warum ist das so? Vor 1978 umfassten drei große Staatsprüfungen und drei ihnen korrespondierende Rigorosen jeweils mehrere, sachlich verwandte Fächer. Die Prüfungen darüber waren an einem einzigen Tag abzulegen. Dies bedeutete, dass sich die Studierenden mit der jeweiligen Fächergruppe gleichzeitig beschäftigen mussten; dies einmal zwei und zweimal jeweils drei Semester lang. Das gleichzeitige Studieren mehrerer Fächer hatte zum einen den Vorteil, dass sich die Sicht auf die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge und Querverbindungen geradezu aufdrängte; zum anderen konnte die anstehende Stofffülle nur so im Gedächtnis behalten werden, dass man sie mehrmals durcharbeiten musste. Dies führte zu einer Verfestigung des Erlernten. Das alte Ausbildungssystem wurde durch ein liberales Konzept ersetzt, das es den Studierenden in hohem Maße ermöglichte, die Reihenfolge des Studiums der einzelnen Fächer nach eigenem Belieben auszuwählen. Sachlich Zusammengehörendes durfte somit auseinandergerissen werden. Davon wurde auch weidlich Gebrauch gemacht. Dabei neigten viele Studierende insbesondere dazu, die Prüfungen aus den Sonderprivatrechten (Handelsrecht, Arbeitsrecht) vor der Prüfung aus Zivilrecht abzulegen, wodurch das Verständnis für die Sonderprivatrechte gravierend litt. Wie soll man Sonderregelungen richtig verstehen, wenn man die diesbezüglichen allgemeinen Regelungen weitgehend nicht kennt? Das Zerfallen eines sinnvoll vernetzten Fächerstudiums wurde insbesondere auch durch die Abschaffung der kommissionellen Prüfungen ermöglicht. Die Studierenden legten über die einzelnen Fächer getrennte Prüfungen ab. Dies führte einerseits dazu, dass an die Stelle eines sinnvollen Studienaufbaus eine eher willkürliche Abwicklung des Studiums nach dem Wunsch des einzelnen Studierenden trat (gemildert durch Zweckmäßigkeitsempfehlungen, die aber oft nicht beachtet wurden); andererseits ging durch das isolierte Studium jeweils eines einzelnen Faches der Blick auf das Ganze verloren. Die beiden späteren Studienordnungen (1999, 2006) bemühten sich, dem Studium wieder eine sachgerechte Struktur zu verleihen, so dass verwandte Fä-
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cher einander wieder näherkamen. Was allerdings blieb, war die Einrichtung der Einzelprüfung. Insofern änderte die Wiedereinführung von sachgerechten Studienabschnitten nichts daran, dass die einzelnen Fächer weiterhin in erheblichem Maße isoliert studiert wurden und immer noch werden. Wenn auch viele Studierende nunmehr das Zivilrecht vor den Sonderprivatrechten absolvieren, so ist immer noch nicht ausgeschlossen, dass eines der Sonderprivatrechte dem Zivilrechtsstudium zeitlich vorgezogen wird. Doch zeigt sich, dass ein auf eher kurze Zeit beschränktes Studieren des Zivilrechts auch dann wenig nützt, wenn man es vor dem Studium der Sonderprivatrechte im negativen Sinn des Wortes „hinter sich bringt“, weil das lediglich im Kurzzeitgedächtnis verankerte Wissen wieder verloren gegangen ist, ehe man zu den Diplomprüfungen über die Sonderprivatrechte antritt. Das Aufgeben der kommissionellen Prüfung und ihr Ersetzen durch Einzelprüfungen hat nach wie vor den Nachteil, dass die sachlich zusammengehörenden Fächer nicht längere Zeit hindurch nebeneinander studiert werden und der Stoff daher nicht mehrmals wiederholt wird, um nachhaltig zu „sitzen“. Die heutige Art, sich auf Prüfungen vorzubereiten, ist eben nicht darauf aus, dass sich das Gelernte „setzt“; vielmehr geht es lediglich darum, den Stoff bis zum Prüfungstermin zu „behalten“; kurz darauf hat er sich dann leider wieder verflüchtigt. Zu einer Vernetzung der Kenntnisse aus mehreren Fächern kommt es daher heute nur in höchst bescheidenem Maße; wenn überhaupt. All dies führt zu einer Minderung des Ausbildungsniveaus. Bislang ist es nicht geglückt, die kommissionellen Prüfungen wieder einzuführen. Die Gründe dafür liegen bemerkenswerter Weise weniger im Widerstand der Studierenden, denen die Vorteile einer solchen Prüfung durchaus schmackhaft gemacht werden können (gegenseitige Kontrolle der Prüfer, Kürze der Prüfung im einzelnen Fach, Konzentration auf wichtige Fragen und dergleichen), als in der Schwierigkeit, in einer Zeit immer dichter werdender Termine und Verpflichtungen Kommissionen für so viele Prüflinge zusammenstellen zu können. In jener Zeit, als noch kommissionelle Staatsprüfungen abgenommen wurden, waren an der Wiener Rechtsfakultät insgesamt etwa 3.000 Studierende inskribiert; derzeit studieren hier 11.500. Es wäre freilich denkbar, die Einzelprüfungen zusammengehörender Fächer zeitlich zu konzentrieren (etwa innerhalb eines Monats). Dagegen opponieren die Studierenden heftig, weil sie auf diese Weise die Vorteile einer echten kommissionellen Prüfung schwinden sehen.
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Ohne eine zeitliche Verbindung der Prüfungen aus den sachverwandten Fächern wird das Postulat nach einem vernetzten Fächerstudium allerdings auch weiterhin eher ein frommer Wunsch bleiben. Dies aber ist jammerschade. Eine gründliche Juristenausbildung darf auf die Vermittlung der Kenntnis der Zusammenhänge und Querverbindungen zwischen den einzelnen Rechtsfächern nicht verzichten und hat daher das isolierte Studium der einzelnen Fächer möglichst zu vermeiden. Dies aber erfordert, dass jedenfalls die miteinander verwandten Rechtsfächer gemeinsam und längere Zeit hindurch studiert werden. Dann aber müssten diese Rechtsfächer allesamt, wenn schon nicht kommissionell, so doch in einem knappen Zeitfenster geprüft werden.
VI. Wieder mehr Fach- statt immer mehr Prüferstudium In früheren Zeiten war den Studierenden bis zum Prüfungsantritt unbekannt, wer sie prüfen wird. Dies hatte den Vorteil, dass die Studierenden sich in erster Linie mit dem zu prüfenden Fach und nicht mit den Eigenschaften der Prüfer beschäftigten. Es ist nur zu verständlich, dass die Studierenden wissen wollten, wer sie prüfen wird. So wurde die Geheimhaltung der Prüfer abgeschafft und kurze Zeit vor der Prüfung bekanntgegeben, wer Prüfer sein wird. Dieser Weg bot einen guten Kompromiss zwischen dem Gebot, ein Fach zu studieren, und der Möglichkeit, sich – gleichsam in letzter Minute – auch noch auf den Prüfer einzustellen. Auch diese Lösung war den Studierenden zu wenig. Nunmehr wissen sie schon lange vor Prüfungsantritt, wer ihr Prüfer sein wird. Manche Fakultäten sind sogar dazu übergegangen, die „freie Prüferwahl“ einzuführen, was die bedauerliche Folge hat, dass die beliebten Prüfer (also jene, die für ihre besondere Milde bekannt sind) überlaufen sind. Dass auf diese Weise das Ausbildungsniveau sinkt, liegt auf der Hand. Auch ohne ein so weitgehendes Entgegenkommen eines Prüfungssystems verführt die frühzeitige Bekanntgabe der Prüfer die Kandidaten dazu, weit mehr den Prüfer als das von ihm zu prüfende Fach zu studieren. So werden eifrig Prüferfragen gesammelt und die vom Prüfer erwarteten Antworten einstudiert. Geschäftstüchtige Helfer geben geeignete Informationsquellen heraus; auch das Internet bietet eingehendes Informationsmaterial. Je beschränkter das Fragenrepertoire eines Prüfers ist, desto weniger wird es für geboten erachtet, sich mit dem Stoff des Faches selbst zu beschäftigen. Das Rechtsstudium darf nicht zu einem „Walzen-Studium“ verkommen. Diese Gefahr besteht aber, solange die Prüfer bereits längere Zeit bekannt sind,
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als die Studierenden für das Studium des Faches opfern, und ist erst recht gegeben, wenn freie Prüferwahl eingeräumt wird. Daher das Postulat: Wieder mehr Fach- als Prüferstudium. Es soll grundsätzlich keine freie Prüferwahl geben. Die Prüfer sollen nicht schon langfristig vor dem Prüfungstermin bekannt gegeben werden.
VII. Mehr Sachnatur statt Bologna beim Aufbau des Rechtsstudiums Das Ausbildungssystem der Rechtsfakultäten wird in jüngerer Zeit durch die Bemühung irritiert, auch die Juristenausbildung auf das „Bologna-Modell“ umzustellen.5 Ziel des europaweit gedachten Anliegens ist es zum einen, eine grenzüberschreitende einheitliche Universitätsausbildung zu fördern, und zum anderen wohl auch, die Akademikerquote zu erhöhen, weil auch die Absolventen des ersten Qualifikationsschrittes, die den aus dem anglo-amerikanischen Raum stammenden Titel eines „Bachelors“ erhalten sollen, bereits als „Akademiker“ gelten, freilich nur als halbe. Das Bologna-Modell schlägt jedes akademische Studium über einen dreigliedrigen Leisten: Nach 6 Semestern soll das Bakkalaureat abgeschlossen sein; daran soll sich ein „Master“-Studium anschließen, das 2 Semester dauern soll. Das Doktorat wird sodann in einer dritten Ausbildungsstufe erreicht, wobei hier weitere 6 Semester investiert werden müssen. Vorbild ist auch hier der anglo-amerikanische „PhD“. Dieses Doktorat sollen nur solche Studierenden erwerben, die vor allem wissenschaftlich tätig werden wollen. Insofern bedroht der „PhD“ mittelbar die heute übliche höchste akademische Qualifikationsstufe der Habilitation. Dieser geht es de facto schon derzeit insofern an den Kragen, als Assistentenbestellungen auf sechs Jahre eine Habilitation oft nicht erlauben. Vgl zu diesem Problemkreis insb STEFAN GRILLER / MICHAELA SEIFERT, „BolognaProzess“, Europäischer Binnenmarkt und österreichisches Berufsrecht: Katalysatoren oder Gefahren für die Reform der Juristenausbildung in Österreich? JBl 2006, 613– 628; vgl auch GERHARD BENN-IBLER, in: Österreichischer Juristentag. Juristenausbildung – quo vadis (Wien 2006) 16 f; RUDOLF THIENEL, ebenda 22 ff; siehe auch THOMAS PFEIFFER, Wird der Juristenausbildung der Bologna-Prozess gemacht? NJW 32 (2005), 2281–2283; JENS JEEP, Der Bologna-Prozess als Chance, NJW 32 (2005), 2283–2286; kritisch zu Bologna als „die Leere des europäischen Hochschulraumes“: KONRAD PAUL LIESSMANN, Theorie der Unbildung (Wien 2006), 104 ff. 5
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Das Bologna-Modell will ermöglichen, dass jemand, der zB in Portugal den Titel eines „Bachelors“ erworben hat, sein Studium zB in England zwecks Erlangung des „Master“-Grades fortsetzen und dann zB in Deutschland den „PhD“ machen kann. Diese drei Bauelemente sollen also die Kompatibilität der Studien an europäischen Universitäten und damit grenzüberschreitendes Studieren ermöglichen. Zugleich soll die einheitliche Struktur der Übersichtlichkeit der akademischen Ausbildungen dienen. Die akademischen Grade sollen überall in drei Stufen angeboten werden und infolge der Vereinheitlichung nach außen hin leicht erkennen lassen, welchen akademischen Grad jemand bekleidet. Dass es dessen ungeachtet auf die materielle Substanz der jeweiligen Ausbildung ankommt und nicht auf Formales wie Studiendauer und Titel, braucht wohl nicht erwähnt zu werden. Niemandem nützt eine bloß formale Vereinheitlichung einer Ausbildungsstruktur, wenn sich die Inhalte und das Niveau der Ausbildung dennoch von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat oder von Universität zu Universität gravierend unterscheiden. Im Materiellen soll wohl der Ruf der jeweiligen Universität die Wertigkeit des erworbenen Titels entscheiden. Das Studium der Rechtswissenschaft hat mit dem Bologna-Modell in mehrfacher Hinsicht Probleme. Auch wenn die EU bemüht ist, die in ihr vereinten Mitgliedstaaten immer mehr miteinander zu verbinden und zusammenwachsen zu lassen, was auch dazu führt, dass immer mehr Ordnungsfragen des Zusammenlebens auf einer vereinheitlichten Rechtsgrundlage beantwortet werden sollen, so ist derzeit noch lange nicht die Zeit gekommen, in welcher zB ein Rechtsstudium in Griechenland oder Irland materiell ausreicht, um die für die österreichische Rechtsordnung erforderlichen Kenntnisse zu vermitteln. Gleiche Form schafft eben noch lange nicht auch gleichen Inhalt. Das bleibt auch dann so, wenn das jeweils gebotene Ausbildungsniveau ein sehr hohes ist. Dennoch darf ein Mitgliedstaat einem Juristen, der seine akademische Qualifikation im Ausland erworben hat, nicht vorweg das Tätigwerden in Österreich verbieten. Das Gemeinschaftsrecht legt den Mitgliedstaaten die grundlegende Pflicht auf, abweichende Ausbildungen, die im europäischen Ausland erworben wurden, auf ihre Gleichwertigkeit zu prüfen und gegebenenfalls unter Erteilung von Auflagen für die Berufszulassung im Inland anzuerkennen.6 Jemanden a limine zurückzuweisen, weil er eine Rechtsausbildung in
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GRILLER / SEIFERT, Bologna-Prozess 614 ff.
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einem oder mehreren Mitgliedstaaten erhalten hat, ist demnach unzulässig; immerhin ermöglicht aber das Erfordernis der Gleichwertigkeit, darauf hinzuweisen, dass die absolvierte Ausbildung mangels hinreichender Vermittlung von Kenntnissen des österreichischen Rechts nicht als gleichwertig zu erachten ist und dieses Manko eine Ergänzungsprüfung rechtfertigt. Nicht unerwähnt soll überdies bleiben, dass die Berufe des Richters, Staatsanwalts und (zumindest einstweilen noch) der Notare wegen ihrer öffentlich-rechtlichen Aufgaben einen höheren Schutz genießen. Die Öffnung dieser Berufe für Angehörige anderer EU-Staaten ist hier nicht geboten.7 Bei Rechtsanwälten ist dies anders. Nach Art 2 RL 98/5/EG kann jeder Rechtsanwalt zeitlich unbefristet unter der im Herkunftsstaat erworbenen Berufsbezeichnung („home title“) in Österreich tätig werden. Eine Eingliederung in das Berufsrecht des Aufnahmestaates kann bei Nachweis einer dreijährigen effektiven und regelmäßigen Tätigkeit im Recht des Aufnahmestaates erfolgen, ohne dass eine Eignungsprüfung nach der Hochschuldiplomanerkennungs-RL erforderlich ist.8 Insofern kann ein in einem Mitgliedstaat Anwalt gewordener Jurist ohne hinreichende Ausbildung im österreichischen Recht allein über eine „effektive und regelmäßige“ Inlandspraxis zum österreichischen Anwalt reüssieren. Liegt seine beabsichtigte Inlandspraxis nicht zur Gänze im nationalen Recht (was wohl oft der Fall sein wird, weil der in Österreich tätige Auslandsanwalt wohl in erheblichem Maße seine bisherigen Kenntnisse und Kontakte zur Verfügung stellen wird), so können mindere Voraussetzungen, zB nur eine mündliche Prüfung, für die Zulassung ausreichen, wobei dies aber im Ergebnis nicht einer Eignungsprüfung gleichkommen darf.9 Es kann aber auch eine Nostrifizierung des ausländischen Diploms nach der Hochschuldiplomanerkennungs-RL beantragt werden, sofern es für die Berufszulassung lediglich auf den Hochschulabschluss ankommen sollte, was
Vgl Art 39 Abs 4 EGV. Der Inländervorbehalt für das Notariat (§ 6 Abs 1 lit a Notariatsordnung) wird in Zweifel gezogen. Im Hinblick auf die Judikatur des EuGH zu Art 45 EGV (Öffentliche Gewalt) könnte hier eine funktionelle Differenzierung verlangt werden, wie sie auch in § 1 Abs 3 Notariatsordnung angedeutet ist. Näheres bei GRILLER / SEIFERT, Bologna-Prozess 614 FN 7. 7
8
Art 10 Abs 1 RL 98/5/EG.
JÜRGEN TIEDJE / PETER TROBERG, Art 47 EGV Rz 86, in: HANS VON DER GRO/ JÜRGEN SCHWARZE (Hrsg), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft6 (Baden-Baden 2003).
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EBEN
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aber nach österreichischem Recht bezüglich des Berufs des Rechtsanwalts nicht der Fall ist.10 Auch die Nostrifizierung ermöglicht, ergänzende Prüfungen aus österreichischem Recht, das vom Auslandsdiplom nicht abgedeckt ist, vorzuschreiben.11 Die „Durchlässigkeit“ des Bologna-Modells hat also durchaus inhaltliche Grenzen, die sich vor allem im Bereich der Rechtswissenschaften auswirken. Es drängt sich also im Bereich der Rechtswissenschaften nicht als unbedingtes Erfordernis auf. Es spricht aber auch noch ein anderer Umstand gegen die Einführung des Bologna-Modells für das österreichische Studium der Rechtswissenschaften. Um eine taugliche akademische Berufsvorbildung zu bieten, sind 8 Semester dringlich geboten. Viele studieren de facto länger. Es erscheint daher angesichts des Ausbildungszieles unvertretbar, einen juristischen „Halbakademiker“ in Form eines „Bachelors“ zu kreieren, der in keiner Weise jene Kenntnisse und Fähigkeiten bieten kann, die man von einem akademisch ausgebildeten Juristen verlangen darf. Wer das tradierte juristische Studienprogramm (in all seinen bisherigen und derzeit geltenden Varianten) betrachtet, wird leicht erkennen, dass man in 6 Semestern keine ausreichende Ausbildung bieten kann. Entweder müsste man alle Fächer so reduzieren und ausdünnen, dass darunter ihr Verständnis und die erforderlichen fachlichen Mindestkenntnisse gravierend leiden, oder aber man verzichtet von vornherein auf einige Rechtsfächer (etwa mit dem Ergebnis, entweder einen eher privatrechtlich gebildeten Bachelor zu haben, der vom öffentlichen Recht weitgehend keine Ahnung hat, oder einen öffentlichrechtlich gebildeten, der vom Privatrecht nichts versteht). Das „Ausdünnungsmodell“ würde nicht nur zu einem weitgehend überhaupt unbrauchbaren Bachelor führen, sondern es würde überdies der Aufbau des Rechtsstudiums insgesamt irritiert werden. Denn es wäre kaum möglich, all das, was man in 6 Semestern in so gut wie allen Fächern zu lehren verabsäumen musste, nun in zwei weiteren Semestern, die zum „Master“ führen sollen, wettzumachen.
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Näheres bei GRILLER / SEIFERT, Bologna-Prozess 615 f.
Diesbezüglich sollten sich die Nostrifizierungsprüfer stets ihrer hohen Verantwortung bewusst sein; mitunter besteht die Gefahr, dass diese Verantwortung aus Gründen der Rücksichtnahme auf die persönlichen besonderen Umstände eines Nostrifikationswerbers nicht konsequent genug wahrgenommen wird. 11
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Das „Schwerpunktmodell“ würde hingegen zu unterschiedlichen BachelorTypen führen, die jeweils auf einem juristischen Auge blind wären oder denen, um ein anderes Bild zu strapazieren, jeweils ein juristisches Bein fehlen würde. Eine Studienordnung hat sich an den für das Studium maßgeblichen Fächern und den damit verbundenen Tiefen- und Umfangserfordernissen zu orientieren. Nur daraus folgt, wie lange das Studium zu währen hat. Ein Formaldiktat Außenstehender, ein Studium habe 6 Semester zu währen, ist in keiner Weise angebracht und daher radikal abzulehnen. Nun wird, wie man weiß, an der Universität Wien für Juristen ein Kompromiss erwogen: Das Bachelor-Studium der Rechte könnte statt 6 eben 8 Semester dauern. Zwei weitere Semester für den Master-Grad wären angesichts der Möglichkeit, ergänzende Schwerpunktausbildungen zu bieten, durchaus vertretbar. Europaweit sind Bachelors als Halbakademiker eingestuft. Das bedeutet für Juristen: Konnte man früher in 8 Semestern das Doktorat der Rechtswissenschaften erwerben und heute den Magistertitel, so würde man in Zukunft beim selben Studium bloß Bachelor, und somit ein Halbakademiker, werden. Das ist formal ein die Juristen diskriminierender akademischer Abstieg. Wer Doktor werden will, hätte vorerst noch ein weiteres Jahr in den „Master“ zu investieren (ein für europäische Ohren nicht minder befremdlicher Titel wie der des Bachelors; beides nichts anderes als ein Kotau vor der über Europa liegenden pax americana), um dann nochmals 3 Jahre Vollstudium für den Doktor zu brauchen (auch wenn dies dann lediglich ein „Berufs-Doktor“ und kein „PhD“ ist). Nun mag ja der geistige Aufwand für ein Studium der Rechte durchaus hoch sein: Dafür aber volle 8 Jahre zu opfern, erscheint denn doch etwas viel. Dazu kommt, dass auch einem solchen Doktor der Rechtswissenschaften der Zugang zu den juristischen Kernberufen noch immer nicht offen stünde (wie das im Übrigen sogar für fachlich einschlägige Professoren einer Rechtsfakultät der Fall ist). Eine derartige Aufblähung des Studiums der Rechtswissenschaft (ein Studium, das überdies trotz aller Länge den Studierenden den Blick auf jene Welt versperrt, in der das Recht lebt, wodurch der Vorwurf zunehmender „Weltfremdheit“ dieses Studiums nicht zwingend als unberechtigt zurückgewiesen werden kann) ist völlig überflüssig und kann dem Juristenstand nur schaden. De facto würde die Einführung des Bologna-Modells im Bereich der Rechtswissenschaften bedeuten, dass die meisten Studierenden wohl noch ein fünf-
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tes Jahr opfern würden, um „Master“ zu werden. Der Doktor iuris würde hingegen weitgehend aus den juristischen Berufen verschwinden und nur von jenen angestrebt werden, die sich der wissenschaftlichen Laufbahn widmen möchten. Das Doktoratsstudium für Juristen beträgt allerdings schon heute 6 Semester und erfordert ein spezielles Lehrprogramm. Insofern hat man in den sauren Apfel eines überflüssigerweise überfrachteten Doktoratsstudiums bereits gebissen. Wer bereits B gesagt hat, muss nicht auch noch A sagen. Es bleibt beim Postulat: Die Einführung des Bologna-Modells im Bereich der Rechtswissenschaften ist nachdrücklich abzulehnen.
Naturrechtsdenken im Banne Kelsens. Erwägungen zum Verhältnis von Kelsen und Verdross GERHARD LUF, Wien
I. Einleitende Überlegungen Es ist im Vergleich zu anderen Ländern höchst bemerkenswert, wie sehr die Theorie eines einzigen Wissenschaftlers, nämlich Hans Kelsens, das Denken von Generationen österreichischer Juristinnen und Juristen geprägt hat. Dies gilt speziell für den Bereich des öffentlichen Rechts und natürlich für jenen der rechtstheoretischen Grundlagendiskussionen. Auf Grund dieser sowohl wissenschaftlichen als auch praktischen Dominanz der rechtpositivistischen Perspektive war es äußerst schwierig, einem solchen formalistischen rechtstheoretischen System ein „materiales“ Konzept der Rechtsbegründung wirkungsvoll entgegenzusetzen. Denn dieses sah sich nur zu schnell dem pauschalen Verdikt ausgesetzt, Resultat eines „naturrechtlichen“ Denkens zu sein, das auf Grund seines „metaphysischen“ Charakters nicht in der Lage sei, wissenschaftlichen Anforderungen zu entsprechen, vielmehr würde es Ideologien Vorschub leisten. Einer der wenigen und wohl auch der Einflussreichste unter jenen, die sich trotz dieser schwierigen Konstellation um ein materiales Konzept des Rechts im Lichte der Naturrechtstradition bemühten, war Alfred Verdross. Verdross legte sein besonderes Augenmerk auf die Aufgabe, in Orientierung an der antiken Rechtsphilosophie, insbesondere an Aristoteles eine Rehabilitierung des teleologischen Naturrechtsdenkens in der Rechtsphilosophie vorzunehmen. Verdross, der sich selbst als Schüler Hans Kelsens bezeichnete und diesem lebenslang freundschaftlich verbunden blieb, war Teilnehmer am Privatseminar Kelsens und erfuhr durch ihn wichtige und prägende wissenschaftliche Impulse. Gleichwohl ging er schon sehr bald auf kritische Distanz zum Rechtspositivismus seines Lehrers, wenngleich die explizite Kritik an Kelsen
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in seinem gesamten Werk nur wenig Raum einnimmt. Bestimmend war das Bemühen, gegenüber dessen Formalismus einem „materialen“ Rechtsverständnis den Weg zu bereiten. Mit seiner Hinwendung zu einer solchen Sicht des Rechts verband Verdross immer wieder die Hoffnung, dass auch Kelsen diese methodische Kehre vornehmen würde. Beispielhaft dafür sind Sätze, die Verdross 1930 zur Rechtstheorie Hans Kelsens formulierte. Hier heißt es: „Erst die Rückwendung zur gegenständlichen Philosophie, die sich aus zahlreichen Ansätzen allmählich vorbereitet, kann daher das Recht aus seiner Isolierung befreien, um es wiederum als Glied im Kosmos der Werte zu begreifen. Dann auch wird das tiefste Sehnen Kelsens die Sollgeltung des Rechts zu begründen, in Erfüllung gehen können. Auch seine übrige Lehre könnte dadurch an Wert nur gewinnen, da damit seine Kategorien, wenngleich mit gewissen Modifikationen, von bloßen Denkkategorien zu Gegenstandskategorien umgestaltet werden würden. Von ganzem Herzen wünschen wir daher Hans Kelsen, dass es ihm in der Stadt des Albertus Magnus vergönnt sein möge, sein großes, tief durchdachtes System aus der Hülle des Neukantianismus zu befreien, um es auf diesem Wege zur vollen Entfaltung zu bringen.“1 Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, das Verhältnis der Theorien von Kelsen und Verdross zu untersuchen. Kritische Aufmerksamkeit wird im Besonderen Verdross’ rechtsphilosophischen Bestrebungen geschenkt, das Naturrechtsdenken unter Gegenwartsbedingungen zu rehabilitieren.
II. Kritik am „Naturrecht“ Kelsen hat sich in vielen Anläufen kritisch mit dem Naturrechtsthema beschäftigt. Für seine Position ist charakteristisch, dass Naturrecht und positives Recht in geltungslogischer Perspektive als einander ausschließende, also geschlossene Normensysteme gesehen werden. Kelsen betont im Sinne dieser geltungslogischen Exklusivität, dass „vom Standpunkt einer auf die Geltung der Normen gerichteten Erkenntnis … nur eines dieser beiden Normsysteme und nicht beide zugleich als gültig angenommen werden“2 können. Behauptet ALFRED VERDROSS, Die Rechtstheorie Hans Kelsen’s (1930), wiederabgedruckt in: HANS KLECATSKY / RENÉ MARCIĆ / HERBERT SCHAMBECK (Hrsg), Die Wiener rechtstheoretische Schule, 2 Halbbände (Wien 1968) 1301–1309, hier 1308 f. 1
HANS KELSEN, Naturrecht und positives Recht (1927), wiederabgedruckt in: KLE/ MARCIC / SCHAMBECK (Hrsg), Rechtstheoretische Schule 215–244, hier 218. 2
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Naturrechtsdenken im Banne Kelsens
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„man nämlich die Geltung einer ‚natürlichen’ Ordnung, dann kann daneben nicht zugleich eine positive desselben Geltungsbereiches angenommen werden. … Neben dem Naturrecht ist ein positives Recht logisch unmöglich.“3 Ein solches Denken in einander ausschließenden Geltungsalternativen muss daher die Möglichkeit schlechthin ablehnen, zwischen naturrechtlichen Grundsätzen und positivierten Normen überhaupt eine Relation herstellen zu können. Das Ziel, einen solchen Zusammenhang herzustellen, wäre nur erreichbar, wenn man unter „Naturrecht“ nicht ein umfassendes System von Normen, sondern eine Summe von Prinzipien verstünde, welche die Legitimationsgrundlage für das positive Recht abgeben und im Wege der Gesetzgebung sowie durch gerichtliche Entscheidungen positiviert und solcherart konkretisiert werden sollten. Nur auf diese Weise wäre es möglich, die naturrechtlichen Grundsätze eben als zu konkretisierende Grundsätze in das System der positiven Rechtsordnung zu transformieren und zu integrieren. Diese Möglichkeit lehnt aber Kelsen, wie die obigen Zitate zeigen, radikal ab. Im Falle eines inhaltlichen Gleichklangs zwischen Naturrecht und positivem Recht werde dessen „spezifische positive Geltung … durch die höhere Norm bestätigt, dadurch gesichert und verstärkt. Das Naturrecht (leiste) solchem positiven Rechte die Funktion der Legitimierung und Konservierung.“4 Im Falle eines Widerspruchs zwischen Naturrecht und positivem Recht werde der Geltungsgrund des letzteren durch das Naturrecht als einer höheren Norm vernichtet. Dies hätte aber, so Kelsen, zur Folge, dass nur das Naturrecht Geltung besitze und von einer auch nur relative Geltung beanspruchenden Ordnung des positiven Rechts keine Rede sein könne;5 eine nicht nur für Kelsen absurde Konsequenz, weil damit die Positivität des Rechts schlechthin in Frage gestellt würde.
III. Verdross’ Rechtsquellenverständnis Das Anliegen, gegenüber dem Formalismus Kelsens eine „materiale“ Konzeption des Rechts zu entwerfen, bringt Verdross zunächst nicht in spezifisch rechtsphilosophischen, sondern in völkerrechtlichen Beiträgen zum Ausdruck. Freilich wird im Rahmen der Diskussion völkerrechtlicher Grundla-
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KELSEN, Naturrecht und positives Recht 227.
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KELSEN, Naturrecht und positives Recht 234.
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Vgl KELSEN, Naturrecht und positives Recht 235.
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genprobleme der rechtsphilosophischen Dimension immer schon besonderes Augenmerk geschenkt.6 Beispielhaft dafür ist die 1923 publizierte und Kelsen gewidmete Schrift: „Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung“. In diesem Buch erweist sich Verdross nicht nur als profunder Kenner der staatsphilosophischen und völkerrechtlichen Tradition im Kontext der geschichtlichen Entwicklung des Souveränitätsbegriffes. Er geht darin auch in kritische Distanz zu einem positivistischen Rechtsquellenverständnis, welches nur das Vertragsrecht und das Gewohnheitsrecht als Rechtsquellen des Völkerrechts gelten lässt. Verdross sieht darin eine unzulässige methodische Verengung, einen verfehlten „Quellenpurismus“ und betont, dass auch die „internationale Gerechtigkeit“ eine essentielle Völkerrechtsquelle darstelle. Die juristische Erfahrung zeige, so Verdross, „dass die internationalen Akte nicht nur auf jene Quellen (Anm: Vertrags- und Gewohnheitsrecht), sondern auch auf die ‚internationale Gerechtigkeit’ Bezug nehmen, diese als Regel zugrunde legen, selbst wenn kein Staatsvertrag auf diese Quelle verweist.“7 Zu dieser überstaatlichen Rechtsquelle werden neben der „Billigkeit“ vor allem die von den zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsprinzipien gezählt. Diese seien allerdings nur subsidiär heranzuziehen, sofern Vertrags- und Gewohnheitsrecht keine Lösungen bereitstellten. Es sei dabei die rechtsschöpferische Aufgabe der Völkerrechtsdoktrin, „aus den allgemeinen Grundgedanken internationaler Gerechtigkeit neue Rechtssätze zur Formulierung (zu bringen) und für die Anwendung“ bereitzustellen.
Zur Entwicklung VERDROSS’ als Rechtsphilosoph vgl ERHARD MOCK, Die Erschließung der materialen Rechtsphilosophie, in: HERBERT MIEHSLER ua (Hrsg), Ius humanitatis, FS zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross (Berlin 1980) 9–22; HERIBERT FRANZ KÖCK, Alfred Verdross – Ein österreichischer Rechtsgelehrter von internationaler Bedeutung (= Schriftenreihe Niederösterreichische Gesellschaft 56, Wien 1991) 18 ff; HERBERT SCHAMBECK, Alfred Verdross als Rechtsphilosoph und die Wiener Rechtstheoretische Schule, in: PETER FISCHER ua (Hrsg), Die Welt im Spannungsfeld zwischen Regionalisierung und Globalisierung, FS für Heribert Franz Köck (Wien 2009) 527–542.
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ALFRED VERDROSS, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung (Tübingen 1923) 120. 7
Naturrechtsdenken im Banne Kelsens
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IV. Verdross’ Kritik an der „Grundnorm“ Eine explizite Kritik an Kelsens Formalismus enthält Verdross’ Auseinandersetzung mit der Konzeption der „Grundnom“ als einer hypothetischen, alle „materialen“ Gehalte ausschließenden Annahme. Die Kritik verfolgt das Ziel, darzulegen, dass keine Rechtstheorie in der Lage sei, die Frage nach materialen Komponenten der Rechtsbegründung auszublenden. Diese Unvermeidbarkeit gilt nach Verdross’ Ansicht eben auch für die Rechtstheorie Kelsens. Verdross betont nämlich, es bleibe bei der formalen Konzeption der Grundnorm Kelsens „die entscheidende Frage offen, ob und aus welchem Grunde wir überhaupt positive Anordnungen als verbindlich betrachten können. Offen bleibt dabei auch die Frage, warum wir bestimmten Befehlen gehorchen und anderen den Gehorsam verweigern können.“8 Kelsen argumentiere im Widerspruch zu seinen methodischen Prämissen nicht voraussetzungslos, insofern er für die Annahme der Grundnorm einen Machthaber voraussetze, der imstande sei, „seinen Anordnungen regelmäßig Gehorsam zu verschaffen“.9 Ein solches Verständnis der Grundnorm ergebe „sich offenbar daraus, dass Kelsen das Recht im traditionellen Sinne als Friedensordnung“10 betrachte. Damit werde „aber bereits das Tor zur materialen Rechtsphilosophie geöffnet, da Ruhe, Sicherheit und Ordnung Ziele sind, die zwar durch das positive Recht verwirklicht werden sollen, keineswegs aber von ihm erst gesetzt werden.“11 Verdross’ Argumentation weist auf überzeugende Weise darauf hin, dass die Formalität der Grundnorm jedenfalls in einer Hinsicht, nämlich im Hinblick auf die ihr zugrunde liegende Konzeption der Rechtsordnung als Friedensordnung, immer schon über die bloß formale Positivität des Rechts auf materiale Aspekte hinausweist. Diese „vom positiven Recht vorausgesetzten und durch das positive Recht zu verwirklichenden Werte, die mit dem Ausdruck Friedenswert zusammengefasst werden“, könnten allerdings, so Verdross, in einem engeren und in einem weiteren Sinne verstanden werden. Im engeren Sinn verstanden manifestiere sich der Friedenswert allein im Wert der Rechtssicherheit, der gegenüber Forderungen der Gerechtigkeit unabhängig konzipiert sei. In dieser Hinsicht bestünden Parallelen zwischen Kelsen und
ALFRED VERDROSS, Die Erneuerung der materialen Rechtsphilosophie (1957), wiederabgedruckt in: KLECATSKY / MARCIC / SCHAMBECK (Hrsg), Rechtstheoretische Schule 737–762, hier 738. 8
9
VERDROSS, Erneuerung 739.
10
Ebenda.
11
Ebenda.
244
GERHARD LUF
der ursprünglichen Lehre Radbruchs von der Prävalenz der Rechtssicherheit vor der Gerechtigkeit. Eine weiter reichende Konzeption des Friedenswertes müsse auch andere, der Idee der Gerechtigkeit verpflichtete Rechtswerte, in ihr Begründungsprogramm einbeziehen. Verdross weist in seiner Kritik an dem engen Begriffsverständnis des Friedenswertes mit Recht darauf hin, dass dieser bzw jener der mit ihm identifizierten Rechtssicherheit gegenüber anderen Werten nicht isoliert werden könne, sondern mit diesen „unlöslich verknüpft“12 sei. Ein dauerhafter Friedenszustand sei nicht allein durch institutionelle Maßnahmen wie Gewaltverzicht, Monopolisierung von Macht sowie gerichtsförmige Streiterledigung herstellbar. Es müssten „vielmehr auch die Beziehungen der Rechtsgenossen untereinander und zur Gemeinschaft so geordnet werden, dass ein möglichst harmonisches Zusammenleben der Menschen ermöglicht wird.“13 Ansonsten befinde sich „die Gemeinschaft in einer ständigen Unruhe“ und laufe Gefahr, „durch den passiven und aktiven Widerstand der Rechtsgenossen zersetzt zu werden.“14 Kelsen nähere sich dieser Einsicht zwar in seiner „General Theory of Law and State“, in der er betont, „dass nur eine solche Ordnung den sozialen Frieden zu sichern vermag, welche die sozialen Reibungen auf ein Minimum herabdrückt.“15 An dieser Bemerkung manifestiere sich freilich ein Widerspruch zur immer wieder artikulierten Auffassung, wonach Recht jeden beliebigen Inhalt haben könne. Für Verdross folgt daraus, dass die Grundnorm, sofern man „das Recht als echte Friedensordnung definiert, … nicht mehr allen beliebigen Anordnungen eines sozialen Machthabers zu gehorchen vorschreiben“16 könne. Sie müsse dessen Macht „durch die Anweisung begrenzen, bestimmte Grundwerte im positiven Recht zu verwirklichen.“17
12
VERDROSS, Erneuerung 740.
13
Ebenda.
ALFRED VERDROSS, Abendländische Rechtsphilosophie. Ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau2 (Wien 1963) 250.
14
15
Ebenda.
16
Ebenda.
17
Ebenda.
Naturrechtsdenken im Banne Kelsens
245
V. Rehabilitierung der Teleologie Aber auf welchen theoretischen Grundlagen kann eine solche materiale, Grundwerten der Gerechtigkeit verpflichtete Rechtsphilosophie entwickelt werden? Verdross macht zunächst eine methodische Einschränkung: Zugang zu solchen Grundwerten kann seiner Ansicht nicht im Wege einer phänomenologischen Wertlehre im Anschluss an Scheler und Hartmann gewonnen werden. Eine solche Wertlehre müsse angesichts der Subjektivität des Wertbewusstseins und der Werterlebnisse an dem Vermögen einer objektiven Werterkenntnis scheitern. Für ihn bietet sich als Weg an, den „radikalen Dualismus von Sein und Sollen“18 zu überwinden, indem im Hinblick auf das Problem des von Natur aus Gerechten (physei dikaion) an die antike Rechtsphilosophie im Lichte der Rehabilitierung eines teleologischen Seinsbegriffes angeknüpft wird. Im Gegensatz zum Seinsverständnis der Moderne mit seinem Rekurs auf mathematisch erfassbare Ursachen- und Wirkungszusammenhänge, in welchen „die Zielstrebigkeit oder Finalität aus der Naturerkenntnis bewusst ausgeschaltet wird“,19 bilde „das Sein für die antike Philosophie einen stufenförmigen Aufbau von Gegebenheitsschichten, von denen die eine auf die andere hinweist und die zusammen einen Kosmos, also eine sinnvolle Ordnung“20 konstituieren. Der Begriff der menschlichen Natur werde in einem doppelten Sinn verwendet. Entweder verstehe man „darunter die tatsächliche Beschaffenheit des Menschen mit allen seinen Trieben und Neigungen oder aber seine in der Gemeinschaft entfaltete und zur Vollendung strebende Natur.“21 Die SeinSollen-Dichotomie bei Kelsen sei nachvollziehbar, sofern er Natur im naturwissenschaftlichen Sinn als „die durch das Gesetz der Kausalität verknüpften Erscheinungen in Raum und Zeit“22 verstünde. Doch halte Kelsen an dieser Dichotomie in ausdrücklicher Gegnerschaft gegenüber einem teleologischen Naturbegriff auch im normativen Bereich fest. Gegen einen solchen Naturbegriff mache Kelsen geltend, dass dieser mit der Annahme eines objektiven, der Natur immanenten Zweckes eine „theologische Grundanschauung“ und mit ihr eine wissenschaftlich nicht beweisbare „transzendente Autorität“ 18
VERDROSS, Erneuerung 745.
19
Ebenda.
20
Ebenda.
21
VERDROSS, Abendländische Rechtsphilosophie 247.
22
ALFRED VERDROSS, Statisches und dynamisches Naturrecht (Freiburg 1971) 60.
246
GERHARD LUF
voraussetze. Überraschenderweise stellt Verdross diese fragwürdige Schlussfolgerung Kelsens gar nicht in Frage, sondern pflichtet ihr insoweit bei, „als die causa essendi eines objektiven, den Lebewesen immanenten Zweckes nur eine transzendente Autorität sein kann, die ihn ihrer Natur eingepflanzt hat.“23 Im Gegensatz zu Kelsen arbeite eine an Aristoteles orientierte Philosophie „aber mit einem viel weiteren Begriff der Natur, da dieser nicht nur die Natur der Naturwissenschaften, sondern die Gesamtheit der Wirklichkeit umfasst. In dieser finden wir aber nicht nur kausale, sondern auch finale Beziehungen, da alles organische Leben auf Entfaltung und Vollendung hinzielt.“24 Wenn man „unter Natur des Menschen seine in der Gemeinschaft entfaltete und zur Vollendung strebende Natur versteht, dann erscheint es durchaus zulässig, jene Anlagen als natürlich zu bezeichnen, die geeignet sind, den Menschen zur vollen Entfaltung seiner geistig-sittlichen Persönlichkeit hinzulenken, da sich gerade dadurch die menschliche Natur von der Natur der anderen Lebewesen unterscheidet.“25 Verdross ist nun der Überzeugung, dass sich dieses teleologische Naturverständnis der Antike auch unter heutigen Bedingungen konzipieren und für die Rechtsphilosophie fruchtbar machen ließe.
VI. Teleologie und Moderne? Das Anliegen einer Rehabilitierung der Teleologie unter Bedingungen der Moderne ist allerdings methodisch höchst fragwürdig. Denn es sieht sich damit konfrontiert, dass ein teleologisches Konzept der Natur in der Neuzeit aus vielen, hier nicht im Einzelnen anzuführenden Gründen, in eine schwerwiegende Krise geraten ist. War es in Antike und Mittelalter in eine Hermeneutik eines in der Wirklichkeit der politischen Gemeinschaft gegebenen Ethos eingebunden, so hat es in der Neuzeit seinen ursprünglichen legitimatorischen Stellenwert verloren. Die neuen rechtlichen, gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeiten stellten angesichts der Krisen des tradierten Ethos vor Herausforderungen normativer Letztbegründung, die im Rekurs auf vorgängige Teleologien nicht mehr bewältigt werden konnten. Die neuzeitlichen Theorien des Gesellschaftsvertrages stellen, so unterschiedlich sie im Einzel-
23
VERDROSS, Naturrecht 62.
24
Ebenda.
25
VERDROSS, Abendländische Rechtsphilosophie 247.
Naturrechtsdenken im Banne Kelsens
247
nen sein mögen, den Versuch dar, den neuen Legitimationsanforderungen auf Grundlage poietischer Subjektivität freier und gleicher Individuen und unter Abkehr von einer vorgängigen Teleologie zu entsprechen. Auf welcher Grundlage diese Krise die Teleologie überwunden und ihre Rehabilitierung26 unter Bedingungen der Moderne erfolgen soll, wird nicht eingehend begründet. Verdross’ Argumentation unterliegt der Tendenz, ohne vertiefte philosophische Begründung bloße Allgemeinplätze wiederzugeben. So wird betont, die Teleologie wirke sich „in der Rechtsphilosophie vor allem in der Weise aus, dass alle Menschen durch ihre hilfsbedürftige Natur ständig aufeinander angewiesen sind“.27 Diese Angewiesenheit des Menschen auf die Hilfe anderer bedürfe zu ihrer Überwindung und zur Vervollkommnung der menschlichen Anlagen einer „alle Lebensverhältnisse umfassenden Gemeinschaft“,28 die schon Aristoteles mit seiner Charakterisierung des Menschen als ein seiner Natur nach politisches Wesen angesprochen habe. Ein solcher Topos mag zwar einen ersten Ansatzpunkt bilden. Er bedürfte freilich einer anspruchsvollen Konkretisierung, die Verdross, sieht man von Hinweisen auf die Geschichte des Perfektionsgedankens bei und seit Thomas von Aquin ab, bestenfalls in Ansätzen versucht. Die Forderung nach einer Rehabilitierung der Teleologie resultiert im Wesentlichen aus der Ablehnung der neuzeitlichen Rechtsphilosophie, deren Ergebnisse sehr verallgemeinernd als Abfall von einer umfassenden Teleologie qualifiziert werden und zu einer in anthropologischer Perspektive einseitigen Sicht des Menschen geführt hätten. In geradezu lakonischer Kürze wird die Rechtsphilosophie der Aufklärung als unzureichend abqualifiziert, wenn betont wird: „Zwar finden wir verschiedene Versuche, vom Wesen des Menschen aus zu einer Rechtsphilosophie zu gelangen, alle diese Versuche sind aber gescheitert, da sie nur eine Seite der menschlichen Natur betrachtet und auf dieser allein ihr Gebäude aufgebaut haben. So will z.B. Pufendorf das Recht aus dem Geselligkeitstrieb, Hobbes aus dem Selbsterhaltungstrieb und Kant bloß aus dem Bestreben, die menschliche Freiheit zu sichern, ableiten.“29 Freilich wird die Kritik im Hinblick auf einzelne Autoren unterschiedlich gewichtet. Besonders schlecht kommen Autoren wie etwa Hobbes und Rousseau weg. Deren Vertragstheorien werden als Konsequenz einer schrankenlos 26
Über Verdross’ Hinwendung zur Teleologie vgl MOCK, Erschließung 18 ff.
27
VERDROSS, Erneuerung 747.
28
Ebenda.
29
VERDROSS, Erneuerung 749.
248
GERHARD LUF
gedachten Freiheit und damit einer Pervertierung des Freiheitsgedankens qualifiziert. Hobbes behaupte, der Mensch sei ein „von Natur aus … asoziales Wesen“ und verwerfe damit „die traditionelle Lehre der Hinordnung auf ihr Telos oder ihre Idee, wodurch eine natürliche Verbindung zwischen den Menschen gestiftet“30 werde. Die Lehre Rousseaus münde „in eine schrankenlose Mehrheitsdiktatur …, da der ‚volonté générale’ keine naturrechtlichen Grenzen gezogen sind. Auf diesem Wege (führe) die totale Freiheit, von der Rousseau ausgeht, zum totalen Staat hin, der das Menschenleben ganz und gar umgreift.“31 Hobbes und Rousseau werden in dem 1971 erschienenen Buch: „Statisches und dynamisches Naturrecht“ der „liberalistischen“, auf Grund ihres Individualismus sozial defizitären Version der Naturrechtslehre der Neuzeit zugezählt.32 Kants Rechtsphilosophie wird immerhin zugebilligt, dass diese trotz eines „naturalistischen Ausgangspunktes“ doch zu einer Konzeption der Würde des Menschen als Basis seiner Naturrechtslehre vorgedrungen sei.33 Im Gesamten bleibt es bei der Distanzierung gegenüber der Rechtsphilosophie der Aufklärung. Wie aber sollen diese kritisierten Verengungen und Einseitigkeiten auf anthropologischer Ebene vermieden werden? Verdross sucht diese Frage in Anlehnung an die Rechtsphilosophie von Heinrich Ahrens (1808–1874) zu klären. Denn, so betont Verdross, Ahrens habe das „erste neuzeitliche System der Rechtsphilosophie (entworfen), das wiederum auf einer umfassenden Grundlage aufgebaut wurde.“34 Sein teleologisches, am Wesen und an der Bestimmung des Menschen orientiertes Rechtsverständnis gehe, so Verdross, über Aristoteles und Thomas insofern hinaus, als er nicht bloß die soziale Natur des Menschen, sondern auch seine sittliche Persönlichkeit in den Vordergrund der Rechtsbegründung stelle. Freiheit zur sittlichen Selbstbestimmung bilde aber nicht die letzte Grundlage des Rechts, sondern sei auf das Ziel ausgerichtet, den „Lebenszwecken“ der Menschheit zu dienen. Das teleologisch vorstrukturierte Gute werde im Recht zwar nicht wie in der Moral unmittelbar, sondern mittelbar dadurch verwirklicht, „dass die sozialen Vor-
30
VERDROSS, Abendländische Rechtsphilosophie 115.
31
VERDROSS, Abendländische Rechtsphilosophie 128.
Verdross unterscheidet davon eine soziale (Grotius, Pufendorf, Thomasius und Wolff) und eine personalistische Richtung, wobei letztere speziell in den päpstlichen Enzykliken von Papst Johannes XXIII. zum Ausdruck komme. 32
33
Vgl VERDROSS, Abendländische Rechtsphilosophie 262.
34
VERDROSS, Erneuerung 749.
Naturrechtsdenken im Banne Kelsens
249
aussetzungen geschaffen werden, um den Menschen zu befähigen, seiner sittlichen Bestimmung gemäß zu leben.“35 Als weiterer Gewährsmann für die Wiederkehr des teleologischen Denkens wird Johannes Messner genannt, der in seinem 1950 erschienenen „Naturrecht“ das Recht in neo-scholastischer Tradition zu begründen sucht. Messner fundiert seine Konzeption von Recht in „existentiellen Zwecken“, die in einen objektiven Zweckzusammenhang gestellt sind und der menschlichen Selbstbestimmung die zu verwirklichenden Ziele vorgeben.
VII. Naturrecht und Menschenrechte Die für Verdross charakteristische Tendenz, die Formen neuzeitlich-aufklärerischer Rechtsbegründung entweder nur peripher zur Kenntnis zu nehmen oder aber sie als Verengung der Frage nach der Natur des Menschen zu qualifizieren, manifestiert sich auch in seinen Ausführungen zur Idee der menschlichen Grundrechte.36 Ausgehend von der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen aus 1948 grenzt er diese sogleich von den Grundrechtsgarantien liberaler Verfassungen ab. Er schreibt: „Während nämlich diese die Freiheit des Individuums gegen eine überspannte oder willkürliche Staatsgewalt gewährleisten wollen, spiegelt sich in der Deklaration der Menschenrechte die Wandlung vom liberalen Staat zum Wohlfahrtsstaat wider… Das Wesen dieser großen Wandlung besteht aber darin, dass die menschlichen Grundrechte nicht mehr mit den Freiheitsrechten gleichgesetzt werden, sondern dass diese durch andere Rechte ergänzt werden, um die dem Menschen zukommende Würde zu sichern.“37 Es ist Verdross beizupflichten, dass die Menschenrechte nicht mit liberalen Abwehrrechten gleichgesetzt werden dürfen, sondern weiter reichende Schutz- und Gestaltungsansprüche angesichts vielfältiger Bedrohungen von Humanität umfassen. Aber die für Verdross charakteristische Relativierung der Freiheitsrechte gegenüber anderen Rechtsgarantien führt dazu, dass gegenüber allgemeinen humanitären Prinzipien das geschichtliche Spezifikum der Menschenrechte aus dem Blick gerät, fundamentale Rechtsgarantien ge-
35
VERDROSS, Erneuerung 751.
ALFRED VERDROSS, Die Idee der menschlichen Grundrechte (1954), wiederabgedruckt in: KLECATSKY / MARCIC / SCHAMBECK (Hrsg), Rechtstheoretische Schule 693–699. 36
37
VERDROSS, Erneuerung 694.
250
GERHARD LUF
genüber allen Formen der Bedrohung menschlicher Freiheit unter Bedingungen moderner Staatlichkeit zu sein. Dieser Freiheitsbezug ist nicht nur für die expliziten Freiheitsrechte maßgeblich, sondern auch für soziale Grundrechtsgarantien. Denn auch diese sind im Lichte eines ursprünglichen Freiheitsbezuges auf den Anspruch gegründet, soziale Voraussetzungen der Freiheit zu garantieren, also Realbedingungen der Verwirklichung von Freiheit zu schaffen. Dieser unabdingbare Freiheitsbezug der Menschenrechte zeigt sich strukturell gerade in deren Qualität als subjektive Rechte. Mit der Qualität der Menschenrechte als subjektiver Rechte ist nicht allein die für die Gleichheit relevante Tatsache angesprochen, dass sie jedem Rechtssubjekt zustehen. Mehr noch von Bedeutung ist, dass in ihnen eine Rechtsordnung den Normunterworfenen die Willensmacht zuspricht, staatliche Herrschaft in für die Entfaltung als Person grundlegenden Fragen zu begrenzen bzw aufzufordern, durch positives Tun institutionelle Bedingungen des Freiheitshandelns zu schaffen. Dieser spezifisch neuzeitliche Aspekt der Rechtsbegründung bleibt in Verdross’ Sicht der Grundrechte aber weitgehend ausgeblendet. Dies hat zur Folge, dass auf der Suche nach einer gemeinsamen Grundlage der Menschenrechte als allgemeiner Maßstab „richtigen“ Rechts die Forderung formuliert wird, dieses müsse in einer die Freiheitsdimension überschreitenden umfassenderen humanen Dimension fundiert werden und „der leiblich-geistigen und sittlichen Natur des Menschen“38 entsprechen. In dieser Sicht wird die Natur des Menschen als ein humanitäres Prinzip konzipiert, das nicht spezifisch neuzeitlich, sondern auf eine lange philosophische Tradition rückführbar ist. Als Konsequenz eines solchen Verständnisses der Menschenrechte als humanitäre Prinzipien werden sodann Beispiele aus der politischen Philosophie von Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin angeführt. Im Gegensatz zu den „antihumanistischen Staatslehren“ von Machiavelli und Hobbes lebe die „humane Anthropologie im Humanismus weiter, der antike und christliche Motive miteinander“39 verbinde. Er manifestiere sich in der Begrenzung der Staatsgewalt zugunsten der Individuen in den säkularisierten Naturrechtslehren der Neuzeit (Grotius, Althusius, Locke) und komme speziell in der am Begriff der Menschenwürde orientierten Naturrechtslehre Pufendorfs zum Ausdruck.
38
VERDROSS, Erneuerung 695.
39
VERDROSS, Erneuerung 698.
Naturrechtsdenken im Banne Kelsens
251
Schließlich werde auch an Kants Verständnis der Würde des Menschen augenscheinlich, „dass von echten menschlichen Grundrechten nur die Rede sein kann, wenn eine über dem positiven Recht stehende höhere Ordnung anerkannt wird, welche den positiven Gesetzgeber anweist, sich bei der Gestaltung des positiven Rechtes von der Idee der Würde des Menschen leiten zu lassen.“40 Mit dem Rekurs auf eine über dem positiven Recht stehende „höhere Ordnung“ nimmt Verdross eine betont „naturrechtliche“ Interpretation Kants vor, die ihn in die Kontinuität der humanistischen Tradition stellt. An dieser Argumentation ist charakteristisch, dass sie auch in diesem Zusammenhang die geschichtliche Kontinuität humanitärer Prinzipien gegenüber der Diskontinuität neuzeitlicher Menschenrechtsbegründung in den Vordergrund rückt. In den Hintergrund tritt dabei, dass antiker Humanismus und Christentum zwar wichtige geistesgeschichtliche Wurzeln der Menschenrechte darstellen, in der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte des Rechts aber doch eine strukturell neue Deutung erfahren haben.
VIII. Primäres und sekundäres Naturrecht Naturrechtliche Ansätze speziell nach 1945 sehen sich mit der Anforderung konfrontiert, die Geschichtlichkeit und damit die Wandelbarkeit aller Rechtsverwirklichung zu berücksichtigen, eine Anforderung, die durch die Konzeption eines starren und überzeitlichen Systems naturrechtlicher Normen unberücksichtigt bliebe. Verdross sucht dieser Tatsache Rechnung zu tragen, indem er im Anschluss an die klassischen Naturrechtslehren zwischen primärem und sekundärem Naturrecht unterscheidet. Nur dem primären Naturrecht kann demnach der Charakter der Unveränderlichkeit zugesprochen werden, wobei diese Qualität nur einigen wenigen abstrakten Grundsätzen zukommt. Alle anderen Normen sind als Konkretisierungen dieser konstanten Grundsätze unter sich wandelnden geschichtlichen Bedingungen dem sekundären Naturrecht zuzuzählen und bleiben der Veränderung unterworfen. Dies macht in Verdross’ Sicht den „dynamischen“ Charakter der Naturrechtslehre aus, die die Anforderungen für eine rationale Rechtspolitik formuliert. Verdross betont daher: „Rationale Rechtspolitik ist … nichts anderes als angewandte sekundäre Naturrechtslehre.“41 Fraglich bleibt dabei aber, welchen Prinzipien das Attribut der Unveränderlichkeit zugesprochen werden kann. Verdross’ Ausführungen bleiben auch in 40
VERDROSS, Erneuerung 699.
41
VERDROSS, Naturrecht 115.
252
GERHARD LUF
diesem Zusammenhang sehr allgemein. Es verweist beispielhaft auf die „existentiellen Zwecke“ bei Messner, wie „Selbsterhaltung, Selbstvervollkommnung, Erziehung der Kinder, Ausweitung des Wissens, Sicherung des Friedens und der Ordnung“.42 Ob diese abstrakten Grundsätze unter komplexen Bedingungen moderner Staatlichkeit geeignet sind, für ihre Konkretisierung Kriterien mit hinreichender Bestimmtheit bereitzustellen, ist allerdings fragwürdig. Denn über die genannten Zwecke besteht zwar auf dieser abstrakten Ebene auch in einer pluralistischen Gesellschaft weitgehende Übereinstimmung. Im Grunde genommen handelt es sich hier um Allgemeinplätze, die in einem auch für pluralistische Gesellschaften postulierten „Wertekonsens“ zum Ausdruck kommen. Probleme und Kontroversen treten aber dann auf, wenn es gilt, im Wege der Konkretisierung zwischen den Zielen und Werten normative Gewichtungen vorzunehmen, zwischen interessenspezifischen Handlungs- und Gestaltungsalternativen Entscheidungen zu treffen, Grenzen staatlichen Handelns abzustecken, faire Verfahrensgarantien für den Prozess der rechtlich-politischen Entscheidungsfindung zu schaffen und vieles mehr. Für solche Abwägungsprozesse fehlen dieser Theorie jene Kriterien, die als transzendentaler Anknüpfungspunkt fungieren könnten. Sie bleibt daher letztlich abstrakt-allgemein und in dieser Abstraktheit unverbindlich.
IX. Abschließende Bemerkungen Die alternative und exklusive Gegenüberstellung von Naturrecht und Rechtspositivismus stellt eine charakteristische Konsequenz aus Kelsens wissenschaftstheoretischen Grundprämissen dar. Dazu gehört ein von Verdross zu Recht kritisiertes Wirklichkeitsverständnis, das Wirklichkeit mit der Faktizität des Seienden identifiziert und sich daher außer Stande sieht, materiale normative Prinzipien für die Gestaltung von Handlungszusammenhängen im Medium praktischer Wirklichkeit zu formulieren. Die Welt des Normativen bleibt zur Faktizität des Seienden in einem abstrakten und unvermittelten Gegenüber. Dies hat im Weiteren zur Konsequenz, dass, wie dargestellt wurde, Naturrecht und positives Recht als kompakte, in geltungslogischer Perspektive einander ausschließende Normensysteme begriffen werden. Auf diese Weise wird es von vornherein unmöglich, die Transformation von sitt-
ALFRED VERDROSS, Dynamisches Naturrecht (1965), wiederabgedruckt in: KLE/ MARCIC / SCHAMBECK (Hrsg), Rechtstheoretische Schule 933–939, hier 936. 42
CATSKY
Naturrechtsdenken im Banne Kelsens
253
lichen Prinzipien in das System des positiven Rechts so zu thematisieren, dass dies die Realität der Rechtsverwirklichung zu erreichen vermöchte. Für Verdross war diese Transformation sittlicher Prinzipien in das System des positiven Rechts zentraler Gegenstand seines Bemühens um die Begründung einer aktuellen Naturrechtstheorie. Er kritisierte mit guten Gründen Kelsens Wirklichkeitsverständnis als einseitig von einem naturwissenschaftlichen Paradigma bestimmtes Konzept. Ihm stellt er sein eigenes, im Wege der Anknüpfung an die Tradition der Antike und des christlichen Mittelalters entwickeltes Konzept einer teleologisch verfassten Wirklichkeit als normativer Basis des Rechts gegenüber. Problematisch an diesem Konzept ist, wie gezeigt werden sollte, die mangelnde Berücksichtigung jener Anforderungen, die durch die Aufklärung an das Programm der Normenbegründung herangetragen wurden. Eine für Antike und Mittelalter charakteristische Anknüpfung an vorhandenes Ethos und dessen anthropologischen Prämissen als Basis einer politischen Hermeneutik erweist sich in säkularisierten, pluralistischen, durch die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels charakterisierten Gesellschaften als nicht mehr gangbar. Wählt man diesen Weg, dann läuft die naturrechtliche Normenbegründung auf die Postulierung von abstrakten Prinzipien hinaus, die in ihrer Abstraktheit für die Konkretisierung von Recht inhaltlich unbestimmte und daher praktisch unzureichende Kriterien bereitstellen.
Zum Beamtenbegriff des Strafgesetzbuches* HEINZ MAYER, Wien Diese Untersuchung versucht zu klären, ob Beamte der Stadt Wien, die in einer Unternehmung der Stadt Wien tätig sind, als Beamte im Sinne des § 74 Abs 1 Z 4 StGB zu qualifizieren sind. Als Beispiel dient die Unternehmung „Stadt Wien – Wiener Wohnen“. Die Beantwortung dieser Frage ist für die Auslegung der Bestimmungen des StGB von Bedeutung, die an die Beamteneigenschaft anknüpfen.1
I. Die Unternehmung der Stadt Wien § 71 der Wiener Stadtverfassung sieht vor, dass „Unternehmungen im Sinne der Stadtverfassung jene wirtschaftlichen Einrichtungen sind, denen der Gemeinderat die Eigenschaft einer Unternehmung zuerkennt.“ Gem § 71 Abs 2 der Wiener Stadtverfassung besitzen Unternehmungen keine Rechtspersönlichkeit; doch wird ihr Vermögen vom übrigen Vermögen der Gemeinde gesondert verwaltet. Die Unternehmungen sind nach wirtschaftlichen Grundsätzen zu führen. Soweit eine Eintragung der Unternehmungen in das Firmenbuch erfolgt, muss aus der Firmenbezeichnung ersichtlich sein, dass es sich um eine Unternehmung der Stadt Wien handelt. Die Bestimmung des § 71 der Wiener Stadtverfassung findet sich in der achten Abteilung der Wiener Stadtverfassung, die dem Magistrat gewidmet ist; daraus folgt, dass die Unternehmungen organisatorisch als Untergliederungen des Magistrats zu qualifizieren sind. Aus § 106 Abs 1 Wiener Stadtverfassung folgt, dass Unternehmungen Organisationseinheiten der Geschäftsgruppen des Magistrats sind. § 71 Abs 3 der Wiener Stadtverfassung macht deutlich,
*
Die Ausführungen beruhen auf einem Rechtsgutachten des Verfassers.
Vgl zB §§ 302, 303, 310 StGB. Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 2007 (BGBl I 2007/109 wurde der Begriff des „Amtsträgers“ geschaffen (§ 74 Abs 1 Z 4a-4c StGB); das Korruptionsstrafrecht knüpft seit damals weitgehend an diesen Begriff an; näher GABRIELE KUCSKO-STADLMAYER, Korruptionsstrafrecht und Dienstrecht, JBl 2009, 742–750.
1
256
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dass Unternehmungen in der Organisation des Magistrats eine gewisse Ausnahme darstellen; für sie gilt die Geschäftsordnung und die Geschäftseinteilung des Magistrats nur insoweit, als darin auf die Unternehmungen ausdrücklich Bezug genommen wird. Im Übrigen gilt für die Unternehmungen ein Statut, das vom Gemeinderat zu beschließen ist.2 Das Statut der Unternehmung soll diese mit einer „erhöhten Selbständigkeit ... gegenüber den übrigen Teilen des Magistrats“ ausstatten.3 Diese Selbständigkeit der Unternehmung besteht also innerhalb des Magistrats gegenüber den anderen Organisationseinheiten; im Wesentlichen betreffen die Abweichungen von der Geschäftsordnung und von der Geschäftseinteilung das Rechnungswesen und die Rechnungslegung, die Buchführung und den Bereich der Finanzierung. Die leitenden Bediensteten der Unternehmungen stehen den leitenden Bediensteten im Sinne der Geschäftseinteilung gleich; beide sind befugt, „innerhalb ihres Aufgabenkreises“ die Gemeinde als juristische Person nach außen zu vertreten:4 dies bedeutet, dass sie befugt sind, „im Namen der Gemeinde“5 zu handeln. Die allgemein in Personalangelegenheiten bestehenden Zuständigkeiten gelten auch für Unternehmensorgane; diese Zuständigkeiten werden von den nach der Geschäftseinteilung für den Magistrat der Stadt Wien zuständigen Dienststellen wahrgenommen.6 Auf Grund des § 71 Abs 3 der Wiener Stadtverfassung hat der Gemeinderat zB ein Statut für die Unternehmung „Stadt Wien – Wiener Wohnen“ erlassen. In Wiederholung der Bestimmung des § 71 Abs 2 erster Satz Wiener Stadtverfassung bestimmt auch das Statut im § 1 Abs 2, dass die Unternehmung „Stadt Wien – Wiener Wohnen“ keine Rechtspersönlichkeit besitzt; ihr Vermögen wird vom übrigen Vermögen der Gemeinde gesondert verwaltet. Für die Zuständigkeiten im Bereich der Unternehmung sieht § 71 Abs 3 differenzierte Regelungen vor, die in den §§ 3 ff des Unternehmensstatuts näher präzisiert werden. Im Einzelnen sind die Zuständigkeiten auf den Gemeinderat, den Stadtsenat, den zuständigen Gemeinderatsausschuss, den Bürgermeister, den für Unternehmungen zuständigen amtsführenden Stadtrat,
Vgl auch § 91 Abs 4 Wiener Stadtverfassung (Verfassung der Bundeshauptstadt Wien LGBl 1968/28 idgF).
2
3
§ 71 Abs 3 Wiener Stadtverfassung.
4
§ 90 Abs 3 Wiener Stadtverfassung.
5
Vgl § 74 Abs 1 Z 4 StGB.
Vgl § 2 Abs 3 Unternehmensstatut [http://www.wien.gv.at/recht/landesrechtwien/rechtsvorschriften/pdf/v0012900.pdf].
6
Zum Beamtenbegriff des Strafgesetzbuches
257
den Magistratsdirektor und den Direktor der Unternehmung aufgeteilt. Die wesentlichen wirtschaftlichen Entscheidungen sind vom Gemeinderat (§ 4 Unternehmensstatut), vom Gemeinderatsausschuss (§ 6 Unternehmensstatut) und vom Magistratsdirektor (§ 9 Unternehmensstatut) zu treffen. Dem Direktor der Unternehmung obliegt die Geschäfts- und Betriebsführung nur insoweit, als diese nicht nach dem Statut einem anderen Organ zugewiesen ist (§ 10 Unternehmensstatut). Eine zusammenfassende Betrachtung zeigt, dass Unternehmungen der Stadt Wien gem § 71 Wiener Stadtverfassung organisationsrechtlich als Teile des Magistrats zu qualifizieren sind, für die die Geschäftseinteilung und die Geschäftsordnung des Magistrats nur ausnahmsweise gelten. Dies meint § 71 Abs 3 Wiener Stadtverfassung, wenn diese Bestimmung von „erhöhter Selbständigkeit der Unternehmungen gegenüber den übrigen Teilen des Magistrats“ spricht. Sowohl die Zuständigkeiten in Personalangelegenheiten wie auch die Zuständigkeiten in sachlicher Hinsicht obliegen im Übrigen den Gemeindeorganen, der Direktor ist diesen nachgeordnet und an deren Weisungen gebunden. § 9 Abs 2 Unternehmensstatut ermächtigt den Magistratsdirektor, dem Direktor der Unternehmung bestimmte Leitungsaufgaben des inneren Dienstes zu delegieren.
II. Der Beamtenbegriff des § 74 Abs 1 Z 4 StGB A. Allgemeines § 74 Abs 1 Z 4 StGB lautet: „Beamter: jeder, der bestellt ist, im Namen des Bundes, eines Landes, eines Gemeindeverbandes, einer Gemeinde oder einer anderen Person des öffentlichen Rechtes, ausgenommen einer Kirche oder Religionsgesellschaft, als deren Organ allein oder gemeinsam mit einem anderen Rechtshandlungen vorzunehmen, oder sonst mit Aufgaben des Bundes-, Landes- oder Gemeindeverwaltung betraut ist; als Beamter gilt auch, wer nach einem anderen Bundesgesetz oder auf Grund einer zwischenstaatlichen Vereinbarung bei einem Einsatz im Inland einem österreichischen Beamten gleichgestellt ist;“
Eine erste Betrachtung des Textes zeigt, dass die Bestimmung des § 74 Abs 1 Z 4 StGB eine Legaldefinition zur Festlegung des Anwendungsbereiches des Strafgesetzbuches enthält, dabei aber an das verwaltungsrechtliche Organisationsrecht anknüpft. Bevor die einzelnen Begriffsmerkmale näher analysiert
258
HEINZ MAYER
werden, können einige allgemeine Auslegungsergebnisse, wie sie in der bisherigen Lehre und Rechtsprechung vertreten werden, festgehalten werden: Seit jeher unbestritten war, dass der Beamtenbegriff des § 74 Abs 1 Z 4 StGB sowohl die Hoheitsverwaltung wie auch die Privatwirtschaftsverwaltung erfasst;7 dass einzelne Straftatbestände nur auf die hoheitliche Staatstätigkeit abstellen, ändert daran nichts.8 Unbestritten ist, dass der Beamtenbegriff des § 74 Abs 1 Z 4 StGB auf die Funktion und nicht auf die dienstrechtliche Stellung abstellt.9 Ein dienstrechtliches Ernennungs- oder Anstellungsverhältnis ist demnach für die Beamteneigenschaft nicht erforderlich.10 Die dargestellten Schlussfolgerungen aus § 74 Abs 1 Z 4 StGB sind zutreffend und werden – soweit ersichtlich – weder von der Lehre noch von der Judikatur in Zweifel gezogen. Eine genauere Analyse des § 74 Abs 1 Z 4 StGB zeigt, dass diese Bestimmung zwei – alternative – Voraussetzungen vorsieht, die die Beamteneigenschaft begründen können: Beamter ist zum Einen der, der bestellt ist, „im Namen“ einer der genannten juristischen Personen Rechtshandlungen vorzunehmen, oder – zum Anderen – „sonst mit Aufgaben der Bundes-, Landes- oder Gemeindeverwaltung betraut ist“. Der letzte Halbsatz der Bestimmung kann im vorliegenden Zusammenhang außer Betracht bleiben. In der Folge werden die genannten Voraussetzungen, die die Beamteneigenschaft begründen können, analysiert. B. „Im Namen des Bundes ... Rechtshandlungen vorzunehmen ...“ § 74 Abs 1 Z 4 erster Fall StGB qualifiziert den als Beamten, der bestellt ist, im Namen der dort genannten Gebietskörperschaften, eines Gemeindeverbandes „oder einer anderen Person des öffentlichen Rechts als deren Organ
7
ERNST EUGEN FABRIZY (Bearb), Strafgesetzbuch9 (Wien 2006) 247.
Vgl zB bereits FRANZ PALLIN, Rz 4 zu § 74 StGB, in: EGMONT FOREGGER / FRIEDRICH NOWAKOVSKI (Hrsg) Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch1 (Wien 1991); ROBERT JERABEK, Rz 5 zu § 74 StGB, in: FRANK HÖPFEL / ECKART RATZ (Hrsg) Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch2 (Wien 1999); OGH 21. 6. 1983, 10 Os 67/83= JBl 1984, 622. 8
9
Vgl zB auch FABRIZY, Strafgesetzbuch 248 mwN.
Vgl JERABEK, in: HÖPFL / RATZ, Wiener Kommentar Rz 4 zu § 74 StGB; OGH 18. 10. 1977, 9 Os 64/77 = EvBl 1978/72; OGH 21. 6. 1983, 10 Os 67/83 = JBl 1984, 622.
10
Zum Beamtenbegriff des Strafgesetzbuches
259
Rechtshandlungen“ vorzunehmen. Hier ist zunächst zu bemerken, dass mit dem Abstellen auf „Rechtshandlungen“ diejenigen Personen aus dem Beamtenbegriff ausgeschieden werden sollen, die bloß befugt sind „faktische Verrichtungen“ vorzunehmen.11 Mit „Rechtshandlungen“ meint das Gesetz rechtlich verbindliche Willensakte im hoheitlichen oder privatwirtschaftlichen Bereich. Daher ist zum Beispiel der, der ausschließlich mit technischen Wartungsaufgaben betraut ist, kein „Beamter“ im Sinne der zitierten Bestimmung, wohl aber der, der behördliche Entscheidungen zu treffen ermächtigt ist, oder der Verträge abschließen oder kündigen kann. Die Beamteneigenschaft im Sinne der ersten Alternative des § 74 Abs 1 Z 4 StGB setzt voraus, dass die betreffende Person ermächtigt ist, „im Namen“ einer Gebietskörperschaft eines Gemeindeverbandes oder einer anderen Person des öffentlichen Rechts zu handeln. Damit ist eine Beziehung ausgedrückt, die im Verwaltungsrecht mit „Zurechnung“ bezeichnet wird. Entscheidend ist also, ob die betreffende Person befugt ist, durch ihr Handeln Rechtswirkungen bei einer der genannten juristischen Personen – des öffentlichen Rechts – herbeizuführen. Dies bedeutet genauer, dass die betreffende Person durch eigene Willensakte Rechte und Pflichten für diese juristische Person herbeiführen kann. Eine solche Ermächtigung hat der, der zur Vertretung einer juristischen Person befugt ist. Lehre und Rechtsprechung betonen, dass jemand dann nicht „Beamter“ im Sinne des § 74 Abs 1 Z 4 erster Fall StGB ist, wenn er im Bereich „selbständiger Wirtschaftskörper“ tätig ist. Dies ist unbestreitbar dann richtig, wenn dieser selbständige Wirtschaftskörper eine eigene Rechtspersönlichkeit hat. Wer befugt ist, für diese Rechtspersönlichkeit zu handeln, ist auch dann kein Beamter im Sinne des § 74 Abs 1 Z 4 erster Fall StGB, wenn er seiner dienstrechtlichen Stellung nach Beamter oder Vertragsbediensteter ist, weil – wie oben gezeigt – die Funktion maßgeblich ist. Wer also für einen Wirtschaftskörper mit eigener Rechtspersönlichkeit handelt, handelt – wenn dieser Wirtschaftskörper eine privatrechtliche juristische Person ist – nicht mehr im Namen einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und ist daher nicht Beamter im Sinne des § 74 Abs 1 Z 4 erster Fall StGB. Das Handeln der betreffenden Person wird diesfalls der privaten juristischen Person zugerechnet oder – anders formuliert – diese Person handelt „im Namen“ dieser privaten juristischen Person und erfüllt daher die Voraussetzungen des § 74 Abs 1 Z 4 erster Fall StGB nicht.
11
Vgl JERABEK, in: HÖPFL / RATZ, Wiener Kommentar Rz 6 zu § 74 StGB.
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HEINZ MAYER
Die Judikatur scheint hier allerdings gelegentlich unter Berufung auf eine „Selbständigkeit“ weitere Ausnahmen anzunehmen; die Problematik dieser Judikatur, der die Literatur mehr oder weniger getreu folgt, liegt allerdings darin, dass eine genaue Auseinandersetzung mit dem Begriff „Selbständigkeit“ nicht erfolgt. Die Judikatur ist daher auch ohne Linie geblieben. So judizierte der OGH am 21. Juni 1983,12 dass Bedienstete, die bei den Wiener Stadtwerken tätig waren, bei einem „selbständigen Wirtschaftskörper“ tätig sind und daher keine Beamten im Sinne des § 74 Abs 1 Z 4 erster Fall StGB sind. Der OGH hat sich mit der Frage der „Selbständigkeit“ nicht befasst, sondern hat offenbar bloß eine Art Selbstqualifikation einer Einrichtung zum Anlass genommen, ein Handeln im Namen einer juristischen Person des § 74 Abs 1 Z 4 StGB zu verneinen. Dies ist vor allem auch deshalb problematisch, weil ein anderer Senat des OGH kurz vorher, ohne daran den geringsten Zweifel zu äußern, Beamte der ehemaligen Bundesgebäudeverwaltung als Beamte im Sinne des § 74 Abs 1 Z 4 StGB qualifiziert hat.13 Die damalige Bundesgebäudeverwaltung I war im Organisationsbereich des damaligen Bundesministeriums für Bauten und Technik eine besondere Organisationseinheit im Sinne des § 7 Abs 5 Bundesministeriengesetz. Sie war von den übrigen Organisationseinheiten getrennt und sollte die ihr obliegenden Aufgaben zweckmäßiger, wirtschaftlicher und sparsamer erfüllen, als Organisationseinheit des Ministeriums.14 Dies änderte freilich nichts daran, dass die dort tätigen Bediensteten – trotz ihrer besonderen Stellung im Rahmen einer in gewisser Weise selbständigen Organisationseinheit – im Namen des Bundes tätig wurden. Der OGH hat diesfalls die Beamteneigenschaft daher zutreffend bejaht. Wenn man hingegen wie der 10. Senat des OGH in der zitierten Entscheidung vom 21. Juni 1983 eine Ausnahme auf Grund einer gewissen „Selbständigkeit“ eines Wirtschaftskörpers annehmen will, ohne gleichzeitig zu definieren, worin diese Selbständigkeit gelegen sein muss, schafft man ein erheblich unsicheres Abgrenzungskriterium, das zu höchst seltsamen Ergebnissen führt. Am Beispiel einer Unternehmung der Stadt Wien lässt sich dies deutlich zeugen: Der Magistratsdirektor ist ohne Zweifel ein Organ der Gemeinde Wien 12
OGH 21. 6. 1983, 10 Os 67/83 = JBl 1984, 622.
OGH 29. 4. 1982, 13 Os 46/82 = EvBl 1983/7; 18. 11. 1982, 13 Os 128/82 = EvBl 1983/96. 13
Zu den Aufgaben der damaligen Bundesgebäudeverwaltung vgl WOLFANG PICHSachmittel der Verwaltung, in: KARL WENGER / CHRISTIAN BRÜNNER / PETER OBERNDORFER (Hrsg), Grundriss der Verwaltungslehre (Wien/Köln 1983) 234.
14
LER,
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und handelt für diese.15 Er ist aber auch dazu berufen, für die Unternehmung „Stadt Wien – Wiener Wohnen“ tätig zu werden.16 Ähnliches gilt auch für die anderen Organe, die im § 3 Unternehmensstatut aufgezählt sind. Würde man der Rechtsauffassung des 10. Senats des OGH in der Entscheidung vom 21. Juni 1983 folgen, so müsste man annehmen, dass der Magistratsdirektor dann nicht ein Beamter im Sinne des § 74 Abs 1 Z 4 erster Fall StGB ist, wenn er seine Aufgaben gem § 9 Unternehmensstatut wahrnimmt; diesfalls handelt er nämlich für die Unternehmung „Stadt Wien – Wiener Wohnen“; in allen übrigen Fällen wäre er hingegen Beamter. Wollte man annehmen, Bedienstete der Unternehmung „Stadt Wien – Wiener Wohnen“ wären vom Beamtenbegriff des § 74 Abs 1 Z 4 StGB ausgenommen, so müsste man dies allein auf den Umstand gründen, dass die Unternehmung gem § 71 Abs 3 Wiener Stadtverfassung gegenüber den übrigen Teilen des Wiener Magistrats eine „erhöhte Selbständigkeit“ hat. Dies würde aber bedeuten, dass jede Organisationseinheit, die eine gewisse Abweichung vom Regelplan aufweist, als „selbständig“ zu qualifizieren wäre; im Übrigen würde eine solche Auffassung auch verkennen, dass auch eine gewisse organisatorische Selbständigkeit im Rahmen einer größeren Behörde wie dem Wiener Magistrat nichts daran ändert, dass alle Bediensteten, die für den Wiener Magistrat tätig werden „im Namen der Gemeinde Wien“ handeln17 und daher auch als Beamte gem § 74 Abs 1 Z 4 erster Fall StGB zu qualifizieren sind. Eine genaue Analyse des § 74 Abs 1 Z 4 StGB zeigt, dass ein Tätigwerden in einem „selbständigen“ Wirtschaftskörper nur dann angenommen werden kann, wenn diese Selbständigkeit auf Grund einer eigenen Rechtspersönlichkeit besteht. Der Wortlaut des § 74 Abs 1 Z 4 StGB stellt nämlich eindeutig darauf ab, wem das Handeln einer Person zuzurechnen ist. Als Zurechnungssubjekt kommt aber lediglich eine juristische Person in Frage; dies bedeutet, dass die Beamteneigenschaft nur dann nicht besteht, wenn ein öffentlich rechtlich Bediensteter für eine privatrechtliche juristische Person tätig wird. Dies freilich auch dann, wenn diese juristische Person im Alleineigentum einer Gebietskörperschaft eines Gemeindeverbandes oder einer anderen Person des öffentlichen Rechts steht. Eine bloße Organisationseinheit, die sich in irgendeiner Weise von der Regelorganisation unterscheidet, ohne eine eigene Rechtspersönlichkeit zu haben, kann die im § 74 Abs 1 Z 4 StGB als maßgeb-
15
§ 67 Abs 2 Wiener Stadtverfassung.
16
§ 3 Abs 1 Z 6; § 9 Unternehmensstatut.
17
Vgl § 90 Abs 3 Wiener Stadtverfassung.
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HEINZ MAYER
liche Voraussetzung normierte Zurechnung des Organhandelns nicht ausschließen. Eine genaue Auseinandersetzung mit der Wiener Stadtverfassung, dem Statut von „Stadt Wien – Wiener Wohnen“ und dem § 74 Abs 1 Z 4 StGB führt also zum Ergebnis, dass Personen, die für diese Unternehmung der Stadt Wien handeln, als Beamte im Sinne des § 74 Abs 1 Z 4 StGB zu qualifizieren sind. Dies ergibt sich nicht zuletzt auch aus der klaren Regelung des § 90 Abs 3 Wiener Stadtverfassung, wonach die Gemeinde als juristische Person ua „von den nach der Organisation der Unternehmungen zuständigen leitenden Bediensteten jeweils innerhalb ihres Aufgabenkreises nach außen vertreten“ wird;18 dies bedeutet, dass sie „im Namen der Gemeinde“ handeln. C. „Mit Aufgaben der Bundes-, Landes- oder Gemeindeverwaltung betraut ist“ Nach § 74 Abs 1 Z 4 zweiter Fall StGB ist auch Beamter im Sinne des StGB, „jeder der ... sonst mit Aufgaben der Bundes-, Landes- oder Gemeindeverwaltung betraut ist;“ dieser zweite Fall erfasst nach der Literatur auch diejenigen Personen, die nicht unmittelbar ermächtigt sind Rechtshandlungen zu setzen, sondern die dazu bestellt sind, solche Rechtshandlungen vorzubereiten.19 Im vorliegenden Zusammenhang ist von Bedeutung, dass mit dieser Formulierung jeder erfasst ist, der Aufgaben der Bundes-, Landes- oder Gemeindeverwaltung besorgt. Dies bedeutet, dass auch hier die Frage der Zurechnung von entscheidender Bedeutung ist. Jedes Verwaltungshandeln, das der Gemeinde Wien zuzurechnen ist, bedeutet, dass der Handelnde als Beamter im Sinne des § 74 Abs 1 Z 4 StGB zu qualifizieren ist. Wiederum stellt sich die Frage, ob Bedienstete der Gemeinde Wien, die im Bereich „Stadt Wien – Wiener Wohnen“ tätig sind, Aufgaben der Gemeindeverwaltung besorgen. Dies ist zu bejahen: Da die Unternehmung „Stadt Wien – Wiener Wohnen“ keine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt, kann auch das Handeln der in dieser Unternehmung Beschäftigten nicht dieser Unternehmung selbst zugerechnet werden sondern lediglich der Stadt Wien. Dafür spricht auch, dass der Erlass der Magistratsdirektion der Stadt Wien mit dem das Statut der Unternehmung „Stadt Wien – Wiener Wohnen“ erlasVgl dazu auch GERHARD CECH / REINHOLD MORITZ / JOSEF PONZER, Die Verfassung der Bundeshauptstadt Wien2 (Wien 2004) 192, die zutreffend betonen, dass Unternehmungen mangels Rechtspersönlichkeit nicht nach außen vertreten werden können und deren leitende Bedienstete daher die Gemeinde vertreten. 18
19
Vgl zB JERABEK, in: HÖPFL / RATZ, Wiener Kommentar Rz 8 zu § 74 StGB.
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sen und seine Kundmachung angeordnet wird,20 den Gegenstand der Unternehmung als „Verwaltungszweig“ bezeichnet. Dies ist richtig, weil das Zurechnungssubjekt des Verwaltungshandelns im Bereich der Unternehmung lediglich die Stadt Wien sein kann. Das Verwaltungshandeln im Bereich der Unternehmung erfolgt im Verantwortungsbereich der Stadt Wien und begründet Rechte und Pflichten der Stadt Wien als Rechtsträger. Im gegebenen Zusammenhang sei auch auf eine weitere Entscheidung des OGH verwiesen; in einem Urteil21 hatte der OGH die Frage zu beurteilen, ob ein Bediensteter der ehemaligen Post- und Telegraphendirektion, der Geschäfte der Österreichischen Postsparkasse besorgt, als Beamter im Sinne des § 74 Abs 1 Z 4 StGB zu qualifizieren ist. Der OGH bejahte diese Frage ausdrücklich, obwohl die Österreichische Postsparkasse eigene Rechtspersönlichkeit hatte. Ungeachtet des Umstandes, dass der betreffende Bedienstete Aufgaben für den Rechtsträger Österreichische Postsparkasse besorgte, vertrat der OGH die Auffassung, dass es sich dabei um Aufgaben der privatwirtschaftlichen Bundesverwaltung handelt. Er bejahte dementsprechend die Beamteneigenschaft des betreffenden Bediensteten. Wie sehr die Figur des „selbständigen Wirtschaftskörpers“, die vom OGH und von der älteren Lehre erfunden wurde, für Verwirrung sorgt, zeigt sich allerdings in der weiteren Begründung dieses Urteils des OGH und in einer Besprechung von Liebscher.22 Sowohl der OGH wie auch Liebscher scheinen der Auffassung, dass die Österreichische Postsparkasse – obwohl sie eigene Rechtspersönlichkeit hatte – keinen „selbständigen Wirtschaftskörper bildet“. Wenn aber nicht einmal die Rechtspersönlichkeit ausreicht, um die Figur eine „selbständigen Wirtschaftskörpers herzustellen“, bleibt dessen Kontur völlig im Dunkeln. Weder der OGH noch die Literatur haben bislang versucht, das Konstrukt eines „selbständigen Wirtschaftskörpers“ näher zu definieren; es scheint so zu sein, dass dieses Gebilde ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten darstellt.23
20
MD-VfR-1040/99 vom 12. 7. 1999.
21
OGH 20. 5. 1980, 10 Os 57/80 = JBl 1980, 664.
22
VIKTOR LIEBSCHER, Glosse zu OGH 20. 5. 1980, 10 Os 57/80.
Vgl allgemein dazu KARL WENGER, Die öffentliche Unternehmung (Wien/New York 1969) 131, 279.
23
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III. Ergebnis Diese Untersuchung kommt zum Ergebnis, dass Personen, die im Bereich einer Unternehmung der Stadt Wien (hier am Beispiel „Stadt Wien – Wiener Wohnen“) tätig sind, Aufgaben der Gemeindeverwaltung erfüllen. Ihr Handeln erfolgt im Namen der Stadt Wien und ist dieser zuzurechnen; dies folgt nicht zuletzt auch aus der klaren Vorschrift des § 90 Abs 3 der Wiener Stadtverfassung. Soweit solche Personen nicht lediglich untergeordnete bloß manipulative Tätigkeiten verrichten, sind sie Beamte im Sinne des § 74 Abs 1 Z 4 StGB.
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil FRANZ-STEFAN MEISSEL, Wien L’esprit de modération doit être celui du législateur; le bien politique, comme le bien moral, se trouve toujours entre deux limites. MONTESQUIEU, De l´esprit des lois, Livre XXIX, Chapitre 1.
I. Jubiläumsleid Jubiläen pflegen gefeiert zu werden, Zweihundertjahrfeiern eines Gesetzbuches dementsprechend besonders groß. So wurde 2004 der Bicentenaire des CC mit einer Fülle von Symposien und Publikationen begangen und auch das ABGB-Jubiläum 2011 wirft bereits seine Schatten voraus.1 Werner Ogris hat die suggestive Kraft von Gedenkjahren immer wieder thematisiert – oft durchaus ironisch und kritisch. Blickt man auf sein literarisches Œuvre, so zeigt sich, dass er sich dieser Magie der Zahlen selbst auch nicht entziehen
Siehe etwa (wenngleich primär auf Reformfragen fokussiert) CONSTANZE FISCHERCZERMAK / GERHARD HOPF / MARTIN SCHAUER (Hrsg), Das ABGB auf dem Weg in das 3. Jahrtausend. Reformbedarf und Reform (Wien 2003); CONSTANZE FISCHERCZERMAK / GERHARD HOPF / GEORG KATHREIN / MATRIN SCHAUER (Hrsg), ABGB 2011 – Chancen und Möglichkeiten einer Zivilrechtsreform (Wien 2008); RUDOLF WELSER, Die Reform des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs, in: WOLFGANG WIEGAND / THOMAS KOLLER / HANS PETER WALTER (Hrsg), Tradition mit Weitsicht. FS für Eugen Bucher zum 80. Geburtstag (Bern 2009) 803–817. Zur Reformdiskussion im Schadenersatzrecht siehe IRMGARD GRISS / GEORG KATHREIN / HELMUT KOZIOL (Hrsg), Entwurf eines neuen österreichischen Schadenersatzrechts (= Tort and Insurance Law Vol 15, Wien 2006); RUDOLF REISCHAUER / KARL SPIELBÜCHLER / RUDOLF WELSER (Hrsg), Reform des Schadenersatzrechts II, Zum Entwurf einer Arbeitsgruppe (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Institutes für Gesetzgebungspraktik und Rechtsanwendung XVII, Wien 2006); RUDOLF REISCHAUER / KARL SPIELBÜCHLER / RUDOLF WELSER (Hrsg), Reform des Schadenersatzrechts III, Vorschläge eines Arbeitskreises (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Institutes für Gesetzgebungspraktik und Rechtsanwendung XVIII, Wien 2008). 1
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FRANZ-STEFAN MEISSEL
konnte.2 Wie sollte er auch? Als Rechtshistoriker ist man mit der zeitlichen Dimension rechtlicher Institutionen professionell vertraut, die Beobachtung von Perioden und die analytisch gewonnene Epochenbildung gehören zum Handwerkszeug. Jubiläen dienen selbst in einer an sich nicht gerade geschichtsbewussten Zeit der historischen Reflexion. So bleibt einem gar keine Wahl, als sich publizistisch der Herausforderung der Jahrestage zu stellen. Man mag sich darüber freuen oder aber darunter leiden (weil es ja sachlich einleuchtendere Gründe gibt, sein Erkenntnisinteresse einem bestimmten Gegenstand zuzuwenden), ganz entziehen kann man sich solchen „äußeren Anlässen“ kaum.
II. Lob und Tadel der Nomotheten Jubiläen von Gesetzbüchern rücken erfahrungsgemäß auch die Protagonisten der Gesetzgebung ins Blickfeld, die, wie wir noch immer so gerne sagen, „Väter des Gesetzes“. Aber wie bemerkte schon Wilhelm Busch: „Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr.“ Dies trifft auch auf die Nomotheten zu, schwankt doch – bei entsprechend langer Fortwirkung eines Gesetzes – die Einschätzung der Leistung der Gesetzesverfasser mitunter beachtlich. Selbst an dem seit der Hundertjahrfeier des ABGB zunehmend kanonisierten Bild des Franz von Zeiller wurde in den letzten Jahren gekratzt und ihm diverse „Vorwürfe“ gemacht. So ist es mit der posthumen Wertschätzung: Der Nachruhm ist nicht konstant, ja manchmal neigt sich das Urteil gar ins Extreme. Dies aber, der Zug zum Extremen, war nie der Charakter meines Lehrers Werner Ogris. Schon viel eher die Neigung, dialektisch Widersprüche aufzudecken – und auch möglichst wieder aufzulösen. Dementsprechend war er stets offen für Neues, tendierte aber dennoch nie zur Exaltiertheit oder zum Revisionismus. Durch Radikalität aufzufallen, hatte er einfach nicht nötig. Umso mehr konnte er aber als Jurist und Rechtshistoriker im Unterricht reüssieren: the hindsight of history ermöglichte ihm, viele Phänomene des Rechtslebens zu redimensionieren. Nicht alles, was als neu gilt, ist es auch;
Vgl das Schriftenverzeichnis in WERNER OGRIS, Elemente europäischer Rechtskultur. Rechtshistorische Aufsätze aus den Jahren 1961–2003, hrsg v THOMAS OLECHOWSKI (Wien/Köln/Weimar 2003) 809–831; inspirierende Jubiläen waren etwa 175 Jahre ABGB, 100 Jahre Rechtswissenschaft im Haus am Ring, 100 Jahre Wiener Juristische Gesellschaft, 140 Jahre Österreichischer Gewerbeverein, 125 Jahre Juristische Gesellschaft zu Berlin, 200. Wiederkehr des Todestages Maria Theresias, 1000 Jahre Ostarrîchi-Urkunde oder 250 Jahre Lotterieverbote. 2
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil
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und nicht alles, was alt ist, ist deshalb suspekt; irgendwann kommt alles (und jeder) in die Jahre. Wie ist das nun mit Franz von Zeillers Reputation? Exzesse seiner Wertschätzung ins Positive sind aus der Vergangenheit bekannt. Zu erinnern ist hier etwa an die heroisierende Darstellung durch Ernst Swoboda, der in Zeiller den vollkommenen Kantianer und im ABGB die Gesetzesform gewordene Reine Vernunft sah.3 Die Annahme einer kantianischen Durchdringung des ABGB war wohl übertrieben.4 In rezenterer Zeit schlug Zeillers Renommee aber gerade ins negative Extrem. Der Referent der Commission in Gesetzessachen wurde dabei fast so etwas wie ein suspektes Subjekt: gleichsam geistiger Vatermörder (durch mangelnde Loyalität zu seinem Mentor Karl Anton von Martini5), Verschleierer der feudalen („neuständischen“6) Züge des ERNST SWOBODA, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants (Graz 1926). 3
Gegen die Überschätzung des kantianischen Einflusses siehe vor allem GERHARD LUF, Zeiller und Kant. Überlegungen zu einem wissenschaftlichen Naheverhältnis, in: HEINER BIELEFELDT / WINFRIED BRUGGER / KLAUS DICKE (Hrsg), Würde und Recht des Menschen. FS für Johannes Schwartländer zum 70. Geburtstag (Würzburg 1992) 93–110. Zu verschiedenen Aspekten des möglichen Einflusses Kants auf Zeiller vgl auch BRUNO SCHMIDLIN, Der Begriff der bürgerlichen Freiheit bei Franz v. Zeiller, in: WALTER SELB / HERBERT HOFMEISTER (Hrsg), Forschungsband Franz v. Zeiller (= Wiener rechtsgeschichtliche Arbeiten 13, Wien/Graz/Köln 1980) 192–209; HERBERT HOFMEISTER, Die Rolle Franz von Zeillers bei den Beratungen zum ABGB, ebenda 107–126, bes 125; sowie GUNTER WESENER, Zeillers Lehre „von Verträgen überhaupt“, ebenda 248–268, bes 267; jüngst ERIC GILARDEAU, Der Einfluss des Gedankengutes Kants auf das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch durch Franz von Zeiller, ZfRV 2004/21. 4
Vgl HEINZ BARTA, Martini-Colloquium: Begrüßung und Einführung, in: HEINZ BARTA / RUDOLF PALME / WOLFGANG INGENHAEFF (Hrsg), Naturrecht und Privatrechtskodifikation (Wien 1999) 15–92; darin beschuldigt BARTA Zeiller unter anderem der „verständnislosen und gehässigen Kritik“ (ebenda 60) an seinem Lehrer Martini und vermutet, dass Zeiller „mit der Nennung des Namens Martini (politische?) oder doch Profilierungsprobleme gegenüber seinem Lehrer hatte“ (ebenda 70), neben Sonnenfels und Rottenhann wird Zeiller als „Martinis Gegner“ (ebenda 75) tituliert. 5
WILHELM BRAUNEDER, „Allgemeines“ aber nicht gleiches Recht: das ständische Recht des ABGB, in: HANS HATTENHAUER / GÖTZ LANDWEHR (Hrsg), Das nachfriderizianische Preußen 1786–1806 (= Motive-Texte-Materialien 46, Heidelberg 1988) 23–33; WILHELM BRAUNEDER, Das österreichische ABGB: Eine neuständische Kodifikation, in: GEORG KLINGENBERG / MICHAEL RAINER / HERWIG STIEGLER 6
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FRANZ-STEFAN MEISSEL
ABGB und last but not least patriarchalisch-systemstabilisierender Verhinderer von Frauenrechten,7 das sind so einige der Angriffspunkte, die gegen Zeiller bzw die von ihm erarbeitete ABGB-Fassung erhoben wurden. Zunächst ist dazu anzumerken, dass in diesen, gegenüber der landläufigen Wertschätzung, derer Zeiller sich in der Regel erfreut, „revisionistischen“ Diskursen (unterschiedlicher Prägung und unterschiedlicher Qualität) zwischen dem Gesetzbuch, das Zeiller redigiert hat, dessen „Gesetzgeber“ er aber nicht war (er war also, um mit dem Anfangstopos zu spielen, eigentlich mehr „Hebamme“ als „Vater“) und Zeiller als Person nicht immer klar unterschieden wird. Noch schwerer wiegt, dass die dabei zutage tretende Perspektive die historische Ausgangslage tendenziell unzureichend berücksichtigt. Zeillers Leistungen gerecht zu werden, erfordert es, den zeitgenössischen Kontext möglichst adäquat zu erfassen; eine allfällige Bewertung muss sich folglich an Handlungsspielräumen und nicht an Wunschvorstellungen orientieren, schon gar nicht an solchen unserer heutigen Zeit. Freilich steht eine derartige historische Betrachtungsweise vor besonderen Schwierigkeiten, was Quellen und Methoden der Untersuchung anbelangt. Als einer der möglichen Zugänge soll im Folgenden die komparative Methode herangezogen werden: Wie stellt sich denn das ABGB und seine Interpretation durch Franz von Zeiller im Vergleich zum etwa zeitgleich erarbeiteten Code Napoléon dar? Denkt man heute an die großen Kodifikationen des Privatrechts, so erscheinen diese als Monumente einer Nationalisierung der jeweiligen Rechtsordnungen, als Ausgangspunkte für nationale Sonderwege, bestenfalls als Kristallisationspunkte einzelner Rechtsfamilien. Gerade (Hrsg), Vestigia Iuris Romani. FS für Gunter Wesener (= Grazer rechts- und staatswissenschaftliche Studien 49, Graz 1992) 67–80. URSULA FLOSSMANN, Das Geschlechterverhältnis in der Rechtslehre Franz von Zeillers, in: WERNER OGRIS / WALTER RECHBERGER (Hrsg), Gedächtnisschrift Herbert Hofmeister (Wien 1996) 179–197; URSULA FLOSSMANN, Die beschränkte Grundrechtssubjektivität der Frau. Ein Beitrag zum österreichischen Gleichheitsdiskurs, in: UTE GERHARD, Frauen in der Geschichte des Rechts (München 1997) 293– 324, hier 301 ff. FLOSSMANN, Grundrechtssubjektivität 301, wirft Zeiller das unkritische Festhalten am patriarchalen Familienmodell vor und sieht in ihm einen maßgeblichen Faktor für Rückschritte gegenüber der gleichheitsorientierten Linie, die Martini verfolgt habe. Dass Zeiller allerdings in seinen theoretischen Schriften, aber auch in seiner ABGB-Kommentierung, Ansätze einer Relativierung der patriarchalen Überordnung liefert, indem er die Rechtfertigung der Überordnung des Mannes vor allem in der unterschiedlichen Erziehung der Geschlechter sucht, findet sie bloß „befremdend“ (FLOSSMANN, Grundrechtssubjektivität 302). 7
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil
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in geschichtlicher Betrachtungsweise sind aber vielfach Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten feststellbar, die die Gesetzbücher gleichsam näher zusammenrücken lassen, als es üblicherweise wahrgenommen wird. Im Zeitalter des Vernunftrechts war Rechtsvergleichung für die Redaktoren etwas durchaus Selbstverständliches. So wurde etwa im Vorfeld der Entstehung des CC das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten ins Französische übersetzt.8 Dass auch Zeiller rechtsvergleichende Arbeit keineswegs unvertraut war, lässt sich aus seinen Schriften ableiten. Zur Rechtsvergleichung als „Hülfsquelle“ für die Interpretation des geltenden bürgerlichen Rechts nennt er selbst in seinem Kommentar9 nicht nur eine beachtliche Reihe von Werken zum Französischen Recht, sondern auch zum Beispiel J. D. Michaelis, Mosaisches Recht (Frankfurt/Main 1775) und sogar Blackstone, Commentaries on the law of England (Oxford 1770). Bei der Kommentierung der einzelnen Bestimmungen des ABGB führt Zeiller dann regelmäßig auch die entsprechenden Artikel des CC an.10
III. Der Code civil und die Beratung des ABGB Der Code civil des Français (erst ab 1807 offiziell Code Napoléon) wurde während des Kodifikationsprozesses des ABGB wiederholt zum Rechtsvergleich herangezogen. Eine nachweisbare Beeinflussung der Kodifikationsarbeiten zum ABGB lässt sich (im Gegensatz zum preußischen Landrecht11) aber nur ganz selten konstatieren.12 Dies darf insofern nicht verwundern, als die Arbei-
Code Général pour les États Prussiens, traduit par les membres du bureau de Législation Étrangère, publié par ordre du Ministre de la justice, I–II, Paris an IX (1801).
8
FRANZ VON ZEILLER, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch I (Wien 1811) 95 ff. 9
Vgl die Zusammenstellung der Verweise auf das französische Recht bei J. MICHAEL RAINER, Franz von Zeiller und der Code civil Napoleons, in: JEAN-FRANÇOIS GERKENS / HANSJÖRG PETER / PETER TRENK-HINTERBERGER / ROGER VIGNERON (Hrsg), Mélanges Fritz Sturm I (Lüttich 1999) 867–879, hier 873 ff. 10
Zum Einfluss des ALR siehe ausführlich HEINZ BARTA, Zur Kodifikationsgeschichte des österreichischen bürgerlichen Rechts in ihrem Verhältnis zum preußischen Gesetzbuch: Entwurf Martini (1796), (W)GGB (1797), ABGB (1811) und ALR (1794), in: BARTA / PALME / INGENHAEFF (Hrsg), Naturrecht und Privatrechtskodifikation 321–441 (bes 333 ff). 11
Ausführlicher dazu HELMUT HEISS, Der Einfluss des Code civil auf die österreichische Privatrechtskodifikation, in: BARTA / PALME / INGENHAEFF (Hrsg), Naturrecht 12
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FRANZ-STEFAN MEISSEL
ten an der österreichischen Zivilrechtskodifikation lange vor dem CC begonnen wurden. Bereits 1798 war die auf Martini zurückgehende Privatrechtskodifikation in Galizien und der Bukowina in Kraft getreten, welche den Ausgangspunkt der Gesetzgebungsarbeiten ab 1801 bildete. Nur ganz vereinzelt findet sich eine ausdrückliche Bezugnahme auf den CC in den Beratungen des ABGB. So zB bei der Beratung des Pflichteilsrechts13 oder beim Vorbehalt bei der Schenkung von Todes wegen.14 Signifikanterweise stammen in beiden Beispielsfällen die rechtsvergleichenden Bemerkungen von Zeiller und dienen letztlich nur der Abgrenzung. Das französische Modell wird in beiden Fällen nicht zum Vorbild genommen. Vereinzelt fungieren die rechtsvergleichenden Hinweise auf das französische Recht aber auch affirmativ als Argument für eine bestimmte Lösung. So wird etwa die Notwendigkeit von Formvorschriften für letztwillige Verfügungen mit Hinweis auf die Regeln des CC legitimiert.15 Auch im Zusammenhang mit der Frage der Einschränkung von Fideikommissen und der Frage des Verbots von Erbverträgen wird das französische Recht durchaus mit der Intention angeführt, ähnliche rechtspolitische Ziele auch im ABGB zu verwirklichen.16 Die Gründlichkeit in der Verwertung des rechtsvergleichenden Materials zeigt sich nicht zuletzt darin, dass in den Beratungen zum Teil sogar Vorentwürfe des CC in die Diskussion einbezogen wurden.17 In Summe ist eine durchgängige Berücksichtigung des CC bei der Beratschlagung des ABGB aus den Beratungsprotokollen der Hofkommission nicht ableitbar, was aufgrund der Chronologie der Kodifikationsarbeiten auch nicht stärker verwunderlich ist. Eine stärkere Beschäftigung mit dem französischen Recht ist allerdings bei Zeiller festzustellen, der vor allem in seinem ABGB-Kommentar relativ häufig auf französisches Recht verweist. Zeillers
und Privatrechtskodifikation 515–542; FRANZ-STEFAN MEISSEL, Le code civil autrichien, contre-partie du code civil français, in: JEAN-PHILIPPE DUNAND / BÉNÉDICT WINIGER (Hrsg), Le code civil français dans le droit européen (Brüssel 2005) 119–139. JULIUS OFNER, Der Ur-Entwurf und die Berathungsprotokolle des Österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches I (Wien 1889, Neudruck 1976) 464. 13
JULIUS OFNER, Der Ur-Entwurf und die Berathungsprotokolle des Österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, II (Wien 1889, Neudruck 1976) 27. 14
15
OFNER I, 345.
16
OFNER II, 542.
Vgl OFNER I, 58 f (zur Frage der Exemption ausländischer Gesandter, im Rahmen der Sitzung vom 8. 2. 1802). 17
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil
271
literarische Äußerungen zum CC sollen im Folgenden näher dargestellt werden. Sie sind vor allem deshalb von Interesse, da sich aus Zeillers Urteilen über das französische Zivilgesetzbuch auch Einiges zu seiner Selbsteinschätzung und Wahrnehmung des ABGB ableiten lässt.
IV. Zeiller als akribischer Rezensent des Code Civil Im Jahr 1806 publiziert Zeiller zunächst eine umfangreiche Besprechung des französischen Zivilgesetzbuches,18 wobei eine Wiedergabe des Inhalts im Rahmen einer sehr gerafften tour d’horizon erfolgt und nur sehr sparsam lobende bzw kritische Bemerkungen mit eingeflochten werden. Deutlich wird, dass Zeiller für die Kürze („nur einen mäßigen Octav-Band“ einnehmend) und Stil („kurze aphoristische Sätze, deren jeder nur Eine Entscheidung enthält“) des CC Sympathie aufbringt. Als positiv wird von Zeiller empfunden, dass das Gesetzbuch sich „streng nur auf die, allen Bürgern gemeinschaftlichen, Privatrechte“ einschränkt und die „hauptsächlich nur auf gewisse Classen der Bürger sich beziehenden, Rechtstheile, wie das Lehen, das Handels- und Wechselrecht“ davon ausschließt.19 Ausdrücklich lobt er, dass im ersten Buch des CC „nur diejenigen persönlichen Rechtsverhältnisse vorgetragen“ werden, „in welche alle Einwohner entweder wirklich kommen, oder, ohne Rücksicht auf die erst erwähnten Unterschiede, sehr leicht kommen können“.20 In seiner Beurteilung der Eingangsartikel zeigt sich Zeiller skeptisch, „wie in einem so großen Reiche, wo von jeher in den verschiedenen Provinzen sehr verschiedene Gesetze galten, und dem erst vor einem kurzen Zeitraume ganz
FRANZ VON ZEILLER, Jährlicher Beytrag zur Gesetzkunde und Rechtswissenschaft I (Wien 1806) 252–270. Die Rezensionsmiszelle Zeillers bezieht sich nach eigenen Angaben auf folgende Werke: 1) Code civil des Francais. A Paris an XII–1804; 2) Civil-Gesetzbuch der Französischen Republik, übersetzt mit Anmerkungen von F. Lassaulx, 3 Theile. Coblenz, Jahr 11–13 (1805); 3) Observations du tribunal de cassation; Observations des tribunaux d´appel; Proces-verbaux du conseil d´état, contenant la discussion du projet de code civil, avec les discours des orateurs du gouvernement, les rapports de la commission du tribunat et les opinions émises pendant le cours de la discussion, tant au tribunat, qu´au corps législatif, IX volumes. A Paris an X–XII; 4) Code civil de (sic) Français, contenant la série des lois qui le composent, avec leurs motifs. Paris an XII. 18
19
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 255.
20
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 258.
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fremdartige Länder einverleibt wurden, nun auf einmahl ein allgemeines, durchaus gleichförmiges, Gesetzbuch, welches über dieß viele, von allen bisher üblichen abweichende, Vorschriften enthält, den allgemeinen Bedürfnissen angemessen, und eine, allen Einwohnern bekannte, geläufige und anpassende Rechts-Norm seyn soll.“21 Kritik übt Zeiller auch am Fehlen von Auslegungsregeln, zumal solche im ursprünglichen Entwurf von Portalis, Tronchet, Bigot-Préameneu und Malleville22 vorgesehen gewesen seien.23 Dass französische Gerichte auch für Rechtsstreitigkeiten über Geschäfte zuständig sind, die im Ausland von einem Fremden mit einem Franzosen geschlossen wurden, wird von Zeiller als „hartes, mit dem Staatenverkehre nicht übereinstimmendes Gesetz, das zum Glück nur selten zur Ausübung kommen kann“, qualifiziert. Lob gibt es dagegen für die Einrichtung öffentlicher Register im Personenstandsrecht.24 Erstaunt zeigt sich Zeiller davon, dass die Ehefrau ohne Einwilligung ihres Mannes generell weder veräußern, noch erwerben kann; offenbar hält er dies zumindest für „häusliche Geschäfte“ nicht für angemessen. Auch eine weitere Regelung, die heute gerne als Symptom des patriarchalen Charakters des CC zitiert wird, hebt Zeiller (offenbar mit innerer Distanz) hervor, dass nämlich der Ehebruch „von Seite des Mannes nur dann, wenn er seine Beyschläferin sich in dem gemeinschaftlichen Hause halten würde“ als Trennungsgrund anerkannt werde. Bemerkenswert findet er es auch, dass „außer dem Falle der Entführung“ niemand als Vater eines unehelichen Kindes geklagt werden kann und dass die Adoption nur sehr beschränkt zugelassen wird.25 Ebenfalls auf Skepsis stößt die Regelung, der zufolge ein Vater sein Kind, das noch nicht 16 Jahre alt ist, „auf sein bloßes Verlangen“ hin einen Monat ins Gefängnis setzen lassen kann. Umgekehrt hält Zeiller aber auch die Regelung,
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 257. Diese Zeilen müssen wohl auch vor dem damaligen politischen Hintergrund gesehen werden, aufgrund dessen die Möglichkeit einer Inkraftsetzung des CC auch in österreichischen Gebieten (wie sie 1812 für die sog „Illyrischen Provinzen“ tatsächlich für kurze Zeit eintrat) als keinesfalls ausgeschlossen erschien.
21
Projet de code civil, présenté par la commission nommée par le gouvernement le 24. Thermidor an VIII, A Paris an IX (1801); vgl ZEILLER, Jährlicher Beytrag I (1806) 254 Fn **. 22
23
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 258.
24
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 260.
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ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 261.
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil
273
dass der Vater im Falle des Todes der Frau nur die Vormundschaft über seine minderjährigen Kinder erhält, für verfehlt. Anstelle eines Vormundschaftsgerichts für Angelegenheiten eines Mündels ein Familiengericht (bestehend aus einem Friedensrichter und sechs Verwandten) vorzusehen, hält Zeiller für unzureichend: „So fällt es wohl in die Augen, dass in Frankreich die Pupillen bey weitem nicht die Obsorge für ihre Person und ihr Vermögen genießen, welche ihnen in Deutschland und in Oesterreich insbesondere durch die Gesetze und strenge Aufsicht und Verantwortlichkeit der Vormundschaftsbehörden zugesichert ist.“26 Freundlicher fällt die Besprechung des Zweiten Buches über das Sachenrecht aus. Dieses sei „größten Theils nach der Lehre des Römischen Rechts, doch mit aufmerksamer Entfernung der, in der Römischen Verfassung gegründeten, Subtilitäten“ behandelt.27 Als klare und praktikable Lösung wird die Bestimmung gelobt, dass es für das Eigentum an den Früchten bei der Nutznießung darauf ankommt, ob die Früchte bei Beendigung der Nutznießung noch mit dem Grundstück verbunden sind, ohne dass ein Ersatz des Aufwandes zusteht. Zeiller hebt weiters hervor, dass Grunddienstbarkeiten „zum allgemeinen Wohl oder zum Nutzen der Benachbarten, damit sie von ihrem Eigenthume freyen Gebrauch machen können, auch durch das Gesetz auferlegt“ werden.28 Kritik erfährt die im CC getroffene Regelung der gesetzlichen Erbfolge (Erbrecht der Verwandten nach vier Klassen bis auf den 12. Grad, in deren Ermangelung die unehelichen Kinder, dann die Ehegatten, zuletzt der Staat): „Diese und alle mir bekannte, insgemein sehr verwickelte, Erbfolgeordnungen müssen wohl der Oesterreichischen Erbfolgeordnung der Verwandten den Vorzug einräumen, welche nicht nur der Natur angemessen, und sehr einfach, sondern auch so bestimmt und vollständig ist, dass seit ihrer Kundmachung nie ein Proceß darüber entstanden ist.“29 (Unbekannt ist, ob Zeiller je davon erfahren hat, dass sich umgekehrt Napoléon später über die erbrechtlichen Bestimmungen des ABGB lobend geäußert und bedauert haben soll, diese nicht vor Ausarbeitung des CC gekannt zu haben.30) 26
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 262.
27
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 262.
28
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 263.
29
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 264.
Vgl die dem österreichischen Diplomaten und späteren Minister des Äußern Johann von Wessenberg zugeschriebene Anekdote, bei der nicht ganz klar ist, ob sie 30
274
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Als widersprüchlich empfindet es Zeiller, dass einerseits alle Substitutionen dergestalt verboten sind, dass selbst der verpflichtete Geschenknehmer, Erbe oder Legatar nichts erhält (Art 896 f CC), anderseits aber in Art 1048 f CC wieder Einschränkungen vorkommen, und „die Anordnung, wodurch einem Dritten die Verlassenschaft zugedacht wird, die der Erbe nicht erhält“, keine Substitution sein soll (Art 898 CC). „Diese Bestimmungen stimmen miteinander nicht überein, und es ist wohl zu vermuthen, dass sie, gleich mehreren, vom republikanischen Geiste eingegebenen, Verordnungen bald eine Abänderung leiden werden. Schon bey den Discussionen erklärte sich der jetzige Kaiser, als erster Consul, für die Meinung, dass mit Beschränkungen auch die künftige Nachkommenschaft zur Erbfolge berufen werden können.“31 Im Kontraktsrecht bemerkt Zeiller allgemein, dass die besonderen Arten der Verträge „größten Theils nach dem römischen Recht behandelt“ werden, „doch mit genauerer Bestimmung solcher Stellen, die zu vielen Streitigkeiten Anlaß geben“.32 Lapidar und ohne erkennbare Wertung referiert Zeiller anschließend, dass der Käufer gem Art 1583 CC gleich nach geschlossenem Vertrag, noch vor der Übergabe, Eigentum erwirbt. Aus systematischen Gründen kritisiert Zeiller die Regelung der Gattungen des Beweises, da diese in die Gerichtsordnungen gehörten.33 Hinsichtlich der ausführlichen Regelung des Ehe-Contractes (Art 1387–1582 CC) wird von Zeiller die „gesetzgebende Klugheit“ gelobt, einen Kompromiss der bis dahin geltenden unterschiedlichen Regelungen zu finden.34
sich während Napoleons Wienaufenthalt 1809 oder später zugetragen haben soll: « Napoléon en ayant entendu parler [du Code civil autrichien] avec éloge, s’enfit faire des extraits, et regretta de n’en avoir pas eu connaissance avant d’avoir fait publier son Code … Il fut frappé, je le tiens de bonne source, de la clarté et de la précision qui caractérisent cet ouvrage ; il admira surtout les chapitres qui traitent de la succession et des règlements testamentaires, les trouvant préférables aux lois analogues en France »; zitiert nach der Anzeige der anonymen Schrift « L’empereur Francois » in der Revue étrangère et francaise de législation, de jurisprudence et d´économie politique VIII (Paris 1841) 522; wörtlich auch bei ANTON CHRIST, Über deutsche Nationalgesetzgebung. Ein Beitrag zur Erzielung für ganz Deutschland gültiger Gesetzbücher und zur Abschaffung des römischen und französischen Rechts insbesondere² (Karlsruhe 1842) 118 Anm. 31
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 265.
32
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 267.
33
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 266.
34
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 267.
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil
275
Etwas ausführlicher geht Zeiller auf die Regelung der laesio enormis35 ein, welche nur dem Verkäufer eines unbeweglichen Gutes zugestanden wird, der um mehr als 7/12 verkürzt wurde (Art 1674, 1683 CC). Er verweist darauf, dass nach dem ALR (I 11 §§ 60 [recte 59] und 69) umgekehrt nur der Käufer wegen Verkürzung klagen könne, und kommt zu einer – im Lichte der endgültigen Fassung der §§ 934 f ABGB dogmengeschichtlich bedeutsamen36 – Schlussfolgerung: „Da für beyde Meinungen erhebliche Gründe streiten, so möchte wohl die insgemein angenommene dritte Meinung, dass dieses Rechtsmittel beyden Contrahenten verwilliget werden soll, die sicherste und richtigste seyn.“37 Bei der Durchsicht der Bestimmungen hinsichtlich der einzelnen Verträge merkt Zeiller an, dass der Abschnitt über den Dienstvertrag nur zwei Artikel enthält und vermutet, dass diesbezüglich eine eigene Dienstordnung ergehen werde.38 Als berichtenswert erscheint Zeiller weiters unter anderem, dass der Gläubiger nur dann verpflichtet ist, den Hauptschuldner vor dem Bürgen zu klagen, wenn dieser es verlangt, wenn er ihm zugleich unbestrittene Güter des Schuldners anzeigt und die Klagekosten vorschießt.39 Erwähnt wird von ihm ausdrücklich das Fehlen einer dem Senatus Consultum Velleianum entsprechenden Regelung des Ausschlusses der Interzessionsgeschäfte von Frauen (was freilich bei der generell vom Ehemann dominierten Stellung von Ehefrauen im CC wenig verwundert). Wiederum aus systematischen Erwägungen kritisiert Zeiller schließlich die Vorschriften über die gerichtliche
Zur laesio enormis im römischen Recht vgl jüngst MARTIN PENNITZ, Zur Anfechtung wegen laesio enormis im römischen Recht, in: MARTIN J. SCHERMAIER / J. MICHAEL RAINER / LAURENZ C. WINKEL (Hrsg), Iurisprudentia universalis. FS für Theo Mayer-Maly (Köln 2002) 575–589 mwN. 35
Der Wortlaut des § 934 war auf Antrag ZEILLERS in der Sitzung vom 20. 5. 1805 beschlossen worden. Zur Kodifikationsgeschichte vgl IGNAZ SAXL / FELIX KORNFELD, Quellenausgabe des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches (Wien 1906) 323.
36
Auch in seiner späteren Kommentierung des § 934 wird ZEILLER, Commentar III (Wien 1812) 141, eingangs auf den CC zu sprechen kommen: „Die Frage, ob und in wie fern wegen einer Verkürzung die Aufhebung eines Rechtsgeschäftes soll verlangt werden können, ist neuerdings in den Berathschlagungen über das Französische Gesetzbuch sehr ausführlich, und mit vieler theoretischer und practischer Einsicht ausgeführt worden.“. Er verweist dabei auch auf die Zusammenfassung der französischen Diskussionen bei GÖNNER, Archiv für die Gesetzgebung XX.
37
38
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 268.
39
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 269.
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Exekution und Vorrechte der Gläubiger, welche „wohl der Gerichtsordnung vorzubehalten gewesen“ wäre.40
V. Der Code civil in Zeillers Vortrag an den Kaiser Ein gutes Jahr später, anlässlich seines „Vortrages zur Einführung in das Bürgerliche Gesetzbuch“,41 äußert sich Zeiller nochmals ausführlich zum französischen Zivilgesetz. Nun fällt sein Urteil insgesamt deutlich negativer und reservierter aus. Dabei ist freilich auch der Kontext seiner Äußerungen einzubeziehen. Zeiller geht es in diesem „Vortrag“ darum, die „Notwendigkeit eines einheimischen bürgerlichen Gesetzbuches“ darzulegen und Kriterien für eine gelungene Privatrechtskodifikation aufzustellen.42 Weiters gilt es zu zeigen, wie sehr der von der Hofkommission vorgelegte Entwurf diesen Kriterien entspreche. Zu diesem Zweck vergleicht er den zu diesem Zeitpunkt (1808) vorliegenden Entwurf des ABGB mit „anderen bekannten Gesetzbüchern“ und zwar mit dem „römischen Gesetzbuch“ (dh dem justinianischen Corpus iuris civilis), dem ALR und dem CC; kurz erwähnt wird auch der Entwurf eines Russischen Gesetzbuches, welches offenbar das ALR zum Vorbild nahm. Seine Bewertung über den CC fällt insgesamt recht ablehnend aus. Zwar müsse man auf die schwierigen „Zeitumstände“ mildernd Rücksicht nehmen, dennoch sei es eine „unverzeihliche Unkunde, stolze Anmaßung oder Uebereilung“, dass auf die „vorgelegenen auswärtigen Gesetzbücher fast gar keinen, und selbst auf die früheren einheimischen Entwürfe nicht hinlänglich“43 Bedacht genommen worden sei. Lobenswert sei, dass sich der CC auf das „bloße allgemeine Civilrecht“ beschränkt und damit dem Postulat der „Einförmigkeit“ entspricht. Auch die Kürze erscheint prinzipiell insbes gegenüber dem ausufernden und kasuisti-
40
ZEILLER, Jährlicher Beytrag I, 270.
ZEILLER, Vortrag zur Einführung in das Bürgerliche Gesetzbuch (angekündigt in der Sitzung vom 28. 12. 1807, vorgelegt vermutlich am 18. 1. 1808), in: OFNER II, 465 ff; zum CC bes 479 f, 482, 485, 487, 488 f. 41
Diese Eigenschaften, welche man „billiger Weise von einem zweckmäßigen bürgerlichen Gesetzbuch fordert“ sind laut ZEILLER in inhaltlicher Hinsicht „Gerechtigkeit, Gleichförmigkeit, Einfachheit, Vollständigkeit und Angemessenheit“ und der Form nach „Deutlichkeit, Bestimmtheit, Ordnung und Kürze“ (OFNER II, 476). 42
43
OFNER II, 479.
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil
277
schen ALR angemessen.44 Allerdings kritisiert Zeiller, dass das französische Gesetzbuch zum Teil zu unvollständig sei. „Das Sachenrecht ist beinahe gänzlich nur ein kurzer, ja man muß sagen, sehr magerer und unvollständiger Auszug des Römischen Rechts“.45 In diesem Zusammenhang ereifert sich Zeiller auch darüber, dass ein Richter, der sich weigere, wegen „obscurité ou insuffisance de la loi“ eine Entscheidung zu treffen, wegen „déni de justice“ verurteilt werden könne (Art 4 CC), der Code aber keine Auslegungsregeln enthalte, die (wie § 7 ABGB) eine Entscheidung nach natürlichen Rechtsgrundsätze ermöglichen würde. Besonders im Hinblick auf die „gleiche Gerechtigkeit“ sieht Zeiller im CC schwere Mängel: „Das französische Recht verfährt in mehreren Stellen sehr hart gegen die Auswärtigen, und, vorzüglich durch unnöthige und unnatürliche Beschränkung der bürgerlichen Freiheit auch gegen die eigenen Bürger. Nur einige Beispiele: Ein Fremder, ob er sich gleich nicht in Frankreich aufhält, kann wegen eines mit einem Franzosen selbst im Auslande geschlossenen Geschäftes bei dem französischen Gericht belangt werden (Art 14 CC). Die Freiheit, zu adoptiren, wird auf ganz außerordentliche Fälle eingeschränkt .... Die Frau kann ohne Einwilligung des Mannes weder veräußern, noch erwerben (Art 217 CC). Die Frau kann wegen Ehebruchs die Trennung oder Scheidung nur dann verlangen, wenn er seine Beischläferin in dem gemeinschaftlichen Hause halten würde (Art 230, 306 CC). Getrennte Ehegatten können sich nie wieder vereinen (Art 296 CC). Ein Vater kann sein Kind, das noch nicht 16 Jahre alt ist und kein Vermögen besitzt, eigenmächtig auf einen Monat in das öffentliche Gefängnis setzen lassen (Art 376 CC)“.46 Das französische Gesetzbuch wird von Zeiller also in seinem Vortrag an Franz I. wegen „unnöthiger und unnatürlicher Beschränkung der bürgerlichen Freiheit“ als zu wenig liberal angegriffen! Unter den Belegen für mangelnde Freiheit und Gleichheit nennt Zeiller ausdrücklich die Beherrschung der (verheirateten) Frau durch den Mann und gewisse Exzesse der väterlichen Gewalt gegenüber Kindern. Übrigens spart Zeiller auch hinsichtlich des patriarchalischen römischen Rechts nicht mit Kritik: Ein Personenrecht, „wo die Gattin und die Kinder der despotischen Gewalt des Hausvater unterwor-
„Leichter und bequemer zu allgemeinen Gebrauch“ als das ALR, so ZEILLER in: OFNER II, 489.
44
45
OFNER II, 479, ähnlich ebenda 485.
46
ZEILLER in OFNER II, 479.
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FRANZ-STEFAN MEISSEL
fen waren“ könne „in dem freiern, humanen Deutschland, insbesondere in den österreichischen Staaten nicht zur Anwendung kommen“.47 Die Kritik Zeillers am CC in diesem Vortrag bezieht sich zu einem guten Teil auf die Themen Freiheit und Gleichheit einerseits und die patriarchalische Familienstruktur andererseits. Interessanterweise dient ihm in diesen politisch höchst brisanten Bereichen die Kritik des französischen Rechts jeweils als Mittel, die eigene Position und die von ihm mitkonzipierte Zielsetzung des ABGB in vergleichsweise unverfänglicher Art und Weise darzulegen. Indem er den CC in einzelnen Punkten als zu wenig liberal und egalitär kritisiert, reklamiert er entsprechende Zielsetzungen für das österreichische Zivilgesetz. Propaganda und Rechtfertigung des eigenen Gesetzesentwurfes werden so von Zeiller geschickt mit seinen (persönlichen) rechtspolitischen Anliegen verknüpft. Vor diesem Hintergrund sind in der Folge die beiden Gesetzbücher in historischer Perspektive (dh bezogen auf die jeweilige Fassung zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens) im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Divergenzen gegenüberzustellen. Im Vordergrund steht dabei die Leitidee der „bürgerlichen Freiheit“, die Zeiller immer wieder angesprochen hat und die wir anhand einiger ausgewählter Aspekte des Personen- und Familienrechts einerseits und des Vermögensprivatrechts andererseits illustrieren wollen.
VI. Freiheits- und Gleichheitsaspekte im Personenrecht Bekanntlich ist der Aufbau sowohl des CC als auch des ABGB an den GaiusInstitutionen orientiert. Die Haupteinteilung in Personen- und Sachenrecht folgt der „aus dem römischen Recht geläufigen“ und „auch in den neueren Gesetzbüchern angenommenen“ Ordnung.48 Beide Gesetzbücher widmen sich zunächst dem Personenrecht (inklusive des Familienrechts) und anschließend dem Sachenrecht im Sinne eines Vermögensprivatrechts, das auch das Obligationenrecht mit umfasst. Im Personenrecht beschäftigen sich beide Kodifikationen zunächst mit der Frage nach dem Verhältnis von bürgerlichen Rechten bzw „droits civils“ und der Zugehörigkeit zum Staatsbürgerverband. Ähnlich wie der CC betont das ABGB hinsichtlich der bürgerlichen Rechte, dass diese grundsätzlich den
47
OFNER II, 480.
48
ZEILLER, Commentar I, 25.
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil
279
Fremden in gleicher Weise wie den „Eingebornen“ zukommen (§ 33 ABGB), vorausgesetzt es herrscht Reziprozität. Der für das Personenrecht in der Konzeption Zeillers so zentrale § 16 ABGB normiert, dass die „angeborenen, schon durch die Vernunft einleuchtenden Rechte“ jedem Menschen zukommen. Soweit hier also vernunftrechtlich begründete „Grundrechte“ angesprochen sind, werden diese nicht als Staatsbürgerrechte, sondern als Menschenrechte gedacht. Die Kodifikationsgeschichte des § 16 ABGB und Zeillers Rolle bei dessen Entstehung wurde jüngst in der Literatur durchaus kontrovers bewertet. Hier näher darauf einzugehen bietet sich deshalb an, weil bei der Kodifikation dieser Bestimmung nicht zuletzt die Französische Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 immer wieder die österreichische Diskussion mit beeinflusst hat. Bekannt ist, dass Martinis Entwurf49 (und leicht modifiziert auch das Galizische Gesetzbuch, das als „Urentwurf“50 den Beratungen zugrunde lag) mit einem Hauptstück „Von Rechten und Gesetzen überhaupt“ begann und dann im Zweiten Hauptstück „Von den Rechten der Personen“ handelte. Hier findet sich auch im § 29 Urentwurf eine Aufzählung von angeborenen Rechten, „vorzüglich das Recht sein Leben zu erhalten, das Recht die dazu nötigen Dinge sich zu verschaffen, das Recht seine Leibes- und Geisteskräfte zu veredeln, das Recht sich und das Seinige zu verteidigen, das Recht seinen guten Leumund zu behaupten, endlich das Recht mit dem, was ihm eigen ist, frei zu schalten und zu walten.“ Von diesen angeborenen Rechten, hinsichtlich derer Gleichheit postuliert ist, unterscheidet Martini die „erworbenen Rechte“, zu denen „Glücksgüter und andere zufällige Vorrechte“ (§ 32 Urentwurf) gehören, bei denen „ein gewisser Abstand unter den Menschen unvermeidlich, ja sogar notwendig“ sei. Vor allem Barta stellte dieses Bemühen Martinis um Normierung von angeborenen Rechten in einen Gegensatz zu seinen Schülern Sonnenfels und Zeiller; diese beiden hätten Martinis Anliegen mit grundrechtsfeindlichen Intentionen konterkariert und mit § 16 nur einen „Normtorso“ übrig gelassen.51 Tatsächlich liegen die Dinge nicht ganz so einfach. Bezüglich Sonnenfels ist es richtig, dass er Martinis Einleitung in der Revisionshofkommission kritisierte PHILLIP HARRAS VON HARRASOWSKY, Der Codex Theresianus und seine Umarbeitungen V (Wien 1886) 3 ff. 49
50
OFNER I, Seite III ff.
51
BARTA, Martini-Colloquium 44 f, Fn 44, 68, 79, 87.
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und einen eigenen Entwurf vorlegte, der aber keine Zustimmung fand.52 Sonnenfels ging es darum, eine Reihe verfassungsrechtlicher Regeln in das Bürgerliche Gesetzbuch zu integrieren und damit abzusichern. Zur Untermauerung seiner eigenen Vorschläge scheute sich Sonnenfels nicht, den Martinischen Entwurf in dieser Hinsicht als „gutgemeint, aber unvorsichtig und politisch gefährlich“53 zu qualifizieren. Allerdings stellte er später in einem Schreiben an seinen Lehrer Martini54 diese Angriffe als taktische Finte dar: Ihm sei es darum gegangen, dieselben Ziele wie Martini zu verfolgen, nur in den Mitteln zum Ziele sei er abgewichen. Die Haltung von Sonnenfels war wohl nicht durch Opportunismus bestimmt,55 sondern erklärt sich aus seinem eigenen Bestreben, einerseits einen eigenen politischen Codex zu schaffen, andererseits aber zumindest gewisse „politische Grundsätze“ auch im Bürgerlichen Gesetzbuch abzusichern. Auch Zeillers Nichtunterstützung von Martinis Einleitung ist differenziert zu sehen: Zeiller spricht sich dafür aus, Martinis grundsätzliche Äußerungen „Von Rechten und Gesetzen überhaupt“ und „Von den Rechten der Personen“ wegzulassen. Stattdessen wird von ihm die Formulierung des § 16 ABGB vorgeschlagen. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die jüngst vorgetragene These, dass § 16 ABGB nur der „Angst vor Napoléon“ zu verdanken sei,56 aufgrund der Chronologie klar widerlegt ist. Tatsächlich wurde über den späteren § 16 in der Sitzung vom 18. Januar 1802 verhandelt,57 dh lange vor dem Abschluss des CC und lange bevor Napoléon Wien belagerte. Aus dem ProZum Folgenden ausführlich SIGMUND ADLER, Die politische Gesetzgebung in ihren geschichtlichen Beziehungen zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche, in: FS zur Jahrhundertfeier des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches I (Wien 1911) 83–145, hier 112 ff; vgl nun auch STEPHAN WAGNER, Der politische Kodex. Die Kodifikationsarbeiten auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts in Österreich 1780– 1818 (= Schriften zur Verfassungsgeschichte 70, Berlin 2004) 89 ff.
52
53
ADLER, Politische Gesetzgebung 116.
54
Wiedergegeben bei ADLER, Politische Gesetzgebung 127 f Fn 70.
So aber BARTA, Martini-Colloquium 46 Fn 45; zurecht differenzierter WAGNER, Der politische Kodex. 213 mwN. 55
BARTA, Martini-Colloquium 79 unter Berufung auf eine missverständliche Stelle bei MORIZ WELLSPACHER, Das Naturrecht und das ABGB, in: ABGB-FS I, 173–207, hier 181. Ausführlich zur Unhaltbarkeit dieser These bereits WILHELM BRAUNEDER, „Angst vor Napoleon!“, ZNR 25 (2003) 291–294. 56
57
OFNER I, 36 ff.
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil
281
tokoll ergibt sich ganz klar, dass der Wunsch der Revisionshofkommission dahin ging, die Bestimmungen über die natürlichen Rechte (§§ 28 ff des Urentwurfes) gänzlich wegzulassen. Zeiller schwächt hier ab: „Im Allgemeinen sei er mit der Revisionshofkommission einverstanden, dass man sich in keine Aufzählung und Erörterung der natürlichen Rechte einlassen“ soll. Um jedoch Missdeutungen, besonders der Auswärtigen vorzubeugen, wäre nach seinem Erachten an einem schicklichen Orte der Einleitung zu sagen: „Daß von der obersten Macht sowohl die angebohrnen Rechte, die jedermann durch die Vernunft sind, als auch die erwerblichen durch die Gesetze gesichert werden.“58 Die „Rücksicht auf die Auswärtigen“ dürfte sich dabei vor allem darauf beziehen,59 dass auf die Nichtanerkennung der Sklaverei und Leibeigenschaft im Anwendungsbereich des ABGB entsprechend hingewiesen werden sollte, die dazu führte, dass „ein Fremder, welcher einen Sclaven mit sich führt, während seines hiesigen Aufenthaltes über denselben nur die durch unsere Gesetze zugestandenen Rechte eines Dienstherrn, keineswegs aber eine auf Sclaverey sich beziehende Macht ausüben dürfe“.60 Zeillers Bereitschaft, die Aufzählung der natürlichen Rechte aufzugeben, ist zunächst vor seiner eigenen rechtstheoretischen Position zu sehen, aufgrund der er die vorkantianisch-naturrechtliche Konzeption Martinis wegen der mangelnden Trennung von Recht und Moral ablehnt. In seinem „Vortrag zur Einführung“ führt er hiezu aus, dass man mit Bedacht eine Aufzählung der angeborenen Rechte vermieden habe, da diese der „metaphysischen Rechtslehre überlassen werden“ müsse.61 Auch politische Erwägungen werden von Zeiller angesprochen. Er verweist darauf, dass die „berüchtigte Erklärung der Menschenrechte in Frankreich ... zu den gefährlichsten Missdeutungen Veranlassung“62 gegeben habe. Allerdings fährt Zeiller an ebendieser Stelle fort, dass eine solche Aufzählung der Rechte „auch überflüssig [sei], weil diese Rechte jedem schon durch die Vernunft einleuchten“. Dass die durch § 16 ABGB angesprochenen „angeborenen Rechte“ als Teil einer liberalen Staatskonzeption zu sehen ist, die hier im Zivilrecht durch das Gesetzbuch in einem durchaus konstitutionellen Sinn grundgelegt ist, ließe 58
OFNER I, 37.
59
BRAUNEDER, Angst vor Napoleon 293.
60
ZEILLER, Commentar I, 105 f.
61
OFNER II, 471.
62
OFNER II, 471.
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sich aus dem § 17 ABGB ableiten, der die Grenze der „natürlichen Rechte“ einer „gesetzmäßigen Beschränkung“ vorbehält. Die Formulierung von § 17 ABGB knüpft zwar lose an eine ähnliche Bestimmung in Martinis Entwurf an, macht aber noch deutlicher, als es bei Martini der Fall ist, klar, dass die natürlichen bürgerlichen Freiheiten nur in Form des Gesetzes beschränkt werden dürfen. Zeillers Strategie läuft offenbar darauf hinaus, die angeborenen Rechte als präpositive Rechte konsequent nicht näher im Gesetz auszuführen – über § 17 ABGB und die Auslegungsregel des § 7 ABGB (natürliche Rechtsgrundsätze) aber ausreichend Einfallstore für sie offen zu lassen. So lässt sich denn auch in Zeillers scharfer Trennung von Privatrecht und öffentlichem Recht (und der damit verbundenen Streichung des Grundrechtskatalogs) der Versuch erblicken, unter den nachrevolutionär reaktionären politischen Rahmenbedingungen die Kodifikation des Privatrechts und damit zumindest eine Verbürgung der gleichen Freiheiten im Verhältnis der Bürger untereinander sicherzustellen.63 Dies steht im Einklang mit Zeillers Betonung des egalitären Charakters des Privatrechts im Gegensatz zu den politischen Gesetzen64 und der Hervorhebung der Autonomie des Privatrechts gegenüber der politischen Gesetzgebung.65 Dass Zeillers „offene Konzeption“ des § 16 ABGB tatsächlich langfristiges Potenzial enthielt, zeigt die Rezeptionsgeschichte dieser Bestimmung, die heute vom OGH als „Zentralnorm unserer Rechtsordnung“ angesehen wird, die „die Persönlichkeit als Grundwert“ anerkennt.66 Nachdem noch Joseph Unger §§ 16 und 17 ABGB als „an und für sich ganz müßige und praktisch bedeutungslose Paragraphen“67 qualifiziert hatte, sollte erst Wellspachers Interpretation68 bahnbrechend für die Nutzbarmachung des § 16 ABGB als
In diesem Sinn mE treffend DIETER GRIMM, Das Verhältnis von politischer und privater Freiheit bei Zeiller, in: SELB / HOFMEISTER (Hrsg), Forschungsband Franz von Zeiller 94–106, hier 97 ff. 63
64
ZEILLER Commentar I, 12.
65
ZEILLER Commentar I, 15 ff.
Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofes in Zivil- und Justizverwaltungssachen (SZ) 67/173.
66
JOSEF UNGER, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts I (Leipzig 1856) 71 Fn 16.
67
68
WELLSPACHER, Naturrecht und ABGB 187 f.
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Anknüpfungspunkt der zivilrechtlichen Anerkennung von Persönlichkeitsrechten werden.
VII. Genderaspekte im Vergleich Code civil und ABGB Wie bereits oben erwähnt, konstatierte Zeiller insbesondere Defizite des CC im Hinblick auf „gleiche Gerechtigkeit“ im Verhältnis der Eheleute untereinander und hinsichtlich der väterlichen Gewalt. Aus Zeillers Sicht sind gewisse Vorrechte des Mannes gegenüber seiner Ehefrau unter dem Gesichtspunkt der „gleichen Gerechtigkeit“ (das Wort Gleichheit vermeidet er, möglicherweise aufgrund der revolutionären Konnotation) nicht zu rechtfertigen. Dazu ist anzumerken, dass beide Kodifikationen aus unserer heutigen Sicht in erheblichem Ausmaß patriarchalische Elemente im Familienrecht aufweisen und noch weit entfernt sind vom Ideal einer gleichberechtigten Partnerschaft der Geschlechter. Art 213 des Code Napoléon stellt klar, dass der Mann der Frau Schutz schuldig ist, die Frau aber dem Mann Gehorsam. Auch nach § 91 ABGB aF ist der „Mann … das Haupt der Familie. In dieser Eigenschaft steht ihm vorzüglich das Recht zu, das Hauswesen zu leiten … “. Was das Eherecht anbelangt, so unterscheiden sich die beiden Kodifikationen grundlegend im Hinblick auf die Rolle der Kirche. Der obligatorischen Zivilehe des CC, die in Umsetzung der Trennung von Staat und Kirche keine konfessionellen Unterschiede kennt, steht im ABGB ein konfessionell differenziertes Eherecht gegenüber, bei dem der Ehevertrag durch Trauung vor dem zuständigen Geistlichen geschlossen wird. Für Katholiken kennt das ABGB keine Scheidung dem Bande nach, was das Gesetz als „Scheidung“ bezeichnet, ist bloß eine dauernde Trennung ohne Möglichkeit einer Wiederverheiratung. Insofern nennt Schlosser das Eherecht des ABGB 1811 nicht ohne Grund „reaktionär und diskriminierend-rückständig“.69
HANS SCHLOSSER, Kodifikationen im Umfeld des Preußischen Allgemeinen Landrechts. Der französische Code civil (1804) und das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (1811), in: DETLEF MERTEN / WALDEMAR SCHRECKENBERGER (Hrsg), Kodifikation gestern und heute. Zum 200. Geburtstag des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten (= Schriftenreihe der Hochschule Speyer 119, Berlin 1995) 63–82, hier 77.
69
Zum Familienrecht der vernunftrechtlichen Kodifikationen vgl auch URSULA VOGEL, Gleichheit und Herrschaft in der ehelichen Vertragsgesellschaft – Widersprüche der Aufklärung, in: GERHARD (Hrsg), Frauen in der Geschichte des Rechts 265–292; ROLAND GANGHOFER / JEAN MICHEL POUGHON, Le droit de la femme dans le
284
FRANZ-STEFAN MEISSEL
Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass auch das „fortschrittlichere“ französische Zivilgesetzbuch eklatante Elemente einer Bevorzugung des Mannes gegenüber der Frau enthält: der Verlust der Verfügungsfähigkeit der Frau mit Heirat, die ungleiche Ausgestaltung des Ehebruchs als Scheidungsgrund, der Schutz des unehelichen Vaters, dessen Abstammung nur ausnahmsweise festgestellt werden kann. Das Familienrecht des CC wurde daher als „législation pour pères de famille“ charakterisiert.70 In der nachrevolutionären Restauration der Familie als Pflanzschule des Staates („pepinière de l’état“) bleibt die Gleichberechtigung der (Ehe-)Frau eindeutig auf der Strecke, die Situation der Ehegattin ist zT sogar schlechter als im Ancien Régime. Im Vergleich dazu erscheint das ABGB von einer etwas stärker in Richtung Geschlechtergleichberechtigung gehenden Auffassung geprägt, wenngleich es aus heutiger feministischer Sicht erhebliche patriarchalische Residuen71 enthält. Anders als im CC ist die (Ehe-)Frau jedenfalls voll geschäftsfähig und benötigt keinen ehemännlichen Beistand bzw kann, wenn sie sich vertreten lassen will, auch jemand anderen als ihren Ehemann zum Bevollmächtigten bestellen. § 1233 ABGB zufolge begründet die eheliche Verbindung allein noch keine Gütergemeinschaft, eine solche muss vielmehr eigens durch einen „besonderen Vertrag“, dessen Umfang und Form (uU Verzeichniserrichtung nötig) sich nach §§ 1177 f ABGB richtet, begründet werden. Im Gegensatz zur patria potestas, die noch im CC der Normalfall ist, geht das ABGB grundsätzlich von einer gemeinsamen elterlichen Gewalt aus. Auch die Vorherrschaft des Mannes in der Familie gem § 91 aF ABGB wird von Zeiller in seiner Kommentierung als Zweifelsregel verstanden, von der keineswegs ein Beherrschungsrecht des Mannes über seine Ehefrau abgeleitet werden dürfe. Dass der Mann das „Haupt der Familie“ ist, bedeutet laut Zeiller72 keineswegs ein Recht des Mannes, seine Frau zu beherrschen: „weder aus Code civil et l’ALR, in: BARBARA DÖLEMEYER / HEINZ MOHNHAUPT (Hrsg), 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 75, Frankfurt aM 1995) 357–370; THILO RAMM, Das Familienrecht des Preußischen Allgemeinen Landrechts und des Code civil im Vergleich, in: DÖLEMEYER / MOHNHAUPT (Hrsg), 200 Jahre Allgemeines Landrecht 463–483. 70
So etwa JEAN-LOUIS HALPERIN, Le code civil² (Paris 2003) 27.
Zur Unfähigkeit von Frauen als reguläre Testamentszeugen vgl § 961 aF, der erst durch die 1. Teilnovelle geändert wurde; Vormund kann eine Frau nur unter bestimmten Umständen werden, ein dem Senatus Consultum Velleianum entsprechendes Verbot der Fraueninterzession fehlt aber. 71
72
ZEILLER, Commentar I, 250.
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil
285
der gewöhnlichen physischen, oder intellectuellen Ueberlegenheit des Mannes, noch auch unmittelbar aus der engen ehelichen Verbindung“ könne ein Recht der Beherrschung abgeleitet werden. Nur im Zweifelsfall streite „aus den gewöhnlichen Naturanlagen und der üblichen Erziehungsart“ die Vermutung einer „reiferen und tieferen Beurtheilung“ für den Mann. Des Weiteren hebt Zeiller in seinem Kommentar hervor, dass der Ehemann zwar verpflichtet sei, den Schutz der Person seiner Frau, und „die Vertheidigung ihrer Rechte, oder ihre Vertretung zu übernehmen“, dass ihm daraus aber kein selbständiges Recht der Vertretung der Frau (ohne ihre Zustimmung) zukomme.73 Vielmehr sei die Ehefrau weiter berechtigt, ihr eigenes Vermögen zu verwalten und bei darauf bezüglichen gerichtlichen oder außergerichtlichen Geschäften einen anderen „Machthaber“ (Bevollmächtigten) zu bestellen. Nach der allgemeinen Bestimmung des § 21 ABGB kommt Frauen und Männern die gleiche Geschäftsfähigkeit zu. Dazu Zeiller: „Unser Gesetzbuch macht im Allgemeinen keinen Unterschied zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlechte, woraus, ohne dass es ausdrücklich zu sagen nothwendig war, schon von selbst fließt, dass in der Regel beyden Geschlechtern gleiche Privat-Rechte zustehen.“ 74 Die Ehefrau behält nach ABGB nicht nur die volle Geschäftsfähigkeit, sie bleibt nach dem gesetzlichen Güterstand auch Alleineigentümerin ihrer Güter und kann diese selbst oder durch einen selbstgewählten Vertreter (keineswegs notwendigerweise der Ehemann!) verwalten lassen. Etwas weniger egalitär ausgerichtet ist dagegen die Elternrechtslehre Zeillers. Zwar geht er auch bereits von einer elterlichen Gewalt (anstelle der rein väterlichen Gewalt) über die Kinder aus (vgl § 144 ABGB, demzufolge die Eltern das Recht haben, einverständlich die Handlungen ihrer Kinder zu leiten), räumt aber dem Vater doch insofern ein Übergewicht zu, als „im Falle der Collision der Wille des Vaters vorgehen soll“. Dufour75 sieht darin einen Beleg, dass Zeiller hinsichtlich der Elternrechtslehre stärker vom vorkritischen Naturrecht als vom Kantschen Persönlichkeitsbegriff beeinflusst gewesen sei. Allerdings hebt Zeiller in seinem Kommentar die Notwendigkeit des
73
ZEILLER, Commentar I, 252.
74
ZEILLER, Commentar I, 116 Fn *.
ALFRED DUFOUR, Zeillers Elternrechtslehre im Lichte des vorkritischen Naturrechts, in: SELB / HOFMEISTER (Hrsg), Forschungsband Franz v. Zeiller 52–62, bes 62. 75
286
FRANZ-STEFAN MEISSEL
Einverständnisses deutlich hervor – und zwar in einer durchaus prinzipielle Gleichberechtigung andeutenden Sprache: „Außerdem ... sollen die Aeltern überhaupt, damit die Erziehung nach einem vernünftigen, zweckmäßigen Plane gleichförmig besorgt werde, einverständlich dabey zu Werke gehen. Dadurch wird der Gatte in Stand gesetzt, die Stelle des anderen, nicht immer gegenwärtigen Gatten zu vertreten; dadurch wird die das Ansehen der Aeltern abwürdigende Disharmonie in ihren Anordnungen vermieden, und es den Kindern möglich gemacht, die dem Rechte der Aeltern zusagende Pflicht des Gehorsams und der Ehrfurcht gegen beyde zu erfüllen.“76 Übrigens haben laut Zeiller Kinder „offenbar vernunftwidrigen Anordnungen der Eltern“ nicht Folge zu leisten. Vor diesem Hintergrund erscheint mir eine Betrachtungsweise, bei der Martinis theoretische Positionen zur Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter (ein wahres „ Feuerwerk an Ideen und neuen Arrangements der Geschlechterbeziehungen“77) den familienrechtlichen Bestimmungen des ABGB gegenübergestellt werden und sodann Zeiller als Wahrer eines bloßen „Rechtsscheines einer freiheitlich-gleichen Gesellschaft“78 und Propagandist weiblicher Unterordnung portraitiert wird, als Überzeichnung. Zwischen den theoretischen Positionen der Naturrechtler Martini und Zeiller und ihren jeweiligen Entwürfen muss unterschieden werden. Auch Martinis Entwurf enthielt eine dem späteren § 91 aF ABGB korrespondierende Regelung79 – trotz der viel stärker nach „partnerschaftlicher Ehe“ klingenden Äußerungen Martinis in seinem naturrechtlichen Lehrbuch. Dass nicht nur die vormärzliche Jurisprudenz sondern die weitere Rechtsentwicklung in Österreich bis in die Siebziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts die zarten Ansätze des Gleichheitsdiskurses der naturrechtlichen Autoren nicht aufgenommen und ganz im Gegenteil die patriarchalischen Züge des ABGB hervorgehoben hat, ist bedauerlich, aber nicht wirklich Franz von Zeiller anzulasten.
76
ZEILLER, Commentar I, 326.
77
FLOSSMANN, Geschlechterverhältnis 180.
78
FLOSSMANN, Geschlechterverhältnis 186.
Vgl HARRASOWSKY, Codex Theresianus und seine Umarbeitungen V (Wien 1886) 27: Drittes Hauptstück § 5: „Dem Manne, als Haupt des Hauses, steht besonders zu, die häuslichen Geschäfte zu leiten; ihm liegt aber auch ob, das Weib nach seinem Stand und Vermögen zu nähren, und nöthigen Falles zu vertreten.“ 79
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil
287
VIII. Liberale Aspekte im Vermögensprivatrecht von Code civil und ABGB Relativ knapp geht Zeiller, wie wir gesehen haben, in seinen vergleichenden Betrachtungen zum CC auf das Vermögensprivatrecht ein. Dies ist insofern nicht erstaunlich, da in diesem Bereich die gemeinsame Verwurzelung beider Kodifikationen in der Tradition des ius commune evident ist. Die Grundkonzeption des Sachenrechts im weiten Sinn im Anschluss an die gaianische Begriffsbildung der res, die auch unkörperliche Sachen (wie die Obligationen) mitumfasst, ist beiden Gesetzbüchern gemein, wie auch das Grundverständnis von Eigentum und Enteignung.80 Was vielleicht erstaunen mag, ist, dass auch dort, wo die sachenrechtlichen Regelungen am markantesten unterschiedlich sind, nämlich bei der Frage des derivativen Eigentumserwerbs an Mobilien, bei dem der CC die vom ius commune abweichende naturrechtliche Position des Eigentumsübergangs kraft Konsenses der Parteien („Konsensualprinzip“) vertritt, dies von Zeiller nur erwähnt, nicht aber problematisiert wird. Das ABGB folgt hier ja dem römisch-gemeinen Recht und verlangt neben dem Titel auch noch die Übergabe als Modus der Übereignung (bei Mobilien). Allerdings vertraten sowohl Martini als auch Zeiller in ihren theoretischen naturrechtlichen Schriften das Konsensprinzip,81 waren mit diesem also bestens vertraut, auch wenn sich dies in ihren Kodifikationsentwürfen des ABGB, das hier die traditionelle Lösung weiterführt, nicht niedergeschlagen hat. Umgekehrt erweist sich aber bei näherer Betrachtung der Unterschied zwischen Konsensprinzip und der im ABGB normierten Lehre von Titulus und Modus als gar nicht so fundamental verschieden, wenn man die Möglichkeit des Besitzkonstituts gem § 428 Fall 1 ABGB im österreichischen Recht einerseits und die doch auch nicht zu unterschätzende Rolle des Besitzes für den Erwerb und die Sicherung von Eigentum nach CC mit in Rechnung stellt.82
80
Ausführlicher dazu MEISSEL, Le code code civil autrichien 132 ff.
KARL A. V. MARTINI, Lehrbegriff des Natur-, Staats- und Völkerrechts (Wien 1783/84, Neudruck 1969) II, 85 (Nr 165); FRANZ VON ZEILLER, Das natürliche Privat-Recht³(Wien 1819) § 109. Dazu ausführlicher GUNTER WESENER, Zeillers Lehre 262 ff; ARTUR VÖLKL, Die österreichische Kodifikation und das römische Recht, in: BARTA / PALME / INGENHAEFF (Hrsg), Naturrecht und Privatrechtskodifikation 277–301, hier 292 ff. 81
Dazu schon HEISS, Einfluss des Code civil 521 f; MEISSEL, Le code civil autrichien 134 f.
82
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FRANZ-STEFAN MEISSEL
Was die Rolle feudaler Elemente im Eigentumsrecht anbelangt, so ist unbestreitbar, dass das ABGB 1811 hier in der Anerkennung des geteilten Eigentums (Ober- und Untereigentum, vgl §§ 357 ff ABGB) und einer Reihe ständischer Institute wie der Familienfideikommisse, Erbdienstbarkeiten, Grundpflichtigkeiten und der Erbpacht vor dem Hintergrund einer sozialen Realität steht, die von Klassen- und Standesunterschieden gekennzeichnet ist.83 Dagegen ist die (an sich der Formulierung des § 354 ABGB nicht unähnliche) Textierung des Art 544 CC: « La propriété est le droit de jouir et disposer des choses de la manière la plus absolue ... » von den Zeitgenossen als Absage an ein geteiltes Eigentumsrecht im Sinn des Feudalismus verstanden worden.84 Brauneder deutet das ABGB 1811 daher als eine „neuständische Kodifikation“, das Gesetzbuch wende sich „auf der Basis des vormärzlichen Österreich anders als das ALR nicht an die altständische, aber auch nicht wie der Code civil an die egalitäre Gesellschaft, vielmehr an eine neuständisch gegliederte Bevölkerung“.85 Als „neuständische Haltung“ meint er dabei eine solche, die die Ständeordnung zwar beibehalten, aber reformieren will. Für Zeiller schließt er daraus: „Da sich Zeiller eine ständelose Gesellschaft nur nach einem staatlichen Umbruch vorstellen konnte, dafür aber nie eintrat, kann von ihm und den anderen Kodifikatoren auch kein egalitäres Gesetzbuch im Sinne des Code civil, sondern als größtmöglicher Fortschritt eben ein neuständisches ABGB erwartet werden.“ Dass der CC in vielerlei Hinsicht (und auch durchaus im Vergleich zum ABGB) gar nicht so egalitär war, wurde oben schon mehrfach angedeutet. Hier geht es darum, die Behauptung, Zeiller habe die ständische Ordnung nicht nur hingenommen, sondern bewusst (wenn auch in zT reformierter Form) gewollt, zu hinterfragen. Richtig ist, dass Zeiller auch ein profunder Kenner des Lehnsrechts war. Das Lehnsrecht war Gegenstand seiner Kronprinzenvorträge86 und er hat den (auf
BRAUNEDER, Das österreichische ABGB 72; SCHLOSSER, Kodifikationen 67, 76 f, 84. 83
ALFONS BÜRGE, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 52, Frankfurt aM 1991) 7. 84
85
BRAUNEDER, Das österreichische ABGB 80.
WOLFGANG WAGNER, Franz von Zeiller als Erzieher, in: DERSELBE (Hrsg), Das Staatsrecht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (= Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen Verfassungsrecht Reihe B: Quellen 1, Karlsruhe 86
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil
289
Anregung von Keess) von Johann Peter Fölsch erarbeiteten Entwurf einer Lehnsordnung 1805 endredigiert.87 Dass ihm die Aufrechterhaltung der feudalen Struktur ein inneres Anliegen gewesen sei, scheint mir aber durchaus fraglich. Die von Brauneder88 angeführte negative Äußerung zum CC, derzufolge dieser „eilig und gewaltsam dem widerstrebenden Genius der Völker aufgedrungen“ worden sei und daher auch „ebenso schnell wieder verschwinden“ habe müssen (gemeint sind die ehedem französisch besetzten Gebiete), stammt gar nicht von Zeiller, sondern aus einem Vorwort Pratobeveras. Hervorzuheben ist, dass Zeiller das Lehnsrecht als ein Sonderprivatrecht betrachtete89 (eine durchaus neue Konzeption, war doch das Lehnsrecht vorher regelmäßig als Teil des Staatsrechts gesehen worden), welches er aber, so wie das Handels- und Wechselrecht, nicht in das ABGB integrieren wollte. Das bürgerliche Gesetzbuch sollte laut Zeiller gerade ein „allgemeines, somit auf alle Classen der Bürger anwendbares Recht“90 sein. Daraus ist meines Erachtens zu schließen, dass Zeiller unter dem Gesichtspunkt der „bürgerlichen Freiheit“, der die Gleichheitsidee immanent ist, den ständischen Institutionen eher reserviert gegenüberstand.91 Daraus erklärt sich auch sein Anliegen, in der Textierung des ABGB auch dort, wo ständische Elemente aufrechterhalten werden, diese dennoch möglichst standesneutral zu formulieren, um die Fiktion der allgemeinen Gleichheit aufrechtzuerhalten. Die im ABGB 1811 anzutreffenden feudalen Züge beruhen damit wohl weniger auf Zeillers Wunschvorstellungen, sondern mussten von ihm schlicht als Teil der politischen Rahmenbedingungen in die Kodifikationsarbeit mit einbezogen werden. Als letzter Bereich, in dem das nach wie vor verbreitete Klischee der „Rückständigkeit“ des ABGB im Vergleich zum CC zurechtzurücken ist, ist schließlich das Vertragsrecht anzuführen. Dieses beruht in beiden Kodifikationen ganz stark auf der Tradition des usus modernus pandectarum und weist 1968) 7–21. Das Manuskript befindet sich unter der Signatur Bibl.Pal.Vind.Cod. 14333 in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Dazu näher WOLFGANG WAGNER, Die Privatisierung des Lehnrechts, in: SELB / HOFMEISTER, Forschungsband Franz v. Zeiller 226–247, hier 231 f. 87
88
BRAUNEDER, Das österreichische ABGB 68 Fn 12.
89
WAGNER, Privatisierung des Lehensrechts 237 ff.
90
ZEILLER, Commentar I, 19.
Deutlich wird aus Zeillers Kommentierung (Commentar II, 521 f), dass er zB die Familienfideikommisse mit wenig Sympathie betrachtete und sie als im Widerspruch zu den „natürlichen Rechtsgrundsätzen“ stehend ansah. 91
290
FRANZ-STEFAN MEISSEL
insofern viele Gemeinsamkeiten auf. Die römischrechtliche Unterscheidung von Nominat- und Innominatkontrakten ist zugunsten des allgemeinen Vertragsbegriffes und einer nicht an einen numerus clausus gebundenen (inhaltlichen) Vertragsfreiheit aufgegeben.92 Der naturrechtliche Einfluss manifestiert sich vor allem in der Konzeption des Vertragsschlusses, der noch nicht nach dem pandektistischen Modell der übereinstimmenden Willenserklärung, sondern im Anschluss an Grotius als Übereignung einer particula libertatis des Versprechenden an den Versprechensempfänger konstruiert ist.93 Die Bindung des Offerenten im ABGB wird von Zeiller analog zur Übertragung des Eigentums einer Sache interpretiert.94 Allerdings hat die österreichische Lehre schon lange § 861 ABGB im Sinn des pandektistischen Modells der „Vereinigung von Willenserklärungen“ interpretiert. Dies fiel umso leichter, als sowohl die Terminologie des ABGB (so kommt der Vertrag gem § 861 ABGB „durch den übereinstimmenden Willen beider Teile“ zustande), als auch die von Zeiller innovativ eingebrachte Bindung des Offerenten nach Zugang seines Angebotes (§ 862 Satz 2 ABGB) in Richtung des pandektistischen Vertragsmodells weisen. Dass diese Bindungswirkung der Offerte an sich im Widerspruch zum „Übertragungsmodell“ des Versprechens steht, ist Zeiller voll bewusst: „Da durch ein bloßes Versprechen das Recht auf einen andern nicht übertragen wird, so wäre der Promittent, so lange die Annahme nicht erfolgt ist, berechtiget, sein Versprechen wieder zurück zu nehmen.“95 Diese „abstracte, philosophische Ansicht“ stehe aber im Widerspruch zur „Sicherheit des Verkehrs und der bürgerlichen Verhältnisse“96 und werde daher hier bewusst durchbrochen. Dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit wird auch im Irrtumsrecht des ABGB 1811 besondere Bedeutung zugemessen. Vgl etwa BRUNO SCHMIDLIN, Zum Gegensatz zwischen römischer und moderner Vertragsauffassung, in: JOHANNES E. SPRUIT (Hrsg), Maior viginti quinque annis (Assen 1979) 111–131; GUNTER WESENER, Naturrechtliche und römischgemeinrechtliche Elemente im Vertragsrecht des ABGB, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, ZNR 6 (1984) 113–131, hier 118. 92
Dazu vor allem BRUNO SCHMIDLIN, Die beiden Vertragsmodelle des europäischen Zivilrechts, in: REINHARD ZIMMERMANN / ROLF KNÜTEL / JENS PETER MEINCKE (Hrsg), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik (Heidelberg 1999) 187–206.
93
Vgl ZEILLER, Commentar III/1, 6: „Das Vertragsrecht lässt sich aus dem Eigentumsrecht erklären.“ Noch deutlicher wird das bei ZEILLER, Privat-Recht³ § 94. 94
95
ZEILLER, Commentar III/1, 9.
96
ZEILLER, Commentar III/1, 9.
De l’esprit de modération – Zeiller, das ABGB und der Code civil
291
Selbst bei einem wesentlichen Irrtum ist eine Anfechtung nur zulässig, wenn der Vertragspartner vom anderen „durch falsche Angaben irre geführt worden“ ist. Demgegenüber ist der CC stärker an der Willenstheorie der Glosse und Pothiers orientiert und steht damit stärker im Zeichen des Satzes errantis voluntas nulla est.97 Was die Formfreiheit anbelangt, so ist anzumerken, dass das ABGB neben den Konsensualverträgen auch noch die Kategorie der Realkontrakte kennt. Demgemäß erfordern Verwahrungsvertrag (§ 957 ABGB), Leihevertrag (§ 971 ABGB), Darlehensvertrag (§ 983 ABGB) und der Trödelvertrag („Verkaufsauftrag“ gem § 1086 ABGB) zu ihrer Wirksamkeit der Übergabe der Sache; bloße Vereinbarungen sind bei diesen immerhin als Vorverträge verbindlich. Auf der anderen Seite erscheint das ABGB liberaler als der CC, was das Schrifterfordernis anbelangt.98 Der CC verlangt grundsätzlich für alle Verträge ab 150 Francs aufgrund der Beweisregeln (Art 1341 CC) die Schriftform, wohingegen das ABGB das Schrifterfordernis nur für bestimmte Verträge anordnet.99
IX. Eine Vision und ein Visionär Ziel dieses Beitrages konnte es nicht sein, einen umfassenden Vergleich des ABGB und des CC (in ihren ursprünglichen Fassungen) zu geben, wohl aber anhand exemplarischer Gegenüberstellung einige Aspekte hervorzuheben, um das noch immer allzu simplistisch gebrauchte Klischee vom „revolutionären“ CC einerseits und dem „konservativen“ ABGB andererseits zu relativieren. Gerade unter dem Gesichtspunkt der von Zeiller zielstrebig vorangetriebenen Hervorhebung und Absicherung „bürgerlicher Freiheit“ erweist sich das ABGB zumindest partiell als liberaler und egalitärer. Dies wird umgekehrt durch die neuere historisch-rechtsvergleichende Forschung zum CC unterstrichen, die zurecht hervorhebt, dass die französische ZivilrechtskodifikaZur Kodifikationsgeschichte der Art 1109 f Code civil siehe etwa MARTIN JOSEF SCHERMAIER, Die Bestimmung des wesentlichen Irrtums von den Glossatoren bis zum BGB (Wien 2000) 387 ff.
97
98
Dazu bereits HEISS, Einfluss des Code civil 520 f.
So für das Versprechen einer Schenkung (§ 943 ABGB), die Schenkung auf den Todesfall (§ 956 ABGB), die Universalgesellschaft (§ 1178 ABGB) und die Ehepakte (§ 1249 ABGB). Die Schriftform bei der Bürgschaft wurde erst durch die Dritte Teilnovelle 1916 eingeführt. 99
292
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tion von 1804 nicht durchgängig von liberalen und individualistischen Zügen bestimmt war, sondern durchaus auch von etatistischen und reaktionären.100 Der Vergleich der beiden vernunftrechtlichen Kodifikationen hilft auch, die besondere Balanceleistung Zeillers in seinem Beitrag zur Kodifikation des österreichischen bürgerlichen Rechts besser erfassen zu können. Im Kontext des Habsburgerreiches unter Franz II. (I.) trägt er besonders zu dem bei, was Franz Klein einst als Schlüssel zum Verständnis der Vitalität des ABGB hervorgehoben hat: der in vieler Hinsicht geglückte Kompromisscharakter, sein „unvergleichlicher bon sens“, das Bemühen „Recht und Pflicht gleichmäßig zu verteilen“ und die Suche nach Lösungen zum „Ausgleich der entgegengesetzten Interessen“.101 Wenn Klein in seinem Beitrag zur Hundertjahrfeier 1911 schreibt, das ABGB sei für eine Gesellschaft geschrieben, die als „Vereinigung freier gleichberechtigter Menschen“102 zu denken sei, dann ist ihm bewusst, dass dies zur Entstehungszeit noch ein Anachronismus war: „Das Niveau, auf das es die Person erhebt und die Selbständigkeit der Verfügung, mit der es sie ausstattet, sowie die Emanzipation der privatrechtlichen Beziehungen von Staat und Behörde standen zu dem Regierungssystem im Gegensatze, unter dem es wirken sollte.“103 Daher charakterisiert Klein das ABGB 1811 bezogen auf den Zeitpunkt seines Inkrafttretens als eine „Vision“.104 Als Visionär dieser „Vereinigung freier gleichberechtigter Menschen“ dürfen wir uns aber Franz von Zeiller vorstellen, der innerhalb der ihm offen stehenden Spielräume um eine nach wie vor beeindruckende Grundlegung „bürgerlicher Freiheit“ bemüht war.
Zu nennen sind hier vor allem die große Studie von ALFONS BÜRGE, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert² (Frankfurt aM 1991) sowie JAMES GORDLEY, Myths of the French Civil Code, American Journal of Comparative Law Vol 42 No 3 (1994) 459–505; vgl auch JEAN COUDERT, Das Fortleben französischer Gewohnheitsrechte aus dem Ancien régime nach 1804, in: REINER SCHULZE (Hrsg), Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts (= Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 12, Berlin 1994) 37–65. 100
FRANZ KLEIN, Die Lebenskraft des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs in: ABGB-FS I, 13. 101
102
KLEIN, Lebenskraft 14.
103
KLEIN, Lebenskraft 17.
104
KLEIN, Lebenskraft 31.
habent sua fata fontes iuris: Zur „Wiederentdeckung“ einer österreichischen Advokatenordnung aus 1648 * CHRISTIAN NESCHWARA, Wien
I. Rechtsquellen (wieder)entdecken und (auf)finden – Aufgaben der neueren Rechtsgeschichte Mit dem Begriff „Entdeckung“ verbindet man nach allgemeinem Sprachverständnis1 etwa das „Entdecken“ eines Kontinents oder einer Tierart, nämlich in dem Sinn, dass etwas bisher in seiner Existenz unbekannt Gebliebenes durch Erkundung aufgefunden wird. Außerhalb der Naturwissenschaften sind Entdeckungen weniger frequent. Der Jurist verbindet mit diesem Begriff allenfalls das Patentrecht, das freilich „Erfindungen“ zum Gegenstand hat, und nicht Entdeckungen: Denn als Erfindungen begreift die patenrechtliche Lehre Anleitungen zu technischem Handeln, woran es Entdeckungen aber wesensmäßig mangelt; sie finden auch nicht etwas bisher Nichtexistentes auf, sondern machen etwas bereits Vorhandenes durch Auffindung bekannt.2 Rechtsquellen lassen sich allenfalls entdecken, aber im Sinn des Patentrechts nicht erfinden. Freilich gibt es erfundene, nämlich nicht auf Wahrheit beru-
Dem Jubilar ist es als besonders verdienstvoll anzurechnen, dass er als langjähriger Obmann der Kommission für die Savigny-Stiftung bzw für Rechtsgeschichte Österreichs und als Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durch die Vorlage von „Fontes iuris“ zur Edition in der III. Abteilung der Reihe der Fontes Rerum Austriacarum der Österreichischen Akademie der Wissenschaften dazu beigetragen hat, die rechtshistorische Grundlagenforschung zu fördern. Es lag daher nahe, diese Mitteilungen über die Auffindung einer der heutigen Rechtsgeschichtsschreibung unbekannten Rechtsquelle für eine Werner Ogris gewidmete Festschrift zu reservieren.
*
Vergleiche beispielsweise Duden – Deutsches Universalwörterbuch6 (Mannheim 2007) 494 (Endeckung), 510 (Erfindung).
1
2
Dazu THOMAS HOEREN, Juristische Entdeckungen – eine Einführung, in: DERSEL(Hrsg), Zivilrechtliche Entdecker (München 2001) 1.
BE
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hende, ge- oder verfälschte Rechtsquellen – das Mittelalter ist reich davon:3 Für Österreich ist vor allem das sogenannte privilegium maius zu nennen.4 Die folgende Mitteilung hat jedenfalls nicht die Erfindung einer bisher nicht existenten oder die Vorstellung einer gefälschten Rechtsquelle zum Gegenstand, streng genommen aber auch nicht die Entdeckung einer bisher unbekannt gebliebenen Rechtsquelle, sondern die „Auffindung“ einer – seit längerem in Vergessenheit geratenen – Rechtsquelle. „Wiederentdeckungen“ solcher Art kommen heutzutage im Bereich der Rechtsgeschichte eher selten vor, und meist sind sie auch nicht so wirkungsvoll wie etwa „das Wiederentdecken der in Vergessenheit geratenen Digesten in Oberitalien“5 im 11. Jahrhundert. Immerhin konnten aufgrund des im Folgenden vorzustellenden „Fundes“ neue Erkenntnisse über die Geschichte des Berufsrechts der österreichischen Rechtsanwaltschaft gewonnen werden, so dass ein kleiner weißer Fleck auf der Karte der österreichischen Rechtsgeschichte nicht mehr mit dem Hinweis „hic sunt leones“ benannt werden muss. Mit diesen – durchaus ängstlich gemeinten – Worten wurden von den alten Römern Gebiete jenseits der Grenzen ihres Reiches bezeichnet: Und hier gab es auch Neues und Unbekanntes zu entdecken!6 Für den Rechtshistoriker liegen solche von den Löwen bewohnte Gebiete – wenn man sie nicht ängstlich meidet – vor allem in den Archiven und manchmal auch in Antiquariaten –, wo es noch etwas Neues (auf)zufinden oder etwas Verschollenes (wieder) zu entdecken gilt, so dass weitere weiße Flecken auf der Karte der Rechtsgeschichte mit Namen versehen, Defizite der Rechtsgeschichte abgebaut und Desiderate der Forschung erfüllt werden könnten. Ein im Mai 2009 von (den Herausgebern) der Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (ZNR) in Wien aus Anlass ihres 20jährigen Bestehens unter dem Motto „Fortschritte rechtshistorischer Forschung“ veranstaltetes Symposium, hat im Rahmen einer Leistungsschau im Rück-„Spiegel der ZNR“ aufDazu vor allem der fünfteilige Tagungsband: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica München, 16.–19. September 1986 (= Schriften der Monumenta Germaniae historica / 33, 1–5; Hannover 1988). 3
PETER MORAW, Das „privilegium maius“ und die Reichsverfassung, in: Fälschungen im Mittelalter 3, 201–224; GÜNTHER HÖDL, Die Bestätigung und Erweiterung der österreichischen Freiheitsbriefe durch Kaiser Friedrich III., ebenda 225–246. 4
HANS SCHLOSSER, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext10 (Heidelberg 2005) 36. 5
MICHAEL STOLLEIS, Aufgaben der neueren Rechtsgeschichte oder: Hic sunt leones, Rechtshistorisches Journal 4 (1985) 251 ff.
6
Zur „Wiederentdeckung“ einer österreichischen Advokatenordnung
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gezeigt, auf welchen Gebieten der Rechtsgeschichte sich keine Löwen mehr befinden. Es ist auch einiges über die Perspektiven und Zukunft der Neueren Rechtsgeschichte als Fach zu hören gewesen. Von jenen, die sich darum in Österreich annehmen könnten, war aber nur ein kleines Aufgebot von bereits arrivierten Rechtshistorikern vertreten7 – hoffentlich nicht das „letzte“, denn von einem geeigneten Nachwuchs für die österreichische Rechtsgeschichte ist nichts – jedenfalls in Wien – zu sehen. Für die Rechtsgeschichte interessierte jüngere Forscher wurden und werden aufgrund einer fehlgesteuerten Wissenschafts- und Forschungspolitik8 von den Universitäten geradezu vertrieben:9 Das Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte10 in Wien steht, nachdem es im Zuge von Einsparungs-„Paketen“ seit Jahren personell systematisch ausgeblutet und nach Serien von Umstrukturierungen des Studienrechts als Fach an den Rand seiner Existenzfähigkeit gedrängt worden ist, einer Lawine von Studienanfängern gegenüber, von welchen es geradezu überrollt zu werden droht. Inwiefern der status quo noch in Einklang steht mit der zwischen Rek-
Dazu: MARTIN OTTO, Hier waren die Löwen. Eine Wiener Jubiliäumstagung der Rechtshistoriker, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 137 vom 17. 6. 2009, N 4. Der in der Mitvergangenheit formulierte Titel will natürlich nicht sagen, dass es nach dieser Tagung für die Rechtshistoriker nichts mehr zu entdecken gibt. – Siehe auch den Tagungsband: Die neuere Rechtsgeschichte in der Historiographie nach 1945 (= ZNR 32,1/2010) sowie darin 4–7 den Beitrag von WILHELM BRAUNEDER, Die Gründungsphase der ZNR 1977/78. 7
Vergleiche KONRAD PAUL LIESSMANN, Theorie der Unbildung: die Irrtümer der Wissensgesellschaft (Wien 2004). 8
Selbst in wissenschaftlicher Ausbildung stehende Assistenten arbeiten an rechtshistorischen Instituten meist nicht mehr an rechtshistorischen Dissertationen – es ist dies eine bedauerliche Fehlentwicklung, die in jüngster Zeit leider auch am Wiener Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte Fuß gefasst hat.
9
Zur verheerenden Situation der Forschungsinteressen und -leistungen auf einem Teilgebiet der Rechtsgeschichte in Österreich jüngst: CHRISTIAN NESCHWARA, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte in der rechtshistorischen Forschung und Lehre: Verfassungsgeschichte in Österreich: Ihr aktueller Stellenwert in Lehre und Forschung an den Rechtsfakultäten, in: HANS NEUHAUS (Hrsg), Verfassungsgeschichte in Europa (= Der Staat. Beiheft 18) (Berlin 2010) 85–108; in aktualisierter und ergänzter Fassung (im Erscheinen) unter dem Titel: Aktueller Stellenwert und Zukunftsperspektiven an den österreichischen Rechtsfakultäten, in: THOMAS WINKELBAUER / MICHAEL HOCHEDLINGER (Hrsg), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. 10
296
CHRISTIAN NESCHWARA
tor und der Juristenfakultät als Zielsetzung11 formulierten Positionierung der Universität Wien im Kreis der besten Forschungsuniversitäten Europas sowie einer Verbesserung der Rahmenbedingungen des Studiums und des wissenschaftlichen Arbeitens kann bezweifelt werden,12 denn die faktisch ohne personelle Ressourcen ausgestatteten Dozenten können den in sie neben der Lehre gesetzten Leistungserwartungen im Bereich der Forschung zunehmend nur mit Opfern an Zeit zu Lasten von Familie und Privatsphäre nachkommen.13
II. Die „Wiederentdeckung“ der Advokatenordnung von 1648 Die folgende Mitteilung betrifft eine für das niederösterreichische Regiment 1648 publizierte Anwaltsordnung. Sie wurde in den 1704 für Nieder- und Oberösterreich als offiziöse Sammlung durch Druck veröffentlichten CA unter den in die Regierungszeit von Leopold I. (1658–1705) „in das Justiz- Politzey-Wesen … in publicis, politicis, civilibus & criminalibus“ fallenden Gesetzen nicht aufgenommen, sodass das Wissen um ihre Existenz verloren gegangen zu sein scheint. Der neueren privatrechtshistorischen Literatur ist sie jedenfalls nicht bekannt.14 Ihre „Entdeckung“ verdankt diese in Vergessenheit geratene Anwaltsordnung der Aufmerksamkeit eines ehemaligen Kollegen am Wiener Juridicum: Dr. Josef Pauser,15 derzeit Leiter der Bibliothek des Österreichischen Verfassungs-
Vgl dazu im Detail die Leistungsvereinbarung der Universität Wien 2009 [http:// public.univie.ac.at/index.php?id=19162] (22. 3. 2010).
11
12
Papier ist bekanntlich geduldig!
Angesichts der enormen Belastung im Bereich der Lehre sind die Forschungsleistungen der Dozenten des Instituts für Rechts- und Verfassungsgeschichte – im Vergleich mit anderen gleichartigen Instituten in Österreich – respektabel: Vgl die Tätigkeitsberichte des Instituts [http://www.univie.ac.at/rechtsgeschichte/] (22. 3. 2010). 13
FRIEDRICH KÜBL, Geschichte der österreichischen Advokatur (Wien 1927), 1967 neu aufgelegt und 1981 in 3. Auflage erweitert und ergänzt durch DORIS STRÖHER; MICHAEL LOSCHELDER, Die österreichische Allgemeine Gerichtsordnung von 1781. Grundlagen- und Kodifikationsgeschichte (Berlin 1977); GUNTER WESENER, Das innerösterreichische Landschrannenverfahren im 16. und 17. Jahrhundert (Graz 1963); DIETER GRIMM, Österreich, in: HELMUT COING (Hrsg), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte II/2 (München 1976), 419– 428, hier 422. 14
15
Zu den zahlreichen, in das Gebiet der Neueren Rechtsgeschichte einschlagenden
Zur „Wiederentdeckung“ einer österreichischen Advokatenordnung
297
gerichtshofes und davor von 1988 bis 2001 Assistent am Institut für Rechtsgeschichte. Während des Sommers 2006 stieß er auf der Internetseite des „ZVAB“ (= Zentrales Verzeichnis Antiquarischer Bücher), des weltweit größten online-Antiquariats für deutschsprachige Titel, auf eine Anzeige des Wiener Antiquariats „Inlibris“, in welcher die Handschrift einer „Advokatenordnung 1648“ zum Verkauf angeboten wurde. Es war freilich nicht der Titel, der seinen Forscherdrang weckte, sondern der Hinweis auf die Provenienz der Handschrift, welche auf die Bibliothek des juridisch-politischen Lesevereins zu Wien hinwies. Josef Pauser war am Institut für Rechtsgeschichte in den Jahren um 1990 hauptsächlich mit Zuarbeiten für ein Projekt seines damaligen „Chefs“, Wilhelm Brauneder, eingesetzt, nämlich für die Geschichte des Juridisch-Politischen Lesevereins zu Wien.16 Mehr als für alle anderen an diesem Projekt Beteiligten ist es für Josef Pauser, wie Wilhelm Brauneder zu Recht würdigte,17 „weitestgehend auch zu seiner eigenen Angelegenheit“ geworden. Aufgrund der nun umfassend dokumentierten Geschichte war klar, dass der Leseverein zwar im 19. Jahrhundert mit seiner reichhaltigen Bibliothek ein maßgeblicher Träger der Rechtskultur gewesen ist und durch aktive Mitwirkung seiner Mitglieder wesentlich zum Aufbau des modernen Verfassungsstaates in Österreich beigetragen hat, dass aber nach 1918, vor allem aber seit dem Zweiten Weltkrieg, keine Aktivitäten von besonderer Bedeutung mehr von ihm ausgegangen sind. Seit 1969, nachdem der Verein „seit längerer Zeit keine rege Tätigkeit entfaltet“ hatte, ist er seit dem Verkauf seiner Bibliothek an die Universität Edmonton in der kanadischen Provinz Alberta zu einem „unauffälligen Anwaltsverein … ohne Lesesubstrat“ mutiert.18 Wann und auf welche Weise die Handschrift mit der „Advokatenordnung 1648“ den Weg aus der Lesevereins-Bibliothek in das ZVAB gefunden haben könnte, war daher rätselhaft: Im Laufe der Recherchen für diese Mitteilung über die Advokatenordnung 1648 bin ich auf der Internetseite der steiermärkischen Rechtsanwaltskammer auf den Beitrag „Für Ehre und Ansehen. Geschichte der Steiermärkischen Rechtsanwaltskammer“ von Susanne Pöschl gePublikationen von JOSEF PAUSER [http://homepage.univie.ac.at/~pauserj8/php/] (22. 3. 2010). Siehe die Würdigung der Mitarbeiter an diesem Projekt in den Vorbemerkungen von WILHELM BRAUNEDER zu dem 1992 von ihm mit Unterstützung des JuridischPolitischen Lesevereins in Wien veröffentlichten Werk. 16
WILHELM BRAUNEDER, (Vorbemerkung zu) Leseverein und Rechtskultur. Der Juridisch-Politische Leseverein zu Wien 1840–1990 (Wien 1992) XII. 17
18
BRAUNEDER, Leseverein 440.
298
CHRISTIAN NESCHWARA
stoßen und darin (in Fußnote 12) auf einen Beitrag des Wiener Rechtsanwalts Josef Neugröschl über „Die ältesten Advokatenordnungen Österreichs“, der 1928 in der Österreichischen Anwalts-Zeitung publiziert worden ist.19 Die elektronische Suche nach dieser Zeitschrift im Katalog der Universitätsbibliothek Wien schlug zunächst fehl, weil als Titel „Anwaltszeitung“ (ohne Bindestrich!) im System aufgenommen worden ist: Deswegen wurde nur das seit 1928 erschienene Nachrichtenblatt zur „Anwalts-Zeitung“ (mit Bindestrich!) angezeigt. Die vorliegende Mitteilung schien schon nahezu druckreif zu sein, als mir dieser Artikel doch noch zur Verfügung stand – nachdem der Fehler im System „aufgedeckt“20 werden konnte. Der gesuchte Beitrag21 bestätigte das, was unten (III.) zur „Frage der ,Geltung‘ der niederösterreichischen Advokatenordnung von 1648“ bereits festgestellt und auch belegt werden konnte. Neugröschls Hinweis, „es ist dem Verfasser nicht gelungen, ein gedrucktes Exemplar dieser Advokatenordnung von 1648 aufzufinden, doch befindet sich eine Originalhandschrift derselben in der Bibliothek des Juridisch-politischen Lesevereines“, gibt vielleicht die Antwort auf die eingangs zu diesem Absatz gestellte Frage, „wann und auf welche Weise die Handschrift … den Weg aus der Lesevereins-Bibliothek in das ZVAB gefunden haben könnte“: Es ist zu vermuten, dass die Handschrift von Neugröschl entlehnt worden ist, denn er war damals schon langjähriges Lesevereinsmitglied22 und als solches entlehnberechtigt! 19
[http://www.rakstmk.at/public/gesch.php] (22. 3. 2010).
Herrn cand. iur. Nicolas Wimberger, Studienassistent am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, ist die Aufklärung dieses Irrtums zu verdanken.
20
JOSEF NEUGRÖSCHL, Die ältesten Advokatenordnungen Österreichs, Österreichische Anwalts-Zeitung 5 (1928), 248–250. 21
BRAUNEDER, Leseverein 588 (Verzeichnis der Vereinsangehörigen 1907). – Neugröschl war jüdischer Herkunft, er ist im Jänner 1935 verstorben (Verordnungsblatt des Justizministeriums 1935, 26), möglicherweise ist die Handschrift im Besitz seiner Tochter, der Kinderärztin Dr. Margarethe Neugröschl, verblieben, welche die Bibliothek des Vaters als Prälegat erhalten hat (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Staatliche Gerichte, Testamente, BG Innere Stadt, U.V. 51 G.Z. 5A49/35 [Dr. Josef Neugröschl Testament vom 11. 9. 1925] und U.V. 52 G.Z. 5A49/35 [Dr. Josef Neugröschl Kodizill vom 8. 5. 1921]), und danach in fremde Hände geraten. Margarethe Neugröschl wurde als Jüdin ein Opfer des Nationalsozialismus, sie ist 1939 nach Großbritannien geflohen: Vgl EDUARD SEIDLER, Jüdische Kinderärzte 1933–1945 (Basel 2007) 402, 471. Im Zuge der Provenienzforschung über die zwischen 1938 und 1946 von der Wiener Stadt- und Landesbibliothek erworbenen Bestände jüdischer Vorbesitzer wurden auch einige Bücher mit dem Besitzvermerk „Dr. Josef Neu22
Zur „Wiederentdeckung“ einer österreichischen Advokatenordnung
299
Der Libell mit der Advokatenordnung 1648 gehörte jedenfalls, laut Angabe im „Verzeichniss der in der Bibliothek … befindlichen Bücher“ vom 30. März 1844, bereits zum Grundbestand der Bücher des Lesevereins. Der alphabetisch geordnete Katalog verzeichnet sie auf dem ersten Blatt an dritter Stelle als „Advocaten-Ordnung. 1648. Manuscript“.23 Nach Angabe der auf der Innenseite des Deckblatts eingeklebten Vignette ist die Handschrift in der Lesevereinsbibliothek genau zu lokalisieren: Sie befand sich im Bücherkasten „III“24, wo sie in „Fach 5“ abgelegt war. Wann sie von diesem Standort entfernt worden ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Nach der ebenfalls 1844 erlassenen Bibliotheks-Ordnung sollte „jedes ausgehobene Werk nach 14 Tagen wieder an die Bibliothek“ zurückgestellt werden. Erfolgte dies nicht, so hatte der Bibliothekar diesen Umstand zunächst zu negieren. Verflossen aber „weitere 4 Wochen fruchtlos“, so sollte „das Werk „auf Kosten des säumigen Vereinsgliedes neu angeschafft“ werden.25 Dies wäre im Fall der Advokatenordnung 1648 faktisch aber nicht ausführbar gewesen, denn der Papierlibell, mit dem die Advokatenordnung publiziert worden ist, war ein Unikat. Sein Inhalt ist – außer mit der durch Unterzeichnung von Statthalter und Kanzler sowie zweier Regimentsräte „in namben der röm[isch]. Kay[serlichen]. M[ajestä]t., Kaiser Ferdinand III. als Landesfürsten, unsers allergnedigisten herrn“ am 19. September 1648 bei der niederösterreichischen Regierung erfolgten Publikation26 – zu dieser Zeit nicht gedruckt, und er ist später – wie erwähnt – auch nicht in durch Franz Anton Quarient privat angelegte Sammlung der für Österreich unter und ob der Enns bis 1703 ergangenen Gesetze, in den 1704 gedruckten „Codex Austriacus“, aufgenommen worden.
gröschl, Wien, Biberstr. 3“ (dort befand sich seine Anwaltskanzlei) konstatiert: [http://www.wienbibliothek.at/ueber-die-wienbibliothek/provenienzforschung/ vorbesitzervermerkindex.html] (22. 3. 2010). 23
BRAUNEDER, Leseverein 487–507, 487.
Zum Inhalt von „Kasten 3“: BRAUNEDER, Leseverein 597 (Verkaufsliste Antiquariat Geyer, Wien 1969“, der mit „ca. 450 Bände“ zur „Geschichte“ angegeben ist, unter den beispielhaft aufgezählten Titeln fehlt die ausgefallene Handschrift aus 1648). 24
25
BRAUNEDER, Leseverein 481–482, besonders 482.
Landesfürstlicher Statthalter am Regiment war Johann Franz Trautson, Graf von Falkenstein (1642–1663) und sein Kanzler Leonhard Richter von Richtersperg (1647– 1650), die beiden Regimentsräte waren Johann Baptist Sibenbürger (1645–1656) und Michael Braun (1646–1659): ALBERT STARZER, Beiträge zur Geschichte der niederösterreichischen Statthalterei (Wien 1897) 247 ff, 439, 440. 26
300
CHRISTIAN NESCHWARA
Die sich daraus möglicherweise ergebenden Probleme, die Geltung der Advokatenordnung von 1648 als landesfürstliche Norm zu belegen, sind später (unten III.) zu behandeln. Zunächst muss noch die Geschichte ihrer „Entdeckung“ zu Ende erzählt werden: Nach Angabe des Lesevereins-Buchs waren einige Prachtexemplare der alten Lesevereinsbibliothek, welche von dem Verkauf nach Kanada ausgenommen wurden, im Besitz der Wiener Rechtsanwaltskammer verblieben;27 darunter unter anderem eine Reihe von Manuskripten28 über einzelne Entwürfe zu den in Niederösterreich im 16. und 17. Jahrhundert unternommenen Versuchen, das Landesrecht in einer „Landesordnung“ umfassend gesetzlich zu fixieren, welche auch eine „Advokatenordnung“ einschließen sollte.29 Es war also zu vermuten, dass die im ZVAB angebotene Handschrift diese Advokatenordnung zum Inhalt haben könnte. Nach einem „Lokalaugenschein“ im Antiquariat „Inlibris“ im Spätsommer 2006 stand – schon auf ersten Blick – fest, dass dies zutraf, und der Libell mit der Advokatenordnung 1648 eine rechtshistorische Rarität darstellte, welche an ihren ursprünglichen Standort zurückgebracht werden sollte. Die Lesevereinsbibliothek30 befand sich von 1841 an stets im sog „Ertl’schen Stiftungshaus“ in der Rotenturmstraße 13 (Ertlgasse 2) der Wiener Innenstadt, wo seit 1853 auch die 1850 gegründete Wiener (Rechts-)Anwaltskammer ihren Sitz hat. Heute ist die Existenz der Lesevereinsbibliothek hier, an ihrem ursprünglichen Standort im 1. Stockwerk, nach dem Verkauf der Bücherbestände und einigen Umbauarbeiten kaum noch erkennbar; aber – wie der Historiograph des Lesevereins, Wilhelm Brauneder, launig formuliert: „Wem es erlaubt wird, ein Stockwerk höher im Präsidentenzimmer der Rechtsanwaltskammer seine bibliophile Neigung durch einen Blick in alte Buchausgaben zu stillen, stößt in dem einen oder anderen Folianten auf einen 1969 sind etwa 13.000 Bände nach Edmonton verkauft worden, von den restlichen etwa 8.800 der 1950 noch 22.300 Bänden umfassenden Bibliothek, war der Großteil mit belletristischen Werken aus der Sicht von 1969 bereits „vor Jahren abgegeben“ worden: BRAUNEDER, Leseverein 447, 453. 27
28
BRAUNEDER, Leseverein 448.
Dazu CHRISTIAN NESCHWARA, Johann Baptist Suttinger (1608–1662). Porträt eines bedeutenden Juristen Österreichs im Rechtsleben seiner Zeit, in: GERALD KOHL / CHRISTIAN NESCHWARA / THOMAS SIMON (Hrsg), Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive. FS zum 65. Geburtstag von Wilhelm Brauneder (Wien 2008) 363–384, hier 374. 29
PETER WRABETZ, Österreichs Rechtsanwälte in Vergangenheit und Gegenwart (Wien 2002, Neuauflage 2008) 281; BRAUNEDER, Leseverein 73 ff, 284 f. 30
Zur „Wiederentdeckung“ einer österreichischen Advokatenordnung
301
Lesevereins-Stempel“.31 Hier, in den Räumen der Wiener Rechtsanwaltskammer, befindet sich nun auch – „wieder“ – die Handschrift von 1648. Sie wurde zu Jahresende 2006, nachdem der Leseverein und die Wiener Rechtsanwaltskammer auf die „Rückkehr“ der „verschollen“, oder besser gesagt: „vermisst“ gewesenen Advokatenordnung aufmerksam gemacht worden waren, auf Initiative von Rechtsanwalt Professor Dr. Peter Wrabetz, federführender Funktionär des Lesevereins und Historiograph des österreichischen Rechtsanwaltstandes,32 angekauft.33
III. Die Frage der „Geltung“ der Advokatenordnung von 1648 A. Stand der gegenwärtigen Forschung Seit der von Friedrich Kübl 1925 veröffentlichten „Geschichte der österreichischen Advokatur“ 34 gilt die am 27. März 1638 für die beim Landmarschal-
31
BRAUNEDER, Leseverein 449.
Außer mit der in Anmerkung 29 angeführten Geschichte der Rechtsanwälte, ist Wrabetz – neben seinem Beruf als Rechtsanwalt und Funktionär des Anwaltsstandes (1986 bis 1990 Vizepräsident der Wiener Rechtsanwaltskammer, 1991 bis 1998 Generalsekretär des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages), als Fachautor hervorgetreten, und zwar auch Verfasser von historischen Beiträgen, welche vor allem im Österreichischen Anwaltsblatt erschienen sind. Hervorzuheben ist auch seine Mitwirkung an der 1985/86 vom Historischen Museum der Stadt Wien veranstalteten Ausstellung „200 Jahre Rechtsleben in Wien“, zu deren Gelingen er durch fachmännische Kenntnis und die Beibringung von bemerkenswerten Exponaten wesentlich beigetragen hat; vor allem hat er den Katalog durch eine Reihe von Beiträgen bereichert, beeindruckende Belege seines umfassenden rechts- und kulturgeschichtlichen Wissens: Die Advokatur im Rechtsleben Wiens, Juristen in der Politik, Juristen in der Kunst, Juristen im gesellschaftlichen Leben Wiens, in Historisches Museum der Stadt Wien, 200 Jahre Rechtsleben in Wien. Advokaten, Richter, Rechtsgelehrte, 96. Sonderausstellung 21. November 1985 bis 9. Februar 1986 (Wien 1985) 197–202, 258– 260, 267–269 und 280 f. 32
Einem kleinen Kreis von Wiener Anwälten wurde die Existenz dieser rechtshistorischen Rarität schon im Wege der Einladung zu einer Kammervollversammlung durch ein faksimile des Deckblattes bekannt gemacht: Persönliche Mitteilung von Herrn Dr. Wrabetz.
33
KÜBL, Geschichte 2 Anm 2; GRIMM, Österreich 422; LOSCHELDER, Gerichtsordnung 208; WESENER, Landschrannenverfahren 37. – Die von Neugröschl 1928 prä-
34
302
CHRISTIAN NESCHWARA
lischen Gericht zugelassenen Advokaten „ausgegangene … Ordnung“35 als die erste unter dieser Bezeichnung erlassene Berufsordnung für Rechtsanwälte in Österreich.36 Nach Angabe im CA wurde sie am 21. März 1662 „repetirt“, also wiederverlautbart, oder besser gesagt: eingeschärft, und zwar mit inhaltlichen Modifikationen: Darauf lassen nicht nur die Worte „wie folgt“ nach „repetirt“ schließen, sondern auch der Verweis auf ein „sub Dato 28. Febr. des 1660sten Jahrs ausgegangene[s] Edict“ im 18. Absatz.37 Der Inhalt der 1638 publizierten Fassung dieser Advokatenordnung ist daher in der 1704 im CA erfolgten Veröffentlichung nicht enthalten. B. Zeitgenössische Zeugnisse Die inhaltliche Einschärfung der 1638 für die Ausübung der Advokatur am Landmarschallischen Gericht erlassenen Bestimmungen durch ihre „Repetition“ im Jahr 166238 war nach den der Ordnung vorausgeschickten Motiven dadurch veranlasst, dass die beim landständischen Gericht als Anwälte39 „practicirenden Advocaten, Procuratorn, und Sollicitatorn … entweders die vorausgegangene[n] GerichtsOrdnungen“, worin sich – in Verbindung mit Vorschriften über die Gerichtorganisation und das Zivilverfahrensrecht40 – auch sentierten Forschungsergebnisse wurden ignoriert: Siehe oben vor Anmerkung 20. Codicis Austriaci Ordine Aphabetico Compilati, das ist: eigentlicher Begriff und Innhalt aller … zu Österreich, ... einlaufenden Generalien [= Codex Austriacus I] (Wien 1704) 19–22. 35
36
WRABETZ, Rechtsanwälte 23.
Der CA I 17 ff führt unter dem Stichwort „Advocaten. Edicta, Resolutiones, und Ordnungen …“ eine Reihe von Erlässen an – mit Datum 26. 4. 1640, 19. 5. 1640, 31. 7. 1655 und 22. 3. 1657, nicht aber unter dem vom 28. 2. 1660! Zur Advokatenordnung 1638/62 findet sich eine noch längere Reihe von Erlässen, sie sind allerdings alle zwischen 1666 und 1701 datiert. 37
Der von NEUGRÖSCHL, Advokatenordnungen 248, gezogene Schluss, deswegen von einer Nichtgeltung der Advokatenordnung 1638 auszugehen, ist daher falsch. 38
Zur Differenzierung der Anwaltsfunktionen allgemein: CHRISTIAN NESCHWARA, Anwalt, in: FRIEDRICH JÄGER (Hrsg), Enzyklopädie der Neuzeit I (Stuttgart-Weimar 2005), 483–485, hier 483. 39
Vgl zur Situation in anderen Ländern: GUNTER WESENER, Das innerösterreichische Landschrannenverfahren im 16. und 17. Jahrhundert (Graz 1963) 63–46; JOACHIM LOHNER, Das landeshauptmannschaftliche Gericht in Oberösterreich zu Beginn der Neuzeit. Eine Darstellung des oberösterreichischen Prozeßrechts am obersten Territorialgericht des Landes anhand der oberösterreichischen Landtafel (Frankfurt am Main), 67–87.
40
Zur „Wiederentdeckung“ einer österreichischen Advokatenordnung
303
Bestimmungen über die Zulassung und Praxis von Anwälten fanden, oder die bestehenden speziellen „AdvocatenOrdnungen“, bzw. andere für Anwälte ergangene „Edicte“41, „aus der Obacht gelassen“ hatten.42 Der Hinweis in dem Erlass aus dem Jahr 1662 auf frühere, bereits „vorausgegangene … AdvocatenOrdnungen“, also nicht bloß auf jene von 1638, ist also kein Symptom sprachlicher Unschärfe einer barocken Gesetzsammlung, sondern durchaus zutreffend, denn im September 1648 war tatsächlich neben die 1638 für das unter der Leitung des Landmarschalls stehende ständische Gericht erlassene Advokatenordnung eben eine solche für die bei der landesfürstlichen Regierung zugelassenen Anwälte getreten, welche bald auch „bey dem Löbl[ichen]: Landmarschal[lischen]: Gericht observirt“ wurde. Diese Behauptung findet sich in einer Darstellung des damals bei diesem Gericht gehandhabten Verfahrens aus der Feder von Johann Baptist Suttinger (1608–1662)43, welcher seit 1640 als Landschreiber zunächst an diesem Gericht als Kanzleileiter in ständischem Dienst stand, 1648 aber als Rat am Regiment in landesfürstliche Dienste getreten, und seit Ende 1649 als Kanzler sodann mit der Leitung dieser Behörde betraut war.44 Er galt zu seiner Zeit als ein Siehe dazu – außer den im CA I 17–34 veröffentlichten Vorschriften – den schmalen „Advoctaten“ betreffenden Faszikel im Österreichischen Staatsarchiv, Abteilung Verwaltungsarchiv, Oberste Justiz, Alte Miscellanea, Karton 122.
41
Hingewiesen wird auf die bei den zugelassenen Advokaten rechtswidrige Praxis, für „WinckelSchreiber und heimliche Practicanten“ Schriftsätze zu unterschreiben. 42
Observationes Practicae: Oder Gewisse Gerichtsbräuch/ wie dieselbe/ sonderlich bey dem Loebl: Landtmarschallischen Gericht/ in Oesterreich vnter der Ennß/ in acht genommen/ vnd gehalten werden. …, zunächst 1650 in Wien und 1656 in Nürnberg erschienen sowie dort 1669, 1678, 1703 und 1713 als Verneuerte Observationes practicae nachgedruckt: NESCHWARA, Suttinger 372. 43
NESCHWARA, Suttinger 371. – Der Landmarschall als Vorsitzender dieses Gerichts war oberster Repräsentant der Stände dem Landesfürsten gegenüber, er wurde von diesem über Vorschlag des Herrenstandes ernannt; die Kanzlei des Landmarschallischen Gerichts stand unter der Leitung des Landschreibers; das landmarschallische Gericht (auch Landrecht) war in Zivilsachen zuständig, an denen die adeligen Landstände beteiligt waren sowie in Strafsachen des Herren- und Ritterstandes, außerdem als Appellationsinstanz bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Grundherrn und Untertanen: HERBERT KNITTLER (Hrsg), Adel im Wandel. Politik . Kultur . Konfession 1500–1700 (Wien 1990) 292 f, 297. – Der Statthalter war Repräsentant des Landesfürsten, die landesfürstliche Regierung (auch Regiment, Hofrat) war die oberste Verwaltungs- und Gerichtsbehörde für die beiden Länder (unter und ob der Enns) des Herzogtums Österreich, der Kanzler war Leiter dieser Behörde: STARZER, Statthalte44
304
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weithin anerkannter juristischer Schriftsteller,45 und wurde über die Grenzen von Nieder- und Oberösterreich hinaus geschätzt: Sein jüngerer steirischer Zeitgenosse Nikolaus Beckmann (1634–1689) zählte ihn sogar zu den „magna … lumina“ 46 der österreichischen Rechtswissenschaft des 17. Jahrhunderts. Die von Suttinger aus der Praxis der niederösterreichischen Gerichte erarbeiteten Darstellungen47 des Landesrechts sind nach dem Zeugnis Franz Zeillers noch von zahlreichen Juristengenerationen bis zur gesamtstaatlichen Kodifikation des Zivilverfahresrechts mit der Allgemeinen Gerichtsordnung von 1781 als „fruchtbarste Anleitung“48 geschätzt worden. Suttingers Beobachtungen über das Gerichtsverfahren am Landmarschallischen Gericht, seine „Observationes Practicae“ aus 1650, enthalten in Observatio XX auch eine detaillierte Darstellung der Bestimmungen „Von den Advokaten“,49 über welche eingangs festgestellt wird, dass die Vorschriften, „welche jedwederer … angenommene Advocat zuversprechen/ vnd zuhalten schuldig [sei]/ … in der Hochlöbl[ichen]: N[ieder-]. O[esterreichischen]. Regierung den 19. Septemb[er]. [1]648. publicirten Advocaten Ordnung … außgeführt“ seien; Suttinger kündigte daher an, er werde sich in seinen folgenden Ausführungen nur auf diese Ordnung beziehen, weil diese Vorschrift nun „auch bey
rei 5 ff (Zuständigkeit), 48 ff (Organe, Beamte). Seine Bedeutung als juristischer Autor widerspiegelt sich auch im Buchbesitz von zeitgenössischen österreichischen Juristen des 17. und 18. Jahrhunderts, wo seine Werke in zwei von drei Bibliotheken zu finden sind: NESCHWARA, Suttinger 371. 45
Authores, in: Idea juris statutarii et consvetudinarii Stiriaci et Austriaci (Graz 1688) unpaginiert. 46
Consuetudines Austriae, ad stylum Judicij Provincialis Austriae infra Anasum accomodatae, zunächst nur handschriftlich verbreitet, erst 1713 in Wien gedruckt und hier 1718 neu aufgelegt. 47
FRANZ ZEILLER, Grundzüge zu einer Geschichte der Osterreichischen bürgerlichen Gerichtsordnung, in: DERSELBE, Jährlicher Beytrag zur Gesetzkunde und Rechtswissenschaft in den Oesterreichischen Erbstaaten IV (1809) 3 f. 48
SUTTINGER, Observationes 31–36; ergänzt durch Observatio XXI „Von den Gewälten der Advocaten“ mit Bestimmungen über die Bevollmächtigung der Anwälte. In Observatio II „Wie es in ordinarijs causis gehalten zu werden pflegt …“ (3 f) verweist SUTTINGER in Bezug auf die Rolle der Advokaten im ordentlichen (Streit)Verfahren bloß auf die entsprechenden Bestimmungen der „Gerichts Proceß Ordnung des Landrechtens“ aus 1557 (nachgedruckt: 1559, 1584 und 1601). – Dazu auch NEUGRÖSCHL, Advokatenordnungen 248 f. 49
Zur „Wiederentdeckung“ einer österreichischen Advokatenordnung
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dem Löbl[lichen]: Landmarschal[lischen]: Gericht observirt“ werde.50 Von der für dieses Gericht ein Jahrzehnt zuvor, 1638, erlassenen Advokatenordnung ist in diesem Zusammenhang aber keine Rede mehr. Auch in der die Ausführungen zu dieser Observatio abschließenden Aufzählung jener „Edicta, durch welche alles so hie ob stehet bestättiget wirdt“, ist sie nicht angeführt; sie war im Rechtsleben durch desuetudo außer Anwendung gekommen. An ihre Stelle ist eben die Advokatenordnung 1648 getreten. Diese Advokatenordnung ist aus einem Projekt zur gesetzlichen Fixierung des Landesrechts in einer umfassenden Landesordnung51 hervorgegangen, das von den Landständen bereits im 16. Jahrhundert initiiert worden war und 159552 auch schon zu einem Entwurf geführt hatte. Er umfasste in fünf Büchern das Gerichtsverfahren sowie das Privatrecht einschließlich des Lehensrechts und schloss mit einer Landgerichtsordnung als sechstes Buch auch das Strafrecht ein.53 Da dem Entwurf die landesfürstliche Sanktion aber versagt wurde, blieb das Projekt in den anschließenden – von Religionskonflikten und den Wirren des Dreißigjährigen Krieges geprägten – Jahrzehnten liegen. Erst zu Beginn der 1640er Jahre setzten – auf Initiative des Landesfürsten – erneut Bemühungen um die Schaffung einer Landesordnung ein. Sie konzent-
50
SUTTINGER, Oberservationes 36.
Zum Folgenden allgemein: THEODOR MOTLOCH, Landesordnungen (geschichtlich) und Landhandfesten (I. Österreichische Ländergruppe), in: ERNST MISCHLER / JOSEF ULBRICH (Hrsg), Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes III (Wien 1907), 338 ff; FRIEDRICH WISNICKI, Die Geschichte der Abfassung des Tractatus de juribus incorporalibus, Jahrbuch für Landeskunde und Heimatschutz von Niederösterreich und Wien 20 (1927) 79 ff; JOSEF PAUSER, Landesfürstliche Gesetzgebung (Policey-, Malefiz- und Landesordnungen), in: DERSELBE / MARTIN SCHEUTZ / THOMAS WINKELBAUER (Hrsg), Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert) (Wien/München 2004) 216– 256, hier 228 f, 234 f. 51
Eine wichtige Vorstufe war der sogenannte Entwurf des Juristen und ständischen Delegierten Dr. Wolfgang Püdler über das Zivilrecht im weiten Sinn (Gerichtsorganisation, Zivilverfahrensrecht, Zivilrecht): Dazu JOSEF PAUSER, Wolfgang Püdler (1525–1595), in: Neue Deutsche Biographie XX (Berlin 2001) 762 f. 52
Sammlung lithographierter Mitteilungen und Abschriften österreichischer Rechtsquellen der Neuzeit. Herausgegeben unter der Leitung von CARL CHORINSKY [im Folgenden abgekürzt: CHORINSKY]; hier wurde die Ausgabe der Fakultätsbibliothek am Wiener Juridicum), Band 6 und 7 (Landrecht des Erzherzogthums Österreich unter der Enns) verwendet. 53
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rierten sich mit Entwürfen zu einer Exekutionsordnung sowie einer Revisionsordnung zunächst auf das Zivilprozessrecht; es wurde aber auch die Vorbereitung einer neuen Gerichtsordnung im erstinstanzlichen Verfahren forciert.54 Als erstes Ergebnis auf diesem Gebiet lag 1648 eine Advokatenordnung vor. Auf ihre Publikation in der Landesregierung hat Suttinger – außer in seinen Observationes Practicae – später noch in einem anderen Werk hingewiesen, das aus seinen Aktivitäten im Rahmen der Gesetzgebung (dazu sogleich im anschließenden Abschnitt C.) hervorgegangen ist, nämlich in einem sogenannten „Codex Ferdinandeus“, einer alphabetisch geordneten Kompilation von Gesetzen, welche Suttinger im Zuge der von ihm seit 1650 geleiteten Arbeiten einer vierköpfigen Juristenkommission, der auch sogenannten „Kommission der vier Doktoren“, als Grundlage für die Ausarbeitung eines neuen Entwurfs zu einer Landesordnung aus den ständischen und landesfürstlichen Archiven und Registraturen „zusammengetragen“ hat.55 Wie aus seiner Dedikation der Handschrift an den Landesfürsten, Kaiser Ferdinand III., „als dem wahren Justiniano“ hervorgeht, hat Suttinger diesen Codex 1656 abgeschlossen.56 Im Vorwort beteuert er, dass er für diese Sammlung „alle und iede“ – „von dreyhundert jahren her“ in Geltung stehende – Vorschrift gesichtet habe. Unter dem Stichwort „Advocatenordnung“ finden sich zwar keine Abschriften der für die Rechtsanwälte relevanten Bestimmungen, aber zwei knappe Verweise auf solche Vorschriften; nämlich auf Kaiser „Ferdinands I Aduocaten, Procuratorum, vnd Supplication Schreiber alte Ordnung. [Vom] 4. Maij 1534.“, sowie auf Kaiser „Ferdinands [III.] Ernewerte Aduocaten ordnung. [Vom] 19. Sept[ember] 1648“. Diese neue Ordnung für Rechtsanwälte war also nicht an die Stelle der 1638 für die beim Landmarschallischen Gericht zugelassenen Advokaten getreten, sondern neben diese, und zwar für die bei der Regierung zugelassenen Rechtsanwälte.
CHORINSKY XII (Materialien zur Gesetzgebung des XVI. und XVII. Jahrhunderts)/2, 111 f/2, 145 ff/7 und 148 ff/8.
54
Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), Handschriftensammlung, Codex 7547, IIr (Dedikation Suttingers). 55
ÖNB, Handschriftensammlung, Codex 7547, Titelblatt (fol. Ir): „Codex Ferdinandeus oder kurtzer begriff aller landsfürstlichen generalmandaten sovil deren biß auff dise Zeit bey alen registraturen zufinden seind. Alles vleisßes zusamen gebracht durch Joannem Baptistam Suttinger … n[ieder].ö[sterreichischem]. regierungs cantzlern. 1656“; fol 1–418 Eintragungen in alphabetischer Ordnung; alphabetisch geordnetes Register fol. 421–443.
56
Zur „Wiederentdeckung“ einer österreichischen Advokatenordnung
307
Ein weiterer Hinweis auf die Geltung der Advokatenordnung von 1648 findet sich auch in der zweiten 1656 veröffentlichten Auflage seiner am Landmarschallischen Gericht gemachten „Observationes Practicae“; Suttinger weist hier außerdem darauf hin, dass diese Bestimmungen nun in der eben „zu end des verschienen [1]654. Jahrs/ wiederum revidirt und corrigirt[en]: doch noch nicht publicirten Advocaten-Ordnung … ausgeführt“ seien.57 Diese Neufassung der Advokatenordnung 1648 war aus der „Zusammenrichtung der neuen Lands-Ordnung“ hervorgegangen, womit Suttinger seit 1650 als Leiter der erwähnten „Kommission der vier Doktoren“ befasst gewesen ist.58 Auch in der nach seinem Tod ergänzten Fassung des Codex Ferdinandeus, welchem die bis um 1660 kundgemachten Normen eingefügt worden sind, finden sich die selben Angaben über die Advokatenordnung von 1648 wie in der Erstfassung aus dem Jahr 1656.59 Schließlich wurde die Advokatenordnung von 1648 auch in einem Auszug von Gesetzen, welche von 1637 bis 1690 vom Landesfürsten für Niederösterreich erlassen worden sind, aufgezählt und als „Ordnung der Advocaten; datirt Wienn den 19. Sept. 1648“ vermerkt. 60
C. Die Position der Advokatenordnung in der zeitgenössischen Rechtsordnung61 Nur zwei Wochen vor der Publikation der Advokatenordnung wurde Anfang September 1648, in ähnlicher Weise wie bereits ein paar Jahre davor,
JOHANN BAPTIST SUTTINGER, Vernewerte Observationes practicae, oder gewisse Gerichtsgebräuch, wie dieselben, sonderlich bey dem landmarschallischen Gericht in Oesterreich unter den Ennß in Acht genommen werden … Nach denen neuen Execution- und Revisions-Ordnung corigirt und verändert, auch vermehret, [Wien] 1656 [1669 und 1713 nachgedruckt in Nürnberg] 36–42 (Observatio XX), hier 37. 57
CHRISTIAN NESCHWARA, Landständischer Einfluss auf die Gesetzgebung in der Frühneuzeit – am Beispiel des Landesordnungsprojekts für Österreich unter der Enns von 1650, in: HORST GEHRINGER / HANS-JOACHIM HECKER / REINHARD HEYDENREUTER (Hrsg), Landesordnungen und Gute Policey in Bayern und Österreich (Frankfurt am Main 2008) 169–210, hier 182 ff. 58
Die Überarbeitung besorgte SUTTINGERS Schwiegersohn OTT FERDINAND VOLeine Prachtausgabe mit 1286 Folioseiten hat dieser dem Kaiser 1682 dediziert: ÖNB, Handschriftensammlung, Codex 7870, 3r: „Ferdinand III. Ernewerte Aduocatenordnung. 19. Sep. 1648“. 59
KRA;
Summarischer Extract, dern vornehmern Generalien, Patenten, Mandaten, Edicten und Ordnungen ([Wien] 1691) 12. 60
61
Zur neuzeitlichen Advokatur: NESCHWARA, Anwalt 483 ff.
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nämlich 1645 in Bezug auf „untuchtige Notarios“62, der Juristischen Fakultät der Wiener Universität von der niederösterreichischen Regierung als landesfürstliches Aufsichtsorgan die Prüfung der persönlichen Eignung und der fachlichen Qualifikation jener Advokaten delegiert, welche – nach Beeidgung63 – zur Praxis, zum „stallum advocandi“, beim landesfürstlichen Regiment zugelassen werden wollten.64 Die zur Rechtfertigung dieser Maßnahme angeführten Motive nehmen die kurz darauf bei der Publikation der Advokatenordnung verwendeten Argumente vorweg: Man habe „bißhero bey den Advocaten unterschidliche Unordnungen verspühret“, viele von ihnen seien „untauglich, … Schrifften auffzusetzen“ und „auch … im Reden unverständig“. Nachdem die Regierung bereits „ein Ordnung von neuen fürgenommen“ habe, nämlich mit dem Erlass einer „vernewerten“ Ordnung für die beim Regiment zugelassenen Anwälte, erwartete sie, dass „hinfüro keine untaugliche Subjecta in moribus & Doctrin“ mehr für eine Zulassung vorgeschlagen werden. Es erging daher der landesfürstliche „Befehl“, dass die Fakultät bei der Prüfung der Advokaten und bei der Ausfertigung ihrer Stellungnahme an die Regierung folgende zehn „Puncta observire“: Erstens seien die Bewerber um die Zulassung nicht bloß von einem Fakultätsmitglied „allein, sondern allzeit im Beysein zweyer oder dreyen von der Facultät … hierzu deputirten Doctoren [zu] examiniren“; sodann sei niemand mehr „ohne GeburthsBrieff“65 zuzulassen; drittens dürfe die Fakultät auch keinen „Infamen oder Praevaricatorem“ und viertens auch keinen Ungebildeten „aut lingua latina minus exercitatum“ als Bewerber aufnehmen sowie fünftens auch niemanden, der „in iure keinen gradum erlangt“ habe. Sechstens sei zu beachten, dass jeder Bewerber – mit Wissen des Dekans – ein Jahr Praxis „bey einem berühmten Advocaten“ genommen habe, um sich den „üblichen GerichtsBrauch und LandsBrauch“ anzueignen und im „sollicitiren und schrifften stellen“ zu üben. Siebentens hatte jeder, der als Advokat zugelassen werden wollte, nachweisen, dass er bereits ein Jahr „bey denen nidern Gerichtern würcklich advocirt“ und sich dadurch „ad mores, aut patrocinium einen guten Namen … erworben“ habe. Achtens
CHRISTIAN NESCHWARA, Geschichte des österreichischen Notariats I (Vom Spätmittelalter bis zum Erlass der Notariatsordnung 1850) (Wien 1996) 377–384, 378.
62
63
Unten V. Anhang B.
64
CA I 608 f.
Eine beglaubigte Ehelichkeitsbescheinigung oder eine Art „Personalausweis“: Deutsches Rechtswörterbuch (DRW) III (1938) 1326–1329, 1326.
65
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sollte künftig bei der Regierung niemand als Advokat zugelassen werden, der nicht „in Facultate“, also in das Kolleguim der absolvierten Doktoren der Fakultät, aufgenommen worden sei. Neuntens sei daher künftig „jeder Advocat dem herrn Rectori in allen Real- Personal- und Criminal-Sprüchen untergeben“, also „nicht exempt“ und auch nicht „mit HoffFreyheiten begabt“.66 Schließlich habe die Regierung zehntens beschlossen, künftig nicht mehr als zwölf Advokaten im ordentlichen Verfahren67 sowie 36 „in extra ordinariis causis“ aufzunehmen.68 Am ständischen Landrecht, dem Landmarschallischen Gericht, bestand für die Parteienvertretung im ordentlichen Verfahren69 ebenfalls ein numerus clausus, und zwar von bloß sechs Advokaten: Ihre Zulassung erfolgte auf Antrag nach „Bericht und Gutachten“ des Landschreibers über die „pro examine in praxi“ vor ihm abgelegte Prüfung, wofür der Bewerber ein „Zeugnuß seines erlangten Doctorats“ vorzulegen hatte sowie eine Bescheinigung darüber, „daß er bey den unteren Gerichtern vorhero genugsamb exerciret“ habe, und zwar über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg. Erfolgte aufgrund eines negativen Gutachtens des Landschreibers keine Zulassung, so wurde dem Bewerber beschieden, „sich noch ein Zeit zugedulden“ bzw. zur Fortsetzung der Praxis bei den unteren Instanzen verwiesen. War das Ersuchen um Zulassung als Advokat aber positiv erledigt worden, so erfolgte – je nach Bescheid des Landmarschalls – die Zulassung zur Advokatur entweder nur im Verfahren „in extraordinariijs causis“ oder auch in „ordinariijs“ unter Anweisung eines Platzes an der Gerichts-„Schrancken“ durch den „Fürbietter“ als Gerichtsbote;70 die Inhaber der dafür vorgesehen sechs Stellen wurden außerdem
Die Hofbefreiung war eigentlich die Befreiung von Handwerkern, die den Hof belieferten, von der Einordnung unter eine Zunft, sie führte zu einer unmittelbaren Unterstellung unter die Jurisdiktion des Hofes: DRW V (1953/60) 1187. 66
GUNTER WESENER, Das Verfahren vor der niederösterreichischen und der innerösterreichischen Regierung als erster Instanz „in Hofrechten“ und „verhörsweiß“ (Ordinari- und Extraordinari-Prozeß), in: Die Steiermark im 16. Jahrhundert (Graz 1979) 181–242, hier 187 f, 193, 226 (Verfahren vor der Regierung, in Hofrechten, Ordinari-Prozess).
67
SUTTINGER, Observationes 5 (Randnummer 9 ad oberservatio II), 37 (Randnummer 3 ad observatio XX); SUTTINGER, Vernewerte Observationes 7 bzw 50.
68
69
WESENER, Landschrannenverfahren 121 f.
CHRISTIAN NESCHWARA, Gerichtsbote, in: FRIEDRICH JÄGER (Hrsg) Enzyklopädie der Neuzeit IV (2006), 533–535. 70
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in ein Advokatenbuch beim Landmarschallischen Gericht eingetragen. 71 Auch an der Wiener Universität wurde ein eigenes „Aduocaten Buech“ 72 geführt, und zwar schon73 seit August 1618. Darin74 waren durch den Dekan der Juristenfakultät alle beim Konsistorium zur Parteienvertretung zugelassenen „Aduocaten vnd Procuratorn“ zu verzeichnen.75 Ob in diesem Buch auch die im Auftrag der Regierung geprüften Anwälte evident gehalten wurden, geht aus den im Archiv der Universität Wien noch vorhandenen Akten des Konsistoriums nicht hervor. Inwieweit auch die am Wiener Stadtmagistrat bzw. am Stadt- und Landgericht zugelassenen Anwälte in Listen eingetragen worden sind, ist ebenfalls nicht festzustellen; die 1688 und 1700 erlassenen Advokatenordnungen76 schweigen dazu. Im Rahmen des Landesordnungs-Projekts77 sollten jedenfalls die BestimmunSUTTINGER, Observationes 31 f (Randnummer 4 ad observatio XX) bzw Vernewerte Observationes 44 f. – Dazu auch NEUGRÖSCHL, Advokatenordnungen 248 f. 71
Archiv der Universität Wien, Konsistorialakten, Faszikel V, Litera A / 1618 VIII 1. – Schon 1594 wurden „die doctores so zu Wienn aduocieren“ von der niederösterreichischen Regierung aufgefordert, „sich ermelter Vniuersitet zu incorporieren vnnd fähig zumachen“, und zwar „weyl es von Alters her also geweßen vnd billich ist“; die Meldung der Ausübung der Anwaltspraxis in Wien an die Universität scheint also schon länger in Übung gewesen zu sein: Faszikel IV, Litera A Nr 3 / 1594 III 1.
72
NEUGRÖSCHL, Avokatenordnungen 248, hielt das am Landmarschallischen Gericht geführte Advokatenbuch als das älteste. 73
Diese Anwälte wurden – nahezu zeitgleich mit dem Erlass der Advokatenordnung für die Regierung davon in Kenntnis gesetzt, dass das Konsistorium künftig „kheine schrifften“ mehr annehmen werde, welche nicht „von einem beij vns ordtentlich angenombenen Aduocaten oder Procuratorn … vndterschriben“ seien, und solche Anwälte auch bei „mündtlichen Verhören“ nicht mehr zugleassen würden – außer sie seien beim Konsistorium – wie auch bei „anderen Gerüchten gebreüchig [ist], ordentlich angenomben, [in ein Buch] eingeschriben“ und hätten auch „dz gewöhndtliche Aduocaten iuramentum gelaistet“ . Fol 4r–127 r: Eintragungen aus der Zeit von 1618 bis 1698 über 91 Advokaten; fol. 3r–3v: das Formular des „Aduocaten Aÿdt“. 74
Interessenten um die Zulassung zur Advokatur an der Universität wurden aufgefordert, sich binnen 14 Tagen beim Rektor zur Eintragung in das Advokatenbuch und zur Abnahme des Eides anzumelden, widrigenfalls trotzdem eingereichte Schriftsätze zurückgewiesen und der betreffende Advokat auch „mit gebürender bestraffung“ belegt würde: CA I 608–609: Edikt der Regierung an das Universitätskonsistorium vom 3. 9. 1648. 75
76
CA I 35 ff bzw 41 ff.
77
Zum Folgenden NESCHWARA, Einfluss 178 ff.
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gen über die bei den beiden höheren Gerichten in Niederösterreich, also am ständischen Landrecht (Landmarschallisches Gericht) sowie bei der landesfürstlichen Regierung (Regiment), zugelassenen Anwälte vereinheitlicht werden. Die in den 1640er Jahren ins Rollen gebrachten Arbeiten an dem Projekt einer niederösterreichischen Landesordnung waren bald nach dem Erlass der Ordnung für die bei der Regierung zugelassenen Advokaten im Sommer 1650 in vollem Umfang aufgenommen worden. Zur Ausarbeitung eines neuen Entwurfs wurde ein kleiner, vierköpfiger Stab von juristischen Experten unter der Leitung von Suttinger eingesetzt. Nach einem von ihm vorgelegten Arbeitsplan78 wurde das bis dahin umfassendste Gesetzgebungsprojekt für Niederösterreich in Angriff genommen. Als Ergebnis lag im Juni 1654 die sogenannte „Kompilation der vier Doktoren“ für die Landesordnung vor.79 Von dem insgesamt sieben Bücher umfassenden Gesetzgebungskonzept beinhaltete das erste Buch eine „Gerichtsordnung“, worin auch ein Abschnitt „Von den Aduocaten, vnd Procuratorn, welche zu handlungen bey vnßerer N[ieder-]: Ö[sterreichischen]: Regierung, oder Landtmar[schallischen]: Gericht zuegelassen werden möchten“, enthalten war.80 Das in der Rechtspraxis faktisch bereits seit 1650 für die an den beiden höheren Landesgerichten vereinheitlichte Berufsrecht für Rechtsanwälte sollte also künftig normativ fixiert sein. Inhaltlich knüpfte der betreffende Abschnitt des Landesordnungs-Entwurfs im Wesentlichen auch an die Advokatenordnung von 1648 an.81
78
NESCHWARA, Einfluss 185 ff; DERSELBE, Suttinger 374 ff.
Von diesen „vier Doktoren“ war Suttinger der prominenteste, als Jurist und Beamter ein Multifunktionär, der als Kanzler das niederösterreichische Regiment leitete. Die übrigen drei hatten weniger spektakuläre Laufbahnen: Johann Michael Seiz war Suttingers Nachfolger als Landschreiber und seit 1654 Rat am Regiment. Johann Georg Hartmann und Johann Leopold standen als Syndices im landständischen Dienst; Hartmann war außerdem Professor des kanonischen Rechts an der Universität, Leopold wurde später zum geheimen Hofsekretär bestellt: Dazu NESCHWARA, Suttinger 371 ff, 373 ff. 79
Titel 10, §§ 1–24: ÖNB, Handschriftensammlung, Codex series novae 2786: „Das erste Büech der Nider Österreichischen Landtsordnung. Von dem ordentlichen Gerichts: und executions Process“, fol 14r–22r.
80
Der Abschnitt enthält 22 Paragraphen, Gliederung und Inhalt folgen der 24 Paragraphe umfassenden Advokatenordnung 1648; die Fassung von 1654 enthält als Anhang noch ein Formular für die Vereidigung der Anwälte (§ 23) sowie ein Vollmachts-Muster (§ 24). 81
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Danach war für die Zulassung von Anwälten zur Praxis „vor den obbemelten Gerichtern“ das entsprechende „begehrn“ des Bewerbers an das jeweilige Gericht zu stellen, und zwar unter Vorlage von „Testimonium vnd Kundtschaft“ über „seiner ehrlichen Gebuhrt, Herkhomben, Standt, vnd verhaltens“, sowie über „geschickhligkeit, Khunst, vnd erfahrenheit“. Außerdem war die Immatrikulations-Bescheinigung „vnserer Vniversität“ beizubringen. Vor der Zulassung mussten sich die Bewerber entweder vor der Kommission der Juristenfakultät, welcher unter Vorsitz des Dekans zwei Fakultätsmitglieder angehörten, oder beim Landschreiber einer Prüfung „in practicis“ unterziehen – „wie bißhero gebreüchig gewest“. Über den genauen Verlauf der 1651 anlaufenden Vorbereitung des Landesordnungs-Entwurfs, dessen Ausarbeitung Ende 1654 abgeschlossen war, geben die vorhandenen Quellen keine konkreten Auskünfte.82 Es ist aber daraus ersichtlich, dass eine aus landesfürstlichen Räten und landständischen Delegierten gebildete Kommission seit 1655/56 die einzelnen geplanten Teilordnungen des Landesordnungs-Projekts in Beratung gezogen hat. Die als Traktate bezeichneten einzelnen Teile des Projekts sind sodann bis Ende 1658 Gegenstand der Verhandlungen gewesen. Bis dahin waren zwar „alle tractatus[,] so zu einer bestendigen guten landesordnung gehörig“, bereits ausgearbeitet, sie wurden aber von der Regierung dem Kaiser nicht zur Resolution vorgelegt, so dass das Projekt vorläufig zum Stillstand gekommen war. Nach Wiederaufnahme der Arbeiten an der Landesordnung und einer Ende 1667 über den Stand der bisherigen Arbeiten gezogenen Bilanz ergab sich, dass der Entwurf mit der Gerichtsordnung noch immer unerledigt bei der Regierung lag. Die Bestimmungen über die Advokaten wurden davon später abgesondert und Ende März 1681 als neue Advokatenordnung in Geltung gesetzt83 – und zwar unter Hinweis darauf, dass „dieser Modus künfftig in der neuen Gerichts-Ordnung einverleibt werden solle“;84 wozu es aber nicht mehr kam.
IV. Ausblick Ebenso wie die anderen im Entwurfsstadium steckengebliebenen privatrechtlichen Traktate des Landesordnungs-Projekts, so wurde auch die Gerichtsordnung letztlich 1753 von der zum Zweck der Einführung einer allgemeinen Ge-
82
Im Detail NESCHWARA, Einfluss 182 ff; NESCHWARA, Suttinger 374.
83
NESCHWARA, Einfluss 197 ff, hier 198.
84
CA I 26.
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richtsordnung und eines gleichförmigen und allgemeinen Landrechts als „jus certum et universale“ für die deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie eingesetzten Kompilations-Kommission als Basis für die Sammlung, Sichtung und Ordnung der Landesrechte85 in Berücksichtigung gezogen.86 Mit der Ausarbeitung der Allgemeinen Gerichtsordnung von 1781 haben die Bemühungen um die Vereinheitlichung des Berufsrechts der Anwälte schließlich zum Erlass einer gesamtstaatlichen Vereinheitlichung auf Ebene des Gesamtstaates geführt, welche aber an der Voraussetzung der staatlichen Zulassung und der Fixierung der Zahl der Advokaten durch einen – lokal und regional differenzierten – numerus clausus festhielt.87 Zwar brachte auch der Frühkonstitutionalismus in Bezug auf dieses System einer „geschlossenen“ Advokatur keine grundsätzliche Änderung, doch wirkten die 1848 postulierten liberal-rechtsstaatlichen Ideen auf die Organisation der Advokatur ein. Das im Vormärz besonders deutlich ausgeprägte System der geschlossenen Advokatur wurde gelockert und das Berufsrecht der Advokaten mit einer (provisorischen) Advokatenordnung auf fortschrittlichere Grundlagen gestellt. In Verbindung mit einem teilweisen Abbau staatlicher Aufsicht wurde den Advokaten darüber hinaus mit der Einführung von Advokatenkammern auch ein – freilich beschränktes – berufliches Selbstverwaltungsrecht zugestanden. Erst mit der Advokatenordnung von 1868 erfolgte die Hinwendung zum System der „freien“ Advokatur. Eine weitere Restriktion staatlicher Aufsicht brachte eine bedeutende Erweiterung der Kompetenzen der Kammerorganisationen im Bereich der Berufsselbstverwaltung88 sowie des Disziplinarrechts und leitete damit die kontinuierliche Entwicklung der modernen Rechtsanwaltschaft in Österreich ein,89 sie wirkt über die Zäsuren von 1918, 1934, 1938 und 1945 hinweg bis zur Gegenwart fort. Eine Edition des Länderberichts für Nieder(- und Ober-)österreich von JOSEF FERDINAND HOLGER für das Projekt des Codex Theresianus wird von mir vorbereitet und soll 2011 zur Veröffentlichung kommen. 85
86
NESCHWARA, Einfluss 207 ff; NESCHWARA, Suttinger 384.
CHRISTIAN NESCHWARA, Die Entwicklung der Advokatur in Cisleithanien/Österreich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ende der Monarchie 1918 im Spiegel der Gesetzgebung, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 115 (1998) 441–473, hier 441 f. 87
88
NESCHWARA, Advokatur 442, 472 f.
Zur Entwicklung der Rechtsanwaltschaft seit der juridisch-politischen Wende von 1848: WRABETZ, Rechtsanwälte 43 ff, 75 ff. – Zur Entwicklung nach 1918 siehe auch ERNST JAHODA, Geschichte der österreichischen Advokatur 1918–1973 (Wien 1978). 89
314
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V. Anhang A. Advokatenordnung über die Zulassung von Anwälten zur Praxis bei der niederösterreichischen Regierung 1648 Quelle:90 Rechtsanwaltskammer Wien/Bibliothek (Ertlgasse 2, 1010 Wien). Beschreibung: Papierlibell, 16 Blätter, unfoliiert; mit eigenhändigen Unterschriften; v Umschlag leicht eingerissen, Spuren von Klebestreifen; auf fol. 1 Bibliotheksvignette des Juridisch-politischen Lesevereins aufgeklebt (Standort Kasten III Fach 5).91 r
[fol. 1 ] “Advocaten Ordtnund [!]. – 1648.” v
[fol. 1 ] [Bibliotheksvignette] r
[fol. 2 ] [Motiv] „Der ro[e]m[isch]. Kay[serlichen]. Auch zu Hungarn unnd Böheimb khönigl[ichen]. M[ajestä]t., erzherzogen zu Österreich, unsers allergnedigisten herrn, statthalter, canzler, regenten und räthe des regiments der N[ieder]. ö[sterreichischen]. landen verkhünden hiemit allen advocaten und procuratorn, so für ihr der regierung partheysachen führen und zu handlen haben, nachdem man ein zeithero verspürth, wie daz denen hievor undterschidtlich publicierten kay[serlichen]. Generalien und gemachten ordnungen, warnach sich die aduocaten und procuratores in handlung ihrer partheyen notturfften [fol. 2v] verhalten sollen, wenig nachgelebt und dardurch nit allein regierung vill zeit vergebentlich auß den händen gezogen, sondern auch denen partheyen mehr schadt- alß nutzen geschafft wirdt, derentwegen dan regierung nie ernstliches einsehen zu haben, von der röm[isch]. Kay[erlichen]. M[ajestä]t., unsers allergnedigisten herrn und landtsfürstens wegen, gezimen will, alß hat sie dißfahls nachvolgende ordnung von neuem fürgenomben, und ist derselben bevelch hiemit, daß solcher ein jeder advocat und procurator, so biß dato bey regierung zuegelassen ist, oder ins khunfftig zuegelassen werden möchte, [fol. 3r] gehorsamblich nachkhomben, und bey unnachläßlicher straff darwider nit handlen solle.“
Für die Beschreibung der Handschrift und die Formulierung der Regesten zeichnet Herr Dr. Pauser verantwortlich. – Eine etwas ausführlichere Beschreibung des Inhalts bei NEUGRÖSCHL, Advokatenordnungen 249. 90
Im Hinblick auf die – im Einvernehmen mit der Wiener Rechtsanwaltskammer – gemeinsam mit Herrn Dr. Pauser in Aussicht genommene Edition des Manuskripts der Advokatenordnung von 1648 werden im Folgenden nur die für die Publikation relevanten Bestimmungen (fol 2r und 15r) aus dem Gesetzestext wiedergegeben; im Übrigen beschränkt sich die Wiedergabe des Inhalts auf die Angabe der für die Edition konzipierten Kopfregesten zu den einzelnen Paragraphen. 91
Zur „Wiederentdeckung“ einer österreichischen Advokatenordnung v
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v
[fol. 2 –14 ] [Berufsrecht der Anwälte]92
Abb. 1: fol. 2r
Abb. 2: fol. 15r
§ 1. Berufsverbot für vor der Regierung nicht zugelassene Anwälte; § 2. Zulassungsmodus; § 3. Verpflichtung zur Vorlage einer Vollmacht; § 4. Unterschriftspflicht für Eingaben und Supplikationen; § 5. Verwendung guter Schreiber und tauglicher Sollizitatoren; § 6. Einbringen von Parteischriften und Supplikationen vor neun Uhr früh; § 7. Pünkliches Erscheinen bei Verhandlungen – rechtzeitige Anzeige von Verhinderungen; § 8. Verbot falscher sowie erbetener Unterschriften; § 9. Verbot unnützen Vorbringens – Neuerungsverbot; § 10. Verbot willkürlicher Prozessverzögerungen; § 11. Verbot der Niederlegung einer Vertretung ohne Zustimmung des Gerichts; § 12. Verbot des erneuten Vorbringens erledigter Angelegenheiten; § 13. Beachtung der Arbeitskapazität; § 14. Abhaltung der Klienten vor nicht zielführendem gerichtlichem Vorgehen; § 15. Honorar – Verbot der quota litis; § 16. Verfahrenshilfe; § 17. Einhaltung des Instanzenzuges; § 19. Neuerungsverbot; § 20. Angabe der niederösterreichischen Kammer in Eingaben, welche diese auch betreffen; § 21. Zulassung als Hofadvokat allein am Hofrecht; § 22. Ortswechsel und Ausscheiden aus dem Gremium der Advokaten bzw. Prokuratoren; § 23. Anwesenheitspflicht bei der monatlichen Publizierung der Regierungsabschiede; § 24. allgemeine Bestimmungen über das Berufsethos der Anwälte; Strafbestimmungen.
92
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CHRISTIAN NESCHWARA r
[fol. 15 ] [Abänderungsvorbehalt] „Es behalten ihnen [sic!] aber in namben der röm[isch]. Kay[serlichen]. M[ajestä]t., unsers allergnedigisten herrn, dero statthalter, canzler, regenten und räthe des regiments der N[ieder-]. ö[sterreichischen]. landen dise ordnung nach gelegenheith der zeit in einen oder andern articul zu mindern oder zu mehren beuor. Darnach waiß sich ein jeder zu richten, auch vor schaden und nachtheil zu hüeten. Actum Wien, den neunzehenden Septembris, anno sechszehenhundertachtundvierzig. Franz Trautson grave zu Falkenstain statthalter mppa
J. B. Sibenbürger, mppa
L. Richtersperkh canzler“
Michael Braun, Dr. mppa
[fol. 16 vacat] B. Advokateneid 1. Für Anwälte, welche bei der Regierung zur Praxis zugelassen sind (1648) Quelle: Codex Austriacus II 571. „Jurament der Advocaten/welche bey der Regierung zupracticiren zugelassen seynd. Ihr werdet einen Eyd zu Gott dem Allmächtigen schwören/ daß ihr in Handlung eurer Partheyen Nothdurfft/ der gemachten Advocaten-Ordnung/ in allen und jeden Puncten gehorsamblich nachkommen/ den Armen als den Reichen/ euch mit gleichem Fleiß befohlen seyn lasset/ ihr keinem sein Recht und Anligen/ weder durch Gab/ Freundschafft/ Feindschafft/ oder durch einige unrechte Weeg verschweigen/ zurückstellen/ oder hingehen lassen/ deß Gegentheils Verhinderung oder Fürtrag/ so viel das Recht vermag/ treulich abstellen/ die Geheimbnuß/ so ihr von denen Partheyen empfangen/ dem Gegentheil nicht eröffnen/ die Ansprüch und Rechts-Führungen an euch nicht erkauffen/ auch mit eurer Parthey kein Vorgeding machen: sondern alles das/ was zu Beschirmung derselben gehörig/ getreulich/ nach eurem besten Vermögen und Verstand für-bringen/ denen Herren Räthen/ und Gerichts-Persohnen gebührliche Reverentz und Ehr inner und ausser Raths/ erzaigen/ über dieses auch für eure Persohn ein ehrbar/ und untadelhafftiges Leben und Wandel führen/ und im übrigen auch alles das thun und handeln wollet/ was einem frommen und ehrlichen Advocaten und Procuratorn zugehört und wohl anstehet/ wie ihr das sowohl Gott dem Allmächtigen/ als der hochlöblichen Regierung verantworten könnet.“
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2. Für Anwälte, welche bei der Universität zur Praxis zugelassen sind (1618/98) Quelle: Universitätsarchiv Wien, Konsistorialakten, Faszikel V Lit. A, fol. 3r. „Advocaten Aÿdt. Ihr werdet einen ieglichen pro tempore Herrn Rectori vnd dem ganzen V[enera]b[i]le Consist[orio]: der Löblich: kaÿserlichen Vn[iversi]tet: alhir von Gerichts wegen geloben vnd Zu Gott den Allmechtigen einen Aÿdt schweren, das Jhr denen Partheÿen deren Sachen ihr Zuhandtlen annemben werdet dieselben ihre Sachen mit ganzen vnd rechten treuen Mainen nach Euren bösten Verstandt vnd mit Vleisß handtlen, vnd darinnen wissentlich khein Genadt vnd Vnrecht noch vnnothdürfftige Verlengerung vnd Auffzug der Sachen machen vnd gebrauchen oder die Partheÿen khainerleÿ Vorgeding machen, ainen Thäil von den Sachen deren Jhr in Rechten Procurator seit zuhaben oder zugewertigen auch Haimblichkheit vnd Behelff so ihr von denen Partheÿen erindert werdet ihnen zuschaden niemandt offenbaren den H[errn]. Rect[orem]. et V[enera]b[i]lem Consist[oriem]: ehren, vor Gericht Erbarkheit gebrauchen, vnd Lesterung beÿ Peen (:nach Erkhandtnus des Gerichts:) vermaiden. Euch der Sachen so ihr von denen Partheÿen annemet vor Erördterung derselben ohne rechtlich Vrsachen, vnd des Rechtens Erkhandtnus nicht endtschlagen wöllet, sondern deroselben Euren Partheÿen biß zu Endt des Rechtens warten vnd handtlen. Alles getreulich vnd ohne geuärde. ec.“
Zur Entstehung des österreichischen Strafgesetzes 1852* THOMAS OLECHOWSKI, Wien
I. Die große Ära der österreichischen Kodifikationsarbeiten, die unter der Regentschaft Maria Theresias ihren Ausgang genommen hatte, fand unter der Herrschaft ihres Enkelsohnes Franz II./I. mit dem Strafgesetzbuch (StGB) vom 3. September 1803 sowie mit dem Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) vom 1. Juni 1811 Höhepunkt und Abschluss.1 Hatte Österreich somit – im Gegensatz zu Preußen – nicht den Weg einer Universalkodifikation, sondern den Weg mehrerer Spezialkodifikationen für einzelne Rechtsgebiete verfolgt, so wiesen doch ABGB und StGB im Wesentlichen die gleiche Entwicklungsgeschichte auf und hatten (fast) die gleichen Väter: Es waren vor allem die Vertreter der Naturrechtsschule in Österreich Karl Anton von Martini, Joseph von Sonnenfels, Matthias Wilhelm von Haan, Franz Georg von Kees und Franz von Zeiller, die in der 1790 eingerichteten „Hof-
Werner Ogris hat sich, wie auch die nachfolgenden Literaturhinweise deutlich machen, immer wieder mit der gegenständlichen Materie beschäftigt, die ansonsten sowohl von Rechtshistorikern als auch von Strafrechtsdogmatikern eher stiefmütterlich behandelt wird. Sie steht überdies in engem Zusammenhang mit dem Thema meiner Habilitationsschrift, die vom Jubilar betreut wurde. Der gegenständliche Beitrag ist Ausdruck meines Dankes für die Hilfe, die mir der zum Freund gewordene akademische Lehrer damals und stets zuteil hat werden lassen. *
WERNER OGRIS, Kodifikation, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts. LoseblattAusgabe I (Neuwied 1991); DERS, Zur Geschichte und Bedeutung des österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, in: WERNER OGRIS, Elemente Europäischer Rechtskultur. Rechtshistorische Aufsätze aus den Jahren 1961–2003, hrsg v THOMAS OLECHOWSKI (Wien/Köln/Weimar 2003) 311–331; FRIEDRICH HARTL, Grundlinien der österreichischen Strafrechtsgeschichte bis zur Revolution von 1848, in: GÁBOR MÁTHÉ / WERNER OGRIS (Hrsg), Die Entwicklung der österreichischungarischen Strafrechtskodifikation im XIX.–XX. Jahrhundert (Budapest 1996) 13– 54, bes 37 ff. 1
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commision in Gesetzgebungssachen“ beiden Kodifikationen ihr Gepräge gaben; (nur) hinsichtlich des ABGB ist auch auf Carl von Pratobevera hinzuweisen.2 Vorläufer des StGB 1803 war das Josephinische Strafgesetz von 1787, das sich vor allem durch die (fast) vollständige Abschaffung der Todesstrafe auszeichnete. Eine Humanisierung des Strafrechtes erfolgte dadurch allerdings nicht, vielmehr ersetzte Joseph II. im Sinne des Utilitaritätsprinzipes die Todesdurch harte Arbeitsstrafen, wie va das Schiffsziehen, das kaum ein Verurteilter länger als ein paar Monate überlebte, sodass im Effekt mehr Verurteilte zu Tode kamen als in der vorjosephinischen Ära. Zudem ist zu beachten, dass die Todesstrafe nach § 53 des Josephinischen Strafgesetzes im Rahmen des Standrechtes jederzeit wiedereingeführt werden konnte, was auch tatsächlich oft erfolgte und die praktischen Auswirkungen der Abschaffung im ordentlichen Verfahren deutlich einschränkte.3 Zur formellen Wiedereinführung der Todesstrafe kam es mit dem sog Kriminalpatent 1795, welches infolge der sog Jakobinerprozesse – und gegen den vehementen Widerstand Martinis – erlassen wurde.4 Dagegen waren das Schiffsziehen sowie weitere inhumane Straf-
Vgl dazu WERNER OGRIS, Joseph von Sonnenfels und die Entwicklung des österreichischen Strafrechts, in: Elemente 657–676; HEINZ BARTA, Karl Anton von Martinis bleibende Bedeutung für die österreichische und europäische Rechtswissenschaft, in: HEINZ BARTA / GÜNTHER PALLAVER (Hrsg), Karl Anton von Martini (= Recht und Kultur 4, Wien/Berlin 2007) 81–134; CHRISTIAN NESCHWARA, Pratobevera – Zeiller – Jenull: Eine „herrliche Trias ... unserer Gesetzgebung“. Ein Beitrag zur Gesetzgebungsgeschichte des österreichischen Strafrechts im Vormärz, in: ULRIKE AICHHORN / ALFRED RINNERTHALER (Hrsg), Scientia iuris et historia. FS für Peter Putzer, Bd II (Egling 2004) 579–612, sowie die einschlägigen Beiträge in WILHELM BRAUNEDER (Hrsg), Juristen in Österreich 1200–1980 (Wien 1987) sowie in GERD KLEINHEYER / JAN SCHRÖDER (Hrsg), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten5 (Heidelberg 2008). 2
Vgl dazu schon WERNER OGRIS, Joseph II.: Staats- und Rechtsreformen, in: Elemente 125–164, hier 152; nunmehr umfassend GERHARD AMMERER, Das Ende für Schwert und Galgen? Legislativer Prozess und öffentlicher Diskurs zur Reduzierung der Todesstrafe im Ordentlichen Verfahren unter Joseph II. (1781–1787) (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 11, Wien 2010). 3
Ks Pat 2. 1. 1795 JGS 209; vgl RUDOLF PALME, Karl Anton von Martini und das Strafrecht, in: BARTA/PALLAVER, Martini 57–80, bes 75. Insofern unrichtig THOMAS VORMBAUM, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte (Berlin/Heidelberg 2009) 36, der als Datum der Wiedereinführung erst 1803 annimmt. 4
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arten schon 1790 von Leopold II. aufgehoben worden.5 Der unter dem Vorsitz von Martini ausgearbeitete Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch wurde 1797 – so wie auch der Entwurf für das bürgerliche Gesetzbuch – in der Provinz West- (und später auch Ost-)galizien eingeführt; die Erfahrungen, die hierbei gemacht werden konnten, flossen in die Endredaktion ein. Bei dieser führte hinsichtlich des StGB ab 1797, hinsichtlich des ABGB ab 1801 Franz von Zeiller das Referat.6 Zufolge des Kundmachungspatentes7 trat das StGB am 1. Jänner 1804 lediglich in den „deutschen Erblanden“ der Monarchie, also in den (damals noch) zum Römisch-deutschen Reich gehörenden Provinzen sowie in West- und Ostgalizien, nicht aber in den Ländern der ungarischen Stephanskrone, in Kraft. Es zerfiel in zwei Teile, von denen der erste über „Verbrechen“, der zweite über „schwere Polizey-Uebertretungen“ handelte, und die jeweils in einen materiellrechtlichen und einen verfahrensrechtlichen Abschnitt gegliedert waren. Das StGB 1803 war zum Zeitpunkt seiner Entstehung ein durchaus modernes Gesetz, das den Grundsätzen „nulla poena sine lege“ und „nulla poena sine culpa“ folgte; zwar enthielt es abermals die Todesstrafe, doch keine grausamen Arbeitsstrafen mehr. Innerhalb und außerhalb Europas erfuhr das StGB Beachtung und diente Kodifikationen in mehreren Schweizer Kantonen (St. Gallen, Basel-Land und Basel-Stadt), in Spanien und Portugal, in mehreren lateinamerikanischen Staaten (Brasilien, Mexiko, Chile ua) und auf den Philippinen als Vorbild.8 Umso überraschender ist es, dass Zeiller bereits 1817 beauftragt wurde, sich über eine „Vervollkommnung“ des Strafgesetzes zu äußern und hierauf 1823/25 entsprechende Entwürfe vorlegte.9 Die Reformbedürftigkeit des StGB 1803, die offenbar schon jetzt erkannt worden war, resultierte weniger aus den Fortschritten der Strafrechtswissenschaft, als vielmehr aus dem sich
5
HARTL, Grundlinien 36; AMMERER, Das Ende für Schwert und Galgen 405.
HARTL, Grundlinien 37; CHRISTIAN NESCHWARA, Franz von Zeiller und das Strafrecht, Journal on European History of Law 2010, 4–15. 6
7
Patent vom 3. 9. 1803 JGS 626.
ANTON HYE VON GLUNEK, Das österreichische Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen und die Preßordnung vom 27. Mai 1852, Erster [einziger] Band (Wien 1855) 9; NESCHWARA, „Eine herrliche Trias“ 584; BERNARDINO BRAVO LIRA, El código penal de Austria (1803). Epicentro de la codificación penal en tres continentes, Anuario de Filosofía Jurídica y Social (Valparaíso 2003) 299–344. 8
9
Dazu NESCHWARA, Zeiller und das Strafrecht 7 ff.
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wandelnden sozialen, ökonomischen und politischen Umfeld des 19. Jahrhunderts. Diese Veränderungen hatten in zahlreichen Hofdekreten und Patenten mit strafrechtlich relevantem Inhalt, die wie ein Kranz das StGB 1803 umgaben, ihren Niederschlag gefunden.10 Zeiller selbst, der 1828 starb, sollte es nicht mehr erleben, dass innerhalb der Gesetzgebungshofkommission eine Spezialkommission zur Neuredaktion des Strafgesetzes eingerichtet wurde und unter Leitung Carl von Pratobeveras ihre Tätigkeit aufnahm.11 Hinsichtlich des I. Teils führte der eigens für diesen Zweck nach Wien berufene Strafrechtsprofessor Sebastian Jenull, hinsichtlich des II. Teils der Hofrat der Vereinigten Hofkanzlei Leopold Graf Kaunitz das Referat. Die Beratungen „schlossen mit 25. April 1848 ab“.12 Am selben Tag erließ Kaiser Ferdinand I. die erste konstitutionelle Verfassung für das Kaisertum Österreich, die sog Pillersdorfsche Verfassung.13 Sechs Wochen zuvor war die Revolution ausgebrochen, die in allen Rechtsbereichen zu entscheidenden Neuerungen führte. Insbesondere die Abschaffung der (Vor-)Zensur am 14. März 184814 war Ursache dafür, dass ein völlig neuartiges strafrechtliches Nebengebiet entstand, das Preßstrafrecht. Nach engliHARTL, Grundlinien 43, 47; WERNER OGRIS, Die Entwicklung von Gerichtsverfassung, Strafrecht und Strafprozessrecht 1848–1918, in: MÁTHÉ / OGRIS, Strafrechtskodifikation 55–74, hier 64. Ein sehr anschauliches Bild von diesem Gesetzgebungszustand geben die vormärzlichen Gesetzesausgaben, wo die einzelnen HfD jeweils an die passenden §§ des StGB angefügt sind: J[OSEPH] E. WASER (Hrsg), Das Strafgesetz über Verbrechen sammt den dazu gehörigen Verordnungen (Wien 1839), sowie ST[EPHAN] BLUMENTRITT (Bearb), Das österreichische Strafgesetz über schwere Polizeiübertretungen sammt den vom 3. September 1803, als dem Zeitpunkte der Kundmachung bis auf die neueste Zeit hiezu nachträglich erschienenen Gesetzen und Verordnungen (Wien 1841). Vgl auch die Auflistung bei HUGO HOEGEL, Geschichte des Österreichischen Strafrechtes in Verbindung mit einer Erläuterung seiner grundsätzlichen Bestimmungen I (Wien 1904) 92–94. 10
Dazu nunmehr ausführlich NESCHWARA, „Eine herrliche Trias“, mwN; vgl auch die eigene Darstellung Pratobeveras in: CHRISTIAN NESCHWARA (Hrsg), Ein österreichischer Jurist im Vormärz. „Selbstbiographische Skizzen“ des Freiherrn Karl Josef Pratobevera (= Rechtshistorische Reihe 374, Frankfurt ua 2009) 169 ff. 11
HOEGEL, Geschichte 95; ihm folgend HARTL, Grundlinien 47; NESCHWARA, „Eine herrliche Trias“ 610. 12
Verfassungs-Urkunde des Oesterreichischen Kaiserstaates, Anlage zum ks Pat 25. 4. 1848 PGS LXXVI/49. 13
THOMAS OLECHOWSKI, Die Entwicklung des Preßrechts in Österreich bis 1918 (Wien 2004) 207. 14
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schem Vorbild sollte es jedermann gestattet sein, frei zu schreiben und zu drucken, doch sollten bestimmte Preßinhalte (etwa die Aufforderung zur gewaltsamen Veränderung der Verfassung, die Beleidigung des Landesfürsten, Angriffe gegen Religionsgenossenschaften ua) strafbar sein. Dass hierfür die einschlägigen Bestimmungen des StGB 1803 unpassend seien, wurde allgemein anerkannt, weshalb das Preßgesetz vom 31. März 1848 einen eigenen Katalog von preßstrafrechtlichen Tatbeständen enthielt. Diese aber sorgten bei der Bevölkerung für Empörung und mussten unter dem Druck der Revolution im Mai 1848 abgemildert wurden, was zum geradezu absurden Resultat führte, dass zB eine Beleidigung in der Zeitung weniger streng bestraft wurde, als wenn sie mündlich erfolgt wäre!15 Stärker noch als das materielle Strafrecht aber war das Strafprozessrecht von der Revolution und der durch sie bewirkten Pressefreiheit betroffen: Denn es galt seit Ende des 18. Jahrhunderts als feststehender Grundsatz, dass Pressefreiheit nur dort verwirklicht sei, wo Geschworene über ihre Einhaltung wachen. Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens sowie die Anklageerhebung durch einen Staatsanwalt gehörten gleichermaßen zu den Grundforderungen an ein modernes Prozessrecht.16 Demgegenüber folgte das StGB 1803 in seinen verfahrensrechtlichen Abschnitten noch ganz den Prinzipien des Inquisitionsprozesses, wo der Ankläger zugleich Urteiler war, der in einem heimlichen und schriftlichen Verfahren zu entscheiden hatte. Es wurde daher nun – und zwar zunächst nur für Preßdelikte – ein völlig neues Verfahrensrecht geschaffen, das vollkommen mit der österreichischen Tradition brach. 1850 wurden diese Neuerungen mit der sog Würthschen Strafprozessordnung (StPO 1850)17 allgemein in das Strafverfahrensrecht eingeführt, womit die entsprechenden Abschnitte des StGB 1803 außer Kraft traten.18
15
OLECHOWSKI, Preßrecht 289 ff.
Dazu näher THOMAS OLECHOWSKI, Rechtshistorische und demokratietheoretische Bemerkungen zum Wirkungskreis der Geschworenengerichte, in: MAGDALENA HABDAS / ARKADIUSZ WUDARSKI (Hrsg), Ius est ars boni et aequi. FS für Stanisława Kalus (Frankfurt ua 2010) 347–359, bes 349. 16
Der Namen gebende Hauptredaktor der StPO 17. 1. 1850 RGBl 25 war auch ihr einziger Kommentator: JOSEPH VON WÜRTH, Die österreichische Strafproceßordnung vom 17. Jänner 1850 (Wien 1851). Vgl zu seiner Person noch unten Anm 40. 17
18
OLECHOWSKI, Preßrecht 305 ff.
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II. Eine völlig andere Entwicklung als Österreich hatten das Königreich Ungarn und seine Nebenländer Kroatien und Siebenbürgen auf dem Gebiet des Zivilund Strafrechtes zu verzeichnen. Beides beruhte auch 1848 noch weitgehend auf gewohnheitsrechtlicher Grundlage, wie es insbesondere 1517 von Istvan Werböczy in seinem Tripartitum opus iuris consuetudinarii inclyti regni Hungariae aufgezeichnet worden war. 1687 war die österreichische Halsgerichtsordnung Ferdinands II. von 1656, die sog Ferdinandea, ins Lateinische übertragen und unter dem Titel Praxis Criminalis auch in Ungarn veröffentlicht worden. Seitdem wurde sie auch von den ungarischen Gerichten angewendet; um ein formelles Gesetz handelte es sich hierbei ebenso wenig als wie beim Tripartitum.19 Joseph II. hatte sein Strafgesetz 1787 auch in Ungarn in Kraft gesetzt, ohne die Zustimmung des ungarischen Landtages einzuholen. Als dieser nach Josephs Tod von seinem Nachfolger Leopold II. wieder einberufen wurde, hob er unverzüglich die seiner Ansicht nach rechtswidrig ergangenen Reformen auf und beschloss die Schaffung einer eigenen ungarischen Strafrechtskodifikation.20 Aber weder ein Entwurf aus 1795 noch ein anderer Entwurf aus 1829 kamen auch nur in parlamentarische Behandlung.21 1840 wurde ein neuer Anlauf gewagt und eine neue Kommission unter Vorsitz des – später als „Advokaten der Nation“ bezeichneten – Abgeordneten Ferenc Deák eingesetzt. Diese Kommission erstellte in weiterer Folge drei viel beachtete Entwürfe über das materielle Strafrecht, das Strafprozessrecht und das Gefängniswesen. Die Todesstrafe sollte abgeschafft, die Gefängnisse modernisiert werden, über die Versetzung in den Anklagestand, über das Urteil und sogar über das Ergebnis des Vorverfahrens sollten Geschworene entscheiden. Ein Streit zwischen Oberer und Unterer Tafel des ungarischen Landtages GABOR BÉLI / ISTVÁN KAJTÁR, Österreichisches Strafrecht in Ungarn: Die „Praxis Criminalis“ von 1687, ZNR 1994, 325–334. Vgl dazu und zum Folgenden demnächst auch THOMAS OLECHOWSKI, Ferenc Deák und die Entwicklung des ungarischen Strafrechts im 19. Jahrhunderts (im Druck). 19
20
BÉLI / KAJTÁR, Österreichisches Strafrecht 334.
ELEMÉR BALOGH, Ein wenig bekannter Strafgesetzentwurf von 1829/30, in: GÁMÁTHÉ / BARNA MEZEY (Hrsg), Von dem Vormärz bis zum 20. Jahrhundert. Tradition und Erneuerung in der ungarischen Rechtsentwicklung (Würzburg/Budapest 2002) 9–11; zum Entwurf 1795: GEORG STEINBERG, Aufklärerische Tendenzen im ungarischen Strafrecht, in: Rechtsgeschichtliche Vorträge 50 (Budapest 2007) 97–110. 21
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verhinderte dann jedoch auch die Beschlussfassung über die Deákschen Reformentwürfe.22 Am 11. April 1848, nur wenige Tage vor Erlass der Pillersdorfschen Verfassung für Österreich, unterzeichnete Kaiser Ferdinand I. (in seiner Funktion als König Ferdinand V. von Ungarn) 31 vom ungarischen Landtag beschlossene Gesetzesartikel, die als eine Verfassung im materiellen Sinne zu bezeichnen sind und den Feudalstaat in eine konstitutionelle Monarchie transformierten.23 Mit den übrigen Ländern Ferdinands sollte dieses Königreich nur in Personalunion verbunden sein, ein Zugeständnis, das der Wiener Hof nur unter dem Druck der Ereignisse gemacht hatte und auch aufgrund der Widerstände bei den nicht-magyarischen Nationen Ungarns schon bald wieder zurückziehen wollte. Am 3. Oktober 1848 löste Ferdinand V. den ungarischen Landtag auf, was von diesem ignoriert wurde und schließlich in einen offenen Krieg zwischen der kaiserlichen Armee und den von der ungarischen Regierung befehligten Truppen mündete.24 Knapp zwei Monate später, am 2. Dezember 1848, dankte Kaiser Ferdinand I. (V.) zugunsten seines Neffen Franz Joseph ab, der angesichts des drohenden Zerfalls der Monarchie auf einen rigoros zentralistischem Kurs für die Monarchie setzte und bei seiner Thronbesteigung seine Absicht bekannt gab, „alle Lande und Stämme der Monarchie zu Einem großen Staatskörper zu vereinigen.“25 Noch während in Ungarn und Italien gekämpft wurde, oktroyierte er für das gesamte Kaiserreich eine Verfassung, in der er Ungarn, Siebenbürgen, Dalmatien-Kroatien-Slawonien und die Stadt Fiume [Rijeka] zu jeweils eigenen Kronländern im Rahmen der „untheilbaren und unauflösbaren constitutionellen österreichischen Erbmonarchie“ erklärte und damit die Einheit der ELEMÉR BALOGH, Die Dogmatik des materiellen Strafrechts (Entwicklungsgeschichtlicher Überblick mit besonderer Hinsicht auf den Gesetzesvorschlag von 1843/44), in: MÁTHÉ / OGRIS, Strafrechtskodifikation 181–201; BARNA MEZEY, Eine Gesetzvorlage über das Gefängniswesen im Jahr 1843 in Ungarn, ebenda 203–219.
22
LÁSZLÓ PÉTER, Die Verfassungsentwicklung in Ungarn, in: HELMUT RUMPLER / PETER URBANITSCH (Hrsg), Die Habsburgermonarchie 1848–1918 VII (Wien 2000) 239–540, 277 ff. 23
PÉTER, Verfassungsentwicklung 291; THOMAS KLETEČKA, Einleitung zu: DERSEL(Bearb) Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, Bd I (Wien 1996) XXXIII.
24
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Ks Pat 2. 12. 1848 RGBl 1849/1. Vgl dazu THOMAS KLETEČKA, Einleitung zu: (Bearb) Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, Bd II/1 (Wien 2002) XVI. 25
DERSELBE
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Länder der Stephanskrone zerschlug.26 Ein Reichstag, bestehend aus „Abgeordneten aus allen Kronländern“, sollte die „Gesetzgebung über das bürgerliche Recht, das Strafrecht, die Gerichtsverfassung und das Gerichtsverfahren“ wahrnehmen.27 Damit war der Auftrag zu einer Rechtsvereinheitlichung gegeben, wie sie es in der gesamten Geschichte der Habsburgermonarchie noch nie, nicht einmal unter Joseph II., gegeben hatte.28
III. Die Arbeiten der vormärzlichen Gesetzgebungskommission waren aufgrund der Revolution überholt, ihr Entwurf für ein neues Strafgesetz „für die gegenwärtigen Verhältnisse nicht brauchbar“, wie es Justizminister Franz von Sommaruga im Ministerrat vom 10. Mai 1848 schroff formulierte.29 Quasi als Sofortmaßnahme wurden schon am 31. Mai einige besonders antiquierte und grausame Bestimmungen des StGB 1803 „außer Wirksamkeit gesetzt“, so namentlich das Ausstellen auf der Schandbühne, die Züchtigung mit Stockoder Rutenstreichen, die Brandmarkung ua.30 Im August 1848 erteilte Sommaruga dem Strafrechtsprofessor Anton Hye den Auftrag, Änderungsvorschläge für die politischen Delikte im StGB 1803 zu erarbeiten.31
§§ 1 f Reichsverfassung (ks Pat 4. 3. 1849 RGBl 10); der Woiwodschaft Serbien (= annähernd der heutigen Vojvodina entsprechend) wurde in § 72 Autonomie zugesichert; 1850 wurde auch sie zu einem selbständigen Kronland erhoben.
26
27
§ 68 Reichsverfassung 1849.
WERNER OGRIS, Rechtseinheit und Staatsidee in der Donaumonarchie, in: Elemente 47–58, hier 54. 28
29
Ministerrat v 10. 5. 1848, Protokolle I, 194 f.
Vgl PGS LXXVI/76, wo allerdings die Verordnung als eines solche des „Innenministeriums“ bezeichnet wird, was unrichtig ist, wie die geschilderte Vorgeschichte sowie auch ein Vorentwurf der Verordnung im Österreichischen Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Bestand Justizministerium (Karton 1050/38) belegen. Möglicherweise wurde die Verordnung vom Innenministerium an die Länderstellen intimiert und daher bei der späteren Redaktion der PGS irrtümlicherweise diesem zugerechnet. 30
31
AVA Justizministerium, ad 1896/1848 (Karton 1050).
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Der damals 41-jährige Anton Hye32 (1854 sollte er, in Anspielung auf seinen Geburtsort Gleink in Oberösterreich, zum „Ritter von Glunek“ erhoben werden) war seit 1842 Ordentlicher Professor des Natur- und Österreichischen Kriminalrechts an der Universität Wien. In der Zeit des Vormärzes gehörte er zu den populärsten Professoren der Universität und nützte seine Beliebtheit bei den Studenten auch noch in den ersten Tagen der Revolution, um mäßigend auf sie einzuwirken. Dadurch jedoch verlor er allmählich das ihm geschenkte Vertrauen, und als im Mai die zweite Welle der Revolution anbrach, wurde Hye von den revoltierenden Studenten sogar des Hochverrats bezichtigt. Mehr Gefallen hatte die Regierung an Hyes Wirken, und mit 1. Mai 1848 wurde er in das eigens für ihn geschaffene Amt eines Generalsekretärs im Justizministerium berufen, wo er an mehreren legislativen Arbeiten, wie etwa am neuen Preßgesetz vom 13. März 1849, entscheidenden Anteil hatte.33 Schwieriger gestalteten sich die Arbeiten Hyes an einem neuen Strafgesetzbuch, die sich über die Amtsperioden von vier Justizministern – Franz von Sommaruga, Alexander Bach, Anton von Schmerling, Karl Krauß – hinzogen. Der von Hye erstellte Entwurf bezüglich der politischen Delikte wurde nicht weiter bearbeitet; vielmehr erklärte Justizminister Bach am 8. Juni 1849 gegenüber dem Kaiser, dass ein vollkommen neues Strafgesetzbuch notwendig sei und erhielt dafür auch die Zustimmung des jungen Franz Joseph.34 Vordringlicher als die Reform des materiellen Strafrechts erschien die Reform des Strafprozesses, die zu der schon erwähnten StPO 1850 führte. Da es „nicht rathsam schien, mit der Einführung der neuen Proceßordnung bis zur Vollendung des materiellen Theiles des Strafrechtes zuzuwarten“, schlug Bachs Nachfolger Anton von Schmerling am 18. Dezember 1849 vor,35 zugleich mit der StPO nur einige besonders dringliche Reformen des StGB * Gleink (heute Stadtteil von Steyr) 26. 5. 1807, † Wien 8. 12. 1894; vgl HELMUT SLAPNICKA, Anton Hye. Wegbereiter des österreichischen Rechtsstaates, in: ALOIS ZAUNER / HARRY SLAPNICKA (Hrsg), Oberösterreicher. Lebensbilder zur Geschichte Oberösterreichs I (Linz 1981) 32–44; GERHARD OBERKOFLER, Anton Josef Freiherr Hye von Glunek, in BRAUNEDER, Juristen 152–155; siehe auch THOMAS OLECHOWSKI, Die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich (Wien 1999) 111 f und passim. 32
33
OLECHOWSKI, Preßrecht 244–246.
Dies geht aus dem Vortrag SCHMERLINGS vom 18. 12. 1849 hervor; Beilage-Heft zum allgemeinen Reichs-Gesetz-und Regierungsblatte 1850, zu Nr 24, 14.
34
35
Vgl Anm 34.
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1803 vorzunehmen, die „noch vor der Erlassung eines im verfassungsmäßigen Wege zu Stande gekommenen vollständigen neuen Strafgesetzes ... ohne Abänderung in der Wesenheit der gesetzlichen Begriffsbestimmungen der verschiedenen Gesetzesübertretungen angeordnet werden können“.36 Abgeschafft wurden mit diesem Patent insbesondere die Strafart der öffentlichen Arbeit sowie die Strafbarkeit des Selbstmordes37 (nicht aber der Beihilfe dazu!), mehrere Tatbestände wurden eingeschränkt, Sanktionen gemildert. Erst danach, im Jänner 1850, setzte Schmerling eine neue Kommission ein, die nicht nur über eine Revision des StGB 1803, sondern auch und vor allem über dessen Einführung in den ungarischen Ländern beraten sollte.38 Den Vorsitz in dieser Kommission führte Ministerialrat Adolf von Pratobevera,39 das Referat übernahm Hye. Bei den übrigen Teilnehmern handelte es sich um je einen Experten für österreichisches, ungarisches, kroatisches und siebenbürgisches Strafrecht: Joseph von Würth,40 Ignaz Frank,41 Ivan Mažuránić42 und Simon Schreiber.43
Ks Pat 17. 1. 1850 RGBl 24; vgl zur Vorgeschichte auch die Ministerratssitzungen vom 18. 8. und vom 19. 8. 1849, Protokolle II/1, 601, 607; vgl auch OGRIS, Entwicklung 64. 36
Tatsächlich war bis 1850 nicht bloß der versuchte, sondern auch der vollendete Selbstmord „strafbar“, insofern, als § 92 StGB 1803 II. Teil bestimmte, dass die Leiche des Selbstmörders außerhalb eines Friedhofes „verscharrt“ werden sollte. 37
Vgl die „Referenten-Erinnerung“ vom 11. 2. 1850 in AVA Justizministerium (Karton 1051/45), sowie HOEGEL, Geschichte 95; OLECHOWSKI, Preßrecht 335.
38
* Bielitz-Biala [Bielsko-Biała] 12. 6. 1806, † Wien 16. 2. 1875; Sohn des oben erwähnten CARL VON PRATOBEVERA, 1842–48 Bundestagsgesandter in Frankfurt, 1861/62 Justizminister; vgl BRIGITTE BÖCK in Österreichisches Biographisches Lexikon (ÖBL) VIII (Wien 1983) 246 f. 39
* Wien 1817, † ebenda 17. 1. 1855, Abgeordneter in der Paulskirchenversammlung und Hauptredaktor der oben (Anm 17) genannten StPO 1850; vgl über ihn FRIEDRICH HARTL, Joseph von Würth, in: BRAUNEDER, Juristen 165–169. 40
* Nagy Károly 24. 3. 1788, † 4. 3. 1850, ab 1827 Professor des ungarischen Zivilund Strafrechts an der Universität Pest; vgl über ihn CONSTANT VON WURZBACH, Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich IV (Wien 1858) 318. 41
* Novi Vinodolski 11. 8. 1814, † Agram [Zagreb] 4. 8. 1890, Advokat und Politiker, 1861–65 kroatisch-slawonischer Hofkanzler; vgl über ihn SLAVKO BATUŠIĆ, ÖBL VI (Wien 1975) 175 f. 42
Sohn des gleichnamigen siebenbürgischen Rechtsgelehrten (1766–1836), Stuhlrichter am sächsischen Stuhlgericht zu Hermannstadt [Sibiu], wird 1856 als Rat des Ober43
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In einem „Promemoria“ entwickelte Hye drei mögliche Wege, die die Kommission gehen könne: „1. die unveränderte Annahme des materiellen Teiles des österreichischen Strafgesetzes und seiner gesetzlichen Nachträge, die an passender Stelle einzuschalten wären; 2. die Revision des Gesetzes mit der Notwendigkeit, dasselbe sodann auch im bisherigen Geltungsgebiete neu kundzumachen; 3. eine gänzliche Umarbeitung, welche der Verfassung eines neuen Gesetzes gleichkäme.“44 Auf Antrag Pratobeveras entschied sich Schmerling am 26. Jänner 1850 für die erste Variante. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass Hye hingegen einer Totalrevision des Strafrechts den Vorzug gegeben hätte; er selbst meinte später sogar, dass dies der leichtere Weg gewesen wäre, da man an verschiedenen in der Zwischenzeit erlassenen deutschen Strafgesetzbüchern, insbesondere „an dem in vielen Beziehungen so trefflichen neuesten Strafcodex für die k. preußischen Staaten vom 14. April 1851 so ausgezeichnete Vorbilder gefunden hätte.“45 Doch hätte die Ausarbeitung eines neuen Gesetzes nur neue Diskussionen und Verzögerungen bewirkt, wo doch die Schaffung von Rechtseinheit und Rechtssicherheit vordringlich erschienen, sodass man „über dem angestrebten (überdieß denn doch auch noch problematischen) entfernteren Besseren nur zu leicht wieder das nahe liegende Gute eingebüßt, daß man Zeit, und damit in unseren Tagen und Verhältnissen vielleicht wieder – Alles verloren hätte.“46 Am 9. Februar berichtete Schmerling im Ministerrat, dass er „mit ungrischen Justizministermännern“ (?)47 vereinbart hätte, das StGB 1803 „nach dem Stande, in welchem es faktisch gilt“, also „samt den durch die Novellen bewirkten Modifikationen“, auch in Ungarn einzuführen und daher eine entsprechende „Zu-
landesgerichtes für Siebenbürgen zu Hermannstadt und als Mitglied der Grundentlastungskommission genannt; vgl die Hinweise bei WURZBACH, Biographisches Lexikon XXXI (Wien 1876) 278; Hof- und Staats-Handbuch des österreichischen Kaiserthumes I (Wien 1848) 459; Hof- und Staatshandbuch für das Jahr 1856, Teil V (Wien 1856) 22. Zit n HOEGEL, Geschichte 95 f. Das Dokument konnte im AVA nicht gefunden werden. 44
45
HYE, Strafgesetz 8. Vgl zu diesen Gesetzen VORMBAUM, Strafrechtsgeschichte 76 f.
46
HYE, Strafgesetz 8.
Da es zu jener Zeit kein ungarisches Justizministerium mehr gab, ist der Sinn dieser Bemerkung unklar. Möglicherweise waren die Kommissionsmitglieder FRANK, MAŽURÁNIĆ und SCHREIBER gemeint. 47
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sammenstellung“ in Auftrag gegeben habe.48 Man gab sich der Hoffnung hin, dass ein altes, „im heimischen Rechtsleben tief gewurzeltes Gesetzbuch“ in Ungarn leichter auf Akzeptanz stoßen würde, zumal ja Österreich und Ungarn seit Jahrhunderten unter einem gemeinsamen Landesfürsten stünden49 – eine Hoffnung, die, wie die spätere politische Entwicklung zeigen sollte, sich schon bald zerschlug. Rückblickend erzählte Hye, dass ursprünglich allein beabsichtigt war, das StGB 1803 samt „Novellen“ in den „ehemals s.g. ungarischen Ländern [sic!] ... einführen, ... erst später erkannte man es für zweckmäßig, eben diese ergänzte Ausgabe des Strafgesetzes auch für diejenigen Kronländer als neues Gesetz zu erlassen, in welchen bisher schon das St.G.B. vom Jahre 1803 gegolten hatte; – und in einem weiteren Berathungs-Stadium trat endlich auch noch das Bedürfniß hinzu, diese revidirte Ausgabe des alten Strafgesetzes in vielen Stellen abzuändern, zu reformiren und zu ergänzen“.50 Ob dabei auf die Arbeiten der vormärzlichen Gesetzgebungskommission zurückgegriffen wurde, oder ob diese nur, wie es Adolph von Pratobevera einmal formuliert hatte „für die Würmer der Registratur hinterlegt“ worden waren, ist unklar. Hye bezeichnete diese „Operate“ als „einen Schatz von Wissen, Umsicht, Fleiß, Erfahrung und Scharfsinn, der wahrhaftig mehr verdiente als – in Archiven zu schlummern“51 – was eher für Zweiteres spricht. Bereits im Sommer 1850 wurde ein erster Entwurf für dieses neue Strafgesetzbuch fertiggestellt52 und ebenso ein Entwurf für einen Vortrag, mit dem der Justizminister dem Kaiser gegenüber das neue Gesetz erläutern sollte.53 Es Ministerrat vom 9. 2. 1850, in: THOMAS KLETEČKA / ANATOL SCHMIEDKOWARZIK (Bearb), Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, Bd II/2 (Wien 2005) 112. Vgl auch ALBRECHT FRIEDRICH BERNER, Die Strafgesetzgebung in Deutschland vom Jahre 1751 bis zur Gegenwart (Leipzig 1867, Neudruck Aalen 1978) 275. 48
49
HYE, Strafgesetz 9.
ANTON HYE VON GLUNEK, Die leitenden Grundsätze der österreichischen Strafproceßordnung vom 29. Juli 1853 (Wien 1854) XII. 50
51
Beides zitiert nach NESCHWARA, „Eine herrliche Trias“ 611.
52
AVA JM 10944/1850, Karton 1051, 52.
Eine gedruckte – offenbar für das Beilagen-Heft zum RGBl bestimmte – Fassung dieses Vortrages findet sich in AVA JM, Karton 1052. Er ist mit 24. 8. 1850 datiert, wurde aber nicht gehalten; vielmehr fanden am 3. 7. und am 24. 9. Besprechungen im Ministerrat über Details des Entwurf statt, letztere in Anwesenheit des Kaisers: Vgl THOMAS KLETEČKA / ANATOL SCHMIED-KOWARZIK (Bearb), Die Protokolle des 53
Zur Entstehung des österreichischen Strafgesetzes 1852
331
ist dieser Vortrag auch aus verfassungsgeschichtlicher Sicht nicht uninteressant, weil Schmerling hier zunächst darauf verwies, dass die Erlassung eines solch wichtigen Gesetzes eigentlich Aufgabe des verfassungsmäßigen Organes, nämlich des Reichstages sei. (Dieser aber war seit Oktroyierung der Verfassung eineinhalb Jahre zuvor noch nie einberufen worden!) Es sei aber notwendig, noch vor Einberufung des Reichstages ein Provisorium zu schaffen: Zum einen, weil für die Länder, in denen das StGB 1803 nicht gelte, das Strafrecht aus Statuten und Gewohnheiten bestehe, die „allesamt zum großen Theile den Charakter vager Unbestimmtheit an sich tragen“, zum anderen, weil auch das StGB 1803 so zahlreiche Novellen erlebt habe, „deren Uebersicht aus vielen einzelnen Verordnungen um so schwerer zu erlangen ist, als insbesondere in Beziehung auf den zweiten Theil, der von den bisher sogenannten schweren Polizei-Uebertretungen und deren Bestrafung handelt, die einander hie und da widersprechenden Weisungen der ehemaligen Hof- und Länderstellen manchmal nicht mit voller Zuverlässigkeit bestimmen lassen, was denn als der wirklich geltende Sinn der erläuterten Gesetzesstellen anzusehen sei. Die Gewißheit des Rechtes, so wie die Leichtigkeit der Uebersicht und Zugänglichkeit der Gesetzes-Erkenntniß fordern daher gleichmäßig die Zusammenstellung der bestehenden Strafgesetze in einer authentischen Publication.“ Als Datum für das Inkrafttreten war im Entwurf der 1. Jänner 1851 vorgesehen. Doch das Jahr 1850 verstrich, ohne dass der Entwurf die kaiserliche Sanktion erhielt. Der Grund dafür dürfte vermutlich darin liegen, dass die bevorstehenden staatsrechtlichen Veränderungen der Monarchie bereits jetzt ihre Schatten voraus warfen: Denn die Reform des Strafgesetzbuches konnte nicht ohne Auswirkungen auf die strafrechtlichen Nebengesetze, wie insbesondere das Preßgesetz vom 13. März 1849 und das Vereins- und Versammlungsgesetz vom 17. März 1849 bleiben, welche beide einen evident politischen Charakter trugen. Es war zunächst geplant gewesen, diese beiden Gesetze unverändert bestehen zu lassen; dies hätte jedoch zu Schwierigkeiten geführt:54 Wenn zB ein Nichtmitglied eines Vereins bei einer unerlaubten Zusammenkunft anwesend war, so war dies nicht nach dem Vereinsgesetz, sondern nach dem StGB 1803 zu bestrafen. Wenn das neue Kundmachungspatent zum StG aber ausdrücklich das Assoziationsrecht ausschloss, dann hätte dies unter Umständen zur Straflosigkeit der genannten Delikte geführt. Österreichischen Ministerrates 1848–1867, Bd II/3 (Wien 2006) 120, 293. Insofern missverständlich daher BERNER, Strafgesetzgebung 274. 54
OLECHOWSKI, Preßrecht 336.
332
THOMAS OLECHOWSKI
„Diesen allerdings fatalen Mängeln des neuen Associations-Gesetzes wird aber nach der von dem Comité einhellig getheilten Ansicht am einfachsten und zugleich ohne alles Aufsehen durch die Anwendbarkeit der in dem Strafgesetze über Verbrechen, Vergehen und Übertretungen vorkommenden allgemeinen Bestimmungen über Zurechnung und zumal über Mitschuld und Theilname .... auch auf das Associationsgesetz abgeholfen werden“, erklärte Hye am 26. Juli 1850 gegenüber dem Justizminister.55 Und „dasselbe Bedürfniß zeigt sich auch hinsichtlich des Preßgesetzes, in welchem absichtlich ebenfalls alle angedeuteten allgemeinen Imputations-Bestimmungen weggelassen würden, und doch dürfte es wichtig werden, diese und jene Grundsätze hierüber aus dem allgemeinen Strafgesetze auch auf Preßvergehen anwenden zu können.“ Es wurde daher beschlossen, auch die strafrechtlichen Bestimmungen des Preßgesetzes und des Vereinsgesetzes in das neue StG zu integrieren; jene wurden tiefgreifend novelliert und erhielten, da sie keinen justizrechtlichen Charakter mehr trugen, sondern nur mehr das „Technische, Disciplinäre und Polizeiliche“ nicht mehr die Bezeichnung „Preßgesetz“ und „Vereinsgesetz“, sondern „Preßordnung“ bzw „Vereinspatent“.56 Am 21. Februar 1851 konnte Hye dem neuen Justizminister Karl Krauß einen neuen Entwurf vorlegen, der insbesondere um preßrechtliche Bestimmungen ergänzt worden war.57 Bemerkenswert ist dabei, dass die Preßordnung selbst nicht im Justiz-, sondern im Innenministerium erstellt wurde, woraus sich einige „Disharmonien“ ergaben, wie insbesondere hinsichtlich der Höhe der Strafen, die erst durch einen Briefwechsel zwischen Justizminister Krauß und Innenminister Alexander Bach im Juni 1851 in Einklang gebracht werden konnten.58 Beide Entwürfe wurden sodann vom Ministerrat dem Reichsrat übermittelt. Es handelte sich bei diesem Organ damals nicht etwa um ein Parlament, sondern um ein Gremium mit vom Kaiser ernannten Mitgliedern, das sowohl den Monarchen als auch die Regierung59 zu beraten hatte; für die Strafrechts-
55
AVA JM 10129/1850, Karton 1051/48.
56
HYE, Strafgesetz 12.
57
AVA JM 2172/1851, Karton 1051/64.
AVA JM 7522/1851, Karton 1051/68; AVA MdI Präs 3062/1851, Karton 596. Vgl dazu auch HOEGEL, Geschichte 96. 58
Mit ah Cabinetschreiben 20. 8. 1851 RGBl 196, einem der oben genannten „Augusterlässe“, wurde der Reichsrat von seiner Bindung an den Ministerrat gelöst und zu einem alleinigen Rat der Krone umfunktioniert. 59
Zur Entstehung des österreichischen Strafgesetzes 1852
333
reform war er mit zusätzlichen Teilnehmern, nämlich mit Mitgliedern des Obersten Gerichtshofes, verstärkt worden.60 Die Beratungen konnten im August 1851 abgeschlossen werden; erst am 22. Oktober erstattete Reichsratspräsident Carl Friedrich Kübeck von Kübau seinen Bericht an den Kaiser. Doch noch immer verweigerte dieser seine Sanktion; offenbar ging vom Ministerrat ein starker Widerstand gegen die Abänderungsvorschläge des Reichsrats aus. Der Kaiser trug daher dem Reichsratspräsidenten auf, ein „gemischtes Minister- und Reichsraths-Comité“ zu bilden, welches die „obwaltenden Differenzen“ beseitigen und zugleich die Auswirkungen der Strafrechtsänderungen auf das Strafprozessrecht berücksichtigen sollte.61
IV. Zu dieser Zeit, 1851, existierte schon seit zwei Jahren in keinem Teil der Habsburgermonarchie mehr ein Parlament; dennoch war Österreich formell noch immer eine konstitutionelle Monarchie. Die Realität war vielfach von Militärdiktatur geprägt, die überall dort herrschte, wo der „Belagerungszustand“ (Ausnahmezustand) ausgerufen worden war – und dies waren unter anderem alle großen Städte der Monarchie, wie etwa Wien, Buda-Pest, Mailand, Venedig, Prag, Lemberg und Krakau. Dieser Hintergrund ist im Auge zu behalten, um den Staatsstreich des Jahres 1851 richtig verstehen zu können: Das scheinkonstitutionelle System, das seit 1849 bestand, konnte nicht auf Dauer aufrecht gehalten werden. Der erste, vorbereitende Schritt zum Staatsstreich bestand in einer preßrechtlichen Verordnung, mit der der Innenminister die Macht bekam, jede Zeitung, die eine oppositionelle Blattlinie verfolgte, behördlich einzustellen.62 In
Es handelte sich um die Hofräte BAGHY, CONRAD, HAIMBERGER, MIXICH und SZARKA; vgl HOEGEL, Geschichte 96. Die Verstärkung des Reichsrates mit „zeitlichen Teilnehmern“ war in § 16 des Reichsrats-Statuts (RGBl 1851/92) ausdrücklich vorgesehen, sie ist streng zu unterscheiden von der Verstärkung des Reichsrates durch „außerordentliche Reichsräthe“, wie sie mit dem ks Pat 5. 3. 1860 RGBl 24 erfolgte.
60
61
OLECHOWSKI, Preßrecht 352.
Ks VO 6. 7. 1851 RGBl 163 womit provisorisch mehrere Bestimmungen bezüglich der inländischen periodischen, und der ausländischen Druckschriften angeordnet werden. Vgl dazu OLECHOWSKI, Preßrecht 344 ff, 402 ff; DERSELBE, Zensur und Presserecht in der Habsburgermonarchie zur Zeit des Neoabsolutismus, in: KAREL SCHELLE / LADISLAV VOJÁČEK (Hrsg), Stát a právo v letech 1848-1918 ve středoev62
334
THOMAS OLECHOWSKI
der Praxis bedurfte es nur weniger derartiger Einstellungen, um die übrigen Zeitungen entweder auf Kurs zu bringen oder dazu, dass sie ihr Erscheinen von sich aus einstellten. In einem zweiten Schritt wurden dann mit den sog Augusterlässen, mehreren kaiserlichen Handschreiben vom 20. August 1851, einige zentrale Bestimmungen der Verfassung, wie etwa die Ministerverantwortlichkeit, beseitigt und die Weitergeltung der Verfassung selbst überhaupt in Frage gestellt. Der dritte und schwerste Eingriff erfolgte dann am letzten Tag des Jahres, mit den beiden Silvesterpatenten, die die Verfassung und das sie ergänzende Grundrechtspatent aufhoben.63 Eine neue Verfassung trat nicht an ihre Stelle; vielmehr übermittelte der Kaiser dem Ministerpräsidenten ein „Cabinetschreiben“, das „Grundsätze“ einer künftigen Organisation des Staates enthielt.64 Dieses sah zwar noch ständische Vertretungen vor, die aber bis 1860 nicht verwirklicht wurde; die Realität ab dem Jahr 1852 war die eines Neoabsolutismus.65 Dafür konnte der Belagerungszustand überall in der Monarchie zwischen 1853 und 1854 wieder aufgehoben werden.66 Punkt 33 der „Grundsätze“ befestigte und bekräftigte das zentralistische Prinzip, das Franz Joseph schon seit seiner Thronbesteigung verfochten hatte:67 „Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch soll als das gemeinsame Recht für alle Angehörige des österreichischen Staates auch in jenen Ländern, in welchen es dermalen noch nicht Geltung hat [...], eingeführt, und ebenso das Strafgesetz für den ganzen Umfang des Reiches in Wirksamkeit gesetzt werden.“ Vor diesem veränderten verfassungsrechtlichen Hintergrund nahm das „gemischte Minister- und Reichsraths-Comité“ im Februar 1852 seine Arbeit auf;68 es bestand aus Innenminister Bach und Justizminister Krauß einerseits,
ropském kontextu [Staat und Recht von 1848 bis 1918 im mitteleuropäischen Kontext] (Bratislava 2007) 172–178, hier 175 f. Die Aufhebung der Reichsverfassung erfolgte durch das ks Pat 31. 12. 1851 RGBl 1852/2, des Grundrechtspatentes durch das ks Pat 31. 12. 1851 RGBl 1852/3. 63
Ah Cabinetschreiben 31. 12. 1851 RGBl 1852/4 – oft, aber unrichtigerweise, als „drittes Silvesterpatent“ bezeichnet. 64
Besonders deutlich wird dies in der Rede des Kaisers in der Ministerratssitzung vom 14. 4. 1852, in: WALTRAUD HEINDL (Bearb), Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, Bd III/1 (Wien 1975) 2.
65
66
Nachweise bei OLECHOWSKI, Preßrecht 364.
67
OGRIS, Rechtseinheit und Staatsidee 56.
68
AVA JM 7570/1851, Karton 1051/68 ½.
Zur Entstehung des österreichischen Strafgesetzes 1852
335
den Reichsräten Franz Freiherr Krieg von Krieg, Anton(io) Freiherr von Salvotti und Anton Freiherr von Haimberger andererseits.69 Das Ergebnis dieser Beratungen waren sieben Gesetzesentwürfe: die Neuausgabe des StGB 1803; ein Einführungspatent zu demselben;70 vier kaiserliche Verordnungen, die die Gerichtszuständigkeiten innerhalb und außerhalb des Geltungsbereichs der (nur für Cisleithanien ergangenen) StPO 1850 an das neue materielle Strafrecht anpassten;71 schließlich die Preßordnung.72 Verworfen wurde hingegen der Entwurf einer Verordnung, die für das Strafverfahren in Preßsachen Sonderbestimmungen, va hinsichtlich der Beschlagnahme, enthalten hätte. Besonders beachtenswert ist aber auch, dass bereits im Reichsrat, also im Sommer 1851, ein Entwurf verworfen wurde, mit der die Zuständigkeit in Hochverratsprozessen geregelt wurde: für dieses wäre nämlich laut Reichsverfassung 1849 das – bis dahin nur auf dem Papier bestehende – Oberste Reichsgericht zuständig gewesen. Noch bevor also die Reichsverfassung formell aufgehoben wurde, bestand im Reichsrat offenbar kein Zweifel darüber, dass dieses Organ niemals ins Leben treten würde. Am 16. März konnten die Beratungen im Gemischten Komitee zum Abschluss gebracht werden, und Hye wurde beauftragt, die letzten redaktionelAlle genannten Personen waren auch Mitglieder einer am 10. 4. 1852 eingerichteten Kommission zur Reform der Gerichtsorganisation: Vgl dazu ausführlich GERALD KOHL, Die Anfänge der modernen Gerichtsorganisation in Niederösterreich. Verlauf und Bedeutung der Organisierungsarbeiten 1849–1854 (= Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 33, St. Pölten 2000) bes 44 ff, dort auch biographische Angaben zu den Genannten. 69
Vgl das Ks Pat 27. 5. 1852 RGBl 117 wodurch eine neue, durch die späteren Gesetze ergänzte, Ausgabe des Strafgesetzbuches über Verbrechen und schwere PolizeiUebertretungen vom 3. September 1803, mit Ausnahme mehrerer neuer Bestimmungen, als alleiniges Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen für den ganzen Umfang des Reiches, mit Ausnahme der Militärgränze, kundgemacht, und vom 1. September 1852 angefangen in Wirksamkeit gesetzt wird. 70
Mit den beiden VO 27. 5. 1852 RGBl 118 und 120 wurden kompetenzrechtliche Regelungen für die cisleithanischen bzw transleithanischen Strafgerichte getroffen; mit den beiden Verordnungen 27. 5. 1852 RGBl 119 und 121 wurden spezielle kompetenzrechtliche Regelungen hinsichtlich des Hochverrates und der Majestätsbeleidigung getroffen, die mit der Neufassung dieser Bestimmungen im StG 1852 im Zusammenhang standen; vgl hiezu DANIEL FLEISSNER, Die rechtshistorische Entwicklung des crimen laesae maiestatis mit einem Ausblick auf seine Nachwirkungen im geltenden österreichischen Strafrecht (jur Diss Wien 2008) 286 f. 71
72
Ks Pat 27. 5. 1852 RGBl 122.
336
THOMAS OLECHOWSKI
len Änderungen vorzunehmen, was innerhalb einer Woche erfolgte.73 Nochmals ergab sich eine Verzögerung infolge des plötzlichen Todes des Ministerpräsidenten Felix Fürst Schwarzenberg und die darauf erfolgenden Veränderungen im Ministerrat;74 doch am 27. Mai 1852 erfolgte endlich die kaiserliche Sanktion.
V. Das neue Strafgesetz trat am 1. September 1852 in Kraft, und zwar, wie es im Kundmachungspatent hieß, „sowohl in jenen Kronländern, in welchen bisher das Strafgesetzbuch vom 3. September 1803 in Rechtskraft stand, als auch in den Königreichen Ungarn, Croatien, Slavonien mit dem croatischen Küstenlande, dem Großfürstenthume Siebenbürgen, der Woiwodschaft Serbien, dem Temeser Banate und dem Großherzogthume Krakau“. Ausgenommen waren lediglich das Militär sowie das Militärgrenzgebiet.75 Es brachte somit für ein Gebiet von mehr als 670.000 km2 Fläche mit mehr als 37 Millionen Einwohnern eine noch nie dagewesene Rechtseinheit auf dem Gebiet des Strafrechtes.76 Das StG wurde im Kundmachungspatent zwar nur als „eine neue, durch die späteren Gesetze ergänzte Ausgabe“ des StGB 1803 bezeichnet. Dies soll aber 73
AVA JM I-K I/1, P 69, Karton 1052.
Der Tod des Ministerpräsidenten hatte eine größere Regierungsumbildung zur Folge, insbesondere wurde die Leitung der Polizei aus dem Wirkungskreis des Innenministeriums ausgeschieden, woraus sich eine Reihe von Zuständigkeitsproblemen ergaben, die vom Kaiser persönlich gelöst wurden, vgl dazu OLECHOWSKI, Preßrecht 353–355. 74
Für diese erging das Militär-Strafgesetzbuch (ks Pat 15. 1. 1855 RGBl 19), bei welchem es sich um eine Überarbeitung des StG 1852 und Ergänzung desselben um spezifische Militärverbrechen handelte. Vgl hiezu MATHIAS PREUSCHL, Österreichische Militärstrafgerichtsbarkeit 1914 bis 1918. Rechtliche Grundlagen und Judikatur (jur Diss Wien 1999). 75
Diese Rechtsvereinheitlichung fand ihre Ergänzung im Zivilrecht durch die Ausdehnung des Geltungsbereichs des ABGB mit dem Ks Pat 29. 11. 1852 RGBl 246; vgl dazu CHRISTIAN NESCHWARA, Die Geltung des Österreichischen ABGB in Ungarn und seinen Nebenländern von 1853 bis 1861, ZRG GA 126 (1996) 362–376; JÜRGEN BUSCH / ALEXANDER BESENBÖCK, Von Mailand bis Czernowitz. Die Einführung des österreichischen ABGB, Gesamtstaatsidee und nationaler Partikularismus, in: ANDREAS BAUER / KARL H. L. WELKER (Hrsg), Europa und seine Regionen. 2000 Jahre Rechtsgeschichte (Köln/Weimar/Wien 2007) 535–597, hier 568. 76
Zur Entstehung des österreichischen Strafgesetzes 1852
337
nicht darüber hinwegtäuschen, dass doch auch einige bedeutende Neuerungen erfolgten. So wurde die Notwehr, die bis dahin lediglich als Rechtfertigungsgrund bei Mord und Totschlag galt (§ 127 StGB 1803 I. Teil), in den Allgemeinen Teil des Strafgesetzes gezogen und so für sämtliche Delikte relevant.77 Eine zweite wichtige Neuerung war die Strafbarkeit der versuchten Anstiftung, während bisher nur die Anstiftung zum versuchten Delikt strafbar war. Das Fehlen einer derartigen Bestimmung hatte in Literatur und Rechtsprechung zu sehr verschiedenartigen Ansichten geführt, die nun einer eindeutigen Lösung zugeführt wurden.78 Im Besonderen Teil waren vor allem die politischen Delikte völlig neu strukturiert worden. So wurde insbesondere der Tatbestand des Hochverrates neu gefasst und erweitert, zugleich aber bestimmt, dass gewisse Begehungsformen, wie insbesondere die Aneiferung zum Hochverrat durch die Presse, nicht mit dem Tode, sondern mit schwerem Kerker zwischen zehn und zwanzig Jahren zu bestrafen seien.79 Mehrere Tatbestände wurden exakter formuliert, so etwa beim Mord80 oder auch beim Amtsdelikt.81 Auch der Begriff des Beamten wurde nunmehr definiert: Als solcher war „derjenige anzusehen, welcher vermöge unmittelbaren oder mittelbaren öffentlichen Auftrages, mit oder ohne Beeidigung, Geschäfte der Regierung zu besorgen verpflichtet ist.“82 Die schon erwähnten technischen Veränderungen des 19. Jahrhunderts machten sich im StG durch neuartige Delikte wie „Beschädigung an Eisenbahnen, diese mögen mit oder ohne Dampfkraft betrieben werden“ oder „Beschädigung des Staats-Telegraphen“ bemerkbar.83 77
HYE, Strafgesetz 191.
78
Hye, Strafgesetz 334 ff.
§§ 58 f StG; BERNER, Strafgesetzgebung 286 f; FLEISSNER, crimen laesae maiestatis 238 f.
79
Des Mordes schuldig war nun auch jene Person, die einer anderen eine Verletzung zufügte, die zwar nicht notwendigerweise (so noch § 117 StGB 1803), aber aufgrund der „persönlichen Beschaffenheit des Verletzten“ zu dessen Tod führte; vgl § 134 StG 1852 und dazu ALTMANN/JACOB, Kommentar 358 f; OGRIS, Entwicklung 72. 80
Hier wurde nunmehr zwischen schwereren (§ 105 StG 1852) und minder schweren Begehungsformen (§ 311 StG 1852) unterschieden, vgl dazu WILHELM BRANDSTÄTTER, Die Entwicklung der Amtsdelikte unter besonderer Berücksichtigung der Reformversuche des Strafrechts (jur Diss Wien 1995) 98 f. 81
82
§ 101 StG 1852. Vgl dazu auch den Beitrag von MAYER in diesem Band.
§§ 85, 89 StG 1852; OGRIS, Entwicklung 72. – Bei „Eisenbahnen ohne Dampfkraft“ war wohl kaum an eine elektrische Eisenbahn (die zwar im Prinzip schon erfunden 83
338
THOMAS OLECHOWSKI
In vielen Fällen wurde der Strafrahmen gesenkt, teils auch Vergehen zu Übertretungen erklärt, womit ebenfalls eine Milderung des Strafensystems verbunden war. Der Anwendungsbereich der Todesstrafe wurde erheblich eingeschränkt, abgesehen von den eben erwähnten „entfernteren Mitwirkungsarten bei dem Verbrechen des Hochverrats“ waren nun auch weder die „Verfälschung der öffentlichen Creditpapiere“84 noch die wiederholten Brandlegung mit der Höchststrafe bedroht, wie es noch 1803 erfolgt war; vielmehr drohten schwere Kerkerstrafen.85 – In einigen Bereichen erfolgte aber auch eine Verschärfung der Strafbestimmungen, so etwa bei der öffentlichen Gewalttätigkeit,86 oder bei der „Notzucht wider die Natur“, also der – in einem einzigen Paragraphen gemeinsam behandelten! – Homosexualität und Sodomie.87 Ein einheitliches Konzept, weshalb bestimmte Strafen verschärft, andere gemildert wurden, ist nicht erkennbar. Im Gegensatz zum StGB 1803 enthielt das Strafgesetz 1852 nur mehr materielles Strafrecht; für das Verfahrensrecht wurde 1853 eine neue StPO für das gesamte Reich erlassen,88 die zumeist Hye zugeschrieben wird, welcher sich allerdings selbst von dieser zweifelhaften Ehre distanzierte und erklärte, dass dieses Gesetz „nur der getreue Ausfluß gegebener Grundsätze“ sei, welche „der höchste Gesetzgeber Selbst mit seinen eigensten a.h. Beschlüssen vom
war, deren kommerzieller Einsatz aber erst in den 1880er Jahren begann), sondern eher an von Pferden gezogene Schienenwagen gedacht worden. Vgl dazu schon die Diskussion im Ministerrat vom 11. 1. 1850, in: Protokolle II/2, 17. 84
Geradezu makaber mutet es an, wenn sich HYE, Strafgesetz 365, kritisch über die in Österreich traditionelle Hinrichtungsart des Stranges äußert und meint, dass die Tötung durch das Fallbeil seiner Ansicht nach die „sicherste, schleunigste und möglichst schmerzlose“ Methode und daher empfehlenswert sei. Tatsächlich hat sein eigener, erster Entwurf (vgl oben Anm 52) noch diese Hinrichtungsmethode vorgesehen gehabt, doch konnte sich Hye mit diesem Reformanliegen offenbar nicht durchsetzen. 85
Sie war in § 71 StGB 1803 I. Teil mit schwerem Kerker von sechs Monaten bis zu einem Jahr, bei erschwerenden Umständen bis zu fünf Jahren bedroht (die ebenda angeordnete Arbeitsstrafe war mit dem genannten ks Pat RGBl 1850/24 beseitigt worden); nach § 77 StG 1852 betrug die Strafe nunmehr schwerer Kerker von einem bis zu fünf Jahren, bei erschwerenden Umständen bis zu zehn Jahren. 86
Die Strafe betrug nach § 114 StGB 1803 I. Teil Kerker zwischen sechs Monaten und einem Jahr, nach § 130 StG 1852 schwerer Kerker von einem bis zu fünf Jahren. 87
88
Als Anlage zum ks Pat 29. 7. 1853 RGBl 151.
Zur Entstehung des österreichischen Strafgesetzes 1852
339
31. December 1851 maßgebend für das künftige Strafproceß-Gesetz vorgezeichnet hatte“.89 Tatsächlich hatte der Kaiser zeitgleich mit den Silvesterpatenten ein Kabinettschreiben an den Ministerpräsidenten gerichtet, das „Grundsätze für organische Einrichtungen in den Kronländern des österreichischen Kaiserstaates“ enthielt und insbesondere auch zum Strafverfahrensrecht eine Reihe wichtiger Veränderungen, wie etwa die Aufhebung der Geschworenengerichtsbarkeit, aber auch in gewissem Rahmen die Wiedereinführung des „inquisitorische[n] Verfahren[s] in möglichst einfacher Form“ angeordnet hatte.90 Dementsprechend war die StPO 1853 eine geradezu abenteuerliche Mixtur aus der StPO 1850 und den verfahrensrechtlichen Bestimmungen des alten StGB 1803, auf das teilweise zurück gegriffen wurde. Insbesondere versuchte die StPO 1853, die alten Prinzipien des Inquisitionsprozesses in eine modern wirkende Form zu verpacken, indem zB die mündliche Hauptverhandlung und die Staatsanwaltschaft zwar beibehalten wurden, das Schwergewicht aber beim schriftlichen Vorverfahren lag, auf das sich auch das schriftliche Berufungsverfahren weitgehend stützte.91
VI. Weder das Strafgesetz 1852 noch die Strafprozessordnung 1853 waren moderne Gesetzbücher. In Ungarn stießen sie entgegen der geschilderten, zu optimistischen Erwartungen auf Ablehnung, was namentlich bei Reaktivierung der ungarischen Justizbehörden 1860 zu großen Schwierigkeiten führte, bis die ungarische Judex-Curial-Conferenz 1861 das StG 1852 und die StPO 1853 außer Kraft setzte und wieder das traditionelle ungarische Straf- und Strafprozessrechtrecht einführte. Mit den Gesetzesartikeln V: 1878 und XXXIII: 1896 gelang dann auch die Kodifikation des ungarischen Straf- und Strafprozessrechts.92 In Cisleithanien dagegen wurde zwar die StPO 1853 zwanzig Jahre nach ihrem Inkrafttreten von einer neuen Kodifikation abgelöst, die die endgültige Rückkehr zum Anklageprozess brachte.93 Eine Reform des materiellen Straf-
89
HYE, Strafproceßordnung XIII.
90
Vgl die Punkte 20–32 des Ah Cabinetschreibens vom 31. 12. 1851 RGBl 1852/4.
91
OGRIS, Entwicklung 62.
92
OLECHOWSKI, Deák; OGRIS, Rechtseinheit und Staatsidee 56 f.
93
StPO 23. 5. 1873 RGBl 119; vgl OGRIS, Entwicklung 62.
340
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rechtes dagegen wollte – trotz zahlreicher Anläufe – nicht gelingen.94 Gleiches gilt für Kroatien, das ebenfalls 1875 eine neue Strafprozessordnung erhielt, im Bereich des materiellen Strafrechtes jedoch am StG 1852 festhielt. So überdauerte das StG 1852 den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und wurde von den Nachfolgestaaten übernommen. Nur allmählich zerbrach der orbis iuris criminalis Austriacus.95 In den Gebieten, welche an das jugoslawische Königreich gefallen waren, trat das StG 1852 am 31. Dezember 1929 außer Kraft, in den nunmehr polnischen und rumänischen Territorien am 31. August 1932 bzw 31. Dezember 1936. In der Tschechoslowakei (wo das StG 1852 allerdings nur in den vormals cisleithanischen Gebieten galt) und in der Republik Österreich (wo seine Geltung 1922 auch auf das Burgenland erstreckt wurde96) wurde das StG 1852 während der gesamten Zwischenkriegszeit und sogar in der NS-Ära beibehalten.97 Erst das 1948 in der Tschechoslowakei zur Macht gekommene kommunistische Regime setzte mit 1. August 1950 ein neues Strafgesetzbuch in Kraft, womit die dortige Geltung des StG 1852 endete.98 1861 wurde ANTON HYE VON GLUNEK aufgefordert, ein völlig neues Strafgesetz zu schaffen. Sein 1863 erstellter Entwurf wurde nach mehreren Abänderungen 1867 als Regierungsvorlage ins Abgeordnetenhaus eingebracht, der Ausschussbericht (75 BlgAH 5. Sess) erfuhr aber wegen Neuwahlen keine Behandlung im Plenum mehr. In den folgenden Jahren sollten sich viele Justizminister um die Große Strafrechtsreform bemühen: So 1874 JULIUS GLASER, 1881 ALOIS PRAŽAK, 1889 und 1891 FRIEDRICH VON SCHÖNBORN. Ein besonders ambitionierter Reformversuch wurde 1896 unter Justizminister WENZEL VON GLEISPACH begonnen und mündete 1912 in einer Regierungsvorlage (90 BlgHH 21. Sess), der aber gleichfalls kein Erfolg beschieden war. Vgl dazu HOEGEL, Geschichte 99 ff; BRANDSTÄTTER, Amtsdelikte 103 ff; FLEISSNER, crimen laesae maiestatis 301 ff. 94
Vgl zum Folgenden HELMUT SLAPNICKA, Österreichs Recht außerhalb Österreichs. Der Untergang des österreichischen Rechtsraums (Wien 1973) 76. 95
96
§ 12 VO der BReg 10. 1. 1922 BGBl 18.
Auf die inhaltlichen Veränderungen nach 1918 kann hier nicht eingegangen werden. Vgl dazu hinsichtlich Österreichs: HERBERT LOEBENSTEIN, Die Entwicklung des Strafrechts und Strafprozeßrechts von 1918 bis zur Gegenwart, in MÁTHÉ / OGRIS, Strafrechtskodifikation 75–111, hinsichtlich der ČSR: KAREL SCHELLE / JAROMÍR TAUCHEN, Grundriss der Tschechoslowakischen Rechtsgeschichte (München 2009) bes 38, 73. 97
DAGMAR CÍSAŘOVÁ, Zur Entwicklung des Straf- und Strafverfahrensrechts auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik im Zeitraum von 1945–1989, in: HEINZ MOHNHAUPT / HANS-ANDREAS SCHÖNFELDT (Hrsg), Normdurchsetzung 98
Zur Entstehung des österreichischen Strafgesetzes 1852
341
Am längsten galt somit das StG 1852 (nach seiner Wiederverlautbarung:99 StG 1945) in der Republik Österreich, die sich aber gleichfalls um das Zustandekommen einer neuen Kodifikation bemühte. Unter Mitwirkung von Ferdinand Kadečka war 1927 ein gemeinsamer Entwurf zur Vereinheitlichung des Strafrechts in Deutschland und Österreich zustande gekommen, dem aufgrund der weiteren politischen Entwicklung kein Erfolg beschieden war. Nach dem Krieg wurden die Bemühungen um eine „Große Strafrechtsreform“ erst 1953 mit der Bildung einer neuen Strafrechtskommission wieder aufgenommen; in ihr führten zunächst Kadečka, dann Christian Broda den Vorsitz. Der aus ihren Arbeiten hervorgegangene Entwurf konnte 1968 im NR eingebracht werden.100 Aber erst der 1971 von Broda eingebrachten Regierungsvorlage101 war Erfolg beschieden. Der NR nahm das neue Strafgesetzbuch am 29. November 1973 und – aufgrund eines Einspruchs des Bundesrates – nochmals am 23. Jänner 1974 an, sodass es mit 1. Jänner 1975 in Kraft treten konnte und das alte, in seinem Kern auf das Jahr 1803 zurück gehende Strafgesetz endgültig der Vergangenheit angehörte.102 Die 1817 begonnene Große Strafrechtsreform war damit – nach mehr als eineinhalb Jahrhunderten – zu einem glücklichen Abschluss gekommen.
in Osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944–1989), Bd 4: Tschechoslowakei (= Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 107, Frankfurt aM 1998) 275–306. Infolge der Unabhängigkeitserklärung Österreichs 1945 wurde das StG 1852 gemäß § 2 G 12. 6. 1945 StGBl 25 über die Wiederherstellung des österreichischen Strafrechtes in der Amtlichen Sammlung wieder verlautbarter österreichischer Rechtsvorschriften (ASlg) unter Nr 2 neu kundgemacht. 99
100
706 BlgNR 11. GP.
101
30 BlgNR 13. GP.
BG 23. 1. 1974 BGBl 60 über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch – StGB). 102
Reichshofrat und Reichstage EVA ORTLIEB, Wien
Reichshofrat und Reichstag gehören zu den wichtigsten Institutionen, die das Heilige Römische Reich deutscher Nation in den letzten gut 300 Jahren seines Bestehens hervorgebracht hat. Während die Ständeversammlung bereits seit dem 19. Jahrhundert Gegenstand der Forschung und langfristig angelegter Editionsunternehmen ist,1 hat eine vergleichbare Entwicklung für das zugleich als kaiserlicher Rat fungierende Höchstgericht – trotz wichtiger Grundlagenarbeiten2 – erst in den 1990er Jahren eingesetzt. In einem mehrjährigen Projekt wurden die wichtigsten Findbehelfe zu den Prozessakten des Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv elektronisch erfasst.3 Eine auf diesen Daten beruhende Analyse der Prozessfrequenz, die auf die Laufzeitan-
Zu verweisen ist insbesondere auf die bei der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angesiedelte Reihe Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, sowie Deutsche Reichstagsakten, Reichsversammlungen 1556– 1662. Der erste Band der Jüngeren Reihe erschien 1893: [http://www. historischekommission-muenchen.de/seiten/projekte.html] (25. 6. 2010); vgl dazu ROSEMARIE AULINGER, Die Reichstage unter Karl V. (1521–1555). Das Forschungsprojekt „Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe“ der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften steht vor dem Abschluss, Akademie Aktuell (2008) Nr 2 34–37, elektronisch: [http://www.badw.de/aktuell/akademie_ aktuell/2008/heft2/10_Aulinger.pdf] (15. 6. 2010).
1
OSWALD VON GSCHLIESSER, Der Reichshofrat (= Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich 33, Wien 1942); WOLFGANG SELLERT, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (= Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 18, Aalen 1973). 2
ARTHUR STÖGMANN, Die Erschließung von Prozeßakten des Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 47 (1999) 249–265; GERT POLSTER, Die elektronische Erfassung des Wolfschen Repertoriums zu den Prozessakten des Reichshofrats im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, ebenda 51 (2004) 635–649.
3
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EVA ORTLIEB
gaben zu mehr als 20.000 Verfahren zurückgreifen konnte, kam zu einem Ergebnis, das sich in den von Generationen von Forscherinnen und Forschern gesichteten Reichstagsakten nicht gezeigt hatte. Zwischen 1519 und 1654 fallen im Hinblick auf die Tätigkeit des Reichshofrats fast alle Jahre, in denen Reichstage stattfanden, „durch einen deutlichen und auf dieses Jahr beschränkten Spitzenwert in der Frequenz auf [...]. Auch umgekehrt gilt, dass sich kaum ein Jahr einer kurzfristig erhöhten Prozessfrequenz ausmachen lässt, das kein Reichstagsjahr gewesen wäre. Die klassischen Reichstage und die Inanspruchnahme des Reichshofrats stehen eindeutig in Zusammenhang“.4 Ausgehend von diesem Befund untersucht der vorliegende Beitrag Wechselwirkungen zwischen Reichshofrat und Reichstagen. Die herangezogenen Quellen stammen aus der erwähnten Edition der Reichstagsakten (Jüngere Reihe und Reichsversammlungen 1556–1662), aus den Reichstagsakten der Reichskanzlei im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien sowie aus dem Archiv des Reichshofrats.5 Sie wurden überwiegend im Rahmen eines Projekts zur Formierungsphase des Reichshofrats (1519–1564) gesammelt, das Werner Ogris an der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften geleitet hat.6
I. Der Reichshofrat auf Reichstagen Der Reichshofrat ist in erster Linie als Höchstgericht des Reichs bekannt, das – im Gegensatz zu dem 1495 gegründeten Reichskammergericht – allein vom Kaiser besetzt und finanziert wurde. Als solches übte er eine mit dem
EVA ORTLIEB / GERT POLSTER, Die Prozessfrequenz am Reichshofrat (1519–1806), Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 26 (2004) 189–216, hier 204–206, 214, Zitat 205. Zur Rolle des Reichshofrats auf Reichstagen vgl auch STEFAN EHRENPREIS, Der Reichshofrat im System der Hofbehörden Kaiser Rudolfs II. (1576–1612), Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 45 (1997) 187–205, hier 195. 4
LEOPOLD AUER, Das Archiv des Reichshofrats und seine Bedeutung für die historische Forschung, in: BERNHARD DIESTELKAMP / INGRID SCHEURMANN (Hrsg), Friedenssicherung und Rechtsgewährung (Bonn/Wetzlar 1997) 117–130.
5
EVA ORTLIEB, Die Formierung des Reichshofrats (1519–1564). Ein Projekt der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in: ANJA AMEND ua (Hrsg), Gerichtslandschaft Altes Reich (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 52, Köln/Weimar/Wien 2007) 17–25. 6
Reichshofrat und Reichstage
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Reichskammergericht konkurrierende Jurisdiktion aus. In erster Instanz war er für Klagen gegen juristische und natürliche Personen, die Kaiser und Reich unmittelbar unterworfen waren, zuständig, in zweiter bzw letzter Instanz für Appellationen gegen Urteile der Obergerichte in den Reichsterritorien. Appellations- und Exemtionsprivilegien schränkten die Zuständigkeit beider Gerichte ein. Der Reichshofrat war darüber hinaus mit zahlreichen Aufgaben im Zusammenhang mit dem Reichslehenswesen und den kaiserlichen Gnadensachen – insbesondere die Bestätigung und Vergabe von Privilegien – betraut. Außerdem arbeitete er als kaiserlicher Rat, der das Reichsoberhaupt in reichspolitischen und reichsrechtlichen Fragen beriet.7 Mit seiner Entstehung als kaiserlicher Rat hängt die Tatsache zusammen, dass der Reichshofrat bis ins 18. Jahrhundert über keinen festen Sitz verfügte, sondern verpflichtet war, das Reichsoberhaupt auf seinen Reisen zu begleiten und ihm an seinem jeweiligen Aufenthaltsort zur Verfügung zu stehen.8 Das gilt auch für die Fahrten des Kaisers zu Reichsversammlungen. Wann immer der Kaiser einen Reichstag persönlich leitete, tagte auch der Reichshofrat in der Reichstagsstadt. Reichshofrat und Reichstage kamen dann direkt miteinander in Berührung. Eine solche Begegnung konnte allerdings nur zustande kommen, so lange die Reichstage in Form von für eine bestimmte Dauer zusammengerufenen, von vielen Reichsständen einschließlich des Reichsoberhaupts persönlich besuchten Versammlungen stattfanden – also in der Epoche der „klassischen“ Reichstage bis 1653/54. Auf dem Immerwährenden Kurzüberblicke: PETER MORAW, Reichshofrat, in: HRG1 IV 630–638; EVA ORTLIEB, Reichshofrat, in: FRIEDRICH JAEGER (Hrsg), Enzyklopädie der Neuzeit X (Stuttgart 2009) Sp 914–921; VOLKER PRESS, Der Reichshofrat im System des frühneuzeitlichen Reiches, in: FRIEDRICH BATTENBERG / FILIPPO RANIERI (Hrsg), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. FS für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag (Weimar/ Köln/Wien 1994) 349–363; WOLFGANG SELLERT, Der Reichshofrat, in: BERNHARD DIESTELKAMP (Hrsg), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der frühen Neuzeit (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 29, Köln/Weimar/Wien 1996) 15–44. 7
Der Präsident des Hofrats solle dafür sorgen, daß „an jedem ort, da wir ain zeitlang unser beharrlich leger haben, [...] zu halttung solches unsers hofraths [...] ein ehrlich zimmer und gemach verordtnet“: Reichshofratsordnung (RHRO) vom 3. 4. 1559, § 1; in: WOLFGANG SELLERT (Hrsg), Die Ordnungen des Reichshofrates 1550–1766, 2 Bde (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 8, Köln/Wien 1980–1990), Bd 1, 27–36, hier 29; alle Mitglieder des Reichshofrats sollen „unserem kays. hoff ie und allezeit, welcher orthen derselbig gehalten wirdt, nachfolgen“: RHRO vom 16. 3. 1654, Tit 1 § 4, in: ebenda Bd 2, 45–260, hier 62. 8
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EVA ORTLIEB
Reichstag ließ sich der Kaiser dagegen durch einen Prinzipalgesandten vertreten. Auch im 16. Jahrhundert gibt es eine Reihe von Reichstagen, die ohne Kaiser – und damit auch ohne die Anwesenheit des Reichshofrats in der Reichstagsstadt – stattfanden. Diese Reichstage (1522, 1522/23, 1524, 1526, 1529, 1542, 1543, 1555, 1556/57) bleiben im Folgenden unberücksichtigt. Mit dem Reichshofrat reisten auch die Reichskanzlei und zumindest Teile ihrer Registratur in die Reichstagsstadt, wo sie dem Reichshofrat zur Verfügung standen. Ein undatiertes Gutachten beziffert die für die Übersiedelung der „allernothwendigste[n] schrifften auß der kay(serlichen) reichshoff cantzley teutsch(er) und lat(einischer) registratur“ benötigte Kapazität auf 2 größere Schiffe bzw 24 schwere Wägen.9
II. Parteien vor dem Reichshofrat auf Reichstagen Die oben zitierte Analyse der Prozessfrequenz weist einen Zusammenhang zwischen der Inanspruchnahme des Reichshofrats und den Reichstagen nach, ohne damit zugleich eine Erklärung zu liefern. Eine Untersuchung der Herkunft der Personen, die den kaiserlichen Rat während der Reichstage anriefen, kann weitere Aufschlüsse geben. Als Grundlage dienen die Resolutionsprotokolle des Reichshofrats, die ab dem Jahr 1541 vorliegen.10 Allerdings können die überlieferten Aufzeichnungen für das 16. Jahrhundert keine Vollständigkeit beanspruchen. Während des Reichstags von 1544 kamen mit rund 35 % die meisten Antragsteller aus den rheinischen Reichs- und Ritterkreisen. Fast ein Viertel stammte aus den Schwäbischen Reichs- und Ritterkreisen, weniger als ein Fünftel aus den beiden Sächsischen Reichskreisen, gut 10 % aus den Fränkischen Reichs- und Ritterkreisen.11 Während der Versammlung von 1559 lag der Anteil der Antragsteller aus den rheinischen Kreisen dagegen bei weniger als 15 %, während 40 % den Schwäbischen Kreisen, weitere 10 % dem Bayerischen Reichskreis zugeordnet werden können. Antragsteller aus Franken
9
HHStA, RHR, VerfA, RK K 36, Nr 11.
BARBARA STAUDINGER, Die Resolutionsprotokolle des Reichshofrats, zeitenblicke 3 (2004) Nr 3, [http://www.zeitenblicke.de/2004/03/staudinger/index.html] (25. 6. 2010). Die Überlieferung im Archiv des Reichshofrats beginnt mit dem Jahr 1544. Protokollarische Aufzeichnungen aus dem Jahr 1541 haben sich in den Reichstagsakten der Reichskanzlei überliefert, in: HHStA, RK, RTA 7 Fasz VII.
10
11
In etwa einem Drittel der Fälle ist eine territoriale Zuordnung nicht möglich.
Reichshofrat und Reichstage
347
waren mit knapp 20 %, solche aus den sächsischen Kreisen mit weniger als 10 % vertreten.12 Die Analyse bestätigt die unterschiedliche Präsenz des Kaisers und seines Reichshofrats in verschiedenen Regionen. Der Schwerpunkt der reichshofrätlichen Tätigkeit lag im traditionell „königsnahen“ Westen und Südwesten des Reichs.13 Im vorliegenden Zusammenhang interessieren vor allem die unterschiedlichen Ergebnisse für das Rheingebiet sowie Schwaben und Bayern. Sie lassen sich mit dem Tagungsort der betreffenden Reichstage in Verbindung bringen. Während die Versammlung 1544 in der oberrheinischen Reichsstadt Speyer stattfand, tagten die Stände 1559 im schwäbischen Augsburg an der Grenze zu Bayern. Aus den Zahlen lässt sich schließen, dass die relative geographische Nähe des Kaisers und seines Reichshofrats Parteien in der Umgebung der Reichstagsstadt dazu animierte, ihre Bitten und Beschwerden dort vorzubringen, und damit zur erhöhten Inanspruchnahme des Rats während der Reichstage beitrug. Eine Bestätigung findet dieser Befund in den Akten der betreffenden Vorgänge. In Einzelfällen wurden beispielsweise Begnadigungen erst Jahre nach dem der Verurteilung zugrunde liegenden Ereignis beantragt – genau dann, wenn sich der Kaiser und sein Reichshofrat auf einer Reichsversammlung in der Nähe aufhielten.14
12
Keine Angabe: 15 %.
EVA ORTLIEB, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657) (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 38, Köln/Weimar/ Wien 2001) 68–71; SABINE ULLMANN, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576) (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte 214, Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 18, Mainz 2006) 53–56. Die Unterscheidung in königsnahe und königsferne Zonen des Reichs wurde von Peter Moraw für das Spätmittelalter entwickelt, zB: PETER MORAW, Organisation und Funktion von Verwaltung im ausgehenden Mittelalter (ca. 1350– 1500), in: KURT G. A. JESERICH / HANS POHL / GEORG-CHRISTOPH VON UNRUH (Hrsg), Deutsche Verwaltungsgeschichte I: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches (Stuttgart 1983) 21–65, hier 24. 13
Begnadigungsantrag des Kölner Bürgers Hans Friese 1562, in: HHStA, RHR, Restitutiones natalium ac legitimationes K 1–2, Konv 3, fol 205–206. Der dem Antrag zugrunde liegende Totschlag lag 10 Jahre zurück. Der Kaiser befand sich zum Zeitpunkt der Antragstellung auf dem Wahltag in Frankfurt aM. Antrag des Ulmers Matthias Federle auf kaiserliches Vermittlungsschreiben an die Stadt Augsburg wegen Aufhebung einer 17 Jahre zurückliegenden Ausweisung 1582, in: HHStA, RHR, 14
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Die Analyse der sozialen Herkunft der Antragsteller vor dem Reichshofrat während der Reichstage führt zu einem auf den ersten Blick überraschenden Ergebnis. Deutlich mehr als die Hälfte der Antrag stellenden Parteien verfügte nicht über die Reichsstandschaft, gehörte also nicht zu dem Kreis der Personen, die zu den Reichstagen geladen waren und an den Beratungen teilnehmen durften – 1544 ebenso wie 1559. Das soziale Profil der Antragsteller auf Reichstagen entspricht weitgehend dem der generell vor dem Reichshofrat in Erscheinung tretenden Parteien mit seinem Schwerpunkt auf den sog mindermächtigen Reichsgliedern – Grafen und Rittern, der Geistlichkeit und den Städten.15 Der Anteil der Antragsteller, die dem Reich mittelbar unterworfen waren, dürfte während der Reichstage sogar noch etwas höher gewesen sein. Die oben referierten gesetzlichen Regelungen zur Zuständigkeit des Reichshofrats standen dem nicht entgegen. Zuständigkeitsvoraussetzung für eine Klage in erster Instanz war die Reichsunmittelbarkeit des Beklagten, nicht des Klägers. Darüber hinaus gab es Fälle, die ohne Rücksicht auf den Status der Beteiligten vor das Reichsgericht gebracht werden konnten (Landfriedensbruch, Beschwerden wegen Rechtsverzögerung und Rechtsverweigerung). Der wichtigste Grund für den hohen Anteil der Antragsteller ohne Reichsstandschaft, oft auch ohne Reichsunmittelbarkeit, während der Reichstage aber liegt in der Art der reichshofrätlichen Tätigkeit während der Versammlungen. Viele Antragsteller brachten keine Klagen vor, sondern baten um kaiserliche Gnadenerweise.16 Ein solcher Schritt war grundsätzlich allen Gliedern des Reichs erlaubt. Weitere Gründe für die bevorzugte Anrufung des Reichshofrats während eines Reichstags erhellen aus den Aufzeichnungen über den Ablauf der Verfahren. Viele Verfahrensbeteiligte waren entweder persönlich in die Reichstagsstadt gekommen oder durch einen Bevollmächtigten vertreten. Zustellungen ließen sich deswegen ohne großen Zeitverlust bewerkstelligen, Stellungnahmen konnten innerhalb weniger Tage vorliegen.17 Unter Umständen APA K 53, fol 548–552. Der Reichshofrat nahm den Antrag während des Reichstags in Augsburg entgegen. ORTLIEB, Im Auftrag des Kaisers 71–78; ULLMANN, Geschichte auf der langen Bank 67–72.
15
16
Dazu unten Abschnitt 3.
Zustellungen erfolgten häufig durch den Reichsherold und an die Reichstagsgesandten der Betreffenden, zB: HHStA, RHR, Prot rer res XVI/1a, fol 21, 26, 74 (1544). Die Vertretung von Parteien am Ort des Gerichts durch Agenten, die ebenfalls eine rasche Zustellung von Schriftsätzen ermöglichte, setzte sich erst im Lauf des 17
Reichshofrat und Reichstage
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wirkten die Reichshofräte auch direkt auf Betroffene ein, um zügig eine Einigung zu vermitteln.18 Gerade Bitten und Beschwerden – weniger Klagen in komplexen Rechtsmaterien – ließen sich in der Situation eines Reichstags ungleich rascher erledigen als durch einen am Kaiserhof in Wien oder Prag arbeitenden Rat. Die Reichstagsforschung hat darauf hingewiesen, dass ein Reichstag nicht nur die eingeladenen Reichsstände bzw ihre Gesandten versammelte, sondern zahlreiche weitere Personen – das Gefolge der Reichstagsteilnehmer, Händler und fahrendes Volk.19 Nicht umsonst mussten für jeden Reichstag Ordnungen verkündet werden, die die Probleme bei Unterbringung und Zusammenleben einer großen Anzahl von Menschen verschiedenster Herkunft, die die Reichstagsstädte besuchten, regeln helfen sollten.20 Zu diesen Personen gehörte auch, das zeigt die Analyse der Arbeit des Reichshofrats auf Reichstagen, eine große Anzahl von Parteien, die sich mit Bitten und Beschwerden an 17. Jahrhunderts durch. Zu den Agenten am Reichshofrat STEFAN EHRENPREIS, Die Reichshofratsagenten, in: ANETTE BAUMANN ua (Hrsg), Reichspersonal (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 46, Köln/Weimar/ Wien 2003) 165–177. Der Hofrat beauftragte während eines Reichstags immer wieder einzelne Räte, direkt mit den Betroffenen zu sprechen, so zB Heinrich Hase in einer Auseinandersetzung um das Bistum Hildesheim, in: HHStA, RHR, Prot rer res XVI/2c, fol 6 (3. 1. 1548), Dr. Marquard angesichts einer Beschwerde der Stadt Hamburg, in: ebenda fol 92 (6. 2. 1548), oder Georg Spät nach einer Bitte des Augsburger Malers Hans Burgmayr, in: ebenda XVI/14, fol 50 (7. 4. 1559). 18
ROSEMARIE AULINGER, Augsburg und die Reichstage des 16. Jahrhunderts, in: Welt im Umbruch III: Beiträge (Augsburg 1981) 9–24, hier 19 Anm 24; ALFRED KOHLER, Wohnen und Essen auf den Reichstagen des 16. Jahrhunderts, in: DERSELBE / HEINRICH LUTZ (Hrsg), Alltag im 16. Jahrhundert (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 14, Wien 1987) 222–257, hier 223–225. 19
Die Ordnungen erwähnen ausdrücklich „die frembden, so auf disen reichstag kommen und als obsteet nit erfordert sein“. Personen, die weder Einwohner der Reichstagsstadt waren noch Geschäfte auf dem Reichstag zu erledigen hatten, wurden ausgewiesen: zB Reichstagsordnung Speyer, 4. 4. 1544, in: ERWEIN ELTZ (Bearb), Der Speyrer Reichstag von 1544 (= Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe 15, Göttingen 2001) Nr 31, 195–201, Zitat 195; ähnlich Reichstagsordnung Regensburg, 26. 5. 1546, in: ROSEMARIE AULINGER (Bearb), Der Reichstag zu Regensburg 1546 (= Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe 17, München 2005) Nr 21, 115–123, hier 116, 119; Reichstagsordnung Augsburg, 19. 7. 1550, in: ERWEIN ELTZ (Bearb), Der Reichstag zu Augsburg 1550/51 (= Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe 19, München 2005) Nr 33, 140–146, hier 141. 20
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den Kaiser wenden wollten. Ihre Anträge wurden vom Reichshofrat erledigt. Auch der Reichstag nahm derartige Supplikationen an und ließ sie durch einen speziellen Ausschuss bearbeiten.21 Reichshofrat und Reichstag übten offenbar eine sich wechselweise verstärkende Anziehungskraft aus, die die Tage zu echten Reichsversammlungen weit über den Kreis der an den Reichstagsberatungen teilnehmenden Reichsstände hinaus machten.
III. Die Tätigkeit des Reichshofrats auf Reichstagen Die zitierte Analyse der Prozessfrequenz am Reichshofrat weist auf die erhöhte Geschäftsbelastung des Rats während der Reichsversammlungen hin. Einen Eindruck von der Dimension dieser Belastung vermitteln die reichshofrätlichen Resolutionsprotokolle. Sie verzeichnen für die knapp vier Monate, die der Reichstag von 1544 in Anspruch nahm, knapp 1.000 verschiedene Verfahren. Für den mehr als fünf Monate dauernden Reichstag von 1559 lassen sich rund 1.500 Vorgänge nachweisen. Viele davon (80 bzw 70 %) konnten sofort erledigt werden, manche mussten aber auch öfter behandelt werden. Erwein Eltz hat für den Reichstag von 1550/51 rund 1.700 Supplikationen gezählt, die in den kaiserlichen Hofrat gelangten.22 Dabei handelte es sich um Bittschriften, in denen die Antragsteller in einer für sie bedrängenden Situation um kaiserliche Fürbittschreiben an Dritte oder Empfehlungen baten.23 Das eingangs erwähnte Projekt zur Formierung des Reichshofrats hat gezeigt, dass die sog. Gnadensachen – Ansuchen im Zusammenhang mit Privilegien, Schutz- und Geleitbriefen sowie die erwähnten Supplikationen – generell einen großen Teil der reichshofrätlichen Geschäftsbelastung ausmachten. Ihr Anteil fällt so hoch aus, dass ein Zusammenhang zwischen ihnen und der Verstetigung des zunächst ad hoc besetzten kaiserlichen Hofrats zum ständi-
Zur Konkurrenz von Reichshofrat und Reichstag bei der Erledigung von Supplikationen unten Abschnitt 5. 21
ELTZ, Reichstag 1550/51 Nr 255, 1224–1360. Zur kontroversiellen Deutung des Stücks unten Abschnitt 5 mit Anm 69. 22
SABINE ULLMANN, Um der Barmherzigkeit Gottes willen. Gnadengesuche an den Kaiser im 16. Jahrhundert, in: ROLF KIEßLING / DIESELBE (Hrsg), Das Reich in der Region während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (= Forum Suevicum 6, Konstanz 2005) 161–184. 23
Reichshofrat und Reichstage
351
gen Rat vermutet worden ist.24 Die bedeutende Arbeitsbelastung des Reichshofrats durch Gnadensachen, die in der zitierten Analyse der Prozessfrequenz nur zum Teil berücksichtigt werden konnte,25 gilt auch für die Zeit der Reichstage. Rund drei Viertel der für 1544 und 1559 nachweisbaren Vorgänge ist diesem Bereich der reichshofrätlichen Tätigkeit zuzuordnen. 1559 spielten insbesondere Lehen- und Privilegienangelegenheiten eine wichtige Rolle, da auf diesem ersten Reichstag des neuen Kaisers Ferdinand I. alle Privilegien bestätigt und Belehnungen erneuert werden mussten. Rund 15 bzw 20 % der Beschäftigung des Reichshofrats mit Gnadensachen entfiel auf Supplikationen und Fürbittschreiben. Erheblich seltener hatten die den Kaiser zum Reichstag begleitenden Reichshofräte mit Rechtsauseinandersetzungen zu tun. Dabei handelte es sich nicht immer um Klagen, mit denen ein Prozess vor dem Hofrat eingeleitet werden sollte. Viele Antragsteller erbaten die kaiserliche Intervention in vor anderen Gerichten anhängigen Verfahren, um bestimmte Beweise vorlegen oder einfach schneller zu ihrem Recht kommen zu können. Der Kaiser reagierte auf solche Ansuchen meist mit einem kaiserlichen Promotorialschreiben, in dem die angeschriebene Institution aufgefordert wurde, das Verfahren zügig fortzusetzen bzw zu beenden.26 Die vor dem Reichshofrat vorgebrachten Klagen betrafen überwiegend Auseinandersetzungen aus dem Bereich des Schuldrechts sowie Streitigkeiten um hoheitliche Rechte. Damit wurden während der Reichstage nicht wesentlich andere Auseinandersetzungen vor den Reichshofrat getragen als außerhalb der Reichstage.27
EVA ORTLIEB, Gnadensachen vor dem Reichshofrat, in: LEOPOLD AUER / WERNER OGRIS / DIESELBE (Hrsg), Höchstgerichte in Europa (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 53, Köln/Weimar/Wien 2007), 177–202, hier 201 f. 24
Die Analyse von ORTLIEB / POLSTER, Prozessfrequenz, beschränkt sich auf die Akten der reichshofrätlichen Judizialregistratur, die Gratial- und Lehensregistratur blieben unberücksichtigt. Allerdings wurden die Akten der Verfahren im Zusammenhang mit Supplikationen meist in den Prozessaktenserien abgelegt.
25
GSCHLIESSER, Reichshofrat 22 f; MARKUS SENN, Der Reichshofrat als oberstes Justizorgan unter Karl V. und Ferdinand I (1519–1564), in: ANJA AMEND ua (Hrsg), Gerichtslandschaft Altes Reich (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 52, Köln/Weimar/Wien 2007) 27–39.
26
TOBIAS FREITAG / NILS JÖRN, Zur Inanspruchnahme der obersten Reichsgerichte im südlichen Ostseeraum 1495–1806, in: NILS JÖRN / MICHAEL NORTH (Hrsg), Die Integration des südlichen Ostseeraums in das Alte Reich (= Quellen und Forschun27
352
EVA ORTLIEB
Neben seiner Tätigkeit im Bereich der Gnaden-, Lehen- und Rechtssachen war der Reichshofrat während der Reichstage auch mit den eigentlichen Reichstagsmaterien, Fragen der Reichspolitik, des Reichsrechts und der Reichsfinanzen, befasst. Die entsprechenden Beratungen haben kaum Niederschlag in den Protokollen gefunden, so dass sich die Tätigkeit des Reichshofrats als kaiserliches Ratsgremium während der Reichstage kaum quantifizieren, sondern nur durch einige Beispiele veranschaulichen lässt. 1521 war der „conseglio di Germania“28 in die Verhandlungen um ein kaiserliches Mandat gegen die lutherischen Schriften und das Wormser Edikt einbezogen.29 1532 und erneut 1541 berieten die Reichshofräte über den Text der kaiserlichen Proposition,30 1530 über die Einwände protestantischer Fürsten gegen die vom Kaiser genehmigte Fassung des Reichsabschieds.31 1640/41 fertigte der Reichshofrat Gutachten zu den Fragen der Zulassung der Her-
gen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 35, Köln/Weimar/Wien 2000) 39– 141, hier 66–76; ORTLIEB, Im Auftrag des Kaisers 90–97, ULLMANN, Geschichte auf der langen Bank 78–93. Aleander an den päpstlichen Vizekanzler Medici, Worms, 27. Februar 1521, in: THEODOR BRIEGER, Aleander und Luther 1521. I. Abteilung: Die Depeschen Aleanders 1520–1521 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte der Reformation 1, Gotha 1884), Nr 11, 66–77, hier 69. 28
Das geht aus mehreren Berichten des päpstlichen Sondernuntius am Reichstag Girolamo Aleander hervor, in: BRIEGER, Aleander Nr 1, 2, 3, 11, 13, 27, 28. PAUL KALKOFF, Der Wormser Reichstag von 1521 (München/Berlin 1922) 91–135; RAINER WOHLFEIL, Der Wormser Reichstag von 1521, in: FRITZ REUTER (Hrsg), Der Reichstag zu Worms von 1521 (Köln/Wien 21981) 59–154, hier 70, 122. 29
1532: Lic. Nikolaus Meyer an Philipp Landgraf von Hessen, Regensburg, 15. 4. 1532, in: ROSEMARIE AULINGER (Bearb), Der Reichstag in Regensburg und die Verhandlungen über einen Friedstand mit den Protestanten in Schweinfurt und Nürnberg 1532 (= Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe 10, Göttingen 1992), Nr 176, 796–799, hier 798. 1541: Gasparo Contarini an Alessandro Farnese, Regensburg, 5. 4. 1541, in: VICTOR SCHULTZE (Hrsg), Actenstücke zur deutschen Reformationsgeschichte. Teil 1: Dreizehn Depeschen Contarini’s aus Regensburg an den Cardinal Farnese (1541), Zeitschrift für Kirchengeschichte 3 (1879) 150–184, Nr 7, 169–173, hier 170 f. 30
Das geht aus der Antwort des Pfalzgrafen Friedrich – der 1530 den kaiserlichen Hofrat leitete – auf die Ausführungen des kurfürstlich-sächsischen Gesandten Hans von der Planitz am 11. 11. 1530 hervor, in: KARL EDUARD FÖRSTEMANN (Hrsg), Urkundenbuch zu der Geschichte des Reichstages zu Augsburg im Jahre 1530, Bd 2 (Halle aS 1835), Nr 293, 814 f. 31
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zöge von Braunschweig und der Landgräfin von Hessen-Kassel zum Reichstag, der bevorstehenden Friedensverhandlungen mit Frankreich und Schweden sowie der Beteiligung der Reichsstände an einem zukünftigen Friedenskongress an.32 1653/54 waren die Reichshofräte maßgeblich am Zustandekommen der Regelung zur Abwicklung der Zahlungsverpflichtungen überschuldeter Reichsglieder beteiligt.33 Zu den reichshofrätlichen Beratungsgegenständen gehörten der Artikel über Frieden und Recht,34 die Landfriedens- und Reichskammergerichtsordnung.35 Die Bedeutung der genannten Gegenstände zeigt, dass die kaiserliche Politik auf Reichstagen nicht ohne Beteiligung des Reichshofrats zustande kam. Die letzte Entscheidung in politischen Fragen trafen allerdings nicht die Reichshofräte, sondern der Kaiser und sein Geheimer Rat.36
IV. Die Besetzung des Reichshofrats auf Reichstagen Oswald von Gschließer hat in seinem Werk über die Besetzung des Reichshofrats von 1559 bis 1806 auf der Grundlage der Präsenzlisten in den reichshofrätlichen Resolutionsprotokollen festgestellt, dass das kaiserliche Gericht während der Reichstage durch zusätzliche Kräfte verstärkt wurde, die nur für die Dauer der Versammlung zur Reichshofräten ernannt wurden.37 Sie lassen
KATHRIN BIERTHER, Der Regensburger Reichstag von 1640/1641 (= Regensburger Historische Forschungen 1, Kallmünz/Oberpfalz 1971), 145, 228–231.
32
ANDREAS MÜLLER, Der Regensburger Reichstag von 1653/54 (= Europäische Hochschulschriften 3/511, Frankfurt aM. 1992), 413, 418, 424. 33
LUDWIG GRAF VON WITTGENSTEIN, Diarivm continens Acta Jvdicii Avlici in Comitiis MDLXX, in: HEINRICH CHRISTIAN SENCKENBERG (Hrsg), Sammlung von ungedruckt- und raren Schriften zu Erläuterung des Staats- des gemeinen burgerlichen und Kirchen-Rechts, wie auch der Geschichten von Teutschland, Teil 2 (Frankfurt aM 1745) 1–104, hier 66–69. 34
35
HHStA, RHR, Prot rer res XVI/2c, fol 151 (6. 3. 1548), fol 183–184 (20. 3. 1548).
36
EHRENPREIS, Der Reichshofrat im System der Hofbehörden 192 f.
GSCHLIESSER, Reichshofrat 101 f, 114–119, 128–130, 134, 143 f, 158 f, 191 f. Diese ‚außerordentlichen’ Reichshofräte wurden besoldet und scheinen auf diese Weise auch in den Geschäftsbüchern der kaiserlichen Finanzverwaltung auf: PETER RAUSCHER, Zwischen Ständen und Gläubigern (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 41, Wien/München 2004) 260. Für den Reichstag von 1582 JOSEF LEEB, Einleitung, in: DERSELBE (Bearb), Der Reichstag zu Augs37
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sich vier Gruppen zuordnen. Die erste Gruppe bilden kaiserliche Amtsträger, die im Reich tätig waren und anlässlich des Reichstags mit dem Kaiserhof zusammentrafen oder in die Reichstagsstadt reisten. Dazu zählen etwa der kaiserliche Hauptmann in Konstanz Georg Spät (1559) oder der kaiserliche Gesandte Dr. Bartholomäus Petz (1594), in weiterem Sinn auch Mitglieder von Familien, die häufig für die Habsburger im Reich tätig waren (Ilsung: 1566, 1570, 1576; Schwendi: 1576, 1582). In eine zweite Gruppe lassen sich Amtsträger, meist Juristen, einordnen, die im Dienst eines Reichsfürsten standen und für die Dauer des Reichstags gewissermaßen ausgeliehen wurden. Sie kamen meist aus bayerischen oder kurfürstlich-mainzischen Diensten, so etwa Dr. Hieronymus Nadler (1576), Hartmann von Kronberg oder Dr. Philipp Wolf von Rosenberg (beide 1582). Überhaupt spielten die Reichstage eine Rolle bei der Rekrutierung von Reichshofräten und damit auch in der Karriere wichtiger kaiserlicher Minister. Es fällt auf, dass einige aus dem Fürstendienst an den Kaiserhof wechselnde Reichshofräte ihre Herren vor ihrem Wechsel auf Reichstagen vertreten hatten. Das gilt beispielsweise für den kurfürstlich-pfälzischen Kanzler Dr. Heinrich Hase, der das Kurfürstentum auf den Reichstagen von 1541, 1544 und 1545 vertrat,38 bevor er sich 1547/48 im kaiserlichen Hofrat nachweisen lässt.39 Auch Wilhelm Böcklin von Böcklinsau, der 1553 Reichshofrat wurde,40 war zuvor – 1550/51 – markgräflich-badischer Reichstagsgesandter gewesen.41 Ein Reichstag konnte somit als eine Art Karrieresprungbrett für ein Dienstverhältnis am kaiserlichen Hof dienen. Zur dritten, zahlenmäßig stärksten Gruppe der zusätzlichen Reichsburg 1582 (= Deutsche Reichstagsakten Reichsversammlungen 1556–1662, München 2007), 65–226, hier 209 f. 1541: Kredential Kurfürst Ludwigs von der Pfalz vom 26. 5. 1541, in: HHStA, RK, RTA 7, Fasz VII, fol 89. 1544: Liste der bis 7. Februar 1544 in der Reichstagsstadt eingetroffenen Stände und Gesandtschaften, in: ELTZ, Reichstag 1544 Nr 35, 205 f. 1545: Instruktion Kurfürst Ludwigs von der Pfalz für Wolfgang von Affenstein, Dr. Heinrich Has von Lauffen und Dr. Christoph Probus, Heidelberg, 17. 4. 1545, in: ROSEMARIE AULINGER (Bearb), Der Reichstag zu Worms 1545 (= Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe 16, München 2003) Nr 2c, 165–168. 38
NICOLAUS MAMERANUS, Catalogvs familiae totivs avlae Caesareae per expeditionem adversvs inobedientes, vsq(ue) Augustam Rhetica(m) (Köln 1550) 17 f.
39
Karl Markgraf von Baden an Kaiser Karl V., Pforzheim, 25. 6. 1553, in: HHStA, RK, RTA 28, Fasz 1 (Bezeichnung Böcklins als kaiserlicher Hofrat). 40
ALBRECHT PIUS LUTTENBERGER, Glaubenseinheit und Reichsfriede (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 20, Göttingen 1982) 530 Anm 90.
41
Reichshofrat und Reichstage
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hofräte auf Reichstagen gehören Ritter und Grafen meist aus dem Südwesten und Westen des Reichs sowie aus Franken, ergänzt um einige Landkomture des Deutschen Ordens. Es finden sich hier überwiegend Vertreter von Familien, die zur habsburgischen Klientel gerechnet werden oder auch andere kaiserliche Amtsträger hervorbrachten, bei den Rittern etwa die Echter (1570, 1613) oder die Truchsessen von Waldburg (1559, 1570), bei den Grafen die Fürstenberg (1576), Hohenzollern (1570, 1582), Löwenstein (1570, 1582) und Oettingen (1566, 1570), aber auch die Stolberg (1566, 1570). Einige von ihnen wurden auf mehreren Reichstagen zu Reichshofräten ernannt, beispielsweise Hans von Rechberg (1566, 1570, 1576), Georg Ludwig von Seinsheim (1559, 1566, 1570, 1576) oder die Landkomture des Deutschen Ordens der Ballei Elsass und Burgund Siegmund von Hornstein (1559), Haug Dietrich von Hohenlandenberg (1582, 1594) und Christoph Thum von Neuburg (1613).42 Viele der zusätzlichen Reichshofräte der dritten Gruppe nahmen während des Reichstags allerdings nur an einigen wenigen Sitzungen des Rats teil. In noch stärkerem Ausmaß gilt dies für die auf Reichstagen ernannten Reichshofräte der vierten Gruppe, die von Reichsfürsten – konkret bayerischen Herzögen und den Kurfürsten von Mainz – gebildet wird. Sie übernahmen, sofern sie an einer Sitzung des Reichshofrats teilnahmen, ihre Leitung, so beispielsweise Wilhelm und Ernst von Bayern 1566 und 1576 bzw 1570, Daniel Brendel von Homburg und Wolfgang von Dalberg als Kurfürsten von Mainz 1570 und 1582. Die Reichshofratsordnungen sahen diese Möglichkeit ausdrücklich vor. Sofern der Kaiser „einen fürsten auf den reichstägen in unserm reichshofrath geprauchen“ wolle, solle der Präsident ihm den Vorsitz überlassen.43 Der Kurfürst von Mainz konnte außerdem aufgrund seiner Funktion als Erzkanzler Anspruch auf die Mitgliedschaft im Reichshofrat und, sofern er sich am Kaiserhof aufhielt, seine Leitung geltend machen.44
So die Listen bei GSCHLIESSER, Reichshofrat 101 f, 114–119, 128–130, 134, 143 f, 158 f, 191 f.
42
RHRO vom 3. 4. 1559, § 2, in: SELLERT, Ordnungen, Bd 1 27–36, hier 29. Sofern der Kaiser auf einem Reichstag einen Reichsfürsten in seinen Hofrat berufe, „die wir dann so wohl alß unsere vorfahren billich in acht nehmmen“, solle der Präsident ihm den Vorsitz überlassen, sofern er nicht selbst Reichsfürst sei: RHRO vom 16. 3. 1654, Tit 1, § 7, in: ebenda Bd 2 45–260, hier 69 f, Zitat 69.
43
WOLFGANG SELLERT, Der Mainzer Erzkanzler und die Reichshofratsordnungen, in: PETER CLAUS HARTMANN (Hrsg), Kurmainz, das Reichserzkanzleramt und das
44
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Während die Studie von Oswald von Gschließer über die Besetzung und Leitung des Reichshofrats – auch auf Reichstagen – seit 1559 Auskunft gibt, ist über die Tätigkeit des kaiserlichen Hofrats auf den Reichstagen Kaiser Karls V. wenig bekannt. Karl selbst hat für sich in Anspruch genommen, „que en n(ot)re court aux diettes nous prenons conseilliers allemans qui desmellent les affaires, et tousiours ung prince pour chief“,45 und sich damit gegen Vorwürfe einer deutschsprachige Räte und das Reich benachteiligenden Praxis zur Wehr gesetzt. Tatsächlich stand der kaiserliche Hofrat auf allen Reichstagen, an denen der Kaiser persönlich teilnahm, unter der Leitung eines Reichsfürsten. Die Sitzung des Hofrats im Dezember 1520, in der – noch vor der offiziellen Eröffnung des Reichstags – der päpstliche Sondernuntius Girolamo Aleander die päpstliche Position in der Lutherfrage darlegte, leitete der Kardinal Matthäus Lang, Erzbischof von Salzburg und Bischof von Gurk. Der Rat kam allerdings zu keinem Beschluss, weil man auf den Kurfürsten von Mainz, „capo de tal Consilio“, warten wollte.46 Matthäus Lang war einer der wichtigsten Vertrauten Kaiser Maximilians I. gewesen, stand an der Spitze des nach der Ankunft Karls im Reich im Oktober 1520 gebildeten Hofrats47 und gehörte auch dem von Karl von Spanien aus eingesetzten Obersten Regiment und Geheimen Rat für das Reich und die österreichischen Erbländer an.48 Als Reich am Ende des Mittelalters und im 16. und 17. Jahrhundert (= Geschichtliche Landeskunde 47, Stuttgart 1998) 153–171, hier 159 f. Kaiser Karl V. an de Rye, Innsbruck, 17. 4. 1552, in: HHStA, HS Blau 596/2, fol 10r–17v, hier 11r. Abschrift des Briefs auch ebenda Belgien PA 54/2, fol 47–56. Teiledition – ohne wörtliche Wiedergabe der zitierten Passage und unter dem 18. April 1552 – bei AUGUST VON DRUFFEL (Bearb), Beiträge zur Reichsgeschichte 1552 (= Briefe und Akten zur Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Bayerns Fürstenhaus 2, München 1880) Nr 1311, 403–412, hier 405. Zum Hintergrund HEINRICH LUTZ, Christianitas afflicta (Göttingen 1964) 110–114. 45
Aleander an ?, Worms, ca Mitte Dezember 1520, in: BRIEGER, Aleander Nr 3, 33– 38, Zitat 36; übersetzt von PAUL KALKOFF (Bearb), Die Depeschen des Nuntius Aleander vom Wormser Reichstage 15212 (Halle 1897) Nr 3, 51–56. 46
Protokoll der Sitzung vom 17. 10. 1520: [J. H. FRHR. VON HARPPRECHT,] Des Kayserl und des Heil Röm Reichs Cammer-Gerichts Staats-Archiv. Teil 4, Abt 2 (Ulm 1760) Beil Nr CCCIII, 76 f, hier 76.
47
HEINZ NOFLATSCHER, Räte und Herrscher (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte 161, Beiträge zur Sozialund Verfassungsgeschichte des Alten Reichs 14, Mainz 1999), 82 und 84. Zu Lang JOHANN SALLABERGER, Kardinal Matthäus Lang von Wellenburg (1468–1540) (Salzburg/München 1997).
48
Reichshofrat und Reichstage
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Karl V. nach mehrjähriger Abwesenheit 1530 in das Reich zurückkehrte und einen Reichstag in Augsburg abhielt, betraute er Friedrich Pfalzgraf bei Rhein mit der Leitung seines Hofrats.49 Der Pfalzgraf fungierte auch auf den folgenden Reichstagen (1532, 1541, 1544) als Präsident des kaiserlichen Hofrats.50 Nach seiner Übernahme der Pfälzer Kurwürde stand Friedrich dem Hofrat nicht mehr zur Verfügung. Seine Nachfolge trat der Kardinal und Bischof von Augsburg Otto Truchsess von Waldburg an, der dem Hofrat Karls V. auf den Reichstagen von 1545, 1545/46 und 1547/48 vorsaß.51 1547/48 musste er den Vorsitz im Rat allerdings – sehr zu seinem Unwillen – Erzherzog Maximilian, dem späteren Kaiser Maximilian II., überlassen.52 Auf Gleich nach seinem Einzug in Augsburg „sui [Anm: Karls V.] consilii Praesidentem, vt vocant, constituit Fridericum principem“, in: HUBERTUS THOMAS LEODIUS, Annalivm de vita et rebvs gestis illvstrissimi principis, Friderici II. Electoris Palatini, libri XIV (Frankfurt aM 1624) 146. Eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie des Pfalzgrafen fehlt. HERBERT RÄDLE, Der Reichsfürst und sein Kaiser (= Neumarkter historische Beiträge 1, Neumarkt/Oberpfalz 1998), bietet eine kommentierte Übersetzung von Teilen der Biographie von Hubert Thomas, wobei er nicht die ursprüngliche lateinische Fassung, sondern eine spätere französische Übersetzung zugrundelegt. 49
1532 wird der Pfalzgraf als „obristen stathalter unnsers teutzschen hofrat“ bezeichnet (Lehenbrief Kaiser Karls V. für Kloster Gernrode vom 18. 6. 1532, in: HHStA, RHR, Reichslehensakten dt Exped K 5, Konv Anhalt) und erscheint auf den Präsenzlisten des kaiserlichen Hofrats an erster Stelle, in: AULINGER, Reichstag 1532, 303 Anm 1. 1541: Jakob Sturm / Batt von Dunzenheim an den Rat der Stadt Straßburg, Regensburg, 15. März 1541, in: OTTO WINCKELMANN (Bearb), Politische Correspondenz der Stadt Strassburg im Zeitalter der Reformation III, 1540–1545 (= Urkunden und Akten der Stadt Straßburg Abt 2, Straßburg 1898) Nr 181, 171 f; LEODIUS, Annalivm 241. Vereidigung: HHStA, RK, RTA 7, Fasz VII ([.] 3. 1541). 1544: HHStA, RHR, Prot rer res XVI/1a, fol 153, dazu GUSTAV WINTER, Der Ordo consilii von 1550, Archiv für österreichische Geschichte 79 (1893) 103–126, hier 105; LEODIUS, Annalivm 255. 50
1545: HHStA, RK, RTA 16, ‚Petiae protocolli’, fol 52r (Vereidigung). 1546: vgl das in der folgenden Anmerkung zitierte Schreiben Nicolas’ Perrenot de Granvelle an Königin Maria. 1547/48: Bestätigung eines Vertrags zwischen Geistlichkeit und Stadt Augsburg durch Kaiser Karl V., 2. August 1548: der Kaiser spricht vom Bischof als „unnserm lieben freund fürsten und presidenten unssers hoffrath“, in: HHStA, RHR, Conf priv dt Exped K 11, Konv 1.
51
Nicolas Perrenot de Granvelle berichtete Königin Maria, sich bei Karl dafür eingesetzt zu haben, den Erzherzog „pour chief et president“ des „conseil pour les requestes et petitions que se bailleront durant la diette“ – gemeint ist der kaiserliche Hofrat, nicht
52
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dem Reichstag von 1550/51 leitete der Kurfürst von Mainz einigermaßen regelmäßig die Sitzungen des kaiserlichen Hofrats.53 Die Ernennung von Reichshofräten speziell für die Dauer eines Reichstags mag – aus kaiserlicher Sicht – dazu gedient haben, die außerordentlich hohe Geschäftsbelastung des Rats während der Versammlung zu bewältigen. Wie die Listen von Oswald von Gschließer zeigen, ließ sich das kaiserliche Gericht auf diese Weise um bis zu 16 Kräfte verstärken. Allerdings ging die Erweiterung des Reichshofrats auf Reichstagen im Verlauf des 16. Jahrhunderts zurück und scheint 1640/41 und 1653/54 ganz unterblieben zu sein.54 Darüber hinaus nahmen viele der benannten Personen nur an wenigen reichshofrätlichen Sitzungen teil und dürften daher kaum eine wirksame Entlastung bedeutet haben. Hinter der Ernennungspraxis von Reichshofräten auf Reichstagen sind daher weniger arbeitsökonomische als in erster Linie rechtliche und politische Motive zu vermuten. Der Kaiser und seine Berater fühlten sich offenbar verpflichtet oder hielten es zumindest für klug, auf Reichstagen das Reich in Gestalt einiger Reichsstände und Adeliger in die Arbeit des Reichshofrats einzubinden. Die Benennung zusätzlicher Reichshofräte diente damit der Integration des Reichs in die Arbeit der kaiserlichen Institution. Mit der zunehmenden Verfestigung der konfessionellen und verfassungsrechtlichen Positionen im Reich im ausgehenden 16. und ersten Drittel des 17. Jahrhunderts wurde diese Strategie, obwohl in der Reichshofrats-
der Supplikationsausschuss des Reichstags – zu ernennen. Der Bischof von Augsburg, schreibt Granvelle weiter, „qui fut en la diette de Wormes et de Regensberge end(it) estat du president l’a sentu et moy a fait une grosse plaincte“ (Passage chiffriert): Granvelle an Maria, 1. 9. 1547, in: HHStA, Belgien PA 53, Konv 2, fol 268–272, hier 271v und 272r. Vgl auch Lehenbrief Kaiser Karls V. für das Kloster Gernrode vom 15. 5. 1548, in dem der Erzherzog als „obersten stathalter unsers deutschen hofraths“ bezeichnet wird, in: HHStA, RHR, Reichslehensakten dt Exped K 5, Konv Anhalt. HHStA, RHR, Prot rer res XVI/8, fol 1, dazu WINTER, Ordo consilii 114; HHStA, MEA, RTA 20, fol 1r, ediert bei ELTZ, Reichstag 1550/51 Nr. 255, 1224–1360, zu diesem Stück HELMUT NEUHAUS, Reichstag und Supplikationsausschuß (= Schriften zur Verfassungsgeschichte 24, Berlin 1977) 111–113. Zur kontroversiellen Deutung dieser Quelle unten Abschnitt 5 mit Anm 69.
53
16 zusätzliche Reichshofräte traten auf dem Reichstag von 1570 in Erscheinung. 1559 waren es 7, 1566 15, 1576 10, 1582 9, 1594 3, 1613 4. Auf den Reichstagen von 1640/41 und 1653/54 scheint die Erweiterung des Reichshofratskollegiums unterblieben zu sein. Listen bei GSCHLIESSER, Reichshofrat 101 f, 114–119, 128–130, 134, 143 f, 158 f, 191 f. 54
Reichshofrat und Reichstage
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ordnung von 1654 nach wie vor vorgesehen, auf kaiserlicher Seite immer weniger als geboten angesehen und schließlich aufgegeben.
V. Reichstag und Reichshofrat Dem Reichstag – also seinen verschiedenen Räten und Ausschüssen – trat der Reichshofrat in erster Linie als Teil des kaiserlichen Hofs gegenüber, genauer gesagt als Teil desjenigen Mechanismus, durch den die Entscheidungen des Reichsoberhaupts zustande kamen. Die Reichshofräte waren in die Ausarbeitung der kaiserlichen Verhandlungsstrategie einbezogen und berieten über zahlreiche Ständegutachten, beispielsweise zu den Themen Frieden und Recht, Reichskammergericht und Reichssteuern oder die Exekutionsordnung.55 Zu einer funktionalen Konkurrenz zwischen Reichsversammlung und kaiserlichem Rat kam es auf dem Gebiet der Bittgesuche und Beschwerdeschreiben. Wie die Reichstagsakten zeigen, gehörten diese sog Supplikationen zu den regelmäßig durch die Versammlung zu bewältigenden Geschäften, obwohl sie sich nicht immer auf die eigentlichen Reichstagsberatungen bezogen und politisch oft von untergeordneter Bedeutung waren. Sie wurden in der Regel einem interkurialen Ausschuss übergeben, der sie bearbeitete und in Gutachten an die Kurien oder das Reichstagsplenum geeignete Maßnahmen vorschlug, bevor ein Beschluss im Namen der Reichsstände erging. Helmut Neuhaus hat die historische Bedeutung dieses Ausschusses darin gesehen, dass er, indem er eine Vielzahl solcher Privatansuchen erledigte, die „zeitweise dominierende Rolle des Reichstages gegenüber dem Kaiser“ mitbegründet habe.56 Bittgesuche und Beschwerdeschreiben machten aber, wie die von Neuhaus nicht berücksichtigte Überlieferung im Archiv des Reichshofrats zeigt, auch einen wesentlichen Teil der Arbeit des Reichshofrats auf Reichstagen aus.57 Grundsätzlich konnten Einzelpersonen Gesuche sowohl an den Kaiser als auch an die Reichsstände – oder an beide zusammen – richten. Den Umgang
HHStA, RHR, Prot rer res XVI/2c, fol 151 (6. 3. 1548) (Reichskammergerichtsordnung); XVI/17, fol 111 (20. 8. 1559) (Reichskammergericht); WITTGENSTEIN, Diarivm continens Acta Jvdicii Avlici in Comitiis MDLXX 65–69, 83 (Frieden und Recht, Exekutionsordnung). Vgl auch oben Abschnitt 3. 55
56
NEUHAUS, Reichstag und Supplikationsausschuß 193.
57
Oben Abschnitt 3.
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mit den an die Reichsstände adressierten Eingaben hat Neuhaus beschrieben.58 Die an den Kaiser gerichteten Schreiben wurden aber nicht, wie Neuhaus annahm, an die Reichsstände weitergegeben, womit das Reichsoberhaupt „auf ein unmittelbares Herrschaftsmittel des Kaisers im Reiche“ verzichtet habe,59 sondern im Reichshofrat beraten und entschieden. Allerdings konnten beide Gremien die sie erreichenden Ansuchen an das jeweils andere weiterleiten. So behandelte der Reichshofrat Supplikationen, die nach Beratung im Supplikationsausschuss und in den Kurien bzw dem Reichstagsplenum zur weiteren Veranlassung an den Kaiser übergeben worden waren.60 Umgekehrt lagen dem Reichstag bzw dem Supplikationsausschuss an den Kaiser gerichtete Gesuche vor. Waren sowohl das Reichsoberhaupt als auch die Reichsstände gemeinsam angerufen worden, fanden in Einzelfällen gemeinsame Beratungen statt.61 Analysiert man die vom Kaiser an den Reichstag weitergeleiteten Gesuche genauer, wird eine einigermaßen konsequent beachtete Kompetenzabgrenzung zwischen Reichsoberhaupt und Reichsversammlung bei der Behandlung solcher Ansuchen deutlich. Regelmäßig an den Reichstag gingen die den Kaiser erreichenden Bitten um die Verringerung der Belastung mit Reichssteuern.62 Dasselbe gilt für Gehaltsforderungen von Personen, die im Dienst des Reichs tätig waren, etwa Soldaten der Reichsarmee oder die Assessoren des
58
NEUHAUS, Reichstag und Supplikationsausschuß insbesondere 193–222.
59
Ebenda 191.
Bern contra Maastricht, in: HHStA, RHR, Prot rer res XVI/1a, fol 91 (26. 5. 1544); Mecklenburg contra Lübeck: ebenda fol. 100 (7. 6. 1544); Merklerin contra Landau: ebenda fol 69 (7. 5. 1544); Hamburg Stadt contra Hamburg Kapitel: XVI/17, fol 106 (18. 8. 1559); Rietberg contra die Stände des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises: ebenda fol 66 (21. 7. 1559); Würzburg contra Kretzer: ebenda fol. 97 f (9. 8. 1559).
60
So im Fall des Ansuchens der Universität Leipzig und verschiedener sächsischer Klöster wegen des Entzugs von Einkünften: Gutachten des Supplikationsausschusses vom 14. 9. 1530, in: FÖRSTEMANN, Urkundenbuch, Bd 2, Nr 193, 434–446, hier 446: „Hieruber hat der ausschus sampt dem kay(serliche)n Rethen bericht empfangen“. 61
Etwa die Ansuchen der Herzogin von Braunschweig, in: HHStA, RHR, Prot rer res XVI/1a, fol 102 (9. 6. 1544), des Grafen von Henneberg: ebenda fol 73 (9. 5. 1544) oder der Stadt Kaufbeuren: ebenda fol 14 (5. 3. 1544); des Grafen von Neuenahr: XVI/2c, fol 71 (30. 1. 1548) oder des Pfalzgrafen Friedrich: ebenda fol 80 (1. 2. 1548); des Erzbischofs von Besançon: XVI/14, fol 14 (1. 4. 1559), des Bremer Domkapitels: ebenda fol 108 (20. 6. 1559) oder der Stadt Lübeck: XVI/17, fol 62 (21. 7. 1559). 62
Reichshofrat und Reichstage
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Reichskammergerichts.63 In Konflikten von überregionaler und verfassungsrechtlicher Bedeutung – beispielsweise um die Zugehörigkeit eines Stands zum Reich, die Reichsstandschaft oder die Session – holte der Kaiser ebenfalls öfter Gutachten der Reichsversammlung ein.64 Auch Bitten um die Neueinrichtung oder Erhöhung von Zöllen wollte das Reichsoberhaupt offenbar nicht ohne Begutachtung durch die Stände bewilligen.65 Diese Schwerpunkte der dem Reichstag vorliegenden Ansuchen lassen sich nicht nur in den Reichshofratsakten verfolgen, sondern auch in den Akten des Reichstags.66 Andere Parteiansuchen an den Kaiser, die die Mehrheit der betreffenden Schreiben ausmachen, wurden ohne Beteiligung der Reichsstände im Reichshofrat beraten und entschieden. Ebenso wie der Reichstag mit dem Supplikationsausschuss eine Anlaufstelle geschaffen hatte, um die Flut der Bittschriften zu bewältigen, besetzte bzw verstärkte der Kaiser seinen Reichshofrat, um seinen Aufgaben als Adressat entsprechender Gesuche nachkommen zu können. Die mit einem Gutachten über die Vorbereitungen zum bevorstehenden Reichstag beauftragten Räte König Ferdinands wiesen 1547 darauf hin, dass „auch ausserhalb obbestimbter gemainen reichssachen sonder zweyvels vil ander treffenliche sachen auf negstn reichstag furkhommen“, so dass der König den Kaiser „bruederlich ze vermanen wissen [werden], ainen ansehlichn reichsrath den kunftigen reichstag auftzerichten und ze halten und den von fursten, graven, herrn und gelertn statlich zu besetzen“.67 Besoldungsforderung Wilhelms Graf von Eberstein aus seiner Tätigkeit am Reichskammergericht, in: HHStA, RHR, Prot rer res XVI/1a, fol 91 (26. 5. 1544); Ansuchen der Stadt Nordhausen wegen eines Darlehens an die Soldaten vor Magdeburg: XVI/14, fol 98 (27. 5. 1559). Auch der Wunsch des Pfennigmeisters Walter von Habsberg nach Entgegennahme der Abrechnung über seine dienstliche Tätigkeit wurde vom Hofrat an die Reichsstände weitergeleitet: XVI/1a, fol 14 (5. 3. 1544). 63
Neutralität der Stadt Cambrai zwischen dem Reich und Frankreich, in: HHStA, RHR, Prot rer res XVI/1a, fol 90 (26. 5. 1544); Reichsstandschaft von Gelnhausen: ebenda fol 53 (22. 4. 1544); Session des Meisters des Johanniterordens: ebenda fol 22 (13. 3. 1544). 64
HHStA, RHR, Prot rer res XVI/14, fol 97 (26. 5. 1559) (Frundsberg), fol 105 (10. 6. 1559) (Pommern). 65
Vgl zB die Resolution der Reichsstände über die Karl V. sowie den Reichsständen und/oder dem Supplikationsrat vorgelegten Supplikationen, Augsburg, 8. 10. 1550 bis 26. 1. 1551, in: ELTZ, Reichstag 1550/51 Nr 283, 1478–1490.
66
Gutachten der kgl Räte Johann Hofmann, Johann Gaudenz von Madruzzo und Georg Gienger für Kg Ferdinand zum geplanten Reichstag, [Prag Ende Januar/Anfang Februar 1547]: URSULA MACHOCZEK, Der Reichstag zu Augsburg 67
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Wie die zahlreichen Ansuchen in den Reichshofratsakten belegen, war den Bittstellern die Möglichkeit, während des Reichstags den Kaiser anzurufen, bekannt. Allerdings gelangten die entsprechenden Schreiben in Einzelfällen in die Reichstagsakten der Reichskanzlei, weil sie von den Registranten bei den Reichstagsakten (negotia publica) statt den Parteiakten des sich im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts erst formierenden Reichshofrats abgelegt wurden.68 Das Verzeichnis der auf dem Reichstag 1550/51 im kaiserlichen Hofrat behandelten Supplikationen muss nicht deswegen im Mainzer Erzkanzlerarchiv überliefert sein, weil die entsprechenden Eingaben in der Mainzer Kanzlei hinterlegt und von dort an den Hofrat weitergeleitet worden wären,69 sondern stammt aus der Tätigkeit des Mainzer Kurfürsten als Reichshofratspräsident.70 Das zitierte Gutachten der Räte König Ferdinands stellt einen Zusammenhang zwischen der Besetzung des kaiserlichen Hofrats und dem erwarteten Arbeitsanfall während eines Reichstags her. Die zahlreichen Gesuche an den Kaiser, die bearbeitet werden mussten, wollte das Reichsoberhaupt seiner Funktion gerecht werden, machten ein Ratsgremium notwendig, das diese Aufgabe übernahm. Nicht alle Angelegenheiten konnten noch während der Versammlung erledigt werden. Anders als der Supplikationsausschuss, der sich mit dem Reichstag auflöste, verfügte der Kaiser über die Möglichkeit, die betreffenden Vorgänge auch nach Ende der Versammlung durch seine Räte beraten zu lassen. Vor diesem Hintergrund erscheint wahrscheinlich, dass die Reichstage des 16. Jahrhunderts nicht nur bei der Rekrutierung von Reichshofräten von Bedeutung waren. Sie dürften vielmehr überhaupt zur Entstehung des Reichshofrats als ständiger Rat des Reichsoberhaupts mit bestimmten judikativen und administrativen Funktionen beigetragen haben. In der ersten Hälfte der Regierungszeit Kaiser Karls V. wurde ein Hofrat für Reichsangelegenheiten, so weit die spärlichen Quellen erkennen lassen, lediglich für die Dauer der vom Kaiser persönlich besuchten Reichstage – einschließlich einige Wochen im Vorfeld und nach Abschluss des betreffenden Tags – besetzt. Ab den 1540er Jahren wird ein kaiserlicher Rat für Reichs1547/48 (= Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe 18, München 2006) Nr 6, 121– 130, Zitat 128. NEUHAUS, Reichstag und Supplikationsausschuß, nimmt zahlreiche solcher Ansuchen für den Supplikationsausschuss in Anspruch, obwohl sie durch Vermerke eindeutig dem kaiserlichen Hofrat zugeordnet werden können. 68
69
So ELTZ, Reichstag 1550/51 1224.
70
Oben Anm 53.
Reichshofrat und Reichstage
363
angelegenheiten – consilium imperiale – auch außerhalb der Reichstage fassbar.71 Der Hofrat Karls V. entwickelte sich von einem ad hoc besetzten Rat zu einem im Wesentlichen ständigen Ratsgremium. Die dichte Kette der vom Kaiser persönlich besuchten Reichstage in diesem entscheidenden Jahrzehnt – 1541, 1544, 1545, 1546, 1547/48 – dürfte durch die hohe Arbeitsbelastung, die sie für die kaiserliche Administration bedeutete, diese Entwicklung beeinflusst haben.72 Indem die klassischen Reichstage der Epoche bis 1653/54 über den Kreis der eingeladenen Reichsstände hinaus weitere Reichsglieder in den Reichstagsstädten versammelten, die dort Hilfe und Unterstützung suchten, trugen sie – jenseits ihr gesetzgebenden Funktion – zur Festigung des Reichsverbands bei. An dieser Leistung hatte der Reichshofrat maßgeblichen Anteil. Die oft geringe politische Brisanz des Geschehens am Rand der eigentlichen Reichstagsverhandlungen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier Grundlagen für ein Reichsbewusstsein bzw die Anerkennung des Kaisers als Reichsoberhaupt gelegt wurden, die zum Zusammenhalt des Reichsverbands über die Krisen der Reformation, des Dreißigjährigen Kriegs und des beginnenden Nationalismus hinweg beigetragen haben.
Das zeigen die Bearbeitungsvermerke „in consilio imperiali“ auf den im Archiv des Reichshofrats überlieferten Einlaufstücken. Sie lassen sich erst ab den 1540er Jahren mit zunehmender Regelmäßigkeit auch zwischen den Reichstagen nachweisen. In den 1540er Jahren setzt zudem die Protokollüberlieferung im Reichshofratsarchiv ein, die auch Sitzungsperioden außerhalb der Reichstage erfasst (1544, 1545, 1548, 1549, 1550, 1551, 1554, 1556).
71
EVA ORTLIEB, Die Entstehung des Reichshofrats in der Regierungszeit der Kaiser Karl V. und Ferdinand I. (1519–1564), Frühneuzeit-Info 17 (2006) 11–26, hier 28. 72
Volksabstimmungen über Europa THEO ÖHLINGER, Wien
I. Volksabstimmungen in der Geschichte der EU Volksabstimmungen sind zu einem zentralen Thema der EU geworden. Das war nicht von Anfang an so. Weder der erste konkrete Schritt zur europäischen Einigung, die Gründung der Montanunion (1951/52), noch die Gründung der EWG und der EAG durch die Römischen Verträge von 1958 waren von Debatten über eine Volksabstimmung oder überhaupt von eingehenden verfassungsrechtlichen Diskussionen in einem der Gründungsstaaten begleitet. Es ging damals scheinbar nur um eine technokratische, nicht auch um eine politische Integration.1 In der Zwischenzeit haben über 50 nationale Abstimmungen zu Fragen der europäischen Integration stattgefunden.2 A. Volksabstimmungen über Beitritte zur EG/EU Die Geschichte der Referenden3 über Europa beginnt mit den Erweiterungen. Der ersten Erweiterungsrunde 1973 ging ein Referendum in Frankreich am 23. April 1972 voraus, mit dem der von de Gaulle initiierte Widerstand gegen den Beitritt Großbritanniens überwunden wurde. In den gleichzeitig Paradigmatisch HANS PETER IPSEN, Verfassungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaften (Berlin 1970). 1
ANDREAS GROSS, 50. Volksabstimmung in Europa über Europa, Neue Zürcher Zeitung 6. 2. 2009, zur Abstimmung in der Schweiz am 8. 2. 2009 über die Fortsetzung der bilateralen Vertragsbeziehungen der Schweiz mit der EU. Dem folgte noch das zweite Referendum Irlands über den Vertrag von Lissabon am 12. 6. 2009; siehe dazu noch unten I.B.1. Vgl ferner HANS-MICHAEL HEINIG, Sind Referenden eine Antwort auf das Demokratiedilemma der EU?, Zeitschrift für Gesetzgebung 4 (2009) 297–310, hier 297. 2
Referenden können bloß konsultativ oder rechtlich bindend sein. In diesem Sinn unterscheidet das B-VG zwischen Volksbefragung (Art 49b) und Volksabstimmung (Art 43, 44 Abs 3). Im Folgenden werden die Termini „Volksabstimmung“ und „Referendum“ entsprechend einem üblichen Sprachgebrauch ohne diese Differenzierung gebraucht, zumal gerade an den Abstimmungen über EU-Themen die faktische Relativität dieser Unterscheidung deutlich wurde (siehe unten III.A.1).
3
366
THEO ÖHLINGER
beitretenden Staaten Irland und Dänemark fanden ebenso Volksabstimmungen statt wie in Norwegen, wobei Letztere negativ ausging. In Großbritannien wurde nachträglich 1975 über den Verbleib in der EWG abgestimmt. Keine derartige Volksabstimmung erfolgte anlässlich der „Süderweiterung“ (1981 Griechenland, 1986 Portugal und Spanien). Seit der „EFTA-Erweiterung“ 1995 sind dagegen Referenden in den Beitrittsländern fast schon zur Regel geworden: Österreich, Finnland und Schweden stimmten positiv, Norwegen dagegen neuerlich negativ ab. Die große Erweiterungsrunde von 2004 beruhte in neun der zehn Beitrittsländer auf Volksabstimmungen; die Ausnahme bildete Zypern. Keine nationalen Referenden gab es dann allerdings 2006 in Bulgarien und Rumänien. Volksabstimmungen über den Beitritt sind damit üblich geworden, sie sind aber (noch) keineswegs ein verbindlicher europäischer Standard. Über die Abhaltung einer Abstimmung entscheidet ausschließlich der beitretende Staat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften. Führende Politiker, aber auch ranghohe Juristen4 in einer Reihe von EU-Mitgliedstaaten haben sich für eine Volksabstimmung über einen Beitritt dritter Staaten, speziell der Türkei, ausgesprochen. In Österreich haben Politiker aus allen im NR vertretenen Parteien angekündigt, sich für eine solche Abstimmung einzusetzen. Da ein Beitrittsabkommen der Ratifikation durch alle Vertragsstaaten, somit auch aller Mitglieder, „gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften“ bedarf (Art 49 EUV idF des Vertrages von Lissabon5), lässt sich rechtlich gegen ein derartiges Ansinnen nichts einwenden. Aber auch wenn eine volle Mitgliedschaft der Türkei in der EU unter mehreren Gesichtspunkten höchst problematisch erscheint,6 ist es doch fragwürdig, darüber Volksabstimmungen in einzelnen Mitgliedstaaten durchzuführen, nachdem über den Beitritt jahrelang, ja – wie im Fall der Türkei – jahrzehntelang verhandelt und entsprechende Erwartungen in der Bevölkerung des Beitrittskandidaten geweckt wurden. Über Rechte anderer Völker abzustimmen ist ähnlich problematisch wie eine Abstimmung über Rechte von Volksgruppen im Staatsinneren (worüber in Österreich ein weitgehender Konsens besteht). Auch lassen sich rassistische Untertöne in dieser Diskussion nicht ganz
So etwa die frühere Präsidentin des BVfG JUTTA LIMBACH; siehe Handelsblatt 21. 12. 2004.
4
5
Alle Zitate des EUV in dieser Abhandlung beziehen sich auf diese neue Fassung.
Dazu auch THEO ÖHLINGER, Gott in der Verfassung Europas?, öarr 49 (2002) 368–371, hier 370 f. 6
Volksabstimmungen über Europa
367
überhören. Sollte im Übrigen tatsächlich der Beitritt an einer solchen Abstimmung in einem einzigen Staat, etwa in Österreich, scheitern, so wäre das wohl gerade auch für diesen Staat ein erhebliches außenpolitisches Problem. B. Volksabstimmungen über die vertraglichen Grundlagen der EU 1. Von der EEA zum Vertrag von Nizza Ein zweites Abstimmungsthema bildet die Weiterentwicklung der Gründungsverträge. Bereits der erste erfolgreiche7 substanzielle Schritt über die wirtschaftliche Integration hinaus zur politischen Integration, die Einheitliche Europäische Akte (EEA), wurde 1986/87 in Dänemark und Irland jeweils einem Referendum unterworfen. Über den Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992, mit dem die Europäische Union begründet wurde, fanden ebenfalls in diesen beiden Staaten und außerdem noch in Frankreich Volksabstimmungen statt. Dabei ging die Abstimmung in Frankreich nur ganz knapp positiv (51,05%) aus (und wurde bereits als „révolution du peuple“ gegen diesen Vertrag interpretiert8), jene in Dänemark beim ersten Versuch am 2. Juni 1992 dagegen negativ. Nach neuerlichen Verhandlungen und Zugeständnissen an Dänemark erbrachte jedoch ein zweites Referendum am 18. Mai 1993 eine Zustimmung von 56,77%. (Das sollte sich in Irland noch zweimal wiederholen.) Negative Referenden gab es sodann über die Einführung des Euro in Dänemark (2000) und Schweden (2003). Die einzige Volksabstimmung über den Vertrag von Nizza erfolgte in Irland und ging beim ersten Mal (2001) negativ aus. Erst die Wiederholung (2002) erbrachte ein positives Ergebnis. Der Grund für diese Wiederholungen liegt auf der Hand. Jeder Vertrag dieser Art muss von sämtlichen Mitgliedstaaten ratifiziert werden, um geltendes Recht zu werden.9 (Lediglich bei einem Einzelthema wie der Einführung des Gescheitert waren bekanntlich die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung im August 1954, ferner die Satzung über eine Europäische politische Gemeinschaft bereits in den Regierungsverhandlungen 1953/54. Siehe HEINRICH NEISSER / BEA VERSCHRAEGEN, Die Europäische Union, Anspruch und Wirklichkeit, Springers Kurzlehrbücher der Rechtswissenschaft (Wien/New York 2001) 13 f. 7
Siehe ANNE PETERS, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (Berlin 2001) 616. 8
Vgl Art 39 der Wiener Vertragsrechtskonvention bzw die speziellen Regelungen über das Inkrafttreten in den EU-Verträgen, wie Art 48 Abs 3 EUV. Dazu WALDEMAR HUMMER, Zum weiteren Schicksal des Vertrages über eine Verfassung für Europa, JRP 13 (2005) 257–280, hier 265. 9
368
THEO ÖHLINGER
Euro lassen sich Ausnahmen vereinbaren.) Bringt auch nur ein einziger Staat diese Ratifikation nicht zustande, so ist der Vertrag gescheitert – und dies, nachdem Vertreter aller Mitgliedstaaten über den Vertragstext vielleicht jahrelang verhandelt und schließlich zu einem für alle Regierungen tragbaren Kompromiss gefunden haben. Jede Weiterentwicklung des europäischen Projekts wird so durch ein negatives Referendum in einem einzigen Staat verhindert.10 Dass dies nicht von allen Mitgliedern stets widerspruchslos hingenommen wird, liegt auf der Hand.11 2. Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon Zu einem europaweiten Thema wurden Volksabstimmungen schließlich anlässlich der Ratifikation des Verfassungsvertrages. Auch der Verfassungsvertrag war, mag er sich auch das Ziel gesetzt haben, zu einer „Verfassung“ für Europa zu werden, ein völkerrechtlicher Vertrag, dessen Inkrafttreten die Annahme durch sämtliche Mitgliedstaaten der EG bzw EU voraussetzte.12 Referenden waren in einer größeren Anzahl von Mitgliedstaaten geplant oder zumindest Gegenstand einer politischen oder rechtlichen Diskussion. Während noch das erste einschlägige Referendum in Spanien am 20. Februar 2005 ein ganz klares positives Ergebnis (76,7%) erzielte, endeten die Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden am 29. Mai bzw 1. Juni 2006 mit einer ziemlich deutlichen Ablehnung (54,68% bzw 61,50%). Zwar handelte es sich in beiden Fällen um ein bloß konsultatives Referendum, doch war von Anfang an klar, dass sich die jeweiligen Parlamente und Regierungen über diese Voten nicht hinwegsetzen würden. Das löste tiefe Ratlosigkeit in der gesamten Union aus.13 Zwar war für den Fall eines „Ratifikationsunfalles“ in einer dem Vertragstext angefügten Erklärung (Nr 30) zur Ratifikation des Vertrages über eine Verfassung für Europa14 vorgesehen, dass sich der Euro-
So wäre beispielsweise der Vertrag von Lissabon ohne Wiederholung des ersten irischen Referendums an den Stimmen von 0,175% der Unionsbevölkerung gescheitert. 10
Siehe zu dieser Problematik auch WOLFRAM KARL, Grundrechtliche Aspekte direkter Demokratie auf EU-Ebene, in: JOHANNES W. PICHLER (Hrsg), Direkte Demokratie in der Europäischen Union (Wien 2009) 19 ff, der die Frage stellt, ob ein solches „Vetorecht eines einzelnen Staates“ nicht dem Selbstbestimmungsrecht eines europäischen Gesamtvolkes widerspreche (ohne allerdings diese Frage zu bejahen). 11
Siehe dazu RUDOLF STREINZ / CHRISTOPH OHLER / CHRISTOPH HERRMANN, Die neue Verfassung für Europa (München 2005) 27 ff.
12
13
Siehe dazu die Beiträge in JRP 13 ( 2005) Heft 4.
14
ABl der Europäischen Union 2004/C 310/464.
Volksabstimmungen über Europa
369
päische Rat damit „befassen“ würde, wenn nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung (29. Oktober 2004) vier Fünftel der Mitgliedstaaten den Vertrag ratifiziert haben, in einem oder mehreren Staaten aber Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten sind. Diese Erklärung erwies sich aber, wie vorhersehbar, als untaugliches Instrument zur Bewältigung dieser Krise. Zunächst wurde freilich noch gegen diese Fakten die Parole ausgegeben, der Ratifikationsprozess müsse fortgesetzt werden. Das geschah auch in mehreren Staaten, und es wurde auch noch eine Volksabstimmung in Luxemburg (mit dem für ein so sehr von der europäischen Integration geprägtes Land doch recht bescheidenen Ergebnis von 56,52% positiver Stimmen) abgehalten. Allmählich setzte sich aber dann doch die Einsicht durch, dass eine Wiederholung der Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden nicht ernsthaft in Betracht komme. Zu deutlich waren diese Referenden ausgefallen und zu klar waren ihre Ergebnisse gegen den Vertrag insgesamt und nicht gegen identifizierbare einzelne Bestimmungen gerichtet. Der Verfassungsvertrag war damit als solcher „tot“. Die gleichfalls vorgesehenen Referenden in Tschechien, Dänemark, Irland, Polen, Portugal und dem Vereinigten Königreich wurden vorerst verschoben und letztlich abgesagt. Angedacht wurde allerdings auch ein europaweites Referendum.15 Es waren vor allem auch österreichische Politiker, die sich für ein „gesamteuropäisches“ Referendum aussprachen – ohne allerdings zu präzisieren, was sie darunter genau verstanden. Darauf wird noch zurückzukommen sein (siehe unten III). Als dann die Bemühungen, die Substanz des Verfassungsvertrages doch noch zu retten, in der ersten Jahreshälfte 2007 unter der deutschen Ratspräsidentschaft wieder in Bewegung kamen und sehr rasch in den Text eines „Reformvertrages“ mündeten, bestand auf der Ebene der Regierungen von Anfang an ein Konsens, Volksabstimmungen in den Mitgliedstaaten möglichst zu vermeiden. (Diese Absicht prägt auch die Form dieses Vertrages, der die Inhalte des Verfassungsvertrages in Novellierungen des bestehenden EU-Vertrages und des bestehenden EG-Vertrages16 in einer Weise verpackte, die den Vertragstext nahezu unlesbar machte. Erst mehrere Monate nach der Unterzeichnung wurde vom Rat ein lesbares Dokument im Sinn einer konsolidierSiehe dazu ANDREAS MAURER / SIMON SCHUNZ, Ratifikation durch Referendum? Stiftung Wissenschaft und Politik, Diskussionspapier der FG 1, 2003/28 (Berlin 2003).
15
Dieser wurde zugleich in „Vertrag über die Arbeitsweise der EU“ (AEUV) umbenannt. 16
370
THEO ÖHLINGER
ten Fassung der beiden novellierten Verträge zur Verfügung gestellt. Es gibt Indizien, dass diese Unverständlichkeit der Vertragstexte durchaus intendiert war, um breitere Diskussionen über den Vertrag zu vermeiden – eine Absicht, die nicht aufgehen konnte. Lediglich in Irland ließ sich aus verfassungsrechtlichen Gründen17 ein Referendum nicht verhindern, und die am 12. Juni über den Vertrag von Lissabon durchgeführte Abstimmung endete wiederum mit einem negativen Votum (56,3%). Erst die neuerliche Wiederholung am 2. Oktober 2009 erbrachte eine hohe Zustimmung der irischen Wähler von 67,1%. Nachdem in der Folge auch der tschechische Staatspräsident Vaclav Klaus seinen lang gehegten Widerstand gegen die Ratifikation (nach der Zusicherung einer eingeschränkten Verbindlichkeit der Grundrechte-Charta in Tschechien) aufgab, konnte der Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft treten. Ein von der derzeitigen (März 2010) Opposition im britischen Unterhaus für den Fall eines Sieges bei den noch 2010 fälligen Wahlen angekündigtes Referendum könnte daher die Geltung dieses Vertrages nicht mehr in Frage stellen. Es könnte nur mehr in Verhandlungen über Sonderkonditionen des Vereinigten Königreiches oder einen Austritt, den dann ja der Vertrag von Lissabon explizit zulässt,18 münden.
II. Volksabstimmungen in Österreich A. Die Abstimmung über den Beitritt Als in Österreich Ende der 1980er Jahre die Diskussion über einen Beitritt zur (damaligen) EWG (plus EGKS und EAG) einsetzte, wurde man sich ziemlich rasch einig, dass darüber schon aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Volksabstimmung stattfinden müsse. Eine Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften einschließlich der (kurz zuvor durch den Vertrag von Maastricht begründeten) Europäischen Union berührte und änderte in zum Teil gravierender Weise verfassungsrechtliche Grundprinzipien, vor allem das demokratische Prinzip, und war daher als eine Gesamtänderung der Bundesverfassung zu qualifizieren.19 Art 44 Abs 3 B-VG verlangt für diesen Fall eine
Siehe dazu WALDEMAR HUMMER, Zum weiteren Schicksal des Vertrages von Lissabon, in: WALDEMAR HUMMER/ WALTER OBWEXER (Hrsg), Der Vertrag von Lissabon (Baden-Baden 2009) 471–536, hier 479 ff. 17
18
Art 50 EUV; dazu HUMMER, Schicksal 517 f.
Ausführlich THEO ÖHLINGER, EU-BeitrittsBVG, in: KARL KORINEK/ MICHAEL HOLOUBEK (Hrsg), Bundesverfassungsrecht – Kommentar IV, Loseblattausgabe 1. 19
Volksabstimmungen über Europa
371
Volksabstimmung. Diese fand am 12. Juni 1994 über ein spezielles Bundesverfassungsgesetz, das Beitritts-BVG, BGBl 1994/744, statt, das die zuständigen Organe der Republik zum Abschluss des Beitrittsvertrages „nach dem Stand des Verhandlungsergebnisses vom 12. April 1994“ ermächtigte. Einer der Gründe für diese doch etwas merkwürdige Rechtstechnik20 lag darin, dass es nach der damals geltenden Rechtslage strittig war, ob über einen „Staatsvertrag“ im Sinn des B-VG – und ein solcher ist der Beitrittsvertrag – überhaupt eine Volksabstimmung zulässig gewesen wäre. Art 50 B-VG (die Regelung über die Mitwirkung des Parlaments am Abschluss von Staatsverträgen) verwies nämlich in seiner damals geltenden Fassung auf Art 44 Abs 1 (Mehrheitserfordernisse für Verfassungsänderungen) und Abs 2 (Zustimmung des Bundesrates zu Einschränkungen von Landeskompetenzen), nicht aber auch auf Abs 3, der, wie schon gesagt, für Gesamtänderungen der Bundesverfassung eine Volksabstimmung verlangt. Schon Kelsen folgerte daraus, dass über einen Staatsvertrag „eine Volksabstimmung unter keinen Umständen stattfinden (könne)“.21 Die herrschende Lehre ist ihm darin, freilich keineswegs unwidersprochen,22 gefolgt. Unklar blieb dabei, ob ein Staatsvertrag keiner Volksabstimmung bedürfe, auch wenn er eine Gesamtänderung der Bundesverfassung enthielt, oder aber, ob ein Staatsvertrag eine solche Gesamtänderung gar nicht enthalten dürfe.23 Es ist bemerkenswert, dass trotz mehrfacher Novellierungen des Art 50 B-VG nie versucht wurde, diese Streitfragen einer Klärung zuzuführen. Auch anlässlich des EU-Beitritts wurde dem ausgewichen und eben deshalb vom NR ein formelles, zum Abschluss des Beitrittsvertrages ermächtigendes BVG – als „verfassungsrechtlich sicherste Vari-
Lfg (1999) Rz 2 ff mwN. Vgl etwa HARALD STOLZLECHNER, Die Auswirkungen einer Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union auf die österreichische Verfassungsordnung, in: WALDEMAR HUMMER (Hrsg), Die Europäische Union und Österreich (Wien 1994) 163–178, hier 171 f; ANNA GAMPER, Die verfassungsrechtliche Grundordnung als Rechtsproblem (Wien 2000) 76 ff. 20
HANS KELSEN / GEORG FROEHLICH / ADOLF MERKL, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 (Wien 1922) 137. 21
Dazu ANDREAS JANKO, Gesamtänderung der Bundesverfassung (Wien 2004) 347 ff mwN. 22
Siehe zu diesen Kontroversen zuletzt EWALD WIEDERIN, Gesamtänderung, Totalrevision und Verfassungsgebung, in: METIN AKYÜREK / GERHARD BAUMGARTNER / DIETMAR JAHNEL / GEORG LIENBACHER (Hrsg), Staat und Recht in europäischer Perspektive. FS für Heinz Schäffer (Wien/München 2006) 961–980, hier 967. 23
372
THEO ÖHLINGER
ante“24 – beschlossen, das den Gegenstand der Volksabstimmung bildete. Von der Rechtstechnik solcher Ermächtigungsgesetze wurde in der Folge auch bei den Verträgen von Amsterdam25 und Nizza,26 bei den Beitrittsverträgen27 sowie schließlich beim Verfassungsvertrag28 Gebrauch gemacht, ohne dass allerdings diese Verfassungsgesetze auch einer Volksabstimmung unterzogen worden wären. Während dies bei den erstgenannten Verträgen im Wesentlichen unstrittig blieb, weil sie nach ziemlich einhelliger Auffassung keine Gesamtänderung der Bundesverfassung bedeuteten, entfaltete sich anlässlich der Ratifikation des Verfassungsvertrages eine intensive rechtswissenschaftliche Diskussion. Darauf wird noch zurückzukommen sein. 29 B. Die Neufassung des Art 50 B-VG Durch die B-VG-Novelle BGBl I 2008/2 wurde Art 50 B-VG in grundlegender Weise neu gestaltet.30 Um dies auf das im hier gegebenen Zusammenhang Wesentliche zusammenzufassen: Es wurden die Rechtsformen des verfassungsändernden oder verfassungsergänzenden Staatsvertrags sowie der Verfassungsbestimmungen in Staatsverträgen aus der österreichischen Rechtsordnung eliminiert. In der Form eines Staatsvertrages kann in Zukunft kein Bundesverfassungsrecht mehr erzeugt werden. Gleichzeitig wurde die spezifische Form der „Staatsverträge, durch die die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union geändert werden“,31 eingeführt. Der Abschluss eines solchen Vertrages bedarf also in Zukunft keiner besonderen verfassungsrechtlichen Grundlage (im Sinn der früheren Ermächtigungs-BVG32), sondern kann unmittelbar auf der Grundlage des Art 50 B-VG vom Parlament – mit Verfas-
So INGRID SIESS-SCHERZ, Staatsverträge und Bundesverfassung: Weiterhin ein nicht ganz unproblematisches Verhältnis, in: GEORG LIENBACHER / GERHART WIELINGER (Hrsg), Öffentliches Recht. Jahrbuch 09 (Wien/Graz 2009) 77–104, hier 97. 24
25
BGBl I 1998/76.
26
BGBl I 2001/120.
27
BGBl I 2003/53 und BGBl I 2006/25.
28
BGBl I 2005/12.
29
Siehe unten II.D.
Dazu ausführlich THEO ÖHLINGER, Art 50 B-VG (Neubearbeitung) in: KORINEK / HOLOUBEK, Bundesverfassungsrecht – Kommentar I, 9. Lfg 2009, Rz 11 ff. 30
Darunter ist das vertragliche Primärrecht der EU zu verstehen; näher ÖHLINGER, Art 50 B-VG Rz 62. 31
32
Siehe zuvor Anm 25– 28.
Volksabstimmungen über Europa
373
sungsmehrheit, jedoch „unbeschadet des Art 44 Abs 3 (B-VG)“ – genehmigt und in der Folge vom Bundespräsidenten abgeschlossen werden (Art 50 Abs 4 B-VG). C. Anwendung auf den Vertrag von Lissabon Den ersten Anwendungsfall dieser Neuregelung bildete der Vertrag von Lissabon. Dieses Zusammentreffen der B-VG-Novelle 2008 und des Vertrags von Lissabon ist freilich ein purer Zufall. Die Novelle ist in keiner Weise mit Blick auf die bevorstehende Ratifizierung des Vertrags von Lissabon erfolgt, sondern beruht auf Vorschlägen des Österreich-Konvents aus 2004, die aber auch damals nicht mit Blick auf die anstehende Ratifizierung des (am 29. Oktober 2004 unterzeichneten) Verfassungsvertrages erfolgten.33 (Dessen Ratifizierung, auch mit den erforderlichen qualifizierten parlamentarischen Mehrheiten, stellte damals aus österreichischer Sicht auf Grund der Einbindung der europaskeptischen FPÖ in die Bundesregierung kein innenpolitisches Problem dar.) Das Motiv der einschlägigen Vorschläge des Konvents bildete vielmehr ausschließlich eine Verfassungsrechtsbereinigung. Die Neufassung des Art 50 BVG ist im Kontext jener von der B-VG-Novelle 2008 übernommenen Konventsvorschläge zu sehen, die Verfassungsrecht außerhalb der „Stammurkunde“ des B-VG sowie im B-VG selbst angelegte Gründe für solches Verfassungsrecht beseitigten und pro futuro einzudämmen versuchten.34 D. Volksabstimmungen über künftige EU-Verträge 1. Obligatorische Volksabstimmung über eine Gesamtänderung der Bundesverfassung durch einen EU-Vertrag Mit dem Verweis im neuen Art 50 B-VG auf den Abs 3 des Art 44 B-VG sollte klargestellt werden, dass EU-Verträge auch in Zukunft einer Volksabstimmung bedürfen, wenn sie eine Gesamtänderung der Bundesverfassung bewirken. Mögen daran noch Zweifel bestanden haben,35 so wird dies gerade durch diesen Verweis endgültig klargestellt.
Näher THEO ÖHLINGER, Das Völkerrecht und das Europarecht im ÖsterreichKonvent, in: AKYÜREK, FS Schäffer 555–573, hier 570. 33
Dazu EWALD WIEDERIN, Verfassungsbereinigung, in: GEORG LIENBACHER / GERHART WIELINGER (Hrsg), Öffentliches Recht. Jahrbuch 2008, 45–66, hier 49 ff; PHILIPP LINDERMUTH, Das Recht der Staatsverträge nach der Verfassungsbereinigung, ZÖR 64 (2009) 299–333. 34
35
Siehe zuvor bei Anm 22 f.
374
THEO ÖHLINGER
Damit ist freilich eine Streitfrage verknüpft. Die Erläuterungen der Regierungsvorlage zur B-VG-Novelle 200836 gehen nämlich davon aus, dass Gegenstand einer solchen Volksabstimmung eine „bundesverfassungsgesetzliche Ermächtigung“ sein müsste37 und übernehmen damit die zur früheren Fassung des Art 50 B-VG vertretene und bis zum Verfassungsvertrag praktizierte38 Auffassung. Diese war zwar schon nach der alten Rechtslage durchaus fragwürdig,39 ihr wurde aber durch diese Änderung jedenfalls der Boden entzogen. Nunmehr verweist Art 50 B-VG explizit (nur mehr) auf Art 44 Abs 3 B-VG, und dieser Verweis kann nur dahingehend verstanden werden, dass eine obligatorische Volksabstimmung unmittelbar auch40 über den Vertrag selbst, der eine Gesamtänderung der Bundesverfassung enthält, stattfinden darf.41 Die in den Erläuterungen der Regierungsvorlage zur B-VG-Novelle
36
314 BlgNR 23. GP, 9.
Diese Position übernehmen auch GEORG LIENBACHER, Staatsreform, in: LIEN/ WIELINGER, Öffentliches Recht. Jahrbuch 08, 23–44, hier 32; WIEDERIN, Verfassungsbereinigung 55 f, CHRISTOPH GRABENWARTER / BRIGITTE OHMS, B-VG, Manz-Taschenausgabe12 (Wien 2008) Anm 1 zu Art 44 B-VG. Ausschließlich auf diese Erläuterungen stützt sich auch LINDERMUTH, Staatsverträge 330 f, wobei dieser Autor allerdings richtig erkennt, dass dies zum einen in Widerspruch zu dem Ziel der Verfassungsbereinigung steht (siehe dazu oben II.B) und sich zum anderen dadurch das Recht der fakultativen Volksabstimmung als parlamentarisches Minderheitenrecht in sein Gegenteil verkehrt (dazu unten II.D.2). Abgesehen vom Verfassungstext selbst wären diese systematischen Argumente schon für sich geeignet, die nicht weiter begründete Auffassung der Erläuterungen der Regierungsvorlage in Frage zu stellen. Zu dieser Kontroverse zuletzt ausführlich SIESS-SCHERZ, Staatsverträge 95 ff. 37
BACHER
38
Siehe zuvor bei Anm 25 ff.
39
Siehe zuvor bei Anm 22.
Selbstverständlich wäre es nach dem derzeitigen Stand des Bundesverfassungsrechts (das zwar nicht mehr die Rechtsform des verfassungsändernden Staatsvertrages kennt, wohl aber – entgegen den Intentionen des Österreich-Konvents – nach wie vor spezielle Bundesverfassungsgesetze und Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen zulässt) auch möglich, die Abstimmung über ein formelles Bundesverfassungsgesetz, mit dem der vertraglichen Gesamtänderung der Bundesverfassung der Weg geebnet wird, durchzuführen. Dem Ziel der Verfassungsbereinigung, das diese Novelle verfolgt, würde es allerdings widersprechen, ihr ein obligatorisches Verfassungsgesetz zu unterstellen (siehe zuvor Anm 37). 40
Dazu ausführlich ÖHLINGER, Art 50 B-VG Rz 69 f. Wie hier auch LUDWIG ADARechtsgutachten zur Frage, ob der Beitritt der Republik Österreich zum sogenannten Reformvertrag als Gesamtänderung der Bundesverfassung im Sinn des 41
MOVICH,
Volksabstimmungen über Europa
375
2008 vertretene Auffassung findet in dem – letztlich maßgeblichen – Verfassungstext selbst keine Grundlage.42 Im Übrigen hätte es auf dem Boden der Auffassung, dass nur über ein formelles, zum Vertragsabschluss ermächtigendes BVG abgestimmt werden dürfe, des expliziten Verweises auf Art 44 Abs 3 B-VG gar nicht bedurft, weil gerade nach der Eliminierung der Rechtssatzform „verfassungsändernder Staatsvertrag“ klar ist, dass der Ratifikation eines mit der Verfassung nicht kompatiblen Staatsvertrages durch ein formelles Bundesverfassungsgesetz der Weg geebnet werden muss und auf ein solches formelles BVG Art 44 Abs 3 B-VG jedenfalls anzuwenden ist. Die Auffassung von der Notwendigkeit eines eigenen BVG zur Transformation der im Vertrag enthaltenen Gesamtänderung der Bundesverfassung in formelles Bundesverfassungsrecht würde also dem Verweis auf Art 44 Abs 3 B-VG den normativen Gehalt entziehen. 2. Ist auch ein fakultatives Referendum über einen EU-Vertrag zulässig? Art 50 Abs 4 verweist pauschal auf Art 44 Abs 3 B-VG. Eine Konsequenz dieses pauschalen Verweises ist es, dass auch eine fakultative Volksabstimmung über einen (keine verfassungsrechtliche Gesamtänderung implizierenden) EU-Vertrag unter der in Art 44 Abs 3 B-VG normierten Voraussetzung, nämlich auf Verlangen eines Drittels der Mitglieder des NR oder des Bundesrats, rechtlich zulässig ist.43 Dieses in dem Verweis auf Art 44 Abs 3 B-VG inkludierte Recht einer qualifizierten parlamentarischen Minderheit, nämlich eines Drittels der Abgeordneten, würde durch die Auffassung, Gegenstand einer Volksabstimmung dürfe nur ein – zuvor mit Zweidrittelmehrheit zu
Art 44 Abs 3 B-VG anzusehen ist [www.hofburg.at/rte/upload/rechtsgutachten_ praes_a_d_dr_adamovich.pdf] (28. 4. 2010). Dass im verwiesenen Art 44 Abs 3 B-VG von einer „Beurkundung“ gesprochen wird, Staatsverträge aber vom Bundespräsidenten nicht beurkundet, sondern „abgeschlossen“ (ratifiziert) werden, kann im Kontext der neuen Rechtslage nicht mehr in überzeugender Weise der Zulässigkeit einer Volksabstimmung über den Vertrag selbst entgegengehalten werden, zumal diese Ratifikation innerstaatlich die Funktion einer Beurkundung erfüllt. Gleiches gilt für das Argument, dass nach Art 48 B-VG nur Bundesgesetze mit Berufung auf eine Volksabstimmung kundzumachen sind, Staatsverträge dagegen stets mit Berufung auf den Beschluss des NR. Zur Schwäche dieser beiden Argumente schon auf Grund der Rechtslage vor der B-VGN 2008 vgl JANKO, Gesamtänderung 377 ff. 42
43
Näher ÖHLINGER, Art 50 B-VG Rz 71.
376
THEO ÖHLINGER
beschließendes – formelles BVG sein, praktisch frustriert.44 (Allerdings könnte dieses Drittel plus ein Abgeordneter die – eine Zweidrittelmehrheit erfordernde – Genehmigung des Vertrages verhindern. Das Ergebnis könnte daher auch eine totale Blockade sein.) Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass auf der Grundlage des neuen Art 50 B-VG „gewöhnliche“ Staatsverträge im Sinn des Art 50 Abs 1 Z 1 BVG – anders als nach der früheren Rechtslage eindeutig – einem Referendum entzogen sind,45 dass aber „Staatsverträge, durch die die Grundlagen der Europäischen Union geändert werden“ (Art 50 Abs 1 Z 2 B-VG) unter zwei alternativen Voraussetzungen einer Volksabstimmung unterliegen: – obligatorisch, wenn sie eine Gesamtänderung der Bundesverfassung enthalten, – fakultativ, wenn dies von einem Drittel der Mitglieder des NR oder des Bundesrates beantragt wird. E. Die politische Dimension von Volksabstimmungen über EU-Verträge 1. Die Diskussion in Österreich Sowohl der Verfassungsvertrag als auch der Vertrag von Lissabon waren in Österreich Gegenstand von Debatten über eine Volksabstimmung. Dabei wurde die Diskussion bezüglich des Verfassungsvertrages zunächst ausschließlich auf akademischer Ebene geführt. Mehrere Verfassungsjuristen erachteten eine Volksabstimmung für verfassungsrechtlich geboten, weil sie speziell in der Vorrangklausel eine Gesamtänderung der Bundesverfassung im Sinn des Art 44 Abs 3 B-VG erblickten. Von anderen Experten wurde dem widersprochen.46 Die Politik nahm von dieser akademischen Diskussion lange Zeit keine Notiz. Erst nachdem schon das einschlägige, zum Abschluss ermächtigende BVG im NR einstimmig beschlossen worden war, wurde diese Frage von einzelnen Politikern und Medien aufgegriffen. Die parlamentarische Genehmigung erfolgte dennoch mit überwältigender Mehrheit; es gab nur eine Gegenstimme im NR (aus der FPÖ-Fraktion). 44
Vgl auch LINDERMUTH, Staatsverträge 331.
45
Dazu ÖHLINGER, Art 50 B-VG Rz 59.
Zu dieser Diskussion ausführlich THEO ÖHLINGER, Die Ratifikation des Verfassungsvertrages in Österreich – Anmerkungen zum konstitutionellen Gehalt des Verfassungsvertrages, in: WALDEMAR HUMMER / WALTER OBWEXER (Hrsg), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa (Baden-Baden 2007) 348–358; PETER BUßJÄGER / GREGOR HEIßL, Nationaler Souveränitätsanspruch versus autonome Rechtsordnung?, ÖJZ 63 (2008) 307–315, hier 310 ff. 46
Volksabstimmungen über Europa
377
Dagegen wurde die Debatte bezüglich des Vertrags von Lissabon von Anfang an nicht nur von den gleichen Medien, sondern auch auf der politischen Ebene geführt. Allerdings war sich diesmal die Verfassungslehre ziemlich einig, dass der Vertrag von Lissabon keine Gesamtänderung der Bundesverfassung beinhalte und daher eine Volksabstimmung verfassungsrechtlich nicht geboten sei. Es waren die in der Sache geringfügigen, aber symbolisch höchst bedeutsamen Änderungen gegenüber dem Verfassungsvertrag, der die Annahme rechtfertigte, dass der Vertrag von Lissabon die Schwelle des Art 44 Abs 3 BVG nicht überschritt.47 Erst nach dem Abschluss des Ratifikationsverfahrens wurde von einer Regierungspartei (SPÖ) in einem Brief an die Kronen-Zeitung angekündigt, eine Volksabstimmung über künftige EU-Verträge, „die die grundlegenden Interessen Österreichs berühren“, zu unterstützen – eine Ankündigung, die bekanntlich zum Bruch der Koalitionsregierung Gusenbauer / Molterer und zur Neuwahl des NR im September 2008 führte. Im Zuge dieses Wahlkampfes gab es auch einen Initiativantrag betreffend ein Verfassungsgesetz, dem gemäß der Abschluss von Staatsverträgen, durch die die vertraglichen Grundlagen der EU geändert werden, zwingend einer Volksabstimmung unterzogen werden müsse, wenn es sich dabei um eine „wesentliche Änderung“ des EU-Rechts handle.48 Dieser Antrag fand im NR zwar eine (einfache) Mehrheit, nicht aber die für Verfassungsgesetze erforderliche Zweidrittelmehrheit. Zuletzt wurde vom Präsidenten des VfGH Gerhart Holzinger am Verfassungstag 2009 vorgeschlagen, alle wichtigen Integrationsschritte der EU Volksabstimmungen in (allen?) Mitgliedstaaten zu unterwerfen.49 2. Die politische Sinnhaftigkeit Die Befürworter von nationalen Referenden über zumindest „wichtige“ EUVerträge argumentieren damit, dass man die Entwicklung der europäischen Dazu ausführlich THEO ÖHLINGER, Die Übernahme des Vertrages von Lissabon in die österreichische Rechtsordnung, in: HUMMER / OBWEXER, Vertrag von Lissabon 411–426, 417 ff. 47
48
907/A, 23. GP.
Siehe Die Presse 3. 10. 2009. Es ist bemerkenswert, dass sich genau ein Jahr zuvor am gleichen Ort Bundespräsident HEINZ FISCHER dezidiert gegen Volksabstimmungen über „wesentliche“ Änderungen des EU-Rechts ausgesprochen hat; siehe Verfassungsgerichtshof der Republik Österreich (Hrsg), Verfassungstag 2008 (Wien 2009) 13 f. 49
378
THEO ÖHLINGER
Integration nicht über die Köpfe der Menschen hinweg vorantreiben dürfe, sondern die Menschen auf diesem Weg „mitnehmen“ müsse. Eine Volksabstimmung gilt als eine Chance, den Bürgern das Projekt Europa näherzubringen und verständlich zu machen.50 Die bisherigen Erfahrungen mit Volksabstimmungen über EU-Themen – siehe zuvor I. – lassen dieses Argument freilich sehr fragwürdig erscheinen. Zum einen ist ein solcher Vertrag in der Regel zu komplex, als dass sich seine Beurteilung auf ein einfaches Ja oder Nein reduzieren ließe.51 Ein solcher Vertrag kann stets nur ein Kompromiss sein, der nicht alle Wünsche erfüllt. Nur sind solche Wünsche vielfach konträr. So wurde der Vertrag von Lissabon in Österreich von Gegnern einer vertieften Integration ebenso wie von Anhängern, denen dieser Vertrag zu wenig Demokratie, zu wenig Rechte des Europäischen Parlaments und damit zu wenig an Integration bringt,52 abgelehnt. Befürworter und Gegner einer Stärkung Europas fanden sich so zu einer Koalition zusammen, die bei einer Volksabstimmung leicht eine Mehrheit ergeben hätte, ohne eine sinnvolle Alternative zu einem bloßen Nein anbieten zu können. In der österreichischen Diskussion über den Vertrag von Lissabon ist überdies deutlich geworden, dass es zwischen Befürwortern und Gegnern einer EU-Reform keine Waffengleichheit gibt, weder in sachlicher noch in medialer Hinsicht.53 Die mit Abstand meistverbreitete Tageszeitung Österreichs hatte sich auf eine reformfeindliche Position eingeschworen. Gegner konnten dort die absurdesten Argumente vorbringen (zB dass der Vertrag von Lissabon die Todesstrafe wieder einführen würde).54 Befürworter des Vertrages Siehe auch JOHANNES W. PICHLER, Direkte Demokratie in der Europäischen Union – Anspruch und Wirklichkeit – eine ganz kurze Einbegleitung, in: DERSELBE, Direkte Demokratie 9, der mit ähnlichen Argumenten für ein gesamteuropäisches Referendum plädiert.
50
So auch THOMAS OPPERMANN, EU-Reform, repräsentative und unmittelbare Demokratie, in: PETER FISCHER (Hrsg), Die Welt im Spannungsfeld zwischen Regionalisierung und Globalisierung. FS für Heribert Franz Köck (Wien 2009) 291–306, hier 295. 51
Siehe etwa den österreichischen EU-Parlamentarier HANS PETER MARTIN, Lasst uns eine kühne Demokratie wagen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 22. 6. 2008. 52
Siehe dazu THEO ÖHLINGER, Soll über den Vertrag von Lissabon in Österreich das Volk abstimmen?, ecolex 19 (2008) 290–292, hier 290 f.
53
54
Zur vergleichbaren Rolle der Kronen-Zeitung bei der Wahl des Europäischen Par-
Volksabstimmungen über Europa
379
konnten nicht mit gleichen Waffen zurückschlagen, weil ihnen jede Übertreibung im Nachhinein auf den Kopf gefallen wäre. (Man erinnere sich nur an den „Ederer-Tausender“ in der Werbung der Bundesregierung für den EUBeitritt: eine Ankündigung der damaligen Staatssekretärin Brigitte Ederer, dass sich eine vierköpfige Familie in der EU monatlich etwa 1.000 Schilling ersparen würde. Laut Wikipedia55 wurde der „Ederer-Tausender“ zum Synonym für die enttäuschten Erwartungen vieler Österreicher, die bei der Abstimmung über den Beitritt noch mit „Ja“ votiert hatten.) Damit mangelt es aber an den notwendigen Bedingungen eines rationalen Diskurses. Es ist ferner eine – vor allem in den Referenden über den Verfassungsvertrag deutlich gewordene – Tatsache, dass das Abstimmungsverhalten der Bürger vielfach von Motiven geleitet wird, die mit dem Abstimmungsthema wenig zu tun haben. Zur Abstimmung in Frankreich haben Meinungsforscher ein Bündel widersprechender und zum Teil bizarrer Motive der „Nein-Sager“ ermittelt; in den Niederlanden haben viele Bürger nachweislich ihren Frust über die Regierung abgeladen.56 Wenn dreimal in Europa ein Referendum in einer Wiederholung „umgedreht“ werden konnte,57 so deutet dies zugleich auf eine gewisse Manipulierbarkeit des Abstimmungsverhaltens hin. Wenn daher in Zukunft eine EU-kritische parlamentarische Minderheit, die über ein Drittel der Mitglieder im NR oder im Bundesrat verfügt, eine Volksabstimmung über jeden EU-Vertrag (im Sinn des Art 50 Abs 1 Z 2 BVG) erzwingen kann,58 so ist es in der Tat berechtigt, sich über die Position Österreichs in der EU Gedanken zu machen. Die Gefahr besteht, dass Österreich in Zukunft eine ähnliche Rolle wie Irland spielen könnte. Die Drohung mit einer notwendigen Volksabstimmung mag zwar die Verhandlungsposition über einzelne nationale Anliegen stärken. Letztlich aber würde sie in eine Außenseiterrolle münden, die weder der Geschichte noch der geographischen Lage Österreichs in Europa gerecht würde. Es wird daher eine schwierige Aufgabe künftiger Bundesregierungen sein, für Reformvorhaben entwelaments 2009 siehe HEINRICH SCHNEIDER, Zwischen ‚Policy Determination’ und ‚Bekenntnisritual’. Anmerkungen zum EP-Wahlkampf und zu seinem Ergebnis in Österreich, integration 3 (2009) 210–230. 55
[http://de.wikipedia.org/wiki/Ederer-Tausender] (28. 4. 2010).
Näher OPPERMANN, EU-Reform 295 f. Dass es dabei auch „Fehler“ auf Seiten der Regierungen gab, ist nicht zu bestreiten, nur werden sich solche Fehler nie ganz ausschließen lassen.
56
57
Siehe oben I.B.1.
58
Siehe oben II.D.2.
380
THEO ÖHLINGER
der eine qualifizierte parlamentarische Mehrheit (Zweidrittel plus 1) für einen Verzicht auf eine Volksabstimmung oder aber eine Mehrheit der Bevölkerung für den jeweiligen Vertrag zu finden.
III. Eine europaweite Volksabstimmung Schon im Vorfeld der Ausarbeitung einer „Verfassung für Europa“, wie sich der Verfassungsvertrag selbst benannte, tauchte der Gedanke eines gesamteuropäischen Referendums – basierend auf der Idee des pouvoir constituant des Volkes – auf.59 Durch das Scheitern dieses Vertrages in den nationalen Referenden Frankreichs und der Niederlande erhielt diese Diskussion einen neuerlichen Auftrieb. A. Welche Art von Abstimmung? Eine solche Diskussion setzt zunächst einmal einigermaßen Klarheit über die Art einer Volksabstimmung voraus, die man europaweit durchführen könnte. 1. Konsultatives oder bindendes Referendum? Ein solches Referendum könnte konsultative oder bindende Wirkung haben.60 Für beide Arten gibt es Vorbilder in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten.61 Allerdings erwies sich dieser Unterschied gerade im Zusammenhang mit Abstimmungen über EU-Themen als ziemlich relativ: Bei keinem einzigen der bloß konsultativen Referenden – wie jenen in Dänemark und Schweden über die Einführung des Euro, in Finnland, Schweden, Norwegen oder Malta über den Beitritt oder im Vereinigten Königreich über den Verbleib in der EU – blieb es zweifelhaft, dass das Ergebnis von der Politik respektiert werden müsste.
In diesem Sinn plädierte etwa THOMAS SCHMITZ, Das europäische Volk und seine Rolle bei einer Verfassungsgebung in der Europäischen Union, EuR 38 (2003) 217– 243, für ein europaweites Referendum über den Verfassungsvertrag als eine unverzichtbare Legitimationsvoraussetzung einer sich selbst so bezeichnenden „Verfassung“ der EU.
59
60
Siehe oben Anm 3.
Zu den Rechtsgrundlagen von Referenden in den Verfassungen der EU-Staaten SVEN HÖLSCHEIDT / STEFFI MENZENBACH, Referenden in Deutschland und Europa, DÖV 62 (2009) 777–785. 61
Volksabstimmungen über Europa
381
2. Welche Mehrheit? Ein zentrales Problem ist dagegen die Frage, welche Mehrheit für die Annahme erforderlich sein soll. Bereits mehrere Mitglieder des EU-Konvents hatten vorgeschlagen,62 in allen Mitgliedstaaten zu einem (möglichst63) gleichen Zeitpunkt Referenden auf der Grundlage des nationalen Rechts durchzuführen.64 (Selbst dieser Minimalvorschlag hätte allerdings in einer Reihe von Mitgliedstaaten, zB in Deutschland, Änderungen des nationalen Verfassungsrechts erfordert.65) Nach diesem Vorschlag würde die Annahme des Vertrages eine Mehrheit der Stimmen in allen Mitgliedstaaten erfordern. Ganz abgesehen von den legitimatorischen Schwächen solcher nationaler Referenden, wenn es um eine „Verfassung“ für Europa geht,66 und auch abgesehen davon, dass damit nach den bisherigen Erfahrungen eine fast unüberwindliche, jedenfalls von Zufällen abhängige Hürde geschaffen würde,67 könnte es das Ergebnis eines solchen „europaweiten“, aber nicht „europäischen“ Referendums sein, dass eine überwältigende Mehrheit in der ganzen Union durch eine kleine Minderheit, die aber eine (vielleicht ganz knappe) Mehrheit in einem (vielleicht sehr kleinen) Mitgliedstaat bildet, gewissermaßen „überstimmt“ wird.68 Damit würde aber die Idee einer europaweiten Volksabstimmung geradezu ad absurdum geführt.69 62
Siehe CONV 658/03 vom 31. 3. 2003.
Die für eine Abstimmung in Betracht kommenden Wochentage variieren in den Mitgliedstaaten der EU traditionell. 63
64
Siehe dazu auch HUMMER, Verfassung für Europa 279 f.
65
Vgl STREINZ / OHLER / HERRMANN, Verfassung 29; HÖLSCHEIDT / MENZENReferenden 778 f.
BACH,
Siehe dazu STEFAN HAMMER, EU-Verfassungsvertrag, Gesamtänderung der Bundesverfassung und pouvoir constituant, juridikum 2004 112–116; weniger skeptisch PETERS, Theorie 393. Meine eigene vorsichtig-positive Bewertung einer Volksabstimmung über den Verfassungsvertrag in Österreich (Ratifikation 358) muss ich auf Grund der späteren Erfahrungen (siehe oben II.E.2) revidieren. 66
Dass zeitgleiche Referenden einen gewissen taktischen Vorteil hätten und die europäische Dimension dabei stärker im Vordergrund stehen könnte als bei zeitlich weit auseinander liegenden Abstimmungen – so HUMMER, Schicksal 504 –, ist richtig. Trotzdem bleibt die Wahrscheinlichkeit eines positiven Ergebnisses in sämtlichen Mitgliedstaaten nach den bisherigen Erfahrungen eher gering. 67
68
Siehe oben Anm 10.
Im Ergebnis gleich auch MATTHIAS RUFFERT, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft: Grundrechte – Institutionen – Kompetenzen – Ratifizie69
382
THEO ÖHLINGER
Jede andere Mehrheitsregel – naheliegend ist eine „doppelte“ Mehrheit der abgegebenen Stimmen im Ganzen und in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten – impliziert aber die Möglichkeit, dass ein Mitgliedstaat das Ergebnis der Volksabstimmung auch gegen die Mehrheit seiner Stimmbürger akzeptieren müsste. Damit würde die gegenwärtige Konstruktion des „Staatenverbundes“70 der EU gesprengt und die Schwelle zu einem Bundesstaat offensichtlich überschritten. Die Mitglieder würden auf jenes Ausmaß an „Souveränität“ verzichten, das sie heute noch besitzen und das etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem jüngsten Urteil zum Vertrag von Lissabon71 für unaufgebbar bezeichnet hat. Aber auch unabhängig von dieser – gewiss problematisierbaren – Aussage des Bundesverfassungsgerichts ist die wohl ganz überwiegende Mehrzahl der Mitgliedstaaten zu einem so weitgehenden Souveränitätsverzicht ganz offensichtlich noch nicht bereit und es zeichnet sich eine solche Bereitschaft auch in absehbarer Zukunft nicht ab. B. EU-weite Volksabstimmungen: vorerst eine Utopie? Im Übrigen bedürfte jede Art eines Referendums, wenn ihm irgendeine Verbindlichkeit zukommen soll, einer Rechtsgrundlage im primären EU-Recht selbst und damit einer vertraglichen Einigung aller Mitgliedstaaten, die wohl von allen nationalen Parlamenten zu genehmigen wäre. Die Einführung einer Mehrheitsregel, die ein Überstimmtwerden eines Mitgliedstaates ermöglichte, würde überdies in manchen Staaten selbst einer Volksabstimmung bedürfen.72 Das wäre zweifellos in Österreich der Fall, weil die Regel, dass eine Gesamtänderung der Bundesverfassung einer mehrheitlichen Zustimmung des österreichischen Volkes bedürfte, durch ein solches EUweites Referendum pro futuro „ausgehebelt“ werden könnte und dies vorweg im Verfahren nach Art 44 Abs 3 B-VG zu legitimieren wäre. Ist es aber vorstellbar, dass ein EU-Vertrag in einer österreichischen Volksabstimmung rung, Europarecht, EuR 39 (2004) 165–201, hier 196. Zu diesem vom BVfG geprägten und heute weitgehend anerkannten Begriff siehe auch das Urteil des BVfG zum Vertrag von Lissabon vom 30. 6. 2009, BvE 2/08, Leitsatz 1: „Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“.
70
71
Ebenda Rz 219 ff (C.I.2.a und b) Rz 248 und passim.
72
Richtig HUMMER, Vertrag von Lissabon 504 f.
Volksabstimmungen über Europa
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mehrheitsfähig wäre, der es etwa in Zukunft zuließe, europaweit rechtsverbindlich darüber abzustimmen, ob Wasserressourcen einer zentralen europäischen Bewirtschaftung unterstellt werden sollen (um nur ein – in Österreich besonders sensibles – Thema herauszugreifen)? An der offensichtlichen Antwort auf diese Frage wird deutlich, dass das gerade von österreichischen Politikern häufig als Alternative zu einer österreichischen Volksabstimmung über den Verfassungsvertrag oder den Vertrag von Lissabon propagierte gesamteuropäische Referendum entweder nicht wirklich durchdacht oder aber nicht ehrlich gemeint war. Ein (sei es auch nur faktisch) verbindliches gesamteuropäisches Referendum über die EU, das einerseits nur sinnvoll wäre, wenn es nicht auch die Mehrheit der Stimmen in jedem Mitgliedstaat erforderte, ist andererseits wohl noch auf lange Zeit schlicht eine Utopie. So faszinierend diese Idee auch ist: Es wird noch sehr viel Bildungs- und Aufklärungsarbeit erfordern, bis Europas Bürger dafür „reif“ sein werden. Vorerst könnte man über die Schaffung einer rechtlichen Möglichkeit nachdenken, über eher globale, die EU betreffende Themen, die dann noch der näheren vertraglichen Ausgestaltung bedürften, in allen Mitgliedstaaten zu einem bestimmten Zeitraum eine eindeutig unverbindliche Volksbefragung durchzuführen. Eine solche Befragung könnte die Grundlage weiterer Beratungen und Verhandlungen auf europäischen Ebene – im Europäischen Parlament und im Rat – sein, und es läge dann in der Verantwortung der Vertreter jedes einzelnen Mitgliedstaates, inwieweit das in ihrem Land erzielte Ergebnis einer solchen Befragung berücksichtigt würde. Damit würde auf der einen Seite dem berechtigten Anliegen, die Bürger in den Entwicklungsprozess der europäischen Integration einzubeziehen, Rechnung getragen. Auf der anderen Seite bliebe ein Spielraum erhalten, in dem sich jenes spezifische Rationalitätspotential entfalten könnte, das eine repräsentative vor einer plebiszitären Demokratie auszeichnet.73
Dazu grundlegend ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE, Mittelbare / repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: GEORG MÜLLER (Hrsg), Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel. FS für Kurt Eichenberger zum 60. Geburtstag (Basel 1982) 301–328. Ähnlich auch OPPERMANN, EU-Reform 298 ff. 73
Das Islamgesetz 1912 und der religionsrechtliche Diskurs in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts RICHARD POTZ, Wien
I. Einleitung Der folgende Beitrag ist in besonderer Weise dem Eintreten des Jubilars für eine offene, liberale Gesellschaft gewidmet. Diese Ausrichtung unserer Gesellschaft steht gerade bei der Behandlung der muslimischen Minderheit auf dem Prüfstand, wie aktuelle Anlässe immer wieder zeigen. Die Diskussion um die Einbindung des Islam in das österreichische religionsrechtliche System, welche schließlich zum Islamgesetz 1912 führte,1 zeigt durchaus Bezüge zur Gegenwart auf, und zwar sowohl hinsichtlich allgemeiner als auch spezifisch den Islam betreffender religionsrechtlicher Fragen.2 Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte insgesamt das Scheitern der Modernisierungsversuche der Regierung Koerber (1899–1904) gebracht und auch die liberalen Reformentwürfe der Regierung Beck (1906–1908) sind Stückwerk geblieben.3 Im Gefolge der Annexion Bosniens und Herzegowi-
Die bislang umfangsreichste Darstellung der Vorgeschichte des Islamgesetzes findet sich bei GERHARD RÖSLER, Die Entstehung des Islamgesetzes für den hanefitischen Ritus und die bosnisch-herzegowinische Verwaltung zwischen 1878 und 1918. Ein Beitrag zum österreichischen Staatskirchenrecht (evangel-theol Diss, Wien 2002).
1
Vgl dazu RICHARD POTZ, Aktuelle Fragen des österreichischen Religionsrechts, öarr 56 (2009) 201–213. 2
Der Koerber-Plan war eine „grande vision“, er brachte eine „Ära der Hoffnung“, Österreich setzte zu einem „ökonomischen Spurt“ an, der jedoch letztlich misslang. Die liberalen Reformversuche der gestürzten Regierung Beck scheiterten an einer heterogenen politischen Gegnerschaft. Vgl dazu die Bewertung der Jahre vor dem 1. Weltkrieg bei ERNST HANISCH, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Wien 1994) 225 ff; ROMAN SANDGRUBER, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Wien 1995) 306; HELMUT RUMPLER, Eine Chance für Mitteleuropa. 3
386
RICHARD POTZ
nas, die – obwohl seit längerem geplant – nach den jungtürkischen Verfassungsreformen vor allem auch mit der Notwendigkeit einer Konstitutionalisierung von Bosnien und Herzegowina begründet wurde,4 war eine Reihe von entsprechenden gesetzlichen Maßnahmen erforderlich geworden. Dabei zeigte sich, dass einige Modernisierungsansätze durchaus auf fruchtbaren legistischen Boden gefallen sind. So enthielt der Grundrechtskatalog des bosnisch-herzegowinischen Landesstatuts 19105 einige Fortschritte gegenüber dem StGG-ARStB von 1867, so etwa § 16, der für Enteignungen eine „angemessene Entschädigung nach Maßgabe der dafür bestehenden Gesetze vorsieht.“ Hinsichtlich der religiösen Grundrechte waren die §§ 8 und 9 Landesstatut im Wesentlichen aus Bausteinen der Art 14 bis 16 StGG-ARStB 1867 zusammengefügt worden. Anerkannt waren gemäß § 8 Abs 4 „die islamitische, die serbisch-orthodoxe, die römisch- und griechisch-katholische, die Evangelischen Augsburger und helvetischer Konfession und die israelitische Religionsgesellschaft.“ Auf weitere Details ist hier nicht einzugehen. Dass damit der Islam in einem Teil der Monarchie nunmehr zu den gesetzlich anerkannten Religionsgenossenschaften gehörte, hatte schließlich Auswirkungen auch auf den religionsrechtlichen Diskurs in Zisleithanien und führte schließlich zum Islamgesetz 1912.6 Religionsrechtlich bedeutungsvoll, aber auch im Zusammenhang mit der aktuellen bosnisch-herzegowinischen Verfassungsreformdiskussion interessant, ist auch die Wahlordnung, die eine Mandatsverteilung nach konfessio-
Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie 1804–1918 (Wien 1997) 515; ALEXANDER GERSCHENKRON, An Economic Spurt That Failed. Four Lectures in Austrian History (Princeton 1977). Vgl dazu insbesondere FERDINAND SCHMID, Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung Österreich-Ungarns (Leipzig 1914) 25 ff.
4
Die bosnische Landesverfassung bestand aus einem Bündel von Gesetzen, dem Landesstatut, der Wahlordnung, der Geschäftsordnung für den Landtag, einem Vereinsgesetz, einem Versammlungsgesetz und einem Gesetz über die Bezirksräte. Bei Manz erschien 1910 eine von JULIUS GIEGL herausgegebene Handausgabe dieser Gesetze; im selben Jahr erschien in Wien überdies eine mit einer staatsrechtlichen Einleitung versehene Ausgabe der bosnischen Verfassungsgesetze von LEO GELLER. 5
Auf diesen Zusammenhang wird in den Diskussionen um das Islamgesetz immer wieder verwiesen, so vor allem auch in dem im Anschluss an die Zusammenfassung der Stellungnahmen der beteiligten Ministerien vom 4. 4. (Prot Nr 1316) an das Außerministerium gerichteten Schreiben, das die Beweggründe für das Islamgesetz anführt, die informell dem Hl Stuhl darzulegen wären; siehe unten Anm 62.
6
Das Islamgesetz 1912
387
neller Zugehörigkeit vorsieht, verbunden mit einer Mischung des allgemeinen Wahlrechtes und einem Kurienwahlrecht.7
II. Die Okkupation Bosniens und ihre Auswirkungen auf das österreichische Religionsrecht Mit der Okkupation von Bosnien und Herzegowina hatte sich die HabsburgerMonarchie der neuen Herausforderung zu stellen, erstmals eine islamische Bevölkerung in ihren Herrschaftsbereich aufzunehmen. Damit beginnt die Zeit einer expliziten den Islam betreffenden Religionspolitik,8 die zunächst durch die besonderen Bedingungen in Bosnien und Herzegowina bestimmt war und nach der Annexion der beiden Länder im Jahr 1908 mit dem Islamgesetz 1912 auch in der österreichischen Rechtsordnung ihren Niederschlag fand. Bosnien lag immer schon im Blickfeld der österreichischen Expansionspolitik am Balkan und als es auf Grund des osmanischen Staatsbankrotts 1875 zu Aufständen gekommen war, die hauptsächlich von der christlichen Bevölkerung getragen wurden, hatte Österreich-Ungarn in einer diplomatischen Note vom 30. Dezember 1875 bei der Hohen Pforte die Erfüllung von Reformzusagen reklamiert, darunter vor allem Religionsfreiheit und Agrarreformen. In der Folge erreichte Österreich-Ungarn von Russland die Zustimmung zur Besetzung von Bosnien und Herzegowina im Fall eines Konfliktes mit dem Osmanischen Reich. Diese Aussichten führten bereits 1875 zu einer durchaus bemerkenswerten Instruktion für den Bedarfsfall an den aus Gospic in Kroatien stammenden Feldzeugmeister Josef Freiherr von Philippovich von Philippsberg als vorgesehenen Kommandanten der für „Bosnien, die Herzegowina und die angrenzenden Gebietstheile bestimmten Occupationstruppen“.9 Darin wird die Gewährleistung der vollkommenen Gleichheit in der Behandlung der verschiedenen Nationalitäten und Religionsbekenntnisse zu den ersten und wichtigs-
Eine Zusammenfassung dieses äußerst komplizierten Systems findet sich bei SCHMID, Bosnien 34 ff. Zu den mit dem konfessionellen Proporz verbundenen Schwierigkeiten vgl ERNEST BAUER, Zwischen Halbmond und Doppeladler (Wien/München 1971) 95 ff. 7
SCHMID, Bosnien 659 ff; FERDINAND HAUPTMANN, Die Mohammedaner in Bosnien-Hercegovina, in: ADAM WANDRUSZKA / PETER URBANITSCH (Hrsg), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd IV (Die Konfessionen) 670–701, hier 683 ff. 8
9
Abgedruckt bei BAUER, Halbmond 45 f.
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ten Aufgaben gezählt, welche bei der Okkupation erwachsen werden. „Insbesondere die Berücksichtigung der religiösen Fragen“ wird dem Kommandanten „wärmstens empfohlen.“ Ein Hauptaugenmerk soll dabei „der sorgsamen Pflege der katholischen Elemente in der Bevölkerung“ zugewendet werden, „welche sich als verlässlich und den Bestrebungen der Monarchie freundlich gesinnt erweisen dürften.“ Neben den katholischen Einwohnern sollen die Verantwortlichen jedoch auch den muslimischen Einwohnern ihre Aufmerksamkeit und ihren besonderen Schutz zuwenden. Als Gründe werden angeführt, dass diese „nicht nur den größten Besitzstand inne haben, sondern auch den relativ fortgeschrittensten und bildungsfähigsten Teil der Bevölkerung repräsentieren.“ Empfohlen wird auch, die bosnischen Muslime „in näheren Kontakt mit den Katholiken zu bringen und eine besondere Annäherung oder Verbindung des islamischen Elements mit der orthodoxen Bevölkerung […] zu verhindern.“ Die orthodoxen Einwohner wären „hinsichtlich ihrer etwaigen, der Okkupation feindseligen Aspirationen, schärfstens zu überwachen.“ Als dann Österreich-Ungarn gemäß Artikel XXV des Berliner Vertrages ermächtigt wurde, die Provinzen Bosnien und Herzegowina zu verwalten, wurde dieses Programm aus 1875 im Großen und Ganzen auch tatsächlich umgesetzt. Bereits am 28. Juli 1878 hatte Kaiser Franz Joseph versichert, „daß alle Söhne dieses Landes gleiches Recht nach dem Gesetze genießen, daß sie alle geschützt werden in ihrem Leben, in ihrem Glauben, in ihrem Hab und Gut.“10 1878 war Österreich-Ungarn ungeachtet des traditionellen katholischen Bekenntnisses der Herrscher-Dynastie kein katholisches Imperium mehr.11 Das „Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger” von 1867 hatte mit der verfassungsrechtlichen Gleichstellung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften eine rechtsstaatliche Zäsur gebracht, die ein staatliches Aufsichtsrecht jedoch nicht ausschloss. Gemäß Art 15 StGG-ARStB hat „jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, [...] ist aber, wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen.“ Da Art 15 StGG-
Proklamation an die Bewohner von Bosnien und Herzegowina, Wiener Zeitung vom 28. 7. 1878, 1, abgedruckt bei EDMUND BERNATZIK, Österreichische Verfassungsgesetze (Leipzig 1906) Nr 196. 10
Vor der gesetzlichen Anerkennung des Islam holte man 1909 allerdings eine informelle Stellungnahme des Hl Stuhles ein, siehe unten Anm 62. 11
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ARStB keine Angaben hinsichtlich Anerkennungsvoraussetzungen enthält, wurde es in der Folge notwendig, eine Vorgangsweise festzulegen, wie bislang nicht anerkannte Religionsgemeinschaften den Status einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft erwerben konnten. Als Ausführungsgesetz zu Art 15 StGG-ARStB erging daher 1874 das Gesetz betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften, das die Voraussetzungen für die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften normiert.12 Das 1867 etablierte konstitutionelle System mit seinen grundrechtlichen Garantien und dem Konzept eines institutionellen Einbaus der Religionsgemeinschaften sollte daher auch dem Religionsrecht in Bosnien und Herzegowina zu Grunde zugrunde gelegt werden.13 Zu diesem Zweck mussten teilweise neue Rahmenbedingungen für die dortigen drei großen Konfessionen geschaffen werden. In der am 21. April 1879 geschlossenen Konvention mit dem Osmanischen Reich wurde in Art II den in Bosnien und Herzegowina bestehenden Kulten Religionsfreiheit, insbesondere auch die öffentliche Religionsausübung garantiert, was eine Sicherstellung vor allem für die muslimische Bevölkerung bedeutete. Nach längerem Zaudern kam es schließlich 1882 zu einer Neu-Organisation der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien, die eine Hierarchisierung mit einem Reis-ul-Ulema und einem aus vier Personen bestehenden geistlichen Rat an der Spitze mit sich brachte.14 Diese „Verkirchlichung“ ermöglichte eine gewisse Europäisierung der Organisation der islamischen Glaubensgemeinschaft in Bosnien und damit einen Modernisierungsschub für den bosnischen Islam, der seine Geschichte im 20. Jahrhundert durchaus beeinflussen sollte. Es war auf europäischem Boden erstmals zur Konfrontation einer autochthonen muslimischen Bevölkerung mit einem westlichen Staatssystem, das Religionsfreiheit gewährleistete, gekommen. Das österreichische religionsrechtliche System sollte damit auch die weitere Zukunft des bosnischen Islam beeinflussen; die hierarchische Organisation ist eine bis heute bestehende Besonderheit der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Bosnien und Herzegowina. Die Herausforderung für die österreichisch-ungarische Religionspolitik in Folge der Okkupation und späteren Annexion Bosniens und Herzegowinas
Zum Anerkennungsgesetz siehe HERBERT KALB / RICHARD POTZ / BRIGITTE SCHINKELE, Religionsgemeinschaftenrecht. Anerkennung und Eintragung (Wien 1998) hier insbesondere 77 ff. 12
13
Vgl insbesondere SCHMID, Bosnien 661 ff.
14
Vgl SCHMID, Bosnien 674 ff; HAUPTMANN, Mohammedaner 686 f.
390
RICHARD POTZ
war vielschichtig. Es galt einerseits, in einem Land, das seit Jahrhunderten von der islamischen Bevölkerungsgruppe dominiert worden war, ein religionsneutrales System zu etablieren, das von den Muslimen nicht als zu diskriminierend empfunden wurde. Ungeachtet der Tatsache, dass die österreichisch-ungarische Verwaltung nicht immer glücklich agierte und erst mühsam ihre Erfahrungen sammeln musste,15 kam es in Kooperation mit den dynamischen Kräften des Landes langfristig zu einer bemerkenswerten europäischen Ausrichtung der bosnischen Muslime. Tendenziell war die Politik Österreich-Ungarns vorsichtig islamfreundlich, dies zeigte sich vor allem auch bei den noch zu besprechenden Stellungnahmen zu den Entwürfen zum Islamgesetz seitens des für Bosnien und Herzegowina zuständigen gemeinsamen Finanzministeriums.
III. Die Annexion Bosniens und das österreichische Islamgesetz Bereits wenige Wochen nach der Annexion Bosniens und Herzegowinas 1908 – auf deren politische bzw völker- und staatsrechtliche Aspekte hier nicht weiter eingegangen werden kann – sondierten Vertreter der in Wien lebenden Muslime ob „die Geneigtheit bestehe, dem Islam die gesetzliche Anerkennung zu gewähren“.16 Kurz darauf kam es zu einer Eingabe gleichen Inhalts seitens eines „Aktionskomitees des Österreichischen Orientvereins zur Erbauung einer Moschee in Wien“, datiert mit 22. Jänner 1909.17 In dieser Eingabe wurde ausdrücklich auch auf die Absicht des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger verwiesen, für die in Wien lebenden Muslime18 eine Moschee zu errichten. Unter Hinweis auf die Rechtslage, welche nicht anerkannten Bekenntnissen die öffentliche Religionsausübung untersagte, wurde die Anerkennung gemäß Anerkennungsgesetz als notwendige Voraussetzung für diesen Bau bezeichnet. Es wurde in dieser Eingabe auch nicht darauf vergessen, auf die wirtschaftliche Bedeutung eines solchen Vorgehens hinzuweisen: „Aus geschäftlichen Gründen empfiehlt es sich Rücksicht auf die Mohamme-
15
Vgl dazu die kritischen Bemerkungen bei SCHMID, Bosnien, Einleitung 1–4.
16
Zum Folgenden vgl insbesondere RÖSLER, Entstehung, besonders 196 ff.
17
ÖStA / AVA, Präs.d.k.k.Min.f.K.u.U. Nr 784, K.U.M., 1909.
Die Anzahl der in Wien lebenden Muslime war allerdings nicht sehr hoch, die Erläuternden Bemerkungen (siehe unten Anm 67) gehen von 889 Muslimen in Wien „nach den letzten statistischen Ausweisen“ aus. 18
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daner zu nehmen, damit sie sich in Wien wohl fühlen und hier ihre Einkäufe mit Vorliebe vornehmen.“ Eine Behandlung dieser Eingabe wurde vom Ministerium allerdings abgelehnt, da das aus Nichtmuslimen bestehende Aktionskomitee des Orientvereins keine Legitimation für einen derartigen Antrag auf Anerkennung besäße. Mit einer gewissen Süffisanz wird im Ministerialakt angemerkt, dass „keiner der drei gefertigten Herren die Absicht kundgibt, seinerzeit selbst zum Islam überzutreten.“19 Nichtsdestoweniger beschloss man mit dem für Bosnien zuständigen gemeinsamen Finanzministerium Kontakt in dieser Sache aufzunehmen, das dem „Ziele einer solchen Aktion sympathisch“ gegenüberstand.20 Am 14. Jänner 1909 wurde im Kultusministerium unter Beiziehung von Vertretern des Justiz- und Innenministeriums eine „Vorbesprechung über die Modalitäten der Anerkennung des islamitischen Glaubensbekenntnisses in Oesterreich“ gehalten, die grundsätzliche Fragen zu klären hatte. Es wurden daraufhin in beachtlicher Schnelligkeit drei Entwürfe ausgearbeitet, die als Grundlage für die weiteren Verhandlungen dienen sollten.21 In diese wurden neben den drei betroffenen österreichischen Ministerien22 auch Vertreter des k.u.k. Ministers des Äußeren23 und des k.u.k. Gemeinsamen Finanzministeriums – Büro für Angelegenheiten Bosniens und der Herzegowina24 zugezogen. Die Arbeitsgruppe trat am 25. und 27. Februar 1909 unter dem Vorsitz von Sektionschef Max von Hussarek25 zusammen.26 „Erinnerung betreffend die Schaffung eines Gesetzes, womit die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanefitischen Ritus als Religionsgemeinschaft ausgesprochen wird“, I/2, in: AVA, Präs.d.k.k.Min.f.K.u.U. Nr 784, K.U.M., 1909. Bei den angesprochenen „drei gefertigten Herren“ handelte sich um Vinzenz Graf ThurnValsassina, Felix Graf und Hans Mayerhöfer. 19
20
Ebenda, I/1.
Über die später nicht verfolgten Entwürfe „kann nichts Zielführendes ausgesagt werden.“ Der weiter verfolgte Entwurf C lässt sich mittels Protokoll rekonstruieren“, auf seinen Verfasser gibt es jedoch keinen Hinweis (RÖSLER, Entstehung 198, Anm 634). 21
Neben dem Ministerium für Kultus und Unterricht (vertreten durch Sektionschef Hussarek und sechs weitere Beamte, darunter der Sektionschef Prälat Zschokke) waren dies das Justizministerium (vertreten durch Sektionschef Schauer) und das Ministerium des Innern (vertreten durch Sektionsrat Baron Eichhof). 22
23
Der Vertreter des k.u.k. Ministeriums des Äußern war Generakonsul Oppenheimer.
24
Der Vertreter des k.u.k. Gemeinsamen Finanzministeriums war Regierungsrat Paul.
25
Max Freiherr Hussarek von Heinlein war der führende Staatskirchenrechtler seiner
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In den folgenden Diskussionen in der Arbeitsgruppe brachen eine Reihe von grundsätzlichen Fragen zum österreichischen Staatskirchen- bzw Religionsrecht auf, die nicht nur die eingangs erwähnte These vom Modernisierungsschub, den Österreich-Ungarn am Vorabend des 1. Weltkrieges erfahren hat, untermauern, sondern angesichts der aktuellen religionsrechtlichen Diskurse in Österreich auch eine oft verblüffende Aktualität aufweisen.27 Als ersten Schritt einigte man sich auf Vorschlag von Sektionschef Schauer sehr schnell auf einen der Entwürfe (als Entwurf C bezeichnet), der damit die Grundlage für das Islamgesetz bildete. Zunächst wurde der Titel des Gesetzes releviert. Hussarek wies einleitend darauf hin, dass mit Absicht vermieden worden sei, darin von einer „gesetzlichen Anerkennung“ zu sprechen. Er schlug daher den Titel „Gesetz betreffend die rechtliche Stellung der Anhänger des Islam“ vor.28 Damit sollte deutlich gemacht werden, dass mangels einer entsprechenden Institution keine gesetzliche Anerkennung vorgenommen werden konnte, sondern zunächst nur die rechtliche Gleichstellung der Anhänger des Islam mit den Angehörigen der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften erreicht werden sollte. Von allem Anfang war allen Beteiligten klar, dass ungeachtet der Anerkennungswürdigkeit des Islam eine Anerkennung gemäß Anerkennungsgesetz 1874 nicht in Frage kam. Als Gründe für die Nichtanwendbarkeit wurden im Zuge der Konzeption des Islamgesetzes immer wieder genannt, dass die Bil-
Zeit. Geboren 1865 in Pressburg, seit 1892 im Kultusamt tätig, habilitierte er sich 1893 an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien für Kirchenrecht, war seit 1906 Leiter der Kultusabteilung und supplierte unter Verhinderung einer Neubesetzung 1907 bis 1911 das Fach Kirchenrecht. Von 1911 bis 1917 – also zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Islamgesetzes – war er Unterrichtsminister. Als vorletzter Ministerpräsident von Österreich-Ungarn (25. 7. bis 27. 10. 1918) war er der Urheber des am 16. 10. 1918 verkündeten föderalistischen Reformversuchs ("Oktobermanifest") von Kaiser Karl I. Protokoll der am 25. und 27. 2. 1909 im k.k. Ministerium für Kultus und Unterricht stattgehabten Sitzung in Angelegenheit der gesetzlichen Regelung der Anerkennung des islamitischen Glaubensbekenntnisses, in: AVA, Präs.d.k.k.Min.f.K.u.U. Nr 784, K.U.M., 1909. 26
27
Vgl dazu POTZ, Aktuelle Fragen.
Der Vorschlag von Regierungsrat Paul, statt von „Anhängern des Islam“ von „Bekennern des Islam“ zu sprechen, wurde in der Arbeitsgruppe unter Hinweis auf die Begriffsverwendung in Art 16 StGG-ARStB und im Anerkennungsgesetz zurückgewiesen. 28
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dung von Kultusgemeinden iSd Anerkennungsgesetzes weder gegeben noch absehbar sei und vor allem weil es in der Anwendung dieses Gesetzes an jeder gesetzlichen Bestimmung über das Eherecht der Mohammedaner gefehlt hätte. Damit im Zusammenhang stellte Hussarek auch die Frage nach dem Umfang der Anerkennung.29 Der Vertreter des Außenministeriums Generalkonsul Oppenheimer äußerte Bedenken gegen eine weite Formulierung, diese „sei zu vag“, weil damit „sämtliche mohammedanische Riten subsummiert werden [könnten], wogegen in Bosnien und Herzegowina nur sunnitische Mohammedaner nach hanefitischen Ritus [lebten].“ Hussarek verwies zwar auf das Israelitengesetz 1890, in dem es ungeachtet der Vielfalt des Judentums zu einer umfassenden Regelung seiner äußeren Verhältnisse gekommen sei,30 hatte aber keine grundsätzlichen Bedenken gegen eine Einschränkung der Anerkennung auf den hanefitischen Ritus. Neben dem unklaren Geltungsbereich, wurden in der Arbeitsgruppe weitere Argumente gegen eine weite Formulierung vorgebracht. So die politische Rücksichtnahme auf das Osmanische Reich; weiters die Tatsache, dass man mit einer weiten Formulierung den Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten zu wenig beachte, und schließlich, dass man im Gesetz anstandslos den „Europäer-Mohammedaner31 von seinen anderen Glaubensgenossen [...] bevorzugen [könne]“. So wurde die Einschränkung auf „Anhänger des Islams nach hanefitischen Ritus“ in der Arbeitsgruppe gebilligt. Die Diskussion der beiden den Titel des Gesetzes betreffenden Fragen hat vor allem nach dem Wegfall des Zusatzes „nach hanefitischen Ritus“ auf Grund des Erkenntnisses des VfGH vom 10. Dezember 198732 an Aktualität gewon29
Protokoll (Anm 26) 2 ff.
Vgl dazu aber VfSlg 9185 (1981), welche die Novellierung des Israelitengesetzes, BGBl 1984/61 zur Folge hatte. Danach können Israeliten wegen bestehender Ritusverschiedenheit die Anerkennung als Religionsgesellschaft nach den Bestimmungen des Anerkennungsgesetzes 1874 erwirken.
30
Damit wird auf die traditionelle Einordnung der hanefitischen Rechtsschule als „europäisch-islamisch“ angespielt. 31
Vgl dazu INGE GAMPL / RICHARD POTZ / BRIGITTE SCHINKELE, Österreichisches Staatskirchenrecht, Bd 1 (Wien 1990) 458, Anm 1, und 460, Anm 10. Durch dieses Erk des VfGH wurde einerseits die religionsrechtlich gebotene Klarstellung auch in der Bezeichnung der Religionsgesellschaft herbeigeführt, dass nicht nur die hanefitische, sondern auch andere Rechtsschulen durch die Anerkennung erfasst sind. Welche dies sind, ergab sich aus der damals in Geltung gestandenen Verfassung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ), die in ihrem Art 1 jene sie-
32
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nen. Die von Generalkonsul Oppenheimer kritisierte „Vagheit“ ist nach der Zuwanderung von Muslimen unterschiedlicher Traditionen nach Österreich tatsächlich zu einem Problem geworden. Die religionsrechtliche Relevanz stellte sich aus Anlass des Antrages auf Eintragung als religiöse Bekenntnisgemeinschaft seitens jener alevitischen Gruppierung, die auch in der Bezeichnung auf die islamischen Wurzeln des Alevitentums nicht verzichten und sich daher „islamische alevitische Glaubensgemeinschaft“ nennen möchte.33 Wie die Diskussion des § 3 des der Arbeitsgruppe vorliegenden Entwurfs zeigt, war das Erfordernis der österreichischen Staatsbürgerschaft für Religionsdiener bereits damals umstritten.34 Das Kultusministerium weist auf seine schon 1874 geäußerte Ansicht hin, auf diesem Erfordernis nicht mehr bestehen zu müssen. 1874 wäre es nur mehr auf Intervention des Innenministeriums aufrechterhalten worden.35
ben Rechtsschulen nennt, die nach ihrem Selbstverständnis einzubeziehen sind. Andererseits wurde durch dieses Erkenntnis des VfGH die Frage der Zuordnung jener Gruppen virulent, die sich zwar auf eine islamische Tradition berufen, bis dahin aber nicht durch die Anerkennung bzw das Islamgesetz und die Verfassung der IGGiÖ erfasst waren. Dieser Aspekt wurde dadurch verstärkt, dass Art 1 der Verfassung der IGGiÖ in Folge des Erkenntnisses des VfGH dahingehend geändert wurde, dass nunmehr „alle Anhänger des Islam [...], welche in der Republik Österreich ihren Aufenthalt haben,“ der Glaubensgemeinschaft angehören. Die Geschichte des Islamgesetzes macht jedenfalls deutlich, dass dieses nunmehr für die vom mainstream anerkannten „rechtgläubigen“ Schulen gilt, nicht jedoch für Gemeinschaften, die kultisch, organisatorisch und im Hinblick auf Bildungs- und Erziehungseinrichtungen nicht übereinstimmen. Dass dies auf die alevitischen Gruppierungen zutrifft, steht außer Zweifel. Davon ausgehend hat bei Anwendung der relevanten religionsrechtlichen Bestimmungen sowohl das Selbstverständnis der IGGiÖ als der alevitischen Gruppierungen adäquat Beachtung zu finden. 33
34
Protokoll (Anm 26) 9.
Dieser Hinweis ist bemerkenswert, da das Erfordernis der österreichischen Staatsbürgerschaft für Mitglieder des Vorstandes einer Kultusgemeinde (§ 8 Anerkennungsgesetz) und für Seelsorger (§ 9 Anerkennungsgesetz) noch in §§ 9 und 10 Israelitengesetz 1890 enthalten ist und erst in den religionsrechtlichen Spezialgesetzen der 2. Republik weggelassen wurde. Auch HANS R KLECATSKY / HANS WEILER, Österreichisches Staatskirchenrecht (Wien 1958) 625, Anm 2, gehen noch von der „bei allen Religionsgesellschaften festgehaltenen Regel [aus], dass zu Kultusfunktionären nur Personen berufen werden können, die die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen.“ Dieses Erfordernis wird heute wegen Unverträglichkeit mit Art 15 StGGARStB als weggefallen angesehen, vgl dazu HERBERT KALB / RICHARD POTZ / BRI35
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Umstritten und breit diskutiert war vor allem die Frage bezüglich des Umfangs des strafrechtlichen Schutzes, welcher der neu anzuerkennenden Religionsgesellschaft zu gewähren wäre.36 Dem Vorsitzenden Hussarek erschien es „wohl kaum angängig“, den ‚Lehren, Gebräuchen und Einrichtungen’ des Islam den gleichen, strafgesetzlich sanktionierten Schutz, wie den gesetzlich anerkannten Religionsbekenntnissen zuzuerkennen.“ Daher habe die Kultusverwaltung in den Entwürfen „eine ausreichende Sicherung bloss gegen schwere, gegen den Islam gerichtete Religionsdelikte“ als notwendig erachtet.37 Dagegen nahm vor allem der Vertreter des Justizministeriums, Sektionschef Schauer, Stellung, da „ihm in strafrechtlicher Hinsicht eine Differenzierung zu Ungunsten des Islam und seiner religiösen Einrichtungen nicht am Platze“ erschien. Die richtige Anwendung eines derart beschränkten Schutzes würde in der Praxis überdies große Schwierigkeiten bereiten.38 Auch der Vertreter des Außerministeriums plädierte für eine „möglichst große Begünstigung der islamitischen Institutionen“. Hussarek wollte eine Ausdehnung des § 303 Strafgesetz auf den Islam vermeiden, der die Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft zum Inhalt hatte. Vor allem der Tatbestand gemäß § 303 lit a sollte ausgespart bleiben. Dieser hatte die „Verspottung oder Herabwürdigung, die sich auf Lehren, Gebräuche oder Einrichtungen einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft bezieht“ zum Gegenstand, „sofern dies öffentlich oder doch wenigstens vor mehreren Leuten geschieht, oder in Druckwerken, bildlichen Darstellungen oder Schriften.“ Wie sehr diese Diskussion aktuelle Bezüge aufweist – man denke nur an den dänischen Karikaturenstreit – zeigt der vom Vorsitzenden Hussarek eingebrachte Hinweis auf einen konkreten Fall, in dem es um ein Presseerzeugnis (eine christliche Missionszeitschrift) ging, in dem Mohammed als „Lügenprophet“ bezeichnet worden war.39 Sektionschef Schauer wies darauf hin, dass § 303 StG „keineswegs eine in angemessener Form gehaltene Kritik des anerkannten Religionsbekenntnisses oder eine solche Polemik gegen dessen Lehre verpönne.“40 Diese modern anmutende Argumentation Schauers geht in die Richtung der GITTE SCHINKELE,
Religionsrecht (Wien 2003) 110.
36
Protokoll (Anm 26) 10 ff.
37
Protokoll (Anm 26) 10.
38
Protokoll (Anm 26) 10.
39
Protokoll (Anm 26) 11 f.
40
Protokoll (Anm 26) 11.
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ständigen Rechtsprechung des EGMR, wonach "die Meinungsäußerungsfreiheit eine der wesentlichsten Grundlagen eines demokratischen Systems und eine Grundvoraussetzung für dessen Entwicklung sowie die Entfaltung des Individuums bildet. Geschützt sind nicht nur ‚Informationen’ oder ‚Ideen’, die günstig aufgenommen oder als nicht beleidigend empfunden werden bzw sich als indifferent erweisen, sondern auch solche, die beleidigen, schockieren oder Verwirrung auslösen. Die Religionsfreiheit, unabhängig davon, ob es sich um Angehörige einer Mehrheitsreligion oder einer religiösen Minderheit handelt, schützt keinesfalls vor jeder Form der Kritik, auch wenn diese auf einer feindseligen Einstellung gegenüber der Religion beruht.“41 Am zweiten Sitzungstag ergänzte Sektionschef Schauer seine Stellungnahme durch den interessanten Hinweis, dass derzeit der „Kassationshof in Übereinstimmung mit der früheren strafrechtlichen Theorie auf dem Standpunkte“ stehe, dass sich § 122 nur auf die gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften beziehe. Demgegenüber vertrete Heinrich Lammasch in seinem Entwurf eines neuen Strafgesetzes42 den Standpunkt, dass der strafrechtliche Schutz des § 122 sämtlichen Konfessionen und nicht nur den gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften zu gewähren sei.43 Während die weiteren Vertreter des Kultusministeriums in der folgenden Diskussion auch Bedenken gegen eine völlige Gleichstellung des Islam hinsichtlich des strafrechtlichen Schutzes vorbrachten, unterstützte der Vertreter des Innenministeriums die Position des Justizministeriums. Noch weiter ging der Vertreter des gemeinsamen Finanzministeriums, Regierungsrat Paul, der bemerkte, „dass die Lehren und religiösen Einrichtungen des Islam vor jeder sachlichen Kritik bestehen können und vor der absichtlichen Verspottung zu schützen wären.“ Er räumte aber ein, dass es „nicht immer leicht sei, die geltende und herrschende Lehre und die geheiligten Gebräuche des Islam für
Vgl dazu BRIGITTE SCHINKELE, Kommentar zu EGMR vom 13. 9. 2005, Appl 42.571/98, I.A. vs. Türkei, öarr 56 (2009) 86.
41
Heinrich Lammasch, * 1853, † 1920, war seit 1885 Universitätsprofessor für Strafrecht in Innsbruck und seit 1899 in Wien. Er war Berater von Erzherzog Franz Ferdinand und verfasste 1906 bis 1912 einen Entwurf für ein neues österreichisches Strafgesetz, auf den sich Schauer in seiner Stellungnahme bezog. 42
Diese Auffassung hat sich später – vor allem auf Grund des Art 63 Abs 2 des Staatsvertrages von St. Germain 1919 – in Judikatur und Schrifttum durchgesetzt, vgl INGE GAMPL, Österreichisches Staatskirchenrecht (Wien/New York 1971) 373 f. 43
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den staatlichen Bereich erkennen zu lassen.“44 Daraufhin behielt Hussarek die endgültige Entscheidung über die Frage des strafrechtlichen Schutzes einem Vortrag beim Kultusminister und damit der Kultusverwaltung vor. In der als nächstes besprochenen Eherechtsfrage wurde von Hussarek eine Rezeption des konfessionellen Eherechts des Islam als kaum durchführbar angesehen. Selbst der islamfreundlichste Teilnehmer der Arbeitsgruppe, Regierungsrat Paul, resümierte nach einer kurzen rechtsvergleichenden Übersicht, dass ungeachtet der Möglichkeit elementare islamische Eherechtssätze aufzunehmen, angesichts der grundlegenden Differenzen mit einer „gewissen Rücksichtslosigkeit“ vorzugehen wäre. Auch Sektionschef Schauer stellte fest, dass „das Eherecht jenes Gebiet sei, auf welchem man den Mohammedanern die allergeringsten Konzessionen machen könne“, man müsse sich daher hinsichtlich der „Mohammedaner-Ehen für den staatlichen Bereich auf den Standpunkt der obligatorischen Zivilehe stellen.“45 Auf die besorgte Frage von Sektionschef Prälat Dr. Zschokke46 nach der Beurteilung der „polygamischen Ehen der Mohammedaner“ betonten Hussarek und Schauer, dass sich an der Strafbarkeit der Polygamie im Inland nichts ändern werde. Nachdem die Frage einer möglichen Einbeziehung der Imame in die Matrikenführung erörtert worden war, einigte man sich dahingehend, dass der vom Kultusministerium neu auszuarbeitende Gesetzesentwurf gleichzeitig mit der Vorlage zur parlamentarischen Verhandlung samt Motivenbericht an die interessierten Ressorts übermittelt werden solle, sodass eine Schlussredaktion im Wege einer weiteren Sitzungsbesprechung erfolgen könnte. Am 15. März 1909 wurde der Entwurf vom k.k. Ministerium für Kultus und Unterricht in einer Erinnerung an die interessierten Ministerien weitergelei-
44
Protokoll (Anm 26) 16.
45
Protokoll (Anm 26) 18 f.
Hermann Zschokke, * 1838, †1920, war seit 1870 o Universitätsprofessor der Alttestamentlichen Bibelwissenschaften und emeritierte 1892. Seit 1888 wirkte er als Beirat zur außerordentlichen Dienstleistung im Ministerium für Kultus und Unterricht. Seit 1892 war er Domkapitular zu Sankt Stephan, seit 1901 Mitglied des Herrenhauses, 1905 übernahm er als Sektionschef Agenden aus dem Bereich Staat und Kirche, 1910 wurde er zum Weihbischof der Erzdiözese Wien geweiht. Eine gewisse Islam-Kompetenz hatte er sich als Rektor des österreichisch-ungarischen Pilgerhauses in Jerusalem in den Jahren 1864 bis 1866 erworben. 46
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tet.47 In den Erläuterungen geht das Kultusministerium vor allem auf die noch offene Frage des strafrechtlichen Schutzes besonders ein. Es äußerte abermals Bedenken dagegen, dass „der Religionsgesellschaft der Anhänger des Islam der Schutz der Strafgesetze hinsichtlich ihrer selbst, dann ihrer Religionsübung und ihrer Religionsdiener uneingeschränkt im gleichen Masse wie jeder anderen gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft gewährt“ werde. Man wies darauf hin, „dass die Lehren des Islam, seine Einrichtungen und Gebräuche zum Unterschiede von anderen Religionsgesellschaften dieses Schutzes nur unter der Voraussetzung teilhaftig werden [sollen], dass diese Lehren, Gebräuche und Einrichtungen weder den Staatsgesetzen, noch den einheimischen sittlichen und kulturellen Anschauungen widersprechen.“48 Vor allem sei zu bedenken, dass „der Islam bei einer gewissen Toleranz gegen die Anhänger aller geoffenbarten Religionen doch schlechterdings dem Gedanken der Gleichberechtigung dieser mit seinen Anhängern ablehnend gegenübersteht.“ Es wird an das islamische Recht bezüglich des Glaubensabfalls erinnert und die andere Religionen immer noch diskriminierende osmanische Gesetzgebung genannt.49 In diesem Zusammenhang wurde auch ein gegenwärtig vielfach herangezogenes, im Rechtsstaat unzulässiges, Argument ins Spiel gebracht, nämlich die Reziprozität. Das Kultusministerium konnte es sich nicht verkneifen darauf hinzuweisen, dass durch den vorliegenden Entwurf „jedenfalls den Anhängern des Islam eine bessere und sicherere Rechtsstellung in Oesterreich eingeräumt werde, als die hierzulande bestehenden sonstigen Religionsgesellschaften (also die christlichen Kirchen – R.P.) in der Türkei haben.“ Das Kultusministerium beharrte daher auf der „Beibehaltung der von ihm angeratenen Reserven hinsichtlich des strafrechtlichen Schutzes“, stellte aber die endgültige Schlussfassung dem Justizministerium anheim.50 Das Justizministerium bestand in seiner Stellungnahme vom 1. April jedoch auf einem weiten strafrechtlichen Schutz. § 122 StG sollte laut Motivenbericht ausdrücklich voll einbezogen werden. Hinsichtlich eines Vorbehaltes auf die „einheimischen sittlichen und kulturellen Anschauungen“ bei der Anwendung des § 303 StG beantragte es dessen Streichung, da dies dem „richterlichen Ermessen einen allzu weiten Spielraum“ einräumen würde, was zu
47
AVA, Präs.d.k.k.Min.f.K.u.U. Nr 784, K.U.M., 1909.
48
Ebenda II-4, III-1.
49
Ebenda III-2.
50
Ebenda III-4.
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„Unzukömmlichkeiten bei der praktischen Handhabung führen müßte, die den Zweck des Gesetzes vereiteln könnten“.51 Nach Ansicht des Justizministeriums fehlte dieser Formulierung die gerade für Strafgesetze unerlässliche Bestimmtheit. Die in diesem Zusammenhang angefügten grundsätzlichen Bemerkungen sind von ungebrochener Aktualität und stellen auch aus heutiger Sicht dem österreichischen Justizressort zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein ausgesprochen gutes Zeugnis aus: „Was heute als den kulturellen Anschauungen widersprechend gilt, das widerspricht ihnen nach einiger Zeit schon nicht mehr, weil man sich an das Neue und Fremdartige gewöhnt hat. Dazu kommt, daß ein Widerspruch der Lehren, Gebräuche und Einrichtungen einer Religion mit den sittlichen und kulturellen Anschauungen der Zeit zwar der Anerkennung der Religionsgesellschaft hindernd entgegenstehen kann, aber keinen Freibrief geben darf für gröbliche Verletzung der Rücksicht auf Andersdenkende. Jede vom Staat anerkannte Religionsbetätigung muß gegen gröbliche Verunglimpfung geschützt werden, weil diese die Menschen in ihren heiligsten und empfindlichsten Vorstellungen und Gefühlen trifft, die gefährlichste Reaktion auslösen kann und den öffentlichen Frieden auf das schwerste gefährden kann. Kritik und Polemik in angemessener Form werden durch den strafrechtlichen Schutz gegen Verspottung und Herabwürdigung nicht behindert oder beschränkt.“52 Der Anregung des Justizministeriums wurde vollinhaltlich Rechnung getragen, § 6 Abs 1 des Gesetzes lautet daher: „Die Religionsgesellschaft der Anhänger des Islams nach hanefitischen Ritus genießt als solche hinsichtlich ihrer Religionsübung und ihrer Religionsdiener denselben gesetzlichen Schutz wie andere gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften“, und Abs 2: „Auch die Lehren des Islams, seine Einrichtungen und Gebräuche genießen diesen Schutz, insoweit sie nicht mit den Staatsgesetzen im Widerspruch stehen.“ Ausdrücklich hielt dazu später der Bericht der Kommission des Herrenhauses fest: „Dieser Vorbehalt ist geboten, weil innerhalb des gesamten Lehrbestandes des Islams an Glaubens- und Sittenvorschriften sich manche Auffassung und mancher Satz findet, dem der volle gesetzliche Schutz wegen seines Gegensatzes zur einschlägigen staatlichen Gesetzgebung nicht eingeräumt werden kann. Es mag in dieser Hinsicht die Verweisung auf die Polygamie genügen, welche, so wenig sie tatsächlich und praktisch eine Rolle im Leben der hierzulande befindlichen Anhänger des Islams innehat,
51
AVA, Präs.d.k.k.Min.f.K.u.U. Nr 1009, K.U.M., 1909.
52
Ebenda.
400
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doch in thesi als rechtliche Einrichtung besteht.“53 Das Außenministerium erklärte sich mit dem Entwurf voll einverstanden.54 Das für Bosnien und Herzegowina zuständige gemeinsame Finanzministerium setzte sich in seiner Stellungnahme55 noch einmal für das islamische Eherecht ein: „Um den Mohammedanern die Akklimatisierung in einem vorwiegend christlichen Staate zu erleichtern, erschiene es angezeigt, zumindest die Hauptgrundsätze des scheriatlichen Eherechtes im Bezug auf die Ehehindernisse und die Ehetrennung mit den entsprechenden, vom Standpunkte der staatlichen Gesetzgebung erforderten Kautelen zu rezipieren, ähnlich wie dies seinerzeit in Oesterreich bezüglich der Judenehen geschehen ist.“ 56 Wenn das als derzeit zu schwierig angesehen würde, so wäre es doch 53
Zum Bericht der Kommission des Herrenhauses siehe unten Anm 72.
54
AVA, Präs.d.k.k.Min.f.K.u.U. Nr 1007, K.U.M., 1909.
55
AVA, Präs.d.k.k.Min.f.K.u.U. Nr 1025, K.U.M., 1909.
Diese Argumentation des gemeinsamen Finanzministeriums erinnert stark an die Begründung des Erzbischofs von Canterbury Rowan Williams, der 2008 den Vorschlag machte, in Großbritannien „das islamische Gesetz der Scharia“ zuzulassen. Es sollte „denjenigen Moslems offen stehen, die es dem britischen Rechtssystem vorzögen.“ Der Scharia Gleichberechtigung zuzugestehen, so der Erzbischof, „würde die soziale Kohäsion stärken helfen, da es manchen Muslimen schwer falle, sich mit dem britischen Recht, etwa in Fragen der Ehe, anzufreunden.“ Williams fuhr fort, es gehe ihm darum, dass Muslime nicht mehr „wählen müssen zwischen der harten Alternative der Loyalität zu ihrer Kultur und der zum britischen Staat.“ Keineswegs rede er der extremen Scharia-Interpretation das Wort, wie sie „in einigen repressiven Ländern praktiziert wird.“ Vgl dazu den Bericht [http://www. welt.de/politik/article1644292/Erzbischof_von_Canterbury_will_Scharia_zulassen.html] (27. 11. 2009 / 1. 6. 2010). Es ist nicht weiter überraschend, dass dieser Vorschlag Verwunderung und Kritik hervorgerufen hat. Die mit einer derartigen Anerkennung des islamischen Eherechts verbundenen Probleme haben sich seit dem Beginn des 20. Jahrhundert nicht geändert. Zunächst ist zu betonen, dass die Formulierung „Einführung der Scharia“ – sei es als Postulat, sei es im Rahmen einer kritischen Zurückweisung – alles andere als eindeutig und ihre Verwendung daher äußerst problematisch ist. Das hat seinen Grund darin, dass die Scharia einerseits nur einen Ausschnitt der in einer modernen Gesellschaft rechtlich zu ordnenden Lebensbereiche erfasst und andererseits eine lebensweltliche Ordnung darstellt, die über das rechtlich zu Regelnde hinausgeht. Ein pauschales Verweisen auf die Scharia ist daher aus diesen grundsätzlichen Überlegungen sowohl wissenschaftlich als auch praktisch politisch nicht zielführend. Wenn mit der „Einführung der Scharia“ der Rückgriff auf ein Konzept gemeint ist, das im Rahmen einer umfassenden Geltung der Scharia auch eine beschränkte Tole-
56
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401
„im Interesse der günstigen Aufnahme des vorliegenden Gesetzes bei den Mohammedanern schon vom wesentlichen Vorteil, wenn der § 5 eine Wendung enthielte, aus dem geschlossen werden kann, dass die Bestimmungen des innbezogenen österreichischen Gesetzes (gemeint sind die Bestimmungen über die Ehen von Personen, die keiner gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft angehören57) nur einstweilige Anwendung finden.“ Diesem Vorschlag wurde vom Kultusministerium nach Rücksprache mit dem Justizminister nicht Rechnung getragen.58 Damit waren die Muslime die erste Gruppe, für die in Österreich die obligatorische Zivilehe eingeführt wurde. Dass man seitens des gemeinsamen Finanzministeriums eine unter einem ordre public-Vorbehalt stehende teilweise Einbeziehung islamischen Eherechts in das österreichische konfessionell gebundene Eherecht für durchführbar erachtet hat, ist vor dem Hintergrund der heute aktuellen Diskussionen um die Möglichkeit der Anerkennung von Rechtspluralismus doch recht bemerkenswert. Das Innenministerium sorgte sich – wie könnte es anders sein – um die Sicherung der notwendigen Staatsaufsicht. Der Entwurf böte „keine zureichenden Grundlagen, um die in § 15 Anerkennungsgesetz vorgesehene Überwachung aller anerkannten Religionsgesellschaften auch gegenüber den Anhängern des Islam auszuüben.“ Das Ressort befürchtete, dass die Anwendbarkeit des An-
ranz für Angehörige der Buchreligionen vorsieht, dann würde die Einheit der Rechtsordnung durch ein religiöses Konzept hergestellt, das gerade nicht das unveräußerliche Grundrecht auf Religionsfreiheit als Menschenrecht enthält. Aber auch ein Konzept, das im Rahmen eines staatlichen Rechtssystems eine gespaltene Rechtsordnung dahingehend vorsieht, dass für die Angehörigen unterschiedlicher Religionen ihr jeweiliges religiöses Recht gelten sollte, bringt eine Reihe von nur schwer lösbaren Problemen. Vor allem darf die Geltung des religiösen Rechts nicht zwangsweise oktroyiert werden, dies wäre verfassungsrechtlich unhaltbar. Den Angehörigen jeder Religionsgemeinschaft muss die Alternative einer säkularen Rechtsordnung gewährleistet bleiben. Darüber hinaus müsste im Hinblick auf die auch im Fall eines religiös gespaltenen Rechtssystems zu garantierende Religionsfreiheit eine „Ausstiegs-Option“ gesichert sein, wobei aber nicht übersehen werden darf, dass dies komplexe Fragen hinsichtlich der Rechtssicherheit aufwirft, die gerade auch im Familienrecht gegeben sein muss. Gesetz vom 9. 4. 1870 RGBl 51, über die Ehen von Personen, welche keiner gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft angehören, und über die Führung der Geburts-, Ehe- und Sterberegister für dieselben. 57
58
AVA, Präs.d.k.k.Min.f.K.u.U. Nr 1316, K.U.M., 1909, II-2 bis II-4.
402
RICHARD POTZ
erkennungsgesetzes in allen seinen Bestimmungen59 gegenüber dem Islam ausgeschlossen bleiben könnte. Die „allgemeine Ermächtigung zur Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der Anhänger des Islam auf Grundlage der Selbstverwaltung und Selbstbestimmung im Verordnungswege“ könnte womöglich „keine Handhabe für die Festsetzung der Staatsaufsicht im notwendigen Umfange bieten.“ Wegen der ausdrücklichen Erwähnung der „wichtigsten und einprägsamsten Aufsichtsgerechtsame“ im Gesetz befürchtete das Innenministerium, dass daraus das Missverständnis entstehen könnte, dass die Staatsaufsicht auf diese Fälle beschränkt werde. Diese beiden „wichtigsten Gerechtsame“ sind die Untersagung von Anordnungen betreffend den Gottesdienst wegen entgegenstehender öffentlicher Rücksichten (§ 3 Islamgesetz) und die Entfernung verbrecherischer Religionsdiener aus ihrem Amte (§ 4 Islamgesetz). Sie entsprechen dem damaligen Standard an Staatsaufsicht über Kirchen und Religionsgesellschaften.60 Um dem Innenministerium „so weit wie möglich entgegen zu kommen“, wurde in § 1 ein allgemeiner Hinweis auf die Wahrung der Staatsaufsicht bei Selbstverwaltung und Selbstbestimmung eingefügt und „in einer besonderen gesetzlichen Bestimmung eine Sanktionsklausel behufs Verhängung von Geldbussen und Zwangsmitteln“ in den Entwurf und dann in § 5 Islamgesetz aufgenommen. Am 5. Juni wurden die Stellungnahmen der Ministerien für den Gesetzesentwurf zusammengefasst.61 Beigefügt wurden noch besondere Adressen an andere Ressorts. Dem Außenministerium wurde vorgeschlagen, den Botschafter beim Hl Stuhl mit Instruktionen auszustatten, um allfälligen Missdeutungen dieses Gesetzesvorhabens seitens der „maßgebenden römischen Kreise“ entgegenzutreten. Dies dürfe jedoch nur in informeller nichtamtlicher Form geschehen.62 Das Kultusministerium fügte darüber hinaus eine Zusammenfassung der für eine Anerkennung des Islam sprechenden Argumente bei, bemühte sich dabei vor allem Bedenken zu zerstreuen, das Gesetz Im Besonderen wurden die §§ 9 bis 11 angesprochen, welche zum Teil heute obsolet gewordene Bestimmungen enthalten, so das Erfordernis der österreichischen Staatsbürgerschaft für Mitglieder des Vorstands einer Kultusgemeinde bzw für Seelsorger (siehe oben Anm 34 und 35) bzw dass der Landeshauptmann gegen eine für die Bestellung als Seelsorger ausersehene Person binnen 30 Tagen nach geschehener Anzeige Einwendungen erheben kann. 59
60
Vgl dazu die Parallelbestimmungen in §§ 8 und 17 Katholikengesetz 1874 RGBl 50.
61
AVA, Präs.d.k.k.Min.f.K.u.U. Nr 1316, K.U.M., 1909.
62
Ebenda III-4.
Das Islamgesetz 1912
403
könnte der Ausbreitung des Islam dienen oder zur staatlichen Anerkennung polygamer Ehen führen.63 Hingewiesen wurde schließlich auch darauf, dass „die gesamte staatsbürgerliche Haltung der hiesigen Mohammedaner eine korrekt loyale“ sei und „durch ihre religiöse Association irgendwelchen Rechten oder Interessen der anderen im Staate bestehenden Religionsbekenntnisse keineswegs nahegetreten wird.“64 Botschafter Graf Szécsen hat dann die Frage mit Kardinal-Staatssekretär Merry del Val vertraulich besprochen, der die legislative Maßnahme als „ziemlich selbstverständlich“ betrachtete. Er äußerte lediglich die Erwartung, dass „eine islamitische Propaganda, die ihm allerdings wenig wahrscheinlich erscheine, nicht geduldet werden würde.“65 Im Ministervortrag vom 5. Juni 1909 spricht Kultusminister Karl Graf Stürgkh wieder die Bedenken wegen der Andersartigkeit des Islam an, relativiert diese jedoch: „Andererseits kann wohl, wenn auch Manches an der Religion Mohammeds dem abendländischen Kulturbewußtsein fremd gegenübersteht, wohl mit Recht behauptet werden, daß die sittlichen Grundgedanken des Islam sich keineswegs in einem ausschließlichen Gegensatze zu den moralischen und ethischen Anschauungen des Okzidentes befinden, da ja auch der Islam in seiner Weise Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, Pflichttreue und Gesetzmäßigkeit als unverbrüchliche Norm menschlichen Denkens und Handelns aufstellt.“ Und weiter: „[…] kann ebenso wohl mit Sicherheit behauptet werden, daß weder die Kultusübung noch die sonstige Betätigung religiösen Lebens seitens der Bekenner des Islam in Oesterreich irgendwie Anstoß erregen oder sich in Widerspruch mit den hier herrschenden kulturellen Anschauungen setzen wird;“66 Die daraufhin vom Kaiser am 16. Juni unterfertigte Ah. Entschließung wurde am 19. Juni im Herrenhaus als Gesetzesentwurf eingebracht.67 Die angefügten Erläuternden Bemerkungen fassen Vorgeschichte des Gesetzesentwurfes, die Diskussionen in der Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz von Hussarek und die Stellungnahmen der Ministerien zusammen. Der Islam wird im Großen und Ganzen überaus positiv bewertet. Ungeachtet dessen, dass die besonderen Voraussetzungen der Anerkennung gemäß Anerkennungsgesetz nicht vorla63
Ebenda III-3 bis IV-4.
64
Ebenda IV-2.
65
AVA, Präs.d.k.k.Min.f.K.u.U. Nr 1825, K.U.M., 1909.
66
AVA, Präs.d.k.k.Min.f.K.u.U. Nr 1713, K.U.M., 1909, 3.
67
AVA, Präs.d.k.k.Min.f.K.u.U. Nr 1713, K.U.M., 1909; BlgHH, XIX. Sess, I/Nr 53.
404
RICHARD POTZ
gen, „kann vor allem nicht in Zweifel gezogen werden, dass … die allgemeinen Bedingungen für eine solche Anerkennung dennoch gegeben sind.“ Es wird darauf hingewiesen, dass es bei einer „Glaubenslehre, zu welcher sich ungefähr 220 Millionen Menschen bekennen, die unter den verschiedensten geographischen Bedingungen, in den verschiedensten Gemeinwesen und unter verschiedensten sozialen und politischen Verhältnissen leben,“ gar nicht anders sein könne, als dass ein „Gesamturteil“ vorgenommen werde und nicht „auf Grund der Einzelkritik dieser oder jener Glaubenssätze, dieser oder jener Gebote, Verbote oder Gewährungen der Sittenlehre“ zu entscheiden sei. „Angesichts dieser Gesamtwertung“, so heißt es weiter „müsse die Nichtübereinstimmung einzelner Überzeugungen, Vorschriften und Gebräuche mit jenen der Religionen, welche die sittliche und kulturelle Grundlage unseres Staatswesens bilden, für eine legislativ-politische Beurteilung – und nur um diese handelt es sich hier – wohl in den Hintergrund treten.“ Weiter heißt es: „Ohne Zweifel enthalten die Schriften, aus welchen die Lehren des Islams zu entnehmen sind, Gedanken, denen auf vielen Gebieten Großartigkeit und Tiefe, Weisheit und Poesie nicht abgesprochen werden kann. ... Diesen Tatsachen gegenüber kann im Zusammenhang der beantragten gesetzgeberischen Aktion wohl über manches Beiwerk, das sich nicht harmonisch zur Überzeugung unseres sittlichen Kulturbewußtseins fügen will, hinweggegangen werden.“ 68 Diese Ausführungen sind aus heutiger Sicht durchaus bemerkenswert. Auch in der aktuellen Diskussion muss nämlich immer wieder darauf hingewiesen werden, dass bei der gesetzlichen Anerkennung als Religionsgesellschaft nicht einzelne Überzeugungen und Vorschriften ausschlaggebend sein dürfen, sondern auf den „qualitativen Gesamtzustand“ und auf die „Zielsetzungen der Gemeinschaft als Ganzes abzustellen ist.“69 Zweifel an der Anerkennungsfähigkeit des Islam wurden auch unter Hinweis auf die Situation in Bosnien und Herzegowina ausgeräumt. Da sich „im Leben der Bekenner des Islams ein tiefinnerlicher Gottesglaube zugleich mit hohem ethischem Pflichtbewußtsein offenbart, sei auch kein Zweifel, daß weder die Kultusübung, noch die sonst auftretenden Äußerungen der religiösen Überzeugung Anstoß erregen, oder sich in Widerspruch mit den Postula-
68
Ebenda 5 f.
Vgl RICHARD POTZ / BRIGITTE SCHINKELE, Religionsrecht im Überblick2 (Wien 2007) 46 und 47.
69
Das Islamgesetz 1912
405
ten des Kulturlebens gegenwärtig setzen oder in Zukunft setzen könnten.“70 Wegen Beendigung der XIX. Session konnte der Gesetzesentwurf im Herrenhaus nicht mehr behandelt werden. In der zweiten Sitzung der XX. Session im Herbst 1909 wurde das Islamgesetz im Herrenhaus in erster Lesung behandelt und einer aus neun Mitgliedern bestehenden Spezialkommission zugewiesen.71 Der Bericht der Spezialkommission72 wiederholt kurz die grundsätzlichen Überlegungen, die zum Gesetzesvorhaben geführt haben, ergänzt diese jedoch durch einige weitere Bemerkungen. Einleitend wird darauf hingewiesen, dass nach dem Inkrafttreten des Anerkennungsgesetzes 1874 nach zwei Kirchen (der Altkatholischen Kirche und der evangelischen Brüdergemeinde) erstmals die Anerkennung einer nichtchristlichen Religionsgesellschaft erfolgen solle.73 Bei der Anerkennung des Islam zeige sich jedoch, dass „eine vollständige Unterordnung“ unter das allgemeine Anerkennungsrecht in Ansehung der Besonderheiten dieser Religion „besondere Ausnahmsbestimmungen“ verlange, die ein Spezialgesetz erforderlich machen. Hinsichtlich des islamischen Rechts wird ausgeführt: „Der Koran und seine Ergänzungen umfassen Vorschriften für alle Lebensbeziehungen der Moslemin, sie enthalten die Religions-, die privaten und kriminalistischen Rechtsgesetze, dann politische, administrative und staatswirtschaftliche Regeln, sowie überhaupt die private und öffentliche Lebensordnung, somit alles, was auf die Regierung eines Volkes und auf dessen Privatleben Bezug haben kann. Es läßt sich nicht verkennen, daß in der Sitten- und Rechtslehre Bestandteile vorkommen, die dem europäischen Standard widerstreiten, zum Beispiel die Anerkennung der Sklaverei als Rechtsinstitution, die Polygamie, das Talionsrecht, die Steinigung wegen Ehebruchs, die Verstümmelung wegen Diebstahls, die Unfähigkeit eines Ungläubigen, gegen einen Gläubigen rechtsgültiges Zeugnis abzulegen.“ Aber danach betonte der Kommissionsbericht doch die positiven Aspekte des Islam: „Es ist zu erwähnen, daß der Islam eine monotheistische Religion ist; 70
BlgHH, XIX. Sess, Bd I, Nr 53, 6.
71
StPHH, XX. Sess, Bd I, 16 f.
72
BlgHH, XX. Sess, Bd I, Nr 56.
Die Israelitische Religionsgesellschaft galt grundsätzlich als durch Toleranzakt historisch anerkannt; eine umfassende Regelung durch ein eigenes Spezialgesetz erfolgte jedoch erst durch das Israelitengesetz 1890, vgl dazu STEFAN SCHIMA, Die Revolution von 1848 und die Rechtsstellung der Juden, MIÖG 118 (2010, im Druck). 73
406
RICHARD POTZ
nach den Lehren desselben ist Gott einig, geistig und ewig, Weisheit, Allmacht und Barmherzigkeit sind die Eigenschaften Gottes. Der Islam lehrt die Unsterblichkeit der Seele, künftige Belohnung und Bestrafung und auch sonst finden sich im Koran Stellen von hohem ethischen Werte.“ Der Bericht der Spezialkommission langte am 25. April 1910 ein, und am 28. Juni erfolgte die zweite Lesung.74 Der Berichterstatter Freiherr von Schwegel fasste die Vorgeschichte des Gesetzesentwurfs kurz zusammen. Da sich in der Generaldebatte niemand zu Wort meldete, ging man sofort zur Spezialdebatte über. In dieser erfolgte ebenfalls keine Wortmeldung, sodass sofort die dritte Lesung vorgenommen werden konnte, in der das Gesetz ohne weitere Diskussion angenommen wurde.75 Das Gesetz wurde jedoch im Abgeordnetenhaus vor Ende der XX. Session nicht mehr beraten und musste daher von der Regierung im Herrenhaus erneut eingebracht werden. Ritter von Luschin referierte die Regierungsvorlage indem er zunächst die Vorgeschichte kurz zusammenfasste. Aus heutiger Sicht ist dabei eine Bemerkung des Berichterstatters hinsichtlich der Einschränkung der Anerkennung auf den „hanefitischen Ritus“ hervorzuheben, er stellte in Aussicht, dass, „wenn das Bedürfnis entstehe, eine der drei anderen Schulrichtungen des Islam anzuerkennen, jederzeit die Ausdehnung auf diese Schulrichtungen erfolgen könne.“76 Der historische Gesetzgeber hatte auch im Falle einer späteren Ausdehnung der Anerkennung des Islam also nur den sunnitischen Islam vor Augen. Dem Gesetz wurde im Herrenhaus ohne Gegenstimme die Zustimmung erteilt und dem Angeordnetenhaus weitergeleitet, wo es am 20. März 1912 ohne erste Lesung dem Justizausschuss zugewiesen wurde. Der Bericht des Justizausschusses des Abgeordnetenhauses war äußerst kurz, der Bericht erstattende Abgeordnete Marchl referierte allerdings ausführlich den längeren Kommissionsbericht des Herrenhauses.77 Auch im Abgeordnetenhaus wurde das Islamgesetz ohne Gegenstimme in zweiter und dritter Lesung angenommen, und es trat am 15. Juli 1912 in Geltung. Das auf diese Weise zustande gekommene österreichische Islamgesetz hat in der klein gewordenen Republik eine langfristige Wirkung entfaltet und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinsichtlich der rechtlichen Integration 74
StPHH, XX. Sess, Bd 1, 327 f.
75
Ebenda 328.
76
StPHH, XXI. Sess, 179 f.
77
Vgl RÖSLER, Entstehung 217 f.
Das Islamgesetz 1912
407
von Muslimen in West- und Mitteleuropa singuläre Bedingungen geschaffen. Eine Novellierung des Islamgesetzes wäre allerdings aus vielen Gründen dringend angesagt. Es fehlt vielfach an gesetzlichen Regelungen für äußere Rechtsverhältnisse, wie sie die anderen Spezialgesetze für anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften kennen, man denke nur an die Anstalts- und Militärseelsorge und an das Universitätsrecht. Bei diesem Novellierungsvorhaben sollte der gegenwärtige Gesetzgeber – ungeachtet der veränderten gesellschaftlichen Struktur der muslimischen Minderheit – nicht hinter das Argumentationsniveau der Jahre 1909 bis 1912 zurückfallen.
Vom gemeinrechtlichen Mandat zum Europäischen Mahnverfahren (VO [EG] Nr 1896/2006) WALTER H. RECHBERGER, Wien
I. Einleitung Das mit der Verordnung [EG] Nr 1896/2006 eingeführte Europäische Mahnverfahren folgt weitgehend dem österreichischen Modell.1 Dies soll zum Anlass genommen werden, zu Ehren des stets auch der Prozessrechtsgeschichte verpflichteten Jubilars die Entwicklungsgeschichte des österreichischen Mahnverfahrens darzustellen, die in der europäischen Diskussion keine Erwähnung gefunden hat. Erscheint es doch bemerkenswert, dass dieses österreichische Verfahren, ursprünglich anhand verschiedener europäischer Vorbilder (nämlich Modellen der Verfahrensgesetze deutscher Länder) konzipiert, nunmehr gleichsam europäisiert worden ist.
II. Das Europäische Mahnverfahren A. Die Entstehungsgeschichte Die Entwicklungen des Binnenmarkts in der Europäischen Union haben schon bald zum Ruf nach einer raschen und kostengünstigen Möglichkeit zur Betreibung von Forderungen geführt. Vor allem wenn es um die Einbringung von Ansprüchen geht, deren Rechtmäßigkeit vom zahlungsunfähigen oder -unwilligen Schuldner gar nicht bestritten wird, sind die Gläubiger an einer möglichst effizienten und einfachen Lösung interessiert. Wie in diesem Beitrag dargestellt werden soll, geht die für eine solche Lösung herangezogene
Vgl WALTER H. RECHBERGER, Das Europäische Mahnverfahren aus österreichischer Sicht, in: BERNHARD KÖNIG / PETER G. MAYR (Hrsg), Europäisches Zivilverfahrensrecht in Österreich II – 10 Jahre nach dem Vertrag von Amsterdam (Wien 2009) 25–46, hier 27 mwN. Ebenso PETER G. MAYR, Das europäische Mahnverfahren und Österreich, JBl 2008, 503–517, hier 504. 1
410
WALTER H. RECHBERGER
Konstruktion des Mahnverfahrens vor allem in Deutschland und in Österreich auf eine alte Tradition zurück. Aus österreichischer Sicht ist es natürlich besonders bemerkenswert, dass sich letztlich die österreichische Ausprägung des Mahnverfahrens auch auf europäischer Ebene durchzusetzen vermochte.2 Die Vorarbeiten zu einem europäischen Mahnverfahren gehen auf die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. Bereits im Jahr 1981 sprach sich der Europarat in einer Empfehlung3 für die Schaffung von Maßnahmen zur Sicherstellung einer raschen, mit möglichst geringen Kosten und Formalitäten verbundenen Entscheidung in denjenigen Fällen aus, in denen es sich um unbestrittene oder bereits festgestellte Forderungen handelte.4 Einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Mahnverfahren stellte eine Empfehlung des Europarats aus dem Jahr 19845 dar, in welcher dieser dafür eintrat, dass die genaue Ausgestaltung des Verfahrens, insbesondere dessen schriftliche oder mündliche Durchführung, dem einzelnen Gericht überlassen sein sollte. Im Jahr 1987 wurde im Rahmen der International Association of Procedural Law (IAPL) eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Professor Marcel Storme (Gent) gebildet, der je ein Vertreter der damaligen zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften angehörte; sie hatte es sich zum Ziel
Vgl WALTER H. RECHBERGER / URSULA SCHRAMMEL, Das österreichische Mahnverfahren als Vorbild für die Verordnung zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens (VO [EG] Nr 1896/2006) in: OSMAN B. GÜRZUMAR ua (Hrsg), Gedächtnisschrift für Halûk Konuralp II (Ankara 2009) 463–483, hier 465; RECHBERGER, österreichische Sicht 27. 2
Recommendation No. R (81) 7 on measures facilitating access to justice v 14. 5. 1981. Principle C 9.
3
Vgl WALTER H. RECHBERGER, Ein Plädoyer für ein europäisches Mahnverfahren, in: KLAUS HOFMANN / GEORG WEISSMANN (Hrsg), Ambiente eines Juristenlebens – FS für Otto Oberhammer zum 65. Geburtstag (Wien 1999) 151–172, hier 155; GEORG E. KODEK in HANS WALTER FASCHING / ANDREAS KONECNY (Hrsg), Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen III2 (Wien 2004) Vor § 244 Rz 10. 4
Recommendation N° R (84) 5 On the Principles of Civil Procedure Designed to Improve the Functioning of Justice v 28. 2. 1982. Principle 4. Näher hiezu WALTER H. RECHBERGER / GEORG E. KODEK, Überlegungen zu einem europäischen Mahnverfahren in: WALTER H. RECHBERGER / GEORG E. KODEK (Hrsg), Orders for payment in the European Union (The Hague/London/New York 2001) 29–63, hier 32 f. 5
Vom gemeinrechtlichen Mandat zum Europäischen Mahnverfahren
411
gesetzt, die Sinnhaftigkeit einer einheitlichen europäischen Zivilprozessordnung aufzuzeigen. Der von dieser Kommission erarbeitete Entwurf für ein Modellgesetz einer europäischen ZPO (der später so genannte StormeEntwurf6) enthielt in seinem 11. Abschnitt – gemessen am Gesamtumfang – ziemlich umfangreiche Regelungen zu einem europäischen Mahnverfahren. Nach diesem Konzept sollte das Mahnverfahren für alle auf Geld gerichteten Forderungen zur Anwendung kommen, ohne dass deren Höhe ausschlaggebend gewesen wäre. Dem Antrag auf Erlassung eines Zahlungsbefehls sollten auch die Urkunden, auf die der Kläger sein Begehren stützte, beigelegt werden.7 Die Kommission trat zwar dem Gedanken eines derartigen Modellgesetzes (und damit auch jenem des im Storme-Entwurf vorgesehenen Mahnverfahrens) nicht näher, gab aber 1995 aufgrund einer Studie, welche die Schwierigkeiten insbesondere von Klein- und Mittelbetrieben bei der Rechtsverfolgung und Vollstreckung im Ausland aufzeigte, eine Empfehlung über die Zahlungsfristen im Handelsverkehr8 ab, auf die drei Jahre später ein Vorschlag für eine Zahlungsverzugsrichtlinie9 folgte.10 Diese beschränkte sich nicht bloß darauf, eine einheitliche Zahlungsfrist sowie einen einheitlichen Zinssatz für Verzugszinsen zu normieren, sondern sah auch die Einführung eines beschleunigten Betreibungsverfahrens für unbestrittene Geldforderungen in den jeweiligen Mitgliedstaaten vor (Art 5 der RL). Das Verfahren sollte ohne Rücksicht auf die Höhe des Streitwerts zur Anwendung kommen (Art 6 Abs 2 der RL), Gläubigern aus allen Mitgliedstaaten – ungeachtet ihres Wohnsitzes – offenstehen (Art 6 Abs 3 der RL) und innerhalb eines Zeit-
MARCEL STORME (Hrsg), Rapprochement du Droit Judiciaire de l´Union européenne – Approximation of Judiciary Law in the European Union (Dordrecht 1994). 6
7
Vgl RECHBERGER / KODEK, Überlegungen 34.
Empfehlung der Kommission über die Zahlungsfristen im Handelsverkehr, ABl L 1995/127, 19. In der Empfehlung der Kommission (Art 6) findet sich auch ein erster Hinweis auf ein grenzüberschreitendes Verfahren zur vereinfachten Durchsetzung geringfügiger Geldforderungen. Die Empfehlung entfaltete jedoch nicht die erwarteten Wirkungen, vgl den Bericht vom 9. 7. 1997, ABl C 1997/216, 10. 8
Vorschlag für eine Zahlungsverzugsrichtlinie, ABl C 1998/168, 13; vgl dazu auch RECHBERGER, Plädoyer 152.
9
Die Kommission orientierte sich hiefür am summons production-Verfahren im Vereinigten Königreich, an dem durch injonction de payer eingeleiteten Verfahren in Frankreich sowie am deutschen Mahnverfahren. Vgl RECHBERGER / KODEK, Überlegungen 37; RECHBERGER, österreichische Sicht 26.
10
412
WALTER H. RECHBERGER
raums von 60 Tagen vom Tag des Einlangens des entsprechenden Antrags an abgeschlossen werden (Art 5 Abs 5 der RL). Wenngleich die Richtlinie nicht in dieser Form realisiert wurde11 – die Umsetzung scheiterte vor allem am Widerstand derjenigen Mitgliedstaaten, die eine Vereinheitlichung der Verfahrensbestimmungen als Eingriff in ihre Souveränität ansahen – sollte mit ihr doch zumindest der Grundstein für weitere gemeinschaftsrechtliche Bestrebungen betreffend die Schaffung spezieller Verfahren zur Durchsetzung unbestrittener sowie geringfügiger Forderungen gelegt werden. Die Idee hinter diesen Bestrebungen war nicht nur eine möglichst rasche und kostengünstige Abwicklung derartiger Verfahren, vielmehr sollte dadurch eine Verkürzung und Beschleunigung sämtlicher anderer Verfahren erreicht werden, weil der Richter letztlich nur im Bestreitungsfalle mit der Durchführung eines herkömmlichen Verfahrens befasst sein würde. Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde im Jahr 1997 die Idee eines europäischen „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ geboren.12 Jedem Unionsbürger sollte damit ein möglichst unkomplizierter Zugang zum Recht innerhalb der Europäischen Union eröffnet werden – eine Forderung, welcher der Europäische Rat insbesondere auf seiner Tagung in Tampere im Jahr 1999 Nachdruck verlieh.13 Seine unmittelbare Grundlage findet das Europäische Mahnverfahren in dem im Jahr 2000 verabschiedeten Maßnahmenprogramm des Rates und der Kommission,14 welches die Schaffung eines gemeinschaftsweit einheitlichen oder harmonisierten Verfahrens für die BeiEine Richtlinie in deutlich abgeschwächter Form wurde am 29. 6. 2000 erlassen. Vgl ABl L 200/35 ff. Art 5 Abs 1 am Ende sieht jedoch vor, dass die Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie im Einklang mit ihren jeweiligen Rechtsvorschriften nachzukommen hätten; eine Änderung der verfahrensrechtlichen Vorschriften in den einzelnen Mitgliedstaaten wurde also nicht gefordert. 11
Vertrag von Amsterdam vom 2. 10. 1997, Titel IV „Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr“ Art 61, ABl C 1997/340, 173. 12
Siehe dazu Erwägungsgrund 3 der EuMahnVVO. In eben diesem Jahr wurden auch die ersten Ergebnisse eines europäischen Forschungsprojekts, das sich mit den in den einzelnen Mitgliedstaaten vorhandenen Möglichkeiten einer beschleunigten Rechtsdurchsetzung mittels Zahlungsbefehls befasste, veröffentlicht (RECHBERGER, Plädoyer). Generalberichterstatter für dieses Projekt war – neben dem Autor dieses Beitrags – Georg E. Kodek. Vgl hiezu auch RECHBERGER / KODEK, Überlegungen 29–63. 13
Dieses hatte die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen zum Ziel, vgl ABl C 2001/12, 1; Erwägungsgrund 4 der EuMahnVVO. 14
Vom gemeinrechtlichen Mandat zum Europäischen Mahnverfahren
413
treibung unbestrittener Forderungen vorsah. Die eigentlichen Arbeiten, die zur Verordnung in der nunmehr vorliegenden Form führten, nahmen mit der Vorlage des Grünbuchs über ein europäisches Mahnverfahren und über Maßnahmen zur einfacheren und schnelleren Beilegung von Streitigkeiten mit geringem Streitwert im Jahr 200215 ihren Lauf. Während sich der erste Verordnungsvorschlag aus dem Jahr 200416 noch auf das französische und auf das deutsche Mahnverfahren als Vorbilder berief, kam es letztlich – unter österreichischer Ratspräsidentschaft – zu einer Umgestaltung, die eine weitgehende „Austrifizierung“ des Europäischen Mahnverfahrens zur Folge hatte.17 Die Verordnung Nr 1896/2006 des europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens (EuMahnVVO)18 ist schließlich am 31. Dezember 2006 in Kraft getreten und gilt seit dem 12. Dezember 2008. B. Das Grundkonzept des Europäischen Mahnverfahrens Das Europäische Mahnverfahren tritt als eigenständiges Verfahren neben die von den nationalen Rechten vorgesehenen gerichtlichen Verfahren.19 Der Kläger bzw Antragsteller kann wählen, nach welchem Verfahren er einen Zahlungsbefehl beantragt – er kann sowohl einen nationalen wie auch einen europäischen Titel erhalten;20 eine Streitwertbeschränkung ist von der Verordnung nicht vorgesehen.21 Im Gegensatz dazu ist das nationale österreichische Mahnverfahren bis zu einem Streitwert von 75.000 € obligatorisch durchzuführen.22 15
KOM (2002) 746 endgültig.
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens vom 19. 3. 2004 KOM (2004) 173 endgültig, 6. 16
17
RECHBERGER, österreichische Sicht 27.
ABl vom 30. 12. 2006, L 399/1; zum Gesetzgebungsprozess siehe näher bei THORAUSCHER in: THOMAS RAUSCHER (Hrsg), Europäisches Zivilprozeßrecht II2 (München 2006) EG-MahnVO Rz 1 ff.
18
MAS 19
Erwägungsgrund 10 und Art 1 Abs 2 EuMahnVVO.
Näher hiezu: RECHBERGER / SCHRAMMEL, Vorbild 464; RECHBERGER, österreichische Sicht 28.
20
Dies ist nur konsequent, wenn man bedenkt, dass es sich beim europäischen Mahnverfahren ohnedies um eine fakultative Form der Rechtsdurchsetzung handelt. Siehe hiezu RECHBERGER, österreichische Sicht 29 f. 21
22
Vgl dazu Näheres unter III. B. 5.
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WALTER H. RECHBERGER
Handelt es sich bei einem Mahnverfahren auch nur um ein „Vorverfahren“ zum eigentlichen Zivilprozess, so wurde mit dem Europäischen Mahnverfahren doch erstmals ein von den mitgliedstaatlichen Vorschriften weitgehend unabhängiges (fakultatives)23 europäisches Erkenntnisverfahren geschaffen. Die Verordnung zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens gehört zur „neuen Generation“ der Verordnungen auf dem Gebiet des Europäischen Zivilprozessrechts,24 die kein Exequaturverfahren mehr kennen. So wie der Europäische Vollstreckungstitel nach der Verordnung (EG) Nr 805/200425 und das Europäischen Bagatellurteil nach der Verordnung (EG) Nr 861/200726 ist der Europäische Zahlungsbefehl in allen Mitgliedstaaten (mit Ausnahme von Dänemark) unmittelbar vollstreckbar. Vergleicht man das Europäische Mahnverfahren mit dem innerstaatlichen Mahnverfahren der österreichischen ZPO, fällt sofort die weitgehende Übereinstimmung der Grundstruktur auf. Tatsächlich bediente sich der Gemeinschaftsgesetzgeber sowohl bei der Erarbeitung dieser Struktur als auch bei der Ausgestaltung der Formblätter des österreichischen Vorbilds.27 Insbesondere wurde statt des im schon erwähnten ersten Verordnungsvorschlag28 vorgese-
BIRGIT TSCHÜTSCHER / MARTIN WEBER, Die Verordnung zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, ÖJZ 27 (2007) 303–315, hier 305.
23
Vgl WALTER H. RECHBERGER, Die neue Generation. Bemerkungen zu den Verordnungen Nr 805/2004, Nr 1896/2006 und Nr 861/ 2007 des Europäischen Parlaments und des Rates, in: ROLF STÜRNER ua (Hrsg), FS für Dieter Leipold zum 70. Geburtstag (Tübingen 2009) 301–315, hier: 301.
24
Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. 4. 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, ABl L 2004/143, 15.
25
Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 7. 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen, ABl L 2007/199, 1.
26
Begründung des Rates zum Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens zu den Abänderungen 74–76, 30. 6. 2006, 7535/3/06 REV 3 ADD 8 JUSTCIV 65 CODEC 254; siehe auch KODEK in FA2 SCHING / KONECNY, Kommentar III Vor § 244 ZPO Rz 9; MAYR, Mahnverfahren 504; TSCHÜTSCHER / WEBER, Verordnung 308, 315. 27
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens vom 19. 3. 2004, KOM (2004) 173 endgültig. 28
Vom gemeinrechtlichen Mandat zum Europäischen Mahnverfahren
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henen zweistufigen Modells das – ursprünglich nur in Österreich solcherart geregelte – einstufige Verfahren gewählt.29 Der Zahlungsbefehl wird demnach ipso iure rechtskräftig und vollstreckbar, wenn der Antragsgegner einen Einspruch unterlassen hat.30 Neben der Effizienz liegt der Vorteil der Einstufigkeit – gerade bei einem grenzüberschreitenden Verfahren – in der Vermeidung möglicher Zustellfehler durch mehrmalige Zustellvorgänge.31 Da der Einspruch unbegründet erfolgen kann und damit keine besondere Sachkunde erfordert, erscheint es durchaus auch sachlich gerechtfertigt, keinen weiteren Rechtsbehelf zur Bekämpfung des Zahlungsbefehls anzubieten.32 Eine weitere (anfechtbare) Entscheidung, mit der erst der Zahlungsbefehl vollstreckbar wird, wie sie in den meisten mitgliedstaatlichen Mahnverfahren vorgesehen ist,33 gibt es nach der Verordnung nicht. Vorgesehen ist allerdings eine Überprüfung in Ausnahmefällen (Art 20 EuMahnVVO), die zur Nichtigerklärung des (rechtskräftigen) Zahlungsbefehls führen kann. Damit wird dem Schuldner bei außergewöhnlichen Umständen ein Rechtsbehelf ähnlich der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Verfügung gestellt.34 Die Statistik beweist, dass sich das Europäische Mahnverfahren zumindest in Österreich beachtlicher Beliebtheit erfreut: Vom Inkrafttreten der EuMahnVVO am 12. Dezember 2008 an bis zum 30. Juni 200935 wurden vor
Dies wurde vom Autor dieses Beitrags sowie von GEORG E. KODEK (Überlegungen 41 f) bereits in ihrer im Jahr 2001 erschienenen Studie über Mahnverfahren in der Europäischen Union gefordert, vgl RECHBERGER, österreichische Sicht 26 f.
29
RECHBERGER, Plädoyer 154 f; RECHBERGER / SCHRAMMEL, Vorbild 469. Kritisch zum einstufigen Verfahren: MARY-ROSE MCGUIRE, Das neue Europäische Mahnverfahren (EuMVVO): Über das (Miss-)Verhältnis zwischen Effizienz und Schuldnerschutz, Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht 6 (2007) 303–308, hier 306 f.
30
Vgl RECHBERGER, Zum Entwurf einer Verordnung zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, in: NIKOLAOS NIKAS (Hrsg), Studia in honorem Pelayia Yessiou-Faltsi (Athen/Thessaloniki 2007) 513–530, hier 526. Dass durch weniger Zustellungen auch die Kosten des Verfahrens gesenkt werden (darauf weisen TSCHÜTSCHER / WEBER, Verordnung 311 hin), ist eher ein Nebeneffekt. 31
32
Vgl dazu RECHBERGER, Plädoyer 164; RECHBERGER / SCHRAMMEL, Vorbild 469.
33
Siehe RECHBERGER, Plädoyer 155; RECHBERGER / SCHRAMMEL, Vorbild 469.
34
Ein dahingehender Vorschlag findet sich schon bei RECHBERGER, Plädoyer 163.
Seit 1. 7. 2009 ist für das Europäische Mahnverfahren ausschließlich das BG für Handelssachen in Wien zuständig (§ 252 Abs 2 ZPO idF Zivilverfahrensnovelle 2009 BGBl I 30). Davor richtete sich die Zuständigkeit für die Durchführung europäischer
35
416
WALTER H. RECHBERGER
österreichischen Gerichten insgesamt 768 derartige Verfahren mit einem durchschnittlichen Streitwert von 9.400 € durchgeführt; die Einspruchsquote lag lediglich bei 2,6 %.36
III. Rechtshistorischer Abriss über die Entwicklung des Mahnverfahrens A. Das gemeinrechtliche Mandat37 Die Ursprünge des heutigen österreichischen Mahnverfahrens finden sich im Mahngesetz von 1873,38 das auf eine Diskussion in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts zurückgeht.39 Vorläufer dieser Verfahrensform finden sich jedoch bereits im gemeinen Recht.40 Die „Regelverfahren“ des gemeinen Rechts zeichneten sich durch Formalismus und Langwierigkeit aus, was das Bedürfnis nach Schaffung summarischer Verfahrensarten zur beschleunigten Rechtsdurchsetzung – insbesondere für Forderungen des täglichen Lebens, bei denen Einwendungen des Beklagten unwahrscheinlich erschienen – förderte. Deshalb kam es zur Schaffung eines verkürzten Verfahrens, in dem über Antrag des Gläubigers ein Zahlungsauftrag erlassen wurde, ohne dass dem eine Anhörung des Schuldners vorausging. Die Verfahrenseinleitung erfolgte stets durch Klage; ein Mahngesuch,
Mahnverfahren nach den allgemeinen Bestimmungen der JN. Ausführlicher: MAYR, Mahnverfahren 508 f; RECHBERGER, österreichische Sicht 35 f mwN. 36
Siehe RECHBERGER, österreichische Sicht 28.
Ausführlich zum gemeinrechtlichen Mandat: HEINZ HELMREICH, Erscheinungsformen des Mahnverfahrens im deutschsprachigen Rechtskreis (=Erlanger Juristische Abhandlungen Band XLV, Köln/Berlin/Bonn/München 1995) 5 ff.
37
38
KODEK in FASCHING / KONECNY, Kommentar III2 Vor § 244 Rz 13; PAUL OBERHAMMER, Zu den Ursprüngen des Mahnverfahrens im österreichischen Recht, in: BERNHARD KÖNIG (Hrsg), Historiarum ignari semper sunt pueri: FS Rainer Sprung zum 65. Geburtstag (Wien 2001) 283–310, hier 300 ff. HANS WALTER FASCHING, Die Weiterentwicklung des österreichischen Zivilprozeßrechts im Lichte der Ideen Franz Kleins, in HERBERT HOFMEISTER (Hrsg), Forschungsband Franz Klein (Wien 1988) 97–131, hier 112; OBERHAMMER, Ursprünge 297 f mwN. 39
Manche Autoren gehen sogar noch weiter zurück und sehen die Ursprünge des Mahnverfahrens im germanischen Recht bzw im römischen Interdiktenprozess (siehe HELMREICH, Erscheinungsformen 5 mwN). 40
Vom gemeinrechtlichen Mandat zum Europäischen Mahnverfahren
417
wie es der Mahnklage in späterer Zeit zur Seite gestellt wurde, kam nach gemeinem Recht nicht in Betracht.41 Dabei gab es sowohl bedingte als auch unbedingte Mandate. Während das unbedingte Mandat einen begründeten Nachweis des Anspruchs voraussetzte und der Erlass eines solchen nur dann in Betracht kam, wenn Einreden des Schuldners offensichtlich aussichtslos erschienen, war die Erlassung eines bedingten Mandats relativ einfach zu bewirken, zumal eine Bescheinigung der anspruchsbegründenden Umstände ausreichte.42 Bedingte Mandate konnten jedenfalls Geldforderungen zum Gegenstand haben und unabhängig von der Höhe des Streitwerts erlassen werden.43 Waren die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage erfüllt und erschien das Begehren des Beklagten als wahrscheinlich, erließ der Richter einen Zahlungsauftrag. Der Beklagte wurde aufgefordert, die geschuldete Forderung zu begleichen oder – im Falle eines bedingten Mandats – binnen einer gewissen, vom Gericht festzusetzenden sogenannten Ladungsfrist vor Gericht zu erscheinen und Einwendungen vorzubringen.44 Durch die Verteidigung des Beklagten anlässlich der ersten gerichtlichen Verhandlung wurde das Mandatsverfahren in Form eines ordentlichen Prozesses fortgeführt.45 Im Unterschied zur heutigen Rechtslage (s hiezu unten II.B.5.) entfaltete das Mandat nicht die Wirkungen eines Urteils, insbesondere kam ihm keine Rechtskraft zu und es konnte aus dem Mandat nicht unmittelbar vollstreckt werden. Es handelte sich vielmehr um ein zweistufiges Verfahren: Ließ der Beklagte die Einspruchsfrist ungenutzt verstreichen, musste der Kläger binnen eines Jahres zwecks Erlangung eines Vollstreckungstitels die neuerliche Erlassung eines Befehls erwirken; das bedingte Mandat musste in ein unbe-
Die Klage konnte sowohl schriftlich als auch mündlich angebracht werden, vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 7 f mwN. 41
42
Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 7.
Die näheren Modalitäten zur Ausfertigung des Mandats sowie die Einwendungsfrist waren – in Ermangelung einer umfassenden abschließenden Regelung des Mandatsprozesses weder im Reichsrecht noch in den Partikularrechten – in das Ermessen des jeweils angerufenen Gerichts gestellt. Die Frage, ob Mandate auch aufgrund anderer als auf Geld gerichteter Ansprüche zulässig waren, musste daher nach dem jeweiligen Gerichtsgebrauch beurteilt werden, vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 7. 43
Ein einfacher, schriftlicher Widerspruch war nach gemeinem Recht nicht zulässig, vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 10. 44
45
Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 10.
418
WALTER H. RECHBERGER
dingtes umgewandelt werden.46 Verabsäumte er dies, wurde das Mandat wirkungslos. Über Antrag des Klägers erließ das Gericht ein Kontumazialurteil, welches mittels ordentlicher Rechtsmittel angefochten werden konnte. Unterblieb eine Anfechtung, wurde das Erkenntnis rechtskräftig und konnte auf Antrag des Gläubigers vollstreckt werden. Das Gericht hatte dem Beklagten eine Frist zur Berichtigung der aushaftenden Ansprüche zu setzen,47 bei deren ungenütztem Verstreichen es über neuerlichen Antrag des Gläubigers die Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner einleitete; diese wurde von Gerichtsbediensteten auf Grundlage eines Vollstreckungsbeschlusses durchgeführt.48 In die AGO 1781 fanden die Bestrebungen, säumige Schuldner mittels Auftrags zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen anzuhalten, allerdings nicht Eingang; sie fanden ihren Niederschlag erst im Wechselmandatsverfahren (1850), im Urkundenmandatsverfahren (1855/59), im Bestandverfahren (1858), im Syndikatsverfahren (1872) und schließlich im Mahnverfahren nach dem Mahngesetz 1873.49 Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist, dass – im Gegensatz zu allen anderen Verfahren, die in Anlehnung an bereits früher in Österreich bestehende Verfahrensarten eingerichtet wurden – das Mahnverfahren nach dem Mahngesetz 1873 seine Grundlage hauptsächlich in ausländischen Vorbildern fand. Wie aus der Regierungsvorlage zum Mahngesetz 1873 hervorgeht, stützt sich das österreichische Mahnverfahren auf Vorbilder aus Preußen, Hannover und Baden, welche die Umwandlung des gemeinrechtlichen Mandats- zum modernen Mahnverfahren bereits (weitgehend) vollzogen hatten. Auf das gemeinrechtliche Mandatsverfahren nahm der österreichische Gesetzgeber nicht mehr Bezug.50
46
Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 9 f.
Die entsprechenden gerichtlichen Verfügungen wurden als Zahlungsbefehl, Zahlungsgebot bzw Gebotsbrief bezeichnet, vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 11 mwN. 47
48
Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 11.
49
OBERHAMMER, Ursprünge 287.
50
Vgl OBERHAMMER, Ursprünge 287 ff mwN.
Vom gemeinrechtlichen Mandat zum Europäischen Mahnverfahren
419
B. Die Vorbilder für das österreichische Mahnverfahren im Einzelnen 1. Das preußische Recht Die am weitesten entwickelten und dem heutigen österreichischen Mahnverfahren am ehesten entsprechenden Regelungen waren im preußischen Recht51 zu finden. Wenngleich es in Preußen – so wie in Österreich – spätestens mit Inkrafttreten der AGO von 1793 für eine beschleunigte Rechtsdurchsetzung mittels Auftrags kaum einen gesetzlichen Spielraum gab, kam es aufgrund der zusehends als „unerträglich langwierig“ empfundenen Dauer der Verfahren zunächst mit der Einführung der „Verordnung über den Mandats-, den summarischen und den Bagatellprocess“ vom 1. Juni 183352 zu einem ersten Schritt in Richtung einer raschen Rechtsdurchsetzung. Die Erlassung eines Zahlungsbefehls nach dieser VO war jedoch ausschließlich aufgrund einseitiger Forderungen möglich und setzte überdies den Nachweis der Forderung mittels öffentlicher oder gerichtlich bzw notariell beglaubigter Urkunden voraus.53 Der Beklagte hatte den Kläger binnen 14 Tagen klaglos zu stellen oder gegen den Zahlungsbefehl schriftlich54 oder mündlich Einwendungen vorzubringen. Einwendungen waren jedoch nach § 3 der VO nur dann zulässig, wenn sie ohne Aufschub durch Urkunden, Eideszuschiebung oder solche Zeugen, deren unverzüglicher Abhörung kein Hindernis entgegenstand, „liquid“ gemacht werden konnten. Über Einwendung des Beklagten war eine mündliche Verhandlung anzuberaumen (§ 18 der VO). Die Erhebung von Einreden war auch noch nach Ablauf der im Mandat festgelegten Frist möglich (§ 4 der VO e contrario), allerdings hinderten sie eine Exekutionsführung nicht und waren in einem Separatverfahren zu behandeln (§ 4 der VO). Ließ
Genauer: in der Verordnung vom 21. 7. 1846 „über das Verfahren in Civilprocessen“. 51
52
Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, No 7, 37 ff.
Trotz seiner restriktiven Voraussetzungen soll diesem Verfahren bereits von Beginn an große praktische Bedeutung zugekommen sein, vgl OBERHAMMER, Ursprünge 288 f mwN. Eine wesentliche Verbesserung gegenüber der bisherigen Rechtsdurchsetzung brachte freilich erst die Verordnung vom 21. 7. 1846, vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 14. 53
Im Gegensatz zum gemeinrechtlichen Mandat musste der Beklagte daher nicht sogleich vor Gericht erscheinen. Erst im Falle von Einwendungen gegen den Befehl waren beide Parteien sowie die vom Beklagten genannten Zeugen zur mündlichen Verhandlung der Sache zu laden (§ 3 Abs 2 leg cit). Vgl auch HELMREICH, Erscheinungsformen 16. 54
420
WALTER H. RECHBERGER
der Beklagte die Widerspruchsfrist ungenutzt verstreichen, wurde der Zahlungsbefehl über Antrag des Klägers für vollstreckbar erklärt (§ 2 der VO). Mit Verordnung vom 21. Juli 1846 „über das Verfahren in Civilprozessen“55 wurde ein Schritt in Richtung eines (echten) Mahnverfahrens gesetzt. In § 28 dieser VO wurde für einen Wert von „fünfzig Thalern“ nicht übersteigende, auf Geld oder andere vertretbare Sachen gerichtete Forderungen, die sich nicht zur Durchführung in einem Mandatsverfahren nach der Verordnung von 1833 eigneten – es wird sich wohl um jene Forderungen gehandelt haben, die nicht mittels entsprechender Urkunden sofort „liquid“ gemacht werden konnten – ein verpflichtendes Mandatsverfahren festgelegt. Das Gericht erließ „anstatt der Vorladung zu einem Termine“ ein Mandat, das, mangels eines Widerspruchs, die Wirkungen eines Kontumazialerkenntnisses nach sich zog und somit ein – durch die Möglichkeit eines Einspruchs bedingtes – Endurteil darstellte. In Ermangelung eines Einspruchs wurde es rechtskräftig und konnte über Antrag des Klägers sofort vollstreckt werden (§ 28 Abs 2 der VO).56 Der Widerspruch konnte entweder mündlich zu Protokoll gegeben oder im Wege einer schriftlichen Erklärung eingebracht werden und bedurfte keiner Begründung.57 Die grundsätzlich 14-tägige Widerspruchsfrist konnte „bei beschleunigten Sachen nach richterlichem Ermessen“ kürzer bestimmt werden. Die Erhebung des Widerspruchs führte, ohne dass es eines Antrags des Gläubigers hiezu bedurfte, zur Einleitung eines kontradiktorischen Verfahrens (§ 28 Abs 2 der VO). So sehr das preußische Mahnverfahren nach der Verordnung von 1846 dem gegenwärtigen österreichischen Mahnverfahren ähnelte, war es doch noch von einer prinzipiellen Zweistufigkeit gekennzeichnet.58 Eine wesentliche Weiterentwicklung gegenüber dem gemeinrechtlichen Mandat lag aber jedenfalls in der – keines Antrags des Gläubigers bedürfenden – Umwandlung des Mandats in ein (der Rechtskraft fähiges) Versäumungsurteil nach Ablauf der Widerspruchsfrist. Gegen dieses standen dem Schuldner allerdings das Text bei KARL FRIEDRICH BENJAMIN LÖWENBERG, Die Lehre von den Rechtsmitteln im Preußischen Civil- und Kriminal-Prozesse (Berlin 1846) 470 ff, elektronisch: [http://dlib-pr.mpier.mpg.de/m/kleioc/0010/exec/bigpage/%2258087_00000493.gif %22] (18. 1. 2010). 55
Das Mandat bildete daher bereits als solches den Vollstreckungstitel; eines neuerlichen Erkenntnisses, wie dies im gemeinrechtlichen Verfahren der Fall war, bedurfte es nicht. Vgl oben II.A. 56
57
Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 17.
58
Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 19; OBERHAMMER, Ursprünge 289.
Vom gemeinrechtlichen Mandat zum Europäischen Mahnverfahren
421
Rechtsmittel der Restitution sowie „Purifikations-Resolutionen“ zu, wobei es einer Behauptung oder eines Beweises erheblicher Hinderungsursachen nicht bedurfte. 2. Die Rechtslage im Großherzogtum Baden Das badische Recht hatte das Mahnverfahren in seine (allgemeine) Zivilprozessordnung integriert und unterschied bereits in der ersten der drei in der Folge ergangenen Prozessordnungen, jener von 1831, zwischen einem Mandats- und einem – fakultativen – Mahnverfahren (§§ 702 ff respektive §§ 720 ff). Im Gegensatz zu den in Preußen und Hannover in Geltung stehenden Verfahren kannte das badische Recht keine Streitwertbeschränkung. Erhob der Schuldner Widerspruch gegen den Zahlungsbefehl, wurde nicht automatisch das ordentliche Verfahren eingeleitet, sondern der Kläger hatte diesbezüglich einen eigenen Antrag zu stellen (§ 724). Dieses formalistische System wurde in der Prozessordnung von 1851 aufgegeben: der Kläger konnte nunmehr schon in seinem ursprünglichen Antrag auf Erlass eines Zahlungsbefehls die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung für den Fall eines Widerspruchs begehren (§ 691).59 Das Unterbleiben eines Einspruchs gegen den Zahlungsbefehl führte nicht automatisch zu dessen Vollstreckbarkeit, es lag vielmehr in der Hand des Klägers, binnen einer Frist von drei Monaten um die Vollstreckbarerklärung anzusuchen (§ 690).
Process-Ordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Großherzogthum Baden, Amtliche Ausgabe (Karlsruhe 1851); elektronisch unter: [http://books.google.at/books?id=CY8qAAAAYAAJ&dq=proce%C3%9F-ordnun g+in+b%C3%BCrgerlichen+Rechtsstreitigkeiten&printsec=frontcover&source=bl &ots=Fe4ECbMgel&sig=4KeUs_UwTOZINixEPkqPkWoDglo&hl=de&ei=GSsy S_2LD5nimgP8hcjPBA&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=2&ved=0CA wQ6AEwAQ#v=onepage&q=proce%C3%9Fordnung%20in%20b%C3%BCrgerlich en%20Rechtsstreitigkeiten&f=false] (18. 1. 2010). 59
Das Europäische Mahnverfahren sieht hingegen gem Art 7 Abs 4 EuMahnVVO den umgekehrten Weg vor: Der Kläger kann in einer Anlage zu seinem Antrag erklären, dass er die Überleitung in ein ordentliches Verfahren für den Fall ablehnt, dass der Beklagte Einspruch erhebt.
422
WALTER H. RECHBERGER
Auch in der Prozessordnung von 186460 fand sich neben dem Mahnverfahren noch das Mandatsverfahren. Die Bestimmungen entsprachen in ihrem Wesen jenen aus 1831,61 dem Schuldner wurde nunmehr aber die Möglichkeit eingeräumt, „gegen das Erkenntniß, welches die Forderung für zugestanden erklärt“62 binnen 14 Tagen Wiederherstellung (zu) begehren (§ 642). Einer Angabe jener Gründe, die ihn an der rechtzeitigen Erhebung eines Einspruchs gehindert hatten, war nicht erforderlich. Daneben stand dem Beklagten der unbefristete (§ 214 e contrario) Antrag auf Wiederherstellung offen, sofern er beweisen konnte, dass ihn an der Versäumung der Frist kein Verschulden traf. 3. Die Rechtslage im Königreich Hannover Ein ähnliches Verfahren wurde im Königreich Hannover im Jahre 1834 eingeführt. Zweck dieses Verfahrens war die Schaffung einer Möglichkeit zur Durchsetzung von Forderungen, die keiner gerichtlichen Entscheidung bedurften, weil sie an sich unstrittig waren, nur der Schuldner ihre Begleichung vergessen hatte oder die Nichtbegleichung auf mangelnde Liquidität des Schuldners zurückzuführen war.63 Die wesentlichen Unterschiede zu den bisherigen Verfahren lagen in zwei Punkten:64 Rein formal handelte es sich im Königreich Hannover um ein eigenständiges Verfahren, wohingegen die früheren Modelle der anderen Länder als Sonderformen eines Klageverfahrens verstanden worden waren. Inhaltlich sah das Mahnverfahren eine Verfahrenseinleitung nicht notwendigerweise mittels Klage vor, vielmehr war für die Rechtsverfolgung zunächst ein bloßer Antrag des Klägers ausreichend. In
L. STEMPF (Hrsg), Process-Ordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Großherzogthum Baden. Mit den Motiven, Commissionsberichten und den landständischen Verhandlungen (Mannheim 1864); elektronisch unter [http://books.google.at/books?id=Y4oqAAAAYAAJ&dq=proce%C3%9Fordnung +in+b%C3%BCrgerlichen+Rechtsstreitigkeiten+1864&printsec=frontcover&sour ce=bl&ots=d1s-FfQNsy&sig=nxN1yYsbN9tjWfEEPb60zY7XME&hl=de&ei=Ljg yS7qeCJvumgPx5tCMBg&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=6&ved=0C BYQ6AEwBQ#v=onepage&q=&f=false] (18. 1. 2010).
60
61
Vgl OBERHAMMER, Ursprünge 293.
Nach der badischen Prozessordnung von 1864 musste der Kläger nach Erlass eines Zahlungsbefehls binnen drei Monaten einen Antrag auf Exekution desselben stellen, andernfalls der Zahlungsbefehl seine Wirksamkeit verlor. 62
63
Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 22.
64
Hiezu HELMREICH, Erscheinungsformen 21 ff.
Vom gemeinrechtlichen Mandat zum Europäischen Mahnverfahren
423
dem 1834 eingeführten Verfahren kam es im Fall, dass der Streitwert 30 Taler65 nicht überschritt und die Forderung auf Geld oder andere vertretbare Sachen gerichtet war, zur Erlassung eines Zahlungsbefehls, sofern der Kläger nicht ausdrücklich eine andere Verfahrensart beantragte.66 Eines eigenen Antrags des Klägers, die Rechtssache in einem Mahnverfahren zu erledigen, bedurfte es also nicht. Auch eine Vorlage von Urkunden zum Beweis des Anspruchs war entbehrlich – die Behauptung der Ansprüche seitens des Klägers war ausreichend;67 es handelte sich daher um ein Mahn-, nicht um ein Mandatsverfahren. Mit Gesetz von 185268 wurde ein fakultatives Mahnverfahren für „persönliche“ Ansprüche geschaffen, das für unbestrittene Forderungen zulässig war. Wie auch im preußischen Verfahren wurde über Antrag69 des Gläubigers ein an den Schuldner gerichteter Auftrag erlassen, die geschuldete Forderung binnen 14 Tagen zu begleichen oder Widerspruch zu erheben. Einer Begründung bedurfte der Widerspruch nicht. Über einen Einspruch verfügte das Gericht von Amts wegen die Einleitung eines ordentlichen Verfahrens.70 Der Zahlungsbefehl wurde zwar nicht rechtskräftig, doch konnte aus ihm – ohne dass es einer Umwandlung in ein Urteil bedurfte – vollstreckt werden. Dem Zahlungsbefehl kam somit die Funktion einer „exekutorischen Vertragsurkunde“71 zu. Anders als in den bisherigen Verfahren sah das hannoversche Mahnverfahren eine strikte Trennung zwischen Erkenntnis- und Exekutionsverfahren vor; die Vollstreckung des Zahlungsbefehls war Gerichtsvögten übertragen.72 Da der Gerichtsvogt nicht von der Vollstreckbarkeit des Zahlungsbefehls ausgehen konnte, hatte das Titelgericht eine Vollstreckbar-
Diese wurde zunächst mit Gesetz vom 27. 7. 1852 auf 50 Taler, mit Gesetz von 1859 auf 150 Taler angehoben. 65
Ausführlich hiezu sowie zu den weiteren im Königreich Hannover existierenden einschlägigen Verfahren OBERHAMMER, Ursprünge 290 mwN. 66
67
Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 23.
68
Gesetz-Sammlung für das Königreich Hannover, I. Abteilung, N° 27.
Dieser konnte schriftlich oder mündlich eingebracht werden, vgl § 11 Abs 1 der Verordnung von 1852. 69
70
Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 26.
71
HELMREICH, Erscheinungsformen 25.
Im gemeinen Recht hingegen lag die Vollstreckung des Mandats in der Hand des mit der Durchführung des Erkenntnisverfahrens betrauten Richters, vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 11. 72
424
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keitsbestätigung auszustellen, auf deren Grundlage der Gerichtsvogt einen Zahlungsbefehl erließ.73 Auch im Königreich Hannover hatte sich das Verfahren zur beschleunigten Rechtsdurchsetzung, gemessen am Standard des gemeinen Rechts, grundlegend weiterentwickelt. Das hannoversche Recht sah nicht mehr das Vorliegen eines Urteils als Voraussetzung für die Zwangsvollstreckung an, sondern erkannte auch einem unbeeinspruchten Zahlungsbefehl – wenngleich es diesen nicht mit Rechtskraftfähigkeit ausstattete – die Eigenschaft eines Vollstreckungstitels zu. Eines zweiten, über Antrag des Gläubigers eingeleiteten Verfahrensabschnitts bedurfte es daher nicht. Die Erteilung der Vollstreckbarkeitsklausel erfüllte nicht die Funktion einer Bestätigung des Zahlungsbefehls, sondern bildete lediglich die Voraussetzung für die Durchführung der konkreten Exekution.74 4. Die Bundesstaaten-Entwürfe 1864/66 Die in Preußen, Hannover und Baden in Kraft stehenden Mahnverfahrensordnungen dienten dem deutschen Gesetzgeber bei den Beratungen über eine einheitliche Verfahrensordnung für die deutschen Bundesstaaten in den Jahren 1864/66 als Diskussionsbasis. Nachdem der deutsche Bund jedoch kurz nach der Veröffentlichung der Entwürfe auseinanderfiel, wurden die Entwürfe nie in die Praxis umgesetzt. Die Überlegungen zu diesen Bundesstaaten-Entwürfen sind aber deshalb von Interesse, weil sich der österreichische Gesetzgeber in den Vorarbeiten zum Mahngesetz 1873 auch an ihnen orientierte.75 Ausgangspunkt für die Beratungskommission war das Mahnverfahren im Königreich Hannover,76 bei dem es sich, wie ausgeführt, um ein fakultatives Verfahren bis zu einem gewissen – geringen – Streitwert handelte (näher hiezu oben Pkt II.B.3.). Die mit der Ausarbeitung eines Entwurfs einer Verfahrensordnung für die deutschen Bundesstaaten betraute Kommission war vom Bestreben geleitet, ein relativ einfaches, kurzes Verfahren zur Durchsetzung von „Ansprüchen des täglichen Lebens“ zu schaffen.77 Die Verfahrens-
73
Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 27.
Eine meritorische Überprüfung des Zahlungsbefehls erfolgte im Zuge der Erteilung der Vollstreckbarkeitsklausel nicht. Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 27. 74
75
Vgl OBERHAMMER, Ursprünge 294.
76
OBERHAMMER, Ursprünge 295.
77
Zitiert nach HELMREICH, Erscheinungsformen 36.
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425
einleitung sollte – wie auch bereits im hannoverschen Recht – durch schriftlich oder mündlich einzubringendes Mahngesuch erfolgen.78 Im Zuge der Beratungen wurde nicht nur der Frage einer Wertbegrenzung für Mahnverfahren besondere Bedeutung beigemessen, sondern – im Hinblick auf Parallelverfahren und den Grundsatz ne bis in idem – auch erörtert, wie präzise der Kläger den Streitgegenstand anzugeben hätte.79 Daneben wurde zur Debatte gestellt, ob ein Widerspruch gegen einen Zahlungsbefehl zur amtswegigen Einleitung eines ordentlichen Verfahrens führen oder ein solches einen gesonderten Antrag des Klägers voraussetzen sollte. Die Kommission entschied sich für das Erfordernis eines neuerlichen Antrags zwecks Überleitung in das ordentliche Verfahren nach Erhebung des Widerspruchs.80 Der Entwurf von 1866 sah ein fakultatives Mahnverfahren für Forderungen vor, die auf vertretbare Sachen gerichtet und „persönlicher Natur“ waren; die Festlegung einer Streitwertobergrenze blieb den einzelnen Ländern überlassen.81 Der Schuldner musste gegen den Zahlungsbefehl binnen zwei Wochen ab Zustellung Widerspruch erheben, der Widerspruch blieb aber dessen ungeachtet bis zum Erlass des Vollstreckungsbeschlusses möglich (§ 502 des Entwurfs). Erhob der Schuldner keinen Widerspruch, wurde der Zahlungsbefehl nicht automatisch vollstreckbar; der Gläubiger musste vielmehr – binnen sechs Monaten – einen Antrag auf Erlassung eines Vollstreckungsbeschlusses stellen. Unklar blieb jedoch, ob dem Zahlungsbefehl an sich urteilsgleiche Wirkungen zukommen sollten, was – berücksichtigt man, dass sich die Kommission an dem in Hannover in Geltung stehenden Verfahren orientierte – wohl nicht intendiert gewesen zu sein scheint. Insofern realisierte auch der Entwurf von 1866 das einstufige Modell nicht oder zumindest nicht zur Gänze.82
78
Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 38 f.
79
Hiezu HELMREICH, Erscheinungsformen 39.
Für diese Entscheidung war letztlich der Umstand maßgeblich, dass man dem formlosen Antrag auf Erlassung eines Zahlungsbefehls nicht die Wirkungen einer Klage zugestehen wollte. Vgl OBERHAMMER, Ursprünge 296. 80
81
Vgl OBERHAMMER, Ursprünge 296.
82
Vgl HELMREICH, Erscheinungsformen 42; OBERHAMMER, Ursprünge 294 ff.
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5. Die Entwicklung in Österreich a. Der Weg zum Mahngesetz 1873 In Österreich finden sich Bestrebungen zur Schaffung eines Mahnverfahrens ab dem Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Als erster einer Reihe von – erfolglos gebliebenen – Entwürfen für eine Zivilprozessordnung sah der 1861 fertig gestellte Entwurf des damaligen Justizministers Pratobevera in seinem § 63 ein fakultatives Mahnverfahren für auf Geld gerichtete Forderungen vor, sofern diese eine gewisse Höhe nicht überschritten. Der im darauffolgenden Jahr publizierte Entwurf83 sah keine Bestimmungen für ein Mahnverfahren vor. Der im Jahr 1866 veröffentlichte „Referenten-Entwurf einer Civilproceß-Ordnung“ wollte ein solches nur eventualiter zulassen. Demnach sollte ein allfälliges Mahnverfahren durch Klage eingeleitet werden und es im Falle eines Widerspruchs automatisch – ohne eigenen Antrag des Gläubigers – zur Überleitung in das ordentliche Verfahren kommen. Die Regierungsvorlage zum Mahnverfahren aus dem Jahr 1867 vereinte sowohl Elemente der Bundesstaaten-Entwürfe aus den Jahren 1864/65 als auch solche des Referenten-Entwurfs von 1866 in sich: Neben der Durchführung eines Mahnverfahrens über Antrag (welches mit der Erhebung eines Widerspruchs beendet wurde) war die Möglichkeit der Einbringung einer Mahnklage vorgesehen, wobei in diesem Falle an den Widerspruch automatisch die Einleitung des ordentliches Verfahren geknüpft war. Obwohl Julius Glaser, seit 1871 Justizminister, vor allem das Projekt der Zivilprozessordnung voranzutreiben versuchte (1876 legte er einen von Harrasowsky erarbeiteten Entwurf vor), erhielten am 27. April 1873 gleichzeitig das – von Glaser selbst stammende – Gesetz über das Bagatellverfahren (RGBl 1873/66) und das Gesetz über das Mahnverfahren (RGBl 1873/67) die allerhöchste Sanktion des Kaisers.84 b. Der Inhalt des Mahngesetzes 1873 Das neue Gesetz galt für alle im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder mit Ausnahme des Königreichs Galizien und Lodomerien mit dem
83
Entwurf einer Proceß-Ordnung bis zur Execution.
Für vieles vgl OBERHAMMER, Ursprünge, 297 ff; siehe auch GEORG PETSCHEK / FRIEDRICH STAGEL, Der österreichische Zivilprozeß (Wien 1963) 21 f; RECHBERGER, Generation 308. 84
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Großherzogtum Krakau und den Herzogtümern Auschwitz und Zator, des Herzogtums Bukowina sowie des Königreichs Dalmatien. Inhaltlich sah das Mahngesetz ein fakultatives Verfahren zur Durchsetzung geringfügiger, auf Geld oder andere vertretbare Sachen (§ 1 Abs 1 Mahngesetz) gerichteter Forderungen vor; die Streitwertobergrenze wurde mit 200 fl festgesetzt. War der Aufenthalt des Schuldners unbekannt, durfte kein Zahlungsbefehl erlassen werden (§ 3 Mahngesetz). Die Art der Verfahrenseinleitung sollte dem Kläger überlassen bleiben – das Mahngesetz spricht zwar durchgehend vom „Gesuch um Erlassung des bedingten Zahlungsbefehls“ (so etwa § 4), § 19 eröffnete dem Gläubiger jedoch auch die Möglichkeit, sogleich Mahnklage zu erheben. Die Anzahl der Verfahren, die durch Mahngesuch eingeleitet wurden, war jedoch verschwindend gering.85 Waren sämtliche Voraussetzungen für die Durchführung des Mahnverfahrens erfüllt (s § 4 Mahngesetz), so hatte das Gericht einen Zahlungsbefehl zu erlassen; andernfalls war – freilich nur im Falle einer Mahnklage – das ordentliche Verfahren einzuleiten. Der Schuldner hatte die Möglichkeit, gegen den Zahlungsbefehl binnen 14 Tagen Widerspruch zu erheben, über welchen – im Falle einer Mahnklage – ein ordentliches Verfahren durchzuführen war. Ließ der Schuldner die Widerspruchsfrist ungenutzt verstreichen, wurde der Zahlungsbefehl rechtskräftig und vollstreckbar.86 c. Fortbestand des Mahngesetzes Das Mahngesetz blieb auch nach dem Inkrafttreten der ZPO87 am 1. 1. 1898 als eigenständiges Gesetz in Geltung. Der Grund für diese Sonderstellung des Mahnverfahrens war die damals vorherrschende Auffassung, das Mahnverfahren wäre ein außerordentliches Verfahren; teilweise wurde es sogar als außerstreitiges Verfahren gesehen, bisweilen gar dem Exekutionsverfahren zugehörig betrachtet.88 Einiges spricht auch dafür, dass Franz Klein nicht unbedingt ein Verfechter dieses Verfahrens war, widersprach es doch dem
Vgl OBERHAMMER, Ursprünge 306; sowie RAINER SPRUNG, Konkurrenz von Rechtsbehelfen im zivilgerichtlichen Verfahren (Wien 1966) 59.
85
Dies steht zwar nicht ausdrücklich im Mahngesetz, doch wurde neben der Vollstreckbarkeit des Zahlungsbefehls auch dessen Rechtskraftfähigkeit von der Lehre anerkannt (siehe dazu HANS WALTER FASCHING, Kommentar zu den Zivilprozeßgesetzen II1 [Wien 1962] 72; diesem folgend: OBERHAMMER, Ursprünge 305 FN 120).
86
87
RGBl 1895/113.
88
Vgl OBERHAMMER, Ursprünge 301.
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von ihm als besonders bedeutsam erachteten Mündlichkeitsprinzip. Mit der Gerichtsentlastungsnovelle 1914 wurde die Geltung des Mahnverfahrens auch auf jene Länder erstreckt, die das Mahngesetz 1873 infolge des für gering erachteten Wissensstandes der dort lebenden vorwiegend bäuerlichen Bevölkerung89 von seinem örtlichen Anwendungsbereich ausgenommen hatte. Gleichzeitig wurde die Streitwertobergrenze für die Zulässigkeit des Mahnverfahrens angehoben und jene noch auf die Bundesstaaten-Entwürfe zurückgehende Bestimmung beseitigt, die das Außerkrafttreten des Zahlungsbefehls für den Fall verfügt hatte, dass der Gläubiger nicht binnen sechs Monaten die Exekution beantragte.90 Das Mahngesetz 1873 war insofern zukunftsweisend, als es bereits eine echte Einstufigkeit des Mahnverfahrens vorsah. Der Schuldner hatte daher nach Ablauf der Widerspruchsfrist – außer der Einbringung eines begründeten91 Wiedereinsetzungsantrags oder einer Wiederaufnahmeklage – keine Möglichkeit mehr, allfällige Einwendungen gegen den Anspruch geltend zu machen. d. Die weitere Entwicklung des Mahnverfahrens in Österreich Auch wenn es sich beim Mahnverfahren um ein schriftliches (Vor-)Verfahren handelt(e), das daher prima facie den von Franz Klein propagierten Verfahrensgrundsätzen nicht zu entsprechen vermochte, wurden in diesem Verfahren doch die vom Schöpfer des modernen österreichischen Zivilprozesses propagierten Grundsätze, nämlich dessen Raschheit, Effizienz und Wirtschaftlichkeit in geradezu exemplarischer Weise umgesetzt. Im Laufe der Jahre erwies sich das Mahnverfahren, wenngleich ihm zu Beginn seiner Geltung kein durchschlagender Erfolg beschieden war – dies vor allem auch aufgrund der hohen Anzahl an Widersprüchen – tatsächlich als glücklicher Wurf: dies zeigt nicht nur die lange Geltungsdauer des ursprünglichen Mahngesetzes, sondern – mit Einschränkungen – auch die Statistik aus den Jahren dieser Geltung.92
89
Vgl die Nachweise bei OBERHAMMER, Ursprünge 300.
90
Vgl OBERHAMMER, Ursprünge 302.
Dass dieses Element notwendige Voraussetzung war, ergibt sich aus § 14 Abs 1 Mahngesetz, der von „unverschuldeter Versäumung der Frist zum Widerspruche“ spricht. 91
92
Vgl OBERHAMMER, Ursprünge 306.
Vom gemeinrechtlichen Mandat zum Europäischen Mahnverfahren
429
Im Rahmen der Zivilverfahrens-Novelle 1983,93 welche die bisher umfangreichsten Novellierung der österreichischen Zivilprozessgesetze aus 1895 mit sich brachte, entschloss sich der Gesetzgeber dann, das Mahnverfahren in die ZPO einzugliedern94 und dessen zwingenden Charakter – vorerst jedoch nur für das Verfahren vor den Bezirkgerichten – festzulegen. Dadurch wurde eine wesentliche Entlastung der Gerichte erreicht, die bis dahin durch die obligatorische Anordnung von „Ersten Tagsatzungen“, die letztlich nur die Funktion von „Durchrufterminen“95 hatten, erheblich beschwert waren. Gleichzeitig schuf die Zivilverfahrensnovelle 1983 die Möglichkeit, das Mahnverfahren mittels automationsunterstützter Datenverarbeitung (§ 453 ZPO idF Zivilverfahrensnovelle 1983) durchzuführen. Abgeschafft wurde durch die Zivilverfahrensnovelle 1983 die wenig erfolgreiche Form des Mahngesuches.96 Wesentlich zur Verfahrensbeschleunigung trägt die einstufige Ausgestaltung des österreichischen Mahnverfahrens bei, die auch schon dem Mahngesetz 1873 inhärent war: Nach Ablauf der Einspruchsfrist wird dem Schuldner keine Möglichkeit mehr gewährt, gegen den Zahlungsbefehl vorzugehen.97 Einem Missbrauch des Mahnverfahrens und damit der Gefahr unrichtiger Entscheidungen98 soll dadurch begegnet werden, dass das Gericht eine Mutwillensstrafe von mindestens 100 € zu verhängen hat, wenn der Kläger die Erlassung eines Zahlungsbefehls durch unrichtige oder unvollständige Angaben in der Klage erschlichen oder zu erschleichen versucht hat (§ 245 Abs 1 ZPO idF BGBl I 2009/52). Vermutet das Gericht einen derartigen Missbrauch, kann es dem Kläger die Klage mit der Anweisung zurückstellen, entsprechende Angaben zur Entkräftung dieser Vermutung vorzubringen.
93
BGBl 1983/135.
Ursprünglich sollte die Sonderstellung des Mahnverfahrens auch innerhalb der ZPO aufrecht erhalten bleiben: so war in der Regierungsvorlage dessen Eingliederung in einen eigenen Teil der ZPO angedacht (siehe dazu KODEK in FASCHING/ KONECNY, Kommentar III2 Vor § 244 Rz 17). 94
95
So OBERHAMMER, Ursprünge 307, 310.
96
OBERHAMMER, Ursprünge 306.
Dem Schuldner bleibt es jedoch unbenommen, bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen (vgl § 146 ff ZPO) einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen oder, entsprechende Gründe vorausgesetzt, die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 530 ZPO zu begehren. 97
98
Ausführlich hiezu RECHBERGER, Entwurf 524.
430
WALTER H. RECHBERGER
Daneben stellt die nunmehr automatische Einleitung99 eines ordentlichen Verfahrens im Falle eines Einspruchs100 einen deutlichen Beitrag zur Verfahrensverkürzung dar. Aufgrund der positiven Erfahrungen wurde das obligatorische Mahnverfahren mit der Zivilverfahrens-Novelle 2002 auch auf das Verfahren vor den Gerichtshöfen ausgeweitet. Lag bisher die Streitwertgrenze für die Durchführung eines Mahnverfahrens bei 10.000 €, so wurde sie mit der Zivilverfahrensnovelle 2002 auf Forderungen bis zu 30.000 € ausgedehnt.101 Gleichzeitig wurde die Frist zur Erhebung des Einspruchs auf einheitlich vier Wochen festgelegt. Mit dem BudgetbegleitG 2009102 erfolgte zuletzt eine neuerliche – und eher drastische – Ausweitung des Anwendungsbereichs des Mahnverfahrens: Es ist nunmehr bei Streitwerten bis zu 75.000 € obligatorisch durchzuführen, was eine Erhöhung der Streitwertgrenze um 150 % (!) bedeutet. Ob diese exorbitante Anhebung unter Beibehaltung des obligatorischen Charakters des Mahnverfahrens sachgerecht sein kann, erscheint höchst zweifelhaft. Der prozessökonomische Effekt kann nicht allzu hoch angesetzt werden, zumal die Einspruchsquote mit zunehmendem Streitwert naturgemäß ansteigt.103 Vielmehr könnten eher unerfreuliche, den österreichischen Rechtsschutzstandard nivellierende Konsequenzen drohen, wenn man bedenkt, dass das BudgetbegleitG 2009 auch mit einer – guten – Tradition des österreichischen Zivilprozesses gebrochen und die Eigenhandzustellung von Klagen (vgl § 106 Abs 1 idgF) abgeschafft hat. Der Vorschlag, die Streitwertgrenze für das obligatorische Mahnverfahren (nur) moderat anzuheben und das Verfahren darüber hinaus (ohne weitere Streitwertgrenze) als fakultatives Verfahren zu gestalten,104 ist leider nicht in Betracht gezogen worden. Im Mahngesetz 1873 war dies nur dann der Fall, wenn der Kläger Mahnklage erhoben hatte, vgl § 19 Abs 2 Mahngesetz. 99
100
Das Mahngesetz 1873 sprach noch von „Widerspruch“, vgl nur § 6 Abs 1 Z 3.
Ausgangspunkt der Beratungen zur Zivilverfahrensnovelle 2002 war jedoch ein System ohne Wertgrenze, das mE jedenfalls zu befürworten gewesen wäre. Siehe RECHBERGER, österreichische Sicht 29. 101
102
BGBl I 2009/52.
Vgl dazu TSCHÜTSCHER / WEBER, Verordnung 305; RECHBERGER, österreichische Sicht 29 f. 103
Siehe RECHBERGER, Entwurf 518; DERSELBE, österreichische Sicht 29; RECHBERGER / SCHRAMMEL, Vorbild 471 f; MAYR, Mahnverfahren 505; DERSELBE, Zivilverfahrensrechtliche Neuerungen des Budgetbegleitgesetzes 2009, ecolex 2009, 562–566, hier 563. 104
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431
In Österreich wurden im Jahr 2008 nicht weniger als 483.368 (das sind 83,04 %) aller bezirksgerichtlichen Zivilprozesse und 16.179 (das sind immerhin 49,97 %) der Gerichtshofverfahren (arbeitsrechtliche Streitsachen nicht eingeschlossen) in Form von Mahnverfahren durchgeführt. In den wenigsten Verfahren (in 9,7 % der Verfahren vor den Bezirksgerichten und in 28,5 % der Verfahren vor den Gerichtshöfen) legte der Beklagte Einspruch gegen den Zahlungsbefehl ein.105 Allein diese Werte unterstreichen in bemerkenswerter Weise die Bedeutung des Mahnverfahrens für den österreichischen Zivilprozess.
An dieser Stelle sei den Herrn LStA Dr. Martin Schneider sowie Herrn StA Mag. Thomas Gottwald vom BMJ für die Zurverfügungstellung der Daten gedankt.
105
Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen: ein Element europäischer Rechtsunkultur im 20. Jahrhundert? ILSE REITER-ZATLOUKAL, Wien Der Jubilar setzte sich immer wieder mit den Elementen europäischer Rechtskultur auseinander. Mit diesem Beitrag soll in Ergänzung zu derartigen staatenübergreifenden europäischen Gemeinsamkeiten ein Blick auf solche Phänomene geworfen werden, die wohl eher mit dem Begriff der Rechtsunkultur bezeichnet werden können. Zu diesen zählt die politisch motivierte Zwangsausbürgerung1 als Instrument einer „Tyrannei des Nationalen“,2 die sich, wurzelnd in der massiven Nationalisierung Ende des 19. Jahrhunderts,3 nicht nur in einer stringenten Fortführung traditioneller Exklusionsinstrumente wie der Ausweisung niederschlug, sondern auch in der Herausformung neuer Verlust- bzw Entziehungsgründe für die Staatsangehörigkeit. Konkret politisch-ideologische Anwendung fand das Zwangsausbürgerungsrecht bereits während des Ersten Weltkrieges und pervertierte in den europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts schließlich zum mannigfaltig eingesetzten veritablen Terrorinstrument gegen RegimegegnerInnen, wie am Beispiel ausgewählter Länder gezeigt werden soll.
Eine Monografie zu diesem Thema (in Ergänzung einer 2010 erscheinenden interdisziplinären Studie gemeinsam mit CHRISTIANE ROTHLÄNDER über die politisch motivierten Ausbürgerungen in Wien zur Zeit des Austrofaschismus) ist in Vorbereitung, weshalb der wissenschaftliche Apparat auf das Notwendigste beschränkt wurde.
1
GÉRARD NOIRIEL, Die Tyrannei des Nationalen. Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa (Lüneburg 1991) 66. 2
Vgl etwa DIETER GOSEWINKEL, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft CL, Göttingen 2001). 3
434
ILSE REITER-ZATLOUKAL
I. Begriffliches A. Staatsangehörigkeit Die Staatsangehörigkeit ist ein mit dem Wesen des Nationalstaats untrennbar verbundenes Rechtsverhältnis öffentlich-rechtlicher Art, das eine Mitgliedschaft einer Person zu ebendiesem Staat begründet. Sie erzeugt ein spezifisches Gewaltverhältnis, aus dem Rechte und Pflichten in einem besonderen Ausmaß entspringen. Mit der Staatsangehörigkeit waren daher stets verschiedene Staatsbürgerrechte verbunden, und zwar, abgesehen vom Aufenthaltsrecht im Heimatstaat und dem Recht auf Einreise, der Schutz vor Ausweisung und Auslieferung, darüber hinaus, wenngleich von weiteren Voraussetzungen abhängig, zB das Wahlrecht, Rechte auf bestimmte Sozialleistungen und der Zugang zu bestimmten Berufen. Staatsangehörigkeit schafft also eine Rechtsgemeinschaft und bewirkt die Inklusion aller den gleichen Normen Unterworfenen, während alle anderen exkludiert werden. AusländerInnen unterliegen daher besonderen staatlichen Reglementierungen, nämlich dem Ausländer- oder Fremdenrecht, und besitzen nicht alle Rechte bzw Pflichten wie InländerInnen. Das Rechtsinstitut der Staatsangehörigkeit gewährt dem/der Einzelnen jedoch nicht nur Rechte und staatlichen Schutz im In- und Ausland, sondern begründet auch eine Treue- und Gehorsampflicht dem Staat gegenüber. Dieses Konzept erlebte im 20. Jahrhundert einen Höhenflug, erstreckten sich die Loyalitätsverpflichtungen einer/s Staatsangehörigen doch zunehmend nicht nur auf Tatbestände, die ohnedies bereits durch das politische Strafrecht geschützt waren, sondern erfassten auch darüber hinaus gehende Interessen des Staates bzw Regimes. Die Staatsangehörigkeit wurde nun als „eine lebendige, wechselseitige Beziehung“ und nicht nur als ein bloßes staatsrechtliches Verhältnis angesehen, hatte dementsprechend „einen ethischen Inhalt“, stand für „ein politisches Bekenntnis“, und der Staat bzw das Regime verlangte für die durch die Staatsangehörigkeit gewährten Vorteile und Rechte als Gegenleistung die „Treue“ bei sonstiger Ausstoßung aus dem Staatsverband.4 B. Ausbürgerung Während in der angloamerikanischen Terminologie expatriation ursprünglich das Recht des Individuums bezeichnete, selbst seine Staatsangehörigkeit aufzugeben, und heute mit diesem Begriff vor allem die Versendung von MitarbeiterInnen (expats) eines internationalen Konzerns in ausländische ZweigstelWALTHER HORN, Die Zwangsausbürgerung in staats- und völkerrechtlicher Beleuchtung. Eine rechtsvergleichende Studie (Gießen 1935) 57. 4
Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen
435
len gemeint ist, bedeutete Expatriation im kontinentaleuropäischen Kontext die Zwangsausbürgerung durch behördlichen Verwaltungsakt im grundsätzlichen Unterschied zum Verlust der Staatsangehörigkeit ex lege, zB durch Naturalisation in einem anderen Land, Eintritt in ausländische Dienste oder Eheschließung. Bot schon der Verlusttatbestand des Eintrittes in ein fremdes Heer die Möglichkeit einer politischen Indienstnahme (wie dies zB in Österreich bei Angehörigen der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg geschah), so wurde die behördliche Expatriation im 20. Jahrhundert zum politischen Kampfmittel schlechthin, und zwar zum einen in Form des Widerrufes einer Einbürgerung (Denaturalisation), zum anderen in Form der Aberkennung bzw des Entzugs der Staatsbürgerschaft zu Sicherungs- oder Strafzwecken, wobei sich ein derartiger Staatsangehörigkeitsentzug im Unterschied zur Denaturalisation gegen eine Person richtete, die bereits seit Geburt StaatsbürgerIn des ausbürgernden Staates war. Beide Varianten zielten gegen Staatsangehörige, die sich aus Sicht der Regierung bzw des Regimes illoyal verhalten hatten, und bezweckten den Schutz oder die Stabilisierung eines politischen Systems. C. Staatenlosigkeit Die Zwangsausbürgerung zog in der Regel die Staatenlosigkeit nach.5 Aufgrund der zahlreichen Vertreibungen und Ausbürgerungen durch die Nationalstaaten kann das 20. Jahrhundert nachgerade als das Jahrhundert der Staatenlosen bezeichnet werden,6 waren doch viele der Flüchtlinge bzw EmigrantInnen staatenlos, weil ihnen vor oder in der Regel nach ihrer Flucht die Staatsangehörigkeit vom Heimatstaat entzogen worden war. Den Unterschied zwischen Staatenlosen (Apatriden) und (sonstigen) Flüchtlingen legte 1936 das Institut de droit international dahingehend fest, dass dem Staatenlosen die Staatsangehörigkeit, dem Flüchtling aber (bloß) der diplomatische Schutz entzogen war.7 Man unterschied daher die Flüchtlingen in de factound de iure-Staatenlose. Angesichts der hohen Zahlen an Betroffenen wurde die Staatenlosigkeit bald als Problem des Völkerrechts erkannt und eingehend diskutiert.
MICHAEL R. MARRUS, Die Unerwünschten. The Unwanted. Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert (Berlin/Göttingen/Hamburg 1999) 83 ff.
5
6
Ebenda 16.
JOHN HOPE SIMPSON, The Refugee Problem (London/New York/Toronto 1939) 232. 7
436
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II. Ausbürgerung und Völkerrecht Das Staatsbürgerschaftsrecht unterlag und unterliegt nach herrschender Lehre der Gestaltungsfreiheit der einzelnen Staaten, gebunden nur durch die Schranken des Völkerrechts. Allerdings war diese herrschende Lehre, wonach jeder souveräne Staat in der Regelung der Erwerbs- und Verlustgründe völlig frei sei, nicht unumstritten. Allgemein anerkannt erschien, dass diese Freiheit der Staaten durch internationale Abmachungen determiniert sein konnte,8 darüber hinaus wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem in den 1920er Jahren eine völkerrechtliche Einschränkung der Ausbürgerung gefordert. So stand denn auch das Staatsangehörigkeitsrecht als eine der drei zu kodifizierenden Völkerrechtsmaterien auf der Tagesordnung der vom Völkerbund initiierten Conférence pour la Codification du Droit International. Ziel der 1930 in Den Haag stattfindenden Konferenz war es insbesondere, die Fälle der Mehrstaatigkeit und der Staatenlosigkeit zu verhindern sowie allgemeine Prinzipien des Staatsangehörigkeitsrechts festzulegen, liege es doch „im allgemeinen Interesse der internationalen Gemeinschaft …, wenn alle ihre Mitglieder sich die Auffassung zu eigen machen, wonach jeder Mensch eine Staatsangehörigkeit … besitzen sollte“.9 Obwohl einzelne Staaten sogar explizit ein Verbot des Staatsangehörigkeitsentzugs als Strafe forderten,10 gelang es jedoch nicht, eine Einigung zu erzielen. Auch in der zeitgenössischen Lehre bestand die „beinahe einhellige Meinung“, dass „die zur Staatenlosigkeit führende Expatriation unvereinbar mit guter internationaler Ordnung ist und in schroffem Widerspruch zu den primitivsten Geboten der Menschlichkeit steht“.11 Dennoch wollte kein Staat „auf das Recht verzichten, solchen seiner Angehörigen, die der Volksgemeinschaft zu schwerem Schaden gereichen, die Staatsangehörigkeit zu entziehen, gleichgültig, ob sie dadurch heimatlos werden oder nicht“.12 Die „Hypertrophie des Staatsge-
So auch BERTHOLD SCHENK Graf von STAUFFENBERG, Die Entziehung der Staatsangehörigkeit und das Völkerrecht. Eine Entgegnung, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 4 (1934) 261–276, hier 261 f. 8
Präambel des Abkommen, zit nach BURKARDT ZIEMSKE, Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz (Berlin 1995) 63. 9
HANNAH ARENDT, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft2 (Frankfurt aM 1991) 446 Anm 31. 10
HANS LESSING, Das Recht der Staatsangehörigkeit und die Aberkennung der Staatsangehörigkeit zu Straf- und Sicherungszwecken (Leiden 1937) 333.
11
12
ALEXANDER HOLD-FERNECK, Lehrbuch des Völkerrechts II (Leipzig 1932) 28.
Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen
437
dankens“ und die „Überspannung der Anforderungen an die Treupflicht der Staatsbürger“ waren so ein „nahezu unüberwindbares Hindernis für die Durchsetzung der ... Interessen des Völkerrechtes und des Einzelnen“.13 Völkerrechtlich problematisch war freilich auch die mit der Zwangsausbürgerung unlöslich verbundene Frage, was mit einer/einem Ausgebürgerten, die/der in der Regel staatenlos war, zu geschehen habe, denn wer keinem Staat angehörte, dem versagte das allgemeine Völkerrecht jeden Schutz, er war völkerrechtlich „vogelfrei“.14 In der Literatur ging man bei derartigen de iure-Staatenlosen im negativen Konfliktfall bereits in den 1920er Jahren durchaus von einer Rücknahmeverpflichtung des ehemaligen Heimatstaates aus. So meinte Heinrich Triepel,15 es sei „schon längst internationale Praxis“ geworden, „daß jeder Staat seine ehemaligen Angehörigen, die staatenlos geworden sind, bei sich aufnehmen muß, wenn sie von anderen Staaten ausgewiesen worden sind“, was „heute als allgemeines Recht zu gelten“ habe. Angesichts einer solchen Übernahmepflicht wurde sogar von einer völkerrechtlich grundsätzlichen Unwirksamkeit der Ausbürgerung gesprochen, gelte sie doch „nur relativ, nämlich für den Staat, der sie ausgesprochen“ habe. Gleichzeitig wurde jedoch von einer Irrelevanz der Rückübernahmspflicht in der Praxis ausgegangen.16 In Bejahung einer solchen Übernahmspflicht hatte auch das vorbereitende Komitee für die Haager Kodifikationskonferenz folgenden Vorschlag gemacht: „If a person, after entering a foreign country, loses his nationality without acquiring another nationality, the State whose national he was remains bound to admit him to its territory at the request of the State where he is residing“.17 Der Versuch, eine derartige Rückkehrverpflichtung, wenn auch in abgeschwächter Form, multilateral im Specifical Protocol concerning Statelessness18 völkerrechtlich zu verankern, scheiterte allerdings in Ermangelung hinreichender Ratifikation.
13
LESSING, Recht 333.
HANS KELSEN, Geleitwort, in HEINRICH ENGLÄNDER, Die Staatenlosen (Wien 1932) 5. 14
HEINRICH TRIEPEL, Internationale Regelung der Staatsangehörigkeit, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1 (1929) 185–199, hier 198. 15
16
FRIEDRICH , Aberkennung 59 f; LESSING, Recht 108.
Supplement to the American Journal of International Law 24 (1930): Official Documents 10. 17
18
Ebenda 211 ff.
438
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So blieb auch trotz der in den 1930er und 1940er Jahren besonders hohen Zahl an de iure- und de facto-Staatenlosen die einschlägige Völkerrechtslage betreffend Ausbürgerung und Staatenlosigkeit unverändert, und dies in einer Zeit, in der die (während des Ersten Weltkrieges eingeführten) Pass- und Visabestimmungen „strenger als jemals zuvor“ waren.19 Die Flüchtlinge, und besonders die Staatenlosen, waren daher „sozusagen von der ganzen Welt verstoßen“, sie „(lebten) extra legem“,20 konnten sie doch ohne Pass nicht einmal diejenigen Anforderungen erfüllen, die der Staat an einen bloß befristeten Aufenthalt stellte. Als Ende der 1930er Jahre die Zahl der Flüchtlinge „astronomisch gestiegen“21 war, stellten die Staatenlosen, so Hannah Arendt, „die charakteristische Gruppe in der zeitgenössischen Politik“ dar, deren Ersatz für das durch die Ausbürgerung entzogene „nationale Territorium … immer wieder die Internierungslager“ waren: Sie waren letztlich „die einzige patria“ dar, welche „die Welt der Apatriden anzubieten“ hatte.22 Der Völkerbund erhob zwar Einspruch gegen die schlechte Behandlung von Staatenlosen, trotzdem ließ sich zunächst kein Staat auf internationale Vereinbarungen zum Schutz der Staatenlosen ein. Eine Ausnahme stellte die erste vertragliche Verankerung des non-refoulementPrinzips (Rückweisungsverbot) dar,23 enthielt doch die Genfer Konvention über den internationalen Status der Flüchtlinge 193324 als Ergebnis einer Regierungskonferenz zum Schutz der russischen und armenischen Flüchtlinge ua ein grundsätzliches Verbot, einen Flüchtling in den Verfolgerstaat zurückzuweisen. Das Arrangement Provisoire concernant le Statut des Réfugiés Allemands von 193625 sah dann nicht nur den (1922 zunächst für russische, dann armenische Flüchtlinge eingeführten) Nansen-Pässen nachempfundene Ausweispapiere für deutsche Flüchtlinge vor, sondern auch die Vorschrift, dass die Flüchtlinge aus ihrem Aufenthaltsland nur aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung ausgewiesen oder abgeschoben wer-
19
So Egidio Reale, zit nach NOIRIEL, Tyrannei 83 f.
20
MARRUS, Die Unerwünschten 205.
21
Ebenda 204.
22
ARENDT, Elemente 447.
GILBERT-HANNO GORNIG, Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht (Wien 1987) 16 ff. 23
24
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 6 (1936) 763.
VOLKER TÜRK, Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) (= Schriften zum Völkerrecht CIII, Berlin 1992) 10. 25
Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen
439
den könnten, und dass selbst in diesem Fall eine Abschiebung nach Deutschland nur nach vorheriger Warnung und im Falle einer Weigerung des Betreffenden erfolgen sollte, „de prendre les dispositions nécessaire pour se rendre dans un autre pays ou de profiter des arrangements pris pour eux à cet effet“.26 Weiterentwickelt wurde dieses (wenig praxisrelevante) Arrangement mit der Convention concerning the Status of Refugees coming from Germany von 1938.27 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg regelte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948, dass niemand seine Staatsangehörigkeit „willkürlich“ entzogen werden dürfe. In weiterer Folge verankerten weder die EMRK von 1950 noch auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 einen dieser Regelung entsprechenden Tatbestand, woraus zu folgern ist, „daß die Staaten nicht von der rechtlichen Verbindlichkeit des Verbotes willkürlicher Ausbürgerungen ausgehen“.28 Die Rechtstellung der Staatenlosen wurde in der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge 195129 und einem internationalen Übereinkommen über die Rechtstellung der Staatenlosen 195430 geregelt, in dem sich die Vertragsstaaten ua verpflichteten, keinen Staatenlosen auszuweisen, der sich erlaubter Weise bzw. rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet befindet, „es sei denn aus Gründen der Staatssicherheit oder der öffentlichen Ordnung“, nach einem ordentlichen rechtsstaatlichen Verfahren und unter Beachtung des non-refoulement-Prinzips. Das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 196131 verbot in weiterer Folge nicht nur einen zur Staatenlosigkeit führenden Entzug der Staatsangehörigkeit, sondern auch eine Ausbürgerung aus rassischen, ethnischen, religiösen oder politischen Gründen. Umstritten ist aber, ob konträr hierzu vorgenommene Ausbürgerungen nur als „unerwünscht“ oder als „völkerrechtswidrig“ anzusehen sind. Als völkerrechtlich zulässig gelten jedoch folgende Entziehungstatbestände: Widerruf wegen Erschleichung der Einbürgerung und Entzug infolge „Illoyalität“, also insbesondere ein den Heimatstaat schädigendes Verhalten, Dienste für einen anderen Staat, Abgabe einer Treuerklärung für einen anderen Staat oder Entschlossenheit, die Treue aufzukündigen, Nichtbefolgen einer Rückkehraufforderung des Heimatstaa-
26
Ebenda.
27
TÜRK , Flüchtlingskommissariat 10 f.
28
ZIEMSKE, Staatsangehörigkeit 69.
29
BGBl 1955/55.
30
BGBl 2008/81.
31
[http://www.unhcr.de/pdf/457.pdf] (21. 4. 2005).
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tes, dauernder Auslandsaufenthalt, Nichterfüllen der Wehrpflicht, Eintritt in die Armee oder den öffentlichen Dienst eines anderen Staates, bestimmte Strafverurteilungen, mehrfache Staatsangehörigkeit und Steuerflucht.32 Auch das gegenwärtige Völkerrecht kennt also weder ein generelles Ausbürgerungsverbot, noch auch eine generelle völkergewohnheitsrechtliche Pflicht des Staates, eine/n von ihm ausgebürgerten Staatenlose/n zurückzunehmen.33
III. Die europäische Ausbürgerungspraxis A. Erster Weltkrieg Während in der europäischen Staatenpraxis zu Anfang des 20. Jahrhunderts Ausbürgerungsbestimmungen nur vereinzelt existierten34 und kaum angewendet wurden, kam es mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu einem deutlichen Umschwung, indem nun Deutschland zur politischen Waffe der Aberkennung der Staatsangehörigkeit griff, und andere europäische Staaten, wie England und Frankreich, den Widerruf von Einbürgerungen einführten. Deutschland setzte nämlich die Bestimmung des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913,35 dass ein im Ausland aufhältiger Deutscher seiner Staatsangehörigkeit verlustig erklärt und sein Vermögen beschlagnahmt werden konnte, „wenn er im Falle eines Krieges oder einer Kriegsgefahr einer vom Kaiser angeordneten Aufforderung zur Rückkehr keine Folge leistet“, nicht nur gegen wehrflüchtige Auslandsdeutsche ein, sondern va auch gegen die BewohnerInnen des Reichslands Elsass-Lothringen, wo sich viele Wehrpflichtige vor ihrer Einberufung ins Ausland abgesetzt hatten.36 Um das Reichsland von „Elementen (zu säubern)“, „die innerlich nicht zum Deutschen Reiche gehören“,37 erfolgten bis Kriegsende 7.712 solcher politisch motivierter Ausbürgerungen.38 32
ZIEMSKE, Staatsangehörigkeit 70.
33
[http://www.unhcr.de/pdf/459.pdf] (21. 4. 2005).
ZB sah Monaco 1909 eine Denaturalisation im Fall staatsfeindlicher Handlungen vor.
34
35
RGBl I, 583.
MÜLLER, Die Ausbürgerungen gem § 27 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes in Elsaß-Lothringen, Deutsche Juristenzeitung 21 (1916) 1161–1163, hier 1161 ff.
36
So das Generalkommando in Straßburg, zit nach CHRISTOPH JAHR, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914–1918 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft CXXIII, Göttingen 1998) 259. 37
38
JAHR, Soldaten 259.
Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen
441
England führte 1914 die Denaturalisation ein,39 die ausgesprochen werden konnte, wenn die/der Eingebürgerte „has shown himself by act or speech to be disaffected or disloyal to His Majesty“ oder „has during any war … traded or communicated with the enemy or with a subject of an enemy state“. Frankreich sah 1915 erstmals die Aberkennung einer Einbürgerung (retrait de naturalisation) bei ehemaligen Angehörigen der Feindmächte vor.40 Auch Portugal, Italien41 und Belgien nahmen 1916, 1918 bzw 191942 die Denaturalisation in ihre Rechtsordnungen auf. B. Zwischenkriegszeit In der Zwischenkriegszeit sahen die UdSSR, das faschistische Italien, das nationalsozialistische Deutschland und das austrofaschistische Österreich eine politisch motivierte Aberkennung der Staatsangehörigkeit für gebürtige Staatsangehörige vor. Darüber hinaus führten sowohl Deutschland und Italien als auch Frankreich nun zusätzlich die Möglichkeit politisch und/oder antisemitisch motivierter Denaturalisationen vor. In der Sowjetunion erfolgten nach dem Ende des Zarismus zahlreiche Ausbürgerungen im Zusammenhang mit der verstärkt einsetzenden Emigration bzw Flucht vor dem Bolschewismus. Der Großteil der russischen EmigrantInnen (1–3 Millionen) ging noch während oder unmittelbar nach der Revolution 1917 ins benachbarte Ausland und setzte sich zusammen aus politisch-zivilen EmigrantInnen, wie etwa Mitgliedern und Anhängern der Zarenregierung, Militärangehörigen, darunter das Offizierskorps der kaiserlichen Armee und große Kosakeneinheiten, und der reinen Zivilemigration, bestehend insbesondere aus Opfern der landwirtschaftlichen Kollektivierung sowie Angehörigen religiöser und nationaler Minderheiten.43 Angesichts dieKARL-ALEXANDER HAMPE, Das Staatsangehörigkeitsrecht von Großbritannien (= Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze VI, Frankfurt aM 1951) 63. 39
HELLMUTH HECKER/EDGAR TOMSON, Das Staatsangehörigkeitsrecht Frankreichs einschließlich der Überseegebiete und ehemaligen Kolonien (= Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze XXIX, Frankfurt aM/Berlin 1968) 220.
40
LESSING, Recht 45 ff; GUSTAV SCHWARTZ, Das Recht der Staatsangehörigkeit in Deutschland und im Ausland seit 1914 (Berlin 1925) 191.
41
LUDWIG DISCHLER, Das Staatsangehörigkeitsrecht von Belgien und Luxemburg (= Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze IV, Frankfurt aM 1950) 84. 42
GEORG GEILKE, Das Staatsangehörigkeitsrecht der Sowjetunion einschließlich der geschichtlich-verfassungsrechtlichen Entwicklung der wichtigsten Gebietseinheiten und Völkerschaften (= Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze XXV,
43
442
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ser Fluchtwelle war Sowjetrussland nun bestrebt, „eine Reinigung seiner Staatsangehörigen nach ihrer politischen Bewährung vorzunehmen“,44 zu welchem Zweck nach den Anordnungen des Rats der Volkskommissare und des allrussischen ZEK von 192145 insbesondere folgende Personen ipso iure die Staatsangehörigkeit verloren: AltemigrantInnen, also Personen, die sich mehr als fünf Jahre im Ausland ohne neuen Sowjetpass aufgehalten hatten; politische Flüchtlinge, also Personen, die nach der Oktoberrevolution ohne behördliche Genehmigung das russische Staatsgebiet verlassen hatten; Personen, die freiwillig in Heeren gedient hatten, die gegen die „Sowjetmacht“ gekämpft oder sich gegenrevolutionär betätigt hatten; weiters EmigrantInnen, die sich nicht binnen bestimmter Fristen bei den zuständigen Auslandsvertretungen eintragen hatten lassen. Sie wurden pauschal als TreubrecherInnen gewertet und expatriiert, allerdings räumte man ihnen im konkreten Nichtverschuldensfall ein Wiedereinbürgerungsrecht ein, welches durch zahlreiche Amnestien gefördert wurde.46 Betroffen von dieser Ausbürgerung waren bis zu 2 Millionen Menschen.47 Seit der bundesrechtlichen Neuordnung der Ausbürgerung 1924 wurde weiters Personen, welche die Staatsangehörigkeit einer Teilrepublik verloren hatten, sowie allen EmigrantInnen, die einem behördlichen Rückkehrgebot nicht nachkamen, die Staatsangehörigkeit entzogen. Darüber hinaus war seit 1924 die Aberkennung der Staatsangehörigkeit im sowjetischen Strafrecht vorgesehen, und zwar im Zusammenhang mit der bei Verurteilung wegen eines gegenrevolutionären Verbrechens erfolgenden Erklärung zum „Feind der Werktätigen“.48 Das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1931 übertrug schließlich die Entziehung der Staatsangehörigkeit explizit dem Zentralvollzugsausschuss der jeweiligen Bundesrepublik bzw der UdSSR.49 Letztere bürgerte dann 1932 insgesamt 37 Angehörige der ins Aus-
Frankfurt aM/Berlin 1964) 174. 44
HORN, Zwangsausbürgerung 41.
45
GEILKE, Staatsangehörigkeitsrecht 292 f.
Siehe dazu ausführlicher GEILKE, Staatsangehörigkeitsrecht 184 ff; HORN, Zwangsausbürgerung 41; FRIEDRICH, Recht 55.
46
JOHN FISCHER WILLIAMS, Denationalization, The British Year Book of International Law 8 (1927) 45–61, hier 46; MARRUS, Die Unerwünschten 203, spricht von einer Million. 47
REINHART MAURACH, Das Staatsangehörigkeitsrecht der Sowjetunion (Königsberg in Preußen/Berlin 1942) 29.
48
49
GEILKE, Staatsangehörigkeitsrecht 313 ff.
Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen
443
land geflüchteten Trotzkistengruppe aus, darunter Lew D. Trotzki selbst.50 Hinsichtlich der bereits vor der Oktoberrevolution Emigrierten wurde 1933 verordnet, dass auch diese pauschal die Staatsangehörigkeit der UdSSR verloren hätten.51 In der Folgezeit kam es nur noch zu individuellen Ausbürgerungen. Das neue Staatsangehörigkeitsgesetz von 193852 kannte dann neben der Entlassung aus dem Staatsverband weiterhin die Aberkennung durch Gerichtsurteil in den strafgesetzlich vorgeschriebenen Fällen sowie durch Sondererlass des Präsidiums des Obersten Rates der UdSSR. In Italien konnte seit Jänner 1926 einer Person die Staatsangehörigkeit entzogen werden, die eine Handlung beging oder sich an einer solchen beteiligte, welche die öffentliche Ordnung im Königreich zu stören oder eine Schädigung der italienischen Interessen oder eine Herabwürdigung des guten Namens oder des Ansehens Italiens herbeizuführen geeignet war, auch wenn diese Tat an sich keine strafbare Handlung darstellte.53 Die Entziehung der Staatsangehörigkeit, mit welcher der Verlust des gesamten Vermögens, von Titeln, Auszeichnungen, Ämtern und Würden verbunden war, erfolgte durch ein königliches Dekret, das auf Antrag des Innenministers im Einvernehmen mit dem Außenminister nach Einholung eines beratenden Gutachtens einer besonderen Kommission erlassen wurde.54 Bereits im Herbst 1926 wurden auf diese Weise 15 fuorusciti, wie Mussolini abfällig die EmigrantInnen nannte, als „Vaterlandsanschwärzer“ ausgebürgert.55 Das Gesetz zum Schutz des Staates vom November 192656 schuf dann die Möglichkeit, durch Urteil des Tribunale Speciale per la Difesa dello Stato denjenigen Personen die Staatsangehörigkeit und das Vermögen zu entziehen, die sich im Ausland aufhielten und durch Gerüchte und falsche Nachrichten die innere Beschaffenheit und das öffentliche Ansehen des italienischen Staates im Ausland ge-
50
VICTOR SERGE, Leo Trotzkis. Leben und Tod (Wien/München/Zürich 1973) 258.
51
GEILKE, Staatsangehörigkeitsrecht 316.
52
Ebenda 319 ff.
HORN, Zwangsausbürgerung 69; Stefania BARIATTI, La disciplina giuridica della cittadinanza italiana (Milano 1989) 74 f.
53
MANFREDI SIOTTO-PINTÓR, Die bedeutendsten Wandlungen des Staatsrechtslebens in Italien in den Jahren 1923–1926, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 15 (1927) 269–312, hier 276 f. 54
55
Ebenda 277; MARRUS, Die Unerwünschten 142.
56
[http://www.italgiure.giustizia.it/nir/lexs/1926/lexs_69042.html] (18. 6. 2009).
444
ILSE REITER-ZATLOUKAL
fährdeten oder sonstige Staatswidrigkeiten begingen.57 Nach zeitgenössischer Ansicht waren diese Bestimmungen „die streng logische Folgerung“ aus dem die „faszistische Bewegung ganz besonders charakterisierenden Grundsatz“, dass „die Vaterlandsliebe und -achtung eine Rechtspflicht des Staatsbürgers“ sei.58 Die Ausbürgerungen auf dieser Rechtsgrundlage wurden bereits im Juni 1929 eingestellt,59 im September 1938 allerdings die seit dem 1. Jänner 1919 erfolgten Einbürgerungen von ausländischen Juden und Jüdinnen widerrufen.60 In Deutschland erweiterte das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom Juli 193361 die bisherigen Möglichkeiten der Zwangsausbürgerung erheblich. Die neu eingeführte Denaturalisation richtete sich gegen Eingebürgerte im Inland und ermöglichte binnen einer Frist von zwei Jahren den Widerruf einer zwischen 9. November 1918 (Novemberrevolution) und 30. Jänner 1933 erfolgten Einbürgerung, wenn diese als „nicht erwünscht anzusehen“ war, welche Beurteilung „nach völkisch-nationalen Grundsätzen“ erfolgte. Im Vordergrund standen dabei „die rassischen, staatsbürgerlichen und kulturellen Gesichtspunkte für eine den Belangen von Reich und Volk zuträgliche Vermehrung der deutschen Bevölkerung durch Einbürgerung“.62 Die Denaturalisation richtete sich sowohl gegen „Kriminelle“ und Personen, die „sich sonst wie in einer dem Wohle von Staat und Volk abträglichen Weise verhalten“ hatten, als auch seit 1918 eingebürgerte „Ostjuden“, „es sei denn, daß sie auf deutscher Seite im Weltkriege an der Front gekämpft oder sich im die deutschen Belange besonders verdient gemacht“ hatten.63 Insgesamt wurden auf dieser Rechtsgrundlage 10.487 Einbürgerungen widerrufen, darunter 6.943 betreffend Juden und Jüdinnen.64 Von diesen durch individuell-fakultativen Verwaltungsakt vorge-
57
Siehe etwa FRIEDRICH, Recht 53.
58
SIOTTO-PINTÓR, Wandlungen 277.
59
SIMPSON, Refugee Problem 234.
GIUSEPPE LO VERDE, Das faschistische Imperium, sein Staatsangehörigkeitsrecht und seine Rassenpolitik (Darmstadt 1942) 71.
60
61
RGBl I, 480.
62
RGBl I, 538.
63
Ebenda.
Da sich die Ausbürgerung auch auf die Familie bezog, ist die Gesamtzahl der Ausgebürgerten aber erheblich größer, MICHAEL HEPP, Einleitung: Wer Deutscher ist, bestimmen wir ..., in DERSELBE (Hrsg), Die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöri64
Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen
445
nommenen Ausbürgerungen jüdischer Staatsangehöriger sind freilich die kollektiv-automatischen Massenausbürgerungen nach der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom November 194165 zu unterscheiden, die alle deutschen Juden und Jüdinnen betrafen, die ihren „gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland“ hatten oder ihn nach dem Inkrafttreten der Verordnung dorthin verlegten. Das „verfallene Vermögen“ sollte „zur Förderung aller mit der Lösung der Judenfrage im Zusammenhang stehenden Zwecken dienen“. Da auch die von den deutschen Truppen besetzten Gebiete, insbesondere das Generalgouvernement sowie die Reichskommissariate Ostland und Ukraine, als Ausland im Sinne der Verordnung galten,66 wurden nicht nur emigrierte, sondern auch die in die dortigen Vernichtungslager deportierten Juden und Jüdinnen ausgebürgert sowie ihres Vermögens beraubt. Insgesamt betraf diese Maßnahme 250.000 bis 280.000 Personen.67 Die als zweite Variante der Zwangsausbürgerung 1933 eingeführte Aberkennung der Staatsangehörigkeit richtete sich gegen im Ausland befindliche Deutsche, die entweder „durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Volk und Reich verstößt, die deutschen Belange geschädigt“ – also insbesondere der „deutschfeindlichen Propaganda Vorschub geleistet oder das Ansehen oder die Maßnahmen der nationalen Regierung herabzuwürdigen gesucht“ hatten – oder die einer „Rückkehraufforderung“ des Reichsinnenministers nicht Folge geleistet hatten, wobei die Rückkehraufforderung dem Zweck diente, „Deutsche im Auslande, gegen die der Verdacht früherer oder gegenwärtiger staats- oder volksfeindlicher Betätigung gegeben ist, zu einem verantwortlichen Verhör ins Inland zurückzurufen“.68 Zuständig für diese Ausbürgerungen war der Reichsinnenminister im Einvernehmen mit dem Reichsaußenminister, wobei allerdings in der Praxis die Geheime Staatspoliger 1933–45 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen I (München 1985) XXXVII; HANS GEORG LEHMANN, Nationalsozialistische und akademische Ausbürgerung im Exil. Warum Rudolf Breitscheid der Doktortitel aberkannt wurde (= Marburger Universitätsreden X, Marburg 1985) XIII, geht von einer drei- bis viermal so hohen Zahl aus. 65
RGBl I, 722.
SAUL FRIEDLÄNDER, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden II (München 2006) 318.
66
67
LEHMANN, Ausbürgerung XIV f; HEPP, Einleitung XXXIV.
HERMANN HERING, Der Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit, Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt 54 (1933) 624. 68
446
ILSE REITER-ZATLOUKAL
zei die entsprechenden Vorschläge erstattete. Mit derartigen Expatriationen setzte das Regime zunächst ein Exempel gegen „besonders bekannte Persönlichkeiten der SPD und KPD“ sowie gegen „jüdische und andere Persönlichkeiten“,69 erwartete man doch „eine abschreckende Wirkung auf die gegen das nationale Deutschland gerichtete und im Ausland festgestellte Wühlarbeit“.70 So wurden zB ausgebürgert: die Nobelpreisträger Thomas Mann und Albert Einstein, Bertold Brecht, Heinrich und Klaus Mann, Lion Feuchtwanger, Kurt Tucholsky, Erich Maria Remarque und Philipp Scheidemann, der erste Reichsministerpräsident der Weimarer Republik. Insgesamt erfolgten 39.006 derartige Expatriationen. Nach deutschem Vorbild konnte in Österreich seit August 1933 ausgebürgert werden, wer „im Auslande offenkundig, auf welche Weise immer, Österreich feindliche Handlungen unterstützt, fördert oder an derartigen Unternehmungen teilnimmt“ oder wer „sich zu diesem Zwecke ins Ausland begeben hat“. Das gleiche galt, wenn sich jemand ohne Ausreisebewilligung in einen Staat begab, für den eine solche vorgeschrieben war, wobei eine derartige Bewilligungspflicht nur für das Deutsche Reich galt. „Österreich feindlichen Handlungen“ waren nicht nur solche, die sich „unmittelbar als Angriffe gegen den Bestand des Staates und seine Einrichtungen darstellen“, sondern auch solche, „die den ruhigen Ablauf des öffentlichen Lebens in Österreich zu stören geeignet und bestimmt“ waren, worunter die „Betätigung für eine politische Partei – also eines Personenkreises, der unmittelbar Einfluß auf die Staatsführung anstrebt –“ fiel, „deren weitere Tätigkeit die Staatsgewalt zu verbieten für nötig fand.“71 „Österreich feindlich“ war also sowohl die 1933 verbotene Betätigung für die NSDAP und KPÖ sowie seit 1934 für die SDAPÖ. Betroffen von dieser Maßnahme waren 10.250 bis 10.500 Personen.72
69
Zit nach LEHMANN, Ausbürgerung XIII.
Zit nach ALEXANDER STEPHAN, Überwacht. Ausgebürgert. Exiliert. Schriftsteller und der Staat (Bielefeld 2007) 139.
70
So ein Erkenntnis des Bundesgerichtshofs 1937, vgl ILSE REITER, Die Ausbürgerungsverordnung vom 16. August 1933, in INGRID BÖHLER/EVA PFANZELTER/ THOMAS SPIELBÜCHLER/ROLF STEININGER (Hrsg), 7. Österreichischer Österreichischen Zeitgeschichtetag 2008: 1968 – Vorgeschichten – Folgen. Bestandsaufnahme der österreichischen Zeitgeschichte (Innsbruck/Wien/Bozen 2010) 845–854; zur Ausbürgerung allgemein auch DIESELBE, Ausbürgerung. Politisch motivierter Staatsbürgerschaftsverlust im Austrofaschismus I, juridikum. zeitschrift im rechtsstaat 4 (2006) 173–176. 71
72
CHRISTIANE ROTHLÄNDER, Ausbürgerung. Politisch motivierter Staatsbürger-
Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen
447
Frankreich hatte bereits 192773 die Ausbürgerungsmöglichkeiten insofern erweitert, als nun eine Denaturalisation nicht mehr nur wegen Erschleichung möglich war, sondern (innerhalb von zehn Jahren nach Einbürgerung) auch dann, wenn eine/ein Naturalisierte/r „Handlungen gegen die innere und äußere Sicherheit des französischen Staates vollführt hat“, sich „zum Vorteil eines fremden Landes in Handlungen eingelassen hat, die mit der Eigenschaft als französischer Bürger unvereinbar und gegen die Interessen Frankreichs gerichtet sind“, oder wenn er sich „den Verpflichtungen entzieht, die sich für ihn aus den Gesetzen über die militärische Aushebung ergeben“. Seit November 1938 waren von derartigen Ausbürgerungen dann nur mehr die Franzosen und Französinnen kraft Geburt sowie die von Rechts wegen aufgrund des Versailler Vertrages Wiedereingebürgerten, also die Elsass-LothringerInnen, ausgeschlossen. Andererseits wurden nun die Ausbürgerungsgründe dahingehend ausgeweitet, dass ua auch Handlungen „gegen die öffentliche Ordnung“ und gegen den „Gang der Verwaltung“ des französischen Staates zum Entzug der Staatsangehörigkeit führten.74 In Polen wurden die Tatbestände des Staatsangehörigkeitsentzugs Ende März 193875 mit Wirkung vom 30. Oktober nach deutschem Vorbild dahingehend vermehrt, dass hinfort einer/einem im Ausland befindlichen polnischen Staatsangehörigen die Staatsangehörigkeit vom Innenminister nicht mehr nur wegen fünfjähriger Abwesenheit nach Entstehung des polnischen Staates bei gleichzeitigem Verlust der Verbindungen mit demselben entzogen werden konnte, sondern auch wenn sie/er im Ausland „zum Schaden des polnischen Staates gehandelt hat“ oder „von seinem Auslandsaufenthalt trotz Aufforderung eines Auslandsamtes der Polnischen Republik bis zum festgesetzten Termin nicht nach Polen zurückgekehrt ist“. In der Praxis führte dies auch zu einer verschleierten Ausbürgerung der in Österreich lebenden etwa 20.000 polnischen Juden und Jüdinnen, deren Rückkehr ins Heimatland nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verhindert werden sollte, hätte diese Remigration doch der auf Emigration der jüdischen MitbürgerInnen gerichteten Politik Polens einen deutlichen Rückschlag versetzt.76 Von der schaftsverlust im Austrofaschismus II: Die Wiener Ausbürgerungspraxis, juridikum. zeitschrift im rechtsstaat 1 (2007) 21–25; DIESELBE, Die Ausbürgerungspraxis der Wiener Bundespolizeidirektion, in BÖHLER ua, Zeitgeschichtetag 2008, 855–865. 73
HECKER/TOMSON, Staatsangehörigkeitsrecht 93, 132.
74
Ebenda 93, 134.
75
GEILKE Staatsangehörigkeitsrecht 67 ff.
76
DAN DINER, Die Katastrophe vor der Katastrophe: Auswanderung ohne Einwan-
448
ILSE REITER-ZATLOUKAL
Ausbürgerung und Ausweisung waren auch Herschel Grynszpan und seine Familie betroffen, was letztlich zu dessen tödlichen Anschlag auf den Botschaftssekretär Ernst Eduard vom Rath führte, der dem NS-Regime als Vorwand für die Novemberpogrome 1938 diente. Über die skizzierten Beispiele hinaus hatten in der Zwischenkriegszeit aber auch andere Staaten die Aberkennung der Staatsbürgerschaft oder die Denaturalisation aus politischen Gründen vorgesehen, so Belgien seit 1919 (erweitert 1932 und 1934), Rumänien seit 1924 (erweitert 1938 und 1939), Jugoslawien und die Türkei seit 1928. C. Zweiter Weltkrieg und unmittelbare Nachkriegszeit Während des Zweiten Weltkrieges und/oder in der unmittelbaren Nachkriegszeit bauten viele Staaten Europas ihre Möglichkeiten einer Zwangsausbürgerung aus, wobei diese sowohl aus rassisch/ethnischen als auch sonstigen politisch-ideologischen Motivationen in Anwendung kam. So wurden in Vichy-Frankreich, wo die Staatsangehörigkeit eine „Priorität des neuen Regimes“ darstellte,77 mit Gesetzen vom Juli und September 1940 alle diejenigen Franzosen gleichsam als „Deserteure“ ausgebürgert und ihres Vermögens beraubt, die Frankreich ohne amtlichen Auftrag oder „legitimes Motiv“ verlassen hatten. Insgesamt waren von dieser Maßnahme 446 Personen betroffen,78 darunter zB die Generäle Charles de Gaulle und Henri Giraud, der spätere „Vater der Menschenrechtserklärung“ 1948 und Friedensnobelpreisträger René Cassin, der spätere Literaturnobelpreisträger Saint-John Perse (Alexis Léger), die Bankiers André Meyer sowie Èdouard und Robert de Rothschild. Nach einem weiteren Gesetz vom Juli 1940 konnten darüber hinaus nach deutschem Vorbild auch seit dem Jahr 1927 naturalisierte Personen ausgebürgert werden. Von diesen Denaturalisationen waren 15.000 bis 18.000 Personen
derung, in DIRK BLASIUS/DAN DINER (Hrsg), Zerbrochene Geschichte. Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland ( Frankfurt am Main 1991) 138–260, hier 153. PATRICK WEIL, Deformierte Staatsangehörigkeiten. Geschichte und Gedächtnis der Juden und Muslime algerischer Herkunft in Frankreich, Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 2 (2005), H. 3, 1–30, hier 1 ff. [http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Weil-3-2005] (20. 1. 2009).
77
JEAN-MARC DREYFUS, Franco-German Rivalry and „Aryanization“ as the Creation of a New Policy in France, 1940–1944, 50–92, hier 76 [http://www.ushmm. org/research/center/publications/occasional/2003-01/paper.pdf] (23. 1. 2009).
78
Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen
449
betroffen, darunter insgesamt fast 40 Prozent Juden und Jüdinnen, also etwa ein Viertel aller zwischen 1927 und 1940 naturalisierten Juden und Jüdinnen.79 Zu der vom Generalkommissar für Judenfragen geplanten und von den Nationalsozialisten gewünschten Ausweitung der Zwangsausbürgerungsmöglichkeiten, insbesondere auf in Frankreich geborene jüdische Ehefrauen und die Kinder denaturalisierter Juden, kam es nicht mehr. Die „Endlösung“ durch Deportation begann allerdings mit Rückgriff auf einen von Ministerpräsident Pierre Laval unterzeichneten einschlägigen Entwurf bereits im Juli 1942. Das Los des Familienvorstands entschied nun über das der anderen Familienmitglieder.80 Für eingebürgerte Franzosen und Französinnen sah dann auch der Nachkriegs-Staatsangehörigkeitskodex vom Oktober 1945 in Fortführung der 1927 eingeführten Ausbürgerungstatbestände weiterhin die Denaturalisation wegen Unwürdigkeit bzw mangelnden Loyalismus’ vor.81 Ebenfalls 1940 führten auch Rumänien und Bulgarien die Möglichkeit der Zwangsausbürgerung von AuslandsrumänInnen im Falle der Loyalitätsverletzung ein,82 weiters Luxemburg ua bei schwerwiegenden Verletzungen der „luxemburgischen Bürgerpflichten“ oder bei Erfüllung „ausländischer nationaler Rechte oder nationaler Pflichten“.83 1942 schuf Griechenland die Möglichkeit der Entziehung der Staatsangehörigkeit wegen staatsfeindlicher Handlungen im Falle einer Verurteilung wegen „antinationaler Tätigkeit oder als Fahnenflüchtige und Meuterer“.84 In der Schweiz war nach zwei bis 1947 geltenden Bundesratsbeschlüssen aus 1941 und 1943 der Entzug des Schweizerbürgerrechts mittels administrativen politischen Aktes im Falle von „unschweizerischem Verhalten“ bzw eines Sicherheitsrisikos vorgesehen.85 BERNHARD LAGUERRE, Les dénaturalisés de Vichy (1940–1944), Vingtième Siecle 20/1 (1988), 3–15, hier 6 f, 11 [http://www.persee.fr] (12. 7. 2009). 79
SERGE KLARSFELD, Vichy–Auschwitz. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart X, Darmstadt 2007) 283. 80
81
HECKER/TOMSON Staatsangehörigkeitsrecht 78 ff, 92 ff.
GÜNTHER BEITZKE, Das Staatsangehörigkeitsrecht von Albanien, Bulgarien und Rumänien (Frankfurt aM 1951) 82. 82
83
DISCHLER, Staatsangehörigkeitsrecht 74.
AEMILIOS BENDERMACHER-GEROUSSIS, Das Staatsangehörigkeitsrecht von Griechenland (= Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze XVI, Frankfurt aM /Berlin 1956) 37, 121 f.
84
[http://histsem.unibas.ch/forschung/projekte/projektseiten/ausheirat-undausbuergerung/] (31. 12. 2009). 85
450
ILSE REITER-ZATLOUKAL
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit richteten sich neue Ausbürgerungsbestimmungen dann vor allem gegen „Volksdeutsche“ und KollaborateurInnen. So kam es in Belgien 1944/45 zu Zwangsausbürgerungen von KollaborateurInnen aufgrund eines Sondergesetzes für Ostbelgien, und im Juni 1945 wurde denjenigen BewohnerInnen der vormals an Deutschland abgetretenen Gebiete von Preußisch-Moresnet und Eupen-Malmedy die Staatsangehörigkeit entzogen, die während der Vereinigung mit dem Deutschen Reich eine leitende Stellung in den politischen Organisationen gehabt hatten oder als aktive PropagandistInnen für deutsche Interessen tätig waren. Auf diese Weise wurden 1.335 Personen ausgebürgert (exklusive der automatisch mitausgebürgerten Familienangehörigen).86 Politisch motivierte Zwangsausbürgerungen im Zusammenhang mit unerwünschten Heiraten sahen die Niederlande vor, indem sie diese einerseits 1943 für diejenigen NiederländerInnen einführten, die nach dem Überfall Deutschlands auf die Niederlande im Mai 1940 zusätzlich die Staatsbürgerschaft eines „Feindstaates“ (also insbesondere durch Heirat mit einem Deutschen) erworben hatten, andererseits wurde im November 1945 denjenigen Frauen, die als Feindstaatsangehörige nach dem deutschen Überfall im Mai 1940 einen Niederländer geheiratet und somit dessen (niederländische) Staatsangehörigkeit erworben hatten, diese nun wieder entzogen.87 Von den WiderstandsvertreterInnen Nordschleswigs gefordert, aber nicht realisiert, wurde eine Ausbürgung für NS-KollaborateurInnen auch in Dänemark 1945: Alle Angehörigen der deutschen Minderheit, die in der Besatzungszeit deutsche Uniform getragen hatten, „Denunzianten, Marinewächter, Sabotagewächter“ waren oder sich eine solche Rechtsstellung verschafft hatten, dass sie sich dänischer Rechtsverfolgung entziehen konnten, sollte das Staatsbürgerrecht aberkannt werden.88 In den späteren Ostblockstaaten kam es va gegen Ende des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einer besonders intensiven Anwendung der
ULRICH TIEDAU, Die Rechtslage der deutschsprachigen Bevölkerung in Belgien nach dem Zweiten Weltkrieg, in MANFRED KITTEL ua (Hrsg), Deutschsprachige Minderheiten nach 1945 (München 2006) 435–522, hier 470, 474, 495 ff.
86
FREDERIK S. BAUMANN, Das Staatsangehörigkeitsrecht der Niederlande (= Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze X, Frankfurt aM/Berlin 1953) 16 f, 57, 65 ff.
87
JÜRGEN FESTERSEN, Dänemark und die deutsche Volksgruppe in Nordschleswig 1940 bis 1955, in KITTEL, Minderheiten 570–612, hier 573 f; ERNST SIEGFRIED HANSEN, Disteln am Wege (Bielefeld 1957) 75 f. 88
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451
Zwangsausbürgerung.89 So kannte das ungarische Staatsangehörigkeitsrecht seit August 1939 weitreichende Möglichkeiten für einen ministeriellen Staatsangehörigkeitsentzug, und zwar zB aufgrund einer Verurteilung wegen bestimmter Staatsschutzdelikte, im Falle des Übertrittes zum Feind, wegen Spionage oder sonstiger Feindunterstützung, Verletzung der Ausreisebestimmungen sowie Mitgliedschaft oder Betätigung in einer ausländischen politischen Organisation. Seit März 1947 konnten auch im Ausland aufhältige Ungarn und UngarInnen, gegen die der Verdacht einer staatsfeindlichen Handlung bestand, ausgebürgert und deren Vermögen beschlagnahmt werden, wenn sie einer Rückkehraufforderung nicht Folge leisteten. Im Oktober 1945 wurden weiters alle Einbürgerungen deutscher Staatsangehöriger nach Kriegsbeginn außer Kraft gesetzt. Darüber hinaus verloren im Juli 1946 alle nach Deutschland umgesiedelten ungarischen StaatsbürgerInnen die ungarische Staatsbürgerschaft zum Zeitpunkt ihrer Abreise aus Ungarn ebenso wie diejenigen Personen, die bereits vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmung nach Deutschland umgesiedelt worden waren.90 In Jugoslawien beschloss der Antifaschistische Rat der nationalen Befreiung Jugoslawiens (AVNOJ) bereits Ende November 1944 den so genannten Erlass über die Aberkennung der Bürgerrechte,91 nachdem alle in Jugoslawien lebenden Personen deutscher Abstammung alle bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sowie ihren Besitz verloren. Nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz vom August 194592 war dann ua auszubürgern, wer nach seiner Abstammung zu einem Volk gehörte, dessen Staat mit Jugoslawien im Krieg gestanden war, und „während des Krieges oder in Verbindung damit vor dem Kriege durch unloyale Handlungen zum Nachteil der nationalen und staatlichen Interessen der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien gegen seine Pflicht als Staatsbürger verstoßen“ hatte. Als illoyales Verhalten wurde zB die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft während des Krieges gewertet.93 LUDWIG SZLEZAK, Das Staatsangehörigkeitsrecht von Ungarn (= Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze XXII, Frankfurt aM/Berlin 1959) 139 ff. 89
ÁGNES TÓTH, Rechtliche Regelungen zur Lage des Ungarndeutschtums 1938 bis 1950, in KITTEL, Minderheiten 253–295, hier 292.
90
DAMIJAN GUŠTIN/VLADIMIR PREBILIČ, Die Rechtslage der deutschen Minderheit in Jugoslawien 1944 bis 1946, in KITTEL, Minderheiten 297–346.
91
HANS-JOACHIM SEELER, Das Staatsangehörigkeitsrecht von Jugoslawien (= Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze XVII, Frankfurt aM/Berlin 1956) 40 ff. 92
93
GUŠTIN/PREBILIČ, Rechtslage 309.
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Die Staatsangehörigkeit konnte nach diesem Gesetz aber auch demjenigen jugoslawischen Staatsangehörigen entzogen werden, der „im Auslande die nationalen und staatlichen Interessen“ Jugoslawiens „durch seine Arbeit schädigt oder während des Krieges geschädigt hat, oder die Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflichten verweigert“. Darüber hinaus konnte unter bestimmten Umständen eine Denaturalisierung als Folge eines gerichtlichen Urteils „wegen Vergehens zum Nachteil der nationalen und staatlichen Interessen“ ausgesprochen werden. Mit dem Verfassungsdekret Nr. 33 vom August 1945 bürgerte die Tschechoslowakei die etwa 30 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachenden BürgerInnen deutscher und magyarischer Nationalität aus.94 Erhalten blieb die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft nur denjenigen Personen, die nachweisen konnten, „daß sie der Tschechoslowakischen Republik treu geblieben sind, sich niemals gegen das tschechische oder slowakische Volk vergangen und sich entweder aktiv am Kampf um ihre Befreiung beteiligt oder unter dem nazistischen oder faschistischen Terror gelitten haben“, wobei es sich zB um Personen handelte, die aus politischen oder rassischen Gründen in einem Konzentrationslager oder im Gefängnis inhaftiert, „wegen ihrer Treue zur Republik und ihrer Loyalität gegenüber dem tschechischen oder slowakischen Volk anderweitig von den Nazis verfolgt worden“ waren, oder die sich aktiv am Kampf gegen den Nazifaschismus und für die CSSR beteiligt oder in den tschechoslowakischen Einheiten bzw in Einheiten der Alliierten oder im einheimischen Widerstand gedient hatten und nicht Mitglied der SS, SA, SdP, NSDAP oder irgendeiner anderen nazistischen Organisation waren. Als derartiger Nachweis galten die politische Tätigkeit in der Emigration sowie die Finanzierung des Widerstands. Auch denjenigen Personen blieb die Staatsbürgerschaft erhalten, deren Familienangehörige wegen ihrer antifaschistischen Tätigkeit oder in den Konzentrationslagern zu Tode gekommen waren.95 Über die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft entschied das Innenministerium. Darüber hinaus wurde allen TschechInnen und SlowakInnen, die sich seit der partiellen Mobilmachung Ende Mai 1938 um die Erteilung der deutschen oder ungarischen Staatsangehörigkeit beworben hatten, „ohne hierzu durch Druck oder besondere Umstände gezwungen gewesen zu sein“, die Staatsbürgerschaft entzogen. Insgesamt kam
ERICH SCHMIED, Das Staatsangehörigkeitsrecht der Tschechoslowakei (= Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze XVIII, Frankfurt aM 1956) 83 ff.
94
JAN KUKLÍK, Deutschland und die Personen deutscher Nationalität in der tschechoslowakischen Gesetzgebung (1940–1948), in KITTEL, Minderheiten 1–130, hier 12. 95
Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen
453
es aufgrund dieses Dekrets bis 1947 zur Ausbürgerung und Enteignung von mehr als zwei Millionen Deutscher und Ungarn bzw Ungarinnen.96 In Polen erklärte die Exilregierung im August 194497 alle StaatsbürgerInnen deutscher Nationalität für Deutsche und entzog ihnen die polnische Staatsangehörigkeit. Nach einem Dekret vom September 194698 sollten jedoch nur diejenigen Personen ausgebürgert werden, die „durch ihr Verhalten ihre nationale deutsche Eigenart bewiesen“ hatten. Die „bloße Tatsache, daß jemand während des am 1. September 1939 begonnenen Krieges die Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität oder seine deutsche Abstammung deklariert“ hatte, sollte noch keinen Beweis für seine „nationale Eigenart“ darstellen. Die Ausgebürgerten unterlagen nun als AusländerInnen der „Aussiedlung aus dem Gebiete des Staates“, ihr Vermögen wurde zu Gunsten des Staates eingezogen und sie verloren ihre Rentenansprüche gegen die Sozialversicherung. Rumänien expatriierte nach einem Gesetz von 194799 ua alle Personen, die freiwillig in die Dienste eines fremden Staates getreten waren, gegen die Vereinten Nationen gekämpft hatten sowie diejenigen, die einer militärischen oder militärähnlichen Formation eines solchen Staates angehörten, womit diejenigen Rumänen ausgebürgert wurden, die in der deutschen Wehrmacht, bei der Waffen-SS usw gedient, oder freiwillig einer anderen deutschen Dienststelle, etwa der Organisation Todt, angehört hatten.100 D. Die Zeit des Kalten Krieges In den Westeuropäischen Staaten ging man seit 1947/48 von der Zwangsausbürgerung eigener Staatsangehöriger ab und sah bloß noch Denaturalisierungen, in der Regel aufgrund von Erschleichungs- und Illoyalitätstatbeständen, vor. Die „Ostblockstaaten“ hingegen schotten sich nun staatsangehörigkeitsrechtlich ab und perpetuierten bzw intensivierten ihr Zwangsausbürgerungsrecht. Sie folgten dabei dem Vorbild der Sowjetunion, wo es seit den späten 1960er Jahren zu zahlreichen, teils spektakulären Ausbürgerungen kam. Neben Gefängnis, Internierung in psychiatrischen Anstalten und in Lagern ver-
96
Ebenda 15 ff.
GRZEGORZ JANUSZ, Die rechtlichen Regelungen Polens zum Status der deutschen Bevölkerung in den Jahren 1938 bis 1950, in KITTEL, Minderheiten 131–251, hier 145. 97
98
GEILKE, Staatangehörigkeitsrecht 106 ff.
99
BEITZKE, Staatsangehörigkeitsrecht 83 ff.
100
Ebenda 60.
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wendete das Regime nämlich „auch (ausgiebig) das Mittel der Ausbürgerung, um aktive Dissidenten loszuwerden“,101 während sich diese auf einer Auslandsreise befanden, oder als Drohung, um sie zu disziplinieren, wie im Fall Boris Pasternaks. Rechtsgrundlage dafür war das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1938, wonach diese Maßnahme für jeden Einzelfall mit Sonderdekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR ausgesprochen wurde. Die sowjetische Staatsangehörigkeit verloren auf diese Weise zB Stalins Tochter Swetlana Allilujewna 1966, der Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn (1974), die Mitglieder der 1976 gegründeten Helsinki-Gruppe Jurij F. Orlow und Andrej Amalrik, die beiden russischen Vorzeigekünstler Mistislaw Rostropowitsch, Cellist und Dirigent, und seine Frau, die Opernsängerin Galina Wischnewskaja (1978). Was die sowjetischen Satellitenstaaten anbelangt, so machte auch die Tschechoslowakei weitreichenden Gebrauch vom Instrument der Zwangsausbürgerung, die seit 1949 vom Innenministerium über eine im Ausland befindliche Person verhängt werden konnte, die sich auf irgendeine Weise staatsfeindlich oder gegen die Interessen der CSR betätigte, „nicht gesetzmäßig das Gebiet der CSR verlassen“ oder einem Rückkehrbefehl nicht Folge geleistet hatte. Seit 1969 stellte auch die Mitgliedschaft in einer Organisation, „deren Tätigkeit sich gegen die staatliche Ordnung der CSSR richtet, oder in den Diensten einer solchen Organisation steht“, einen Grund für die Entziehung der Staatsbürgerschaft dar.102 Nach den Richtlinien von 1977 wurde ein staatsfeindliches oder die Interessen der CSSR verletzendes Verhalten von illegal im Ausland befindlichen tschechoslowakischen BürgerInnen vor allem dann angenommen, wenn diese Personen „bei feindlichen Kundgebungen im ausländischen Rundfunk oder Fernsehen oder auf Versammlungen von Organisationen und Institutionen im Ausland auftreten oder an feindlichen Aktionen teilnehmen oder auf andere Weise öffentlich die sozialistische Ordnung der ČSSR und ihre Bündnisverpflichtungen entwürdigen, das Ansehen der tschechoslowakischen Repräsentanten und der tschechoslowakischen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen herabsetzen“.103 Anwendungsmöglichkeiten für diese Bestimmungen gab es angesichts der großen SCHORES MEDWEDEW, Andropow: Der Mann aus dem Kosakendorf, Der Spiegel, 29 /1983, 18. 7. 1983 [http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument.html? id=14018276&top=SPIEGEL] (24. 3. 2009). 101
ERICH SCHMIED, Das Staatsangehörigkeitsrecht der Tschechoslowakei (= Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze XVIII2, Frankfurt aM 1974) 48. 102
103
Ebenda 353.
Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen
455
Anzahl tschechoslowakischer Staatsangehöriger, die sich unerlaubterweise im Ausland befanden, reichlich. So hielten sich infolge der Fluchtwellen 1945, 1948 und 1968 etwa 1.230.000 SlowakInnen und 829.000 TschechInnen im Ausland auf, die noch die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft besaßen, und 1969 kamen noch etwa 80.000 dazu.104 Allerdings erfolgte die Entziehung der Staatsbürgerschaft bis 1977 „nach sowjetischen Vorbild nur in wenigen Fällen“, und zwar „ausnahmslos bei prominenten Persönlichkeiten“.105 Ausgebürgert wurden zB 1970 der Politiker und Wirtschaftswissenschaftler Ota Sik, 1972 der Schachgroßmeister Ludek Pachman, eine Symbolfigur des Prager Frühlings, 1974 der Publizist Jiří Hochmann, 1975 der Kernphysiker František Janouch. Das Entstehen der Bürgerrechtsbewegung in der Tschechoslowakei und die Unterzeichnung der Charta 1977 zogen eine Welle weiterer Ausbürgerungen nach sich, zB 1979 Pavel Kohout und 1980 Jiří Gruša. In Rumänien erfolgten die politischen Ausbürgerungen dieser Zeit aufgrund eines Dekrets aus 1948,106 das die Tatbestände des „Treubruchs gegenüber dem Heimatstaat“ bzw der Schädigung der Interessen der rumänischen Volksrepublik oder ihres Ansehens durch im Ausland befindliche Rumänen normierte, wobei die Aberkennung der Staatsangehörigkeit durch Dekret des Präsidiums der Großen Nationalversammlung erfolgte. Auf dieser Rechtsgrundlage wurde zB 1977 der bekannte Schriftsteller und Dissident Paul Goma expatriiert. Polen sah 1951107 ähnliche Entziehungsgründe für im Ausland aufhältige PolInnen wie die CSSR vor und bürgerte etwa 1968 den Historiker, Schriftsteller und Dramaturgen André Kaminski aus. Ungarn reduzierte 1957 hingegen die Entzugstatbestände auf schwere Verstöße gegen die staatsbürgerliche Treue durch im Ausland befindliche UngarInnen sowie auf Verurteilung wegen bestimmter schwerer Straftaten,108 fasste diese aber so „weit und elastisch“, dass der Präsidialrat der Volksrepublik ebenfalls „vollkommen freie Hand“ hatte.109 In der Deutschen Demokratischen Republik wurde die Zwangsausbürgerung abschließend mit dem Staatsbürgerschaftsgesetz von 1967 geregelt, das sowohl eine Denaturalisation als auch die Aberkennung der Staatsangehörigkeit 104
SCHMIED, Staatsangehörigkeitsrecht 1974 351.
105
Ebenda 352.
106
Ebenda 87 ff.
107
GEILKE, Staatsangehörigkeitsrecht 116 ff.
108
SZLEZAK, Staatsangehörigkeitsrecht 184 ff.
109
Ebenda 206.
456
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bei BürgerInnen mit Wohnsitz oder Aufenthalt außerhalb der DDR wegen „grober Verletzung der staatsbürgerlichen Pflichten“110 kannte. 1972 wurde außerdem allen bisherigen Republikflüchtigen die Staatsangehörigen pauschal entzogen.111 Prominentester Ausbürgerungsfall nach dem Staatsbürgerschaftsgesetz war 1967 der Liedermacher Wolf Biermann, der vorgeblich eine Auslandsreise dazu missbraucht hatte, „sich in die von reaktionären Kräften außerhalb des Staatsgebiets der DDR entfaltete Hetzkampagne gegen die DDR einzugliedern“, womit er die bestehende Treuepflicht gegenüber dem Staat verletzt habe.112 Folge dieses Staatsbürgerschaftsentzugs war eine „Lawine von Reaktionen, die in ihrem Ausmaß von der DDR-Regierung keineswegs … erwartet worden war“.113 Weitere Ausbürgerungen folgten, es begann sich „das Ausbürgern einzubürgern in der DDR“ (Stefan Heym).114 Die meisten in der Literatur als „Ausbürgerungen“ bezeichneten Vorgänge stellten aber nicht eine Aberkennung der Staatsangehörigkeit bzw Zwangsausbürgerung wie bei Biermann dar, sondern waren Ausweisungen bzw Abschiebungen aus der DDR, zum Teil nach vorheriger Unterzeichnung eines Antrages auf „Entlassung“ aus der DDR-Staatsbürgerschaft. So wurde zB der Schriftsteller Reiner Kunze 1977 aufgrund eigenen Antrags ausgebürgert und verließ mit seiner Familie die DDR „unfreiwillig freiwillig“.115 „Hinausbürgerung“116 nannte es Kunze. Zwangsausbürgerungen blieben in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren aber nicht auf den Ostblock beschränkt. So ermöglichte das griechische Staatsangehörigkeitsrecht vom September 1955117 nicht nur die Ausbürgerung eines Auslandsgriechen bzw einer Auslandsgriechin, der/die „zugunsten eines ausländiGBl I, 3; [http://www.verfassungen.de/de/ddr/staatsbürgerschft67-v1.htm] (23. 3. 2009).
110
111
[http://www.verfassungen.de/de/ddr/staatsbürgerschaft72] (31. 3. 2009).
ARNE BORN, Kampf um Legitimation. Stabilität und Instabilität der SEDHerrschaftsstrukturen, in ROLAND BERBIG/ARNE BORN ua (Hrsg), In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung (Berlin 1994) 44–65, hier 61.
112
ROLAND BERBIG/HOLGER JENS KARLSON, Einleitung, in BERBIG ua, Biermann 11–28, hier 11. 113
KARL WILHELM FRICKE, Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report (Köln 1984) 179. 114
115 116 117
[http://www.thueringen.de/tlstu/politbildung/daten2007.htm] (14. 11. 2008). [http://www.poetenladen.de/reiner-kunze-75.htm] (14. 11. 2008). BENDERMACHER-GEROUSSIS, Staatsangehörigkeitsrecht 130 ff.
Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen
457
schen Staates mit der Eigenschaft eines griechischen Bürgers unvereinbare und gegen die Belange Griechenlands gerichtete Handlungen unternimmt“, sondern auch eines Griechen „fremden Volkstums (Allogener), welcher das griechische Territorium ohne Absicht der Rückkehr verlässt“, nach welcher Bestimmung den Angaben der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen zufolge118 46.638 Angehörigen der türkischen Minderheit in West-Thrakien „unrechtmäßig die griechische Staatsangehörigkeit entzogen“ wurde. Überdies kam es in Griechenland nach dem Militärputsch 1967 zu zahlreichen Ausbürgerungen, zunächst im Mai von 480 „Kommunisten“ und etwa 60.000 GriechInnen, die nach dem von den Kommunisten verlorenen Bürgerkrieg 1949 in Ostblockstaaten geflohen waren.119 Ein neues Gesetz im Rahmen des „Revolutionsrechts“120 bot dann die Grundlage für die Expatriierung von acht Prominenten aus Politik und Kultur Ende Juli 1967, darunter die in New York aufhältige Schauspielerin und spätere griechische Kulturministerin Melina Mercouri, die zur „Feindin des Volkes“ erklärt wurde.121 Weitere 61 Personen folgten im Jänner 1968.122
IV. Resümee Das Phänomen der Zwangsausbürgerung aus politischen Gründen ist nicht nur in Europa entstanden, sondern fand hier auch eine außerordentlich weite Verbreitung, und zwar nicht nur hinsichtlich der Denaturalisation, sondern auch der Aberkennung bei Staatsangehörigen seit Geburt. Während sie in demokratischen Staaten hier nur in Kriegszeiten zur Anwendung kam, setzten sie rechte und linke Diktaturen auch in Friedenszeiten zur politischen Stabilisierung und Homogenisierung ein. Eine flächendeckende rechtsgeschichtliche Untersuchung dieses Phänomens steht zwar noch aus, schon der bisherige Befund zeigt allerdings, dass die Ausbürgerung ein in den meisten europäischen Staaten bekanntes und in Diktatur- oder Krisenzeiten mehr oder weniger intensiv angewendetes Instrument war, politische Loyalität zu erzwingen bzw missliebige Personen zu exkludieren. 118
[http://www.fuen.org/pages/deutsch/archive/d_6_05.html] (6. 6. 2008).
ANSGAR SKRIVER, Soldaten gegen Demokraten. Militärdiktatur in Griechenland (Köln/Berlin 1968) 82.
119
JEAN MEYNAUD/C. T. ARIS, Bericht über die Abschaffung der Demokratie in Griechenland (Berlin 1969) 67 ff. 120
MELINA MERCOURI, Ich bin als Griechin geboren (Reinbek bei Hamburg 1974) 179 f. 121
122
SKRIVER, Soldaten 82 f.
458
ILSE REITER-ZATLOUKAL
Festzustellen ist freilich, dass derartige Expatriationen nicht ausschließlich auf Europa beschränkt waren, sondern auch zB in Chile unter der 1973 installierten Militärdiktatur Augusto Pinochets, im Iran während des Chomeini-Regimes seit 1979, aber etwa auch in den USA stattfanden, und zwar dort nicht nur während des Zweiten Weltkrieges: So konnten in den USA nach dem Nationality Act 1950123 Denaturalisierungen wegen kommunistischer Betätigung ausgesprochen werden. Untersuchungen zum Instrument der Zwangsausbürgerung außerhalb Europas fehlen allerdings. Möglicherweise ist dieses Phänomen aber gar nicht nur Element einer spezifisch europäischen Rechtsunkultur?
MURAD FERID, Das Staatsangehörigkeitsrecht der Vereinigten Staaten von Nordamerika (= Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze VII, Frankfurt aM 1951) 133.
123
Zu den Anfängen der staatlichen Stiftungsaufsicht in Österreich GABRIELE SCHNEIDER, Wien
I. Das österreichische Stiftungsrecht war Jahrhunderte hindurch von der Auffassung bestimmt, die Stiftung sei als Vollzieherin von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung untrennbar in den staatlichen Organismus eingegliedert. Ausdruck der engen Beziehung zwischen Staat und Stiftung waren die Beschränkung des Stiftungszwecks auf Gemeinnützigkeit oder Mildtätigkeit, dh auf Erfüllung von Staatsaufgaben im weitesten Sinn, sowie die Unterstellung solcher Stiftungen unter staatliche Aufsicht. Dieses Naheverhältnis zwischen Stiftungen und Staat erfuhr im Jahre 1993 durch das Inkrafttreten des Privatstiftungsgesetzes einen tiefen Einschnitt:1 dieses Gesetz ermöglichte erstmals in der Geschichte des österreichischen Stiftungsrechts die Gründung rechtsfähiger Stiftungen zur Verfolgung jedes erlaubten Zweckes ohne staatliche Aufsicht. Die Auswirkungen für die Praxis sind weitreichend – in den letzten Jahren war ein wahrer Boom an Stiftungsgründungen für private Zwecke zu verzeichnen. Doch auch auf gemeinnützigem Sektor vollzog sich durch die die Zunahme von Stiftungen zugunsten der Wissenschaft und Forschung, der Kultur und der Daseinsfürsorge ein grundlegender Wandel, weshalb dem Stiftungsrecht in Österreich heute größere Aktualität zukommt denn je. Diese Entwicklung ist Anlass, den Blick auf die Wurzeln des staatlichen Stiftungsaufsichtsrechts zu lenken. Das Aufsichtsrecht gilt als Kernbereich des gesamten Stiftungsrechts, es ist von seinem Umfang und seiner Ausgestaltung her nicht nur für jede einzelne Stiftung von zentraler Bedeutung, sondern auch Ausdruck des Verhältnisses zwischen Staat und Stiftung im Allgemeinen. Der Staat soll Stiftungen vor allem Schutz bieten, da Stiftungen als verselbständigte Vermögensmassen, die der Verfolgung eines bestimmten Zweckes dienen, aufgrund ihrer Eigentümerlosigkeit sowie ihrer hohen sozialen Bedeutung naturgemäß besonderen Gefahren ausgesetzt sind. 1
Privatstiftungsgesetz vom 14. 10. 1993 BGBl 694.
460
GABRIELE SCHNEIDER
Trotz der starken Zunahme an Schrifttum zu stiftungsrechtlichen Fragen in den letzten Jahren gibt es bisher kaum Arbeiten zu rechtshistorischen Aspekten. Die vorliegende Untersuchung hat es sich aus diesem Grund zur Aufgabe gemacht, die Anfänge des staatlichen Stiftungsaufsichtsrechtes aufzuspüren und darzustellen.2 Als Grundlage dafür wurden sowohl gedruckte Quellen als auch Archivmaterial herangezogen.3
II. Das Stiftungswesen ist ein Rechtsbereich, dessen Regelung in Mitteleuropa bis in das Mittelalter nahezu ausschließlich in den Machtbereich der Kirche gefallen war. Dort liegen auch die unmittelbaren Wurzeln des heutigen mitteleuropäischen Stiftungswesens, als Stiftungen vor allem im kirchlichen Bereich in Form von Seelgerätstiftungen4 und letztwilligen Verfügungen ad pias causas Verbreitung fanden.5 Ab dem 12. Jahrhundert begannen sich erste Ansätze eines länger anhaltenden weltlichen Einflusses abzuzeichnen.6 Anknüpfungspunkt dafür bot der Aufgabenbereich der Hospitäler, der weit über jenen, den Spitäler heute wahrnehmen, hinausging.7 Neben der üblichen klassischen Krankenpflege umfasste er auch die Beherbergung von Fremden, die Unterstützung von
Die Entwicklung wird an Hand von ausgewählten Marksteinen dargestellt, da die Aufzählung sämtlicher Rechtsquellen den hier vorgegebenen Rahmen bei Weitem sprengen würde.
2
Bedauerlicherweise sind große Teile der einschlägigen Archivbestände dem Justizpalastbrand 1927 zum Opfer gefallen. Das noch vorhandene Material befindet sich im ÖStA, AVA, Inneres, HK, Allgemeines.
3
Vgl dazu ua HANS LENTZE, Das Seelgerät im mittelalterlichen Wien, ZRG KA 44 (1958) 35–103. 4
Vgl HELMUT COING, Europäisches Privatrecht I (München 1986) 267 f und 593 ff. Zum Stiftungswesen im Mittelalter im Allgemeinen vgl ua MICHAEL BORGOLTE, Die Stiftungen des Mittelalters in rechts- und sozialhistorischer Sicht, ZRG KA 74 (1988) 71–93; sowie REINER SCHULZE, Stiftungsrecht, in: HRG1 IV, 1980–1990, hier insbes 1981 ff. 5
Zur Entwicklung ab dem späten Mittelalter vgl va RUDOLF HERRMANN HERRNRITT, Das österreichische Stiftungsrecht (Wien 1896) 71 ff.
6
Zum Hospitalwesen vgl ua MARTIN SCHEUTZ (Hrsg), Europäisches Spitalwesen – institutionelle Fürsorge in Mittelalter und früher Neuzeit (= MIÖG, Ergänzungsband 51, Wien/München 2008). 7
Zu den Anfängen der staatlichen Stiftungsaufsicht in Österreich
461
Armen und die Aufnahme und die Erziehung von Waisen und Findelkindern. Diesen Aufgaben, die nach heutigem Verständnis der inneren Verwaltung zugerechnet werden, wurde bereits im Mittelalter ein öffentlich-rechtlicher – und somit weltlicher – Charakter zugesprochen. Aufgrund dieser Nähe zu weltlichen Verwaltungsaufgaben gelang es den Städten allmählich, eine gewisse Kontrolle über die Hospitäler auszuüben, wobei sie sich weniger als Aufsichtsorgane, sondern vielmehr als eine Art Beschirmer und Beschützer der Stiftungen und deren dauernder Erhaltung sahen. Diese zunächst nur bescheidenen Ansätze weltlichen Einflusses erfuhren im 16. Jahrhundert durch die Ausbildung des ius supremae inspectionis, jenes umfassenden Oberaufsichtsrechtes des Monarchen, das ihm die Kontrolle und Überwachung nahezu sämtlicher Tätigkeiten in seinem Territorium ermöglichte, eine massive Erweiterung. In den österreichischen Ländern trat als erster Landesfürst, der sich in größerem Ausmaß des Stiftungswesens und seiner gesetzlichen Ausgestaltung annahm, Ferdinand I. hervor.8 Die von ihm erlassenen stiftungsrechtlichen Vorschriften standen in engem Zusammenhang mit der Armengesetzgebung, die dem Monarchen stets ein besonderes Anliegen war. Auffallend an Ferdinands Stiftungsgesetzgebung ist, dass in ihr besonders deutlich die Stellung des Landesfürsten als oberstes Aufsichtsorgan über Stiftungen zum Ausdruck kommt. Ferdinand I. sah sich als „obrister Vogt und Stifftherr“, dem es „zustehen und Gebühren will, ... ob solcher Spitäler und derselben Stiftungen zu halten, die eingerissenen Mängel und Gebrechen ... durch gebührliches Einsehen abzustellen“.9 Um das gesamte Stiftungswesen übersichtlicher zu gestalten und die Gebarung der Spitalsverwalter transparenter zu machen, insbesondere auch deren Eigennützigkeit hintanzuhalten, ordnete er die Erstellung ordentlicher Jahr-Raittungen an, dh jährlicher Berichte über die Höhe des Stiftungsvermögen bei Spitalstiftungen und darüber erfolgter Verfügungen. Weiters wurden die Stiftungen zu Aufzeichnungen über die Anzahl der Personen verpflichtet, die in den Genuss der Spitalstiftung gekommen waren. Damit wird deutlich, dass Ferdinand I. nicht nur seine Stellung als oberste Instanz in Stiftungsangelegenheiten festgelegt hat, sondern bereits auch bestimmte Aufsichtsmittel zur Kontrolle der Zur Entwicklung des österreichischen Stiftungswesens ab dem 16. Jhdt vgl auch ERNST MISCHLER / JOSEF ULBRICH (Hrsg), Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechts IV2 (Wien 1909), 484– 491, hier 485 f; sowie KARL WEIß, Geschichte der öffentlichen Anstalten, Fonde und Stiftungen in Wien (Wien 1867) insbes 23 ff. 8
9
Generale vom 2. 3. 1546, CA II, 306 f.
462
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Finanzgebarung normierte. Neben das bereits genannte Instrumentarium trat im Jahre 1552 ein Visitationsrecht bzw sogar eine Visitationspflicht von Stiftungen. Die Obrigkeit war nunmehr nicht nur verpflichtet „wo Spitäler sein, darauf zu sehen, daß sie ordentlich in Stand erhalten“, sondern hatte auch darauf zu achten, dass sie „wenigist im Jar ainmal besichtigt werden“.10 Im Übrigen sollte sich die Sorgfalt des Landesherrn vor allem auf die Aufrechterhaltung der Anordnungen des Stifters hinsichtlich der Besetzung der Stiftungsplätze in ihrer vollen Zahl und auf die ungeschmälerte Erhaltung des Einkommens und Vermögens der Stiftung konzentrieren. Dieser Substanzerhaltung diente zunächst das Erfordernis der Zustimmung des Landesherrn zum Verkauf bzw der Verpfändung von Stiftungen und Stiften gewidmeten Liegenschaften, das für den Verkauf und/oder Verpfändung von geistlichen Gütern und Stiftungen an Weltliche galt. Fehlte der landesfürstliche Konsens bei Vertragsabschluss und wurde er auch nachträglich nicht erteilt, so sollten „dieselbe Sätz und Käuff gantz nichtig, unwürcklich, krafftlos und unbündig seyn“ und die „alienierte Geistliche Güter widrumb herbeygeschafft“11 werden. Die Geistlichkeit war somit verpflichtet, die veräußerten Güter auf dem Wege des Widerkaufsrechts, des Lösungsrechts oder „anderer Mittel und Weeg“ wieder ihrem eigentlichen Zweck zuzuführen, die weltlichen Vertragspartner wurden aufgefordert, „solchen Widerkauff und Lösungen unweigerlich statt zu thun“.12 Unter Ferdinands Nachfolger, Maximilian II., flossen die stiftungsrechtlichen Vorschriften bereits in geringerem Ausmaß. Die wenigen Verordnungen, die ergingen, deckten sich inhaltlich in weiten Bereichen mit jenen Ferdinands, auffallend ist jedoch das nunmehr schärfere Vorgehen bei Verstößen gegen das Erfordernis der obrigkeitlichen Zustimmung zu bestimmten Rechtsgeschäften. Für den Fall eines „Verkauff, Versatz, Leib-Geding und Contract, wie die Namen haben“ an eine weltliche Person waren Strafen, sowohl für den geistlichen als auch für den weltlichen Vertragspartner, vorgesehen. Im Übrigen wurden die Verträge für null und nichtig erklärt, die veräußerten Güter sollten – mit landesfürstlicher Hilfe – eingezogen und ihrem ursprünglichen Zweck zugeführt werden. Während dem weltlichen Vertragspartner „dieselben geistlichen Güter nicht allein ohne Mittel alsbald genommen und sein ausgegebenes Geld conficirt werden ...“ und er alle Nutzungen, die er in Ordnung und Reformation guter Policey für die niederösterreichischen Länder und die Grafschaft Görz vom 15. 10. 1552 [Art XXXI] von Pettlern.
10
11
VO vom 14. 4. 1545, CA I, 402.
12
VO vom 31. 10. 1552, CA I, 402 f.
Zu den Anfängen der staatlichen Stiftungsaufsicht in Österreich
463
der Zeit der Innehabung oder des Besitzes gezogen hat, herausgeben sollte, sollte der Geistliche darüber hinaus „nach Ungnad am Leib gestrafft“ werden.13 Nach Maximilians Tod trat in der stiftungsrechtlichen Gesetzgebung schließlich der nahezu völlige Stillstand ein. Auch das 17. Jahrhundert zeigt in Bezug auf das Stiftungsrecht ein ähnliches Bild, wenngleich auch etwas mehr Regelungen mit stiftungsrechtlichem Inhalt ergingen. Doch auch sie brachten keine wirklichen Neuerungen, sondern waren im Großen und Ganzen Wiederholungen und Bestärkungen der bereits bestehenden Vorschriften. Ausnahmen stellen lediglich zwei Verordnungen von 1624 und 1634 dar, die beide die verfahrensrechtliche Seite des Stiftungswesens betrafen.14 Mit der ersten wurde festgelegt, dass die Entscheidungskompetenz über Beschwerden wegen Eingriffen in das Stiftungsvermögen dem Landesfürsten zukam, die zweite bestimmte, „daß derlei Sachen an die Regierung gezogen und summarie in possessorio“ verhandelt werden sollten. Eine Wende in der österreichischen Stiftungsgesetzgebung begann sich erst im 18. Jahrhundert unter Karl VI. abzuzeichnen, als dieser im Zuge der generellen Neugestaltung des Armenwesens auch dem Stiftungswesen erhöhte Aufmerksamkeit widmete. Es blieb jedoch bei Einzelmaßnahmen für bestimmte Länder oder für einzelne Anstalten bzw Stiftungen. Das Augenmerk Karls galt auch weniger der allgemeinen Überwachung der Vollziehung des Stifterwillens und der Erhaltung der Stiftskapitalien, als vielmehr der Umgestaltung dieses Verwaltungsbereiches durch die Errichtung spezieller Kommissionen. So setzte er im Jahre 1724, als er ein umfassendes Patent für die Armenversorgung in Wien erließ, gleichzeitig eine Hauptkommission für Niederösterreich (mit einer subdelegierten Kommission) zur Besorgung einzelner Anstalten in Verbindung mit dem Armenwesen und eine eigene Kommission für die Verwaltung der Cassa pauperum15 ein.16 1733 wurde auch die Oberleitung des Bürger- und Hofspitals einer eigenen Hofkommission übertragen. Durchschlagender Erfolg dürfte wohl keiner dieser Kommissionen zuteil geworden sein, wie aus der Tatsache geschlossen werden kann, dass
13
VO vom 20. 6. 1575, CA I, 403.
14
VO vom 15. 12. 1624, CA I, 401, und VO vom 25. 2. 1634, CA I, 401.
15
Zur Cassa pauperum (Armenleut-Cassa) vgl WEIß, Anstalten 59 ff.
Patent vom 17. 1. 1724, CA IV, 158. Die Kommission war mit dem Statthalter von Niederösterreich, dem Erzbischof und dem Landmarschall besetzt. 16
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sie allesamt bereits nach wenigen Jahren ihres Bestehens wieder aufgelöst wurden.17
III. Mit der Regierungszeit Maria Theresias trat das österreichische Stiftungsrecht in eine völlig neue Entwicklungsphase. Erstmals zeichnete sich ein systematischeres Vorgehen im Bereich der Regelung des Stiftungswesens ab, das die endgültige Eingliederung des Stiftungswesens in den weltlichen Aufgabenbereich und somit in die landesfürstliche Verwaltung zum Ziel hatte. Mittel und Weg waren der Monarchin die zentralistische Gestaltung des Stiftungswesens durch die Schaffung neuer Behörden bzw die Umgestaltung von bereits bestehenden Behörden.18 Die allgemeine Stiftungsverwaltung, insbesondere aber die staatliche Stiftungsaufsicht, die bis dahin länderweise unterschiedlich und nur zum Teil durch besondere staatliche Organe ausgeübt worden waren, sollten einheitlich für alle deutschen Erbländer organisiert, die Stiftungen in ihrer Rechtsstellung gefestigt und in weiterer Folge endgültig der Aufsicht der Staatsverwaltung unterstellt werden.19 Die erste klare Zuweisung in den Bereich der landesfürstlichen Verwaltung erfuhr das Stiftungswesen im Jahre 1749, im Zuge der Errichtung des Directoriums in publicis et cameralibus: Der letzte Punkt der Agenda der conferenz in internis legte Folgendes fest: „Die geistlich- und milde Stiftungen sollen in denen ländern von eigenen kommissionen sub directione deren königlichen repraesentationen untersuchet, von den landesrepraesentationen aber darüber von zeit zu zeit anhero relationiret werden“.20 Im Anschluss daran wies die Monarchin mit Hofreskript vom 14. Juni 174921 die Obsorge für Stiftungen – „weil sie außer verschiedenen anderen Betrachtungen hauptsächlich in die
17
So HERRNRITT, Stiftungsrecht 77.
Zu den Reformen Maria Theresias im Allgemeinen vgl WERNER OGRIS, Recht und Staat bei Maria Theresia, ZRG GA 98 (1981) 1–29; sowie DERSELBE, Staats- und Rechtsreformen, in: Maria Theresia und ihre Zeit (Salzburg/Wien 1980) 56–66.
18
FRIEDRICH WALTER, Die Geschichte der österreichischen Zentralverwaltung in der Zeit Maria Theresias (= Die Österreichische Zentralverwaltung II/1/1, Wien 1938) 245. 19
20
Abgedruckt bei WALTER, Zentralverwaltung II/2 (Wien 1925) 297 f.
Sammlung abschriftlicher Hofdekrete der böhmischen Landesstelle. Zitiert nach HERRNRITT, Stiftungsrecht 77. 21
Zu den Anfängen der staatlichen Stiftungsaufsicht in Österreich
465
Besorgung des publici einschlagen“ – dem alleinigen Kompetenzbereich der bei den Ländern angestellten Repräsentationen und Kammern zu. Diese Spezialkommissionen für das Stiftungswesen, sog Fundationskommissionen, sollten für sämtliche Erbländer errichtet werden.22 Als Vorbild diente die „Wiener Stiftungs-Hofkommission mit umfassendem Wirkungsbereich zur Oberaufsicht über alle niederösterreichischen Stiftungen“, die durch HfD vom 14. Februar 1750 über Stiftungen- und Spitälerbesorgung geschaffen wurde.23 In ihren Zuständigkeitsbereich fielen, wie das HfD vom 25. April 175024 festlegte, alle Spitäler, Stiftungen und die Armenkassa. Aufgabe der Stiftungshofkommission war es, „daß die allhiesigen Spitäler und alle anderen milden Stiftungen, sonderlich aber jene, so sie die Armen hoch- oder niederen Standes gewidmet sind, ihrer Verfassung gemäß obsichtigst besorget, den etwann eingerissenen Gebrechen und Unordnungen zeitlich abgeholfen, andurch das Heil und Vergnügen der Armen befördert, die Anordnungen der Gottseeligen Stifter genau erfüllet, eben anmit aber pro causis piis das Vertrauen, in publico erworben, und zur Unterstützung derselben desto mehrere Wohltäter angeeifert werden“.25 Diese Ziele schienen Maria Theresia ausschließlich durch die klare Festlegung der Behördenzuständigkeit, die Einsetzung einheitlichen Personals und die Vorgabe einheitlicher Grundsätze erreichbar, weshalb sie im HfD die Handhabung der staatlichen Aufsicht „durch einerlei Personale“ und „nach einerlei principiis“ anordnete. Die Sorgfalt der Regentin ging so weit, dass sie in ziemlich detaillierter Weise den Tätigkeitsbereich der neuen Stiftungshofkommission festlegte: „primo: und zuvörderst den Stand alljeglicher milden Stiftungen, das ist, ihre ursprüngliche Verfassung, denn die gegenwärtige Einrichtung, insonderheit aber derselben Fundationsmittel und etwann aufhabenden Schulden gründ-
Es finden sich folgende Bezeichnungen für diese Kommissionen, die Stiftungsangelegenheiten wahrzunehmen hatten: Fundationskommission, Stiftungskommission und Stiftungs-Hof-Kommission. Vorsicht ist bei dem Begriff Hofkommission geboten, da dieser nicht auf den Charakter einer Zentralstelle verweist, sondern nur auf die Beziehung der betreffenden Kommission zum Hof bzw zu der HK hinweist. Mit HfD vom 11. 4. 1750 an die Tiroler Repräsentation und Hofkammer (AVA Inneres HK Allg A 1378) wurde eine solche Fundationskommission auch für Tirol errichtet. Vgl auch WEIß, Anstalten 40 ff. 22
23
HfD vom 14. 2. 1750 über Stiftungen- und Spitälerbesorgung, CA V, 479 f.
24
HfD vom 25. 4. 1750, CA V, 502; AVA Inneres HK Allg A 1378.
25
Wie Anm 23, 480.
466
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lich untersuchen.“26 Sodann sollten von allen Stiftungsadministratoren Berichte abverlangt werden und – „nach Beschaffenheit der Umstände das erforderliche Augenlicht in loco selbst einnehmend“ – Rechnungen eingesehen werden sowie Verbesserungen wirtschaftlicher und disziplinärer Natur veranlasst werden. Sofern es sich um kleinere Änderungen handelte, kam der Stiftungshofkommission eigene Regelungskompetenz zu, bei größeren Eingriffen war eine Entschließung des Hofes einzuholen. Schließlich traf die Monarchin noch die Anordnung, dass jedem der Hofkommissionsmitglieder vorrangig eine Anstalt zur „oberaufsichtlichen Besorgung“ übertragen werde und jedes Mitglied in den wöchentlich abzuhaltenden Sitzungen der Kommission Bericht über seine Tätigkeit zu erstatten habe. Letztlich sollte noch die Cassa pauperum in „rechte Ordnung“ gebracht und anschließend eine Almosensammlung zugunsten der Cassa durchgeführt werden, wodurch – so die Hoffnung – „der verlassenen Armut umso ergiebiger beygesprungen werden, und sofort das umgestümme Betteln desto leichter abgestellt werden“27 könnte. Hinsichtlich der Zusammensetzung und Stellung der Wiener Stiftungs-Hofkommission verfügte die Regentin, dass sie unter der Leitung eines Präses zu stehen habe, dem Assessoren aus den verschiedenen Verwaltungszweigen und Berufssparten beigegeben waren. Innerhalb des Verwaltungssystems war die Wiener Kommission nur vom Directorium in publicis abhängig. Die später nach ihrem Vorbild gegründeten Fundationskommissionen, die hierarchisch und organisatorisch ein Teil des Guberniums waren und ihre Berichte nicht direkt an den Hof, sondern über die Landesstelle an den Hof leiteten, waren von den Repräsentationen und Kammern abhängig.28 Trotz der grundsätzlich umfassenden Regelung des Stiftungswesens durch die Verordnung von 1750, insbesondere die Festlegung der Stiftungsaufsicht, dürfte in der Praxis weiterhin Unklarheit über Adressaten und Umfang der staatlichen Aufsicht bestanden haben. Dies lässt sich aus verschiedenen Hofdekreten schließen, die binnen kürzester Zeit nach Erlassen des HfD von 14. Februar 1750 ergingen. So präzisierte bereits das HfD für Niederösterreich vom 25. April 1750,29 dass sämtliche Stiftungen, somit auch Militärstiftungen und kirchliche Stiftungen, „bei den gesammten landesfürstlichen Städ-
26
Wie Anm 23, 479.
27
Wie Anm 23, 481.
28
WALTER, Zentralverwaltung II/1/1, 246.
HfD über Kirchenstiftungen und Rechnungenuntersuchung vom 25. 4. 1750, wie Anm 24. 29
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ten und Märkten sowohl, als auch sonst im ganzen Erzherzogthume unter der Enns“ in die Zuständigkeit der Kommission fielen. Hinsichtlich der Behandlung der kirchlichen Stiftungen sollte „jedoch hierzu jedesmal ein Repräsentant theils von dem wienerischen, theils von dem passauerischen herrn Ordinario beygezogen“ werden.30 Ein besonderes Anliegen war Maria Theresia die sichere Anlage der Stiftungsgelder. Aus diesem Grund wurde der Stiftungshofkommission mit HfD vom 12. Februar 175231 eine eigene Stiftungsbuchhaltung und Stiftungshauptkasse für Wien und Niederösterreich beigegeben. Die Hofbuchhalterei, die Teil der Hofkommission war und in deren Aufgabenbereich die Erledigung sämtlicher Rechnungsangelegenheiten fiel,32 hatte nun auch die Evidenthaltung des Stiftungsvermögens und die Prüfung der Rechnungen und Tabellen über, ebenso die Kontrolle über die Verwendung des Stiftungsvermögens. Aufgaben der Kasse waren die Verwaltung der Stiftungsgelder, die Aufbewahrung der Stiftbriefe und sonstiger Urkunden und Obligationen sowie die Verrechnung der Stiftungsinteressen.33 Der Wirkungsbereich der Wiener Stiftungsbuchhalterei, später Staatsbuchhalterei in Stiftungssachen, wurde über Niederösterreich hinaus erweitert, wodurch sie überregionale Bedeutung erlangte. Sie wurde Kontrollbehörde für sämtliche weltlichen und geistlichen Stiftungen in den Erbländern, dh sie war das eigentliche Zentralorgan der Stiftungsaufsicht.34
IV. Mit der Errichtung der Wiener Stiftungshofkommission setzte ein Fluss von stiftungsrechtlichen Vorschriften ein, die in den Folgejahren vornehmlich die Umbildung dieser Kommission betrafen. Bereits 1751 – dh nur etwas mehr als ein Jahr nach Einsetzung der Kommission – ordnete Maria Theresia an, die Wiener Stiftungshofkommission mit der Polizeihofkommission, in deren Ähnlichen Inhalts war das HfD vom 20. 3. 1752, CA V, 562, das in besonderem Maße auf die „Militär-Fundationes-Angelegenheiten“ eingeht.
30
HfD vom 12. 2. 1752 an die nö Sicherheits- und Stiftungskommission, AVA Inneres HK Allg A 1378. Vgl auch WEIß, Anstalten, Abt II, LXXX f. Ebenso WALTER Zentralverwaltung II/2, 408 ff. 31
JOHANN UDALRIK DONNER, Einleitung zur Kenntnis der österreichischen Recht I/1 (Wien 1778) 53.
32
33
HfD vom 12. 2. 1752, vgl Anm 31.
34
Vgl HERRNRITT, Stiftungsrecht 79.
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Zuständigkeit Polizei-, Armenverpflegs-, Sicherheits- und Schubsachen fielen, zusammenzulegen.35 Der Grund dafür waren finanzielle Schwierigkeiten der 1749 gegründeten Polizeihofkommission, die nun durch die bei Bruderschaften und Hospitälern erzielten Geldüberschüsse ausgeglichen werden sollten.36 Für die gemeinsame Verwaltung der beiden Aufgabenbereiche sprach auch der grundsätzlich enge inhaltliche Zusammenhang des Stiftungswesens mit der Armenfürsorge, der Sicherheits- und Ordnungspolizei. Mit HfD vom 12. Februar 175237 wurde für diese neue „Hofkommission in Landes-Sicherheits- und milden Stiftungssachen“ in einer ausführlichen Instruktion ihr Zuständigkeitsbereich festgelegt, der von Aufgaben mit rein polizeilichem Charakter, wie der Herstellung der Ruhe, Ordnung und Sicherheit im ganzen Land, bis zur Armenpflege und der „Untersuchung und institutionenmäßigen oder behörigen Einrichtung omnium causarum piarum“ reichte. Doch auch diese Maßnahme zeigte sich von nur kurzem Bestand. Bereits im Jahre 1753 entschied sich die Monarchin wieder für eine Trennung der Stiftungsangelegenheiten vom Sicherheitswesen, denn in der Praxis hatte sich die gemeinsame Behandlung der beiden Verwaltungsgebiete aufgrund ihres großen Umfanges nicht bewährt. Mit HfD vom 5. April 175338 wurde für Stiftungsangelegenheiten wiederum eine eigene Spezialkommission geschaffen, die „gänzlich separierte milde Stiftungshofkommission“, die direkt dem Direktorium unterstellt war. Die Besetzung war jener von 1750 ähnlich: an der Spitze stand ein Präses, ihm waren drei Mitglieder der Repräsentation, ein Rat des Directoriums und ein städtischer Kommissär beigegeben. Auch die Geschäftsaufteilung entsprach im Wesentlichen jener von 1750. So wurde die Besorgung, dh die unmittelbare Aufsicht, der größeren Anstalten Wiens zwischen den einzelnen Kommissionsmitgliedern aufgeteilt, während Stiftungen, die von „unteren Stellen“, dh dem Landmarschallischen Gericht, der Universität, der Stadt Wien oder anderen Obrigkeiten im ländlichen Bereich verwaltet wurden, ihnen nur zur Oberaufsicht übertragen wurden. Für diese hatten sie daher weder Beamte noch Rechnungsführer zu bestellen, sondern bloß Diese neugebildete Kommission entfaltete ihre Wirkung unter verschiedenen Namen: Landessicherheits- und Stiftungshofkommission, Landessicherheits- und Sammlungs-Kommission sowie Milde Stiftungs- und Polizeisachenkommission. Vgl dazu WEIß, Anstalten 41. 35
36
WALTER, Zentralverwaltung II/1/1, 245.
37
Vgl Anm 31.
AVA Inneres HK Allg A 1378. Vgl dazu auch WALTER, Zentralverwaltung II/1/1, 247 und II/2, 413; sowie WEIß, Anstalten 42 und Abt II, LXXXII.
38
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den wahren Zustand der Stiftungen zu erheben und für die genaue Vollziehung des Stifterwillens und die ordentliche Vermögensgebarung Sorge zu tragen. Aus dieser Arbeitsinstruktion an die Hofkommission ging erstmals deutlich hervor, dass bei der Stiftungsaufsicht zwischen „Individualbesorgung“ von Stiftungen, dies bedeutete die Stiftungsverwaltung durch die staatliche Behörde, und „obereinsichtlicher Besorgung“, der Aufsicht über „fremde Stiftungen“, dh Stiftungen, die unter anderer Verwaltung standen, unterschieden wurde. Hinsichtlich der Aufgaben der neuen Stiftungskommission wurde durch das HfD nunmehr bereits zum wiederholten Male festgelegt, dass dazu vorrangig das Herbeiführen einer Ordnung für die gesamten milden Stiftungsangelegenheiten, die Erhebung des Standes jeder Stiftung und die Kontrolle über die Einhaltung bereits früher ergangener Stiftungsvorschriften zählten. Bereits im Mai desselben Jahres, dh knapp ein Monat später, erfuhr diese Stiftungshofkommission ein frühes Ende. Sie wurde mit Direktorialdekret an die nö Repräsentation und Kammer vom 10. Mai 175339 aufgelöst und gleichzeitig angeordnet, „dass diese repraesentation das wichtige milde stiftungswerk sowohl allhier zu wien als im ganzen Land Oesterreich unter der enns nach der gefassten norma, welche die repraesentation von der bisherigen in milden stiftungssachen verordneten hofcommission cum omnibus actis .... zu übernehmen hat ....“. Die nö Repräsentation und Kammer wurde beauftragt, eine Instruktion für die in Niederösterreich zu bestellenden Kreishauptleute, zu deren Aufgaben auch das „milde Stiftungswerk“ zählte, hinsichtlich Vorgangsweise und Aufgabengebiet auszuarbeiten:40 Die nunmehr aufgelöste Hofkommission hatte zunächst alle Stiftsbriefe, Akten, Rechnungen, Ausweise – soweit sie Wien und Österreich unter der Enns betrafen – an die nö Repräsentation und Kammer auszufolgen, diese sollte sodann den Vermögensstand sämtlicher Stiftungen untersuchen und ein Regulativ für deren künftige Verwaltung verfassen.41 Als eine Art Zentralbehörde sollte in Hinkunft eine neue Kommission fungieren, und zwar ein mit Direktorialräten besetztes Gremium. Der Entwurf Direktorialdekret vom 10. 5. 1753 mit beiliegender Instruktion für die nö Repräsentation und Kammer; AVA Inneres HK Allg A 375. Vgl dazu WALTER, Zentralverwaltung II/2, 413; sowie II/1/1, 247. 39
Auszugsweise abgedruckt bei STARZER, Beiträge. Zur Geschichte der niederösterreichischen Statthalterei. Die Landeschefs und Räthe dieser Behörde von 1501 bis 1896 (Wien 1897) 64 ff.
40
41
STARZER, Beiträge 69.
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zur Errichtung einer solchen Kommission war von Maria Theresia bereits am 16. September 1754 genehmigt worden, sodass es „lediglich um die vollstreckung deren festgestellten massregeln zu thun wäre“.42 Diese Direktorialkommission, der die zentrale Leitung des Stiftungswesens aller Länder oblag,43 dürfte bis 1758 bestanden haben, wahrscheinlich ist sie zwischen Februar und August 1758 aufgelöst worden.44 Ihre Bedeutung ist im Wesentlichen darin zu sehen, dass von ihr – infolge ihres Wirkungsbereiches für alle Länder – die ersten einheitlichen Maßregeln auf stiftungsrechtlichem Gebiet ausgingen. Die unmittelbare Beaufsichtigung der größeren niederösterreichischen Stiftungen war Aufgabe einer abgesonderten Stiftungshofkommission, die unter der Leitung des Präsidenten der Repräsentation und Kammer stand und mit Mitgliedern desselben Gremiums besetzt war.45 In den landesfürstlichen Städten hatten städtische Kommissäre die Verwaltung der Stiftungen und Erfüllung des Stifterwillens über; in den übrigen Orten waren die Kreishauptleute dafür zuständig. Ziele und Mittel der Stiftungsaufsicht waren ihnen durch das HfD vom 28. Februar 175546 vorgegeben. Dieses bestimmte, dass Unregelmäßigkeiten und Gebrechen behoben werden sollten, insbesondere auch Fahrlässigkeiten und Veruntreuungen nach Möglichkeit hintangehalten werden mögen. Weiters fanden sich in diesem HfD detaillierte Vorschriften über die Ausübung der Stiftungsaufsicht, die von Bestimmungen betreffend die Verwahrung der Stiftsbriefe, über Rechnungslegungspflichten der Stiftungsadministratoren bis zu massiven Einsichtsrechten reichten.
V. Ein besonders heikler Bereich bei der Regelung des Stiftungswesens war, insbesondere auch im 18. Jahrhundert, die Grenzziehung zwischen weltlichen und geistlichen Kompetenzen. Maria Theresia, die sich als suprema advocata So die Monarchin in einem zusammenfassenden Rückblick aus dem Jahre 1762. Auszugsweise bei WALTER, Zentralverwaltung II/2, 414. 42
So WALTER, Zentralverwaltung II/2, 415. Der umfassende territoriale Wirkungsbereich dieser Direktorialkomission wurde durch den au Vortrag vom 21. 3. 1762 bestätigt.
43
Am 4. 2. 1758 erging eine Note des Direktoriums an das hofkriegsrätliche Justizkollegium, aus der hervorgeht, dass die Direktorialkommission in Stiftungssachen zu dieser Zeit noch bestanden hat, AVA Inneres HK Allg A 1379. 44
45
HfD vom 28. 2. 1755, CA V, 932 ff.
46
Wie Anm 45; vgl auch STARZER, Beiträge 64 ff.
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ecclesiarum sah, hatte sich zum Ziel gesetzt, für Eindämmung von Misswirtschaft und Unordnung in der kirchlichen Vermögensverwaltung zu sorgen, und zwar durch Etablierung einer Art weltlicher Oberaufsicht über diese Gebiete.47 Diese Machteinbuße der Geistlichkeit verbunden mit zT unzulässigen Eingriffen im Zuge der weltlichen Aufsicht über geistliche Stiftungen stießen auf heftigen Widerstand und riefen den Protest des konservativen Wiener Erzbischofs, Kardinal Christoph Migazzi,48 und des Wiener Weihbischofs Franz Anton Marxer auf den Plan. Im Konkreten wandten sich die beiden kirchlichen Würdenträger gegen die „lästige Kontrolle“, der nun auch das geistliche Stiftungswesen unterzogen wurde, die mangelnde Einbindung der Kirche und die unzureichende Leitung und Aufsicht über die Armenund Humanitätsanstalten. Marxer und Migazzi prangerten insbesondere die Übertragung der Originalstiftsbriefe und der Schuldverschreibungen an die Stiftungshauptkassa an, sowie die Verfügung, dass Stiftungskapitalien nicht mehr ausschließlich auf unbeweglichen Gütern, sondern in öffentlichen Fondspapieren anzulegen seien. Diese Vorschriften hätten, so die beiden Geistlichen, nicht zu einer Stärkung des Vertrauens der Bevölkerung in das Stiftungswesen geführt, sondern vielmehr zu einer gegenläufigen Entwicklung. Nach diesen massiven Protesten von kirchlicher Seite sah sich die Monarchin veranlasst einzulenken. In einem ersten Schritt ordnete sie mit HfD vom 30. November 1758 die Errichtung eigener Kongregationen geistlicher und weltlicher Personen für die größeren Spitäler an, welche die Obsorge dieser Anstalten nach sachlich getrennten Zweigen zu führen und über ihre Tätigkeit in monatlichen Versammlungen dem Rektor Bericht zu erstatten hatten.49 Diese Einteilung der Geschäfte der Stiftungsverwaltung nach sachlichen Kriterien war die Folge der selbständigen Entwicklung der einzelnen bis dahin im Hospital gemeinsam gepflegten Zweige des Hilfswesens. Dies war völlig neu und ist für die damalige Zeit besonders bemerkenswert, es bereitete den Übergang der Stiftungsoberaufsicht aus der Hand von Spezialkommissionen an politische Landesstellen als Zweig der allgemeinen Verwaltungstätigkeit vor. STARZER, Beiträge 61. So mussten der Repräsentation zB nicht nur alle Kirchenrechnungen vorgelegt werden, sie hatte auch ein Einsichtsrecht in die Temporalienverwaltung.
47
Zur Person Migazzis und dessen Wirken CÖLESTIN WOLFSGRUBER, Christoph Anton Kardinal Migazzi (Wien 1890).
48
49
Vgl HERRNRITT, Stiftungsrecht 81, sowie WEIß, Anstalten, Abt II, LXXXV.
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In einem zweiten Schritt schuf Maria Theresia mit Verordnung vom 23. Mai 175950 eine Hofkommission unter dem Vorsitz von Kardinal Migazzi in Wien, in deren Aufgabenbereich die obrigkeitliche Besorgung sämtlicher milder Stiftungen in Wien fiel.51 Ausführendes Organ war die „Delegierte Hofkommission in milden Stiftungssachen“, welche die „Untersuchung und die Administration aller Stiftungen zu besorgen“ hatte. Trotz ihres weitgehend positiven Wirkens wurde diese Stiftungshofkommission bereits im Jahre 1761 aufgehoben und die Behandlung der Stiftungsangelegenheiten einem Spezialreferat zugewiesen. Neben den Umgestaltungen zwecks Erweiterung des Einflusses der Geistlichkeit blieb auch die allgemeine Reform des Behördenwesens auf oberster Ebene, die unter der Führung des Staatskanzlers Wenzel Graf Kaunitz stand, nicht ohne Auswirkungen auf das Stiftungswesen. Sie brachte die Auflösung des Directoriums in publicis et cameralibus, das aufgrund seiner Überlastung mit Kompetenzen in seiner Effizienz gelitten hatte. Die allgemeine innere (politische) Verwaltung wurde von der Finanzverwaltung wieder getrennt, die neue Zentralbehörde für die politische Verwaltung war die Vereinigte Böhmisch-Österreichische Hofkanzlei. Der Leiter dieser neuen Kanzlei, Rudolph Graf Chotek, gab die Ausarbeitung einer Instruktion für die Hofkanzlei in Auftrag, die am 21. Juni 176252 von der Monarchin genehmigt wurde. Unter Artikel II Punkt 2. fielen darunter „.... alle geistlich und andere milde stiftungen ...“. Aber auch der Umbau in eine Reihe gleichgeordneter Zentralstellen bewährte sich in der Praxis nicht. Bereits im Frühjahr 1764 wurden neue Änderungsvorschläge ausgearbeitet, die im Wesentlichen auf einem Gutachten von Graf Haugwitz basierten.53 Ziel war die Vereinfachung der Verwaltung, wobei er insbesondere auf die Frage einging, ob Verwaltung und Justiz wieder vereinigt werden sollten. Er schlug vor „... um eine Überlastung hintanzuhalten und um die wesenheit der publicorum nicht allzu weit zu extendiren –, Fideikommisse, Volljährigkeitserklärungen, sowie alle milden Stiftungssachen
50
VO vom 23. 5. 1759, abgedruckt bei WEIß, Anstalten, Abt II, LXXXV f.
Vgl WALTER, Zentralverwaltung II/1/1, 248 f. Die Stiftungen außerhalb Wiens blieben weiterhin unter der Aufsicht der Regierungen.
51
Instruktion Maria Theresias vom 21. 6. 1762 für die böhmisch-österreichische Hofkanzlei. Text abgedruckt bei WALTER, Zentralverwaltung II/3 (Wien 1934) 130 ff. 52
53
Abgedruckt bei WALTER, Zentralverwaltung II/3, 203 ff.
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und jene Polizeiangelegenheiten, die zum jus tertii und zum jus piae causae gehören …“ aus dem Zuständigkeitsbereich der Verwaltung auszuscheiden und dem Wirkungsbereich der Obersten Justizstelle zuzusprechen. Dieser Vorschlag, dem ein weiterer ähnlichen Inhalts im Jahr 1765 folgte,54 wurde allerdings nicht in die Praxis umgesetzt, sodass die Spezialkommissionen im Wesentlichen in ihrer bisherigen Form weiter bestanden. Grundsätzlich verlagerte sich ab etwa 1760 der Schwerpunkt der Regelungen in Richtung Festlegung der Aufgaben und Mittel der Stiftungsaufsicht. Eines der Hauptanliegen der Monarchin war die Evidenthaltung der Stiftungen, die durch Vorschriften über die Ausfertigung und die Aufbewahrung der Stiftsbriefe sichergestellt werden sollte.55 Fehlende Stiftsbriefe sollten im Nachhinein errichtet werden56 und die Länder hatten Tabellen über den Stiftungsbestand zu führen.57 Ein weiteres Anliegen der Monarchin war der Willkür der Stiftungsverwalter Einhalt zu gebieten, und zwar durch die Regelung, dass der Stifterwille unter allen Umständen genauestens zu vollziehen sei und Stiftungen nach Möglichkeit aufrecht zu erhalten seien.58 Daneben galt das Augenmerk Maria Theresias vor allem auch der Anlage der Stiftungskapitalien. Dies stand einerseits mit der schwierigen Lage in Zusammenhang, in der sich die Staatsfinanzen in jenen Jahren befanden, andererseits aber auch mit der Erweiterung der Möglichkeiten der Vermögensanlage durch die Weiterentwicklung des staatlichen und privaten Kreditwesens. Oberstes Ziel war immer die größtmögliche Sicherheit mit der höchstmöglichen Ertragsfähigkeit des Vermögens zu verbinden. Dies wollte Maria Theresia durch die Vorschrift erreichen, dass Stiftungskapitalien ausschließlich in öffentlichen Obligationen59 bzw „ad fundos publicos“60 angelegt werden dürften. Das galt nicht nur für die zukünftige Anlage von Stiftungskapitalien,
54
WALTER, Zentralverwaltung II/3, 247 ff, insbes 251.
Vgl ua VO 5. 1. 1760, CA VI, 79; weiters VO vom 14. 6. 1760, CA VI, 90 f (AVA Inneres HK Allg A 1379); ebenso VO vom 24. 1. 1767, CA VI, 978 f (AVA Inneres HK Allg A 1380). 55
56
So VO vom 10. 12. 1761, CA VI, 247 f.
57
HfD vom 31. 7. 1762, CA VI, 337 ff (AVA Inneres HK Allg A 1379).
58
HfD vom 31. 7. 1762, wie Anm 57; weiters VO vom 24. 1. 1767, wie Anm 55.
HfD vom 26. 1. 1760, CA VI, 81; weiters Resolution vom 24. 3. 1764, CA VI, 558 (AVA Inneres HK Allg A 1379); Hofreskript vom 17. 4. 1775, KK Theresianisches Gesetzbuch3 (Wien 1789) VII, 214; sowie HfD vom 24. 1. 1767, wie Anm 55. 59
60
HfD vom 26. 1. 1760, CA VI, 81; sowie VO vom 14. 6. 1760, CA VI, 90 f.
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sondern die Monarchin ordnete auch an, „daß, wo Stiftungs- oder Kirchenkapital unsicher angelegt ist, …. dasselbe sogleich aufgekündigt und sodann in fundis publicis angelegt …“ werden solle.61 Ergänzt wurden diese Vorschriften durch Regelungen betreffend die Rechnungslegung62 sowie die jährliche Erfassung des Vermögensstandes,63 wobei insbesondere auch Tabellen geführt werden sollten, „wie die Fundi aufgenommen und abgenommen haben“.64
VI. Joseph II. hatte – im Gegensatz zu seiner Mutter – keine grundlegende Neuregelung des Stiftungswesens im Auge, sondern dieses wurde vielmehr von den allgemeinen Reformen auf den Gebieten der Kirche, der Armenpflege und der Verwaltungsorganisation miterfasst. Zur Durchführung der Reform der Armenpflege wurden sog Stiftungsoberdirektionen bei den einzelnen Landesstellen eingerichtet. Sie standen unter der Leitung des jeweiligen Landeschefs und waren sowohl für Stiftungsangelegenheiten als auch für das Armenwesen zuständig. Die Errichtung der Wiener Oberdirektion wurde mit HfD vom 11. Oktober 178265 beschlossen. Ähnlich der Organisation der Wiener Stiftungshofkommission von 1750 hatte jedes Mitglied der mit fünf Direktoren unter Leitung des Schottenabtes besetzten Wiener Oberdirektion einen eigenen Zweig des Stiftungswesens zu betreuen und in diesem die Oberaufsicht auszuüben. Die nach sachlichen Gesichtspunkten gegliederten Aufgabengebiete umfassten die Bereiche Waisenhäuser, Krankenhäuser, Versorgungshäuser, Stipendienwesen und Almosenverteilung. Zur Oberleitung des Stiftungs- und Armenwesens war die Wohltätigkeits–Hofkommission berufen, in deren Händen Leitung und Reform des Armenwesens im Allgemeinen lag.66 Wenngleich auch die Oberdirektionen in ihrer ursprünglichen Form keinen langen Bestand hatten (so wurde beispielsweise 1785 die Ver61
HfD vom 15. 8. 1761, CA VI, 203 f.
VO vom 10. 12. 1761, CA VI, 247 f; sowie Hofentschließung vom 9. 1. 1762, CA VI, 254 f (AVA Inneres HK Allg A 1379); weiters HfD vom 21. 6. 1766, CA VI, 813 f. 62
63
VO 24. 1. 1767, wie Anm 55.
64
HfD vom 31. 7. 1762, wie Anm 57, hier 337.
65
AVA Inneres HK Allg A 1380.
Wohltätigkeitskommission wurde durch ah Entschließung vom 20. 9. 1784 unter dem Vorsitz des Grafen BUQUOY ins Leben gerufen. Vgl AVA Inneres HK Allg A 1381. 66
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waltung des gesamten Stiftungswesens einer „neuen Stiftung-Oberdirektion“ unter der Leitung der niederösterreichischen Regierung übertragen),67 so liegt ihre Bedeutung vor allem in ihrer Stellung als eine Art Übergangsmodell zwischen den theresianischen Spezialkommissionen und den politischen Landesstellen. Letzter und abschließender Schritt in der Entwicklung des Stiftungswesens als eigener Zweig der allgemeinen Verwaltung war die Auflösung der Oberdirektionen verbunden mit der Übertragung des Stiftungswesens an die Landesstellen. Der Übergang an die Landesstellen ging relativ langsam vor sich, vor allem vollzog er sich für die einzelnen Kronländer zu verschiedenen Zeitpunkten. Für Böhmen war beispielsweise bereits im Juni 1784 von Joseph II. verfügt worden, „daß die weltlichen Stiftungsgeschäfte ohne Ausnahme von der Landesstelle verwaltet werden sollen“,68 für Niederösterreich hingegen erging ein solches HfD erst im Juli 1790 unter Josephs Bruder und Nachfolger, Leopold II.69 Damit war die endgültige und unmittelbare Zuweisung des Stiftungsrechtes in den Wirkungskreis der staatlichen Verwaltungsbehörden vollzogen.
VII. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Entwicklung des österreichischen Stiftungsrechts im Allgemeinen und des Aufsichtsrechts im Besonderen ab der Regierungszeit Ferdinands I. eine gewisse Kontinuität zeigt. Von einer einheitlichen Regelung des Stiftungswesens kann allerdings in jener Zeit noch keine Rede sein, bei den ergangenen Vorschriften handelte sich vielmehr um gelegentliche landesfürstliche Einflussnahmen, die zumeist aus Anlassfällen erfolgten. Diese im Großen und Ganzen unsystematischen Maßnahmen verfolgten auch nicht so sehr das Ziel, die Erfüllung der Stiftungsaufgaben generell zu beaufsichtigen, als vielmehr eine Art allgemeine polizeiliche Aufsicht – auch über das Kirchenvermögen! – zu installieren, welche die Stiftungen selbst vor Ausbeutung durch ihre Verwalter schützen sollte. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts trat das österreichische Stiftungsrecht in eine neue Entwicklungsphase, als eine wahre Flut an stiftungsrechtlichen Regelungen erging. Treibende Kraft war Maria Theresia, welche die große
67
VO vom 9. 2. 1785, Josefinische Gesetzessammlung VIII, 635.
68
VO vom 4. 6. 1784, Josefinische Gesetzessammlung VI, 498 ff.
69
HfD vom 27. 7. 1790, Leopoldinische Gesetzessammlung I, 75.
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Bedeutung des Stiftungswesens für den Staat früh erkannt hatte und es ihm zunutze machen wollte. Mittel und Weg waren der Monarchin die Errichtung spezieller Stiftungskommissionen, die das Stiftungswesen in zentralistischer Weise gestalten und der Verwaltung eingliedern sollten. An den von Maria Theresia erlassenen Vorschriften fällt auf, dass sie zunächst vor allem die Organisation der Stiftungsbehörden betreffen. Erst ab 1760 richtete die Monarchin ihr Augenmerk vermehrt auf Aufgaben und Mittel der Stiftungsaufsicht, dh auf Bestimmungen, die von der Evidenthaltung des Stiftungsbestandes, worin sie eine der Grundvoraussetzungen für die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Stiftungen gegenüber sah, bis zur sicheren Anlage der Stiftungskapitalien reichten. Grund für die Vielzahl an Regelungen und die häufigen Umbildungen der Behörden dürfte aber auch eine gewisse Unsicherheit in der Gestaltung dieses Rechtsbereiches gewesen sein. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieser Masse an Hofdekreten, Reskripten und Verordnungen war dem Bestreben, das Stiftungswesen auf eine einheitliche rechtliche Basis zu stellen, kein durchschlagender Erfolg beschieden. Die Stiftungskommissionen wurden zwar als Oberorgane des Stiftungswesens errichtet, in der Praxis erwies sich jedoch die Besetzung, insbesondere die Zuziehung von Mitgliedern verschiedener Berufssparten, als unglücklich. Dazu kamen noch die komplizierte Trennung der Oberaufsicht über die städtischen Anstalten von der über Stiftungen auf dem Land und die getrennte Erledigung einzelner Anstalten durch die einzelnen Kommissionsmitglieder – insgesamt Maßnahmen, die stark individualistische Züge trugen und insofern im Gegensatz zu den zentralistischen Bestrebungen standen. Dennoch blieben die Spezialkommissionen im Wesentlichen bis Joseph II. erhalten, unter dem schließlich der Übergang der Stiftungsoberaufsicht aus der Hand von Spezialkommissionen an die politischen Landesstellen als Zweig der allgemeinen Verwaltungstätigkeit fortgesetzt wurde. Damit erfolgte die endgültige Anerkennung des Stiftungswesens als ein Zweig allgemeiner Verwaltungstätigkeit, Stiftungen wurden als Vollzieherinnen von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung im weitesten Sinne gesehen und waren untrennbar in den staatlichen Organismus eingegliedert. Dieser Grundsatz bestimmte das österreichische Stiftungsrecht bis in die jüngste Vergangenheit, erst im Jahre 1993 wurde durch das Inkrafttreten des Privatstiftungsgesetzes davon abgewichen.
Gab es im Hochmittelalter eine „gesetzespositivistische Umwälzung“? Zum Zusammenhang von Staatsbildung und Gesetzgebung THOMAS SIMON, Wien
I. Die These von Gagnér In der Gesetzgebungsgeschichte hat sich mittlerweile weitgehend die Auffassung durchgesetzt, derzufolge die Gesetzgebung schon im Hochmittelalter zu einem verbreiteten Modus der Normproduktion geworden sei. Bereits im Hochmittelalter habe ein fundamentaler rechtlicher Bewusstseinswandel Platz gegriffen, der sich als eine frühe Form des „Gesetzespositivismus“ darstelle. Das geht im Wesentlichen zurück auf den deutsch-schwedischen Rechtshistoriker Sten Gagnér, der in seiner 1960 erschienenen „Ideengeschichte der Gesetzgebung“ sogar von einer „gesetzespositivistischen Umwälzung“ spricht, die im 13. Jahrhundert statt gefunden und das Rechtsbewusstsein dieser Zeit grundlegend verändert habe.1 Erstaunlicherweise nahm Gagnér in seinem bekannten Buch nicht Stellung zu dem auffallenden Umstand, dass seine These eines hochmittelalterlichen „Gesetzespositivismus“ in geradezu diametralem Widerspruch stand zu einer älteren Sichtweise auf das mittelalterliche Recht, die man schon seit langem in besonderer Weise mit Fritz Kern in Verbindung gebracht hatte. Mit seinem berühmt gewordenen Aufsatz „Recht und Verfassung im Mittelalter“2 hatte Kern „für mehrere Generationen das Bild bestimmt“, das sich die Forschung vom mittelalterlichen Rechtsverständnis gemacht hat.3 Kern wollte in der Gesetzgebung ein spezifisch neuzeitliches Phänomen sehen, während das Mittelalter ganz von der Vorstellung vom „guten, alten Recht“ beherrscht STEN GAGNÉR, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (Uppsala 1960) 341 ff. 1
FRITZ KERN, Recht und Verfassung im Mittelalter, Historische Zeitschrift 120 (1919) 1 ff (unveränderter Nachdruck Darmstadt 1992).
2
KARL KROESCHELL / ALBRECHT CORDES / KARIN NEHLSEN-VON STRYK, Deutsche Rechtsgeschichte II9 (Köln/Wien 2008) 274.
3
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worden sei. Dem Mittelalter sei daher der Gedanke bewusster, planmäßiger Neuschöpfung von Rechtsnormen im Wege der Gesetzgebung gänzlich fremd gewesen.4 Die These von Fritz Kern wurde dann vor allem von Karl Kroeschell in einer Reihe von Aufsätzen5 und schließlich von Gerhard Köbler6 in grundlegender Weise angezweifelt. Auch wenn die Thesen von Kroeschell und Köbler zunächst auf Zurückhaltung stießen,7 so ist jedenfalls Gagnérs These weitgehend unwidersprochen geblieben. Sie findet nun auch Eingang in Lehrbücher und Überblicksdarstellungen.8 Auch die „Gesetzgebungsgeschichte“ von Armin Wolf setzt ganz selbstverständlich im 13. Jahrhundert ein und entfaltet ein eindrucksvolles Panorama intensiver mittelalterlicher Gesetzgebungstätigkeit.9 Bei aller Berechtigung der Kritik an Kerns allzu griffiger und daher simplifizierender Formel ist allerdings auch die Einschätzung des hochmittelalterlichen Staates als eines Gesetzgebungsstaates, in dem sich der Fürst, dem modernen Staat des 19. Jahrhunderts gleich, des Instruments der Gesetzgebung bedient, überprüfungsbedürftig. Die Grundstruktur des mittelalterlichen Rechts dürfte damit weitgehend verfehlt werden und zwar noch erheblich stärker, als dies bei der „berühmt-berüchtigten Lehre vom alten und guten 4
KERN, Recht und Verfassung 23 ff.
Siehe vor allem KARL KROESCHELL, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert (1968), in: DERSELBE (Hrsg), Studien zum frühen und mittelalterlichen Deutschen Recht (Berlin 1995) 277–309; DERSELBE, Germanisches Recht als Forschungsproblem, in: Ebenda 65–88; DERSELBE, Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit. Das Beispiel des Sachsenspiegels, in: Ebenda 119–456. 5
6
GERHARD KÖBLER, Das Recht im Frühen Mittelalter (Köln/Wien 1971).
Siehe hierzu die umfangreiche Besprechung von GERHARD DILCHER, ZRG GA 90 (1973) 267–273.
7
Siehe etwa MATTHIAS SCHMOECKEL, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung. Zweitausend Jahre Recht in Europa (Köln/Weimar 2005) 173: „Daher meinte die ältere deutsche Rechtsgeschichtsschreibung, dass es im frühen und hohen Mittelalter nur Gewohnheitsrecht gegeben habe. Recht hätte gut und alt sein müssen, um gelten zu können. Sten Gagnér hat dem gegenüber deutlich gemacht, dass es im 13. und 14. Jahrhundert eine europäische Kodifikationsbewegung gegeben hat.“ Entsprechende Sicht bei ROLF GRAWERT, Gesetz, in: OTTO BRUNNER / WERNER CONZE / REINHARD KOSELLECK (Hrsg), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland II (Stuttgart 1975) 863–922, hier 872 f. 8
9
ARMIN WOLF, Gesetzgebung in Europa 1100–1500 (München 1996).
Gab es im Hochmittelalter eine „gesetzespositivistische Umwälzung“?
479
Recht“ 10 der Fall ist. Gagnér sieht die Anfänge des modernen Gesetzespositivismus sowohl in theoretischer wie auch in gesetzgebungspraktischer Hinsicht im Hochmittelalter. Das theoretische Fundament einer neuen Einstellung zur Gesetzgebung wurde – neben dem Römischen Recht – maßgeblich auch durch die scholastische Aristotelesrezeption gelegt, welche die Grundlage abgab für die gesetzgebungstheoretischen Texte Thomas von Aquins und des Aegidius Romanus, um nur zwei besonders verbreitete Autoritäten zu nennen. Gestützt auf die Politica des Aristoteles, wird in diesen Texten eine Theorie der Gesetzgebung ausgeführt. Es handelt sich um genuin politische, nicht um rechtswissenschaftliche Texte.11 Behandelt wird also nicht die rechtliche Kompetenz des Fürsten zur Gesetzgebung, sondern das optimale Verfahren der Gesetzgebung sowie deren politische Notwendigkeit – das Für und Wider eines Eingriffs in die überlieferte Normenordnung. Gleichzeitig lässt sich in Europa eine auffallende Häufung herrschaftlich initiierter Rechtsaufzeichnungen beobachten, die von den Akteuren jedenfalls zum Teil als Rechtssetzungsakte, als „Gesetzgebung“ deklariert wurden, häufig unter Anknüpfung an einschlägige Topoi im Römischen Recht, in denen der Princeps als Gesetzgeber thematisiert wird. Als Legitimations- und Begründungsmuster fürstlicher Gesetzgebung blieb jedenfalls nach Gagnér das „Aristotelische Muster“ ein „vom ausgehenden Hochmittelalter ab sich bewährendes Denkschema“.12 Folgt man Gagnér, dann mündet dieses im Hochmittelalter grundgelegte „Muster“ geradewegs in die Gesetzgebungsdebatten des nach innerer und äußerer Souveränität strebenden frühneuzeitlichen Fürstenstaates und schließlich in den modernen Gesetzespositivismus. Hobbes etwa hat in diesem Bild „die herkömmlichen Elemente der Gesetzgebungstheorie“, eben den aristotelischen und thomistischen Gesetzespositivismus,13 lediglich „zu einer besonderen Aktualität kristallisiert“, im Übrigen stellen seine Aussagen zur Bedeutung des Gesetzes und der Gesetzgebung aber nur eine „Etappe einer langen Motivwanderung“ dar.
So die Formulierung bei JOACHIM RÜCKERT, Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive (Hannover 1988) 20.
10
THOMAS SIMON, Gute Policey. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit (Frankfurt 2004) 28 ff.
11
12
GAGNÉR, Studien 108.
Siehe etwa die Überschrift des Kapitels 179: „Aristotelisches, Thomistisches und Gesetzespositivismus de necessitate salutis“. 13
480
THOMAS SIMON
II. Gesetz und consuetudo in der Vormoderne Gegen dieses Bild sind aus ganz unterschiedlichen Richtungen Einwände zu erheben. Am Gravierendsten ist vielleicht derjenige einer zu geringen Historisierung des Gesetzesbegriffs und des Wortes „Gesetzgebung“. Gagnér fordert zwar durchaus, der „historischen Relativität des modernen Begriffs der Gesetzgebung“ gerecht zu werden.14 Auch ist er sich der „Vieldeutigkeit“ dieser Worte bewusst.15 Aber in seiner Darstellung geht er dann doch ersichtlich von einem einheitlichen Begriff des „Gesetzes“ und der „Gesetzgebung“ aus, die bei ihm – wie auch das „Aristotelische Muster“ – als historisches Kontinuum erscheinen, das vom Mittelalter bis in die Moderne im Kern unverändert bleibt. Bei der großen Bedeutungsvielfalt des Wortes „Gesetz“, das zudem einem beträchtlichen inhaltlichen Wandel unterworfen war, ist es aber unerlässlich, klarzustellen, was man unter dem Wort „Gesetz“ jeweils versteht. Das gilt insbesondere für die Vormoderne, in der das „gesetzte Recht“ in hohem Maße mit „nichtgesetzten“ Normen interagiert. Noch in der frühen Neuzeit war das auf formellen Setzungsakten beruhende Recht umgeben von einem stark ausgeprägten gewohnheitsrechtlichen Kontext, der auf das Gesetzesverständnis zurückwirkte und ihm einen eigenartigen Gehalt gab, mit dem es sich vor allem vom modernen Geltungsverständnis in elementarer Weise unterscheidet.16 Sind hier schon große Unterschiede zwischen Moderne und früher Neuzeit zu verzeichnen, so gilt dies naheliegenderweise um so mehr im Verhältnis zum Mittelalter mit seiner noch ganz und gar gewohnheitsrechtlich geprägten Rechtskultur. „Gesetz“ und „Gesetzgebung“ waren im Mittelalter noch so weit von dem entfernt, was man heute darunter versteht, dass beim Versuch einer überzeitlichen, historisch konstanten Definition des „Gesetzes“ nur sehr wenige Kriterien übrigbleiben, wie etwa die Allgemeinheit der gesetzlichen Normen und die Urkundenqualität des Schriftstücks, mit dem das Gesetz kundgetan wird.17 Mit dem Rück-
14
GAGNÉR, Studien 53.
15
GAGNÉR, Studien 57.
Dazu THOMAS SIMON, Geltung. Der Weg von der Gewohnheit zur Positivität des Rechts, Rechtsgeschichte 7 (2005) 100–137, hier 103. 16
So etwa bei WOLF, Gesetzgebung in Europa 5: Gesetz als „allgemeine Rechtsnorm in Urkundenform“. Demgegenüber spricht sich BERNHARD DIESTELKAMP, Einige Beobachtungen zur Geschichte des Gesetzes in vorkonstitutioneller Zeit, Zeitschrift für Historische Forschung 10 (1983) 385–420, hier 389 ff, für einen periodenspezifisch „variablen Gesetzesbegriff“ aus. 17
Gab es im Hochmittelalter eine „gesetzespositivistische Umwälzung“?
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zug auf einen derartig allgemein gehaltenen Gesetzesbegriff geraten aber die spezifischen Mechanismen mittelalterlicher, ja vielfach noch frühneuzeitlicher Normbildung aus dem Blick. „Lex“ und „legem dare“ hatten im Mittelalter eine Bedeutung, die weit vom modernen Verständnis von „Gesetz“ und „Gesetzgebung“ entfernt sind. Dies muss betont werden gegenüber einer Darstellungsweise, bei der von einer bis ins Hochmittelalter zurückreichenden „Kontinuität der Gesetzgebung“ die Rede ist.18 Dass es praktisch keine Kontinuitätslinien vom modernen Verständnis des „Gesetzes“ und der „Gesetzgebung“ zurück in das Mittelalter gibt, zeigt sich schon in dem auffallenden Umstand, dass das „Gesetz“ selbst in den gelehrten Definitionen dieser Zeit überhaupt nicht als eigenständiger Normtyp in Erscheinung tritt. Die mittelalterliche Rechtswissenschaft kennt nicht die moderne Unterscheidung zwischen gesetzlichen Normen und Rechtsnormen anderer Provenienz, etwa gewohnheitsrechtlicher Art – jedenfalls keine Unterscheidung, bei der das „Gesetz“ mit einem willensgetragenen Setzungsakt als dessen Geltungsgrundlage in Verbindung gebracht würde, in der er sich vom Gewohnheitsrecht unterschiede. Das zeigt sich zum einen schon an der weitgehenden Identität von „lex“ und „ius“ in der mittelalterlichen Rechtssprache; inhaltliche Unterschiede zwischen „lex“ und „ius“ sind nicht erkennbar. Zum anderen wird es sichtbar in der auffallenden Nähe von lex und consuetudo.19 So etwas wie eine mittelalterliche „Normentheorie“, also theoretische Erörterungen zur Normqualität unterschiedlicher Typen von Rechtsnormen, findet sich bekanntlich zuerst in der Kanonistik, nämlich bei Gratian, der, unter Anknüpfung an spätantike Quellen, jene berühmte Gegenüberstellung von lex und consuetudo formuliert hat, bei der die lex als verschriftlichte consuetudo erscheint: „Lex est consuetudo in scriptis redacta“.20 Es ist hier also ausschließlich die Form ihrer Überlieferung, in der sich die lex von der Gewohnheit unterscheidet. Eine voluntas legislatoris, die mit ihrer Äußerung in 18
So WOLF, Gesetzgebung in Europa 3.
Jedenfalls für das Hochmittelalter kommt KARL KROESCHELL, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: DERSELBE (Hrsg), Studien zum frühen und mittelalterlichen Deutschen Recht (Berlin 1995) 277–309, hier 301, zum gleichen Ergebnis: Lex, Ius und Consuetudo sind „identisch“.
19
Decretum, Distinctio I c.3; siehe hierzu auch WINFRIED TRUSEN, Römisches und partikuläres Recht in der Rezeptionszeit, in: KURT KUCHINKE (Hrsg), Rechtsbewahrung und Rechtsentwicklung. FS für Heinrich Lange (München 1970) 97–120, hier 100. 20
482
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einem Normbefehl und dessen Promulgation und Publikation eine für den Normtyp des „Gesetzes“ typische Geltungsgrundlage abgäbe, taucht hier gar nicht auf. Lex bedeutet hier im Grunde nicht mehr, als eine aufgezeichnete Gewohnheit; es gibt hier eigentlich nur Gewohnheitsrecht in unterschiedlichen Überlieferungsformen. Demgemäß gibt es hinsichtlich Entstehungsweise und Geltungsgrundlage auch keine Unterschiede zwischen lex und consuetudo. Schon dies zeigt die überaus starke gewohnheitsrechtliche Vorprägung des Rechtsbewusstseins auch der gelehrten Zeitgenossen des Hochmittelalters: Der Begriff der lex wird in den dominierenden gewohnheitsrechtlichen Kontext der mittelalterlichen Rechtskultur eingepasst. Eine Abgrenzung mittelalterlicher „Gesetze“ von anderen Normtexten und Normtypen ist demnach kaum möglich.21 Insbesondere die Übergänge zwischen „Gesetz“ und „Rechtsbuch“, also der von Seiten eines „Privaten“ und nicht von einem als „Gesetzgeber“ auftretenden Herrschaftsträger initiierten Rechtsaufzeichnung, sind vollkommen fließend.22 Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ließe sich hier das Kriterium der „formellen Sanktion einer politischen Institution“23 als Unterscheidungsmerkmal verwenden: Das „Gesetz“ unterschiede sich danach vom Rechtsbuch dadurch, dass es durch einen formalisierten Setzungsakt, etwa in Gestalt der „Promulgation“,24 in Kraft gesetzt wird, während das Rechtsbuch lediglich bereits „in Kraft stehendes“ Recht wiedergibt, sodass es in diesem Fall auch keines formellen Setzungsaktes bedarf. Bei genauerem Hinsehen vermag allerdings auch dieses Kriterium das Gesetz nicht klar vom Rechtsbuch abzugrenzen, weil die Geltung mittelalterlicher Normtexte augenscheinlich nicht – jedenfalls nicht primär – auf irgendwelchen formellen Akten, etwa der Sanktion oder einer Promulgation, beruhte.25 Auch Rechtsaufzeichnungen ohne formelle Sanktion konnten „ge-
In der Gesetzgebungsgeschichte des Mittelalters von ARMIN WOLF werden demnach auch alle „Rechtstexte in Urkundenform“ unter dem Gesetzesbegriff zusammengefasst; WOLF, Gesetzgebung in Europa 27, 41 ff, 50 f; eingehend zum Gesetzesbegriff jetzt vor allem auch MARTIN SCHENNACH, Gesetz und Herrschaft. Zur Entstehung des Gesetzgebungsstaates in Spätmittelalter und Frühneuzeit am Beispiel Tirols. (Habilschrift Innsbruck 2008, erscheint demnächst) 98 ff. 21
22
DIESTELKAMP, Beobachtungen 413 ff.
23
WOLF, Gesetzgebung in Europa 51.
Zur Promulgation THOMAS SIMON, Vom „materiellen“ zum „formellen“ Publikationsprinzip, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 30 (2008) 201–220, hier 216. 24
25
DIESTELKAMP, Beobachtungen 413 ff.
Gab es im Hochmittelalter eine „gesetzespositivistische Umwälzung“?
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setzesgleiche“ Geltung erlangen, indem sie von den Gerichten als „geltendes Recht“ akzeptiert wurden; häufig wurden sie dann nachträglich in legendenhafter Weise irgendeinem Gesetzgeber zugeschrieben, wie dies etwa beim Sachsenspiegel der Fall war, den man im Spätmittelalter mit Karl dem Großen als Urheber in Verbindung brachte.26 In diesen Zusammenhang gehört auch die Beobachtung, dass auch bloße Gesetzentwürfe ohne jeden formellen Inkraftsetzungsakt als „geltendes Recht“ betrachtet werden und in die gerichtliche Entscheidungspraxis Eingang finden konnten. Beispiel hierfür wären etwa die verschiedenartigen Entwürfe, die noch im 17. Jahrhundert für ein oberösterreichisches (1609) und niederösterreichisches (1654) „Landrecht“ gefertigt wurden und dann im Wege „gesetzesgleicher Verwendung“ Eingang in die gerichtliche Praxis fanden, auch wenn diese Entwürfe niemals formell in Kraft gesetzt wurden.27 Umgekehrt konnte aber ein Normtext, der sich durch Sanktions- und Promulgationsformel äußerlich als Gesetz auswies, daran scheitern, dass er von den Gerichten schlicht „nicht befolgt“ wurde.28 Wenn sanktionierte, formell in Kraft gesetzte Normen von den Gerichten einfach zurückgewiesen, bloße Gesetzentwürfe und „Rechtsbücher“ aber umgekehrt als geltende Gesetze betrachtet wurden, dann konnte der Sanktion oder anderen formellen Inkraftsetzungsakten schwerlich jene entscheidende Bedeutung zukommen, die ihnen heute als Voraussetzung und Geltung der Rechtsnormen zukommt. Augenscheinlich hing die Geltung der Rechtsnormen von ganz anderen Kriterien ab. Welche Kriterien es gewesen sein könnten, die die gerichtliche Akzeptanz einer „gesetzten“ Norm in der Vormoderne bewirkten, ist naturgemäß so lange kaum abschätzbar, als es keine schriftliche Begründungspraxis der Gerichte gibt. Eine vergleichsweise frühe, aber natürlich schon vollkommen in den Zusammenhängen des gelehrten Rechts stehende justizielle Begründungspraxis wird greifbar in der sog „Kameralistik“, also den von einzelnen Assessoren des Reichskammergerichts publizierten Relationen und Vota zu ausgewählten causses celèbres, die von diesem Gericht entschieden worden waren. Bekannt wurden hier vor allem Ebenda; dort (404 ff) auch zu dem erstaunlichen Umstand, dass insbesondere die frühneuzeitlichen Rezeptionsgesetze vielfach nichts anderes als obrigkeitlich sanktionierte Lehrbücher waren. Auch dies zeigt ein weiteres Mal, wie weit entfernt vom modernen Gesetzesbegriff noch in der frühen Neuzeit die Vorstellungen waren, die man mit dem „Gesetz“ in Verbindung brachte. 26
WILHELM BRAUNEDER, Neuere Europäische Privatrechtsgeschichte11 (Wien 2005) (Skript im Selbstverlag) 59.
27
28
SIMON, Geltung 114.
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Andreas Gail und Mynsinger von Frundeck; zu Beginn des 17. Jahrhunderts hat Johannes Meichsner Relationen veröffentlicht.29 Ganz im Kontext des gelehrten Ius Romano-Germanicum stehend, lassen die in diese Relationen eingewobenen Begründungsmuster den entscheidenden Gesichtspunkt erkennen, der für die gerichtliche Akzeptanz einer Gesetzesnorm noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts maßgebend gewesen sein muss. Für Meichsner ist es gerade nicht die Publikation, also die formelle Inkraftsetzung eines Gesetzes, welche die Relevanz eines solchen für die gerichtliche Entscheidungsfindung begründete, sondern das, was er „receptum in observantia“ nennt: In seinen Decisiones spricht er von einer „vulgarem Theoricam, qua dicitur, Statutum non observatam non esse considerabile, neque ligare, quando non dicatur receptum vel observatam“.30 Auch beim „Statut“ soll es also erst die Observanz sein, die ihm jene Geltungskraft verleiht, auf Grund der es die Normunterworfenen bindet. Auf die Publikation oder sonstige formelle Inkraftsetzungsakte soll es hingegen nicht ankommen – darauf weist er an anderer Stelle ausdrücklich hin.31 Wenn es aber auch bei den Statuten die „Observanz“ war, die über die gerichtliche Anwendungsbereitschaft entschied, dann bleibt im Grunde nur noch der jeweilige Veranlasser der Rechtsaufzeichnung als Unterscheidungsmerkmal: Vom Rechtsbuch unterscheidet sich dann das „Gesetz“ lediglich noch dadurch, dass die Rechtsaufzeichnung nur im letzteren Fall von einer herrschaftlichen Instanz initiiert und dann verschiedentlich auch mit einem Befolgungsverbot versehen wird, ohne dass aber die Geltung der Rechtsaufzeichnung davon abhinge.32
29
FRANZ WIEACKER, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2 (Göttingen 1967) 174.
JOHANN MEICHSNER, Decisiones diversarum causarum in Camera Imperiali iudicatarum III (Frankfurt aM 1604) Decisio 14, 483, Nr. 92.
30
MEICHSNER, Decisiones, Decisio 20, 791, Nr. 41: „Statutum enim, quod non est receptum in observantia, licet fuerit publicatum, nullas habet vires, ideo ligare non potest“; ähnlich Decisio 14, 483, Nr. 92: „Statutum enim, quando non est receptum in observantia, nullas habet vires”. Dem entsprechend eine bei PETER OESTMANN, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich (Frankfurt aM 2002) 628, wiedergegebene Sentenz des Reichskammergerichts: Ein Statut gelte nur, wenn es „acceptatum et usu observatum fuerit“. 31
So auch DIESTELKAMP, Beobachtungen 419 f; demgemäß auch SCHENNACH, Gesetz und Herrschaft 164 ff: Nicht nur die Setzung neuen Rechts, sondern auch die „autoritative Darstellung und Fixierung des geltenden Rechts“ ist „Gesetz“. 32
Gab es im Hochmittelalter eine „gesetzespositivistische Umwälzung“?
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III. Gesetzgebung in der scholastischen Aristotelesrezeption Es sind für Gagnér vor allem die Texte der scholastischen Aristotelesrezeption, in denen ihm zufolge jener „Durchbruch des Gesetzespositivismus“33 des Hochmittelalters zum Ausdruck kommt. Aber so modern die scholastische Gesetzgebungslehre im Hochmittelalter auch gewesen sein mag, so darf man auch bei diesem Konstrukt der hochmittelalterlichen Antikenrezeption nicht übersehen, dass mit der Rezeption der aristotelischen Politiklehre zugleich deren Anverwandlung und Anpassung an die spezifischen Bedingungen und Denkformen der mittelalterlichen Rechtskultur erfolgte. Es ist evident, dass die scholastischen Exegeten der aristotelischen Politica das antike Ideengut nicht einfach „eins zu eins“ übernehmen konnten. Sie lasen die antiken Schriften vielmehr vor dem Verständnishorizont ihrer Zeit. Bei der Rezeption der aristotelischen Gesetzgebungslehre, wie sie in der Politica des Aristoteles zu finden ist, zeigt sich dies in aller Deutlichkeit. Rezipiertes antikes Gedankengut steht hier neben den mittelalterlichen Weiterführungen – beides vielfach keineswegs logisch miteinander verbunden, sondern unverbunden nebeneinander stehend. Was auf den ersten Blick aussehen mag wie eine „Umwälzung“, von der die „Anschauung von Kodifikation und Gesetzgebung“ im Hochmittelalter ergriffen wurden,34 erweist sich bei näherem Hinsehen als Teil eines traditionalen Rechtsdenkens, das in seinen Auffassungen, was die Bedeutung von „Gesetz“ und „Gesetzgebung“ anbelangt, noch kaum irgendwelche Bezüge zur Moderne aufweist. Freilich finden sich in der scholastischen Gesetzgebungstheorie in der Tat erste Ansätze eines neuartigen Gesetzesverständnisses, bei dem der Normtyp "Gesetz" erstmalig durch das voluntative Element definiert wird. Der Geltungsgrund der lex wird hierbei mit dem Willen einer normsetzenden oder zumindest normbestätigenden Instanz in Verbindung gebracht.35 Eine solche Sichtweise hat augenscheinlich am frühesten in der Kanonistik Platz gegriffen, weil sich in der Kirche am frühesten auch in praktischer Hinsicht die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis und dem jeweiligen Vorrang von
33
GAGNÉR, Studien 287.
34
GAGNÉR, Studien 362.
HERMANN KRAUSE, Kaiserrecht und Rezeption (Heidelberg 1952) 34, 36 und 67; RAOUL VAN CAENEGEM, Recht im Mittelalter, in: WOLFGANG FIKENTSCHER ua (Hrsg): Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen (Freiburg/München 1980) 609–667, hier 621; JOSEPH CANNING, A history of medieval political thought 300– 1450 (London ua 1996) 162. 35
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legislativ erzeugten Normen und Gewohnheitsrecht gestellt hat.36 In diesem Kontext ist nun auch zum ersten Mal vom „ius positivum“ die Rede. Ausgehend von der Kanonistik verbreitete sich seit dem 12. Jahrhundert eine Sprachregelung, die vom ius humanum als dem „ius positivum“ sprach.37 Mit der Verbreitung dieses Begriffs war eine allmähliche Akzentverschiebung verbunden, die das Spezifikum des ius humanum gerade darin erblickte, dass es vom Menschen erzeugt und auf Grund eines willensgetragenen Setzungsaktes in Geltung gebracht wurde.38 Die Ansätze der Kanonistik zu einer ersten Positivierung des Rechtsdenkens wurden im Zuge der Aristotelesrezeption auf der Grundlage der in der aristotelischen Politik enthaltenen Gesetzgebungslehre zu einer neuen, systematischen Lehre vom Gesetz entwickelt; zuerst in der Summa Theologica des Thomas von Aquin.39 Für Thomas basiert jedes Gesetz auf der Vernunft und dem Willen eines Gesetzgebers;40 das ius humanum in gleicher Weise wie das im Alten Testament eingeschlossene ius divinum. Beide werden auch bei Thomas unter dem Oberbegriff des ius positivum zusammengefasst, denn beide sind gleichermaßen auf willensgetragene Setzungsakte zurückzuführen; im ersteren Falle sind es solche irgendeines menschlichen Gesetzgebers, im letzteren Fall ist es Gott, der das Gesetz gibt. An dieser Stelle taucht nun auch der durchaus neue Gedanke auf, dass es erst die Promulgation und die Bekanntmachung der Gesetze sei, die ihnen ihre zwingende „vis obligandi“ verleihe.41 Eng damit zusammenhängend ist UDO WOLTER, Die consuetudo im kanonischen Recht bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, in: GERHARD DILCHER ua (Hrsg): Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter (Berlin 1992) 87–116, hier 104; GAGNÉR, Studien, 355 f; MAX JÖRG ODENHEIMER, Der christlich-kirchliche Anteil an der Verdrängung der mittelalterlichen Rechtsstruktur und an der Entstehung der Vorherrschaft des staatlich gesetzten Rechts im deutschen und französischen Reichsgebiet (Basel 1957) 53. 36
37
GAGNÉR, Studien 210.
38
GAGNÉR, Studien 231.
39
GAGNÉR, Studien 262 ff und 362.
THOMAS VON AQUIN, Summa Theologica, hrsg und übersetzt von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs (Graz/Heidelberg 1977) II/1, Qu. 97, 3: „Respondeo dicendum quod omnis lex proficiscitur a ratione et voluntate legislatoris: lex quidem divina et naturalis a rationabili Dei voluntate; lex autem humana a voluntate hominis ratione regulata.“
40
AEGIDIUS ROMANUS, De regimine principum libri III (Rom 1556, Nachdruck Frankfurt aM 1968), 3. Buch, 2. Teil, Kap 27, 312: „Viso quod non est cuiuslibet leges condere, de levi potest patere legem non habere vim obligandi, nisi sit promulgata”. Ent-
41
Gab es im Hochmittelalter eine „gesetzespositivistische Umwälzung“?
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die Vorstellung, dass es ausschließlich die hinter dem Gesetzgebungsakte stehende Macht des Fürsten sei, die einem von jenem erlassenen Gesetz die vis obligandi – Thomas spricht von „vis coactiva“ – verleihe.42 Neben solchen, in der Tat auf ein modernes Gesetzesverständnis verweisenden Vorstellungen findet sich aber in den gleichen Quellen ein Gedankengut, das noch ganz in einem traditionellen Rechtsdenken wurzelt, bei dem die Bedeutung von „Recht“ und „Gesetz“ fließend ineinander übergeht. Wesentlich ist zunächst, dass das Wort „lex“ auch hier noch keineswegs im Sinne des modernen Gesetzesbegriffs verwendet wird, der auf einen ganz bestimmten Normtyp bezogen ist, nämlich die von einem Gesetzgeber kraft autoritativen Setzungsaktes hervorgebrachte Norm, deren Geltung ausschließlich auf diesem zielgerichteten Setzungsakt beruht, so dass sie sich dadurch scharf vom Gewohnheitsrecht unterscheiden lässt. Was lex und ius anbelangt, so werden diese Begriffe nach wie vor weitgehend synonym verwendet,43 und beide sind wiederum zur consuetudo nur unscharf abgegrenzt. Das ius positivum wird nun zwar über das Willenskriterium definiert, aber dies führt noch nicht zu einer systematischen Unterscheidung zwischen Gesetzes- und Gewohnheitsrecht im modernen Sinne. Denn das ius positivum umfasst eben nicht nur die vom Princeps gebotenen Normen, sondern auch das Gewohnheitsrecht. Das für das ius positivum charakteristische voluntative Element ist nämlich dem hochmittelalterlichen Rechtsverständnis nach für die consuetudo gleichermaßen bezeichnend wie für die eigentlich „gesetzten“ Normen der edicta principum.44 Deutlich kann man hier sehen, wie ein auf den ersten Blick modern anmutendes Gesetzesverständnis in den Kontext der gewohnheitsrechtlichen mittelalterlichen Rechtskultur eingefügt wird. Gesetz und consuetudo werden bis zur Identität aneinander angeglichen, indem sie unter dem Oberbegriff des „ius positivum“ zusammengefasst werden. Dieses Wort hat im Hochmittelalter noch einen ganz ambivalenten Gehalt. Einerseits weist es das menschliche
sprechend THOMAS: „Unde promulgatio neccessaria est ad hoc quod lex habeat suam virtutem” (zit nach GAGNER, Studien 274). 42
THOMAS VON AQUIN, Summa Theologica II/1, Qu. 96, 5.
Gleich zu Beginn des Kap 24 im 3. Buch, 2. Teil zeigt sich, dass AEGIDIUS lex und ius synonym verwendet: Die „genera legum“ lassen sich laut AEGIDIUS in ganz der gleichen Weise wie das ius unterscheiden; und wie das ius so werden auch die leges vorrangig in ungeschriebene und geschriebene Normen unterteilt. 43
44
SIMON, Policey 80.
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THOMAS SIMON
Recht bereits als „gesetztes Recht“ aus, andererseits wird dabei aber ein Verständnis von „Rechtssetzung“ mitgedacht, das nun seinerseits vollkommen gewohnheitsrechtlich geprägt ist. Folgt man etwa Aegidius, dann zählen sämtliche Normen zur lex positiva, die „per artem et industriam hominum“ eingeführt („adinventum“) wurden.45 Dieser Normbildungsmodus trifft aber für das vom Fürst gesetzte und befohlene Gesetz ebenso zu wie für das Gewohnheitsrecht. Aegidius unterscheidet demnach auch nicht zwischen formellen Gesetzgebungsakten und anderem menschlichen Tun, durch das neue Gewohnheiten hervorgebracht werden: „ars et industria hominum“ umfasst den fürstlichen Befehl ebenso wie die Verabredung einer Einung, ja darüber hinaus jegliches Handeln, aus dem sich allmählich Gewohnheiten ergeben.46 Es gibt also – ganz im Gegensatz zum modernen, erstmalig von Bodin formulierten Gesetzesverständnis,47 bei dem der Unterschied zwischen lex und consuetudo entscheidend ist – zwischen diesen beiden Normquellen auch unter dem Willensaspekt keinen scharfen, prinzipiellen Kontrast. Auch in der Kanonistik führte das im Hochmittelalter in Erscheinung tretende Willenskriterium nicht zu einer systematischen Abschichtung von Gesetz und Gewohnheitsrecht. Vielmehr diente es lediglich dazu, der consuetudo die gleiche Legitimität und Bestandskraft zu verleihen, wie den geschriebenen leges.48 Gesetz und consuetudo blieben auch unter dem neuartigen Gesichtspunkt eines normschöpfenden Willens in dem einheitlichen Normtyp des ius positivum zusammengefasst, welches dann als Ganzes dem ius naturale gegenübergestellt wird. Die zunächst in der Kanonistik entwickelte Lehre von der „consuetudo approbata“, der seitens eines Gesetzgebers bestätigten Gewohnheit,49 ordnet sich vollständig in dieses Bild ein. Gagnér hat sie in den Zusammenhang des „Bonifaziuschen Gesetzespositivismus“ gestellt,50 also jener von „autoritären“, ja „totalitären“ Einstellungen51 getragenen päpstlichen Ideologie einer „selbst-
45
3. Buch, 2. Teil, Kap 24.
46
Ebenda.
47
HELMUT QUARITSCH, Staat und Souveränität (Frankfurt aM 1970) 334 ff.
48
Dazu WOLTER, consuetudo 105 ff.
49
WOLTER, consuetudo 104.
50
GAGNÉR, Studien 358.
51
GAGNÉR, Studien 343.
Gab es im Hochmittelalter eine „gesetzespositivistische Umwälzung“?
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herrlichen Gesetzgebung von Gottes Gnaden“,52 die sich dann auch in zeitgenössischer Kanonistik niedergeschlagen habe. Aber auch die Argumentationsfigur der „consuetudo approbata“ führt nicht zu einer systematischen Unterscheidung von lex und consuetudo. Zwar wurde nun die Deutung des Gewohnheitsrechtes an die neue, willensorientierte Theorie vom „ius positivum“ angepasst, indem man es als ein vom Gesetzgeber wie ein Gesetz bestätigtes auffasste. Aber die Kontraste zwischen dem eigentlich „gesetzten“ Recht und dem Gewohnheitsrecht blieben auch im Zeichen der „consuetudo approbata“ denkbar gering, weil es auch hierbei keinen über das Schriftlichkeitskriterium hinausführenden weiteren Differenzierungsgesichtspunkt gab, mit dessen Hilfe sich Gewohnheit und Gesetz in einer dem modernen Verständnis entsprechenden Weise hätte unterscheiden lassen.53 Nach wie vor hob sich die auf formellem Setzungsakt basierende Norm noch kaum von den gewohnheitsmäßig überlieferten Normen ab und demzufolge trifft man auch bei Aegidius auf die zeitübliche Terminologie,54 bei der lex und consuetudo weitgehend austauschbar sind.55 52
GAGNÉR, Studien 361.
Dementsprechend auch AEGIDIUS: Zwischen den „leges“ einerseits und den „consuetudines approbatas, quae vim legum obtinent“ (3. Buch, 2. Teil, Kap 1) bestehen, abgesehen vom Differenzierungsmerkmal der Schriftlichkeit, keine prinzipiellen Unterschiede; freilich ist die Wendung zum voluntativen Normverständnis insofern erkennbar, als der Mangel der Schriftlichkeit bei der consuetudo mit der - wie auch immer sich äußernden - obrigkeitlichen Approbation kompensiert wird. Durch die Fiktion einer solchen Approbation wird die consuetudo dem Normtyp des vom Herrscher gebotenen Gesetzes angenähert.
53
Hierzu KROESCHELL, Recht und Rechtsbegriff 320 f, der zwar in den von ihm untersuchten Rechtstexten des früheren Mittelalters für lex und consuetudo unterschiedliche Bedeutungszusammenhänge ausmachen kann, unter dem Kriterium des Geltungsgrundes aber zu entsprechenden Ergebnissen kommt, wobei er hier sehr stark den „Nachklang später römischer Vorstellungen“ (323) betont.
54
Besonders deutlich zu Beginn des Kap 31 (3. Buch, 2. Teil), wo die Frage nach der „expedientia civitatibus“ der Gesetzgebung gestellt wird. Für AEGIDIUS ist das „innovare leges“ gleichwertig mit dem „inducere novas consuetudinis“. Diese beiden Formen willentlicher Veränderung des Normengefüges werden von ihm vollkommen gleich behandelt. Und wenn AEGIDIUS etwas weiter von den „leges quam sint traditae a prioribus patribus“ (318 links) spricht, dann wird hier der fließende Übergang zwischen lex und consuetudo besonders deutlich. Der gleiche Gedanke kehrt wieder bei GRATIAN (D. IV, 3): „Leges instituuntur, cum promulgantur, firmantur, cum moribus utentium approbantur“. Neben den förmlichen Promulgationsakt als Geltungsgrund 55
490
THOMAS SIMON
Ein Weiteres kommt hinzu: In der scholastischen Gesetzgebungstheorie wird die „vis obligandi“ eines Gesetzes zwar bereits mit einem formellen Promulgationsakt begründet. Aber dieser formelle Geltungsgesichtspunkt wird sogleich wieder aufgefangen durch ein weiteres Geltungskriterium, das Thomas mit dem Ausdruck der „virtus legis“ bezeichnet; Aegidius Romanus verwendet hier das Wort „efficacia“. Virtus und efficacia eines Gesetzes sind von irgendwelchen Promulgationsakten gänzlich unabhängig; sie stellen sich vielmehr erst dann ein, wenn ein Gesetz zur Gewohnheit wird. 56 An Stelle von virtus spricht Thomas an anderer Stelle auch von der „vis constrictiva“ der Gesetze. Beides ließe sich vielleicht übersetzen mit „normativer Kraft“. Auch hier stehen jedenfalls lex und consuetudo nicht in gegensätzlichem Verhältnis zueinander, sondern die leges erlangen im Gegenteil ihre normative Kraft erst dann, wenn sie zur consuetudo geworden sind.57 Umgekehrt verlieren die Gesetze um so mehr von ihrer vis constrictiva, je mehr sie sich gegen die consuetudo wenden, je mehr also der Gesetzgeber gegen die Kraft der consuetudo neue Normen zu implementieren sucht.58 Aus der Sicht dieser Gesetzgebungslehre ist die normative Kraft neu erlassener Gesetze, und damit auch die Chance ihrer Durchsetzung, zunächst sehr gering zu veranschlagen, jedenfalls soweit und solange sich solche Gesetze gegen eine eingefahrene consuetudo wenden, soweit sie also mehr sein wollen, als eine bloße consuetudo in scriptis redacta. Das moderne Geltungskriterium formeller Inkraftsetzung taucht in diesen Gesetzgebungstheorien zwar auf, aber er wird sogleich tritt die Bekräftigung durch die faktische Normanwendung (zum Verhältnis von lex und consuetudo bei GRATIAN siehe auch CARL GEROLD FÜRST, Zur Rechtslehre Gratians, in: ZRG KA 57 (1971) 276–284. Demgemäß auch KARL KROESCHELL, Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit 455: „Bei aufgezeichnetem Gewohnheitsrecht bestand praktisch kein Unterschied gegenüber dem Gesetzesrecht“. „Sed leges habent maximam virtutem ex consuetudine, ut Philosophus dicit, in II Polit. Et inde non sunt de facili mutandae“; THOMAS, Summa Theologica II/1, Qu. 97, 2 ad prim; bei AEGIDIUS (3. Buch, 2. Teil, Kap 27; 312): „Leges magnam efficaciam habent ex consuetudine“. 56
Ein entsprechender Gedanke findet sich bei GRATIAN: Die leges werden zwar einerseits „instituuntur, cum promulgantur“. Aber gleichzeitig werden sie „firmantur, cum moribus utentium approbantur“ (zit nach GAGNÉR, Studien 355). Auch dieser Topos wird noch im 17. Jahrhundert von MEICHSNER in Stellung gebracht: „Ex qua consuetudine subsecuta robur et vires confirmantur ipsius statuti, ut operetur scilicet, ubi alias forte operari non potuisset“ (Decisiones, Decisio 14, 469, Nr. 23). 57
THOMAS: „Unde quando mutatur lex, diminuitur vis constrictiva legis, inquantum tollitur consuetudo“ (Summa Theologica II/1, Qu. 97, 2). 58
Gab es im Hochmittelalter eine „gesetzespositivistische Umwälzung“?
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neutralisiert durch den von traditionalem Rechtsdenken getragenen Gesichtspunkt, demzufolge Gesetz und consuetudo so weit als möglich deckungsgleich sein sollten, weil die Implementierung neuer, der consuetudo entgegenlaufender Normen, scheitern wird. Aber nicht nur die consuetudo setzt dem normativen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers engste Grenzen. In der scholastischen Gesetzgebungslehre erscheint der Gesetzgeber auch weitgehend in die normativen Vorgaben der „lex naturalis“ eingebunden. Für Aegidius Romanus ist der Princeps in seiner Rolle als Gesetzgeber nur „medium inter legem naturalem et positivam“.59 Es war diese ausgeprägte normative Vorprägung des ius positivum, die noch in der frühen Neuzeit dazu führte, dass der Gesetzesbegriff primär vom Kriterium inhaltlicher „Übereinstimmung des Gesetzesinhaltes mit der Idee der Gerechtigkeit“ geprägt und nicht vom Kriterium des gesetzgeberischen Willens getragen war.60 „Übereinstimmung mit der Idee der Gerechtigkeit“ bedeutet hier die Übereinstimmung mit der nicht verfügbaren lex naturalis und mit den faktischen normativen Gegebenheiten der Gesellschaft, wie sie in der consuetudo eingeschlossen sind. Dieser Befund einer nur sehr geringen Verfügbarkeit der Normenordnung begann sich erst im Laufe der Neuzeit und nur ganz allmählich zu ändern.61 Bei einer historischen Verortung der scholastischen Gesetzgebungslehre muss man also immer beide Elemente dieses Rechtsdenkens im Auge haben: Das in die Zukunft verweisende Element, das die Autoren des Mittelalters über die aristotelische Politiktheorie aufnahmen und die vom traditionellen Rechtsdenken geprägten Teile, in die das rezipierte antike Ideengut eingebettet und an die es zugleich angepasst wurde. Zwar wurden im Hochmittelalter in der Kanonistik und in der scholastischen Gesetzgebungstheorie erste Anzeichen einer „Positivierung“ des Rechtsdenkens sichtbar. Aber solche Ansätze blieben doch vollkommen in den Kontext eines Rechtsdenkens integriert, das ersichtlich danach strebte, die Normerzeugung im Bereich des ius humanum in die lex naturalis einzubinden und bei dem im Übrigen die überkommene Normstruktur der consuetudo eine kaum zu durchbrechende normative Vorgabe bildete.
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3. Buch, 2. Teil, Kap 29.
HEINZ MOHNHAUPT, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime, Ius Commune 4 (1973) 188-239, hier 199; GRAWERT, Gesetz 879 f.
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Dazu im einzelnen MOHNHAUPT, Potestas legislatoria 200 ff.
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IV. Gesetzgebung und Staatsbildung Was auch immer man im Einzelnen unter dem Begriff des „Gesetzespositivismus“ verstehen mag,62 untrennbar ist damit jedenfalls ein voluntaristisches Gesetzesverständnis, ein formalisiertes rechtliches Geltungsdenken und schließlich eine Rechtskonzeption verbunden, der gemäß das Recht in erster Linie durch hoheitliche Setzungsakte hervorgebracht wird und der Gesetzgeber bei der Normschöpfung jedenfalls so lange nicht durch ihm übergeordnete und ihn bindende Normen eingeschränkt ist, als ihm nicht durch eine „pouvoir constituant“ eine Normenebene verfassungsrechtlicher Provenienz vorgeordnet wird. Dass das mittelalterliche Rechtsdenken von derartigen Grundvorstellungen „durch Welten getrennt“63 war, ist evident. Zwar werden in der Kanonistik und der scholastischen Gesetzgebungslehre erstmalig Elemente eines voluntaristischen Gesetzesverständnisses sichtbar, aber dies blieb weitgehend in einen Rahmen traditionellen Rechtsdenkens eingepasst. Das mittelalterliche Geltungsverständnis war überdies so stark „usual“, also von gewohnheitsrechtlichen Denkmustern beherrscht, dass sich keine Brücke zur modernen, auf einem formellen Geltungsdenken beruhenden Gesetzgebung schlagen lässt. Und schließlich ist die Vorstellung von der lex positiva als einer Ausprägung der lex naturalis jedem Gesetzespositivismus diametral entgegengesetzt, weil die Konzeption des Gesetzgebers als eines „medium inter legem naturalem et positivam“ den direkten Kontrapunkt darstellt zu derjenigen des souveränen Gesetzgebers, der die Rechtsordnung frei nach seinen politischen Zwecksetzungen gestalten kann. Die Frage, ob es im Mittelalter so etwas wie „Gesetzgebung“ gegeben habe, lässt sich demnach nur dann einfach mit „ja“ beantworten, wenn man einen so weiten, aber damit eben auch ziemlich aussagelosen Gesetzesbegriff zugrunde legt, dass auch der Texttyp der „autoritativen Rechtsaufzeichnung“ und des Weistums davon erfasst wird. Legt man hingegen einen modernen, auf einem formellen Geltungsverständnis beruhenden Gesetzesbegriff zugrunde, ist die Antwort weitaus schwieriger zu geben. „Modern“ nenne ich einen Gesetzesbegriff, bei dem der Normtyp des „Gesetzes“ vom Gewohnheitsrecht über das Moment des gesetzgeberischen Willens abgegrenzt wird, der dann zugleich die Geltungsgrundlage der Norm abgibt. Die Anfänge dieser Form der Gesetzgebung sind sehr schwer zu fassen. Zu großen Teilen
Siehe etwa die Verwendung des Wortes „Gesetzespositivismus“ bei WIEACKER, Privatrechtsgeschichte 459 ff; GRAWERT, Gesetz 899 ff. 62
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QUARITSCH, Staat und Souveränität 139.
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bleibt es jedenfalls für das Hochmittelalter bei der Aussage, dass es noch „kein Gesetz im modernen Sinne des Wortes“ gegeben habe.64 Im Übrigen wächst der Entwicklungsstrang der modernen Gesetzgebung aus mehreren ganz unterschiedlichen Formen der Normproduktion im Laufe des Spätmittelalters zusammen, die man als funktionale Äquivalente der modernen Gesetzgebung betrachten kann: Dazu zählt etwa das Privileg und die von den Normadressaten beschworene Satzung; auch mag man mit einiger Vorsicht die Weistümer jedenfalls in bestimmten Herrschaftskonstellationen noch dazurechnen.65 Inwieweit in diesen Fällen bereits von einer Gesetzgebung im eben beschriebenen Sinne die Rede sein kann, bliebe im Einzelnen zu prüfen. Erst mit den spätmittelalterlichen Landesordnungen und sodann mit der am Ende des Mittelalters einsetzenden Policeygesetzgebung tritt dann eine Form der „Gesetzgebung“ deutlicher in Erscheinung, von der aus sich Kontinuitätslinien zur modernen Gesetzgebung ziehen lassen.66 Im Kontext der hochmittelalterlichen Herrschaftsstrukturen hätte einer solchen „modernen“ Form der Gesetzgebung im Übrigen auch nur symbolische Bedeutung zukommen können. Denn bis in das Spätmittelalter hinein gab es keinen institutionellen, mit einem Behördenapparat versehenen Staat, der in der Lage gewesen wäre, die ausschließlich auf der Basis formeller Setzungsakte erzeugten Normen auch durchzusetzen. Normdurchsetzung ist ohne einen solchen Apparat nicht denkbar. Dies wird einsichtig, wenn man sich des Verhältnisses von Norm und Wirklichkeit, von „Sollen“ und „Sein“ beim traditionellen Gewohnheitsrecht und bei der legislativ erzeugten Norm vergegenwärtigt: Beim Gewohnheitsrecht ist die Kluft zwischen „Sein“ und „Sollen“ insofern wesentlich kleiner, als die Norm immer einem jedenfalls überwiegend befolgten faktischen Gebrauch entspricht. Normativität und Faktizität gehen hier fließend ineinander über, denn die normative Kraft des JÜRGEN WEITZEL, Deutsches Recht, in: Lexikon des Mittelalters III (München 1986) Spalte 777–781, hier Spalte 778.
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So etwa DIESTELKAMP, Beobachtungen 401 ff.
Über den Beginn dieser Form der Gesetzgebung in den niederrheinischen Territorien sehr instruktiv Wilhelm JANSSEN, „…na gesetze unser lande…“. Zur territorialen Gesetzgebung im späten Mittelalter, in: Vereinigung für Verfassungsgeschichte (Hrsg), Gesetzgebung als Faktor der Staatentwicklung (= Der Staat, Beiheft 7, Berlin 1984) 7–40; DIETMAR WILLOWEIT, Gesetzgebung und Recht im Übergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff, 1. Symposion der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“ vom 26. und 27. 04. 1985 (Göttingen 1987). 66
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Rechts fließt hier gerade aus der faktischen Befolgung bestimmter Normen. Diese Nähe von Faktizität und Normativität macht es auch, dass das frühneuzeitliche Prozessrecht vom Gewohnheitsrecht als etwas Faktischem spricht – es wie eine Tatsache behandelt, die von der Partei, die sich darauf beruft, zu beweisen ist.67 Demgemäß stellt sich hier das Problem der Normimplementierung so gut wie gar nicht, denn ohne ein Mindestmaß an faktischer Befolgung entsteht hier schon gar keine Norm. Demgegenüber ist die „gesetzte“ Norm, die ihren normativen Anspruch allein aus dem Willen eines Normgebers schöpft, von ihrer faktischen Befolgung zunächst gänzlich unabhängig. Ihren Geltungsanspruch zieht sie allein aus dem Umstand, dass es ein wie auch immer bestimmter Personenkreis oder gar eine Einzelperson so will. Sie ist nicht Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ist nicht Ausdruck faktisch gelebter Gewohnheiten, sondern diesen geradezu entgegengesetzt. Denn der „Erlass“ der Norm ist hier ja gerade dadurch bedingt, dass irgendetwas „nicht stimmt“, dass irgendetwas anders sein soll, als es tatsächlich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit angetroffen wird. Die Normgebung ist hier Instrument politischer Umgestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die in bestimmten Punkten den Ordnungsvorstellungen der Zeit nicht mehr genügen.68 Mit dem Normtyp der gesetzten, gegen die Faktizität der Gewohnheiten gerichteten Norm weitet sich aber auch die Kluft zwischen Normativität und Faktizität, denn nun ist es von der Norm bis zur deren „Durchsetzung“ – sprich der erzwungenen Ausrichtung der Normadressaten an eben dieser Norm – ein weiter Weg. Erst damit wird die Normimplementierung zum politischen Problem. Denn nun bedarf es eines Institutionenapparates, der das schwierige Geschäft der „Normdurchsetzung“ zu übernehmen vermag – der also die Aufgabe zu übernehmen im Stande ist, innerhalb bestimmter Räume drauf zu achten, dass die Normadressaten von ihren bisherigen Gewohnheiten abgehen und die neu gesetzten Norm einhalten. Unumgehbare Voraussetzung hierfür waren die ersten Ansätze einer territorialen Verwaltungsorganisation, die es ermöglichte, Normsetzung auf der Basis des Gebotsrechtes nunmehr auch in „consuetudo est facti et in facto consistit“; zu dieser frühneuzeitlichen Prozessmaxime siehe vor allem WOLFGANG WIEGAND, Studien zur Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit (Ebelsbach 1977) 139. 67
WOLFGANG REINHARD, Die Verwaltung der Kirche, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte I: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches (Stuttgart 1983) 143–176; THOMAS SIMON, Recht und Ordnung in der frühen Neuzeit, Rechtshistorisches Journal 13 (1994) 372–392, hier 387 f. 68
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größeren Räumen zu praktizieren und solche Strukturen entstanden jedenfalls in Territorien des Reiches keinesfalls vor dem 14. Jahrhundert.69 Ein weiteres Problem kommt hinzu: Sobald der Geltungsanspruch der Normen – deren normative Kraft also – nur noch auf dem Willen einer normsetzenden Instanz beruht und nicht mehr im Bewusstsein der Menschen als Recht verankert ist, bedarf es der Bekanntmachung und sodann der ständigen Vergegenwärtigung der neu gesetzten Normen. Ansonsten vermag sie keinerlei normative Kraft zu entfalten und vermag sie demgemäß auch nicht das Verhalten der Normadressaten zu steuern. Dass der Bekanntmachung und Verbreitung gesetzter Normen in einer weitgehend schriftlosen Gesellschaft entscheidende Hindernisse entgegenstehen, liegt auf der Hand. Denn nur durch ihre Verschriftlichung werden die Normen so vergegenständlicht und objektiviert, dass sie sich als etwas von der Faktizität der Gewohnheit Abgelöstes eben jener Gewohnheit mit der Absicht gegenüberstellen lassen, diese Gewohnheit im Laufe der Zeit zu ändern. Neben der Verschriftlichung ist aber auch ein Minimum an Verbreitung der durch Gesetzgebung erzeugten Normen erforderlich. Zumindest müssen sie unter denjenigen Amtsträgern verbreitet werden, die sodann die Aufgabe ihrer Implementierung übernehmen können. So etwas wie eine „Publikationsinfrastruktur“ entwickelte sich aber in den deutschen Territorien keinesfalls vor dem Ausgang des Mittelalters. Erst die Formierung des institutionellen Flächenstaates frühneuzeitlicher Prägung brachte so etwas wie einen Apparat flächendeckender Herrschaftsausübung hervor, der sich zur Verbreitung und Bekanntgabe neu erzeugter Steuerungsnormen, zur Überwachung ihrer Einhaltung und schließlich zur Sanktionierung von Verstößen einsetzen ließ. Dies gilt umso mehr, wenn man sieht, wie schwer sich noch der frühneuzeitliche Staat mit diesem Implementierungsproblem getan hat. Die Probleme begannen schon damit, dass es vor 1800 vielfach selbst bei den Zentralbehörden an verlässlichen Gesetzessammlungen fehlte. Und auf der unteren Instanzenebene muss man allem Anschein nach von einer vollkommen lückenhaften Dokumentation der Gesetzgebung ausgehen – und dies gilt augenscheinlich auch für die Gerichte.70 DIETMAR WILLOWEIT, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: KURT G. A. JESERICH / HANS POHL / GEORG-CHRISTOPH V. UNRUH (Hrsg.). Deutsche Verwaltungsgeschichte I: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches (Stuttgart 1983) 66–142, hier 81–117. 69
SIMON, Geltung 133; siehe dazu vor allem auch LOTHAR SCHILLING, Policey und Druckmedien im 18. Jahrhundert. Das Intelligenzblatt als Medium policeylicher
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Die Technik flächendeckender Kontrolle des Raumes durch einen Beamtenapparat übernahmen die entstehenden Territorialstaaten Europas von der Kirche. Anknüpfend an das antike Erbe war es die Kirche, die als erste einen Verwaltungsapparat mit schriftlicher Arbeitsweise ausgebildet hat. Viel früher als der Staat begann die Kirche auch damit, ihre Binnenorganisation auf der Basis schriftlich niedergelegter Befehle zu steuern. Sie war daher im Mittelalter als erste zu so etwas wie einer „Steuerungsgesetzgebung“ und ihrer Implementierung in der Lage, denn in ihrem Schoße hat sich zuerst der dazu erforderliche hierarchisch-bürokratische Verwaltungsapparat und ein schriftgestütztes Verwaltungsverfahren herausgebildet.71 Außerhalb des kirchlichen Apparates fehlte es im Mittelalter aber an allen institutionellen Voraussetzungen zur Normimplementierung. Insofern gibt es einen untrennbaren Zusammenhang zwischen der Herausbildung des institutionellen Flächenstaates und dem Phänomen der „Gesetzgebung“, jedenfalls soweit man eine bestimmte Form der Gesetzgebung im Auge hat, nämlich diejenige, die in der Moderne typischerweise die Erscheinungsform des Gesetzes prägt.72
V. Zur These von Fritz Kern Was das Phänomen der Gesetzgebung im Hochmittelalter anbelangt, sind demgemäß weitgehende Einschränkungen zu machen.73 Dies bestärkt aber wiederum ein rechtshistorisches Geschichtsbild, das die Indisponibilität der rechtlichen Normenordnung im Mittelalter betont. Die scharfe Kritik hieran
Kommunikation, in: KARL HÄRTER (Hrsg), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (Frankfurt aM 2000) 413–452. THOMAS SIMON, Krise oder Wachstum? Erklärungsversuche zum Aufkommen territorialer Gesetzgebung am Ausgang des Mittelalters, in: GERHARD KÖBLER / HERMANN NEHLSEN (Hrsg), Wirkungen europäischer Rechtskultur. FS für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag (München 1997) 1201–1217, hier 1203 f. 71
So auch JANSSEN, „…na gesetze unser lande…“ 8 f: Ohne „die Etablierung eines Verwaltungsapparates und einer schriftlichen Verwaltungspraxis“ ist „eine auf Wirksamkeit zielende, nicht bloß deklaratorisch-posierende Gesetzgebungstätigkeit undenkbar“. 72
Es ist daher mE auch besser, den Ausdruck für diese Zeit zu meiden und nur von „Rechtsaufzeichnungen“ zu sprechen, wie es der Sprachregelung etwa bei HANS SCHLOSSER, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte (9. Aufl. Heidelberg 2001) 14 ff oder bei MARCEL SENN, Rechtsgeschichte – ein kulturhistorischer Grundriss (Zürich 1997) 76 ff, entspricht. 73
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dürfte nicht unerheblich auch dadurch bedingt gewesen sein, dass man allzu sehr auf die Wendung Fritz Kerns vom „guten, alten Recht“ fixiert war. Damit war eine leicht angreifbare, schon auf den ersten Blick allzu simplifizierende Formel gefunden, von der sich abzusetzen nicht schwer fallen konnte. Lässt man indessen die speziellen Probleme einer Rückverfolgung hochmittelalterlicher Befunde in das Frühmittelalter oder gar in die germanischen Königreiche der Völkerwanderungszeit beiseite und verzichtet darauf, ein einheitliches „mittelalterliches“ Rechtsverständnis mit womöglich noch germanischen Wurzeln identifizieren zu können, bieten die Thesen Kerns schon wesentlich weniger Angriffsfläche. Denn die Kritik, wie sie vor allem Karl Kroeschell und Gerhard Köbler angebracht haben,74 war vor allem darauf konzentriert, die elementaren Innovationen zu betonen, die während des Hochmittelalters im Recht durch dessen allmähliche Verwissenschaftlichung und Verschriftlichung Platz gegriffen haben. Kroeschell rückt dabei vor allem die Bedeutung des Kanonischen Rechts in den Vordergrund.75 Die Möglichkeiten, vom Hochmittelalter aus Rückschlüsse zu ziehen auf das frühmittelalterlich-germanische Rechtsverständnis schätzt er in Anbetracht dessen sehr skeptisch ein. Sieht man aber von der Frage nach den „germanischen“ oder römischen Wurzeln ab, dann erweist sich, dass das Alter der Rechtsnormen in dem Bild, das Kroeschell jedenfalls vom hochmittelalterlichen Recht zeichnet, eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Dies vor allem dort, wo er auf die damaligen Rechtsvorstellungen, also darauf zu sprechen kommt, welche Vorstellungen sich die Menschen dieses Zeitalters vom Recht gemacht haben. Kroeschell schreibt von deren Bemühen, neu entstandenem Recht ein hohes Alter zuzuschreiben: „Großen Raum“ nehme „die Betonung des Alters der consuetudo ein“.76 Verzichtet man darauf, diesen Befund in das Frühmittelalter zurück zu projizieren, dann ist die Einschränkung, die Kroeschell diesem Befund zu Seite stellt, dass es sich nämlich hierbei um einen bloßen „Nachklang spätrömischer Vorstellungen“ handele, ohne Belang. Denn so richtig es sein mag, dass in den Quellen „eine germanisch-deutsche Vorstellung vom unveränderlichen, guten alten Recht nicht zu erkennen“ ist,77 so eindeutig stellt Kroeschell gleichzeitig fest, dass „die Betonung des Alters“ ein Element
KROESCHELL, Recht und Rechtsbegriff 277–309; KÖBLER, Recht im frühen Mittelalter 195 ff.
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KROESCHELL, Recht und Rechtsbegriff 295.
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KROESCHELL, Recht und Rechtsbegriff 280.
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KROESCHELL, Recht und Rechtsbegriff 298.
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des antik-christlichen Consuetudo-Begriffs sei.78 Aus welchem Traditionsstrang auch immer stammend: Das Alter der Normen spielt jedenfalls im hochmittelalterlichen Rechtsdenken eine gewichtige Rolle. Das kann in einer nahezu vollständig auf dem Gewohnheitsrecht basierenden Rechtskultur nicht überraschen, denn eine gewisse Dauer unangefochtener Praxis muss jeder gewohnheitsrechtlichen Norm zukommen.79 Berücksichtigt man, dass Kern sein Diktum vom „guten, alten Recht“ keineswegs als „tatsächliche Feststellung“ gemeint hat, sondern lediglich als eine „Feststellung über das Rechtsbewusstsein im Bereich des gewohnheitsrechtlichen Herkommens“,80 dann erscheinen die Gegensätze zwischen dem von Kern gezeichneten Bild und der neueren Forschung in wesentlich milderem Lichte. In jüngster Zeit sind deshalb auch Stimmen laut geworden, die Kern ausdrücklich beipflichten.81
KROESCHELL, Recht und Rechtsbegriff; ebenso DERSELBE, Germanisches Recht als Forschungsproblem, in: DERSELBE. (Hrsg), Studien zum frühen und mittelalterlichen Deutschen Recht (Berlin 1995) 65–88: Die Merkmale des Alters und der Güte gehörten „zum römischen Begriff des Gewohnheitsrechtes, der Consuetudo“ (hier: 80).
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ELMAR WADLE, Gewohnheitsrecht und Privileg. Allgemeine Fragen und ein Befund nach Königsurkunden des 12. Jahrhunderts, in: GERHARD DILCHER ua (Hrsg), Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter (Berlin 1992) 117–148: „Das Attribute des Alters hat „die Aufgabe, die Legitimität einer Consuetudo zu unterstreichen oder zu schwächen. Beim bloßen Hinweis auf das Alter wird die Dauer betont, eine Eigenschaft, die der Consuetudo ohnehin zukommen muss, soll sie Gewohnheit sein.“ Siehe hierzu auch DIETMAR WILLOWEIT, Vom alten guten Recht. Normensuche zwischen Erfahrungswissen und Ursprungslegenden, in: LOTHAR GALL (Hrsg), Jahrbuch des historischen Kollegs 1997 (München 1998) 23–52; WINFRIED TRUSEN, Gutes altes Recht und consuetudo. Aus den Anfängen der Rechtsquellenlehre im Mittelalter, in: HANS HABLITZEL / MICHAEL WOLLENSCHLÄGER (Hrsg), Recht und Staat. FS für Günther Küchenhoff zum 65. Geburtstag (Berlin 1972) 189– 204; JÜRGEN WEITZEL, Der Grund des Rechts in Gewohnheit und Herkommen, in: DIETMAR WILLOWEIT (Hrsg), Die Begründung des Rechts als historisches Problem (München 2000) 137–152. 79
GERHARD DILCHER, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodischtheoretisches Problem, in: DERSELBE (Hrsg), Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter (Berlin 1992) 21–65, hier 36. 80
Siehe etwa ALEXANDER IGNOR, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow (Paderborn ua 1984) 112 ff. 81
Zur Geschichte des europäischen Datenschutzrechts* EVA SOUHRADA-KIRCHMAYER, Wien
I. Anfänge des Datenschutzrechts A. Zum Begriff „Datenschutz“1 Der Begriff des „Datenschutzes“ entwickelte sich in den 1960er und 1970er Jahren im Zusammenhang mit der zunehmenden Verwendung von Großrechnern. Datenschutz bezeichnet den Schutz des Einzelnen vor dem Missbrauch personenbezogener Daten. Unter „Daten“ sind nicht nur Name, Geburtsdatum oder Adresse zu verstehen, sondern generell Informationen über eine bestimmte Person. Dazu zählen auch Stimmaufnahmen sowie biometrische Daten, wie etwa Bilder und Fingerabdrücke. Der Bedarf der Gesellschaft an Informationen und das Interesse des Einzelnen am Schutz seiner Privatsphäre stehen einander gegenüber und sind im Einzelfall gegeneinander abzuwägen. Im englischen Sprachraum spricht man von privacy (Schutz der Privatsphäre) und von data privacy oder information privacy (Datenschutz im engeren Sinne). Im europäischen Rechtsraum wird in der Gesetzgebung vor Die Autorin war von 1979 bis 1982 Studien- und Vertragsassistentin und von 1982 bis 1983 Universitätsassistentin bei Herrn Univ. Prof. Dr. Werner Ogris. Nach weiteren Berufsjahren im Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung war sie seit 1991 im Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst tätig und leitete dort seit 2004 die Datenschutzabteilung; seit Juli 2010 leitet sie die Geschäftsstelle der Datenschutzkommission. Der gegenständliche Beitrag soll einen historischen Bogen vom Beginn des europäischen Datenschutzes bis zum gegenwärtigen Datenschutzrecht schlagen und somit auch eine Würdigung der gemeinsamen rechtshistorischen Vergangenheit mit Prof. Ogris darstellen. 1 Siehe dazu auch die Ausführungen von EVA SOUHRADA-KIRCHMAYER, Werden wir zu „gläsernen Menschen“?, in: ISABELLA ACKERL / JOHANN LEHNER / JOHANNES SACHSLEHNER (Hrsg), Wissen! Antworten auf unsere großen Fragen (Wien 2006) 314; vgl auch die Ausführungen auf der Website des Bundeskanzleramtes [http://www.bka.gv.at/site/5808/default.aspx] (28. 6. 2010) sowie zu „Datenschutz“ in Wikipedia [http://de.wikipedia.org/wiki/Datenschutz] (28. 6. 2010). *
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allem der Begriff data protection verwendet. Datenschutz steht für die Idee, dass jeder Mensch grundsätzlich selbst entscheiden kann, wem wann welche seiner persönlichen Daten zugänglich sein sollen. Der Datenschutz will den so genannten gläsernen Menschen verhindern. B. Erste Entwicklungen des Datenschutzrechts Ausgangspunkt der weltweiten Debatte um den Datenschutz sind die Pläne der US-Regierung unter John F. Kennedy Anfang der 1960er Jahre, ein Nationales Datenzentrum zur Verbesserung des staatlichen Informationswesens einzurichten. Dort sollten Daten aller US-Bürger registriert werden.2 Vor dem Hintergrund, dass es in den USA kein flächendeckendes Meldewesen gibt, wurde diese Planung in den nachfolgenden Debatten als Eingriff in das verfassungsrechtlich postulierte Right to be alone betrachtet. Eine große Rolle spielte dabei auch das bereits 1890 von Samuel D. Warren und dem späteren Bundesrichter Louis D. Brandeis entwickelte Right to Privacy,3 nach dem jedem Individuum das Recht zustehe, selbst zu bestimmen, inwieweit seine „Gedanken, Meinungen und Gefühle“, mithin personenbezogene Informationen, anderen mitgeteilt werden sollten. Das Vorhaben scheiterte im Kongress mit der Folge, dass Forderungen nach gesetzlichen Grundlagen für die Verarbeitung personenbezogener Daten laut wurden. Ergebnis war die Verabschiedung des Privacy Act – allerdings erst 1974 –, der Regeln für die Bundesbehörden einführte, die bereits die wesentlichen Prinzipien des Datenschutzes enthielten: Erforderlichkeit, Sicherheit, Transparenz. Überlegungen, das Gesetz allgemein auch auf den privaten Bereich auszudehnen, führten auf Grund eines Sachverständigengutachtens, das zum fatalen Ergebnis kam, der Wettbewerb würde dies regeln, nicht zum Erfolg. Über die amerikanische Debatte wurde auch in Europa berichtet. In Deutschland wurde Ende der 1960er Jahre nach einem Begriff gesucht, der die unmittelbare Übersetzung des Begriffs Privacy – (allgemeines) Persönlichkeitsrecht – wegen der kontroversen Debatte seit dem 19. Jahrhundert sowie seiner Sperrigkeit – vermeiden sollte. In Anlehnung an den Begriff „Maschinenschutz“ (Gesetzgebung zur Sicherheit von Arbeitsgerät) wurde in der Wissenschaft das Wort „Datenschutz“ geschaffen, das zunächst wegen seiner Missverständlichkeit (nicht die Daten werden geschützt, sondern die Menschen)
Vgl dazu die Ausführungen zur den Anfängen des Datenschutzes unter dem Stichwort „Datenschutz“ in [http://de.wikipedia.org/wiki/Datenschutz] (28. 6. 2010). 3 SAMUEL D. WARREN / LOUIS D. BRANDEIS, The Right to Privacy, Harvard Law Review IV (1890) 193–220. 2
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kritisiert wurde, jedoch inzwischen international gebräuchlich ist (data protection, protection des données usw). In der Bundesrepublik Deutschland verabschiedete Hessen 1970 als erstes Bundesland ein Datenschutzgesetz, im Jahr 1976 folgte das Bundesdatenschutzgesetz, die Schwerpunkte lagen in der Bestimmung der Voraussetzung für die Einführung von Datenschutzbeauftragten und der Vorrangstellung des Schutzes personenbezogener Daten. Landesdatenschutzgesetze waren 1981 für alle Bundesländer beschlossen. Ein Meilenstein war (in Deutschland) die Prägung des Begriffs des informationellen Selbstbestimmungsrechts, dh das Recht des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen, im Zusammenhang mit dem Volkszählungsurteil 1983.4 In Österreich wurde bereits 1967 von einer Datenverarbeitungsanlage zu Planungszwecken für das Bundesheer ausgegangen,5 jedoch fand die Frage des Datenschutzes bis zum Beginn der Siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts kaum Beachtung in der rechtswissenschaftlichen Diskussion.6 Dies, obwohl bereits die Regierungserklärung 1971 auf ein zu schaffendes Datenschutzgesetz Bezug nahm. Während der 1970-er Jahre wurde (ausgehend von der Diskussion in den USA) die zunehmende Speicherung und Verwendung von personenbezogenen Daten jedoch immer mehr hinterfragt und die Forderung nach Datenschutz wurde auch in Europa immer lauter. Nach intensiven und umfangreichen Vorarbeiten (die Regierungsvorlage zum DSG wurde 1975 beschlossen) wurde schließlich 1978 ein österreichisches Datenschutzgesetz (DSG) erlassen. Österreich war mit der Erlassung des DSG der neunte Staat weltweit, der den Datenschutz gesetzlich verankert hatte. Das erste Land, das über ein Datenschutzgesetz verfügte, war Schweden, welches 1973 ein entsprechendes Gesetz erließ, es folgten ua 1974 die USA mit dem Privacy Act, 1976 die Bundes-
Das Volkszählungsurteil ist eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 12. 1983 (AZ 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83), BVerfGE 65, 1, mit der das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der Menschenwürde etabliert wurde. 5 KARIN REIMANN, Der Datenschutz in Österreich – vom Datenschutzgesetz 1978 bis zum Datenschutzgesetz 2000 (DiplArb Graz 2001) 12. 6 Zur Geschichte des Datenschutzes in Österreich vgl auch GÜNTHER GROHMANN, Schadenersatz für den Bruch des Datengeheimnisses nach § 33 DSG 2000 (DiplArb Graz 2003) 4 ff. 4
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republik Deutschland mit dem Bundesdatenschutzgesetz sowie Datenschutzgesetze in Staaten wie Kanada, Australien (allerdings nur auf Länderebene), Neuseeland, Dänemark, Frankreich und Norwegen.7 Österreich befand sich insofern in einer Vorreiterrolle, als das DSG 1978 erstmals eine verfassungsrechtliche Verankerung des Datenschutzes als Grundrecht enthielt. Auf europäischer Ebene war ein solches Grundrecht bis zur Europäischen Grundrechtscharta nicht ausdrücklich vorgesehen; die datenschutzrechtliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) gründet sich auf Art 8 EMRK.8 1981 wurde auf Grund der Arbeiten des Europarates die Datenschutzkonvention des Europarates9 verabschiedet und damit ein datenschutzrechtlicher Meilenstein gesetzt. Mit dieser Konvention wurde erstmals ein verbindliches europaweites Datenschutzrechtsinstrument geschaffen. 1995 wurde die Europäische Datenschutzrichtlinie 1995/46/EG verabschiedet. Daneben wurden auch bereichsspezifische Datenschutzinstrumente, wie die sogenannte „ePrivacy-RL“,10 die wiederum auf einer Richtlinie (RL) aus dem Jahre 1997 beruht, geschaffen. Eine „Novellierung“ der ePrivacy-RL wurde durch die – höchst umstrittene – RL über die Vorratsdatenspeicherung11 vorgenommen. Im November 2008 wurde ergänzend im Bereich der so genannten „Dritten Säule“ ein Rahmenbeschluss über Datenaustausch im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit12 verabschiedet, der sich jedoch durch einen sehr eingeschränkten Anwendungsbereich aus-
GROHMANN, Schadenersatz 5; weiters siehe Datenschutzbericht 1981, Stellungnahme der österreichischen Bundesregierung, 23 ff. 8 Vgl die Rechtsprechung des EGMR zu Art 8 EMRK [http://www.echr.coe.int/ echr/Homepage_EN] (28. 6. 2010). 9 European Treaty Series (ETS) 108. 10 Siehe unten Kapitel C Punkt 4. 11 RL 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 3. 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der RL 2002/58/EG, ABl L 105, 54–63. Mit dieser RL werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, bestimmte Telekommunikations-Verbindungsdaten anlasslos mindestens ein halbes Jahr „auf Vorrat“ zu speichern, damit dies im Anlassfall (Begehung eines schweren Verbrechens) den staatlichen Behörden zur Verfügung stehen. 7
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Siehe dazu unten Kapitel C Punkt 5.
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zeichnet. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon13 wurden nicht nur das in der Grundrechtscharta enthaltene „Grundrecht auf Datenschutz“ rechtsverbindlich, sondern traten auch neue Kompetenzbestimmungen zum Datenschutz in Kraft. Die Europäische Kommission hat daher angekündigt, ein entsprechendes neues Datenschutzinstrument auszuarbeiten.14
II. Zur Datenschutzentwicklung in Europa A. Europaratskonvention ETS 108 Nach jahrelangen Vorarbeiten, die bis in das Jahr 1968 zurückgehen, hat der Europarat im Jahr 1981 ein Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten zur Unterzeichnung aufgelegt.15 Die Datenschutzkonvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der den Schutz und den grenzüberschreitenden Austausch personenbezogener Daten regelt.16 Die Konvention wurde am 28. Jänner 1981 von den damaligen Mitgliedstaaten des Europarats vereinbart und trat am 1. Oktober 1985 in Kraft. Am 28. Juni 2010 waren es 45 Staaten, die die Konvention 108 unterzeichnet hatten, und 42 Ratifikationen.17 Die Datenschutzkonvention des Europarates ist das bisher einzige verbindliche europaweite allgemeine Übereinkommen auf dem Gebiet des Datenschutzes.18 Die Konvention steht auch Nichtmitgliedstaaten des Europarates oder internationalen Organisatio-
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Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. 12. 2007, ABl C 306 vom 17. 12. 2007. 14 Dieses Vorhaben ist auch im so genannten „Stockholmer Programm“ verankert, siehe unten Kapitel D. 15 Diese Konvention wurde sofort von den Staaten BRD, Dänemark, Frankreich, Luxemburg, Österreich, Schweden und der Türkei unterzeichnet, siehe dazu Datenschutzbericht 1981, Stellungnahme der Bundesregierung, 24. 16 Die offizielle Bezeichnung lautet „Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten (Konvention Nr 108)“. 17 Siehe: [http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=108& CM=1&DF=&CL=ENG] (28. 6. 2010). 18 Auf die zahlreichen – rechtlich nicht verbindlichen – Empfehlungen des Europarates sowie die ebenfalls unverbindlichen OECD-Richtlinien und UN-Richtlinien kann im Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingegangen werden.
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nen zum Beitritt offen.19 Österreich hat die Datenschutzkonvention des Europarates 1981 unterzeichnet und am 30. März 1988 ratifiziert.20 Mit dem Übereinkommen wollten die unterzeichnenden Staaten den Datenschutz im Geltungsbereich der Konvention sicherstellen.21 Angesichts des zunehmenden grenzüberschreitenden Datenverkehrs sollte innerhalb der Unterzeichnerstaaten ein einheitliches Datenschutzniveau hergestellt werden. Im Hintergrund stand aber auch die Erwägung, dass ein übertriebener Datenschutz den Informationsaustausch zwischen den einzelnen Staaten hemmen könnte. Die unterzeichnenden Staaten wurden deshalb durch das Übereinkommen verpflichtet, die Rechte und Grundfreiheiten – insbesondere die Persönlichkeitsrechte – der in ihrem Hoheitsgebiet lebenden Menschen bei der automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten zu schützen und zugleich den freien Datentransfer in andere Unterzeichnerstaaten grundsätzlich zu erlauben. Die Konvention beinhaltet bestimmte elementare Datenschutzprinzipien, die in innerstaatliches Recht umzusetzen waren, darunter den Grundsatz der Datenverarbeitung nach Treu und Glauben, den Zweckbindungsgrundsatz, das Erforderlichkeitsprinzip sowie das Recht auf Auskunft des Betroffenen. Diese Grundsätze gelten jedoch nur für personenbezogene Daten, die automatisiert – also mit IT-Unterstützung – verarbeitet werden. Personenbezogene Daten, die ausschließlich manuell verarbeitet werden unterliegen nicht der Europäischen Datenschutzkonvention. Adressanten der Datenschutzkonvention waren die Mitgliedstaaten, die verpflichtet wurden, entsprechende innerstaatliche Gesetze zu erlassen (Non Self-Executing Treaty). Ende der 1990er Jahre wurde in dem auf Grundlage der Datenschutzkonvention eingerichteten Beratenden Ausschuss (T-PD) eine Änderung der Konvention vorbereitet, die den EG den Beitritt der Konvention ermöglicht; des Weiteren wurde ein Zusatzprotokoll zur Datenschutzkonvention erarbeitet. Letzteres sieht – wie die 1995 beschlossene RL 95/46/EG22 – die Einrichtung
Vgl dazu HERBERT AUERNHAMMER, Die europäische Datenschutz-Konvention und ihre Auswirkungen auf den grenzüberschreitenden Datenverkehr, Datenschutz und Datensicherheit 1985, 7–11. 20 BGBl 1988/317. Ausschlaggebend für die späte Ratifikation war der Umstand, dass vorerst die Novellierung des DSG abgewartet wurde, 175 BlgNR 17. GP. 21 Siehe dazu auch die Ausführungen zur Europäischen Datenschutzkonvention in [http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Datenschutzkonvention] (28. 6. 2010). 22 Sog „Datenschutzrichtlinie“, siehe Kapitel C. 19
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einer unabhängigen Kontrollstelle vor und enthält weiters Regelungen für den Datentransfer in Drittstaaten. Diese Rechtsinstrumente wurden 2001 beschlossen.23 Dass Zusatzprotokoll wurde inzwischen von 41 Staaten unterschrieben und 28 Staaten ratifiziert.24 In den 1980er und 1990er Jahren verabschiedete der Europarat auch eine Reihe von bereichsspezifischen Empfehlungen, die in einem Datenschutzexpertenkomitee25 des Europarates ausgearbeitet wurden.26 2004 wurden der Beratende Ausschuss und das Expertenkomitee fusioniert. Der Beratende Ausschuss nimmt seither auch Kompetenzen der „Projektgruppe“ wahr.27 B. OECD-Leitlinien und UN-Richtlinien Im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wurden im September 1980 Datenschutzleitlinien28 beschlossen, deren Inhalt in etwa den materiell-rechtlichen Grundsätzen der diesbezüglichen Konvention des Europarates vergleichbar ist. Die Annahme dieser Leitlinien erfolgte durch 18 der damals 24 Mitgliedstaaten der OECD – auch Österreich hatte sich für die Verabschiedung ausgesprochen.29 Die Vereinten Nationen beschlossen 1990 ebenfalls Richtlinien für den Bereich automationsunterstützt verarbeiteter personenbezogener Daten.30 Allerdings ist ein Beitritt der EG bzw der EU bislang nicht erfolgt. Siehe: [http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=181& CM=2&DF=&CL=ENG] (28. 6. 2010). 25 So genannte „Projektgruppe Datenschutz“ (CJ-PD). 26 Bisher wurden dreizehn Empfehlungen beschlossen, zB Recommendation No R (2002) 9 on the protection of personal data collected and processed for insurance purposes (18. 9. 2002), Recommendation No R (99) 5 for the protection of privacy on the Internet, Recommendation No R (97) 18 on the protection of personal data collected and processed for statistical purposes (30. 9. 1997), Recommendation No R (97) 5 on the protection of medical data. Recommendation No R (87) 15 regulating the use of personal data in the police sector (17. 9. 1987). Siehe [http://www.coe. int/t/dghl/standardsetting/dataprotection/Legal_instruments_en.asp] (28. 6. 2010). 27 Beispielsweise wurde im Juni 2010 vom Ausschuss die Arbeit an einer „Recommendation on the protection of individuals with regard to automatic processing of personal data in the context of profiling“ abgeschlossen. 28 [http://www.oecd.org/document/18/0,3343,en_2649_34255_1815186_1_1_1_1,00. html] (28. 6. 2010). 29 Datenschutzbericht 1981, Stellungnahme der Bundesregierung, 27. 30 Resolution of the General Assembly at its 68th plenary meeting v. 14. 12. 1990 – A/RES/45/95; [http://ec.europa.eu/justice_home/fsj/privacy/instruments/un_en. htm] (28. 6. 2010). 23 24
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C. Entwicklung des Datenschutzrechts in der EG/EU31 1. Erste Regelungsinitiativen Bereits 1974 hatte der Abgeordnete Lord Mansfield zu einer Zeit, als noch kein Mitgliedstaat der EG über ein DSG verfügte, darauf hingewiesen, dass Gemeinschaftsaktionen auf dem Gebiet des Datenschutzes ins Auge zu fassen seien, da die Datenverarbeitung nicht an nationalen Grenzen haltmache.32 In den folgenden Jahren verabschiedete das Parlament einige Resolutionen, in denen der Standpunkt des europäischen Parlaments angesichts der Entwicklung des Datenschutzes in Europa deutlich zum Ausdruck kommt.33 Die Kommission wurde nachdrücklich aufgefordert, einen Richtlinienvorschlag zur Angleichung der Rechtsvorschriften im Bereich des Schutzes personenbezogener Daten auszuarbeiten.34 Die Kommission begnügte sich zunächst mit einer Empfehlung vom 29. Juni 1981 an die Mitgliedstaaten, die Datenschutzkonvention des Europarats bis zum Ende des Jahres 1981 zu zeichnen und bis Ende 1982 zu ratifizieren.35 Sie behielt sich in ihrer Empfehlung vor, eine Richtlinie vorzuschlagen, wenn die EG-Mitgliedstaaten der Konvention des Europarats nicht innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens beiträten. Zum Ende des Jahres 1982 hatte kein einziger Mitgliedstaat der EG die Konvention ratifiziert. Das Thema „Datenschutz“ verschwand danach weitgehend von der Agenda der EG-Institutionen.36 Was auf den ersten Blick reichVgl dazu EVA SOUHRADA-KIRCHMAYER, Der Vorschlag einer allgemeinen EGDatenschutzrichtlinie und seine Auswirkungen auf das österreichische DSG, JBl 1995, 147–158. 32 Vgl FERDINAND KOPP, Das EG-Richtlinienvorhaben zum Datenschutz, Recht der Datenverarbeitung 1993, 1–10. Vgl auch die Stellungnahme der österreichischen Bundesregierung aus Anlass der Datenschutzberichte 1987, 1989 und 1991, 2. 33 Entschließung zum Schutz der Rechte des einzelnen angesichts der fortschreitenden Entwicklung auf dem Gebiet der automatischen Datenverarbeitung, ABl C 60/48 vom 13. 3. 1975; Entschließung zum Schutz der Rechte des einzelnen angesichts der fortschreitenden technischen Entwicklung auf dem Gebiet der Datenverarbeitung, ABl C 140/34 vom 5. 6. 1979, und die Entschließung zum selben Thema, ABl C 87/39 vom 5. 4. 1982. 34 KOPP, EG-Richtlinienvorhaben, 2. 35 Empfehlung der Kommission vom 29. 6. 1981 betreffend ein Übereinkommen des Europarats zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten, ABl L 241/31. 36 REINHARD ELLGER, Datenschutz und europäischer Binnenmarkt, Recht der Datenverarbeitung 1991, 57–65, hier 60; kritisch zum „Schweigen der Kommission“ auch REINHARD RIEGEL, Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit am Beispiel 31
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lich merkwürdig anmutet, spiegelt in Wirklichkeit nur die höchst unterschiedlichen Ausgangspunkte von Parlament und Kommission wider. Während das Europäische Parlament die unter dem wachsenden Einfluss der EDV sich radikal verändernden Verarbeitungsbedingungen ganz aus der Perspektive ihrer möglichen Konsequenzen für die Rechte der einzelnen betrachtete, war für die Europäische Kommission der Gemeinsame Markt Handlungsprämisse und Handlungsziel.37 Ihr kam es daher zuvörderst darauf an, bestehende Hindernisse eines freien Warenverkehrs zu beseitigen und neue gar nicht erst entstehen zu lassen. So gesehen war aus ihrer Sicht die Vorstellung, den Umgang mit personenbezogenen Daten gezielt einzuschränken, nicht nur lästig, sondern schlicht kontraproduktiv.38 Dass die Kommission nach etwa zehn Jahren „Schweigen“ schließlich tätig wurde, wurde mit der politischen Entwicklung, der Verabschiedung der einheitlichen Europäischen Akte 1986 (EEA), der Vollendung des Binnenmarktes und der sich abzeichnenden EU begründet.39 Auch unter dem Gesichtspunkt der Grundrechtsverwirklichung war die EG in neue Verantwortung gewachsen,40 auf die die Kommission zu reagieren hat. Am 18. Juni 1990 wurde schließlich der Vorschlag eines RL-Entwurfes als Kernstück eines ganzen Paketes von Maßnahmen zum Datenschutz in der EG dem Rat vorgelegt.41 Am 16. Oktober 1992 hat die Kommission einen geänderten Entwurf für eine Richtlinie des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr vorgelegt.42 Mit der Vorlage eines geänderten Entwurfes einer „Datenschutzrichtline“ im Oktober 1992 reagierte die Kommission gemäß dem im EWGV vorgeschriebenen Kooperationsverfahren (Art 149 Abs 2 EWGV) auf die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 24. April 199143 und die fast 120 Änderungsanträge, die das europäische Parlament nach langwierigen, größtenteils sehr kontrovers geführten Verhandlungen auf der Grundlage des
des Datenschutzrechts der Europäischen Gemeinschaft, Die öffentliche Verwaltung 1991, 311–319, hier 315. 37 ULRICH DAMMANN / SPIROS SIMITIS, EG-Datenschutzrichtlinie, Kommentar (Baden-Baden 1997) 61. 38 DAMMANN / SIMITIS, EG-Datenschutzrichtlinie 61 f. 39 KOPP, EG-Richtlinienvorhaben 2. 40 Vgl BVerfG 22. 10. 1986 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 – Solange II. 41 KOM (90) 314 endg – SYN 287 – 288, vom 13. 9. 1990. 42 KOM (92) 422 endg – SYN 287; ABl EG C 311 vom 27. 11. 1992. 43 ABl C 159 vom 17. 6. 1991, 38.
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Berichts des Ausschusses für Recht und Bürgerrechte44 nahezu einstimmig am 11. März 1992 zum ursprünglichen Entwurf verabschiedet hat.45 Der von der Kommission vorgelegte „geänderte Vorschlag“ bildete die Basis für die weiteren Verhandlungen in der Arbeitsgruppe des Rates „Wirtschaftsfragen“ (Datenschutz) zur Vorbereitung des „gemeinsamen Standpunktes“ des Rates.46 Einer der Gründe für das lange Zögern der Kommission war die ungeklärte Kompetenzfrage.47 Eine Norm, die der Gemeinschaft ausdrücklich die Kompetenz zuweist, den Datenschutz sicherzustellen, gab es nicht.48 Mit der EEA wurde durch die Einführung der Artikel 130f – 130q in den EWGV lediglich die Basis für die technologische und wirtschaftliche Seite der Informationsverarbeitung geschaffen. Unstreitig wurde eine Kompetenz zur Regelung des Datenschutzes lediglich unter dem Gesichtspunkt der Rechtsharmonisierung gemäß (des damaligen) Art 100, 100a EWGV und als Annexkompetenz zu Vertragsbestimmungen angenommen, die die Informationsfreiheit oder den Abbau von Wettbewerbsverzerrungen betreffen. Die Kompetenz der EG zum Tätigwerden nach Art 235 EWGV49 stand zu den Einzelermächtigungen des Vertrages im Verhältnis „der Subsidiarität“.50 Die Kommission entschied sich daher, Art 100a iVm Art 8a EWGV (Binnenmarkt), die durch die Einheitliche Europäische Akte in den EWGV eingefügt wurden, sowie (ursprünglich auch) Art 113 EWGV (gemeinsame Handelspolitik) als Grundlage heranzuziehen.51 Es wurde also eine Zuständigkeit der EG für die Har-
Hoon-Bericht, PE 148. 286. Vgl Protokoll der Sitzung vom 11. 5. 1992, PE 160.503. 46 Zur Zeit der Beschlussfassung der RL Art 189b Abs 2 EGV. 47 Zur Frage der Kompetenz der EG, datenschutzrechtliche Regelungen zu erlassen, vgl REINHARD ELLGER, Der Datenschutz im grenzüberschreitenden Datenverkehr. Eine rechtsvergleichende und kollisionsrechtliche Untersuchung (= Wirtschaftsrecht der Internationalen Telekommunikation 14, Baden-Baden 1990) 543; SPIROS SIMITIS, Datenschutz und Europäische Gemeinschaft, Recht der Datenverarbeitung 1990, 13; KOPP, EG-Richtlinienvorhaben, 2. 48 SIMITIS, Datenschutz 14. 49 Zur Zeit der Beschlussfassung der RL Art 235 EGV. 50 EBERHARD GRABITZ (Hrsg), Kommentar zum EWG-Vertrag (München 1986, 4. Ergänzungslieferung 1990) Rz 39 zu Art 235. Vgl dazu insbesondere die ErasmusEntscheidung des EuGH vom 30. 5. 1989, Rs242/87, 13. 51 Siehe Präambel des Richtlinienvorschlages. Der Richtlinienvorschlag wurde noch auf der Basis des EWGV erstellt. Nach Inkrafttreten des EGV waren Art 100a iVm Art 189b, Art 7a und Art 113 EGV als Rechtsgrundlage heranzuziehen (Art 113 wurde in der RL nicht mehr ausdrücklich erwähnt). 44 45
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monisierung des Datenschutzes nach Art 100a EWGV angenommen, weil die Verarbeitung personenbezogener Daten, die durch datenschutzrechtliche Bestimmungen geregelt wird, vielfach als Hilfsinstrument im Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr eingesetzt wurde.52 Dies war insofern beachtlich, als noch gar nicht alle EG-Mitgliedstaaten über nationale DSG verfügten, die harmonisiert hätten werden können.53 Auch der EUV enthielt keine ausdrückliche Kompetenz für den Datenschutz. Allerdings wurde das Verfahren als sog „Mitentscheidungsverfahren“ fortgesetzt.54 Die verschiedenen Blickpunkte der Institutionen spiegeln sich auch in dem umständlichen Titel der DS-RL wider.55 2. Die „Datenschutzrichtlinie“ 95/46/EG (DS-RL)56 Die DS-RL nimmt in ihrem 11. Erwägungsgrund ausdrücklich auf die Datenschutzkonvention des Europarates Bezug und geht davon aus, dass die RL über das Niveau der Datenschutzkonvention hinausgeht. Insbesondere wurde davon ausgegangen, dass die in der Konvention enthaltene Regelung über den freien Datenfluss (Art 12 der Konvention) wegen ihrer Ausnahmen nicht für die Bedürfnisse des Binnenmarktes ausreichte, und strebte eine Harmonisierung auf höherem Niveau durch die Richtlinie an.57 Was den Gegenstand betrifft, so geht die DS-RL einerseits über die Europaratskonvention 108 hinaus, andererseits ist der Anwendungsbereich im Vergleich zur Konvention beschränkt. Gemäß Art 3 Abs 1 DS-RL wenden die Mitgliedstaaten die Bestimmungen dieser Richtlinie auf die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie auf die
ELLGER, Grenzüberschreitender Datenverkehr 548. Italien und Griechenland verfügten im Zeitpunkt der RL-Beschlussfassung noch über kein nationales DSG. 54 Nach Art 100a iVm 189b des am 1. 11. 1993 in Kraft getretenen EUV war in weiterer Folge die Beschlussfassung im „Mitentscheidungsverfahren“ vorgesehen. 55 RL 95/46/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr. 56 RL 95/46/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl L 281, 31–50. 57 WALTER DOHR / MARGIT SAUTNER, Datenschutzaspekte des transnationalen Datenverkehrs, Lehrunterlage im Rahmen des Community Action Programme in Education and Training for Technology (COMETT II)-Projekts an der TU Wien (Wien 1992) 30. 52 53
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nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten an, die in Dateien gespeichert sind oder gespeichert werden sollen. Damit geht die RL über die Europaratskonvention hinaus, die nur auf automationsunterstützte Datenverarbeitung abstellt. Gemäß Art 3 Abs 2 DS-RL finden die Bestimmungen dieser Richtlinie keine Anwendung auf Verarbeitungen für die Ausübung von Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, und Verarbeitungen personenbezogener Daten durch eine natürliche Person für die Ausübung ausschließlich privater und persönlicher Tätigkeit. Diese – ausschließlich aus Kompetenzgründen gegebene – Einschränkung auf die „Erste Säule“ führte dazu, dass auf europäischer Ebene die Europaratskonvention (trotz des inzwischen beschlossenen Rahmenbeschlusses zum Datenaustausch im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit)58 bis heute das einzige verbindliche Rechtsinstrument blieb, das umfassend alle Bereiche – insbesondere also auch den Bereich der ehemaligen „Dritten Säule“ – abdeckt. Was den Inhalt der DS-RL betrifft, so bestimmten im Wesentlichen drei Eckwerte Aufbau und Inhalt der RL:59 Erstens die Reduktion der Verarbeitung personenbezogener Daten auf das Unvermeidbare. Die Zweckbindung steht im Mittelpunkt der Verarbeitungsgrundsätze. Sie begrenzt die Zugriffsmöglichkeiten, schränkt den Verarbeitungsradius ein und legt die Verwendungsdauer fest. Die Datenverarbeitung ist nur in dem Umfang legitimiert, in dem die jeweils in Betracht kommenden Aufgaben für den je spezifischen Zweck jeweils relevant sind. Zweitens wird höchstmögliche Transparenz vorgesehen. Dementsprechend ist eine Informationsverpflichtung des „für die Verarbeitung Verantwortlichen“60 gegenüber dem Betroffenen über eine beabsichtigte Datenverarbeitung vorgesehen. Auch die Meldepflicht von Datenverarbeitungen an die unabhängige Kontrollstelle ist unter dem Gesichtspunkt der Transparenz zu sehen. Bezüglich besonders „riskanter“ Datenverarbeitungen wird auch eine Vorabkontrolle der Kontrollstelle vorgesehen, was bedeutet, dass mit der Verarbeitung im Prinzip erst begonnen werden darf, wenn die Kontrollstelle „grünes Licht“ gegeben hat. Drittens wird eine möglichst effiziente Verarbeitungskontrolle vorgesehen. Dem Betroffenen werden die – schon bisher allgemein anerkannten – subjektive Rechte zugestanden, nämlich das Recht auf Auskunft (über die zum Betroffenen verarbeiteten Daten), das Recht auf Richtigstellung unrichtiger Daten bzw. Siehe dazu unten Punkt 5. DAMMANN / SIMITIS, EG-Datenschutzrichtlinie 79 ff. 60 Nach österreichischer Terminologie wäre das der „Auftraggeber“. 58 59
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zur Löschung von Daten, die nicht (mehr) verarbeitet werden dürfen. Darüber hinaus wird erstmals dem Betroffenen auch in bestimmten Fällen ein Widerspruchsrecht eingeräumt. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine Datenverarbeitung nicht gesetzlich vorgesehen ist, aber grundsätzlich zulässig ist und nicht auf der Einwilligung des Betroffenen basiert. Die DS-RL sieht eine besondere Kontrollinstanz vor, die „völlig unabhängig“ zu sein hat.61 Diese Kontrollstelle hat neben Untersuchungs- und Einwirkungsbefugnissen auch ein Klagerecht. Sie muss über ein uneingeschränktes Zugangs- und Auskunftsrecht verfügen wie über Befugnisse, die eine Korrektur der Verarbeitungsprozesse wirklich erlauben. Weiters wird auf europäischer Ebene eine „Datenschutzgruppe“ eingerichtet, die zur Beratung der Europäischen Kommission eingerichtet ist und sich aus Vertretern der nationalen Datenschutzbehörden zusammensetzt.62 Die Richtlinie war bis 24. Oktober 1998 umzusetzen, was nur wenige Mitgliedstaaten zeitgerecht geschafft haben.63 Inzwischen verfügen alle Mitgliedstaaten (sowie auch die EWR-Staaten) über entsprechende datenschutzrechtliche Regelungen. 3. Der Vertrag von Amsterdam und die Verordnung 45/2001/EG64 Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde im Kapitel „Allgemeine und Schlussbestimmungen“ die Norm des Artikel 286 EGV geschaffen, der eine Zuständigkeit für die Schaffung von Rechtsakten der Gemeinschaft über den Schutz natürlicher Personen und dem freien Verkehr solcher Daten auf die „durch diesen Vertrag errichteten Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft Anwendung“ findet.65 Art 286 EGV erstreckt somit den in den Daten-
Art 28 DS-RL. So genannte „Art 29–Gruppe“, weil sie auf Art 29 der DS-RL basiert. 63 Als erste haben Italien und Griechenland die DS-RL umgesetzt, die zuvor noch gar keine Datenschutzgesetze hatten. 64 Verordnung (EG) Nr 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. 12. 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr, ABl L 8 vom 12. 1. 2001, 1–22. 65 Diese Bestimmung lautet: 61 62
Artikel 286 (ex-Artikel 213 b) (1) Ab 1. Januar 1999 finden die Rechtsakte der Gemeinschaft über den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und dem freien Verkehr solcher Daten auf die durch diesen Vertrag oder auf der Grundlage dieses Vertrags errichteten Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft Anwendung.
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schutzrichtlinien enthaltenen Standard auf die Gemeinschaftsorgane.66 Art 286 Abs 2 EGV begründet eine Gesetzgebungskompetenz der Union. In weiterer Folge wurde vom Europäischen Parlament und vom Rat eine Verordnung verabschiedet, die den Datenschutz für die Organe und Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft regelt und insbesondere auch eine unabhängige Kotrollbehörde, den Europäischen Datenschutzbeauftragten, vorsieht. Der Europäische Datenschutzbeauftragte (EDSB) ist eine unabhängige Behörde, deren Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass der Schutz personenbezogener Daten und der Privatsphäre gewährleistet ist und bewährte Verfahren in den Organen und Einrichtungen der EU gefördert werden. Die Behörde erfüllt diese Aufgabe, indem sie einerseits die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die EU-Verwaltung überwacht, andererseits in Bezug auf politische Maßnahmen und Rechtsvorschriften, die sich auf den Schutz der Privatsphäre auswirken, beratend tätig ist und schließlich auch mit vergleichbaren Behörden zusammenarbeitet, um einen kohärenten Datenschutz sicherzustellen. De facto übt der EDSB vor allem auch durch seine Stellungnahmen zu datenschutzrelevanten Rechtsvorhaben der EU einen bedeutenden Einfluss auf die europäische Rechtssetzung aus.67 4. Bereichsspezifische Regelungen Ein weiterer wichtiger Richtlinienentwurf aus dem „Datenschutzpaket“ war der Entwurf einer „Telekom-Datenschutzrichtlinie“. Eine entsprechende RL, die 1997 beschlossen wurde,68 wurde inzwischen 2002 durch die RL zur Wahrung des Datenschutzes in der elektronischen Kommunikation (sog ePrivacyRichtlinie)69 ersetzt. Letztere wurde durch die noch immer kontroverse
(2) Vor dem in Absatz 1 genannten Zeitpunkt beschließt der Rat gemäß dem Verfahren des Artikels 251 die Errichtung einer unabhängigen Kontrollinstanz, die für die Überwachung der Anwendung solcher Rechtsakte der Gemeinschaft auf die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft verantwortlich ist, und erläßt erforderlichenfalls andere einschlägige Bestimmungen. 66 Näheres siehe THORSTEN KINGREEN, Art 286, in: CHRISTIAN CALLIESS / MATTHIAS RUFFERT (Hrsg), EUV/EGV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta. Kommentar3 (München 2007) 2332 ff. 67 Näheres siehe [http://www.edps.europa.eu/EDPSWEB] (28. 6. 2010). 68 RL 97/66/EG vom 15. Dezember 1997 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre im Bereich der Telekommunikation, ABl L 24, 1–8. 69 RL 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 7. 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der
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Richtlinie 2006/24/EG zum Zwecke der Vorratsspeicherung70 geändert. Eine weitere Novellierung erfuhr die ePrivacy-Richtlinie 2009 durch das sogenannte „Telekom-Paket“, ein Richtlinienpaket zur Novellierung des Regulierungsrahmens für Telekommunikationsnetze. Dies ist eigentlich ein Bündel aus fünf Richtlinien auf EU-Ebene, in denen eine europäische Telekommunikationsrahmengesetzgebung geschaffen wurde. In Art 2 der endgültig verabschiedeten RL wird die „ePrivacy-RL“ geändert.71 Darüber hinaus sind insbesondere die bereichsspezifischen Regelungen im Bereich der ehemaligen „Dritten Säule“ zu erwähnen, die besondere Regelungen im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit beinhalten. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang zunächst insbesondere die Zusammenarbeit der EU-Staaten im Rahmen des Schengener Übereinkommens und des Schengener Durchführungsübereinkommens. Die Schengener Abkommen stehen für eine inzwischen weitverzweigte Rechtsentwicklung, deren Kernbereich die Abschaffung der stationären Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Schengenstaaten darstellt. Die ursprünglichen Schengener Abkommen werden jedoch inzwischen fast vollständig durch verschiedene andere Rechtsakte ersetzt oder überlagert. Die Rudimente dieser Abkommen und das darauf aufbauende Recht bilden den sogenannten Schengener Besitzstand, der häufig auch als Schengen-Acquis bezeichnet wird. Der „Schengener Besitzstand“ bildet einen wesentlichen Pfeiler des „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ der Europäischen Union. 72
elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) ABl L 201 vom 31. 7. 2002, 37–47. 70 Siehe oben FN 11. 71 RL 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. 11. 2009, zur Änderung der RL 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten, der RL 2002/58/EG über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation und der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz, ABl L 337 vom 18. 12. 2009, 11–36. 72 Das erste Schengener Abkommen war das „Übereinkommen vom 14. 6. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen. In diesem Schengener Übereinkommen vereinbarten fünf europäische Staaten, perspektivisch auf Kontrollen des Personenverkehrs an ihren gemeinsamen Grenzen zu verzichten. Das Abkommen sollte die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes vorantreiben und ist nach dem luxemburgischen Ort Schengen benannt, wo es unterzeichnet wurde. Zur prak-
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Die Tätigkeit des europäischen Polizeiamtes Europol ist im sog. „EuropolBeschluss“73 festgelegt, der die ursprüngliche „Europol-Konvention“ ablöste. Eurojust oder Europäische Einheit für justizielle Zusammenarbeit ist die europäische Justizbehörde mit Sitz in Den Haag.74 Eurojust koordiniert grenzüberschreitende Strafverfahren auf EU-Ebene. Des Weiteren soll sie die Arbeit der nationalen Justizbehörden Europas im Bereich der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität im Allgemeinen koordinieren und den Informationsaustausch zwischen den nationalen Justiz- und Polizeibehörden fördern. Arbeitsbereiche sind unter anderem die Terrorismusbekämpfung, die Bekämpfung und Prävention des illegalen Waffenhandels, des Drogenhandels, des Menschenhandels, der 75 Kinderpornografie und der Geldwäsche.
tischen Umsetzung der politischen Vereinbarungen wurde am 19. 6. 1990 ebenfalls in Schengen das „Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985“ unterzeichnet. Nach mehreren Verzögerungen, unter anderem auch verursacht durch die deutsche Wiedervereinigung, wurde dieses kurz Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) genannte Abkommen erst am 26. 3. 1995 tatsächlich in Kraft gesetzt. Im Vertrag von Amsterdam (2. 10. 1997) wurde beschlossen, das Übereinkommen von Schengen in das EU-Recht zu integrieren. Dies wurde am 1. 5. 1999 umgesetzt. Die Folge ist, dass alle folgenden Neumitglieder der EU das Schengen-Abkommen unterzeichnen mussten/müssen. Das Vereinigte Königreich und Irland setzten eine Ausnahmeregelung durch und führen weiterhin Kontrollen an ihren Grenzen durch. Aufgrund des Schengen-Protokolls wurde das Schengener Abkommen in den rechtlichen Rahmen der EU überführt. Seither sind die Organe der EU für die Fortentwicklung des Schengener Rechts verantwortlich, ohne dass dieses notwendigerweise in allen Mitgliedstaaten gilt. Siehe dazu [http://de.wikipedia.org/wiki/Schengener_Abkommen] (28. 6. 2010); [http://europa.eu/legislation_summaries/justice_freedom_security/free_movement_ of_persons_asylum_immigration/l33020_de.htm] (28. 6. 2010). 73 Beschluss des Rates vom 6. 4. 2009 zur Errichtung des Europäischen Polizeiamtes (Europol), ABl L 121 vom 15. 5. 2009, 37 ff. 74 Beschluss des Rates vom 28. 2. 2002 über die Errichtung von Europol zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität, ABl L 63, 1–13, zuletzt geändert mit Beschluss 2009/426/JI des Rates, ABl L 138, 14–32. 75 Auf Grundlage einer Vereinbarung des Europäischen Rates in Tampere im Herbst 1999 wurde Eurojust mit Beschluss des Rates der Europäischen Union vom 28. 2. 2002 gegründet und nahm wenige Monate später seine Arbeit auf.
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5. Der Rahmenbeschluss 2008/977/JI76 Da die DS-RL aus Kompetenzgründen nur auf den Bereich der „Ersten Säule“ anwendbar war, wurde in den letzen Jahren der Wunsch nach einem europaweiten Datenschutzinstrument im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit laut. Die Europäische Kommission legte im Jahre 2006 einen Entwurf vor, der in weiterer Folge in der Multidisziplinären Gruppe „Organisierte Kriminalität“77 behandelt wurde. Der Entwurf unterlag grundsätzlichen Umgestaltungen – so etwa legte die deutsche Präsidentschaft einen komplett neuen Entwurf vor, der Basis für weitere Verhandlungen darstellte. Besonders strittig war die Reichweite des Anwendungsbereiches und die damit zusammenhängende Kompetenzfrage. Da der Rahmenbeschluss nur einstimmig beschlossen werden konnte, einigte man sich schließlich auf eine Minimallösung. Dementsprechend ist der Rahmenbeschluss auf jene Daten anzuwenden, die zwischen Mitgliedstaaten übermittelt oder bereitgestellt werden, die von den Mitgliedstaaten an Behörden oder Informationssysteme der EU78 übermittelt werden oder von jenen an die Behörden der Mitgliedstaaten übermittelt oder bereit gestellt werden.79 Informationen, die von den Ländern selbst verarbeitet werden, bleiben aus dem Regelungsbereich ausgenommen.80 Im Übrigen enthält der Rahmenbeschluss ähnliche Bestimmungen wie die DS-RL, wenngleich doch mit erheblichen Einschränkungen. Kritiker weisen darauf hin, dass bestimmte Regelungen hinter die Bestimmungen der DS-RL und das Europaratsübereinkommen samt Zusatzprotokoll zurückfallen.81
Rahmenbeschluss 2008/977/JI des Rates vom 27. 11. 2008 über den Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen verarbeitet werden, ABl L 350, 60–71. 77 Es handelte es sich um eine Ratsarbeitsgruppe, in der primär Vertreter aus dem Bereich Inneres und Justiz teilnahmen. 78 Soweit solche Behörden oder Informationssysteme aufgrund von Titel VI EUV errichtet worden sind. 79 Art 1 Abs 2 des zitierten Rahmenbeschlusses. 80 Hiefür gilt allerdings die Datenschutzkonvention des Europarates, die von allen Mitgliedstaaten der EU ratifiziert wurde. 81 Vgl etwa Europäischer Datenschutzbeauftragter (EDSB), „Dritte Stellungnahme des EDSB zu dem Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über den Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen verarbeitet werden“, ABl C 139/1–10. Kritisch auch PETER SCHAAR in seiner Rede, die er am 30. 1. 2009 anlässlich des Europäischen Daten76
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D. Der Vertrag von Lissabon und die Folgen Mit 1. Dezember 2009 ist nach langem Ringen der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten.82 Damit ist die Grundrechtscharta (GrCh), die seit dem Vertrag von Nizza als „soft law“ bestand, rechtsverbindlich geworden. Artikel 8 GrCh garantiert ein vom Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 7 GrCh) abgekoppeltes Grundrecht auf Datenschutz und legt wesentliche Grundprinzipien für den Schutz personenbezogener Daten fest, wie etwa die der rechtmäßigen Verarbeitung, ein Auskunftsrecht und die Einhaltung dieses Grundrechtes durch unabhängige Behörden. Daneben statuiert der neugeschaffene Artikel 16 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in Wiederholung von Artikel 8 der Grundrechtscharta in Abs 1 den Grundsatz auf Schutz personenbezogener Daten nebst der Vorgabe der Überwachung durch unabhängige Behörden (Absatz 2). Abs 2 sieht vor, dass das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Vorschriften „über den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organen Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie durch die Mitgliedstaaten im Rahmen der Ausübung von Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, und über den freien Datenverkehr“ erlassen. Der allgemeine und horizontale Charakter dieser Norm wird insbesondere durch die Platzierung in Titel II – Allgemein geltende Bestimmungen“ – innerhalb des AEUV unterstrichen. Damit wird eine über Art 286 Abs 2 EGV hinausgehende „Gesetzgebungskompetenz“ der Union geschaffen.83 Diese neue Rechtsgrundlage ist damit eine Kompetenzzuweisungsnorm zum Schutze natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sowohl durch die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union als auch durch die Mitgliedstaaten. Damit gibt es erstmals eine einheitliche Rechtsgrundlage für die Datenschutzregelungen im Bereich der bisherigen Ersten und Dritten Säule. Ein ebenfalls neu geschaffener Artikel 39 EUV führt eine Rechtsgrundlage zur Verarbeitung personenbezogener schutztages in Wien gehalten hat, [http://www.bka.gv.at/DocView.axd?CobId= 33582] (28. 6. 2010). 82 Vgl auch die Ausführungen von THOMAS ZERDICK, Folgerungen aus der Vergemeinschaftung der Justiz- und Innenpolitik für den Datenschutz, überarbeitete und insbesondere durch Fundstellen ergänzte Fassung eines Redebeitrages, Dokumentation der Fachtagung „Datenschutz in Deutschland nach dem Vertrag von Lissabon“ am 9. 12. 2008 [http://www.datenschutz.hessen.de/europa.htm] (28. 6. 2010). 83 Siehe dazu auch KINGREEN, Art 286, in: CALLIESS / RUFFERT (Hrsg), EUV/EGV, 2334.
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Daten durch die Mitgliedstaaten in der GASP ein. Artikel 39 verweist auf Artikel 16 AEUV und sieht eine davon abweichende Beschlussfassung allein durch den Rat vor. Zu Art 16 ergingen Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat.84 Weiters haben sich das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark besondere Opt-out-Regelungen für den Bereich des Datenschutzes in der ehemaligen Dritten Säule ausbedungen.85 Die Europäische Kommission muss nunmehr aufgrund von Art 16 AEUV tätig werden. Dies ist auch im sog. „Stockholmer Programm“86 und dem darauf aufbauenden „Aktionsplan der Europäischen Kommission zur Umsetzung des Stockholmer Programms“87 vorgesehen. Seitens der Kommission dürfte beabsichtigt sein, sich nicht mit Anpassungen in bestehenden Regelwerken zu begnügen, sondern einen komplett neuen Regelungsentwurf vor-
84
Diese lauten:
20. Erklärung zu Artikel 16 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Die Konferenz erklärt, dass immer dann, wenn Bestimmungen über den Schutz personenbezogener Daten, die auf der Grundlage von Artikel 16 zu erlassen sind, direkte Auswirkungen auf die nationale Sicherheit haben könnten, dieser Umstand gebührend zu berücksichtigen ist. Sie weist darauf hin, dass die derzeit geltenden Rechtsvorschriften (siehe insbesondere RL 95/46/EG) besondere Ausnahmeregelungen hierzu enthalten. 21. Erklärung zum Schutz personenbezogener Daten im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der polizeilichen Zusammenarbeit Die Konferenz erkennt an, dass es sich aufgrund des spezifischen Charakters der Bereiche justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und polizeiliche Zusammenarbeit als erforderlich erweisen könnte, in diesen Bereichen spezifische, auf Artikel 16 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gestützte Vorschriften über den Schutz personenbezogener Daten und den freien Datenverkehr zu erlassen. Art 6a des Protokolls Nr 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; Art 7 des Anhangs zu Protokoll Nr 22 über die Position Dänemarks, Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl 83 vom 30. 3. 2010, 295 ff. 86 Das „Stockholmer Programm“ ist ein Programm mit Richtlinien für eine gemeinsame Innen- und Sicherheitspolitik der Mitgliedstaaten der Europäischen Union für die Jahre 2010 bis 2015. 87 Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, ABl C 115 vom 4. 5. 2010, 1–38. 85
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zulegen;88 dies könnte zu einer Vereinheitlichung der bestehenden Datenschutzinstrumente durch Kodifizierung in einem einzigen Rechtsakt führen. Zusätzlich zu den Aktivitäten der EU sind auch weitere Initiativen auf europäischer Ebene (zum Beispiel die Ausarbeitung eines weiteren Zusatzprotokolls zur Europaratskonvention 108,89 allenfalls auch die Überarbeitung der OECD-Leitlinien im Rahmen einer Modernisierung des Datenschutzes) geplant. Fest steht, dass für den Datenschutz in Europa eine spannende Zeit ansteht, die Risiken, aber auch große Chancen für den Datenschutz mit sich bringen wird.
Im Aktionsplan der Europäischen Kommission zur Umsetzung des Stockholmer Programms (KOM(2010) 171 endgültig) ist von einem „neuen umfassenden Rechtsrahmen für Datenschutz“ die Rede. 88
Vgl Presentation of EVA SOUHRADA-KIRCHMAYER, Vice-Chair of the T-PD, „Data Protection at the crossroads: taking Convention 108 further”, im Rahmen der Konferenz der Europäischen Unabhängigen Datenschutzbehörden, Prag 29.–30. 4. 2010. Siehe: [http://www.coe.int/t/e/legal_affairs/legal_co-operation/data_protection/ Speech%20of%20Ms%20Eva%20Souhrada-Kirchmayer.pdf] (28. 6. 2010). 89
Die „Schülerszene“ in Goethes „Faust“ GERHARD STREJCEK, Wien
I. Einleitung Die Auswahl dieses Themas, das kein rechtshistorisches ist, verlangt nach einer kurzen Erklärung. Hier ist sie, denn das zugrunde liegende Ereignis ist selbst (jüngerer) Geschichte. Im Sommersemester 1982 fand eines der legendären rechtshistorischen Seminare unter der Leitung des Jubilars in der Landeshauptstadt Graz statt. Das viele Studierende ansprechende Thema lautete: „Das Recht in Goethes ,Faust’“. Ein Rahmenprogramm führte an die Grazer Universität und an diverse rechtshistorisch wichtige Orte, in denen sich ua unzählige Rüstungen befanden. Zuvor war mir gar nicht bekannt, wie hoch gerüstet diese gemütliche und ansprechende, mit einer reichen Kunst- und Wissenschaftsszene gesegnete Stadt ist. Keine Spur vom „Pensionopolis“ der k.u.k. Monarchie. Dafür an allen Ecken Artmann, Bauer, Handke und Okopenko spürbar, dazwischen der beliebte Erzherzog Johann. Das „Faust“-Seminar führte uns auch ins Landestheater, wobei der Ausfall des Faust-Darstellers uns zu szenischen Lesungen in Eigenregie im Seminarzentrum von Maria Trost anregte. Die beiden Dramenteile wurden durch Referate und Gespräche akribisch durch- und beleuchtet. Es war mein erstes Seminar, an dem ich als Studierender im zweiten Semester teilnahm, und das auch nur deshalb, weil sich durch die Absage eines fixen Teilnehmers ein Platz für mich als dem Ersten auf der Warteliste ergab; mein damaliges Referatsthema war dasselbe wie es hier in der Überschrift angeführt ist: die „Schülerszene“. Das Schrifttum, das ich vorfand, war umfangreich, aber recht veraltet. „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“ inspirierte Autoren des 19. Jahrhunderts und der Weimarer Republik zu nationalen Phantasien. Mag es auch unwissenschaftlich erscheinen, so möchte ich mich mit diesen Werken hier gar nicht mehr neuerlich befassen. In diesen begegnet uns ein recht verstaubter Geheimrat, der angeblich politisches Programm macht, obwohl er doch die Aussagen seinem Chefzyniker Mephisto in den Mund gelegt hat. Es ist daher besser, unbefangen an sie heranzutreten. Die Szene atmet in ihrer hervorragenden sprachlichen und sarkastischen Ausgestaltung einen ganz anderen, kritischen Odem. So etwas konnte nur ein Jurist schreiben, der wusste, was
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er kritisierte. Ob er sich mit dieser Kritik identifizierte, wird ein Rätsel bleiben. Vieles spricht dagegen. Wie sich herausstellte, war Goethe ganz und gar nicht „naturrechtlich“ eingestellt, wie das Postulat in dieser Szene zu lauten scheint. Vielmehr hatte er wie zu den Naturwissenschaften einen durchaus rationalen Zugang und tendierte zur Historischen Schule und zum Positivismus in seiner frühen Ausformung. In seiner späteren Rechtspraxis agierte er wie viele Beamte am gesetzten und gesatzten Recht orientiert, das er in Weimar anzuwenden hatte.1 Dies natürlich unter den Kautelen eines absolutistischen Kleinstaates, wo auch das Recht vom Monarchen selbst und mitunter allein gesetzt wurde. Hier setzte Goethe unter Anwendung des bürgerlichen Rechts humanitäre Zeichen und scheute sich nicht, dabei auf die Hilfe Weimarer Beamter, wie des Hofjuristen Eckardt, zurückzugreifen, um zB ein Legat zu Gunsten eines Pflegebefohlenen auszulegen.2 Auf seinen Rat hin wurden auch großzügige Stipendien ausgesetzt und Subventionen an Künstler vergeben, wofür es nur der Zustimmung des Herzogs, keiner sonstigen Rechtsgrundlage wie heute bedurfte.3 Somit vollzog Goethe, was bereits positiviert war, aber er regte vielfach an, Recht für kulturelle, wirtschaftliche oder andere volkswirtschaftlich sinnvolle Zwecke zu setzen.4 Rekurse auf „göttliches“ Recht oder „angeborene“ Rechte5 sind hingegen selten. Die Frage, was Goethe in dem hier betrachteten Zehnzeiler in der Schülerszene transportieren wollte, den er dem als Scholar verkleideten Mephisto in den Mund legte, ist daher nach wie vor ungeklärt. Eine konzise historische Antwort werde ich dazu nicht geben können. Aber mich hat diese Szene immer
So zB der von Goethe amtlich bestärkte Grundsatz „Jeder Münzfuß, es sei welcher er wolle, muss fest sein“. Vgl JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, Amtliche Schriften. Gutachten zu einer Münzverordnung im November 1793, in: DERSELBE, Sprüche über Recht, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Ausgewählt und in alphabetische Ordnung gebracht von WERNER OGRIS (Wien 1983) 37. 1
FRITZ ERNST, Aus Goethes Freundeskreis und andere Essays (Berlin/Frankfurt aM 1955) 54. 2
3
EMIL LUDWIG, Goethe. Geschichte eines Menschen (Berlin ua 1931) 298.
4
Etwa zum Land- und Ackerbau; siehe LUDWIG, Goethe 204.
Vgl dagegen § 16 ABGB in seiner Stammfassung aus 1811: „Jeder Mensch hat angeborne (sic!), schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte.“ Daher waren auch Leibeigenschaft und „Sclaverey“ im Kaisertum Österreich verboten. Zeitlich gibt es eine Korrelation, wenn auch Goethe das österreichische Recht nicht genau gekannt haben dürfte. Drei Jahre zuvor war „Faust. Der Tragödie Erster Teil“ in der heutigen Fassung im Druck erschienen. 5
Die „Schülerszene“ in Goethes „Faust“
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fasziniert und ihre Bedeutung immer wieder interessiert, ich möchte sie nach nunmehr fast dreißigjähriger rechtswissenschaftlicher Tätigkeit in diesem Festschriftenbeitrag in Beziehung zum Stand des aktuellen Rechts setzen. Zur „Schülerszene“, deren für die Rechtswissenschaft maßgebliche Passagen ich sogleich noch einmal textlich in Erinnerung rufen werde, um mich damit näher auseinanderzusetzen, gibt es so wie zum Werk und zur Biographie Goethes einiges an Schrifttum, das man demnach in ein literaturwissenschaftliches (zB die Faust-Kommentare), in ein biographisches und in ein im weiteren Sinne rechtshistorisches Schrifttum einteilen kann. Jede dieser Perspektiven bringt natürlich Aufschluss, aber nur wenige Autorinnen und Autoren konnten die drei fachlichen Bereiche synthetisch und ohne methodische Verwirrung verbinden. Werner Ogris hat es aber verstanden, sowohl biographisch als auch rechtshistorisch fundiert zu Goethe zu publizieren. Sowohl seine Vorträge als auch seine Schriften zum „amtlichen“ und zum „privaten“ Goethe bis hin zu seiner Auswahl von Goethe-Sentenzen für den Juristenball zeigen den Kenner.6 Ogris verstand und versteht es, in hoher literarischer Qualität und mit einem großen Verständnis für den Biographierten und den Hintergrund des poetischen Werks und der amtlichen Schriften, neue Facetten Goethes zu beleuchten, ohne dass es sich hiebei aber um Werke der Literaturwissenschaft handelt(e). Daher möchte ich in diesem Beitrag besonders die Meinung der Germanisten und der Kommentare zu der Schülerszene und zur Bedeutung der angegriffenen „Rechtsgelehrsamkeit“ beleuchten.7 Leider sind sie mitunter unfundiert oder durch Vorurteile bedingt, die mit einer mangelnden Befassung mit dem „Juristen“ in Goethe zusammenhängt, ein Schicksal das auch anderen „Dichterjuristen“ zuteil wurde.8
6
GOETHE, Sprüche 8.
Zu den bezeichnenden stilistischen und rhetorischen Besonderheiten der Szene zählt, dass der Schüler sich von vornherein nicht zur Rechtsgelehrsamkeit „bequemen“ will, was Mephisto dennoch Anlass zu seinen, die Ablehnung nur bestätigenden und verstärkenden Tiraden gibt.
7
Ich verweise ua auf Franz Kafka, der sich nicht scheute, Aspekte des Strafrechts und des Prozessrechts in seinem Werk stilistisch gekonnt, aber auch technisch exakt zu entfremden, was heute vielfach missdeutet wird. Wenn aber ein Satz in der „Strafkolonie“ lautet: „Der Grundsatz, nach dem ich hier entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos“, dann wissen juristisch geschulte Leser, dass hier die Unschuldsvermutung absichtlich umgedreht wird; und wenn Kafka in seinem berühmten „Process“ gleich zu Beginn das Wort „gefangen“ durch „verhaftet“ handschriftlich ersetzt, dann wird Juristinnen und Juristen klar, dass er den Terminus technicus bewusst we8
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Fragen wir hier im Folgenden nach den Hintergründen dieser Faust-Szene, so sind zweifellos neben dem klassischen Stoff, den Goethe aus Vorentwürfen und aus dem Urfaust (1772) schöpfen konnte, auch biographisch festzumachende Erlebnisse verarbeitet worden, die wiederum ohne das dogmatische Wissen des Autors nicht so exakt und treffend formuliert worden wären. Bis zur endgültigen Drucklegung der „Tragödie Erster Teil“ im Jahr 1808 hat Goethe einige persönliche Eindrücke und berufliche Erfahrungen gesammelt, zugleich auch in Skizzen zu erkennen gegeben, worauf es ihm in der Umarbeitung der Szene ankam: nach seinem Konzept, das aus dem Jahr 1800 datiert, sollte Wagner die helle und kalte wissenschaftliche Natur darstellen, der Schüler hingegen einen warmen und dumpfen Zugang zu den Wissenschaften verkörpern.9 Bevor ich aber in medias res gehe, möchte ich kurz die maßgebliche Passage der Szene in Erinnerung rufen. Sodann soll ein biographischer Hinweis auf vielleicht allgemein Bekanntes erfolgen, das aber für das Verständnis der Szene wichtig ist und daher notfalls in redundanter Weise erwähnt werden soll, weil es bei Ogris und anderen Goethe-Kennern deutlich zutage tritt. Es geht um die Frustrationen des Juristen und des Jusstudierenden Goethe, die möglicher Weise seine doch recht zynische Haltung zu Recht und Rechtsgelehrsamkeit (sofern er sich mit Mephisto identifiziert) in dieser Szene erklären hilft.
II. Die „Schülerszene“ Da der „Faust I“ zu den am bekanntesten, wenn auch mittlerweile nur selten aufgeführten dramatischen Werken deutscher Dichtkunst zählt, bedarf es keiner weitwendigen Erläuterung seines Aufbaus und der systematischen Verortung der Schülerszene in der Szenenabfolge „Studierzimmer II“. Es ist
gen seiner Bedeutung wählte, nicht aber eine zufällige sprachliche Variation oder „Verbesserung“ vornehmen wollte. Die vielen Missverständnisse zu einzelnen rechtswissenschaftlich begründeten Passagen in seiner Literatur aufzuklären, würde hier zu weit führen. Aber es gibt umfassende neue Biographien, die viele (andere) Facetten ausleuchten. Vgl zB REINER STACH, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis (Frankfurt aM 2008); PETER-ANDRÉ ALT, Kafka. Der ewige Sohn (München 2005). Siehe auch GERHARD STREJCEK, Franz Kafka und die Unfallversicherung (Wien 2006). THEODOR FRIEDRICH / LOTHAR SCHEITHAUER, Kommentar zu Goethes Faust (Stuttgart 1980) 116. 9
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auch allgemein bekannt, dass gleich nach dem „Prolog im Himmel“, also unmittelbar am Beginn der „Tragödie Erster Teil“ und in tiefer Nacht Dr. mult. Faust in seinem „hochgewölbten, engen, gotischen Zimmer“ anhebt zu berichten, dass er Philosophie, Juristerei und Medizin und (leider auch) Theologie studiert hat. Diese berühmten Verse kennt jeder Schüler und jeder gebildete Mensch in unserem Sprachraum, doch was bedeutet dieses Aufseufzen für den akademischen Status Fausts? Der Gelehrte hat demnach nach Erlangung des Magisteriums der schönen Künste (Magister artis) an sämtlichen hohen Fakultäten mit Erfolg studiert, weshalb er, so die Germanistik, als vierfacher Doktor anzusprechen wäre.10 Das war nicht immer so. Die als Fakultät etwas jüngere Medizin kam im Verhältnis zum „Urfaust“ erst dazu,11 aber ein Blick auf die gesamten, im Mittelalter bekannten Wissenschaften scheint zum „Ur“-Bestand des Faustthemas zu zählen. So hat schon der von Marlowe bearbeitete Faust-Stoff auf die vielfältige akademische Bildung des Hauptdarstellers Bezug genommen. Seine Überlieferungen erfolgten übrigens in Form von Puppenspielen, weshalb man sich Dr. mult. Faust mit einem mittelalterlichen Gelehrtenhut vorzustellen hat. In der uns bekannten Fassung des „Faust I“, die ja erst nach mehreren Umarbeitungen und stetem Drängen Schillers zustande kam, findet sich dementsprechend ein logisch-konzises Verhältnis zwischen Fausts Seufzen über seine sinnlosen akademischen Studien in der Nachtszene (V 354 ff.) und Mephistos Verhöhnung derselben Wissenschaften und Studien in „Studierzimmer II“ (um V 1970). Ich erwähne das hier, weil das uns bekannte Faust-Drama ja erst das Ergebnis eines langen und intellektuell aufwendigen Prozesses des Autors in Befassung mit dem „Faust“-Stoff ist. Dementsprechend rückten die Szenen auch immer mehr auseinander. Zwei Szenen, welche die Wissenschaft thematisieren, die zunächst (also im „Urfaust“) recht nahe beieinander lagen, sind nunmehr durch mehr als 1500 Verse voneinander getrennt. Umso löblicher ist die Abstimmung, welche ja auch einem Autor oft nicht vollständig gelingt, weil er mitten in der Dichtung übersieht, was er am Anfang thematisiert hat. Es würde auch kaum jemandem auffallen, wenn Mephisto zB andere
So ULRICH GAIER, Erläuterungen und Dokumente zu Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil (Stuttgart 2001) V 355 („Juristerei“) bzw 354–56 („alle vier Fakultäten“). 10
Die Urfassung (Urfaust aus der Wertherzeit) blieb entgegen Goethes Absicht erhalten, weil Luise von Göchhausen, Hofdame zu Weimar, eine Abschrift aufhob, die 1887 in ihren Unterlagen entdeckt und veröffentlicht wurde. Siehe IRMGARD WAGNER, Goethe. Zugänge zum Werk (Reinbek 1999) 218 bei FN 2. 11
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Wissenschaften erwähnt als Dr. Faust zu Beginn. Doch es war durchaus nicht zufällig, sondern Goethes Intention und seiner Akribie zu verdanken, dass auch kritische Leser und Zuseher eine stimmige, wenn auch vernichtende Wissenschaftskritik nach allen Seiten hin vorfinden.12 Zunächst erläutert der verzweifelte Gelehrte, dass seine Studien ihm nichts eingebracht haben und sodann wird dem strebsamen, aber einfältigen Schüler mit Bezug auf sämtliche Studienwünsche der Kopf in bösartiger Weise von Mephisto im Gewand des Gelehrten verdreht. Erklärungsbedürftig ist auch, warum hier ein „Schüler“ auftritt und kein „Studierender“ (in heutiger Terminologie). Denn im „Urfaust“ war es noch ein junger Student, der sich über die miserablen Wohnbedingungen und Mieten ausließ und in Mephisto einen verständnisvollen Katalysator seines Ärgers fand.13 Es gibt zwei literaturwissenschaftliche Erklärungen für den „Schüler“: die eine, durchaus logisch klingende, ist die, dass hier offenbar ein Schüler schon im Vorfeld seiner Studien in Fausts Studierzimmer auftaucht, um sich eine Studienberatung bei einem Gelehrten einzuholen. So etwas erlebt ja auch unsereins, wenn sich besorgte Eltern an einen wenden, dass Tochter oder Sohn im ersten Semester Jus inskribieren wollen und man Rat geben soll (was eigentlich die Hochschülerschaft mit ihrer Studienberatung fachlich besser versteht). Die zweite Erklärung, welche das zeitliche Umfeld des Entstehens des „Faust“-Stoffes mitberücksichtigt, verweist hingegen darauf, dass in der mittelalterlichen Terminologie vom Schüler und nicht vom Studiosus die Rede war. Üblich war ja auch schon im Mittelalter der im Englischen immer noch gebräuchliche Begriff des „Scholars“ für den Lehrenden oder Gelehrten.14 Obwohl fast jeder Leser eine Ausgabe des „Faust“ greifbar haben wird,15 möchte ich im Folgenden die elf maßgeblichen Verse aus der Schülerszene in „Studierzimmer II“ zitieren. Diesen Zeilen ist schon ein längerer Dialog vorangegangen, ehe Mephisto den Schüler auffordert, eine Fakultät zu wählen.
12
Siehe FRIEDRICH / SCHEITHAUER, Kommentar 35.
Vgl ULRICH GAIER, Goethes Faust-Dichtungen. Ein Kommentar Bd 1 (Stuttgart 1989) 343. 13
14
Vgl THOMAS ELLWEIN, Die deutsche Universität2 (Frankfurt aM 1992) 24.
Ich zitiere hier die Ausgabe Reclam Nr 1 (Stuttgart 1986/2000) und bediene mich daher, wie es auch in dieser weitest verbreiteten Ausgabe schon üblich geworden ist, der Neuen Amtlichen Rechtschreibung, was in diesem Szene-Ausschnitt nur hinsichtlich der „ss“-Schreibung in „dass“ Abweichungen zu früheren Ausgaben ergibt. 15
Die „Schülerszene“ in Goethes „Faust“
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Der Schüler antwortet sodann: „Zur Rechtsgelehrsamkeit kann ich mich nicht bequemen.“ Mephisto: „Ich kann es euch so sehr nicht übel nehmen, ich weiß wie es um diese Lehre steht. Es erben sich Gesetz’ und Rechte16 wie eine ew’ge Krankheit fort. Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage, Weh’ dir, dass du ein Enkel bist. Vom Rechte, das mit uns geboren ist, von dem ist leider! nie die Frage.“ Der erste Teil dieser Zeilen bedarf keiner Interpretation. Mephisto gibt sich als Wissender und Gelehrter aus, daher kann er sich auch Kritik am Recht erlauben, das sich – jedenfalls auch in positivierter Form (als Gesetz) – einer Krankheit gleich fortentwickelt. Auch leuchtet ein, dass mangels eines gesetzgeberischen Monitorings und einer durchgängigen Rechtsbereinigung Vernunft zu Unsinn und Wohltat zur Plage werden können. Die fünfte und sechste Zeile von Mephistos Aussage ist bereits etwas nebulos. Warum sollen sich die Gesetze und das Recht von einem zum anderen Geschlecht schleppen? Und auf welche räumliche Dimension bezieht sich der „Ort“? Unklar ist bis heute, was mit dem letzten Satz, vor allem der Wendung „vom Rechte, das mit uns geboren ist“ gemeint ist. Ganze Bücher wurden darüber geschrieben, ob damit das Naturrecht als das „mit dem Menschen geborene Recht“ (im Sinne präpositiver Rechte)17 oder das zu der Zeit des Autors gesetzte (positive) Recht damit gemeint ist. Leider differenzieren hier die Literatur-
In verschiedenen Ausgaben, die in moderner Kompilation und Edition auf der Ausgabe letzter Hand, der Weimarer und der Cottaschen Ausgabe beruhen, ist zB der Apostroph auf „Gesetz“ nicht vorhanden, etwa bei JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, Poetische Werke. Vollständige Ausgabe in 12 Bänden, Bd 5 (oJ) 166. 16
Als naturrechtlich begründet gelten zB die „unveräußerlichen Rechte“, die „angeborenen Rechte“ des ABGB oder die Menschenrechte im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen; vgl PAUL SIEGHART, Die geltenden Menschenrechte (Kehl am Rhein ua 1988) 7 ff. 17
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wissenschafter nicht ausreichend, der heute gängige, von Studierenden verwendete Erläuterungsband „übersetzt“ diese Wendung ohne Hinweis auf andere Interpretationsmöglichkeiten apodiktisch mit „das Naturrecht, die Menschenrechte“.18
III. Entstehung der Szene und Verhältnis zum „Urfaust“ Was in meinem seinerzeitigen kleinen Referat noch nicht untersucht wurde, war die Genese der Faust-Dichtungen. Bekanntlich ist der Stoff weitaus älter als das ohnehin über mehrere Epochen gehende Leben Goethes zurück reicht. Aber auch die Varianten seit dem Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem sagenumwobenen Stoff vom „Urfaust“ (1772) über das erste Fragment bis zum kompletten Abdruck von „Faust. Eine Tragödie“ bzw „Der Tragödie Erster Teil“ (1808) divergieren in manchen Punkten und im Umfang ganz erheblich. Aus heutiger Sicht sind historisch vor allem diese drei Varianten von Bedeutung, die im Folgenden hinsichtlich der Schülerszene genauer betrachtet und miteinander verglichen werden: a) der „Urfaust“, der zwischen 1772 und 1775 entstanden ist, aber erst 1887 im Druck erschien19 und der heute unschwer zu erhalten ist.20 Dieser Text dient hier wegen der ganz anders gelagerten Schwerpunkte in der Studentenszene21 lediglich als Vergleichsgrundlage bzw als Quelle, von der nachweislich und massiv in der Schülerszene im Faust (ab dem Fragment) abgewichen wurde; b) das Fragment „Faust“, welches 1788-1790 verfasst und sogleich nach Abschluss (also 1790) gedruckt wurde; und c) die heute relevante Fassung, genannt „Faust. Eine Tragödie“ (inkl. Zueignung, Vorspiel auf dem Theater, Prolog im Himmel) bzw „Der Tragödie Erster Teil“, welche zwischen 1797 und 1806
18
GAIER, Erläuterungen 115.
19
Siehe WAGNER, Goethe 217.
GOETHE, Poetische Werke (Diese Ausgabe orientiert sich an der Ausgabe letzter Hand, der Weimarer Ausgabe, der Cottaschen Jubiläumsausgabe und berücksichtigt vergleichend die Großherzog-Wilhelm-Ernst-Ausgabe des Insel Verlags, die Festausgabe des Bibliographischen Instituts und die Welt-Goethe-Ausgabe). Besorgt wurde der Text von LISELOTTE LOHRER; die drei Faust-Varianten finden sich in Poetische Werke 5, 7 ff hintereinander (Fragment Poetische Werke 5, 59 ff sowie Faust. Eine Tragödie 117; Der Tragödie Erster Teil 127 ff). 20
Bei FRIEDRICH / SCHEITHAUER, Kommentar 186 wird darauf verwiesen, dass im Urfaust mit dem „Studenten“ iSd 16. Jahrhunderts dasselbe gemeint sei wie im Faust mit dem „Schüler“.
21
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entstanden und 1808 im Druck erschienen ist. Wir befassen uns demnach hier mit einem Text, der ziemlich genau zwei Jahrhunderte alt ist. Goethe hat sich in der Schülerszene, wie schon erwähnt wurde, nur sehr peripher am Vorbild des „Urfaust“ orientiert, er hat diese Szene von einer Studenten- in eine Schüler-Variante geändert, im hier maßgeblichen Punkt völlig neu gedichtet, insgesamt stark erweitert und umgestaltet. Erst gegen Ende enthält diese Szene einige Originalverse des „Urfaust“, also gleichsam nachdem Goethe die ihm wichtig erscheinende Akzentuierung und Kritik unter Dach und Fach gebracht hatte. Einerseits lag das Schwergewicht dieser (sehr deftigen) Szene ursprünglich auf gewissen faktischen Unzukömmlichkeiten wie zB der Unterbringung, der Zimmervermietung, der Wirtshäuser und sonstiger Aspekte des Studentenlebens;22 diese kürzte Goethe maßgeblich, außerdem strich er einige anstößige und volkstümliche Formulierungen.23 Andererseits gab es zwar bereits im „Urfaust“ eine Fundamentalkritik an der Philosophie und an der Medizin, doch Goethe erweiterte diese auf die Jurisprudenz und die Theologie. Erst mit dieser Erweiterung kam es aber zu einer Abstimmung der Passagen in der eingänglichen Nachtszene und der Schülerszene in „Studierzimmer II“. Womöglich hätte aber die rund um die hier betrachteten Verse gelagerte Wissenschaftskritik noch einen viel akademischeren Charakter erhalten sollen, der dem Werk aber viel an Pointiertheit und Griffigkeit genommen hätte. Goethe soll nämlich geplant haben, zwischen der Szene „Studierzimmer I“ und der die Schülerszene enthaltenden Szene „Studierzimmer II“ eine wissenschaftliche Disputation einzufügen. Solche Disputationen hatte er selbst in Leipzig und Strassburg geführt. Diese hätte dem Autor zwar Gelegenheit gegeben, auf hohem Niveau Wissenschaftskritik zu betreiben, hätte aber doch auch das Risiko geborgen, dass er noch stärker als dies ohnehin üblich ist, mit den kritischen Aussagen identifiziert worden wäre. Denn nach dem Stand der Dinge konnte sich Goethe zu Lebzeiten immer auf die recht bequeme Art aus der Affäre ziehen, dass er die sarkastischen Worte ja einem regelrechten Teufel in den Mund gelegt hatte. Dass Goethe den „Urfaust“ vernichtet wissen wollte, mag auch damit zusammen hängen, dass durch den Vergleich der Texte jeder hätte entdecken können, dass die Rechtswissenschaft dort noch nicht in der differenzierten Beschreibung Mephistos vor22
Siehe Urfaust 263–332; GAIER, Erläuterungen 113.
Wie zB das Wort „Scheißhaus“ (sic!) in den Urfaust-Versen 301–302 („Ihr zahlt, was andere vor Euch zahlten, Die ihren Nam’ aufs Scheißhaus malten“). GOETHE, Poetische Werke 5, 16. 23
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kam. Offenbar hatte Goethe, als er schließlich Fragment und Druckfassung 1808 schuf, zwar noch die schlechten Wohnbedingungen, die häufigen Saufgelage und die nicht ganz feine Sprache seiner Kommilitonen in Strassburg und Leipzig im Ohr, aber er wollte nicht mehr, dass die Sprache des „Urfaust“, die dementsprechend sehr deftig war, seine sich abzeichnende Rolle als Dichterfürst gefährdete. Die Schülerszene wurde daher im Gegensatz zur Walpurgisnacht von jeder „ordinären“ Anspielung gereinigt bzw vom Autor selbst zensuriert.
IV. Biographische Gründe für Goethes Skepsis an der „Rechtsgelehrsamkeit“ Zweifellos flossen, wie schon eingangs erwähnt wurde, in die hier dargestellte Szene Erlebnisse aus Goethes Leben ein. Nicht nur die Frustrationen der Studienzeit, sondern auch die unglaublichen Zustände am Reichskammergericht in Wetzlar, wo Goethe 1772 praktizierte.24 Dort lagen hunderte unerledigte Akten, die Prozesse dauerten unendlich lange, vielleicht auch eine Inspiration für den Goethe-Kenner und Weimar-Besucher Kafka, rund hundertvierzig Jahre später, als der „Process“ erschien. Aber aus dem Studenten und Praktikanten erwuchs dennoch ein verantwortungsbewusster und von einigen Fluchtversuchen abgesehen, verlässlicher und überaus fleißiger Weimarer Hofbeamter. All diese Details sind aufgearbeitet. Wie kaum ein zweiter Goethe-Kenner hat der Jubilar die ambivalenten Seiten des Juristen Goethe beleuchtet. So genau die zahlreichen Goethe-Biographien sein mögen,25 sie können nur einen Teil des Lebens erfassen und gehen selten in die Tiefe, wenn es um juristische Fragen geht. Dennoch finden sich erstaunliche Details aufgearbeitet, wie zB die Goethe bekannte Rechtsprechungspraxis,26 die ihn für die Gestaltung der Gretchen-Figur inspirierte. Aufgearbeitet sind auch die Probleme des jungen Goethe als Student in Strassburg und sein Scheitern hinsichtlich der Dissertation; hier war Goethe gemessen an den GepflogenKARL CONRADY, Goethe. Leben und Werk 1. Hälfte des Lebens (Frankfurt aM 1988) 177. 24
Vgl zB RICHARD FRIEDENTHAL, Goethe. Sein Leben und seine Zeit (München 1993) 37 ff. 25
Vgl die minutiöse Aufarbeitung des Prozesses der Kindsmörderin Brandt, die Vorbild für Goethes Gretchen war bei SIEGFRIED BIRKNER, Goethes Gretchen (Frankfurt aM/Leipzig 1999) 80 (etwa zum Plädoyer des Verteidigers). Das Urteil wurde am 26. 8. 1998, am Geburtstag des prominenten Zeugen Goethe feierlich aufgehoben. 26
Die „Schülerszene“ in Goethes „Faust“
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heiten der ohnehin recht fortschrittlichen Universität eine Spur zu kritisch und seiner Zeit voraus. Die Strassburger Uni wurde übrigens nach 1870 unter dem Namen des Preußenkönigs neu gegründet27 und beheimatete den prominenten und ebenfalls aufmüpfigen Theologen und Goethe-Liebhaber Albert Schweitzer.28 Dass aber Goethe trotz Stipendium und Erlass formaler Voraussetzungen nicht den vollen Erfolg des Doktorats, von dem er Abstand nahm, in Strassburg erreichte, wird seine Akzeptanz der akademischen Würdenträger und der überkommenen universitären Sitten nicht unbedingt erhöht haben.29 Wenn vor achtzig Jahren der Biograph Ludwig schrieb, dass bezüglich der Universitäten Goethe „Ärger und Spott gegen alle Zünftigen empfindet, seit man seine ersten Schritte in die Knochenlehre so übel aufgenommen“,30 dann wird dieser Befund auch heute noch stimmen. Hier liegt eine der biographischen Wurzeln für seine Skepsis am Recht und an der Rechtswissenschaft, die er als praktizierender Jurist zwar unterdrückte, aber doch weiter empfunden haben wird.31 Goethe studierte bekanntlich drei Jahre lang in Leipzig32 und erbrachte dort, wenn er das Studium auch mit „links“ betrieb, beachtliche Leistungen. Bereits als Jungstudent wagte er sich an Disputationen mit graduierten Doctores heran.33 Aber als er ebendort, gezeichnet vom schweren Merseburger Bier und zu viel Kaffee im Jahr 1768 erkrankte und nach Frankfurt zurück kehrte, las er entgegen den elterlichen Wünschen keine juristischen Fachbücher, sondern betätigte sich als philosophischer Autodidakt und Selbstdenker, wenn er auch bald einsah, dass ein großer Gelehrter selten ein großer Philosoph sei.34 Und das erklärt auch seine Hinwendung zu den Naturwissenschaften, in denen er durchaus Erstaunliches leistete, ohne hiezu akademisch vorgebildet zu sein. Als reifer Mann erkannte Goethe auch die wechselseitige Befruchtung
27
Als Friedrich-Wilhelms-Universität.
Siehe die biographischen Abschnitte in HARALD STEFFAHN (Hrsg), Das Albert Schweitzer-Lesebuch (München 2001).
28
Gegen die Titelsucht gerichtet ist auch der Faust-Vers: „Ein Titel muss sie erst vertraulich machen, dass Eure Kunst viel Künste übersteigt.“ GOETHE, Poetische Werke Bd 5 (oJ) 162. 29
30
LUDWIG, Goethe 299.
31
ALFONS PAUSCH / JUTTA PAUSCH, Goethes Juristenlaufbahn (Köln 1996) 23 ff.
32
FRIEDENTHAL, Goethe 33.
33
PAUSCH / PAUSCH, Goethes Juristenlaufbahn 48.
34
OTTO BÖHMER, Goethe, sein Leben erzählt (Zürich 2005) 26 f.
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von Wissenschaft und Technik: „Und so fördern die verschiedenen Zweige der Wissenschaften einander ... bis Wissenschaft und Kunst endlich Technik und Handwerk zur Hilfe rufen und auch diese veredeln,“ schrieb er im Januar 1816 an J.A. Sack aus Weimar.35 Aber obwohl ein homo universalis, ein umfassend gebildeter und noch vielseitiger interessierter Forscher, blieb Goethe im Brotberuf doch seinem akademisch begründeten Lizentiat treu. Möglicherweise verband er aber mit dem Studium ähnlich schlechte Erinnerungen wie zB Kafka oder Zuckmayer. Und das könnte erklären, warum schon ehe der Teufel dem unschlüssigen Schüler gehörig den Kopf verdreht, eines für den Autor klar ist: Jus soll es nicht sein. Hingegen war Goethes Studienwahl schon vorgezeichnet. In Strassburg, einer protestantischen Fakultät, kam es aber, wie berichtet zu gewissen Friktionen.36 Goethe war dort als vornehmer Frankfurter Bürgerssohn gerne aufgenommen worden. Ein Vorfahre mütterlicherseits aus der Familie Textor war zwei Jahre vor seiner Geburt, also 1747, Stadt- und damit auch Reichsschultheiß geworden. Die an der Strassburger Fakultät üblichen Riten und Zeremonien scheinen auch kostenseitig auf die Studierenden abgewälzt worden zu sein, sodass sich einerseits kaum einer zum Doktoratsstudium entschloss und es die meisten Absolventen bei dem im Reich ohnehin als gleichwertig geltenden Lizentiat bewenden ließen (so auch Goethe); andererseits dürften die „höheren akademischen Weihen“ wie auch an heutigen Privat- und „Elite“Universitäten nicht gerade verschenkt worden sein, weshalb zahlungskräftige und intelligente Studiosi besonders erwünscht waren. Begabt wie er zweifellos war, genoss Goethe auch bestimmte Erleichterungen, die er wie zB den Erlass einer Qualifikationsarbeit und das Recht ohne Aufsicht zu dissertieren, gerne in Anspruch nahm. Dennoch reüssierte er mit seiner Dissertation aus einem kirchenrechtlichen Themenkreis nicht. Leider ist diese Monografie verschollen, aber aus Briefen und älteren Werken, in denen Goethe einen Dialog zweier Pastoren ausführte, ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass seine „agnostische“ Grundhaltung bereits in der Dissertation durchdrang. Besonders seine These, wonach die Zehn Gebote nicht verbindliche Glaubenslehre, sondern irrtümlich mit zehn Riten im fünften Buch Mose verwechselt worden seien, stieß den gläubigen Rechtsprofessoren ebenso wie den Theologen auf; später vertrat Goethe auch die Ansicht, dass
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, Das Beste möchte’ ich euch vertrauen. Lebensweisheiten, hrsg von JOHANNES PROSSLINER (München 2006) 24 f.
35
36
CONRADY, Goethe 132 f.
Die „Schülerszene“ in Goethes „Faust“
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nicht Jesus Christus die christliche Lehre gegründet bzw verkündet, sondern eine Gruppe von Theologen diese erfunden hätte, was schon an Häresie grenzte. Daher erklärte einer seiner Professoren freimütig in der damaligen bilderreichen Sprache, der junge Goethe hätte entweder „einen Sparren zuviel oder einen zuwenig im Oberstübchen“. Tatsächlich fehlte es dem abfälligen Kritiker am Ausblick, den zum Beispiel ein Dachfenster gewährt hätte. Angesichts seiner Thesen erwies ihm das Kollegium die „Güte“, die kirchenrechtliche Arbeit nicht zum Druck zuzulassen und stellte sie dem Kandidaten zurück. Goethe konnte durch die erfolgreiche Verteidigung von 56 juristischen Thesen aus verschiedenen Gebieten des Rechts cum applausu das Lizentiat erlangen, später lehnte er die vom Pedell vorgeschlagene Fortsetzung des Studiums zwecks Erlangung des Doktortitels ab, er hatte genug von akademisch-juristischen Auseinandersetzungen und meldete in Frankfurt seine Zulassung zur Advokatur an seinem 22. Geburtstag an, die ihm auch prompt gewährt wurde.37 Es erscheint als gesichert, dass diese Ereignisse in Goethe die große Skepsis begründeten, welche er der „Rechtsgelehrsamkeit“ und dem sonstigen akademischen Wissenschaftsbetrieb sein ganzes Leben lang entgegen brachte. Denn wie er schmerzhaft erfahren musste, waren die Wissenschaft und Lehre keineswegs „frei“, sondern an bestimmte Konventionen und Überlieferungen gebunden, die man als Newcomer zu beachten hatte. So mag auch pragmatisch erklärbar sein, dass Goethes Thesen für die Zeit der Aufklärung als besonders konservativ, wenn nicht als rückschrittlich zu veranschlagen sind. Zudem fanden sich in den von ihm bei der Defensio vertretenen Thesen viele, die auch später eine Rolle spielen sollten, wie zB die grundsätzliche Anerkennung der Todesstrafe, aber auch der Hinweis, dass deren Verhängung für eine Kindsmörderin unter den Doctores strittig sei. In staatsrechtlicher Hinsicht scheint von Interesse, dass die Interpretatio laut Goethe ausschließlich dem Fürsten zukam, hingegen die Richter das Recht ohne eigene Auslegungsversuche einfach „anzuwenden“ hatten. Hier klingen Montesquieus Thesen, wonach der Richter nur der „Mund“ des Gesetzes sei (le juge n’est que la bouche de la loi) und die dem absolutistischen System verpflichtete Grundhaltung des jungen Juristen gleichermaßen an. Goethe hat sich Zeit seines Lebens nicht von dieser konservativen Anschauung gelöst.
37
CONRADY, Goethe 137 ff.
Mündelgut: Verpachtung im antiken Athen GERHARD THÜR, Wien „Mündelgut“ — ein zeitloses Rechtsproblem — „soll weder wachsen noch schwinden; Mündelgut ist eisern Gut.“ Diesen deutschen Rechtssprichwörtern widmete der Jubilar einen gehaltvollen Lexikonartikel.1 Ein Ausflug in das Recht des antiken Athen zur Zeit der großen Gerichtsredner im 4. Jh vChr soll zeigen, wie eine andere historische Rechtsordnung des europäischen Kulturkreises, von der Sache her keineswegs überraschend, zu ähnlichen Ergebnissen kam. Freilich, die materiellen und prozessualen Rechtseinrichtungen waren gänzlich andere. Der Gunst der Stunde ist es zu verdanken, dass kürzlich das Fragment einer bisher nur dem Titel nach bekannten Gerichtsrede ans Tageslicht kam. Es handelt sich um die Rede „Gegen Timandros“ des Hypereides, der 390–322 vChr lebte. Hypereides, den Cicero dem großen Redner Demosthenes als ebenbürtig zur Seite stellte, ist ein Stiefkind der Überlieferung. Seine Gerichtsreden wurden in der Antike noch häufig gelesen und abgeschrieben, doch zweifelten die Philologen bis vor kurzem noch daran, dass sie den Weg in die mittelalterlichen Kodizes gefunden hatten. Erst seit dem 19. Jh kamen einige seiner Reden, mehr oder weniger vollständig, auf in Ägypten gefundenen Papyri zum Vorschein. Groß war deshalb die Überraschung, als durch modernste Untersuchungsmethoden in dem seit 1907 bekannten „Archimedespalimpsest“ einige Bifolia mit aussagekräftigen Fragmenten zweier Hypereidesreden entdeckt wurden, aus einem politischen Prozess „Gegen Diondas“ und aus einem Vormundschaftsprozess „Gegen Timandros“.2 Als Rohmaterial für ein Euchologium aus dem 12.–13. 1
WERNER OGRIS, Mündelgut, in: HRG1 III, 735–738.
Die Zuweisung der Texte an Hypereides verdanken wir NATALIE TCHERNETSKA, New Fragments of Hyperides from the Archimedes Palimpsest, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 154 (2005) 1–6. Das gesamte Fragment haben publiziert N. TCHERNETSKA / E.W. HANDLEY / C.F.L AUSTIN / L. HORVÁTH, New Readings in the Fragment of Hyperides’ Against Timandros from the Archimedes Palimpsest, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 162 (2007) 1–4, verbessert von LÁSZLÓ HORVÁTH, Note to Hyperides in Timandrum, Acta Antiqua Hungarica 48 (2008) 121–123 (Text 122 f). 2
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Jh wurden die abgeschabten Pergamentblätter eines Archimedes- sowie auch einige Folia eines — nun nachgewiesenen — Hypereideskodex verwendet. Das abenteuerliche Schicksal des immer noch so genannten Archimedespalimpsests und die spannende Geschichte seiner Entzifferung sollen hier nicht nacherzählt werden.3 Die 64 zusammenhängenden Zeilen der Timandrosrede, die Gegenstand dieses Beitrags ist, bereichern jedenfalls unser Wissen über die rechtlichen Möglichkeiten, wie in Athen einem Mündel sein ererbtes Vermögen bis zu seiner mit dem 18. Lebensjahr eintretenden Mündigkeit gesichert werden konnte.4 Die Sorge um das persönliche Wohl und das Vermögen unmündiger Waisen oblag in Athen dem Vormund (epitropos). Gewöhnlich bestellte der Erblasser durch Testament mehrere Vormünder aus dem Kreis seiner Verwandten oder Freunde, wobei er auch manchmal seine Witwe und Töchter, diese sobald sie ehemündig geworden waren (mit 14 Jahren), an jene verheiratete. Gut informiert sind wir über die Verhältnisse des Redners Demosthenes, aus dessen Streit mit seinen Vormündern drei Gerichtsreden überliefert sind (or 27–29 „Gegen Aphobos“). Der Vater hatte Aphobos, Demophon und Therippides zu Vormündern seiner beiden Kinder bestellt und seine Witwe dem ersten, seine Tochter dem zweiten in die Ehe gegeben. Beide kamen allerdings dem Wunsch des Erblassers nicht nach, alle drei veruntreuten nach Demosthenes’ Angaben das von ihnen verwaltete Vermögen, um das dieser nach Mündigkeit erfolgreich prozessierte. Söhne waren die notwendigen gesetzlichen Erben, Töchter hatten neben ihnen kein Erbrecht. Allein wenn ein Athener nur Töchter hinterließ, waren diese erbrechtlich relevant. Sie konnten zwar das väterliche Vermögen nicht erben, übertrugen es aber als ‚Erbtochter’ (epikleros) an ihre ehelichen Söhne. Der nächste männliche Verwandte des Erblassers konnte eine Erbtochter zur Ehefrau verlangen und war bis zur Mündigkeit des von ihm gezeugten Sohnes im Genuss des Vermögens. Für den Schutz der Waisen und Erbtöchter war der erste der neun der Höchstmagistrate (archontes) zuständig, der schlicht den Titel archon führte. Bei ihm musste jeder Vormund seine Bestellung anmelden. Lag kein Testament vor, bestellte der Archon den Vormund Siehe die wie ein Roman zu lesende Monographie von REVIEL NETZ / WILLIAM NOEL, The Archimedes Codex (London 2007), deutsch: Der Kodex des Archimedes (München 2007). Ich danke Herrn Noel, der mir im März 2009 im Walters Art Museum, Baltimore MD, Einsicht in die dort verwahrte Handschrift gestattete. 3
Zur Vormundschaft allgemein siehe das Standardwerk A.R.W. HARRISON, The Law of Athens I. The Family and Property (London 1968) 99–121.
4
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selbst, bei mehreren Bewerbern entschied ein Gerichtsverfahren, eine diadikasia, über den geeignetsten. Der Archon übte seine Kontrolle nicht von Amts wegen aus, sondern wurde in der Regel, wie in Athen zum Schutze Hilfloser üblich, nach Popularanklagen tätig, über die unter seinem Vorsitz ein Gerichtshof aus 500 erlosten Bürgern entschied. Über diese Klagen berichtet Aristoteles in seiner Athenaion Politeia (56, 6–7). Wie ein athenischer Vormund Mündelgrundstücke zu verwalten hatte, ist nicht überliefert. Da diese in ihrer Substanz nicht vom Erdboden verschwinden können, scheint die Sache wenig problematisch. Aus den Früchten hatte der Vormund gewiss die Mündel zu ernähren — der Unterhalt der Witwe war in der bäuerlichen Gesellschaft durch ein Mitgiftgrundstück gesichert, sonst durch Vermögenswerte —, von einer Pflicht, über die Früchte abzurechnen, wissen wir nichts. Da er sie selbst zog, konnte er einen Überschuss so wie im älteren deutschen Recht wohl behalten. In den aus Athen überlieferten Reden aus Vormundschaftsprozessen geht es stets um Gewerbebetriebe und Geldvermögen. Hier bestand das Risiko, dass das Vermögen verschwand. Der junge Demosthenes kämpfte um den Geldwert zweier zu Lebzeiten seines Vaters florierender Betriebe, einer Schwert- und einer Bettenwerkstätte mit über 50 Sklaven. Die Vormünder hatten angeblich die Substanz vergeudet und in ihre eigene Tasche gewirtschaftet. Sie hafteten dem Mündel am Ende ihrer Vormundschaft für das zu Beginn übernommene Vermögen und konnten sich nur entlasten, wenn Verluste ohne ihr Verschulden eingetreten waren. Diese Situation führte nach Mündigkeit oft zu hartnäckigen Prozessen. Den einfachen Weg des älteren deutschen Rechts, den Vormund zum Eid zuzulassen, er habe die Schmälerung nicht zu vertreten,5 kannte das rationalistisch konzipierte Recht des klassischen Athen nicht. Die Schmutzwäsche musste vor den großen Laiengerichtshöfen gewaschen werden. Am Höhepunkt seiner Klägerrede zeigt Demosthenes aber einen Weg, wie sein Vormund Aphobos das unerquickliche Auftreten vor Gericht hätte vermeiden können (Dem 27, 58): „Vieles andere könnte ich freilich gegen ihn noch vorbringen, doch wenn ich die Hauptsache erwähne, kann ich seine ganze Verteidigung zunichte machen: Er hätte sich nämlich alle Schwierigkeiten ersparen können, wenn er das Vermögen verpachtet hätte nach diesen Gesetzen hier“ — nun verliest der Gerichtsschreiber die vom Kläger vorgelegten Gesetze, deren Wortlaut leider nicht in die Manuskripte mit aufgenommen ist. Demosthenes fährt fort, wie gut manche Mündel mit der Verpach-
5
OGRIS, Mündelgut 736 verweist auf Ssp Ldr I 23 § 1.
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tung gefahren seien, und schließt (§ 59): „Wenn er nun behauptet, es sei ‚besser’ gewesen, das Vermögen nicht zu verpachten, soll er doch zeigen, nicht dass ich das Doppelte oder Dreifache zurückbekommen habe, sondern wenigstens das volle Kapital.“ Nach der bisherigen Quellenlage6 geschah die Verpachtung von Mündelvermögen folgendermaßen: Der Vormund meldet seine Vormundschaft beim Archon an und beantragt gleichzeitig, das Vermögen (den oikos, wörtlich das „Haus“) zu verpachten. Wolff7 hat erkannt, dass mit oikos in diesem Zusammenhang nicht Grundstücke gemeint sind, sondern der Kapitalwert von Betrieben. Als Verpächter sei nicht der Vormund aufgetreten, sondern der Archon, der den oikos vor einem Gerichtshof in einer Versteigerung dem günstigsten Pächter gegen entsprechende dingliche Sicherheiten zugeschlagen habe. Der Pächter führte, so viel ist sicher, den Betrieb auf eigene Rechnung und zahlte Zinsen (sie werden technisch so bezeichnet, tokoi, nicht Mietzins, misthos). Diese dienten zum Unterhalt des Mündels, sofern dafür nicht die Einkünfte aus vom Vormund verwalteten Grundstücken herangezogen wurden. Bei großen Vermögen zahlte der Pächter dem mündig Gewordenen manchmal den Zinsbetrag in einem gemeinsam mit dem Kapital aus. So wird der Vermögenszuwachs „um das Doppelte und Dreifache“ in der Demosthenesrede erklärt.8 Dieses Geschäft hatte eine Reihe von Vorteilen für alle drei Beteiligten: Das Vermögen des Mündels und, wenn nötig, sein Unterhalt waren optimal gesichert. Der Pächter trug das volle Risiko des Gewerbebetriebs, doch stand ihm dafür auch der die Zinsen übersteigende Gewinn zu. Und der Vormund musste am Schluss über das Betriebskapital nicht Rechenschaft geben. Kleinere Vermögen blieben stabil, nur große konnten wachsen. Dieses bisher bekannte, ausgeklügelte System der Mündelsicherung erfährt durch das neu gefundene Fragment der Hypereidesrede eine weitere Verfeinerung. Folgende Fakten sind dem Text zu entnehmen:9 Ein Athener, dessen
Siehe vor allem Isaios 6, 36 (Text siehe FN 14) in der Interpretation von HANS JUWOLFF, Verpachtung von Mündelvermögen, in: FS Hans Lewald (Basel 1953) 201–208.
6
LIUS 7
WOLFF, Verpachtung 205.
Allerdings ist in keiner Quelle der Zinssatz erwähnt. Weiter unten wird eine andere Erklärung vorgeschlagen.
8
Zur genaueren Analyse des Falles siehe «ANREDE», Zur phasis in der neu entdeckten Rede Hypereides’ gegen Timandros, ZRG RA 125 (2008) 645–663, und nach dem von HORVÁTH, Note, verbesserten Text GERHARD THÜR, Zu misthosis und phasis 9
Mündelgut: Verpachtung im antiken Athen
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Name im erhaltenen Teil nicht genannt wird, war gestorben, ebenso seine Frau. Sie hinterließen vier Waisen, zwei Söhne und zwei Töchter. Der ältere Sohn, Antiphilos, verstarb ebenfalls, der jüngere, Akademos, erhebt nach Mündigkeit eine Vormundschaftsklage (dike epitropes) gegen Timandros. Dieser, vermutlich einer von mehreren Mitvormündern, hatte das jüngere Mädchen 13 Jahre lang auf Lemnos großgezogen. Die Rede hält nicht der junge Kläger Akademos selbst, sondern in dessen Anwesenheit ein namentlich nicht genannter Fürsprecher (synegoros). Soweit aus der Klägerrede ersichtlich, verteidigt sich der ehemalige Vormund Timandros damit, dass der Betrieb, um den es offensichtlich geht, so wie in der Demosthenesrede geraten, verpachtet war, und zwar an ihn, den Vormund, selbst.10 Er müsse also nur das bei Verpachtung festgelegte Betriebskapital zurückgeben, nicht etwa einen höheren Wert. Der Kläger bestreitet nicht die rechtliche Zulässigkeit einer Pacht durch den Vormund Timandros, sondern behauptet, dieser habe die Pacht ohne Mitwirkung des Archon erschlichen. Lassen wir nun die klagende Partei selbst zu Wort kommen.11 Da das Textfragment mitten in einem Satz einsetzt, muss ich den Beginn hypothetisch ergänzen (Z 1–17): „[- - - Die Vormünder hätten das Vermögen gemäß den Gesetzen verpachten können, so dass das verwaltete Kapital]12 für die Kinder nicht geringer wäre als der Betrag, der vor Gericht erzielt wurde. Doch wenn die Vormünder für die Kinder mehr zur Seite legen wollen, möge das zu deren öffentlichen Ansehen beitragen. Dass die Vormünder das Vermögen von sich aus pachten, verbieten die Gesetze ganz und gar. Es ist aber möglich, dass (sie) vor Gericht bestreiten (und behaupten), dass es nicht besser sei, das Vermögen der Kinder zu verpachten, und dass diejenigen von euch, die als Richter erlost werden, (den Fall) anhören und durch Abstimmung beschließen, was am besten für oikou orphanikou in Hypereides, Gegen Timandros, Acta Ant Hungarica 48 (2008) 125–137. 10
Dass das rechtlich zulässig war, hat WOLFF, Verpachtung 202 f nachgewiesen.
Ich folge dem von HORVÁTH, Note, publizierten griechischen Text, der hier nicht nochmals wiedergegeben werden kann; dort auch meine Übersetzung, THÜR, misthosis 125–127. 11
Als Ergänzung schlage ich vor: [ἐξῆν δὲ τοῖς ἐπιτρόποις μισθῶσαι τὸν οἶκον κατὰ τοὺς νόμους, ὥστε τὸ κεφάλαιον τὸ διαχειρισθὲν] τοῦ μὲν εὑρίσκοντος ... (weiter s. HORVÁTH), vgl Dem 27, 58; κεφάλαιον in Dem 27, 11. 66; διαχειρισθέν vgl Z 14 des
12
Fragments. Für Diskussion des Textes im März 2009 im Institute for Advanced Study, Princeton, danke ich besonders Herrn Kollegen Glen Bowersock.
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das Kind zu sein scheine. Und verlies mir diese Gesetze. GESETZE. Von (all) dem tat dieser nichts, er ließ das Vermögen nicht einmal beim Archon registrieren. Und nimm mir das Zeugnis zur Hand. ZEUGNIS. Darüber, dass jener Timandros dort das Geldvermögen des Akademos hier nicht den Gesetzen gemäß verwaltet hat, habt ihr die Gesetze gehört, und die Zeugen dafür, dass er sowohl das Vermögen nicht verpachten ließ und auch, als jemand anderer die phasis erhob, damit (es) verpachtet würde, (diese) verhinderte. Dass er dies, um das Geld zu rauben, auf eben diese Weise getan hat — bei Zeus —, das werde ich zeigen.“ Es folgt ein längerer emotional gefärbter Abschnitt, in dem der Sprecher dem Beklagten vorwirft, dass er das jüngere Mädchen nach Lemnos „verschleppt“ und die Waisenkinder gegen das Gesetz von einander getrennt habe (Z 18– 59). Er fährt fort (Z 60–64): „Aus seiner Armut heraus hat er nämlich die Vormundschaft über diesen Akademos hier übernommen, aus dessen Hab und Gut hat er (nun) mehr als fünf Talente Vermögen in Händen, wie ich euch beweisen werde: Denn gleich im allerersten Jahr, als deren Vater gestorben war, nahm er das Mädchen und fünf [Sklaven(?) zu sich nach Lemnos - - - ]“ Zwei Probleme der Verpachtung von Mündelvermögen lassen sich aus diesem Text lösen: 1) Wer tritt als Verpächter auf, wer als Pächter, und worin liegt das Meistgebot? 2) Kann auch ein Außenstehender die Verpachtung durchsetzen? In der ersten Frage tritt Wolff der älteren Meinung entgegen, der Vormund habe durch privaten Vertrag verpachtet.13 Zu Recht sieht er in der umstrittenen Stelle Isaios 6, 3614 ein öffentliches Verfahren belegt, in dem seiner Meinung nach der Archon dem Pächter den Zuschlag erteilte. Somit fallen für die Isaiosstelle die Bedenken dagegen weg, dass auch der Vormund selbst Pächter werden konnte — in einem privaten Vertrag hätte er unzulässigerweise mit sich selbst kontrahiert. Auch das Timandrosfragment ist nur so zu verstehen, dass der Vormund zwar pachten dürfe, Timandros aber nicht das
13
WOLFF, Verpachtung 204.
Isaios 6, 36: „Sie ließen die beiden Knaben beim Archon ... registrieren, schrieben sich selbst als Vormünder dazu und verlangten, dass der Archon die Vermögen verpachte ..., um selbst Pächter zu werden und die Einkünfte zu ziehen.“
14
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korrekte Verfahren eingehalten habe.15 Damit ist WOLFF in diesem Punkt bestätigt. Doch seine Lösung, wer verpachtet habe, lässt sich aus dem neuen Text korrigieren. Wir sehen, dass nicht der Archon dem günstigsten Pachtbewerber den Zuschlag erteilte, sondern ein für die Sache eingesetzter Gerichtshof darüber förmlich abstimmte. Der Archon war nur formeller Leiter dieses Verfahrens, traf aber keine Entscheidung in der Sache. Man hat sich also das ‚Versteigerungsverfahren’ als Prätendentenstreit vor Gericht vorzustellen, prozessual einer diadikasia vergleichbar, worin mehrere Bewerber um das bessere Recht an einem Nachlass streiten oder darum, als Vormund eines reichen Mündels eingesetzt zu werden. Worin im Versteigerungsverfahren das Meistgebot lag, war bisher unklar: Erhielt derjenige Pachtbewerber den Zuschlag, der den höchsten Zinssatz oder der die besten Sicherheiten bot?16 Der neue Text macht nun eine dritte Lösung wahrscheinlich. Vom Zinssatz ist in keiner Quelle die Rede, er dürfte durch Gesetz oder Herkommen generell geregelt gewesen sein. Nach dem Beginn des Fragments dürfte das Angebot der Bewerber darin bestanden haben, den Geldwert des zu verpachtenden Betriebs einzuschätzen. Mit dem Zuschlag durch das Gericht war dieser Wert für die künftige Rückzahlung verbindlich, die Höhe der laufend zu zahlenden Zinsen ergab sich dann von selbst. Es wäre nämlich sinnlos, über die Höhe des Zinssatzes zu lizitieren, wenn das Kapital noch gar nicht feststeht — jeder weiß, dass man über den Kapitalwert eines Gewerbebetriebs trefflich streiten kann. Den Zuschlag bekam also derjenige Pachtbewerber, welcher den Wert des Betriebs am höchsten einschätzte. Zusätzliche Kriterien waren gewiss auch die angebotenen Sicherheiten und vielleicht auch das persönliche Naheverhältnis zur Familie des Erblassers. All das mussten die Bewerber dem Gericht in mündlicher Rede vortragen, worauf dieses durch Abstimmung „zum Besten des Kindes“ entschied. Auf diese Weise könnte man auch die Steigerung von Mündelvermögen „um das Doppelte und Dreifache“ in Dem 27, 58 erklären. Demosthenes ging vermutlich vom geringsten Angebot aus; auch wenn am Ende der Pacht der Zinsbetrag in einem ausbezahlt wurde, dürfte das allein für die enorme Wertsteigerung nicht ausgereicht haben. Angesichts der dinglichen Sicherheiten wird man bei Mündelgut eher einen niedrigen Zinssatz annehmen müssen. Der Standpunkt Timandros’ in seiner Verteidigungsrede dürfte gewesen sein, er habe die Registrierung und Verpachtung (an ihn selbst) korrekt bei den athenischen Behörden auf Lemnos durchgeführt. 15
16
Diese Alternative sieht HARRISON, Law 106.
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Durch Verpachtung des Betriebs konnte der Vormund also künftigem Streit um die Rechenschaft über das Kapital vorbeugen. Doch was geschah, wenn der Vormund diesen Weg nicht einschlagen wollte? Führte er den Betrieb ohne Verpachtung selbst, konnte er jahrelang den Gewinn ziehen und am Schluss noch Verluste in der Substanz behaupten. Es bestand somit zum Wohle des Mündels höchstes Interesse daran, einen suspekten Vormund zur Verpachtung zu zwingen. Diesem Zweck diente eine weitere Einrichtung, die „Anzeige von Mündelgut“ (phasis oikou orphanikou) an den Archon. Auch zu dieser höchst umstrittenen prozessualen Maßnahme gibt der neue Text Aufschluss. Die phasis wurde in Athen in gänzlich verschiedenen Tatbeständen eingesetzt.17 Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass jeder beliebige Athener, der im Vollbesitz seiner bürgerlichen Rechte war, durch Anzeige an verschiedene Amtsträger in einem gerichtlichen Verfahren gegen öffentliche Missstände einschreiten konnte. Oft handelte es sich um finanzielle Schädigung des Staates, und der Anzeigende erhielt, wenn er den Delinquenten vor Gericht überführte, als ‚Ergreiferprämie’ die Hälfte der Strafsumme. Bei der Mündel-phasis liegt zwar der eventuell abzustellende Missstand — ein Mündelbetrieb wurde nicht verpachtet — auf der Hand, nicht aber der Vorteil, der dem Anzeiger zufallen könnte. Die ältere Literatur18 betrachtete die Mündel-phasis als eine der zahlreichen Popularanklagen (ähnlich der „Meldeklage“, eisangelia, zum Schutze von Mündelvermögen), die im Katalog der einschlägigen Strafklagen in der Athenaion Politeia (56, 6) zufällig fehlt. Wolff deutet jene phasis hingegen als schlichte Anzeige an den Archon, ein von einem Vormund verwalteter Betrieb sei nicht verpachtet, ohne weitere strafrechtliche Konsequenz. Sie sei im nächsten Abschnitt, der von der Verpachtung handelt (§ 7), mit erfasst.19 Aus dem oben zitierten Beginn des Timadrosfragments kann man diese Deutung nun präzisieren. Der Sprecher behandelt die Verfahren von Verpachtung und phasis in unmittelbarem Zusammenhang. Er gebraucht dabei den Terminus „bestreiten“ (amphisbetein), der für einen unter mehreren Bewerbern auszutragenden Prätendentenstreit typisch ist. Der Vormund macht sein Recht Siehe dazu D.M. MACDOWELL, The Athenian Procedure of Phasis, in: MICHAEL GAGARIN (Hrsg), Symposion 1990 (Köln 1991) 187–198; R.W. WALLACE, Phainein in Athenian Laws, in: GERHARD THÜR / F. J. FERNÁNDEZ NIETO (Hrsg), Symposion 1999 (Köln 2003) 167–181. 17
OTTO SCHULTHEß, Die Vormundschaft nach attischem Recht (Freiburg 1886) 209 f.
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WOLFF, Verpachtung 207.
Mündelgut: Verpachtung im antiken Athen
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gegen andere Prätendenten geltend. Man kann sich demnach das Verfahren der phasis folgendermaßen vorstellen: Der Einschreitende richtet an den Archon nicht nur eine schlichte Anzeige, sondern bewirbt sich gleichzeitig um die Pacht des vom Vormund verwalteten Betriebs. Der Archon hat hierauf — ohne Initiative durch den Vormund — ein gerichtliches Verfahren zur Verpachtung einzuleiten. Doch in diesem Verfahren hat der Vormund, wenn er die Notwendigkeit der Verpachtung bestreitet, das erste Wort. Überzeugt er die Gerichtsversammlung davon, dass der Betrieb bei ihm in besten Händen sei, wird das Begehren des Einschreitenden abgewiesen und das phasis-Verfahren ist zu Ende; der Vormund darf den Betrieb in eigener Regie weiter führen.20 Stimmen die Richter gegen den Einwand des Vormunds, kommt es zur Versteigerung, zu einer weiteren Abstimmung über den geeignetsten Pächter. Hier kann der Einschreitende neben weiteren Bewerbern, vermutlich auch unter Einschluss des Vormunds, mitbieten. Auf diese Weise kann eine Verpachtung auch gegen den Willen des Vormunds durchgesetzt werden. Die ‚Ergreiferprämie’ des Einschreitenden liegt darin, dass er den Betrieb zur Pacht bekommt, wenn er in allen beiden Abstimmungen des phasis-Verfahrens als Sieger hervorgeht. Doch als Pächter übernimmt er auch das Risiko, dass der Betrieb während der Vormundschaft den zu Beginn vor Gericht festgesetzten Wert verliert oder weniger Gewinn abwirft, als dem Mündel an Zinsen zu zahlen sind.21 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Athener mehrere ausgeklügelte prozessuale Mechanismen entwickelt hatten, um Mündeln hinterlassene Gewerbebetriebe in ihrer finanziellen Substanz zu sichern. Ohne weitere Maßnahmen haftete der Vormund für das zu Beginn seiner Tätigkeit übernommene Betriebsvermögen, von ihm nicht zu vertretene Verluste hatte das Mündel zu tragen. Der schwierige Nachweis dieser Umstände führte nach Beendigung der Vormundschaft oft zu erbitterten Prozessen. Diese konnten durch Verpachtung des Betriebs vermieden werden. Auf Antrag des VorDas geschah in dem Fall Dem 38, 23: „Sie haben doch unser Vermögen nicht verpachtet, werden sie wohl sagen. Gewiss nicht, denn euer Onkel Xenopeithes wollte das nicht, sondern als Nikidas eine phasis erhoben hatte, überzeugte er die Richter, ihm die Verwaltung zu belassen.“ 20
Dass Timandros als Vormund die phasis „verhindern“ konnte, der Archon also die Anzeige gegen ihn zurückwies, dürfte damit zu erklären sein, dass eine ordnungsgemäße Verpachtung bereits vor der athenischen Behörde auf Lemnos stattgefunden hatte; siehe oben FN 15. 21
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munds setzte der für den Schutz der Mündel zuständige Archon ein Gerichtsverfahren ein, in welchem die Pacht demjenigen Bewerber zugeschlagen wurde, welcher den Wert des Betriebs am höchsten einschätzte und die nötigen dinglichen Sicherheiten samt persönlicher Vertrauensstellung bot. Damit waren der Vermögenswert des Betriebs und durch die Zinsen in der Regel auch der Unterhalt des Mündels gesichert. Auf Anzeige (phasis) eines beliebigen Außenstehenden hatte der Archon dieses Versteigerungsverfahren auch gegen den Willen des Vormunds einzuleiten. Mit der Anzeige verband der Einschreitende den Antrag, selbst Pächter zu werden. Er musste sich aber vor Gericht sowohl gegen den widerstrebenden Vormund als auch gegen weitere Mitbewerber durchsetzen. Gegen Schwinden war Mündelgut in Athen rechtlich gut gesichert. Für Mündelgrundstücke muss man ein Veräußerungs- und Belastungsverbot annehmen. Geld sollte der Vormund in Liegenschaften anlegen.22 Gewerbetriebe sollte er verpachten. All das war durch Strafklagen und eine Anzeige abgesichert, die jeder Bürger beim Archon einzubringen berechtigt war. Wachsen konnte Mündelgut in der Regel nicht. Nur wenn Betriebe verpachtet waren und die Zinsen die Unterhaltskosten für die Mündel überstiegen, konnte sich deren Vermögen vermehren.23
22
Empfohlen in Lysias 32, 23.
Ich danke Herrn Kollegen Wesener, der mich noch in Graz auf den Zusammenhang mit dem deutschen Rechtssprichwort aufmerksam gemacht hat. 23
Bleibende Erinnerungszeichen an eine Rechtslehre* ROBERT WALTER, Wien
I. Einleitung Seit altersher treffen die Menschen in der sie umgebenden Welt nicht nur auf die Gegenstände der Natur, sondern unter anderem auch auf zahlreiche Zeichen der Erinnerung. Man denke an Pyramiden, Obelisken, Gedächtnissäulen und -steine, Mausoleen, Ehrensäulen, Triumphbögen, Gedächtniskirchen, Sühnekreuze, Kriegerdenkmäler und Denkmäler, die an berühmte Personen oder bedeutende Ereignisse (zB Schlachten) erinnern. Im Folgenden sollen verschieden Zeichen der Erinnerung behandelt werden, die an Persönlichkeiten erinnern, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie eine bestimmte wissenschaftliche Lehre von bedeutendem Einfluss vertreten haben. Es ist die von Hans Kelsen (1881–1973) grundgelegte und von ihm und seinen Schülern – unter welchen Adolf Merkl (1890–1970) und Alfred Verdroß (1890–1980)1 hervorragen – weiterentwickelte Reine Rechtslehre. Eine wissenschaftliche Lehre findet natürlich vor allem in Büchern und in Aufsätzen ihren Niederschlag. Diese aber fallen vielfach der Vergessenheit anheim und verstauben in Bibliotheken. Man wird jedoch an sie erinnert, wenn man auf bleibende Erinnerungszeichen für Hauptvertreter dieser Lehre stößt. Solchen – wahrscheinlich nicht abschließend angeführten – Zeichen der Erinnerung, die – wie sich zeigt – von verschiedener Art sein können, sind die folgenden Bemerkungen gewidmet.
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Ich danke Herrn Dr. Klaus Zeleny für seine Mitwirkung an diesem Beitrag.
Über die Bedeutung von Verdroß für die Reine Rechtslehre vgl WALTER, Die Rechtslehren von Kelsen und Verdroß unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts, in: ROBERT WALTER / CLEMENS JABLONER / KLAUS ZELENY (Hrsg), Hans Kelsen und das Völkerrecht (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 26, 2004) 37 ff. 1
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II. Die einzelnen Zeichen A. Denkmäler und Erinnerungstafeln a) Das bedeutendste Zeichen für den Hauptvertreter der Reinen Rechtslehre Hans Kelsen stellt wohl die Büste des Gelehrten in den Arkaden des Hauptgebäudes der Universität Wien,2 Dr. Karl Lueger-Ring 1, dar. Aus Anlass der Eröffnung der Internationalen Tagung „Hans Kelsen. Leben – Werk – Wirksamkeit“ am 19. April 2009 hat der hier geehrte Jubilar Werner Ogris die Kelsenbüste und die diese umgebenden Erinnerungszeichen den Festgästen eingehend vorgestellt und erklärt. Die Kelsenbüste findet sich im linken Flügel des Arkadenhofes des Universitätsgebäudes (3. Arkade), steht unmittelbar an der Wand und wird von Büsten anderer bedeutender Gelehrter, insbesondere auch Rechtslehrern umgeben. Diese Büste aufzustellen hat der Verfasser dieses Beitrags zusammen mit anderen Fachprofessoren angeregt. Sie erfolgte nach Stellungnahme der so genannten Kunstkommission der Universität Wien und der entsprechenden einhelligen Beschlussfassung im Akademischen Senat der Universität Wien (1. Dezember 1983). Diesem lag eine bereits früher erlassene – in ihrem Rechtscharakter fragliche – Geschäftsordnung zugrunde. Deren Forderung, dass der Gelehrte, dessen Denkmal im Arkadenhof aufzustellen beantragt ist, bereits vor mindestens zehn Jahren verstorben sein müsste, war gegeben. Es zeigten sich aber in der Kunstkommission eigenartigerweise Meinungen, dass die Aufstellung von Denkmälern „überholt“ sei. Nach längerer Diskussion konnte jedoch erreicht werden, dass sich die Kunstkommission der Aufstellung der Kelsenbüste nicht entgegenstellte,3 die Beschlussfassung im Akademischen Senat daher komplikationslos erfolgte. Die Enthüllung der Büste fand am 23. November 1984 – nach Abhaltung einer Gedenkfeier – durch den damaligen Bundesminister für Wissenschaft und Forschung Dr. Heinz Fischer statt, der sich dabei ausführlich mit der Reinen Rechtslehre und ihrem Begründer Kelsen befasste (vgl Anhang I). Die dargelegte Aufstellung der Kelsenbüste in Wien veranlasste die Universität Bologna (an der die Lehre der Rechtstheorie eine besondere Rolle spielt) sich um ein Duplikat der Büste zu bemühen. Der damalige Präsident des VerVgl das Bild der Büste in THOMAS MAISEL, Gelehrte in Stein und Bronze (2007) 38 (Nr 17).
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Im Zuge der Gespräche wurde auch – als moderner – die Aufstellung einer Stele ins Spiel gebracht. Eine Stele ist aber nur eine Art von Denkmal, sodass sich der Sachverhalt nicht ändern würde.
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fassungsgerichtshofes Dr. Ludwig Adamovich übernahm es, die Kopie der Kelsenbüste dem Rektor der Universität Bologna zu übergeben (27. Mai 1987) und bei der Aufstellung die Festrede zu halten (vgl Anhang II). Einen besonderen Standort für ein weiteres Duplikat der Kelsenbüste wurde von Bundespräsident Dr. Heinz Fischer ausgewählt: Er bestimmte ein Zimmer der Prunkräumlichkeiten der Hofburg als „Hans Kelsen Zimmer“, in dem die Büste aufgestellt worden ist. Davor wurde die Büste in größerem Rahmen am 5. Dezember 2007 vorgestellt. Gleichzeitig wurde Band I der Gesamtausgabe der „Hans Kelsen Werke“ präsentiert. b) In einem gleichartigem Verfahren wie bei der Kelsenbüste wurde die Anbringung eines Reliefs des bedeutenden Vertreters der Reinen Rechtslehre Adolf Merkl in den Arkaden der Universität Wien4 beschlossen (21. Juni 1990). Das am 30. November 1990 vom damaligen Bundesminister für Wissenschaft und Forschung Dr. Erhard Busek enthüllte Relief befindet sich im linken Flügel des Arkadenhofes in der Nähe des Denkmals für Hans Kelsen, beim Ausgang in den Innenhof. Die Festrede hielt o.Univ.-Prof. DDr. Robert Walter (vgl Anhang III). c) Nach dem Tode von Alfred Verdroß wurde von mehreren Professoren der Wiener Juristenfakultät ein Antrag auf Anbringung einer Gedenktafel in den Arkaden des Hauptgebäudes der Universität Wien gestellt. Diesem wurde jedoch nicht Rechnung getragen, weil die geschäftsordnungsmäßig vorgesehene Frist seit dem Tod von Alfred Verdroß noch nicht abgelaufen war. d) Eine Erinnerungstafel für Hans Kelsen wurde in Wien aus Anlass seines 90. Geburtstags, und zwar an seinem Wiener Wohnhaus Wickenburggasse 23 (8. Bezirk) angebracht. Die Enthüllung erfolgte am 22. Oktober 1971 durch die damalige Frau Bundesminister Dr. Hertha Firnberg, die auch die Festrede hielt (vgl Anhang IV). Der Text auf dieser Tafel lautet: „Hans Kelsen, Schöpfer der Österreichischen Bundesverfassung und Begründer der Reinen Rechtslehre, wohnte in diesem Hause von 1912 – 1930“. e) Eine weitere Erinnerungstafel für Hans Kelsen wurde an der Ethnic Science Library der Universität Berkeley, Kalifornien, angebracht. Sie setzte ein Zeichen der Erinnerung, das zunächst in der Benennung eines Bibliotheksgebäudes als „Hans Kelsen Library“ bestand. Nach Auflösung dieser Bibliothek wurde eine Erinnerungstafel angebracht. Der Text auf dieser Tafel lautet: „Hans Kelsen (1881 – 1973). Hans Kelsen, a leading legal philosopher of his century, was a judge on the supreme constitutional court of Austria the principal 4
Vgl das Bild des Reliefs in THOMAS MAISEL, Gelehrte, 41 (Nr 23).
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framer of the Austrian democratic constitution of 1920, and an authority on international law and the United Nations. A refugee from the nazi regime, he was appointed professor of political science in 1945 and remained an active member of the Berkeley campus community long after his retirement in 1952. The lower floors of Stephens Hall housed the Hans Kelsen graduate social science library from 1964 to 1994. Built in 1923 and designed by John Galen Howard, this building originally served as the campus student union.” f) An Kelsens Ausbildung am Akademischen Gymnasium in Wien erinnert eine Gedenktafel, die am Schulgebäude des Akademischen Gymnasiums (Beethovenplatz 1, I. Bezirk) angebracht ist. Sie wurde am 17. November 2003 enthüllt. Der Text lautet: „Hans Kelsen (1881–1973). Schüler des Akademischen Gymnasiums 1892–1900. Mitgestalter der Bundesverfassung von 1920 und Schöpfer der Reinen Rechtslehre. Hans Kelsen-Institut – Freunde des Akademischen Gymnasiums“. g) Derzeit sind Bemühungen im Gang, an jenem Haus, das anstelle des abgerissenen Geburtshauses Kelsens in Prag, Spálená 63, errichtet wurde, eine entsprechende Gedenktafel anzubringen. h) Als ein einer Tafel ähnliches Erinnerungszeichen ist wohl anzusehen, dass im Parlamentsgebäude der Republik in Wien (Dr. Karl Renner-Ring 3, I. Bezirk) am 1. Oktober 1997 ein Gemälde, das Kelsen zeigt, feierlich enthüllt wurde. Das Bildnis befindet sich im Lokal VIa des Parlamentsgebäudes (vgl Anhang V). i) Eine Gedenktafel für Adolf Merkl wurde an seinem letzen Wohnhaus in Wien (Heiligenstädter Pfarrplatz 1, 19. Bezirk) am 29. Oktober 1996 enthüllt. Der Text lautet: „In diesem Hause wohnte o.Univ.-Prof. Dr. Dr.h.c.mult. Adolf J. Merkl (1890–1970). Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien. Begründer der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung“. j) Auch am langjährigen Wiener Wohnsitz von Alfred Verdroß wurde eine Gedenktafel für den Genannten angebracht. Sie befand sich am Haus Pokornygasse 23 (XIX. Bezirk), wurde später aber anlässlich einer Renovierung des Gebäudes entfernt. Eine Wiederanbringung konnte bisher nicht bewirkt werden.
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B. Straßenbenennungen5 a) Auf Grund eines entsprechend ausgeführten Antrags des Hans Kelsen-Instituts beschloss der Wiener Gemeinderatsausschuss für Kultur und Bürgerdienst am 5. November 1981 eine Verkehrsfläche im 3. Wiener Gemeindebezirk nach Hans Kelsen zu benennen. Es handelt sich um einen Straßenzug, der von der Ghegastraße nach Süden abzweigt und nun die Bezeichnung „Kelsenstraße“ führt (früher hieß das Gebiet Marx Meidlinger-Straße). b) Der Stadtsenat der Landeshauptstadt Linz benannte auf Vorschlag des Archivs der Stadt Linz mit Beschluss vom 20. Oktober 1973 eine Straße im Ortsteil Katzbach (Linz-Urfahr) nach Hans Kelsen. c) In der Landeshauptstadt St. Pölten wurde auf Grund eines Beschlusses des Gemeinderates vom 27. Juli 1974 eine bisher unbenannte Verkehrsfläche in St. Pölten-Spratzern als „Kelsengasse“ benannt. Der Vollständigkeit halber sei angeführt, dass einige Verkehrsflächen die Bezeichnung „Verdroß“ erhalten haben, diese aber nicht nach Alfred Verdroß benannt sind: Der Verdroßplatz in Innsbruck ist nach Ignaz Freiherr von Verdroß-Droßberg6 benannt, ebenso die Verdroßstraßen in Hall/Tirol und Mals/Südtirol, während die Verdroßstraße in Deutschlandsberg nach Dr. Viktor Verdroß7 benannt ist. C. Briefmarken Bleibende Erinnerungszeichen – vor allem in vielfach aufbewahrten Korrespondenzen und Sammlungen – bilden Briefmarken. Als solche sind hier nachfolgende zu erwähnen: a) Auf Grund eines entsprechenden Antrags des Hans Kelsen-Instituts wurde 1981 von der Österreichischen Post zu Ehren Hans Kelsens eine Briefmarke mit dem Porträt Kelsens herausgegeben. Die Briefmarke, die in der Farbe Dunkelkarmin (Rot) gehalten ist, hat einen Wertaufdruck von öS 3,-. Der Text lautet: „Hans Kelsen 1881–1973“ und „Begründer der Reinen Rechtslehre“. Der offizielle Ersttagsbrief vom 9. Oktober 1981 ist nicht nur mit der Kelsenbriefmarke frankiert, sondern zeigt zusätzlich auf der Vorderseite ein Über die Funktion der Straßennamen als „Denkmäler“ vgl ALOIS SILLABER, Straßennamen: Wegweiser zur Identität, in: STEFAN RIESENFELLNER (Hrsg), Steinernes Bewusstsein I (1998) 575 ff. 5
Ignaz v. Verdroß-Droßberg (1851–1931), Alfred Verdroß’ Vater, war General der k.u.k. Armee und Kommandant des XIV. Edelweißkorps im 1. Weltkrieg. 6
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Dr. Viktor Verdroß war Arzt im Bezirk Deutschlandsberg/Steiermark im 20. Jh.
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Foto der Kelsentafel in der Wickenburggasse und den Hinweis auf den Anlass (100. Geburtstag) sowie auf der Rückseite den Aufdruck einer kurzen Würdigung Kelsens in deutscher, englischer und französischer Sprache. In jüngerer Zeit wurde von der Österreichischen Post die Möglichkeit eröffnet, Privatbriefmarken herstellen zu lassen. Davon hat das Hans Kelsen-Institut bislang in drei Fällen Gebrauch gemacht. b) Im Jahre 2004 wurde vom Hans Kelsen-Institut eine neue Kelsen-Privatbriefmarke in Umlauf gebracht. Sie zeigt ein Porträt Kelsens und einen Wertaufdruck von € 0,55 und ist in der Farbe Grün gehalten. Der Text entspricht der früheren Marke. c) Eine weitere Kelsen-Privatbriefmarke wurde Anfang 2007 vom Hans Kelsen-Institut in Umlauf gebracht; sie ist ebenfalls durch ein Porträt Kelsens gekennzeichnet, aber in der Farbe Blau gehalten. Ihr Wertaufdruck ist € 0,55. Der Text entspricht dem der früheren Marken. d) Eine dem Gelehrten Adolf Merkl gewidmete Privatbriefmarke wurde im Jahre 2008 vom Hans Kelsen-Institut in Umlauf gebracht; sie zeigt ein Konterfei von Adolf Merkl und – um die Lehre des Genannten zu einem Teil zu kennzeichnen – den Text: „Adolf Merkl Stufenbau der Rechtsordnung“. Der Wertaufdruck der Marke ist € 0,55. D. Ehrengräber a) Von den genannten Vertretern der Reinen Rechtslehre wurde Adolf Merkl, der am 22. August 1970 verstarb, in einem Ehrengrab der Stadt Wien auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt (Gruppe 32 C, Nr 56); hier ruht Adolf Merkl gemeinsam mit seiner Gattin Edith (1903–1984). Der Vollständigkeit halber sei weiters angeführt: b) Der am 19. April 1973 verstorbene Hans Kelsen wurde – wie auch seine vorverstorbene Gattin – seinem Wunsche entsprechend eingeäschert und die Asche über dem Pazifischen Ozean verstreut. c) Alfred Verdroß, der am 27. April 1980 verstarb, wurde im Familiengrab im Kirchenfriedhof Innsbruck/Wilten bestattet.
III. Schluss Wenn man fragt, welche Wirkungen Erinnerungszeichen der dargestellten Art haben, sei darauf verwiesen, dass wohl kaum ein Jurist (hoffentlich aber auch andere Personen) – und zwar bis in die heutige Zeit – nicht an die Reine Rechtslehre denken wird, wenn er eine Ladung an eine Adresse in die Kel-
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senstraße (zB von der Sozialversicherung) erhält oder eine der nach Hans Kelsen benannten Straßen durchwandert oder durchfährt. Manche Besucher von Grinzing werden auf dem Heiligenstädter Pfarrplatz – einem Mittelpunkt von Heurigen und Gaststätten – die an Adolf Merkl erinnernde Tafel an seinem Wohnhaus – dem früheren Mesnerhaus der nahe liegenden Kirche – erblicken und ihre Erinnerung auffrischen. Der Besucher der zahlreichen Ehrengräber auf dem Wiener Zentralfriedhof wird – ebenso wie der bloße Besichtiger des Hauptgebäudes der Universität Wien – auf die dargelegten Gedenkzeichen stoßen und viele werden dabei ihre Erinnerungen sprechen lassen. Die neueren Strömungen der Kunsttheorie sind Denkmälern durchaus abhold.8 Dies ist bedauerlich. Denn auf diese Weise wird ein Stück des Weges zur Geschichte abgeschnitten. Was aber ist der Mensch ohne jeden Bezug zu seiner Vergangenheit? Um Klarheit über diese zu gewinnen, sind Viele bemüht. Dazu gehört unser Jubilar Werner Ogris, dem diese Zeilen in aufrichtiger Verbundenheit gewidmet sind.
Dies hat seinen Grund in dem oftmals gegebenen politischen Hintergrund von Denkmälern. Bedenken dieser Art kommen aber bei den Denkmälern für Wissenschaftler und ihre Lehren im Allgemeinen nicht in Betracht. Dies gilt insb für KELSEN und seinen Kreis. Diese Gelehrten haben bei ihrer Lehre eine explizite Abgrenzung zur Politik vorgenommen. Die vielfach vertretene Funktion von Denkmälern als politische Manifestationen trifft hier nicht zu. 8
Über die oftmals herausgestellte Funktion von Denkmälern als politische Manifestationen vgl zB – aus der umfangreichen Literatur – BILJANA MENKOVIC, Politische Gedenkkultur (1999); STEFAN RIESENFELLNER (Hrsg), Steinernes Bewusstsein I (1998). Viele Autoren in den denkmalkritischen Schriften der Gegenwart konstruieren politische Hintergründe auch bei Dichtern und Musikern, um ihre Thesen von der politischen Relevanz der Denkmäler zu unterstützen. Zur möglichen Kritik an Denkmälern vgl auch HANS-ERNST MITTIG, Über Denkmalkritik, in: HANS-ERNST MITTIG / VOLKER PLAGEMANN, Denkmäler im 19. Jahrhundert (1972) 283.
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Anhang I Ansprache von Bundesminister für Wissenschaft und Forschung Dr. Heinz Fischer anlässlich der Enthüllung der Büste Hans Kelsens im Arkadenhof der Universität Wien am 23. November 19849 Sehr geehrte Damen und Herren! Es erfüllt mich mit wirklicher Freude, Dankbarkeit und Genugtuung, dass es möglich wurde, heute eine Büste von Hans Kelsen in den Arkaden des Hauptgebäudes der Universität Wien zu enthüllen und diesen großen Gelehrten und hervorragenden Österreicher damit symbolisch und endgültig in die Reihe jener aufzunehmen, denen wir in sichtbarer Weise an der Wiener Universität ein besonderes Maß der Wertschätzung und Dankbarkeit ausdrücken wollen. Für mich hat dieser heutige Akt viele Facetten, die nicht nur mit der Person von Hans Kelsen, sondern auch mit der Geschichte unserer Republik verbunden sind. Zunächst darf ich an die Rolle von Hans Kelsen bei der Erarbeitung der österreichischen Bundesverfassung 1918–20 erinnern. Was mir dabei besonders imponiert, ist die Art, wie Kelsen die Unbestechlichkeit seines juristischen Denkens mit dem Verständnis für das Wesen des politischen Kompromisses zu verbinden in der Lage war. Was mir nicht weniger imponiert, ist die Tatsache, dass diese Verfassung nicht das Schicksal vieler anderer Verfassungsdokumente aus dieser Zeit geteilt hat, sondern nunmehr schon durch 64 Jahre hindurch die geachtete und beachtete Grundnorm unserer Republik darstellt. Ein Grundgesetz, das stabil genug ist, um die Kräfte der Politik und die Dynamik des Konfliktes zu bändigen. Aber auch flexibel genug, um Bewegung zu ermöglichen und nicht als Prokrustesbett empfunden und abgelehnt zu werden. Mir ist auch manche Kritik an unserer Verfassung nicht unbekannt, und sie verdient ernsthafte Erörterung. Aber letztlich empfehle ich, diese Kritik mit einem objektiven Maßstab zu messen und zu bewerten, nämlich der Fähigkeit, etwas Besseres als das Kritisierte auszuarbeiten und zu realisieren. Als weitere Facette der Ehrung von Hans Kelsen verweise ich im besonderen auf seine dominierende Rolle bei der Schaffung der österreichischen Verfassungsgerichts-
Dieser Text ist auch publiziert in: ROBERT WALTER (Hrsg), Hans Kelsen – Ein Leben im Dienste der Wissenschaft ( = Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 10, 1985) 7 ff, wiederabgedruckt in: ROBERT WALTER/ CLEMENS JABLONER / KLAUS ZELENY (Hrsg), Hans Kelsens stete Aktualität ( = Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 25, 2003) 63 f, sowie in: HEINZ FISCHER, Überzeugungen. Eine politische Biographie (2006) 146 ff. 9
Der hier abgedruckte Text folgt der letztgenannten Veröffentlichung.
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barkeit, auf seine Rolle im Verfassungsgerichtshof und auf seine Haltung gegenüber dem weiteren Schicksal des Gerichtshofes. Hier wird die Unbeugsamkeit, Geradlinigkeit und das persönliche Ethos von Hans Kelsen sichtbar – hineingewoben in die schwierige und später tragische Entwicklung der Ersten Republik. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, haben wir manche Lektion dazugelernt und können uns in gleicher Weise bekennen zu Kelsen und zur Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofes, dessen Mitglieder wir uns nicht unpolitisch, aber unparteiisch wünschen – so wie Kelsen selbst kein unpolitischer, aber ein unbestechlich unparteiischer Mann war. Meine Damen und Herren! Eine weitere und besonders wichtige Facette von Prof. Kelsen zu würdigen, nämlich seine Rolle als Wissenschafter, als Schöpfer der Reinen Rechtslehre, als Autor einer imponierenden Zahl von Büchern und Schriften auf höchstem wissenschaftlichem Niveau, ist vor allem die Aufgabe von Univ.-Prof. DDr. Robert Walter. Ich darf daher mit einigen persönlichen Bemerkungen schließen: Durch Christian Broda, dessen Taufpate Hans Kelsen bekanntlich war, habe ich Kelsen Anfang der 60er Jahre persönlich kennengelernt, konnte ihn 1964 in Berkeley besuchen und war tief beeindruckt von der Klarheit seines Denkens, von seinem Gedankenreichtum, von seiner Bescheidenheit, von seinen faszinierenden Erinnerungen an Entwicklungen in der Frühzeit unserer Republik und auch von seinem Humor. Ich denke z.B. an die schöne Geschichte, als man ihn veranlassen wollte, angesichts seiner erfolgreichen Arbeiten an der österreichischen Bundesverfassung und des vielfachen Bedarfes nach Verfassungen in den Nachfolgestaaten der Monarchie sich eine Türtafel mit der Berufsbezeichnung „Hans Kelsen – Verfassungsmacher“ zuzulegen. Ein Foto, das festhält, wie ich Kelsen zum Bürgermeister und Präsidentschaftskandidaten Franz Jonas begleiten durfte, und der Inhalt dieses Gespräches gehören zu meinen kostbaren Erinnerungen an Kelsen. Hans Kelsen hat ähnlich wie Sigmund Freud oder Erwin Schrödinger Höhen und Tiefen der Entwicklung unserer Heimat mitgemacht und war davon am eigenen Leib betroffen. Aber er ist Österreich immer verbunden geblieben und hat ein Werk geschaffen, das den Gezeiten der Zeitgeschichte Stand gehalten hat. Die Wiener Universität hat gegenüber Hans Kelsen schon 1961 die noble Geste der Verleihung des Ehrendoktorats der Staatswissenschaft gesetzt. Ich freue mich sehr, dass wir heute durch die Enthüllung einer Hans Kelsen-Büste an der Universität einen symbolischen Akt der endgültigen Heimholung setzen. Einen Akt der umfassenden Anerkennung seiner Leistung und – soweit dies überhaupt noch erforderlich sein sollte – der Versöhnung.
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Ich danke als Mitglied der Bundesregierung allen, die dazu beigetragen haben, insbesondere den zuständigen akademischen Gremien, den engagierten Mitgliedern des Hans Kelsen-Institutes und allen Teilnehmern am heutigen Festakt.
Anhang II Ansprache von Präsident des Verfassungsgerichtshofes Univ.-Prof. Dr. Ludwig Adamovich anlässlich der Enthüllung der Büste für Hans Kelsen an der Universität Bologna am 27. Mai 1987 Magnifizenz! Herr Präsident des italienischen Verfassungsgerichtshofes! Meine Herren Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist für mich eine besondere Ehre und Auszeichnung, der Universität Bologna eine Büste des großen Rechtstheoretikers und Staatsrechtslehrers Hans Kelsen übergeben zu dürfen. Die Initiative hiezu ist vom Präsidenten des italienischen Verfassungsgerichtshofes Prof. La Pergola ausgegangen. Der frühere österreichische Bundesminister für Wissenschaft und Forschung Dr. Heinz Fischer hat den Vorschlag aufgegriffen und die Büste gespendet. Beiden Herren möchte ich an dieser Stelle sehr herzlich danken. Eine besondere Verbindung zwischen der Person Hans Kelsens und der Universität Bologna bildet die Person des großen italienischen Dichters, Politikers und Gelehrten Dante Alighieri. Dieser hat an der Rechtsfakultät der Universität Bologna studiert und Hans Kelsen hat der Staatslehre Dantes seine erste Schrift (1905) gewidmet. Hans Kelsen war sicher einer der größten Rechtslehrer unseres Jahrhunderts. An seinen rechtstheoretischen Schriften kann niemand vorbeigehen, der eine ernste Auseinandersetzung mit der Materie sucht. Man kann nachher anderer Meinung sein, aber man darf sein Werk nicht ignorieren. Dass es heute in vielen europäischen Staaten eine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt, betrachten wir fast schon als Selbstverständlichkeit. Aber nicht alle sind sich des Umstandes bewusst, dass der Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit nach dem 2. Weltkrieg zugleich der Siegeszug eines von Hans Kelsen entwickelten Modells ist. Treffend verwendet der französische Staatsrechtslehrer Louis Favoreu in diesem Zusammenhang den Ausdruck „succès du modèle kelsénien après la seconde guerre mondiale“. Hans Kelsen hat einen strengen Unterschied gemacht zwischen Rechtswissenschaft und Politik. Das hat ihn nicht daran gehindert, seine eigene politische Meinung zu haben. Seine Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ gehört zum Besten, das je über die Demokratie gesagt worden ist.
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Die Rolle Hans Kelsens bei der Vorbereitung der Österreichischen Bundesverfassung von 1920 beschränkte sich keineswegs auf die Frage der Verfassungsgerichtsbarkeit. Es mag zwar übertrieben sein, wenn man ihn als „Schöpfer der Bundesverfassung“ bezeichnet, doch hatte er an deren Zustandekommen entscheidenden Anteil. Hans Kelsen war Mitglied und ständiger Referent des österreichischen Verfassungsgerichtshofes. Das Vaterland hat ihm dafür zunächst nicht gedankt. Erst nach dem 2. Weltkrieg hat er in Österreich die verdiente Würdigung erfahren. Die österreichische Bundesregierung hat ein eigenes Hans Kelsen-Institut geschaffen, das sich der Erforschung und Weiterführung seines Werkes widmet. Vorsitzender des Kuratoriums dieses Instituts ist der Bundeskanzler, den ich über diese Feierstunde informieren werde. Wenn nun an der ältesten Universität Europas mit der berühmtesten juridischen Fakultät die Büste Hans Kelsens steht, verschwimmen gewissermaßen Raum und Zeit zugunsten der überzeitlichen Idee der Wissenschaft.
Anhang III Ansprache von o.Univ.-Prof. DDr. Robert Walter anlässlich der Enthüllung der Gedenktafel für Adolf Merkl im Arkadenhof der Universität Wien am 30. November 1990 I.1. Vor sechs Jahren haben wir uns hier versammelt, um das Denkmal Hans Kelsens, des Hauptes der Wiener Schule der Rechtstheorie, zu enthüllen. Heute wollen wir Adolf Merkls gedenken, der diese rechtstheoretische Schule durch originelle Beiträge mitbegründet hat. Auf diese wissenschaftliche Leistung möchte ich zunächst unseren Blick lenken: 2. Als Kelsen im Jahre 1911 mit seiner Habilitationsschrift über die „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ den Grundstein für die Schule legte, war zwar deren Ziel und ihre Methode bestimmt, das Betrachtungsobjekt aber noch keineswegs zulänglich umschrieben und erfasst. Fest stand, dass „eine reine Rechtslehre als Theorie des positiven Rechts“ entwickelt werden sollte, die sich gegen eine soziologische Betrachtung des Rechts ebenso abgrenzen wollte wie gegen jede Art von Naturrechtslehre, die aus erkenntnistheoretischen Gründen – als jenseits wissenschaftlich möglicher Einsicht liegend – nicht zum Gegenstand der Rechtswissenschaft gewählt werden könne. So bot sich für Kelsen die Lösung an, seinen Betrachtungen das positive Gesetz zugrundezulegen und dessen Entstehung als politischen Prozess und dessen Vollziehung als Aufgabe der Praxis außer Betracht zu lassen. An dieser Stelle setzt Merkls vertiefte und erweiterte Sicht des Objekts ein. Er ist es, der deutlich macht, dass das Gesetz schon als etwas nach rechtlichen Regeln, nämlich der Normen der Verfassung Erzeugtes, anzusehen ist, aber auch als etwas, mit dem der Rechtserzeugungsprozess noch nicht als abgeschlossen angesehen werden kann. Da das positive generelle Ge-
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setz die zu seiner Vollziehung zu setzenden Rechtsakte, die Urteile und Verwaltungsakte, nicht vollständig vorausbestimme, finde auch im Rahmen der Vollziehung des Gesetzes Rechtsschöpfung statt, die in eine juristische Betrachtung einbezogen werden müsse. Dergestalt sei das Gesetz nur ein – freilich wichtiges – Produkt im dynamischen System von Rechtserzeugung und Rechtsanwendung: Das Gesetz schöpfe Recht im Rahmen der ihm von der Verfassung eingeräumten Ermächtigung und „vollziehe“ damit gleichzeitig die Verfassung, der Akt des Richters und Verwaltungsorgans „vollziehe“ zwar das Gesetz, schöpfe aber neues Recht, soweit das Gesetz, was vielfach der Fall ist, diese Akte nicht strikt vorausbestimme. Somit erweisen sich die rechtlichen Akte aller Stufen als von teils vollziehender, teils rechtserzeugender Natur, somit als Akte mit „doppeltem Rechtsantlitz“. Damit ist Merkls berühmt gewordene Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung in bestimmter Richtung aufgewiesen. Kelsen hat sie übernommen. Zu dieser Modifikation seiner Lehre schreibt er später (1923): „Das Verdienst, die Rechtsordnung als ein genetisches System von Rechtsnormen erkannt und dargestellt zu haben, die in stufenweiser Konkretisierung von der Verfassung…bis zu den individuellen Rechtsakten der Vollziehung fortschreiten, gebührt Adolf Merkl“. Seine „Stufentheorie des Rechts als Theorie der Rechtsdynamik“ habe „den im Absoluten erstandenen Gegensatz von Gesetz und Vollziehung, Rechtserzeugung und Rechtsanwendung… relativiert“. Er – Kelsen – habe „die Stufentheorie als einen wesentlichen Bestandteil in das System der Reinen Rechtslehre“ aufgenommen. Dieser Schritt Kelsens zeigt einmal mehr, dass die Wiener Schule der Rechtstheorie eine Gemeinschaft war, in der jeder bereit war von anderen zu lernen – auch der Meister von seinen Schülern! 3. Merkl hat später seine Stufenbaulehre noch in verschiedener Richtung ausgebaut und seine Überlegungen hiezu dennoch mit dem bescheidenen Titel „Prolegomena zu einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus“ (1931) abgeschlossen. II.1. Aus den theoretischen Arbeiten Merkls muss vor allem auch seine „Lehre von der Rechtskraft“ (1923) genannt werden. Nach einer durch schärfste Kritik an der bisher vertretenen Auffassung gekennzeichneten Argumentation gelangt er zu einem verblüffend einfachen Ergebnis: Jeder staatliche Akt ist eo ipso „rechtskräftig“, insoweit nicht das positive Recht zu seiner Aufhebung ermächtigt. An dieser Einsicht hat sich das vorbildliche österreichische Allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht mit seinem bekannten § 68 orientiert. Viele Verfahrensrechtssysteme haben sich wieder an Österreich ein Beispiel genommen. Die Rechtskraftlehre Merkls verkennt nicht, dass fehlerhafte Staatsakte zwar im Prinzip nicht zu entstehen vermögen, dass das positive Recht aber vielfach vorsieht, dass auch fehlerhafte Akte zustande kommen und letztlich rechtskräftig werden können. Merkl hat für dieses Rechtsphänomen die kennzeichnende Bezeichnung „Fehlerkalkül der Rechtsordnung“ geprägt. 2. Im Zusammenhang mit seiner Rechtskraftlehre steht Merkls schon früher entwickelte Einsicht über den Charakter des Satzes vom Vorrang der späteren Norm gegenüber der früheren (lex posterior derogat legi priori). Die ältere Lehre, der auch Kel-
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sen gefolgt war, hatte ihn als logische Wahrheit begriffen; Merkl aber zeigte, dass er lediglich als Norm des positiven Verfassungsrechts Geltung haben könne, was – obzwar unbestreitbar geworden – noch heute gelegentlich verkannt wird. 3. Schon früh hat Merkl sich richtungweisend „Zum Interpretationsproblem“ geäußert und den zum Teil metarechtlichen Charakter von Auslegungsregeln erkannt, eine Einsicht, die manchen Streit über die „richtigen“ Interpetationsregeln beendet. 4. Ein Höhepunkt in Merkls Schaffen bildet sein im Jahre 1927 erschienenes „Allgemeines Verwaltungsrecht“, in welchem er die Einsichten der Reinen Rechtslehre auf den – vielfach noch als außerhalb des Rechts liegend angesehenen – Bereich der Verwaltung überträgt, wodurch – wie Merkl schreibt – „die Phantasmagorie einer rechtsfreien Verwaltung wie Raureif in der Bestrahlung der Sonne (zerstiebt) …und die Wurzeln sichtbar (werden), mit denen alles als Verwaltung bezeichnete Tun mit dem Mutterboden des Rechts verwachsen ist“. Merkls Verwaltungsrecht steht als Markstein am Pfade jeder Verwaltungsrechtslehre; es kann nicht „erneuert“ oder „verbessert“ werden; es ist nicht nur Höhe-, sondern auch Endpunkt. III. Man würde Merkls zutiefst politischer Persönlichkeit nicht gerecht werden, spräche man nicht auch von seinem rechtspolitischen Engagement: 1. Bereits als junger Beamter unternahm es Merkl, in einer ab 1915 erscheinenden Aufsatzreihe über „Die Verordnungsgewalt im Kriege“ eine Reihe von kaiserlichen Notverordnungen einer scharfen juristischen Kritik zu unterziehen – eine Vorgangsweise, die besonders in der heutigen Zeit, die mehr durch vorauseilenden Gehorsam, als durch Mut vor Fürstenthronen gekennzeichnet ist, beachtlich erscheint. 2. Als sich im Zuge der Entwicklung zur Bundes-Verfassungsnovelle 1929 die politischen Gegensätze zuspitzten, trat Merkl gegen zu weit reichende – den Kompromiss von 1920 verlassende – Veränderungen auf. Als – wie er über sich schreibt – „gänzlich unmarxistisch denkender … Mensch“ – bedauert er, dass das „bürgerliche Österreich die Abwehr der Reaktion den Sozialdemokraten überlassen“ habe; diesen wirft er aber wieder vor, eine Verstärkung der Stellung des Bundespräsidenten „aus utopischem Doktrinarismus“ abgelehnt zu haben. Man sieht daraus, dass Merkl unbeirrt von den jeweiligen politischen Positionen die von ihm als richtig erachtete Meinung verfocht. Mit dem in der Verfassungsfrage durch die Novelle 1929 gefundenen Kompromiss konnte er sich abfinden, sieht man von der unter der Flagge einer „Entpolitisierung“ vorgenommenen „Umpolitisierung“ des Verfassungsgerichtshofs ab, die unter anderem zur Absetzung Kelsens als Verfassungsrichter führte. Als Merkl die erwähnte Kritik äußerte, war er außerordentlicher Professor und stand im 40. Lebensjahr. Er musste wohl damit rechnen, dass die herrschenden politischen Kräfte, die er scharf kritisierte, ihn niemals zum Ordinarius machen würden; dies traf erfreulicherweise nicht zu. Wollen wir hoffen, dass die neu inaugurierten „Professoren auf Zeit“ sich gegenüber der politischen Macht, von der sie abhängen, ebenso unabhängig zeigen werden wie Merkl! Und dass die politischen Kräfte kritischen Stimmen gegenüber nicht minder tolerant sind als jene der damaligen Zeit!
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3. Bald darauf ergab sich Anlass zu erneuter rechtspolitischer Kritik: Es ging um die Anwendung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes, das insb nach der sog „Selbstausschaltung“ des Nationalrats am 4. 3. 1933 von großer Bedeutung war. Merkl bestritt die Anwendbarkeit des erwähnten Gesetzes nicht grundsätzlich, wohl aber die Zulässigkeit des Umfangs seines Gebrauches, die zu einer „Legitimen Diktatur“ führe, der der Verfassungsgerichtshof ein Ende zu setzen haben werde. 4. Aber eben deshalb musste Merkl sehr bald über „Sein oder Nichtsein des Verfassungsgerichtshofs“ kritische und mahnende Überlegungen anstellen; sie haben nichts gefruchtet. Der Verfassungsgerichtshof wurde ausgeschaltet. 5. Da Merkl sich dem Verfassungswerk von 1920 verbunden fühlte, stand er dem Übergang zur ständestaatlichen Verfassung 1934 eher skeptisch gegenüber. Dies hinderte ihn nicht daran, diese Verfassung in einem „kritisch-systematischen Grundriss“ darzustellen (1935). Seine darin und in weiteren Arbeiten angestellten Überlegungen zum Problem einer realen Verwirklichung des ständischen Staatsaufbaus zeigen deutlich, wie ein solcher notwendigerweise in ein Spannungsverhältnis zur Idee der Demokratie treten muss. Derartige Erwägungen sind bis heute aktuell. Denn die „Realverfassung“ der zweiten Republik zeigt in deutlicher Weise „kammerstaatliche“ Elemente. Es ist deshalb auch nie zu einer Anpassung von „Realverfassung“ und „normativer Verfassung“ gekommen; sie hätte nämlich gezeigt, dass ein auch nur partiell kammerstaatlicher Aufbau des Verfassungssystems der Normativverfassung eine andere Qualifikation eintragen müsste als den einer – wie es im Art 1 B-VG heißt – demokratischen Republik. Mit diesen Hinweisen soll keinerlei Position zu einem politischen Konzept gezogen, sondern nur gezeigt werden, wie sehr wir auch heute von Merkl lernen können; nicht um eine bestimmte politische Lösung zu wählen, sondern um bei der rechtspolitischen Argumentation klar zu sehen. IV. Ich halte an dieser Stelle mit der Darlegung von Merkls rechtspolitischen Positionen inne, um mich kurz der Person des Gelehrten zuzuwenden, dessen Lebensweg 1938 eine schicksalhafte Wendung erfährt: Bis dahin war das Leben und der Aufstieg Merkls in den schönsten Bahnen verlaufen: 1890 in Wien als Sohn eines Forstakademikers geboren, erlebte er eine naturnahe Kindheit in Nasswald an der Raxalpe, dem Dienstort seines Vaters. Nach Gymnasialstudium in Wien und Wiener Neustadt bezog er 1908 die Wiener Juristenfakultät, an der er 1913 den Doktorgrad erlangte. Nach beruflichen Tätigkeiten bei Gericht, beim Wiener Magistrat, dem Handels- und Sozialministerium wurde er 1918 zur Dienstleistung in das Ministerratspräsidium – die spätere „Staatskanzlei“, das heutige Bundeskanzleramt – einberufen, wo er die Entstehung der Verfassung 1920 hautnah erlebte. Gemeinsam mit Kelsen und Fröhlich hat er später den ersten Kommentar zu diesem Verfassungswerk vorgelegt. Schon während seines Studiums war Merkl Schüler Kelsens geworden, der ihn 1919 zur Habilitation führte. 1920 wurde er ao Professor, 1932 o Professor. Dann kam das Schicksalsjahr 1938: Merkl wird nach der deutschen Okkupation aus politischen
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Gründen seines Lehramtes enthoben und „bis auf weiteres“ beurlaubt, dann in den dauernden Ruhestand versetzt. Erst 1941 darf er wieder eine Lehrtätigkeit, und zwar an der Universität Tübingen, ausüben, an der er 1943 Professor wird und bis zur Rückberufung an die Wiener Fakultät 1950 bleibt. Obgleich Merkl zu Tübingen ein herzliches Verhältnis gewann, leistete er doch der Rückberufung nach Wien Folge. Freilich war Merkl inzwischen 60 Jahre alt geworden und seine Schaffenskraft schon stark geschwächt, wenn auch keineswegs erloschen. V. Aus der Spätzeit seines Wirkens sei noch die Behandlung zweier Problemkreise herausgehoben: 1. Merkl, der in der Zeit der ersten Republik einer – rechtlich wohlgeordneten – Angliederung an Deutschland durchaus positiv gegenübergestanden war, begann sich intensiv dafür zu interessieren, wie die Vorgänge um den 1938 vollzogenen „Anschluss“ tatsächlich vor sich gegangen sind und wie sie rechtlich zu deuten waren. Merkl ahnt – was erst eine spätere historische Untersuchung genauer gezeigt hat –, dass das – im Bundesgesetzblatt verkündete – österreichische Anschlussgesetz gar nicht zustande gekommen war und sohin als rechtliches Nichts aufzufassen ist; dies führt notwendigerweise zur Bejahung der Okkupationstheorie, die Merkl energisch verfocht. 2. Merkl sieht aber auch eine andere Gefahr für die zweite Republik: Die immer stärkere Ausprägung des Parteienstaates, den er an sich bejaht, dessen Auswüchse er jedoch erkennt: Die Herausbildung politischer Ämterpatronage, die Entstehung eines Parteiadels und andere Phänomene, die uns ja auch heute noch bewegen. VI. Merkls Werk wäre ganz unvollständig dargeboten, wollte man nicht seines lebenslangen Eintretens für den Naturschutz gedenken. Schon sein juristisches Studium hatte er – wie er in seiner schönen Biographie schreibt – mit der Absicht begonnen, sich „geistig möglichst für den Dienst an der unberührten Natur zu rüsten“. Unter Merkls Arbeiten finden sich denn auch zahlreiche, die sich etwa mit Waldschutz, mit der Errichtung von Nationalparks und der Notwendigkeit der Verbreitung des Naturschutzgedankens befassen. 1923 verfasste Merkl für das Land Niederösterreich einen Entwurf für ein Naturschutzgesetz. So entstand – als erstes und richtungweisendes Gesetz dieser Art – 1924 das Niederösterreichische Naturschutzgesetz, dem jene anderer Bundesländer folgten. Merkl war sich darüber im Klaren, dass sein Bemühen um den Naturschutz vielfach nicht dem Zeitgeist entsprach. Wir wissen heute sein Bemühen wahrscheinlich besser zu schätzen als seine Zeitgenossen. VII. Lassen Sie mich abschließend der Person Merkls als Professor gedenken, der er so lange Zeit an der Universität war: Er hat dieses Amt stets als ein solches aufgefasst, in dem man als „Bekenner seiner wissenschaftlichen Überzeugung“ tätig werden müsse und die Aufgabe habe „der Wahrheit die Ehre zu geben und ihr kein Mäntelchen umhängen zu lassen“. Diese schöne Absicht wäre freilich nicht sehr bedeutsam, hätte man nicht auch wissenschaftliche Überzeugungen von größter Tragweite zu vertreten. Man kann es, wie sein großer Lehrer Kelsen getan hat, Merkl als juristisches Genie kennzeichnen. Einem solchen gebührt ein Zeichen, dass stets an sein
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wissenschaftliches Werk erinnern soll. Wir schicken uns an, dieses heute zu enthüllen!
Anhang IV Ansprache von Bundesministerin für Wissenschaft und Forschung Dr. Hertha Firnberg anlässlich der Enthüllung der Gedenktafel für Hans Kelsen am Haus Wickenburggasse 23 am 22. Oktober 1971 Hans Kelsen, der „Jurist des 20. Jahrhunderts“, hat vor wenigen Tagen seinen 90. Geburtstag gefeiert. Er ist nicht nur der Begründer der „Reinen Rechtslehre“ und der Schöpfer der demokratischen Verfassung der Republik Österreich, und einer der hervorragendsten Rechtswissenschafter, den die Jurisprudenz hervorgebracht hat. Er hat mit Erfolg, aber auch mit bitterer Enttäuschung so vieles geschaffen und erlebt, was auch außerhalb der Fachkreise der Juristen, Soziologen und Philosophen von bleibendem Wert und Interesse ist. Der Lebensweg des großen Gelehrten von internationalem Ansehen ist Ihnen allen, verehrte Festgäste, bekannt. Schon während seines Studiums fiel dem bereits philosophisch geschulten Studenten auf, dass in den bis dahin üblichen Darstellungen von Recht ein völliger Mangel an Exaktheit und systematischer Grundlegung und eine heillose Konfusion der Fragestellungen vorherrschen. Er stieß sich an der ständigen Vermengung dessen, was positives Recht ist, mit dem, was von irgendeinem Wertstandpunkt Recht sein sollte. Hier dürfte unter anderem auch eine der Wurzeln für seine berühmte Theorie von der „Reinen Rechtslehre“ zu suchen sein. Aus nächster Nähe konnte Hans Kelsen aus Grund seiner Funktionen Einblicke in die letzte tragische Phase des Unterganges der Doppelmonarchie gewinnen. „Auf den Trümmern des Reiches der Donaumonarchie“, wie es Dr. Karl Renner einmal nannte, entstand die Republik Österreich. Und Hans Kelsen, noch im Juni 1918 nicht ohne Schwierigkeiten zum ao. Professor ernannt, war einer der wesentlichsten juristischen Väter der Österreichischen Bundesverfassung und seines persönlichsten Werkes: der Verfassungsgerichtsbarkeit! Er selbst war in der Folge auch durch lange Jahre Richter des Verfassungsgerichtshofes. Über ein Jahrzehnt war Professor Kelsen an der Universität Wien als akademischer Lehrer, Rechtswissenschafter und hervorragender Publizist seines Faches eine reiche Lehr- und Forschungstätigkeit gegönnt. Der Ruf des Gelehrten, aber auch der Wiener Rechtsfakultät, ging in die weite Welt hinaus. Aber sein Schaffen war nicht ungetrübt, bald sollten sich auch die Sturmzeichen des Kampfes gegen die Demokratie in Mitteleuropa hinzugesellen. Im Frühjahr 1929 hatte Kelsen noch einen ehrenvollen und finanziell verlockenden Ruf nach Berlin dankend abgelehnt. Als er aber 1930 eine neuerliche Berufung nach Köln erhielt, entschloss er sich schweren Herzens, angesichts der Angriffe seiner
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wissenschaftlichen Gegner, Österreich zu verlassen. Nicht unerheblich dürfte auch die Tatsache beigetragen haben, dass von der seinerzeitigen Unterrichtsverwaltung kein Versuch unternommen wurde, den Gelehrten in Österreich zu halten. Vom Nationalsozialismus vertrieben nach den Vereinigten Staaten von Amerika, verstand es Hans Kelsen, sich eine weitere wissenschaftliche Karriere als Professor des International Law und der Political Science aufzubauen. Als Autor weltbekannter Werke setzte er, bereits sechzigjährig, seine juristische Laufbahn fort und vermochte ihr weitere wissenschaftliche Glanzlichter aufzusetzen. Seine umfangreiche Tätigkeit hat die Sozial- und Rechtswissenschaft um wertvolle neue Werke bereichert. Ein gütiges Geschick hat ihm, dem 90-jährigen, volle geistige und körperliche Frische vergönnt! Dass Kelsens alte Heimat diesen großen Wissenschafter nicht vergessen hat, beweisen die zahllosen Ehrungen, die ihm im wiedererstandenen Österreich zuteil wurden. Am heutigen Tag sei aber nicht nur ein Rückblick auf die großen Leistungen des Jubilars gemacht, sondern es soll der Blick auch in die Zukunft gerichtet werden. Über alle bereits gesetzten Ehrungen hinaus kann aber die wichtigste und zielstrebendste Würdigung des so verdienten Jubilars nur die Erforschung, Erhaltung und Weitergabe seines wissenschaftlichen Werkes an die Zukunft sein. Gleichzeitig eine Würdigung und ein großes und neues wissenschaftliches Vorhaben, das aus dem gegenwärtigen Anlass gesetzt wurde, ist die Gründung einer Hans Kelsen-Stiftung, die durch die Führung eines Hans Kelsen-Institutes der Dokumentation des wissenschaftlichen Werkes des Jubilars und dessen Widerhall dienen soll, dem aber auch die Aufgabe gestellt ist, die Lehre Kelsens fortzuentwickeln! Diese Stiftung der Republik Österreich wurde am 14. September 1971 von der österreichischen Bundesregierung beschlossen und wird in kürzester Zeit ihre Tätigkeit aufnehmen. Ich richte schon heute an alle, die an diesem Festakt teilnehmen und die in so hohem Maße die Rechtswissenschaft unseres Landes repräsentieren, die Bitte, der Stiftung und diesem Vorhaben ihre Unterstützung und Förderung zuteil werden zu lassen. Lassen Sie uns die Brücke von der Erinnerung in die Zukunft schlagen. Ich enthülle hiermit an dem Hause, in dem Hans Kelsen so viele Jahre gelebt hat, die Gedenktafel als Zeichen der Erinnerung – mit der Gewissheit, dass die Zukunft reiche Früchte der Lebensarbeit Hans Kelsens bringen wird, unverlierbares Wissen – und Rechtsgut, das lebt und leben wird.
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Anhang V Ansprache von o.Univ.-Prof. DDr. Dr.h.c. Robert Walter anlässlich der Enthüllung des Gemäldes von Hans Kelsen im Parlamentsgebäude am 1. Oktober 1997 Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! I. Es ist mir eine Freude und Ehre bei diesem heutigen feierlichen Anlass in aller Kürze Ihnen Leben und Wirken meines Meisters Hans Kelsen in Erinnerung rufen zu dürfen. II.1. Kelsen wurde 1881 in Prag geboren, kam jedoch schon als Kind nach Wien, wo er die Volksschule und das Akademische Gymnasium absolvierte, sich dann dem Rechtsstudium zuwandte, das er mit der Promotion zum Doktor juris 1906 abschloss. Schon im Jahre vorher war seine erste Publikation über „Die Staatslehre des Dante Aligheri“ erschienen. 2. Nach verschiedenen praktischen juristischen Tätigkeiten und einem Studienaufenthalt in Heidelberg habilitierte sich Kelsen 1911 mit seinem umfangreichen – wie man freilich erst später erkennen konnte: richtungsweisenden – Werk über „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ an der Wiener Juristischen Fakultät, an der er später zunächst außerordentlicher, dann im Jahre 1919 ordentlicher Professor wurde. 3. Davor hatte Kelsen im ersten Weltkrieg Militärdienst zu leisten und war dabei zuletzt in der bedeutenden Funktion eines Rechtsberaters des Kriegsministers tätig. 4. Nach Errichtung der Republik wurde Kelsen vom Staatskanzler Dr. Renner als Konsulent für die Ausarbeitung einer österreichischen Bundesverfassung herangezogen. Er verfasste – was die weitere Arbeit sehr erleichterte – mehrere alternative Entwürfe, sodass der schließlich den parlamentarischen Beratungen zugrundegelegte Entwurf ein aus seiner Feder stammendes Werk war. Zu den Beratungen des Ausschusses wurde Kelsen als Konsulent beigezogen. So konnte das Verfassungswerk von 1920 verhältnismäßig rasch zustandekommen. Es war ein rational gestaltetes Normen-Werk – frei von heute üblich gewordenen „Bekenntnissen“. Und es enthielt – um nur einen Punkt herauszuheben – die Errichtung der ersten praktisch relevant gewordenen Verfassungsgerichtsbarkeit moderner Prägung, wie sie heute in unserem Kulturbereich allgemein verbreitet ist. 5. Kelsen wurde Mitglied des neugeschaffenen VfGH. Er verlor dieses Amt im Gefolge der Bundesverfassungsnovelle 1929. Eine neuerliche Bestellung lehnte er ab, weil er nicht auf Vorschlag einer politischen Partei wieder Verfassungsrichter werden wollte – eine moralische Haltung, die man heutzutage wohl kaum mehr jemanden erklären kann. Sie manifestiert aber nur die Statur eines Mannes, der geschrieben hat, dass es im Leben – auch im Bereiche der Wissenschaft – „vor allem auf den moralischen Charakter des Menschen ankommt ...“.
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6. Von den österreichischen Verhältnissen enttäuscht folgte Kelsen im Jahre 1930 einem Ruf an die Universität Köln. Dort wurde er aber bereits 1933 – nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten – seines Amtes entsetzt. Er lehrte in der Folge in Genf am Institut für höhere Studien – für kurze Zeit auch an der Universität Prag – und emigrierte dann im Jahre 1940 in die Vereinigten Staaten. Dort wirkte Kelsen vorübergehend an der Harvard Law School, dann an der Universität in Berkeley. Dort verbrachte er auch – rastlos arbeitend – seinen Lebensabend bis zu seinem Tode im Jahre 1973. 7. Mit dem Österreich der zweiten Republik stand Kelsen in bester Beziehung. Die Republik hat ihn – um nur das Wichtigste hervorzuheben – aus Anlass seines 90. Geburtstages im Jahre 1971 durch Errichtung einer – zur Pflege seines Lebenswerkes berufenen – Bundesstiftung, des Hans Kelsen-Instituts geehrt. Es ist heute Zentrum der weltweiten Kelsen-Forschung. III.1. Von den Forschungsgebieten Kelsens sei zunächst das österreichische Verfassungsrecht erwähnt. Zu dem von ihm mitgestalteten B-VG 1920 schreibt Kelsen den ersten – richtungsweisend gewordenen – Kommentar und begleitet die österreichische Verfassungsentwicklung mit laufenden literarischen Stellungnahmen. 2. An erster Stelle der wissenschaftlichen Leistungen Kelsens steht freilich, dass er mit seiner Reinen Rechtslehre, die er gemeinsam mit seiner Wiener Schule seit etwa 1910 entwickelt, der dogmatischen Rechtswissenschaft ein neues rechtstheoretisches Fundament gibt. Diese Lehre schlägt vor, die von Menschen gesetzten wirksamen Zwangsordnungen als „positives Recht“ zum Gegenstand der Rechtswissenschaft zu machen und es als ein System von Normen möglichst präzise zu beschreiben. Entgegen vielfacher Fehldeutungen sei auch hier und heute betont, dass Kelsens Lehre nicht etwa von jedermann Rechtsgehorsam fordert, sondern nur eine Anleitung zur präzisen Beschreibung eins Rechtssystems darstellt. Ob jemand einer bestimmten Rechtsordnung gehorchen oder gegen sie revoltieren soll, muss seine persönliche Gewissensentscheidung bleiben! Dass die Reine Rechtslehre für die exakte Erfassung des Rechtsmaterials Entscheidendes geleistet hat – ich erwähne nur die Begriffe „Grundnorm“, „Stufenbau“ und „Fehlerkalkül“ – dürfte wohl außer Streit stehen. 3. Kelsen hat auch als Vertreter der Völkerrechtslehre Entscheidendes geleistet. Er hat diese – politisch und soziologisch vielfach verzerrte – Disziplin erst richtig auf juristische Beine gestellt. Dies zu zeigen würde zu weit führen. Doch sei auf ein Thema hingewiesen, das ihn besonders bewegt hat: Die Friedenssicherung durch juristische Mittel, insbesondere durch internationale Organisationen und deren Gerichtsbarkeit. Kelsen beteiligt sich daher an den Diskussionen über den Völkerbund und um die Organisation der UNO. Zum Recht der Vereinten Nationen schrieb er einen richtungsweisenden Kommentar und verfolgte die juristische Entwicklung dieser Organisation in wichtigen literarischen Beiträgen. 4. Einem anderen Wissenschaftsbereich, der politischen Theorie sind mehrere Arbeiten Kelsens gewidmet. An erster Stelle sei sein – zum Klassiker gewordenes, in alle Weltsprachen übersetztes – Werk über „Wesen und Wert der Demokratie“ genannt.
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Aber etwa auch seine Arbeiten zum Sozialismus sind richtungsweisend. Früh erkennt er, dass die eine sozial gerecht erscheinende Gesellschaftsordnung nicht durch ein Absterben des Staates erwartet werden kann, sondern nur durch ein Tätigwerden des staatlichen Apparates herbeigeführt werden kann. Mit den verfehlten Positionen der Marxistischen Staats- und Rechtslehre hat sich Kelsen eingehend auseinandergesetzt. Zur allgemeinen Einsicht in die Unhaltbarkeit dieses Systems bedurfte es freilich des Einsturzes eines Imperiums. 5. Viele Arbeiten Kelsens sind der Ideologiekritik gewidmet. Es sei nur seine berühmte Arbeit „Was ist Gerechtigkeit?“ erwähnt. Sie zeigt die Unbestimmtheit dieses Begriffes. Kein Wunder, dass er in der politischen Diskussion so beliebt ist, in der alle sagen, dass sie eine „gerechte Lösung“ wollen, womit bestenfalls alles offen bleibt, letztlich jeder Politiker aber die von ihm gewollte Lösung meint. 6. Mehrere wissenschaftliche Fächer übergreifend, hat sich Kelsen eingehend mit den Grundformen menschlichen Denkens befasst. Er hat gezeigt, dass – die ganze Entwicklung der Menschheit hindurch – sich das Denken an zwei Prinzipien orientiert hat: An dem der Kausalität (Ursache und Wirkung) und an dem der Vergeltung (Vergehen und Strafe), wobei Vermengungen zu vielfachen Irritationen geführt haben. IV. Mit diesen Bemerkungen ist Kelsens monumentales Werk nicht einmal umrissen, sondern nur angedeutet. Es ist erfreulicherweise nicht in die Wissenschaftsgeschichte zurückgesunken, sondern steht in weltweiter wissenschaftlicher Diskussion. So soll auch der Betrachter eines Bildes Kelsens nicht in Erinnerung an einen großen Vertreter der österreichischen Wissenschaft versinken, sondern aktuell aufgerufen sein, sich mit seinem Werk zu befassen!
Merkwürdiges und Denkwürdiges im Recht RUDOLF WELSER, Wien
Werner Ogris gehört zu jenen Rechtsgelehrten, die gerne über den Rand der Rechtsordnung hinausschauen und an deren Grenze allerlei Merkwürdiges und Denkwürdiges entdecken, auch Dinge zum Schmunzeln.1 Der folgende Beitrag ist in alter Verbundenheit mit dem Jubilar dieser seiner Eigenschaft gewidmet. Er setzt sich aus drei kleineren Mosaiksteinen zusammen: einer satirisch-boshaften Beschreibung des Juristenstandes, einem Bericht über die weniger bekannten Schattenseiten der Kautelarjurisprudenz und einer kurzen, nicht ernst gemeinten zivilrechtlichen Betrachtung von Puccinis „Turandot“.
I. Das Juristenbild Die Juristen sind für die Gesellschaft sehr wichtig und dementsprechend halten sie sich auch selbst für wichtig. Sie glauben, dass dies von allen anderen anerkannt wird und dass man ihnen zu Recht Ehrerbietung und Verehrung entgegenbringt. Dies ist aber nur noch sehr bedingt richtig. Heute geraten die juristischen Berufsstände oft in das Kreuzfeuer der Kritik. Von Unfähigkeit und Trägheit bis zur politischen Voreingenommenheit und Beeinflussbarkeit reichen die Vorwürfe. Aber auch die juristische Methode wird scheel angesehen, wobei die schärfsten Kritiker manchmal sogar aus den eigenen Reihen kommen. So hat Wilhelm in seinem Feuilleton „Von der Kunst, im Recht
Vgl beispielsweise WERNER OGRIS, J.W. von Goethe, Sprüche über Recht, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft (Wien 1983); DERSELBE, Goethe – amtlich und politisch (= Schriftenreihe der Niederösterreichischen Juristischen Gesellschaft 29/30, St.Pölten/ Wien 1982); DERSELBE, Verbietet mir keine Zensur! Ein Beitrag zum Goethe-Jahr: Der Olympier und die Preßfreiheit, Wiener Journal (April 1982) 24; DERSELBE, Verbietet mir keine Zensur! Goethe und die Preßfreiheit, in: DIETER WILKE (Hrsg), FS zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin (Berlin/New York 1984) 509–528; DERSELBE, Mozart im Familien- und Erbrecht seiner Zeit. Verlöbnis. Heirat. Verlassenschaft (Wien 1999). 1
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Recht zu behalten“ ziemlich böse über seine Standesgenossen geschrieben:2 „Juristischem Denken geht es in Wahrheit um nichts weniger als um Wahrheit, sondern ums Eindruck-Schinden und Mundtot-Machen. Der Grund hierfür liegt in den Daseinszwecken der Juristen. Die Anwälte wollen gewinnen und geben als wahr vor, was ihnen gewinnen hilft; die Unterrichter wollen den Prozess loswerden, geben gar nichts vor und folgen dem Obersten; der Oberste verkündet als wahr entweder was und weil er es schon immer dafür gehalten hat, oder (seltener) was ein Professor oder deren eine Mehrzahl als Wahrheit lehrt und ein bißchen auch warum; und die Professoren… Ja überhaupt die Professoren, die Kanzel-Inhaber der Wahrheit! Die nicht ohnehin a pecunia predigen oder a fiducia (Schulenzugehörigkeit), huldigen der selbstentdeckten Wahrheit so bedingungslos, dass sie diese unfehlbar gegen jede andere Wahrheit mit tausend Winkelzügen und beliebigen Referenzen verteidigen. Aber sogar die, so sich nicht unfehlbar dünken, tun desgleichen, weil sie – mit dem legendären Amtsgericht München3 – wissen, dass man alles so oder auch anders begründen kann, und vor allem, dass juristische Logik beim Publikum ohnehin keine Heimstätte hat, …“ Sehr streng ist schon mehr als 200 Jahre früher ein Mann mit den Juristen ins Gericht gegangen, einer von dem man es nicht ohne weiteres erwartet hätte, nämlich Adolph Freiherr von Knigge.4 Seine Definition der Juristen fasziniert insofern, als sie mit der historisch überkommenen Definition des Rechts als „ars boni et aequi“ etwas gemein hat, nämlich dass das Recht eine Kunst und die Juristen Künstler seien.5 Im Übrigen beschreibt er unseren Berufsstand allerdings auf eine solche, gegen jeden Anstand verstoßende Art, dass man sie gerade Knigge nicht zugetraut hätte. Die Rechtsgelehrsamkeit, schreibt er, sei nichts anderes als die Kunst, die Leute auf privilegierte Art um Geld und Gut zu bringen.6 Er schildert die Juristen so: „Da widmen sich denn die schiefsten Köpfe dem Studium der Rechtsgelehrsamkeit, womit sie keine andren feinen Kenntnisse verbinden, dennoch aber so stolz auf diesen Wust von alten, auf
2
GEORG WILHELM, Von der Kunst, im Recht Recht zu behalten, ecolex 2005, 585.
Gemeint ist die berühmte Entscheidung des Amtsgerichts München, dass nahezu überall in der Jurisprudenz jede Meinung durch logisch stimmende Argumente untermauert werden kann (NJW 1985, 1230). 3
ADOLPH FREIHERR VON KNIGGE, Über den Umgang mit Menschen (Frankfurt aM 1788), 330 ff. 4
5
Zum Folgenden schon RUDOLF WELSER, Böses über die Juristen (Wien 2005) 17 ff.
6
KNIGGE, Umgang mit Menschen 330 ff.
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unsre Zeiten wenig passenden Gesetzen sind. Ein steifer Civilist7 ist wahrlich im gesellschaftlichen Leben das langweiligste Geschöpf, das man sich denken mag. In allen übrigen menschlichen Dingen, in allen andern den Geist aufklärenden, das Herz bildenden Kenntnissen unerfahren, treten sie dann in öffentliche Ämter. Ihr barbarischer Stil, ihre bogenlangen Perioden, ihre Gabe, die einfachste, deutlichste Sache weitschweifig und unverständlich zu machen, erfüllt jeden, der Geschmack und Gefühl für Klarheit hat, mit Ekel und Ungeduld.“ Die Wesensart der Juristen, meint Knigge, genüge schon, um bei einem Rechtsstreit, den jeder unbefangene gesunde Kopf in einer Stunde schlichten könnte, viele Jahre lang hingehalten zu werden, ganze Zimmer voll Akten zusammengeschmiert zu sehen und dreimal soviel an Unkosten zu bezahlen, als der Gegenstand des ganzen Streits wert ist, ja am Ende die gerechteste Sache zu verlieren und offenbares Eigentum fremden Händen preiszugeben. Mit vielen anderen hält Knigge die Juristen für entsetzliche Wortklauber. Im Schreiben, Reden, Versprechen und Behaupten gegen sie müsse man äußerst vorsichtig sein, denn „sie kleben am Buchstaben. Ein juristischer Beweis ist nicht immer ein Beweis der gesunden Vernunft, juristische Wahrheit zuweilen etwas mehr, zuweilen etwas weniger als gemeine Wahrheit, juristischer Wille ist oft das Gegenteil von dem, was man im gemeinen Leben Willen nennt“.8 Dass sich die Juristen unverständlich ausdrücken und so ihre Wissenschaft zu einer Art Arkandisziplin machen, ist schon ein sehr alter Vorwurf, von dem auch Windscheid9 berichtet: „Wie, so kann man hören, ist denn das Recht eines Volkes ein Mysterium, welches nur den Eingeweihten zugänglich ist, ist es nicht die Ordnung der Verhältnisse, in denen jeder lebt, aus ihnen erzeugt, durch den Geist des Volkes erzeugt, sein Fleisch und Blut? Und wäre daher nicht das der gesunde Zustand, daß jeder über rechtliche Dinge sich mit leichter Mühe selbst unterrichten könnte, statt die Orakelsprüche der Fachgelehrten hinnehmen zu müssen?“
7
Gemeint sind „die Zivilrechtler“.
8
KNIGGE, Umgang mit Menschen 333 f.
Recht und Rechtswissenschaft, Eine Rede im Namen der Universität Greifswald zur Feier des Geburtstages Sr. Majestät des Königs Friedrich Wilhelm IV von Preussen (Greifswald 1854) 12.
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II. Die Kautelarjurisprudenz und ihre Schattenseiten Der Begriff der Kautelarjurisprudenz ist heute nicht mehr allgemein bekannt, obwohl diese Art der Rechtspflege auch heute noch eine enorme Bedeutung hat. Die Kautelarjurisprudenz ist nicht irgendein Teil der Rechtspraxis, sondern ein sehr wichtiger, wenn nicht – neben der Gerichtsbarkeit – überhaupt der wichtigste. Er besteht in der Vorbereitung, in der Beratung und im Abschluss von Rechtsgeschäften, also in einer professionellen Mitwirkung an der privatrechtlichen Rechtsgestaltung im weitesten Sinn. Diese Mitwirkung schützt die Parteien des Rechtsgeschäfts vor künftigen Streitigkeiten und Prozessen. Eine solche kluge, vorausblickende Planung setzt eine umfassende Rechtskenntnis des Kautelarjuristen voraus, die ihn befähigt, Konfliktsfälle vorherzusehen und ihnen durch passende Regelungen zu begegnen. Genauso wichtig ist für den Kautelarjuristen aber die Erfahrung, die er aus Tradition und selbst Erlebtem gewinnt und die ihm die Gefahrenabwehr erleichtert. Auf Erfahrung und Phantasie beruhen auch die Vertragsmuster und Klauseln, welche die Tätigkeit der Kautelarjurisprudenz erleichtern und zur Weiterentwicklung des Rechts beitragen. Die Kautelarjurisprudenz entfaltet also eine ungemein wichtige juristische Tätigkeit mit vielen Besonderheiten.10 Heute versteht man unter Kautelarjurisprudenz meist nur die Tätigkeit der Vertragsverfasser durch Anpassung vorhandener Vertragstypen an die Gegebenheiten des Einzelfalls oder die Neuschaffung solcher Typen, wobei eine Gesamtsicht des Geschäfts innerhalb der Rechtsordnung notwendig ist. In früheren Jahrhunderten wurde hingegen die kautelarjuristische Tätigkeit in einem sehr weiten Sinn verstanden, nämlich als jede Hilfe, die ein praktisch tätiger Jurist seinem Mandanten leistet. Sie bezieht sich also auch auf die Beratung in Angelegenheiten des Prozesses und der Verfassung von Urkunden, die keine rechtsgeschäftlichen Wirkungen haben sollen.11 Es werden der Kautelarjurisprudenz immer auch andere praktische Tätigkeiten zur Seite gestellt, zB die Staats- und Kanzleipraxis, die Völkerrechtspraxis, die Referier- und Dekretierkunst. Manchmal wird die kautelarjuristische Tätigkeit einfach der
Hiezu und zum Folgenden: RUDOLF WELSER, Die kautelarjuristische Tätigkeit im Zivilrecht, NZ 2009, 353.
10
GERHARD KÖBLER, Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte (München 1997) 283; GERRIT LANGENFELD, Vertragsgestaltung, Methode – Verfahren – Vertragstypen (München 1997) 1 f; FRANZ BYDLINSKI, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (Wien 1982) 609.
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Notariatskunst zugeordnet und diese als Wissenschaft definiert, die juristische Geschäfte der Bürger ohne Dazwischenkunft eines Richters vornimmt.12 Zur Kautelarjurisprudenz gehören also die Verfassung aller Arten von Verträgen und Kontrakten, aller letztwilligen Erklärungen, Regelung von Erbschaftsangelegenheiten, Rechnungssachen, Eheverträge und Ähnliches. Der Kern der kautelarjuristischen Tätigkeit war und ist eine vorausblickende rechtliche Planung durch geeignete rechtsgeschäftliche oder geschäftsähnliche Maßnahmen, also eine in die Zukunft blickende Tätigkeit. Im Wesentlichen geht es um die Verhütung künftiger Rechtsstreitigkeiten, weshalb man die kautelarjuristische Tätigkeit auch „prophylaktische Rechtswissenschaft“ nennt.13 Der gute Kautelarjurist musste und muss für den ihm vorliegenden Fall alle Varianten zukünftiger Entwicklungen in Erwägung ziehen. Er muss die im Bereich des Möglichen liegenden Veränderungen bedenken und dafür mit unzweifelhaften Vertragsbestimmungen Vorsorge treffen. Hiebei helfen ihm seit jeher bewährte Vertragstypen, Muster, Formulare und einzelne Klauseln.14 Diese dürfen allerdings nicht mechanisch angewendet werden, vielmehr braucht es auch eine umfassende Gesetzeskenntnis und eine Begabung für das Erkennen von Zusammenhängen und möglichen Konfliktsfällen, vor allem aber – wahrscheinlich ist das sogar das Wichtigste – einer umfassenden Erfahrung auf Grund bereits erlebter Rechtskonflikte. Im Allgemeinen werden nur die tatsächlich enormen Verdienste der Kautelarjurisprudenz hervorgehoben. Historisch gesehen, hatte aber die Kautelarjurisprudenz auch ein „hässlicheres Gesicht“, es wurde mit ihr Missbrauch getrieben. So wendeten gewisse Kautelarjuristen viel Scharfsinn auf, um durch die Textierung von Urkunden ihrem Auftraggeber zum Nachteil seiner Vertragspartner Vorteile zu verschaffen. Dies hatte zur Folge, dass jeder Kautelarjurist auch den eigenen Klienten vor den Ränken der Gegner schützen musste. Und so wurden immer mehr Schliche und Winkelzüge ausgedacht, um den Vertragspartner hineinzulegen und zu schädigen. Solche JAN SCHRÖDER, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert (Frankfurt aM 1979) 59 f. 12
FRIEDRICH DUSCHENES / WENZEL RITTER VON BELSKY / CARL BARETTA (Hrsg), Österreichisches Rechtslexikon, Praktisches Handwörterbuch des öffentlichen und privaten Rechtes der im Reichsrathe vertretenen Königsreiche und Länder (Prag 1894) 702 f; JULIUS WEISKE (Hrsg), Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten (Leipzig 1860) 786 f. 13
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LANGENFELD, Vertragsgestaltung 53 f.
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Tricks und Schliche hat man auch in eigenen Sammlungen publiziert. Es gab Kautelenwerke, die unter dem Vorwand, dass man sich vor den Winkelzügen der Gegner schützen müsse, selbst die bösartigsten Kniffe und Schliche lehrten.15 Es war dies eine Praxis, die im Bewusstsein der Bevölkerung zur Entartung der Rechtswissenschaft beitrug und zB jahrhundertelang einen schlechten Ruf der Advokaten begründete. Der Missbrauch fand denn auch in der juristischen Literatur16 scharfe Kritik. Sie teilte die Kautelen in „erlaubte“ und „unerlaubte“ ein, wobei die letzteren in Schikanen und in der Anwendung aller möglichen unerlaubten Mittel bis zur Arglist hin bestanden. Die Auswirkungen dieser Praxis waren letztlich so stark, dass die Kautelarjurisprudenz als die Kunst definiert wurde, andere Leute hineinzulegen, die Vorschriften des Rechts zu umgehen und – gedeckt durch den Gesetzeswortlaut – Zwecke zu verfolgen, die auf erlaubtem Weg nicht zu erreichen sind.17 Es blieb nicht aus, dass sich die erworbene Schläue der Kautelarjuristen auch gegen den eigenen Mandanten richtete. Auch solche Fälle beschreibt Knigge:18 „Die Juristen kennten jeden Schlupfwinkel der Schikane, sie hätten die spitzfindigsten Distinktionen der Rabulisten studiert, und es komme nicht selten vor, daß dein oder deines Gegners Advocat ein Mensch ohne Gefühl, ein gewinnsüchtiger Gauner, ein Pinsel oder ein Schikaneur ist, der dann drei Mal so viel Unkosten verlange, als der Gegenstand überhaupt wert sei. Die begründetste Forderung werde wegen eines kleinen Mangels an elenden Formalitäten für nichtig erklärt. Dafür schmachteten dann ganze Familien im Elende und Jammer, indeß sich Schelme und hungrige Scribler ihr Vermögen teilten.“ Die unerlaubten Ränke spielten damals in allen Bereichen der Kautelarjurisprudenz eine Rolle, wofür die Literatur jede Menge Beispiele liefert.19 So sind in der Sammlung von Kautelen durch den Rechtsgelehrten Bartholomäus Caepolla die Anweisungen zur klugen Vorsicht mit jenen zur ränkevolGERHARD BUCHDA, Cautelarjurisprudenz, in: HRG1 I, 602–603; ADOLF WEIßLER, Geschichte der Rechtsanwaltschaft (Frankfurt aM 1967) 247 f. 15
WEIßLER, Geschichte der Rechtsanwaltschaft 247 f; WEISKE, Rechtslexikon 600 mwN. 16
WEISKE, Rechtslexikon für Juristen 600 mwN; RODERICH VON STINTZING, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaften, Erste Abteilung (München/Leipzig 1880) 533 f. 17
18
KNIGGE, Umgang mit Menschen 331.
WEIßLER, Geschichte der Rechtsanwaltschaft 248 f; STINTZING, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft 534 ff. 19
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len Schlauheit in so bedenklicher Weise vermischt, dass der Name „Cautelae Caepollae“ bald die Bedeutung „perverser und schikanöser Ausflüchte und Behelfe“ annahm. Da wird zB der Tipp gegeben, einen Zeugen dadurch unschädlich zu machen, dass man ihm eine Ohrfeige gibt und dann sagt, seine Aussage sei wegen der Feindschaft verdächtig. Wer gezwungen wird, ein Mädchen, mit dem er Unzucht getrieben hat, zu heiraten, soll sich zwar zum Abschluss der Ehe bereit erklären, dann aber vor Pfarrer und Zeugen den Worten „Accipio in uxorem istam puellam“ hinzufügen: „Wenn sie aber mit einem anderen Mann concumbieren sollte, so will ich das Recht haben, eine andere Frau zu nehmen“. Die Anwesenden hielten das für einen durch die Vergangenheit des Mädchens gerechtfertigten Vorbehalt, während in Wahrheit die Ehe nicht gelte, weil sie bedingt eingegangen sei. Um den Aufschub der Vollziehung eines Todesurteils zu erwirken, solle man sagen, dass der Verurteilte erst noch wegen eines Handelsgeschäftes Rechnung legen müsse, oder dass der Verurteilte Kleriker werden solle, damit der weltliche Richter nicht Hand an ihn legen könne.20 Solchen üblen Tricks begegnet man heute zumindest nicht mehr in Formularbüchern und Sammlungen. Allerdings erinnere ich mich, dass noch vor einigen Jahren gewiefte Strafverteidiger ihren Mandanten geraten haben, die Gefängnisstrafe kurz vor Weihnachten anzutreten, so dass sie wegen der dann gleich folgenden Weihnachtsamnestie die Feiertage schon zu Hause verbringen konnten.
III. Auslobung und Wette in der Oper „Turandot“ Dass Rechtsprobleme im Theater und in der Oper eine wichtige Rolle spielen, ist allgemein bekannt und schon oft Gegenstand juristischer Betrachtung gewesen.21 Das Recht ist Teil des täglichen Lebens und hätte sich daher, selbst
20
STINTZING, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft 534 ff.
KARL KORINEK, Der Jurist und das Opernzitat, in HEINZ MAYER / FABIAN VON SCHLABRENDORFF / BENEDIKT SPIEGELFELD / RUDOLF WELSER (Hrsg), FS Karl Hempel (Wien 1997) 53–58; RUDOLF WELSER, Gianni Schicchi und das Recht, Anmerkungen für Erben und Erblasser, in: DERSELBE (Hrsg), „Grammophon ist kein Vorname“ (Wien 1985) 131; DERSELBE, Von Auslobungen und Wetten – Ein Glücksspiel um Turandot – juristisch betrachtet, in: DERSELBE, „Grammophon“ 138; DERSELBE, „Der Herr Polizeirat weiß es!“, Verdis „Maskenball“ und Österreichs Zensur im Vormärz, in: DERSELBE (Hrsg), „Um 10 Schilling Hafer für den Amtsschimmel“ (Wien 1990) 163; DERSELBE, Über Opern-Notare, in: DERSELBE (Hrsg), „Quatsch 21
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wenn es das gewollt hätte, der literarischen Behandlung nicht entziehen können. Bemerkenswert ist es allerdings, dass juristische Instrumente zT für die Handlung eine zentrale Rolle spielen – manchmal wohl ohne dass der Dramatiker, der Librettist oder der Komponist dies überhaupt weiß. Es ist dann reizvoll, das Drama oder die Oper mit dem darin verwendeten rechtlichen Instrumentarium zu konfrontieren. Im Folgenden soll dies – nicht ganz ernst gemeint – mit Puccinis Turandot geschehen. Das Libretto stammt von Giuseppe Adami und Renato Simoni, doch ist der Stoff weitaus älter.22 Zur Erinnerung an den „Sachverhalt“: Um die Schande, die vor tausenden von Jahren einer Ahnin von den Tataren zugefügt wurde, zu rächen, treibt die chinesische Prinzessin Turandot ein grausames Spiel mit den Männern. Sie lässt ihre Bewerber aus fürstlichem Geschlecht Rätsel lösen. Wer die Probe besteht, soll Turandot zur Frau erhalten, wer versagt, von der Hand des Henkers fallen. Viel Blut ist so schon in Peking geflossen. Gerade haben sich in den Straßen der Stadt der entmachtete Tatarenkönig Timur und sein Sohn Kalaf wiedergefunden. So sehr hat aber Kalaf der Anblick Turandots entflammt, dass auch er zur Prüfung antreten will. Zur allgemeinen Verwunderung löst Kalaf die drei Rätsel, doch die dadurch gedemütigte Turandot möchte nun den Preis nicht zahlen. Kalaf gibt ihr aus Liebe eine Chance: Gelingt es ihr, bis Tagesanbruch seinen Namen zu erfahren, so will er den Weg zum Henker antreten. Turandot setzt alle Mittel ein, um des Prinzen Namen zu entdecken. Liu, des Königs Timur junge Dienerin gesteht, sie sei die einzige, die das Geheimnis kenne. So will sie, die den Prinzen liebt, dessen Vater die Tortur ersparen. Um aber in der Folter nicht selbst zu sprechen, wählt sie freiwillig den Tod. Kalaf nennt Turandot ohne Zwang seinen Namen und gibt sich damit in ihre Hand. Die Prinzessin ist aber schon dem Kusse Kalafs erlegen und weiß nun, dass sie ihn von Anbe-
wird nicht protokolliert“ (Wien 2000) 205; JAN SCHRÖDER, Die Morgengabe-Szene in Hoffmannsthals „Der Rosenkavalier“, in: MANFRED LIEB / ULRICH NOACK / HARM PETER WESTERMANN (Hrsg), FS für Wolfgang Zöllner. Zum 70. Geburtstag (Köln 1998) 1227; MICHAEL LIST, Der Notar in der Oper, in: Freiheit Sicherheit Recht. Notariat und Gesellschaft. FS Georg Weissmann. (Wien 2003) 1055–1077. Die Handlung geht auf ein persisches Märchen aus der Sammlung „Tausend und ein Tag“ zurück. 1762 wurde der Stoff vom venezianischen Dichter Carlo Gozzi für die italienische Bühne bearbeitet, 1802 von Friedrich Schiller für die deutsche gewonnen. Für Schillers Fassung schuf Karl Maria von Weber 1809 eine Bühnenmusik (WILHELM ZENTNER / PHILIPP RECLAM jun. [Hrsg], Reclams Opernführer25 [Stuttgart 1969] 405 ff). 22
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ginn an liebte. Dem Volke verkündet sie, der Name des Fremden laute „Liebe“.23 Dass eine Frau einem Mann Rätsel aufgibt, soll schon öfter vorgekommen sein. Dass sich aber die Männer in Scharen um die Auflösung drängen und sich den Kopf nicht nur verdrehen, sondern im Falle ihres Versagens auch gleich abschneiden lassen, ist nicht alltäglich. Man kann allerdings sicher sein, dass es auch für diese Fälle eindrucksvolle tiefenpsychologische Gründe gibt. Spiele, Wetten, Preisausschreiben und ähnliche Bewerbungen gab es zu allen Zeiten und gibt es auch heute noch genug. Märchenhaft sind für uns in Turandot aber die ausgesetzten „Preise“: Heirat und Köpfen. Vor einigen Jahrtausenden war freilich dergleichen noch gar nicht so unüblich. Vom Fernen Osten bis in unsere Breiten verwürfelte und verwettete man alles, was man gerade hatte: Haus und Hof, die ganze Habe, die Frau, den Sohn und die Tochter, die eigene Freiheit und das Leben. Redewendungen wie „Ich wette um meinen Kopf“ oder „Das gelt’ ein Auge!“ waren also durchaus ernst gemeint. So gesehen, ist auch die Geschichte von Turandot rechtlich nicht absonderlich oder aufregend. In der Oper ist sie außerdem durch einen Erlass des Kaisers gedeckt, der alles möglich und erlaubt macht: die Verpflichtung zur Heirat und das Köpfen. Damit wäre man juristisch auch schon am Ende. Was sich noch anbietet, ist bloß eine Fleißaufgabe. Man kann fragen, wie der Fall nach dem geltenden Gesetz zu beurteilen wäre. Dazu muss man freilich die Heiratsverpflichtung für wirksam und das Kopfabschneiden für erlaubt halten.24 Versucht man die „öffentliche Verkündigung der Bewerbungsmöglichkeit“ unter einen „juristischen Hut“ zu bringen, so fällt einem zuerst die Auslobung25 ein. Man versteht darunter das öffentliche Versprechen einer Belohnung für die Erbringung einer Leistung oder die Herstellung eines Erfolges (§ 860 ABGB). An der öffentlichen Kundgabe fehlt es im vorliegenden Fall sicher nicht. Haben doch die Veranstaltungen der Prinzessin Turandot einen solchen Publizitätsgrad erreicht, dass es sich selbst die königlichen Sprosse von Samarkand und Indien, von Birma und Kirgisien, vom Tatarenland und von Persien nicht haben nehmen lassen, mit ihren Köpfen den chinesischen Palast zu zieren. Die Welt ist eben „übervoll von liebestollen Narren“, sie
23
WELSER, Auslobungen 138.
24
Zum Folgenden schon WELSER, Auslobungen 138.
RUDOLF WELSER, Bürgerliches Recht II13 (Wien 2007) 15 f; ROBERT Die Auslobung: eine zivilistische Untersuchung (Wien 1905). 25
VON
MAYR,
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hören allemal den Ruf, „so daß es nimmer mangelt an der Arbeit der Prinzessin Turandot“. Dass sich die Ausschreibung nur an Prinzen wendet, mag man je nach Geschmack als ein negatives Privileg der herrschenden Klasse oder als eine soziale Ungerechtigkeit empfinden; vom Recht her ist es gleichgültig; die Erklärung richtet sich noch immer an einen unbestimmten Personenkreis, zumal an Prinzen anscheinend kein Mangel herrscht. Die Belohnung, die das Gesetz als Tatbestandsmerkmal der Auslobung verlangt, ist Turandot selbst. Die Charakterzüge, welche die Prinzessin im Laufe der Oper nicht ganz verbergen kann, lassen freilich Zweifel aufkommen, ob es eine Belohnung ist, diese Frau heimzuführen. Doch ist die Liebe allemal blind und wohl auch taub, und so mögen es sich die Bewerber selbst zuschreiben, wenn sie sich verkalkulieren, das Gesetz greift da nicht ein. Außerdem bleibt ihnen ja die Hoffnung auf das Kaiserreich von China als Mitgift. Die Belohnung erhält nur, wer die verlangte „Leistung“ erbringt oder den gewünschten „Erfolg“ herstellt. Dazu kann auch die Lösung von Rätseln gehören. Können doch noch ganz andere Dinge im Sinne des Auslobungsrechtes belohnt werden! So stellt bei einer Schönheitskonkurrenz für Hunde oder Menschen jener den „Erfolg“ her, welcher der oder die „Schönste“ ist. Ebenso macht man eine Auslobung, wenn man demjenigen eine Eintrittskarte zum Popkonzert verspricht, der errät, wie viele Buchstaben das Wort ORF hat. Unter die Auslobung fällt schließlich auch die Ankündigung des Ehemanns, er sei bereit, € 100 zu zahlen, wenn ihm seine entschwundene Frau zurückgebracht wird. Man ist geneigt, ihn einen unverbesserlichen Geizhals zu schimpfen, könnte sich aber täuschen. Es ist nämlich auch denkbar, dass er eine sogenannte negative Auslobung vornehmen wollte, also eine solche, „bei der es dem Auslobenden erkennbar lieber ist, wenn der Erfolg nicht hergestellt wird“. Als Beispiel diene der Fall, dass der Autor eines Grundrisses für jeden aufgefundenen Druckfehler € 10 verspricht.26 Auch bei der Turandotschen Ausschreibung liegt der Verdacht nahe, dass es der Prinzessin erkennbar lieber ist, wenn der Erfolg ausbleibt. Es geht ihr offenbar weniger um die Erlangung eines rätselkundigen Gemahls, als um die Rache am männlichen Geschlecht und um die Abhaltung publikumswirksamer Veranstaltungen. Macht sie doch kaum ein Hehl daraus, dass ihr der Erfolg Kalafs zuwider ist. Allzugern hätte sie ihr Versprechen widerrufen, was ihr aber offenbar – heute nach § 860a ABGB – verwehrt war. Der Widerruf nach dieser Bestimmung ist nur bis zur Vollendung der Leistung wirksam. KARL WOLFF, Grundriss des österreichischen bürgerlichen Rechts4 (Wien 1948) 125. 26
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Scheint es somit, der Vorgang passe gut in das juristische Schema der Auslobung, so ändert sich das Bild, wenn man an die „Kehrseite der Medaille“ denkt: Verfehlt der Prinz die Antwort, so hat er nicht bloß „versungen und vertan“ und somit die Chance eingebüßt, Schwiegersohn des Kaisers von China zu werden, sondern wandert auch zum Scharfrichter. Mit einer bloßen Auslobung ist dies unvereinbar. Sie kann dem Bewerber nur einen „Preis“ bringen, nicht aber einen Verlust. Also muss man nach einer anderen juristischen Figur Ausschau halten. Wie sicher sich Kalaf seines Sieges auch sein mag, er ist ungewiss, der Prinz braucht dazu Glück. Und das führt uns auf die richtige Spur. Turandot und Kalaf schließen einen Glücksvertrag, weil sie ein Wagnis eingehen, „einen Vorteil erhoffen“ (§ 1265 ABGB). Ist es aber ein Spiel oder eine Wette? Für das frühere deutsche Recht war das eine „Gretchenfrage“, die manchem Rechtsgelehrten schlaflose Nächte bereitet hat. Schließlich meinte man, es sei jedenfalls ein Spiel, wenn die Beteiligten irgendwie auf den von ihnen gewünschten Erfolg „hinwirkten“. Ein Schriftsteller27 fand dazu die passenden Beispiele: Setzen zwei Engländer je eine mitgebrachte Schnecke auf den Tisch und soll jener gewinnen, dessen „Renntier“ zuerst am anderen Ende der Tischplatte anlangt, so ist es ein Spiel, weil jeder zum Ausgang der Sache beiträgt. Man denke nur an die Möglichkeit des „Anfeuerns“ durch Zurufe! Hingegen ist der Vertrag, den Canning mit dem Herzog schloss, dass derjenige vom anderen 100 Pfund erhalten sollte, dem auf einem bestimmten Wege die meisten Katzen begegneten, eine Wette. Damit wäre die Sache für das alte deutsche Recht geklärt. Bei uns wiederum ist die Angelegenheit schon deshalb nur halb so aufregend, weil das Gesetz die Wette ausdrücklich umschreibt. „Wenn über ein beiden Teilen noch unbekanntes Ereignis ein bestimmter Preis für denjenigen, dessen Behauptung der Erfolg entspricht, verabredet wird, so entsteht eine Wette“ (§ 1270 ABGB). Das passt auf Turandot und Kalaf ganz gut. Eingesetzt werden auf der einen Seite die Hand der Prinzessin (samt Kaiserreich China) und auf der anderen Seite der Kopf des Bewerbers. Und wenn es in Wirklichkeit ein Spiel wäre, so wäre dies dem Gesetzbuch auch gleichgültig, weil für diese beiden Glücksgeschäfte dieselben Regeln gelten (§ 1267), so dass man sich vor einer Entscheidung auf des „Rasiermessers Schneide“ nicht zu fürchten brauchte.
HEINRICH THÖL, Der Verkehr mit Staatspapieren aus dem Gesichtspunkt der kaufmännischen Speculation mit Berücksichtigung seiner juristischen Natur (Göttingen 1835) 270 FN 63.
27
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Turandot und Kalaf können von Glück reden, dass keiner von ihnen sein Recht bei Gericht durchsetzen musste. Die Sache wäre nämlich schiefgegangen, weil nach § 1271 ABGB „Wetten nur soweit verbindlich sind, als der bedungene Preis nicht bloß versprochen, sondern wirklich entrichtet oder hinterlegt worden ist“. Dies hat seine guten Gründe, die wir von Franz Zeiller, dem „Vater unseres Gesetzbuches“, erfahren: „Dadurch rettet die öffentliche Verwaltung tausend kurzsichtige, schwachsinnige oder leidenschaftliche Bürger samt Familien vom Untergange, in den sie durch das anlockende Spielen auf Borg, in der Hoffnung den verlorenen Einsatz zurückzugewinnen, gestürzt würden, und setzt der in mannigfaltiger Rücksicht sehr verderblichen Spielsucht eine Grenze.“28 Das Beispiel Kalafs zeigt, dass dies „goldene Worte“ sind. Andererseits wäre unser Prinz wahrscheinlich auch zum Hinterlegen seines Lebens bereit gewesen, wenn er dann bloß noch in der Lage gewesen wäre, die drei Fragen zu beantworten. Kalaf hat zwar die Wette, anscheinend aber nicht das Herz Turandots gewonnen. Da er, wie erwähnt, seinen Anspruch nicht im Rechtsweg durchsetzen kann, versucht er einen weiteren „Kraftakt“ und wettet nochmals um sein Leben, das er schon dann zur Verfügung stellen will, wenn Turandot seinen Namen herausfindet. So sehr ist Kalaf von seinem Ziel fasziniert, dass er sich in Selbstlosigkeit übersteigert und eine „einseitige Wette“ schließt, die Prinzessin braucht nichts dagegen zu setzen. Sie ist ja wohl auf den Namen des Prinzen auch nicht neugierig, sondern will, wenn man ihre Reaktion für bare Münze nimmt, den Bewerber nur loswerden. Rechtlich wirft diese zweite Wette mehr Fragen auf, als selbst Kalaf beantworten könnte. Beschränken wir uns darauf, den Sieger zu ermitteln. Es sieht so aus, als hätte Kalaf die Turandot „gewinnen lassen“. Bei genauerer Betrachtung ist aber überhaupt zweifelhaft, ob die Prinzessin wirklich gewonnen hat. Nach den von Kalaf aufgestellten Wettbedingungen muss Turandot seinen Namen nennen „ehe der Tag graut“. Nun war aber schon beim Tode Lius „die Stunde da, wo alles erwacht“. Und wenn man den wiederholten Ausrufen Turandots und Kalafs Glauben schenken darf, so tagt es schon ziemlich, während die beiden noch mit dem Küssen beschäftigt sind – ein meteorologischer Befund, der auch von den „Stimmen“ bestätigt wird. Trifft er zu, so hat Kalaf zum zweiten Mal gesiegt. Juristisch schlecht beraten, ist er aber der Meinung, die Frist sei noch offen und nützt dies dazu, Turandot FRANZ ZEILLER, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten deutschen Erbländer der oesterreichischen Monarchie III/2 (Wien/Triest 1812) 668 ff. 28
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seinen Kopf zu Füßen zu legen. Selbstloser als Rumpelstilzchen und bereitwilliger als Lohengrin, der zumindest eine Anfrage abwartet, gibt er Turandot seine Identität bekannt. Merkwürd’ger Fall! Rechtlich gesehen, konnte Kalaf auch damit seinen Sieg nicht mehr rückgängig machen. Dieser sei ihm vergönnt, er diene aber niemandem als Ansporn! Denn Kalaf hat zwar Glück gehabt. Bedenkt man aber die mit der ganzen Angelegenheit verbundene Aufregung und das hohe Risiko, so empfiehlt es sich eher, seine Prinzessin auf andere Weise zu suchen.
Zu den Anfängen der Historischen Rechtsschule romanistischer Richtung in Österreich – vornehmlich zu Ludwig Arndts von Arnesberg (1803–1878) GUNTER WESENER, GRAZ
I. In hohem Maße hat sich der Jubilar um die Geschichte der österreichischen Rechtswissenschaft verdient gemacht. Erwähnt seien nur seine grundlegenden Untersuchungen „Der Entwicklungsgang der österreichischen Privatrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert“1 und „Die historische Schule der österreichischen Zivilistik“ in der Festschrift für Hans Lentze.2 In meinem Beitrag soll den Anfängen der Lehre und Erforschung des römischen Rechts in Österreich im Geiste der Historischen Schule nachgegangen werden. Im Besonderen sollen Leben und Werk des in Bonn, München und schließlich in Wien wirkenden Pandektisten Ludwig Arndts von Arnesberg beleuchtet werden. Hans Lentze3 und Werner Ogris4 haben die umfassenden Universitäts- und 1
Berlin 1968.
Innsbruck/München 1969, 449–496 [nun in: WERNER OGRIS, Elemente Europäischer Rechtskultur. Rechtshistorische Aufsätze aus den Jahren 1961–2003, hrsg v THOMAS OLECHOWSKI (Wien/Köln/Weimar 2003) 345–400].
2
Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein (= Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophischhistorische Klasse 239/2; Wien 1962). Vgl dazu ALPHONS LHOTSKY, Das Ende des Josephinismus. Epilegomena zu Hans Lentzes Werk über die Reformen des Ministers Grafen Thun, in: ALPHONS LHOTSKY, Aufsätze und Vorträge III (Wien 1972) 258– 290; CHRISTOPH THIENEN-ADLERFLYCHT, Graf Leo Thun-Hohenstein als nachjosephinischer Vorkämpfer eines aufgeklärten Konservativismus, in: ULRICH E. ZELLENBERG (Hrsg), Konservative Profile. Ideen & Praxis in der Politik zwischen FM Radetzky, Karl Kraus und Alois Mock (Graz-Stuttgart 2003) 103–168, hier 139–153. 3
Die Universitätsreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein, Festvortrag 1999 (= Wiener Universitätsreden, Neue Folge 8, Wien 1999); vgl GUNTER WESENER, Römisches Recht und Naturrecht (= Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz 1; Graz 1978), 41–45; GERHARD OBERKOFLER, Studien zur Ge-
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GUNTER WESENER
Studienreformen des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts eingehend untersucht und gewürdigt. Die österreichische Privatrechtswissenschaft des Vormärz war von der Exegetischen Schule beherrscht worden.5 Von oben herab wollte Thun-Hohenstein nun eine Neugestaltung des Rechtsunterrichts und eine Neuordnung der österreichischen Rechtswissenschaft durchführen. Sein Ziel war die Wiedereingliederung der österreichischen Rechtswissenschaft in die deutsche.6 Der Theorie sollte ein Grundstudium dienen, das zugleich die Kenntnis des Gemeinen Rechts (Ius commune) vermitteln und damit der Rechtsvergleichung zugute kommen sollte. Daran sollte ein zweiter Abschnitt anschließen, der dem österreichischen Recht und den politischen Wissenschaften im Sinne des altösterreichischen Studienplanes gewidmet war. Der österreichische Jurist sollte vielseitiger ausgebildet sein als der deutsche. Basis des Rechtsstudiums sollten die rechtshistorischen Fächer bilden; das von Thun verabscheute Naturrecht sollte gänzlich fallen; an seine Stelle trat die Rechtsphilosophie.7 Thun schrieb dem Naturrecht die Schuld an der liberalen Gesinnung der österreichischen Juristen zu. Eine historische Grundbildung sollte die Studenten im konservativen, katholischen Geiste erziehen.8
schichte der österreichischen Rechtswissenschaft (Frankfurt aM 1984) 121–153. Vgl OGRIS, Entwicklungsgang 8 f; DERSELBE, Die Historische Schule 467 ff; WILBRAUNEDER, Privatrechtsfortbildung durch Juristenrecht in Exegetik und Pandektistik, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1983, 22–43 [nun auch in: WILHELM BRAUNEDER (Hrsg), Studien II: Entwicklung des Privatrechts (Frankfurt aM 1994) 43–71]; OBERKOFLER, Studien 121 ff; GUNTER WESENER, Adalbert Theodor Michel (1821–1877) – ein später Vertreter der Exegetischen Schule der österreichischen Ziviljurisprudenz, in: LOUIS C. MORSAK / MARKUS ESCHER (Hrsg), FS für Louis Carlen zum 60. Geburtstag (Zürich 1989) 47–65. 5
HELM
6
LENTZE, Universitätsreform 102, 213 f; DERSELBE, Die Eingliederung der österreichischen Zivilrechtswissenschaft in die deutsche Pandektenwissenschaft, in: ANDOR CSIZMADIA / KÁLMÁN KOVÁCS (Hrsg), Die Entwicklung des Zivilrechts in Mitteleuropa (1848-1944) (Budapest 1970) 59–70. 7
Dazu PETER GOLLER, Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Zur Geschichte der Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1848–1945) (FrankfurT aM 1997). – Der erste Vertreter der Rechtsphilosophie an der Grazer Universität ( von 1850 bis 1860) wurde Heinrich Ahrens; zu diesem EVI HERZER, Der Naturrechtsphilosoph Heinrich Ahrens (1808–1874) (Berlin 1993). 8
LENTZE, Eingliederung 65.
Zu den Anfängen der Historischen Rechtsschule romanistischer Richtung 579
Thun vertrat Gedanken, die ihm vor allem durch Karl Ernst Jarcke9, von Metternich 1832 nach Österreich berufen, „den bedeutendsten Kopf der römisch-katholischen Restauration in Österreich“,10 sowie durch den deutschen Rechtshistoriker und Kanonisten George Phillips,11 seit 1851 Professor an der Wiener Universität, nahe gebracht worden waren.12 Phillips, 1804 in Königsberg als Sohn eines englischen Kaufmanns geboren, habilitierte sich 1826 für deutsches Recht in Berlin, wo er 1827 zum außerordentlichen Professor ernannt wurde. Nach seinem Übertritt zum Katholizismus erhielt er 1835 einen Lehrstuhl für Kirchenrecht und deutsches Privatrecht an der Universität München. 1838 begründete er mit Karl Ernst Jarcke, Joseph und Guido Görres die „Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland“ und fungierte mit Guido Görres bis 1852 als deren Herausgeber.13 Im Jahre 1849 wurde er auf einen Lehrstuhl für Kirchenrecht und deutsches Recht an der Universität Innsbruck berufen, im Jahre 1851 auf das neu errichtete Ordinariat für deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte an der Universität Wien, wo er auch Vorlesungen über Kirchenrecht hielt.14 Mehr und mehr widmete er sich 9
Zu K. E. JARCKE (1801–1852) AUGUST V. EISENHART, in: ADB 13 (1881) 711–721; EDUARD WINTER, in: NDB 10 (1974) 353 f; Jarcke, in: ÖBL 3 (1965) 80; GEORG PHILLIPS, Nachruf, in: GEORG PHILLIPS, Vermischte Schriften II (Wien 1856) 599– 616; OTTO WEINBERGER, Karl Ernst Jarcke. Ein Beitrag zu seiner Würdigung nebst unveröffentlichten Briefen und Aktenstücken, Historisches Jahrbuch der Görres Gesellschaft 46 (1926) 563–593; LENTZE, Universitätsreform 81 ff und passim; OGRIS, Universitätsreform 13 ff. 10
LENTZE, Universitätsreform 81.
11
Vgl LENTZE, Universitätsreform 82 ff und passim; DERSELBE, Die germanistischen Fächer an der juridischen Fakultät der Universität Wien, in: Studien zur Geschichte der Universität Wien II (Graz-Köln 1965) 61–103, hier 64 ff; DERSELBE, George Phillips, der große Kanonist des 19. Jahrhunderts, in: VIKTOR FLIEDER (Hrsg), FS Franz Loidl zum 65. Geburtstag, I (Wien 1970), 160–166; JOHANN FRIEDRICH V. SCHULTE, in: ADB 26 (1888) 80-88; WILLIBALD M. PLÖCHL, in: ÖBL 8 (1983) 45; FRANZ KALDE, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon VII (Herzberg 1994), Spalte 515–518; ANDREAS THIER, in: NDB 20 (2001) 401 f. 12
OGRIS, Universitätsreform 18 f.
13
Vgl THIER, in: NDB 20 (2001) 401.
14
Vgl WILLIBALD M. PLÖCHL, Die Berufung von George Phillips an die Wiener Universität, JBl 74 (1952) 242 f; DERSELBE, Die Vorlesungstätigkeit von George Phillips an der Wiener Universität, in: AUDOMAR SCHEUERMANN / GEORG MAY (Hrsg), Ius Sacrum. Karl Mörsdorf zum 60. Geburtstag (München-Wien 1969), 157–161; HANS LENTZE, Graf Thun und die deutsche Rechtsgeschichte, Mitteilungen des Instituts für
580
GUNTER WESENER
diesem Fach, wo auch vor allem seine wissenschaftlichen Verdienste liegen. Gegen starken Widerstand der Anhänger der traditionellen österreichischen Rechtslehre des Vormärz gelang es Minister Thun-Hohenstein, seine Reformpläne zu verwirklichen.15 Am 24. Februar 1855 erließ Kaiser Franz Joseph eine allerhöchste Entschließung, in der er seine Verfügungen über die Hochschulreform weitgehend im Sinne Thuns traf. Damit war der Kampf um das Studiensystem grundsätzlich abgeschlossen. In dieser Entschließung findet sich folgende grundlegende Verfügung:16 „Bei Behandlung der juridischen Fächer wird die dogmatische, die historische und die philosophische Methode zweckmäßig zu verbinden, und mit Beachtung Meiner unterm 8. September v. J. bezüglich des römischen Rechtes, der Rechtsgeschichte und des kanonischen Rechtes erlassenen Entschließung17 dahin zu streben seyn, den Studierenden ein gründliches Verständniß der Prinzipien der Rechtswissenschaft und die Befähigung zu vermitteln, sich jene Detailkenntnisse, welche keinen Gegenstand eines wissenschaftlichen Vortrags zu bilden geeignet sind, durch eigenen Fleiß, Selbstthätigkeit und Praxis leicht erwerben zu können.“ Die Neuordnung des Rechtsstudiums, die in der juridischen Studien- und Staatsprüfungsordnung vom 2. Oktober 185518 ihren Niederschlag fand, ist mit Hans Lentze19 als „Thuns eigenstes Werk“ zu bezeichnen, als „seine größte persönliche Leistung in dem Gesamtwerk der Unterrichtsreform, die seinen Namen trägt“. Höchst bemerkenswert scheinen Thuns Ausführungen in seinem alleruntertänigsten Vortrag vom 29. Juni 1855:20
österreichische Geschichtsforschung 63 (1955) 500–521, hier 506 f; germanistischen Fächer 64 f. 15
DERSELBE,
Die
Vgl LENTZE, Graf Thun 512 ff; OBERKOFLER, Studien 121 ff.
16
LENTZE, Universitätsreform 347; WESENER, Römisches Recht und Naturrecht 43. – Zu den Verdiensten Kaiser Franz Josephs um die Universitätsreform LENTZE, Universitätsreform 232 f, 235. 17
Zum Ministerial-Erlass vom 13. 9. 1854 aufgrund allerhöchster Entschließung vom 8. 9. 1854 LENTZE, Universitätsreform 233 f; WESENER, Römisches Recht 43 Anm 19. 18
Zum Inhalt LENTZE, Universitätsreform 236 ff; KURT EBERT, Die Pflege der Rechtsgeschichte an der Universität Graz im Zeichen der Historischen Schule, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 87 (1970) 239–286, hier 244 ff.
19
Universitätsreform 237.
20
Bei LENTZE, Universitätsreform 358 f.
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„Wer im Laufe eines Jahres zum ersten Male durch die Geschichte des römischen Rechtes, Institutionen und Pandekten hindurch geführt worden ist, kann nicht sofort Rechenschaft von dem, was er studiert hat, ablegen, wenn er nicht statt für seine Bildung mit Interesse an dem Gegenstande zu studieren, nur bemüht war, das Gehörte zu memorieren. Er muß erst durch einige Zeit selbstthätig den Stoff des Unterrichtes verarbeiten und nichts ist damit nützlicher zu verbinden, als das Studium verwandter Gegenstände, das ihn nöthiget, immer wieder auf das bereits gehörte zurückzukommen, während das Abprüfen des einzelnen Gegenstandes die große Menge der Studierenden geradezu verleitet, mit der Prüfung den Gegenstand fallen zu lassen, und zu der wahrhaft fruchtbaren Methode des Studierens gar nicht zu gelangen.“ Im Vormärz bestanden in Österreich an den juristischen Fakultäten aufgrund der Zeillerschen Studienordnung von 181021 je fünf (in Wien und Prag sechs) Lehrkanzeln:22 1) Enzyklopädie des juridisch-politischen Studiums, Naturrecht und österreichisches Kriminalrecht, 2) Römisches (Civil-)Recht und Kirchenrecht, 3) Österreichisches Privatrecht (allgemeines bürgerliches Gesetzbuch), 4) Lehenrecht, Handels- und Wechselrecht, gerichtliches Verfahren in und außer Streitsachen und Geschäftsstil, 5) Politische Wissenschaften, österreichische politische Gesetzkunde, europäische und österreichische Sta-
21
Dazu LENTZE, Universitätsreform 61 ff, besonders 67 ff; KURT EBERT, Die Grazer Juristenfakultät im Vormärz. Rechtswissenschaft und Rechtslehre an der Grazer Hochschule zwischen 1810 und 1848 (Graz 1969) 35 ff; DERSELBE, Der Einfluß Franz von Zeillers auf die Gestaltung des juristischen akademischen Unterrichts. Die Reform des Rechtsstudiums im Jahre 1810, in: WALTER SELB / HERBERT HOFMEISTER (Hrsg), Forschungsband Franz von Zeiller (17511828) (Wien-Graz-Köln 1980) 63– 93; WESENER, Römisches Recht und Naturrecht 29 ff; DERSELBE, Österreichisches Privatrecht an der Universität Graz (= Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Grazl 4) (Graz 2002) 11 ff; DERSELBE, Franz von Zeiller (17511828) Leben und Werk, in: JOSEPH F. DESPUT / GERNOT KOCHER (Hrsg), Franz von Zeiller. Symposium der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz und der Steiermärkischen Landesbibliothek am 30. 11. 2003 (Graz 2003) 67–91, hier 71 ff, 77 f; OTTO FRAYDENEGG-MONZELLO, „... auf die Bedürfnisse des Staates und seiner Einwohner einzuschränken ...“ - Zeillers Juridische Studienreform von 1810 und Anklänge zu heute?, in: ebenda 93–112: Dazu im Einzelnen GUNTER WESENER, Zum „juridisch-politischen Studium“ an österreichischen Lyzeen und Universitäten in der Zeit von 1782 bis 1848 – Studienordnungen und Lehrämter, in: RICHARD GAMAUF (Hrsg), FS für Herbert Hausmaninger zum 70. Geburtstag (Wien 2006) 305–327, hier 320 ff; für Graz eingehend EBERT, Grazer Juristenfakultät 46 ff. 22
582
GUNTER WESENER
tistik (Staatenkunde), (in Wien und Prag zwei Lehrkanzeln). Aufgrund der Thun’schen Studienreform wurden nunmehr eigene Lehrkanzeln für Römisches Recht und für Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte geschaffen bzw. vorhandene Lehrstühle geteilt. Deutsche Rechtsgeschichte sollte im Geiste der romantisch-konservativen Richtung gelehrt werden.23 Die Fachvertreter wurden aus Deutschland und aus der Schweiz berufen, wo sie im Geiste der Historischen Rechtsschule24 ausgebildet worden waren. In Österreich hatte im Vormärz noch das System der Konkursprüfungen gegolten,25 während in Deutschland schon weitgehend das Institut der Habilitation für ein bestimmtes Fach eingeführt worden war.26 Die erste Habilitationsordnung (Statuten für die Universität Berlin vom 21. Okt. 1816) wurde im Rahmen der Humboldtschen Universitätsreform erlassen.27 In Österreich kam es erst im Jahre 1848 zur Einführung eines Habilitationsverfahrens, damit zu einer Spezialisierung und zugleich zu einem Selbstergänzungsrecht des Lehrkörpers. Die Institution des Privatdozenten war damit auch in Österreich gegeben.28 Die erste österreichische Universität, an der Deutsche Reichs- und Rechts-
LENTZE, Graf Thun 513; DERSELBE, Die romantisch-konservative Richtung der deutschen Rechtsgeschichte. Der Standort Philipp Anton von Segessers, Der Geschichtsfreund. Mitteilungen des Historischen Vereins der fünf Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden ob und nid dem Wald und Zug 106 (Stans 1953) 5–37.
23
Vgl FRANZ WIEACKER, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2 (Göttingen 1967) 348 ff; HANS THIEME, Historische Rechtsschule, in: HRG1 II, 170–172; HORST HEINRICH JAKOBS, Die Begründung der geschichtlichen Rechtswissenschaft (Paderborn/München/Wien/Zürich 1992); JOACHIM RÜCKERT, Historische Rechtsschule, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte 14 (2000) 464–470; HANS-PETER HAFERKAMP, Historische Rechtsschule, in: Enzyklopädie der Neuzeit 5 (Stuttgart/Weimar 2007) 498–504. 24
Vgl dazu OGRIS, Die historische Schule, in: OGRIS, Elemente 473; EBERT, Grazer Juristenfakultät 101, 104 ff.
25
ALEXANDER BUSCH, Die Geschichte des Privatdozenten. Eine soziologische Studie zur großbetrieblichen Entwicklung der deutschen Universitäten (Stuttgart 1959) 21 ff.
26
27
BUSCH, Geschichte des Privatdozenten 21 ff.
Vgl SASCHA FERZ, Ewige Universitätsreform. Das Organisationsrecht der österreichischen Universitäten von den theresianischen Reformen bis zum UOG 1993 (Frankfurt aM/Wien 2000) 199 f, 217; WESENER, Österreichisches Privatrecht 42. – Zu ersten Habilitationen unten Anm 63. 28
Zu den Anfängen der Historischen Rechtsschule romanistischer Richtung 583
geschichte wieder gelehrt wurde, war die Universität Innsbruck, an die 1849 George Phillips29 berufen wurde.30 Nach Phillips’ Übersetzung an die Universität Wien erhielt den Innsbrucker Lehrstuhl für Kirchenrecht und Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte im Jahre 1851 Ernst Frhr. von Moy de Sons (1799–1867),31 Professor für Staatsrecht in Würzburg und München, zuletzt Appellationsgerichtsrat in Neuburg a. d. Donau. Im Jahre 1863 übernahm der aus Westfalen stammende Julius Ficker (1826–1902)32 die Lehre der Deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte. 1852 aus Bonn an die Innsbrucker Philosophische Fakultät auf das Ordinariat für Allgemeine Geschichte berufen, trat er 1863 an die Juristenfakultät über.33 Er begründete die Innsbrucker rechtshistorische Schule. Neben G. Phillips lehrte an der Wiener Fakultät der Badenser Heinrich Siegel (1830–1899)34 seit 1857 als Extraordinarius, seit 1862 als Ordinarius für deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte und deutsches Privatrecht. Er gilt als Begründer der Wiener Schule der österreichischen Rechtshistoriker. 29
Dazu oben im Text nach Anm 11.
Vgl ALFRED RITTER V. WRETSCHKO, Die Geschichte der Juristischen Fakultät an der Universität Innsbruck 1671–1904 (Innsbruck 1904) 47. – An der Innsbrucker Juristenfakultät hatte schon von 1774 bis 1782 und von 1792 bis 1810 eine Lehrkanzel für Statistik (im Sinne von Staatenkunde) und deutsche Reichsgeschichte bestanden. Inhaber des Lehrstuhls war Franz X. von Weinhart. Vgl FRANZ GRASS, F. X. v. Weinhart (1746–1833), in: LOUIS CARLEN / FRITZ STEINEGGER (Hrsg), FS Nikolaus Grass zum 60. Geburtstag II (Innsbruck/München 1975) 463–498; WESENER, Zum „juridischpolitischen Studium“ 308 ff. 30
Vgl JOHANN FRIEDRICH V. SCHULTE, in: ADB 22 (1885), 420 f; NIKOLAUS GRASS, Österreichs Kirchenrechtslehrer der Neuzeit. Besonders an den Universitäten Graz und Innsbruck (Freiburg, Schweiz 1988) 277–279; DERSELBE, in: NDB 18 (1997), 237 f. 31
PAUL PUNTSCHART, Julius Ficker, † 10. Juli 1902, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 23 (1902) XIV-XXXII; ALFRED V. WRETSCHKO, Julius Ficker, Der Schlern 8 (1927) 279 f; OTTO BRUNNER, in: NDB 5 (1961) 133; eingehend WOLFGANG O. M. DRBAL, Julius Ficker (1826–1902). Ein Beitrag zur Mediävistik in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert (phil Diplomarbeit Universität Graz 2008). 32
33
WRETSCHKO, Geschichte 47.
Vgl ARNOLD LUSCHIN V. EBENGREUTH, Nachruf, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 20 (1899) VII–XI; ALFRED V. WRETSCHKO, Heinrich Siegel, Ein Bild seines Lebens und Wirkens, 1900 (SeparatAbdruck aus Beilagen zur Allgemeinen Zeitung Nr 106-108); LENTZE, Die germanistischen Fächer 67 ff; GUNTER WESENER, in: ÖBL 12 (2005) 236. 34
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GUNTER WESENER
An der Universität Prag wirkte von 1854 bis 1873 der bedeutende Kanonist Johann Friedrich (Ritter von) Schulte, geboren in Winterberg in Westfalen (1827–1914),35 der zugleich die Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte vertrat.36 1870 wurde eine zweite Lehrkanzel für Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte geschaffen und auf diese der gebürtige Oberösterreicher Heinrich Brunner (1840–1915),37 Professor in Lemberg, berufen. Nachdem der Schweizer Rechtshistoriker Philipp Anton von Segesser38 in Luzern einen Ruf auf das Ordinariat für Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte an der Grazer Universität abgelehnt hatte, wurde auf Empfehlung J. F. von Schultes und Rudolf von Jherings 1857 der Gießener Extraordinarius Georg Sandhaas (1823–1865)39 auf diese Lehrkanzel berufen.40 Er lehrte hier bis zu
ULRICH STUTZ, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 36, Kanonistische Abteilung 5 (1915) 558 f; NIKOLAUS HILLING, Archiv für katholisches Kirchenrecht 95 (1915) 519–527; WILHELM SCHULTE, Westfälische Köpfe. 300 Lebensbilder bedeutender Westfalen3 (Münster 1984) 293–294; GEORG HINTZEN, in: Lexikon für Theologie und Kirche3 9 (Freiburg im Breisgau 2000) 301; DANIEL SCHWENZER, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon XIX (Nordhausen 2001) 1263-1270; PATRICK ERNST SENSBURG, Die großen Juristen des Sauerlandes. 22 Biografien herausragender Rechtsgelehrter (Arnsberg 2002) 167–184 (mwN); MANFRED WEITLAUFF, in: NDB 23 (2007) 689 f. 35
LENTZE, Die romantisch-konservative Richtung 18. – Zum Einfluss Fickers und Schultes auf die Universitätsreform LENTZE, Universitätsreform 265 ff. 36
Vgl ULRICH STUTZ, Nachruf, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 36 (1915) IX–LV; KARL SIEGFRIED BADER, in: NDB 2 (1955) 682; GERTRUD SCHUBART-FIKENTSCHER, in: HRG I1, 523 f; KLAUS-PETER SCHROEDER, in: HRG2 I, 695 f; GUNTER WESENER, in: RAFAEL DOMINGO (Hrsg), Juristas universales III (Madrid/Barcelona 2004) 478–480. 37
LENTZE, Die romantisch-konservative Richtung 5 ff; NIKOLAUS GRASS, Aus den Anfängen der Historischen Schule germanistischer Richtung an der Grazer Juristenfakultät, in: GERNOT KOCHER / GERNOT D. HASIBA (Hrsg), FS Berthold Sutter (Graz 1983) 181–194, hier 182 f [= NIKOLAUS GRASS, Wissenschaftsgeschichte in Lebensläufen (Hildesheim 2001) 32–46, hier 33 f]. 38
Vgl AUGUST TEWES, Nachruf, Mittheilungen des historischen Vereines für Steiermark 15 (1867) XLIX–LXI; AUGUST V. EISENHART, in: ADB 30 (1890) 354 f; LENTZE, Die romantisch-konservative Richtung 5 ff; GRASS, Anfänge der Historischen Schule germanistischer Richtung 183 f [= DERSELBE, Wissenschaftsgeschichte 34 f]. 39
Vgl EBERT, Pflege der Rechtsgeschichte 276 f; GRASS, Aus den Anfängen der Historischen Schule germanistischer Richtung 183 f [= DERSELBE, Wissenschaftsgeschichte 34 f]. 40
Zu den Anfängen der Historischen Rechtsschule romanistischer Richtung 585
seinem frühen Tod im Jahre 1865. Nachfolger von Sandhaas wurde noch im selben Jahr der ordentliche Professor der Lemberger Universität Ferdinand Bischoff (1826–1915).41 Dieser Gelehrte, der sich vor allem um die österreichische Rechtsgeschichte große Verdienste erworben hat, wirkte mehr als dreißig Jahre an der Grazer Juristenfakultät (bis 1897). An der Universität Lemberg wurde die Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte in den Jahren 1855 bis 1865 von Ferdinand Bischoff vertreten, in der Zeit von 1866 bis 1870 von Heinrich Brunner.42
II. Im Bereiche des römischen Rechts verlief die Entwicklung weitgehend parallel zu der auf dem Gebiete der deutschen Rechtsgeschichte. Die Zeillersche Studienordnung von 181043 hatte das römische Recht zwar nicht abgeschafft, aber doch wesentlich beschränkt.44 Wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiete der juristischen Romanistik waren in Österreich im Vormärz nur in sehr geringem Maße gegeben.45 Eine erfreuliche Ausnahme stellte Johann
Ferdinand Bischoff hatte sich 1851 an der Universität Olmütz für deutsche Reichsund Rechtsgeschichte habilitiert; 1854 erhielt er an der Wiener Juristenfakultät die venia für Geschichte des Zivilrechts in Österreich. Vgl THEO MAYER-MALY, in: NDB 2 (1955) 262 f; Bischoff, in: ÖBL 1 (1957) 87; PAUL HRADIL, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 36 (1915) 648; LENTZE, Die germanistischen Fächer 71; ARNOLD LUSCHIN V. EBENGREUTH, Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 14 (1916) 165–173; HERMANN BALTL, Ferdinand Bischoff – Rechtsgeschichte und Musikwissenschaft. Ein altösterreichisches Gelehrtenleben, Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 83 (1992) 383– 405; EBERT, Pflege der Rechtsgeschichte 277 ff; GUNTER WESENER, Anfänge und Entwicklung der „Österreichischen Privatrechtsgeschichte“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert, ZNR 28 (2006) 364–408, hier 368, 375. - Zum Grazer Besetzungsverfahren (nach Sandhaas) eingehend GRASS, Anfänge der Historischen Schule germanistischer Richtung, in: Kocher / Hasiba (Hrsg), FS Sutter 184 ff [= DERSELBE, Wissenschaftsgechichte 35 ff]. 41
42
Siehe oben Anm 37.
43
Dazu oben Anm 21.
Dazu EBERT, Grazer Juristenfakultät 36, 57 ff, 78; WESENER, Römisches Recht und Naturrecht 29 ff; DERSELBE, Österreichisches Privatrecht 11.
44
Dazu THEO MAYER-MALY, Die Pflege des römischen Rechtes in Wien während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in Studien zur Geschichte der Universität
45
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Baptist Maria Kaufmann (1788–1822),46 Professor für römisches Civil- und Kirchenrecht an der Theresianischen Ritterakademie, dar, dessen Verdienste Theo Mayer-Maly47 aufgezeigt und gewürdigt hat. Kaufmanns „Anfangsgründe des Römischen Privatrechts“ (Wien u. Triest 1814/16) und seine vier obligationenrechtlichen Abhandlungen entsprechen vollauf den Bestrebungen und dem Geist der Historischen Schule, wobei Kaufmann als ein „genialer Autodidakt“ anzusehen ist.48 Unter Minister Thun-Hohenstein wurden für römisches Recht neue Lehrkanzeln geschaffen bzw vorhandene Lehrstühle für römisches Recht und Kirchenrecht geteilt. Wie für die Deutsche Rechtsgeschichte wurden auch für römisches Recht Fachvertreter aus Deutschland berufen, welche die Historische Rechtsschule vertraten. Schwierig war es, tüchtige Romanisten zu finden, die katholisch-konservativ gesinnt waren.49 Auf die römischrechtliche Lehrkanzel an der Universität Prag wurde 1851 der Göttinger Privatdozent Hermann August Schwanert (1823–1886) als außerordentlicher Professor ernannt.50 Sein Nachfolger wurde 1853 der Jenaer Professor Eduard Egmont Joseph Chambon (1822–1857).51 Auf das zweite Ordinariat für römisches Recht in Prag wurde 1855 Josaphat von Zielonacki (1818–1884), der Innsbrucker Ordinarius für römisches Recht (seit 1853), ernannt; dieser ging 1857 an die Universität Lemberg.52 Mit dem Tode ChamWien II, Graz/Köln 1965, 41–60; WESENER, Römisches Recht und Naturrecht 32– 39; DERSELBE, Zum „juridisch-politischen Studium“ 316 f, 319, 322 f, 326 f; GERHARD OBERKOFLER, Die Vertreter des Römischen Rechts mit deutscher Unterrichtssprache an der Karls-Universität in Prag (Frankfurt aM 1991) 11–14. CONSTANT V. WURZBACH, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich 11 (1864) 58 f. 46
Die Pflege des römischen Rechtes in Wien 47 ff; DERSELBE, Johann Baptist Maria Kaufmann, Labeo. Rassegna di diritto Romano 11 (1965) 302-310 [= Festheft Ernst Schönbauer 23–31].
47
48
So MAYER-MALY, Die Pflege des Römischen Rechtes in Wien 47.
49
Dazu eingehend LENTZE, Universitätsreform 145 ff.
MATTHIAß, in: ADB 54 (1908), 269 f; OBERKOFLER, Vertreter des Römischen Rechts 18 f, 69 f.
50
FRANZ XAVER SCHNEIDER, Nekrolog, Allgemeine österreichische GerichtsZeitung Nr 41 vom 11. 4. 1857; WURZBACH, Biographisches Lexikon 2 (1857) 330 f; EMIL STEFFENHAGEN, in: ADB 4 (1876) 96 f; OBERKOFLER, Vertreter des Römischen Rechts 71 ff. 51
52
Vgl OBERKOFLER, Studien 297 f;
DERSELBE,
Vertreter des Römischen Rechts 21 f,
Zu den Anfängen der Historischen Rechtsschule romanistischer Richtung 587
bons und dem Weggang Zielonackis war die Prager Romanistik verwaist. Nun wurde der aus Schleswig-Holstein stammende Karl Esmarch (1824– 1887), geboren in Sonderburg auf der Insel Alsen, seit 1854 Professor in Krakau, nach Prag versetzt.53 Hier lehrte er bis zu seinem Tode. Auf die zweite Lehrkanzel wurde mit kaiserlicher Entschließung vom 3. Mai 1857 der Erlanger Ordinarius Alois von Brinz (1820–1887) ernannt.54 Das Wiener Ordinariat für römisches Recht, das durch Teilung der Lehrkanzel für römisches Recht und Kirchenrecht hervorgegangen war,55 hatte von 1850 bis 1864 Joseph Hornig inne, von dem aber keine literarischen Leistungen festzustellen sind.56 Auf das zweite Ordinariat für römisches Recht wurde 1855 der Münchner Professor Ludwig Arndts (von Arnesberg) (1803–1878) ernannt, der den Ruf der Wiener Romanistik und Pandektistik begründete.57 An der Universität Innsbruck lehrte von 1853 bis 1855 der Romanist Josaphat (Josefat) von Zielonacki.58 Auf diesen folgte der aus Wismar in Mecklenburg stammende Friedrich Bernhard Maaßen (1823–1900), der 1860 auf das Ordinariat für römisches Recht und Kirchenrecht nach Graz übersetzt wurde. Damit hatte nun auch Graz in der Romanistik und Kanonistik einen Vertreter der Historischen Rechtsschule59. 1871 erfolgte Maaßens Ernennung 81 f. KARL V. CZYHLARZ, in: ADB 48 (1904) 429–432; HERBERT BÖTTGER, [Familienartikel] Esmarch, in: NDB 4 (1959) 654; DIETHER HUHN, in: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck 7 (Neumünster 1985) 61–63; ebenda 49–52: DIETER LOHMEIER, Esmarch-Familie; OBERKOFLER, Vertreter des Römischen Rechts 25 f. – KARL ESMARCH war Cousin von CONSTANZE ESMARCH, der Gattin und Cousine von THEODOR STORM. – Zu STORM: EUGEN WOHLHAUPTER, Dichterjuristen III (Tübingen 1957) 81–105. 53
PHILIPP LOTMAR, Brinz, in: ADB 47 (1903) 241–259; GERHARD WESENBERG, in: NDB 2 (1955) 617; OBERKOFLER, Vertreter des Römischen Rechts 26–28, 84–86. 54
Die kirchenrechtliche Lehrkanzel hatte von 1850 bis 1870 Theodor Pachmann (1801–1881) inne. Vgl JOHANN FRIEDRICH V. SCHULTE, in: ADB 25 (1887), 59 f; PETER LEISCHING, in: NDB 19 (1999) 749 f; WILLIBALD M. PLÖCHL, Theodor Ritter von Pachmann, in: FS Grass II 361–367; GRASS, Österreichs Kirchenrechtslehrer 24. 55
56
Vgl MAYER-MALY, Pflege des römischen Rechtes in Wien 55 und 57.
ERNST LANDSBERG, in: ADB 46 (1902) 41–45; GERHARD WESENBERG, in: NDB 1 (1953), 363; siehe unten III.
57
58
Siehe oben bei Anm 52.
59
Zu MAAßEN: WESENER, Römisches Recht und Naturrecht 48–51 (mwN); OBERStudien 298–300; NIKOLAUS GRASS, in: NDB 15 (1987), 603 f; WALTER
KOFLER,
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zum ordentlichen Professor des kanonischen und römischen Rechtes an der Wiener Universität als Nachfolger von Theodor Pachmann60. In Innsbruck hatte sich 1859 der Bremenser August Tewes (1831–1913) bei Maaßen für römisches Recht habilitiert61, folgte Maaßen nach Graz und wurde hier 1863 zum außerordentlichen und 1871 zum ordentlichen Professor für römisches Recht als Nachfolger von Maaßen ernannt. Nach dem Abgang Maaßens nach Wien war es auch in Graz 1871 zur Teilung der alten Lehrkanzel für römisches Recht und Kirchenrecht gekommen. Schon im Jahre 1856 hatte sich an der Prager Universität unter der Ägide von Eduard E. J. Chambon der zu Allstedt im Großherzogtum Sachsen-Weimar geborene Gustav Demelius (1831–1891)62 mit einer Untersuchung „Über das Klagerecht aus Forderungsrechten“ für römisches Recht habilitiert. Es war dies die erste Habilitation für römisches Recht an der Universität Prag63.
TROXLER, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon XV (1999) 905–907. 60
WESENER, Römisches Recht und Naturrecht 49; zu PACHMANN oben Anm 55.
Zu TEWES: WESENER, Römisches Recht und Naturrecht 51–54; OBERKOFLER, Studien 299. – TEWES erwarb 1859 das Doktorat der Rechte zu Göttingen und wandte sich dann unter Förderung des Leipziger Pandektisten CARL GEORG von WÄCHTER (1797–1880) der wissenschaftlichen Laufbahn zu. - Zu WÄCHTER: BERNHARD WINDSCHEID, C. G. von Waechter (Leipzig 1880); HEINRICH DERNBURG, C. G. von Wächter (Halle 1880); OTTO LENEL, Literarisches Zentralblatt 32 (1881) 1577; HEINRICH DEMELIUS, Drei Pandektisten über das österreichische ABGB, Labeo. Rassegna di diritto Romano 11 (1965), 287–301, hier 293–297 [= Festheft Schönbauer 8–22, hier 14–18]; FRITZ STURM, in: HRG1 V, 107–1078; GOTTFRIED SCHIEMANN, Pandekten – Waechter als Romanist, in: BERND-RÜDIGER KERN (Hrsg), Zwischen Romanistik und Germanistik. Carl Georg von Waechter (1797–1880) (Berlin 2000) 89–99; CHRISTOPH MAUNTEL, Carl Georg von Wächter (1797–1880). Rechtswissenschaft im Frühkonstitutionalismus (Paderborn-Wien 2004); LARS JUNGEMANN, Carl Georg von Wächter (1797–1880) und das Strafrecht des 19. Jahrhunderts. Strafrechtliche Lehre und Wirkungsgeschichte (Berlin 1999). 61
Zu diesem WESENER, Römisches Recht und Naturrecht 55–59; OBERKOFLER, Die Vertreter des Römischen Rechts 22–24.
62
Vgl OBERKOFLER, Die Vertreter des Römischen Rechts 22. – Schon 1854 hatte sich an der Universität Olmütz MORIZ SCHWACH (1826–1863) für römisches Recht habilitiert (dazu WESENER, Römisches Recht und Naturrecht 70–72; OBERKOFLER, Vertreter des Römischen Rechts 31). - Für deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte hatte sich bereits 1851 FERDINAND BISCHOFF an der Universität Olmütz habilitiert (siehe oben Anm 41). – Zu Emil Franz Rößler (1815–1863) LENTZE, Graf Thun 503–506; HERMANN BALTL, Emil Franz Rößler. Ein Rechtshistoriker zwischen Österreich 63
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Schon im folgenden Jahr (1857) wurde Gustav Demelius als Extraordinarius für römisches Recht an die Jagellonische Universität Krakau als Nachfolger von Karl Esmarch berufen. Im Jahre 1862 wurde er zum Ordinarius in Graz ernannt, wo er neunzehn Jahre bis zu seiner Berufung nach Wien als Nachfolger Ludwig Arndts’ (1881) wirkte.
III. Im Folgenden sollen Leben und Werk des beinahe zwanzig Jahre in Wien wirkenden Pandektisten Ludwig Arndts Ritter von Arnesberg, der in den letzten Jahrzehnten wenig Beachtung gefunden hat, gewürdigt werden. Karl Ludwig Arndts64 wurde am 19. August 1803 zu Arnsberg in Westfalen als jüngster Sohn des großherzoglichen Geheimrats und Direktors des Hofgerichts in Arnsberg Friedrich Arndts und dessen Gattin Maria Johanna, genannt Marianne, geb. Biegeleben, geboren. Die Familie Arndts, eine alte Juund Preußen, in: KARL KROESCHELL (Hrsg), FS für Hans Thieme zu seinem 80. Geburtstag (Sigmaringen 1986) 329–339; HELMUT SLAPNICKA, in: ÖBL 9 (1988), 206 f; WESENER, Österreichische Privatrechtsgeschichte 367. - JOSEPH UNGER erwarb 1853 die venia für österreichisches Zivilrecht an der Universität Wien. HEINRICH SIEGEL, Bericht der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften und der philospohisch-historischen Classe vom 30. Mai 1877 bis zum 29. Mai 1878, in: Die Feierliche Sitzung der kaiserlichen Akadademie der Wissenschaften am 29. Mai 1878 (Wien 1878), 23–29 (mit Schriftenverzeichnis 30–34); DERSELBE, in: Almanach der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien 28 (1878) 137–148; CARL GRAF CHORINSKY, † Dr. Ludwig Arndts, Zeitschrift für Notariat und freiwillige Gerichtsbarkeit in Österreich 20 (1878) 55 f; FRANZ HOFMANN, Ludwig v. Arndts, GrünhutsZ 6 (1879) 263–296; ALOIS BRINZ, Nekrolog, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 21 (N F 2, 1879) 1–12 (Schriftenverzeichnis 12–14); ERNST LANDSBERG, in: ADB 46 (1902) 41–45; DERSELBE, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft III/2 (München-Berlin 1910), Text 493–495, Noten 221 f; ERWIN GRUEBER, Ludwig Arndts, Ritter von Arnesberg. Zur Erinnerung an die hundertjährige Wiederkehr seines Geburtstages, Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 134 (1904) 291–300, 331–345; GERHARD WESENBERG, in: NDB 1 (1953) 363; Arndts-Arnesberg, in: ÖBL 1 (1957) 29; NIKOLAUS GRASS, in: Lexikon für Theologie und Kirche2 I (1957) 891; HEINZ HÜRTEN, ebenda3 I (1993) 1018; DEMELIUS, Drei Pandektisten 297–301; SCHULTE, Westfälische Köpfe 11–12; PATRICK ERNST SENSBURG, Karl Ludwig Arndts aus Arnsberg, in: DERSELBE, Juristen des Sauerlandes 123–136 (mwN). – Zu Vorfahren ARNDTS’ vgl Deutsches Geschlechterbuch 32 (Görlitz 1920) 390 Anm 31 und 31a. 64
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ristenfamilie, lässt sich bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurück in Westfalen nachweisen. Seit Ende des 17. Jahrhunderts war Arnsberg der Wohnsitz der Familie. Ludwig Arndts, der mit neun Jahren den Vater verlor, besuchte das Arnsberger Gymnasium, bestand 1820 das Abitur mit Auszeichnung und studierte ab Herbst 1820 an der Universität Bonn, wo er sich für das Jusstudium entschied. Äußere Rechtsgeschichte, Institutionen und Pandekten hörte er bei Ferdinand Mackeldey (1784–1834)65, wechselte dann an die Universität Heidelberg und ging schließlich nach Berlin, wo er Savigny hörte;66 hier erfolgte am 28. Oktober 1825 seine Promotion zum Doktor beider Rechte.67 Im Oktober 1826 habilitierte er sich an der Universität Bonn. Am 7. Oktober 1830 heiratete er seine Cousine, die Schriftstellerin Bertha Arndts (geb. 1809 zu Arnsberg, gest. 1859 zu Hütteldorf bei Wien). Noch als Privatdozent wurde er 1832 Mitglied des angesehenen Bonner Spruchkollegiums. In dieser Zeit arbeitete er an der Ausgabe der Receptae sententiae des Paulus für das Bonner Corpus juris civilis antejustinianei (Separatabdruck Bonn 1833). In der Zeit von Juli 1834 bis Juni 1835 unternahm er mit seiner Frau eine Reise nach Italien und in die Schweiz, die er zu Studien in Bibliotheken und Archiven benutzte. Im Jahre 1837 erschienen „Beiträge zu verschiedenen Lehren des Civilrechtes und Civilprocesses“. In diesem Jahr wurde Arndts endlich außerordentlicher Professor an der Bonner Universität,68 nach einer mehr als zehnjährigen Dozententätigkeit.69 Nun aber ging der weitere akademische Aufstieg rasch vor sich. Schon 1839 wurde Arndts als Nachfolger von Karl August Unterholzner (1787–1838)70 zum Ordinarius in Breslau ernannt, wo er im Sommersemester seine Vorlesungen beginnen sollte. Gleichzeitig erhielt er aber einen Ruf nach München als Nachfolger von Georg Friedrich 65
LANDSBERG, Geschichte III/2, Noten 120 f.
Vgl LUDWIG ARNDTS, Zum Andenken an Friedrich Carl von Savigny (Gedächtnisrede vom 31. Okt. 1861 an der Universität Wien), Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 4 (1862) 1–15. 66
Mit einer Dissertation ad legem 25. D. de liberatione legata [= D. 34, 3, 25]. CARL GEORG WÄCHTER bezeichnete diese Dissertation als „eine ganz gediegene, gründliche, klar geschriebene, ihren Gegenstand von allen Seiten beleuchtende und vollkommen genügend entwickelnde und die Hauptfrage sehr überzeugend und ganz richtig entscheidende Abhandlung“: (Tübinger) Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft 2 (1827), 186–189. 67
68
Dekret: Berlin 30. 12. 1836.
69
Vgl dazu HOFMANN, Arndts 272.
70
LANDSBERG, Geschichte III/2, Text 292 f und Noten 122 f.
Zu den Anfängen der Historischen Rechtsschule romanistischer Richtung 591
Puchta (1798–1846),71 dem nach Savigny wohl bedeutendsten Vertreter der Historischen Rechtsschule romanistischer Richtung. Arndts nahm diesen Ruf nach München an und trat die Professur mit 1. April 1839 an. Arndts hielt in München Vorlesungen über Institutionen, Pandekten und französisches Zivilrecht. 1840 erschien in München sein „Grundriss zu Vorlesungen über Pandecten (mit Ausschluss des Erbrechts) zum Gebrauch seiner Hörer“; dieser wurde zur Grundlage seines Lehrbuchs der Pandekten (1. Aufl. 1850/52). Ferner erschien 1840 ein „Plan zu Vorlesungen über französisches Civilrecht“. Seine akademische Tätigkeit wurde unterbrochen durch Berufung in die bayerische Gesetzgebungskommission in den Jahren 1844 bis 1847 und durch die Teilnahme am Frankfurter Parlament 1848 bis Mai 1849 als Abgeordneter des Wahlbezirks Straubing. Arndts gehörte der großdeutschen Partei an. Noch im Jahre 1849 nahm Arndts nach längerer Unterbrechung die Arbeit an seinem Lehrbuch der Pandekten auf und konnte das erste Heft seinem Lehrer Friedrich Carl von Savigny zu dessen Jubeltag am 31. Oktober 1850 überreichen. Im Zuge der Thun’schen Universitäts- und Studienreform wurde Arndts im Jahre 1854 auf die zweite, neugeschaffene Lehrkanzel für Römisches Recht an der Universität Wien berufen, obwohl er schon einen Antrag Thuns abgelehnt hatte.72 Einen Ruf auf diese Lehrkanzel hatte auch der Leipziger Pandektist Carl Georg von Wächter73 abgelehnt.74 Ein zweites Mal konnte sich Arndts der Berufung nach Wien nicht entziehen. In einem Brief an den baye-
Vgl PETER LANDAU, Puchta und Aristoteles. Überlegungen zu den philosophischen Grundlagen der historischen Schule und zur Methode Puchtas als Zivilrechtsdogmatiker, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 109 (1992) 1–30; DERSELBE; in: NDB 20 (2001) 757–759; HANS-PETER HAFERKAMP, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (Frankfurt aM 2004); THOMAS HENKEL, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G. F. Puchta (Köln/Weimar/Wien 2004); CHRISTOPH-ERIC MECKE, Begriff und System des Rechts bei Georg Friedrich Puchta (Göttingen 2008); THEO MAYER-MALY, in: RAFAEL DOMINGO (Hrsg), Juristas universales III (Madrid/Barcelona 2004) 140–144; GERD KLEINHEYER / JAN SCHRÖDER (Hrsg), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten5 (Heidelberg 2008) 341–344. 71
72
Dazu eingehend HOFMANN, Arndts 281–284.
73
Zu diesem oben Anm 61.
Vgl den Brief R. v. Jherings an Carl Friedrich von Gerber (1823–1891) vom 4. 4. 1855, Gießen, abgedruckt bei MARIO G. LOSANO, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber 1 (Ebelsbach 1984) 135–142, hier 138. 74
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rischen Unterrichtsminister v. Zwehl vom 3. Jänner 1855 schreibt Arndts75 ua: „Wenn ich nach langem und schwerem Kampfe darauf einzugehen mich bewogen fand, so bestimmte mich dazu hauptsächlich die Erwägung, dass ich dem zum zweiten Male ohne all’ mein Zuthun mir gewordenen Rufe, an der Verjüngung der alten kaiserlichen Universität, insbesondere an der Hebung des Rechtsunterrichts auf derselben mitzuarbeiten mich nicht entziehen zu sollen glaubte.“ In Wien sei er nötiger als „in den seit langer Zeit schon nach dem allgemeinen Typus der übrigen Universitäten geregelten Verhältnissen“ Münchens, wo er „durch eine jüngere Kraft mehr als ersetzt werden könnte“. Trotz aller Bemühungen der bayerischen Regierung, ja Königs Max selbst, blieb Arndts bei seinem einmal gefassten Entschluss.76 Seine großdeutsche Gesinnung und seine streng katholische Einstellung mögen dabei eine Rolle gespielt haben. Mit allerhöchster Entschließung Kaiser Franz Josephs vom 1. Februar 1855 war Arndts zum Professor des römischen Rechts an der Universität Wien ernannt worden. Mit 1. September d. J. nahm er seine Tätigkeit in Wien auf. In seiner Antrittsvorlesung am 17. Oktober 1855 sprach er über die Bedeutung des Studiums des römischen Rechts in Österreich.77 Kurz zuvor, am 2. Oktober 1855, war die neue juridische Studien- und Staatsprüfungsordnung ergangen, wonach dem römischen Recht, der deutschen Rechtsgeschichte und dem kanonischen Recht ein hoher Stellenwert zukam.78 Arndts79 führte in seiner Antrittsrede aus: „Es sind umfassende neue Gesetzgebungen eingeführt worden, welche die unmittelbare Geltung des römischen Rechts ausschließen. Aber diese Gesetzbücher enthalten großentheils nur formell neues; materiell beruht ihr Inhalt auf dem zur Zeit ihrer Abfassung geltenden Rechte, ist hervorgegangen aus den damals herrschenden Rechtsanschauungen, und so ist denn das römische Recht auch für diese neuen bürgerlichen Gesetzgebungen eine wichtige, ja die wichtigste materielle Grundlage.“
75
HOFMANN, Arndts 281 f.
Vgl HOFMANN, Arndts 282–284; BRINZ, Nekrolog, Kritische Vierteljahresschrift 1879, 6. 76
Vgl HOFMANN, Arndts 285 f. – LUDWIG ARNDTS, Bedeutung des römischen Rechts nach Einführung neuer Civilgesetzbücher, in: DERSELBE, Gesammelte Civilistische Schriften III (Stuttgart 1874) 150–154. 77
78
Siehe oben im Text bei Anm 15–20.
79
Gesammelte Civilistische Schriften III 153.
Zu den Anfängen der Historischen Rechtsschule romanistischer Richtung 593
Dies gelte auch für das österreichische bürgerliche Gesetzbuch, das Arndts als ein relativ ausgezeichnetes Werk bezeichnet.80 Er fährt fort:81 „Deßhalb aber bin ich nicht minder und zwar in Uebereinstimmung mit allen wissenschaftlichen Autoritäten, lebhaft überzeugt, dass eine wahrhaft wissenschaftliche Ausbildung unserer Jurisprudenz nicht zu erreichen ist, wenn sie nicht, die Grundlagen unseres Rechtes mit geschichtlichem Sinn erfassend, aus dem Borne des römischen, wie des in neuerer Zeit mit so großem Erfolge bearbeiteten deutschen Rechtes, ihre tiefere Nahrung zieht.“ Ludwig Arndts wirkte bis 1874, bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand mit 71 Jahren an der Wiener Fakultät. In den Studienjahren 1859/60 und 1864/65 war er Dekan der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät. 1867 wurde ihm durch allerhöchstes Handschreiben die lebenslange Reichsratswürde und damit Sitz und Stimme im Herrenhause verliehen. 1871 wurde er in den erblichen Ritterstand erhoben (mit dem Prädikat „von Arnesberg“). Seit 1872 war er wirkliches Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien.82 Am 1. März 1878, im 75. Lebensjahr, verstarb Ludwig Arndts in Wien an einer Lungenentzündung. Überlebt wurde er von seiner zweiten Frau, der Witwe von Guido Görres. Eine Büste Ludwig Arndts’ befindet sich im Arkadenhof der Universität Wien. Zu Arndts bedeutendsten Schülern zählen Alois von Brinz,83 der bei ihm Vorlesungen in München hörte, Adolf Exner (1841–1894),84 Leopold Pfaff (1837– 1914)85 und Franz Hofmann (1845–1897),86 die in Wien studiert hatten. Nach-
80
Vgl DEMELIUS, Drei Pandektisten 297 f [= Festheft Schönbauer 18 f].
81
Gesammelte Civilistische Schriften III 154.
82
Zu den Ehrungen HOFMANN, Arndts 290 f.
83
Zu diesem oben Anm 54.
LUDWIG MITTEIS, Erinnerungen an Adolf Exner, Vortrag (Wien 1894); IVO PFAFF, A. Exner, in: ADB 48 (1904) 456–459; ANDREAS B. SCHWARZ, Das römische Recht an der Universität Zürich im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (Zürich 1938) 35–40; Exner, in: ÖBL 1 (1957) 274; OGRIS, Die historische Schule 459 f; HANS HOYER, Adolf Exner, in: WILHELM BRAUNEDER (Hrsg), Juristen in Österreich 1200–1980 (Wien 1987) 205–208, 317 f; OBERKOFLER, Die Vertreter des Römischen Rechts 29 f. 84
GERHARD OBERKOFLER in: BRAUNEDER, Juristen 199–201, 342; ELISABETH BERGER in: NDB 20 (2001) 294 f (mit weiterer Literatur). Vgl GUNTER WESENER, Ivo Pfaff, in: ÖBL 8 (1983) 23 f; DERSELBE, Österreichisches Privatrecht 21 f; DERSELBE, Österreichische Privatrechtsgeschichte 389 f. 85
86
LEOPOLD PFAFF, Professor Franz Hofmann †, Allgemeine österreinische Gerichts-
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GUNTER WESENER
folger Arndts’ auf dem Wiener Lehrstuhl wurde, allerdings erst 1881, Gustav Demelius,87 der die Lehrkanzel zehn Jahre, bis zu seinem überraschenden Tode 1891, innehatte. Eine wohl abgewogene Beurteilung von Arndts als Lehrer und Mensch gibt sein Schüler Franz Hofmann:88 „Die Gabe des lebendigen, fesselnden Vortrags war Arndts, wenigstens in seinen späteren Jahren, nicht eigen. Die Gründlichkeit und Umsicht seines Denkens war von einer gewissen Schwerfälligkeit des Ausdrucks begleitet. Dazu kam eine tiefe, durch das Gehör nicht controlirte, bei einiger Entfernung schwer verständliche Stimme. Aber was dem Vortrag an äusseren Vorzügen abging, das ersetzte für den ernsten Studenten (der oberflächliche und bequeme hat bei ihm nichts gelernt) die Gediegenheit und logische Gliederung des Inhaltes, und der sittliche Eindruck, den des Mannes ganzes Wesen machte.“ Kritisch äußert sich Rudolf von Jhering (1818–1892), Inhaber der anderen Wiener römischrechtlichen Lehrkanzel von 1868 bis 1872, über seinen Fakultäts- und Fachkollegen:89 „Meine amtliche Thätigkeit hat am Anfang der Woche mit Examiniren begonnen. Ich kam diesmal gnädig ab, ich hatte 3 Mal zu sitzen von 8-12; zwei Mal mit Phillips, einer feinen, noblen Natur, die für mich viel Anziehendes hat, und dem ich mich trotz seines Ultramontanismus, der mich nicht schreckt, zu nähern suchen werde. Arndts hat ganz den Zuschnitt eines westphälischen Bauern. Nicht als ob er sich so gegen mich benommen hätte, er war ganz artig; aber die ganze Persönlichkeit hat nichts Gewinnendes, und dabei soll der Mann noch Intriguant sein; man hat mich gewarnt vor ihm! Mein altes Verhältnis zu Siegel ist Dir bekannt, es ist dasselbe geblieben. Seine Frau ist ein reizendes Wesen, die mich stets an Deine verstorbene Frau
Zeitung 48 (1897) 353 f; DERSELBE, Rede auf Franz Hofmann, gehalten am 15. Nov. 1903 bei der Enthüllung der in den Universitäts-Arkaden aufgestellten Büste Hofmanns, GrünhutsZ 31 (1904) 209 f (Separat-Abdruck Wien 1904); IVO PFAFF, in: ADB 50 (1905) 434–436; Hofmann Franz, in: ÖBL 2 (1959) 381; WESENER, Österreichisches Privatrecht 53 Anm 395 (mit weiterer Literatur). Siehe oben im Text bei Anm 62 und 63. – Zum Terna-Vorschlag der Wiener Fakultät vom 5. 5. 1874 WESENER, Römisches Recht und Naturrecht 57 Anm 16. 87
88
Arndts 286.
Brief an C. F. von Gerber vom 10. 10. 1868, bei LOSANO, Briefwechsel Jhering und Gerber 644–646, hier 645.
89
Zu den Anfängen der Historischen Rechtsschule romanistischer Richtung 595
erinnert. Mit Unger und Glaser stand ich früher schon sehr genau. Auch einen Kollegen aus Kiel, Stein, habe ich hier wieder gefunden.“ Rudolf von Jhering90 und Ludwig Arndts waren allzu verschiedene Charaktere, als dass sich ein Naheverhältnis zwischen ihnen hätte entwickeln können. Heinrich Siegel,91 seit 1857 Professor für deutsche Rechtsgeschichte in Wien, war als Privatdozent schon Jherings Kollege in Gießen gewesen. Mit Joseph Unger (1828–1913) und dem Strafrechtler Julius Glaser (1831–1885) stand Jhering schon seit längerer Zeit in persönlichem Kontakt.92 Lorenz von Stein (1815–1890),93 seit 1843 Dozent, seit 1846 außerordentlicher Professor in Kiel, war von 1855 bis 1885 ordentlicher Professor für Politische Ökonomie in Wien. Arndts’ bedeutendstes Werk ist zweifellos sein „Lehrbuch der Pandekten“, eines der beliebtesten Lehrbücher der Zeit. Die erste Auflage erschien in München 1850/52 und ist hervorgegangen aus dem „Grundriss zu Vorlesungen über Pandecten (mit Ausschluss des Erbrechts) zum Gebrauch seiner Hörer“ (München 1840). Zu Arndts’ Lebzeiten erschienen insgesamt neun Auflagen, die 9. Auflage 1876. Die 10. bis 14. Auflage (1889) wurde von Arndts’ Schülern Leopold Pfaff und Franz Hofmann bearbeitet. Die italienische Übersetzung durch Filippo Serafini, ebenfalls ein Schüler Arndts’, erschien in vier Auflagen.94 Neben den Pandekten Puchtas, Windscheids und vielen anderen95 hatte auch Arndts’ Lehrbuch Einfluss auf die Rechtssprechung in Südafrika.96 Vgl FRANZ WIEACKER, Rudolph von Jhering (1818–1892), in: DERSELBE, Gründer und Bewahrer. Rechtslehrer der neueren deutschen Privatrechtsgeschichte (Göttingen 1959) 197–212; FRITZ STURM, Brennpunkte einer Ellipse: Savigny und Jhering, in: Drei Vorträge zum Privatrecht (= Grazer Rechts- und Staatswissenschaftliche Studien 58, Graz 2001) 30–54. 90
91
Siehe oben Anm 34.
Vgl MARIO G. LOSANO, Der Briefwechsel Jherings mit Unger und Glaser (Ebelsbach 1996); dazu GUNTER WESENER, [Rezension in] Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 115 (1998) 647–649. 92
93
ERK VOLKMAR HEYEN, in: BRAUNEDER, Juristen 160–165, 357–358.
4. Auflage Bologna 1887. – Zu Filippo Serafini (1831–1897) FRANCESCO MARIN, in: ÖBL XII (2005), 183 f. 94
Vgl ROBERT W. LEE, An Introduction to Roman-Dutch Law5 (Oxford 1953) 14– 18; DERSELBE, Roman Law in the British Empire particularly in the Union of South Africa, in: Atti del congresso internaz. di diritto romano, Bologna II (Pavia 1935) 251–296, hier 262 f. 95
Vgl PAUL KOSCHAKER, Europa und das römische Recht2 (München/Berlin 1953), 66 f; GERHARD WESENBERG / GUNTER WESENER, Neuere deutsche Privatrechts-
96
596
GUNTER WESENER
Vielfach wurde Arndts vorgeworfen, dass sich sein Lehrbuch allzu sehr an die Pandekten Puchtas anlehne.97 Diesem Vorwurf ist Franz Hofmann98 mit guten Argumenten entgegengetreten. Puchtas Pandekten (1. Auflage 1838) und Arndts’ „Grundriss zu Vorlesungen über Pandecten“ (1840), auf dem sein Lehrbuch beruht, sind fast zur selben Zeit entstanden. Beiden Pandektenwerken liegt Arnold Heises fünfteiliges Pandektensystem99 zugrunde. In wesentlichen Punkten unterscheidet sich Arndts’ Lehrbuch von dem Puchtas. Ein wichtiger formaler Unterschied besteht darin, dass Arndts zwischen Anmerkungen und Noten scheidet; die Anmerkungen sind für Literaturnachweise und Streitfragen bestimmt, die Noten ausschließlich für Quellenbelege. Eine gewisse Übereinstimmung besteht allerdings im Stil; hier hat sich Arndts „die scharfe, kurze, prägnante Ausdrucksweise“ Puchtas zum Vorbild genommen.100 Im Vorwort zur ersten Auflage seines Buches schreibt Arndts, dass dieses den Pandekten Puchtas viel zu danken habe. Arndts’ „Juristische Encyklopädie und Methodologie“ (1. Auflage Stuttgart 1843), eine Einleitung in das Studium der Rechtswissenschaft, erlebte elf Auflagen.101 Im Jahre 1866 wurde Arndts dafür gewonnen, den Pandektenkommentar von Christian Friedrich Glück (1755–1831),102 einem späten Vertreter des Usus modernus pandectarum, fortzusetzen. In den Bänden 46, 47 und 48 (1867–1878)103 geschichte4 (Wien-Köln 1985) 227. 97
Vgl LANDSBERG, Geschichte III/2, Text 493 f.
98
Arndts 276 ff.
GEORG ARNOLD HEISE, Grundriss eines Systems des gemeinen Civilrechts zum Behuf von Pandecten-Vorlesungen1 (Heidelberg 1807); 3. verbesserte Ausgabe (Heidelberg 1819; Nachdruck Goldbach 1997). – Zu GEORG ARNOLD HEISE (1778–1851): HERMANN-ARNOLD SCHULTZE -V. LASAULX, in: NDB 8 (1969) 453 f. – Vgl ANDREAS B. SCHWARZ, Zur Entstehung des modernen Pandektensystems, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 42 (1921) 578–610 [auch in: ANDREAS B. SCHWARZ, Rechtsgeschichte und Gegenwart (Karlsruhe 1960) 1–25]. 99
100
So HOFMANN, Arndts 278.
11. Auflage (Stuttgart/Berlin 1908), nach des Verfassers Tode besorgt von ERWIN GRUEBER, Professor der Rechte an der Universität München. – Zu Grueber: SENSBURG, Die großen Juristen 197–203. 101
RODERICH V. STINTZING, in: ADB 9 (1879) 253–256; LANDSBERG, Geschichte III/1 (München u. Leipzig 1898), Text 444–447, Noten 285 f. 102
Ausführliche Erläuterung der Pandekten, nach JOHANN AUGUST HELLFELD, ein Kommentar begründet von CHRISTIAN FRIEDRICH GLÜCK. – Zu J. A. Hellfeld
103
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behandelt Arndts die Lehre von den Vermächtnissen. Das Werk zeichnet sich durch „die feine, oft ungemein scharfsinnige Exegese“ aus.104 Noch in seiner Münchner Zeit begründete Arndts 1853 zusammen mit seinen Fakultätskollegen Johann Caspar Bluntschli (1808–1881)105 und Joseph Pözl (1814–1881)106 die „Kritische Überschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“, aus der 1859 die „Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ hervorging. In dieser Zeitschrift, aber auch in der „Gießener Zeitschrift für Civilrecht und Prozess“, in der „Allgemeinen Österreichischen Gerichtszeitung“, und in Franz Haimerls „Österreichischer Vierteljahrsschrift für Rechts- und Staatswissenschaft“, aber auch noch in C. S. Grünhuts „Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart“ sowie in Bluntschlis Staatswörterbuch und in Weiskes Rechtslexikon veröffentlichte Arndts eine große Anzahl von dogmatischen Abhandlungen zu zivilrechtlichen Einzelfragen, Beiträge zu Fragen der Zivilgesetzgebung sowie zahlreiche Rezensionen.107 Diese Abhandlungen und Beiträge finden sich wiedergegeben im I. und II. Band von Arndts’ „Gesammelten Civilistischen Schriften“ (Stuttgart 1873). Sie nehmen Bezug auf Arndts’ Lehrbuch der Pandekten und stellen nähere Ausführungen zu einzelnen Problemen des Pandektenrechts dar. So finden sich im I. Band Abhandlungen zur Lehre von den juristischen Personen, zur Lehre vom Retentionsrecht, zur Lehre vom Fruchterwerb, über die usucapio pro herede, zur Begriffsbestimmung der Servituten, zur Emphyteuse, zur Lehre von der negotiorum gestio, zur Lehre von der Fiducia, über Eviktion der Dos und viele andere. Der II. Band enthält die Beiträge zum römischen Erbrecht wie Intestaterbfolge, Erbeinsetzung, Substitution, Lehre von den Erbverträgen, Hereditatis petitio, Interdictum quorum bonorum, Lehre von der liberatio legata, Pflichtteils- und Noterbenrecht. Der III. Band (Stuttgart 1874) enthält vier Beiträge zur römischen Rechtsgeschichte, ua Studien über die Stadtrechte von Salpensa und Malaca (38–78) sowie über Urkunden-Fragmente auf siebenbürgischen Wachstafeln (78–100). (1717–1782): ALBERT TEICHMANN, in: ADB 11 (1880) 697 f. 104
HOFMANN 1879, 288.
Vgl HEINRICH MITTEIS, in: NDB 2 (1955) 337–338; KLEINHEYER / SCHRÖDER, Juristen 70–73. 105
106
Vgl MANFRED FRIEDRICH, in: NDB 20 (2001) 578.
Verzeichnis der rezensierten Bücher und Aufsätze bei ARNDTS, Gesammelte Civilistische Schriften III 554–558.
107
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Arndts war mit den neuesten Entwicklungen im Bereich der römischen Rechtsgeschichte durchaus vertraut. Von großer Bedeutung und von Interesse sind Arndts’ Beiträge zur neueren Zivilgesetzgebung (III. Band, S. 107-544). Obwohl Arndts ein Schüler und begeisterter Anhänger Savignys war,108 nahm er in der Frage der Kodifikation109 eine andere Stellung als dieser ein. In seinem Beitrag „Civilgesetzgebung im Allgemeinen“110 äußert sich Arndts durchaus positiv zu einem gemeinschaftlichen bürgerlichen Gesetzbuch für Deutschland.111 Auch sein Urteil über das österreichische ABGB ist günstig ausgefallen.112 Arndts war von 1844 bis 1847 Mitglied der bayerischen Gesetzgebungskommission, Referent für bürgerliches Recht.113 Vom 2. August 1844 stammt sein „Vortrag über Entwerfung eines bürgerlichen Gesetzbuches für Baiern“.114 Arndts115 vertritt – nach dem Vorbild des österreichischen ABGB – die Ansicht, „dass ein bürgerliches Gesetzbuch zwar in seinen Bestimmungen nach möglichster Vollständigkeit streben, aber nicht so sehr in das Detail der Consequenzen eingehen, als vielmehr nur feste Grundsätze aufstellen, und dabei sich alles desjenigen enthalten solle, was nicht zur gesetzlichen Disposition wesentlich gehört“. Alle Arbeiten Arndts’ zeichnen sich durch ausnehmende Klarheit, Verständlichkeit, Prägnanz und Sorgfalt aus. Sie zeigen einen „Conservatismus der wissenschaftlichen Gesinnung“.116 Arndts ist kein Freund von Hypothesen; er neigt zur „Festigung und Sichtung der überlieferten Doktrin“.117 Arndts’ Vgl ARNDTS, Andenken an F. C. von Savigny, Kritische Vierteljahresschrift 4 (1862) 1 ff.
108
Zum Kodifikationsstreit GUNTER WESENER, Kodifikationsstreit, in: FRIEDRICH JÄGER (Hrsg), Enzyklopädie der Neuzeit 6 (2007) 861–863.
109
Artikel in: JOHANN CASPAR BLUNTSCHLI / KARL BRATER (Hrsg), Deutsches Staats-Wörterbuch II (Stuttgart/Leipzig 1857) 492–510; aufgenommen in Gesammelte Civilistische Schriften III 125–150.
110
Gesammelte Civilistische Schriften III 148 ff. – Vgl BRINZ, Nekrolog, Kritische Vierteljahresschrift 21 (1879) 11; ERNST LANDSBERG, Arndts, in: ADB 46 (1902) 44; H. DEMELIUS, Drei Pandektisten 301 [= Festheft Schönbauer 22]. 111
112
Dazu oben bei Anm 80.
113
Vgl dazu SENSBURG, Die großen Juristen 127 f.
114
In Gesammelte Civilistische Schriften III 256–280.
115
Vortrag, in: Gesammelte Civilistische Schriften III 270.
116
So LANDSBERG, Arndts 44.
117
BRINZ, Nekrolog 10 f.
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Stärke liegt „in der sorgfältigen, selbständigen Prüfung jeder Einzelheit im Gebäude des Privatrechts, das er in allen Gängen und Winkeln kennt und durchforscht, während er den Grundriß als gegeben hinnimmt“.118 Ludwig Arndts ist ein typischer Vertreter der Pandektenwissenschaft, hütet sich aber vor einer extremen Begriffsjurisprudenz. Er neigt zu pragmatischen Lösungen. Weder er noch Wächter gelangen in den „juristischen Begriffshimmel“, den Jhering119 entworfen hat. Als Begründung für die Abweisung Arndts’ wird ausgeführt: „Er [Arndts] muß sich doch wohl etwas von ihm [Puchta] emanzipiert haben, man machte seinen Ansichten den Vorwurf, dass sie nicht theoretisch genug seien, dass er den Bedürfnissen des praktischen Lebens auf Kosten der reinen Theorie zuviel koncediert habe, kurz er bestand die Prüfung nicht.“ Wenn man von Franz Wieackers Unterscheidung120 zwischen „Gründern“ und Bewahrern“ in der Geschichte der Rechtswissenschaft ausgeht, so ist Ludwig Arndts eindeutig den Bewahrern zuzurechnen. Ludwig Arndts hatte aber wesentlichen Anteil daran, dass die Historische Rechtsschule und die deutsche Pandektenwissenschaft in Österreich Fuß fassen und der österreichischen Rechtswissenschaft neue Impulse verleihen konnte. Sehr treffend charakterisiert Werner Ogris121 „die Eingliederung der österreichischen Zivilistik in die deutsche Gemeinrechtswissenschaft“ als einen Rezeptionsvorgang. Zu Recht spricht er von „einer Verwissenschaftlichung des österreichischen bürgerlichen Rechts“.
118
LANDSBERG, Arndts 44.
Im juristischen Begriffshimmel. Ein Phantasiebild, in: RUDOLF V. JHERING, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz10 (Leipzig 1909) 245–333, hier 254. – Vgl WIEACKER, Privatrechtsgeschichte 445; HAFERKAMP, Puchta 27. 119
120
Gründer und Bewahrer (oben Anm 90).
121
Die historische Schule 495 f.
Werner Ogris: Schriftenverzeichnis 2003–2010 zusammengestellt von CHRISTOPH SCHMETTERER und KAMILA STAUDIGL-CIECHOWICZ Die bis 2003 erschienenen Schriften sind aufgelistet in: WERNER OGRIS, Elemente Europäischer Rechtskultur. Rechtshistorische Aufsätze aus den Jahren 1961–2003, hrsg v THOMAS OLECHOWSKI (Böhlau: Wien/Köln/Weimar 2003) 809–831
A. Selbständig veröffentlichte Werke 26. W. A. Mozarts Hausstandsgründung (= Rechtsgeschichtliche Vorträge 15. Publikation der Rechtsgeschichtlichen Forschungsgruppe der Ungarischen Akademie für Wissenschaften an dem Lehrstuhl für Ungarische Rechtsgeschichte – Eötvös Lórand Universität) Budapest: ELTE 2003. 10 Seiten
27. Európai jogtörenténészportrék I: Werner Ogris Ins Ungarische übersetzt von Csabáné Herger und István Katjár Budapest/Pécs: Dialóg Campus Kiadó 2007. 182 Seiten [Anthologie mit verschiedenen Schriften von Werner Ogris]
28. Prvky európskej právnej kultúry, čast’ I: Stredovek a novovek do roku 1800 / Elemente europäischer Rechtskultur, Teil I: Mittelalter und Neuzeit bis 1800 Zusammen mit Thomas Olechowski 1. Auflage: Bratislava: Selbstverlag der BVŠP 2005. 126 Seiten 2. Auflage: Bratislava: EuroKodex 2009. 173 Seiten
29. Prvky európskej právnej kultúry, čast’ II: 19. a 20. storočie / Elemente europäischer Rechtskultur, Teil II: 19. und 20. Jahrhundert Zusammen mit Thomas Olechowski 1. Auflage: Bratislava: Selbstverlag der BVŠP 2005, 115 Seiten 2. Auflage: Bratislava: EuroKodex 2009. 213 Seiten
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Werner Ogris: Schriftenverzeichnis 2003–2010
B. Unselbständig veröffentlichte Werke I. Artikel für Zeitschriften und Sammelwerke 59.a King for Sale. Der Würzburger Vertrag zwischen Herzog Leopold V. und Kaiser Heinrich I. über die Auslieferung König Richards I. vom 14. Februar 1193 Wiederabdruck des zuerst 1993 in der FS Malý erschienenen Artikels in: Gesellschaft der Freunde Dürnsteins/Gottfried Thiery (Hrsg), Burg Stadt Kloster. Dürnstein im Mittelalter (Dürnstein: Gesellschaft der Freunde Dürnsteins 2005) Buch 6–7, CD 141–153
64.a Die Verlassenschaftsabhandlung nach W. A. Mozart Wiederabdruck des zuerst 1998 in der FS Zlinsky erschienenen Artikels in: Herbert Lachmayer (Hrsg), MOZART. Experiment Aufklärung im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Katalog zur Mozart-Ausstellung des Da Ponte Instituts (Ostfildern: Hatje Cantz 2006) 831–842
73. Der Landzwang in Geschichte und Gegenwart In: Barna Mezey (Hrsg), Strafrechtsgeschichte an der Grenze des nächsten Jahrtausends (Budapest: Gondolat 2003) 95−109
74. Die habsburgisch-jagiellonische Doppelheirat von 1515 In: öarr 50 (2003) 322–335 Zweitabdruck unter dem Titel:
Két Habsburg-Jagello házasság 1515-ben Ins Ungarische übersetzt von Frey Dóra In: Jogtörténeti Szemle (= Rechtshistorische Rundschau) 1/2007, 29–35
75. Rechtsakzeptanz und Normdurchsetzung in der Geschichte In: Vymožiteľnosť práva v podmienkach Slovenskej republiky. (Bratislava: Nadácia profesora Karola Planka 2003) 37–47
76. W.A. Mozart családalapítása In: Jogtörténeti Szemle (= Rechtshistorische Rundschau) 2/2003, 49–52
77. Die Zensur in der Ära Metternich In: Bernd-Rüdiger Kern ua (Hrsg), HUMANIORA. Medizin – Recht – Geschichte. FS für Adolf Laufs zum 70. Geburtstag (Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2006) 243–256
78. Ubi sponsa ibi sponsalia. W. A. Mozarts Eheschließung mit Konstanze Weber am 4. August 1782 In: Nova & Varia. Zeitschrift des Juristenverbandes Heft 3 (2006), 143–145
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79. Einige Aspekte der Beziehungen Böhmens zum Reichshofrat Gemeinsam mit Eva Ortlieb In: Karel Malý / Ladislav Soukup (Hrsg), Vývoj české ústavnosti v letech 1618– 1918 [Die Entwicklung der Böhmischen Verfassungsmäßigkeit in den Jahren 1618–1918] (Praha: Nakladatelstvi Karolinum 2006) 232–242
80. Die Rechtsentwicklung in Cisleithanien 1848 bis 1918: Überblick und Schlussbemerkung In: Karel Schelle / Ladislav Vojáček (Hrsg), Stát a právo v letech 1848–1918 ve středoevropském kontextu (Žilina: Poradca podnikal’a 2007) 168–171, 307– 310
81. Zum Erscheinen von Band 125 der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte In: ZRG GA 125 (2008) XXXI–XLVIII und ZRG RA 125 (2008) 1–24
82. Die Savigny-Stiftung 1863 bis ?? In: ZRG GA 126 (2009) XXXVI–XLVI
83. Der Rechtsstaat – Eine Einführung In: Gabor Mathé / Werner Ogris (Hrsg), Die Habsburgermonarchie auf dem Wege zum Rechtsstaat? (Budapest: Manz Magyar Közlöny Lap 2010) 15–32
II. Lexikalische Artikel 10. Hans Dieter Betz (Hrsg), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 8 Bde (4. Auflage, Tübingen: Mohr Siebeck 1998–2007) Sachsenspiegel
Talion: Rechtshistorisch
11. Albrecht Cordes/Heiner Lück/Dieter Werkmüller/Ruth SchmidtWiegand (Hrsg), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (2. Auflage, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2004 ff) Achtklausel in Schuldverträgen Anerkennungszins Anleite Anwenderecht Aufgebot (privatrechtl.) Auflassung Bahrprobe
Beisitz der Witwe Dies interpellat pro homine Dingliches Recht Dominium (privatrechtl.) Donau Dreißigster Engelbert von Admont
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Werner Ogris: Schriftenverzeichnis 2003–2010
Erbeinsetzung über die Bahre, über das Grab Erbenlaub Fahrnis, Fahrhabe Festuca Forderung Freiteil Friedelehe
Früchte Ganerben Gatterzins Geisel Gemeinderschaft Gewere Gottesurteil Hand wahre Hand
12. Helmut Reinalter (Hrsg), Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa (Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2005) Rechtsreformen Verwaltungsreformen
Zentralismus, bürokratisch
13. Gudrun Gersmann/Katrin Moeller/Jürgen-Michael Schmidt (Hrsg), Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgungen, in: historicum.net [http://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/5736] Bahrprobe (erstellt am 20. 3. 2008)
14. Thomas Olechowski/Richard Gamauf (Hrsg), Rechtsgeschichte und Römisches Recht. Studienwörterbuch (1. Auflage Wien: Manz 2006, 2. Auflage Wien: Manz 2010) Auslobung Bürgschaft Constitutio Criminalis Carolina 1532 (CCC) Dezennalrezesse Ehegüterrecht Ehepakt Erfolgshaftung Errungenschaftsgemeinschaft Fahrnisgemeinschaft fingierter Tod Friedrich II. dGr, Kg v Preußen (1740–86) Gefährdungshaftung Geisel Gerade gesetzlicher Güterstand Gütergemeinschaft
Gütergemeinschaft auf den Todesfall Güterstand Gütertrennung Haftung Heergewäte Heiratsgaben Joseph II., Röm-dt Kaiser (1765-80) Machtspruch Maria Theresia (1740-80) Mitgift Morgengabe Nasciturus (Ungeborener, Leibesfrucht) praesumptio Muciana Schlüsselgewalt Schuld und Haftung
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Verwaltungsgemeinschaft Widerlage Wittum Zugewinngemeinschaft
Sonnenfels, Joseph von Thunsche Studienreform Tierschaden Todeserklärung
IV. Rezensionen, Anzeigen und Berichte Werner Ogris hat seit 2003 zahlreiche Rezensionen und Berichte verfasst. Die meisten davon erschienen in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte oder im Tätigkeitsbericht der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
C. Herausgeberschaften I. Zeitschriften und Schriftenreihen 1.
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung. Generalregister zu den Bänden 101–125 herausgegeben gemeinsam mit Adolf Laufs, Elmar Wadle, Gerhard Köbler, Joachim Rückert und Peter Oestmann, bearbeitet von Kathrin Borrmann Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2010
3.
Fontes rerum Austriacarum III: Fontes iuris Im Auftrag der Philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien/Köln/Weimar: Böhlau Seit 2003 5 Bände (Bd 10/3, Bd 10/4, Bde 19–21) vorgelegt
II. Textedition 1.
Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey (= Bibliothek des deutschen Staatsdenkens XII) München: C. H. Beck 2003. 307 Seiten
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Werner Ogris: Schriftenverzeichnis 2003–2010
III. Sammelwerke 6.
Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen gemeinsam mit Leopold Auer u Eva Ortlieb Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007. 242 Seiten
7.
Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit gemeinsam mit Rudolf Walter u Thomas Olechowski Wien: Manz 2009. 395 Seiten
8.
Die Habsburgermonarchie auf dem Weg zum Rechtsstaat? gemeinsam mit Gabor Mathé Budapest: Manz Magyar Közlöny Lap 2010. 328 Seiten
FONTES RERUM AUSTRIACARUM ÖSTERREICHISCHE GESCHICHTSQUELLEN. 3. ABT.: FONTES IURIS. HRSG.: ÖSTERREICHISCHE AK ADEMIE DER WISSENSCHAFTEN, PHILOSOPHISCH-HISTOR. KL ASSE, KOMMISSION FÜR RECHTSGESCHICHTE ÖSTERREICHS UNTER DER LEITUNG VON WERNER OGRIS.
Eine Auswahl:
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ISBN 978-3-205-77391-7 Bd. 15: Roman Zehetmayer Bd. 10/4: Gerhard Jaritz,
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